Beiträge zur theologischen Bachforschung
2
»AUS LIEBE
WILL MEIN---~
STERBEN« Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen t8.Jahrhundert
Elke AxInacher
Hänssler-Verlag · Neuhausen-Stuttgart
Bejträge zur theologischen Bachforschung. Schriftenreihe der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung. Herausgegeben von Walter Blankenburg und Renate Steiger.
Die Internationale ArbeitsgemeÜlschaft fiir theologische Bachforschung e. V. wurde 1976 gegründet. Sie sieht ihre Aufgabe in der theologisch-musikalischen Erforschung der Werke Bachs im Zusammenhang von Wissenschaft und Frömmigkeit seiner Zeit. Zum Umfeld dieser Arbeit gehört neben der kirchengeschichtlichen Oberlieferung die gesamte Geisteswelt des Barock. Gedruckt mit Unterstützung des Johan Borgman-Fonds.
ISBN 3-7751-0883-1 Bestell-Nr. HE 35.951 ©Copyright 1984 by Hänssler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart Satz: Häns8ler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart Umschlaggestaltung: Daniel Dolmetsch, Neuhausen, nach Ideen der Arbeitsgemeinschaft Reproduktion und Druck: Omnitypie-Gesellschaft, Stuttgart Bindearbeiten: IDUPA,Owen/Teck Umschlag: Bachs handschriftlicher Eintrag zu 1. Chronik 25, lff. in seinem Exemplar der von Abraham Calov herausgegebenen kommentierten Luther-Bibel: NB. Dieses
Copitel ist das wahre Fundament aller gottgefälliger Kirchen Music. Faksimile des Bibeltextes (Umschlag): Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel Bibliothek der Freien Universität Berlin: S. 240-241,243-246 Bibliothek der Kirchlichen Hochschule Berlin: S: 220,229-230,234-238,248 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: S. 225-228 Nürnberger Stadtbibliothek: S. 231-233 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin: S.249 Stadtarchiv und Wissenschaftliche Stadtbibliothek Soe8t: S. 221-224
Inhalt Vorwort ................................................... 6 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7 Teil I
Die Passionspredigt Kapitell: Luthers Passionspredigt 1. Aufbau und Themenvielfalt der Passionspredigten . . . . . . . . . . . . . . . .. 11 2. Die Ausbildung der reformatorischen Passionstheologie in der Polemik. gegen das römische Passionsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 13 a) Erste Gedankenlinie: Vertiefung des compassio-Verständnisses ...... 13 b) Zweite Gedankenlinie: Die Exklusivität des Sühneleidens Christi . . . .. 15 3. Die Hauptgedanken von Luthers Passionspredigt . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) SÜDdenerkenntnis als Wirkung der Passion .................... b) Tröstung des Gewissens als Wirkung der Passion ...... . . . . . . . . .. c) Die exemplarische Bedeu~g der Passion ....................
18 18 20 24
Kapitel 2: Heinrich Müllers Predigten "Vom Leyden Christi" 1. Einführung in die Passionspredigt des 17. Jahrhunderts: Zur Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 28 2. Überblick über die Hauptwerke und die frömmigkeitsgeschichtliche Stellung H. Müllers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 31 3. Aufbau und Zeitstruktur der Passionspredigten .................. 33 4. Sprache und Stil der Passionspredigten . . . . . . . . . '. . . . . . . . . . . . . .. 36 5. Zur Theologie der Passionspredigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. 40 a) Lehrhafte Äußerungen zur Person und zum Werk Christi .......... 41 b) Bildhafte Darstellungsweisen der Versöhnungslehre . . . . . . . . . . . . .. 43 6. Die paränetische Grundtendenz der Passionspredigten . . . . . . . . . . . . .. 47 Kapitel 3: Allgemeine Charakteristik der Passionspredigt des 17. Jahrhunderts 1. Gliederungsmöglichkeiten der Passionspredigten . . . . . . . . . . . . . . . . .. 53 2. Die Auslegungsgrundsätze der Passionspredigt ................... 57
3. Die gedankliche und sprachliche Gestaltung der Passionspredigten . . . . .. a) Alttestamentliche Typen ............................... b) Der dreifache Nutzen der Passion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Exkurs: J. Gerhards und J. M. Dilherrs Passionsdeutung ............ c) Sprachliche Gestaltung .................................
63 64 66 71 74
4. Das Verhältnis zu Luthers Passionspredigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 84 Exkurs: Die Passion des Carolus Stuardus Eine Auseinandersetzung mit A. Schönes Gryphius-Deutung . . .. 89
Teil 11
Passionslibretti Kapitel 4: Poetologische Aspekte des Librettos als geistlicher Dichtung 1. Bedeutung und Geltung des niederen Stils in der geistlichen Dichtung . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 99 2. Die Hauptfonnen des Passionslibrettos ........................ 103 3. Das Passionsoratorium als geistliche Dichtung im hohen Stil .......... a) C. F. Hunolds und E. Neumeisters Berufung auf das italienische Oratorium ..................... b) C. F. Hunolds, J. Matthesons und D. W. Trillers Rechtfertigung der Passionsdichtung im hohen Stil ......................•.... c) Erbaulichkeit als "Endzweck" aller Passionsdarstellung im frühen 18. Jahrhundert ..............................
104 105 109 111
KapitelS: "Der fiir die Sünde der Welt Gemarterte und Sterbende Jesus" von B. H. Brockes 1. Urteile über die Brockes-Passion ............................ 116 a) Zeitgenossen ....................................... 116 b) Musikwissenschaftler seit der Mitte des 19. Jahrhunderts .......... 117 2. Einzeluntersuchungen zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Brockes-Passion und der protestantischen Passionstradition . . . . . . . . 121 a) Ankündigung des Verrats durch die Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Gethsemane-Szene ................................... 124 3. Synopse und deren Auswertung zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Brockes-Passion und der protestantischen Passionstradition
132
4. Theologische Deutung der Brockes-Passion: Erlösung ohne Versöhnung ............................... 142
Kapitel 6: Der Text der lohannes-Passion von 1. S. Bach 1. Quellenlage und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 149
2. Theologischer Vergleich der lohannes-Passion mit der Brockes-Passion .................................. 152 a) Vergegenwärtigung (Das Verhältnis von Wort und Geist) ........... 152 b) Intention und Hörerverständnis ........................... 155 c) Das Verhältnis von Versöhnung und Erlösung .................. 161 Exkurs: Der Eingangschor der lohannes-Passion .................. 163 Kapitel 7: Der Text der Matthäus-Passion von J. S. Bach 1. Picanders "Erbauliche Gedancken" .......................... 166
2. Die von H. Miiller abhängigen Texte der Matthäus-Passion: Synopse, Vergleich, Zusammenfassung ........................ 170 3. Beziehungen zwischen Picander-Texten und Predigten V. Herbergers und J. Arndts ........................ 185 4. Die übrigen madrigalischen Texte ............................ 188 a) Die EinIeitungstexte der beiden Teile der Matthäus-Passion ......... 189 b) Oratorienhafte Texte .................................. 195 5. Die Choräle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Schluß
Der Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert 1. Grundzüge und Motive des Wandels .......................... 204 2. Theologiegeschichtliche Einordnung des Wandels ................. 210
3. Folgerungen fiir die theologische Bachforschung ... ~ .............. 216 Anhang I .................................................. 219 Anhang II ................................................. 239 Anhang III ................................................ 242 Anhang IV ................................................ 247 Literaturverzeichnis , ......................................... 250
Vorwort Die folgende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Sommer 1981 von der Kirchlichen Hochschule. Berlin angenommen wurde. Mein Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Johannes Wirsching, der die Entstehung der Arbeit mit verständnisvollem Interesse und förderlichen Gesprächen begleitet hat. Ferner danke ich den Mitgliedern der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung, denen ich zwischen 1978 und 1980 Teile aus der Arbeit vortragen durfte, für ihre sachliche Kritik und ihre rege Anteilnahme. Mein besonderer Dank gilt schließlich Herrn Dr. Alfred Dürr, der mich von Anfang an zu der Arbeit ermutigt und mir mit sachkundigem Rat jederzeit freundlich zur Verfügung gestanden hat.
Berlin, 31.8.1982
Elke Axmacher
Einleitung Die vorliegende Arbeit möchte durch die Untersuchung der von J. S. Bach vertonten Passionslibretti und ihrer Beziehungen zur Passionspredigt des 17. und frühen 18.Jahrhunderts einen Beitrag zur theologischen Bachforschung leisten. Die Frage nach Bachs ,Ort' in der allgemeinen Geistesgeschichte, speziell in der Geschichte der Theologie und der Frömmigkeit, ist spätestens seit dem Beginn der neue~n Bachforschung, also seit Pb. Spittas monumentaler Bach-Monographie (1873-1879), unzählige Male gestellt und beantwortet worden. überblickt man alle diese Versuche, deren eigene wechselvolle Geschichte H. Beschs Buch "J. S. Bach. Frömmigkeit und Glaube" (1938) in eindrucksvoller Weise darstellt, so wird man auch heute noch H. H. Eggebrechts 1957 geäußerter Auffassung zustimmen müssen: "Bei keinem Komponisten hat die Frage nach seiner Stellung im Wandel der geistesgeschichtlichen Werte zu so verschiedenen Ergebnissen gefiihrt wie bei Johann Sebastian Bach, und im Augenblick ist man weiter denn je davon entfernt, die Bestimmungen seines geschichtlichen Orts zusammendenken zu können ...1 Gerade auch über Bachs Stellung innerhalb der Geschichte des Christentums, der Kirche und der Frömmigkeit fmden sich in der Bachliteratur so gegensätzliche Aussagen, daß die Bemühung um einen Konsensus fast alJssichtslos erscheint. Da steht die Behauptung, Bachs Christlichkeit sei eine bloß konventionelle, sein.Wesen nicht tiefer berührende gewesen, neben der anderen, sein Christentum habe in einer überzeitlichen, allen ernsten Menschen stets zugänglichen ,mystischen' Religiosität bestanden; und wo die Zeitgebundenheit seiner kirchlichen Frömmigkeit zugestanden wird, da gibt es wiederum die verschiedensten Bestimmungen der ,eigentlichen' Prägung dieser Frömmigkeit: Für die einen gehört Bach dem Pietismus an, den anderen gilt er als streng orthodoxer Lutheraner, wieder andere sehen ihn wesentlich vom Gedankengut der Aufklärung beeinflußt. Alle diese ,Ortsbestimmungen' sind nicht selten mit dem Anspruch auf Ausschließlichkeit vertreten worden. Die Gründe fiir diese verworrene Lage der theologischen Bachforschung sind vielfältig. Zum einen liegen sie in der Sache selbst: im Mangel an eindeutige~ biographischen Material über Bachs Stellung zu Kirche, Theologie und Christentum sowie in der Komplexität des religiösen und kirchlichen Lebens seiner Zeit und Umwelt. Zum anderen sind die Gründe aber auch subjektiver Art. Beschs Darstellung der Geschichte der Bachforschung bietet immer wieder Beispiele fiir die unreflektierte Weise, in der manche Bachforscher ihr eigenes Verständnis von Christentum und Kirche in ihre Bachdeutungen eingetragen haben. Vor allem aber wurden die Urteile über Bachs geschichtlichen Ort allzu oft aus einer allenfalls oberflächlichen Kenntnis der theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Erscheinungen und Umstände der Bachzeit heraus gefällt. Dieser 1 "Ober Bachs geschichtlichen Ort, in: J. S. Bach, Wege der Forschung Bd. 170, S. 247.
7
Mangel beruht gewiß zu einem großen Teil darauf, "daß die theologischen Bemühungen einen verhältnismäßig sehr kleinen Raum in der Bachforschung einnehmen. Fast alles nämlich, was über das wichtige Problem des kirchenhistorischen Bach gesagt worden ist, ist der Beitrag von Nichttheologen". 2 Will man über das bisherige Bachbild "in seiner ganzen spannungsreichen Unausgeglichenheit" hinauskommen, so bedarf es einer intensiven kirchen-, theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Erforschung des nachlutherischen Protestantismus, "denn Bach ist eine Erscheinung des Protestantismus im 17. und 18. Jahrhundert.,,3 Das aber bedeutet, daß die theologische Bachforschung weitgehend auf eine indirekte Annäherung an ihren Gegenstand angewiesen ist. Es gilt, "die Welt der Frömmigkeit, in der Bach lebte, zu erschließen und das gefundene Material der Musikwissenschaft zur weiteren Verwendung zu überlassen"4. Einen der nächstliegenden Zugänge zu dieser Welt eröffnen die Texte, die Bach vertont hat. Vor allem durch deren besseres Verständnis kann die Theologie der Musikwissenschaft jenes ,Material' zur Verfügung stellen, dessen diese fiir ihre eigene Arbeit an Bach bedarf. Denn spätestens seit A. Schweitzers Bachbuch (11908) weiß sie, in welchem Maße Bach als Komponist Textausleger war. Die Auslegung aber, mit der er durch seine Bildung und Erziehung aufs beste vertraut war und mit der er sich, wie die zahlreiChen Predigtbände in seiner theologischen Bibliothek beweisen, zeitlebens beschäftigt hat, war die der lutherischen Kirche seiner Zeit. Nun ist aber nicht erst Bachs wortgebundene Musik solche Textauslegung, sondern die von ihm vertonten Texte selbst sind es zum überwiegenden Teil. An den Texten zu Bachs Passionen, die hier untersucht werden sollen, wird sich in überraschender Weise bestätigen, daß auch sie nur "durch die enge Beziehung zur Wortverkündigung" richtig zu verstehen sind. "Will man also hinter die Texte kommen, so hat man ihre Zusammenhänge in dieser Richtung zu beobachten...s Dieser Weg der Textbefragung vor dem Hintergrund der theologischen Auslegungstradition wurde mit der vorliegenden Arbeit eingeschlagen. Er machte einerseits eine strikte thematische Begrenzung - auf die Passionstexte -, andererseits eine anfangs kaum absehbare Ausweitung über die engere theologische Bachforschung hinaus - auf die gesamte protestantische Passionsdeutung seit Luther - notwendig. Deren in der Theologie bisher fehlender Darstellung ist der ganze erste Teil der Arbeit gewidmet.
"2
Besch, a.a.O., S. 159.
3 Besch; •.•. 0., S. 160. 4 Besch, a.a.O., S. 210. Hervorhebung von mir. 5 Besch, •.•. 0., S. 258.
8
Stand am Anfang der Untersuchung die Einsicht in die enge Bindung von Bachs Passionstexten an die Predigttradition des 17. Jahrhunderts, ja ihrer Abhängigkeit von dieser, so erwies sich a1Imählich das Verhältnis beider zueinander als wesentlich komplizierter, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen zeigten sich bei den Passionstexten ungeachtet ihrer sogar literarisch nachweisbaren Beziehung zur traditionellen kirchlichen Auslegung doch entscheidende sachliche Differenzen zu dieser, die auf einen etwa zwischen 1670 und 1730 eingetretenen Wandel deli PalllliOnlllleFstdndnilllles hindeuteten. 6 Es ist dies theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich gesehen die Zeit, in der sich das Ringen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung vollzieht. Darum führt die Beschreibung des Wandels, die zunächst unter Absehung von allen vorweg festlegenden Bezeichnungen und Zuordnungen zu bestimmten Richtungen vorgenommen wird, unvermeidlich zu der Frage, wie jene kirchengeschichtlichen Erscheinungen an der Veränderung des Passionsverständnisses beteiligt sind. ,Eine vorsichtige Antwort, die sowohl der Komplexität der Beziehungen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung als auch der Unsicherheit insbesondere der heutigen Pietismusforschung eingedenk bleibt, wird im Schlußten zu geben versucht. Dies geschieht in der Überzeugung, daß der derzeit weithin hemchenden Resignation hinsichtlich der Bestimmung des Pietismus und seiner Abgrenzung von Orthodoxie und Aufklärung am ehesten durch sorgfältige Spezialuntersuchungen entgegengewirkt werden kann. Zumindest müssen die Defmitionen, auf die auch die Pietismusforschung nicht verzichten kann un~ darf7, immer wieder durch genaue Beschreibungen und Quellenanalysen überprüft werden. Zum anderen ergab sich für den VergleiCh zwischen der protestantischen Passionspredigt und den Passionslibretti eine methodische Schwierigkeit, aus der Verschiedenartigkeit der literarischen ,Gattungen' mit ihren jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten. Hat schon die Predigt des 17. Jahrhunderts ganz bestimmte, in zahlreichen Lehrbüchern der Homlletik überlieferte Regeln, so gUt dies erst recht von der Dichtung. Auch bei der Untersuchung der geistlichen Dichtung zeigt sich nun für die Zeit um 1700 ein Umbruch, der in den Passionslibretti einen deutlichen Niederschlag findet. Es vollzieht sich hier, parallel zu jenem theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Wandel und von ihm nicht unbeeinflußt, eine Veränderung innerhalb der zwei bis dahin streng getrennten Dichtungstraditionen des hohen und des niederen Stils, deren AusWirkungen auf das Passionsverständnis ebenfalls darzustellen waren. Mit den grundlegenden methodologischen Problemen, die durch die Betrachtung des Passionslibrettos als geistlicher Dichtung im frühen 18. Jahrhundert aufgeworfen werden, beschäftigt sich das 4. Kapitel. Durch die Einbeziehung eines dritten Passionstextes, der Brockes-Passion (KapitelS), soll die Bedeutung jenes dichtungsgeschichtlichen Umbruchs für die Passionslibretti noch umfassender herausgearbeitet werden, als dies an den beiden von Bach vertonten Texten möglich gewesen wäre. 6 Dem Aufweis dieses Wandels dienen insbesondere die Kapitel 5-7 der Arbeit. 7 S. dazu J. Wallmann, Die Anfange des Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit Bd. 4, S. 11 f. Für die vollständigen Titel der zitierten Literatur s. das Literaturverzeichnis.
9
Diese einleitenden Bemerkungen mögen bereits gezeigt haben, welche Fülle von auch für die Theologiegeschichte allgemein, nicht nur fiir den engeren Aspekt der theologischen Bachforschung interessanten Fragen sich ergibt, sobald man sich theologischerseits ernsthaft auf die von Bach vertonten Texte einläßt. Diese weithin noch immer belächelten oder abgelehnten Texte sollten als literarische Frucht der protestantischen Predigten und Erbauungsbücher des 17. Jahrhunderts, als aufschlußreiche Zeugnisse einer der frörnrnigkeitsgeschichtlich interessantesten Übergangszeiten der neueren Kirchengeschichte verstanden und gewürdigt werden. 8 Die Untersuchung des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert im Ausgang von ei-'igen Passionslibretti der Zeit möchte die Fruchtbarkeit einer solchen, weite Traditionm..'sarnrnenhänge einbeziehenden theologischen Bachforschung dartun.
8 Es kann z. B. kaum ein Zweifel daran bestehen, daß eine Untersuchung der Kantatentexte nicht nur das Verständnis von Bachs religiöser Stellung in seiner Zeit vertiefen, sondern auch unsere Kenntnis darüber erweitern könnte, wie im frühen 18. Jahrhundert die Evangelienperikopen verstanden wurden.
10
Teil I DIE PASSIONSPREDIGT Kapitell: Luthers Passionspredigt 1. Aufbau und Themenvielfalt der PassioDBpredigten Textgrundlage :fiir die Darstellung von Luthers Passionspredigt sind a) "Eyn Sennon von der Betrachtung des heytigen leydens Christi" von 1519 (WA 2, 136-142)1; b) die von E. Mülhaupt zusammengestellten Passionspredigten Luthers aus den Jahren 1518-15382 ; c) "Passio, oder Histori vom leyden Christi Jesu, unsers Heylands" aus der Hauspostille von 1545 (52, 734-827) sowie die zwei Passionspredigten aus der Hauspostille von 1544 (52,228-244); d) eine Karfreitagspredigt von 1521 aus der Sammlung Lutherscher Predigten von Joh. Poliander (9, 649-656). Der Aufbau von Luthers verhältnismäßig kurzen Passionspredigten ist sehr einfach. Zu Beginn einer Reihe begründet Luther gern die Notwendigkeit und den Nutzen des Predigens über die Passion, bisweilen nur mit der Bemerkung, die Geschichte müsse "bey dem leien ... bleiben bekand" (29, 219 =M. 75), bisweilen mit einer "vennanung", wie man die Passion recht bedenken solle (z.B. 29,226 =M. 80), die sich auch zu einer eigenen Predigt verselbständigen kann wie im "Sennon von der Betrachtung des heytigen leydens Christi" oder in der ersten Passionspredigt der Hauspostille von 1544 (52, 228 ff.). Die weiteren Predigten einer Reihe schließen meist mit einer kurzen Zusammenfassung des Inhalts der vorangegangenen Predigt an diese an, um dann ohne Umschweife zum Thema der neuen überzugehen. Nonnalerweise sind die Predigten so aufgebaut, daß zunächst der zu behandelnde Text vorgelesen oder nacherzählt wird. Oft folgt die Auslegung dem Text absc1mitt- oder satzweise und gewinnt so den Charakter einer Homilie. In vielen Fällen aber greift Luther im Anschluß an die bereits mit mancherlei Texterldärungen durchsetzte Erzählung einige Stücke aus dem AbscJinitt heraus und leitet 1 Zitate aus der WA werden im folgenden mit Band- und Seitenangabe im Text in Klammern nachgewiesen. 2 Luthers Evangelienauslegung Bd. S. Es handelt sich bei dieser Sammlung überwiegend um Predigtnachschriften, die im Original in einer deutsch-lateinischen Mischsprache überliefert sind. Mülhaupt hat die lateinischen Stellen übersetzt und die oft unvollständigen Sätze ergänzt, so daß ein gut lesbarer Text entstanden. ist. Strenge philologische Maßstäbe darf man an diesen Band freilich nicht anlegen. Die Zitate werden hier in der originalen Form der WA wiedergegeben, obwohl sie. das Verständnis bisweilen erschwert. Die Seitenzahlen des relativ leicht zugänglichen Mülliauptsehen Bandes (abgekürzt: M.) werden jeweils hinzugefiigt.
11
aus ihnen ihre "Lehren" oder ihren "Nutzen" ab. Diese FreÜleit sowohl gegenüber der Fonn als auch gegenüber der Fülle der andringenden Themen bewahrt den Predigten einen Zug von Unmittelbarkeit, "der den späteren orthodoxen Predigten mit ihrer Neigung zur strengen, einheitlichen Fonn und zur thematischen Vollständigkeit verloren geht. Wie variabel Luther in der Bildung thematischer Schwerpunkte ist, zeigt etwa ein Blick auf die Auslegung der Kreuzigungsszene. Daß Christus am Kreuz sein Priesteramt vollendet, ist der Hauptgedanke zu dieser Szene, der in längeren Ausführungen über das priesterliche Gebet Christi um Vergebung für seine Feinde (52, 237 ff.), über seinen priesterlichen "Schmuck", Geduld und Liebe (52, 240; 29, 239 = M. 90), und über Christus als das wahre Osterlamm (52,812) zum Ausdruck kommt. Wichtig ist Luther auch die Gestalt des ~hächers" am Kreuz als des "erste(n) heylige(n) ym newen testament". Er wird zum Vorbild aller Christen, weil er sich den Nutzen der Passion Christi in rechter Weise zueignet (29, 246 f. = M. 95 f.) und entgegen dem Augenschein Christus als König erkennt (52, 242; 29, 245 = M. 94). Dann wieder wendet Luther sich gegen die Gleichstellung Marias als Zuflucht und Nothelferin mit Christus (29, 243 = M. 93); oder er betont die schwere Anfeclrtung Christi durch den teuflischer Logik folgenden Spott der Juden über das Gottvertrauen des offensichtlich Gescheiterten.3 .I,\. einer der beiden Predigten über die Kreuzigung in der "Passio" behandelt Luther nur die Fragen, warum die Evangelisten in der Leidensgeschichte so viele Schriftzitate anführen und warum Christus gerade am Kreuz hat sterben müssen (52, 802 ff.). In der anderen erörtert er das johonneische Sondergt,lt bei der Kreuzigungsszene (52, 809 ff.). Schließ. lieh werden auch einzelne Kreuzesworte (z. B. 17, I, 68 f. = M. 17 f.), die Zeichen bei Christi Tod (17, I, 75 ff. = M. 21 ff.) und das Bekenntnis des Hauptmanns (17, I, 78 ff. M. 23 f.) thematisiert.
=
Die Vielfalt der Themen und Motive in Luthers Passionspredigten ist natürlich nicht Ausdruck von Beliebigkeit in der Gesamtkonzeption. Vielmehr ist es gerade die Konzentration auf das neue, refonnatorische Gesamtverständnis der Passion, das jene Vielfalt freisetzt, weil es sich ungezwungen an jedem Zug der Leidensgeschichte entfalten läßt, aber eben darum nicht an jedem entfaltet werden muß. Dieses neue Verständnis, dessen Gegensatz zum überwundenen ,papistischen' auch die Predigten der Hauspostille von 1545 noch stark prägt, ist Luther so wichtig, daß er es oft ganz direkt formuliert. Alle seine Passionspredigten gewinnen dadurch einen ausgesprochen polemischen und prägnant lehrhaften Charakter. Erbauliche Umschreibungen oder gelehrte Ausflihrungen findet man hier nirgends; sie sind Sache einer späteren Zeit, sie setzen einen Hörer voraus, dem die Luthersche Lehre von der Passion vertraut ist. Diese Verschiedenheit der Predigtsituation bietet eine wesentliche Erklärung für die später zu kennzeichnenden Unterschiede in der Predigtweise Luthers und der Orthodoxie.
3 "Deus tarn iustus est, non sineret tarn sanetum hominem sie in cruce perire, ergo inimieus dei est.· (17, I, 68 =M. 17)
12
2. Die Ausbildung der refonnatorischen Passionstheologie in der Polemik gegen das römische PassionsvellltändiUs Luthers polemische Auseinandersetzung mit dem römischen Passionsverständnis bildet einen günstigen Ausgangspunkt fiir die Darstellung seiner eigenen Passionstheologie4 • Es lassen sich dabei zwei auf den ersten Blick einander widersprechende Gedankenlinien verfolgen.
a) Erste Gedankenlinie: Ver1i:efu.ng df1s c;ompassio-Vers(ändnisses Die erste, in dem frühen "sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi..s entwickelte Linie geht aus von der Polemik gegen das mittelalterliche Verständnis der compassio.6 Luther sieht in dem Mitleid mit Christus und Maria, dessen affektiver Gegenpol der Zorn über Judas und die Juden ist, den Versuch des Menschen, sich von Christi Leiden innerlich zu distanzieren und existenzielle Betroffenheit nicht aufkommen zu lassen. Das Mitleiden, so deutet Luther, soll - entgegen dem Augenschein starker gefiih]smäßiger Beteiligung des Menschen - vom eigenen Leiden befreien. Darum gilt nicht nur von denen, die sich z. B. durch KruzifIXe und andere Passionsamulette vor äußeren Gefahren schützen wollen, sondern von allen, in denen "Christus leyden eyn unIeyden . . . wircken sol widder seyn art und natur", daß sie "das yhre· darynneri suchen" (2, 136). Gegen eine solche Betrachtung der Passion als eines[remden Leidens betont nun Luther in pointierter Weise den inklusiven Charakter r!er Passion. Christus leidet und stirbt fiir UDS, das heißt hier nicht nur: er leidet und stirbt durcli. unsere Sünde, sondern mehr noch: er erleidet äußerlich, exemplarisch und zeichenhaft das Schicksal, das eigentlich uns zukäme. Die Passion ist nicht ein Schauspiel, dem wir zuschauen könnten, sondern ein Spiegel, in dem wir UDS selbst erkennen. Diesem "Bild und leyden Christi mustu gleychformig werden, es geschehe yn dem Leben adder yn der hellen" (2, 138), und zwar aus keinem anderen Grunde, als weil es unser eigenes Bild ist. Gleichförmig werden wir ihm, wenn wir, "wie Christus am leyb unnd seel jamerlich in unsern sunden gemartert wirt, ... ym nach aIßo gemartert werden im gewissen von unßernn sunden" (2, 138). Wahre compassio bedeutet also, daß wir alle Leiden Christi .geistlich, im Gewissen, als Strafe fiir unsere Sünde an UDS selbst erfahren. ,.Hie wircket das leyden Christi seyn rechtes naturlich edles werck, erwurget den alten Adam, vertreybt alle lust, freud und zuvorsicht, die man haben mag von creaturen, gleych wie Christus von allen, auch von got vorlaßen war" (2, 139). Bis zu
4 Wie die Anfänge von Luthers reformatorischer Passionstheologie aus der Auseinandersetzung mit spätmittelalterlichem und mit augustinischem Gedankengut herauswachsen, hat M. Eize in subtiler Analyse insbesondere der beiden frühen Predigten 1, 336 Cf. (= M. 7 ce.) und 1, 340 Cf. (= M. 10 ce.) nachgewiesen. (Das Verständnis der Passion Jesu im ausgehenden Mittelalter und bei Luther, in: Geist und Geschichte der Reformation, S. 127-151). 5 Im folgenden abgekÜlZt .Sermon". 6 Zum spätmittelalterlichen compassio-Verständnis vgJ. E1ze, a.a.O., S. 127-134.
13
dieser Gleichheit mit Christus in der Gottverlassenheit also treibt Luther hier das geistliche leiden des Menschen voran, um den gerade im ,Mitleiden' sich sichernden Menschen zu erschüttern. Auf der Gedankenlinie eines existellZ;iell vertieften compassio-Verständnisses, die wir bis hierher verfolgt haben, kann die passio konsequenterweise nur den geistlichen Tod des Sünders bewirken. Die Errettung des Menschen aus diesem Tod muß also durch ein anderes Ereignis herbeigeflihrt werden: durch die Auferstehung Christi. Durch sie erst "macht er unß gerecht unnd 10ß von allen sunden" (2, 140 =M. 5). Darum rät Luther dem durch die compassio geistlich, d.h. im Gewissen gemarterten Menschen, vom Karfreitag zum Ostertag fortzuschreiten, nicht mehr auf das leiden Christi zu sehen, sond~ auf seine Auferstehung, und auf deren die Sünde überwindende Wirkung zu vertrauen. Gleichwohl versucht Luther in einem Neuansatz gegen Ende des "Sermons" auch die Beruhigung des ,erschreckten' Gewissens als W"llkung der Passion selbst zu bestimmen, indem er sie als Erweis der Liebe Christi und Gottes beschreibt (2, 140 f. =M. 5). Die Erkenntnis dieser Liebe weckt im Menschen "Glaube und Zuversicht", wodurch er "wahrhaftig in Gott neu geboren" wird. Hier hat also die Passion selbst und nicht erst ihre Überwindung in der Auferstehung erlösende Kraft. Sie selbst enthält in sich die doppelte Wirkung des Tötens und lebendigmachens, denn in ihr offenbart sich mit dem Zorn Gottes zugleich seine Liebe. Dieses Verständnis der Passion als Mit- und Ineinanderwirken von Zorn und Liebe ist jedoch vom compassio-Denken aus nicht mehr zu gewinnen. Wer im leiblichen Tod Christi sein geistliches Mitsterben erfährt, kann seine Hoffnung auf das geistliche lebendigwerden nur mit Christi Auferstehung als einem Akt der geistlichen Neuschöpfung begründen. Die Deutung der Passion selbst als Liebesoffenbarung sprengt also grundsätzlich das compassio-Denken. Darum wirkt diese Deutung im "Sermon" noch wie ein Fremdkörper; der Neuansatz des Passionsverständnisses kann hier noch nicht zur Entfaltung kommen. Wir sehen in ihm jedoch die Keimzelle von Luthers eigentlich refonnatorischer Passionstheologie7 • Die Wirkungsweise der Passion (und Auferstehung), nach der sie sich als Mitsterben des Sünders im Gewissen und als Neugeburt des gerechtfertigten Menschen vollzieht, bezeichnet Luther im "Sennon" mit dem von Augustin übernommenen Begriff des ,8ak:raments', "das yn unß wirkt und wir leyden" (2,241). Diesen Begriff hat er später mit dem Verzicht auf das hier beschriebene compassio-Verständnis fallengelassen, anders als den komplementären Begriff des Exempels. Das leiden Christi als Exempel, "das wir auch wircken" (2, 141), bezeichnet die Vorbildlichkeit der Passion fiir das leiden
7 Auf einen parallelen Vorgang, daß eine neue Deutung der Passion bei Luther zunächst unvermittelt und wirkungslos innerhalb einer noch weitgehend traditionellen Umgebung auftaucht, weist Elze a.a.O., S. 134 ff., bes. S. 140 hin.
14
des Menschen in der Nachfolge von den frühesten bis zu den letzten Predigten8 • Hinweise darauf, wie der von der Sünde befreite Mensch aus Liebe zu Christus Leiden und Anfechtungen zu ertragen vermag und dabei im Exempel Christi "stercke und lobsall" fmdet (2, 141), bilden den kurzen Schluß des "sermons". Auch dabei geht es Luther um die Abwehr eines nur affektiven, darin aber gerade distanzierten Mitleidens mit Christus: W'ukliche compassio nimmt den Menschen nicht nur geistlich, sondern auch in seiner gesamten leiblich-welthaften Existenz in das Leiden Christi hinein. Wir haben gesehen, daß der "sermon" von der durch den Irrweg mittelalterlicher Passionstheologie und -frömmigkeit geweckten Frage nach der rechten compassio bestimmt ist. Wenn die übliche compassio als ein Versuch erkannt ist, aus dem Leiden Christi ein "unleyden" des Menschen zu machen, so gilt es dagegen zu betonen, daß der Mensch in Christi Leiden und Sterben mit hineingenommen wird, daß "sein leiblicher Tod unsem geistlichen Tod bedeutet"g! Erst danach bringt das Leiden Christi auch ein NichtLeiden des Menschen mit sich - nach dem ersten Motiv im Zusammenhang mit dem Ende des Leidens Christi durch die Auferstehung, nach dem zweiten Motiv unabhängig davon durch eine neue Betrachtungsweise des Leidens selbst als Ausdruck der Liebe. Dieses Nicht- (mehr-)Leiden als Verzicht auf unangemessenes, übennäßiges Leiden ist jedoch grundverschieden von dem bequemen Nicht-leiden-Wollen der falsch verstandenen compassio. b) Zweitl! G.edankenljnie: I;Jie E.xklu~ivität des ~ühnele~~ns. Christi· Geht es Luther also auf der Gedankenlinie, die wir bisher verfolgt haben, um die W'uklichkeit des menschlichen Leidens mit Christus, so findet sich eine zweite, scheinbar gegenläufige Linie bei ihm viel häufiger. Hier betont er die Exklusivität des Leidens Christi; der auf der Seite des Menschen ein entschiedenes Nicht-mit-Ieiden-KÖßDen entspricht. Was Christus leidet, kann und soll kein Mensch leiden, kein Heiliger und Märtyrer hat es je mit ihm gelitten, und "wenn dieses Jhesu leiden kompt, ist aller Menschen leiden nichts" (28, 258 = M. 38). Wer dennoch dem eigenen oder anderem Leiden wesentliche, d. h. verdienstliche Bedeutung beimißt, der macht Christi Werk zunichte und richtet anstelle der von ihm erworbenen Gerechtigkeit seine eigene auf, ja er Jestert das sterben, opffer und gebet Christi; Sintemal er von seinem opffer und gebet so viI helt als vom opffer und gebet Christi, Für solchem grewel soll man sich ßeyssig hüten" (52, 241). Es ist deutlich, daß Luther, wenn er von diesem exklusiven Leiden spricht, immer das stellvertretende, sühnende Straßeiden Christi meint. SilDden-
8 In den frühesten erhaltenen Passionspredigten von 1518 hatte Luther gerade mit Hilfe der Begriffe ,saeramentum-exemplum' die "traditionelle Konzeption 4er Passionsbetraehtung aus den Angeln gehoben", die an dem ebenfalls augustinischen Begriffspaar .affeetus-effeetus' im Sinne von eompassio des inneren und imitatio des äußeren Menschen orientiert war. VgI. Elze. a.a.O.• S.142. 9 nSaeramentum est. quod nostram mortem spiritualem sua morte eorporali lignifieat" (1. 337 = M.8).
15
vergebung erwirbt nur Christus mit seinem Leiden. ,.Da wird zu wasser aller Heiligen, Propheten und Marterer leiden. Denn kein Ertzvater, Prophet, Apostel oder heiliger er heisse wie er wolle zu mir sagen thar: .das hab ich umb deinet willen gelidden ... wir thüren auch zu keinem Heiligen sagen: Petre oder Paule, Ich verlasse mich auff dein leiden" (28, 229 ::: M. 31). Diese Exklusivität des sühnenden Leidens Christi betont Luther seit etwa 1521 so stark, daß daneben der Gedanke von der compassio des Menschen als Mitleiden im Gewissen bis hin zum geistlichen Tod völlig in den Hintergrund tritt. Luthers ganze Sorge ist jetzt darauf gerichtet, den Menschen aus jeder Analogie mit dem das Strafleiden tragenden Christus herauszunehmen. Freilich hat er auch im "Sermon" schon vom Nicht- (mehr-)Leiden des Menschen gesprochen, wo es um die Erlösung von der Sünde und um die Befreiung von den Gewissensqualen ging. Eine Selbsterlösung durch das eigene Leiden, und sei es das tiefste und aufrichtigste Gewissensleiden, hat er immer abgelehnt. Der Versuch, durch Reue und Genugtuung das Gewissen zu stillen, galt ihm auch im "Sermon" als Vermessenheit. Aber die im compassio-Gedanken angelegte Ähnlichkeit zwischen Christus und dem Menschen entfaltete doch im "sermon" eine Eigendynamik, so daß Luther das Nicht-Leiden des Menschen zunächst nur mit dem Aufhören des Leidens Christi begründen konnte und erst in einem neuen Ansatz gerade mit diesem Leiden selbst als dem allein sühnenden und darin stellvertretenden. Wenn Luther nun die Unfähigkeit des Menschen zum sühnenden Leiden so stark herausstellt, dann geschieht das wohl aus der Erkenntnis heraus, daß ihm die Vertiefung des compassio-Gedankens die Argumentation gegen eine andere Fehlentwicklung der mittelalterlichen Passionsfrömmigkeit erschwert: gegen die aus dem imitatio-Denken entspringende Auffassung von der Verdienstlichkeit des Leidens, das man um der eigenen oder gar um fremder Sünde willen freiwillig auf sich nimmt. Die compassio konnte von dieser Leidensetbik her so mißverstanden werden, daß der Mensch, der (gewiß mit Christus, mit ihm aber doch) den eigenen geistlichen Tod stirbt, das Mitauferstehen zum ewigen Leben zumindest auch diesem eigenen Sterben verdankt. Um dieser für ihn ärgsten Verkehrung des Werkes Christi keinen noch so geringfügigen Anlaß zu geben, .hat Luther später die compassio so weit wie möglich vom Siihneleiden getrennt und ihre Bedeutung auf das Leiden des erlösten Menschen in der Nachfolge, also nach dem Exempel Christi eingeschränkt. Den "rechte(n) unterschid zwischen des Herrn Christi ·und unserm leyden" erläutert Luther etwa am Beispiel der Kreuztragung Simons von Kyrene und Christi.. "Simon tregt des Herren Christicreutz biß an die walstat, da geht er davon, Christus aber lest sich an das creutz hengen und stirbet dran." Das bedeutet: .,Wir verdienen mit unserm leyden vergebung der sünden nit, zu solchem gehöret allein das leiden unsers Herrn Christi, er ist allein das rechte opffer unnd Gottes Lemblein, das für aller welt sünde zalet und gnug thut." Simon aber ist ;,ein vorbild . . . aller Christen, Die müssen des Herrn Christi creutz tragen, Aber umb solches tragens willen werden jnen jre sünde nit vergeben, dem alten Adam wirt damit gewehret, das er nit zu mutwillig werde" (52, 796 f.). Die strikte Unterscheidung des menschlichen Leidens von dem Christi ist also zunächst und wesentlich darum nötig, weil der Mensch durch eigenes Tun oder Leiden keine Sündenvergebung erlangen kann. Eben dieser vermessene Wunsch aber ist "seer
16
tief eingewurtzelt in cOllübus hominum". Die Mönchsorden verdanken ihre überzeugungskraft dem Gedanken: "Duldest du, so wirst du geduldig und wirst Vergebung der Sünden haben...10 Sie rühmen das Leiden als höchste religiöse Leistung des Menschen: "Was solls erst gelten, wenn so fromme Leute leiden und gern um Gottes willen leiden!"tl Diese Haltung aber beruht auf einer völligen Verkennung des Wesens und der Schwere der Sünde. "Setzt als auff ein hauffen (passiones) omnium hominum et die: Omnes illae passiones non vermugen ein tegliche sund zu pussen" (29, 227 = M. 81). Diejenigen, die es sich schwer zu machen glauben mit -ihren selbstgewähiten Leiden, machen es sich in Wahrheit viel zu leicht. Sünde ist Luther zufolge durch keinerlei menschliche Anstrengung zu sühnen. Aber die Anstrengungen des selbstauferlegten Leidens sind nicht nur vergeblich, weil die Sünde zu schwer ist. In ihnen äußert sich vor allem die tiefste und verborgenste Sünde, die Ursünde, die den Menschen zu Fall brachte: der Selbstbehlluptungswille gegenüber Gott. Er will aus eigener Kraft leben und bestehen, sich von Gott nicht dienen und sich nichts schenken lassen. Dieser Wille macht das Leiden zum "Werk", durch das er sich gegen Gottes unbedingten Anspruch sichert, allein der Helfer und Retter des Menschen zu sein. "Solcher mensch bedarf nicht vergebung der Sünden noch des Herrn Christi hülffe. Nu aber ist das Gottes werck Sünde vergeben, gerecht und selig machen. Darumb wer diese werck jm selbs und seiner eigen Wirdigkeit-und gerechtigkeit zuschreibet, der macht sich zu Gott" (28, 350 = M. 63). Von dieser hinter dem Werk des eigenen Leidens verborgenen Gotteslästerung, der Sünde gegen das 1. Gebot, kann der Mensch nur frei werden durch die völlige Selbstpreisgabe; d. h. durch den Verzicht auf solches Leiden und die Annahme des "umsonst" geleisteten Dienstes Christi}2 Weil der Mensch sich um Gottes und um seiner selbst willen nicht an Gottes Stelle setzen darf, sondern Gott in Christus an seine Stelle treten lassen muß, darum darf er selbst nicht leiden wollen, sondern muß Christus für sich leiden lassen. Wir sind ausgegangen von der Verschiedenheit der zwei Gedankenlinien, die sich in Luthers Verständnis von der Beziehung zwischen Christi Leiden und dem des Menschen finden. In der Auseinandersetzung mit einer Auffassung von der cornpassio, die den Menschen im Grunde unberührt läßt, betont Luther die Notwendigkeit des menschlichen Mitsterbens mit Christus. Wo aber das Leiden als Leistung gegenüber Gott, gar als ein die Sünde tilgendes Werk verstanden wird wie in einem falschen imitatio-Denken, dessen Devise lautet: Christus hat gelitten, nun müssen wir das unsere tun - da verwirft Luther jeden Gedanken an ein Mitleiden des Menschen mit Cliristus. Aufbeiden Wegen
'10 .Si pateris, patiens eris, habebis remissionem peccatorum." (29, 227 =M. 81) 11 .Quid si tales patiuntur und gern et propter deum?" (29, 228 =M. 81) 12 Vgl. Luthers Paraphrase von Jes. 43, 24: .,Nihil mihi fecistis, sed servire me fecistis in peccatis vestris. Ich mus drüber schwitzen, das du zugericht hast per peccatum. Si debemus salvari, nihil tuus cultus, pompa, Moncherey nun sed quo fio tuus servus et erbeiter und diene und erbeite umb sonst, und die hast du mir zugericht tuis peccatis._ Ideo Christi passio sola dei iram versunet." Daraus ergibt sich die Forderung, nut lassen fahren, quidquid sum et habeo, et sciam, quod non consilium, auxilium, et meide alle cultus" (46, 287 =M. 131 f.).
17
will er also die Passion Cluisti als ein Geschehen aufzeigen, das die geheimste Sünde des Menschen aufdeckt und zerstört, den Menschen aber gerade so hellt. Nach 1519/21 wandelt und vertieft sich nur seine Antwort auf die Frage, worin denn die abgründige Verderbnis der menschlichen Natur bestehe. Sieht er sie zunächst in einer vom Sündenbewußtsein kaum zu erschütternden Sicherh,eit. so findet er sie später eher in dem durch Leiden und Bußübungen fromm verdeckten SelbstbeJuz,uptungnvillen gegenüber Gott. 3. Die Hauptgedanken von Luthers Passionspredigt Wir sind im Ausgang von den polemischen Motiven in Luthers Passionstheologie bereits zu zentralen Aussagen über die Bedeutung des Leidens Cluisti für den Menschen vO.rgestoßen. Aber damit ist Luthers Passionsverständnis noch nicht vollständig beschrieben. Für die folgende parsteIlung der Hauptgedanken von Luthers Passionspredigt halten wir uns an ein Schema, das vielen seiner Predigten zugrunde liegt, insbesondere solchen, die den Zweck der Passionspredigt grundsätzlich bedenken. "Wenn man von dem leyden unsers Herren Jesu Cluisti will predigen, so muß man nicht allein die Historien von wort zu wort den leuten fiirlesen, Sonder sie auch vermanen und lehren, das sie gedencken, warumb Christus also gelitten hab, und wie sie solches leydens geniessen sollen" (52, 228). Dies ist gewissermaßen das Programm, nach dem Luther in seinen Passionspredigten verflihrt. Die "Historie" ist ihm wichtig, und er will an dem guten Brauch festhalten, einmal im Jahr zu festgesetzter Zeit die Passion zu predigen, damit "simplices und jungen leute" sie sich fest einprägen und behalten (41, 41 = M. 144). Auch die Vergeßlichkeit und Trägheit des menschlichen Herzens nötigt dazu, die Passionsgeschichte ständig zu wiederholen (52, 228). Aber solche ,historische' Predigt richtet nicht viel aus, wenn nicht Ermahnung und Lehre hinzukommen, "wie man solches leyden ansehen, sein geniessen und es brauchen soll" (52, 229), ,.wie ... wirs uns nutz machen (sollen)" (52, 735). Diese und ähnliche Wendungen kehren in vielen Predigten wieder. Luther bestimmt diesen Nutzen im "Sermon" als einen zweifachen und nach der Preisgabe des Sakramentsbegriffs um 1521 als einen dreifachen: Die Passion gewährt Erkenntnis der eigenen Sünde, Trost für das angefochtene Gewissen und ein Exempel für das Leiden in der Nachfolge. Diese drei Gesichtspunkte sollen die folgende Untersuchung leiten.
a) Sündenerkenntnis als Wirkung der IJassion Wirkliche Sündenerkenntnis gewinnen wir nur aus der Betrachtung des Leidens Cluisti. Denn "wir arme menschen sind durch die sünde dermassen verblendet und verderbet, das wir unsern eygen schaden und mangel nit genugsam erkennen können" (52, 735 f.). Dem sündigen Menschen fehlt der richtige, nämlich absolute Maßstab, an dem er sein Leben messen könnte; die relativen Maßstäbe des eigenen Herzens und der Welt lassen
18
die Sünde zunächst immer als ,.ein seer geringes, schlechtes ding" erscheinen (52,737), machen sie aber, wenn sie begangen ist, so groß und schwer, "das das hertz für engsten nit weyß, was es thun oder lassen soll" (52, 774). Dieses Schwanken zwischen zwei Maß-losigkeiten des Sündenbewußtseins hört erst auf, wenn der Mensch seine Sünde an der Unschuld Christi mißt. Da sieht er, wie "die fremde sünd Christum darff an· greyffen und kan jhn schrecken, der doch keiner sünden ist schuldig worden" (52, 737 f.), und er hört, daß "kein mensch, kein Engel noch ander Creatur für die sünde hat können bezalen, Der Son Gottes hats allein müssen thun". Das daraus folgende Bewußt· sein, "wie ein greu1ich ding es umb die sünde ist" und "das die sünd ein untregliche last sey" (52, 231), unterscheidet sich nur durch seinen Gewißheitsgrad von der maßlosen Selbstverurteilung. Man könnte sagen: aus dem maßlosen wird das absolute Sündenbe· wußtsein, indern die Sünde zu Christus in Beziehung gesetzt wird. Dadurch wird aber nicht nur die Sünde erst wahrhaft erkannt, sondern darüber hinaus wird sogar die ,Notwendigkeit' des Versöhnungshandelns Gottes, wie es die Schrift verkündet, der Einsicht erschlossen: Christus "hat müssen umb der sünden willen seinen leyb auff· opffern und arn Creutz sterben. Was kanst du aber hierauß anders schliessen, Denn das die sünde so ein groß, grewlich thun sey, das es unmöglich ist gewest, allen Creaturen einige hilff dawider zuthun? Hat uns aber sollen davon geholffen werden, so hat der ewige Sun -Gottes müssen mensch werden und den tod arn Creutz darfiir leyden unnd also von der sünde uns ledig machen. ,,13 Dieser Rückschluß auf Gottes Handeln ist jedoch niemals das Ziel von Luthers Ausführungen; vielmehr dient er nur dazu, den Entschluß des Menschen voranzutreiben, sich von der Sünde loszusagen. Denn wenn auch in den späteren Predigten noch davon die Rede ist, daß die Sündenerkenntnis das Gefiihl bewegt und dem Menschen vor Leid ,das HeIZ übergeht' (52, 230), so gilt doch jetzt die Maßlosigkeit der VeIZweiflung, die aus solcher Erkenntnis im Gewissen entstehen kann und sogar den leiblichen Tod als befreiend erscheinen läßt, als die schwerste Anfechtung, der wir gerade in unserer Sündhaftigkeit freilich leicht erliegen (52, 736). Dagegen ist die aus der Betrachtung des Leidens Christi gewonnene Erkennt· nis richtig angewandt, wenn sie uns als "ein köstliche Ertzney wider die sünde" dient, "Das wir lernen Gottförchtig seui und uns für sünden hütten" (52,232). Das Bild des leidenden Christus stärkt den Willen, den Vertlihrungen der Sünde zu widerstehen, während andere, "so dises bild nit vor augen haben, sich wie die kue arn strick fiiren und treyben lassen, wo der Teuffel hyn will" (52, 737). Feindschaft und Widerstand gegen die Sünde sind also die erste "Frucht" der Passionsbetrachtung.
13 (52, 737) - Ein Seitenblick auf Anselms "Cur deus homo" kann an dieser Stelle eine kleine, aber bedeutsame Differenz zwischen Anselms und Luthers im übrigen ja stark anselmisch geprägter Versöhnungslehre verdeutlichen. Während Luther vom Anblick des leidenden Christus aus zu dem ,RUckschluß' auf die Schwere der SUnde und auf die .Notwendigkeit der Hilfe allein durch den Tod des Gottessohnes veranlaßt wird, ist dieses Schlußverfahren bei Anselm "remoto Christo' und ",ationibus necessariis". möglich (Cur deus homo, Praefatio).
19
b) Tröstung des (lewissens als Wirkung der Passion Aber Luther verweilt nie lange bei diesem Gedanken. Denn so wichtig auch die Passion als "Ertzney ... wider die sünde" ist, die eine wirkliche stetige Besserung des Lebens bewirkt, viel wichtiger ist sie doch als ,.ein Ertzney wider den tod. Denn wer da glaubt, das der Sone Gottes für seine sünd gestorben und mit dem todt dafilr bezalet hab, Der kan ein fridliches hertz auff Gottes giite fassen und sich wider sünde und den ewigen tod trösten" (52, 232). ·Will man das eigentliche Pathos der Lutherschen Passionspredigt verstehen, so braucht man nur die hier in einem Satz prägnant zusammengefaßten Gedanken zu entfalten. Schon die Struktur dieses Satzes ist aufschlußreich. Sein Zenttu.'!l bildet eine fonnelhaft verkürzte Darstellung des Versöhnungsgeschehens, eingerahmt vom Hinweis auf den Glauben als die Voraussetzung seines W"trksamwerdens und auf Zuversicht und Trost als die Folgen der geglaubten Versöhnung. Diese Verklammerung von Glauben, ,objektivem' Versöhnungsgeschehen und Trost ist die Grundfigur von Luthers Passionsbetrachtung. Was Christus zu unserer Erlösung tut, das beschreibt i..uther auf vielerlei Weise, meist mit Hilfe traditioneller Vorstellungen wie denen des Priesters oder des Lammes, des Bürgen, der stellvertretend für den Schuldner die Bezahlung leistet, des Kämpfers gegen den um der Sünde willen mächtigen Teufel. Alle diese und einige eigene, neue Vorstellungen14 stehen nebeneinander, sie werden unsystematisch und ohne Rücksicht auf ihre verschiedenartige Herkunft aus der ,klassischen' oder der )ateinischen' Tradition der Versöhnungslehre gebraucht. 15 Zweifellos dominieren aber diejenigen; die das Leiden Christi als Strafleiden unter Gottes Zorn verstehen. "Also ligt es bedes auff Christo, das er ein fluch und darnach ein sünde, das ist: ein sünden opffer wirt, da aller menschen sünd und folgends der zorn Gottes und schmehlicher todt auffligen", paraphrasiert Luther 2. Korinther 5,21. Und zu Galater 3, 13 sagt er: ,.Er ist für uns ein fluch worden, er hat Gottes zorn getragen und für unsere sünden bezalen wöllen." Schließlich zitiert er Römer 8, 3: ,.Gott verdammet die sünde im fleisch durch die sünde" (52, 807). Auf dieser Erfiillung des hohepriesterlichen Amtes ruht Luthers christologisches Interesse in den Predigten fast ausschließlich. Wenn er jedoch über die Person Christi spricht, dann meist in der Absicht, die Realität seines inneren und äußeren Leidens durch Betonung seiner menschlichen Natur hervorzuheben. Seine göttliche Natur läßt ihn zwar die Angst der Verdammnis überhaupt aushalten, erleichtert sie ihm
14 Z. B. der Vergleich mit der Mutter, die ohne Bedenken durchs Feuer läuft, um ihr Kind zu retten
(52,240). 15 Zur Auseinandersetzung um diese beiden ,Typen' der Versöhnungslehre vgl. im Literaturverzeichnis: Alpers, Aulen. TiilUä.
20
aber nicht. Im Gegenteil, da sie ihn ohne Sünde leben läßt, wird ihm die Last der frem· den Sünde noch schwerer, als sie jedem anderen Menschen wäre (52, 734 f.).16 Wir haben die obigen Zitate z. T. gekürzt wiedergegeben, um zunächst einmal den Blick auf die christologischen Voraussetzungen des Versöhnungsgeschehens zu lenken. Es darf dabei aber nicht übersehen werden, daß eine solche Isolierung Luthers Auffassung von Christi Werk widerstrebt. Sein Opfer ist von vomberein Opfer für die Menschen. Als an sich wertvolle, die ,objektive' Schuld ausgleichende Leistung gegenüber Gott, wie die Satisfaktion bei Ansehn verstanden wird, bedenkt Luther das Werk Christi nie. Die innergöttllche Funktion des Todes Christi wird völlig vernachlässigt zugunsten der mediatorischen. Freilich wird Gott durch Christus versöhnt - mit den Menschen. So kann die anselmische Frage, wie denn die Versöhnung Gottes den Menschen zugute kommen könne, bei Luther gar nicht auftauchenP Vervollständigen wir nun die verkürzten Zitate, so zeigt sich an der fmalen Beziehung zwischen Christi Werk und seiner Wirkung der unlösbare Zusammenhang beider. Auf Christus liegen Gottes Zorn und ein schmählicher Tod, "uns zur hülff, das wir dardurch quit und ledig werden, Wie Johannes der Tauffer jn darumb nennet ein lemlin, das ist: ein schlachtschaff und Opffer, von Gott dazu geordnet, das er der ganzen welt sünde soll wegnemen." Er ist für uns ein Fluch geworden, "auff das wir zum segen kämen, das ist: den heiligen Geyst entpfiengen, von sünden ledig unnd kinder Gottes würden." Gott verdammt die Sünde im Fleisch durch die Sünde, "das ist: Gott hat uns von sünden ledig gemachet durch seinen eingebomen Sun, der ein sünd opffer worden und für die sünde bezalen und also den segen Abrahe auff uns, die wir unter dem fluch waren, bringen solt" (52, 807). Es findet ein Tausch statt, gewisSermaßen eine Verwechslung zwischen Christus und den Menschen, die eine Verkehrung der gesamten durch die Sünde bestimmten Weltordnung einschließt. In aller Schärfe wird dies erfahren angesichts des toten Christus. "Ibi peccatum, mors, Satan domini super Christum, das die peccatum mus yhn haben erschreckt, hat· nichts gespart, sed reichlich an yhm ausgericht, mundus, caro eius infirma, deinde Satan, die sund hat iusticiam niddergeschlagen et versenckt spiritum, Diabolus ex sede deum gestossen. Deus ist teuffel worden, econtra inferi coelum. Was do oben sol ligen, das ligt unten. Econtra. Das leben ist iczt der todt. Der hymmel ist die hel. Die gerechtigkeit yn Christo ist iczunder ßunde. Omnia contraria apparent" (29, 253 =M. 99f.).
16 Der Unterschied zwischen Anselm und Luther wird besonders deutlich daran, wie sie die Funktion der zwei Naturen in Christus beschreiben. Anselm zufolge kann Christus nur mit seiner menschlichen Natur die Satisfaktionsleistung als Äquivalent für die Gott vom Menschen geraubte Ehre erbringen; die göttliche Natur setzt nur die menschliche zu dieser Leistung instand und verleiht ihr den unendlichen Wert, den sie wegen der unendlichen Schwere der Sünde haben muß (Cur deus homo 11, 6 f., S. 96 Cf.). Luther betont mit Anselm die Menschlichkeit des Erlösers, jedoch nur, um die Schwere des Leidens ("was es ihn gekostet hat-) zu kennzeichnen. Anselm sichert die Gültigkeit der Leidensleistung, Luther die Wirklichkeit der Leidenserfahrung. 17 Anselm beantwortet sie durch die Neubestimmung des Werkes Christi als meritum, rur das ihm von Gott eine Belohnung zusteht. Da er selbst als Gottmensch ihrer jedoch nicht bedarC, wendet er sie seinen Nachfolgern zu (Cur deus homo 11,19, S. 148 Cf.).
21
Mit solch harten, ans Blasphemische streifenden Paradoxien kann Luther die gewaltige Wende beschreiben, mit der Gott die menschliche Verkehrung, die Sünde, wieder zurechtbringen mußte. In solchen Äußerungen liegt mehr als die Anwendung eines Ordnungsgedankens, nach dem Gleiches durch Gleiches aufgehoben - eben: ausgeglichen - würde. 18 Daß in der Passion Christi allem Augenschein -nach der Teufel gesiegt hat, ja daß Gott dem Heiligen als Teufel erscheinen mußte, diese extreme Aussage enthält vielmehr gerade das Eingeständnis des Scheiterns aller rationalen Bemühungen, die Hellsbedeutung dieses Todes unmittelbar zu erfassen. Wir sind hier wohl zu dem äußersten Punkt vorgedrungen, zu dem sich Luther im Bedenken der Passion Christi vorwagt. Er spricht hier seine tiefste Erfahrung vom Wesen einer Welt aus, in der das Heilige und Hellende nur unter der gegensätzlichen Gestalt des Unterliegenden, der Bosheit Preisgegebenen erscheinen kann. Der Glaube, der dies an Christus erfahren hat und der durch das Paradox hindurchzudringen vermag, der im Teufel den Gott, in Gottes Zorn seine Liebe, im Besiegten den Sieger und bn Gekreuzigten den Erhöhten zu sehen vermag, ist darum der einzig tröstliche, denn er kann das Scheitern zugleich aushalten und überwinden. 19 Aus dieser Tiefenschicht von Luthers Passiansverständnis heraus müssen wir auch die in den Predigten immer wieder gebrauchte Fonnel verstehen, das Leiden Christi sei "uns tröstlich", wir sollten "seines Leidens uns trösten". Darauf kommt alles an, vor diesem Trost stehenzubleiben bedeutet Verzweiflung, well man dann dem Augenschein des teuflischen Triumphes verhaftet bleibt. Der Austausch, den Gott zwischen Christus und uns vorgenommen hat, muß von uns ohne Vorbehalt angenommen werden; es bleibt kein Rest von Sünde und Sündenstrafe mehr, die wir selbst noch beiseitezusch8ffen hätten. "Ligen nu deine sünde auf{ Christo, so sey nur in deinem hertzen zu friden, sie -ligen am rechten ort, da sie -hyn gehören.... Darumb laß sie nur auff Christo ligen und schaw, wo er mit hin komme. Mit jm bringt ers an das Creutz, Ja er stirbet drüber, Aber am dritten tag lest er sich sehen alß einen Herren uber sünd, Tod und Teuffel" (52,. 738 f.). Daß der Trost keine bequeme Beruhigung bedeutet, sondern als Ennutigung angesichts der Bedrohung durch Sünde und Tod dient, drücken die folgenden Worte des Glaubenden aus: "Es ist genug, das mein Herr Christus Jhesus also trauret
18 Nach AnseIrn bedarf es der satisfactio fdr die Sünde vor allem deshalb, weil es Gott nicht geziemt, "etwas in seinem Reiche ungeordnet zu lassen" ("Deum vero non decet aliquid inordinatum in suo regno dimittere." Cur deus homo 1,12, S. 42 f., vgl. auch 1,13.). 19 Man erkennt hier die Entfaltung und Vertiefung des Gedankens aus dem .Sermon", der dort noch wie ein Fremdkörper innerhalb des compassio-Denkens wirkte: Durch Gottes Zorn, den Christi Passion offenbart, muß der Glaube hindurchdringen zum Anblick seiner Liebe (s. o. S.14). Dieses Hindurchdringen bedeutet freilich nicht, daß nunmehr der Gedanke des göttlichen Zorns als eine Selbsttäuschung des noch nicht versöhnten Menschen überwunden wäre. Gegen diese die reformatorische Theologie verflachende Versöhnungslehre Ritschls und seiner Schule hat insbesondere Th. Harnack unermüdlich betont, "dass Luther den Zorn ebenso wie die Gnade, als wirklichen und eigentlichen Zorn Gottes auffasst und demselben Wirklichkeit und Wahrheit in Gott selbst, nicht bloss im Bewußtsein der Creatur zuschreibt" (Luthers Theologie I, 296. Vgl. auch 11, 17 ff. u. ö.).
22
und zaget hat, Mit meim trauren richte ich nichts auß, Er aber hat mir niit solchem seinem trawren das auß gerichtet, das ich ferner gutter ding sein, fiir der sünde unnd dem todt mich nicht förchten, sondern seines sterbens mich tröSten und Gottes gnad und ewiges leben hoffen soll" (52, 739). Wie der Sieg des Bösen, in Christi Tod augenfällig geworden, dem Menschen zutiefst erfahrbar wird in einem von der Sünde geängstigten Gewissen, so wird auch der Trost im Gewissen erfahren: ,.Diß ist das eynige mittel, da die armen, geengstigten gewissen sich an halten sollen, wenn jhr eygen hertz der sünden halben sie quelet und engstet" (52, 739). Dieser Trost ist der zweite und wichtigste ,.Nutzen" der Passionsbetrachtung, seine Entfaltung das zentrale Anliegen von Luthers Passionstheologie. Die Zuversicht des getrösteten Gewissens bewährt sich vor allem in einem neuen Verständnis des eigenen Leidens. Das Leiden ist stets dann eine schwere Anfechtung, wenn wir es verstehen müssen als Ausdruck der gerechten Strafe Gottes fiir unsere Sünde. "Wir haltens dafiir, weyl Got uns lest in angst und not kommen, er zürne mit uns und sey uns feynd" (52, 739).20 Das Gewissen ist dann die Instanz, welche die Zusammengehörigkeit von Sünde, Zorn und Strafe bestätigt lmd Gottes in der Strafe zutage tretendem. Verdammungsurteß recht gibt. "Ein sünder bin ich, das ist leyder war, Die sünde schrecket mich, das Me ich leyder wol, unnd will ymmerdar mir das hertz sincken, Ich förchte mich vor Gott und seinem harten urteyl" (52, 738). Diesen Zusammenhang hat ~tus durchbrachen, indem er als der Gerechte meine Sünde auf sich geladen hat. ,.Darwnb will ich sie da ligen lassen und gewiß hoffen; ich kömme tlir Gott und sein urteyl, wenn ich wölle, so wert Gott keine sünde an mir finden" (52, 738). Diese Hoffnung gründet sich auf die Zusage der Liebe Gottes, deren höchsten Beweis Luther besonders mit Paulus (z. B. Römer 5,8-11) und Johannes (z. B. 3,16) im Leiden wd Sterben Christi sieht. Daß Gott uns nicht mehr mit Zorn, sondern mit Liebe begegnet, ist der theologisch prägnanteste· Ausdruck fiir die Wirkung der Passion, die gegen jenen ,rationalen' Zusammenhang, gegen Vernunft und Augenschein dem Glauben zugänglich ist. ..Wenn unser gewissen unnd sünde uns solche hoffnung der .liebe Gottes gegen uns nemen will, Sollen wir uns hieher halten unnd dises treftliches pfand der lieb an die band fassen, das Got seinen Son hat fiir uns sterben lassen, da wir noch sünder waren" (52, 234). Auch muß die Anfechtung, "das wir besorgen, Gott zörne mit uns", wegen der täglich neuen Siinden immer wieder überwunden werden (52, 234 f.).21 Im Leben des Glaubenden bleiben also sowohl Sünde als auch Leiden, fortgenommen ist jedoch ihr das Gewissen schreckender Zusammenhang mit dem Zorn Gottes.
20 Vgl. auch 52, 792 f.: ..Denn so bald Got mit dem creutz kombt, Er greifft dich am leib, am gut, mit bösen kinden oder sonst an, entCellet uns das hertz, das wir schliessen, Gott meyne es nit gut mit uns, So er uns lieb hette, er würde wol freundlicher mit uns umbgehn, Weyl er aber uns so drucken, plagen und zermartern lasse, besorgen wir, es sey anzeygung, das er mit uns zürne und uns nit wölle gnedig sein."
21 Vgl. überhaupt die Passionspredigt der Hauspostille, die ganz diesem Thema gewidmet ist: 52, 228-236.
23
Gleichwohl ist damit nicht jede Beziehung zwischen Sünde und Leiden für den Glaubenden einfach aufgehoben. Nicht einmal als Strafe ist es völlig ausgeschlossen. "Denn Gott pflegt auch an den seinen die sünde zu straffen, Wie Petrus sagt: Das gericht fahet am hause Gottes an" (52, 795). Dies ist aber ein Strafen aus väterlicher liebe, wie ein Hausvater den Sohn, den er liebt, strenger behandelt als den Knecht. In engem Zusammenhang mit diesem ,erzieherischen Strafleiden' steht eine andere Form des christlichen Leidens, von dem Luther gelegentlich spricht. Es ist das Leiden als Mittel, ja als Hilfe im Kampf gegen die bis zum Tode bleibende Sünde des "alten Adam". "Vetus Adam patitur et fit ex etema passione temporalis, quia eternum debuissem hoc pati, quamquam haec whe thut, tamen melius, ut tempus hoc patiaris" (17, 74 M. 20). Jedoch steht in den Passionspredigten die Warnung vor dem Vertrauen auf eigenes Leiden als sühnende Leistung so sehr im Vordergrund, daß hier das Motiv des aktiven, kämpferischen Leidens keine bedeutende Rolle spielt. Menschliches Leiden in den PassionspredigteIl ist vor allem das Leiden in der Nachfolge Christi.
=
c) Die exemplarische Bedeutung der Passion
Es ist hier also von dem dritten Nutzen der Passion Christi zu sprechen, demzufolge sie uns zum Exempel wird. Zwar ist unser Leiden weder so schwer wie das seine noch ist es verdienstlich. Aber nachdem Luther dies mit aller Eindringlichkeit herausgestellt hat, trägt er keine Bedenken, die exemplarische Bedeutung der Passion Christi als eine Parallelität zwischen seinem und unserem Leiden zu interpretieren, die bis hin zu einer IdentiflZierung des leidenden Menschen mit dem leidenden Christus fiihren kann. Mit fast anmaßend wirkender Selbstverständlichkeit zeichnet Luther etwa das Schicksal der Reformation oder des ,Evangeliums', wie er meistens sagt, in das Schicksal der Passion Christi ein. Dabei wandelt sich auch die Perspektive, unter der das Leiden Christi gesehen wird: Es wird in diesem Zusammenhang bestimmt als Leiden, das ihm ,die Welt' (geistliche und weltliche Herrscher, Judas und die Soldaten) und der Teufel verursacht haben, wärend im Zusammenhang der Soteri~ogie immer ,meine Sünde' und Gottes Zorn als ,Ursachen' seines Leidens genannt werden. Wie also Christus von den Juden und Römern Lüge, Verleumdung, Verfolgung, Bosheit und Gewalt erdulden mußte, so ergeht es auch heute dem Evangelium durch "die Papisten" oder die weltliche Obrigkeit. Die Deutung der Passion Christi als Exempel, als Modell der Welt, hilft Luther, die Ereignisse der Reformation zu erklären und das eigene Handeln zu rechtfertigen. Insbesondere gegen den Vorwurf der Anstiftung zum Aufruhr als dem wohl gefährlichsten Argument gegen die ,neue Lehre' verwahrt Luther sich mehrfach mit dem Hinweis auf die verleumderische Anklage, die Christus sich vom Hohen Rat gefallen lassen mußte. Die Gerichtsverhandlungen gegen Christus vor den Juden und vor Pilatus, die immerhin in fünf der dreizehn Predigten der "Passio" behandelt werden, benutzt Luther insgesamt zu einer großen Auseinandersetzung mit den Gegnern der Reformation. Dieses Verfahren, die exemplarische Bedeutung der Passion für den aktuellen kirchlichen Kampf zu nutzen, verleiht den Predigten einen stark polemischen
24
Zug. 22 Die folgende Passage vennag die Identifizierung der Passionen sowie die polemische Absicht besonders deutlich zu erhellen. Zur Frage des Hohenpriesters nach Christi Lehre und.der darauffolgenden Verspottung Christi als Ketzer heißt es: "Sihe aber mit fleyß darauff, ob es dem Euangelio heutigs tages nicht auch also gehe? Die Papisten fragen uns und wöllen unser lehr wissen. Wenn wirs denn auff das einfeltigst und treuliehst bekennen, wie zu Augßpurg und anderswo auff dem Reychßtage geschehen, so gehet das geschrey mit macht: ketzerio, ketzerio, und seumet sich "niemand;was er für schmach, hon, spot und schaden den armen Christen kan zu fligen, das thut er. Ey, sagens, seyt jr die Euangelischen, ist das ewer Euangeüon? beyte, Wir wöllen euch des Euangeüons geben. Haben also "des Passion hin und wider mit den fromen Christen in Deutschland, Welschland, Franckreych, EngeIlant gespilet, das es Gott erbarm. Darumb mögen wir solchen processum julis bey den geystlichen wol und fleyssig mercken, ob dergleichen uns auch begegnet, das wir auffunsern Herren Christum sehen und an jm gedult lernen und den rechten trost schöpffen, ob wir seines worts halb mit jm müssen leyden, das wir auch mit jm leben und herrlich sollen sein" (52, 763). Unter vier Gesichtspunkten soll im Anschluß an diese Passage die Bedeutung des exem-
plarischen Aspekts der Passion abschließend zur Geltung gebracht werden. 1. Die Passage bestätigt, daß das Leiden hier nicht als Strafleiden, sondern als unschuldiges Leiden verstanden wird, daß also die Beziehung zwischen Siinde und Leiden eine andere ist als in den übrigen Begründungen der Notwendigkeit menschlichen Leidens. Hier leiden der Christ und die christliche Kirche, weil die ,Welt' sie mit dem gleichen Haß verfolgt, mit dem sie Christus yerfolgt hat. Die Ursache des Leidens liegt außerhalb des Leidenden in fremder, nicht in eigener Sünde. Aber auch SO bleibt die Beziehung zwischen Sünde und Leiden bestehen. Freilich bedeutet dieses schuldlose Leiden unter der Sünde der Welt nicht ein Leiden für ihre Sünde. Daß uild warum Luther den Opfergedanken aus dem Verständnis des menschlichen Leidens eliminiert, wurde bei der Erörterung der soteriologischen Aspekte der Passion ausführlich dargestellt. Andererseits steht das Leiden der Christen aber nicht einfach in einer Art Solidarität mit der Schuld der Welt, sondern ist als "der heyligen Creutz" durchaus zu unterscheiden von "der Gottlosen wol verdienten straff und plage" (52, 793).
22 Hinter dieser Polemik steht aber in den Predigten offenbar nicht der Gedanke, daß der Pllpst der Antichrist sei, obwohl dieser Gedanke Luther bekanntlich sonst durchaus nicht fremd war. (S. dazu G. Seebaß, Art. "Antichrist IV· in: TRE 111, 28 ff.) Der Papst, die "Papisten" sind in den Predigten die heutigen Gegenspieler Christi in der Rolle des Kaiphas, des Judas und der Priester, nicht aber Verkörperungen des "Widerchrist, der sich an Christi Stelle setzt, Christus zu sein beansprucht und doch den äußersten Gegensatz gegen ihn bUdet" (G. Kawerau, Einleitung zu "Passional Christi und AntichristiM, 9, 677). Möglicherweise haben die historischen Modelle, denen die Gegner der Reformation in den Predigten nachgebildet werden, ihre Überhöhung zum ,Antichrist' verhindert, zumal dieser Name sich nur auf den Papst bzw. das Papsttum, nicht auch auf seine weltlichen Verbündeten hätte anwenden lassen.
25
2. Wiederholend sei auch darauf hingewiesen, daß die Passion, als Exempel verstanden, ein Modell fiir das Weltverständnis der Christen bietet. Es kann in ihrem Leiden nichts geben, was nicht in Christi Passion vorgebildet wäre und darum von ihr her nicht seine Deutung empfangen könnte. Daß dies nicht nur die Rechtfertigung des Leidens, sondem auch die Rechtfertigung des unschuldig Leidenden einschließt, dürfte bereits aus dem zuvor Ausgeführten hervorgehen. Zweüellos ist damit ein starkes Motiv zur inneren Bewältigung des Leidens gegeben. Aber man wird noch mehr sagen müssen: Die Passion als Leidensmodell hilft auch, zwischen ,richtigem' und ,falschem' Leiden zu unter· scheiden und dem letzteren Widerstand entgegenzusetzen. Wie Christus seinen Feinden widersprochen hat, wenn es nicht um seine Ehre, sondern um Gottes Ehre und Wahrheit ging (52, 762), so sollen auch die Christen mit mutigem Bekenntnis hervortreten, "wenn das Euangelion verfolget und die armen Christen drüber gemartert werden" (52, 822). Auch lern"n wir an dem Modell, daß nur das ungesuchte Leiden das Kreuz Christi ist. Simon von Kyrene, der erste Nachfolger im Leiden, wird wiederum Vorbild für die Christen: "Ob gleych fleysch und blut gern ruhe hette unnd des leydens gern wolt uberhoben seyn, so folgen sie doch, sie lassen jnen sagen und geben sich in Gottes willen und helffen dem herren Christo sein creutz tragen" (52, 796). 3. Aber diese Differenzierungen ändern doch nichts daran, daß wir aus dem Exempel des Leidens Christi vor allem Geduld lernen sollen. Sie ist die Grundtugend in Luthers aus der Passion abgeleiteter Ethik. Andere ethische Forderungen wie etwa die der Nächstenliebe entfaltet er in den Passionspredigten. selten. 23 Diese Reduzierung des ethischen Aspekts auf die Geduld in der Leidensnaehfolge weist noch einmal darauf hin, daß das anthropologische Interesse der Passionspredigten überwiegend auf der Tröstlichkeit der Passion liegt, also im Bereich der Soteriologie. 4. Der ,zweck' oder besser das Ziel des Leidens mit Christus liegt darin, "das wir auch mit jm leben und herrlich sollen sein" (52, 763). Der exemplarische Aspekt der Passion dient also zuletzt der Begründung escMtologischer !loffnung. Sie richtet sich auf die innigste· Verbindung des Gläubigen mit Christus, die Luther mit dem aus der mystischen Tradition stammenden Begriff als "Gleichförmigkeit" mit Christus bezeichnen kann. "Es fehlt noch etwas an den Trübsalen Christi, wir müssen ihm alle gleichfönnig werden und auch etwas Passion mitbringen ..24 • Die Gleichfönnigkeit mit Christus, die im irdischen Leiden beginnt und sich in der endzeitlichen Herrlichkeit vollendet, ist jetzt also dem exemplarischen Aspekt der Passion zugeordnet und ist damit Folge der streng gewahrten Ungleichheit zwischen Christus und uns.
23 Die Erwähnung der Nächstenliebe in 52, 827 bildet eine Ausnahme. Der spezielle ,Ort' einer· Lehre von der Nächstenliebe innerhalb der Passionsgeschichte sind die Predigten über die Ab· schiedsreden im lohannes-Evangelium. Die Predigten der .Passio" beginnen jedoch erst mit der Ölbergszene. 24 "Es feilt ut Paulus Col. ut omnes gleich fermig werden und etwas mitbringen passionis." (27, 107 = M.150) Vgl. auch ebd.: .Christi passio nondum completa, non quoad peccatum, sed ad exemplum."
26
Die Passion ist ,,1. facta, ut per eam liberaremur, 2. ut sequeremur- (27,107 = M. IS1). Der Erläuterung dieses' bündigen Satzes diente die Darstellung der Hauptgedanken von Luthers Passionstheologie, wie er sie in den Predigten entfaltet. Daß die Grundzüge dieses in sich völlig geschlossenen Entwurfs mit Beginn der refonnatorischen Schriftstellerei Luthers festliegen, wichtige Einzelaussagen sich aber erst in intensiver Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Passionstheologie und -frömmigkeit von dieser lösen und sich dem. zitierten knappen Grundsatz einfiigen, wurde im ersten Teil dieses Kapitels am Wandel des compassio- und des imitatio-Verständnisses gezeigt. Vergegen~ wärtigt man sich dies, so mag man eine Ahnung von der bedeutenden Anstrengung erhalten, der eine solch einfache, klare und stimmige Gesamtkonzeption zu verdanken ist. Welche Oberzeugungslaaftsie für die protestantische Theologie der Folgezeit - man kann sagen: der folgenden 200 Jahre - besessen hat, dies zu erweisen ist Aufgabe der beiden nächsten Kapitel.
27
Kapitel 2: Heinrich Müllers Predigten "Vom Leyden Christi" 1. Einführung in die Passionspredigt des 17. Jahrhunderts: Zur Fonchungslage Passionsfrömmigkeit und Passionstheologie in der Predigt des 17. Jahrhunderts haben die theologische Forschung bisher wenig beschäftigt. Während die Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie (H. E. Weber) und ihre philosophischen Voraussetzungen (p. Petersen), die Erbauungsliteratur im engeren Sinne (H. Beck, P. Altbaus d. Ä., W. Koepp) sowie die Kirchenlieddichtung (I. Röbbelen) in der theologischen Forschung zunehmende, wenn auch noch nicht die ihnen gebührende Beachtung fanden, blieb die umfangreiche Predigtliteratur weitgehend unbeIÜCksichtigt. In den Darstellungen der Predigtgeschichte wiederum finden sich keine Hinweise auf die Passionspredigt als thematisch un~ in gewisser Weise sogar formal eigenständiges Teilgebiet, weil sie in der Homiletik der Zeit ebensowenig gesondert behandelt wird wie andere Kasualpredigten. 1 Die einzige Monographie zwn Thema ist A. Wiesenhütters Buch "Die Passion Christi in der Predigt des deutschen Protestantismus von Luther bis Zinzendorf" (Berlin 1930). Es enthält neben einer knapp 90seitigen Abhandlung über die Grundzüge und die Fonn der Passionspredigt, die Darstellung und die Deutung des Leidens Christi einen umfangreichen Teil mit meist sehr kurzen Zitaten aus diesen Predigten und schließlich eine ausführliche, 280 Verfassernamen (und eine weitaus größere Zahl von Passionswerken) umfassende Bibliographie, deren Erstellung umso verdienstvoller ist, als Wiesenhütter mit seinem Buch nicht vorwiegend wissenschaftliche Ziele verfolgt. Vielmehr will er mit seiner Einleitung und der Zitatensamm1ung, die "das Beste aus dem Staube der Bibliotheken ans Licht bringt und gleichsam zu einer einzigen großen Passionspredigt vereinigt", diese "dem suchenden und fragenden Geschlecht der Gegenwart" unmittelbar als geistliche Lebensquelle zugänglich machen (S. 11). Leider geht er jedoch mit einem höchst fragwürdigen Vorverständnis an diese Predigten heran. Wenn er etwa meint, daß "die Größe des Gegenstandes ... in geweihten Augenblicken die Prediger zu Künstlern in einem tieferen als dem artistischen Sinne (erhebt)" oder daß z. B. bei der Grablegung "die Stimmung die Prediger so (ergreift), daß die Rede unmittelbar zur Totenklage selbst wird" (S. 10 f.), so tritt eine romantisierende Auffassung vom Charakter dieser Passionspredigten zutage, die eher geeignet ist, den Zugang zu ihnen zu versperren, anstatt ihn zu öffnen. Denn der Leser, der mit den von Wiesenhütter geweckten Erwartungen zu einem Band mit Passionspredigten des 17. Jahrhunderts
1 Selbst M. Schian geht in seiner Monographie .Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt" (Gießen 1912) nicht auf die Passionspredigt ein. Ihm zufolge ist F. A. Hallbauer der erste Homiletiker, der in seinem "Nötigen UnteDicht zur Klugheit erbaulich zu predigen" (1723) ausftihrliche Regeln ftir Passions- und andere Kasualpredigten gibt. A.a.O., S. 51 f. - S. dazu u. S. 60.
28
greift, sich also nicht mit jener Zitatensammlung begnügt, wird die Lektüre bald enttäuscht abbrechen, weil ihm darin gerade Stimmung, seelische Ergriffenheit und weihevolle Erhebung weitgehend fehlen. Was ihm statt dessen geboten wird: theologische Deutung von beträchtlicher Tiefe und Geschlossenheit sowie Einweisung in ein der Passion entsprechendes geistliches Leben, das entzieht sich in seiner zeitgebundenen Denk- und Ausdrucksweise dem unmittelbar gefiihlsmäßigen Zugriff. Nur intensiver geistiger Bemühung, die sich von. den fremdartigen Zügen dieser Predigten nicht abschrecken läßt, können sie sich auch als geistliche Lebensquelle erschließen. Nicht von theologischer, sondern von germanistischer Seite ist dem hier konstatierten ForschungsdefJZit neuerdings zumindest teilweise durch das Buch von H.-H. Krummacher, "Der junge Gryphius und die Tradition" (München 1977) abgeholfen worden. Krummacher geht im zweiten Teil seiner überaus tnaterialreichen, literaturwissenschaftliche und theologische Aspekte in fruchtbarer Weise vereinigenden Studie dem traditionsgeschichtlichen Zusammenhang nach, in dem Gryphius' Passicmsdichtung "Tränen über das Leiden Jesu Christi" (1652) mit der lutherischen Passionsauslegung steht, und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß diese Dichtung hinsichtlich ihrer Textgrundlage, ihrer Gliederung, der Aufnahme traditioneller Motive aus der Exegese sowie hinsichtlich des Verhältnisses von Erzählung und Auslegung den lutherischen Passionspredigt-Zyklen nahesteht. 2 Dieses Ergebnis gewinnt Krummacher insbesondere aufgrund einer kurzen, das Wesentliche jedoch scharf erfassenwin Anal/se der Aussagen zur Passionsauslegung in Predigtzyklen des 16. und 17. Jahrhunderts. Krummachers Forschungen zur Passionstradition der lutherischen Kirche dienen dem Ziel eines gegenüber der herkömmlichen Deutung angemesseneren Verständnisses von Gryphius' Passionsdichtung.4 Auch in der vorliegenden Arbeit werden kirchliche mit dichterischen Aussagen über die Passion konfrontiert. Gleichwohl ist das Untersuchungsziel ein anderes als bei Krummacher. Hier soll nicht die theologische Passionstradition
2 Zu all diesen Aspekten wird eine solch reiche Fülle von Belegmaterial aus diesen Predigten sowie aus der patristischen und mittelalterlichen Passionstradition herangezogen, daß eine gelehrte Sonderstudie zu diesem Thema kaum mehr hätte bieten können. Besonders verdienstvoll und fiir jeden, der sich mit der Passionsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts beschäftigt, in Zu· kunft unentbehrlich ist die SO Seiten umfassende Bibliographie, in der jede Quellenschrift mit Fundort und Signatur verzeichnet ist.
3 A.a.O., S. 384-387. Diese Austilhrungen brauchen hier nicht wiedergegeben zu werden, weil die theologischen Grundlagen der protestantischen Passionsdeutung in der vorHegenden Arbeit viel ausführlicher zur Sprache kommen, als es· fiir Krummachers Untersuchung nötig und möglich war. 4 Der theologische Dilettantismus, der sonst weithin das Bild der Gryphius-Forschung bestimmt, wird von Krummacher selbst mit deutlichen Worten kritisiert (z. B. S. 311,389). Für den Theologen besteht jedoch angesichts der oben skizzierten Forschungslage kein Anlaß zu herablassenden Urteilen über diesen Sachverhalt. Vielmehr sollte er mit W. Zeller wünschen, daß das Buch des Germanisten Krummacher dazu beiträgt, "daß die christliche Erbauungsliteratur auch thenlogischerseits jene Beachtung fmden möge, die sie wahrlich verdient!" (W. Zeller, Rezension des Buches in ZKG 1,1979, S. 133 f.)
29
als Folie zur Erhellung dichterischer Gestaltungen des Themas dienen, sondern aus beiden sollen die theologischen Deutungen der Passion erhoben werden. Von dem Vergleich zwischen ihnen wird Aufschluß erwartet über einen vermuteten Wandel des Passionsverständnisses. Dieser Intention entsprechend muß hier die traditionsgeschichtliehe Methode, die der Wiederkehr der Motive und Motivkomplexe durch die Jahrhunderte nachspürt, ergänzt werden durch andere Methoden, die über den bloßen Aufweis von Traditionen hinaus deren theologische Deutung und Beurteilung zum Ziel haben. Zur kirchlichen oder häuslichen Erbauung bestimmte Werke über die Passion Christi müssen im 16., insbesondere aber im 17. und im frühen 18. Jahrhundert eine heute l;nvorstellbare Verbreitung gefunden haben. Nicht nur die Fülle der Publikationen, von denen nicht wenige mehrere Auflagen erreichten, sondern auch die Vielfalt der Formen - von sachlichen Abhandlungen und Kommentaren, Materialsammlungen und Dispositionen für den Prediger über Einzelpredigten und Predigtzyklen bis hin zu rein meditativen Betrachtungen und Gebeten - ist ein Zeichen für die Lebendigkeit gerade dieses Zweiges der Erbauungsliteratur. Die am nächsten verwandte Perikopenliteratur, die Postillen und Predigtreihen über die sonntäglichen Evangelien oder Episteln, haben nicht annähernd einen solchen Formenreichtum entwickelt wie die Passionsliteratur.5 Vielfältig sind auch die Texte, auf die sich diese Predigten und Betrachtungen beziehen. Wenngleich der überwiegenden Mehrzahl die Passionsgeschichte in Gestalt der Passionsharmonie Joh. Bugenhagens ("nach Beschreibung der vier heiligen Evangelisten" oder einfach "nach den vier Evangelisten" heißt es dann meistens im Titel) als Text zugrunde liegt, so werden doch auch eine Fülle anderer Bibeltexte behandelt: Epistelverse, die von der Bedeutung des Todes Jesu sprechen, sehr oft aber auch alttestamentliche Stellen, die vom Leiden Jesu her verstanden wurden, wie Jesaia 53, die sogenannten LeidenspsaImen oder das ganze Hohelied; beliebt waren auch typologische Auslegungen alttestamentlicher Vorbilder wie Abel, lsaak, Joseph oder Jona auf den leidenden Christus; eine eigene Gruppe schließlich bilden die zahlreichen Betrachtungen über die sieben Kreuzesworte Jesu. Nach Form und Textgrundlage bilden die Predigtzyklen über den harmonisierten Passionstext den Hauptbestandteil der kirchlichen Passionsliteratur des 17. Jahrhunderts. Gerade diese Zyklen gehen in der Mehrzahl auf mündlich vorgetra8!'ne Predigten zuriick. Ihr "sitz im Leben" sind die in den meisten Kirchenordnungen vorgeschriebenen Passionsgottesdienste, die in der Regel von Estomihi bis Palmsonntag ein-, zwei- oder gar dreimal wöchentlich stattfanden.6 Veröffentlicht wurden sie als Erbauungsschriften separat oder, wie Luthers "Passio" in der Hauspostille, als Sonderteil in einem Band mit Evangelien- oder Epistelpredigten des Verfassers. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts fließt der Strom dieser von der Orthodoxie geprägten Predigten spärlicher, und um die
5 VgI. dazu Krummacher, a.a.O., S. 366 f. 6 Vgl. dazu Krummacher, a.a.O., S. 336 ff.
30
Mitte des Jahrhunderts ist er gänzlich versiegt. 7 Diese Auflösung eines fast 200 Jahre hindurch im wesentlichen unverändert bewahrten Typus' der Passionspredigt ist Ausdruck und Folge einer tiefgreifenden und entschiedenen Umorientierung des theologischen wie des allgemein geistigen Bewußtseins, die sich, seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts vorbereitet, in der Jahrhundertmitte als klarer Bruch mit den Traditionen der voraufgehenden Zeit vollzieht und selbst begreift. Die zum Sieg gekommene Aufklärung bedeutet das definitive Ende der Predigtweise des 17. Jahrhunderts überhaupt und damit auch der ,alten' Passionspredigt.8 Fragen wir nun genauer nach der Eigenart der lutherischen Passionspredigt des 17. Jahrhunderts, so empfiehlt es sich, die exemplarische Besprechung eines einzelnen Zyklus' der allgemeinen Charakteristik voranzustellen. Zum einen wird durch dieses Vorgehen vermieden, daß die inhaltliche und formale Einheitlichkeit, die später als wesentliches Kennzeichen der Passionspredigt des 17. Jahrhunders aufgezeigt werden muß, als bloße Erfiillung eines starren Musters mißverstanden wird. Zum anderen können mit dem gewählten Zyklus, H. Müllers Predigten "Vom Leyden Christi'\ diejenigen Passionspredigten ausfilhrlich vorgestellt werden, die fiir den Fortgang der Untersuchung von besonderer Bedeutung sind.
2. OberbUck über die Hauptwerke und die fröDUDigkeitsgeschichtliche SteUung Müllers Der Rostocker Universitätstheologe .un4 Superintendent Heinrich Müller (1631-1675) gehört zu den herausragenden Erbauungsschriftste1lem des 17. Jahrhunderts. Seine volwninösen Predigtsammlungen9 und seine fiir die private Erbauung bestimmten Werke lO erfuhren bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zahlreiche Auflagen, einige von ihnen wurden auch im 19. Jahrhundert wieder abgedruckt_ Zwei Sammlungen mit kürzeren Evangelienpredigten Müllers, der "Evangelische Hertzens-Spiegel" (1679) und das .,Evangelische Praeservativ wider den Schaden Josephs in allen dreyen Ständen" 7 Im Neupietismus des 19. Jahrhunderts erfahren manche der ehemals bekanntesten Predigtzyklen wie diejenigen von Amdt, J. Gerhard, J. J. Rambach und H. Müller z. T. mehrere Neuauflagen und beeinflussen auch deutlich die Passionspredigt dieser Richtung. Siehe z. B. Tholuck, Predigten über die Leidensgeschichte, über christliche Tugenden, am Todtenfeste etc., Halle 2 185 :3, und Souchon, Passions- und Ostersegen, Berlin 1857. 8 Es ist gewiß kein Zufall, daß um dieselbe Zeit auch die oratorischen Passionen, deren Texte inhaltllch und formal, d. h. in ihrem charakteristischen Verhältnis von Bibeltext und Auslegung, von diesem Typ der Passionspredigt abhängig waren, endgültig aufuörten, die tUr die lutherische Kirche bestimmende Passionsmusik zu sein. 9 .Apostolische Schluß-Kettel und Krafft-Keml oder Gründliche Auslegung der gewöhnlichen Sonn- und Festtags-Episteln", 1663, .Evangelische Schluß-Kettel Und Krafft-Kernl Oder Gründliche Auslegung der gewöhnlichen Sonntags-Evangelien", 1672, .Fest-Evangelische Schluß-Kettel Und Krafft-Keml Oder Gründliche Außlegung der gewöhnlichen Fest-Tags-Evangelien", 1673. 10 Insbesondere .Himmlischer Liebes-Kuß", 1659, .Geistliche Erquick-Stundenl oder Dreyhundert Haus- und Tisch-Andachten", 1666.
31
(1681), wurden von verschiedenen Herausgebern nach seinem Tod veröffentlicht. Da sie inhaltlich eng miteinander verwandt sind, liegt die Vermutung nahe, daß es sich um Bearbeitungen desselben nachgelassenen Manuskripts handelt. Beiden Sammlungen sind, offenbar ebenfalls nach einem einzigen Manuskript Müllers, neun (im "HertzensSpiegel") bzw. acht (im "Praeservativ") Passionspredigten beigefügt. Alle späteren Auflagen dieser beiden Werke enthalten auch die Passionspredigten in der ihnen ursprünglich mitgegebenen Form. ll Außerdem erlebten die neun Predigten in einer Sammlung von Passionserklärungen und -betrachtungen verschiedener Autoren mit dem Titel "Geistreiche Paßions-Schule" seit 1688 mehrere Auflagen. 12 Schon aus der ungewöhnlich hohen Auflagenzahl aller drei Erbauungsbücher ist zu ersehen, wie verbreitet die Pas-. sionspredigten gewesen sein müssen. Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen beide Reihen in je einer Einzelausgabe. 13 Die beiden Predigtreihen stiJrunen zwar gedanklich und weithin auch im Wortlaut überein, aber die· Anordnung vieler Passagen innerhalb der Predigten, die Abgrenzung der einzelnen Predigten voneinander und die Gliederung des Passionstextes unterscheiden die beiden Reihen doch beträchtlich voneinander. Bei den acht Predigten des "Evangelischen Praeservativ" entspricht die Gliederung des Textes genau dem jeweils ausgelegten Teil, während bei den neun Predigten des "Evangelischen Hertzens-Spiege1" gedruckter und ausgelegter Textteil nur in den beiden letzten Predigten übereinstimmen. Stilistisch weisen die acht Predigten eine im ganzen nüchternere Tendenz auf. Müller wird mit seinen Fakultätskollegen Lütkemann und Großgebauer der Gruppe der Rostocker Reformtheologen zugerechnet. 14 Theologisch fest im orthodoxen Luthertum verwurzelt, versuchen sie Mißstände des kirchlichen Lebens durch praktische Reformvorschläge und die Betonung einer ernsten, innerlichen Frömmigkeit zu beheben. Diese Bestrebungen führten auch Müller zu Anschauungen, an die die pietistischen Kritiker der kirchlichen Orthodoxie anknüpfen konnten. Von ihnen ist Müller darum stets hoch geschätzt worden, ohne daß von orthodoxer Seite je Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit geäußert wurden. 1S Für die breite Wirkung der Müllerschen Erbauungsschriften bietet seine frömmigkeitsgeschichtliche Stellung zwischen Orthodoxie und Pietismus gewiß 11 So hat z. B. J. M. Möller 1741 im "Evangelischen Praeservativ" die Reihe der acht, 17S1 im .Evangelischen Hertzens-Spiegel" die Reihe der neun Predigten herausgegeben.
12 In dem Sammelband finden sich auch Müllers .Anmerkungen über die Leidens-Geschichte Jesu Christi", die Übersetzung seiner gelehrten Abhandlung über die Passionsgeschichte, die zuerst 1669 unter dem Titel "Jesus patiens" erschienen war. Weitere Autoren des Bandes sind Calixt, Dilherr, M. H. Kipping und ein anonymer .Anbeter des Gecreutzigten". Mullers Passionspredigten werden hier nach der S. Auflage dieses Sammelbandes, Frankfurt 1720, zitiert Die Seitenzahlen der Zitate werden im Text in Klammem angeflihrt. 13 18S6 die acht Predigten, hg. v. J. L. Pasig; 1862 die neun Predigten, hg. v. H. Hartmann.
14 Zur Problematik des Begriffs .Reformorthodoxie", der sich seit einigen Jahrzehnten eingebürgert hat, vgl. J. Wallmann, Pietismus und Orthodoxie, in: Geist und Geschichte der Reformation, S. 418-442, bes. S. 426 ff. lS S. dazu D. Winkler, Grundzüge der Frömmigkeit H. Müllers, S. 93 f.
32
eine wichtige Erklärung. Diese Zwischenstellung spiegelt sich noch wider in der unterschiedlichen Akzentuierung der einen oder anderen Richtung durch die beiden Monographien über Müller. Während O. Krabbe 16 Müllers Treue zu den orthodoxen Lehrgrundlagen seiner Kirche betont, sieht D. Winkler die orthodoxe Theologie bei Müller in Richtung auf eine mystische Frömmigkeit überschritten. Zwar sei er sich eines Gegensatzes zur Dogmatik seiner Kirche nicht bewußt gewesen; auch erscheine bei ihm "das mystische Element noch stärker als bei Amdt abgeschwächt und weitgehend in das lutherische aufgenommen". Aber "das lutherische Element" habe doch "viel von seiner ursprünglichen Eigenart eingebüßt"P Letzteres ist jedoch, wie Winkler selbst sieht, bereits in der melanchthonisch geprägten lutherischen Orthodoxie geschehen. Die Differenz zwischen ihr und Müllers "Mystik" besteht dann vor allem darin, daß er den orthodoxen Lehrtopos von der "unio mystica" in lebendige, nicht so sehr auf tätigen Glauben als vielmehr auf innerliche Frömmigkeit drängende Ansprache an den einzelnen Christen übertragen und damit subjektiviert _hat. 18 Die Merkmale solcher Verinnerlichung und Subjektivierung des Lehrhaften werden uns in den Passionspredigten, deren Interpretation wir uns nunmehr zuwenden, allenthalben begegnen. 3. Aufbau und Zeitstruktur der PassionspMCIigten Als Textgrundlage für seine Passionspredigten dient Müller Joh. Bugenhagens Jfistoria des Leidens und der Auferstehung unsers Herrn Jesu Christi aus den vier Evangelisten ... fleißig zusammengebracht" von 1526, eine Passions- (und Oster-) hannonie also, die nach Luthers Beispiel gern den Passionspredigten in der evangelischen Kirche zugrundegelegt wurde. 19 Der Text wird fortlaufend, nach Art einer Homilie, erläutert; hierin folgen die meisten Passionspredigten der Zeit der Tradition des mittelalterlichen s~rmo historialis 20 (von dem sie sich freilich durch Art und Inhalt der Auslegung charakteristisch unterscheiden), während sich sonst in der Predigtweise der Orthodoxie längst die Form der thematischen oder analytischen, bis ins einzelne durchdisponierten Predigt durchgesetzt hatte. 21 Ansätze zu thematischen Dispositionen finden sich nur in Müllers letzten beiden Predigten, die auch dadUrch eine Sonderstellung einnehmen, daß sie länger als die anderen und mit überschriften versehen sind: "Vom Tode Christi'" und "Vom Begräbniß Christi'". Die achte Predigt weist überdies, hierin der ersten ähnlich, ein doppeltes Exordium auf. Das erste Exordium der Eingangspredigt kann jedoch als 16 Heinrich Müller und seine Zeit, Rostock 1866. 17 Winkler, a.a.O., S. 95. 18 Vg!. Winkler, a.a.O., S. 94 f. 19 S. dazu Luthers Evangelienauslegung Bd. 5, S. 28+f. Bugenhagens Harmonie ebd. S. 37+-50+ in moderner Übertragung, original in WA 21, 165-180. Zu dieser Harmonie und ihrer Verwendung im 16. und 17. Jahrhundert vgl. auch Krummacher, a.a.O., S. 328-331. 20 S. R. Cruel, Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, S. 577 ff.; vgl. auch Keppler, Zur Passionspredigt des Mittelalters, S. 286. 21 M. Schian, Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt, S. 29 spricht von der .Disponierwut" der Prediger in dieser Zeit.
33
Einleitung der ganzen Reihe betrachtet werden. Diese Funktion übernahm sonst meist eine eigene Predigt, in der allgemein über den "Nutzen" der Passion gehandelt wurde. Bei der achten Predigt weist das doppelte Exordium zusammen mit Themaangabe, Disposition und Länge der Predigt darauf hin, daß es sich hier um eine ,.ordentliche Amtspredigt", nämlich um die am Karfreitag im Vormittags§ottesdienst gehaltene Predigt handelt, die in der Regel mindestens eine Stunde dauerte. 2 Die letzte, ebenfalls sehr lange und thematisch disponierte Predigt ist dann, der Rostocker Kirchenordnung entsprechend, am Karfreitag im Vespergottesdienst gehalten worden, in dem "die predigt von Christi begrebnis folgen" soUte. 23 Die übrigen Predigten hat Müller bei den in der Passionszeit von Estomihi an üblichen Wochenandachten gehalten, wie aus einigen für den Druck nicht getilgten Bemerkungen hervorgeht. In diesen Andachten legt Müller den Text kontinuierlich aus, bricht ab, wenn die zur Verfiigung stehende Zeit zu Ende ist, und nimmt den Faden in der nächsten Predigt derselben Stelle wieder auf, meist nach einer kurzen Anknüpfung an das in der Vorwoche Ausgeführte. Der Stoff (nicht der Text) ist folgendermaßen auf die Predigten verteilt:
an
1. Gang nach Gethsemane und Jesu Seelenleiden dort 2. Gebet in Gethsemane und Gefangennahme 3. Gefangennahme (Forts.) und Verhör vor dem Hohen Rat 4. Verhör (Forts.) und Verurteilung vor dem Hohen Rat; Verspottung Jesu; Verleugnung und Reue des Petrus 5. Reue und Tod des Judas; Anklage und Verhör vor Pilatus 6. Verhör vor Pilatus (Forts.); Jesus vor Herodes; Jesus und Barabbas 7. Verurteilung und Geißelung Jesu 8. ,.Vom Tode Christi" 9. "Vom Begräbniß Christi" Vergleicht man die Länge der einzelnen Predigten mit der des entsprechenden Textabschnitts in Bugenhagens Harmonie, so zeigt sich fast immer eine bemerkenswerte proportionale übereinstimmung. Diese Beobachtung bestätigt den Eindruck, daß die Auslegung in den Predigten ganz gleichmäßig voranschreitet. Nie eilt der Prediger auf einen ,.Höhepunkt" im modemen, psychologisch verstandenen Sinn zu, und wenn er, was bisweilen geschieht, bei einem Punkte länger verweilt, so dient die Retardierung nicht der Intensivierung der Handlung, des erzählerischen Moments, sondern der Erweiterung der applikativen Elemente der Ermahnung oder der Tröstung. Das Passionsgeschehen wird nicht als eine dramatische Handlung aufgefaßt, die nach einer Spannungskurve verliefe. Das dramatische Bauprinzip ist die Verklammerung unselbständiger Teile zu einem organischen Ganzen, ihrer temporalen Struktur liegt die Idee der (fIktiven) Einmaligkeit zugrunde. Dies alles gilt, wie zu zeigen sein wird, grundsätzlich von der Passionsdarstellung der OratorienIibretti. Die Passionsauffassung der Predigten dagegen ist vollkommen undramatisch. Ihr entspricht das Bauprinzip der Aneinanderreihung 22 VgI. Schian, a.a.O., S. 6 ff. 23 Sehling, Die ev. Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bd. 5, S. 290.
34
gleichgewichtiger, selbständiger Teile, in denen jeweils schon das Ganze der Passion enthalten ist. Das in den Predigten erzählte und ausgelegte Geschehen ist, weil alle Zeiten in sich begreifend und übersteigend, nach seiner Zeitstruktur weder nur historisch noch unhistorisch (etwa in der Weise der Allgemeinheit einer Lehre); es ist einmalig, aber nicht vergangen, es geschah einmal und es geschieht jederzeit. Das Problem der Vergegenwärtigung dieses Geschehens, für die· dramatische Passionsauffassungnur durch den fiktiven Sprung in die Gegenwart des einstigen. Ereignisses zu lösen, stellt sich für das Passionsverständnis der Predigten gar nicht. Für sie ist es selbstverständlich, daß jeder Mensch immer schon im Zeit-Raum der Passion lebt. Ein Beispiel soll das bisher über die Struktureigentümlichkeiten der Predigten Gesagte verdeutlichen und vertiefen. Wir wählen dabei die Szene von der Geißelung Jesu als einer für modemes Empfmden dramatischen Situation, deren undramatische Behandlung in der Predigt darum besonders aufschlußreich ist. Zunächst können wir in diesem Predigtteil das Prinzip der Reihung gleichgewichtiger Teile mit aller Klarheit erkennen. Jeder Phase der Geißelung wird ein eigener Passus gewidmet, an dessen Anfang das erzählende Schriftwort und eine kurze historische Erläuterung stehen. Daran schließt sich häufig eine persönlich gehaltene, in der Aus· malung der Schmerzen Jesu stets sehr zurückhaltende Bemerkung des Predigers an, die die Grausamkeit der Tortur hervorhebt. Bei der Erwähnung, daß Jesus zur Geißelung entkleidet wird, heißt es z. B.: "Nackend wurden die Obelthäter bey den Römern gegeisselt. Man kan leicht gedencken/ was das dem keuschen/ schamhafftigen Hertzen muß für ein Schmertz gewesen seyn/ nackend zu stehen vor allen Volck" (S. 364 f.). Diese Schilderungen der Schmerzen Jesu sind aber nie das Ziel, sondern immer nur der Ausgangspunkt für die folgende Deutung jeder einzelnen Tortur unter dem Gesichts· punkt, daß es sich dabei um eine von Jesus getragene Strafe für menschliche Sünden handelt. So werden etwa an der bereits zitierten Stelle mehrere Gründe dafür angeführt, daß Christus entkleidet werden muß: "Wegen Adams Bekleiden" (nämlich infolge seiner Sünde), wegen der "schändlichen Blösse", die man vor allem am "Frauen· Volck" sieht. Weiterhin hat Christus "uns mit seiner Blösse erworben/ daß wir nicht möchten nackend und bloß vor Gott erscheinen/ sondern angethan werden mit den Kleidern des Heyls und mit dem Rock der Gerechtigkeit." Schließlich wird das Stichwort "entkleiden" zum Anlaß einer Mahnung genommen: den "alten Menschen" abzulegen und den ,.neuen Menschen" anzuziehen (nach Epheser.4,22.24) und den nackten Christus ,.in seinen Gliedern" zu bekleiden (S. 365 f.). In derselben Weise werden an· schließend die Anbindung an die Martersäule, die Auspeitschung und das "Königs-Spiel" der Soldaten mit Jesus abgehandelt (Dornenkrone, Purpurmantel, Rohr als Szepter, Verspottung als "Königlicher Gruß", das Bespeien als "Königliche Präsenten"). In allen Fällen geht der Prediger von der Schilderung des historisch Einmaligen sehr rasch über zur Betrachtung der theologischen Notwendigkeit und des Nutzens des jeweiligen Leidens Jesu - in temporalen Kategorien gesprochen vom Präteritum zum Perfekt und zum Präsens -, ohne sich dabei des Mittels dramatischer oder auch lyrischer Vergegenwärtigung zu bedienen. Der Prediger versetzt sich und seine Hörer nicht zurück in die
35
Zeit Jesu, sondern setzt voraus, daß Christus als der zweite Adam und als ihr Stellvertreter den Menschen aller Zeiten gleichzeitig geworden ist. Nur unter der Voraussetzung solcher Gleichzeitigkeit ist es denkbar, daß Christus die Buße leistet, die den Menschen von den Folgen seiner Sünde befreit. Diese Buße ist nämlich verstanden als die stellvertretende Wiederholung des Weges, den der erste Mensch und ,.in ihm" jeder Mensch falsch gegangen ist. Und in solcher Wiederholung stellt er den Menschen neben sich auf den Weg seines Leidens. Jene Gleichzeitigkeit bewirkt auch, daß Christi Passion zu jeder Zeit ebenso wie damals geschieht, und zwar in zweifacher Weise: 1. Die Welt verstößt, geißelt und tötet Christus heute noch ,.in seinen Gliedern". 2. Der Christ, in dem "der Heyland Jesus eine Gestalt ... gewonnen" hat, erneuert Jesu Leiden durch jede Sünde. "Wann du dein Gewissen befleckest mit muthwi1ligen Sünden da speyest du dem Herrn ins Angesicht/ und machest seine Gestalt in dir heßlich" (S. 376). "Willigest du in die Sünde/ so sprichst du Barrabam 10ß/ und verdammest Christum" (S. 359). Das bedeutet theologisch: Die ,überbrückung' der Zeitdistanz zwischen Christus und allen ihm historisch nicht gleichzeitigen Menschen geschieht von ihm, nicht von den Menschen aus. Für die temporale Struktur der Predigten bedeutet es den VeIZicht auf alle dramatischen oder lyrischen Mittel der Vergegenwärtigung, ungeachtet der eindeutigen Vorherrschaft präsentischer Redeweise. 4. Sprache und Stil der Passionspredigten Die stilistischen und sprachlichen Eigentümlichkeiten der MiiIlerschen Passionspredigten sollen aus der Analyse eines Textabschnitts erhoben werden. W"u wählen dafür die Passage ,über die Reue des Petrus, weil sie in sich geschlossen ist, sich also auch auf ihren gedanklichen Skopus hin befragen läßt, weil sie fast alle fiir die Predigten kennzeichnenden stilistischen Merkmale aufweist und weil sie schließlich auch inhaltlich so repräsentativ ist, daß wir im Laufe der weiteren Untersuchung auf sie zurückgreifen können. "Der Herr wolte Petrum in solchem Elend nicht stecken lassen! darum wandte er sich um! blickte vom hohen Saal herabwerts! etwa durch ein Fenster! oder durch eine offene Thür im Pallast des Hohenpriesters! gab Petro ein freundliches Auge! und sahe ihn an. Der Blick des Heylandes war gleichsam die Sonne! die das kalte Hertz in Petro erwärmete. Dieser Blick muste das erloschene Glaubens-Töchtlein wieder auftblasen. In diesem Blick hat Christus dem Petro vielleicht so ins Hertz geredet? Ach! Petre! was hast du gethan? Dencke! was ich für einen Blitz habe ausgeschossen wider die! so mich verleugnen: Wer mich bekennet vor den Menschen! den will ich bekennen vor meinem himmlichen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen! den will ich auch verleugnen vor meinem himmlichen Vater. Matth. 10,32.33. Du hast gesagt: 'Ich kenne sein nicht. Wie! wann ich wieder sagen würde am jüngsten Tage: Ich kenne dich nicht? Aber! sey unverzagt! noch steht dir die GnadenThür offen. Ich! der ich aller Menschen Sünde büsse! büsse auch deine Sünde! die du jetzt gethan hast. Schaue mich an! das Lämmlein Gottes! das aller Welt Sünde trägt. Schaue mich an! den freundlichen Hirten! der dich wieder suchet! da du verloren. Schaue mich an! mein Sohn! und gib mir dein Hertz. Hie fängt Petro das Hertz im Leibe an zu schmeltzen! zu wallen! und zu weinen. Denn als ihn der Herr ansahe! da gedachte Petrus an das Wort lesu! als
36
er zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn zweymal krähet/ wirst du mich dreymal verleugnen. Petrus schlägt in sich/ und dencket: Ach! was habe ich gethan? o du unseeliger Fuß! 0 du verlogene Zunge: 0 des verblendeten Hertzens! Heißt das mit in den Tod gehen? Hat dich doch kein Hencker weder gerecket noch gestrecket/ und ich habe mich doch so liederlich versehen/ ja gar verleugnet Jesum/ meinen Meister und Herrn. 0 weh! 0 Furcht! 0 Grimm! Das Höllen-Hauß will mich verschlingen. Wo soll ich fliehen hin/ Weil ich beschweret bin Mit viel und grossen Sünden? Wo soll ich Rettung finden? Wenn alle Welt herkäme/ Mein Angst sie nicht wegnähme. Doch unverzagt. Da steht der Herr! der mir so einen Gnaden-Blick gibt. 'Der hat gesagt/ Petre/ ich habe flir dich gebeten/ daß dein Glaube nicht aufthöre. Der träget meine Sünde auch/ gleichwie er aller Menschen Sünde trägt. o Jesu voller Gnad/ Auff dein Gebot und Rath/ Kommt mein betrübt Gemüthe/ Zu deiner grossen GUte/ Laß du auff mein Gewissen Ein Gnaden-Tröpflein fliessen. Ich dein betrübtes Kind/ Werff alle meine Sünd/ So viel ihr in mir stecken/ Und mich so hefftig schrecken/ In deine tieffe Wunden/ Da ich stets,Heyl gefunden. Mein Hertz/ solt du bekehret werden/ so muß Jesus das Beste bey dir thun/ er muß einen Blick in dein Hertz thun. Ein erschreckender Zorn-Blick kommt aus dem Gesetz/ ein erquickender Gnaden-Blick aus dem Evangelio. Wann die Sonne dem kalten Eiß einen warmen Blick gibt/ da zerschmeltzet es. Der Gnaden-Blick des Herrn ist die Feuers-Brunst/ die das Hertz in solchem Blick anzündet/ daß es in Buß-Thränen gleichsam zerschmeltzen mag. Der Heiland muß das Beste thun/ mit dem Hahnen-Geschrey. Denn als Petrus das HahnenGeschrey hörte/ da schlug er in sich. Mein Hertz/ stellet dir nicht Gott auch seine Hahnen/ seine Wächter und Buß-Prediger auff/ die dir aus dem Gesetz die SUnde müssen vorhalten/ mit Mosis Fluch hin"in donnern/ und blitzen in deine Seele? 0 Ja. Erwecket er nicht in dir dein Gewissen/ den wachsamen Hahn/ der dich muß auffwecken/ ängstigen/ überzeugen und verdammen? Ja freylich. Wie offt steckt er die Creutz-Fahn aus über deinem Hauß/ ob du wollest in dich schlagen/ und dich bekehren? Drum heute/ heute/ weil ihr des Herrn Stimme höret/ so verstocket eure Hertzen nicht" (S. 30,7 ff.). .
In dieser Passage läßt der Prediger zuerst Jesus sprechen, indem er dessen beredten Blick auf Petrus in wörtliche Rede faßt, führt dann die Gedanken des reuigen Jüngers wiederum in direkter Rede aus und wendet sich zuletzt an den Predigthörer ("mein Hertz") mit der Aufforderung, sich wie Petrus zu bekehren. Anrede und Selbstaus-
sage, die zweite und die erste Person der Rede herrschen durchaus vor. Sie erzeugen sogleich einen persönlichen, vertraulichen Ton, der dem Hörer die vom Prediger gewünschte Identifikation mit Petms sehr leicht macht. Die Applikation des Schluß-
37
abschnitts wird sorgsam vorbereitet: Der Hörer, der die Reue und Bekehrung des Petrus schon in der Ich-Fonn mitvollzogen hat, insbesondere in den drei Strophen des ihm wohlbekannten Bußliedes von Joh. Heermann, wird sein Herz kaum noch verstocken können gegen das "Hahnen-Geschrey" dieses Bußrufes. Müller ist ein "Wächter und Buß-Prediger'" aber ein sanfter, werbender. Den "erquickende(n) Gnaden-Blick aus dem Evangelio" weiß er sehr viel anschaulicher zu schildern als den "erschreckende(n) ZornBlick . . . aus dem Gesetz". Alle sprachlichen Mittel der Passage dienen letztlich dem Zweck, das Herz des Hörers zu gewinnen. Da ist zunächst, in der Wortwahl, das Wort "Hertz" selbst, das in der Passage zehnmal vorkommt.24 Auch in bezug auf die Predigten insgesamt würde eine Wortstatistik wohl ergeben, daß "Hertz" der wichtigste Begriff bei Müller ist. Seine zentrale Bedeutung kommt schon im zweiten Exordium der ersten Predigt, einer grundsätzlichen Besinnung über die rechte Art, die Passionspredigten zu hören, durch häufige Verwendung zum Ausdruck. Das "Hertz" ist der ,Ort' im Menschen, an dem Gottes Handeln mit ihm und des Menschen Stellung zu Gott erfahrbar werden. Darum ist es nie neutral und unbewegt. Es ist entweder ein ,.kaltes Hertz", das sich von Gott ab- und der Welt zugewandt hat, ein "Welt-Hertz" also, oder ein Herz, in dem sich "der gecreutzigte Jesus (erbildet)", das "dem Himmel zugewendet" ist (S. 238 f.). Am häufigsten wird das Wort an den Stellen verwendet, wo, wie in unserer Passage von der Bekehrung des Petrus, der Wechsel von dem einen zum anderen Herzenszustand thematisiert wird. Der Beschreibung dieses Übergangs, dieser Bewegung des Herzens gilt Müllers Interesse und sprachliche Sorgfalt. Hier verwendet er zur Darstellung dieser Bewegung zahlreiche Bilder aus dem Bereich der Feuer- und Wasser-Metaphorik, die bereits in der Mystik wie dann auch im Pietismus häufig der Charakterisierung seelischer Zustände dienten. Jesu Blick ist "die Sonne/ die das kalte Hertz in Petro erwärmete", er "muste das verloschene Glaubens-Töchtlein wieder auftblasen". Petrus' Herz fängt an "zu schmeltzen/ zu wallen/ und zu weinen", wie das Eis zerschmilzt, wenn die Sonne ihm ,.einen warmen Blick gibt". Gesteigert erscheint dieser Sonnenblick in der "FeuersBrunst" des Blickes Jesu, der das Herz anzündet und ,.es in Buß-Thränen gleichsam zerschmeltzen" läßt. Der Predigthörer wird durch diese sehr affekthaltige Bildlichkeit in die Bewegung des Herzens mit hineingenommen. Anschaulichkeit ist ein Anliegen von Müllers Sprachgebung auch außerhalb dieses Bildkomplexes. Nah verwandt mit ihm ist die Wendung, Christus habe mit seiner Warnung vor der Verleugnung seiner Person "einen ~tz ausgeschossen". Einprägsam ist auch die metaphorische Deutung des krähenden Hahnes auf die "Wächter und Buß-Prediger" einerseits und auf das Gewissen andererseits. Offenbar assoziative Anknüpfung an die Vorstellung vom Hahn auf dem Hausdach liegt vor in dem Bild von der über dem Hause wehenden "Creutz-Fahn". Zum Bildgehalt der Passage gehören schließlich noch die biblischen Bilder vom "lämmlein Gottes" und vom "freundlichen Hirten". In mehrfachen Anspielungen (z.B. "Petrus schlägt in sich") ist auch das Gleichnis vom Verlorenen Sohn als Hintergrundmodell des reuevollen JUngers präsent. 24 Dazu kommen noch je einmal "Seele- und .Gewissen-, die fast gleichbedeutend gebraucht werden, nur daß .Gewissen in näherer .Beziehung zu Strafe, Zorn und Gesetz Gottes steht als "Hertz-. Bezeichnend ist, daß Müller sagt, lesus habe Petrus "ins Hertz- - nicht ins "GewissenM "geredet-. M
38
Dem appellativen, werbenden Zweck der Passage dienen nicht zuletzt auch syntaktische Mittel. Rhythmisch leicht bewegte, nie übennäßig lange Hypotaxen wechseln mit parataktischen Sätzen, und nicht selten verknappt sich der Stil zu unvollständigen Sätzen ("Doch unverzagt.") und Interjektionen. Deren steigernde Wiederholungen in der Petrus-Rede drücken intensiven Schmerz aus: .,0 du unseeliger fuß! 0 du verlogene Zunge: 0 des verblendeten Hertzens!" (Unter diesen drei Aspekten hat Müller zuvor die Verfehlung des Petrus behandelt.)"O weh!. 0 Furcht! 0 Grimm!" Intensivierende Wirkung haben auch die anaphorischen Sätze am Ende der Rede Jesu ("Schaue mich an ...") und im Petrus-Teil ("Der hat gesagt ... Der träget meine Sünde auch .•." mit chiastischer Fortsetzung des Satzes: "gleichwie er ... trägt.") Der Schluß der ganzen Passage (von "Mein Hertz! stellet dir nicht ..." an) ist ein kleines Meisterwerk religiöser Rhetorik. Zwei anaphorisch gebaute Fragesätze mit Satzgliedwiederholungen, gefolgt von Interjektionen, die das Selbstverständliche bekräftigen, leiten über zu einem Ausrufesatz, der den Sinngehalt der voranstehenden SätZe wiederholt. Das Schema der drei Sätze: Hat nicht Gott ... ? Hat nicht Gott .. ? Wie oft hat Gott •.. ! macht deutlich, daß gerade die syntaktische Variation des letzten Satzes die Eindringlichkeit ihrer Wirkung erhöht. Dieser Satz selbst verrät wiederum ein sicheres Gespür für die Wirkungen syntaktisch-rhythmischer Mittel. Nach einem großen rhythmischen Bogen ("Wie offt ... Hauß") mündet er in zwei knappe, den Gehalt der ganzen Passage in sich fassende Teilsätze: .,ob du wollest in dich schlagen! und dich bekehren?" Der Abschnitt, der reflektierend-bedächtig mit dem konditionalen "Mein Hertz! solt du bekehrt werden" begaim, ist ans Ziel gelangt mit der Frage, .,ob du wollest •.. dich bekehren". Es spricht für das psychologische und. stilistische Feingefiihl des Predigers, daß er auf diesem Höhepunkt der (rhythmischen wie gemüthaften) Bewegung nicht abbricht, sondern sie in einem ruhigeren Satzgeflige ausklingen läßt. Das geschieht mit einem zugleich mahnenden und bittenden - Bibelwort, weil nur seine sanktionierte Sprache die zuletzt eingenommene Stilhöhe zu halten vermag. 25 Die hier untersuchte Passage bietet gewiß einen besonders markanten, gleichwohl aber einen typischen Eindruck von der Sprache und dem Stil der Müllerschen Predigten. Charakteristisch sind der werbende, vertrauliche Ton, hervorgerufen vor allem durch die häufige Anrede an den Hörer; die bilderreiche, mit Bibe1zitaten und biblischen Wendungen reich durchsetzte Sprache, die auch dogmatische· Sachverhalte selten begrifflich abhandelt, sondern anschaulich darstellt; die stilistische Variabilität im ständigen Wechsel zwischen sachlicher Auslegung und persönlicher Anwend~g.
2S Vgl. Hebräer 3,7 C.; 4,7.
39
s.
Zur Theologie der Passionspredigten
Die im voranstehenden Abschnitt aufgewiesenen stilistischen Mittel lassen erkennen, daß Müllers Hauptinteresse ein praktisch-seelsorgerliches ist. In der Begrifflichkeit der homiletischen Theorie ausgedrückt: Die explicatio hat keine selbständige Bedeutung, sondern steht ganz im Dienste der applicatio, der Anwendung auf den Hörer. Schon die Ausweitung der explicatio zu wörtlichen Reden Jeau und des reuigen Jüngers dienen der IdentifIZierung des Hörers mit Petros; der diesem gewissennaßen "vorführt", wie Bekehrung sich vollzieht. Und indem die jedem Hörer bekannten liedstrophen, in denen (von Str. 1 zu 2/3) der Umschlag von Sündenangst in gläubiges Vertrauen zum Ausdruck kommt, Petrus in den Mund ge~egt werden, wird vollends jede Distanz zwischen ihm und dem Predigthörer aufgehoben. Schon die explicatio trägt also applikative Züge, und in der eigentlichen applicatio wiederholt der Prediger lediglich die zuvor dargestellte Seelsorge Jesu an Petros. Wenn somit die unmittelbare Vergegenwärtigung im Sinne der wechselseitigen Durchdringung von damaligem und heutigem Geschehen die Verselbständigung der explicatio zur rein lehrhaften Auslegung verhindert, so bedeutet dies doch zugleich auch, daß die applicatio nicht unabhängig sein kann von der applizierten ,Lehre'. Diese bleibt, wenngleich als solche unbetont, stets Voraussetzung und Ausgangspunkt fiir alle seelsorgerlichen Applikationen. In der Passage von der Bekehrung des Petros, in der doch das affektive Moment so unverkennbar dominiert, finden sich lehrhafte Aussagen an mehreren Stellen. Da sagt Jesus etwa: "Ich/ der ich aller Menschen Sünde bÜlse/ büsse auch deine Sünde/ die du jetzt gethan hast. Schaue mich an/ das Lämmlein Gottes/ das aller Welt Sünde trägt. Schaue mich an/ den freundlichen Hirten/ der dich wieder suchet! da du verlohren" (S. 308). Gewiß ist die Fonn der Aussage applikativ, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier in z. T. biblischen Wendungen dogmatische Lehre ausgesprochen wird. Der hier so vertraulich-direkt spricht, ist zweifellos der (wie wir heute sagen würden) ,dogmatische Christus': Dieses Bild Jesu zeigen die Predigten durchweg. Jesus ist der um seine Göttlichkeit wissende Mensch, der seinen Auftrag kennt, fiir die Sünde der ganzen Menschheit zu leiden, ihr Hoherpriester und Opferlamm zu sein, und der dieses Auftrages wegen bewußt seine Herrlichkeit in der freiwilligen Erniedrigung verhüllt. Als menschliche Person bleibt Jesus völlig unerkennbar, aber er ist deswegen nicht unnahbar. Vielmehr ist seine Vertrauen und liebe weckende Nähe gerade in seiner ,dogmatischen Qualität', in seiner Göttlichkeit begründet, nicht in seiner Menschlichkeit. Das zeigt wiederum vorbildhaft Petrus, indem er, Jesu Wort vom Gotteslamm aufnehmend, sagt: "Der träget meine Sünde auch! gleichwie er aller Menschen Sünde trägt" (S. 309). Und im letzten Abschnitt der Passage, dessen ausgeprägt affektiver Charakter in der Stilanalyse aufgezeigt wurde, geht es dem Prediger gleichwohl um die Lehre von Gesetz und Evangelium: "Ein erschreckender Zorn-Blick kommt aus dem Gesetz, ein erquickender Gnaden-Blick aus dem Evangelio" (S. 309). In der Bestimmung, die nach Müller die Gesetzespredigt erfiillen muß - den Menschen durch sein Gewissen "auffwecken/ ängstigen/ überzeugen und verdammen" - ist unverkennbar das lutherische Verständnis vom zweiten und wichtigsten ,Gebrauch' des Gesetzes, dem usus theologicus oder elenchticus enthalten. Lutherisch ist auch der Gedanke der Hinordung der
4-0
Gesetzes- auf die Evangeliumspredigt, des fremden auf das eigentliche Werk Gottes, inSofern das Gesetz nicht die Vernichtung des Menschen zum Ziel hat, sondern die Bekehrung des verstockten Herzens zu Gott. In dieser unauffaIligen Weise finden sich lehrhafte Elemente allenthalben in den Predigten. Verschiedentlich gibt es jedoch auch kurze Ausführungen rein oder überwiegend lehrhaften Charakters, aus denen im folgenden zunächst die Grundlage der Passionstheologie H. Miillers erhoben werden soll.
a) Lehrhafte A·ußerungen zur Person und zum Werk Christi Was die Person Christi angeht, so kommt Miiller in den Passionspredigten mit sehr wenigen, formelhaft geprägten Wendungen aus. "Nach der Gottheit ist er mit Gott eines Wesens/ nach der Menschheit aber mit Gott persöhnlich vereiniget" (S. 245 f.) lautet etwa eine solche Wendung, die die selbstverständlichsten Voraussetzungen der orthodoxen Christologie nennt: die wahre Gottheit des Menschen Jesus und die unio personalis der beiden Naturen in Christus. Diese persönliche Vereinigung ist unauflöslich, auch der Tod kann sie nicht aufheben. Sie äußert sich in der communio naturamm, aus der nach der maßgeblichen Lehraussage der Konkordienformel (1577) "alles herfleußt, was menschlich von Gott und göttlich vom Menschen Christo gesaget und geglaubet wird,,26. Daß "der grosse Gott für Angst hat Blut geweinet aus seinem gantzen Leibe" (S. 237) oder daß "da ... Gott selbst gantz nackend am Creutz (hanget)" (S. 413), ist also nicht eine predigtartig-überspitzende, sondern eine präzise dogmatische Redeweise. Aber es scheint - und das ist wiederum kennzeichnend -, als ~i Miiller vorwiegend um der erbaulichen Wirkung willen an derartigen Formulierungen interessiert. In der zuletzt zitierten etwa geht es ihm um eine starke Steigerung: Uns jammert schon ein armer Mensch, der nicht genug Kleider hat .- und hier hängt Gott selbst, "der Herr der Herrlichkeit mit biossem Leibe unter dem biossen Himmel" (S. 413). überwiegend dogmatisch-lehrhaft geprägt ist lediglich eine Ausführung zur Zwei-Naturen-Lehre, die zu der· Frage Stellung nimmt, wie Jesu Verlassenheitsruf am Kreuz zu verstehen sei. Miiller folgt dabei der traditionellen Argumentation: Wegen der unauflöslichen persönlichen Vereinigung der Naturen kann. die "Verlassung" nicht den Verlust der der menschlichen Natur mitgeteilten göttlichen Eigenschaften bedeuten, sondern nur "die Ruhung der Göttlichen Natur in der Menschheit" während des Leidens, also "im Stande der Erniedrigung". Auf die Statuslehre zielt denn auch die Zwei-Naturen-Lehre hier ab. Geht es dieser um die Voraussetzung des Erlösungswerkes als eines göttlichen Handelns an der Menschheit, so dient jene dazu, die für orthodoxes Denken im Grunde problematischere Wirklichkeit des gottmenschlichen Leidens zu sichern. "So weit hat die Gottheit die Menschheit verlassenl daß sie nicht hat ihre Krafft beweisen wollen in Zurückhaltung der Todes-Schmertzen/ die Jesus empfunden" (S. 427). Die Wirklichkeit von Leiden und Tod Jesu muß deshalb so stark betont werden, weil die Wirklichkeit der menschlichen Erlösung daran hängt. Denn Leiden und Sterben sind Folge der Sünde. Hat Jesus aber alle Sünde wirklich auf sich genommen, so muß 26 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, S. 806.
41
er auch alle Strafen dafür bis hin zur Höllenqual tragen. Dieses Leiden ist nicht nur im subjektiven EmpImden Jesu wirklich, sondern es ist objektiv, von Gott selbst Jesus zugefügt: "Hie ist Christus warhafftig Trostloß gewesen. Darm es hatte Gott allen seinen Zorn/ allen seinen Grinun/ ja alle höllische Quaal über sein Kind ausgeschüttet/ und ihn kein Tröpflein Trosts lassen empImden" (S. 231). Oder noch härter: "Gott hatte sein Hertz im Zorn verschlossen für Christo/ derm er trug aller Menschen Sünde/ und die muste er auch redlich büsscn" (S. 368). "Gott hatte ihn ja dahin gegeben in die Hände der Teuffel und aller böser Menschen/ Gottes Bannhertzigkeithie1te sich ja hart gegen ihn" (S. 417). Nur die ,Objektivität' der Bestrafung Jesu begründet das Vertrauen des Christen, die ihm gebührende Strafe nicht selbst ~rleiden zu müssen: "Sibe/ wie hast du dein Kind zurichten lassen/ um meiner Sünde willen? So wirst du mich ja um meiner Sünde willen nicht nach Verdienst so harte straffen/ sondern mir gnädig seyn um deines Kindes willen/ die Straffe liegt auff ihm/ auff daß ich Friede habe" (S. 379). Warum aber bedarf es des stellvertretenden Strafleidens Christi fUr die Versöhnung.mit Gott? Müller nimmt die in seiner Zeit durch den Sozinianismus aktualisierte anselmische Frage auf, ob Gott derm nicht auch ohne den Tod des Gottmenschen die Sünde hätte vergeben körmen. 27 Er antwortet darauf in zweifacher Weise: zunächst mit dem Hinweis auf Gottes Willen bzw. auf sein Wort. Müller interpretiert Jesu. Gebet in Gethsemane folgendermaßen: "Vater/ du bist ja ein allmächtiger Gott/ und köntest nach deiner unendlichen Macht wal ein ander Mittel finden/ dadurch dem menschlichen Geschlecht würde geholffen. Weil du aber von Ewigkeit in deinem Rath hast beschlossen/ daß ich! dein Kind/ für der Menschen Sünde sterben sollt weil du auch diesen Rath hast der WeIt kund gethan durch die Weissagung der Prophetenl so ists nu unmüglich/ du kanst ja deinen Rath nicht ändern/ du kanst ja die Propheten nicht zu Lügnern machen. Darum/ mein Gott ob ich gleich gern 10ß wäre des Leidens/ will ich doch gerne leiden/ weil du es nicht ändern kanst" (S. 245). Diese Unmöglichkeit ist jedoch keine Unfreiheit in Gott, sondern seine Bindung an einen Liebeswillen, der das Höchste hinzugeben bereit ist. "Mein Hertz/ hie erkermest du die briinstige Liebe Gottes. Da Gott wol hätte ein ander Mittel ersirmen können/ dadurch uns Menschen geholffen würdet hat er doch durch den Tod seines Kindes die höchste Liebe an uns beweisen wollen" (S. 245 f.). Die zweite Antwort nimmt mit der gesamten reformatorischen Theologie AnseIrns Argument auf, daß Gottes Gerechtigkeit Genugtuung für die SUnde, d. h. die Verletzung seiner Ehre, fordern muß. 28 "Es kan das menschliche Geschlecht bey Gott nicht versühnet werden/ es geschehe darm zuvor seiner Gerechtigkeit für die Sünde ein Genügen" (S. 276). Beide Deutungen der Notwendigkeit des Leidens Iesu gibt Müller selten in solchen theoretischen Formulierungen. Die Bedeutung der Passion, das Wesen der Versöhnung stellt er dem Hörer meistens in anschaulich-bildhafter Weise vor Augen. Dieser eigentümlichen Gestaltung der Versöhnungslehre müssen wir uns jetzt zuwenden. 27 Vgl. Anse1m, Cur deus homo I, 12, S. 40 ff. 28 "Necesse est ergo, ut aut ablatus honor solvatur aut poena sequatur. Alioquin aut sibi deus ipsi iustus non erit aut ad utrumque impotens erit; quod nefas est vel cogitare" (Cur deus homo I, 13, S. 46); vgl. insgesamt die eindrucksvolle Beweisführung AnseIrns in I, 11-15, die zu der Aporie führt, daß der Mensch die Genugtuung nicht leisten kann, ohne die er doch verloren ist. Zur lutherischen Rezeption der Satisfaktionslehre s. u: Anm. 32.
42
b) Bildhafte Darstellungsweisen der Versöhnungs/ehre .;Nun! dahin soll auch unsere Paßions-Arbeit gehen! daß der gecreutzigte Jesus recht eingebildet! ja fest eingedrucket werde! in euer aller Hertzen" (S. 234), so beschreibt Müller eingangs die Absicht, die er mit seinen Predigten verfolgt. Eindrücklich von dem gekreuzigten Jesus predigen heißt nun aber, wie bereits gezeigt wurde, fUr den lutherischen Theologen nicht, ein lebendiges Bild von der Gestalt Jesu zu zeichnen, das der Hörer in mitleidender Liebe sich zu vergegenwärtigen hätte. Wenngleich Müller nicht mehr wie Luther Wld noch die erste Generation der orthodoxen Theologen gegen die mittelalterliche compassio polemisiert und bisweilen durchaus die gefühlsmäßige Anteilnahme des Hörers an den Schmerzen Jesu zu wecken versteht, so mißt er diesen Mfekten doch stets nur eine vorbereitende und dem wahren Nutzen der Passionsbetrachtung dienende Bedeutung bei. Dieser wahre Nutzen liegt in der Erkenntnis des "fiir uns" und "um unseretwillen" der Passion Jesu. Um davon ,eindrücklich' zu predigen, verwendet Müller häufig eine bestimmte gedankliche Figur, deren Art und Bedeutung im fQlgenden wiederum an einem Beispiel dargelegt werden soll. Wir wählen dafUr einen Abschnitt aus der 7. Predigt über die Geißelung Jesu, der auch für den späteren Vergleich mit dem Text der Matthäus-Passion besonders aufschlußreich ist. "Da die Kriegs-Knechte Jesum nackend ausgezogen! haben sie ihn an die Staup-Seule gebunden. Die Entblössung war schmählich/ die Anbindung schmertzlich. Denn sie haben sonder Zweiffel den Heyland so fest gefasset! daß ihm die Bande durch die' Hände gedrungen. Mein Hertz/ damit hat Christus büssen müssen die sündliche Freyheit unserer ersten Eltern! welche die Hände nicht wolten einbinden in den Schrancken des Göttlichen Gebots: Du sollt essen von allerley Bäumen im Garten/ aber von dem Baum der Erkänntniß Gutes und Böses sollt du nicht essen. 1. B. Mos. 2. v. 17. sondern streckten muthwillig die Hände aus nach dem verbotenen Baum. Damit hat der Heyland auch büssen müssen die heutige sündliche Freyheit vieler Hände. Wie mancher vervortheilet seinen Nächsten! greiffet zu weit mit den Händen! nimmt da was weg/ da er nichts hat hingeleget/ und erndtet/ das seine Hand nicht gesäet? Wie mancher strecket seine Hand aus/ den Nächsten zu beschädigen? Darum muß sich hie Jesus dIe Hände binden lassen. Was ihn bindet/ das ist seine Liebe/ die machts/ daß sich der Liebhaber stellet in die Bande/ die wir haben verdienet/ damit wirf die Geliebte/ aus den Banden befreyet würden. Sonst hätte es mit uns allen heissen sollen: Bindet ihm Hände und Füsse/ und werffet ihn in das äusserste Finsterniß hinaus/ da wird sein Heulen und Zähneklappern. Mein Hertz/ dich soll auch die Liebe Jesu einbinden in seinen Gehorsam/ daß du thust/ was er gebeut; lässest/ was er verbeut; leidest/ was er dir auffleget. Die Welt erwehlet ein loses und ungebundenes Leben. Wer das erwehlet/ der bindet Jesum auffs neue. Ein eingezogenes und gebundenes Leben soll der Christen Leben seyn/ gebunden an den Willen und Wolgefallen Gottes" (S. 366 f.).
Der Abschnitt ist wiederum klar gegliedert. Der erste Satz enthält die Erzählung, die in den beiden folgenden Sätzen zu einer die affektive Anteilnahme (freilich sehr vorsichtig) aufrufenden Situationsschilderung eIWeitert wird. Daß es dem Prediger nicht um den Stimmungsgehalt, sondern um die Bedeutung des Vorgangs zu tun ist, zeigt der sechsmal
43
so lange kommentierende Teil des Abschnitts, in dem der Grundgedanke, daß Jesus sich fiir uns binden läßt, unter drei verschiedenen Gesichtspunkten ausgedeutet wird. Um sie zu erkennen, reduzieren wir die Aussagen auf die knappste Fonn:
1. Jesus läßt sich binden, weil a) Adam und Eva, b) wir selbst in "SÜßdlicher Freyheit" gelebt haben und leben. 2. Jesus läßt sich binden, damit wir von den verdienten Banden befreit würden. 3. Folglich sollen wir uns nun binden lassen an den Willen Gottes. Man erkennt leicht, daß hier nicht ein logischer Gedankengang entwickelt wird, denn das Verständnis von "Bindung" und "Freiheit" im zweiten Gedankenschritt widerspricht logisch dem im ersten und dritten: Ist in diesen die Bindung positiv verstanden, Freiheit jedoch als Bindungslosigkeit und überschreiten gottgesetzter Grenzen negativ, so in jenem Freiheit als Befreiung positiv und das Binden nach dem zitierten Wort Matthäus 22,13 als Höllenstrafe negativ. In dem Abschnitt findet überhaupt keine gedankliche Entwicklung statt, sondern es werden drei Deutungen eines Gedankens aneinandergefügt. Inhalt und Abfolge der Deutungen sind theologisch bestimmt. Die erste antwortet auf die Frage nach dem Warum der Anbindung Jesu und fmdet die Ursache (causa) dieses Leidens Jesu in der ihm sachlich entsprechenden, d.h. antithe· tisch entgegengesetzten Sünde des Menschen. Die zweite nennt als Ziel (finis) der von Jesus erlittenen Strafe der Anbindung die Befreiung des Menschen von dieser Strafe im Endgericht. Auch die dritte beruht auf einer diesmal nicht antithetischen, sondern positiven Entsprechung, nämlich auf der von Grund und Folge (consecutio): Aus Jesu Anbindung folgt (oder sollte folgen), daß wir uns auch einbinden lassen in den Gehorsam. . Die Deutung dieses und anderer Vorgänge aus der Passion Jesu nach dem Schema kausaler, fmaler und konsekutiver Korrelation ist nun nichts anderes als die anschauliche Darstellung der lutherischen Versöhnungslehre, wie sie die altprotestantische Orthodoxie entwickelt und vielfältig variiert hat. In der theologischen Schulsprache der Zeit bezeichnet man dabei diejenigen Sachverhalte, die den ersten beiden Korrelationen entsprechen, mit den von AnseIm übernommenen Begriffen satisfactio und meritum. Für die ethische Bedeutung der Passion, um die es in der dritten Korrelation geht, stand ein Begriff aus der anseImischen Versöhnungslehre nicht zur Verfügung. Müller selbst nennt keinen der drei von der Orthodoxie verwendeten Begriffe. August Pfeiffer jedoch, Zeitgenosse· Müllers und wie er ein namhafter Erbauungsschriftsteller, schreibt in seinen 1685 erschienenen "Magnalia Christi": "Wir haben kürtzlich so viel gesehen/ daß Passio Domini sey Satisfactoria, Meritoria, Monitoria/ oder wie das nach seinen vornehmsten Stücken vorgestellte Leiden Jesu Christi 1. Unsere Sünden-Schuld gebüßt/ 2. Unsere Seligkeit verdient/ 3. Unserer Schuldigkeit uns erinnert habe.,,29 29 A. Pfeiffer, Magnalia Christi, 2. Buch, S. 363 f.
44
Ganz ähnlich nennt Johann Gerhard in seiner "Erklärung der Historien des Leidens und Sterbens unsers Herrn Christi Jesu" fünf Gesichtspunkte für die Betrachtung der Passion, darunter ,,3. Warumb er leide. 4. Was er mit seinem Leiden erworben. 5. Wie wir uns sollen wegen solches Leidens erzeigen.,,30 Satisfactio, meritum, monitum: das sind die drei Aspekte, unter denen Müller (wie jeder evangelische Theologe seiner Zeit) das Leiden Christi betrachtet. Er tut das, indem er zwischen jedem genugtuenden und verdienstlichen Leiden Jesu und dem, was er damit büßt und verdient (der Schuld und dem Straferlaß), eine unmittelbare, anschauliche Entsprechung herstellt oder richtiger: aufzeigt. Diese Entsprechungen müssen nun noch genauer bestimmt werden. Mit der Anbindung "hat Christus büssen müssen die SÜßdliche Freyheit unserer ersten ElternI welche die Hände nicht wolten einbinden in den Schrankken des Göttlichen Gebots", und ebenso "die heutige sündliche Freyheit vieler Hände". Die Strafe - das Binden der Hände - ist dem Vergehen - dem unrechtmäßigen Ausstrecken der Hände - antithetisch vollkommen äqUivalent, sie deckt sich unter umgekehrtem Vorzeichen mit der Verfehlung. Jesus tut also genug, indem er das falsche Tun des Menschen richtig wiederholt. Damit gleicht er es aus und hebt es als falsches auf. 31 Aber die berichtigende Wiederholung nach der Verfehlung ist eben Strafe, die erlitten werden muß. Diesen Strafcharakter gewinnt sie aus der Relation zum Zorn Gottes. Der Mensch selbst jedoch kann die Strafe nicht als genugtuende, berichtigende Wiederholung leisten, denn dazu ist er als der Schuldner nicht mehr frei. Er muß ohnehin das Äquivalent zur Tat, das Gebundenwerden zur ewigen Verdammnis, erdulden, es sei denn, er ließe die unverschuldet von Christus getragene Strafe als äquivalentes meritum für sich gelten. "Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten" (Jesaja 53,5) ist das entscheidende und oft zitierte biblische Wort für diese meritorische Beziehung, das Vorbild für alle antithetischen Äquivalenzen, die das meritum benennen.32 Solchermaßen 30 J. Gerhard, Erklärung, S. 2. 31 Diese Auffassung vom Leiden Cluisti läßt sich zuruckverfolgen bis zu der ,physisch-mystischen' Erlösungslehre der griechischen Patristik, die mit dem hippokratischen Grundsatz: "Contraria contrarüs curatur- in der Soteriologie argumentierte • .,Ivo v. CIIartres (+ 1116) zog das Axiom heran, um die Erlösung durch Christus zu erk1ären: Erfahrene Ärzte heilen Krankheiten bald durch Gleiches, bald durch das Gegenteil- (W. Baier, UntersuchuBgen, S. 523 ff. - Eine hier nicht mehr zu leistende Auswertung dieser ungemein materialreichen quellenkritischen Studie im Hinblick auf die protestantische Passionstheologie des 17. Jahrhunderts würde wohl bestätigen, daß diese altkirchliches und mittelalterliches Gedankengut in erstaunlichem Umfang aufnimmt, ohne im geringsten von den lutherischen Grundlagen der Passionsbetrachtung abzugehen). 32 Daß die satisfactio als stellvertretend getragene Strafe zum meritum für den Menschen wird, ist der Gedanke, durch den sich die reformatorische Versöhnungslehre tiefvon der ansehnischen unterscheidet. Für Anselm fordert die verletzte Ehre - nicht der Zornl - Gottes "satisfactio aut poena- (Cur deus homo I, 15, S. 50). Cluistus erbringt durch seinen Tod, den er als sündloser Gottmensch nicht schuldete, eine in wem unendlichen Wert der unendlichen Ehrverletzung der Sünde entsprechende, ja sie übertreffende Leistung, er gibt .Gott ein so großes Geschenk(otantum donum sponte dat deo-), daß er dafür Belohnung oder Dank (re1ributio, merces) erwarten kann (a. o. O. 11, 19, S. 148). Die Erlösung der Menschen besteht darin, daß Christus
45
aus dem Schuld-Strafe-Ausgleich herausgenommen, kann und muß der Mensch dann die Ul'lIprünglich geforderte Äquivalenz zwischen Gebot und Tat herstellen: Er muß sich binden lassen an Gottes Willen. Das Äquivalenzdenken ist hier wie bei Anselm die Grundlage der Versöhnungslehre. 33 Der interpretierte Passus von der Anbindung Jesu kann bereits deutlich machen, daß das Äquivalenzdenken innerhalb der dreifachen Deutung der Passion keineswegs zu einem langweiligen Schematismus der Auslegung fiihrt. Zwar sind viele der Äquivalenzen schon seit Irenäus traditionelle Topoi der Christologie. 34 Aber ein geschickter Prediger wie Müller weiß dem Äquivalenzdenken immer neue erbauliche Motive abzugewinnen. Dabei verwendet er fiir die Darstellung der satisfaktorischen Bedeutung des Leidens Jesu oft die auf Paulus zurückgehende Adam-Christus-Typologie, die im oben interpretierten Beispiel in der Rede von "unsere(n) ersten Eltem" abgewandelt erscheint. Weit häufiger aber gewinnt Müller die Äquivalenz-Beziehungen durch die Anknüpfung an Bibelstellen, in denen der zu deutende Sachverhalt (z. B. "binden", "Bande") vorkommt. Aber auch Assoziationen aus dem täglichen Leben, aus der Umgangssprache (z. B. "ein ungebundenes leben führen") macht er sich fiir seine Deutungen zunutze. Einer der motivisch besonders reich ausgestalteten Predigtabschnitte ist die Deutung des Kreuzeswortes: "Mich dürstet" (S. 429 f.). An ihm soll abschließend auch noch einmal das Schema der dreifachen Deutung der Passion aufgezeigt werden. Die erste Betrachtung steht noch außerhalb des Schemas, es ist eine das Paradox betonende und so die Hörer einstimmende exclamatio: "Ein Wunder-Durst/ der Brunn des lebens empfmdet Durst." Daß Gottes Zorn auch dieses Leiden verursacht, sagt der nächste Satz, die hier ja naheliegende Wasser-Metaphorik aufnehmend: ."Das macht/ diese Belohnung, deren er für sich selbst nicht bedarf, seinen Brüdern zuwendet. Keineswegs aber ist das von Christus erlittene Todesgeschick Ansehn zufolge Strafe für fremde Sünde. Die Forderung psatisfactio aut poena" wird zugunsten der satisfactio so entschieden, daß die Strafe fort· fallen kann. Die Rationalität dieses Versöhnungsgedankens wird von der reformatorischen Theologie zerstört und durch eine harte Paradoxie ersetzt, indem die satisfactio selbst als stellvertretende Strafe gedacht wird. Der Gerechte ist der von Gott für uns - und damit zu Recht:::' Gestrafte. Welche Vertiefung dieses Verständnis der Versöhnung für die Gotteslehre, die Christologie und die Anthropologie bedeutet, braucht hier nicht ausgeführt zu werden. Lediglich darauf sollte aufmerksam gemacht werden, daß trotz der verwandten Grundstruktur des Denkens in Äquivalenz beziehungen die anselmische und die reformatorische Versöhnungslehre sehr verschieden sind. Die Differenz ergibt sich aus der Annahme oder Ablehnung des Grundsatzes, daß das .pro nobis" bedeutet: für uns gestraft. Die Orthodoxie hat bei aller sonstigen Rationalisierung der lutherischen Theologie an diesem Paradox festgehalten, die Theologie der Aufklärung nicht. Der in dieser Arbeit untersuchte Wandel im Passionsverständnis hängt entscheidend mit diesem Sachverhalt zusammen. 33 Zu Ansehn s. H. Ott, Anse1ms Versöhnungslehre; dort S. 187 der Begriff .Äquivalenz-Denken" (vgl. aber die vorige Anmerkungi). 34 Z. B. Adv. haer. V, 21. Anse1m, Cur deus homo I, 3. 4., S. 16 f., rühmt die "unaussprechliche Schönheit" ("inenarrabilem pulchritudinem") solcher Äquivalenzen, will ihnen jedoch als "Bildern" lediglich pBilligkeitsglÜnde" ("convenientia"), keine strenge Beweislaaft für die Notwendigkeit des Todes eines Gottmenschen zugestehen.
46
die Göttliche Trost-Flüsse waren verstopfft." Nach einer kuIzen ,.natürlichen" Erklärung des Durstes aus dem "stetigen Blutfluss" wird der "geistliche Durst", daß ihn "dürstet nach unserer 8eeligkeit", in nicht weniger als sechs Ansätzen betrachtet, die hier verkürzt wiedergegeben werden sollen. 1. "Liebstes Hertz! dein Siinden-Durst hat deinem Jesu diesen Durst verursachet. Wie offt sauffest du das Unrecht in dich wie Wasser!" Damit wird der satisfaktorische Aspekt dieses Leidens unter Anspielung auf Hiob 15,16 zum Ausdruck gebracht. Nicht biblischer, sondern typisch barocker Herkunft ist die folgende 8prachfiigung vom "Welt- und Geld-Durst"; der Jesus durstig gemacht habe. 2. "Durch seinen Durst hat dich der Heyland erlöset von dem HöllenDurste", wie ihn der reiche Mann (Lukas 16,19 ff.) erleiden muß. Dies ist der meritorische Aspekt. 3."Durch seinen Durst hat er in dir erwecken wollen einen Durst nach der Gerechtigkeit. Seelig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit . . ." In diesem ersten von drei Gedanken, die den monitorischen Aspekt zur Geltung bringen, wird besonders deutlich, wie ein Bibelwort (hier Matthäus 5/J) geradezu zum Anlaß für das Äquivalenzdenken wird, eine Deutung hervorzubringen. Nach demselben Muster wurde in der Passage vom Anbinden Jesu auf das Drohwort Matthäus 22,13 die meritorische Deutung gegründet ( s. o. 8.84).4. Es folgt die Mahnung: "Weil dann deinen Heyland dürstet! so sey du darauff bedacht! daß du ihm den Durst löschest." Dies. geschieht durch "Buß-Thränen/ diese sind der Freuden-Wein! wornach ihn dürstet". 5. Ein weiteres meritum leitet Müller aus Jesaja 55,1 ab ("Wohlan! allel die ihr durstig seyd! kommet her zum Wasser ..."): "Dein Jesus dürstet hier! daß er dir öffne die Quelle des Lebens." 6. In ähnlicher Weise verbindet er. die Mahnung: "Ach! dein Jesus dürstet so hertzlich nach dir! laß dieh doch wiederum nach ihn dürsten" mit einem Zitat aus Psalm 42: "Wie der Hirsch schreyet nach frischen Wasser ... Meine Seele dürstet nach Gott ... " Wie so oft beschließt Müller auch hier den Abschnitt mit einem Wort aus der Schrift.
Man sieht, wie hier anhand der dreifachen Frage nach der satisfactio, dem meritum und dem monitum der Passion Jesu und mit Hilfe der "geistlichen" (metaphorischen) Schriftauslegung der einfache Grund-Satz der Versöhnungslehre: "Die Strafe liegt auf Uun, auf daß wir Frieden hätten" (Jesaja 53,S, von Müller häufig zitiert) in vielfältiger Weise veranschaulicht wird. Angesichts der Häufigkeit, mit der dieses Schema in den Predigten variiert wird, läßt sich sagen, daß in dieser Entfaltung der VeISÖhnungslehre ihr theologisches Hauptanliegen besteht. 6. Die paränetische Gnmdtendenz der Passionspredigten Die bisher herangezogenen Predigtpassagen haben gezeigt, daß Müller sich nie lange bei der narratio und der explicatio der Passionsgeschichte aufhält, sondern immer sehr rasch zur applicatio, zur Einbeziehung des Hörers in das Passionsgeschehen übergeht. Wo er dabei nicht den oben interpretierten dreifachen "Nutzen" der Passion Jesu für die Menschen entfaltet, leitet er aus jedem Einze1zug des Geschehens eine oder mehrere "Lehren" ab, die bei aller Vielfalt im einzelnen doch immer wieder dieselben Motive aufweisen. Nach der homiletischen Theorie der Zeit stehen wir hier vor der Frage, wie 47
Müller die usus der applicatio behandelt, deren Fünfzahl aus 2. Timotheus 3,16 abgeleitet wurde: didascalicus (lehrhaft), elenchticus (Irrlehre widerlegend), epanorthoticus (strafend), paedeuticus (mahnend) und paracleticus (tröstend). Während die orthodoxe Homiletik meist die Behandlung eines Textes nach allen tunf usus vorschrieb, haben pietistische Prediger sowohl in ihren methodischen Äußerungen als auch in der Praxis diese· schematische Textbehandlung aufgegen. 35 Es könnte also als ein Indiz für Müllers Nähe zum Pietismus angesehen werden, daß er in den Passionspredigten einen sehr freien Gebrauch von den usus macht und z. B. völlig auf den usus elenchticus, auf die Polemik gegen Irrlehren also, verzichtet, die in der orthodoxen Predigt einen breiten Raum einnahm. In Wirklichkeit ist diese freie, ungezwungene Verwendung der usus jedoch weniger eine Eigenart Müllers, als vielmehr der Passionspredigt der Zeit überhaupt. Intensiv widmet sich Müller jedoch der Bestrafung von Untugenden, der Ermahnung und - vor allem - der Tröstung seiner Hörer. Die in diesen Zusammenhang gehörigen Ausftihrungen Müllers lassen sich in drei Motivkomplexen zusammenfassen. 1. Nachfolge im Leiden. Daß der Christ in der Nachfolge Jesu leiden muß, ist der in den Predigten wohl am häufigsten ausgesprochene Gedanke. "Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen" (Apostelgeschichte 14,22) ist eines der meistzitierten Bibelworte. Zugefügt wird dem Christen das Leiden von der "Welt", die an dem Schicksal, das sie Jesus bereitet hat, ihren widergöttlichen Charakter enthüllt hat. Das Motiv des Gegensatzes zwischen Jesus und der Welt wird schon im zweiten Exordium der ersten Predigt angeschlagen: "Und wie reimet sich zusammen die rechte Welt! die alles Vollauff hat! und der leydende Jesus! der nicht so viel hat! da er sein Haupt hinlegen könne ... Wie schickt sich bey einander die lachende Welt! die allezeit lebet in Herrlichkeit und Freuden! und der traurige Jesus! der Blut weinet im Oelgarten ... Wie reimet sich zusammen die ansehnliche! prächtige Welt! die allzeit hoch hinaus will! und der niedrige Jesus! der sich wie ein Würmlein läßt zertreten von Gott und Menschen?" (S. 238) Diese Welt fügt auch "Christus in seinen Gliedern" unablässig Schmerzen und Wunden zu. Da hat jeder Christ seinen Judas, der ihn verrät, seine Freunde, die "selten Fuß (halten) im Creutz" (S. 278), seine Spötter, die ihn zum Narren halten, ihn "anspeien und sagen: Pfui dich an! Was bist du für ein Mensch?" (S. 302) Ja, die Welt "wird noch heutiges Tages besessen von dem rasenden Mord-Geist! gleich den Juden. Wir dürffen nicht weit gehenl wir haben leyder! offt Exempel vor Augen" (S. 379). So ist die Passion Christi der eigentliche Weltspiegel. ("So machts die Welt" ist eine oft wiederkehrende Redewendung in den Predigten.) Dieses Leiden muß der Christ nach dem Exempel Jesu annehmen, denn "der Knecht ist nicht besser als der Herr" (S. 334 u. ö.). In der Nachfolge des leidenden Jesus geht er "auch mit seinem Gemüthe zur Welt hinaus", denn "wem Jesus süsse wird! dem wird die Welt bitter" (S. 242). Wie Jesus soll er aber sein Leiden letztlich nicht als von der Welt, sondern als von Gott selbst über ihn verfUgt ansehen. ,,Mein Hertz! dein Leiden kommt von Gott! den Creutz-Kelch schencket dir kein Teuffel.ein! kein böser Mensch! sondern Gott! und zwar schencket dir ihn dein Gott ein! als dein Vater ... Kein Vater suchet seines Kindes Verderben! sondern 35 S. dazu M. Schian, a.a.O., S. 21 ff., S. 39 ff.
48
sein Bestes" (S. 273 f.). Der starke Vorsehungsglaube, der die Predigten durchzieht, wird stets am Gedanken des Leidens entfaltet. Denn hier allein kann er sich bewähren (und der Gefahr der Banalität entgehen), hier auch nur seinen Trost spenden. Die Leidensbereitschaft kulminiert in dem Verlangen nach dem Kreuz als einem "lieben! edlen Gast" (S. 245), die Abkehr von der Welt in der Todessehnsucht: "Einem solchen Hertzen ist das Leben keine Lust! sondern eine Last! es wünschet zur Welt hinaus! und saget mit Paulo: Ich habe Lust abzuscheiden! und bey Christo zu seyn" (S. 241). Das Exempel Jesu soll aber den Menschen nicht nur zur Nachfolge im Leiden ermuntern, sondern ihn in solchem Leiden auch trösten. "Liebstes Hertz! wanns dir auch wiederfähret! so tröste dich mit dem Exempel Christi" ist eine häufig gebrauchte Wendung. Der Trost liegt zum einen darin, daß das Kreuz uns mit Jesus verbindet, uns in den von ihm gestifteten "Orden der Creutz-Träger" einfügt, zum anderen in der Verheißung der .Herrlichkeit! die auff das Creutz erfolget" (S. 245), und schließlich vor allem darin, daß unser "Creutz-Kelch" nicht mehr wie der, den Jesus für uns trinken mußte, "die Bitterkeit des Todes! die Gall und Angst der Höllen" enthält, denn "Jesus hat den ersten Trunck aus dem Creutz-Kelch gethan! damit Er von seinen Lippen Hesse hinein trieffen die HOnig-Tröpflein seiner süssen Liebe" (S. 243 f.). Der Trost besteht also darin, daß für den Nachfolger Jesu das Leiden nicht mehr Strafleiden ist, sondern ihm dazu dient, "Fleisch und Blut" "ans Creutz" zu bringen. Dieses lutherische Verständnis des Leidens liegt allen Aufforderungen Müllers zur Leidensbereitschaft zugrunde.
2. Nachfolge im Handeln. Gegenüb<:r der Leidensnachfolge spielt die Nachfolge im Handeln in den Predigten eine verhältnismäßig geringe Rolle. Gleichwohl prägt sich ihr paränetischer Grundzug auch darin aus, daß aus Jesu Verhalten direkte Handlungsanleitungen gewonnen werden. Wir sollen nicht nur leiden, wie er gelitten hat, sondern auch tun, was er getan hat: einem verräterischen Freund liebevoll begegnen, "ob man sein Hertz könne gewinnen! und die Seele zu Gott bringen" (S. 260); schweigen, wenn uns Lügner verleumden (S. 294), hingegen uns verantworten, wenn wir unseres Glaubens wegen beschuldigt werden (S. 285); unseren Feinden wünschen "nicht Gottes Rach und Gericht! wie gemeiniglich geschiehet ...! sondern Vergebung", wie Jesus am Kreuz für seine Feinde betete; so leben und sterben, daß man von uns wie von Jesus sagen kann: "Er ist ein frommer Mensch und Gottes Kind gewesen" (S. 438). Man sieht: die Ethik, die Müller seinen Hörern predigt, ist wiederum stark vom Motiv des Leidens geprägt. Anweisungen für das rechte "weltliche" Verhalten gewinnt Müller eher aus den (positiven oder negativen) Handlungsweisen anderer Gestalten aus der Passionsgeschichte. So gilt ihm etwa Pilatus als ein Vorbild der "Demuth und Bescheidenheit", weil er zu den Juden hinausgeht. "Mein Hertz! je höher du bist! je mehr du dich demüthlge! so wirstu Gnade bey Gott haben" (S. 328). Auch lobt er an ihm, "daß er nicht will verdammen! ehe er die Sache erkandt hat" (S. 329). Die Regel: "Beyde Theile muß er erst hören! und alsdann das Urtheil von Rechts wegen sprechen" ist ihm so wichtig, daß er eine lange Paränese daran knüpft. "Wann das geschehe! so wären mehr Freunde in der Welt! als jetzt leyder! sind" (S. 334 f.). Derselbe Pilatus aber ist ihm "ein Muster eines hoffärtigen Richters", als er "ihm einbildet! es stehe in seiner Macht! einen Menschen 10ß zu sprechen! oder zu verdammen! da doch das Urtheil nicht vom Richter!
49
sondern vom Recht soll herkommen" (S. 382). Und seine Menschenfurcht wird getadelt, als er Jesus gegen sein Gewissen zum Tode verurteilt. Dagegen weist Müller seine Gemeinde an: "Thue recht! ... und scheue den Teuffel nicht" (S. 386). Das gute Beispiel der Frau des Pilatus veranlaßt ihn zu der Mahnung: "Ein frommes Weib hat zuweilen sonderbahre Weisheit vom Himmel! drum soll man ihren Rath nicht verwerffen" (S. 384). Pastoralethische Grundsätze entwickelt Müller im Exordium zur dritten Predigt aus dem schlechten Vorbild der Jerusalerner Priester (S. 267 ff.). "Ein Prediger muß für sich selbst fromm seyn! sonst kan er die Frömmigkeit nicht pflantzen in die Hertzen seiner Zuhörer", das gilt ihm als die erste Regel. Sodann muß er "die Frömmigkeit an seinen Zuhörern lieben", "das Gute an seinen Zuhörern loben", denn "das Lob eines geleisteten Gehorsams ist eine Auffmunterung zum neuen Gehorsam", und schließlich muß er "auch das Gute an seinen Zuhörern belohnen" durch den Zuspruch der Verheißungen, die auf der Gottesfurcht ruhen. Müller erweist sich auch in diesen pastoralen und pädagogischen Anweisungen als ein Prediger, der lieber mit einem freundlichen "Gnaden-Blick" als mit dem "zorn-Blick" des Gesetzes eine Wandlung des Menschenherzens, aber auch Reformen des Kirchenwesens erreichen möchte. Schließlich sei noch erwähnt, daß Müller den Vorwitz des Petrus zum Anlaß nimmt, seine Hörer vor dem Abweichen von den "Wegen ihres Beruffs" im politischen und gesellschaftlichen Bereich zu warnen. "Wann jemand der Obrigkeit ins Amt greiffen will! der verbrennet die Hände" (S. 272). Und wenn der Mensch "will in alle Wmckel/ in alle Löcher kriechen! und sehen! was sich da begibt! und hören! was die Leute sagen! da ist er schon ausser Gottes Schutz" (S. 304). Es ist deutlich: Mii11ers Ethik ist im wesentlichen Leidensethik. Alles Handeln des Christen steht unter dem Vorzeichen, daß dieses Leben nur Vorbereitung ist für den Eingang in das ewige Leben. Darum gilt es, sich nicht verleiten zu lassen "von der Thürhüterin des Teuffels! der WeIt" (S. 304). Sich zu bewahren vor Unrecht, Eigennutz, Lüge und Verleumdung, sich nicht zu wärmen "am Feuer zeitlicher Wollust! zeitlicher Ehr und zeitlichen Nutzens" (S. 304), ist darum die Hauptsorge dieser Ethik. Eine christlich-stoizistische Komponente in der ethischen Grundhaltung der Predigten ist unverkennbar. Aber gerade diese Ethik der ,Weltflucht' findet in den positiven Korrelaten zur verpönten Weltlichkeit Werte, deren Bedeutung für die Gestaltung der weltlichen Dinge schwerlich in Zweifel gezogen werden kann: Rechtlichkeit, Freiheit von Menschenfurcht, Gelassenheit, Anerkennung von Ordnungen, Zuverlässigkeit und Mitleid, um nur einige zu nennen. hn übrigen verwehrt es schon der milde, herzliche Ton der Predigten, in Müller einen verbitterten, lebensfernen Moralprediger zu sehen. 3. Nachfolge im Glauben. Nicht nur im Leiden und Handeln, sondern auch im Glauben ist Jesus Vorbild. Breit ausgefiihrt wird das etwa aus Anlaß des Gebets Jesu in Gethsemane. Obgleich Jesus wegen seiner persönlichen Vereinigung mit Gott des Gebets als einer "Erhöhung des Hertzens zu Gott" nicht bedurfte, hat er "beten wollen! seine tieffe Erniedrigung an den Tag zu geben! und ung ein Exempel nachzulassen! daß wir beten sollen! wann uns angst ist" (S. 238 f.). Jede Einzelheit des Gebets Jesu hat beispielhaften Charakter: Er geht beiseite, denn "ein vertrautes Gespräch läst man nicht
50
gerne anhören"; er fällt nieder, damit wir von ihm rechte Demut lernen; er "betet zu dreyenmalen", und so "ist es auch des Glaubens Art! daß er an und aushalte" (S. 241); wie er Gott seinen Vater nennt, so sollen auch wir "Gott nach seinem väterlichen Hertzen" greifen (S. 242); und ihm müssen wir auch das "Nicht mein! sondern dein Wille geschehe" nachsprechen. Auch die Stärkung, die Jesus im Gebet durch den Engel erfuhr, wird dem Hörer verheißen: "liebstes Hertz! das Gebet ist unsere HinunelsLeiterl darauff die Engel hinauff und herab steigen. Die Seufftzer steigen hinauffl als Engel und Boten/ und tragen die Noth Gott vor. Gottes Trost aber steiget herabI als ein Engel/ und erquicket" (S. 250). Ein Vorbild hat Jesus auch gegeben mit seinem letzten Kreuzeswort. Wenn es mit uns "zum Tode kommt", sollen wir auch unsere Seele in Gottes Hände geben (S. 434). In all diesen Fällen ruft Müller die Hörer unmittelbar zur imitatio Christi auf. Hier soll er wirklich handeln und sein wie Jesus, nicht weil Jesus zuvor etwas für ihn getan hat, wie es das monitum in der Verklammerung mit der satisfactio und dem meritum bedeutete. Jesus ist eben auch, und zwar, wie die Beispiele zeigen, besonders als Betender, Vorbild und Lehrer für den Glauben. Viel häufiger aber werden auch hier andere Personen der Passionsgeschichte oder einzelne ihrer Verhaltensweisen als Vorbüder für den Glauben, sein Wesen, seine Entstehung, seine Zustände und seine Konsequenzen herangezogen. An Petrus ist zu lernen, wie Bekehrung zum Glauben geschieht, Judas wird zum Anlaß für lange Betrachtungen über wahre und falsche Buße, der Schächer am Kreuz zeigt, was zum rechten Glaub!,n gehört. Vor allem aber und fast ausschließlich ist die Nachfolge im Glauben, die Jüngerschaft, das Thema der letzten Predigt"Vom Begräbniß Christi". Joseph, Nikodemus und die drei Frauen, die das Begräbnis Jesu ausrichten, werden in teils allegorischer, teils metaphorischer ("geistlicher") Ausdeutung ihrer Namen und Herkunft, ihrer Lebensumstände und Handlungsweisen als Zeugen des Glaubens betrachtet. Der Grundgedanke, der die Deutung des Begräbnisses unter dem Gesichtspunkt der Ttingerschaft ennöglicht, ist die "geistliche" Gleichsetzung des Grabes Jesu mit dem menschlichen Herzen: Der Glaube bringt Jesus "zu Grabe in unsenn eignen Hertzenl nirgends fmdet er Ruhel als da" (S. 478). Das Verhalten eines jeden Christen muß wie das des Joseph und des Nikodemus darauf gerichtet sein, Jesus zu gewinnen und zu besitzen. Das bedeutet: 1. Er muß sich zu ihm bekennen und "muß sonst nichts begehren zu habenl auch sich selbst nicht" (S. 470 f.). Er soll aber angesichts der eigenen Schwäche und Furcht nicht verzagen, denn "der Glaube hat seine Abwechselung/ bald ist er starckl bald schwach" (S. 467). Man "empfmdet" Jesus nicht immer, auch wenn man mit ihm schon das Himmelreich im Herzen hat, denn "es ist ein verborgenes Reich ... I ein Reich des Glaubens. Seelig sindl die nicht sehen/ nicht empfmdenl und doch glauben" (S. 456). Der Zusati "nicht empfinden" zu dem bekannten Wort Jesu an Thomas (Johannes 20,29) ist höchst aufschlußreich. Müller warnt zwar davor, den Glauben vom Empfmden abhängig zu machen, als kluger Seelsorger weist er auf den Wechsel von Höhen und Tiefen im Glauben hin und mahnt zur Geduld, "bis des Herrn Stündlein koltlmtl da wird sich der Hinunel in dir auffthun/ und du wirst empfmden Gerechtigkeitl Friede und Freude im Heiligen Geist" (S. 456 f.). Aber eben sein interesse an den Zuständen des Glaubens, am Glaubensleben, wie man wenig später psycho-
51
logisierend sagen wird, weist theologiegeschichtlich eindeutig in die Nähe des Pietismus. Schwäche oder Stärke des Glaubens werden durch Selbstbeobachtung erkannt. Auch dazu ermahnt Müller seine Hörer des öfteren: "Prüfe dich! ob Christus durch den Glauben eine Gestalt in dir gewonnen habe ... Prüfe dich! ob du durch den Glauben ein Kind Gottes worden bist! . . . Prüfe dichl ob du den Willen thust seines Vaters im Himmel ... " (S. 458). 2. Um Jesus zu gewinnen, muß man ihn von Gott erbitten, wie Joseph ihn von Pilatus erbat. Mit ihm gewinnt man das Ewige, in dem allein "die Seele Vergnügung36 (findet)", ist sie doch "erschaffen nach dem Bilde des ewigen Gottes" (S. 472). Nach dem Verlust dieses Bildes durch Adams Fall "werden wir in Christo nach diesem Bilde durch den Glauben wieder erneuert" (S. 486). In diesem Foimulierungen treffen wir auf die anthropologischen Grundlagen von Müllers Glaubenslehre. Sie decken sich mit denen der lutherisch-orthodoxen Anthropologie von Urstand, Fall und Erneuerung des Menschen. Aber bei Müller gewinnt die Frage, wie denn der Mensch beschaffen ist oder sein soll, in dem Christus Gestalt gewonnen hat, ein größeres Gewicht als in der zeitgenössischen Orthodoxie. 3. Zum Glauben, der Jesus gewinnen will, gehören schließlich Reue und Buße, die Müller hier unter dem Bild der Waschung und der Salbung Jesu darstellt: "Wasch ihn mit deinen Thränen", "salbe Jesum mit der Myrrhen der Busse" (S. 479). 4. Der ersehnte vollkommene Stand des Glaubens ist dann erreicht, wenn Jesus in dem von allem Welthaften gereinigten Herzen des Menschen ruht wie im versiegelten Grab. J)u! mein Hertz! hast du Jesum in. dir zur Ruhe gebracht! so wältze vor dein Hertz den Stein des ernstlichen Vorsatzes! daß du ihn nimmer wilt aus deinem Gedächtniß kommen lassen" (S. 489). Viele Nebenmotive der Müllerschen Ermahnung zum Glauben mußten hier beiseite gelassen werden. Die herangezogenen Beispiele sollten lediglich deutlich machen, wie Müller aus der Passion Jesu die Glaubensforderung ableitet und wie dieser Glaube geartet ist: Es ist ein Glaube, der sich selbst als ernste, innerliche Frömmigkeit ergreift. überblicken wir die drei behandelten Motivkomplexe der Müllerschen Paränese, so sind zwei Merkmale ihrer Eigenart hervorzuheben:
1. Ihre auf die Innerlichkeit des einzelnen drängende Tendenz. Die häufige Anrede an den Hörer mit den Worten "mein Hertz" ist ein Indiz dafiir, ein anderes sind die Tugenden und Affekte, die er in seiner Glaubensethik an die Spitze stellt: Herzensreinheit, Gottes- und Jesusliebe, Trauer über die Sünde, Seelenfriede. "In dir", so betont Müller unablässig, muß alles geschehen: in dir muß Jesus ruhen, in dir "wird sich der Himmel ... auffthun" (S. 456), in dir muß die Sünde sterben. 2. Müllers Ethik ist vorwiegend Leidensethik. Das Leiden mehr als das Handeln kennzeichnet das Leben des Christen, der die Welt grundsätzlich schon überwunden hat. Auch der Glaube ist in seiner der Welt zugewandten Seite nichts anderes als Leiden oder, anders gesehen, die ftir das Leiden in und an der Welt reichlich entschädigende Freude in Gott. 36 D. h. Genügen.
52
Kapitel 3: Allgemeine Charakteristik der Passionspredigt des 17. Jahrhunderts Im vorigen Kapitel sind wir gelegentlich bereits dazu genötigt worden, den Blick über Müllers Predigten hinaus auf allgemeine Charakteristika der Passionspredigt des 17. Jahrhunderts zu richten. Umgekehrt können wir nun, indem wir eine systematische Darstellung dieser Passionspredigt zu geben versuchen, auch auf schon bei Müller Beobachtetes zuriickgreifen. Die folgenden Ausführungen, die sich auf die Auswertung einer Fülle von Predigtzyklen gründen, berücksichtigen vor allem damals weit verbreitete Sammlungen wie V. Herbergers "Horoscopia Passionis Domini" (1607)1, J. Gerhards "Erklärung der Historien des Leidens und Sterbens unsers Herrn Christi Jesu" (1611)2, die Passionspredigten aus J. Amdts "Postilla" (1615)3, "Crux Christi" (1618) von J. Heermann, die "Buß- und Passions-Betrachtungen" (1650)4 und "Heilige Karwochen" (1653)5 von J. M. Dilherr sowie das anonyme "Paßional-Hand-Büchlein" (1681). Darüber hinaus werden ein Rückblick auf die bereits 1587 erschienenen "Soliloquia de Passione Jesu Christi" von M. Moller6 und ein Ausblick auf J. J. Rambachs "Betrachtungen über das gantze Leiden Christi" von 17307 nötig und hilfreich sein, um den Wandel und die Kontinuität der Passionsauslegung über die Jahrhundertgrenzen hinweg zu verdeutlichen. Die genannten Werke werden hinsichtlich ihrer Gliederungsmöglichkeiten (1), ihrer Auslegungsgrundsätze (2) sowie ihrer gedanklichen und sprachlichen Gestaltung (3) untersucht. Abschließend wird nach dem Verhältnis zwischen der Passionspredigt des 17. Jahrhunderts und derjenigen Luthers gefragt (4). 1. Gliederungsmöglichkeiten der Passionspredigten Anders als die Passions- und Osterharmonie Bugenhagens, die mit einer Leidensankündigung Jesu und dem Tötungsbeschluß des Hohen Rats einsetzt und u. a. von der Salbung in Bethanien, dem Abendmahl mit der Fußwaschung und einigen Abschiedsworten berichtet, beginnen die Auslegungen der Passionsgeschichte durchweg erst mit
1 Abgek.: Horoscopia.
2 Zit. nach der Ausgabe Jena 1652; abgek.: Erklärung. 3 Zit. nach J. Arndt, Geistreiche Schrüften und Wercke, Teil I, Leipzig und Görlitz 1734; abgek.: Postilla. 4 Abgek.: BPB. 5 Abgek.: HK.
6 Zit. nach der Ausgabe Lüneburg 1746; abgek.: Soliloquia. 7 Zit. nach der 2. Auflage Jena 1732; abgek.: Betrachtungen.
53
dem Aufbruch zum Ölberg.8 Den Abschluß der Reihe bildet meistens eine Predigt oder Betrachtung über die Grablegung. Die Einteilung dieses Stoffes richtet sich nach der Form der Auslegung. 9 Bei Predigten ist sie durch die Anzahl der nach den Kirchenordnungen vorgeschriebenen Passionsgottesdienste mitbestimmt. In jedem Fall sind aber die einzlenen Episoden der Handlung deutlich voneinander abgegrenzt. lO Gliederungsgesichtspunkte, die diese Episoden übergreifen, finden sich oft in den nicht aus Predigten hervorgegangenen Passionsbetrachtungen. Genannt seien hier nur zwei, die besonders häufig angewendet wurden: 1. Die auf altkirchliche Vorbilder zurückgehende Einteilung in fünf (auch vier oder sechs) Actus, die J. Gerhard wählt und die er ,.in diesem alten Verslein begriffen" findet: "Hortus, Pontifices, Pilatus, cruxque, sepulchrum" (Erklärung, BI. a 2).11 Die äußere Gliederung nach fünf Teilen, von denen jeder wiederum in neun bis 15 "Betrachtungen" unterteilt ist, liegt auch bei Rambach vor, nur daß er "Das innerliche Leiden Jesu Christi im Oelgarten" als ersten und "Das äußerliche Leiden Jesu Christi im Oelgarten" (Gefangennahme, Jüngerflucht) als zweiten Teil zählt und dafür das Begräbnis lediglich in der letzten Betrachtung des fünften Teils behandelt. Aber auch solche Passionswerke, die äußerlich einem anderen Gliederungsprinzip folgen, kennzeichnen oft wenigstens mit einem Satz den Beginn eines jeden der fünf von Gerhard benannten Teile und zeigen damit nur noch deutlicher, in welchem Maße diese Einteilung zum Gemeingut der Passionsauslegung gehört. 8 Lediglich J. Gerhard stellt eine ausdrücklich als Vorbereitung (Parasceve Passionis) bezeichnete Auslegung der Salbung in Bethanien voran. 9 Zu den Gliederungsmöglichkeiten s. auch Krummacher, a.a.O., S. 332-340. 10 1. Gethsemane, 2. Gefangennahme (oft zusammen mit 1.), 3. Vor dem Hohen Rat (evtl. fortgesetzt nach 5.), 4. Verleugnung und Reue des Petrus, S. Ende des Judas, 6. Vor Pilatus, 7. Geißelung, 8. Gang nach Golgatha, 9. Kreuzigung (und Tod), 10. Jesu Worte am Kreuz (gesondert oder unter 9. behandelt), 11. Wunder nach Jesu Tod, 12. Begräbnis. 11 Übersetzt zumeist als: 1. Jesu Leiden am Ölberg, 2. Vor dem geistlichen Gericht (der Juden), 3. Vor dem weltlichen Gericht (des Pilatus), 4. Kreuzigung (Leiden auf dem Berg Golgatha), 5. Begräbnis. - Auch Luther hat diese Einteilung vorgeschlagen, jedoch das Abendmahl als ersten Teil vorangestellt (WA 45, 438). Er selbst hat sich allerdings nirgendwo eindeutig an dieses Gliederungsprinzip gehalten. - Die Bezeichnung .Actus" begründet Gerhard damit, daß man die Passionsgeschichte als eine "Comoedi" oder als eine .Tragoedi" ansehen könne. Obwohl er sich dabei ausdrücklich auf die (von ihm noch Gregor von Nazianz zugeschriebene) Tragödie .Christus patiens" beruft, zeigt seine Deutung der Begriffe, daß er keineswegs an eine dramatische Behandlung des Stoffes denkt. Vielmehr erscheinen ihm die Begriffe geeignet als theologische Deutungen des Verlaufs und Erfolgs der Passion von verschiedenen Standpunkten aus. Als .Comoedi" kann sie gelten, .weil es unserer Vernunfft nach wunderlich und seltzam SICh anfangs mit ihm (scil. Christus) anlässetl aber es folget darauff eine herrliche Catastrophe, ein seliger und frölicher Außgangl nemlichl seine Aufferstehung! Himmelfahrt und Sitzen zu der Rechten Gottes"; dem Teufel jedoch und seinen Helfern ist sie .eine schreckliche Tragoedil weil es sich anfangs mit jhnen frölich und gut anlässet! aber einen bösen schrecklichen Ausgang nimbt" (ebd.). Nur das theologisch gedeutete Moment des Umschlags also interessiert Gerhard an
54
2. Eine vielfach genutzte Gliederungsmöglichkeit, die auch von Gerhard in den Vorüberlegungen zur Passionsauslegung erwähnt wird, bietet der zeitliche Ablauf der Passionsereignisse. 12 Die Einteilung der Betrachtungen nach den Stunden des Tages, innerhalb dessen die passio magna sich vollzieht, dient etwa Val. Herberger - um nur den bekanntesten Vertreter dieser Gruppe zu nennen - in seiner "Horoscopia Passionis Domini" einem erbaulichen Zweck: daß sich nämlich "das fromme Hertz" "also alle stunden so offt der Seiger schlegt! seines Erlösers könnte tröstlich erinnern. ,,13 Und den "kurtzen summarischen innhalt" seines "Passionals" beschließt Herberger mit der Mahnung: "Umb sieben. Da fange wieder von forn an! so hastu volle arbeit im hertzen! bey tag vnd nacht. ,,14 Diese großen Gliederungen der gesamten Passionsgeschichte setzen sich innerhalb der einzelnen Teile oder Predigten fort. Hier werden die Ereignisse jeweils nach Ort, Zeit, Personen und Umständen eingeteilt und behandelt. Um dieses auffällige Bedürfnis nach Gliederung, ja (für modemes Empfmden) Zergliederung des Stoffes zu erklären, genügt es nicht, lediglich auf den rationalen Zug im Denken der Zeit, wie er sich auch in den Distinktionen der Dogmatiken ausprägt, hinzuweisen. 15 Viehnehr kommen in dieser starken Durchgliederung des Stoffes eine philosophische und eine spezifisch passionstheologische überzeugung zum Ausdruck. Philosophisch läßt sich die Auflösung der Gesamtgeschichte in ihre Teile und Unterteile als Vorrang der Einheit (Einzelheit) vor der Ganzheit verstehen. Nicht das Ganze bildet erst eine Einheit, sondern in der Einheit als Einzelheit ist das Ganze jeweils bereits enthalten. So ist es möglich, daß in jedem Einzelzug die Bedeutsarnkeit der Passion überhaupt aufgezeigt werden kann, wie wir insbesondere an den soteriologischen Aussagen der Predigten noch sehen werden. Was das Ganze der Passion bedeutet, kommt nicht erst an ihrem Ende heraus, sondern ist, als das Eine von vomhereinerkannt,injedem Teil der Passion als das Gleiche präsent. Darum gibt es auch keine Entwicklung innerhalb der Passion von einem Anfang zu ihrer Vollendung, sondern vollendet wird die Passion immer schon in jedem ihrer gleich bedeutsamen Teile, insofern jedes einzelne Leiden Jesu die ganze Versöhnung und Erlösung schafft. Allerdings ist auch jeder Teil der Passion unentbehrlich fiir die Vollden literarischen Begriffen. Im übrigen spielt aber nicht einmal dieses Moment in der Passionsdeutung Gerhards und seiner Zeitgenossen eine bedeutende RoUe, denn nach ihrem Verständnis vollzieht sich die Wende zum Guten bzw. Schlimmen nicht erst am Ende der Passion durch die sieghafte Auferstehung, sondern in dem Leiden Christi selbst, ja sogar in jeder einzelnen seiner Phasen. 12 Erklärung, BI. a 2. - Eine dritte von Gerhard vorgeschlagene Gliederungsmöglichkeit .nach den Personen! derer in derselben Historien gedacht wird (BI. a 4), findet sich m.W. nur innerhalb einiger Predigten (z. B. über Petrus' und Judas' Reue, über die Personen, die Jesus begraben), nicht aber als durchgängiges Aufbauprinzip eines ganzen Zyklus'. 13 Horoscopia, BI. A 6v f. M
14 A.a.O., S. 27. 15 Krummacher meint wohl diese Rationalität, wenn er in den Gliederungsversuchen ein Verlangen nach Übersichtlichkeit und Einprägsamkeit sowie .ein allgemeines Bedürfnis nach Proportion" sieht. A.a.O., S. 332 f.
55
endung des Erlösungswerks. Von der Gefangennahme bis zum Begräbnis hat jedes dieser Leiden eine ganz bestimmte ,.Aufgabe" innerhalb dieses Werkes. Insofern kann man auch sagen, daß die Passion sich erst vollendet durch die Summe ihrer einzelnen Teile. Der Widerspruch zwischen einer summativen und einer im Einzelnen schon enthaltenen Ganzheit läßt sich wohl nur auflösen, wenn man das diesem Denken korrespondierende Zeitverständnis mit berücksichtigt. Das kann hier nur in Andeutungen geschehen. Die Passion ist nach diesem Verständnis primär ein außer der Zeit beschlossenes, ewiges Werk Gottes zur Erlösung der Menschen. 16 Seiner zeitlichen Verwirklichung, bei der die Vollendung erst am Ende festzustellen ist, ist doch in jedem Augenblick gleichsam der SteJ11pel der vorweggenommenen ewigen Vollendung aufgedrückt. So kann man, wenn man dies ,weiß', bei jeder Station der Passion innehalten, in ilu des Ganzen, nämlich des Ewigen gewahr werden und doch erkennen, daß sie in der Zeit erst mit dem Tod und Begräbnis Jesu vollendet wird. Die Auffassung von der Vollendung der Passion durch die Summe der einzelnen Ereignisse ist sozusagen die äußerste Konzession, die ein primär am Begriff des Ewigen orientiertes Denken dem zeitlichen Ablauf des Erlösungsgeschehens machen kann. Dieses Nacheinander, als das sich das Ewige in der Zeit darstellen muß, ist aber etwas völlig anderes als ein geschichtlicher Verlauf, wie ihn ein von ,unten', von der Zeit ausgehendes Denken wahrnimmt. Für dieses kann sich das Ewige aus dem zeitlichen Prozeß als dessen Vollendung ergeben, aber während des Prozesses ist es immer noch gefahrdet, und erst das zeitliche Ende erweist und besiegelt seine ewige Gültigkeit. Das Denken in gleich gewichtigen Einheiten korrespondiert dem Vorrang des Ewigen im Zeitverständnis, wie das Denken in )ebendigen', sich zum Ganzen erst entwickelnden Teilen dem Vorrang des Zeitlichen entspricht. Wenn sich letzteres im 18. Jahrhundert durchsetzt, ist das Ende der Passionsauffassung gekommen, die wir hier darzustellen haben. Spezifisch passionstheologisch bringt die Durchgliederung des Stoffes die überzeugung zum Ausdruck, daß Christi Leiden genügsam, weil allumfassend, daß es ein "grosses und mannigfaltiges Leiden" isti?, denn er leidet von allen, für alle, an allem (Leib und Seele), in allem (allen Umständen), an allen Orten und zu jeder Zeit. 18 Im aufmerksamen Registrieren dieser Mannigfaltigkeit des Leidens kommt die Passionsauslegung iluer Aufgabe nach, die Vollständigkeit der darin vollbrachten Erlösung aufzuweisen. 16 Dies wird in vielen Predigten z. B. als Grund dafür genannt, daß Gott die Bitte Jesu nicht erfüllt, der Kelch möge an ihm vorübergehen .•Derohalben! weiln es dir nicht verborgen! daß einmal von dir der Göttliche Rathschluß ergangen! du soltest wie Joseph verkaufft; wie Sirnson gebunden; wie Isaac zur Schlachtbanck geführet; wie die ehrne Schlange erhöhet; und wie Abel von seinem Bruder! also du! von deinen Brüdern! dem Jüdischen Volck! getödtet und ermordet werden: Also! en tschliessest du dich auch! dieses alles gern und mit grosser Bereitwilligkeit auff dich zu nehmen." (Paßional-Hand-Büchlein, S. 231 f.) Müller läßt Jesus selbst beten: .Weil du aber von Ewigkeit in deinem Rath hast beschlossen! daß ich! dein Kind! flir der Menschen Sünde sterben soll! ... so ists nu unmüglich! du kanst ja deinen Rath nicht ändern ...• (S. 245)
I? Gerhard, Erklärung, S. 6. 18 Vgl. a.a.O., S. 6-8.
56
2. Die Auslegungsgrundsätze der Passionspredigt Der innere Aufbau der Predigten wird von den seit Luther in der protestantischen Kirche gültigen Grundsätzen für die Auslegung der Passionsgeschichte bestimmt. Hinweise auf sie enthalten manche Vorreden zu Passionszyklen. Die Passionsgeschichte und jede ihrer Einzelepisoden wird unter zwei Gesichtspunkten betrachtet, dem "historischen" und dem "praktischen" (oder "geistlichen"). Rambach unterscheidet sie als "Erklärung" und "praktische Lehren". Bedeutung wie Umfang der historischen Auslegung stehen dabei erklärtermaßen hinter denen der geistlichen Betrachtung zurück, ohne welche jene "unvollkommen ist/ und wenig nützet,,19. Den Nutzen also und die "Frucht" der Passion fmdet man erst in der applikativen geistlichen Betrachtung. Andererseits ist und bleibt die historische Darbietung und Erklärung der Passionsgeschichte die unabdingbare Voraussetzung für jene Betrachtung. Das Historische ist dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden. Es umfaßt nicht nur den Text selbst und exegetische Forschungsergebnisse, sondern auch erweiternde Textparaphrasen sowie sachliche und emotionale Erwägungen, z. B. solche, die sich aus der ihrerseits zur historischen Auslegung gerechneten Gliederung ergeben. 20 Ferner rehören zur Historie auch die auf die Passion verweisenden alttestamentlichen Typen 2 sowie der Aufweis der in Gott begründeten Notwendigkeit des Leidens Christi. 22 Trotz dieses vielfältigen Inhalts nehmen die historischen Betrachtungen in den Predigten keinen breiten Raum ein. Sie haben nie einen anderen als vorbereitenden und einstimmenden Charakter. Der übergang zur eigentlich wichtigen geistlichen Betrachtung wird nicht von allen Predigern so eindeutig gekennzeichnet wie von Gerhard und Rambach. Gerhard fUhrt die (durchnumerierten) "praktischen" Ausdeutungen oft mit den Worten ein: "Wir sehen (lernen) allhier", Rambach schickt ihnen in der Regel die Formel voraus: "Hieraus haben wir folgende Lehren zu nehmen." Von diesen Lehren schreibt er in der Vorrede, er habe sie "bald zur Warnung und Bestrafung, bald zur Ermunterung,
19 Gerhard, Erklärung, BI. a 2v , vgl. BI. b. 20 So wird z. B. oft die Schwere des inneren Leidens Christi im Vergleich zu a1\en körperlichen Qualen hervorgehoben; oder es wird gesagt, daß geistliche und weltliche Obrigkeit sich verständigen, wenn es gilt, Christus zu verurteilen. - Gerhard erläutert die historische Betrachtungsweise überhaupt vorwiegend an den Möglichkeiten der Gliederung. 21 .Zu derselben historischen Betrachtung des Leidens Christi gehöret auch dieses! daß man die Weissagungen und Vorbilder altes Testaments! welche in gemein auff die Historiam des Leidens oder auff etliche Stück derselben insonderheit weisen! fleissig auffsuche! und dieselbe gegen die Historiam halte." (Gerhard, Erklärung, BI. a 4) Gerhard selust beginnt jeden Abschnitt, Amdt jede Predigt mit der Auslegung eines solchen alttestamentlichen Typus. Sie vertreten bei ihnen die Stelle von Exordien. 22 Rambach hat, wie er sagt;~bey den historischen Umständen (den) Rath der göttlichen Weisheit und das Recht der göttlichen Wiedervergeltung fleissig bemercket" (S. X 4).
57
bald zum Troste 23 angewendet . . . Einige scheinen nur moralische Lehren in sich zu fassen, die aber doch in das Innere des Christenthums hineingeflihret werden. Viele zielen dahin, die Aehnlichkeit zwischen Christo und seinen Gliedern in dem Geheimnis des Creutzes zu entdecken, und die wahre Gestalt der im Argen liegenden Welt abzubilden".24 Wie diese Sätze bereits vermuten lassen, sind Rambachs "Betrachtungen" durch eine stark moralisierende Tendenz geprägt. Allenthalben drängt er auf eine Erneuerung des ganzen Lebens als praktische Konsequenz aus der Passionsbetrachtung und führt damit eine Entwicklung an ihr Ende, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts angebahnt hat. Daß innerhalb der geistlichen die moralische Betrachtung das übergewicht erhält, ist ein und vielleicht das wesentlichste Bindeglied zur Passionsdeutung der Aufklärung, deren Intentionen gerade der Spätpietist Rambach auch durch die rationalisierende und psychologisierende Entfaltung und Begründung seiner Lehren ein gutes Stück entgegenkommt. Wenden wir nun den Blick von diesem Ende der Entwicklung, an dem die geistliche Deutung ganz von einem ihrer Aspekte, dem ethischen, beherrscht wird, zurück auf das Verständnis dieses Auslegungsprinzips im 17. Jahrhundert. Hier finden wir allenthalben in ähnlich lautenden Formulierungen jene dreifache Betrachtung des "Nutzens" der Passion, die wir bei Müller als bildhafte Darstellungsweise der Versöhnungslehre kennengelernt haben: 2S Christi Leiden wird geistlich gedeutet als satisfactio (Versöhnung, Genugtuung), wenn nach der causa, dem Warum dieses Leidens gefragt wird; als meritum (Erlösung), wenn nach dem finis, dem Wozu gefragt wird; und als monitum (Nachfolge, neues Leben), wenn es um die Frage der consecutio, der Folgerung aus Christi Leiden geht. Den zwei oben angeführten Belegen flir diese Dreigliedrigkeit aus den Passionswerken A. Pfeiffers und Gerhards 26 seien hier zunächst einige weitere hinzugelligt. V. Herberger will in seiner "Horoscopia Passionis Domini" "immer auff diese drey Punct zielen! I. Wie uns des Herrn Jesu Leiden diene zur Artzney wider unsere begangene Sünde. 11. Zur Hertzsterckung des Glaubens! daß wir nicht verzweiffeln. III. Zur Gesundheit unseres newen Gottgefelligen Lebens. Denn diese Historia soll uns alle 1. schrecken! 2. trösten! 3. lehren. Wir sollen mit fleiß sehen 1. Was wir verdient! 2. Was Jesus uns verdienet! 3. Was er umb uns verdienet! das ist! wie wir daflir dancken und ihm dienen sollen" (S. 48 f.). 23 Im Zusammenhang der homiletischen Auseinandersetzungen zwischen dem Pietismus und der Orthodoxie bedeutet dies wohl, daß Rambach in der applicatio nicht jeweils sämtliche usus schematisch anwenden will; s. o. S. 48.
24 Betrachtungen, BI. ) ( Sv. 25 S. o. S. 43 CC.
26 S. o. S. 44 C.
58
Dilherr behandelt in einer Karfreitagspredigt von 1646 den Text 1. Petrus 2,24 nach den flinf Fragen, die auch Gerhard seiner Einleitungsbetrachtung zugrunde legt. Nach den Überlegungen dazu, wer da leidet und was er leidet, fragt Dilherr "zum dritten: ... warum Christus gelitten habe", und antwortet: "wegen unserer Sünde/ habe er sich zu einem Opfer dargegeben" (HK, S. 221). "Zum vierdten" fragt er, "was Christus/ mit seinem Leiden/ erworben habe?" (S. 229) und führt antwortend die "Tröstungen" aus dem Gedanken an, "wie alles Leiden Christi uns zu gut" komme (S. 231). Die Antwort auf die flinfte Frage: "Wie wir uns/ wegen dieses Leidens/ gegen Christum verhalten sollen" (S. 238) ist eine ausführliche Beschreibung des neuen Lebens in Christus. Gerhard will nach der Vorrede seiner "Erklärung" die geistliche Betrachtung in "sechs Stücke" fassen. Wir sollen Christi Leiden erkennen 1. "als eine Bezahlung und Genugthuung vor den Ungehorsam und vor die Sünde des ersten Adams" (BI. b); 2. "als eine Bezahlung und Opffer für unsere vieWiltige Sünde/ weil Christus solche unsere Sünde und die verdiente gerechte Straffe derselben auff sich genommen" (BI. b 2); 3. als "allerklärste(n) Spiegel des göttlichen Zorns wider die Sünde" (BI. b 3v); 4. "als einen klaren Spiegel seiner hertzlichen, brünstigen liebe gegen uns" (BI. b 3); 5. als Vorbild für unser Leiden und Enthüllung des wahren Wesens der WeIt (BI. b 4); 6. als Vorbild für unser Handeln (ebd.). Von diesen sechs Stücken dienen die drei ersten der Erkenntnis der satisfaktorischen Bedeutung der Passion, die beiden letzten verweisen auf ihre ethischen Konsequenzen. Im vierten Stück wird abweichend vom Schema Christi Leiden auf sein Motiv hin betrachtet. 27 Den meritorischen Aspekt behandelt Gerhard hier ausführlich unter dem zweiten Punkt mit, bei dessen Entfaltung er unversehens von Kausalsätzen in Finalsätze überwechselt. 28
27 Daß dieses Motiv der Liebe außerhaIb des Schemas sehr häufig genannt wird, bedarf kaum der Erwähnung. 28 Z. B.: "Christus wird für uns ein Fluch arn Holtz des Creutzes/ daß wir des göttlichen Segens theilhaftig werden. Gal. 3. Christus wird verlästert/ daß wir nicht ewiglich des Teuffels Lästern hören dürffen." (BI. b 2) Der Aufweis dessen, was Christus uns durch sein Leiden erworben hat, ist den Passionsbetrachtungen dieser Zeit überhaupt am wichtigsten. Viele von ihnen gehen unter diesem Gesichtspunkt die ganze Leidensgeschichte durch. Ähnliche "Sammlungen" unter dem Aspekt, welche Sünden jedes Leiden Christi büßt, fmden sich seltener. Allerdings muß man dabei berücksichtigen, daß der satisfaktorische Aspekt im meritorischen mitgedacht werden kann und im 17. Jahrhundert in der Tat noch mitgedacht wird, auch wenn er nicht entfaltet wird.
59
Dieselben Auslegungsgrundsätze finden sich als Regeln ftir Passionspredigten unverändert noch in Hallbauers "Nötigem Unterricht zur Klugheit erbaulich zu Predigen" {l723).29 Danach hat man in den Passionspredigten "die Grösse des Leidens Christi, dessen Unschuld, die Ursachen, die ihm solche Marter und Tod zugezogen, die grosse Liebe Christi gegen das verlohrne menschliche Geschlecht, den Nutzen und die Frucht des Leidens Christi; und wie man derselben theilhaftig werde, fleißig anzufiihren, und die Zuhörer so wol von ihrer Erlösung zu überzeugen, als zur Danckbarkeit ftir solche aufzumuntern, und zu weisen, wie sie als Erlöste wandeln müssen" (S. 536). In einer Anmerkung grenzt Hallbauer diese rechte Behandlung der Passion von den zwei Irrwegen ab: einerseits "eine(r) blosse(n) theatralische(n) Exaggerirung des Leidens Christi und der Grausamkeit der Juden und Heiden", andererseits der Anfiihrung aller möglichen "critische(n) und curiöse(n) Gedancken und Muthmassungen der Gelehrten bey den historischen Umständen" (S. 539). Die Predigt soll also weder bloß Mitleid erweckende Darstellung noch wissenschaftliche Abhandlung sein,30 sondern, wie seit Luther üblich, Ursache und Nutzen der Passion dem Hörer vor Augen führen und auf Erneuerung seines Lebens dringen. Gewiß finden sich bei Hallbauer Formulierungen, die seine Nähe sowohl zum Pietismus als auch zur Aufklärung erkennen lassen,31 aber sie erweitern und erläutern lediglich die überlieferten Auslegungsgrundsätze, die das Gerüst von Hallbauers Aufgabenbestimmung der Passionspredigt bilden. Deren unangefochtene Geltung über zwei Jahrhunderte hinweg ist damit noch einmal erwiesen. Die bedeutendste Leistung dieser Passionspredigt, auf welche die folgende Tabelle hinweisen soll, besteht in der festen Verklammerung von Versöhnung, Erlösung und Heiligung (Nachfolge) untereinander und mit der Christologie, von ,objektiver' Vor-
29 Hier zitiert nach der 3. Auflage, Jena 1728. 30 Die Warnung vor der .blosse(n) theatralischen Exaggerirung" ist die Aktualisierung einer seit Luther nie ganz verschwundenen Polemik gegen eine ethisch folgenlose compassio. Wie berechtigt die Erneuerung dieser Warnung im frühen 18. Jahrhundert war, wird im zweiten Teil der Arbeit deutlich werden. - An der Ablehnung der wissenschaftlich nüchternen Predigt erkennt man den über die Orthodoxie hinausgewachsenen Homiletiker. Dieses Motiv findet sich in keiner orthodoxen Reflexion über die Passionsauslegung. 31 In der Reflexion auf den Predigthörer macht sich bereits eine Art Methodismus bemerkbar; die "Erlösung" hat sich zu einem Gnadenstand verselbständigt, von dem man .überzeugt" werden kann und dem ein bestimmter Lebenswandel entspricht. Hallbauers Nähe zum Pietismus belegt Schian, a.a.O., S. SO f.
60
aussetzung des in der Passion gewährten Heils und ,subjektiver' Antwort darauf. 32 Mit dieser ,klassischen' Ausgewogenheit und inneren Einheit der Aspekte erweist sich die dreifache Betrachtungsweise der Passion ohne Zweifel als der fruchtbarste und wichtigste Beitrag des Protestantismus zur christlichen Passionsfrömmigkeit überhaupt.
32 H. Alpers, der in seinem Buch .Die Versöhnung durch Christus" eine sehr verständnisvoUe Darstellung der orthodoxen Versöhnungslehre gibt und sie gegen den oft erhobenen Vorwurf des Legalismus verteidigt, konstatiert doch ein Übergewicht der exklusiven (satisfaktorischen und meritorischen) Stellvertretung gegenüber der inklusiven. Wie die anseImische, so werde auch die orthodoxe Versöhnungslehre .nur der einen Seite des admirabile commercium, der Stellvertretung Christi fUr uns, voll gerecht ... , während die darauf folgende conformitas des Christen mit Christus stark in den Hintergrund rückt" (S. 170; ähnlich S. 160). Den Zusammenhang der erneuernden Kraft des Glaubens mit dem Werk Christi habe sie zwar .nicht ganz übersehen" (S. 167), seine DarsteUung sei ihr aber nicht überzeugend gelungen. An der in den Passionsauslegungen des 17. Jahrhunderts enthaltenen Versöhnungslehre findet dieser Vorwurf nicht den geringsten Anhaltspunkt. Die durchgängige Entfaltung aDer drei hier dargestellten Aspekte an jedem Ereignis der Passion verweist auf den unlösbaren Zusammenhang der Nachfolge und Lebenserneuerung mit Versöhnung und Erlösung sowie auf die gleich unmittelbare Beziehung aDer drei Aspekte zum Werk Christi. Offenbar bieten in diesem Punkt die Predigten eine voUständigere Entfaltung der orthodoxen Lehre als die Dogmatiken. Es wäre allgemein zu prüfen, ob nicht die übliche Beurteilung dieser Lehre allein nach ihrer Ausprägung in den Dogmatiken überhaupt zu Mißverständnissen fUhren muß. Die Erbauungsliteratur sollte stärker als bisher auf ihre eigenständige Funktion für das Ganze des theologischen Systems hin untersucht werden. Wenn Alpers z. B. in den Dogmatiken den festen Zusammenhang der Heiligung mit der Erlösung vermißt, so vielleicht deswegen, weil dort nicht der Ort war, ihn ausfUhrlich darzustellen. Dagegen findet man in einem Erbauungsbuch wie J. Gerhards .Schola pietatis" im 1. Buch .Von Ubung der wahren Gottseligkeit" AusfUhrungen, die bewußt nur jenen Zusammenhang beschreiben, demzufolge .die Betrachtung alles dessen! so Christus ümb unserer Erlösung willen gethan und gelitten! uns zur Gottseligkeit bewegen könne und solle." (Schola pietatis, Nürnberg 51653, I, 5, S. 46) Dabei stellt Gerhard ausdrücklich fest, .daß die vornehmbste Hauptursach finis principalis aller Wercke und alles Leidens sey unsere Erlösung/ und was wir biß anhero erzehlt/ dasselbe sind nur fmes minus principales, solche Ursachenl üm b welcher willen nicht flirnemlich dieses alles geschehen! sondern welche aufr die angedeutete Hauptursach erstlich folgen." (47) Dieser klare Beleg fUr die Möglichkeit, einzelne Aspekte der Versöhnungslehre auch einmal gesondert zu behandeln, soUte uns zu der Frage veranlassen, ob die Erwartung der umfassenden und gleichgewichtigen Darstellung aUer Aspekte in den Dogmatiken berechtigt ist, das Fehlen eines derselben mithin eine Aussage über ein Defizit der gesamten Versöhnungslehre erlaubt.
61
,Objektive' Voraussetzung
Christus trägt sein Leiden
als Strafe
für unsere Sünden
62
Dreifacher Nutzen der Passion
Dogmatische Begriffe
Art der Passionsbetrachtung
,subjektive' Antwort
weil wir
satisfactio (Versöhnung)
Sündenund Zornspiegel
Reue, Buße (Leid)
damit wir von der Strafe befreit würden (finis) (pro nobis)
meritum (Erlösung)
Gnadenspiegel
Trost (Freude)
so daß wir a)ihm danken
monitum (Emeuerung; Ethik)
Tugendund Weltspiegel
Nachfolge (Dankbarkeit)
Strafe verdient hatten (causa) (propter nos)
b) mit ihm leiden c) wie er leben
3. Die gedankliche und sprachliche Gestaltung der Passionspredigten Bei der Untersuchung der Gliederungsmöglichkeiten und der Auslegungsgrundsätze war es unvermeidlich, die Passionspredigten des 17. Jahrhunderts einer stark formalisierten Betrachtungsweise zu unterwerfen. Dabei wurde zwar deutlich, daß sie theologisch bis ins Detail durchreflektiert und bis in die Gliederung hinein von theologischen Prämissen bestimmt sind, nicht aber, daß sie auch ein wichtiger Teil des großen Bereichs der in diesem Jahrhundert aufblühenden Erbauungsliteratur sind und an ihrer Entwicklung partizipieren. Zwar gibt es auch die "trockene", rein lehrhafte und alle erforderlichen Punkte schematisch traktierende Passionspredigt,33 aber zumindest unter den veröffentlichten Predigten ist sie· eher eine Ausnahmeerscheinung. Daß die Passionspredigten Erbauungsschriften von hoher Qualität sind, sollen die folgenden Untersuchungen ihrer gedanklichen und sprachlichen Gestaltung erweisen. Da für diesen Zweck die Anfdhrung längerer Textpassagen unerläßlich ist und außerdem um bestimmter Eigentümlichkeiten dieser Predigt willen der Vergleich von Auslegungen einer Stelle in verschiedenen Werken nötig erschien, werden im Anhang I die Betrachtungen über die Bande Jesu aus den o. g. Passionszyklen von Moller, Herberger, Gerhard, Arndt, Dilherr und Rambach zusammengestellt. Sie bilden die Textgrundlage fiir die folgende Besprechung.34 "Zum sechsten lasset uns sehen, wie Christus gefangen und gebunden wird. Ist vorgebildet in den Philistern, da sie die Lade des Bundes gefangen nahmen, und wegflihreten, aber sie rechete sich gewaltig an den Feinden. Gleich wie die Philister jauchtzeten, da sie Simson gefangen nahmen, aber ihre Freude gerieth ihnen zur grossen Wehekiage, da sich Simson rechete. Diese Bande sind unsere Freyheit, diß Gefängniß ist unsere ewige Erlösung, diese Schmach ist unsere Ehre. Wir sollen uns seiner Schmach und Bande nicht schämen, weil er sich unserer Schmach und Bande nicht geschämet. "35 Beinahe skizzenhaft karg, lediglich andeutend behandeln diese wenigen Zeilen das Thema der Gefangennahme und Bindung Jesu. Und doch sind in ihnen fast alle gedanklichen und sprachlichen Elemente enthalten, aus denen auch sehr ausflihrliche Betrachtungen wie diejenigen Dilherrs oder Herbergers gebildet sind. Es erscheint daher sinnvoll, von diesem kurzen Text ausgehend jene Elemente und ihre Zusammensetzung, ihre Gewichtung und ihre Abwandlung in den einzelnen Betrachtungen zu beschreiben.
33 Ein Beispiel flir diese Predigtweise bietet der Zyklus "Der gecreutzigte Christ" von W. Alardus, Leipzig 1634. 34 Vgl. auch die Analyse der entsprechenden Passage bei Müller, o. S. 43 f. 35 Arndt, Postilla, S. 620.
63
a) Alttestamentliche Typen Mit Ausnahme von Moller und Rambach beziehen alle Ausleger wenigstens das Vorbild des gebundenen Simson, einige auch das des Isaak, der von seinem Vater, und des Joseph, der von seinen Brüdern gebunden wird, in die Deutung der Gefangennahme Jesu ein. Jesus wird als der "himmlische Simson" (Isaak, Joseph) verstanden, auf dessen Bindung durch das eigene Volk zur Auslieferung an die Feinde bzw. zur Opferung jene im Alten Testament beschriebenen Bindungen vorausdeuteten. Die Typologie als eine Methode der "historischen" Auslegun~ des Alten Testaments von Christus her braucht hier nicht näher erläutert zu werden. 6 Für unseren Zusammenhang ist jedoch die Feststellung wichtig, daß die Typologie nach ihrer kritischen Aufnahme durch die Reformation im 17. Jahrhundert und insbesondere in der Passionsdeutung dieser Zeit wieder selbstverständliche Geltung besitzt und eine bedeutende Rolle spielt. Den heutigen Leser überrascht die weitgehende übereinstimmung hinsichtlich der Auswahl und der Anwendung der Typen in den Passionswerken des 17. Jahrhunderts. Hier gibt es keinen Raum für das Aufspüren neuer typologischer Beziehungen oder für individuelle Auslegung der herkömmlichen Typen. 37 Die einheit-
36 S. dazu L. Goppelt, Typos;E. Auerbach, Figura. 37 Zwar findet sich hier und da eine ungewöhnliche typologische Beziehung wie die zwischen der Bundeslade und Jesus in der eingangs zitierten Passage von Arndt, jedoch kann man sicher sein, daß auch solche Typen in irgendeiner anderen Passionsbetrachtung genannt werden. In umfangreichen exegetischen Werken und in zahlreichen für den Prediger bestimmten Materialsammlungen konnte man sowohl Kataloge der ,richtigen' Typen und Antitypen als auch ausführliche Regeln für ihre Anwendung finden. Ein solches Werk ist z. B. die nHeylsame Betrachtung deß unschuldigen Leidens und Sterbens Unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi" von Joh. Olearius, Leipzig 1666. Einen kleinen Katalog der gewöhnlichsten Typen stellt auch Gerhard in der Betrachtung zur Salbung Jesu in Bethanien zusammen: .Solch Heiliges Leiden ist durch viel Figuren im Alten Testament abgebildet. Ein fein Vorbild! wie Christus solte verkaufft werden! hastu·an Joseph! welcher auch von seinen eignen Brüdern! wie Christus der Herr von seinem eignen Jünger verkaufft ward! Genes. am 31. Ein fein Vorbild! wie Christus· solte entblöst und verspottet werden! hastu an Noah! welcher von seinem eignen Sohn verspottet ward! wie Christus von seinen eignen Volk! Genes. am 9. Ein Vorbild! wie Christus solte verspeyet werden! hastu an Job! welcher auch klagt! Capitel 16. Meine Freunde sind meine Spötter. Ein Vorbild! wie Christus solte zerschlagen und gemartert werden! hastu an allen Levitischen Opffern. Ein Vorbild! wie Christus solte gebunden werden! hastu an Samson! welcher von den Philistem gebunden ward! Richt. 16. Ein Vorbild! wie Christus sein Creutz tragen solte! hastu an Isaak! welcher auff seinem eignen Rücken das Holtz trug! darauff er solte zum Brandopffer geschlachtet werden! Genes. am 22. Ein Vorbild! wie Christus solte ans Creu tz geschlagen werden! hastu an der ehrnen Schlangen! welche Moses in der Wüsten aus dem Befehl des Herrn auffrichtet/ Num. 21. Ein Vorbild! wie dem Herren Christo seine Seiten mit einem Speer solte geöffnet werden! hastu an Adam! welchem seine Seite von Gott eröffnet wurde! aus der Riebe! welche von ihm genommen ward! wurde ein Weib erbauet! Also als Christus am Creutz in den Todt entschlaffen! seyn aus seiner eröffneten Seiten geflossen Blut und Wasser! die bey den Heiligen Sacrament! daraus die Kirche! Christi Braut erbauet worden. Ein Vorbild! wie Christus solte getödtet werden! hastu an Abel/ welcher von seinem eignen Bruder Cain! wie Christus von
64
liche Prägung der auf die Passion bezogenen Typen hängt zusammen mit einem Phänomen, das uns in diesem Abschnitt noch mehrfach beschäftigen wird: mit dem Rückgriff der Passionsauslegung des 17. Jahrhunderts auf die der alten Kirche. Die meisten typologischen Deutungen, die in den Predigten und Betrachtungen vorkommen, ftnden sich bereits bei den Kirchenvätern. 38 Allerdings dient die Typologie im 17. Jahrhundert nicht mehr, wie in der frühen Kirche, in erster linie dem Erweis der Einheit der Offenbarung im Alten und Neuen Testament. Ihre Aufgabe ist jetzt vielmehr die Beglaubigung des Antitypos durch den Aufweis der Konvergenz des "geistlichen" Sinnes von Typos und Antitypos. Es stärkt den Glauben an die Wahrheit des Gegenbildes Christus, daß sie aufgrund göttlicher Fügung bereits vielfältig in Typen des Alten Testaments vorgebildet ist. Gerade die Fülle und die Genauigkeit der typologischen Entsprechungen beeindruckt dabei das quantitierende Denken des 17. Jahrhunderts, so daß die Gelegenheit zum Hinweis auf ein "Vorbild" kaum je versäumt wird. Darüber hinaus dienen die Typen jedoch auch der erbaulichen Intention der Passionsbetrachtung. Ob sie unmittelbar in die Interpretation des, betreffenden Leidens Christi einbezogen werden, als anschauliches Bild oder verkürzt zur Metapher, oder ob sie, wie bei Gerhard, der Deutung des jeweiligen Leidens den weiten geschichtstheologischen Raum öffnen, auf jeden Fall vermögen sie das Gemüt des Hörers oder Lesers tief zu bewegen. Freilich muß zuvor schon der Vorgang oder die Person des Alten Testaments typologisch, d. h. von der Erfüllung in Christus her, verstanden worden sein; insofern bleibt die erbauliche Wirkung an die theologische Voraussetzung gebunden. Der Typos empfangt erst vom Antitypos her seine Würde und seine Aussagekraft, gibt sie diesem dann aber verstärkt zurück. Denn welch tiefe Bedeutung erhalten z. B. die Bande Jesu, wenn sie in den Fesseln des starken Simson vorgebildet erscheinen! Wenn diese zerspringen wie Fäden, als die Feinde über den verhaßten Gefangenen triumphieren, wie sollten dann nicht die Stricke zerreißen, mit denen der himmlische Simson gebunden wird? Kann man nicht aus jenem Vorgang klar erkennen, wie auch dieser enden muß? Im Zerspringen der Fesseln Simsons ist der Sieg vorgebildet, den Christus erringt, als ihn die "Stricke des Todes" nicht halten können. Wie viel hat der fromme Christ zu "bedencken", wenn er hinter dem gebundenen Jesus die ganze Reihe der Vorbilder auftauchen sieht: den "gedultige(n) Isaac", den "gehorsame(n) Joseph", den "starcke(n) Simson" und das "rechte Schlachtlämlein" des jüdischen Versöhnungskults (Dilherr); sie alle haben solche Bande getragen, deren Betrachtung dem Glaubenden tröstlich ist.
seinem eignen Volk getödtet wurde! Genes. am 4. Ein Vorbild! wie Christus solt begraben werden! hastu an 10na! welcher auch drey Tage war im Bauch des Walfisches! gleich wie Christus drey Tage in der Erden geruhet! Matthaei am 12." (Erklärung, S. 13 f.). 38 Vgl. dazu E. Fascher, Art. .Typologie, auslegungsgeschichtlich", RGG V1 3, Sp. 1095-1098.
65
b) Der dreifache Nutzen der Passion "Diese Bande sind unsere Freiheyt, diß Gefängniß ist unsere ewige Erlösung, diese Schmach ist unsere Ehre." Mit diesen drei Antithesen bringt Arndt den ,Ertrag' der Gefangennahme und Bindung Jesu fast formelhaft knapp zum Ausdruck. Sie zeigen, daß in verkürzter Rede die Deutung der Passion unter dem meritorischen Aspekt auch allein stehen kann, weil sie den satisfaktorischen - daß wir Bande, Gefängnis und Schmach verdient hatten - einschließt. Von der Bedeutung des Vorgangs unter dem Aspekt der Nachfolge (monitum) spricht der letzte Satz des kleinen Abschnitts: Jesus hat sich unserer Bande nicht geschämt; darum sollen wir uns auch der seinen nicht schämen. Daß die drei Gesichtspunkte, unter denen jedes einzelne Leiden Christi betrachtet wird, in bildhafter Weise jeweils die ganze Versöhnungslehre (einschließlich der Ethik) der Orthodoxie darlegen, wurde im vorigen Kapitel gerade an Müllers Auslegung der Bande Jesu aufgewiesen. Im Abschnitt über die Auslegungsprinzipien der Passionspredigten konnte noch einmal die überragende Bedeutung der drei Aspekte gezeigt werden. Wir beschränken uns darum an dieser Stelle darauf, anhand einer Strukturanalyse der Auslegungen Herbergers, Gerhards und Dilherrs 39 zu verdeutlichen, daß die differenzierte Gestaltung und Gewichtung dieser Aspekte trotz der inhaltlichen Ähnlichkeit keine Monotonie aufkommen läßt. Die einzelnen Punkte der Synopse, die aus Raumgründen leider nicht nebeneinander stehen können, bezeichnen die drei Aspekte ( I-III) und ihre einzelnen Argumente (1-7).
Herberger (Horoscopia, S. 144-152) I 1. Adam und Eva haben den ersten Faden zu diesen Banden gesponnen und dadurch ewige Bande verdient. 2. Wir spinnen täglich an den Banden Jesu, indem wir sündigen, und sollten darum ewig gebunden werden. 11 Bitte um Befreiung von unseren Sündenbanden durch Jesu Bande. III 1. Dank für die Befreiung, für ungebundene Füße Hände Augen Zunge Leib (im Tode). 2. Warnung an die Feinde Christi vor ewiger Bindung in der Hölle. 3. Am Jüngsten Tag wird auch der Teufel gebunden. 4. Bitte um Kraft zur gehorsamen Bindung des ganzen Lebens. 39 S. Anhang I.
66
5. Warnung vor einem ungebundenen Leben. 6. Bitte um Geduld in Unglücksbanden Schtnerzensbanden Kreuzbanden. 7. Bitte um Bewahrung vor Stricken der Unbannherzigkeit, um endliche Lösung aller Schtnerzbande und ewige Freiheit. Gerhard (Erklärung, S. 84-88) I 1. Gott selbst legt Jesus die Bande an. 2. Durch Adam und Eva sind die Sündenbande auf uns gekommen. 3. Auf Sündenbande folgen Stricke des Todes, der Hölle und des Teufels. 4. Leibliche Bindung durch Krankheit ist ein Sinnbild dieser geistlichen Bande. n 1. Christus hat sich binden lassen, damit wir von den Sündenbanden befreit werden. 2. Christus hat der Kirche den Löseschlüssel für die Sündenbande erworben. III 1. Wir sollen dankbar sein für die Lösung der Sündenbande. 2. Wir sollen uns hinfort hüten vor den Stricken der Sünde. n 3. Christus wurde gebunden, damit wir, von ~ünden gelöst, uns im Glauben an Christus binden. III 3. Christi Bande geben Trost, wenn wir um des Glaubens willen Bande und Kreuz zu tragen haben. 4. Christus hat diese Bande geheiligt. Dilhe" (BPB,S.277-281) I Wir waren gebunden mit Stricken der Sünde, des Todes und des Teufels und sollten in der Hölle ewig gebunden sein. n Der unschuldige Christus läßt sich binden, damit wir von der Sünde befreit, von Hölle und Tod errettet würden. III 1. Darum können wir mit Freude sagen: Du hast meine Bande zerrissen, dir will ich Dank opfern. 2. Christi Bande geben denen Trost, die um des Glaubens willen gebunden werden. 3. Ihre Bande sind geheiligt und machen sie Christus gleichförmiger.
Die Strukturanalyse weist deutlich einen allen drei Betrachtungen gemeinsamen Kernbestand an Argumenten auf: Herberger I 1, 2 = Gerhard I 2, 3 Gerhard 11 1 Herberger n Herberger III 1 = Gerhard III 1 Darüber hinaus entspricht = Gerhard III 2 Herberger III 2 Gerhard III 3 (Herberger III 6 =) Gerhard III 4
= Dilherr I Dilherr n Dilherr III 1.
Dilherr III 2 Dilherr III 3.
67
Es handelt sich bei diesem gemeinsamen Bestand um die auch in den meisten anderen Predigten vorkommenden wichtigsten Motive der drei Betrachtungsweisen. Die verbleibenden Argumente lassen mit wünschenswerter Klarheit den Schwerpunkt, die vorherrschende Intention der jeweiligen Auslegung erkennen. Herbergers Betrachtung ist eindeutig von dem seelsorgerlichen Interesse geleitet, dem Leser die heilsamen Folgen der Bindung Jesu für sein ganzes Leben vor Augen zu flOren und ihn vor erneuter Verstrickung in die Sünde zu warnen. Noch stärker als bei Miiller tritt bei ihm die Neigung zu einer milden, verinnerlichten Auffassung des zu gehorsamer Bindung befreiten Lebens hervor, das sich im getrosten, seligen Sterben vollendet. Die zahlreichen Hinweise auf den Tod und den Jüngsten Tag (als Tag der endgültigen Erlösung, nicht des Gerichts!) sind hier wie allenthalben in der "Horoscopia" charakteristisch fUr Herbergers Passionsauslegung. Man könnte aus diesen Hinweisen geradezu eine protestantische "ars moriendi" zusammenstellen. Christi Passion ist fUr den Glaubenden wesentlich und ganz unmittelbar auch Sterbehilfe. Ganz anders ist die Grundhaltung in Gerhards "Erklärung". Während Herberger unter III eine Fiille origineller bildhafter Deutungen anführt, bleiben die Argumente bei Gerhard an der entsprechenden Stelle ganz konventionell.40 Auch die finale Beziehung zwischen Jesu Banden und unserer Freiheit (11) beschreibt er lediglich mit den allgemein üblichen sprachlichen Bildern. Allerdings ist ihm dieser Aspekt doch so wichtig, daß er ihn innerhalb der ethischen Argumentenkette (111) noch einmal aufgreift. Ungewöhnlich ist auch der Hinweis auf die Lösegewalt der Kirche. Das ekklesiologische Interesse, das hier zum Ausdruck kommt, verweist zusammen mit den vier Argumenten des satisfaktorischen Aspekts (I) auf die im Vergleich zu anderen Auslegungen wesentlich ausgeprägte re dogmatische Grundhaltung der Gerhardschen "Erklärung". Mehr als jedes andere Werk der untersuchten Passionsliteratur insistiert dieses z. B. auf dem auch hier unter I I ausgeführten Gedanken, daß Gott selbst der in der Passion Jesu Handelnde ist, daß "wir alles/ was Christus in seinem Leiden erduldet/ ansehen (müssen)/ als schlüge und martere ihn Gott der Herr selber also" (S. 9). Es ist eine unvollständige Redeweise, wenn gesagt wird, daß Christus uns versöhnt, indem er unsere Sünden trägt. Der ganze Ernst und die Schwere des Versöhnungsleidens kommen erst darin zum Ausdruck, daß Gottes Zorn. über die Sünde die Hingabe des Sohnes verlangt und daß darin Gott selbst die Versöhnung schafft. Der Betrachtung von unten, von den Menschen aus - wir haben Christus durch unsere Sünden gebunden - muß die von oben, von Gott her vorangehen: Er selbst hat ihn für uns gebunden. Dogmatisch bestimmt ist auch die unter I 3 ausgeflihrte Unterscheidung der Sünde und ihrer Folgen Tod, Hölle und Teufel. Erst die Sünde gibt diesen Verderbensmächten Gewalt über die Menschen; sie ist darum nicht in einem Atemzug mit jenen zu nennen. Bezeichnend ist ferner, unter welch verschiedenen Gesichtspunkten Herberger und
40 Daß die Epitheta .originell" und .konventionell" hier nicht wertend gemeint sind, bedarf kaum der Erwähnung.
68
Gerhard die Gebundenheit des Menschen durch leibliche Krankheit sehen. Für Herberger ist sie Anlaß zur Bewährung in der Nachfolge (Ill 6), gibt sie Gelegenheit, Christus ähnlicher zu werden: "Ich müste mich ja schemen/ wenn ichs solte begeren besser zu haben/ als es dir ergangen" (Horoscopia, S. 150). Gewiß könnte Gerhard von den im Glauben ertragenen Schmerzen der Menschen auch ähnlich sprechen. Aber es ist doch kein Zufall, sondern entspricht seiner stärker dogmatischen Ausrichtung, daß er die Leiden in der Nachfolge Christi solche Bande nennt, "so uns umb des Christlichen Namens und der Wahrheit willen möchten angeleget werden" (Erklärung, S. 87). Die leiblichen Gebundenheiten, also Krankheiten, sind ihm zumindest an dieser Stelle Zeichen und Warnungen Gottes, "daß man darauß sehe/ wie der Teuffel wegen der Siinde wol über uns alle solche Macht hette/ daß er nicht allein unsers Leibes Glieder also bind/ sondern auch daß wir an Hände und Füsse gebunden in die ewige Finsterniß möchten hinauß geworffen werden" (Erklärung, S. 85). Größere Sachlichkeit in der bildllchen Darstellung des dreifachen Nutzens der Passion, theologische Strenge und ein allenthalben bestimmendes dogmatisches Interesse sind also die Kennzeichen der Gerhardschen Passionsauslegung. Einen wiederum ganz anderen Charakter trägt der Predigtabschnitt bei Dilherr, und auch er ist typisch für die "Buß- und Passionsbetrachtungen" insgesamt. "Daß diese Bande uns zu gut kommen" (S. 277), bedenkt Dilherr erst im zweiten, kürzeren Teil des Abschnitts nach mancherlei anderen Erörterungen. Der Vergleich der Strukturanalysen zeigt zudem, daß Dilherr bei der Entfaltung der drei Aspekte weder einen Schwerpunkt setzt - die wenigen von ihm verwendeten Argumente fmden sich ausnahmslos schon bei Gerhard - noch um theologische Differenzierungen bemüht ist.41 Überhaupt führt er die drei Aspekte kaum mit eigenen Worten aus, sondern fügt (abgesehen von III 2) lediglich die in diesem Zusammenhang üblichen Schriftzitate mit wenigen verbindenden Worten aneinander. Will man die Intention des Predigtabschnitts erkennen, so muß man den voranstehenden ausführlicheren Teil in die Untersuchung einbeziehen (S. 270-276).42 Dieser Teil enthält zunächst eine von starken Affekten getragene detaillierte Betrachtung des unerhörten Vorgangs der Bindung des Gottmenschen Jesus Christus. Zur geistlichen Deutung der Passion gehört stets auch ihre Auslegung unter der Fragestellung: "Wer da leide?" Die dogmatische Antwort darauflautet: Christus, der zugleich Gott und
41 Das zeigt sich insbesondere an seinem Sündenverständnis. Weder unterscheidet er unter I die erste Sünde Adams von der Sünde der späteren Menschen noch unter III die Stricke der Sünde von denen des Todes und des Teufels.
42 Bei Herberger geht der "geistlichen Erklärung" lediglich eine kurze Betrachtung über den Undank der Juden voran: Sie haben ihren Erlöser aus Ägypten und Befreier von Sünden, Tod und Krankheiten gebunden. Darin tritt die "verfluchte art" der Welt zutage, die "allen frommen Menschen" mit Undank lohnt. - Gerhard stellt nach seiner Gewohnheit eine kurze Textparaphrase mit historischen Erläuterungen voran.
69
Mensch ist: "Bleibet demnach! daß nicht allein ein blosser Mensch leide! sondern wahrer Gott! welches dann diß Leiden zum sonderlichen und wunderbaren Leiden machet.,,43 Es ist verständlich, daß gerade dieser Gedanke sich leicht zu betont emotionalen Betrachtungen verselbständigen kann, indem die grundlegende Antithese: "Gott leidet und stirbt durch die Menschen" entfaltet wird. Bei Dilherr geschieht das in vier Ansätzen: 1. "Jesus Christus! der Sohn Gottes! der hochgelobte Heiland der Welt! der alle Menschen wolte zur Freyheit bringen! wird gebunden ..." (S. 272). 2. "Sie binden die woltätigen Hände", die nur Gutes getan haben (S. 273). 3. "Sie beschweren mit Ketten die allmächtigen Schultern/ die den Himmel tragen ... " (S. 273 f.). 4. "sie legen Bande an den heiligen Leib/ den die Seraphim anbeten ..." (S. 274). Hier wird deutlich, daß die emotionale Wirkung der von der Frage "Wer da leide" bestimmten Betrachtung auf einer unmerklichen Verschiebung ihrer Intention beruht: Nicht so sehr die Größe und damit die Wirkungskraft dieses Leidens erregt Verwunderung, sondern vielmehr die Ungeheuerlichkeit der menschlichen Schuld: Das Geschöpf tötet den Schöpfer! Mit dem Ausruf ,,0 der greulichen Künheit! 0 der unerhörten Bosheit!" beschließt Dilherr zwei jener Erwägungen, und er fragt in höchstem Affekt, warum "Schwefelregen", "Rachflammen" und "Donnerkeile" die übeltäter nicht vernichtet haben. Das Ziel dieser Art zu predigen hat Dilherr selbst im Titel seines Zyklus angegeben: Die Passionsbetrachtungen sind Aufrufe zur Buße.44 Je stärker das emotionale Interesse in der Passionsbetrachtung die Oberhand gewinnt, desto ausgiebiger wird von der antithetischen Denkfigur "Das Geschöpf tötet den Schöpfer" Gebrauch gemacht, besonders in der Passionsdichtung. Bei Dilherr nimmt, wie wir sehen, diese affektiv geprägte Betrachtungsweise bereits einen breiten Raum ein, wenngleich sie sich bei ihm noch nicht verselbständigt, sondern durch die typologische Deutung45 und die Deutung der Passion "uns zu gut" ergänzt wird.
43 Gerhard, Erklärung, S. 3. 44 Wir werden sehen, wie gerade solche Elemente der Passionsbetrachtung, die auf die Erschütterung des Hörers abzielen, zu dem hier untersuchten Wandel des Passionsverständnisses beitragen.
45 S. 275 f. Auf die erbauliche Verwendung der Typologie bei Dilherr wurde freilich oben (S. 65) bereits hingewiesen.
70
Exkurs: J. Gerhards und J. M. Dilherrs Passionsdeutung Daß die Einheitlichkeit der protestantischen Passionsauslegung im 17. Jahrhundert nicht allein auf die Gemeinsamkeit der Grundsätze und der Mittel (bis hin zur Verwendung von Schriftbelegen und Beispielen) zuriickzuftihren ist, sondern mitunter auch auf direkte literarische Beeinflussung, ist angesichts der bekannten Verfahrensweisen innerhalb der Erbauungsliteratur46 grundsätzlich anzunehmen, oft fast mit Händen zu greifen, aber schwer zu belegen. Ausgerechnet zwischen den beiden Passionswerken, deren Intentionen innerhalb des selbstverständlich gegebenen Rahmens so weit wie nur irgend denkbar auseinandergehen, läßt sich nun jedoch eine unmittelbare literarische Beziehung nachweisen: Dilherr hat fiir Teile seiner "Buß- und Passions-Betrachtungen" J. Gerhards "Erklärung" benutzt. Eine Konkordanz der Bibelzitate der im Anhang wiedergegebenen Auslegungen der Bande Jesu ergibt flir Gerhard (S. 84 Cf.)
Dilherr (S. 277 Cf.)
Sach 13 Apg 4 Gen 22,9
Ri 15,12
Gen 22,9 Gen 37 Ri 15,12
Joh 8 Röm 7
Ps 9,17 Spr 5,22
Ps 9,17
2 Tim 2,26 Ps 116,3 Sach 9 2 Petr 2 Mk7 Mt 22,13 Sach 9 Hos 13,12.14 I Sam 25 Jes61,1 Lk 24 Ps 116,16 Jes 5
Ps 116,3
Spr 5,22
2 Tim 2,26
Mt 22,13 Hebr 7 Hos 13,12.14
Ps 116,16 Röm8
Kol4 Gen 40
Hes 3 Zum festen Bestand an Schriftbelegen flir diesen Teil der Passionsgeschichte gehören lediglich Psalm 116, 3. 16; Matthäus 22, 13 und Jesaja 61, 1. Die weitgehende Übereinstimmung in sonst unüblichen Bibelworten nach Auswahl und Anordnung zwischen Gerhard und Dilherr kann ebensowenig ein Zufall sein wie die eigenartige Zusammenziehung von Hosea 13, 12. 14 bei beiden. 46 Man denke nur an J. Arndts "Wahres Christentum". Ähnliche Beispiele von Entlehnungen hat P. Altbaus in seinen "Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur" zu Dutzenden nachgewiesen. Das Verfahren ist auf diesem Gebiet die Regel, nicht die Ausnahme.
71
Bei genauem Vergleich der Textauszüge ergibt sich folgender Befund: Dilherr hat die Schriftzitate, die er bei Gerhard vorfand, unter Auslassung aller theologischen Zwischenbemerkungen (einschließlich der darin verwandten Schriftworte) mit wenigen eigenen Worten neu zusammengesetzt. Er hat sie dabei z. T. geringfügig abgewandelt41 und einmal zwei Zitate umgestellt, um die als Steigerung gemeinte Reihenfolge "Stricke der Sünde, des Todes und des Teufels" zu gewinnen. Gerhards theologische Unterscheidung zwischen der Sünde als Ursache und Tod und Hölle als Folgen fällt dabei fort. Den in der Tat wenig stringenten Zusammenhang der Bande Jesu mit dem Motiv der Gefangenschaft in der Grube (Sacharja 9) und die Deutung der leiblichen Krankheiten als Zeichen der verdienten ewigen Verdammnis hat Dilherr ebenso übergangen wie die bei Gerhard voranstehende Auslegung der Bande Jesu als Gottes Gericht über ihn und den weiteren Hinweis auf die göttliche Notwendigkeit dieses Leidens aus Lukas 24,26. Daß Dilherr diese theologisch bedeutsamen Passagen bewußt ausgelassen hat, bestätigt ein weiterer Textvergleich. Über den Backenstreich, den Jesus vor dem Hohen Rat erhält, lesen wir bei Gerhard (S. 91 f.) Es hette uns wegen unserer Missethat ewige Schmach und Schande sollen überfallen! aber Christus lesset sich allhie für öffentlichem Gericht durch einen Backenstreich zu schanden machen! auff daß wir möchten von der ewigen Schmach errettet werden ... Deuter. am 25. ordnet Gott der Herr! wenn einer für Gericht erkant werde! daß er unrecht habe und Gottloß sey! sol ihn der Richter heissen niderfallen und ihn schlagen lassen öffentlich für Gerichte! und ihn also zu schanden machen. Christus stehet allhie für Gericht als der gröste Übelthäter! nicht als wenn er vor seine Person im geringsten etwas mißgehandelt! sondern weil der gantzen Welt Sünde auff ihn geleget! darumb wird ihm von einem Pfaffen knecht für öffentlichem Gericht ein Backenstreich geben! und solches lassen ihnen die Gerichtsherren gefallen. Solches aber sollen wir ansehen/ als thue es Gottes Hand!
Dilherr (S. 293 ff.) (Christus) lässet gedultig über sich ergehen! was ewig uns außzustehen gebüret hätte.
Im 5. B. Mos. im 25. Cap. ordnet Gott! daß! wenn einer für Gericht erkant würde!daß er unrecht habe! und Gottloß sey! ihn der Richter solle heissen niderfallen! und ihn schlagen lassen öffentlich für Gericht! und ihn also zu Schanden machen. Unser hertzliebster Herr J esus stehet allhier für Gericht! als'der allergröste Übelthäter!nicht! als ob Er für seine Person im geringsten was verbrochen hätte; Sondern weil unsere und der gantzen Welt Sünde auf Ihn gelegt: Darum wird Ihm auch für öffentlichem Gericht ein Backenstreich gegeben:welches die Gerichtsherren ihnen nicht mißfallen lassen.
47 Z. B.: "Wut als Gottlose! waren verstrickt ..• " statt "Der Gottlose ist verstrickt •.. ": ein weiterer Beleg für die applikative Tendenz der BPB.
72
Actorum am 4. Capitel. Derselbe schlägt ihn so schmählich/ weil er unsere Schmach/ damit wir Gott geschmähet hatten/ auff sich genommen/ davon spricht der liebe Herr selber im 69. Psalm: Ich muß bezahlen/ was ich nicht geraubet habe/ umb deinet willen trage ich Schmach/ mein Angesicht ist voller Schande/ laß nicht zu schanden werden an mir/ die dein harren/ Herr Zebaoth/ laß nicht schamroth werden an mir/ die dich suchen Gott Israel. Siehe/ daher kömpts/ daß diejenigen/ die Gottes des Herrn harren/ und auff Christum ihr Vertrauen setzen/ nicht zu schanden werden/ weil Christus ihrethalben also für Gericht durch einen Backenstreich ist zu schanden gemacht worden. Daher kömpts auch/ daß die Gläubigen mit wahrer Zuversicht können bitten im 25. Psalm: Laß mich nicht zu schanden werden/ denn ich traue auff dich. Wir müssen uns schämen! Daniel. am 9. dürffen auch unsere Augen nicht auffheben gen Himmel/ Luc. am 18. Aber Christus lesset sich allhie zu schanden machen/ daß wir mit Freudigkeit und Zuversicht können zu Gott tretten/ zum Hebreern am 5. (lies: 4!) unsere Häupter am jüngsten Tag auffheben! Luc. 21. und würdig werden zu stehen für des Menschen Sohn ....
Und ruft der Herr uns beweglich zu: Ich muß bezahlen/ das ich nicht geraubet habe: mein Angesicht ist voller Schmach; um deinet willen trag ich (solche) Schande: im 69. Psalm.
Wir musten uns schämen/ Dan. im 9.Cap.und durften unsere Augen nicht aufheben gen Himmel/ Luc. im 18. Cap. Darum lässet sich allhier Christus zu Schanden machen: daß wir nun mit aller Freudigkeit und Zuversicht können zu Gott tretten/ in der Epist. an die Ebr. im 4. Cap. unser Häubter am Jüngsten Tage wolgemut gen Himmel aufheben/ und wirdigllch stehen für deß Menschen Sohn! Luc. im 21. Cap.
Indem Dilherr das Zitat aus dem 69. Psalm kürzt und dessen meritorische Auslegung bei Gerhard übergeht, gewinnt das eschatologische meritum als Höhepunkt der ganzen Passage ein besonderes Gewicht. Offensichtlich theologisch motiviert ist hingegen die zweite Kürzung, der Venicht auf den Gedanken einer göttlichen Verursachung der Passion. Es ist derselbe Gedanke, den er auch in der zuvor verglichenen Passage ausgelassen hat. Ob diese aufflillige Art der Quellenbenutzung, gerade die für die Vorlage charakteristischsten Aussagen zu übergehen, auf eine kritische Intention Dilherrs
73
schließen läßt, muß hier unentschieden bleiben. Die Tatsache jedoch, daß er den Satisfaktionsgedanken in seiner strengsten Form, wie er bei Gerhard auftritt, stillschweigend ausscheidet, ist für unsere Frage nach dem Wandel des Passionsverständnisses von größter Bedeutung. Zeigt er doch, wann und in welcher Weise der Auflösungsprozeß der orthodoxen Versöhnungslehre beginnt, dessen deutlichen literarischen Nieder· schlag wir in einigen Passionslibretti des frühen 18. Jahrhunderts finden werden. Den Auslassungen stehen kleine, aber bezeichnende Erweiterungen der Vorlage gegenüber. "Christus stehet allhie vor Gericht", schreibt Gerhard, und Dilherr verstärkt: "Unser hertzliebster Herr Jesus ... ". " ... weil der gantzen Welt Sünde auff ihn ge· leget", paraphrasiert Gerhard Jesaja 53,S. Dilherr verdeutlicht: ..... unsere und der gantzen Welt Sünde". Nach Gerhard spricht "der liebe Herr selber: Ich muß bezahlen ... ," nach Dilherr "ruft der Herr uns beweglich zu ... ". Für die auf Buße drängende Haltung dieses Predigers sind auch solche kleinen sprachlichen Änderungen an der Vorlage signifikant. Noch aufschlußreicher wird der Vergleich, wenn man auch hier die voran· gehenden Abschnitte mit berücksichtigt. Während Gerhard in mehreren Sätzen wie dem oben einleitend zitierten die von uns verwirkte Strafe, die von Christus getragene Strafe und ihren Ertrag für uns nennt, verweist Dilherr seine Hörer wiederum auf die Ungeheuerlichkeit der an dem "Herrn der Herrlichkeit" begangenen Schmach. Die Empörung darüber48 soll in den Hörern Abscheu vor der eigenen Sünde und Reue über sie wecken: "Denn was sind mutwillige und vorsetzliche Sünden andersl denn Schläge ins Angesicht Christi?" CBPB, S. 298) Sprachliche und sachliche Differenzen zwischen Gerhard und Dilherr werden gerade durch die literarische Abhängigkeit offenbar. Auf den gleichen Sachverhalt mit er· staunlich ähnlichen Einzelerscheinungen werden wir noch einmal stoßen, wenn wir die Beziehung zwischen dem Text der Matthäus-Passion und ihrer Vorlage, den Predigten H. Müllers, zu untersuchen haben. c) Sprachliche Gestaltung
Zur Erbauungsliteratur müssen die Passionspredigten und ·betrachtungen des 17. Jahr· hunderts ganz besonders wegen ihrer sprachlichen Gestaltung gerechnet werden. Freilich bestehen auch hinsichtlich der Sprache erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Werken. Man vergleiche nur, wie einerseits J. Gerhard, andererseits M. Moller den Leser vor erneuter Verstrickung in Sünde warnen: Darum sollen wir "uns auch hüten/ daß uns der Teuffel nicht wiederumb die Stricke der Sünde an den Halß werffe/ damit es nicht gehe/ wie geschrieben stehet Esaiae am 5. Capitel: Daß man sich zusammen koppele mit lossen Stricken/ Unrecht zu thun/ und mit Wagenseilen zu sündigen/ denn darauff würde folgen! daß auch die Stricke des Verderbens uns überfielen! sondern vielmehr sollen wir bedencken! daß Christus darumb also gebunden! auff daß wir von den Sündenbanden erlöset! auff Gottes Wegen unverhindert sollen wandeln! und uns mit festem Glauben an Christum binden! auch fUr des Teuffels Stricken mit Fleiß hüten" (Gerhard, Erklärung, S. 86 f.).
48 "Nicht Wunder were es gewesenl daß diesem Knecht seine Hand verdorret were ... Wunder were es auch nicht gewesenl wenn er von Stund an mit Aussatz were geschlagen worden ...•, BPB, S. 292 f.
74
"Sey aber nun wacker/ liebe Seele/ und hüte dicht daß du nicht auffs neue in deß Satans Stricke fallest: Denn er jaget dir nacht und stellet seine Netze auff/ und leget Fallstrick auff alle deine Wege. Er stellet dir nach in Reichthum und Armuht/ im Essen und Trincken/ in Freude und Leid/ in Worten und Wercken/ ja im gantzen Leben/ ob er dich wieder fangen/ und in Sünden stürtzen möchte. Bete ohne Unterlaß/ und schreye zu deinem Herrn/ der dich ein mal errettet hat auß seinen Stricken/ daß er dich ferner behüte. 0 Herr Jesu! errette mich von dem Stricke dieses Jägers/ breite auß deine Flügel über mich/ und laß mich darunter allezeit sicher seyn für diesem Drachen. Amen!" (Moller, Soliloquia, S. 28) Gerhards ernste, nüchterne Mahnung, die gewonnene Freiheit nicht preiszugeben, beruft sich auf ein anschauliches Schriftwort, auf die Folgen jener Preisgabe und auf den Grund der Freiheit, der erneut zu "bedencken" gegeben wird. Die Sprache ist schlicht, der Satzbau durch Konjunktionen rational durchgegliedert, dennoch nicht starr. Gleichmäßig, unangestrengt, ein ruhiger Diskurs nicht ohne bescheidenen rhetorischen Schmuck, nicht ohne Wänne, aber beides nicht intendierend, sondern unbeirrt in der Sache voranschreitend: so stellt sich dieser Abschnitt, so stellen sich Gerhards Passionserklärungen überhaupt stilistisch dar. Ganz anders Moller: Die sprachlichen Formen von der zweifachen Anrede an die Seele bis zum abschließenden Gebet werden in einer deutlichen Klimax angeordnet; stilistische Mittel wie Antithesen und die Reihung rhythmisch bewegter Satzteile intensivieren die Wirkung der drängenden Syntax. Der Hauptunterschied liegt in der dort und hier gewählten Personalform. "Wir sollen uns auch hüten" ist Ausdruck einer gelassen fordernden Haltung und hat eine viel geringere emotionale Wirkung als das direkte .$ey aber nun wacker/ liebe Seele/ und hüte dich ..." Wir werden auf die Gründe für die unterschiedlichen Stillagen der Passionsbetrachtungen noch einzugehen haben. Zunächst aber muß eine auffallende Gemeinsamkeit dieser beiden Stücke wie der Passionsauslegungen insgesamt genannt und gedeutet werden. Die Sprache all dieser Werke, wie verschieden sie auch sonst sei, ist in einem kaum vorstellbaren Maße von der Bibel geprägt. Mit Hilfe der Konkordanz wird allenthalben in den Passionspredigten eine Fülle biblischer Beziehungen gesucht und ausgewertet. Zitate, frei abgewandelte Bibelworte und Anspielungen werden ständig in die Rede eingeflochten. Dabei gibt es zu jedem Teil der Passionsgeschichte einen bestimmten Grundbestand besonders wichtiger biblischer Parallelstellen, der in fast allen Predigten wiederkehrt. Offenbar sind aber die Prediger bestrebt gewesen, möglichst viele über diesen Fundus hinausgehende Konkordanzstellen geistreich auszudeuten.49 49 Auch dabei spielt wohl eine Rolle, daß Vollkommenheit im aristotelisch beeinflußten Denken der Zeit Vollzähligkeit einschließt. Im Abschreiten aller Möglichkeiten gewinnt das Ganze Gestalt, wird Sinn erkennbar. Man muß sich diesen geistigen Hintergrund bewußt machen, will man ein ungeschichtliches Werturteil über die extensive Anwendung der Konkordanzmethode vermeiden. Unter homiletischem Gesichtspunkt wird man freilich die Fehlentwicklung bedauern, zu der die Methode vor allem bei weniger geschickten, unselbständigen Predigern geführt hat. Wenn Schian sie jedoch in Übereinstimmung mit Kritikern des 18. Jahrhunderts wie Hallbauer und
75
Die Konkordanzmethode, nach der Bibelstellen deswegen in Beziehung zueinander gesetzt werden, weil gleiche oder sinnverwandte Wörter in ihnen vorkommen, ist als exegetisches Verfahren an die orthodoxe InspirationsIehre50 gebunden. Aber stärker noch als die Typologie überschreitet das Bibelwort die ihm von der Methode zugewiesene Funktion des Schri/tbe/egs und gewinnt umfassende, den Stil der Erbauungssprache überhaupt prägende Bedeutung. Selbst da, wo der Prediger mit eigenen Worten zu sprechen scheint, ist er vielfach - fUr den heutigen Leser oft kaum erkennbar - von der Sprache der Bibel beeinflußt.51 Die Konkordanzmethode bewirkt aber nicht nur eine allgemeine Biblizität der Predigtsprache, sondern ihr verdankt sie vor allem ihre Bi/dluz/tigkeit. Viele der mit HUfe der Konkordanz gefundenen Bibelworte, sofern sie nicht von sich aus bildlich gemeint sind, müssen bei der Anwendung auf die zu deutende Stelle "geistlich", und das heißt im Blick auf ihren sprachlichen Charakter metaphorisch verstanden werden. Wenn z.B. der Jäger, von dessen Strick Gott den Beter des 91. Psalms errettet, als metaphorische Darstellung des Teufels verstanden wird, wenn Stricke, Bande und Ketten unsere Sünde versinnbildlichen, um deretwilIen wir "billich gebunden/ vnd in den hellischen Schuldthurm gestossen werden" sollten (Herberger), wenn schließlich die Erlösung verglichen wird mit der Befreiung des Vogels aus dem zerrissenen Netz, so zeigen schon diese gebräuchlichsten mittels der Konkordanz gefundenen biblischen Bilder, wie wenig das
Rambach stumpfsinnig nennt, ein geist- und sinnloses Aneinanderreihen von SplÜchen .ohne Rücksicht auf Leben und Wirklichkeit, auf Herz und Gemüt, auf den Zweck des Gottesdienstes und der Predigt" (a.a.O., S. 26), so gilt dieses Urteil zumindest für die Passionspredigten nicht einmal unter homiletischem Aspekt. S. dazu das unten über die Bildlichkeit der Sprache Ausgeflihrte!
50 Dieser ging es ja noch in ihrer extrem objektivierten Form der Verbalinspirationslehre darum, die Schrift als sui ipsius interpres, als in sich evident gegenüber anderen, von außen kommenden Evidenzen (wie Lehramt, Vernunft oder Erfahrung) zu sichern. Die Worte der Schrift erheIlen sich gegenseitig. Dieser Grundsatz führte in der Praxis der erbaulichen Schrift~uslegung für die Gemeinde notwendigerweise zu einer allegorischen oder metaphorischen Bibeldeutung, durch die gleichsam hinter dem Rücken der Verbalinspirationslehre deren Starrheit aufgelockert werden konnte. 51 So durchziehen etwa Anspielungen und Halbzitate aus zwei Psalmen die oben zitierte kurze Passage MoUers: .Denn er errettet dich vom stricke deß jägers ... Er wird dich mit seinen fittigen decken! und deine Zuflucht wird seyn unter seinen flügeln." (Ps 91,3.4) .Unter dem schatten deiner flügel habe ich zuflucht! biß daß das unglück VOIÜ ber gehe ... Sie steIlen meinem gang netze ... " (Ps 57,2.7) Herbergers Hinweis auf die Beichte als den Ort der Lösung unserer Sündenkette wird verständlich, wenn man in den Worten: .laß uns gelöset werden auff Erden! daß es im Himmel auch 10ß sey" die Anspielung auf Matthäus 16,19 hört: .Und will dir deß himmelreichs schlüssel geben! aIles was du auf erden binden wirst! soU auch im himmel gebunden seyn! und alles was du auf erden lösen wirst! soll auch im himmelloß seyn." Die Schlüsselgewalt übt die Kirche nach traditioneIlem Verständnis in der Beichte. - Beispiele ähnlicher Art ließen sich aus aIlen Passionspredigten in beliebiger Anzahl nennen.
76
Urteil über die Konkordanzmethode als eine sinnlose Aufzählung von Bibelsprüchen auf die Passionspredigten zutrifft, in welchem Maße diese Methode hier vielmehr zur sprachlichen Veranschaulichung des Predigtinhalts beiträgt.52
52 Ein Passus aus Gerhards .Erklärung" mag diesen Sachverhalt noch einmal belegen. Es handelt sich um die Deutung der Anklage Jesu vor dem geistlichen Gericht. Daß Christus dieses Unrecht unseretwegen widerfahren ist, begründet Gerhard mit einer langen Aufzählung ':Ier geistlichen Instanzen, die uns anklagen: .Wir alle sämptlich werden wegen unserer Sünde vor Gottes Gericht angeklaget/ und zwar mit allem Recht und Billigkeit. Es klaget uns an Gottes unwandelbares Gesetz/ welches ein Zeugniß wider uns ist/ Deut. 31. Vnd verklagt uns also Moses mit seiner schweren Zunge/ Johan. 5. Denn durch des Gesetzes Stimme wird alles unter die Sünde beschlossen. Gal. 3. Es klaget uns an unser eigen Gewissen/ welches die Handschrift wider uns ist/ Coloss. 2. also daß uns unser eigen Hertze verdammet/ 1. Joh. 3. und unsere eigene Gedancken uns unter einander verklagen/ Rom. 2. Es klaget uns an der Teuffel/ und begehret unser/ wie denn geschrieben stehet! Apocal. 12. Daß der hellische Drache uns vor Gott verklage Tag und Nacht/ er tritt unter die Kinder Gottes und begehret! daß Gott seine Hand sol über uns außrecken und hart angreiffen. Job.!. Es klagen uns an die heiligen Engel/ denn dasselbe seyn die Mitknechte/ Apoc. 22. welche darüber traurig werden/ und es für ihren und unsern hirnlischen Herren bringen! wenn wir uns nicht recht gegen unserm Nechsten verhalten! Matth. 18. Es klagen uns an alle Creaturen/ welcher wir durch Sünden mißbraucht haben! wie denn S. Paulus Rom. 8. daß die Creaturen mit ängstlichen harren! sehnen und ängsten warten frey zu werden von dem Dienste des vergänglichen Wesens/ und Iacobi am 5. stehet von den gottlosen Reichen/ die ihres Reichthumbs und Kleider/ Goldes und Silbers mißbraucht haben/ daß ihr Gold und Silber sol verrosten/ und ihr Rost werde ihnen zum Zeugniß seyn. Siehe! diß seynd alles unsere Ankläger Gottes Gesetz/ welches wir übergangen! das Gewissen/ welches in Sünden gefangen. Es klaget uns an der Teuffel/ so uns mit seiner List erschlichen/ die Engel/ welche wegen der Sünde von uns abgewichen! die Creaturen/ so wir durch Mißbrauch verdorben! seyn rur Gottes Gericht unsere Ankläger worden. Von diesem rechtmessigen und billigen Anklagen haben wir nicht anders können 10ßgezehiet werden als umb Christi willen! welcher sich für öffentlichem Gericht hat lassen fälschlich anklagen und beschuldigen! daß wir nunmehr können mit Freuden sagen! Roman. am 8. Wer wil die Außerwehlten Gottes beschuldigen? Gott ist hie! der da gerecht machet. Wer wil verdammen? Christus ist hie der gestorben ist! und daß nunmehr nichts verdamliches ist an denen die da sind in Christo Jesu." (S. 118 f.) In dieser Passage .reihte der Prediger Spruch an Spruch" (Schian, S. 26), ausgewählt aus der Konkordanz nach dem Stichwort .anklagen" und geordnet nach den Aspekten der satisfactio und des meritum. (Dabei bestätigt sich einmal mehr die Beobachtung, daß Gerhard Christi Genugtuung rur unsere Schuld stärker betont als die Befreiung von der Schuld.) Und doch läßt sich nur schwer eine eindringlichere Darstellung der menschlichen Verlorenheit vor Gott denken als diese Aufzählung mit den unerbittlich wiederholten Anfangsworten: .Es klagen uns an". Hinter dem Hohen Rat taucht mit diesen aus der ganzen Bibel zusammengelesenen Zitaten ein geistlicher Gerichtshof auf, furchtbarer und ernster, als ihn ein phantasiebegabter Prediger mit eigenen Worten hätte ausmalen können. Welche Anschaulichkeit die biblischen Beschreibungen jener Gerichtsinstanzen besitzen, zeigt ein Vergleich mit der kunen Zusammenfassung im zweiten Teil des Abschnitts, wo Gerhard die .Ankläger" noch einmal nennt. Hätte er unter Verzicht auf die biblische anschauliche Sprache nur diese wenigen Sätze gesagt, so hätten sie ebenso blaß und abstrakt gewirkt wie die Worte, die bei Arndt an der entsprechenden Stelle stehen: .Es klagen ihn (seil. Christus) an, als rur Gottes Gerichte, alle unsere Sünde, es klaget ihn an das Gesetz, es klaget ihn an der Satan." (postilla, S. 579)
77
Der stilbildende Einfluß der Bibel verbindet die Passionsliteratur mit der übrigen Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts, etwa mit der Gebetsliteratur, die ebenfalls von dieser Biblizität bestimmt ist. Auch der zweite bedeutende Einfluß, von dem hier die Rede sein muß, wirkt auf beide Zweige der Erbauungsliteratur in vergleichbarer Weise. P. Althaus hat in seinen flir die Quellenkunde schier unerschöpflichen "Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur" nachgewiesen, daß seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts altkirchliches und (oft rur altkirchlich gehaltenes) mittelalterlich-mystisches Gut in die protestantische Gebetsliteratur einströmt, ja daß unter dem Einfluß des erstarkenden Jesuitismus sogar jüngere katholische Gebetstexte in großer Zahl in dit: protestantischen Sammlungen eindringen. Bereits um die Wende zum 17. Jahrhundert sieht Althaus die evangelischen Gebetsbücher von einem "strom vorreformatorischer Mystik" überflutet, der nach seinem Urteil "der Entfaltung eines gesunden evangelischen Christentums Abbruch getan hat".53 Die Passionsliteratur hat sich etwa um dieselbe Zeit wie die Gebetsliteratur dem Einfluß vorreformatorischen Gedankenguts weit geöffnet. Die Motivik der protestantischen Passionsauslegung ist in einem kaum zu überschätzenden Ausmaß von der patristischen Exegese bestimmt.54 Fast alle Deutungen nach dem Schema: "Christus hat gut gemacht, was wir schlecht gemacht hatten", also fast alle (antithetischen) Äquivalenzen stammen aus dieser alten Passionstradition, ebenso wie die meisten typologischen und allegorischen Deutungen. Aber nicht nur motivisch, sondern auch stilistisch übt die mit meditativen Betrachtungen stark durchsetzte patristische Exegese, vor allem aber die mittelalterlich-mystische Passionsbetrachtung einen bedeutenden Einfluß auf die protestantische Passionsliteratur aus. Er bewirkt eine erhebliche Verstärkung des meditativen Elements in ihr und dient so einem gegen Ende des Reformationsjahrhunderts aufkommenden Bedürfnis nach einer verinnerlichten Frömmigkeit.55 Allerdings nehmen 53 A.a.O., S. 100. Gewiß hat auch umgekehrt die katholische Gebetsliteratur protestantisches Gut aufgenommen - auf beiden Seiten sind viele Gebetsbücher allein durch das Ausschreiben verschiedener Quellen beider Konfessionen zustande gekommen -, aber den beherrschenden Einfluß hat die katholisch-mystische Richtung ausgeübt. Die Erschließung altkirchlicher (oder für altkirchlich gehaltener) Quellen geht mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Bestreben der Reformationskirchen zurück, ihre eigene Kontinuität mit der wahren apostolischen Kirche zu betonen, ist also gerade als Hilfe in der Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Katholizismus gemeint. Da nun der Katholizismus der Gegenreformation dieselbe altkirchliche Tradition gegen die .ketzerische" neue Lehre für sich beansprucht, entsteht die paradoxe Situation, daß beide Seiten im Kampf gegeneinander die gleiche Erbauungsliteratur benutzen und hervorbringen. Althaus' Beurteilung des genannten Vorgangs als Abfall von den ,gesunden' evangelischen Anschauungen können wir uns in bezug auf die entsprechende Entwicklung innerhalb der Passionsliteratur nicht anschließen, wie aus der folgenden Darstellung hervorgehen wird.
54 Einige dieser Motive führt Krummacher (a.a.O., S. 346-353) bis auf ihre Ursprünge in altkirchlichen Texten zurück. Auch für die Perikopenliteratur weist Krummacher die ausgiebige Benutzung patristischer Schriften nach (S. 180 ff.). Besonders wichtig ist seine grundsätzliche Erörterung über die Haltung des Luthertums im 16. und 17. Jahrhundert zur altkirchlichen literatur (S. 213 ff.).
55 Vg!. Krummacher, a.a.O., S. 263.
78
nicht alle Werke der Passionsliteratur diesen Einfluß in gleicher Weise und Stärke auf. Die stilistischen Unterschiede zwischen ihnen, auf die bereits zu Beginn des Abschnitts hingewiesen wurde, erklären sich vor allem aus ihrem engeren oder distanzierteren Verhältnis zu dieser meditativ geprägten vorrefonnatorischen Passionstradition. Das soll im folgenden wiederum an einem Textvergleich aufgezeigt werden. Bei der Betrachtung des am Kreuz hängenden Christus deutet Gerhard u. a. das Ausbreiten seiner Anne: "Daß Christus seine Hände außrecket/ hat er gethan/ uns aus Liebe zu umbfahen/ und daß er beydes Jüden und Heyden unter sein Creutz möchte zu sich bringen/ daß sie durch sein heylwertiges Blut besprenget und von Sünden gewaschen würden/ hat uns auch hiemit erworben daß Gott den gantzen Tag über seine Hände zu uns außbreitet Esaiae am 65. und unserer Bekehrung mit großer Gedult erwartet/ darumb sollen wir ihm ja nicht den Rücken kehren/ sondern unter seine Flügel uns samlen" (Erklärung, S. 233). Gerhard hat hier mehrere recht verschiedenartige Deutungen aneinandergefligt. Schon der rasche Wechsel der Gedanken hindert den Leser an einfühlender Anschauung (ganz abgesehen davon, daß dieser Passus nur eine von elf Betrachtungen "des am Creutz hangenden und blutrünstigen Christi" (S. 231) wiedergibt). Lediglich die letzte, aus Jesaja 65,2 und Matthäus 23,37 gewonnene Deutung wird noch zu einer kurzen Ermahnung ausgewertet. Im ganzen aber macht der kleine Abschnitt den Eindruck einer bloßen Sammlung von Interpretationen, die an dieser Stelle möglich oder nötig sind.56 Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn wir den entsprechenden Passus bei Heermann lesen: "Seine Armen spannet er aus am Creutze/ Warumb? Extentus in cruce universum Orbem complexurus, brachia pietatis expandit, sagt Augustinus: Er wil mit seinen Liebes Armen die gantze Welt vmbfangen/ vnd zu sich ziehen. Lactantius spricht: Extendit in passione manus suas, orbemq; dimensus est, ut jam turn ostenderet, ab ortu Solls usq; ad occasum magnum populum ex omnibus linguis & tribubus congregatum, sub alas suas esse venturum: Christus misset mit seinen außgestreckten Armen den Erdkreiß/ damit er beweise/daß ein grosses Volck von der Sonnen auffgang biß zu derselben niedergang aus allen Sprachen und Geschlechten vnter seine Flügel solle versamlet werden. Hier sihestu/ daß er seine Hände außstrecket den gantzen Tag/ zu einem bösen vnd vngehorsamen Volck/ dasselbe mit seinen Gnaden Armen zu vmbfahen/ wie eine Mutter jhr Kind. Ja wie eine Henne jhre Keuchlein vnter jhre Flügel versamlet : Also haben auch wir Heyl vnter diesen außgebreiteten Flügeln. Hier sihestu klar/ daß er dich in seine Hände gezeichnet habe. Ey so sprich frölich vnd getrost: Intra brachia Salvatoris mei & vivere & mori desidero: In den Armen meines Heylandes begehre ich zu leben vnd zu sterben" (Crux Christi, S. 390). 56 Für den heutigen Leser ist dabei die zweite Deutung kaum verständlich. Was haben die ausgebreiteten Arme Jesu damit zu tun, daß Juden und Heiden sich unter dem Kreuz versammeln soUen? Gerhards Zeitgenossen, denen der Zusammenhang dieser Deutung bekannt war, bereitete sie freilich keine Schwierigkeit. Sie entstammt, wie gleich gezeigt werden wird, der altkirchlichen Exegese.
79
Zweierlei ist an diesem Abschnitt für unseren Zusammenhang wichtig. 1. Heermann nennt und zitiert (nach seiner Gewohnheit lateinisch und deutsch) die Quellen jener bei Gerhard nur kurz aufgezählten Interpretationen der ausgestreckten Arme Jesu: Augustin und Lactanz. Zu den beiden ersten Zitaten gibt er dabei am Rand die Fundstellen an: "August. tempo serm. 93." bzw. (zu Lactanz) "Ub. 4. C. 26".57 Das letzte Zitat ist am Rande nur mit der Anmerkung "Augustinus" versehen. Waluscheinlich hielt Heermann das (pseudoaugustinische) "Manuale", aus dem es stammt, für so bekannt, daß ihm eine Quellenangabe überflüssig erschien.58 2. Auch Heermann reiht alle diese Interpretationen aneinander. Die Redeformeln und die lateinischen Zitate lassen den Predigtabschnitt zunächst fast ebenso nüchtern erscheinen wie den Gerhardschen. Aber dann spürt man, wie mit der übersetzung des zweiten Zitats und in der durch sie und ihre biblischen Anspielungen inspirierten Fortflihrung die distanzierte Sprechhaltung einer persönlicheren weicht und wie die fremde Sprache allmählich in die eigene integriert wird, so daß das abschließende lateinische Zitat kaum noch als störende Unterbrechung empfunden wird. Das nächste Stadium einer weitgehenden Verschmelzung der überlieferten mit der eigenen meditativen Betrachtung ist bei Müller zu beobachten. Hier lautet die entsprechende Passage: "Tritt hinzu/ mein Hertz/ und schaue deinen Jesum an/ wie er am Creutz hanget. Seine Hände hat er ausgespannet/ als der rechte Hohepriester/ dich mit beyden Händen zu segnen. Er hat sie ausgespannet/ dich damit zu umpfahen. Gleichwie ein guter Freund/ beyde Hände ausstrecket gegen dem nothleidenden Nächsten/ daß er ihn aus der Grube errette/ damit er nicht umkomme. Liebstes Hertz/ gib du dich hinein in die ausgespannete Arme deines Jesu/ und sage mit Augustino: Inter brachia Salvatoris mei & vivere & mori cupio. Aus Jesu Händen soll und kan mich niemand reissen" (Leyden Christi, S. 406). Bereits mit dem ersten Satz unterscheidet sich Müller wesentlich von den beiden zuvor genannten Predigern. Er bereitet den Hörer auf die folgenden Deutungen vor, indem er ihn zu einer betrachtenden Haltung aufruft. Damit paßt er sich dem Stil der überlieferten meditativen Auslegung von vornherein an. Auch erwähnt er nicht nur wie Gerhard, gleichsam im Vorübergehen, die wichtigsten Interpretationen,59 er zitiert sie auch nicht (mit einer Ausnahme, bei der das Zitat jedoch ganz in den Gedankengang
57 S. Lactanz, Divinae institutiones, S. 383. - Das Zitat klärt die bei Gerhard unverständlich gebliebene Erwähnung von "Jüden und Heyden" auf. Sie stehen für "den Erdkreiß", "ein grosses Volck ... aus allen Sprachen und Geschlechten", also für "universum Orbem", den Jesus mit ausgebreiteten Armen umfängt.
58 S. MPL 40, Sp. 961. 59 Die Deutung der ausgebreiteten Arme als der segnenden Gebärde des Hohenpriesters findet sich sonst in den verglichenen Passionswerken nicht, sie stammt aber vermutlich aus denselben alten Traditionen wie die übrigen.
80
und den Sprachfluß eingebettet ist) wie Heermann, sondern er bildet sie eigenständig nach bis in den feierlichen und zugleich persönlichen Sprachduktus hinein. Wenn Müller im zweiten und dritten Satz zwei Deutungen nebeneinander stellt, die gedanklich nichts miteinander zu tun haben, so wirkt dies anders als bei Gerhard nicht wie eine bloße Aufzählung, weil der Hörer durch die Wiederholung des Satzanfangs auf den neuen Gedanken vorbereitet wird. Als Zeugnis für die letzte Stufe der inneren Anverwandlung der vorreformatorischen Passionstradition muß hier M. Mollers Deutung der ausgebreiteten Arme Jesu zitiert werden. Daß dieser älteste unter den genannten Autoren gleichwohl unter systematischem Aspekt zu recht an letzter Stelle steht, wird sich sogleich zeigen. ,,0 allersüßester Herr Jesu! der du am Stamm des Creutzes deine heilige Arme auffgethan! und deine hülffreiche Hände außgebreitet hast gegen allen armen Sündern! sihe! ich armer grosser Sünder komme zu dir! und falle unter das Creutz zu deinen Füssen: Du bist bereit! mich auffzunehmen! und in deine freundliche Arme zu schliessen. Herr Jesu! in deinen Armen will ich leben! in deinen Armen will ich sterben! da will ich rühmen! und singen: Ich preise dich! Herr! mein Heiland! denn du hast meiner Seelen geholffen" (Soliloquia, S.56).
Der für Mollers "Soliloquia" repräsentative Abschnitt ist geprägt von der Jesus-Mystik, wie sie uns in augustirlischen und in mittelalterlichen Erbauungsschriften entgegentritt. MoIler kannte dieses Schrifttum besonders gut. Er hat in seinen "Meditationes sanctorum Patrum,,60 "schöne andechtlge Gebet ... aus den heyligen Altvätern Augustino, Bernhardo, Taulero vnd andern" (so der Untertitel) in freien Übersetzungen vorgelegt. Dieses Werk, dessen "literargeschichtliche Bedeutung" nach Althaus "fast unübersehbar" ist61 , hat zur Verbreitung mittelalterlicher Erbauungsliteratur wohl mehr beigetragen als alle anderen, die vor und nach ihm mit ähnlicher Zielsetzung erschienen sind.62 "Es ist von zahlreichen Gebetbüchern benutzt und ausgeschrieben und hat ebenso zahlreichen Kirchenliederdichtern den Text zu ihren Dichtungen gegeben. ,,63 Vor allem aber und vielleicht am intensivsten hat es auf Mollers eigene Erbauungsschriften
60 2 Teile, hier zit. nach der Ausgabe Görlitz 1596, abgek.: MSP. 61 A.a.O., S. 135. 62 Es handelt sich überwiegend um mittelalterliche Texte, denn die aus "Augustino" übersetzten Stücke stammen aus den pseudoaugustinischen Werken "Meditationes", "Soliloquia" und "Manuale", mittelalterlichen Sammlungen aus den verschiedensten - auch altkirchlichen Erbauungsschriften, die die protestantische Erbauungsliteratur in besonderem Maße beeinflußt haben. Vgl. dazu Althaus, S. 74. Die drei genannten Schriften sind abgedruckt in MPL 40, Sp. 863 ff., 897 ff., 949 ff. Zur Quellenforschung s. Dictionnaire de Spiritualit'; Ascetique et Mystique Bd. I, Sp. 1132 Cf. 63 Althaus, S. 135. loh. Heermann hat mehrere seiner Lieder, u. a. das bekannte Passionslied "Herzliebster lesu, was hast du verbrochen", nach diesen Auszügen aus mittelalterlichen Erbauungsbüchern gedichtet.
81
gewirkt. 64 Die "Soliloquia de Passione" fand bereits Althaus gekennzeichnet durch "fortgehende Benutzung mittelalterlich-mystischer Gedanken, wie er sie in seinen Meditationes zusammengestellt hat.,,65 Genauer gesagt: Moller hat ganze Passagen aus jenem Übersetzungswerk in seine Passionsbetrachtungen übernommen, allerdings nicht in völlig gleichem Wortlaut, sondern in einer neuen, teils enger an den Wortlaut gebundenen, teils freieren übersetzung. 66 Auch den oben zitierten Abschnitt hat MoUer "ex Man. D. Aug.", also aus dem Augustin zugeschriebenen "Manuale", neu übertragen. In den "Meditationes sanctorum Patrum" hat der Gebetsteil folgende Gestalt: "Mein Heyland! der du am Stamm des heyligen Creutzes deine Arme und Hende außgebreytet hast/ vns arme Sünder alle zu vmfahen/ vnd zu dir zu ziehen/ Sihe/ ich gebe vn lege mich gantz vnd gar in deine Hende! vnd schwinge mich in deine Arme/ darinnen wil ich leben vnnd sterben/ vnd frölich singen: Ich preyse dich Herr/ denn du hast mich erhöhet! vnd lessest meine Feinde sich nicht vber mich frewen" (BI. 94 v f.).
64 In der Vorrede zu seiner Evangelienpostille spricht Moller selbst von dem Einfluß der Gebetssammlung auf die Art der Darstellung in seinem eigenen Werk. Als er gemerkt habe, daß die "Meditationes sanctorum Patrum" "viel Nutz geschaffet! und männiglich ein Gefallen daran getragen: Fieng ich an dieselbe Alten zu imitiren!' (Praxis Evangeliorum, Lüneburg 1601, T. I, BI. A4v, zit. bei Krummacher, S. 263. In der Vorrede des Herausgebers der Ausgabe Lüneburg 1741 vgl. dazu BI. 111)
65 A.a.O., S. 134. 66 Allein von den vier Passionsgebeten aus "Augustinus" in den MSP sind drei ganz oder teilweise in seine "Soliloquia" eingegangen. Daß Moller über die in den MSP übersetzten Texte hinaus für die "Soliloquia" auch andere lateinische Quellen benutzt hat, belegt eine Passage, deren lateinische Vorlage bei Heermann zitiert wird. "Herr Jesu Christe! sihe mich armen Sünder an mit den Augen deiner Bamhertzigkeit! damit du ansahest den lieben Pe trum im Pallast des Hohenpriesters! ja! damit du ansahest die betrübte Mariam Magdalenam! und den Schächer am Creutz. Verleihe! daß ich von Hertzen weine über meine Sünde! wie Petrus: Hilff daß ich dich von Hertzen liebe! wie Maria Magdalena: Und gib! daß ich mit dem armen Schächer zu dir kommen! und dich schauen möge im ewigen Paradis." (Soliloquia, S. 34) ,,0 Domine Jesu, respice digneris me miserum peccatorem oculis misericordiae, quibus respexisti Petrum in atrio, Mariam Magdalenam in convivio, & latronem in crucis patibulo. Concede mihi omnipotens Deus, ut cum Petro digne fleam, cum Maria Magdalena ardenti amore te diligam, & cum latrone in aeternum te videam." (Heermann, Crux Christi, S. 234) Dasselbe "Gebetlein" von "den lieben Alten" findet sich auch bei Arndt (Postilla, S. S 17) und bei Gerhard (Erklärung, S. 109) sowie in dem von mir benutzten Exemplar der "Precationes ex veteribus orthodoxis doctoribus" von A. Musculus (Leipzig 1575) in einer handschriftlichen Eintragung am Schluß. Es muß also sehr bekannt gewesen sein. Ohne jeden Zweifel könnte eine systematische Vergleichung der "Soliloquia" mit den "Meditationes sanctorum Patrum" sowie mit den genannten und weiteren lateinischen Quellen noch eine weit größere Zahl ähnlicher Übernahmen nachweisen.
82
In der lateinischen Quelle, auf die beide Versionen zurückgehen, lautet die entsprechende Stelle: "Extendit brachia sua in cruce, et expandit manus suas paratus in amplexurus peccatorum. Inter brachia Salvatoris mei et vivere vol0, et mori cupio. Ibi securus decantabo: Exaltabo te, Domine; quoniam suscepisti me, nec delectasti inimicos meos super me (Psal. XXIX,2)" (MPL 40, 961). Alle bisher genannten Prediger gaben in irgendeiner Weise zu erkennen, daß sie sich mit ihren Deutungen auf fremdes Gut bezogen. Selbst Müller verzichtete nicht darauf, sich durch ausdrückliche Berufung auf "Augustinus" der Autorität dieses Kirchenlehrers zu versichern. Bei Moller finden wir weder hier noch irgendwo sonst in seinen Passionsbetrachtungen einen solchen Hinweis. Er behandelt seine Quellen wie sein geistiges Eigentum, er benutzt sie nicht als Autoritäten, sondern als sein Sprachrohr. Darum gestaltet er sie von innen heraus nach, gestaltet sie aber auch ohne Bedenken um. Das belegen bereits die beiden Versionen der zitierten Stelle aus dem "Manuale". Wie Moller hier nach dem lateinischen Text zwei völlig der deutschen liturgischen Sprache angepaßte Gebete (oder Gebetsteile) geschaffen hat, das verdient größte Bewunderung. Er macht sich bestimmte Elemente der lateinischen Vorlage zunutze, etwa die Zweigliedrigkeit der Satzteile, versucht aber z.B. nicht, die Kürze der lateinischen Satzkonstruktion nachzuahmen. Statt dessen läßt er die klar gegliederten Sätze rhythmisch weit ausschwingen, fügt Adjektive ein, die auf das anteilnehmende Ich verweisen ("heilige Arme", "hilffreiehe Hände", "freundliche Arme", "frölich singen") und verbindet den ersten Satz der Vorlage durch bekenntnisartige WeiterfUhrungen mit dem zweiten. All dies bewirkt eine übertragung des feierlich-rühmenden Tons des lateinischen Textes in eine innigere, herzlichere Frömmigkeit. Man kann sagen, daß dies das allgemeine Merkmal von Mollers Quellenbenutzung ist. 67 Stilistische Unterschiede zwischen den nachweislich übersetzten Stellen und mutmaßlich ohne Vorlage verfaßten Abschnitten lassen sich in den "Soliloquia" nicht erkennen. Es wird eine einheitliche Stilhöhe eingehalten, die in keiner Weise monoton oder übertrieben wirkt. Die traditionellen l.ehrtopoi der lutherischen Passionspredigt sind nicht ausgeschieden, aber in die meditative Sprache gleichsam eingeschmolzen, in Anreden an die Seele, aber auch an Jesus oder Gott. 68 Inhaltlich, terminologisch und hinsichtlich der biblischen Begründung besteht kein Unterschied zur typisch lutherischen Passionsauslegung, wie sie in den voranstehenden Abschnitten beschrieben worden ist, wohl aber hinsichtlich der sprachlichen Ausgestaltung. Die folgende Passage über Iesu Angst in Gethsemane ist geeignet, all dies zu belegen: die dogmatische übereinstimmung mit
67 Vgl. z. B. die Adjektive oder den Ausdruck "von Hertzen lieben" für "ardenti amore diligere" in der oben Anm. 66 zitierten Übersetzung.
68 Für diese .Art der Meditationen und Soliloquiorum" beruft Moller sich ausdrücklich auf das Alte Testament und auf "die heiligen Väter" (Vorwort zu "Praxis Evangeliorum" T. 1, BI. A4v, zit. bei Krummacher, S. 263).
83
der protestantischen Auslegung69 , die Biblizität und den meditativen Charakter der Sprache, die überwiegend Gebetssprache ist, und die Einschmelzung fremden Guts der letzte Absatz stammt aus dem lateinischen "Manuale" - in die Passionsbetrachtung: "Die andere Ursach deiner Angst/ Herr Iesu! ist die grosse schwere Last unserer/ ja der gantzen Welt Sünde/ welche Gott der Vater auff dich geworffen hat: Denn ob du wol von keiner Sünde wustest/ so hat doch Gott dein Vater dir alle unsere schreckliche Sünden und alle unflähtige Schanden zugerechnet/ 2 Cor. 5. Ia/ Herr Iesu! du trugest unsere Kranckheit/ und ludest auff dich unsere Schmertzen/ Esa. 53. Du versinckest im tieffen Schlamm unserer Sünden/ da kein Grund ist/ du bist in tieffen Wassern/ und die Fluht will dich ersäuffen/ Psalm 69. Da Cain nur seine eigene Sünde fühlet/ weiß er nicht/ wo er sich lassen soll/ und spricht: Gen. 4. Meine Sünde ist grösser/ denn daß sie mir kan vergeben werden. Ia Ahitophel/ 2. Sam. 17 und Iudas/ Matth. 27 verzweifeln/ da nur ihre eigene Sünden auffwachen: Über dir aber/ Herr Iesu! sind alle unsere schwere Sünden erwecket/ und dir mit Hauffen auff den Hals kommen. Darüber wallet dir dein Hertz in deinem Leibe/ und ist hoch betrübet. Sihe/liebe Seele/ was der Böse verschuldet/ das muß der Fromme leiden; Was der Knecht verwircket/ das muß der Herr bezahlen; Was der Mensch verbrochen hat/ das muß Gott selber büssen. Herr Iesu Christe! ich habe ja gesündiget/ du aber leidest die Straffe; Ich habe verbrochen/ du aber trägest die Schmertzen; Ich bin hoffartig/ du aber wirst gedemühtiget; Ich fürchte mich/ du aber must leiden; Ich war ungehorsam/ du aber hast durch deinen Gehorsam die Schuld meines Ungehorsams gebüsset. Amen!" (Soliloquia, S. 11) Das erste protestantische Werk, das mittelalterliche Passionstradition in breitem Umfang aufnimmt und entscheidend zu ihrer Vermittlung an das 17. Iahrhundert beiträgt, ist zugleich dasjenige, in dem die Integration der vorreformatorischen Passionsfrömmigkeit in die protestantische am vollkommensten gelungen ist.
4. Das Verhältnis zu Luthers Passionspredigt Aus den bisherigen Ausftihrungen mag bereits deutlich geworden sein, daß von einer geradlinigen Fortsetzung der Passionspredigt Luthers im 17. Jahrhundert nicht die Rede sein kann. Die Unterschiede in der Predigtweise, aber auch im Predigtinhalt sind so auffaJlig, daß es sich lohnt, ihnen genauer nachzugehen. Außerdem bietet der Vergleich die Gelegenheit, abschließend noch einmal die wesentlichen Aspekte der drei ersten Kapitel zusammenzufassen. Um die Unterschiede herauszuarbeiten, müssen wir zunächst die Gemeinsamkeiten erkennen, die es erlauben, von der lutherischen Passionspredigt des 17. Jahrhunderts zu sprechen.
69 S. dazu oben S. 57 ff.
84
Zweifellos besteht volle übereinstimmung zwischen Luther und den Predigem des 17. Jahrhunderts hinsichtlich der Grundsätze der Passionsbetrachtung. Daß die Passion historisch und geistlich auszulegen ist, daß wir sie "gebrauchen" sollen zur Sündenerkenntnis, zum Trost und als Exempel, übernimmt die protestantische Passionspredigt des 17. Jahrhunderts selbstverständlich von Luther. Auch die altkirchliche Zwei-Naturen-Lehre und die - modifizierte - anselmische Versöhnungslehre, also die wichtigsten dogmatischen Voraussetzungen, gehen über Luthers Passionspredigt in die des 17. Jahrhunderts ein. Gleiche oder ähnliche Auslegungen einzelner Stellen der Passionsgeschichte gibt es in solcher Fülle, daß es müßig wäre, Beispiele zu nennen. 70 Wenn hier also über die Gemeinsamkeiten zwischen der Passionspredigt Luthers und der des 17. Jahrhunderts weniger gesagt wird als über die Unterschiede, so muß dabei beachtet werden, daß die übereinstimmungen gerade in den grundlegenden dogmatischen und passionstheologischen Auffassungen bestehen. Betrachtet man die Predigten unter homiletischem Gesichtspunkt, so muß man diejenigen Luthers lehrhafter und nüchterner nennen. Zugleich aber sind sie freier in der formalen Gestaltung und origineller, subtiler in der gedanklichen Durchführung. Man spürt in der Intensität der ausgedehnten, die Gedanken allmählich entwickelnden Erörterungen und der sicheren Konzentration auf wenige zentrale Themen Luthers Absicht, eine neue Passionsauffassung verständlich zu machen. Die Predigten des 17. Jahrhunderts sind stärker auf erbauliche Wirkung bedacht, ihre Gestaltung ist von dem Willen bestimmt, die bekannten Motive und Themen von Luthers Passionsdeutung einprägsam zu wiederholen und unter Berufung auf die Bibel und die kirchliche Tradition umfassend abzusichern. Lehrhaftigkeit und formale Freiheit einerseits, Erbaulichkeit und formale Gebundenheit andererseits 71 verweisen auf verschiedenartige kirchliche Gegebenheiten, denen die Predigten jeweils zu entsprechen versuchen. In der Tat erklärt sich der Hauptunterschied, auf dessen Ausprägungen wir uns hier beschränken werden, aus dem Wandel der kirchengeschichtlichen Situation seit der Verselbständigung der evangelischen Kirche. Luthers Passionspredigten sind durch seine Polemik gegen die Papstkirche und ihre synergistische Versöhnungslehre geprägt. Zwei Hauptthemen werden in ihnen unermüdlich variiert: 1. Christus hat uns durch sein .Leiden mit Gott versöhnt - wir können nichts dazu tun. Darum lästern die "Papisten" Gottes Gnade, wenn sie die Menschen auch auf ihr eigenes Leiden zu vertrauen lehren. 2. Wie Christus von seinem Volk leiden mußte, so müssen auch die wahren Christen von ihren eigenen Kirchenoberen, vor allem dem Papst, leiden.
70 Angesichts dieses Sachverhalts ist es erstaunlich, wie selten sich die Prediger des 17. Jahrhunderts ausdrücklich auf Luther berufen. 71 Daß man für die Predigt des 17. Jahrhunderts die Eigenschaften eher in der Kombination Lehrhaftigkeit und formale Bindung erwartet, gehört zu den Klischees, die zumindest von den Passionspredigten widerlegt werden.
85
Die römische Kirche hat in Luthers Passionspredigten die Rolle der Juden zu übernehmen. Die exemplarische Betrachtung der Passion dient Luther vor allem dazu, die Passion als Modell für das Leiden der wahren Kirche zu verwenden und sie so ganz konkret zu aktualisieren. Mit der Konsolidierung der Reformationskirche fällt die Notwendigkeit der ständigen Auseinandersetzung mit der römischen Kirche und ihrer Passionstheologie fort, die Polemik gegen sie ist keine innerkirchliche Aufgabe mehr. 72 Zu Beginn des 11. Jahrhunderts scheint die Erinnerung an den leidenschaftlichen Kampf um das .Solus Christus" bereits so gründlich verblaßt, daß sich in den Passionspredigten nur selten ein Hinweis darauf findet. Und wenn etwa Herberger aus dem Kreuzeswort "Es ist vollbracht" folgert, daß Christus "den grossen zanck zwischen vns vnd dem Bapstthumb schon am Creutz richtig geörtert,,73 habe, so fehlt einer solchen an sich schon seltenen Bemerkung gänzlich jene polemische Schärfe, mit der Luther auf diesen Streitpunkt reagiert. Daß unser Leiden nicht verdienstlich ist, wird selbstverständlich erwähnt, aber ohne besondere Betonung. Ausführlich wird thematisiert, was Christus uns verdient hat, nicht daß er allein uns das Leben wiedergebracht hat. Luther geht es vor allem um die exklusive, den Späteren um die umfassende Geltung der Stellvertretung Christi. Beide Auffassungen schließen die jeweils andere ein, nur die Akzente sind verschieden gesetzt. Luthers "Solus Christus meruit" soll den Christen aus der verzweifelten Anstrengung partieller Selbsterlösung befreien - denn Christus hat die Schuld bezahlt - und so das Gewissen trösten, während die Betonung der Vollkommenheit des meritum dem Trost des bußfertigen Sünders dient - gibt es doch keine Schuld, die Christus nicht bezahlt hätte. Der evangelische Christ des 11. Jahrhunderts bedarf dieses Trostes angesichts seiner trotz der Vergebung bleibenden Sündhaftigkeit. Daß die Passionspredigt auf diese veränderte frömmigkeitsgeschichtliche Situation eingeht und nicht etwa die Tröstungen der Lutherzeit repetiert, beweist - entgegen dem üblichen Verständnis der "orthodoxen" Predigt - eine erstaunliche Sensibilität für die religiösen Erfordernisse der eigenen Zeit. Eine weitere wesentliche Folge aus dem Fortfall der Polemik gegen ein synergistisches imitatio-Verständnis ist eine neue Bewertung des Gedankens der Leidensnachfolge. Der Prediger des 11. Jahrhunderts hat nicht mehr wie Luther zu unterscheiden zwischen einem glaubenslosen selbsterwählten und dem notwendigen, 'von Gott auferlegten Leiden, sondern er hat viel eher gegen eine unchristliche Leidensscheu zu kämpfen.
72 Sollte nicht die vielzitierte Frömmigkeitskrise um 1580 auch damit zusammenhängen, daß der bisherige Gegner, die römische Kirche, inzwischen zwar nicht rur den wissenschaftlichen Theologen, wohl aber rur den Prediger und den Predigthörer weitgehend aus dem Blickfeld verschwunden war? 73 Horoscopia, S. 438.
86
Von einem heimlichen Selbstbehauptungswillen gegenüber Gott durch das Leiden weiß man jetzt nichts mehr. Luthers Einsichten in die Paradoxien der durch die Sünde ,verkehrten' menschlichen Seele, die ihre Auflehnung gegen Gott als tiefste Leidensbereitschaft erscheinen lassen kann, sind diesem Zeitalter fremd. Die Dialektik des Lutherschen Leidensgedankens weicht darum im 17. Jahrhundert einer eindeutig positiven Bewertung des Leidens. "Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen" (Apostelgeschichte 14,22) wird zum viel zitierten Grundsatz der ethischen Passionsbetrachtung, die nun erst als Leidensethik bezeichnet werden kann. Besonders deutlich ist dieser Unterschied in der Bewertung des Leidens zu fassen, wenn man die Äußerungen über Simon von Kyrene in Luthers "Hauspostille" und in Passionspredigten des 17. Jahrhunderts miteinander vergleicht. Luther findet in diesem Bericht drei Lehren: 1. Das Leiden des Christen ist kein Strafleiden, kein Ausdruck von Gottes Zorn, sondern Teilhabe an Christi Kreuz. 2. Das Kreuz ist auferlegtes, erzwungenes Leiden. Es bleibt schmerzhaft, auch wenn es willig getragen wird. 3. Der Unterschied zwischen Christi Kreuz und dem unseren ist der zwischen sünden vergebendem und Sünde bekämpfendem Leiden. Alle drei Lehren dienen der Differenzierung des Leidensgedankens, seiner Reinigung und Absicherung gegen Mißverständnisse; und alle drei sind aus der Auseinandersetzung mit der römischen Leidenslehre hervorgegangen. 74 Die letzte dieser drei Deutungen Luthers fmdet sich auch in den Passionspredigten des 17. Jahrhunderts noch, freilich meist an einer anderen Stelle. Die Unterscheidung zwischen dem Sühnopfer des Leidens Christi und dem Dankopfer des Leidens der Märtyrer wird in der Regel in die Betrachtung der Gethsemaneszene eingefügt. J. Gerhard, der Dogmatiker unter den Passionspredigern, erinnert wie Luther auch bei der Auslegung der Simon-Episode daran. Das Verständnis des Leidens als Dankopfer führt bei ihm aber nur zu der Konsequenz, daß "unser unwilliges Fleisch" "durch Gottes Geist ... überzwungen" werden muß, damit wir das Kreuz fern auf uns nehmen und "durch Trübsal dem Herrn Christo ehnlich gemacht" werden. S Luthers Polemik gegen selbsterwähltes Leiden fmdet sich weder bei ihm noch bei den anderen Predigern des 17. Jahrhunderts. Dagegen wird die Notwendigkeit des Leidens zur überwindung von "Fleisch und Blut", zum Kampf gegen den "alten Adam" von allen stark betont. Weil das ,Kreuz' dazu dient, muß es willig, ja dankbar angenommen werden. Aber selbst ein solcherart gewünschtes Leiden bedeutet keine Rückkehr zu einem ,mönchischen' Leidensideal, weil dessen im SUhneverständnis liegende Voraussetzung im protestantischen Bereich völlig fehlt. Gerade dies führt zu der vereinfachenden, eindeutig positiven Haltung gegenüber dem Leiden.
74 Nach Luthers Deutung unterliegt diese also einem dreifachen Mißverständnis, wenn sie Leiden 1. als GoUes Strafe (als gäbe es kein Evangelium), 2. als eigene Vorwegnahme der Strafe, sie als Strafe aufhebend (als gäbe es kein Gesetz), und 3. als menschliches Sühneleiden auffaßt (als sei Christi Leiden nicht vollkommen). 7S Erklärung, S. 217 f.
87
Völlig verschwunden ist aus der Passionspredigt des 17. Jahrhunderts der andere Topos der antirömischen Polemik Luthers, der Vergleich der Papstkirche mit den Juden und die Identifizierung der eigenen Kirche mit Christus mittels der exemplarischen Auslegung. Wo Luther sagt: So macht's der Papst, machen's die Kirchenoberen mit den Evangelischen, da sagt das 17. Jahrhundert: So macht's die Welt mit den frommen, ernsthaften Christen. Nicht einmal der Dreißigjährige Krieg hat die alte konfessionelle Polemik in den Passionspredigten wieder aufleben lassen. Der Gedanke der Leidensnachfolge wird zugleich verallgemeinert - die "Welt" oder auch der Teufel verursachen das Leiden der Frommen - und individualisiert: Der einzelne ist in diese Nachfolge gestellt, ihn vor allem trifft das Leiden. Und wo doch einmal vom Leiden der Kirche die Rede ist, da geht es nicht um den Kampf gegen die reine Lehre, sondern etwa um den Raub an kirchlichem Eigentum oder um die Mißachtung der Mahner und Verkündiger , also der Geistlichen. Unverkennbar zeigt sich hier eine gewisse Tendenz zur Moralisierung der Passionspredigt. In der Predigt des 17. Jahrhunderts wird eine klare Unterscheidung zwischen der "Welt" und den "Frommen" vollzogen, und es ist eine der wesentlichen Absichten der Passionsbetrachtung, die Welt an ihren Verhaltensweisen erkennbar zu machen. Das ist möglich, weil sie sich in der Passion Jesu als die ,böse Welt' selbst entlarvt hat. Einen solchen umfassenden ,Weltspiegel', der dem Hörer die Untugenden vorhält, zugleich aber die Ausgestaltung einer Tugendlehre ermöglicht, enthält Luthers Predigt noch nicht.1 6 Für ihn war nicht vordringlich, was für das 17. Jahrhundert unerläßlich wurde: eine allgemeine sittliche Volksbildung, die nur die Kirche leisten konnte. Damit ist die durch den Wandel der kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Lage bestimmte Veränderung der Passionspredigt im wesentlichen bezeichnet. Sie umfaßt alle Aspekte der Passionsdeutung vom Gedanken der Stellvertretung Christi über den der Leidensnachfolge bis hin zur Deutung des Verhaltens in der Welt. Daß gleichwohl die eingangs erwähnten Grundstrukturen die Gemeinsamkeit des Passionsverständnisses von Luther bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zu gewährleisten vermögen, darf wohl als ein Zeichen für die tiefe innere Oberzeugungskraft dieser lutherischen Deutung der Passion Christi bewertet werden.
76 Und dies gewiß nicht nur wegen der Konzentration auf die Soteriologie und die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen, sondern wohl auch, weil rur Luther die Moralität - wie das Leiden - einer grundsätzlichen, durch die sündliche Verkehrung al/es Guten zum Bösen bedingten Ambivalenz verhaftet bleibt.
88
Exkurs: Die Passion des Carolus Stuardus Eine Auseinandersetzung mit A. Schönes Gryphius-Deutung Wollte man die Wirkung von Luthers Passionsdeutung auf dem allgemein geistesgeschichtlichen Felde untersuchen, so würde sich zweifellos ergeben, daß hier das Verständnis der Passion als einer exemplarischen Begebenheit am tiefsten und nachhaltigsten, vielleicht kann man sogar sagen: ausschließlich gewirkt hat. In Relikten ist sie auch heute noch im durchschnittlichen Bewußtsein präsent, wenn etwa ein schweres Schicksal als ein "Kreuz" bezeichnet wird. Ihre außerordentliche Fruchtbarkeit aber hat diese Deutungsweise vor allem auf dem Gebiet der Uteratur erwiesen. Die Passion Christi hat von Gryphius' "Carolus Stuardus" über Goethes "Werther" bis hin zu Faulkners ,,A Fable" ("Eine Legende", 1954) als ein überzeugendes Modell menschlischen Leidens gedient, aus dem die literarischen ,Nachfolger' in je verschiedener Weise einen Zuwachs an religiöser Bedeutsamkeit erfuhren. Dieser Ausstrahlung der Passion auf literarische ,Passionen' ist von literaturwissenschaftlicher Seite bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Umso wichtiger ist darum A. Schönes Untersuchung zum "Carolus Stuardus" im Gryphius-Kapitel seines Buches "Säkularisation als sprachbildende Kraft"77. Schöne weist nach, daß dieses Trauerspiel bis in Nebenzüge und Nebengestalten hinein dem Passionsmodell nachgeformt ist und daß insbesondere die Gestalt des Carolus "Zug um Zug, in konsequenter Verfolgung eines zugrunde liegenden Bauplans, ... auf das große Vorbild hin stilisiert" wird (S. 64). Um dieser Modelltreue willen werden im Drama historische Fakten umgedeutet, werden erfundene Gestalten wie die des Verräters Poleh als historische eingeführt, tritt ein Chor der Frauen auf, dessen Aufgabe es ist, den unschuldig zur Richtstätte geführten König zu rühmen und zu beweinen, und allenthalben werden Dialoge so gestaltet, daß die dargestellte Situation auf die Passion Christi hin transparent wird,78 Der Vergleich zwischen den beiden Fassungen des Trauerspiels läßt erkennen, daß diese ,Tendenz' sich bei der Überarbeitung sogar noch entschiedener durchgesetzt hat. Schöne stellt die Hypothese auf, daß die Hauptquelle, auf die Gryphius in den Anmerkungen zum "Carolus" häufig verweist, frei erfunden sei, und zwar nur zu dem Zweck, um "die Formidee des Trauerspiels durch fmgierte historische Beglaubigungen (zu) verteidigen" (S. 77). Diese Hypothese ist freilich durch den Nachweis jener Quelle in der die Carolus-Christus-Gleichung bereits vorgebildet ist, inzwischen widerlegt. ~9 Der Quellenfund beweist, daß die "Formidee des Trauerspiels" nicht nur ein Einfall, eine Erfindung des Dichters ist, sondern auf einer überindividuellen Deutungsmögllchkeit des dargestellten Geschehens beruht. Diese verdankt sich einem Geschichtsdenken, das "durch eine Überformung und Stilisierung der historischen Faktizität nach vorgegebenen Ordnungen ihren eigentlichen Wesens- und Wahrheitsgehalt durchzusetzen" versucht (S.· 77).80 Dieser eigentliche Wahrheitsgehalt aber besteht für Gryphius (wie für seine Quelle) ohne Zweifel darin, daß Carolus in seinem Sterben die Passion Christi wiederholt, daß er darin ,christusförmig' oder ,chrlstusgleich' wird. Soweit Schöne dies für das Trauerspiel herausgearbeitet und ausführlich belegt hat, ist seiner Untersuchung nur zuzustimmen. Nun sind aber, wie man leicht erkennt,jene Formulierungen 77 Göttingen 21968. Seitenzahlen im Text beziehen sich im folgenden auf dieses Buch. 78 Die Zusammenstellung dieser Situationen fmdet sich bei Schöne, S. 63-72. 79 Unabhängig voneinander fanden 1972 zwei Forscher die lange gesuchte Quelle: K.-H. Habersetzer, Tragicum Theatrum Londini; 1. G. Stackhouse, In defense of Gryphius' historical accuracy.
80 Hervorhebungen in Zitaten auch im folgenden vom Vf.
89
über die eigentliche Wahrheit des Trauerspiels nicht eindeutig. Sie lassen noch offen, welcher Art denn die Beziehungen zwischen der Passion Christi und der des Carolus sind und wie die ,Christusförmigkeit' oder ,Christusgleichheit' des Königs gemeint ist. Auf diese Frage suchen wir bei Schöne vergeblich nach einer ausdrücklichen Antwort. Wir sind daher darauf angewiesen, sie aus seinen Ausführungen zu erheben. Schöne charakterisiert die Beziehung mit einer Fiille von Ausdrücken wie "Angleichung", "Ebenbildlichkeit", "Gleichwerden", "Gleichsetzung" oder "Gleichheit". Die "Wurzel" solcher "Gleichformungen" findet er in der "Imitatio-Vorstellung" (S. 83 f.), von der Gryphius auch unter dem Sinnbild des Magnetismus spricht (S. 87). Dennoch versucht Schöne das "Gleichwerden" des Carolus mit Christus von einer ,bloßen' Nachfolge abzugrenzen: "Es handelt sich nicht eigentlich um ParalleIstelIen, die etwa eine Nachfolge Christi durch den König bezeichnen und dabei beide Geschehnisebenen nebenoder übereinander herfUhren, sondern um ein Gleichwerden in der Form, daß Carolus aus der eigenen ... Existenz ... mit ganzer Person hinübertritt in die Rolle des leidenden Gottessohnes" (S. 64). Trotz der widersprüchlichen Verwendung des NachfolgeBegriffs durch Schöne - im zuletzt zitierten Satz bedeutet er eine bloße, den Menschen nicht tiefer prägende Ähnlichkeit der Schicksale, an anderer Stelle im Sinne des Gryphius eine magnetische Verbindung, durch die der Mensch nach dem Bild des leidenden Christus geformt wird - ist deutlich, daß Schöne die Carolus-Christus-Beziehung im Sinne des zweiten Nachfolge-Begriffs versteht. Anstatt nun aber den theologischen Voraussetzungen jenes imitatio-Gedankens nachzufragen, der sich bei Gryphius im Sinnbild des Magnetismus ausspricht, bricht Schöne den Gedankengang an dieser Stelle ab, um in einem neuen Ansatz in anderer und, wie sich zeigen wird, unangemessener Begrifflichkeit implizit die Frage zu beantworten, was es denn bedeutet, daß "Carolus aus der eigenen ... Existenz ... mit ganzer Person hinübertritt in die Rolle des leidenden Gottessohnes". Hinweise darauf, wie Schöne die Carolus-Christus-Gleichung verstanden wissen will, finden sich freilich schon in den bisher behandelten Abschnitten des Gryphius-Kapitels. Danach besteht die Gleichheit vor allem darin, daß beide "Märtyrer" werden, indem sie aus der größten Erhabenheit (Gottessohn, König) unschuldig in die tiefste Niedrigkeit fallen, welche Katastrophe jedoch ihrer inneren Waluheit nach zugleich ihre letzte und eigentliche Erhöhung, nämlich in die ewige Seligkeit, bedeutet (S. 62 f.). Mit dem Attribut des unschuldigen Leidens ist Schöne zufolge außerdem bei Carolus wie bei Christus der Gedanke des Selbstopfers verbunden (S.64). Schöne will die Bedeutung der Christus-Carolus-Gleichung nicht auf den Gedanken reduziert wissen: "Der Hingerichtete hat viel gelitten." Denn "die Vergleichsfigur, das Modell selbst, ist keineswegs belanglos, austauschbar, sondern verpflichtend und in einer ganz spezifischen Weise normsetzend und formgebend" (S. 86). Diese Normierung erklärt den hingerichteten englischen König zu einer weltlichen ,Postfiguration' des göttlichen Königs Christus. Schärfer, aber nicht überspitzt formuliert: Der Obertritt KarIs "in die Rolle des leidenden Gottessohnes" kann nur besagen, daß er zur weltlichen Erlösergestalt erhöht wird. Wie dann der Konsequenz auszuweichen ist, daß Carolus an die Stelle Christi tritt, ihn also ersetzt, bedenkt Schöne nicht, obwohl er im letzten Kapitel seines Buches der Nachbildung eines Menschen nach dem Vorbild Christi selbst die Tendenz zuschreibt, das Vorbild zu verdrängen (S. 281 f.). Hätte Schöne seinen Ansatz konsequent zu Ende geftihrt, so hätte er auch flir den "Carolus Stuardus" zu diesem Ergebnis kommen müssen. Er weicht diesem Schluß aus, indem er sich auf allgemeine Aussagen wie die zuletzt zitierte über die normsetzende Kraft des Modells zurückzieht. Daß er ihn gleichwohl unausgesprochen meint, wird insbesondere daran deutlich, daß er die Obertragung des Christus-Modells auf Carolus als SäkulllriSiltionserscheinung bestimmt. Unter Säkularisation versteht er dabei den Vorgang, daß reli-
90
giöse, vor allem biblische Stoffe weltlicher Behandlung unterworfen und damit auch dichterisch gewissermaßen frei verfügbar gemacht werden. Dies geschieht nun Schöne zufolge bei Gryphius durch ein der figuralen (typologischen) Bibelexegese verwandtes, sie verwandelndes Verfahren, das er "postfigurale Gestaltung" nennt (S. 37, 87 ff.). Im Anschluß an E. Auerbach bezeichnet Schöne es als Aufgabe der typologischen Exegese, "Worte und Gleichnisse (figurae verborum) oder Gestalten und Ereignisse (figurae rerum) des Alten Testaments als Prae-Figurationen, als Realprophetien des im Neuen Testament Berichteten zu begreifen, so daß die figura des Alten als umbra, imago auf die Erfüllung des Neuen Testaments als veritas bezogen wird, ohne dabei freilich die konkrete sachliche und geschichtliche Gültigkeit des alttestamentlichen Geschehens aufzuheben oder auch nur einzuschränken" (S. 89). Im Unterschied zu diesem Verfahren soll die figurale Gestaltung eines dichterischen Textes diesem eine Bedeutung und ein Eigengewicht gegenüber dem religiösen Text verleihen, "wie sie der alttestamentlichen figura durchaus nicht zukamen" (S. 91), weil diese lediglich dem Text zu dienen hatte. Vor allem aber fehlt der figuralen Gestaltung, die Schöne bei Gryphius nachzuweisen versucht, die theologische Intention der typologischen Deutung, nämlich den "Nachweis des göttlichen Planes" zu erbringen, "der gleichsam seine verhüllten alttestamentlichen Versprechungen im Neuen Testament einlöst". Die dichterische Figuralgestaltung "tritt aus dem teleologischen Verlauf heraus und entfremdet so das figurale Prinzip seinem ursprünglichen religiösen Sinn" (S. 91). Mit aIl dem erweise sie·sich als eine "Säkularisationskategorie" (ebd., A. 99). Offenbar wegen der Tendenz zur Ersetzung, zumindest aber zur Abwertung des religiösen Modells deuten sich nach Schöne in ihr "häretische Züge" an (ebd.), die aber für die literaturwissenschaftliche Betrachtung gleichgültig sind. Für sie gilt: "säkularisation meint Sprachübertragung" (S. 285), und unter diesem Aspekt ist die ,postfigurale Gestaltung' ein "Gewinn" (S. 91).8 1 Man muß sich zunächst fragen, ob man von diesem Formprinzip noch als von einer Verwandlung des typologischen Verfahrens durch Säkularisation sprechen sollte, wenn dabei doch dessen wesentliche Merkmale - Unterordnung unter den religiösen Text und heilsgeschichtlich-teleologische Intention - preisgegeben werden. Die Gemeinsamkeit zwischen den beiden Verfahren besteht dann in nichts anderem mehr als darin, daß beide sich auf ein ,Modell' beziehen. Ob diese Übereinstimmung jedoch ausreicht, um von ihr her einen eigenen Typ literarischer Säkularisation zu begründen, ist zumindest zweifelhaft.
81 Offensichtlich unter dem Eindruck der Kritik an seiner Deutung der ,postrIgllralen Gestaltung' als Säkularisationsvorgang durch H.-1. Schings (Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius), verwendet Schöne diesen Begriff in der 2. Auflage seines Buches wesentlich vorsichtiger als in der 1. Auflage von 1958. Damals hieß es noch über jenen Vorgang der Übertragung: .Die Verwandlung der immanent biblischen Auslegungsweise in das dichterische Formprinzip rIgllraler Gestaltung ist ein unverkennbarer Säkularisationsvorgang." (S. 75) In der 2. Auflage nimmt Schöne den Säkularisations begriff weitgehend zurück, ohne seine These vom Säkularisationscharakter der dichterischen Figuraldeutung aufzugeben (s. dazu seine - rein thetische Zurückweisung der Kritik von Schings, S. 284, A. 26). Damit aber kommt zur sachlichen Fragwürdigkeit noch der Mangel an begrifflicher Klarheit hinzu. - Die erst in der 2. Auflage eingerührte Behauptung von .häretische(n) Züge(n)" des Übertragungsvorgangs, sofern sie sich auch auf Gryphius' Verständnis der Passion des Carolus Stuardus beziehen soU, verstärkt im übrigen das theologische Mißverständnis, wie die folgenden Ausfüluungen zeigen werden.
91
Die immanente Schwäche der Anwendung des figura-Begriffs auf Gryphius' dichterische Gestaltungsweise liegt also in der Fonnalisierung, der er dabei unterworfen werden muß. Wesentlich schwerer wiegt jedoch der Einwand, daß der Umweg über die figurale Bibelexegese zur Erklärung der Carolus-Christus-Gleichung Schöne überhaupt erst dazu verleitet, von der dichterischen ,postfiguralen Gestaltung' als einer Säkularisationsfonn zu sprechen. Weil das Verfahren, das einst dem ,heiligen' Text galt, nun auf die Gestaltung eines ,weltlichen' angewendet wird, soll es sich um literarische Säkularisation handeln. Man sieht leicht, wie hier die Voraussetzung, Gryphius' Gestaltungsprinzip gehe zuruck auf Figuraldeutung, die Schlußfolgerung, dies sei· säkularisierte Figuraldeutung, präjudiziert. Die Notwendigkeit dieser Voraussetzung, die so weitreichende Konsequenzen zu tragen hat, begründet Schöne aber mit keinem Wort, sondern er behauptet lediglich, die emblematische Modell-Beziehung, in der beide Seiten ihre je eigene Wirklichkeit behalten, "fmdet in Gryphius' Trauerspiel ihre spezifische Bestimmung durch eine postfigurale Gestaltung" (S. 88). Nun wird zwar in der religiösen literatur des 17. Jahrhund~rts (Predigt, Erbauungsschrift, Kirchenlied) von der typologischen Deutung reichlich Gebrauch gemacht, wobei selbstverständlich auch nichtbiblische Gestalten, Dinge und Ereignisse in figurale Beziehung zum religiösen Text treten können; unumkehrbar aber ist bei diesem Verfahren grundsätzlich die Deutungsn'chtung: Der typos zielt immer auf den anti-typos, das ,Vorbild' immer auf das ,Gegenbild', selbst wenn jenes zeitlos ist (wie etwa Naturdinge, Tiere u. dgl.) und damit die "temporale(n) Abfolge-Ordnung" aufgelöst wird (S. 90). Wo diese Deutungsrichtung umgekehrt wird und also nicht der typos der ErheIlung und Bestätigung des anti-typos dient, sondern umgekehrt dieser sein licht auf eine menschliche Gestalt wirft - wo, im Beispiel gesprochen, nicht der das Opferholz tragende Isaak als Realprophetie den kreuztragenden Christus verkündet, sondern der leidende Christus den Weg des leidenden Carolus erhellt - da handelt es sich eben nicht mehr um figurale (gar mit dem Stigma des Häretischen versehene), sondern um exemplarische Gestaltung. Daß allein der Begriff des Exemplarischen, wie wir ihn im Abschnitt über Luthers Passionspredigten erstmals herausgearbeitet haben, dem Gestaltungsprinzip des "Carolus Stuardus" gerecht wird, wird sich im folgenden daran erweisen, daß er 1. nicht von außen an die ,Passion' des englischen Königs herangetragen werden muß, 2. nicht zu dem für Gryphius völlig unangemessenen Begriff der Säkularisation führt und 3. ein differenzierteres Verständnis des "Carolus Stuardus" eröffnet. Das Trauerspiel "Ennordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britanien" (1657, Zweitfassung 1663) ist die Darstellung einer Passion. Aufmerksam gemacht durch die seit Luther selbstverständliche Unterscheidung verschiedener Funktionen ("Fruchte") der Passion Christi, nähern wir uns einer Passionsdarstellung des im lutherischen Protestantismus verwurzelten Dichters82 mit der Vermutung, daß diese Differenzierung uns auch hier Verständnishilfen bieten wird. Wir gehen dabei auch auf andere von Schöne herangezogene Gryphius-Texte ein, weil so die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Deutungsmethoden besser verglichen werden kann. Schöne findet "das Formprinzip, das im ,Carolus Stuardus' seine künstlerische Vollendung erfährt", nämlich das der Gleichsetzungen mit Christus, in den Leichabdankungen, also "im vordichterischen Raum, gleichsam versucht und erprobt" (S. 85). Er zitiert darum Auszüge aus zwei Leichabdankungen, die wir hier nur teilweise zu wiederholen brauchen.
82 S. dazu bei Krummacher den Exkurs .Zur frömmigkeitsgeschichtlichen Stellung des Gryphius", a.a.O., S. 477 ff.
92
In den "Dissertationes Funebres" schreibt Gryphius: "Der König aller Könige hat nicht nur von Ewigkeit/ sondern auch in dem Stande seiner Erniedrigung keiner die GeseIlschafft seines Thrones versprochen; als die sich würdigte den Kelch zu trincken/ mit welchem er geträncket/ das Creutz auf sich zu nehmen/ welches er getragen/ ihm auf den Olivenberg zu folgen/ daselbst seiner Himmelfahrt beyzuwohnen/ doch wenn sie zuvorhin mit ihm selbiger Orten Blut geschwitzet und auff dem Schedelberg ihn zwischen zweyen Mördern verschmachten gesehen."83 Die Nachfolgerin der Passion muß mit Christus und wie er den Kelch trinken, das Kreuz tragen, am ölberg schwitzen - aber sie darf nicht mit ihm sterben, sondern bei seinem Tode ebenso wie bei seiner Himmelfahrt ist sie ,Zuschauerin', weil diese nämlich, wie mitzuhören ist, /iir sie geschehen. Schöne bemerkt den Unterschied zwischen bloßer Betrachtung und leibhaftern Mitvollzug der Passion, mißdeutet aber diese "Uneinheitlichk.eit" als "ein merkwürdiges übergangsstadium" und findet die "theologische Prämisse . . . für das am ,Carolus Stuardus' aufgewiesene Gestaltungsprinzip" ausschließlich in der "ganz leibhaftige(n), existentielle(n) Nachfolge-Forderung" (S. 84 f.). Aus einer anderen Leichabdankung zitiert Schöne Gleichsetzungen zwischen Christus und einer Verstorbenen, die "bis zum Kreuzestode des Erlösers durchgehalten" werden. "Ihr Jesus hieng und starb an dem Creutz/ bedecket mit Striemen/ überlauffen mit Blut/ voller Beulen/ verstellet durch Wunden/ und hatte keine Gestalt noch Schöne: Sie erinnerte sich bey brennender Hitze/ bey dem Anblick ihrer errötheten Glieder/ seiner feurigen liebe und seines Bluts/ Krafft dessen er sie ihm vennählet: bey dem Hervorblühen der auffschiessenden Blattern/ seiner Striemen und Wunden/ und freuete sicht würdig zu seyn der Hoffarbe/ mit welcher er an dem Creutz gepranget: Sie hielt diese Flecken vor Gnaden-Zeichen des Höchsten/ wol wissend/ daß ihre Gliedrnassen hierdurch von dem/ was irrdisch/ gesaubert/ und etlicher massen dem verstelleten Leichnam des Herrn Jesu gleich gemachet würden."84 Auch hier springt doch in die Augen, daß der ,,'Systemzwang'" (S. 86) der Passionsgleichung bei Jesu Tod durchbrochen wird: Dle Verstorbene ist nicht mit ihm oder wie er gestorben, sondern die Zeichen ihres Leidens erinnern sie an seine liebe, die er ihr im Tod erwiesen hat. Das Ausweichen vor der Gleichsetzung an diesem Punkt signalisiert, daß Gryphius auch bei einer so intensiven, ja sinnlichen Ausmalung der compassio ein sicheres Gespür für die feine Grenze zwischen menschlichem Leiden und dem Erlösungsleiden Christi besaß. Daß Schöne nur die freilich auffälligen Identifizierungen der Verstorbenen mit Christus beachtet, in denen sich ein wörtliches Verständnis der Leidensnachfolge ausspricht, jenes charakteristisch lutherische Haltmachen vor der Konsequenz des Mitsterbens mit Christus aber als "merkwürdiges übergangsstadium" beiseite schiebt, rächt sich nun auch bei seiner Deutung des "Carolus Stuardus". Denn der leidende und sterbende englische König ist zwar eine Postfiguration Christi, aber so, daß er zugleich als Nachfolger streng unterschieden bleibt von dem Leidenden, der auch sein Erlöser ist. Gegen Schönes falsche Alternative zwischen einer "Nachfolge Christi", bei der "beide Geschehnisebenen neben- oder übereinander" hergeflihrt werden, und einem "Gleichwerden in der Fonn, daß Carolus ... mit der ganzen Person hinübertritt in die Rolle des leidenden Gottessohnes" (S. 64), muß gesagt werden: Gerade weil und nur soweit Carolus in seinem Leiden als Nachfolger Christi verstanden wird, wird er Christus gleich. Weil aber Christi Passion im Trauerspiel sich nicht auf ihre Vorbildfunktion für den Nachfolger reduzieren läßt, darum verlaufen an entscheidenden Stellen die ,Ebenen' des Christusund des Carolus-Geschehens voneinander getrennt. Die "ennordete Majestät" wird ,christusförmig', aber sie wird nicht Christus. 83 Dissertationes Funebres, S. 110, zit. bei Schöne, S. 84. 84 A.a.O., S. 115, zit. bei Schöne, S. 86.
93
Das soll nun an zwei für die Christus-Carolus-Gleichung wesentlichen Problemkreisen gezeigt werden: 1. an dem um die Frage der Unschuld und des Opfertodes kreisenden Themenkomplex, 2. an der Frage, wie und warum die Rollen Christi und des Carolus ineinanderfallen bzw. voneinander getrennt bleiben. Die Themen werden dabei nicht nacheinander, sondern in zwei Durchgängen jeweils miteinander verbunden behandelt. 1. Sollte der englische König dem leidenden Christus angeglichen werden, so mußte Gryphius nach Schönes Meinung mit dem von den Quellen bezeugten Schuldvorwurf gegen Kar! wegen dessen Verantwortung für die Hinrichtung des Grafen Wentwort und des Erzbischofs Laud fertig werden. Denn "das Vor-Bild (verlangt) gebieterisch nach der Unschuld des Carolus" (S. 52). Nun ist es zwar richtig, daß die Erscheinung der Geister beider Hingerichteten auch dazu dient Kar! von der Schuld an ihrem Tod zu entlasten und ihn als Opfer des rasenden Pöbels (gleichsam in der Rolle des Pilatus85 ) darzustellen (11, 45-52; 131 f.)86. Aber es kann keine Rede davon sein, daß "damit das Schuldproblem endgültig im Sinne des Vor-Bildes gelöst" worden sei (S. 64). Carolus selbst empfindet diese Schuld bis zuletzt als eine schwere Last: "Uns drückt, diß glaubt uns fest, nichts mehr als Straffords tod" (IV, 60). Die Beschwichtigungsversuche des politisch (und damit genauso wie der Geist Wentworts) argumentierenden Obristen Thomlisson läßt er nicht gelten: "VerblÜlnmt es, wie ihr wolt, es war ein' arge that" (IV, 72). Erst als der Bischof Juxton ihm wegen der Jangen reu" Gottes Vergebung zuspricht, findet Carolus Ruhe: "Er wird von disem Blut uns durch sein Blut befreyen" (IV, 74). Ein reines Gewissen ist für Kar! also ein durch Christi Blut gereinigtes Gewissen. Das bezeugt auch seine ,christliche' Antwort auf Juxtons tröstendes Wort, Gottes Beistand "stärckt in Angst ein unbefleckt Gewissen". Carolus ergänzt: "Daß der unschuldig lidl wusch durch sein Blut-vergissen" (IV, 57 f.).
85 Folgerichtig übernimmt in diesem Handlungszusammenhang Wentwort die ,Rolle' Christi (vgl. Abhandlung 11, 18 ff., 36 ff.). Im Blick auf ihn von einer Vorläufergestalt des leidenden CarolusChristus zu sprechen (Schöne, S. 66), besteht also bei dieser Rollenkonstellation kein Anlaß. Zum Vorbild Christus steht Wentwort im gleichen Verhältnis wie Carolus selbst und wie jeder andere Nachfolger. Nur weil Schöne auf den Säkularisationscharakter der Ersetzung des einen Christus durch den einen Carolus fIXiert ist, verkennt er die Möglichkeit der im NachfolgeGedanken begründeten Vielzahl von Christus-,Postfigurationen'.
86 Der .Carolus Stuardus" wird
im folgenden mit Angabe der .Abhandlung" (=Akt; römische Zahlen) und der Verszahlen (arabische Zahlen) zitiert nach Bd. 4 der Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke: Trauerspiele I.
94
Gleichwohl kommt er in der langen Abschiedsrede vor seiner Hinrichtung noch einmal auf die Tat zurück, und jetzt versteht er sogar seinen eigenen Tod als gerechte Strafe fUr sie: "Wie Wentwort durch uns fil. In nicht verdinte Pein: So muß sein herber Tod itzt unser Straffe seyn. Wir müssen durch den Spruch/ durch den er hingerissen: Unschuldig/ wider Recht/ auch Blut für Blut vergissen. Und geben Hals für Hals" (V, 319-323). Daß aber die Schuld nicht durch das als Strafe angenommene eigene "Blutvergießen", sondern nur durch das Blut des wirklich Unschuldigen aufgehoben werden kann, bringt Karl in seinem letzten Gebet zum Ausdruck: ,,0 König der uns durch sein Blut Der Ehren Ewig-Reich erwarb! Der seinen Mördern selbst zu gut An dem verfluchten Holtze starb/ Vergib mir was ich je verbrochen ... " (V, 475--479). Und ist nicht Carolus sogar nach dem Vorbild des reuigen Schächers am Kreuz gestaltet, wenn er im Gespräch mit Juxton an den leidenden Christus erinnert, den er ,anschaut', und Juxton erwidert: "Der Höchste/ wehrter Fürst/ wol Jhn den Tag anblicken." Gryphius mag dabei an die Worte
Je~u
gedacht haben:
"Warlieh ich sage dir/ heute wirst du mit mir im paradies seyn" (Lukas 23,43). Die Paradiesesvorstellung klingt auch in dem Glaubensbekenntnis an, mit dem Karl antwortet: "Wir gläuben daß Er werd' uns/ seinen Knecht erquicken" (11, 265 f.). Von einer endgültigen Lösung des Schuldproblems "im Sinne des Vor-Bildes" Christus kann in dem hier belegten Gedankenzusarnmenhang wohl kaum gesprochen werden. Zwar wird das Schuldproblem gelöst, aber eben nur dadurch, daß Christus nicht als Vorbild, sondern als Erlöser, der fUr die Schuld der Menschen stirbt, auch von dem 87 Allerdings scheint eine Anspielung auf das Abendmahl vorzuliegen, wenn Carolus in jener Abschiedsrede zu seiner Tochter sagt: "Der Vater hat nicht mehr als eine Handvoll Blut Die itztvertriffen sol" und diese kommentiert: "Er läst uns seine Leichen Zum Pfande letzter Gunst! Er läst die libe Zeichen/ Die Thränen zum Geschenck ... " (Il, 388-391), zumal der Begriff ..Leiche" oder "Leichnam" im 17. Jahrhundert nicht selten für den im Abendmahl gegebenen Leib Christi gebraucht wird. Zu einer regelrechten Parallele fehlt der Stelle aber der Hinweis auf das ..für euch" (gegeben und vergossen) und die Zusammenstellung von Leib und Blut. Karls "libe Zeichen" sind "leiche" und "thränen". Man kann vermuten, daß Gryphius damit die Abendmahls-Anspielung bewußt religiös neutralisieren wollte.
95
König verstanden wird und dieser gerade nicht zu leiden braucht, was Christus litt. So wird die Gleichheit zwischen Carolus und Christus überall da aufgehoben, wo die Passion Christi für das protestantische Glaubensverständnis soteriologisch besonders qualifiziert erscheint. Carolus macht zwar im Kreise seiner Kinder und Getreuen wie Christus sein ,Testament', in dem er sie zu gegenseitiger Liebe, Vergebungsbereitschaft und Rechtlichkeit ermahnt (Il, 349 ff.), das Testament jedoch, das Christus im Abendmahl seinen Jüngern hinterläßt, kann auch Carolus nur empfangen, wie der Graf später berichtet: "Er forderte das Pfand/ das der/ der durch sein Blutt Der Menschen Schuld abwusch zum Denckmal seiner Schmertzen Und Zeichen theurer Huld liß den gekränckten Hertzen" (V, 100-103).8 7 Christi Zagen in Gethsemane scheint in Karls Anwandlung von Todesangst wiederzukehren, wenn er die Kinder fortschickt mit den Worten: "Welch Zagen setzt uns zu/ wir fühlen nur zu wol, Wie scharff das Eisen sey das uns zutrennen soll" (11, 507 f.). Schöne sieht darin ein "Abrücken von der Starrheit des Märtyrer-Modells", das sich jedoch gerade als "entschiedene Modelltreue" erweise, denn die ,Abweichung' "ist selbst jenes Zagen, das mit der Erwartung des Todes über Christus fillt" (S. 65). Dagegen ist nun zu sagen, daß eine solch hannlose Auffassung von Christi Leiden in Gethsemane einem protestantischen Dichter des 17. Jahrhunderts mit Sicherheit als Blasphemie erschienen wäre. Christu~ leidet nach dem einhelligen Zeugnis der Prediger dieser Zeit und diese Passionsauffassung teilt Gryphius 88 - in Gethsemane nicht einfach Angst vor dem leiblichen Tod, sondern er hat den Zorn Gottes über die Sünde der ganzen Menschheit und ihre Folge, die Gottverlassenheit, zu tragen. Wohl kaum ein Prediger läßt die Gelegenheit dieser Deutung des "inneren Leidens Christi" vorübergehen, ohne auf den Unterschied zwischen ihm und dem Leiden aller späteren Menschen, insbesondere der Märtyrer, hinzuweisen, die getrost und ohne Zagen in den Tod gegangen seien, und sie erklären die Freudigkeit ihres Sterbens aus dem Verdienst Christi, Gottes Zorn weggenommen zu haben, so daß kein Märtyrer diese Qual zu erdulden hat. Auch den König, der sich zum Tode bereitet, befällt nie der geringste Zweifel an Gottes Güte und Beistand, fest glaubt er daran, daß er mit diesem Leben nur ein langes Leiden zu seinem eigenen Besten beschließt. Seine das Irdische (und auch jene kurze Anwandlung von Todesangst) überwindende Seelenruhe wird vom Grafen gerühmt und von ihm selbst oft zum Ausdruck gebracht. Das heißt also: Carolus ist ein christlicher Märtyrer, der nur leichte, nämlich leibliche Todesangst zu erdulden hat, weil Christus, der eben kein Märtyrer ist89 ,die schwere, seelische Angst getragen hat. Damit haben wir die bei aller Angleichung bleibende Differenz zwischen Carolus und Christus auf den Begriff gebracht: Es ist die zwischen dem Märtyrer und dem Erlöser. Weil sie unaufhebbar ist (der Märtyrer könnte ohne den Erlöser gar nicht Märtyrer sein!), kann Carolus gar nicht so in die Rolle des leidenden Gottessohnes hinübertreten, daß die "Geschehnisebenen" völlig verschmelzen. 88 Es muß wiederum auf die Untersuchung von Krummacher verwiesen werden, insbes. auf den zweiten Teil über Gryphius' Passionsdichtung. 89 Die von Schöne übernommene verfehlte Auffassung Manheimers von der Passion als einer "Katastrophe", in der nicht mehr der "Tröster", sondern der .Märtyrer" Christus erfaßt werde (S. 62), hat schon Krummacher kritisiert (a.a.O., S. 331 C.).
96
2. Nun waren wir aber davon ausgegangen, daß dies sehr häufig doch geschieht. Karls Anhänger erklären unermüdlich seine Unschuld und er selbst nicht minder. Sein langer Monolog vor der Hinrichtung ist eine große Verteidigungsrede. "Was sind Worte noth", fragt er abschließend, "Dafern die Unschuld spricht/ und zeuget mit dem Tod. Die hat euch itzt entdeckt mein innerstes Gewissen" 0/, 395 ff.), dasselbe Gewissen, das doch seine bleibende Schuld am Tode Wentworts bezeugt hat. Schuldbekenntnis und Erklärung der eigenen Unschuld können unmittelbar nebeneinander stehen, ohne daß darin offenbar ein Widerspruch gesehen wird. An der bereits zitierten Stelle, wo Karl seinen Tod als Strafe flir Wentworts Hinrichtung versteht "Wir müssen durch den Spruch/ durch den er hingerissen: Unschuldig/ wider Recht! auch Blut/ für Blut vergissen. Und geben Hals flir Hals ..." (V, 321-323), erscheint dem modernen Leser die Erwähnung der Unschuld bereits befremdlich. Jedoch ist sie durch die voranstehende theologische Deutung menschlichen Unrechts noch verständlich: "Der Höchst' ist ja gerecht! und pflegt gerecht zu richten/ Auch durch nicht rechten Schluß/ den Ungerecht' erdichten"
0/, 317
f.).
Damit aber müßte nun das Problem des an Karl begangenen Unrechts eigentlich zur Ruhe kommen, ist dieses doch in einen letztgiiltigen Sinnzusammenhang eingeordnet, verstanden und akzeptiert. Wie kann Carolus aber den Strafcharakter seines Leidens bekennen und im selben Atemzug denen, die ihm Unrecht tun, vergeben? " ... Doch klag ich nimand an Weil ich ein rechter ChristI von Christo lernen kan Wie man verzeihen soll" 0/, 323-325). Noch widersprüchlicher scheint der Charakter des Carolus zu werden, wenn sein großmütiges Verzeihen wechselt mit heftigen Vorwürfen gegen seine Widersacher und wenn er sein blutiges Sterben schließlich sogar als Opfer versteht: "vor Recht und Grundgesetz" (11, 448), "für unterdrückte Kireh' / entzwey gesprengte Cron/ Und hoch-verftihrtes Volck" (IV, 7 f.; ähnlich V, 390 ff.). Diese Widersprüchlichkeit darf weder (wie bei Schöne) durch Harmonisierung beiseite geschoben werden, noch ist ihre Erklärung psychologisierend in einer Unausgeglichenheit von Karls Charakter zu suchen. Sie ist vielmehr Folge der Anwendung der seit Luther üblichen Betrachtungsweisen der Passion Christi auf das Leiden und Sterben des englischen Königs. Der zuletzt behandelte Unschuld- und Opfer-Zusammenhang des Trauerspiels weist zurück auf die exemplarische bzw. monitorische Bedeutung der Passion bei Luther und in der Passionsauslegung des 17. Jahrhunderts, deren wesentliche Bestimmungen in der Schuldlosigkeit des christlich Leidenden und in der Enthüllung der Bosheit der ,Welt' lagen. Bei Gryphius dient ebenso wie bei Luther die Berufung auf das Vorbild Christi dazu, das Handeln des ,Nachfolgers' zu rechtfertigen, nur daß die "rechte Sach'" 0/, 413), für die Carolus handelnd und leidend eintritt, selbstverständlich eine andere ist als die der Reformatoren. 90 Aber fiir Gryphius ist diese Sache nicht weniger gerecht und wichtig als die 90 Eine interessante literarische Nachbildung Luthers selbst nach dem Exempel Christi in einer Flugschrift von 1525 unter dem Titel "Ain schöner newer Passion~ zitiert Schöne S. 276 Cf.
97
des "Evangeliums", geht es doch im "Carolus" um die göttlich legitimierte Ordnung in Staat und Kirche und um die über Heil und Unheil des Staates entscheidende Anerkennung des Königs als Gottes Stellvertreter in der weltlichen Regierung. 91 Nach dieser religiösen Auffassung vom Königtum ist Carolus gleichsam von vornherein dazu prädestiniert, als Leidender und Sterbender Christus ähnlich zu werden. Aber die entscheidende gedankliche Voraussetzung dafür, daß er in die Rolle Christi hinübertretenkonnte, bot doch erst die lutherische Auffassung von der Leidensnachfolge. Als Ergebnis unserer Prüfung von Schönes Deutung des "Carolus Stuardus" bleibt also festzuhalten: Die Christus-Carolus-Gleichung ist zu beschränken auf den exemplarischen Aspekt des Leidens Christi, der jede Erhöhung des Königs zu einer Erlösergestalt ausschließt. ,Wie Christus' leidet Carolus als Märtyrer flir göttliches Recht, das in seinem Falle das des religiös begründeten Königtums ist. Die Gleichheit wird aber immer dann aufgehoben, wenn es um die Heilsbedeutung der aus Schuld und Verdammnis rettenden Passion Christi geht. Das Nebeneinander von Gleichheit und Ungleichheit mit Christus, das sich im "Carolus Stuardus" vor allem als Nebeneinander von Schuld und Unschuld des Königs darstellt, muß aus dem Rückgriff auf die verschiedenen Aspekte der lutherischen Passionsdeutung verstanden werden.
(in der 1. Auflage wieder als ein Beispiel für den "Säkularisationscharakter" der "fIgUralen Gestaltung": S. 234, in der 2. Auflage als Beispiel für "die breite Verwendungsmöglichkeit dieser Übertragungskategorie": S. 279). 91 "Herr, der du Fürsten selbst an deine stat gesetzet, Wie lange sihst du zu?" fragt der Chor (I, 321 f.).
98
Teil 11 PASSIONSLIBREm Kapitel 4: Poetologische Aspekte des Librettos als geistlicher Dichtung Wenn wir uns nach der Untersuchung des protestantischen Passionsverständnisses seit Luther nun den Passionslibretti des frühen 18. Jaluhunderts zuwenden, um deren Deutung des Leidens und Sterbens Christi mit jener der Predigten und Erbauungsschriften zu vergleichen, so müssen zunächst der Sinn und die Berechtigung dieses Vorgehens dargelegt werden. Es muß deutlich gemacht werden, inwiefern die Passionslibretti nur von der im ersten Teil dieser Arbeit entfalteten Passionstradition her zureichend zu verstehen sind. Dazu genügt nicht der allgemeine Hinweis darauf, daß ohne kirchliche Vermittlung die dichterische Gestaltung und Deutung eines biblischen Stoffes, vor allem eines für das religiöse Leben so zentralen wie der Passion, gar nicht denkbar seien. So richtig dies sein mag, so wenig begründet es doch die Möglichkeit eines dezidierten theologischen Vergleichs, wie er im folgenden durchgeführt werden soll. Denn jener Hinweis läßt die im weitesten Sinne verstandene - literarischeVerschiedenheit der Vergleichsgegenstände unberücksichtigt. Es wäre ja möglich, daß angeblich theologische Differenzen zwischen den Passionsauffassungen der Libretti und der Predigten in Wirklichkeit durch den Unterschied der Gattungen und deren Eigengesetzlichkeiten, durch den der jeweiligen Intention und der ,Adressaten' bedingt sind. Um also Klarheit über die Bedingungen und Möglichkeiten eines Vergleichs zu gewinnen, müssen zunächst einige poetologische Aspekte der geistlichen Dichtung des 16.-18. Jaluhunderts geklärt werden. Das kann allerdings nur in einer stark gerafften und vereinfachenden Darstellung geschehen. 1 Durch sie soll lediglich der Rahmen abgesteckt werden, innerhalb dessen sich das Verhältnis der verschiedenen Formen des Passionslibrettos zur kirchlichen Passionstradition bestimmen läßt.
1. Bedeutung und Geltung des niederen Stils in der geistlichen Dichtung Grundlage aller Erörterungen über Rhetorik und Poetik im christlichen Bereich war bis ins 18. Jaluhundert hinein, ausgesprochen oder unausgesprochen, Augustins Schrift "De doctrina christiana ". 2 In ihr wandelt Augustin die an den Gegenständen orientierte
1 Diese Ausflihrungen stützen sich weitgehend auf Ergebnisse des dJ:itten, theologisch bedeutsamsten Teils des Krummacherschen Gryphius-Buches, "Zur Poetik der geistlichen Dichtung im 17. Jahrhundert", sowie auf die im Literaturverzeichnis genannten Aufsätze von Auerbach und Dyck. 2 Augustin, De doctrina christiana, Buch IV, bes. die Kap. 17-19, 28.
99
ciceronische Lehre vom hohen. mittleren und niederen Stil dergestalt ab, daß er die genera dicendi den Redezwecken zuordnet. Für die christliche Rede, die wegen ihrer ausschließlich erhabenen Gegenstände nach der herkömmlichen Stilregel nur den hohen Stil benutzen dürfte, sollen Augustin zufolge je nach dem Zweck der Rede - dem Rühren (flectere, movere), dem Ergötzen (delectare) und dem Belehren (docere)3 auch die anderen genera zulässig sein. Nun ist der vornehmlichste Zweck der geistlichen Rede die Belehrung, und diesem ist insbesondere der einfache Stil (genus, stilus oder sermo humilis) zugeordnet, ein an der Bibel orientierter Mischstil, dessen tiefste theologische Begründung in seiner Entsprechung zum Geheimnis der Inkarnation gesehen wird: Gott selbst erweist in Christus seine humilitas. 4 Daher "gewinnt der niedere Stil in allen Erörterungen einer christlichen Literaturtheorie besonders breiten Raum, wenn nicht sogar - unter Berufung auf Augustins Bevorzugung der Sache vor den Worten, der Wahrheit vor der Form - ausschließliche Geltung". 5 Nicht nur für die geistliche Rede, sondern auch für die geistliche Dichtung besitzt der stilus humilis bis ins frühe 17. Jahrhundert eine weitgehende Verbindlichkeit. Denn auch sie dient dem Zweck des docere, insbesondere der Unterweisung der Ungelehrten und der Jugend. Diesen Zweck erfüllt sie nicht zuletzt als paraphrasierende Bibe/dichtung, die schlicht, ohne bedeutenden rhetorischen Schmuck, ohne eigene dichterische Erfmdung das Wort der Schrift einprägsam nachgestaltet. Die unübersehbare Fülle von Nachdichtungen biblischer Texte, vor allem der kirchlichen Perikopen, aus allen Epochen der christlichen Literaturgeschichte beweist die weitreichende Geltung dieses Dichtungsverständnisses. Daß Luther es aufgreift und daß protestantische Dichter ihre Werke nachdrücklich in den Dienst der gereinigten Wortverkündigung stellen, erscheint nur folgerichtig. 6 Wie aber die Verkündigung bereits gegen Ende des Reformationsjahrhunderts nach einem tieferen Frömmigkeitserleben strebt, so auch die ihr verpflichtete Dichtung. Wenn in Vorreden zu geistlichen Dichtungen die Wahl des stilus humilis begründet wird, dann geschieht dies jetzt meist unter Hinweis auf die Frömmigkeit des Verfassers als Anlaß und die Weckung der Andacht als Zweck der Dichtung. Andacht ist dabei die subjektive Entsprechung zur Belehrung, die Aufnahme und Verinnerlichung des in der Lehre Gehörten: das, was die Predigt das Bedenken nennt. Solches Bedenken leistet die Dichtung im niederen Stil, indem sie nun nicht mehr nur das Schriftwort nachdichtet, sondern auch dessen Auslegung. Die Bindung an Vorgegebenes bleibt das Merkmal dieser Dichtung, aber sie wird erweitert: "Sie kann sich als paraphra-
3 Häufig wurde die Diskussion allerdings auf den hohen und den niederen Stil beschränkt, vgl. Krummacher, a.a.O., S. 422.Anm. 50. Auch in der Auseinandersetzung um die Passionslibretti haben wir es nur mit einer Zweistillehre zu tun. Der mittlere Stil spielt keine Rolle. 4 Vgl. dazu E. Auerbach, Sermo humilis, S. 34 ff. 5 Krummacher, a.a.O., S. 412. 6 Vgl. die eindrückliche Fülle von Belegen bei Krummacher, a.a.O., S. 91-123.
100
sierende Dichtung auch auf andere als Bibeltexte erstrecken, oder sie kann neben den Bibeltext dessen Auslegung stellen oder sie mit ihm verbinden und damit in engen Zusammenhang mit der Exegese treten." 7 Die Quellen der Auslegung, durch deren Einbeziehung geistliche Dichtung der Andacht dienen will, sind mündliche und gedruckte Predigten. Daß die Dichtung in vielfältiger Weise deren exegetische Motive benutzt, zeigt Krummacher für die Passionsdichtung des jungen Gryphius, "Tränen über das Leiden Jesu Christi". Sie ist eine getreue Paraphrase der Bugenhagensehen Passionsharmonie mit vielen deutenden Einfligungen, die aus der exegetischen Tradition stammen. In dieser Tradition der auslegenden geistlichen Dichtung im niederen Stil steht, wie wir sehen werden, auch noch eine bestimmte Gruppe von Passionslibretti des frühen 18. Jahrhunderts. Eine für die Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts sehr bezeichnende Form der vorlagengebundenen geistlichen Dichtung ist die Nachdichtung bekannter Werke der Erbauungsliteratur oder von Teilen daraus. So werden etwa Gebete aus Arndts ~aradißgärtlein" (1612) vielfach in geistliche lieder umgesetzt. 8 Ebenso bilden J. Gerhards "Meditationes sacrae" (1606) die Vorlagen zu vielen liedern. 9 Zur "literargeschichtliche(n) Bedeutung" von Mollers "Meditationes sanctorum Patrum" (I 1584, 11 1591) gehört nicht zum wenigsten, daß das Werk ~ahlreichen Kirchenliederdichtern den Text zu ihren Dichtungen gegeben hat".l0 Von S. v. Birken und anderen Mitgliedern des Nürnberger Dichterkreises kamen unter dem Titel "Der Geistlichen Erquickstunden des Fürtrefflichen Theologi H. Doct. Heinrich Müllers ... Poetischer Andacht-Klang" (1673) Nachdichtungen der bekannten Tischandachten Müllers heraus .11 Diese ganze Gruppe von Dichtungen nach Erbauungstexten übernahm von der Bibeldichtung den Grundsatz größtmöglicher Texttreue. Die Vorteile der dichterischen Form sah man in ihrer Einprägsarnkeit und in der seit alters bekannten bedeutenden Wirkung von Vers und Rhythmus (und Melodie) auf das Gemüt des Menschen, die es in den Dienst der Andacht zu stellen galt. 12
7 Krummacher, a.a.O., S. 439. 8 Z. B. von Rist, Heermann, Schmo1ck, P. Gerhardt; vgl. Althaus, Forschungen zur evangelischen Gebetsüteratur, S. 152 f. Noch 1723 erscheinen "Poetische Gedancken, Uber Des Hocherleuchteten nunmehr Seeligen Arnds Paradieß-Gärtlein, Von einem Lie bha ber dessen hin terlassenen Schrliften verfasset"; vgl. Krummacher, a.a.O., S. 523.
9 Z. B. zu Rists "0 Ewigkeit, du Donnerwort", vgl. Althaus, a.a.O., S. 153. 10 Althaus, a.a.O., S. 135. 11 Eine Auswahl aus diesen 50 Liedern findet sich bei Fischer-Tümpel, Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, V, Nr. 63,106,139,145-147,162,167-170,178-179. Für diesen Hinweis danke ich Herrn M. Jacob, Berlin (Ost).
12 Vgl. die Belege bei Krummacher, a.a.O., S. 114-123.
101
Die Tatsache, daß die Nachdichtung von Texten aus dem Bereich der Erbauungsliteratur , mit oder ohne Angabe der Quelle, ein allgemein anerkanntes und beliebtes Verfahren der geistlichen Dichtung war, ist für unsere Frage nach der Vergleichsmöglichkeit von poetischen und lehrhaft-erbaulichen Passionstexten von entscheidender Bedeutung. Sie rechtfertigt, ja sie fordert diesen Vergleich; wiederum wird sie auch ihrerseits durch den Vergleich erhärtet. Nun ist zwar die Bindung an Vorlagen ein Kennzeichen der geistlichen Dichtung nur im niederen Stil. Dessen Vorherrschaft über die geistliche Dichtung überhaupt im 16. Jahrhundert ist jedoch kaum bestritten. Sie muß aber "zum Problem werden, wo sie im frühen 17. Jahrhundert durch das Wirken der Fruchtbringenden Gesellschaft und das folgenreiche Auftreten des Opitz zusammentrifft mit dem aus der humanistischen neulateinischen und außerdeutschen national-sprachlichen literatur gespeisten Streben nach einer neuen deutschen Sprachkunst, deren Ziel die geschmückte poetische Rede ist und der die an den Sachen orientierte Verteilung der genera dicendi selbstverständlich wird.,,13 In dem nun sich entwickelnden Streit um den der geistlichen Dichtung angemessenen Stil heben die radikalen (nun erst zur Polemik genötigten) Vertreter des sermo humilis den unversöhnlichen Gegensatz zwischen weltlichem Gepränge und christlicher Demut, zwischen äußerer Schönheit un4 Wahrheit hervor und verabsolutieren Augustins Forderung, in der geistlichen Rede die Form der Wahrheit und die Worte der Sache unterzuordnen. Die Gegenposition vertreten Dichter wie Gryphius, S. v. Birken und S. Dach weitaus gemäßigter, indem sie - ebenfalls unter Berufung auf Augustin, aber auch auf andere Kirchenväter und auf die Bibel, die durchaus hohe Dichtung und geschmückte Rede enthalte - die Zulässigkeit des hohen neben dem anerkannten und auch von ihnen selbst angewandten niederen Stil verteidigen. Die Ausführlichkeit, mit der etwa Gryphius in der Vorrede zu seiner Passionsdichtung nach dem Hinweis auf deren schlichte Schreib art die Verwendung des hohen Stils in geistlichen Dichtungen rechtfertigt l4 • zeigt deutlich, daß sie der Rechtfertigung und Verteidigung noch bedarf. Während die weltliche Dichtung unter dem Einfluß Opitz' und der Sprachgesellschaften die Stilgesetze der antiken Rhetorik übernimmt, kommt es in der geistlichen Dichtung zu einer"Variabilität der Stillagen, die der weltlichen fremd ist .• 15 Je mehr sich allerdings um die Wende zum 18. Jahrhundert die Bindung der geistlichen Dichtung an die biblische und exegetische Tradition lockert, desto mehr schwindet das Bewußtsein von den zwei Hauptmöglichkeiten ihres Stils. Untergründig wirkt es
13 Krummacher, a.a.O., S. 421. 14 GA 11, S. 98 f.
15 Krummacher, a.a.O., S. 429. Krummacher weist überzeugend nach, daß die viel gerühmte und oft falsch verstandene Einfachheit des geistlichen Liedes im 17. Jahrhundert die des sermo humilis ist, und er fordert, diese Stilmöglichkeit "in das meistens enger gehaltene Bild des Barock aufzunehmen" (S. 432).
102
jedoch wohl bis heute nach 16 , und vor allem hat sich die geistliche Dichtung auch ohne das deutliche Wissen um diese zwei Möglichkeiten weiterhin in den von ihnen gewiesenen Bahnen bewegt. Als ein Beispiel dafür aus dem frühen 18. Jahrhundert haben wir die zwei wichtigsten zeitgenössischen Formen des Passionslibrettos zu betrachten. Nicht nur prägen sich in ihnen jene beiden Stilarten geistlicher Dichtung in zeitgemäßer Gestalt aus, sondern in der Auseinandersetzung um sie wiederholt sich auch der alte Streit um die Berechtigung der Dichtung im hohen Stil. Um dies zu zeigen, werden wir, nach einer kurzen Bestimmung der verschiedenen Formen des Passionslibrettos, in diesem Kapitel zunächst das Passionsoratorium in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken müssen. 2. Die Hauptfonnen des Passionslibrettos Für die Hauptformen der musikalischen Passion im frühen 18. Jahrhundert haben sich die Bezeichnungen oratorische Passion, Passionsoratorium und Passionskantate allgemein eingebürgert. Die oratorische Passion ist die der alten liturgischen Evangelienlektion am nächsten verwandte Passionsform. nu Grundelement ist der Evangelistenbericht; ihre Gestaltung ist also prinzipiell episch und bleibt es auch dort, wo die vorkommenden Personen wen Part selbst sprechen bzw. singen. Außer dem Evangelistenbericht gehören zur oratorischen Passion im 18. Jahrhundert frei gedichtete Einlagen: Rezitative, Arien und Choräle. Typologisch, nicht historisch lassen sich die beiden anderen Passionsformen als einseitige Weiterentwicklungen der oratorischen Passion verstehen. Im Passionsoratorium verselbständigen sich die dramatischen Ansätze, die im Singen mit verteilten Rollen bereits lagen; die Fessel des epischen Berichts wird abgestreift, so daß eine ,natürlich' aus sich selbst fließende Handlung entsteht. Daneben enthält das Oratorium noch betrachtende Einlagen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Handlung stehenden Gestalten zugeteilt sein können. Erstere. sind jedoch für diese Passionsform typischer. Die Gestaltung des Passionsoratoriums ist also prinzipiell dramatisch trotz der lyrischen Momente, die in ihm vorkommen. 17 Verselbständigt sich andererseits das betrachtende Element, das beide
16 Krummacher (a.a.O., S. 417, Anm. 39) verweist auf entsprechende Äußerungen von J. Klepper und S. Stehmann, die J. Pfeiffer in .Dichtkunst und Kirchenlied", Hamburg 1961, S. 151 f., 165, 191 überliefert. 17 Die eindeutige Definition Scheibes im .Kritischen Musikus" (173 7), Oratorien seien .nichts anderes als eine ins kurze gezogene Gattung theatralischer Stücke" (zit. bei W. Lott, Zur Geschichte der Passionskompositionen von 1650-1800, in: Archiv für Musikwissenschaft 3, 1921, S. 300), soUte nicht unter Hinweis auf mancherlei Mischformen als .einseitig" zurückgewiesen werden (Lott, ebd., mit Berufung auf A. Schering, Geschichte des Oratoriums, Leipzig 1911). Die uferlose Verwirrung um diese Gattung in der musikwissenschaftlichen Literatur kann nur von der Anerkennung einer Grundform her beendet werden, innerhalb deren dann selbstverständlich Differenzierungen vorgenommen werden müssen. Dies geschieht ja schon bei Scheibe, wenn er zwischen .poetischen Oratorien" und solchen, die .poetisch und prosaisch zugleich" eingerichtet seien, unterscheidet. Scherings Erklärung, es handle sich bei diesen beiden Formen um reine
103
vorgenannten Formen auch aufweisen, dann entsteht die Form der Passionskantate, in der das Passionsgeschehen als bekannt vorausgesetzt und lediglich als Anlaß der Betrachtung ausschnittweise erinnert wird. Die Gestaltung dieser Form ist also grundsätzlich lyrisch. IB Die hier vorgenommene, gewiß etwas schematische Zuordnung der Passionsformen zu den herkömmlichen literarischen Gattungen soll nicht etwa die differenzierte Beschreibung ersetzen - es gibt wie meistens in solchen Fällen mehr Zwischenformen als reine Ausprägungen -, sondern lediglich der terminologischen Verwirrung entgegenwirken, die infolge des Mangels an begrifflicher Klarheit in der Sekundärliteratur entstllIlden ist. 19 3. Das Passionsoratorium als geisttiche Dichtung im hohen Stil Da jede dieser Grundformen in sich bereits Elemente einer oder sogar beider anderen enthält, ist es nicht verwunderlich, daß sich ständig neue Mischformen bilden, die dem literarischen und musikalischen Zeitgeschmack folgend entweder den dramatischen oder den lyrischen Charakter stärker betonen. 20 Ober die Einflüsse, denen das Passions(dramatische) Oratorien und oratorische Passionen wie diejenigen Bachs (a.a.O., S. 328), übersieht die Fortsetzung des Zitats bei Scheibe: .Dramatisch aber muß es allemahl seyn, und es findet keinesweges eine epische Einrichtung statt." (zit. bei Lott, a.a.O., S. 300) 18 Solche Passionskantaten sind z. B. die Estomihi-Kantaten .Jesus nahm zu sich die Zwölfe" (BWV 22) und .Sehet! wir gehen hinauf nach Jerusalem" (BWV 159). Allerdings bezeichnet man häufig auch Passionen wie C. W. Ramlers .Der Tod Jesu" (1755, Musik von C. H. Graun) oder Telemanns .Seliges Erwägen des bittern Leidens und Sterbens Jesu Christi" (1719) als Passionskantaten, Werke also, die sich nur durch ihren geringeren Umfang von einem Passionsoratorium oder einer oratorischen Passion unterscheiden. Nun .ist aber leicht einzusehen, daß . Kürze oder Länge keine sehr zuverlässigen Kriterien flir die Unterscheidung textlich-musikalischer Gattungen sind. Empfehlenswert wäre daher der Verzicht auf die Bezeichnung .Kantate" bei diesen Werken und ihre Zuordnung zum Passionsoratorium, sofern ihre Betrachtungen in einen dramatisierenden Rahmen eingespannt sind (wie im Falle des .Seligen Erwägens") oder zur oratorischen Passion, sofern epischer Bericht den Rahmen bildet (wie im Falle des.Tod Jesu "). Dagegen sollte man die ,Kantate' nicht deshalb dem Oratorium zurechnen, weil beide eine .reimweise Nachbildung der evangelischen Erzählung" verwenden (LoU, a.a.O., S. 300). Denn nicht die Versifizierung, sondern die Dramatisierung des Evangelistenberichts ist das Kennzeichen des Oratoriums, während der epische Bericht, auch in Versform, das Grundelement der oratorischen Passion bildet. Diese typologische Unterscheidung wird im folgenden am historischen Material zu verifizieren sein. 19 Insbesondere das Wort .dramatisch" wird oft im umgangssprachlichen Sinne f\jr .lebhaft", "leidenschaftlich" gebraucht und auf alle drei Formen angewandt. Demgegenüber soll das Wort hier nur Verwendung finden, wenn es das Oratorium als ganzes oder solche Stücke aus anderen Formen bezeichnet, die einen eindeutigen Handlungscharakter haben, mit denen also der Sprechende (Sänger) direkt in die Handlung eingreift. Dies ist z. B. der Fall bei vielen Slücken der Brockes-Passion, deren Anlage gleichwohl insgesamt episch ist. Dazu s. das folgende Kapitel. 20 Diesem Stilwandel der Passion zwischen 1650 und 1800 ist Lott in seinem o. g. Aufsatz nachgegangen, in dem er eine Fülle an historischem Material zugleich in eine systematische Ordnung zu bringen versucht. Aus der gegenseitigen Durchdringung der Formen ergeben sich ihm zufolge
104
libretto seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ausgesetzt ist und die seine verschiedenen Wandlungen bewirken, besteht in der Forschung eine bemerkenswerte Einigkeit. Genannt werden stets der Einfluß der Oper und der des Pietismus. Die "Verirrung zur Oper,,21 ist auf die übernahme dieser italienischen Kunstform in die Kirchenmusik zurückzufUhren. Nachdem die 1678 gegründete Hamburger Oper mit der Aufflihrung biblischer Opern sehr erfolgreich war, lag der Gedanke nicht fern, auch den an wirkungskräftigen theatralischen Situationen reichen Passionsbericht als Stoff ftir ein deutsches Oratorium zu verwenden. Das geschieht zum ersten Mal durch C. F. Hunold (Menantes) in "Der Blutige und Sterbende Jesus" (1704), einem Oratorium, das wegen seiner Bedeutung ftir die Geschichte der Passion hier wie in der gesamten literatur zum Thema ausflihrlicher behandelt werden muß. 22
a) C. F. Hunolds und E. Neumeisters Berufung auf das italienische Oratorium
,,Ein ganz neues Bild tritt hier vor uns hin", schreibt Zarncke über Hunolds Passion. "Weder der alte Eingang23 , noch ein Danklied am Schlusse24 , Nichts mehr von der Rolle des Evangelisten, Nichts überhaupt mehr vom Evangelientexte. Wir fmden einfach eine Oper, die man sich auf der Bühne aufgefUhrt denken könnte. Nur als Zwischenbemerkung, gewissermaßen als scenische Anweisung, werden noch einige Worte aus dem Bibeltexte oder doch ein Anklang an sie verwandt ... Die Personen sind natürlich die des Evangelientextes, denen zum Schlusse nur noch ein ,Chor der Weiber und Jünger' hinzugefügt ist. Daneben aber hat der Dichter zwei weibliche Rollen eingeflihrt, einmal eine symbolische, die Tochter Zion, bei deren Worten meist Stellen aus dem Hohenliede Salomonis zu Grunde liegen, und darrn die Mutter des Herrn, Maria. Sie vertreten eigentlich die Stimmung der Gemeinde, und oft könnte man glauben, es wirklich mit Chorgesang oder selbst Gemeindegesang zu thun zu haben, bis dann wieder eine specielle Bezeichnung diese Behauptung als unrichtig erweist. ,,25 Denrnach ist es charakteristisch ftir dieses Oratorium, daß es sich einerseits in der Darstellung der Handlung sehr weit vom Bibeltext entfernt, ihn also wirklich nur noch als Stoff behandelt, andererseits
sechs "Schichten": vom Passionsoratorium über vor allem lyrisch geprägte bis zu neuerlich das Dramatische betonenden Formen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Daneben bestand jedoch die oratorische Passion bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte im wesentlichen unver· ändert fort.
21 F. Zarncke, Christian Reuter als Passionsdichter, S. 333. 22 Der Text ist abgedruckt in Hunolds "Theatralischen, Galanten und Geistlichen Gedichten", 1706. 23 Er lautete: "Höret das Leiden unsers Herrn Jesu Christi nach dem Evangelisten. ' ," o. ä. 24 Die sog. Gratiarum actio, meist eine Choralstrophe wie etwa "Nun wir danken dir von Herzen". 25 Zarncke, a,a.O., S, 336 f. Textproben aus dem Oratorium a.a.O., S. 337-343,
105
aber, in den betrachtenden Partien (Tochter Zion), ganze Passagen aus dem seit alters auf die Passion Christi bezogenen Hohenlied umdichtet. 26 Hunolds häufig zitierte, in ihrer Bedeutung jedoch nirgends voll ausgeschöpfte Rechtfertigung seiner Neuerungen im Vorwort seiner Gedichtsammlung von 1706 gibt wichtige Aufschlüsse über die Gründe, die ihn zur Oratorienform geführt haben, und über die Absichten, die er damit verbindet. Er schreibt: "Zwar so man diese Passion nach Art der andern einrichten wollen! würde man die Entschuldigung seiner Unvollkommenheit nicht nöhtig haben! weil man so dann durch den Evangelisten und aus Büchern gezogenen geistlichen Gesängen sich helffen können. 27 Allein so hat man. gemeinet! dieses Leiden! welches wir ohne diß nicht lebhafft gnung in unsere Hertzen bilden können! bey dieser heiligen Zeit nachdrücklicher vorzustellenl wenn man es durchaus in Versen und sonder Evangelistenl gleich wie die Italiänische so genannte Oratorien, abfaste! so daß alles auf einander aus sich selber fliesset. Ein vortreflicher Mann in Weissenfeis hat durch seine heraus gegebene geistliche Cantaten gewiesen! wie unvergleichlich man seine Poesie in der Schrifft anwenden könnel und solche werden in dasiger Kirche wie auch zu Leipzig nicht sonder Andacht alle Sonntage musiciret; Also wird auch unser Oratorium bey der heiligsten Materie paßiren."28 Hunold beruft sich für sein Vorgehen auf zwei Vorbilder: auf das italienische Oratorium und auf Erdmann Neumeister, den "vortreflichen Mann in Weissenfels", der mit seiner freien dichterischen Behandlung des Bibeltextes einen neuen Kantatentypus geschaffen hatte. 29 Seine zahlreichen, zwischen 1700 und 1752 erschienenen Kantatenjahrgänge bestanden aus Betrachtungen zu den Sonn- und Festtagsevangelien in Fonn von Rezitativen und Arien. 30 Daß er damit bewußt die dichterischen Mittel der italienischen
26 Diese in der Folgezeit sehr beliebt gewordene Rolle hat noch Picander in die Bachsehe MatthäusPassion übernommen. Eine Textprobe aus Hunolds Oratorium mag die Nähe zu Picander (Beginn des Zweiten Teils) zeigen: "Wo bleibet mein Verlangen? Wo ist Dein Freund denn hingegangen? Du schönstes Weib, das eh die Welt gekannt, Wo hat Dein Freund sich hingewandt? Mein Freund ging hin in seinen Garten; Mein Freund wird jetzt der Rosen warten." (Theatralische ... Gedichte, S. 25; zit. bei Zarncke, a.a.O., S. 337) Daß auch die der biblischen Sprache Cernstehenden gedichteten Partien des Oratoriums nicht allein dem Geist der Oper, sondern auch der Tradition der Passionsauslegung verpflichtet sind, kann hier nur angedeutet werden. Bei Brockes liegen die Verhältnisse ähnlich, und bei der Behandlung seiner Passionsdichtung werden ausflihrliehe Nachweise flir diese Behauptung erbracht.
27 Diese leicht verächtliche Bemerkung zielt natürlich auf die oratorische Passion. 28 Theatralische ... Gedichte, S. 4 C.;zit. bei Zarncke, a.a.O., S. 336. 29 Vgl. Spitta, Bach I, S. 467 er.; A. Dürr, Die Kantaten von J. S. Bach, S. 17.: 30 Nach dem,ersten Jahrgang benutzte er auch Bibelwort und Choral.
106
Oper für die Kirchenmusiktexte fruchtbar gemacht habe, erklärt er selbst in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner "Geistlichen Cantaten" von 1704: "soll ich's kürtzlich aussprechen, so siehet eine Cantata nicht anders aus, als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt.,,31 Wenn sich also Hunold auf Neumeister beruft, so scheint er sich damit lediglich einer anerkannten Autorität für sein Passionsoratorium zu versichern. 32 Vergleicht man jedoch die Ausführungen Hunolds und Neurneisters über die Vorteile opernhafter Formen für Kirchenmusiktexte, so schwindet der Eindruck der Gemeinsamkeit rasch. Wäluend Hunold vor allem den dramatischen Aufbau des Oratoriums auf die Passion übertragen will und sie demgemäß "sonder Evangelisten" so gestaltet, "daß alles auf einander aus sich selber fliesset", sind für Neurneister die Vorteile der genannten Opernformen rein dichtungs- und verstechnischer Art: Er erklärt, daß man zum Rezitativ möglichst kurze jambische Verse nimmt, nur ausnahmsweise auch einmal trochäische oder daktylische; daß die Arien aus einer oder zwei Strophen bestehen sollen und "einen Affect, oder ein Morale , oder sonst etwas besonderes in sich halten", daß das "sogenannte Capo" für die Musik sehr vorteilhaft sei usw. 33 Daß es ihm nicht, wie Hunold, um die dramatische Versifizierung biblischer Geschichten, sondern um die betrachtende Auslegung biblischer Texte in Versform geht, kommt klar in den folgenden Sätzen aus derselben Vorrede zum Ausdruck: "Wenn die ordentliche Amts-Arbeit des Sonntags verrichtet, versuchte ich das Vornehmste dessen, was in der Predigt abgehandelt worden, zu meiner PrivatAndacht in eine gebundene Rede zu setzen und mit solcher angenehmen Sinnesbemühung den durch Predigen ermüdeten Leib wieder zu erquicken. Woraus denn bald Oden, bald poetische Oratorien und mit ihnen auch gegenwärthige Cantaten gerathen sind. ,,34
31 Zit. bei Zarncke, a.a.O., S. 334; Spitta, Bach I, S. 467. 32 So werden seine Worte in der Forschung auch durchweg verstanden; vgJ. z. B. Spitta, Bach 11, S. 321 f. Zamcke ist der einzige, der zumindest in Frage stellt, "ob die Consequenz, die Hunold aus Neumeister's Cantaten zog, die voUkommen richtige war" (a.a.O., S. 335). 33 Vgl. Spitta, Bach I, S. 467 f. 34 Zit. bei Spitta, Bach I, S. 468. - Vermutlich sind mit den ~poetischen Oratorien" Erzeugnisse wie die von Spitta erwähnten Werke "Die Frucht des Geistes" und "Das gottselige Geheimniß" gemeint (Bach I, S. 470), die jedoch ebenfalls schon vom Titel her eher betrachtende Dichtungen erwarten lassen. Auf jeden Fall rechnet Neumeister selbst sie auch zu den aus Predigten erwachsenen Dichtungen. - Die Beziehung der neuen Kantate zur Predigt wurde von Winterfeld bereits gesehen, obgleich er Neumeisters Erklärung offensichtlich nicht kannte. "Der Kunstgesang der evangelischen Kirche, um die Formen des musika1ischen Drama sich anzueignen, begann in den allgemeinen Umrissen seiner Gestalt um den Beginn des achtzehnten Jahrhunderts die Predigt zum Vorbilde zu wählen. Das Schriftwort, motetten- oder concerthaft gefaßt, bildete den Text, Recitative, Arien, Duetten predigten darüber; als Vertreter der Gemeine blieb das Kirchenlied stehen ... " (K. v. Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang und sein Verhältnis zur Kunst des Tonsatzes, Bd. III, S. 61). Spitta weist diese Deutung ausdrücklich zurück und erklärt den Bezug zur Predigt für unwesentlich (Bach I, S. 470). Dies mußte sich angesichts der Bedeutung seines Werkes für die gesamte Bachforschung verhängnisvoll auswirken: Erst in der neueren, theologische Aspekte stärker einbeziehenden Bachforschung wird man allmählich und gerade von Neumeisters Erklärung ausgehend wieder auf einen Zusammenhang zwischen Predigt und Kan-
107
Neumeister überträgt also (seine) Predigten in geistliche Dichtungen, die der Andacht dienen sollen. Mit diesem Verfahren und mit dieser Zweckbestimmung steht er eindeutig in der Tradition der vorlagengebundenen Dichtung im niederen Stil. Er hat dieser Tradition lediglich die modemen dichterischen Formen des italienischen Oratoriums nutzbar gemacht. Hat man erst einmal zur Kenntnis genommen, mit welch verschiedenartigen Begründungen sich Hunold und Neumeister auf das Oratorium bzw. die Oper beziehen, so liest man plötzlich auch Hunolds Berufung auf Neurneister in jener Rechtfertigung des Passionsoratoriums mit neuen Augen. Wird Neumeister dort doch gar nicht, wie allenthalben behauptet, als Gewährsmann für die Einführung des dramatischen Oratorienstlls in die geistliche Dichtung in Anspruch genommen, sondern - ganz zutreffend - für die Anwendung "seine(r) Poesie in der Schrifft", d.h. für eine (paraphrasierende und auslegende) Bibeldichtung mittels der neuen Formen madrigalischer Rezitative und Arien, denen an sich, wie aus Neurneisters poetologischen Erläuterungen hervorgeht, nichts ,Dramatisches' anhaftet. 3S Für die erste Verwendung der Passionsgeschichte als Stoff für ein deutschsprachiges dramatisches libretto trägt Hunold allein die Verantwortung. 36 Nun genügt freilich die nicht selten im Ton moralischer Entrüstung getroffene Feststellung einer" Verirrung" der Passion zur Oper nicht zum Verständnis der theatralischen Passionsform im frühen 18. Jahrhundert, auch wenn Hunold und andere sich ausdrucklieh auf das Vorbild des weltlichen Oratoriums berufen. Der historische Befund wird mit dieser einlinigen Herleitung stark verkürzt und allzu leicht der Frage nach seiner Bedeutung entzogen. Denn der Wandel der Passion zum Oratorium erscheint dann wie der unbegreifliche und unvorbereitete Einbruch eines Fremden in die Tradition der literarisch-musikalischen Passionsdarstellung. Daß dies keineswegs so ist, daß vielmehr der Wandel zum Oratorium die zeitgemäße Ausprägung einer längst bestehenden Passionstradition ist, nämlich der Passionsdichtung im hohen Stil, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. tatendichtung aufmerksam, ohne freilich die Dichtungstradition zu erkennen, aus der dieser Zusammenhang in erster Linie zu verstehen ist (vgl. z. B. A. Dürr, 1. S. Bachs Kirchenmusik in seiner Zeit und heute). ' 3S Daß gleichwohl durch den Zusammenhang bei Hunold der irrige Eindruck entsteht, als könne er sich auch für den Aufbau seines Passionsoratoriums a:uf Neumeister berufen, mag ihm nicht unwillkommen gewesen sein. Die Forschung zur Geschichte der Passion ist diesem Irrtum jedenfalls auf der ganzen Linie erlegen. - Eine Bestätigung für die hier behauptete Verschiedenheit von Hunolds und Neurneisters Art, sich der Opernformen zu bedienen, findet sich bei Mattheson anläßlich seiner Verteidigung der theatralischen Kirchenmusik .•Daß Cantaten ordentlicher und eigentlicher Weise keine theatralische Music sind, ist so bekannt, daß es bey einem wahren Musico wenig gelten wird, wenn hundert Einwendungen von unerfahmen dagegen gemacht werden. Theatra brauchen bisweilen Cantaten: denn sie brauchen alles; aber deswegen sind Cantaten eben keine zur theatralischen Music gehörige Compositiones.· (Der musicalische Patriot, S. 220; zit. bei Winterfeld, a.a.O., S. 81)
36 Allerdings kann er sich zu Recht auf Neurneister berufen, wenn er sich in den betrachtenden Teilen seiner Dichtung von der traditionellen kirchlichen Auslegung des Passionsberichts leiten läßt, ihre Motive, Bilder, Deutungsformeln und Typen aufnimmt.
108
b) C. F. Hunolds, J. Matthesons und D. W. Trillers Rechtfertigung der Passionsdichtung im hohen Stil Den ersten Hinweis auf diese Tradition finden wir wiederum in Hunolds Verteidigung des Passionsoratoriums, mit dem er die Hoffnung verbindet, "dieses Leiden/ welches wir ohne diß nich lebhafft gnung in unsere Hertzen bilden können/ bey dieser heiligen Zeit nachdrücklicher vorzustellen". Er verfolgt also einen religiösen Zweck (Jesu Leiden "in unsere Hertzen bilden") und ist überzeugt, daß dieser durch seine Darstellungsweise besser zu erreichen sei als durch die herkömmliche. Weder mit dieser Auffassung noch mit ihrer religiösen Begründung steht Hunold allein. J. Mattheson, einer der Hauptverfechter der sog. "theatralischen Kirchenmusik", verteidigt sie in "Der musicalische Patriot" mit folgenden Worten: "Ich habe sonst in der Kirche ... eben die Absicht mit der Music, als in der Opera, nehmlich diese: Daß ich die Gemüths-Neigungen der Zuhörer rege machen, und auf gewisse Weise in Bewegung bringen will, es sey zur Liebe, zum Mitleid, zur Freude, zur Traurigkeit usw. . .. Hier allein, nehmlich bey dem Gottes-Dienst, sind gar hefftige, ernstliche, dauerhaffte und höchst-angelegentliche Gemüths-Bewegungen nöthig ... 37 Auch ihm ist es also um die Weckung starker Affekte zu tun, und zwar gerade in der Kirche. Er geht so weit, aus diesem Grunde und unter Hinweis auf die theatralischen Kunstmittel in den Psalmen jeder anderen als der theatralischen Kirchenmusik die Berechtigung abzusprechen. Durch das Vorbild etwa des 88. Psalms, eines "Stück(es) des Leidens Christi, das er persönlich abzusingen vorgestellet wird", sieht Mattheson "auch unsre Paßions-Musiken gebilliget, gerechtfertiget und geboten. "38 Die ausführlichste und flir unseren Zusammenhang wichtigste Verteidigung der dramatischen Passionsdichtung findet sich bei D. W. Triller im Vorwort zu seiner 1723 erschienenen übersetzung des "Christus Patiens" von Hugo Grotius. Triller ordnet das Jugendwerk des Grotius in' die Tradition des Trauerspiels über die Passion Christi ein und schlägt dabei einen Bogen von der Alten Kirche bis hin zu zeitgenössischen Werken, in denen "die Paßion als ein Trauer-Spiel, oder auf dramatische Art, flirgestellet worden" sei, und unter die letzteren zählt er ausdrücklich die Passionen der Hunold-Nachfolger Beccau und I(önig. 39 Was zu dieser dramatischen Gestaltung der Passion gehört, zeigt
37 A.a.O., S. 105 f.; vgl. Winterfeld, a.a.O., S. 76. 38 A.a.O., S. 285. Hier wird im übrigen deutlich, daß er auch da, wo er von der Kirchenmusik spricht, immer die ihr zugrundeliegende Dichtung mit meint. 39 Freilich nennt er in diesem Zusammenhang auch Brockes und Klaj, deren Passionswerke aber in je verschiedener Weise eine Sonderstellung innerhalb dieser Tradition einnehmen. Zu Klajs Oratorien vgl. W. Flemming, Einflihrung in "Oratorium, Festspiel", S. lOff.
109
Triller am Werk des Grotius auf, und zwar mit der doppelten Absicht, diese Art der Behandlung als die dem Stoff angemessenste zu verteidigen und die besonderen Vorzüge von Grotius' Dichtung hervorzuheben. Gemessen werden Stoff und Werk am Maßstab der aristotelischen Poetik. Fordert das Trauerspiel "eigentlich hohe Personen; so finden wir den höchsten Gott selbst darinnen. w4O Die Darstellung verschiedener und großer Affekte begünstigt der Stoff in besonderer Weise, "zumahl da fast die meisten HauptAffecten der Menschen in der Paßions-Geschichte vorkommen ... ; also daß alle die drey Stücken, welche Aristoteles zu einem Trauer-Spiel erfordert, das Erbärmliche, das Erschröckliche und Wunderbare hier zu befinden". Der Stoff bietet auch reiche Gelegenheit, durch wunderbare und dazu wahre "Zufälle" den Leser oder Zuschauer zu erschüttern, bis er "endlich nach und nach ... zu dencken anHingt, wie ihm damahls würde zu Muthe geworden seyn, wenn er dabey gewesen, welche Gedancken ihm auch so gar eine neue Furcht einjagen können". Schließlich kann "dieses Trauer-Spiel, so wohl was die Reguln-mäßige Einrichtung, und künstliche Abtheilung, als auch die majestätische und sententiöse Schreib-Art anbelangt, billig flir ein ... Meister-Stück passiren.,,41 Es ist unmittelbar einsichtig, daß Triller mit dieser Charakterisierung den "Leidenden Christus" einordnet in die Tradition der Passionsdichtung im hohen Stil. 42 Darauf verweisen eindeutig die starke Akzentuierung der affekthaltigen Darstellung und der Intention des ,;IIlovere", die Begründung des hohen Stils mit dem erhabenen Gegenstand (dem "höchsten Gott selbst") und die Betonung der kunstvollen "Einrichtung" und "schreib-Art". Folgen wir Trillers Gedankengang weiter, so zeigt sich, daß mit der Entscheidung für diese Art der Passionsdarstellung unvermeidlich auch wieder die Notwendigkeit auftaucht, sie gegen Einwände der Vertreter des einfachen Stils in geistlicher Dichtung zu verteidigen. Triller zitiert das ,.Argument", mit dem sich Grotius selbst schon auseinandersetzen mußte: "Es schickte sich nehrnlich nicht, daß man das Geheimniß unserer Seligkeit auff einem Theatro oder Schau-Platze vorstellete. ,,43 Trillers Auseinandersetzung mit diesem alten Vorwurf mangelnder Demut44 ist nun höchst aufschlußreich. Zunächst gibt er des Grotius' eigene Antwort darauf wieder: daß es gar nicht seine Absicht gewesen sei, das Trauerspiel aufführen zu lassen, sondern daß er lediglich "die Historische Erzehlung der H. Evangelisten, in eine Dramatische verwandelt", flir welche "Art den Text zu paraphrasiren" er sich auf alte und neue Vorbilder beruft. Diese Verteidigung mit dem Hinweis auf die Tradition dramatischer Passionsdarstellungen ist derjenigen ganz ähnlich, die wir bei Gryphius und anderen Dichtern des 17. Jahrhunderts finden. Triller genügt die Verteidigung offenbar nicht mehr. In der sicheren überzeugung, die bessere, richtigere Art der Passionsdarstellung 40 H. Grotius, Leidender Christus Trauer-Spiel, BI. b.
41 BI.
b
2v fr.
42 S. o. S. 102 f. 43 BI. b 4 v. 44 S. dazu die Belege bei Krummacher, a.a.O., S. 423 ff.
110
zu vertreten, stellt er seinerseits deren Kritiker in Frage. Er selbst könnte "doch die glOsse Sünde nicht absehen, wenn man eine dergleichen Heil. Historie auff dem SchauPlatze, unter der gehörigen Auszierung, und insonderheit einer wohlgesetzten und beweglichen Music, darstellete; und bin ich versichert, daß manchem Ruchlosen durch eine dergleichen lebendige Vorstellung ehe das harte Hertz schmeltzen würde, als wenn er SO. unkräfftige und hergeleyerte Predigten anhörete. ,,45 Die Bedeutung und Tragweite dieser Worte kann man nur richtig einschätzen, wenn man sie vor dem Hintergrund der entsprechenden Auseinandersetzung um die Passionsdarstellung im 17. Jahrhundert sieht. Damals mußte etwa Gryphius noch um die Anerkennung und Duldung der geistlichen (also auch der Passions-) Dichtung im hohen Stil neben der "schlechten", an Text und Auslegungstradition gebundenen und auf die ,,Andacht" abzielenden Passionsdarstellung kämpfen. Triller hingegen geht es nicht mehr nur um die Gleichberechtigung beider Stilarten, auch nicht nur um eine Vorrangstellung der Dichtung im hohen Stil, sondern im Grunde um deren alleinige Geltung. Seine abschätzige Bemerkung über die "unkräfftige(n) und hergeleyerte(n) Predigten" zeigt, daß die Dichtung jetzt mit der Predigt auf deren ureigenem Gebiet, dem der religiösen Passionsdeutung, in bewußte Konkurrenz tritt. Triller und, wie die ganz ähnlichen Äußerungen Hunolds und Matthesons zeigen, andere mit ihm halten die Passionsdichtung im hohen Stil fLir die bessere Passionsverkündigung. Wie ist dieser erstaunliche Wandel zu erklären? c) Erbaulichkeit als ,.Endzweck" aller Passionsdarstellung im frühen 18. Jahrhundert
Er hängt ganz entscheidend mit der Verselbständigung und Verabsolutierung des Moments der Wirkung in der Diskussion um die Passionsdarstellung zusammen. Wir sahen oben, daß in der auf Augustin zuriickgehenden Stillehre der Dichtung im hohen Stil der Redezweck des Rührens zugeordnet war. Du Geltungsbereich war jedoch gegenüber dem des sermo humilis insofern eingeschränkt, als sie sich nur an die Gebildeten wendete. Deren Geist und Herz sollte durch die kunstvolle, regelgerechte Darstellung großer Affekte bewegt und erhoben werden. Triller hebt diese Einschränkung auf, indem er die Intention des Rührens mit dem aus der aristotelischen Tragödientheorie aufgenommenen Gedanken einer umfassenden und tiefen Wirkung auf die Gemüter der Menschen durch die Unmittelbarkeit des Dramatischen verbindet. Die dramatische Darstellung der wunderbaren Ereignisse der Passion, so erwartet Triller, mache "das Gemüth so bestürtzt, biß endlich nach und nach der Leser zu denken anflingt, wie ihm damahls würde zu Muthe geworden seyn, wenn er dabey gewesen". Der Leser wird hineingerissen in die fiktive Gegenwart des Dargestellten, er wird "ausser sich selbst" gesetzt, und die Furcht, die er dabei erlebt, übt eine kathartische Wirkung aus. Wie wir gehört haben, glaubt Triller, daß durch die Intensität einer solchen Darstellung sogar mancher "Ruchlose"
45 BI. b 4 v f.
111
von Grund auf gewandelt werden könne. Die soziale Schranke der Dichtung im hohen Stil wird hier durch den Rekurs auf das Katharsis-Motiv der aristotelischen Poetik überwunden. Intendiert wird in dieser Passionsdars.tellung nicht mehr ein Bildungserlebnis, sondern ein Bekehrungserlebnis. Diese Zweckbestimmung aber nähert das Passionsdrama einer Auffassung vom Sinn der Passionsbetrachtung an, die von einer völlig anderen Geistesrichtung her im frühen 18. Jahrhundert ins allgemeine religiöse Bewußtsein eingedrungen ist. Gemeint ist die meist als pietistisch apostrophierte Auffassung, daß die Darstellung der Passion der Bekehrung und Besserung des Menschen dienen und daß sie, um dieses Ziel Zu erreichen, sein Herz und Gemüt rühren und erschüttern müsse. Wir fanden derartige Bestrebungen in der Passionspredigt z. B. bei Dilherr, in etwas anderer Weise auch bei Müller, die manche emotionalen Züge der herkömmlichen Predigt verstärkten, oder bei Rambach, der das ,monitum' der Passionsbetrachtung zu subtilen Gewissenserforschungen und moralischen Appellen erweiterte. Die weitgehende Angleichung der religiösen Intentionen macht das Pathos verständlich, mit dem Triller und an.dere die dramatische Passionsdichtung nicht mehr nur verteidigen, sondern als die dem religiösen Zweck einzig adäquate Form rühmen. Sie konnten sich mit dem Rückgriff auf di.e Tradition des hohen Stils46 und mit der übernahme moderner dichterischer Formen wie Rezitativ und Arie auf der Höhe des literarischen Geschmacks und mit der Intention des movere zugleich auf der Höhe des religiösen Bewußtseins ihrer Zeit flih.len. Freilich bleibt das Passionsoratorium bei dieser Verstärkung seiner religiösen Absicht nicht unverändert. Es nimmt aus der kirchlichen Passionstradition viele Bilder, Motive und Deutungsformeln auf, die es auch sprachlich der Passionsdichtung im niederen Stil annähern. Da umgekehrt die oratorische Passion, von derselben religiösen Intention geleitet, sich gern die emotionale Wirkung dramatisierendersprachlicher Formen zunutze macht, kommt es nicht selten zu einer Ver~ wischung der Grenze zwischen den verschiedenen Dichtungstraditionen. Passionsoratorium und oratorische Passion sind dann fast nur noch durch ihren dramatischen oder episc~en Gesamtplan zu unterscheiden. Dari~ freilich liegt ungeachtet aller Angleichung eine wesentliche Differenz, deren theologische Bedeutung später noch ausftihrlich zu erörtern sein wird.
46 Daß sie faktisch zu der an den Gegenständen orientierten Poetik zurückgekehrt sind, scheint . weniger gelehrten Dichtern wie HilOold kaum ZUm Bewußtsein gekommen zu sein. Auch Mattheson greift mit dem Hinweis auf den Stil der Psalmen ein Argument auf, mit dem im 17. Jahrhundert der hohe Stil in der geistlichen Dichtung verteidigt wurde, ohne die Tradition klar zu erkennen, in der er steht. Nur ein offensichtlich humanistisch gebildeter Mann wie Triller ist sich des Zusammenhangs der modernen dramatischen Passionsdichtung mit dieser älteren Dichtungstradition bewußt. Geliert und Klopstock haben allerdings, wie Krummacher überzeugend darlegt, die traditionellen Un terschiede zwischen den beiden Dich tungsarten noch einmal ausdrücklich für ihre Dichtungen fruchtbar gemacht. Vgl. Krummacher, Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock.
112
Das religiöse Selbstverständnis des Passionsoratoriums läßt nun auch verstehen, warum der mit den überlieferten Argumenten geführte Streit zwischen den Vertretern der alten und der neuen Passionsform jetzt so verwirrend und ergebnislos sein mußte. Dies sei abschließend an zwei Beispielen dokumentiert und erläutert. Anläßlich der Aufführung von Hunolds Oratorium "Der Blutige und Sterbende Jesus" richtete die Kirchenbehörde eine Beschwerde an den Senat, in der sie ihre Erwartung ausdrückt, daß dieser "dergleichen Attentatis" gegen die Kirchen- und Stadtordnung, "dabey wegen vieler Umbstände die Zuhörer und Zuschauer mehr geärgert, als erbauet werden, mit Nachdruck wehren möge". Ärgernis erregen dem Schreiben zufolge besonders "anstößige Redensarten", "als wenn er (seil. Hunold) im Vorbericht vermeinet, das Leyden Christi nachdrücklicher vorzustellen als die m. Evangelisten. ,,4 7 Diese Kritik richtet sich gegen die dramatische Form des Oratoriums, denn eben durch sie wollte Hunold jene nachdrückliche Wirkung erzielen. Daß gerade die mit der ,theatralischen' Ausgestaltung verbundene Absicht, den Hörer durch fiktive Teilnahme am Passionsgeschehen zu erschüttern, auf den Widerspruch der Geistlichkeit stieß, bezeugt besonders deutlich ein theologisches Gutachten, das sich 1710 gegen die Aufführung eines Passionsoratoriums von Georg Bronner48 wendet. Darin heißt es u. a., es sei "keine Erbauung davon zu hoffen, als daß die Ohren von der Musique etwas gekitzelt werden, massen ausser den bekannten wenig versiculn aus unseren gewöhnlichen Kirchenliedern der Rest sehr steril und in überflüssigen Erfrndungen außer, ja gegen Gottes Wort, unnützen Klagen, unkräftigen Exklamationen, weitläufigen Vorstellungen ohne Geist und Krafft, wie fast durchgehends bestehet, die größten Theils des rechten Zweckes der heiligen Passionsandachten verfehlen, wie denn unser seI. Herr Lüthers, wenn er von erbaulicher Betrachtung des Leydens Jesu handelt, nachdrücklich zeiget, daß der rechte eigentliche Endzweck der Passionsbetrachtung auf Erweckung rechtschaffener Busse, heiliger Glaubenskraft und Ermunterung zu einem gottgefaIligen Wandel zielen müsse ... die übrigen Dinge, als hefftigen invektiven und exclamationes wider Pilatum, Judam, die Juden (insonderheit, wenn ganze Abtheilungen damit angeflillet) kann es (seil. "ein Ev. Collegium") garnicht dulden ... ,,49 Diese Sätze sind in mancherlei Hinsicht bedeutungsvoll. Zum einen deshalb, weil sie in der Polemik gegen "überflüssige Erfindungen", "unnütze Klagen" und "unkräftige Exklamationen" die These von der Herkunft des Passionsoratoriums aus der' Tradition der hohen Dichtung bestätigen. Für diese Tradition nämlich sind poetische Erfindung (inventio) und geschmückte, affektstarke Rede (z. B. durch "Klagen" und "Exklamationen") kennzeichnend, in der kirchlichen Dichtung im sermo humilis jedoch sind
47 Zit. bei H. Hörner, Gg. Ph. Telemanns Passionsmusiken, S. 27.
48 "Geistliches Oratorium oder der gottliebenden Seele Wallfahrt zum Kreuz und Grabe Christi". 49 Zit. bei Hörner, a.a.O., S. 33.
113
sie nach der überkommenen Stillehre "überflüssig" und "unnütz". Zum anderen zeigt die Ablehnung der "invectiven und exclamationes wider Pilatum, Judam, die Juden", daß Luthers Warnung vor solcher den Nutzen der Passionsbetrachtung verdunkelnden rein emotionalen Haltung noch lebendig ist und daß man den einstigen katholischen Mißbrauch der Passion im Passionsoratorium wiederfindet. Schließlich aber und vor allem geht aus diesen Sätzen klar hervor, wie gering die Möglichkeit einer Verständigung in diesem Streit ist. Verfolgen doch beide Seiten im wesentlichen den gleichen ,.Endzweck" bei der Passionsbetrachtung bzw. -darstellung. Wenn der Oratoriendichter "harte Hertzen" zerbrechen und übeltäter bekehren will, was will er dann anderes als die "Erweckung rechtschaffener Busse . . . und Ermunterung zu einem gottgefaIligen Wandel,,?50 Nur glaubt er dies alles gerade durch die von dem Gutachten verworfenen Mittel erreichen zu können. Der Streit zwischen den verschiedenen Weisen der Passionsdarstellung, der einst darum geführt wurde, ob es sich schicke, das "Geheimniß unserer Seligkeit auf einem Theatro" vOIzustellen, ist nun zu einem Streit darum geworden, welche Art der Darstellung das Herz des Menschen kräftiger zu bewegen und es wirkungsvoller zu Buße und Bekehrung erwecken könne, kurz: welche erbaulicher sei.5.1 Joh. Mattheson hat diesen Streitpunkt in bezug auf die Kirchenmusiktexte prägnant formuliert: "Der gantze vorhabende Handel kömmt auf die Frage an: ob die heutige theatralische und poetisch-abgefaßte, auch mit dictis und Chorälen untermengte, Kirchen-Music; oder ob die alte Compositions-Art, dabey lauter Schrifftstellen in prosa vorkommen, am meisten erbaue?"S2 Aufgrund der poetologischen Bestimmung des Passionsoratoriums müssen wir dieses aus dem Bereich unserer weiteren Untersuchung ausschließen; nicht weil ihm keine Bedeutung zukäme für die Frage nach dem Wandel des Passionsverständnisses, sondern weil ihm die Vergleichbarkeit mit der Tradition der protestantischen Passionspredigt
50 Selbst die Förderung .heiliger Glaubenskraft" würde er seinem Werk wohl eher zutrauen als dem des Predigers. 51 Daß das deutsche Oratorium sich durch seine Intention auf Erbaulichkeit vom italienischen Vorbild unterscheidet, hat Scheling mehrfach betont. .Daß das deutsche Seccorezitativ sich im allgemeinen mehr dem melodiösen, nachdrücklich betonenden der Franzosen als dem vorwiegend deklamatorischen, forttreibenden der Italiener nähert, . . . hat seinen Grund darin, daß das deutsche Oratorium kein reines Drama, sondern ein Werk zur Erbauung und Vertiefung der . Andacht sein wollte." (Schering, a.a.O., S. 331, vgl. auch S. 332 f.)
.5 2 A.a.O., S. 217; zit. bei Winterfeld, a.a.O., S. 80.
114
weitgehend fehlt. Auf diesen Vergleich aber soll die Untersuchung um der methodischen Klarheit willen und wegen des dazu herausfordernden Quellenmaterials gegründet werden. Dieses Material bieten vor allem die oratorischen Passionen, die, wie sich zeigen wird, mit ihrer Bindung an Bibeltext und Auslegungstradition zur geistlichen Dichtung im niederen Stil gehören. Damit ist die zu Beginn dieses Kapitels gestellte Frage nach dem methodischen Recht eines solchen Vergleichs für die oratorischen Passionslibretti positiv zu bc:.antworten. Trotz der Beschränkung der folgenden Untersuchungen auf drei oratorische Passionen dienten die voranstehenden Ausführungen nicht nur der poetologischen und traditionsgeschichtlichen Klärung und Abgrenzung, sondern auch der inhaltlichen Vorbereitung der nächsten Kapitel. Sind doch die in ihnen behandelten Passionsdichtungen in je verschiedener Weise und Stärke auch von Elementen und Bestrebungen des Passionsoratoriums geprägt. Das zunächst betrachtete libretto von B. H. Brockes wird sogar allenthalben in der musikwissenschaftlichen literatur zur Geschichte der Passion als Oratoriendichtung verstanden. Wir glauben mit der Unterscheidung zwischen den Stiltraditionen der geistlichen Dichtung wesentliche Voraussetzungen für ein sachgemäßeres Verständnis dieses und der beiden von Bach vertonten Passionslibretti gewonnen zu haben.
115
Kapitel 5: "Der für die Sünde der Welt Gemarterte und Sterbende Jesus" von B. H. Brockes 1. Urteile über die Brockes-Passion
a) Zeitgenossen Die 1712 entstandene, ein Jahr später überarbeitete Passionsdichtung des Hamburger Ratsherrn B. H. Brockes, "Der für die Sünde der Welt Gemart~rte und Sterbende Jesus", wurde zu seiner Zeit nicht nur als das ideale Libretto für Passionsmusiken bewundert und von vielen, darunter den bedeutendsten, zeitgenössischen Komponisten vertont, sondern sie wurde auch unabhängig von den Vertonungen als ein Meisterwerk der Dichtkunst und der Erbauungsliteratur allenthalben gerühmt und erreichte in zahl· reichen Auflagen sowie in Übersetzungen eine sonst von keinem Werk dieser Gattung bekannte Verbreitung. Die Dichtung "erfreute ... sich bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts einer Beliebtheit, die nur noch mit der des ,Messias'-Gedichts von Klopstock verglichen werden kann. "I Einige charakteristische Zitate sollen andeuten, worin die Zeitgenossen die literarische und religiöse Bedeutung von Brockes' Passion erblickten. Joh. Mattheson etwa, der berühmte und durchaus selbstbewußte Hamburger Musikschriftsteller und Komponist, stellt in diesem Fall seine Leistung zurück und erkennt an, "daß der excellenten Poesie dißmahl der gröste Theil des Ruhms beyzu· legen". Der Leser finde in dem Oratorium "Worte, die wichtig, nachdencklich und nach· drücklich sind; Gedancken, die noch niemand berühret, Vorstellungen, die das Hertze einnehmen: Beschreibungen, die in die Seele dringen."2 Verweist Mattheson zumindest ebenso entschieden auf die intellektuellen Qualitäten der Dichtung ("Worte", "Ge· dancken ") wie auf ihre erbauliche Wirkung, so ist letztere alleiniges Thema von zwei Preisgedichten, die einem späteren Abdruck der Passion 3 beigegeben sind: Im ersten stellt sich Joh. Hübner ein Gespräch im Himmel beim Anhören der von Keiser vertonten BlOckes-Passion vor. "Und als erbärmlich schön erklang: Es ist vollbracht! So sprach Immanuel zur rechten Hand der Macht: Weil Brocks mir meinen Tod hat lassen so beweinen! Daß es durchdrungen hat auch Hertzen die von Steinen So will ich ihm davor zum Trost im Tod' erscheinen". (S. 298)
1 H. Frederichs, Das Verhältnis von Text und Musik in den Brockes-Passionen Keisers, Händels, Telemanns und Matthesons, S. 6. 2 Zit. bei Flemming, a.a.O., S. 23. 3 In: B. H. Brockes, Verteutschter Bethlehemitischer Kinder-Mord des Ritters Marino. Nebst etlichen von des Herrn Übersetzers Eigenen Gedichten, Cöln und Hamburg 1715. Seitenzahlen im Text beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe.
116
Und Joh. U. König sieht alle Versuche in Natur und Kunst, dem toten Jesus ein "Grabmahl zu erwerbenl Das seiner würdig ist", überboten durch Brockes' Passion: "Doch als die Poesie durch Brocks den Abdruck machtet Und Kaisers trauer-Thon durch alle Seelen drang da höhrte man aufs neu wie Höll und Abgrund krachtet Der Engel-Chor weint selbst bey diesem Sterb-Gesang. Die Andacht aber rieff: soll Gott ein Grabmahl haben/ So muß ihn Brocks in Vers' und ich ins Hertz begraben". (ebd.) Schließlich erinnert ein Nachruf auf Brockes "an seinen Einfluß, 'der den Verstocktesten das harte Herze brach, wenn unser Heiland selbst mit Brocksens Worten sprach'."4 Diese letzte Äußerung spricht am deutlichsten aus, worauf der Ruhm der BrockesPassion sich gründete: Es war die starke Wirkung der Dichtung (in Königs Gedicht: unterstützt von der Musik) auf das "Herz", die "Seele" des Menschen. Sie "durchdringt" Herz und Seele, "nimmt" sie "ein", "bricht" harte Herzen. Diese aus dem Wortschatz des Pietismus entlehnten, dort aber vom Wirken Gottes am Menschen gebrauchten WendungenS werden hier auf ein dichterisches Werk angewendet. Das Wort des Dichters erhält dieselbe Funktion wie das Wort Gottes, und es kann nicht ausbleiben, daß ihm damit auch etwas von dessen religiöser Qualität zufließt. Wir haben also in diesen Äußerungen, deren Emphase man zunächst vielleicht als ,typisch barocke' übertreibung anzusehen geneigt ist, frühe Zeugnisse eine Entwicklung zu sehen, die in Klopstocks Dichtung gipfelt und in der deutschen Klassik nachwirkt: Die aus der Antike überkommene Aufgabenbestimmung der Dichtung insbesondere des hohen Stils, den Menschen zu rühren, sein Herz zu bewegen (movere), wird religiös geflillt. So vermag jetzt das dichterische Wort in zunehmenden Maße als vollwertiger Ersatz des göttlichen Wortes das Herz des Menschen zu durchdringen, einzUnehmen und zu begeistern. Inwieweit die Urteile über eine solche religiöse Wirkung der Brockes-Passion mit deren Intention übereinkommen, muß die genaue Untersuchung des Textes ergeben. Zumindest die Fragerichtung ist dieser damit aber vorgezeichnet.
für
b) Musikwissenschaft/er seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Aus der völligen Vergessenheit, in die Brockes' Jugenddichtung fast ein Jahrhundert lang versunken war, hat sie nur das Interesse der Musikwissenschaft an der Geschichte der musikalischen Passion (Lott) , am Oratorium (Schering) oder an der evangelischen Kirchenmusik generell (Winterfeld), vor allem aber das an den Passionen einzelner Komponisten (Chrysander, Spitta, Hörner) seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts herausgeholt - und, wie man sagen muß, nur sehr ungern herausgeholt. Man kann sich kaum einen größeren Gegensatz denken als den zwischen dem überschwenglichen Lob der Passion durch die Zeitgenossen und dem entschiedenen und fast einhelligen Verdikt über sie seitens der genannten Musikwissenschaftler.
4 Frederichs, a.a.O., S. 10. S A. Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, S. 78, 90, 99.
117
Um die im folgenden ausführlich wiedergegebenen Urteile über die Brockes-Passion von ihren Voraussetzungen her zu verstehen, muß die Geschichte der Passionstexte, wie sie sich diesen Autoren darstellt, mitberücksichtigt werden. Dies soll so geschehen, daß zugleich die Grenzen und Mängel dieser Darstellungen aufgezeigt werden, die einer angemessenen Würdigung der Brockes-Passion im Wege stehen. "Das Werk von Brockes ist geschmacklos und sinnlos, strotzt von übertriebenen und unwürdigen Bildern, ist aber von großer sinnlicher Gewalt, die wie ein Theatereffect sich aufdrängt und wie ein solcher die Hörer überwältigt", schreibt Chrysander und führt zustimmend die Charakterisierung Winterfelds an: "Solche Augenblicke der heiligen Geschichte, wo tiefer Schmerz, gewaltig gesteigerte Leidenschaft dargestellt werden konnte, sind in besonders abgegrenzten, sorgsam ausgeführten Gemälden vor dem Uebrigen herausgehoben, als bedeutsamste Theile des Ganzen; was die heilige Schrift anzudeuten sich begnügt, was sie keusch verhüllt; damit der sündige Mensch in tiefem, geheimnißvollem Bangen nur ahne, wie groß die Erniedrigung dessen gewesen, der Knechtgestalt angenommen um unsertwillen, und gehorsam gewesen bis zum Tode, ja, bis zum Tode am Kreuz, das ist allen Augen bloßgelegt." Und wieder mit eigenen Worten fügt Chrysander hinzu: "Wir haben darin den Abfall von Wahrheit und Schönheit an Sinnlichkeit, an die Sinnlichkeit der dramatischen Scene; wir haben darin außer der Nachahmung italienischer Geschmacklosigkeiten endlich auch noch die ganze kraftlose und traurige einheimische Bluttheologie, die sich nicht schämte Christus in Gethsemane beten zu lassen: Und weil ich noch zu allen Plagen Muß deinen Grimm, 0 Vater, tragen, Vor welchem alle Marter leicht, So ist kein Schmertz, der meinem gleicht. Als ein Denkmal aus einer verkommenen Zeit, die sich das Leiden des Heilandes in der herbsten Gestalt abschilderte und dann in vomehmer Gesellschaft ein Vergnügen daran empfand, verdient dieses Oratorium erhalten zu werden und wird es erhalten bleiben. ,,6 Unter ausdrücklichem Bezug auf diese beiden Kritiker, die das Gedicht "längst in seinem wahren Werthe gewürdigt" hätten, beschränkt Spitta sich auf wenige, mit dem Voranstehenden fast gleichlautende Sätze. 7 Auch Brandl verurteilt anläßlich der kurzen Erwähnung der Passionsdichtung in seiner Brockes-Biographie den "unnatürlichen Prunk der Sprache" und die "überspannten, greulichen Vorstellungen", gesteht ihr aber, freilich ohne jede Begründung, "pietistische Religionswärme und mystische Einbildungskraft" zu. 8 Neben diesen generellen Verwerfungen finden sich kritische Einwände vor allem gegen Brockes' Behandlung der Partie des Evangelisten, der einen frei gedichteten und dabei stark verkürzten Bericht vorzutragen hat. "Das christliche Gemüth verlangt mehr Ehr6 F. Chrysander, Händel I, S. 433 f. 7 Bach 11, S. 326. 8 A. Brandl, B. H. Brockes, S. 28. Ganz ähnlich ä~e~~ sich auch Lott, a.a.O., S. 305 f.
118
erbietung vor der lapidaren Einfachheit und Grösse des Evangelientextes, als diese freie, tändelnde Bearbeitung bewies", schreibt Zarncke. 9 Während Winterfeld in der "Beibehaltung des Evangelisten" lediglich "ein äußeres, scheinbares Abfinden mit der hergebrachten kirchlichen Form zur Beschwichtigung gejstlicher Eiferer" sieht 10 , wertet Zarncke die Wiedereinführung der Evangelistenrolle als Rückkehr von der Verirrung der Passion "zum musikalischen Drama, zur Oper" 11 , als - wenn auch halbherzige Reaktion gegen den "Missbrauch, der einzureissen drohte. ,,12 Lott vermeidet eine Festlegung in dieser Frage, wenn er Brockes' Passion als einen Kompromiß zwischen alter und neuer Passionsform beschreibt, wodurch er "dem Volksempfinden näher und der Geistlichkeit entgegen" gekommen sei. 13 So verschieden Winterfeld und Zarncke aber auch die Stellung der Brockes-Passion innerhalb der Geschichte der Passionstexte sehen, einig sind sie sich jedenfalls in der Auffassung, daß die "hergebrachte kirchliche Form" die dem Thema einzig angemessene sei. Versuchen wir aus den zitierten kritischen Stimmen zur Brockes-Passion das GegenBild von der rechten Form zu entwerfen, so gelangen wir zu der historischen, aber idealtypisch verstandenen frühen oratorischen Passion, wie sie sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts ausgebildet hatte. Ihre Grundform ist eine ganz und gar kirchlichliturgische, insofern in ihr der ,reine' Bibeltext "unangetastet", "unberührbar" feststeht und seine Rezitation lediglich durch von der Gemeinde gesungene Choräle unterbrochen wird. Eine ausdrückliche Parteinahme für diese Art der Passion fmdet sich zwar bei den hier berücksichtigten Autoren nicht, sie ist aber mit großer Sicherheit zu erschließen aus ihrer Darstellung der Geschichte der Passion als einer Ver{allsgeschichte mit dem Hauptmerkmal der Entkirchlichung (Subjektivierung, ,Veroperung'), die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beginne. So schreibt etwa Lott am Ende seines ersten überblicks über die Formen der Passion bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts: "Dieser Abschnitt soll nicht beendet werden, ohne mit Spitta noch einmal auf den liturgischen Verfall der Passion hinzuweisen, der durch die Einfügung choraler und madrigalischer Elemente herbeigeführt wurde. Der Choral in der Passion gegen Ende des 17. und im 18. Jahrhundert hatte die Beziehungen zum Gottesdienste, die Ende des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch vorhanden waren, fast völlig verloren. Die Anteilnahme der Gemeinde war vielfach keine persönliche mehr ... Im allgemeinen trat Nachempfmdung an die Stelle direkter persönlicher Anteilnahme.,,14 Dieser Verfall
9 A.a.O., S. 351; vgl. dazu Flemming, a.a.O., S. 22: "Die lapidare Einfachheit und Größe des Bibelwortes wird durch die Umsetzung in gereimte Zeilen wechselnder Länge auf den flotten, aber auch leichten ,galanten' Ton des üblichen Opernrezitativs herabgestimmt."
10 A.a.O .• S. 135. 11 A.a.O., S. 349. 12 A.a.O., S. 351. 13 A.a.O., S. 305.
14 A.a.O., S. 299. 119
beginnt nach Schering schon mit den Passionen von Sebastiani (1612) und Theile (1673), die zwar ausschließlich Choräle bzw. choralähnliche Strophenarien in den unverändert beibehaltenen Bibeltext einfügen, diese aber in Form von Sologesängen. Das Vorhandensein dieser ..Choralarien" lasse sich .,nur dadurch erklären ... , daß beide Werke nicht mehr im Sinne einer wirklichen Evangelienlektion verstanden wurden ... , sondern als außergottesdienstliche Erbauungsmusik, bei der die Verbindung mit dem Gottesdienst künstlich - eben durch Einfügen von Chorälen - hergestellt werden mußte". Mit fortschreitender ..Freiheit, beliebig viele und ausgedehnte Einlagen in die Historie aufzunehmen, ja wohl gar ganze Stücke des Bibeltextes poetisch frei zu bearbeiten", kündigen sich bald, schon in der Passion von Funcke (1683), ,Jene Geschmacklosigkeiten an, die der späteren Passion und dem Oratorium in Deutschland so wenig zur Zierde gereichen ... 15 Die reinste Ausprägung der die Gemeinde einbeziehenden Passion findet Spitta bewahrt in den .,Auserlesene(n) Passionsgesänge(n)", Merseburg 1709. Hier sind die Passionen nach den vier Evangelisten .,in der alten choralischen Form" abgedruckt . .,Arien sind gänzlich ausgeschlossen, nicht so Choräle", die deutlich dazu bestimmt sind, von der Gemeinde gesungen zu werden . .,Mit ihnen begleitete die Gemeinde den Verlauf der ganzen Handlung." Sebastiani dagegen steht auch für Spitta .,schon auf der Gränze", jenseits derer die ..Verflüchtigung des lebendigen kirchlichen Gemeinsinnes" beginnt. 16 Die Merkmale der ,idealen' alten und der kritisierten neueren Passionsform in der Sicht dieser auf das Kirchlich-Liturgische sich zurückbesinnenden Generation von Musikwissenschaftlern lassen sich in folgenden Gegensatzpaaren zusammenfassen: Gemeindefrömmigkeit oder Individualismus; ,reines' Bibelwort oder barocker Schwulst in Nachdichtungen; Wahrung der Größe und Erhabenheit der Person Jesu, fromme Scheu vor der Heiligkeit des Erlösungsgeschehens oder sinnliche Erniedrigung und freche Zudringlichkeit zum Geheimnis. Die Zeitgebundenheit dieser Betrachtungsweise ist offenkundig. Ihre ästhetisierende Religiosität und ihr an der deutschen Klassik geschulter literarischer Geschmack, unbedenklich zum Maßstab für geistliche Dichtung des 17. und frühen 18 . .Jahrhunderts gesetzt, muß diese wohl verfehlen. Und wer die Evangelienlektion mit eirlgestreuten Gemeindegesängen im Grunde·als Idealform der Passionsmusik ansieht, dem ist der Zugang zu einem Libretto wie der Brockes-Passion gewiß versperrt.
15 Schering, a.a.O., S. 326 C.
16 Bach 11, S. 317 CC. Mit der Möglichkeit, daß die Gemeinde in den Choralgesang eingestimmt habe, rechnet dagegen Zarncke (a.a.O., S. 319, 322) auch für Sebastianis und für Theiles Passion.
120
2. Einzeluntersuchungen zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen der BrockesPassion und der protestantischen Passionstradition Die Untersuchungen zum Text der Brockes-Passion sollen der Entfaltung und Erläuterung der folgenden These dienen:
Die Brockes-Passion ist eine oratorische Passion, die formal und inhaltlich von der protestantischen Passionsdarstellung und -auslegung des 17. Jahrhunderts ausgeht, sich aber durch Akzentverschiebungen ebenfalls formaler und inhaltlicher Art dem Passionsoratorium annähert. 17 Wie fast alle Passionslibretti der Zeit ist auch die Brockes-Passion eine aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzte Dichtung. Neben dem gereimten Evangelistenbericht finden wir aus diesem heraus entwickelte kleine dramatische Szenen, ferner ausführliche Betrachtungen, die teils zur Handlung gehören, teils diese von außen kommentieren, und schließlich vier Liedstrophen, die als "Choral der Christlichen lUrche" die Stimme der Gemeinde repräsentieren. Fragen wir nach dem Einfluß der kirchlichen Passionstradition auf das Werk, so zeigt sich, daß er sich zwar in formaler Hinsicht auf Evangelistenbericht, Choral und kommentierende Betrachtung beschränken läßt, inhaltlich aber auch in den anderen Teilen der Dichtung zu finden ist. Der gereimte Evangelistenbericht, von den einen als Zeichen mangelnder "Ehrerbietung vor der lapidaren Einfachheit und Grösse des Evangelientextes" verurteilt 18 , von anderen als "der Sieg des freigestaltenden Dichterworts über das Bibelwort" gefeiert l9 , in jedem Fall aber als Indiz fiir die Entkirchlichung der Passion verstanden, ist in Wahrheit der eindeutigste Beweis für die Bindung der Brockes-Passion an das Bibelwort. Dieser Evangelistenbericht steht in der Tradition der paraphrasierenden Bibeldichtung. 20 An deren im 17. Jahrhundert stets betontes Ziel, der "Andacht" zu dienen, kann Brockes anknüpfen. Vergleicht man allerdings seine Nachdichtung mit themengleichen Werken des 17. Jahrhunderts, etwa mit Gryphius' "Tränen über das Leiden Christi", so zeigt sich der frömmigkeitsgeschichtliche Wandel mit aller Deutlichkeit. Brockes will die Andacht nicht mehr durch die schlichte, möglichst textgetreue Nachdichtung des harmonisierten Passionsberichts 17 Die These wendet sich gegen die in der Literatur durchweg vertretene Auffassung, bei der BrockesPassion handele es sich um ein Passionsoratorium nach Art der religiösen Opernlibretti, das zur Beschwichtigung von kirchlicherseits erhobenen Einwänden gegen diese Passionsform (besonders gegen die Passion Hunolds) einige formale Zugeständnisse an die oratorische Passion mache (s.o. S. 118 f.). Diese Auffassung bleibt schon deshalb unbefriedigend, weil sie lediglich eine äußerliche Erklärung (Eingehen auf die Kritik der Geistlichkeit) für die besondere Gestaltung der Brockes-Passion zu geben vermag. Mit der Entfaltung der o.g. These soll dagegen versucht werden, den Übergang von der oratorischen Passion zum Passionsoratorium, der sich in dieser Dichtung vollzieht, als Konsequenz der passionstheologischen Entwiclc1ung im frühen 18. Jahrhundert zu verstehen. 18 Zarncke, a.a.O., S. 351. 19 E. Haufe, Brockes oder der Aufgang der Naturherrlichkeit im deu tschen Gedicht, S. 135. 20 S. o. S. 100 ff.
121
wecken, sondern so, daß er die Verserzählung zum AnllJß nimmt für die Passionsbetrachtung. Diese, nicht die Erzählung, trägt das Hauptgewicht. Von ihr her entscheidet sich sogar, was in den Bericht aufgenommen wird und was nicht. Anders als Gryphius in seinen gleichmäßig voranschreitenden erzählenden Passionsliedern setzt Brockes deutliche Akzente, übergeht viele Einzelheiten, hebt andere durch Erweit~rungen hervor. 21 Es wird sich zeigen, daß die Stoffauswahl Aufschluß gibt über die Intention, die Brockes mit seiner Passion verfolgt. Die Vorlage, die Brockes für seine dichterische Bearbeitung des Passionstextes benutzt, ist nicht, wie nach dem Titel (" ... aus den IV. Evangelisten") zu erwarten, die den Passiunsauslegungen im protestantischen Bereich meistens zugrundegelegte Bugenhagensche Passionsharmonie, sondern in der Regel das Matthäus-Evangelium, dessen Bericht an einigen Stellen aus den anderen Evangelien ergänzt wird. 22 Wie Brockes bei der Versübertragung verfahrt, soll zunächst an zwei Beispielen aufgezeigt werden. a) Ankündigung des Verrats durch die Jünger
Vom Gang Jesu und seiner Jünger nach Gethsemane heißt es bei Matthäus (26, 30-35): "Und da sie den lob-gesang gesprochen hatten/ giengen sie hinauß an den ölberg. Da sprach Jesus zu ihnen: In dieser nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir. Denn es stehet geschrieben: ,Ich werden den hirten schlagen/ und die schaafe der heerde werden sich zerstreuen.' Wenn ich aber auferstehe/ will ich vor euch hingehen nach Galileam. Petrus aber "antwortetet und sprach zu ihm: Wenn sie auch alle sich an dir ärgerten/ so will ich doch mich nimmermehr ärgern. Jesus sprach ZU" ihm: Warlich ich sage dir: In dieser nacht eh der hahn krehet/ wirst du mich dreymal verläugnen. Petrus sprach zu ihm: Und wenn ich mit dir sterben müßtet so will ich dich nicht verläugnen. Deßgleichen sagten auch alle jünger."
21 S. dazu Frederichs, a.a.O., S. 71 f. 22 Vgl. Frederichs, a.a.O., S. 68. Frederichs hat eine sehr gründliche text- lind quellen1critische Untersuchung der Brockes-Passion durchgeführt, die u.a. zu dem überzeugenden Ergebnis kommt, "daß wir im Textbuch von 1713 die endgültige Fassung zu sehen haben, nicht in dem von 1712" (S. 19). Diese zweite, erweiterte Fassung liegt darum auch unserer Textbetrachtung zugrunde. Die Fassung von 1712 ist zugänglich bei Flemming, a.a.O., S. 93-114. - Unter den von Frederichs genannten Quellen des Librettos fehlt freilich die neben den Evangelien wichtigste, nämlich die kirchliche Passionspredigt. Wenn Frederichs daher bei der Bestimmung des "Endzwecks· der Dichtung (S. 78-87) deren pietistischen Charakter hervorhebt, so werden damit zwar wesentliche Züge dieser Passion erhellt, zugleich jedoch verstellt der scheinbar eindeutige Befund den Blick auf die vielfältigen Einflüsse, die in ihr zur Geltung kommen, sowie auf den viel weiteren Traditionszusammenhang, innerhalb dessen auch die pietistische Passionsdeutung allein zureichend verstanden werden kann. Schon methodisch ist Frederichs' Vorgehen unzulänglich. Er stellt Ähnlichkeiten zwischen Brockes' Passionsverständnis und A. H. Franckes Auffassung vom Zweck der Passionsbetrachtung fest, die Brockes während seiner Hallenser Studienzeit kennengelemt
122
Brockes bildet daraus folgende kleine Szene: "Evangelist. Drauf sagten sie dem Höchsten Danck/ Und nach gesprochnem Lob-Gesang/ Ging lesus über Kidrons Bach/ Zum Oelberg! da er denn zu seinen lüngern sprach: lesus. Chor der lünger. lesus.
Petrus.
lesus. Petrus.
Ihr werdet all in dieser Nacht Euch an mir ärgern! ja mich gar verlassen. Wir alle wollen eh' erblassen/ Als durch solch' Untreu dich betrüben. Es ist gewiß/ denn also steht geschrieben: Accompagnement. Weil ich den Hirten schlagen werde Zerstreuet sich die gantze Heerde. Aufs wenigste will ich/ trotz allen Unglücks-Fällen! la/ solte durch die Macht der Höllen Die gantze Welt zu trümmern gehn! Dir stets zur Seiten stehn. Dir sag ich: ehe noch der Hahn wird zweymahl krähn/ Wirst du schon dreimahl mich verläugnet haben. Eh soll man mich mit dir erwürgen und begraben/ 1a zehnmal will ich eh erblassen! Eh ich dich will verläugnen und verlassen ... " (S. 300 0.
Zunächst fällt auf, daß Brockes die· dialogische Struktur des Evangelienberichts zur Bildung einer selbständigen dramatischen Szene benutzt, indem er die Redefonneln ausläßt. Dieses Verfahren wendet er an vielen Stellen seines Textes an. Zwar verhindert die Kürze dieser Szenen, nach denen immer wieder der Evangelist das Wort ergreift, daß dadurch das Libretto als ganzes einen dramatischen Charakter erhält,jedoch werden die Tendenzen zur Dramatisierung, die bereits in deI' liturgischen Passionsabsingung mit verteilten Rollen erkennbar waren, bei Brockes zweifellos verstärkt. Auch die Umstellungen, die Brockes in der kleinen Szene gegenüber dem Evangelientext vornimmt, lassen sich aus dem Bestreben nach Verlebendigung erklären. Während bei Matthäus Jesus nur zweimal spricht, um das Ärgernis der Jünger und den Verrat des Petrus zu prophezeien, und den zweimaligen Widerspruch des Petrus summarisch durch "alle Jünger" bestätigen läßt, gestaltet Brockes eine bewegte Wechselrede: Jesus wird nach den ersten Worten vom nChor der Jünger" unterbrochen, dessen Widerrede durch die sich steigernden Treueversprechen des Petrus überboten wird. Zu diesen Äußerungen der Jünger liefert Jesus gewissennaßen nur die Stichworte. In dieselbe Richtung einer Hervorhebung der JÜIlgerrolle weisen die sprachlichen Veränderungen, die Brockes hier haben dürfte, und leitet daraus die Behauptung ab, das Libretto sei "pietistisch-mystisch gefärbt(S. 82). Eine derart vereinfachende Bestimmung des ,Pietistischen' verbietet sich jedoch, sobald man einerseits die gesamte kirchliche Passionstradition mitbelÜcksichtigt, andererseits die Ergebnisse der heutigen Pietismusforschung zur Kenntnis nimmt, die bei der Abgrenzung zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung sehr behutsam vorgeht.
123
vornimmt. Während Jesus im wesentlichen mit den lediglich versifizierten Worten des Evangelientextes spricht, sind die Reden der Jünger teils ganz frei gestaltet, teils durch emphatische, bildhafte Worte erweitert. 23 Die durch Erweiterung und sprachliche Ausgestaltung der Szene bewirkte Gewichtsverlagerung von Jesu Prophezeiungen auf die Treueschwüre der Jünger ist symptomatisch für diese Passion. Allenthalben und meist noch viel deutlicher verschiebt sich bei Brockes das Interesse von der Gestalt Jesu auf die ihn umgebenden oder sein Geschick bedenkenden Menschen. Besonders Petrus ist es, dessen Rolle aus diesem Interesse heraus, die menschlichen Reaktionen auf die Passion darzustellen, hier wie andernorts reich ausgestl'ltet wird. - Unberücksichtigt läßt Brockes in seiner Nachdichtung Jesu Hinweis auf seine Auferstehung und die Wiederbegegnung in Galiläa. Diese Auslassung dient der Konzentration des Hörers auf das zwischen Jesus und den Jüngern verhandelte, menschlich bewegende Thema von Verrat und Treue, von dem jener Hinweis abgelenkt hätte. b) Gethsemane-Szene
Besonders deutlich läßt sich Brockes' Intention bei der Nachdichtung des Evangelientextes an seiner Beschreibung des Kampfes Jesu in Gethsemane aufweisen. 24 Er legt dieser Szene den lukanischen Bericht zugrunde (Lukas 22,41-44), der nur von einem einzigen Gebet Jesu spricht und dann fortfährt: "Es erschien ihm aber ein engel vom
23 Wie wenig Brockes bei diesen Erweiterungen willkürlichen Einfällen nachgibt, vermag bereits ein Blick auf die entsprechende Stelle in Gtyphius' .Tränen über das Leiden Jesli Christi~ zu zeigen: .Sol's ja so seyn: fällt Petrus ein! Daß keiner auß den allen! Außhalten mag bey diesem Schlag! Wil ich doch ab nicht fallen. Mich sol von dir! Herr glaube mir! Kein Ärgernüß abzwingen: Ja wenn auch gleich! der Hellen Reich Mit Macht wolt auff mich dringen. ~ (GA II, 111 f. Hervorhebung von mir) Und nach Jesu Ankündigung der dreimaligen Verleugnung heißt es weiter: ..Ach Meister nein: eh wolt ich seyn Spricht Petrus! nie geboren. Eh sol die Pein: mir Mark und Bein Und Leib! und Geister trennen ... ~ (GA 11, ll2) Auch in dieser dem Grundsatz der Texttreue weit mehr verpflichteten Nachdichtung sind die Aussagen des Petrus erweitert, und zwar mit teilweise sehr ähnlichen Worten und in derselben Absicht: das vermessene Selbstvertrauen, .zugleich aller auch eine gewisse treuherzige Liebe zu Jesus durch die Selbstdarstellung des Jüngers zu charakterisieren: Das Vorbild für solche Ausgestaltung gerade· wörtlicher Reden fanden die Dichter in den Textparaphrasen der Passionspredigten. Wenn z. B. H. Müller erläutern will, daß .die Rede Petri aus einern hoffärtigen Hertzen~ gehe, so umschreibt er sie mit den Worten: • Von den andern kan ich dir zwar nichts zusagen! sie sind Memmen! und haben weiche Hertzen. Aber ich Petrus! ich bin der Mannl ich allein will fest stehen.~ (Leyden Christi, S. 249) .
24 S. Anhang 11.
124
himmel/ und stärckete ilm. Und es kamt daß er mit dem tode rangt und betete hefftiger. Es ward aber sein schweiß wie bluts-tropffen/ die fielen auf die erden." Die Beschränkung auf ein Gebet, das Brockes Jesus selbst sprechen läßt, kam seinem Bemühen um wirkungsvolle szenische Vereinfachung entgegen und bot einen geeigneteren Anlaß für die Betrachtung als die ausführlicheren Berichte von drei einander ähnlichen Gebeten bei Markus und Matthäus. Auch im zusammenfassenden Evangelistenbericht von Jesu Gebetskampf geht es Brockes nicht um ,historische', sondern um emotional wirksame, anschauliche Details, die ilun nur die lukanische Vorlage lieferte. "Evangelist. Die Pein vermehrte sich mit grausamen erschüttern! So! daß er kaum vor Schmertzen röcheln kunt: Man sah die schwache Glieder zittern! Kaum athmete sein trockner Mund! Das bange Hertz fing an so starck zu klopffen! Daß blutger Schweiß/ in ungezehlten Tropften/ Aus allen Adern drang; Biß er zuletzt biß auf den Tod gequält! Voll Angst! zermartert! halb entseelt! Gar mit dem Tode rang. " Nach einer Betrachtung der "Tochter lion" fährt der Evangelist fort:
,,Ein Engel aber kam von den gestirnten Bühnen! In diesem Jammer ihm zu dienen! Und stärcket ihn! ... " (S. 302. Hervorhebungen von mir). Von Lukas übernimmt Brockes die Bemerkungen über Jesu "blutgen Schweiß", über sein Ringen mit dem Tod und über seine Stärkung durch den Engel, verwendet sie aber in anderer Reihenfolge als Lukas. Bei diesem stärkt die Engelerscheinung Jesus ftir den Gebetskampf25 , bei Brockes danach. Sie bedeutet hier also nicht die Voraussetzung für das Bestehen des Kampfes wie bei Lukas, sondern Sieg und überwindung. Die Umstellung bringt die Ereignisse in eine für Brockes offenbar ,psychologisch' richtige, seinem Jesusbild entsprechende Ordnung: Jesus wird angefochten von Todesangst, aber er geht gestärkt, als Sieger daraus hervor. 26
25 So deutet es auch der Prediger: "Der Herr Jesus wird zwar gestärcket, aber zu einem neuen und grössern Kampfe. Seine Menschheit bekommt einen Zuwachs neuer Kräfte, aber zu dem Ende, damit er den Rest seines innerlichen Leidens ausstehen könne." (Rambach, Betrachtungen, S. 93) 26 Dieselbe Anordnung der Ereignisse habe ich bisher nur in einer mystischen Passionsdarstellung aus dem 14. Jahrhunder.t gefunden, "Christi Leiden in einer Vision geschaut", S. 64: .Vnd also in der doitlicher anxte quam eyn engeie vnd sprach zo eme mit eynre gotlicher craft: ,Stant vff vnd sys stuck, .... Ganck vnverzaget, die craft dyns vaders ist dyn vnderstant vnd intheldet dich.' In dem seluen nu rechte sich Christus vff van der erden in sulchem iubilo als eyn mensche der van dem dode erstanden Ist, vnd mit begerden stunt he uff." Der Unterschied zwischen dem Mystiker, der die Überwindung der Todesangst mit Hilfe des Engels in Analogie zur Auferstehung bringt, und Brockes' psychologischer Deutung des Vorgangs nach dem Schema von Kampf und Sieg räUt freilich in die Augen.
125
Die drei anschaulichen Einzelheiten, die Brockes von Lukas übernimmt, bilden gewissermaßen das .biblische Gerüst für seine nachdrückliche Beschreibung von Jesu innerem Leiden. Diese Erweiterungen des Bibeltextes sind nun aber so wenig wie in der zuvor betrachteten Szene der übertreibenden Phantasie des Dichters entsprungen. Vorbilder für diese Beschreibung finden wir vielmehr allenthalben in den Predigt- und Erbauungsbüchern zur Passion, in denen durchweg die Auslegung des inneren Leidens Jesu einen breiten Raum einnimmt. Ausflihrlich, mit vielen Umschreibungen und Vergleichen werden die angstvollen Empfindungen und Gebärden Jesu beschrieben und erklärt. 27 In dieser Tradition steht auch der entsprechende Teil des Evangelistenberichts bei B~ockes noch. Man findet in ihm keine den überlieferten Rahmen sprengende Aussage über die Symptome des inneren Kampfes Jesu. In der Intensität der erstrebten Wirkung
27 Allerdings unterscheiden sich die einzelnen Autoren erheblich hinsichtlich der sprachlichen Darstellung dieses Leidens. 1. Gerhard etwa konstatiert zwar, daß "die Evangelisten fast nicht gnug können Wort finden! mit welchen sie die Schwere und Grösse desselben (seil. inneren Leidens) anzeigen", begnügt sich selbst jedoch mit einer rein exegetischen Erklärung dieser Worte in elf Punkten. Zum "Trauern" sagt er z. B.: "Es wird ein 'solch Wort von den Evangelisten gebraucht! welches nicht heist schlechte gemeine Traurigkeit! sondern wenn ein Mensch dermassen mit Traurigkeit wird eingenommen! also geplaget und geängstet! daß man wie ein verzagter Mensch! nicht wisse wo aus oder ein! das Hertz ist beklemmet! der Verstand erst!lfret! die Hände fallen dahin! die Füsse wollen nicht tragen ... " (Erklärung, S. 44) Bei Heermann wird aus der bloßen Erklärung der evangelischen Worte bereits eine Schilderung der physischen und psychischen Zustände mit spürbarer innerer Anteilnahme des Betrachtenden: "Alle seine Gliedmassen von der untersten Fußsoien an! biß auff die oberste Scheitel des Häupts zittern! und erschüttern sich für lauter Angst-Arbeit! wie ein Espen-Blat. Er meynet nicht anders! denn daß er von aIlen Creaturen! ja von seinem hirnIischen Vater verlassen sey. Er fühlet solche starcke Hertz-Püffe! daß er auch darüber mit erbärmlicher Trawer-Stimme herauß bricht! und spricht: Meine Seele ist betrübt biß in den Tod. Die Angst wiI mir stracks das Hertz abstossen! grössere Qual könte ich nicht fühle! wann ich jetzund diesen Augenblick sterben solte ... " (Crux Christi, S. 76) Bei C. R. v. Greiffenberg soll eine Fülle von Bildern, in denen dieses Leiden mit einer Naturkatastrophe verglichen wird, die starke innere Erregung des Betrachtenden zum Ausdruck bringen: nAch! die traurigkeit fallet! wie ein Himmel= und Erden=schwerer Stein! auf ihn: daß sie ihm sein Iieb=erweichtes hertz beschwere. Sie durchdringet ihn! als ein seel=durchschneidender schmerzen=wind! und verzehret das mark in beinen. 1a sie regnet! schneiet! haglet! donnert und bützet!lauter höllische qual auf ihn! daß er! vor viele der anfalle! nicht odem noch luft hat! sie zu beseufzen! sondern vor überhäuften ängsten fast ersticket ... Da erschüttert und erzittert er erst recht! da klopfet das herze! daß es schier die äderlein! an denen es hienge! abrisse ... Da tobet und wallet das geblüte! als wann es die adern zersprengen walte. Da gehet der puls an! als wie ein Erdbeben. Es klappern die zähne! und wackeln die kniehe! nicht anderst! als ob der ganze Tempel der heiligen Menschheit Christi einfallen walte. Ein höllisch=heiß=und kalter schauer gehet ihm durch die ganze haut! mit dem der blutige schweiß herauB dringet: dadurch der heilige Leib fast ganz in anmach t! und die heilige Seele in den grösten grad der quaI! in das zagen sincket." (Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens1esuChristi ZwölCandächtige Betrachtungen, S. 87 f.) Trotz der übersteigerten Sprache verweist diese Passage noch auf ihren traditionsgeschichtlichen Ursprung, die Erklärung des inneren Leidens Iesu durch die Darstellung seiner äußeren Begleitumstände.
126
auf das Gemüt des Lesers steht er C. R. v. Greiffenberg nahe. 28 Statt durch metaphorische übersteigerung versucht er sie aber durch eine knappe Aneinanderreihung der Leidensmerkmale zu erreichen. Betrachten wir nun die Gebetsszene im Zusammenhang. Sie besteht aus fünf Abschnitten: 1. dem Gebet Jesu, in dem er selbst seine Qual ausspricht, 2. der ersten Betrachtung der "Tochter Zion", 3. der (soeben behandelten) Schilderung des Evangelisten von den äußeren Zeichen des Gebetskampfes, 4. der zweiten Betrachtung der "Tochter Zion" und 5. dem Evangelistenbericht vom Ende des Kampfes durch die Engelerscheinung. Das Gebet Jesu wiederum ist gegliedert in zwei vierzeilige Arien, die im wesentlichen auf dem Wort "Meine Seele ist betrübt bis in den Tod" und den biblischen Gebetsworten (Lukas 22, 42) beruhen, und eine dazwischen eingefügte Passage, die man als Jesus in den Mund gelegtes Resümee der üblichen Auslegung des inneren Leidens verstehen kann: "Mich drückt der Sünden Centner=Last! Mich ängstiget des Abgrunds Schrecken! Mich will ein schlammigter Morast! Der Grund=loß ist! bedecken. Mir preßt der Höllen wilde Glut! Aus Bein und Adern! Marck und Blut; Und weil ich noch zu allen Plagen Muß deinen Grimm! 0 Vater! tragen! Vor welchem alle Marter leicht! So ist kein Schmertz! der meinem gleicht." (S. 30I) Die meisten Ausleger der Passionsgeschichte stellen nach der Beschreibung der Seelenleiden Jesu die Frage: "Was mag wol die ursache seyn solcher innerlichen HertzensqUal1,,29 Die Frage wird oft dadurch verschärft, daß man das getroste Leiden der Märtyrer mit dem kläglichen Gebaren Jesu vergleicht: "Wenn sonsten andere H. Märtyrer zum Todt geftihret/ sind sie freudig und getrost gewesen/ wie kömpt es denn/ daß der Sohn Gottes allhie also zittert und sich ängstet ... 1" Und die Antwort lautet übereinstimmend: "Die Ursach ist diesel weil er nernlich das mal mit aller Me~schen Sünde/ mit Gottes Zorn und mit Hellenangst beschweret war ...,,30
28 S. die vorige Anmerkung. 29 J. Heermann, Crux Christi,·S. 77. 30 Gerhard, Erklärung, S. 46 f. Bisweilen werden geradezu im Stil einer dogmatischen Abhandlung die Ursachen lateinisch und deutsch aufgefdhrt. So nennt J. Heermann: 1. "Er trug auff seinem Rücken/ Totius humani generis inobedientiam: den uberauß schweren Sünden-Berg des gantzen Menschlichen Geschlechts ... 2. In seinem Rertzen fdlete er an unserstat Irae divinae vehementiam: den Zorn Gottes/ welcher ist ein verzehrendes Fewer ... 3. Für Augen sihet er Rostium potentiam, das gantze Rellische Mord Reich! das sich wider ihn setzet ... W (Crux Christi, S. 78 ff.) Im .Paßiona1=Rand=Büchlein" werden genannt "die Last unserer Sünden w, "der Fluch des Gesetzes .der Marck=und Bein durchdringende Zorn Gottes .der Satan" und .die Todesangst. (So 226) Alle diese Begründungen werden mit Bibelzitaten vor allem aus dem AT reichlich belegt. W
,
W
,
W
127
Vor dies~m Hintergrund erweist sich die scheinbar schwülstig-barocke Ausmalung von Jesu Seelenleiden als recht genaue dichterische Übertragung der theologischen Lehre von den Ursachen dieses Leidens. Sünden, Hölle und Gottes "Grimm" erwähnt Brockes, und vielleicht meint er mit "des Abgrunds Schrecken" den auch sonst oft zusammen mit Sünde und Teufel genannten Tod, vor dem, wie viele Prediger erklären, Jesus als sündloser Mensch eine natürliche, aber unsündliche Angst empfinden muß. 31 Daß im Vergleich zu Gottes "Grimm", den Jesus zu tragen hat, "alle Marterleicht" ist, darf nicht als pathetische oder gar geschmacklose Übertreibung abgetan werden. 32 Die Aussage faßt vielmehr ganz präzise zusammen, was viele Ausleger in demselben Kontext über den Unterschied zwischen dem Leiden Jesu und dem der Märtyrer erklären. Diese "litten von Menschen! vnd wusten daß sie einen gnädigen Gott im Himmel hetten. Christus aber hat sein meistes vnd gröstes Leiden von Gott! als der grösseste Sünder an vnser statt", flihrtAlardus u.a. aus 33 , und Moller meditiert: "Du bist ein Fluch! und von Gott verlassen gewesen! jene aber sind stets in Gottes Friede und Gnade gewesen. Auff dich fallet die gantze Sündfluht deß grimmigen Zorns Gottes! jene aber waren voller Trost! und mit liebe umfangen."34 Für die Form der Ich-Aussage mögen Brockes die häufig angeführten alttestamentlichen Klagen z. B. aus den Psalmen, die auf Christi Leiden gedeutet wurden, als Vorbild gedient haben. Zwei dieser Psalmstellen verwendet er auch flir sein Gebet: "Mich will ein schlammigter Morast! Der Grund=loß ist! bedecken" ist eine Übertragung von Psalm 69,3: "Ich versincke in tieffem schlamm, wo kein grund ist", und in den letzten vier Zeilen zitiert er Psalm 88,8: "Dein grimm drücket mich" und Klagelieder 1,12: "Schauet doch und sehet, ob irgend ein schmertzen sey! wie mein schmertzen! der mich troffen hat.,,35 . Der Nachweis, woher Form, Sprache und Gedanken des Gebets stammen, beantwortet allerdings nicht schon die Frage, wie und in welcher Absicht Brockes sie aufnimmt. Vergleichen wir die Funktion der Ich-Aussage an dieser Stelle mit derjenigen einer Predigtpassage Dilherrs, in der Jesus ebenfalls Psalmverse in den Mund gelegt werden: Dilherr deutet Jesu Seelenleiden hier als Folge der auf ihn geworfenen Sünde. 31 Vgl. z.B. Moller, SoIiloquia, S. 11; Dilherr, BPB, S. 216.
32 Vgl. Chrysander,Händel I, S. 433 f. 33 Der gecreutzigte Christ, S. 129. 34 Soliloquia, S. 12. 35 Besonders dieses letzte Bibelwort wird auch in zahlreichen Passionsauslegungen zur Stelle zitiert. - Nach mittelalterlicher Auffassung hat Christus in Gethsemane die sieben Bußpsalmen gebetet. Vgl. .Christi Leiden in einer Vision geschaut", S. 64: " ... vnd streckde sich in crucis wyse vff die erde. Dat dreyff he also lange als dat man wal die seven salme hette gesprochen." Diese Vorstellung übernehmen die protestantischen Passionsprediger nicht. Wohl aber lassen sie Jesus viele einzelne Psalmverse sprechen. Denn daß Chrirtur in den Psalmen spricht, ist communis opinio.
128
"Daher kömts nun! daß Er schreiet: Gott! hilf mir! den das Wasser gehet mir bis an die Seele! Ich versincke im lieffen Schlamm! da kein Grund ist! Ich bin im tieffen Wasser und die Flut will mich ersäuffen. Ich muß bezahlen! das Ich nicht geraubet habe! im 69. Psal. Es hat Mich ümgeben Leiden ohne Zahl! Es haben mich meine Sünde (aller Menschen Sünde! die mir! als eigene Sünden! zugerechnet werden) ergriffen! daß Ich nicht sehen kan! Ihr ist mehr! denn Haar auf meinem Häubt! und mein Hertz hat mich verlassen! im 40. Psal. ..... 36 Trotz der Ich-Form spricht hier nicht eigentlich Jesus als Person. Der Hörer stellt sich ihn nicht in der Situation (also etwa schreiend) vor. Die vorangestellte Redeformel bleibt über die lange Passage hinweg bewußt und bewirkt zusammen mit den Stellenangaben, daß die Psalmverse als Zitate, als überlieferte (Selbst-)Deutungen gehört werden. Zwischen den Deutungen in der 3. und in der 1. Person besteht nur ein formaler Unterschied. Ganz anders wirkt das Gebet bei Brockes. Hier hat sich die Situation gegenüber der inhaltlichen Aussage verselbständigt, u. z. nicht so sehr durch die Versifizierung als vielmehr durch die dramatische (szenische) Gestaltung des Gebets. Die Personalform erhält eine eigene Aussagekraft. Durch sie wird das individuelle Ich Jesu in seinem Leiden unmittelbar vergegenwärtigt. Indem Brockes die theologischen Deutungen des inneren Leidens als Selbstaussagen Jesu gestaltet, versetzt er den Hörer aus der Situation des Jesu Leiden Bedenkenden in die des Miterlebenden. Solche unmittelbare Vergegenwärtigung intendiert die Erschütterung des Hörers als Voraussetzung für seine Selbsterfahrung als Sünder, zu der ihn das anschließende Arioso der "Tochter Zion" aufruft: "Sünder/ schaut mit Furcht und Zagen Eurer Sünden Scheusahl an! Da derselben Straff und Plagen Gottes Sohn kaum tragen kan!" (S. 301) Auch der Predigthörer soll sich durch die Betrachtung des inneren Leidens Jesu als Sünder erkennen. Jesu Zittern und Zagen soll auch ihm "Furcht und Zagen" vor seiner eigenen Sünde einflößen. "Nimms zu Hertzen! mein Hertz! und schaffe doch! daß du seelig werdest mit Furcht und Zittern. ,,37 Wer "die Sünde für ein schlecht und gering Ding" hält, soll hier lernen, "was es doch für ein schrecklich und greulich Ding sey! üm die Sünde! daß auch der starcke Löwe auß dem Stamm Juda unter ihrer Last also gesuncken" ist. 38 Nach Rambach ist die Beschreibung von Jesu Leiden "anzuwenden zur Beförderung einer heylsamen Reue und Zerknirschung. Ach siehe, armer Mensch, du begehest die Sünde mit Lust, und der Sohn Gottes muß sie mit solcher unbegreiflichen Angst büssen. Du findest ein Paradis darinnen, er aber den offenen Rachen der Höllen. Ist dirs nicht leid, daß du deinem Schöpfer solch Zittern und Zagen verursachet hast?,,39 Die Parallelen zeigen, daß Brockes die gleichen Konsequenzen aus dem inneren
36 Es folgt noch Ps. 38,3-5. BPB, S. 232 f. 37 Müller, Leyden Christi. S. 230 f. 38 Dilherr, BPB, S. 247 f. 39 Betrachtungen, S. 36.
129
Leiden Jesu zieht wie die protestantische Predigt. Gleichwohl ist der Unterschied nicht zu übersehen: Bei Brockes vollzieht sich das Anschauen der eigenen Sünde unmittelbar im Miterleben der Seelenqualen Jesu; die Empfindung des Sünderseins ergibt sich ohne Zwischenstufe aus der Einfühlung in die Schwere dieses Leidens. Denn das, was die Predigt zwischen die Beschreibung des Leidens und den Aufruf zur Buße stellt, nämlich die Erklärung des Leidens, ist bei Brockes in die Klage, in die Selbstdarstellung Jesu im Leiden hineingenommen und wird dabei gewissermaßen aufgesogen von deren Expressivität. In der Predigt dagegen wird der Mensch über mehrere Stufen zur Selbsterkenntnis geführt. "Da siehe/ wie sich diese Heilige Seele ängstet/ und je mehr du ihm nachdenckest/ ie besser wirst du verstehen/ was Sünde flir eine grosse Last sey", sagt J. Gerhard. 40 Vom "Sehen" des Leidens, wie die Predigt es in der Textparaphrase darstellt, soll der Christ fortschreiten zum "Nachdenken", wozu ihm die Predigt mit ihren Deutungen verhilft, und schließlich soll er es "verstehen" in der Anwendung seines Sinnes auf sich selbst, wie er es in den Applikationen der Predigt hört. Auf diese Weise wird nicht nur die Schwere und Vielfalt des Leidens Jesu deutlich, sondern dieses selbst wird durchsichtig auf ein hinter ihm liegendes Handeln Gottes mit der Welt an dem Sohn, der sie vertritt. Was der Mensch an Jesu Leiden über Gott und seine Absicht mit der Welt, über Gottes Zorn, sein Gericht über die Sünde und den unbußfertigen Sünder sowie über seine Versöhnung mit dem glaubenden Sünder lernen kann, ist der Predigt wichtiger als dieses Leiden selbst in seiner ergreifenden Faktizität. Darum bleibt sie auch nicht beim Aufruf zur Buße stehen. Wer aus Jesu Angst die Unerträglichkeit des göttlichen Zornes erfahren hat, soll nun die "Frucht seines Leidens" genießen: "daß du nicht in der Traurigkeit soH stecken bleiben, und darinnen verzagen, dann seine Traurigkeit ist deine Erlösung von solcher höllischer Traurigkeit.,,41 Christus "ward darum trostloß/ daß dich Gott mit reichem Trost möchte überschütten. ,,42 Oft wird wie im Paßional=Hand=Büchlein aus jedem der inneren Leiden Jesu ein tröstlicher Gedanke gezogen: "Nun/ Herr Jesu! Es ist diß alles über dich ergangen um meinet wegen; Du zitterst/ damit ich nicht sol ewig in der Hölle zittern; Du zagest; daß ich nicht sol in Sünden verzagen; Du trau rest/ daß ich ewig werde erfreuet; Deine Seele ist betrübt biß in den Tod/ auff daß meine Seele Freude empfinde/ und frölich seye in dir/ meinem Gott!,,43 Zur Stellvertretung Christi gehört nicht nur: Er ist "um unserer Sünde willen geschlagen", sondern auch: "damit wir Frieden hätten" (Jesaja 53,5). Mit den dogmatischen Bestimmungen der lutherischen Orthodoxie gesprochen: Nicht nur der satisfaktorische Aspekt, dem Reue und Buße von seiten des Menschen entsprechen, muß zum Ausdruck kommen, sondern auch der meritorische, dem Glaube und Trost korrespondieren.
40 Erklärung, S. 49. 41 Arndt, Postilla, S. 564.
42 Müller, Leyden Christi,S. 232. 43 S. 227.
130
Brockes jedoch reduziert an dieser für das Passionsverständnis entscheidenden Stelle Jesu Stellvertretung auf die satisfactio, und auch diese ist ihm vor allem um der Wirkung auf die Seele des Menschen willen wichtig. Daß damit seine Passionsbetrachtung eine ganz andere Richtung nimmt als die kirchliche, zeigt sich besonders an der zweiten Arie der "Tochter Zion" nach der Schilderung von Jesu Gebetskampf. Mit dieser Arie erreicht die ganze Szene ihren Höhepunkt: "Brich/ mein Hertz/ zerfließ in Thränen/ Jesu Leib zerfliesst in Blut. Hör sein Jämmerliches Aechzen/ Schau/ wie Zung und Lippen lächzen/ Hör sein Wimmern/ Seufftzen/ Sehnen/ Schau/ wie ängstiglich er thut. Brich mein Hertz ... " (S. 302) Die Anregung zu dieser Arie hat Brockes mit großer Wahrscheinlichkeit durch die erste Strophe der Liedpassion von L. Laurenti empfangen: "Fließt, ihr Augen, fließt von Tränen Und beweinet eure Schuld; Brich, mein Herz, von Seufzen, Sehnen, Weil ein Lämmlein in Geduld Nach Jerusalem zu Tod Ach, zum Tod für deine Not Und der ganzen Welt hinwandelt; Denk, ach, wie hast du gehandelt!" Der Unterschied ist jedoch deutlich: Wäluend bei Laurenti der Mensch seine Schuld beweinen und sein Herz "von Seufzen, Sehnen" brechen soll, veranlaßt bei Brockes der Anblick Jesu, sein "Seufftzen, Sehnen" das Herz zu Tränen des Mitleids. Allerdings wird man bei Brockes keinen Gegensatz zwischen Mitleid und Reue konstruieren und die Veränderung, die er an der Strophe von Laurenti vornimmt, nicht als Widerspruch auslegen dürfen. Hat er doch eben erst durch die "Tochter Zion" den Sünder zur Reue über seiner "sünden Scheusahl" aufgefordert. Reue und Mitleid sind ihm'vielmehr zwei Empfindungen, die nicht scharf zu trennen sind, sondern ineinander übergehen. Jesu Wort "Weinet nicht über mich, weinet aber über euch und über eure Kinder", das seit Luther immer wieder polemisch gegen die (katholische) Mitleidspredigt, gegen die compassio als Zweck der Predigt gewendet wurde, läßt Brockes für sich nicht mehr gelten. Er will starke Empfindungen des Mitleids und der Reue erwecken. Dabei geht es ihm weder um das Mitleid als subjektiv gefarbte Anteilnahme an Jesu Schicksal noch um die Reue als Vorbereitung für eine Gesinnungs- und Lebensänderung, sondern um die Intensität der Empfindung als solcher. Die Leiden Jesu werden hier ebenso zum bloßen Anlaß für die Erschütterung des Herzens wie zuvor der Gedanke an die eigenen Sünden. Nicht zufallig ist dabei in beiden Arien vom Anschauen bzw. Hören die Rede: Durch die Sinne wird das Gefiihl am unmittelbarsten affiziert. Wesentlicher als der Unterschied zwischen Reue und Mitleid in den beiden Arien der Tochter Zion ist der Wandel, der sich in der Sprechhaltung vollzieht. Wurde in der ersten Arie der Sünder von außen zum Anschauen seiner Sünden aufgefordert, so richtet sich in der zweiten der nun erst ausdrückliche Aufruf zur Reue an das eigene Herz: "Brichl mein Hertz ..." Eine solche Selbstermunterung ist zwar noch syntaktisch, kaum aber mehr der Sprechhaltung nach
131
von einem Selbst bekenntnis zu unterscheiden, wie es später der römische Hauptmann ablegt: "Jal jal es (scil.: "mein Felsen-Hertz") klopfftl es brichtl sein Sterben Reist meine Seel aus dem Verderben" (S. 319). Hier wie dort geht es um den Vollzug der Reue, um die Darstellung des Moments der Bekehrung. Diese dem Hörer beispielhaft vorzuführen, ist - dies kann vorwegnehmend gesagt werden - der letzte Zweck der Brockes-Passion, dem alle inhaltlichen Aussagen, historische wie deutende, zu dienen haben. Hier dokumentiert sich eine undogmatische, rein vom Gefühl bestimmte und auf es abzielende Passionsauffassung, die jede theologische Deutung der Passion, sei es die der lutherischen Orthodoxie, sei es die des Pietismus, hinter sich läßt. 44
3.
Synopse und deren Auswertung zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Brockes-Passion und der protestantischen Passionstradition
Dieses Ergebnis ist nun in einem zweiten Untersuchungsgang auf eine breitere Grundlage zu stellen. Die folgende Synopse von Stellen aus der Brockes-Passion und Predigtzitaten sowie, in einigen Fällen, Zitaten aus Passionsgedichten, die ihrerseits aus der kirchlichen Tradition schöpfen, soll die Fülle der Bezüge zwischen Brockes' Dichtung und der protestantischen Passionsauslegung sichtbar machen. Die Anmerkungen zu den einzelnen Stellen werden wiederum auf die wichtigsten Unterschiede zwischen beiden hinweisen. Anschließend werden die aus dem Vergleich gewonnenen Ergebnisse zu einer theologischen Gesamtdeutung des Werkes zusammengefaßt. 44 Eine aufschlußreiche Parallele zu Brackes' Darstellung von Jesu Gebetskampf findet sich in J. M. Dilherrs "Buß- und Passions-Betrachtungen". Dilherr erklärt, er wisse nicht, mit welchen Worten er diese Predigt beginnen solle. "Den ich kan mich nicht gnugsam besinnen; wenn ich da für mir traurig ligen sehe den Herrn Jesum: wenn ich da jämmerlich ächzen höre den Herrn Jesum: wenn ich da elendiglich zittern und zagen finde den Herrn Jesum: wenn ich! mit Leid und Schmertze übeschüttet/ antreffe den Herrn·Jesum.- (S. 194) Nach dieser Vergegenwärtigung des Leidenden erinnert er die Hörer an das Vorbild der Freunde Hiobs und fordert sie auf, als Jesu Freunde in seiner Not zu ihm zu kommen und ihn in seiner Anfechtung nicht allein zu lassen. Jesus rufe ihnen "gleichsam zu: Schauet doch! und sehet! ob irgend ein Schmertze sey! wie mein Schmertz! der mich troffen hat. Delin der Herr hat mich voll Jammers gemacht! am Tage seines grimmigen Zorns." (S. 197 f.) Dieselben Worte paraphrasiert Jesus in Brackes' Gebetsszene. Die Gemeinsamkeit geht noch weiter, denn Dilherr raIut fort: "Schauet aber ·nicht allein und sehet: Sondern weinet auch/ und last eure beede Augen fliessen mit Wasser; dieweil der Tröster! der eure Seele erquicken· saite! so trostlaß ist. Zureisset eure Hertzen! und nicht eure· Kleider; und erweget ·seine Angst im Sack und in der Aschen/ und mit heissen bittern Bußzähren." (S. 198) Brackes wie Dilherr wollen den Hörer bis zu dieser aus dem Mitleiden geborenen inneren Erschütterung und Bußhaltung führen. Während jedoch bei Brackes, wie wir sahen, diese von der "Tochter Zion" vorgebildete Gemütsbewegung Höhepunkt und Ziel ·der Gebetsszene ist, dient sie bei Dilherr lediglich der Vorbereitung auf deren Auslegung: Die zitierten Sätze stehen im "Eingang", der den Hörer auf die "Erklärung" einstimmen soll. Dem Aufruf zur Buße folgt die Ermahnung: "Wir wollen uns aber! in Kraft des H. Geistes! ein wenig ermannen und ermuntern! und abgelesenen Angst= und Trauertext ferner zu betrachten für uns nemen." (S. 199) Diese Betrachtung aber verläuft ganz nach dem oben skizzierten Muster der übrigen Predigten über diesen Abschnitt der Passion. - So zeigt auch dieser Vergleich, daß Brackes die Auslegung, aus der er einige Motive aufnimmt, der Einstimmung unterordnet.
132
I. "Mich vom Stricke meiner Sünden Zu entbinden! Wird mein Gott gebunden ... " (S. 299) "Meine Laster! sind die Stricke! Seine Ketten! meine Tücke! Meine Sünden binden ihn: Diese trägt er mich zu retten! Damit ich der Höllen Ketten! Möcht entfliehn." (S. 308) "Daß wir von diesen gefährlichen Banden des Teuffels! Todtes und der Hellen können erlöset werden! das haben wir allein Christo zu dancken! welcher sich umb unsert willen so willig hat lassen binden! daß wir möchten von den Sündenbanden errettet werden ... (Gerhard, Erklärung, S. 85). U
"Damit nun wir Sünder erlediget würden!läst sich derjenige binden! der da ist heilig! unschuldig! unbefleckt! und von der Sünde abgesondert ... " (Dilherr, BPB, S. 278). "Der Satan hatte mir die Stricke schon gewunden! daß in der Höll einmal ich ewig läg gebunden. Daß ich möcht werden 10ß!lässt du selbst binden dich o Jesu; dieses Band hat dir verbunden mich" (Dilherr, HK, S. 379). "So seyd geküß't, ihr süsse Liebes-Bande, Die Jesus angelegt, Die Er so gern und willig trägt, Dadurch mich zu entbinden! Nun bin ich ewig frey Von Satans Sc1averey! Laß mich mit dir in Creutzes-Banden gehen! Zureiß den Strick der Sünden, Und hilff der Hafft des Fleisches wiederstehen! Ach sey und bleib in letzten Todes-Stunden Gebund'ner Schatz, fest an mein Hertz gebunden." (S. Franck, Geist- und Weltliche Poesien, Jena 1711, S. 92) Von den in fast allen Passionspredigten breit ausgeführten Betrachtungen über Jesu Bande übernimmt Brockes die beiden Hauptgedanken: Jesus wird gebunden, 1. weil ich in Sünden verstrickt war (satisfactio), 2. damit ich vom "Stricke meiner Sünden" entbunden wetde (meritum). Den ethischen Aspekt, der z. B. bei Dilherr (H K) und bei Franck anklingt, übergeht Brockes. 2. "Von der Laster Eyter-Beulen Mich zu heilen! Läst er sich verwunden. Es muß meiner Sünden Flecken Zu bedecken! Eignes Blut Ihn farben; Ja! es will! ein ewig Leben Mir zu geben! Selbst das Leben sterben." (S. 299)
133
"Verwundet waren wiI/ und zwar durch Beschädigung deß verführischen Satans/ und der verdamlichen Sünde: werden aber auch widerum geheilet durch Wunden: und zwar durch die Wunden deß Sohns Gottes." (Dilherr, HK, S. 230) "Wie uns die Sünde geistlich verwundet hat, beschreibet Esaias am I, 6. Vom Haupt biß auff die Fußsolen ist nichts gesundes an uns, sondern Wunden und Striemen, und Eiterbeulen, die nicht gehefftet noch verbunden, noch mit Oel gelindert seynd. Auf daß nun Christus der Herr solchen unsern geistlichen Schaden heilete, hat er sich auch über seinen gantzen Leib verwunden lassen, daß auch von seinem Haupt biß auf die Fußsolen nichts gesundes a.n ihm gewesen, und uns also heilete. " (Arndt, Postilla, S. 633, vgl. S. 541,585) "Darum könnet ihr leicht erachten, daß er (seil. Christus) seine glaubige Braut so schön gemacht hat, daß er keinen Sündenflecken an ihr hat gelassen, für Gottes und aller heiligen Engel Augen, darzu hat er sein eigen Blut gebrauchet." (Arndt, Postilla, S. 478). "Blutrothe Sünden erfordern ein Blutrothes Opffer. Nun heißts: Wann eure Sünde gleich blutroth ist! soll sie doch Schneeweiß werden! und wann sie gleich ist! wie Rosin-Farbe/ soll sie doch wie Wolle werden/ Esa. 1. v. 18." (Müller, Leyden Christi, S. 373) Der Eingangschor (in der Synopse die Stellen 1a und 2) thematisiert in vier parallelen Aussagen (drei bildhaften und einer, die den Sinn der Bilder nennt) den Zweck ("Nutzen") der Passion überhaupt. Er hat damit eine ähnliche Funktion wie die erste Predigt einer Reihe, in der auch oft "Vom Leiden Christi in gemein" (Gerhard) gehandelt wird. Im Unterschied jedoch zu den vielfältigen Aspekten, unter denen die Passion dort betrachtet wird, beschränkt Brockes sich in allen vier' Aussagen auf das, was christus dem Menschen durch sein Leiden erworben hat, also auf den meritorischen Gesichtspunkt. Für das zweite, in der Brockes-literatur oft als besonders anstößig empfundene Bild sowie für das dritte zeigen die Zitate von Amdt und Müller die biblischen Quellen auf, während die beiden anderen Deutungen auf die kirchliche Auslegung zurückgehen. Die letzte, zusammenfassende ("Ja/ es will/ ein ewig Leben Mir zu geben/ Selbst das Leben sterben") findet sich hier ebenfalls häufig; vgl. z. B. Müller, Leyden Christi, S. 396: "Durch seinen Tod sind wir mit Gott ausgesöhnet/ und sein Tod ist unser Leben." Den Aussagen des Eingangschors liegt das Verständnis der Erlösung als Äquivalenz der Schuld zugrunde. 3. "Was Bähren-Tatzen! Löwen-Klauen! Trotz ihrer Wuht/ sich nicht getrauen! Thustu verruchte Menschen-Hand. Was Wundert daß/ in höchster Eile/ Der wilden Wetter Blitz und Keile! Dich Teuffels Werck-Zeug! nicht verbrannt!" (S. 305) "Schrecklich ists! daß hie der Knecht den Herrn/ die Creatur den Schöpffer! mit der Hand! die der Schöpffer selbst gemacht/ schläget in das Angesicht! das aller Engel und Außerwählten Lust und Freude ist. Wunder ists! daß diesen gottlosen Menschen nicht der Blitz und Donner hat zerschmettert! daß nicht
134
die Erde ihren Mund aufCgethan! und ihn verschlungen." (Müller, Leyden Christi, S. 286) "Nicht Wunder were es gewesen! daß diesem Knecht seine Hand verdorret were! wie vor Zeiten dem König Jerobeam geschach! da er nur nach dem Propheten griffe. Wunder were es auch nicht gewesen! wenn er von Stund an mit Außsatz were geschlagen worden! wie der Miriam geschach! als sie nur murrete! wider Mosen! ihren Bruder." (Dilherr, BPB, S. 292 C.) "Bedencket diese grosse Gewalt und Tyranney, einen für Gericht schlagen, der unschuldig ist, solchen Grimm übet der Satan wider Christum in seinen Werckzeugen." (Arndt, Postilla, S. 621) In den Predigten wird der Empörung über den Backenstreich allenfalls kurz und nur mit dem Ziel Ausdruck gegeben, Gottes Langmut aufzuzeigen, die den Knecht nicht sofort straft. Die meisten Prediger beherzigen jedoch die Mahnung: "Es ist aber nun keineswegs damit ausgerichtet, daß wir auf diesen Knecht schelten und losziehen, daß wir ihn anklagen, verfluchen und vermaledeyen . . . , sondern wir müssen bedencken, daß unsre Sünden auch mit das Ihrige dazu beygetragen haben" (Rambach, Betrachtungen, S. 295) - eine Mahnung, mit der schon Luther die auf'compassio zielenden Passionspredigten bekämpfte. Brockes greift also auch hier wieder ein lediglich der Einstimmung dienendes Nebenmotiv aus der Tradition auf. 4. "Drauf krähete der Hahn; So bald der heis're Klang! Durch Petrus Ohren drang/ Zersprang sein Felsen-Hertz! und alsbald lierr! (Wie Moses Feiß dort Wasser gab) Ein Thränen-Bach von seinen Wangen ab ... " "Heul du Schaum der Menschen-Kinder! Winsle wilder Sünden-Knecht! Thränen-Wasser ist zu schlecht/ Weine Blut! verstockter Sünder!" (S. 306) "Zerschlag'ner Feiß, Laß Thränen-Wasser fließen! Ach Petre! weine fort, Vor deine Sünd' und Missethat zu büßen! Ich stelle mir dich für, Mein Hertz weint Blut in mir! ... " (Franck, Poesien, S. 93) . ."A~h! daß du doch! Herr Jesu/ auch unser steinernes Hertz erweichest! unsere eherne Stirn veränderst/ und unsere so schwere unzähliche Sünden betrauren und beweinen liessest! Laß doch du sündiger Mensch! Tag und Nacht Threnen herab fliessen! wie einen Bach/ höre auch nicht auf! und dein Augapffel lasse nicht ab ... " (Dilherr, BPB, S. 329. Zum letzten Satz am Rand: "Thren. 2/ 18". Das Bild vom Tränenbach ist also biblischer Herkunft.) "Ach ists auch möglich! daß du dich in solcher betrachtung des Weinens enthalten soltest? Fürwar nicht nur schlecht Thränenwasser! sondern wanns seyn köndte! Blut soltestu weinen wegen deiner Boßheit ... " (Heermann, Crux Christi, S. 230)
135
Die emblematische Beziehung zwischen dem weinenden Petrus und dem Wasser spendenden Fels von Numeri 20, 11 hat Brockes, wie bereits Frederichs erwähnt (S. 74), bei Hunold vorgefunden, der auch die biblische Quelle notiert.' Diese Ausdeutung des Namens kam Brockes' Interesse an Petrus als dem Vorbild der Bekehrten entgegen. S. Franck, der das Motiv ebenfalls verwendet, bezieht doch sofort das eigene Ich in die Buße ein. Auch in der Predigt wird die allegorische Deutung des Namens Petrus durchweg für die applicatio fruchtbar gemacht. Das steinerne Herz in jedem Menschen muß erweicht werden. Die Wendung "Blut statt Tränen weinen", die sich in Predigten über Petri Reue nicht selten fmdet, hängt damit zusammen. Nicht nur die Augen, auch das Herz soll weinen. . 5. "Sprichst du denn auf dieß Verklagen! Und das spöttische Befragen! Ewig Wort! kein eintzir. Wort? Nein! ich will euch itzo zeigen! Wie ich wiederbring durch Schweigen Was ihr durchs Geschwätz verlohrt." (S. 309) "Er schweiget still! unsere unnütze und überflüssige Worte zu büssen! daß wir nicht dürffen Rechenschafft geben von einem jeden unnützen Worte" (Müller, Leyden Christi, S. 294) "Du schweigest! und büssest mit deinem Schweigen mein sündliches Geschwätz! o . o' Du schweigest! damit ich meinen Mund auffthun! und zu deinem! und itzo auch meinem! Vater schreyen darff: Abba! das ist! lieber Vater!" (PaßionalHand-Büchlein, So 264 fo) Der Gedanke, daß Jesus schweigt, um unser "Geschwätz" zu büßen, den Frederichs, unhistorisch urteilend, "peinlich moralisierend" nennt (S. 71), ist in den Predigtbetrachtungen über Jesu Schweigen vor dem Hohen Rat üblich. Freilich ist er hier immer nur ein Nebengedanke,45 der sich aber aus dem Grundsatz der Äquivalenz jedes einzelnen Leidens Jesu mit einer bestimmten Sünde (hier: unschuldiges Schweigen büßt schuldhaftes Reden) mit Notwendigkeit ergab. - Was wir "durchs Geschwätz" verloren haben, ist nach der üblichen Auslegung die Möglichkeit, uns vor Gott zu verantworten (vgl. das Zitat aus dem Paßional-Hand-Büchlein!). Ob Brockes dies gemeint hat, geht aus seiner sehr allgemeinen Formulierung nicht deutlich hervor. 6. "Drum! Seele!'schau mit ängstlichem Vergnügen! Mit bittrer Lust und mit beklemmtem Hertzen! Dein Himmelreich in seinen Schmertzen! Wie dir auf Dornen! die ihn stechen! Des Himmels Schlüssel-Blumen blühn! Du kannst der Freuden Frucht von seiner Wermuht brechen. Schau! wie die Mörder ihm auf seinem Rücken pflügen Wie tieff! wie grausam tieff sie ihre Furchen ziehn! Die er mit seinem Blut begiesset! Woraus der todten Welt des Lebens Emdt' entspriesset/
45 Zur Deutung des Schweigens Jesu vgl. Müller, u. S. 175.
136
Ja/ ja! aus J esu Striemen fliesset Ein Balsam/ dessen Wunder-Krafft Von solcher seltnen Eigenschafft/ Daß er sein eigne nicht/ nur fremde Wunden heilet/ Uns Leben/ Lust und Trost/ ihm selbst den Tod ertheilet." (S. 311) »Die Pflüger haben auff deinem rücken geackert I ach sie haben ihre furchen lang gezogen/ Psalm 129." (Herberger, Horoscopia, S. 283 f.) »Du bist der edle safftige Baum des lebens/ du wirst geritzet/ das heilsames öle von dir fliesse/ das krefftiges hartz von dir trieffe/ daraus eine krefftige baumsalbe bereitet werdei die wunden meines gewissens von grund auß zu heilen." (Herberger, Horoscopia, S. 285) »Gleichwie die köstlichen und heilsamen Balsambäumlein ihre edle Balsamtröpfflein ausfliessen lassen, wenn man dieselben versehret und verwundet, denn auf diese Weise pfleget man den Balsam zu sammlen, welcher die Krafft hat, die Wunden zu heilen, die Gestalt des Menschen schön zu machen, Ps. 104, 15. und mit seinem Geruch den Menschen zu erfreuen und zu erquicken: Also hat sich der zarte Baum des Lebens, unser Herr Jesus Christus, um unsernt willen verwunden lassen, auf daß seine edle, zarte, allerheiligste Blutströpfflein mildiglich heraus quöllen und flössen, unsere Seelenwunden zu heilen, und für Gott dem Herrn schön zu schmücken als die edelsten Perlen und Rubinen, und unsere matte Hertzen zu erquicken." (Arndt, Postilla, S. 476) »Bleibet der am Creutz verflucht/ Welchen meine Seele sucht? Wo ist seines Leidensfrucht/ Welchen meine Seele sucht? Welcher meine Lieb vergnüget/ Liget furchen weiß gepflüget/ Aus dem bittern Frülingsleiden Sprost der Schwachen Sünderkrafft. Der Granaten Purpursafft Kanuns trösten/laben/ weiden/ Trösten in dem Threnenzelt/ Laben/lassen wir die Welt/ Weiden in dem ·Sternenfeld." (Klaj, Der leidende Christus, S. 29) »0 Rosen-Feld, Auf meines Jesu Rücken! o Feld, auf den der Feinde Frevel pflügt, Und Furchen zieht! 0 Feld, das mich vergnügt! Hier erndt' ich lauter Freuden ein Und schönste Lebens-Frucht, Hier sind die Scheuren Geist und Hertz Der Glaube spannt den Wagen an, Der diese Frucht einführen kan, So nützt mir meines Iesu Schmertz!" (S. Franck, Poesien, S. 96) »Sey, höchstes Haupt, verehret, Vor dem sich auch der Himmel bückt! Wie bist du doch so herrlich ausgeschmückt? Sollt' ich für deinen Dornen fliehen, Auf welchen mir die Himmels-Rosen blühen?" (S. Franck, Poesien, S. 97)
137
Wie die Parallelen in den Dichtungen Klajs und Francks zeigen, werden die Motive aus dem Hohenlied und aus dem 129. Psalm, die Brockes hier verwendet, auch sonst überwiegend in poetischen Texten gebraucht. Jedoch finden sie sich vereinzelt auch in den Passionspredigten (bei Arndt in der Einleitung, bei Herberger im gleichen Zusammenhang wie bei Brockes), die ihren Bilderreichtum ja ebenfalls vorwiegend diesen beiden Büchern der Bibel verdanken. Der rasche Wechsel der Bilder (Dornenstrauch, Wermutpflanze, gepflügtes Feld, Balsam spendender Baum) ist ftir die Dichtung der Zeit nichts Ungewöhnliches. Aber auch in der Predigt finden sich derartige, lediglich durch ein gemeinsames Stichwort verbundene Häufungen bildhafter Motive. - Dieses und die beiden nächsten Stücke der Passion sind allegorische Ausdeutungen biblischer Naturmotive.46 Dichterisch ragen sie deutlich über die meisten anderen Texte der Passion hinaus und kündigen bereits den späteren, die Allegorie hinter sich lassenden Dichter der "Naturherrlichkeit im deutschen Gedicht" (Haufe) an. Die Naturlyrik des "Irdischen Vergnügens in Gott" dijrfte nicht unerheblich von der geistlichen allegorischen Naturbetrachtung beeinflußt worden sein. 7. "Dem Himmel gleicht sein bunt-gestriemter Rücken/ Den Regen-Bögen ohne Zahl Als lauter Gnaden-Zeichen schmücken; Die (da die Sünd-Fluht unsrer Schuld verseiget) Der holden Liebe Sonnen-Strahl In seines Blutes Wolken zeiget." (S. 311) "Das Leyden Christi ist durch den Regenbogen bedeutet/ welcher unter andern wunderlichen Farben auch eine Blutfarbe hat/ welchen/ so der Herr ansehen würde! wolte Er an seine Gnade gedencken/ und die Welt nicht mehr in seinem Zorn verderben. Der Herr Jesus aber als Er am Creutz hieng mit ausgespanneten Armen/ mit blutigen Striemen/ wie im Regenbogen solche Striemen seyn! ist dieser geistlicher Regenbogen/ welches Wunden/ so der Vater ansiehet/ uns gnädig ist." (Arndt, S. Predigt am Sonntag Palmarum, Postilla, S. 417) ("Letztlich wird dem Herrn seine heilige Seiten mit einem Speer geöffnet ... ) Diß ist der geistliche Regenbogen, mit seiner Wasser- und Blutfarbe, den Gott als einen Zeugen. in die Wolcken gesetzet hat. Wann Gott denselben ansiehet, so will er uns gnädig seyn." (Arndt, Postilla, S. 442) "Der Regenbogen ist eine Mutter der Verwunderung/ eine Zierde deß Himmels; Sihe den Regenbogen an/ dann er hat sehr schöne Farben. Hier grünet die Dorngeflochtene Krone; es rötet das häuffig vergossene Blut; es bleichet die gelblich-blasse Farbe deß Todes. Dieser Regenbogen fänget an zu tröpflen/ regnen! ja zu giessen Schweiß! Threnen! Wasser und Blut ... " (Klaj, Trauerrede über das Leiden seines Erlösers, S. 17) Die Erwähnung des Regenbogens als Zeichen des Versöhnungsbundes (Gen 9,12-17) ist in der Passionspredigt selten. Die deutlichen Parallelen insbesondere zu den beiden Arndt-Stellen beweisen jedoch, daß Brockes den Vergleich nicht selbst gefunden, sondern übernommen hat wie all die anderen emblematischen Deutungen von Bibelstellen. 46 S. Anhang III.
138
8. "Mein Heiland/ Herr und Fürst! Da Peitsch und Ruten dich zerfleischen/ Da Dorn und Nagel dich durchbohrt Sagst du ja nicht ein eintzig Wort: Jetzt hört man dich zu trincken heischen/ So wie ein Hirsch nach Wasser schreit. Wornach mag wohl den Himmels-Fürsten/ Des Lebens-Wassers Quelle dürsten? Nach unser Seelen Seeligkeit!" (S. 317) "Ein Wunder-Durst/ der Brunn des Lebens empfindet Durst ... Er redet auch von einem geistlichen Durst/ denn ihn dürstet nach uns und nach unser Seeligkeit." (Müller, Leyden Christi, S. 429) "Über das so hat auch Christum gedürstet nach unserm Heyl und Seeligkeit. Denn weil in seinem Hertzen das Feuer der brünstigen Liebe brennete/ daher sprach er/ Mich dürstet ... " (Gerhard, Erklärung, S. 273) "Ein Hirsch, wann er mit der Schlangen kämpffet, und sie frisset, so bekommt er einen grossen Durst, daß er nach dem Wasser schreyet, wie der 42. Psalm v. 2. spricht: Wie der Hirsch schreyet nach frischem Wasser, etc. Also dieser frühgejagte Hirsch und Hinde, wie ihn der Titel des 22. Psalms nennet, hat unsere Sünden- und Schlangen-Gifft an sicl\ gezogen . . . Ach, wolte Gott, daß nun der heilige Durst Christi am Creutz, da ihn nach unser Seligkeit gedürstet hat, auch in uns einen heil. Durst nach ihm erweckete." (Arndt, Postilla, S.601)
Wiederum wählt Brockes nur ein Motiv aus den üblichen breiten Meditationen über Jesu Durst aus. Daß die Menschen ihm diesen Durst erregt haben, weil sie "das Unrecht in sich saufen wie Wasser" (Hiob 15, 16; vgl. Milller, Leyden Christi, S. 429), daß er ihn leidet, damit sie nicht in der Hölle verschmachten müssen, und daß dieser Durst ,.in uns einen heil. Durst nach ihm" erwecken soll (Arndt), diese in den Predigten ausgeführten Gedanken übergeht Brockes zugunsten des einen Motivs von Jesu Durst nach unserer Seligkeit. Dieses Motiv steht außerhalb der Äquivalenzbeziehungen. Als erbauliche Auslegung des ,geistlichen' Durstes Jesu fehlt es aber im 17. Jahrhundert in kaum einer Predigt über das fiinfte Kreuzeswort. Für seine Herkunft aus der mittelalterlichen Passionstradition spricht z. B. ein Gebet wie das von A. Musculus unter dem Namen Bonaventuras überlieferte: "0 Jesu fons inexhaustae pietatis, qui ex intimo dilectionis affectu in cruce dixisti: Sitio secundum salutem humani generis, accende quaesumus nostrum desiderium ad omne opus perfectum, & sitim carnalls concupiscentiae, & aestum mundanarum dilectionum in nobis penitus refrigera & extingue, Amen.47 Auch der pseudoanselmische "Dialogus Beatae Mariae et Anselmi de passione domini" enthält dieses Motiv: "Postea sciens Jesus quia omnia consummata essent, dixit: Sitio (Joa. XIX, 28). Quid, Domine, sitis? Salutem peccatorum."48 Die meisten Passionsprediger übernehmen es aber wohl aus einer (pseudo-)bernhardinischen Schrift "De 4 7 Precationes ex veteribus orthodoxis doctoribus, S. 117. Musculus war neben Moller der entscheidende Vermittler mittelalterlich-mystischen Gedankenguts an den Protestantismus des 17. Jahrhunderts.
48
MPL 159, Sp. 284.
139
passione Domini", aus deren 13. Kap. J. Gerhard 49 zitiert und H. MüllerSO übersetzt: "Nach was für einem Trancke empfand doch einen Durst der heilsame Brunn des lebendigen Wassers/ die Ader des Lebens/ der Strom der Wollust/ der Fluß/ welcher das Himmlische Paradieß befeuchtet? Warlich dürstete Ihn nach unser Seeligkeit: Dm dürstete nemlich nach unserm Durste/ daß uns dürsten möchte nach Gott/ als dem lebendigen Brunnen." - Brockes mußte dieses Motiv wegen seiner religiösen Anschaulichkeit und Eindringlichkeit schon rein dichterisch reizvoll erscheinen, vor allem aber, weil es seiner milden Erlösungsauffassung entsprach. 9. "Sind meiner Seelen tieffe Wunden Durch deine Wunden nun verbunden? Kan ich durch deine Qual und Sterben Nunmehr das Paradieß ererben? Ist aller Welt Erlösung nah? Dieß sind der Tochter Zion Fragen; Weil Jesus nun nichts kan vor Schmertzen sagen/ So neiget er sein Haupt/ und wincket: Ja!" (S. 318) "Drauff neigestu das Heupt/ Herr Jesu/ du wilt mit dem Munde nicht mehr reden/ noch kanstu es nicht lassen/ du must mit geberden reden ... Herr Jesu/ sage mir docht ob ich auch durch dich sol selig werden/ du hast mirs in vielen klaren Worten zugesagt/ unnd geschworen/ itzt neigestu das Heupt/ und sprichst mit geberden: Ja/ Ja." (Herberger, Horoscopia S. 443 f.) Für die ersten fünf Zeilen sind auch die oben unter 2. angeftihrten Zitate von Dilherr und Arndt zu vergleichen. Die zugrundeliegende Vorstellung ist wieder die des Ausgleichs, der Heilung von Wunden durch Wunden. Die Deutung des Hauptneigens als bejahende Antwort auf die Frage der Seele nach ihrer Erlösung hat Brockes als besonders rührenden Zug aufgenommen. Daß es sic;h so verhält, beweist der Ausruf der "Tochter Zion" nach dieser Arie: "0 Großmuth! 0 erbarmendes Gemüth!", der die Rührung zum . Ausdruck bringt.51 10. "Wie kömmts/ daß/ da der Himmel weint/ Da seine Klüfte zeigt des blinden Abgrunds Rachen/ Da Berge bersten/ Felsen krachen/ Mein Felsen-Hertz sich nicht entsteint? Ja/ ja/ es klopfft/ es bricht/ sein Sterben Reist meine Seel aus dem Verderben." (S. 319) "So dieselbigen (seil. "glossen Wunderwercke") auch heydnische Hertzen/ über dem Todt Christi/ kräfftiglich geruhret/ und bewogen haben ... solten denn solche Wunder nicht noch unser Hertzen rühren/ und zu andächtiger Betrachtung des Todts Christi bewegen? So müsten dieselbigen härter denn Stein und Eisen seyn." (Alardus, Der gecreutzigte Christ, S. 630)
49 Harmonia Historiae Evangelicae de passione, Sp. 276. 50 Anmerkungen über die Leidensgeschichte Jesu Christi, S. 448.
51 Ganz ähnlich wird die Bemerkung, daß Jesus sein Kreuz selbst trug, von der "Tochter Zion" mit einem mitIeidvolien Ausruf: "Ach herbe Plagen! ... " (S. 315) verstärkt. Die Erwähnung Simons von Kyrene hätte diese Wirkung nur abschwächen können. Außerdem hätte sie die Gedanken des Hörers in eine Richtung gedrängt, die Brockes konsequent gemieden hat: in die Richtung der Leidensnachfolge, rur die Simon in der Passionsauslegung das VorbiI
140
"Lehren uns die Felsen-Klüffte, daß wir den schmählichen bittern Tod Christi sollen lassen unsere steinerne Hertzen zureissen und zu knirschen, daß wir doch nicht so hart und grob seyn, daß ehe ein Felsen zureisset, dann unsere Hertzen können bewogen werden." (Arndt, Postilla, S. 605) "Wir sollen uns dieses lassen eine Warnung seyn/ daß wir ja nicht unsere Hertzen wie Stein und Felsen verherten/ sondern Christi Leiden uns lassen ins Hertze gehen/ und zu wahrer Busse dardurch erweichet werden." (Gerhard, Erklärung, S. 291 f.) "Seh't an! die Erde bebt Und die zersprung'ne Felsen klagen Den Feiß des Heyls, der allzusehr zuschlagen! Ach Hertz! willst du noch härter seyn Als Erde, Feiß und Stein? Erbebe doch von wegen deiner Sünden Und laß dich reuig finden! Der Feiß des Heyls ruft dir im Tode zu: Komm, Taube, such in meinen Löchern Ruh!" (Franck, Poesien, S. 106) Häufiger als anläßlich der Reue Petri ist in den Predigten an dieser Stelle die Rede von den Herzen, die wie die Felsen zerbrechen müssen. Die Predigten deuten dieses Wunder jedoch immer auch als Zeichen des göttlichen Zorns ("Sein zorn brennet wie feuer/ und die felsen zerspringen vor ihm", Nahum 1,6). Um ihm zu entfliehen, sollen wir unsere Herzen erweichen lassen. Dieser Gedanke ist Brockes fremd, wie überhaupt jede ,metaphysische' Deutung der Passion. Die Erlösung geschieht Brockes zufolge allein im innerseelischen Raum. 11. "Bey Jesu Todt und Leiden/leidet Des Himmels Kreiß! die gantze Welt: Der Mond/ der sich in Trauer kleidet/ Gibt Zeugniß! daß sein Schöpffer fällt; Es scheint! ob lesch in Jesu Blut/ Das Feur der Sonnen Strahl und Gluht. Man spaltet ihm die Brust/ die kalten Felsen spalten/ Zum Zeichen! daß auch sie den Schöpffer sehn erkalten. Was thust denn du mein Hertz? Ersticke Gott zu Ehren/ In einer SÜfidfluth bittrer Zähren." (S. 320) "Sind solche Zeichen Zeugen der Gottheit Christi unsers Herrn, dann die gantze Natur hat Mitleiden mit ihrem Schöpffer, entsetzet sich, und erzittert dafür." (Arndt, Postilla, S. 642) "Nun ist das fürwar ein groß schrecklich Wunder, daß die Sonne, die zu einem grossen Tages-Licht erschaffen, ... ihren Schein soll verliehren. Das ist fürwahr ein gewaltig Zeugniß, das die Natur leidet, nemlich die gröste, schönste und herrlichste Creatur, und leidet mit ihrem Schöpffer, und verkündiget das Leiden des Schöpffers." (Arndt, Postilla, S. 643) Brockes deutet die Naturwunder zunächst in derselben Weise wie Arndt: als Zeichen der Trauer der Kreatur über den Tod ihres Schöpfers. Darüber hinaus vollzieht Brockes jedoch auch hier die Bewegung vom Äußeren (Naturereignis) zum Inneren (Erschütterung) unter Verwendung der antithetischen Metaphern Feuer und Wasser. Auf seine spätere Naturlyrik weist die Art voraus, wie hier in der Rede des heidnischen Haupt-
141
manns die Natur zum Spiegel seelischer Vorgänge wird. Die anthropomorphe Darstellung der Naturwunder (der Himmel leidet, der Mond kleidet sich in Trauer, gibt Zeugnis usw.) läßt erkennen, daß sie von der Analogie zum innerseelischen Erlebnis her konzipiert ist, auf das die Verse hinzielen. Die weltweite, ja kosmische Bedeutung des Todes Jesu, von dem die Naturwunder den Predigten zufolge Zeugnis geben, interessiert Brockes nur als Anlaß für jenes Erlebnis. 4, Theologische Deutungder Brockes-Passion: Erlösung ohne Versöhnung Mit dieser Zusammenstellung sind zwar keineswegs alle, aber doch die wichtigsten und deutlichsten Beispiele für die Beziehungen zwischen der Brockes-Passion und der Auslegungstradition der protestantischen Passionspredigt genannt. Die Fülle dieser Beziehungen erlaubt die Feststellung, daß jene Tradition eine ähnlich große Bedeutung als Quelle für die die Passion deutenden Bilder und Vorstellungen gewinnt, wie sie die Bibel als Quelle für die erzählenden Teile der Dichtung hat. Auch Brockes' Verfahren bei der Benutzung dieser Tradition ist dasselbe wie bei der der biblischen Vorlage: Die Hauptzüge und viele Einzelheiten übernimmt er, ohne sich jedoch gänzlich zu binden. Durch Auswahl, Hinzufügungen und Veränderungen der erzählenden wie der deutenden Quellen verleiht er seiner Dichtung doch eine ganz eigene Prägung.52 Daß Brockes dort, wo er deutende Motive übernimmt, zumeist nur eines auswählt, wo die Predigten die Deutung unter den drei Aspekten der satisfactio, des meritum und des monitum durchführen, ergibt sich zunächst selbstverständlich aus den andersartigen Bildungsgesetzen, denen die Dichtung unterworfen ist. Auffällig ist jedoch, daß Brockes seine Auswahl oft gar nicht unter diesen drei die religiöse Bedeutung der Passion aufzeigenden Aspekten trifft, sondern unter denen, die eine Textstelle erbaulich paraphrasieren und deutlich vorbereitenden, einstimmenden Charakter haben. Bei Brockes tritt damit die Einstimmung vielfach an die Stelle der Auslegung. Diese Beobachtung bestätigt das Ergebnis des ersten Untersuchungsgangs. Sagten wir dort, daß Brockes mit der Betonung des emotionalen Gehalts jede theologische Deutung der Passion hinter sich läßt, so bedarf diese Feststellung nun jedoch ein«,lr Ergänzung. Der Dichter will durchaus auch die Bedeutung der Passion Jesu ·zum Ausdruck bringen. Dies tut er, indem er fragt, was Jesu Leiden und Sterben dem Menschen erworben hat, und ant-
52 Darum ist es auch wenig wahrscheinlich, daß Brockes einen bestimmten Predigt- oder Gedichtzyklus als QueUe benutzt hat, wenngleich auch diese Möglichkeit nicht völlig auszuschließen ist. So gibt es etwa manche auffälligen Berührungen zwischen seiner Passion und J. Rists "Musikalischen Andachten" (in: Neue Hoch-Heilige Paßions-Andachten), die jedoch nicht ausreichen, um die Benutzung dieser Dichtung durch Brockes sicher nachzuweisen. Selbst so erstaunliche Übereinstimmungen wie die zwischen Brockes und Herberger in zwei Fällen (s. o. in der Synopse Nr. 6 und Nr. 9) beweisen noch keine literarische Abhängigkeit der Dichtung von diesen Predig~ ten. Daß allerdings Brockes sich von Passionspredigt-, -lied- oder ~edichtsammlungen hat anregen lassen, sich also nicht nur auf die mündliche Überlieferung gestützt hat, erscheint mir sicher.
142
wortet: Er hat ihm das ewige Leben, die Seligkeit erworben. Wir haben gesehen, daß Brockes immer wieder diesen einen Aspekt des meritum unter den zentralen Deutungen des Passionsgeschehens auswählt. Jesus stirbt, damit wir leben: dies ist der stets wiederholte, vielfältig abgewandelte Grundgedanke seiner Passionsbetrachtung. Nach seiner vierfachen Variation im Eingangschor, dessen programmatischer Charakter nun deutlich wird, finden wir ihn an zwei weiteren wichtigen Stellen klar ausgedrückt. In der "Aria ä 2" mit Maria sagt Jesus am Kreuz: "Ja/ der Welt sterb ich zugut/ Ihr den Himmel zu erwerben." (S. 315) Und der Schlußchoral der Passion endet mit den Versen: "Wenn ich gleich sterb, so sterb ich dir, Ein ewigs Leben hast du mir Mit deinem Tod erworben." (S. 320)53 Nur vor dem Hintergrund der kirchlichen Auslegungstradition wird überhaupt sichtbar, daß es sich dabei um eine einseitige Auswahl handelt. Völlig unberücksichtigt bleibt bei Brockes det gerade auch in pietistisch beeinflußten Predigten stark hervorgehobene Gedanke der Nachfolge Jesu im Handeln und im Leiden. Als Konsequenz aus der Passionsbetrachtung legt die Brockes-Passion dem Menschen ausschließlich die Weckung von Gefühlen nahe: Reue und Buße, zuletzt auch Trost und Ruhe: "Wisch ab der Thränen scharffe Lauge/ Steh/ seelge Seele/ nun in Ruh!" (S. 320), niemals aber Gelassenheit und Demut im Leiden, Furchtlosigkeit angesichts der Bosheit der Welt und andere sittliche Verhaltensweisen, die die Predigten als das monitum aus der Passion ableiten. Der Grund für diesen völligen Verzicht auf den ethischen Aspekt der Passionsdeutung ist leicht zu erkennen: Ermahnung, Aufforderung und Gewissensappell weisen den Menschen über seine Gegenwart hinaus, bewirken eine Spannung zwischen seinem faktischen und dem geforderten Leben und veranlassen ihn, von sich selbst fort auf anderes und andere zu blicken. Brockes aber will von all dem das Gegenteil bewirken: Der Hörer soll auf das Leiden Jesu schauen, um sich selbst zu betrachten und zu erkennen, und die Spannung, in die er dabei versetzt wird, ist eine innerseelische zwischen seiner VerIorenheit und seinem Erlöstsein. Für den Erlösten gibt es keine Spannung mehr, er ist "in Ruh", damit auch endgültig bei sich selbst. 53 Die Choralsuophe "Amen, mein lieber, frommer Gott", durch die Brockes seit 1725 diese 3. Strophe aus "Wenn mein Stündlein vorhanden ist" ersetzt, enthält diesen Gedanken freilich nicht mehr. Damit geht auch seine durch den Bezug zum Eingangschor gegebene bedeutsame Rahmenfunktion verloren. Die Passion endet jetzt mit der Bitte an Gott: " ... hilff, daß wir mögen alI zu gleich bald in dein Reich kommen unnd bleiben ewigleich." Das ewige Leben ist nicht mehr meritum Christi, sondern Gabe Gottes. Die Abkehr von der Christologie, im .Irdischen Vergnügen" volIendet, beginnt bereits in der Passion - und zwar, wie zu zeigen sein wird, nicht erst mit der ausgewechselten Schlußsuophe, sondern bereits in den ursprünglichen Fassungen von 1712 und 1713.
143
Nicht ganz so konsequent wie die Frage, wozu die Passion den Menschen verpflichtet, drängt Brockes die andere zurück, warum denn Jesus leiden und sterben mußte, wenngleich sie für ihn nicht annähernd so wichtig ist wie die Frage nach dem Zweck dieses Leidens. Er nennt als Ursache für die Passion mit der Tradition "meine Sünde": "Wer hat was Jesus büßt/ gethan? Nur ich bin schuld daran. Meine Laster/ sind die Stricket Seine Ketten/ meine Tückel Meine Sünden binden ihn ... " (S. 308) Daß Jesu Leiden Buße für die Sünde der Menschen ist, erweist sich jedoch vor dem Hintergrund der Auslegungstradition als eine verkürzte Redeweise. Die Predigt entfaltet die Ursache des Leidens Christi stets nach zwei Seiten: nach der Seite Gottes und nach der des Menschen. Arndt nennt als "Ursach des Todes Christi": "daß nicht eben die Feindschafft der boßhafftigen Leute Christum ans Creutz gebracht habe, sondern der Wille seines himmlischen Vaters, daß er beschlossen hatte, uns durch den Tod seines Sohnes zu erlösen", und erst danach fragt er: "Wer hat Christum erwürget und gecreutziget? Habens nicht deine Sünden gethan?,,54 In den meisten Predigten wird unmittelbar auf Anse1ms Satisfaktionslehre zurückgegriffen. Das geschieht häufig in kurzen Bemerkungen wie der folgenden: "Es kan das menschliche Geschlecht bey Gott nicht versühnet werden! es geschehe dann zuvor seiner Gerechtigkeit für die Sünde ein Genügen ..55 , bisweilen aber auch in längeren Ausführungen, die sich wie Zusanlmenfassungen von Anse1ms "Cur deus homo"lesen. 56 Daß Gott in der Passion Jesu das Gericht über die Sünde der Menschen vollzieht, ist der ernste Hintergrund der Aussage, daß Jesus "meine Sünde büßt". Kommen wir von dieser Differenzierung der Frage nach der Ursache des Leidens Christi zu Brockes zurück, so zeigt sich sehr deutlich, daß ihm der Gedanke an eine göttliche Ursache des Leidens Christi fremd ist. Er erwähnt ihn zwar einmal, nämlich im Gebet Jesu in Gethsemane 57 , um dann aber sogleich zurückzulenken zu dem ihm vertrauteren Gedanken:. "Sünderl schaut mit Furcht und Zagen Eurer Sünden Scheusahl an ... " (S. 30 I)
54 Postilla, S, 607 f. 55 Müller, Leyden Christi. S. 275. 56 "Denn weil der Mensch mit seinen Sünden die unendliche Majestät Gottes erzürnet! und also unendliche ewige Straffen verdienet hatte: So hat ja eine unendliche Zahlung/ und Genugthuung dafUr geschehen müssen. Nun kondte aber kein Mensche solche Genugthuung leisten! und hette er demnach im ewigen Verderben bleiben müssen. Derwegen solte uns geholffen werden! so muste ,der einige und ewige Sohn Gottes Mensch werden! auff daß er als ein Mensch leiden! und sterben kondte: Und auch als wahrer Gott! im angenommenen Fleische! durch sein bitters Leiden! und schmertzlichen Todt vollkommen zahlen! und der unendlichen Gerechtigkeit Gottes gnugthun möchte." (Alardus, Der gecreutzigte Christ, S. 635) 57 S. o. S.127.
144
Diese einseitige Fassung des Aspekts der satisfactio bei Brockes ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Passion in seiner Dichtung. Es läßt sich auf die kurze Formel bringen: In der Brockes-Passion geschieht Erlösung ohne Versöhnung. Bereits Frederichs hat gesehen, daß Brockes "in seiner Passionsdichtung einen Jesus ohne Gott (zeichnet) ...s8 Der Grund dafür läßt sich aber theologisch exakter bestimmen, als es bei Frederichs mit !lern Hinweis auf eine pietistisch gefärbte Jesus-Frömmigkeit des jungen Dichters geschieht. Er liegt im Verständnis der Erlösung als eines Geschehens, das sich allein zwischen Jesus und dem Menschen vollzieht. Der Mensch, in Sünden verstrickt59 , hat "den Himmel" und "die Seligkeit" verloren, ihn schreckt "des Teufels und der Höllen Macht". Indem Jesus "fiir ihn" leidet und stirbt, rettet er ihn von "der Höllen Ketten", reißt seine "Seel aus dem Verderben", sperrt ihm "den Himmel auf und schließt die Hölle zu". Darin erweist er dem Menschen seine liebe, die ihm selbst das Herz schmelzen läßt: "Jesu/ dich mit unsern Seelen Zu vermählen/ Schmiltzt dein liebend Hertz vor Liebe ... " (S. 313) Der Anblick dieses Leidens aus liebe bricht dem. Sünder das harte Herz, es erweicht "in einer Sündfluth bittrer Zäluen". Diese Beschreibung des Erlösungsgeschehens kommt ohne den Rekurs auf einen Gott aus, vor dessen Zomgericht über die Sünde der Mensch stehen sollte und von dem Christus an unserer Stelle tatsächlich vor dieses Gericht gestellt wird. Zwar behält Brockes den Gedanken der Stellvertretung Jesu "fiir uns" bei, er entzieht ihm aber die Grundlage, indem er das Forum ausschaltet, vor dem Stellvertretung allein geschehen kann. Denn nur vor diesem Forum gewinnt Jesu Leiden versöhnende Kraft, die dem Menschen als Befreiung vom Gericht, also als Erlösung zukommt. In dieser Sicherung der Wirklichkeit der Erlösung durch die Versöhnung liegt der Sinn und die Notwendigkeit der Rede von der doppelten Ursache des Leidens Christi in Gottes Willen und in des Menschen Sünde. Für Brockes jedoch erscheint diese Auffassung offenbar als anstößig. Zwar bekämpft er sie nicht, aber er eliminiert sie stillschweigend. Indem er alles Gewicht darauf legt, daß Jesus durch unsere Sünde leidet und uns die Seligkeit erwirbt, spricht er diesem Leiden unmittelbar erlösende Wirkung zu. Doch auch diese Wirkung geht zwar von Jesu Leiden aus, haftet aber nicht ,objektiv', im Sinne einer ,magischen' Kraft an ihm. Die Auflösung der Versöhnungslehre zieht unvermeidlich eine Veränderung, eine Subjektivierung der Erlösungsauffassung nach sich. Denn wenn die Erlösung nicht mehr außerhalb des Menschen, ihm und seiner Reue zuvorkommend, in der von Christus geleisteten Versöhnung begründet ist, dann 58 A.a.O., S. 85.
59 Sünde selbst ist für Brockes kein Relationsbegriff, der die Beziehung des Menschen zu Gott kennzeichnet, sondern ein Ausdruck, der zunächst nur den seelischen Zustand des Menschen, seine Verlorenheit in sich, beschreibt. DYnamik gewinnt dieser Zustand angesichts des Leidens Jesu: . als seelische Erschütterung, die den Umschlag in "Seligkeit" auslöst.
145
bedeutet sie nur noch die Beseitigung einiger im Menschen selbst seiner .Seligkeit" im Wege stehenden Hindernisse. Diese Hindernisse, Sünde genannt oder auch Bosheit oder Gottlosigkeit, werden von dem "Herzen" aufgerichtet, indem es sich verstockt und verhärtet gegen den Eindruck des Leidens Jesu. Sie werden beseitigt, wenn das Herz von der Betrachtung dieses Leidens erschüttert, d. h. bekehrt wird. Erlösung und Bekehrung fallen als innerseelische Ereignisse zusammen. Auf ihnen liegt nun alles Interesse, während die Passion selbst nur noch als ihre Voraussetzung und Veranlassung Bedeutung behält. 60 Es ist unverkennbar, daß diese Auffassung von der Erlösung und von der Bedeutung des Leidens Christi für sie" eine tiefe innere Affinität zu der im vorigen Kapitel dargelegten Intention des Passionsoratoriums besitzt. Die BlOckes-Passion steht darin dem Passionsoratorium nahe, daß sie wie dieses nach einer Unmittelbarkeit der Darstellung und des Geflihlsausdrucks strebt, die den Hörer erschüttern, sein Herz zu Furcht oder Mitleid, Haß und Liebe, Trauer und Freude bewegen und damit seine (als Erlösung verstandene) Bekehrung vorbereiten soll. übergänge auch zum dramatischen Stil des Oratoriums finden sich in der BrockesPassion allenthalben: Wechselgespräche zwischen den handelnden Personen werden zu kleinen selbständigen Szenen erweitert, als Soliloquenten treten Jesus, Petrus, Judas, Maria, die "Tochter Zion" und die "Gläubige Seele" in eigenen Szenen auf, und diese beiden allegorischen Gestalten greifen in vielen Arien in die Handlung ein, statt sie nur zu kommentieren. So warnt etwa die .Tochter Zion" Pilatus nach der Verurteilung Jesu: "Besinne dich! Pilatus! schweigt halt ein! Vermeide doch der Höllen Schwefel-Flammen! Soll Gottes Sohn von dir verurtheilt seyn? Wilt du Verdammter Gott verd"ammen? Will deine freche Grausamkeit! Der todten Welt ihr Leben! Der Engel Lust! den Herrn der Herrlichkeit! Verworffnen Schergen übergeben?" (S. 310)
60 Daß die von Brockes häufig verwendeten Äquivalenzen (Jesu Wunden heilen unsere Wunden) mit dem Verlust ihrer Beziehung zur Versöhnungslehre nur noch als bildhafte VergegenständIichungen des beschriebenen seelischen Geschehens verstanden werden können, ist offenkundig. Aber die Beziehung zwischen Bild und gemeinter Sache ist hier eine ganz und gar sekundäre, uneigentliehe. In der kirchlichen Passionstradition seit Anselm waren die Äquivalenzenbildhafte Äußerungen eines in Grunde rechtlich gedachten Verhältnisses zwischen Gott, Christus und den Menschen: Der Bürge leistet in allen Punkten Ersatz rur das, was die Menschen schuldig waren. Fällt dieser rechtliche Hintergrund der Versöhnungslehre fort, so ist dem Aufweis der genauen Entsprechung zwischen Schuld und Sühne der Boden entzogen. Was übrig bleibt, ist neine gewisse unaussprechliche Schönheit" dieser Bilder unserer Erlösung, wie Anselm sagt, der darin freilich keinen ausreichenden Ersatz rur eine theologische Begründung der Versöhnungslehre sieht (Cur deus homo I, 3,4, S. 16 C.). Für Brockes ist jedoch eben diese Herz und Sirine rührende Schönheit der Äquivalenzen Grund genug, sie als poetische Bilder beizubehalten.
146
In dieser wie in einigen anderen Arien, die Abscheu gegen die Peiniger Jesu ausdrücken ("Gifft und Gluht", "Was Bärentatzen, Löwenklauen", "Erwegl ergrimmte NatternBruht" , "Schäumest dul du Schaum der Welt", "Hier erstarrt mein Hertz und Blut"), ist der Gegensatz zu der Auffassung, die in den Feinden Jesu nur die Werkzeuge der eigenen Sünde sieht, besonders offenkundig. Diese Arien wollen ganz unmittelbar einen starken seelischen Affekt wecken, den keine Erinnerung an einen "Nutzen" der Leiden Jesu "uns zugut" scheint brechen zu können. Der Gedanke an diesen Nutzen kann jedoch bisweilen auch unmittelbar neben jenen nur das Geflihl stimulierenden Arien stehen, ohne daß Brockes sich offenbar eines Widerspruchs zwischen beiden bewußt ist. So mündet z. B. die Klage der Maria um ihren zur Kreuzigung geftihrten Sohn in die "Aria ä 2.": "Soll mein Kind! mein Leben sterben? Und vergiest mein Blut sein Blut? Jesus: Ja! der Welt stecb ich zu gut/ Ihr den Himmel zu erwerben." (S. 315)61 Derjenige Affekt, der durch die Betrachtung der Passion vor allem erregt werden soll, ist die Reue. Soll der Hörer zur Reue geftihrt werden, so muß er nicht nur in direktem Appell dazu aufgefordert werden 62 ; stärkere Wirkung üben beispielhafte Darstellungen von Bekehrungen aus, die dem Hörer die Möglichkeit der Einflihlung bieten. Zwei Bekehrungen fUhrt Brockes dem Leser vor, die des Petrus und die des heidnischen Hauptmanns. Daß die Rolle des Petrus eine besonders reiche Ausgestaltung erfährt, wurde bereits vermerkt. Alle ihm zugeteilten Szenen gehören in den Zusammenhang des hier erörterten Interesses an der Bekehrung. Zeigen sie doch exemplarisch den Weg vom sicheren Selbstvertrauen des natürlichen Menschen (Gethsemane-Szene) über seinen Fall in tiefe Sünde und Verlorenheit (Verleugnung) bis zu seiner Erlösung durch Reue und Buße auf, typische Stationen des christlichen Lebens also, wie sie vor allem in pietistischen Zeugnissen oft beschrieben werden. Die Bekehrung des Haupt· manns dagegen vom Anbeter der "Götter" zum erlösten Christen wird auf knappstem Raum dargestellt. Sie ist ein Beispiel für die Plötzlichkeit, mit der sich nach pietistischer Auffassung diese ebenfalls in zahlreichen Bekenntnissen dokumentierte Wandlung vollzieht. Als Gegenbild gehört in diesen Zusammenhang auch die Verzweiflungsszene des Judas. Nicht zufällig besteht eine große Ähnlichkeit zwischen den Reuearien des Petms und des Judas bis auf den entgegengesetzten Schluß. Durch die mißlungene Bekehrung kann der Hörer ebenso tief erschüttert und zu eigenem Sündenerlebnis und Reue geftihrt werden wie durch die zum guten Ende gelangte.
61 Daß hier wie bei Jesu Gebet in Gethsemane die religiöse Deutung des Leidens und Sterbens Jesu ihm selbst in den Mund gelegt wird, also als subjektive Äußerung in dramatischer Form vorgetragen wird, macht diese Deutungen demselben Ziel dienstbar, das auch die anderen dramatischen Stücke verfolgen. 62 Dies geschieht in .Sünder, schaut mit Furcht und Zagen", .Die ihr Gottes Gnad versäumet",
.Laß doch diese herben Schmertzen", .Bestürtzter Sünder, nimm in acht".
147
Mit diesen Ausführungen über die Nähe der Brockes-Passion zur Form und zur Intention des Oratoriums ist auch der zweite Teil der eingangs aufgestellten These erläutert. Brockes' Passionsdichtung ist das Produkt einer übergangszeit, die noch stark von der kirchlichen Tradition der Passionsdeutung bestimmt ist, die aber die Formeln und Begriffe dieser Tradition bereits in entscheidender Weise umgedeutet und vor allem das nach ihrem Geschmack und Empfinden Anstößige stillschweigend eliminiert hat. Anstoß aber nimmt sie; wie wir sahen, in der Passionsauffassung gerade an dem, was den vorangegangenen Generationen als das Entscheidende galt: an der Lehre von der Versöhnung Gottes mit dem Menschen durch das stellvertretende Gericht im Leiden und Sterben Christi. übrig bleibt ein auf die Bekehrung reduziertes Erlösungserlebnis, das vorn Anblick der im Leiden bewährten liebe Jesu ausgelöst wird. Welche Kräfte daran mitgewirkt haben, die Passion ebenso unauffällig wie tiefgreifend umzudeuten, wird im Schluß teil dieser Arbeit zu untersuchen sein.
148
Kapitel 6: Der Text der 10hannes-Passion von 1. S. Bach 1. Quellenlage und Aufbau Die Johannes-Passien verwendet in leicht abgewandelter und meist gekürzter Form sechs Stücke aus der Brockes-Passion. Das ist genau die Hälfte des Bestandes an madrigalischen Texten, mit denen die Johannes-Passion demnach weit sparsamer ausgestattet ist als die einige Jahre später erstmals aufgeftihrte Matthäus-Passion. Die literarische Abhängigkeit der Johannes-Passion von Brockes' Passionsdichtung legt einen Vergleich der bei den libretti auch hinsichtlich ihrer theologischen Anschauungen nahe. l Das ist der Grund daflir, daß die Johannes-Passion an dieser Stelle besprochen wird, obwohl sie, wie sich zeigen wird, typologisch eine ältere Form des Passionslibrettos repräsentiert. Die erste nachweisbare Aufftihrung der Johannes-Passion fand am Karfreitag des Jahres 1724 statt. Vor jeder der drei belegten Wiederaufftihrungen hat Bach auch Änderungen am Text vorgenommen, so daß wir insgesamt vier Fassungen unterscheiden können. 2 Heutigen Aufftihrungen liegt zumeist die erste Fassung zugrunde, die in ihrem Bestand mit der vierten Fassung übereinstimmt. In dieser letzten von Bach offenbar gegen Ende seines Lebens geleiteten Aufftihrung wurden allerdings 'einige der madrigalischen Texte in Um dichtungen vorgetragen, die deutlich rationalistische Züge aufweisen. 3 Diese Textänderungen werden heute mit gutem Grund nicht berücksichtigt. Insbesondere die zweite, aber auch die dritte Fassung enthalten Eingriffe in den Bestand des Werkes, entfernen oder ersetzen ganze Stücke. Der Verfasser des Gesamtlibrettos ist nicht bekannt. In der literatur wird es oft und z. T. mit gegensätzlichen Begründungen Bach selbst zugeschrieben. 4 Wir müssen die 1 Die übersichtlichste Zusammenstellung der sechs Stücke sowie der drei von anderen Dichtern (C. H. Postel bzw. Ch. Weise) entlehnten Texte mit ihren Vorlagen gibt A. Mendel im Kritischen Bericht zur Johannes-Passion, S. 162 ff. Vergleiche zwischen den neun Texten und ihren Vorlagen froden sich z. B. bei Spitta (Bach 11, S. 349 ff.), Schweitzer (Bach, S. 524 f.) und Wustmann (Zu Bachs Texten der lohannes- und der Matthäus-Passion, S. 126 ff.). Für einen gründlichen theologischen Vergleich zwischen Bachs lohannes-Passion und der Brockes-Passion ist dieses synoptische Verfahren unzulänglich, will man nicht auS den oft nur geringfligigen Abweichungen allzu weitreichende Schlüsse ziehen. Wir vergleichen die beiden Libretti daher unter denjenigen flir die gesamte Passionsauffassung wesentlichen Gesichtspunkten, die sich aus ihrer Struktur ergeben. 2 Der Text mit allen Varianten in: Sämtliche von J. S. Bach vertonte Texte, S. 236-244, abgek.: BT. Zu den Textrevisionen s. A. Mendel, a.a.O. Die Entstehungsgeschichte der lohannes-Passion in allen vier Fassungen hat Mendel erstmals in befriedigender Weise aus dem sehr komplizierten Quellenbefund erklärt (a.a.O., S. 172 ff.). Eine gemeinverständliche Zusammenfassung der Ergebnisse der jüngsten Quellenforschung zur lohannes-Passion gibt A. Dürr in einem Vortrag von 1979, .Die vier Fassungen der Johannes-Passion. Zur Entstehung, Quellenlage und Überlieferung". 3 Abgedruckt in: BT, S. 237 ff., zu Nr. 9, 19, 20, 39. S. dazu Dürr, a.a.O., S. 72 ff. 4 Wustmann hält Bach flir den Verfasser, weil Tex t und Musik eine so weitgehende Einheit bildeten, daß sie nur von ein- und derselben Persönlichkeit stammen könnten (a.a.O., S. 126-131); Spitta,
149
Verfasserfrage hier auf sich beruhen lassen, zumal sie wegen der späteren Umarbeitungen noch komplizierter ist als bei vielen anderen von Bach vertonten Texten. Wenn wir so genau wie möglich den theologischen Gehalt des Textes herausarbeiten und, wie wir es wohl dürfen, davon ausgehen, daß Bach diesem Text durch seine Vertonung zugestimmt hat, so wird auch für die Frage nach Bachs Passionsverständnis einiges gewonnen sein. Den Grundbestand des librettos bildet der johanneische Passionsbericht (Kap. 18 und 19). Ob Bach persönlich davon überzeugt war, "daß an dem biblischen Fundament nicht getastet werden dürfe, wenn es gelten sollte, die kirchliche Bedeutung des Leidens Christi in höchster und umfassendster Gestalt zur Erscheinung zu bringen", wie Spitta meint5 , oder ob im kirchlich konservativen Leipzig gar keine andere Passionsform denkbar gewesen wäre, wird sich kaum noch eindeutig entscheiden lassen. Immerhin war die oratorische Passion nach dem Text eines der Evangelien selbst in Hamburg, wo man sich in der Kirchenmusik den Einflüssen der modernen italienischen Oper am weitesten geöffnet hatte, nach wie vor die üblichste Form, wie die jährlichen Passionskompositionen Telemanns zeigen. Eine Besonderheit des Evangelistenberichts der Johannes-Passion ist seit jeher aufgefallen. In den johanneischen Text sind an zwei Stellen Verse aus dem Matthäus-Evangelium eingefügt. Auf Johannes 18,17 ("und alsobald krähete der Hahn") folgt Matthäus 26,15: "Da gedachte Petrus an die Worte Jesu und ging hinaus und weinete bitterlich." Und der Bericht von Jesu Tod (Johannes 19,30: "Und neiget das Haupt und verschied") wird ergänzt durch die Erzählung der darauf folgenden Wunder (Matthäus 27,51 f.). Beide Einfügungen enthalten jedoch den matthäischen Text in gekürzten Fassungen. Sie dienten offensichtlich nur als Anlaß für die folgenden Arien und (im Falle von Petri Reue) für den Choral. Jene beiden Ereignisse gehörten nach dem Verständnis des librettisten offenbar so selbstverständlich zur Passion, daß er keinerlei Bedenken trug, den johanneischen Bericht entsprechend zu ergänzen. Auf dem Hintergrund des harmonistischen Passionsverständnisses, der Zeit erscheint dieses Verfahren keineswegs befremdlich. Wir haben oben gesehen, daß die protestantische Passionspredigt durchweg die Bugenhagensche Passionsharmonie benutzte. Den alten liturgischen Passionsabsingungen in der Karwoche freilich lagen die einzelnen Evangelien zugrunde, und aus diesen Rezitationen hatte sich die oratorische Passion entwickelt. Wenn nun in der Johannes-Passion zweimal' eine Art Evangelienharmonie hergestellt wird, um an diese Stellen Betrachtungen anknüpfen zu können, so darf man dies wohl als einen Hinweis darauf verstehen, daß die oratorische Passion sich inzwischen weniger im Zusammenhang mit der liturgie als vielmehr im Zusammenhang mit der Predigt verder Bachs dichterische Begabung gering veranschlagt, begründet die Vermutung von Bachs Autorschaft mit den Worten: .Ein der Versfligung auch nur einigermaßen kundiger Mann kann diese Verse nicht gemacht haben" (Bach 11, S. 351); Schweitzer endlich lobt insbesondere die Umdichtung der Brockes-Texte, glaubt aber eben deshalb nicht an Bachs Verfasserschaft (Bach, S. 524 f.). 5 Bach 11, S. 367.
ISO
stand. Wichtiger noch als das bloße Faktum dieser Einschübe ist ihr Inhalt. Es geht dem librettisten dabei nicht nur, wie meistens angenommen wird, um die Auflockerung des strengen und wenig anschaulichen johanneischen Passionsberichts durch zwei bildhafte Motive. Bei der Untersuchung der Parallelen zur Brockes-Passion in Predigt, Erbauungsliteratur und geistlicher Dichtung haben wir beobachtet, daß die Reue des Petrus und das Erdbeben nach Jesu Tod der protestantischen Passionsauslegung regelmäßig die Veranlassung boten, vom Zerbrechen der "Felsenherzen", von Voraussetzung, Vollzug und Folge der wahren Buße zu handeln. Brockes bildet an diesen Stellen kleine dramatische Bekehrungsszenen des Petrus und des heidnischen Hauptmanns, der Gestalten, mit denen der Hörer sich vor allem identifIzieren soll. Auch in Bachs libretto ist das Bekehrungsmotiv in beiden Fällen ausgedeutet, und zweifellos war das Bedürfnis, dieses Motiv zur Geltung zu bringen, der Grund für die Einschübe gerade dieser beiden Stellen. Die Bedeutung dieser Beobachtung für die theologische Aussage des librettos kann jedoch erst im Zusammenhang mit den übrigen Arientexten untersucht werden. Der Charakter eines Passionslibrettos wird wesentlich von den betrachtenden Einlagen geprägt. In der Johannes-Passion fInden sich 23 solche Einlagen, eine erstaunlich geringe Zahl, vergleicht man sie mit den etwa 46 der Brockes-Passion. 6 Das Verhältnis von Bericht und Betrachtung ist in den beiden Passionen ein geradezu entg~gengesetztes. Während für Brockes der Evangelistenbericht lediglich als Anlaß und äußere Klammer für mannigfaltige Betrachtungen dient, also eine untergeordnete Bedeutung hat, bildet er bei Bach schon rein quantitativ den Hauptbestand des librettos. Nicht eine Kette von Betrachtungen, durch die Erzählung äußerlich zusammengehalten, haben wir in dieser Passion vor uns, sondern eine Erzählung, in die Betrachtungen eingefügt sind. Nimmt man nun noch hinzu, daß von den 23 Einlagen der Johannes-Passion 12 Choräle sind 7 , während das Verhältnis von frei gedichteten Einlagen und Chorälen in der Brokkes-Passion 42 : 4 ist, so wird vollends deutlich, daß von der Anlage her die beiden libretti beinahe die beiden extremen Fonntypen der oratorischen Passion repräsentieren. Während die Brockes-Passien, wie wir sahen, an der Grenze zum Passionsoratorium steht und diese nicht selten überschreitet, weist die Johannes-Passion mit ihrer starken Betonung des choralischen Elements noch eine enge Beziehung zur frühesten Fonn der oratorischen Passion auf, die nur Choraleinlagen kannte. 8 6 Die genaue Zahl von deren Einlagen ist nicht ganz leicht zu bestimmen, weil nicht in jedem Fall eindeutig zu entscheiden ist, ob ein Stück zum (oratorienhaft erweiterten) Evangelistenbericht gehört oder schon zur Betrachtung. 7 Rein rechnerisch ist das Verhältnis der madrigalischen zu den choralischen Einlagen 12 : 12, wenn man in der Arie mit Choral (Nr. 32) jeden Bestandteil gesondert zählt. 8 In der zweiten Fassung verschiebt sich das Verhältnis von Choral und madrigalischer Dichtung mit 14 : 11 Stücken noch zugunsten des Chorals, während in der dritten Fassung mit 10 : 10 Stücken die Gleichheit wieder hergestellt ist. Diese Beobachtung ist wichtig, um den denkbaren Einwand zu entkräften, Bach habe in Ermangelung eines geeigneten Textdichters so viele Choräle eingefügt. Bei den Überarbeitungen der Passion in Leipzig hätte Bach diesem Mangel, wenn er ihn denn als einen solchen empfunden hätte, leicht abhelfen können. Stattdessen vermehrt er die Zahl der Choräle flir die zweite Aufführung noch. Sie fand 1725 statt und bildete den Abschluß
151
2. Theologischer Vergleich der lohannes-Passion mit der Brockes-Passion Auf den ersten Blick sind es vor allem die vielen Choräle, die der Johannes-Passion ein wesentlich ,kirchlicheres' Gepräge verleihen als der Brockes-Passion. 9 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß sich auch in den frei gedichteten Stücken, selbst in den von der Brockes-Passion literarisch abhängigen, eine von dieser völlig verschiedene Haltung zum Thema der Passion sowie ein andersartiges Verständnis vom Zweck der Passionsdichtung (bzw. -musik) ausprägt. In zwei Schritten soll diese Verschiedenheit aufgewiesen werden, während der letzte Abschnitt eine Gemeinsamkeit beider Texte herausstellt. a) Vergegenwärtigung (Das Verhältnis von Wort und Geist)
In den Betrachtungen der Johannes-Passion geschieht die VergegenwärtigungdesLeidens Christi auf andere Weise als in der Brockes-Passion. Brockes greift immer dann, wenn er den Hörer in ein besonders enges Verhältnis zu einem Ereignis der Passion setzen will, zum Mittel der dramatischen Gestaltung. Hörer und Handelnder begegnen sich im fiktional vergegenwärtigten Ereignis. Dagegen verzichtet die Johannes-Passion grundsätzlich auf die dramatische Vergegenwärtigung. Bei den Chorälen versteht sich das von selbst, aber auch die madrigalischen Dichtungen überschreiten selbst da, wo sie heftigere Affekte ausdrücken, niemals die Grenze zur dramatischen Unmittelbarkeit der Anteilnahme. Die Passion ereignet sich nicht in einem fiktiven Heute, sondern sie ist geschehen und wird vergegenwärtigt hinsichtlich ihrer für alle Zeit gültigen Konsequenzen: Versöhnung, Erlösung und Nachfolge. In diesen Wirkungen ist der leidende Christus jeder Zeit präsent, ohne daß er vergegenwärtigt werden müßte. Aus diesem Zeitverständnis ergibt sich notwendig die klare Trennung von Passionserzählung und Betrachtung, denn der Hörer erlebt hier nicht die Passion, sondern er bedenkt sie. Dieser Unterschied sei einem Beispiel näher erläutert.
an
Während die übrigen Jünger bei der Gefangennahme Jesu fliehen, folgt Petrus (nach Johannes: "und ein ander Jünger") Jesus. BeiBrockes wird schon dieser Entschluß in einem "Soliloquio" von Petrus selbst vorgetragen: "Wo flieht ihr hin? Verzagte! bleibt! doch ach! Sie sind schon fort ... Und sollt ich auch mein Leben gleich verlieren! Wil ich doch sehn! wohin sie Jesum führen." des Choralkantaten-Jahrgangs. "Vielleicht ist es darum kein Zufall, daß Bach auch in der Johannes-Passion mit Hilfe neu eingefligter Choralsätze zusätzliche Rahmenbeziehungen schafft." (A. Dürr, a.a.O., S. 84) 9 Daneben wird oft auch die Verwendung des ,reinen' Bibelworts als Beweis für den kirchlichen Charakter genannt. Ich lasse diesen Aspekt hier beiseite, weil ich glaube gezeigt zu haben, daß die freie Nachdichtung der Passionsgeschichte zwar flir die gottesdienstliche Passionskomposition eine neue, an sich jedoch keineswegs eine ,unkirchliche' Form ist.
152
Die folgende Arie bekräftigt diesen mutigen Entschluß: "Nehmt mich mit! verzagte Schaaren! Hier ist Petrus ohne Schwerdt: Last! was lesu wiederfährt! Mir auch wiederfahren. Nehmt Mich mit ... " (S. 304) In der Johannes·Passion steht an dieser Stelle die Arie: "Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten Und lasse dich nicht, Mein Leben, mein Licht. Befördre den Lauf Und höre nicht auf, Selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten." (S. 237) Während Spitta diese "glaubensfreudige Arie" an dieser Stelle noch rügt, weil in ihr ..ein beiläufiges Moment zum Schaden des Total-Eindrucks hervorgehoben ist" - denn ..die Sache (führt) endlich doch nur auf ein schmähliches Zurückweichen hinaus" 10 , weist Wustmann bereits auf den tieferen Sinn dieses scheinbaren Widerspru~hs hin: "Der Text der Arie gehört ja nicht dem Petrus, sondern der gegenwärtig am Passionsgottesdienst teilnehmenden Christenseele, die sich nur vorübergehend mit Petrus und dem andern Jünger vergleicht und dann wen Wunsch nach treuester Anhänglichkeit an Christus und nach seiner Nachhilfe dabei zu erkennen gibt." Wustmann spricht in diesem Zusammenhang auch von dem "kirchlich-christlichen Ersatz ftir den pseudodramatischen Schnickschnack jener Petrus-Verse. ,,11 Mit dem Hinweis auf die ,.gegenwärtig am Passionsgottesdienst teilnehmende(n) Christenseele" kommt er der theologischen Bedeutung des Unterschieds zwischen dramatischer und lyrischer Gestaltung der Arien sehr nahe. Es ist der in einem verschiedenen Verhältnis zur Zeit der Passion begründete Unterschied zwischen dem Miterleben und dem Betrachten oder, wie wir, dem lyrischen Wirklichkeitsverhältnis entsprechend, auch sagen können: dem Erinnern der Passion, der hier theologisch bedeutsam wird. ,Gegenwärtig' ist sowohl dem Miterlebenden als auch dem Betrachtenden das Passionsgeschehen, aber in je verschiedener Weise. Die Gegenwart des Miterlebens ist das fiktionale Heute eines historisch, real Vergangenen. Der erlebende Mensch selbst stellt die Gleichzeitigkeit zur Passion her, indem er sich mit all seinen geistigen und psychischen Kräften aus sich heraus und in jenes Geschehen hinein versetzt. Er selbst ist es, der das vergangene und an sich darum ,tote' Geschehen imaginativ verlebendigt und vergegenwärtigt. Was ihn im Nacherleben ergreift, bewegt, mitreißt, das hat er selbst zuvor 10 Bach 11, S. 353 f. In moderner Terminologie würde dieser Vorwurf lauten, der Librettist habe den Skopus des Textes verfehlt. Gerade dieses Verfahren zeigt jedoch die Nähe dieser Dichtung zur Predigt der Zeit, die in derselben Weise EinzelsteUen, ja einzelne Worte auslegt, ohne nach dem Gesamtzusammenhang zu fragen. 11 A.a.O., S. 127 f.
153
ergriffen und in Bewegung gesetzt. Für unseren Gedankengang ist es nun entscheidend, daß die Passion, die der Dichter und sein Hörer auf diese Weise vergegenwärtigen, in Gestalt des Evangelienwortes ,da' ist. Diese Daseinsweise des Ereignisses muß jedoch von dem, der ihm im Mit- oder Nacherleben gleichzeitig zu werden versucht, negiert werden. Er muß hinter das Wort zurück zum Geschehen selbst gehen, um es in einflihlendem Nachvollzug lebendig zu machen. Das Wort ist lediglich die erstarrte Form, die den erlebbaren Kern, das Ereignis selbst, umhüllt und festhält und die demzufolge zerbrochen werden muß. Das Zeitverständnis des nach Miterleben verlangenden Passionsdichters korrespondiert also einem theologisch höchst bedeutungsvollen Wortverständnis: Das Wort ist toter Buchstabe, der erst durch die imaginative Kraft des Menschen zu neuem Leben erweckt und mit Geist erflillt werden kann. Es muß jedoch betont werden, daß sich dieses im Kern enthusiastische Wortverständnis bei Brockes nicht in reiner Ausprägung findet. Haben wir doch gesehen, daß seiner Passion eine Nacherzählung des evangelischen Passionsberichts zugrunde liegt, die nur dramatisierend erweitert wird, dies freilich häufig und an entscheidenden Stellen_ Daß ein in solcher Dramatisierung sich aussprechendes Wortverständnis nicht das kirchliche sein kann, ist leicht einzusehen. In seiner Ablehnung liegt das tiefe Recht der Bekämpfung aller dramatischen Passions. formen durch die Orthodoxie. 12
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß dem reformatorischen Wortverständnis die betrachtende Haltung der oratorischen Passion korrespondiert_ Setzen wir auch hier beim Zeitverständnis des Dichters und Hörers an, so zeigt sich, daß es dem in der Predigt vorausgesetzten verwandt ist. Die Passion Jesu ist ganz gegenwärtig, sie bestimmt sogar die Gegenwart des Menschen in solchem Maße, daß all sein Denken und Tun als Teilnahme an ihr verstanden werden muß. Jesu Frage an den Knecht, der ihm beim Verhör einen Backenstreich gibt: "Was schlägest du mich?" versteht der die Passion bedenkende Mensch als unmittelbar an sich selbst gerichtet, und er muß bekennen: Jch, ich und meine Sünden ... Die haben dir erreget/ Das Elend, das dich schläget ..." Dieser Gegenwartsbezug der Passion kommt nicht dadurch zustande, daß der Mensch seinen zeitlichen Standort verläßt und Vergangenes' erlebt, als ob es gegenwärtig'wäre. Vielmehr wird das Passionsgeschehen selbst kraft seiner Bedeutsamkeit für alle Zeit dem Menschen gegenwärtig, es selbst präsentiert sich ihm als ein Geschehen, das ihn angeht. Sein Vergangenheitscharakter bleibt dabei gewahrt, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen nicht in einem fiktiven, imaginierten Heute. Die Kluft zwischen dem Damals und dem Heute braucht der Betrachtende nicht zu fürchten und nicht von sich aus zu überspringen, denn sie wird von dem Geschehen selbst her überwunden, indem es
12 Daß die orthodoxen Theologen den Sachverhalt nicht mit diesen Worten ausgedrückt haben, begründet keinen Einwand gegen unseren Aufweis des Zusammenhangs zwischen Passionsform und Wortverständnis. Ein Beispiel fur die Argumentationsweise der Orthodoxie gegen das Passionsoratorium ist oben S. 113 zitiert worden. Die Kritik artikuliert sich als Ablehnung des hohen Stils für die kirchliche Dichtung.
154
sich re-präsentieren läßt vom Wort. Wohl vermag das Wort dies nur als vergeistigtes Wort, aber der Geist, der es lebendig macht, ist nicht der des Menschen, sondern sein, des Wortes, eigener Geist. Die Repräsentanz der Passion im Wort, das von ihr berichtet, ist die gedankliche Voraussetzung des Passionsverständnisses, das uns in der JohannesPassion, ebenso aber auch in der kirchlichen Predigt begegnetP Dieser Zusammenhang von Zeit, Wort und Geist ist einer der Gründe dafür, daß die Johannes-Passion einen wesentlich kirchliche ren Charakter trägt als die Brockes-Passion. Das Fehlen jeglicher Dramatik ist nur sein äußeres Signum.
b) Intention und Hörerverständnis Die Johannes-Passion verfolgt eine andere Intention als die Brockes-Passion, und sie setzt damit einen anderen Hörer voraus. Zur Erläuterung dieser Behauptung könnte wiederum auf den Unterschied zwischen dramatisierenden und betrachtenden Einlagen in den beiden Passionen hingewiesen werden. Noch aufschlußreicher für die Verschiedenheit der Intentionen und des vorausgesetzten Hörers ist jedoch eine andere Erscheinung: die Unge der eingefügten Betrachtungen bei Brockes und ihre Kürze bei Bach. Die längste choralische Einfügung der J ohannes-Passion sind die zwei Strophen aus ,0 Welt, sieh hier dein Leben": ,Wer hat dich so geschlagen ...1 Ich, ich und meine Sünden . . ." mit je sechs Zeilen. Die längste madrigalische Dichtung, ,Ach, mein Sinn", hat elf Zeilen. Bei Brockes dagegen sind fast alle Betrachtungen umfangreicher, und viele bestehen aus mehreren Teilen. Er strebt sichtlich nach formaler Abwechslung zwischen Arien, Ariosi, Soliloquien und rezitativähnlichen Abschnitten sowie Chorälen. Die längste dieser Betrachtungen findet sich anläßlich der Geißelung Jesu. 14 Sie ist aufgeteilt zwischen der "Gläubigen Seele" und der "Tochter Zion" und umfaßt insgesamt 90 Zeilen. Den ersten Teil bilden emblematische Betrachtungen der ,Gläubigen Seele" über den gegeißelten Iesus als .Feuer-Stein", über seinen Rücken als ein gefurchtes Feld, einen Balsamstrauch und den mit Regenbögen geschmückten Himmel. Die "Tochter Zion" fährt mit Erwägungen über die Dornenkrone fort, an Bilder aus dem Hohenlied anknüpfend. Zwischen einem dramatisierenden, den .verwegnen Dom" anredenden und einem den blutüberströmten Jesus beschreibenden rezitativartigen Stück steht eine Aufforderung an den "frechen Sünder", sich Jesu Schmerzen ,durch Marck und Seele gehn" zu lassen. Es folgt eine Anrede an Iesus, die das mehrfach anklingende Thema der "Glut" von Iesu Uebe zum Hauptgegenstand hat:
13 S. o. S. 3S f., SS f. 14 Vor allem wegen ihrer Bedeutung flir den Vergleich mit der lohannes-Passion wird sie als Anhang III voUständig wiedergegeben. Es genügt nicht, nur die wenigen Zeilen zu zitieren, aus denen der Textdichter der lohannes-Passion seine Betrachtung bildet. Denn daß diese wesentlich kürzer ist und auswählt, ist ein Faktor mit eigener Aussagekraft.
ISS
"Jesu! dich mit unsern Seelen Zu vermählen! Schmiltzt dein liebend Hertz vor Liebe; Ja du giessest in die Gluht! Statt des Oels! für heisse Triebe! Dein von Liebe wallend Blut." (S. 313) Mit fassungsloser Empörung reagiert die Sochter Zion" auf den Bericht von der Verspeiung, um sich sogleich wieder an den Bbestürtzten Sünder" zu wenden. Sie fordert ihn noch einmal zum Anschauen des geschlagenen Heilands auf, mit Worten des Hohenliedes, die auch im mittelalterlichen ..Salve caput cruentatum" verwendet werden. Die Schlußzeile dieses ..Soliloquio": ..Dieß alles duldet erl bloß dir zu gut" leitet über zu einer letzten Arie, in der noch einmal die Ambivalenz des Geftihls zwischen Schrecken und Freude über Jesu Leiden zum Ausdruck gebracht wird: "Heil der Welt! dein schmertzlich leiden! Schreckt die See!' und bringt ihr Freuden ... " (S. 314) Dieser kurze überblick sollte einen Eindruck vermitteln von Brockes' Bemühung, gerade an dieser Stelle den Hörer durch intensives Mitleid zu erschüttern. Kaum ein literarisches Gestaltungsmittel vom kunstvollen Emblem bis zur drastisch-realistischen Beschreibung des Gefolterten, kaum eine Tonlage von der innigen Anrede an den Seelenbräutigam über den Ton ruhig-bildhaften Erklärens bis hin zum heftigen Aufschrei der Empörung, kaum ein Mittel stilistischer Intensivierung wie Frage, Ausruf, Wiederholung, figura etymologica, Parallelismus, die Brockes nicht sehr bewußt und kunstvoll einsetzte, um harte Herzen zu ..entsteinen". Daß dies die Intention der Brockesschen Passionsdichtung überhaupt ist, haben wir bereits erkannt. Gehen wir nun noch einen Schritt weiter und fragen wir, was diese Intention über den Hörer verrät, den die Passion erreichen will. Offensichtlich ist es der gebildete, literarisch anspruchsvolle Stadtbürger, der die protestantische Passionstradition noch kennt, dem sie aber in ihrer herkömmlichen kirchlichen Form nicht mehr genügt. Zugänglich wird sie ihm erst wieder über die Intensivierung ihres Gefühlsgehalts, durch die Betonung der menschlichen Züge des leidenden Jesus, den das Mitleid dem Herzen nahe bringt. Es ist der Mensch, dem die religiösen Wahrheiten nicht mehr selbstverständlicher Besitz sind, der sie vielmehr neu auf dem Wege über die gemüthafte Erfahrung gewinnen muß. Dem Gemüt aber bekunden sie sich am eindrucksvollsten als Erlösungserfahrung, auf welche sich daher religiöse Erfahrung schlechthin konzentriert und reduziert. Ihr korrespondiert ein ebenfalls in der Erfahrung gegebenes Sündenbewußtsein, das sich in starken emotionalen Erschütterungen äußert. Kehren wir mit diesem Ergebnis zum Text der Johannes-Passion zurück und untersuchen hier die Einlagen nach dem Bericht von der Geißelung Jesu unter denselben Gesichtspunkten der Intention und des vorausgesetzten Hörerbildes. Der Textdichter bildet für diese Stelle ein Arioso und eine Arie von je sieben Zeilen. Als Vorlage dient ihm dabei der erste, 29 Zeilen umfassende Teil der Betrachtung bei
156
Brockes. Aus der Vielzahl ineinander übergehender emblematischer Deutungen der Schmerzen und Wunden Jesu wählt der librettist drei aus, zwei antithetisch geprägte für das Arioso und die dritte, den Vergleich des Rückens Jesu mit dem regenbogengeschmückten Himmel, für die Arie: Arioso "Betrachte, meine Seel, mit ängstlichem Vergnügen, Mit bittrer Lust und halb beklemmtem Herzen Dein höchstes Gut in Jesu Schmerzen, Wie dir auf Dornen, die ihn stechen, Die Himmelsschlüsselblumen blühn! Du kannst viel süße Frucht von seiner Wermut brechen, Drum sieh ohn Unterlaß auf ihn!~ Arie "Erwäge, wie sein blutgefarbter Rücken In allen Stücken Dem Himmel gleiche geht, Daran, nachdem die Wasserwogen Von unsrer Sündflut sich verzogen, Der allerschönste Regenbogen Als Gottes Gnadenzeichen steht!~ (S. 239) Der alte Streit darüber, ob insbesondere der Arientext besser oder schlechter als seine Vorlage seilS, soll hier nicht fortgeführt werden. Theologisch gesehen hat der librettist der Johannes-Passion trotz des engen, z.T. wörtlichen Anschlusses an Brockes etwas ganz Neues geschaffen. Zunächst ist zu bedenken, welchen Teil aus dem Ganzen der Brockessehen Betrachtung er auswählt: nicht den der "Tochter Zion", die dem "frechen Sünder" den SeC?lenbräutigam in allen seinen Qualen vor Augen stellt, sondern den gedanklich strengeren und anspruchsvolleren der "Gläubigen Seele" mit seinen z. T. biblisch begründeten emblematischen Deutungen, die die körperlichen Leiden des Gegeißelten gerade nicht dem inneren Auge und damit dem Gefühl nahebringen, sondern sie ganz ins Geistig-Sinnhafte transzendieren. Die Embleme veranschaulichen nicht, sondern distanzieren den ,realen' Vorgang, indem sie ihn mit einem ihm innerlich nicht verwandten Bild zum Ausdruck bringen. 16 Der durch das Emblem gedeutete Vorgang soll verstanden, nicht nachgefühlt werden. So enthalten auch die hier verwendeten
15 Erinnert sei nur an Spittas bekannten Satz, man könne die Brockessehe Arie .Dem Himmel gleicht ... " "im hohen Grade geschmacklos finden", sie enthalte jedoch .klar geschaute, richtig durchgeführte Bilder", Während man durch den entsprechenden Text der Johannes-Passion, "Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken", ~hart an die Gränze des blühenden Unsinns geführt" werde (Bach 11, S. 351 f.).lm Gegensatz dazu Wustmann, a.a.O., S. 131. 16 Dies ist, sejü:'allgemein gesprochen, einer der wesentlichen Unterschiede zwischen dem Emblem und dem Symbol. Die Wirkung des letzteren beruht gerade auf der inneren Beziehung zwischen ihm und dem Symbolisierten.
157
Embleme eine präzise theologische Aussage. Das beliebte Bild von der Rose, die auf Dornen wächst, ist hier in einem sinnreichen Wortspiel abgewandelt: Auf Jesu Dornen blühen uns die Himmelsschlüsselblumen; seine Schmerzen öffnen uns den Himmel. Dieselbe Bedeutung hat die folgende Antithese: Seine "Wermut", die Bitterkeit seines Leidens, schafft uns "viel süße Frucht". Älmliche bildhaft-antithetische Deutungen des Leidens Jesu finden wir in den Passionsbetrachtungen allenthalben. Auch die gedankliche Struktur der sehr konzentriert formulierten Embleme ist uns von dorther gut bekannt: es ist der meritorische Aspekt der Passion, hier bezogen auf die Geißelung. 17 In der Arie wird ein Vergleich in der Art der heilsgeschichtlichen Typologien durchge-fUhrt, wie sie die Predigten verwendeten, um die Vollendung und Oberbietung des Alten Bundes durch den Neuen aufzuzeigen. Gottes Gnadenbund mit Noah (Genesis 9, 1217), dessen Zeichen der "Bogen in den Wolken" ist (V. 16 u. ö.), ist der Typos, der ,Schatten' des wesentlichen und endgültigen Gnadenbundes, der in der Passion Christi geschlossen wird. Die blutigen Striemen auf Jesu Rücken sind der neue Bogen, das neue "Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe zwischen mir und allem Fleisch auf Erden" (V. 17). Auch diese Arie also mit ihrer typologischen Deutung der Geißelstriemen enthält eine zentrale soteriologische Aussage. 18 Kein anderer Teil der Brockessehen Betrachtung ist theologisch so inhaltsreich wie der, aus dem der Ubrettist der JohannesPassion Arioso und Arie über die Geißelung Jesu gebildet hat. Wie ist nun aber die im Vergleich mit Brockes geradezu lapidar wirkende Kürze dieser beiden siebenzeiligen Betrachtungen zu verstehen? Wie das dichterische Verfahren des Ubrettisten zu beurteilen, der völlig unbeeindruckt vom mitreißenden Fluß der Bilder in seiner Vorlage einige wenige bildhafte Deutungen herausgreift, isoliert und durch syntaktische Parallelisierung (Betrachte, ... wie .../ Erwäge, wie ... ) zwei klar gefUgte, formal abgerundete kleine ·Dichtungen schafft? Dieses Verfahren wendet sich so offenkundig gegen die Intention der Vorlage, durch die Fülle kaum voneinander gesonderter emblematischer Deutungen deren rationale Aussagekraft in emotionale Wirkungskraft zu überfUhren, daß gerade im Beharren auf der Rationalität theologischer Deutung durch die Embleme die Intention des Librettisten der Johannes-Passion gesehen werden
17 Weil die Embl~me der Dichtung in diesem theologischen Zusammenhang stehen, ist von ihm aus auch eine Bewertung ihrer gedanklichen Leistung möglich. Sie fallt zugunsten des ersten Emblems aus, weil dieses ein Moment der betrachteten Szene, die Dornenkrönung, meritorisch ausdeutet (Dornen-Blumen), während das zweite mit der Geißelung nichts zu tun hat und lediglich eine hier beliebig wirkende Analogiebildung ist (Wermutpf\anze - süße Frucht). Zwar ist in den Passionsauslegungen nicht selten von Wermut die Rede, aber nur dort, wo dies im Anschluß an den Text sinnvoll ist: bei Jesu Wort in Gethsemane vom Trinken des (bitteren) Kelchs (Markus 14,36 parr.) und bei der Tränkung des Gekreuzigten mit vermyrrhtem Wein (Markus 15, 23 par.). 18 Nur wenn man Emblematik und Typologie als Mittel theologischer Deutung im 17. und bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nicht kennt und versteht, kann man diese Dichtungen."geschmacklos· finden (Spitta, Bach 11, S. 351). Nicht nur Spitta, sondern auch noch (oder erst recht) viele heutige Hörer der Passion fallen aus Unkenntnis solche Fehlurteile.
158
muß. 19 Die Passion muß ausgelegt, der Hörer auf ihre Heilsbedeutung hingewiesen werden. Ist dies geschehen, so hat die Betrachtung ihren Zweck erfüllt. Auf keinen Fall darf sich das stimmungshafte Moment verselbständigen, wie es bei Brockes geschieht. Wo Brockes im Arioso die gefühlsmäßige Anteilnahme zu intensivieren trachtet mit den Versen "Schau/ wie die Mörder ihm auf seinem Rücken pflügen Wie tieff/ wie grausam tieff sie ihre Furchen ziehn ... ", eben da bricht das Arioso der 10hannes-Passion ab, und als sei die Aufmerksamkeit in den beiden ersten Versen bereits zu stark auf das eigene Gefühl gelenkt worden, schließt es mit der betonten Aufforderung: "Drum sieh ohn Unterlaß auf ihn!" Wie wenig es dem Textdichter der 10hannes-Passion um die Erschütterung des Hörers geht, wird auch daran deutlich, daß er keine Schwerpunkte der Betrachtung kennt. Während Brockes, wie wir sahen, bei den die Anteilnahme des Hörers in besonderer Weise weckenden Momenten der Passion lange verweilt (bei lesu Leiden in Gethsemane, bei der Geißelung und bei allen Reue- und Bekehrungsszenen), ist in der 10hannesPassion von solcher Akzentuierung nichts zu spüren. Das bedeutet freilich nicht, daß in ihr nicht auch persönliche Betroffenheit zu Wort käme. Dienen doch die beiden Einschübe aus dem Matthäus-Evangelium in den Text vor allem dem Zweck, in den sich anschließenden Betrachtungen Gefühle der Reue und der Trauer zum Ausdruck zu bringen. Aber auch hier insistiert das libretto nicht auf diesen Gefiihlen und versucht nicht, durch immer neue Ansätze den Hörer mitzureißen oder ihm durch IdentifIZierung mit einer Rolle die Einfühlung zu ermöglichen. Zwar ist die Arie "Ach, mein Sinn", die der librettist fast wörtlich von eh. Weise übernommen hat, bei diesem "Der weinende Petrus" überschrieben, aber in der 10hannes-Passion besitzt sie keine dramatische Funktion. Selbst der einzige speziell auf die Handlung Bezug nehmende
19 Der Vergleich zeigt, daß die Emblematik als Mittel literarischer Deutung im fiiihen 18. Jahrhundert von innen her zerstört wird, je entschiedener die Dichtung Herz und Sinne des Menschen ansprechen will. Brockes steht auf der Schwelle zu dieser Entwicklung. Die alten Schläuche der Emblematik rullt er mit dem neuen Wein emotionaler Wirkabsicht. Auch unter diesem Aspekt betrachtet, gehört die Dichtung der lohannes-Passion einer älteren Stufe an, ist in ihr doch die Emblematik noch ihrer rational deutenden Eigenintention entsprechend verwendet. - Zum Emblemgebrauch in Brockes' Hauptdichtung .Irdisches Vergnügen in Gott" vgl. I. Ackermann, .Geistige Copie der Welt" und .Wirkliche Wirklichkeit". Nach dieser Darstellung muß man schließen, daß die Verwendung von Emblemen in Brockes' späterer Lyrik konventioneller ist als in der Passion. Ackermann ruhrt den .allzu arglosen Gebrauch des emblematischen Modells" auf .Brockes· aufklärerische(n) Optimismus" zurück (S. 459). In ihm beruhigt sich offenbar der Gefühlsüberschwang, der in der Passion fast zur Zersprengung der Embleme in einem Feuerwerk emblematischer Splitter führt. Das bedeutet: Brockes' Passionsdeutung enthält manche Verweise auf die kommende A\lfklärung, aber ihre leitende Intention ist noch nicht aufklärerisch.
159
Vers, .,Weil der Knecht den Herrn verleugnet hat", kann noch als allgemeines Schuldbekenntnis gelten. Denn .,den Herrn verleugnen" kann jeder Mensch auf vielfciltige Weise. 20 Daß der Textdichter der lohannes-Passion generell darauf verzichtet, den Hörer in einen Zustand heftiger Erschütterung zu versetzen, läßt auch der im Vergleich zu Brockes gemäßigte und gleichmäßige Ton der Einlagen erkennen. Während Brockes versucht, außerordentliche Geftihle auch durch extreme sprachliche und syntaktische Mittel auszudrücken, halten sich die Einlagen der lohannes-Passion ausnahmslos in einer sprachlichen Mittellage, die den durchaus spürbaren Abstand von der Sprechhaltung der Choräle nicht unüberbrückbar, den häufigen Wechsel also nicht als Stilbruch erscheinen läßt. Eine Arie wie "Brich brüllender Abgrund", mit der Brockes den Evangelistenbericht von lesu Sterben wirkungsvoll zu kontrastieren versucht, wäre im libretto der lohannes-Passion schon wegen ihres heftigen Tons nicht vorstellbar, selbst wenn sie inhaltlich ergiebiger wäre. Die Intention des librettos der lohannes-Passion kann nicht zureichend beschrieben werden ohne den Hinweis auf einen die Thematik betreffenden Unterschied zur Brokkes-Passion. Wir haben gesehen, daß der monitorische Aspekt der Passion, also das Thema von (Leidens-) Nachfolge und Gehorsam, bei Brockes gänzlich fehlt und von seiner Intention her fehlen muß. Ethik ist Erinnerung an das Unvollendete der Erlösung, an das ,Noch-nicht' im ,Schon-jetzt'. Wenn aber, wie Brockes will, die Vollendung der Erlösung bereits im intensiven Erlösungsgeftihl liegt, dann ist der Hinweis auf eine erst zukünftige Vollkommenheit überflüssig und störend. lenes Gefühl verträgt keine dialektische Spannung. Indem also der librettist der lohannes-Passion die ethische Thematik einbezieht - mit der Arie "Ich folge dir gleichfalls" und mit drei Choralstrophen ("Dein Will gescheh, Herr Gott zugleich", "Er nahm alles wohl in acht" und ,,0 hilf, Christe, Gottes Sohn") -, gibt er zu verstehen, daß es ihm nicht darum geht, dem Hörer eine grundsätzlich unüberbietbare Erlösungserfahrung zu vermitteln, sondern darum, ihn zum Leben in der Nachfolge zu ermutigen und zu ermahnen. Zugleich weist die Passion damit den Hörer von sich selbst, vom Kunstwerk weg, während die Brockes-Passion sich ihm als Vermittlerin des Erlösungserlebnisses unentbehrlich macht. Man könnte den Unterschied, der sich hier zeigt, als den zwischen einer theologisch offenen und geschlossenen Form bezeichnen. So hat sich am Vergleich der beiden Passionstexte, trotz der literarischen Abhängigkeit des einen ·vom anderen, ihr grundlegend verschiedener theologischer Charakter gezeigt. Welchen Hörer setzt nun einPassionslibretto voraus, das theologische Deutung inten20 So führen die Predigten viele Beispiele daflir an, wie Verleugnung noch immer geschieht. - Bach vermindert die Möglichkeit des dramatischen Verständnisses dieser Arie zusätzlich dadurch, daß er sie dem Tenor zuweist und nicht dem Baß, der die Petruspartie singt.
160
diert statt Einstimmung, das dem religiösen Geflihl zwar einen wichtigen Platz einräumt, ihm aber niemals die Verselbständigung gestattet, das in gleichmäßig-ruhiger Betrachtung die Passionsgeschichte begleitet und durch die Einbeziehung ethischer Gedanken über sich hinausweist? Der Hörer, an den sich dieses libretto wendet, ist der mit der kirchlichen Passionsdeutung vertraute Christ; nicht einer, der bekehrt werden müßte, sondern einer, der durch erneutes Hören des Wortes und seiner Auslegung erinnert, in seinem Glauben befestigt werden möchte; kurz: der traditionsgebundene, fromme Kirchenchrist, der auch in den Passionspredigten des 17. Jahrhunderts angesprochen wird. c) Das Verhältnis von Versöhnung und Erlösung
Aber dieses Ergebnis müssen wir sogleich noch einmal in Frage stellen. Haben wir das libretto der Johannes-Passion so nah an die kirchliche Passionstradition des 17. Jahrhunderts, genauer der lutherischen Orthodoxie herangerückt, so müssen nun doch Zweifel auftauchen, ob diese Betrachtungsweise ganz berechtigt ist. Fehlen dem Passionstext nicht wesentliche Inhalte, die fiir jene Tradition selbstverständlich sind? Wo findet sich hier etwa die Deutung der Passion Jesu unter dem satisfaktorischen Aspekt und die mit ihm verbundene Terminologie von Opfer(tod), Strafe, Gericht, Gerechtigkeit und Zorn Gottes, überhaupt das Verständnis der Passion als Gottes Tat zur Versöhnung des gefallenen und verlorenen Menschen? Ein Überblick über die Einlagen der Johannes-Passion zeigt. daß von diesem flir die Orthodoxie zentralen Gedankenkreis hier nicht viel aufgenommen ist. auch nicht in den Choralstrophen. 21 Statt dessen tritt auch in der Johannes-Passion der meritorische Aspekt der Passion in den Vordergrund, die Erinnerung des frommen Ich an die Gaben, die Jesus ihm erworben hat: Befreiung von Sünde und ewiger Knechtschaft, Trost in aller Not und Gewißheit des ewigen Lebens. Dies alles hat die Orthodoxie des 17. Jahrhunderts auch und ebenso entschieden gesagt. Gleichwohl ist es ein Unterschied, ob dieser Aspekt auf dem Hintergrund des satisfaktorischen zur Geltung gebracht wird oder ob er zu dem die Passionsdeutung allein beherrschenden wird. Zwar hat der Vergleich mit der Brockes-Passion eindeutig gezeigt, daß im libretto der Johannes-Passion kirchlichorthodoxe Frömmigkeit zum Ausdruck kommt. Aber es ist selbst schon eine gemäßigte, gemilderte Orthodoxie, die sich hier ausspricht. Deutlicher als in manchen Predigten aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in denen bereits ähnliche Tendenzen zu 21 Eine Ausnahme bildet allenfalls die besprochene Arie .Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken". In der zweiten Fassung des Librettos vertreten Eingangs- und Schlußchoral, .0 Mensch, bewein dein Sünde groß" und .Christe, du Lamm Gottes", diesen Aspekt. In den anderen Fassungen spricht der Schlußchoral .Ach, Herr, laß dein lieb Engelein" in Anknüpfung an das Begräbnis Jesu von der Auferstehungshoffnung. Diese Betonung der Auferstehung, die sich auch in der umgearbeiteten Fassung des vorangehenden Chors .Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine" findet (.Nicht stets umschließet mich die Gruft! Einst, wenn Gott, mein Erlöser, ruft! Dann eil auch ich verklärt dem Himmel Gottes zu'), weist zusammen mit der Akzentuierung der Befreiung durch Jesu Tod auf eine Entwicklung voraus, die in der Aufklärungsphilosophie gipfelt: Sie sieht schließlich in Gott den Garanten rur Freiheit und Unsterblichkeit des Menschen.
161
beobachten waren, läßt sich am Text der Johannes-Passion ein Wandel des Passionsverständnisses innerhalb der kirchlichen Orthodoxie ablesen: eine Abkehr von dem strengen Satisfaktionsgedanken zugunsten der andächtigen Betrachtung der Erlösung. Unter diesem Gesichtspunkt aber, der den Spielraum für die Entfaltung untersclUedlicher Passionsdeutungen im frühen 18. Jahrhundert erheblich einschränkt, rückt das Libretto der Johannes-Passion doch wieder ein Stück näher an die Brackes-Passion heran. Dem genannten Wandel noch genauer nachzuspüren, wird Aufgabe des nächsten Kapitels über den Text der Matthäus-Passion sein. Denn Wer prägt er sich nicht nur wesentlich schärfer aus als in der Johannes-Passion, sondern er läßt sich durch einen Quellenvergl€ich auch leichter belegen.
162
Exkurs: Der Eingangschor der Johannes-Passion Der ursprüngliche und endgültige Eingangschor der Johannes-Passion trägt einen völlig anderen Charakter als alle anderen Einlagen. Das rechtfertigt seine Besprechung in einem Exkurs. Der Text lautet: "Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm In allen Landen herrlich ist! Zeig uns durch deine Passion, Daß du, der wahre Gottessohn, Zu aller Zeit, Auch in der größten Niedrigkeit, Verherrlicht worden bist!" Die Besonderheit dieses Textes ist seit jeher aufgefallen. So stellt bereits Spitta verwundert fest, daß dieser Text ~irgends dem Gefiihl der Klage, der Theilnahme an Christi Leiden, der Beseligung durch seinen Opfertod Raum giebt, sondern nur den Gegensatz zwischen der ewigen Macht des Gottessohnes und seiner zeitlichen Erniedrigung hervorhebt. "22 Der Gottessohn, der als der Schöpfer- und Herrschergott des eingangs zitierten 8. Psalms "herrlich ist", steigt hinab in die Niedrigkeit, um dort "verherrlicht" zu werden. Wichtig ist hier die zwei Reimpaare umrahmende Reimbindung von "herrlich ist" (V. 2) mit "verherrlicht worden bist" (V. 7). "Herrlich sein" und "verherrlicht werden" verhalten sich zueinander wie die ewige und die zeitliche Erscheinungsweise des einen Gottes; die Verherrlichung ist der zeitliche, darum vorübergehende Modus der Herrlichkeit. Aus der Niedrigkeit kehrt der Gottessohn zurück in die Herrschaft des Weltenherrn: Das da capo der Chorarie gewinnt hier theologische Aussagekraft. Es ist deutlich, daß die Beschreibung dieses Weges des präexistenten Gottessohnes in die Niedrigkeit der Welt und sein erneuter Aufstieg in die Herrlichkeit Gottes große Ähnlichkeit mit dem Aufriß des Johannes-Evangeliums besitzt. Daß der Erniedrigte und Gekreuzigte gerade in diesem Schicksal sich als der Erhöhte und Verherrlichte erweist, ist das Thema der johanneischen Passionsdarstellung. 23 Unmittelbar vor dem Einsatz der Johannes-Passion, im hohenpriesterlichen GebetJesu (Johannes 17), bittet Jesus den Vater, ihn, seinen Sohn, zu verherrlichen "mit der klarheit ('fV MW) I die ich bey dir hatte, eh die welt war" (17,5). Und die Jünger sollen diese "herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast" (17,24). Jener Grundgedanke des Evangeliums und diese dem Evangelistenbericht der Passion unmittelbar vorangehenden Gebetsworte Jesu mögen den Textdichter des Eingangschors beeinflußt haben. Die Feststellung, daß in diesem Text der theologische Gehalt des Johannes-Evangeliums zusarnmengefaßt ist, muß jedoch unser Erstaunen über ihn eher vergrößern als mindern. Denn die Passionsdeutung der Zeit ist nicht das Ergebnis exegetischer, gar von den theologischen Unterschieden zwischen den einzelnen Evangelisten ausgehender Untersuchungen, sondern sie ist durch und durch dogmatisch geprägt. Der Gedankengang, den diese Dogmatik vorschreibt, läßt sich ei:kennen an einem Gebet J. J. Rambachs. Wie der Eingangschor der Johannes-Passion setzt es mit der Erinnerung an die himmlische Herrlichkeit Jesu ein: "Nun, du treuer und lebendiger Heylandl Herr Jesu Christel gelobet sey deine brünstige und allen Begriff übersteigende Liebel die dich bewogen hatl von dem Thron
22 Bach 11, S. 366. 23 .So zeigt denn die Passionsgeschichte des Johannes Jesus nicht eigentlich als den Leidenden, sondern als den Handelnden, als den Sieger." (R. Bultmann, Theologie des N. T., S. 406)
163
deiner Herrlichkeit! da du von allen Engeln verehret! und von allen Cherubinen und Seraphinen an~ebettet wurdest! herabzukommen! und die höchste Ehre mit der tieffsten Schmach! die höchste Freude mit der grösten Traurigkeit! die höchste Vergnügung mit den äussersten Schmertzen! zu verwechseln." Die tiefste Erniedrigung ist aber erst erreicht, wenn Jesus am Kreuz hängt "auch als ein Fluch Gottes". Nun folgt der Umschlag, die Wende oder besser die dem Glauben erkennbare Tiefendimension der Niedrigkeit. Bei dem Textdichter der Johannes-Passion lautet sie: Du bist in der Niedrigkeit verherrlicht worden; bei Rambach dagegen: Du hast "eben dadurch den Fluch getilget ... ! weil du an dem verfluchten Holtz nichts sündliches und fluchwürdiges begangen! sondern die vollkommenste liebe gegen deinen Vater und uns bewiesen! welche über Sünde! Fluch! Teuffel und Hölle triumphiret hat." Im Text des Eingangschors bleibt Christus bei sich selbst, und die Menschen haben an seiner Passion nur dieses VonHerrlichkeit-zu-Herrlichkeit-Gehen anzuschauen; einen anderen .Nutzen", eine "Frucht" hat die Passion hier nicht. Bei Rambach (wie überall in der protestantischen Passionstradition) ist das Herabsteigen Christi aus der Herrlichkeit soteriologisch begründet: Er kommt in die Niedrigkeit, wird ein Fluch, um uns vom Fluch zu befreien. Das Ziel dieses Weges ist nicht die Verherrlichung des erniedrigten Christus, sondern die Gottesgerneinschaft des erlösten Menschen: "Laß nun! 0 geseegneter Irnmanuel! uns in Dir werden die Gerechtigkeit Gottes; gleichwie du fUr uns zur Sünde gemacht worden bist_"24 Der Verzicht auf jegliche soteriologische Deutung der Passion im Einleitungstext einer Passion im friihen 18. Jahrhundert, im Umkreis protestantischer Passionstradition, von deren Einfluß das libretto im übrigen das deutlichste Zeugnis ablegt, ist ein erstaunlicher, ja, man kann wohl sagen: ein singulärer FalL Gleichwohl gibt es fUr ihn eine recht einfache &klärungsmöglichkeit, die zwei Vorzüge besitzt: Sie vennag den Text aus der protestantischen Passionstradition heraus zu verstehen, und sie kann auf eine genaue Parallele in der Matthäus-Passion hinweisen. Deren Eingangschor , "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen", erweist sich bei näherem Zusehen als der Klagegesang der "Tochter Zion" und der Frauen, die Jesus auf seinem Gang nach Golgatha begleiten. Als Eingangschor dem ganzen Werk vorangestellt, verallgemeinert dieser Klagegesang ein einzelnes Moment der Passionsbetrachtung. Der innere Ennöglichungsgrund fUr dieses Verfahren liegt in der Auffassung, daß flir den Glauben in jedem Einzelereignis der Passion ihre Heilsbedeutung vollkommen sichtbar wird. Im Einleitungschor der Matthäus-Passion wird diese Bedeutung vor allem durch die in den Klagegesang hinein erklingende Choralstrophe ,,0 Lamm Gottes, unschuldig" zum Ausdruck gebracht. Dasselbe Verfahren der Verallgemeinerung einer Einzelbetrachtung hat der Textdichter der Johannes-Passion rur den Eingangschor gewählt. Bei der Suche nach dem Ereignis der Passion, zu dem der Eingangschor thematisch gehört, brauchen wir nicht weit zu gehen: Es ist der unmittelbar folgende Bericht von der Gefangennahme Jesu. Daß die Häscher bei Jesu Worten "Ich bin's" zu Boden stürzen, wird von der traditionellen Passionsauslegung stets als eine einzigartige Demonstration der sonst während der Passion verborgenen göttlichen Macht Jesu verstanden. "Und damit sie sehen! daß keine Macht noch Gewalt ihm zu starck were! wenn er Lust hette sich zu widersetzen! lest er in dem Stand seiner eussersten und tieffsten Erniedrigung einen Blick seiner Krafft und Gewalt sehen ... ", erklärt J. Gerhard zur Stelle 25 , und mit noch deut-
24 J. 1. Rambach, Betrachtungen über die Sieben Letzten Worte des gecreutzigten Jesu, S. 98. 25 Erklärung, S. 64.
164
licheren Worten sagt H. Müller: "Die Majestät des Heylandes hat sie niedergeschlagen/ wie ein Blitz. Dann ob er zwar im Stande der Erniedrigung sich seiner Göttlichen Herrlichkeit geäussert/ hat er doch zuweilen/ wanns sein Ammt erforderte/ einen Strahl derselben lassen hervor blicken"26, und nach Arndt "erzeiget sich Christus (allhie) als ein allmächtiger Gott und Herr".27 In einer anderen Predigt stellt Arndt ebenso wie der Einleitungschor der J ohannes-Passion eine Beziehung zwischen dem Machterweis Christi bei der Gefangennahme und seiner himmlischen HerrschefWÜrde her: In Christi Wort ,Ich bin's' "haben wir ... eine herrliche Lehr von der Majestät Christi, derer er sich zwar im Stande seiner Niedrigkeit geeussert, aber gleichwohl zu Zeiten herfiir leuchten lassen ... Ist dergleichen bey seinem Sterben, was wird nun geschehen, da er sitzt zur Rechten Gottes, und über alles Gewalt hat?"28 Die zitierten Beispiele zeigen, daß in der Passionstradition diese Stelle nicht soteriologisch, sondern rein christologisch gedeutet wurde. So erklärt sich der ausschließlich christologische Inhalt des Eingangschors der Johannes-Passion aus seiner gedanklichen Beziehung zur nachfolgenden Szene. Allerdings bekommt dieser Text durch seine Stellung am Anfang der Passion sowie durch den verallgemeinernden Bezug auf die ganze Passion ("zeig uns durch deine Passion . . . ") ein anderes Gewicht, als es jene christologischen Deutungen des göttlichen Machterweises bei der Gefangennahme haben. Als Eingangschor erhält er den Charakter einer das Werk insgesamt erschließenden Aussage, während christologische Bestimmungen innerhalb der Passionstheologie der Zeit lediglich den Rang dogmatischer Voraussetzungen hatten. Mit dem Hinweis auf die ,eigentliche' Stelle des Textes im Ganzen der Passion ist demnach zwar seine gedankliche Herkunft bestimmt, nicht aber der Umstand gedeutet, daß ein rein christologischer Text das Passionslibretto einleitet. Um dies zu erklären, wird man schließlich doch wieder auf die Vermutung gewiesen, daß der Librettist bewußt und gegen die Tradition im Einleitungschor den Grundgedanken des Johannes-Evangeliums zum Ausdruck bringen wollte.
26 Leyden Christi, S. 261.
27 Postilla, S. 619. 28 PostiUa, S. 508.
165
Kapitel 7: Der Text der Matthäus-Passion von 1. S. Bach Das Libretto der 1727 1 oder 1729 uraufgeführten Matthäus-Passion stammt von dem Leipziger Dichter eh. Fr. Henrici (1700-1763), der unter dem Pseudonym Picander zunächst vorwiegend Satiren und Gelegenheitspoesie, seit 1724 jedoch auch geistliche Gedichte und Kantaten veröffentlicht hatte. In ihm fand Bach, "was ihm bei der 10han· nes-Passion gefehlt hatte: die Hülfe eines gewandten, willigen und durch mehrjährige Zusammenarbeiten erprobten Dichters.,,2 Wenn Spitta schreibt: ~cander war ein weniger als mittelmäßiges Talent, aber Bach verlangte nur Leichtigkeit in der äußerlichsten poetischen Gestaltung, und diese stand jenem zu Gebote,,3, so drückt er damit die allgemeine Auffassung sowohl vom dichterischen Rang Picanders als auch von Bachs Motiv flir die erstaunlich enge Zusammenarbeit mit einem ihm gänzlich wesensfremden Menschen aus.4 Es läßt sich sehr wohl denken und wird auch gewöhnlich angenommen, daß. Bach auf den Gehalt der Dichtungen, die Picander ihm zu liefern hatte, Einfluß genommen, daß er sich also in ihm "sein Werkzeug selbst bereitet" habe. 5 Gleichwohl ragen die meisten seiner geistlichen Dichtungen nicht über die Masse des damals flir die Kirchenmusik Produzierten hinaus und wären heute ebenso vergessen wie seine Satiren und Hochzeitscarmina, wenn nicht viele seiner Kantatentexte sowie zwei Passionen - außer der Matthäus·Passion noch die Markus-Passion (1731)6 - von Bach komponiert worden wären. 7
1. Picanders "Erbauliche Gedancken" Eine Ausnahrnestellung innerhalb dieser nicht mehr als durchschnittlichen Produktion nimmt zweifellos das Libretto der Matthäus-Passion ein. Mit ihm hat Picander, wie Schweitzer zu recht meint, "sein Bestes geleistet". 8 Allerdings hat er, wie wir sehen werden, dies nur unter dem bestimmenden Einfluß eines fremden Textes vermocht. Seine eigentliche und ursprüngliche Passionsauffassung finden wir wohl eher in einem anderen Passionslibretto, das er 1725 unter dem Titel "Erbauliche Gedancken auf den
1 Zur Frühdatierung s. J. Rifkin, The Chronology of Bach's Saint Matthew Passion. 2 Spitta, Bach II,"S. 367. 3 Ebd. 4 Zu·Picander vgi. auch Spilta Il, S. 169-178; P. Floßmann, Picander. 5 Spitta, Bach 11, S. 173. 6 Bachs Musik zu dieser Passion selbst ist verschollen, teilweise jedoch in der Trauerode auf die Königin Christiane Eberhardine (1727) erhalten, zu der sie in Parodie beziehung steht (vgl. Spitta, Bach 11, S. 334). 7 Zusammenstellung und Quellennachweis aller von Bach vertonten Picander-Texte BT, S. 509 f., Nr. 10-11 e. 8 Bach, S. 555.
166
Grünen Donnerstag und Charfreytag über den Leidenden Jesum" veröffentlicht hat. 9 Schon um die Bedeutung jenes Einflusses vorbereitend zu verdeutlichen, lohnt sich ein kurzer Blick auf diese frühere Picandersehe Passionsdichtung. In formaler Hinsicht und auch inhaltlich in einigen Stücken ist in diesem libretto das Vorbild der Brockes-Passion unverkennbar. Der gereimte Evangelistenbericht ist jedoch noch wesentlich knapper und nüchterner als bei Brockes. Er dient nur noch als Anlaß und äußerliche Klammer für die achtzehn lyrischen Betrachtungen, die den Jüngern Petrus und Johannes, Maria und den allegorischen Gestalten "Zion" und "Seele" zugeteilt sind. Die bei den letzteren sind so wenig wie bei Brockes charakteristisch unterschieden. Die Aufgabe ihrer zusammen elf Betrachtungen ist es, das Leiden Jesu ausmalend zur Anschauung zu bringen ("schau hier, mein Hertz"; "philister! Philister über dir!"; "Kommt heraus, und geht vorüber"), den toten Jesus zu betrauern ("So hat mein Jesus nun die Augen zu gethan"; "Wir setzen uns bey deinem Grabe nieder") und die fromme Aneignung der Passion vorbildhaft zu vollziehen ("Rolle doch nicht auf die Erde"; "Jedoch der Eiter deiner Beulen"). Die religiöse Bedeutung des Sterbens Jesu bringen die beiden allegorischen Gestalten in wenigen Versen zum Ausdruck, die in traditioneller Weise von Stellvertretung und Ausgleich für die Sünden der Menschen handeln: "Die Sünden-Last der gantzen Welt Liegt jetzt auf seinen Rücken." (S. 874) "Jedoch der Eiter deiner Beulen, Soll meiner Kinder Wunden heilen." (S. 878) "Die Schulden, so dir angeschrieben, Hat Jesus alle gut gemacht." (S. 880) Sonst wird nur noch an einer einzigen Stelle eine Deutung dieses Todes gegeben, und zwar in einer Jesus selbst in den Mund gelegten Arie: "Aus Liebe will ich alles dulden, Aus Liebe sterb ich vor die Welt. Aus Lieben und nicht aus Verschulden, Bin ich der Sünder Löse-Geld. Aus Liebe usw." (S. 877)
9 Abgedruckt bei Spitta, Bach 11, S. 813-881. Seitenzahlen im Text beziehen sich im folgenden auf diesen Abdruck. - Spittas Vennutung, Bach habe dieses Libretto vertont (vgl. Bach H, S. 335 ff.), wird von Wustmann mit m. E. überzeugenden Argumenten bestritten (Zu Bachs Texten der Johannes- und der Matthäus-Passion, S. 161 ff.).
167
Alle übrigen Arien und "SolilQquien" sowie die zwei eingefügten Choralstrophen sind Äußerungen der innigen, liebe- und mitleidvollen Beziehung der Anhänger und Gläubigen zu Jesus. 10 Seinen tiefsten Ausdruck findet die liebe zu Jesus in der Rührung, ja im Weinen. Einen "Thränen-Regen" vergießt der reuige Petrus; der am Kreuz mit Essig Getränkte soll aus den Augen der "Seele" .süsse Thränen saugenl Weil sie aus lieb und Treu geflossen seyn" (S. 879); und dem im Grab ruhenden Jesus ruft der "Chor der Gläubigen Seelen" zu: .,Unsre Thränen, Werden sich stets nach dir sehnen." (S. 880) Vor allem aber gestaltet Picander den Gang nach Golgatha zu einer großen, im wörtlichen Sinne tränenseligen Szene. Schon den Evangelistenbericht, bei dem er sonst auf äußerste Knappheit bedacht ist, erweitert er an dieser Stelle: "Die Weiber folgten nach, Wiewohl sie in den Thränen-Güssen, Nicht gehen, sondern schwimmen müssen." (S. 878) Jesu Bußwort an die weinenden Frauen (Lukas 23,27 f.) wird bei Picander umgedeutet zum Ausdruck gerührten Schmerzes: "Brechet mir doch nicht das Hertz, Welches selbst vor Leiden bricht; Liebste Seelen, weinet nicht! Euer Jammer mehrt den Schmertz: Brechet usw." (ebd.) Diese Worte werden in der folgenden Marienklage, dem längsten Stück des ganzen librettos, aufgenommen und tropisch kommentiert; das Verlangen, nicht zu weinen, wird leidenschaftlich zurückgewiesen: "Ach! Weinet nicht! Wie kannst du das von mir begehren? Ich will vor dich mit Lust Und Lachen zwar erblassen, Doch da du selber sterben must, Kan ich die Zähren Unmöglich unterlassen." (S. 879)
10 In dem Libretto kommt keine einzige der Jesus feindlich gesonnenen Personen zu Wort. Die Gerichtsverhandlungen vor dem Hohen Rat und vor Pilatus werden vom Evangelisten in fUnf Zeilen zusammengerafft, die Volksrnassen, die Jesu Tod fordern, bleiben ebenso unerwähnt wie das Ende des Judas. Die Darstellung feindseliger Affekte, des dunklen Hintergrundes von Haß und Verzweiflung hätte den Ton hingebungsvoller Jesusliebe. der die Dichtung durchzieht, nach Picanders Auffassung wohl empfindlich gestört.
168
Die Szene wird beschlossen durch einen Choral, eine Strophe aus dem Bußlied "Herr, ich habe mißgehandelt" von Joh. Franck, die Picander jedoch in höchst bezeichnender Weise abändert. In Anlehnung an Klagelieder 2,18 und 3,49, wo die Tränen mit Wasserbächen verglichen werden, dichtet Franck: "Wein, ach wein itzt um die wette, Meiner beyder augen bach! o daß ich gnug zähren hätte, Zu betrauern meine schmach! o daß aus dem thränenbrunnen Käm ein starcker strom gerunnen! ,,11 Picander wandelt die mittleren Zeilen folgendermaßen ab: "Ach! daß ich gnug Zähren hätte, Zu bedauern deine Schmach!" (S. 879) Er hätte kaum einen deutlicheren Hinweis auf die Intention seines Passionslibrettos geben können als diese kleine Änderung an seiner Vorlage, die doch den Nerv protestantischer Passionsbetrachtung trifft. Statt der Klage über die eigene Sünde soll hier das Leiden Jesu menschliche Anteilnahme erwecken, eben jene unmittelbare Geflihlsbeziehung also, gegen die Luther bereits im "Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi" gekämpft hatte, weil sie den Menschen in seinem Wesen unverändert läßt. Bei Picander werden selbst die spärlichen Reste einer religiösen Deutung der Passion von der Intensität des Geflihls gleichsam aufgesogen: Die oben isoliert zitierten traditionellen Äußerungen finden sich ausnahmslos innerhalb von stark emotional geprägten Betrachtungen. Im Vergleich zu Brockes, bei dem Erlösung und Bekehrung zusammenfielen, der religiöse Gehalt also gerade deswegen - wenngleich reduziert - zu einem guten Teil bewahrt werden mußte, ist in Picanders "Erbaulichen Gedancken" die Vermenschlichung der Passion weit fortgeschritten. Ober die ganz innerweltliche liebesbeziehung zwischen Jesus und seinen Anhängern greift dieses libretto an keiner Stelle hinaus. Es ist gewiß kein Zufall, daß das Wort "Gott" in dem Text nicht ein einziges Mal genannt wird. Mit der Spannung zwischen Göttlichem und Menschlichem sind auch die harten Paradoxien der kirchlichen Passionstradition getilgt, derzufolge der Gottmensch anstelle der Sünder, der Schöpfer anstelle des Geschöpfs, der Herr flir den Knecht stirbt. Hier stirbt vielmehr der Menschenfreund flir die ihn liebenden.
11 Fischer - Tümpel IV, S. 75.
169
2.
Die von H. Müller abhängigen Texte der Matthäus-Passion: Synopse, Vergleich, Zusammenfassung
Die offenkundige Tatsache, daß der Text der Matthäus-Passion sowohl dichterisch als auch theologisch hoch über den nur wenige Jahre früher entstandenen "Erbaulichen Gedancken" steht, hat manchen Interpreten zu der Vermutung veranlaßt, Bach selbst müsse wesentlich an der Einrichtung und Gestaltung dieses librettos beteiligt gewesen sein .12 Nun erklärt sich der Unterschied gewiß zu einem Teil aus der viel größeren Anlage und aus den literarisch und theologisch bedeutungsvollen Textelementen, die in der Matthäus-Passion hinzugekommen sind: Evangelientext und Choral. In ihnen kann man Bachs Anteil an dem libretto erblicken, der dann bereits sehr wichtig wäre. Bach hat aber offenbar noch in anderer und, wenngleich indirekter, so doch entscheidender Weise Einfluß auf die Gestaltung des librettos genommen. Er muß es gewesen sein, der Picander auf eine Vorlage verwiesen hat, die den Charakter dieser Dichtung wesentlich geprägt hat: auf Heinrich Müllers Passionspredigten. 13 In seiner umfangreichen theologischen Bibliothek, von der wir durch eine NachlaßAufstellung wissen 14 , besaß Bach flinf Werke von H. Müller .1 5.Daß damit außer Luther und dem orthodoxen Theologen Aug. Pfeiffer kein Verfasser häufiger in Bachs Bibliothek vertreten ist als Müller, darf wohl als Indiz fUr die große Wertschätzung gelten, die Bach dem bekannten Rostocker Erbauungsschriftsteller entgegenbrachte. Eines dieser Werke ist die Predigtsammlung "Evangelisches Praeservativ wider den Schaden Josephs, in allen dreyen Ständen", der die Reihe der acht Passionspredigten beigefügt war .16 Die andere Reihe befand sich nicht unter den Ausgaben der Müllerschen Predigten in Bachs Bibliothek; sie aber hat Picander, wie zu zeigen sein wird, fUr seine Arbeit am libretto der Matthäus-Passion überwiegend benutzt. In einigen Fällen scheint er jedoch auch die Reihe der acht Predigten zugrundegelegt zu haben.! 7 Etwa die Hälfte der madrigalischen Stücke der Matthäus-Passion ist auf diese Weise, als Nachdichtung von Passagen aus H. Müllers Passionspredigten, entstanden. Dies soll in Form synoptischer Gegenüberstellungen belegt werden. Die jeweils folgenden Vergleiche 12 Vgl. Spitta, Bach 11, S. 367; Schweitzer, Bach, S. 554; Wustmann, a.a.O., S. 165. Einen theologischen Vergleich oder auch nur eine theologische Deutung des Librettos der Matthäus-Passion hat jedoch keiner dieser Interpreten versucht. 13 S. dazu E. Axmacher, Ein Quellenfund zum Text der Matthäus-Passion. 14 Vgl. H. Preuß, Bachs Bibliothek; Tb. Wilhelmi, Bachs Bibliothek. 15 Vgl. in Preuß' Liste die Nummern 8,19,20,41,42. 16 Vgl. Preuß, a.a.O., S. 111. Zu den beiden Reihen s. o. S. 31 f. 17 Die Erklärung flir diesen Sachverhalt ist nicht ganz leicht. Die Benutzung von zwei annähernd gleichen Predigtreihen eines Verfassers parallel zueinander erscheint als ein zu umständliches Verfahren, muß aber angesichts der Quellenlage wohl angenommen werden. Wo Picander sich auf PredigtsteIlen aus dem .Evangelischen Praeservativ· bezieht, ist dies in den Anmerkungen zur Synopse verzeichne!.
170
der Predigtstellen mit den Picanderschen Nachdichtungen werden den zwischen 1670 und 1730 eingetretenen Wandel im Passionsverständnis aufweisen, der eben wegen der literarischen Beziehung zwischen den Predigten und dem übretto besonders deutlich erkennbar ist. Von diesem in einer Zusammenfassung verallgemeinerten Ergebnis aus werden sodann einige der anderen madrigalischen Stücke und zuletzt das Gesamtlibretto nach ihrer passionstheologischen Stellung befragt. Müller 18 Er fieng an zu trauren! zittern. Für Trauren zitterte sein gantzer Leib! und bebete! wie das Laub auff den Bäumen! er erschütterte gantz für dem erschrecklichen Grimm und Zorn Gottes. Mein Hertz! steUe dir vor einen armen Missethäter! der vor Gericht stehet. Wann das Urtheil wird gesprochen! wann der Stab wird gebrochen! da puffet ihm das Hertz im Leibe! sein Gesicht erblasset! Hände und Füsse sincken. Eben so stehet hie Christus vor Gottes ZornGericht . . .1 9 Zagen heist! wann man aUes Trosts! innerlich und äusserJich! von Gott und allen Creaturen! gäntzlich entblösset ist ... Aber hie ist Christus warhafftig Trostloß gewesen. Dann es hatte Gott allen seinen Zorn! aUen seinen Grimm! ja alle höllische Quaal über sein Kind ausgeschüttet! und ihn kein Tröpflein Trosts lassen empfinden. (S. 230 f.)
Picander 20 (Nr. 19) O! Schmertz! Hier zittert das gequälte Hertz; Wie sinckt es hin! wie bleicht sein Angesicht! Was ist die Ursach aller solcher Plagen? Der Richter führt ihn vor Gericht, Da ist kein Trost, kein Helffer nicht)1 Ach meine Sünden haben dich geschlagen. Er leidet alle HöUen-Qualen, Er soll vor fremden Raub bezahlen. Ich, ach! Herr Jesu, habe diß verschuldet, Was du erduldet. Ach könte meine Liebe dir, Mein Heyl, dein Zittern und dein Zagen, Vermindern oder helffen tragen, Wie gerne blieb ich hier!
18 Zur zitierten Ausgabe s. o. S. 32, Anm. 12. 19 Im .,Evangelischen Praeservativ" (abgek.: .Ev. Praes."; hier zit. nach der Ausgabe Erfurt 1741) heißt es: .Der Heyland wird aIlhie vor das strenge Zorn-<;erichte Gottes geführet ... Er solte bezahlen, was die Menschen schuldig waren." (S. 9) Dies ist einer der Hinweise auf die Benutzung auch dieser Reihe der acht Predigten. 20 Zit. nach .Texte zur Paßions-Music, nach dem Evangelisten Matthäo" (Faksimile in: Bl', S. 321-324). Die Zählung der Picanderschen Texte bezieht sich auf BT, S. 225-235. 21 In seiner Passion von 1725 hatte Picander an der entsprechenden Stelle geschrieben: .Das Auge sieht, wo Helffer seyn" (Spitta, Bach 11, S. 874), eine Anspielung auf lesaja 63,6. Die Verwendung dieser Stelle beweist Picanders Vertrautheit mit der Passionstradition: In Jesaja 63,2f. ist die Rede von dem Keltertreter , und dieser wurde typologisch auf Christus in Gethsemane gedeutet. - Die neue, entindividualisierte Formulierung .Da ist kein Trost ... " geht auf Müllers Ausführungen über die Trostlosigkeit J esu zurück.
171
Müller beschreibt bildhaft die sichtbaren Wirkungen des inneren Leidens Jesu, insbesondere in dem zur Veranschaulichung herangezogenen Bild des Missetäters beim Urteilsspruch.·Dieses Bild ist für ihn zugleich der Schlüssel zur Sinndeutung des Leidens in Gethsemane: Es ist das Gericht, in dem Gottes Grimm und Zorn zum Ausdruck kommt. Den Gerichtsgedanken hat Picander in der Zeile "Der Richter fUhrt ihn vor Gericht" aufgenommen und, erweitert um den Stellvertretungsgedanken, ausgefUhrt in der Zeile: "Er soll vor fremden Raub bezahlen". Sehen wir jedoch genauer zu, so zeigt sich, daß Picander den Müllerschen Gedanken in zweifacher Hinsicht entscheidend verändert: 1. Er eliminiert die bei Müller durch dreimalige Erwähnung stark betonte Rede von Gottes Zorn und Grimm als der Ursache dieses Leidens Jesu. Stattdessen nennt er mit den Worten aus Joh. Heermanns Passionslied ~eine Sünden" als "die Urs ach aller solcher Plagen". 2. Nicht nur von Gottes Zorn, sondern von seinem Handeln überhaupt ist mit einer einzigen Ausnahme ("Der Richter fUhrt ihn vor Gericht") nicht mehr die Rede. Heißt es bei Müller, Gott habe "alle höllische Quaal über sein Kind ausgeschüttet", so macht Picander Jesus zum Subjekt der Aussage: "Er leidet alle Höllen-Qualen"; und während Müller sagt, Gott habe Jesus "kein Tröpflein Trosts lassen empfinden", wählt Picander die unpersönliche Formulierung: "Da ist kein Trost . . ." Für Müller ist es noch mit der gesamten Orthodoxie selbstverständlich, daß wir "alles, was Christus in seinem Leiden erduldet, ansehen (müssen), als schlüge und martere ihn Gott der Herr selber also" (Joh. Gerhard). Picander empfmdet diesen Gedanken offensichtlich als anstößig, denn er übergeht ihn nicht nur an dieser, sondern noch an mehreren anderen Stellen. Die Konzentration auf Jesus als den in seinem Leiden gewissermaßen selbständig Handelnden ist die Grundtendenz des gesamten Textes der Matthäus-Passion. Gott hat allenfalls noch die Funktion eines Adressaten dieses Handeins. Daß dieser Vorgang theologisch ungemein bedeutsam ist, leuchtet schon auf den ersten Blick ein. Hier geschieht nicht weniger als die Auflösung der von der Orthodoxie noch einmal theologisch gesicherten altkirchlichen Christologie mit ihrer Lehre von der - wie immer näher bestimmten - Wesenseinheit Jesu mit Gott. Diese Auflösung kann sich deshalb - auch bei Picander - fast unbemerkt vollziehen, weil sie auf einem Weg voranschreitet, den das im Pietismus, aber auch anderwärts lebendig gewordene Bedürfnis nach subjektiver Religiosität längst bereitet hatte: dem der religiösen Selbstvergewisserung durch Einfühlung in Jesu Menschlichkeit. Was dem frommen Gefühl nicht unmittelbar zugänglich ist, was als reines Dogma empfunden wird - also etwa die Göttlichkeit Jesu - wird von dieser Religiosität nicht bekämpft, aber beiseitegeschoben, außer acht gelassen. Ausdruck und Darstellung des religiösen Gefühls füllen das Vakuum, das der Fortfall des lehrhaften Elements erzeugt hat. Das läßt sich am vorliegenden Picander-Text gut zeigen: Bereits mit den ersten Worten ist das empfindsame, mitleidende Ich präsent, wenngleich es (abgesehen von der Choralstrophe) erst in den letzten vier Zeilen als Ich hervortritt. Der emphatische Schmerzensruf, das unmittelbare Gegenwärtigkeit suggerierende "Hier", die beiden parallelen Interjektionen (Z. 3), in denen die genannten Leiden Jesu durch die Subjektivität des teilnehmenden Ich gespiegelt erscheinen, schließlich das individualisierende Attribut zu "Herz" - alle diese in nur drei Zeilen zusammengedrängten sprachlichen·Erscheinungen evozieren gleich anfangs die Gestalt des liebevoll mit Jesus verbundenen Ich der letz-
172
ten vier Zeilen. Diese selbst sind besonders aufschlußreich fUr Picanders Intentionen. Hat er bis hierher das »Gerüst" seiner Aussagen von Müller übernommen und sie lediglich in eine andere, stark subjektivierte Sprechhaltung übertragen, so findet sich zu der Anrede an Jesus in Picanders Rezitativschluß keinerlei Entsprechung bei Müller. Formal dringt hier eine ganz oratorienhaft geprägte Redeweise in die Passion ein; die emphatische Anteilnahme an der Handlung führt an die Grenze zur dramatischen Vergegenwärtigung. Das betrachtende Ich, das durch die Intensität seine Empfindung bereits in Z. 2 die Fiktion räumlich-zeitlicher Nähe zum Geschehen hervorgerufen hat, gleitet hier in die Rolle eines Teilnehmers am Geschehen hinein, und nur durch die Konjunktive (könnte, blieb) wird die FiktionaIität dieser Rolle bewußt gehalten. Inhaltlich sind die vier Schlußzeilen Müllers Passionsdeutung geradezu entgegengesetzt. Nicht den aus menschlich-liebevoller Anteilnahme geborenen Wunsch, Jesus sein Leiden zu lindern oder tragen zu helfen (beides könnte einem orthodoxen Theologen nur als blanke Vermessenheit erscheinen!), verbindet Müller mit dem Stichwort "zittern und zagen", sondern die Mahnung, vor der eigenen Sünde zu zittern, und den Gedanken an das Erzittern der Gottlosen im Jüngsten Gericht. Gewissensanruf und eschatologischer Ausblick hier, subjektive, in fiktionaler Vergegenwärtigung fast schwärmerische Geflihlsaussprache dort: Darin liegt, des Abhängigkeitsverhältnisses ungeachtet, die grundsätzliche Differenz zwischen den religiösen Intentionen Müllers und Picanders. Unsere Sünden drücken ihn nieder/ als eine Last/ daß er zur Erden sincket. Er krümmet und windet sich vor Gott/ als ein Wurm/ ist willig und bereit! sich gerne zertreten zu lassen. Er thut vor Gott/ seinem himmlischen Vater! den tieffsten Fußfail/ als der Mittler zwischen Gott und Menschen/ daß er uns mit Gott möchte aussöhnen. Hätte der Heiland diesen Niederfall nicht gethan! so hätte uns nimmer die GnadenHand Gottes auff- und angenommen (S. 240).22
(Nr.22) Der Heyland fällt vor seinem Vater nieder, Dadurch erhebt er mich und alle Von unserm Falle Hinauf zu Gottes Gnade wieder. Er ist bereit, Den Kelch, des Todes Bitterkeit Zu trincken, In welchen Sünden dieser Welt ,Gegossen sind, und heßlich stincken, Weil es dem lieben Gott gefällt.
22 Im .Ev. Praes. fehlt der von Picander dichterisch verstärkte Gegensatz zwischen Jesu Niederfall K
und der Aufnahme der Menschen durch Gottes .Gnaden-Hand
K
•
173
Es nennet der Heyland sein Leyden einen Kelch. In diesen Kelch hat ihm Gott eingeschencket den Grimm seines Zorns! die Bitterkeit des Todes! die GaU und Angst der Höllen. Mein Hertz! das Creutz ist auch ein Kelch. Aber nicht hat dir Gott darein geschenckt Gifft! sondern lauter Heyl und Artzeney; nicht den Todt! sondern das Leben. David erkennts! wann er sagt: Ich will den heilsamen Kelch nehmen! Ps. 116! 13 ... Dein Jesus hat den ersten Trunck aus dem Creutz-Kelch gethan! dar.tit Er von seinen Lippen liesse hinein trieffen die Honig-Tröpflein seiner süssen Liebe! daß die Bitterkeit des CreutzKelches versüsset werde. Ein Kelch ist dein Creutz. Ein Kelch hat ja einen Grund und Boden ... (S. 243 f.).23
(Nr. 23) Gerne will ich mich bequemen, Creutz und Becher anzunehmen, Trinck ich doch dem Heyla.nd nach. Denn sein Mund, Der mit Milch und Honig fliesset , Hat den Grund Und des Leidens herbe Schmach Durch den ersten Trunck versüsset.
Die Konsequenz, mit der Picander seine Vorlage in einer ganz bestimmten Weise bearbeitet, ist erstaunlich. Das Prinzip der theologischen Vereinfachung und Reduktion, das wir in Nr. 19 fanden, waltet auch hier im Verhältnis zur Vorlage. I. Auch in diesen Texten tritt, anders als bei Müller, Jesus als der allein Handelnde in Erscheinung, Gott ist der wohlwollende Zuschauer, allenfalls der Empfänger dieses Handeins. Zwei Beispiele sind augenfallig: a) Bei Müller entspricht dem Niederfall Jesu ein Tun Gottes: Er nimmt uns wieder auf und an. Für Picander ist der Niederfall das Mittel Jesu, durch das er selbst uns wieder zu Gott erhebt. b) Bei Müller trinkt Jesus den Kelch, in den Gott ihm "den Grimm seines Zorns/ die Bitterkeit des Todes/ die Gall und Angst der Höllen" eingeschenkt hat. Picander umgeht durch das Passiv ("gegossen sind") die Nennung Gottes in diesem Zusammenhang; indem er aber von den "Sünden dieser Welt" statt vom göttlichen Zorn als dem Inhalt des Kelches spricht, verweist er wiederum auf die menschliche statt auf die göttliche "Ursach aller solcher Plagen". Ein zürnender Gott erscheint dem Geflihlschristentum eines Picander anstößig, ausdrücklich wird Gott am Ende des Rezitativs der "liebe Gott" genannt. Picander spricht von Gottes Gnade und liebe, eliminiert jedoch die theologische Spannung zwischen ihnen und Gottes Zorn. übrig bleibt der Gegensatz zwischen Sünde und Gnade, statt der theologischen eine anthropologische Spannung, die der Ratio und zugleich dem Geflihl faßbar erscheint. 2. Der Beseitigung der innergöttlichen Beziehungen im Passionsgeschehen entspricht ganz konsequent die Konzentration auf das Verhältnis zwischen Jesus und dem Gläubigen. Wie Jesus allein durch den Menschen und um seinetwillen leidet, so ist auch dieser mit seiner liebe ausschließlich auf Jesus bezogen, und zwar im Sinne der imitatio-Frömmigkeit. Dies kann nicht anders sein, denn jede Beziehung
23 Der Passus ist im "Ev. Praes." knapper. Vgl. aber an früherer Stelle die Sätze: "Jesu Creutz-Bach war bitter, dein aber süsse, denn er hats versüsset, da er den ersten Trunck daraus gethan. Drum so folge ihm im Trincken nach, sprich mit David: ... Ich wil den heilsamen Kelch des Herrn nehmen." (S. 4)
174
zwischen Jesus und dem Menschen, die durch Jesu satisfactio und meritum begründet wäre, würde Gott als den in der Passion entscheidend Handelnden voraussetzen. Müller bezeichnet einen solchen von Gott begründeten meritorischen Zusammenhang zwischen Jesus und uns: Gott schenkt Jerus Zorn und Bitterkeit des Todes in seinen Kelch, (darum) dir Heil und Seligkeit. Jesus hat den bitteren Trunk getan, damit der unsere versüßet werde. Picander setzt die beiden Aussagen "Er ist bereit ... zu trinken" und "Gerne will ich mich bequemen" wesentlich einfacher und direkter in Beziehung zueinander. Sie liegen für ihn gewissermaßen auf einer Ebene. Die Liebe zum "Heiland" begründet für den Gläubigen zureichend, daß er leiden muß wie Jesus. Der zweite, nicht ganz logisch mit einer kausalen Konjunktion eingeleitete Teil der Arie begründet lediglich eine graduelle Differenz zwischen Jesu und unserem Leiden. Bei Müller findet sich die gen aue Entsprechung zu diesem Gedanken, aber dort ist durch den voranstehenden Gegensatz zwischen dem Todeskelch Jesu einerseits und "Heil und Artzeney" in unserem Kelch andererseits die grundsätzliche Vor- und überordnung des Leidens Jesu sichergestellt. In diesem Zusammenhang bedeutet dann das Bild vom Versüßen des Kelches, daß menschliches Leiden in der Nachfolge Jesu nicht mehr Strafleiden ist. Bei Picander, der den Gedanken des Strafleidens übergeht, kann die Rede vom Versüßen des Kelches durch Jesu "ersten Trunck" lediglich die Aufgabe haben, die liebe zwischen Jesus und dem Gläubigen hervorzuheben. Zu dem falschen Zeugniß schweiget Christus still . . . Es war nunmehr die Stunde da/ daß der Heyland leiden solte/ darum wolte er sich nicht loß reden aus der Feinde Hände/ anzuzeigen! daß er willig litte ... Er schweiget still! uns zu lehren/ daß wir die Lügner keiner Antwort würdigen sollen. Lügen widerlegt sich selbst. Lerne von Christo/ mein Hertz/ Sanfftmuth und Stillschweigen im Leyden
(Nr. 34) Mein Jesus schweigt Zu falschen Lügen stille, Um damit anzuzeigen 24 , Daß sein Erbarmens-voller Wille Vor uns zum Leiden sey geneigt, Und daß wir in dergleichen Pein Ihm sollen ähnlich seyn, Und in Verfolgung stille schweigen.
(S. 293 f.).
Mit zwei Argumenten begründen Müller wie Picander das Schweigen Jesu vor dem Hohen Rat: 1. Es zeigt an, daß Jesus für uns leiden will. 2. Es lehrt uns, in ähnlichen Situationen dem Vorbild Jesu zu folgen. - Aufschlußreich für den theologischen Vergleich ist wiederum, was Picander nicht von Müller übernimmt. Das läßt sich in dem kurzen Argumentationszusammenhang leicht erkennen. Es ist der Satz: "Es war nunmehr die Stunde da, daß der Heiland leiden' sollte! darum wolte er sich nicht loß reden aus der Feinde Hände ..." Hier wird das Schweigen Jesu in den Gesamtzusammenhang der Passion gestellt und aus einer Notwendigkeit des Leidens erklärt, die selbst nicht mehr zu begründen ist. Die Stunde ist da - er soll leiden: Man sieht, daß diese theo-
24 Bach ändert: "Um uns damit zu zeigen". Picander hat "anzuzeigen" wörtlich von Müller übernommen.
175
logische Deutung weit tiefer greift als die bei den rationalen Argumente, die Picander aufnimmt. Warum übergeht er gerade diese Deutung? Nach den Ergebnissen der bisherigen Vergleiche kann wohl die Antwort nur lauten: eben weil es eine weder der Ratio noch dem unmittelbaren Gefühl zugängliche theologische Deutung ist. Er leget die dreyßig Silberling darf wirfft sie den Hohenpriestern vor die Füsse 25 und wil sagen: Da habt ihr euer Geld/ gebt mir nun meinen Herrn wieder (S. 320 f.).
(Nr.42)
Gebt mir meinen Jesum wieder. Seht das Geld, den Mörder-Lohn, Wirfft euch der verlohrne Sohn Zu den Füssen nieder. Gebt mir meinen Jesum wieder.
Der von Spitta (Bach 11, S. 389) kritisierte allzu individualistische Charakter der Arie läßt sich daraus erklären, daß Picander hier eine wörtliche Rede des Judas und ihren Einleitungssatz aus der Vorlage aufnimmt und zur Rede eines Anhängers Jesu umdichtet. In dessen Mund nun ist das Wort: "Gebt mir meinen Jesum wieder" nicht, wie bei Judas, ein Ausdruck vergeblicher Reue, sondern des Wunsches, den Gang der Passion aufzuhalten. Wie so oft bei Picander schlüpft der Betrachter in die Rolle eines am Geschehen Beteiligten, dem in der Unmittelbarkeit gefühlsmäßiger menschlicher Anteilnahme völlig der religiöse Sinn der Passion entschwindet. überall da, wo die menschlich unmittelbare, d. h. nicht durch den Glauben vermittelte liebe zu Jesus in Picanders Dichtung Ausdruck findet, geschieht das formal in der Weise oratorienhafter Dramatik, inhaltlich als Wunsch nach Jesu Rettung oder als Klage um sein Verlorensein. Da diese Betrachtungsweise der Passion bei Picander trotz der Anlehnung an die in der Grundanschauung ganz entgegengesetzten Predigten Müllers immer wieder durchschlägt, liegt die Annahme nahe, daß sie seinem eigentlichen Verständnis eher entspricht als die theologisch durchdachte der Predigten. Was hat dann der fromme Jesus übels gethan? Fragen wir Petrum/ so antwortet er: Apost. Ges. 10, v. 38. Er ist umher gezogen/ und hat wolgethan. Fragest du die Blinden: Was hat Jesus übels gethan? So werden sie antworten: Er hat alles wohl gemacht/ die Blinden macht er sehend. Fragest du die Lahmen: Was hat Jesus übels gethan? So werden sie antworten:
(Nr.48)
Er hat uns allen wohl gethan, Den Blinden gab er das Gesicht, Die Lahmen macht er gehend, Er sagt uns seines Vaters Wort, Er trieb die Teufel fort, Betrübte hat er aufgericht, Er nahm die Sünder auf und an. Sonst hat mein Jesus nichts gethan. 26
25 Im »Ev. Praes." heißt es nur: •... warf sie in den Tempel" (S. 39). Picander hat also die andere Ausgabe benutzt. 26 Picander knüpft die Aufzählung der Wohltaten Jesu wie Müller an die Pilatusfrage an und verwendet die gleiche Verbindung mehrerer Bibelstellen miteinander (Lukas 7,21 f.; Jesaja 61,1 f. mit Apostelgeschichte 10,38), aus denen er seinen Text erweitert.
176
Er hat alles wohl gemacht! die Lahmen macht er gehend. Doch muß er hie ein Übelthäter heissen. Er wars ja auch vor Gottes Gericht/ nicht in eigener Person/ denn er wuste von keiner! weder erbnoch würcklichen Sünden! sondern an unser statt! denn er hatte auf sich genommen aller Menschen Missethat. Er ist ejn Obelthäter worden an deiner statt/ daß du nicht dürffest an jenem Tage das schreckliche Donner-Wort hören: Weichet alle von mir! ihr übelthäter ... (S. 333).
(Nr. 49)
Aus Liebe, Aus Liebe will mein Heyland sterben! Von einer Sünde weiß er nichts, Daß das ewige Verderben Und die Strafe des Gerichts Nicht auf meiner Seele bliebe. Aus Liebe usw. 27
Jesu Antwort auf die Frage des Täufers nach seiner Legitimation (Matthäus 11,2-6; Lukas 7,18-23) hat Müller durch Zwischenschaltung von Apostelgeschichte 10,38 ("Er hat wohlgethan") als Antwort auf die Pilatusfrage ("Was hat er übels gethan?") fruchtbar gemacht. Picander übernimmt die Aufzählung der Wohltaten Jesu und ergänzt sie aus den alttestamentlichen Stellen, auf die Matthäus und Lukas sich beziehen (Jesaja 61,1-2; 35,5-6). Dieses Rezitativ mH seinen einfachen, in der Wortstellung variablen und darum nicht eintönigen Parallelismen, deren Sprache von der Bibel geprägt ist, und mit der ebenso schlichten wie wirkungsvollen Einrahmung der Aufzählung durch die beiden Verse: "Er hat uns allen wohl gethan" - "Sonst hat mein Jesus nichts gethan" ist dichterisch sicher eines der schönsten Stücke des Picandersehen Librettos. Der rein kontemplative, untheologische Grundzug der Stelle schon bei Müller kam zweifellos Picanders dichterischen Fähigkeiten und Absichten sehr entgegen. Das gilt freilich schon nicht mehr für die Fortsetzung der Passage bei Müller, nach der Picander die Arie aus seinem Passionslibretto von 1725 (~us Liebe will ich alles dulden"; s. o. S. 167) verändert und ergänzt hat. Durch die Umwandlung der Ich- in die Er-Form und durch die Obernahme des Gerichtsgedankens von Müller hat die Arie zwar unbezweifelbar an theologischer Substanz gewonnen. Kennzeichnend ist jedoch auch hier wieder Picanders Ausweichen vor der theologischen Paradoxie, die Müller zur Sprache bringt, wenn er von dem Sündlosen sagt: "Doch muß er hie ein Obelthäter heissen. Er wars ja auch vor Gottes Gericht ..." Daß Jesus ais Stellvertreter der Menschen vor Gott wirklich ein Obeltäter zu heißen verdiente und daß nur deswegen die "Strafe des Gerichts" nicht die Menschen trifft, diesen strengen und theologisch unlöslichen Zusammenhang vermag Picanders natürliche JesusUebe nicht mehr zu fassen. Jesu Sündlosigkeit, die Müller als Voraussetzung dafür gilt, daß er fremde Sünde übernehmen kann, erscheint bei Picander als eine erbauliche, die Größe seines Sterbens hervorhebende, aber für sein Tun unwesentliche Eigenschaft. Wovon das fromme Gemüt bewegt wird, ist nicht der Gedanke an den stellvertretenden Stra!tod Jesu, sondern an
27 Umarbeitung der entsprechenden Arie aus der Passion von 1725 mit Hilfe der Müllerschen Predigtstelle. Aus ihr stammen (fast wörtlich) die Zeile 3 und der Gerichts- und Stellveruetungsgedanke in Zeile 4-6.
177
seinen freiwilligen Opfertod aus liebe. Für Picander besteht die erlösende Tat Jesu im unverdienten Sterben als solchem. nicht wie bei MüUer im Aufsichnehmen des tötenden Gerichts Gottes. "Er ist ein Obelthäter worden an deiner staU" - .,Aus liebe will mein Heyland sterben": An diesen beiden das jeweils Gemeinte zusammenfassenden Sätzen läßt sich deutlich die Akzentverschiebung in der Auffassung des Todes Jesu erkennen. Nur dem in liebe sich selbst Opfernden kann der Mensch in der weichen. empfmdsamen Haltung der liebe begegnen. während die liebe zu dem für ihn Gerichteten gewissermaßen gebrochen und nur auf dem Weg über Selbsterkenntnis und Buße zu erreichen ist. Wie wenig Picander dieser Zusammenhang bewußt ist. zeigen die letzten drei Zeilen der Arie. in denen das Ich die Folgen des Opfertodes Jesu für sich bedenkt. Daß er hier mit MüUer die Erlösung als Befreiung vom ewigen Gericht beschreibt. kann nach seinen Voraussetzungen nicht im strengen Sinne verstanden werden - denn dann müßte Jesu Sterben die Verurteilung durch dieses Gericht. des Sündlosen stellvertretender Sündertod sein -. sondern nur als ein in diesen alten Formeln der kirchlichen Lehre besonders wirkungsvoller Ausdruck des menschlichen Erlösungsbewußtseins. Fleisch und Blut will nicht gern ans Creutz. Simon ließ sich zwingen. Ach/ wie träg ist Fleisch und Blut/ wanns ans Creutz soll!/ Wie viel Ungeduldt laufft mit unter/ wann man das Creutz-Rüthlein küssen soll! Nicht sol mein Hertz. Es ist ja Jesus Creutz/ er legts auff/ er hilffts auch tragen/ und nimmts weg/ wann du es nicht mehr tragen kanst. (S. 399)
(Nr.56) Ja! freylich will in uns das Fleisch und Blut Zum Creutz gezwungen seyn; Je mehr es unsrer Seele gut. Je herber geht es dennoch ein. (Nr.57) Komm süsses Creutz. so will ich sagen, Mein Jesu. gieb es immer her! Wird mir mein Leiden einst zu schwer. So hilffst du mir es wieder tragen.
Der Text ist ein sehr typisches Beispiel für Picanders Auffassung von der engen Beziehung zwischen Jesus und dem frommen Ich. die der Begründung in Gott nicht mehr bedarf. Die Notwendigkeit des Leidens wird aus der allgemeinen Verfassung der Natur ("Fleisch und Blut"). der Trost im Leiden aus Jesu vorbildlichem und brüderlichem (Mit-) Leiden abgeleitet. Das entspricht durchaus dem Duktus der gewählten PredigtsteIle und auch einem generellen Zug der MüUerschen Leidensethlk. Daneben kennt MüUer jedoch die Begründungen des Leidens Jesu. die den Menschen nicht unmittelbar einbeziehen (Jesu Leiden an seiner statt und für ihn: satisfaktorisch und meritorisch). Picander nimmt nur die ethische Begründung des Leidens auf. weil nur sie die unmittelbare liebesbeziehung zwischen Jesus und dem Gläubigen ausdrücken kann. auf die es ihm ankommt. (Satisfaktion und Verdienst Jesu schaffen gerade nicht Nähe. sondern Distanz zwischen Jesus und dem Menschen. sie sprechen von Jesu überlegener liebe).Der Verstärkung des affektiven Gehalts der Dichtung gegenüber der PredigtsteIle dient auch (in Nr. 57) die Sprechhaltung: Das Ich ermuntert sich selbst zum Leiden ("so will ich sagen") und bittet Jesus um Hilfe im Leiden. Diese Sprechhaltung ist sehr aufschlußreich. Man könnte sie als die einer reflektierten. gewollten Unmittelbarkeit bezeichnen. Die Milllersche Ermahnung ("Nicht sol mein Hertz ... ") und der Zuspruch
178
("er hilffts auch tragen") werden zwar in Ich-Aussage und Gebet überführt, es wird also Unmittelbarkeit erstrebt, aber der Vorgang dieser überführung bleibt bewußt, er wird mitgenannt. Dieses winzige Zeichen, diese Halbzeile verrät den willensmäßigen, reflektierten Charakter der so unbedingt sich gebenden Frömmigkeit. - Weitere dichterische Verfahren, durch welche die beschriebene Gefühlsintensivierung erreicht wird, sind: I. Vereinfachung der Aussage. Picander verzichtet auf das Bild von der Kreuzrute, das nicht zum Vorgang der Kreuztragung paßt. So gewinnt er einen stringenten Gedankengang: von der erzwungenen gelangt der Christ zur freudigen Annahme des Kreuzes. 2. Verstärkung der Aussage: Aus Müllers Mahnung, sich zum Kreuz zwingen zu lassen, wird bei Picander die Sehnsucht nach dem "süssen" Kreuz. Dieser Vorgang ist freilich in Müllers Predigten insgesamt angelegt, dennoch bleibt Müller sich stets des Widerstreits zwischen dem für den natürlichen Menschen schweren und dem eben deswegen heilsamen Kreuz bewußt. Bei Picander wird das Miteinander von Anfechtung durch das Kreuz und Einverständnis mit ihm zu einem Nacheinander: In der Arie ist von dem Zwang, den das Kreuz für Fleisch und Blut bedeutet, nichts mehr zu spüren. Das fromme Ich der Arie hat alle Anfechtung weit hinter sich gelassen, es bedarf nicht mehr der Mahnung zum Leiden, sondern sucht es vielmehr. Dementsprechend ist nun auch nicht mehr von der Wegnahme des Kreuzes die Rede (wie bei Müller), sondern nur davon, daß Jesus es tragen hilft. Frömmigkeit ist hier gewissermaßen zum natür· lichen Zustand des Menschen geworden. Solche überbietung des angefochtenen Glaubens durch die "autonome" Frömmigkeit ist jedoch (systematisch-theologisch sowie kirchengeschichtlieh betrachtet) eine Verfallserscheinung des Christlichen: Seine Paradoxien werden nicht mehr ertragen, die Auflösung ins Natürliche (nach der Seite des Religiösen oder des Irreligiösen) beginnt. Diesem Stadium müssen wir auch Picanders Passionslibretto weitgehend zurechnen. Tritt hinzu/ mein Hertz/ und schaue deinen Jesum an/ wie er am Creutz hanget. Seine Hände hat er ausgespannet/ als der rechte Hohepriester/ dich mit bey den Händen zu segnen. Er hat sie ausgespannet/ .dich damit zu umpfahen . . . Liebstes Hertz/ gib du dich hinein in die ausgespannete Arme deines Jesu/ und sage mit Augustino: Inter brachia Salvatoris mei & vivere & mori cupio. Aus Jesu Händen soll und kan mich niemand reissen (S. 405 f.).28
(Nr. 60)
Sehet, Jesus hat die Hand, Uns zu fassen, ausgespannt, Kommt! - wohin? - in Jesus Armen Sucht Erlösung, nehmt Erbarmen, Suchet! - wo? - in Jesus Armen. Lebet, ~terbet, ruhet hier, Ihr verlaßnen Küchlein ihr. Bleibet! - wo? - in Jesus Armen.
28 Müllers Deutung der am Kreuz ausgespannten Arme Jesu (einschließlich des Augustin-Zitats) imdet man in den Passionsbetrachtungen der Zeit nicht selten (s. o. S.79-83). Zu dem hier besonders festen Traditionsbestand gehört auch der von Picander aufgenommene Vergleich der Arme Jesu mit den Flügeln der Henne, unter denen sie ihre Küchlein versammelt (Matthäus 23,37). - 1m "Ev. Praes." folgt auf das Augustin-Zitat die Übersetzung: "In den Armen Jesu will ich leben und sterben." (S. 75)
179
Die Betrachtung des mit ausgebreiteten Armen am Kreuz hängenden Jesus fehlt in den Passionspredigten der Zeit selten. Die Deutung der ausgespannten Arme als einer hohenpriesterlichen, segnenden Geste, die bei Müller an erster Stelle steht, übergeht Picander, wie er überhaupt das priesterliche Amt Jesu - nach der dogmatischen Tradition das entscheidende in seiner Passion - nirgends erwähnt. Wieder nimmt er nur diejenigen Aussagen Müllers auf, die auf die geftihlsmäßig-unmittelbare und sozusagen private Verbindung der Gläubigen mit Jesus zielen. Bei ihm fin~et der ruhelose Mensch Schutz und Geborgenheit im Leben und im Sterben: Diese in dem Augustin-Zitat zusammengefaßte Bedeutung hat für Picander die Geste Jesu am Kreuz. Die religiösen Begriffe "Erlösung" und "Erbarmen", die in dogmatisch präziser Bestimmung vom priesterlichen Amt Jesu nicht zu trennen sind, werden in der das ganze libretto bestimmenden geftihlsbetonten Religiosität aus diesem Zusammenhang gelöst. Den Verlust an theologischer Substanz kompensiert das sich verselbständigende Geftihl, indem es jene Begriffe mit affektivem Gehalt aufflillt. Ihr bleibender religiöser Stimmungsgehalt dient ihm dazu, sich selbst religiös zu artikulieren. "Erlösung" und "Erbarmen" sind hier der religiöse Ausdruck für das menschliche Geftihl der Geborgenheit. Am Abend! da der Tag kühle worden war! kam die Sünde der Menschen erstlich ans Licht! am Abend nimmt sie Christus wieder mit sich ins Grab! daß ihr nicht mehr gedacht werde. Um die Vesper-Zeit kam das Täublein Noah zum Kasten! und siehe! ein Oel-Blat hatte sie abgebrochen! und trugs in ihrem Munde! da vernahm Noah! daß das Gewässer gefallen wäre auff Erden. I. B. Mos. 8!11. Um dieselbe Zeit kehrt auch unser Jesus! das reine! fruchtbringende Täublein! das uns rein macht von allen Sünden! und erfüllet mit Früchten der Gerechtigkeit! in seinen Grab-Kasten zur Ruhe! trägt ein Oel-Blat in seinem Munde. Sein Begräbniß versichert uns der Barmhertzigkeit Gottes! des Friedens mit seinem Vater! und daß das Zorn-Gewässer nunmehr gefallen sey. Mein Hertz! der Abend ist da ..... Ach! so lasse Jesum nicht! bitte ihn! daß er bey dir einkehre! und seine Ruhe nehme in deinem Hertzen ... (S. 446 f.).29
(Nr. 64) Am Abend da es kühle war, Ward Adams Fallen offenbar, Am Abend drücket ihn der Heyland nieder. Am Abend kam die Taube wieder, Und trug ein Oel-Blatt in dem Munde. O! schöne Zeit! o! Abend-Stunde! Der Friedens-Schluß ist nun mit Gott gemacht, Denn Jesus hat sein Creutz vollbracht. Sein Leichnam kömmt zur Ruh, Ach liebe Seele bitte du, Geh, lasse dir den todten J esum schencken, O! heylsames, o! köstlichs Angedencken.
29 Die überraschendste Entdeckung bei diesem Quellenfund: Das Madrigal von S. Franck, "Auf Christi Begräbniß gegen Abend", das man bisher als Vorlage rur Picanders Arioso Nr. 64 ansehen mußte, geht seinerseits auf Müllers Predigtstelle zurück. (Um den Vergleich aller drei Texte zu ermöglichen, werden Francks Gedicht und der ganze Abschnitt über die Zeit des Begräbnisses Jesu aus Müllers Predigt im Anhang IV wiedergegeben.) Franck hält sich einerseits enger an den Wortlaut der Predigt, deutet ihn aber andererseits selbständiger aus. (Das konnte er, weil seine eigene Frömmigkeit derjenigen Müllers wesentlich näher stand, als es bei Picander der Fall war.) Daß Picander. auch wenn ihm Francks Gedicht vorgelegen hat, im wesentlichen auf Müller selbst
180
In Müllers Predigtstelle finden wir zwei Parallelen zwischen alt- und neutestamentlichem Abendgeschehen: 1. Am Abend kam die Sünde des Menschen ans licht - am Abend nimmt Christus sie mit sich ins Grab. 2. Am Abend kam Noahs Taube wieder mit dem Ölblatt als dem Zeichen für das Ende der Sintflut - am Abend kehrt Christus in den "Grab-Kasten" zur Ruhe; sein Ölblatt ist die Versicherung, daß Gottes "Zorn-Gewässer" gefallen sei. Diesen höchst eigenwilligen typologischen Deutungen liegt die Idee zugrunde, daß i~ Antithese (1) und Entsprechung (2) eine heilsgeschichtliche Ordnung zum Ausdruck kommt, die der Mensch zwar erkennen muß, in die er aber ohne sein Zutun hineingestellt ist. Die Deutung Jesu als des Täubleins, das mit einem Ölblatt als Zeichen der Versöhnung mit Gott ins Grab als seine Arche zurückkehrt, erscheint dem Denken des 17. Jahrhunderts nicht willkürlich, sondern ,richtig', insofern sie Jesu Begräbnis als in einer heilsgeschichtlichen Ordnung sinnvoll begründetes Geschehen ausweist. - Was Picander aus seiner Vorlage macht, läßt sich besonders deutlich am Vergleich mit Francks Madrigal ,,Auf Christi Begräbniß gegen Abend" erkennen, das dieselbe Predigtpassage H. Müllers nachdichtet (s. Anhang IV). Dieses vierstrophige Madrigal zeigt einen klaren Aufbau. Strophe 1 und 4 setzen die Abendzeit des Begräbnisses Jesu in Beziehung zum menschlichen Lebensabend und leiten daraus die Zuversicht ab, daß der Tod das wahre Zur-Ruhe-Kommen des Menschen ist. Der für die Madrigalstrophe kennzeichnende epigrammatisch zugespitzte Schluß evoziert in Strophe 1 das Bild eines "blutroten" Sonnenuntergangs: Jesu Tod ist der Untergang des "lebenslichts", der nötig ist, damit wir "schneeweiß vor Gottes Augen stehen". Diese fmale Gedankenstruktur finden wir bei Müller häufig im meritorischen Aspekt seiner Passionsdeutung. Die Schlußzeilen der 4. Strophe stellen die Beziehung zwischen Christus und dem Menschen mittels der exemplarischen Ausdeutung seines Begräbnisses (und seiner Auferstehung) her. Hier begründet die Verbindung mit Christus die eschatologische Auferstehungshoffnung, wie in Strophe 1 die Erlösungshoffnung. Dabei ist jene in dieser fundiert: nur durch das meritum des Begräbnisses Christi können wir mit Christus sterben und auferstehen. Die beiden Binnenstrophen des Madrigals nehmen je eine der Müllerschen Typologien auf, Strophe 2 die Adam-Christus-Typologie und Strophe 3 die Taube-Christus-Typologie, mit denen Franck ganz im Sinne Müllers die Heilsbedeutung des Begräbnisses interpretiert. Die Binnenstrophen sprechen also von der Versöhnung, sofern sie von Christus erbracht, die Rahmenstrophen von der Versöhnung bzw. Erlösung, sofern sie dem Menschen in der unio mit Christus gewährt wird. - Obwohl Picander die beiden Typologien von Müller aufnimmt, bewahrt er nur wenig von dem theologischen Gehalt der Müllerschen und der Franckschen Deutung des BegräbniSses Jesu. Das ,Thema' seines Rezitativs könnte man in der 6. Zeile zusammengefaßt zurückgreift, zeigen Zeile 1 "da es kühle war", Zeile 5 "trug ein Oel-Blatt in dem Munde" und Zeile 7 der Hinweis auf den Frieden mit Gott als Folge des Todes Jesu, Formulierungen, die sich nur bei Müller vorgeprägt finden. Aufgrund des vorliegenden Befundes kann man vermuten, daß Bach in Weimar durch Franck auf Müller aufmerksam geworden ist und so später überhaupt auf den Gedanken kam, Picander die Predigten für die Arbeit am Libretto der Matthäus-Passion zu empfehlen. - Franck muß Müller besonders geschätzt haben. Auch in seinen Kantatentexten greift er oft auf PredigtsteIlen aus dem "Hertzens-Spiegel zurück, z. B. in den Texten zu BWV 132, 31, 185, 168, 161, 162,163, 70a, 186a.
181
finden: "O! schöne Zeit! o! Abend-Stunde!" Diese und die parallele Schlußzeile "O! heylsames, o! köstlichs Angedencken" zeigen, daß es Picander vorwiegend auf den Stimmungsgehalt des Abendgeschehens ankommt. In ihn wird auch die einzige deutliche theologische Aussage hineingezogen: "Der Friedens-Schluß ist nun mit Gott gemacht, Denn Jesus hat sein Creutz vollbracht." Bei Müller bedeutet dieser Friede, .daß das Zorn-Gewässer nunmehr gefallen sey", bei Franck ganz ähnlich, daß "die Siindflut sei gefallen/ Gott läßt nicht mehr des Eifers Fluten wallen". Der Friede wird hier gewährt, weil Gott seinen Zorn aufgibt. Wie schon in Nr. 22 übergeht Picander aüch diesmal die harte Aussage von Gottes Zorn, und wie dort, so nennt er auch hier Jesus als den eigentlich Handelnden, der den Frieden begründet. Die AkzentverIagerung mag geringfügig er· ~cheinen, sie gewinnt jedoch Gewicht, wenn man aus den Vergleichen mit der Vorlage erkennt, mit welcher Konsequenz Picander bestimmte theologische Motive übergeht zugunsten solcher, die starke religiöse Affekte ausdrücken. - Die Zeilen 10 und 11 enthalten eine Anspielung auf die Bitte Josephs von Arimathia an Pilatus, ihm den leichnam Jesu zu überlassen. Dazu heißt es u. a. bei Müller: ';oseph wagts/ und bat Pilatus/ daß er möchte abnehmen den Leichnam Jesu. Mit bitte muß mans haben ... Liebste Seele/ Gott will gebeten seyn um sein Kind ... Ach! bitte ihn um seinen Sohn/ der erquickt deine Seele" (S. 471 f.). Und etwas später nimmt Müller Stellung zu der Meinung, Joseph habe Pilatus den Leichnam Jesu abgekauft: ,,Aber nein/ der Text saget: Pilatus schenckte Joseph· den Leichnam Jesu. theure Gabe! köstlich Geschenck!" (S. 474). Picander nimmt nicht den Gedanken auf, daß Jesus von Gott erbeten werden muß und daß der Mensch ihn nur als Geschenk empfangen kann, sondern er blickt auf den psychischen Akt, mit dem der Mensch dieses Geschenk ergreift. Das .Angedencken", die Erinnerung ist der psychologisch verdiinnte Ausdruck für die unio mystica in der letzten Strophe des Franckschen Madrigals.
°
Mein Hertz/ gib Jesu dein Hertz wieder/ schleuß dein Hertz der Welt zu/ und Jesu aufL Welt aus/ Jesus ein (S. 440). Dann solt du auch zusehen/ daß du Christum zu Grabe bringest . . . Der Glaube bringt ihn zu Grabe in unserm eignen Hertzen/ nirgends findet er Ruhe/ als da (S. 478). Du liebstes Hertz/ schaue woll wo/ und wie du Jesum zur Ruhe bringest. Nirgend wil er ruhen als in einem reinen Hertzen/ und da bewahrt seyn rur allem Unfall. Ach besihe dein Hertz wol/ ehe du Jesum hinein bringest. Ists nicht rein/ so mache es rein . . . Ists rein gemacht durch den Glauben in seinem Blut/ so leg ihn hinein und laß ihn nimmer wieder heraus kommen/ Er bleibt gern/ wo man ihn gern hat (S. 492).30
°
(Nr. 65) Mache dich, mein Hertze, rein, Ich will Jesum selbst begraben. Denn er soll nunmehr in mir Für und rur Seine süsse Ruhe haben: Welt, geh aus, laß Jesum ei!"!.
30 Die zitierten PredigtsteIlen können zwar als Vorlagen für die Arie Nr. 65 angesehen werden, jedoch ist hier die Festlegung auf bestimmte Stellen schwieriger, weil die letzte Predigt als ganze geprägt ist von dem Gedanken, den Picander zum Ausdruck bringt.
182
Der Gedanke, daß das von allem Welthaften gereinigte Herz des Menschen lesu Grab werden müsse, zieht sich, wie die weit verstreuten Zitate zeigen, durch die ganze neunte Passionspredigt Müllers. Jede einzelne der Picandersehen Formulierungen läßt sich bei Müller nachweisen. Aber so eng sich Picander auch an seine Vorlage hält, selbst in dieser kurzen Arie macht sich noch seine Tendenz zur Eliminierung theologischer Aussagen bemerkbar. Wenn Müller auch stark auf die Reinheit des Herzens, auf die Einwohnung lesu im Herzen ·und auf Weltabkehr drängt, so bleibt er doch mit dem Gedanken, daß das Herz "durch den Glauben in seinem (seil. lesu) Blut" rein wird, völlig im Rahmen lutherisch-orthodoxer Theologie. Aus diesem Zusammenhang ist die Herzensreinheit bei Picander gelöst, und das theologische Defizit wird kompensiert durch das religiöse Gefühl, in dem, wie zuvor das Leiden zum "süssen Creutz" (Nr. 51), hier nun die Ruhe zur ",üssen Ruhe" gesteigert erscheint. Kennzeichnend ist hier wie andernorts die Um· wandlung Müllerseher Ermahnungen in Bekenntnisse. Nun/ lesus ruhet/ laß ihn ruhen. Er hat sich in unserm Dienst müde gearbeitet/ und die Ruhe wol verdienet. (S. 494)
(Nr.67) Nun ist der Herr zur Ruh gebracht, Mein Jesu, gute Nacht! Die Müh ist aus, Die unsre Sünden ihm gemacht, Mein lesu, gute Nacht!31
Nur für den ersten Teil des Schlußrezitativs läßt sich noch veIDluten, aber schon nicht mehr sicher nachweisen, daß die zitierte PredigtsteIle Picander als Vorlage gedient hat. Er brauchte an dieser Stelle eine zusammenfassende, auf das ganze Leiden lesu zurückschauende Betrachtung, die zur gratiarum actio als dem von der Gattung geforderten Schluß überleitete. Dazu konnte ihm Müller lediglich das Motiv der verdienten Ruhe lesu liefern, das er in seiner Weise zu einem gefühlsstarken Abschiedsgesang an lesus ausgestal tete. Die einzelnen Vergleiche haben gezeigt, wie konsequent sich Picander bei der Bearbeitung seiner Vorlage an bestimmte Prinzipien hält. Daß diese ihm selbst wahrscheinlich nicht so deutlich bewußt waren, wie sie hier zur Sprache gebracht wurden, ist dabei nicht von Bedeutung. Die Beobachtungen können in fünf Punkten zusammengefaßt werden: 1. Picander übergeht in seiner Dichtung fast alle theologischen Betrachtungen und Reflexionen seiner Vorlage. Insbesondere vermeidet er Aussagen über Gottes Zorn, den lesus in seiner Passion zu tragen habe, d. h. alle Aussagen, in denen Gott als der "Urheber" des Leidens lesu erscheint. Damit nimmt er (im Sinne kirchlich-orthodoxer Lehre) der Passionsbetrachtung ihre wichtigste Grundlage: Wenn lesus nicht Gottes Gericht über die Sünde bis zum Tode wirklich erlitten hat, gibt es für den Menschen keine Befreiung vom Gericht. - 2. Picander eliminiert nicht nur den zornigen Gott aus
31 Von einer Übernahme dieser Zeilen des Schlußrezitativs von Müller wäre bei isolierter Betrachtung nicht wohl zu sprechen. Aber bei Berucksichtigung des übrigen hier zusammengestellten Materials liegt die Annahme nahe, daß Müllers Formulierung Picander auch hier angeregt hat.
183
seiner Passionsdichtung, sondern weitgehend den handelnden Gott überhaupt. Gott hat bei ihm nur noch die Funktion eines Zuschauers, allenfalls die eines Adressaten von Jesu Tun. Damit löst er die altkirchliche Lehre von der Wesenseinheit von Vater und Sohn auf. - 3. Diesem Sachverhalt entspricht die betont menschliche Darstellung Jesu in seinen seelischen Qualen, seiner inneren Größe, seiner sittlichen Vorbildlichkeit (Demut, Geduld, liebe). Die übersteigerte Menschlichkeit Jesu rückt an die Stelle seiner Göttlichkeit. Diese wesentliche Verschiebung, die zur Auflösung der Christologie in einen "Jesuanismus" führt, ist Picander wohl am wenigsten bewußt. Er identifiziert vielmehr jenen übermenschlichen mit dem göttlichen Jesus, wie es später die gesamte Aufklärungstheologie und -frömmigkeit getan hat. - 4. Der theologische Substanzverlust der Picanderschen Dichtung gegenüber ihrer Vorlage ist evident. Ohne diesen Vergleich freilich ist er nicht so leicht zu erkennen, weil er überdeckt wird von einer intensiv sich aussprechenden, individualistischen Frömmigkeit. Die Mahnung zur Buße, zum Glauben und ·zur Nachfolge erscheint gesteigert (in Wahrheit jedoch ersetzt) durch die Ich-Aussage des hingebungsvollliebenden Herzens, in dem sich Jesu Leiden widerspiegelt. Die Beziehung des frommen Ich zu "seinem" Jesus ist das eigentliche Thema dieser Texte. - S. Diese Sprechhaltung erfordert eine Begrifflichkeit, deren religiöser Gehalt sich einer langen theologischen Tradition verdankt, die aber von dogmatischen Fesseln befreit sein muß, um dem religiösen Gefühl zur Selbstaussprache dienen zu können. Zum Verhältnis zwischen Picander und Müller, wie es sich in den Textvergleichen darstellt, ist zweierlei zu sagen: 1. Müllers Predigten ermöglichen die flir das libretto typische Haltung gefühlvoller Jesusliebe. Die Zentralstellung Jesu in Müllers Passionsbetrachtung, die verhältnismäßig geringe Bedeutung des Dogmatisch-Lehrhaften, die Betonung herzlicher, tiefer Frömmigkeit, die Hervorhebung des Leidens in der Nachfolge: das alles konnte Picander in seiner Vorlage finden, das hat er aufgenommen und verstärkt. - 2. Müller verhindert die völlige theologische Entleerung des librettos. Restbestände dogmatischer Aussagen gehen meistens auf ihn zurück. Die übernahme solcher Theologumena bleibt jedoch eklektisch. Vom Zentrum Müllerscher Passionsauffassung, der bildhaften Darstellung der Versöhnungslehre, wird lediglich das ethische Gedankengut bewußt aufgenommen, satisfactio und meritum werden zwar bisweilen erwähnt, aber offenbar vorwiegend um ihrer dichterisch wirkungsvollen Gedankenstruktur und um ihres Bildgehalts willen. Unter theologiegeschichtlichem Aspekt enthüllt die Art, wie Picander seine Vorlage behandelt, einen höchst interessanten Vorgang: den übergang von einer pietistisch aufgelockerten Orthodoxie zu einer pietistisch erscheinenden, undogmatischen Religiosität, wie sie flir die Aufklärung im kirchlichen Bereich kennzeichnend ist. 32 Die
32 S. dazu unten S. 210 ce.
184
Textuntersuchungen mögen gezeigt haben, wie wenig spektakulär, ja fast unmerklich sich dieser Prozeß vollzog, einer Akzentverlagerung oder einem religiösen Stimmungswandel eher vergleichbar als einer theologischen Revolution, die er doch in Wahrheit bedeutet. 33 3. Beziehungen zwischen Picander-Texten und Predigten V. Herbergers und J. Arndts Drei nicht von Müller beeinflußte Texte Picanders weisen auffallende Beziehungen zu Predigtstellen aus V. Herbergers "Horoscopia passionis Domini" auf. Die Dokumentation dieser Parallelen ist deshalb angebracht, weil es sich in zwei Fällen um Arien handelt, die erst von ihnen her voll verständlich werden. - In der Arie Nr. 8 ("als Judas die 30. Silberlinge genommen") herrscht nach Spitta34 "nun wirklich eine arge Verworrenheit": "Bluthe nur, du liebes Hertz! Ach ein Kind, das du erzogen, Das aus deiner Brust gesogen, Droht den Pfleger zu ermorden, Denn es ist zur Schlange worden. Bluthe nur, du liebes Hertz" (S. 321). Wer ist hier angesprochen? Woher stammen die Bilder und Vorstellungen? Spitta vermutet im Hintergrund eine Marienklage. 35 Nun lesen wir aber bei Herberger: "Das ist die stunde/ da dich/ Herr Jesu/ du trewer Heyland/ der untrewe Judas hat verrathen/ ach wie wehe und schmirtz muß diß deinem trewen allerheiligsten Hertzen gethan haben/ daß du eine solche gifftige Schlange hast im bosem gewärmet." (Horoscopia, S. 126 f.) "Ach welche gallbittere Freundschafft hastu/ Herr Jesu Christe/ verschmirtzet/ wie muß diß dein allerheiligstes hertz gekrencket haben/ daß du eine Schlange im bosem gewärmet ... " (Horoscopia, S. 256) Dies schreibt Herberger anläßlich des Verrats Jesu durch den Kuß des Judas. Dieser Kuß ist der Stich der Schlange, die Jesus "im bosem gewärrnet" hat. Ja, erst durch den Kuß ist Judas, das "Kind", "zur Schlange worden" - zu der Schlange nämlich, die nach altkirchlicher Auslegung von Genesis 3,15 (Protevangelium) den kommenden Erlöser "in die Ferse stechen" wird. Auf diesen heilsgeschichtlichen Zusammenhang verweist deutlich J. Arndt, wenn er zum Judaskuß schreibt: 33 Diese Überlegung könnte auch helfen, eine Antwort auf die Frage zu finden, die sich nun von neuem stellt: Wie mag Bach zu diesem Libretto gestanden haben? Hat er gemerkt, was Picander aus seiner Vorlage· gemacht hatte? Oder hat er das, was er an Müller schätzte, gerade in Picanders Texten wiedergefunden? Wichtiger aber - und unter theologischem Aspekt nun vielleicht von der Musikwissenschaft erneut aufzugreifen - ist die Frage: Wie hat Bach diese Texte durch seine Vertonung gedeutet?
34 Bach II, S. 396. 35 Bach II, S. 395 f.
185
"Solchen Kuß gab die alte Schlange unsern ersten Eltern im Paradiß auch, und machte den verbotenen Baum so gut und lieblich, als meynete ers so gut mit den Menschen, und unter dem Schein betreuget er sie. Wie nun der Teuffel unsere erste Eltern, durch einen solchen Heuchel-Kuß und Liebkosen betrogen: Also hat sich der ander Adam, Christus unser Herr, von dem teuflischen Juda, in welchen der Satan gefahren war, küssen lassen, auf daß er uns von dem Betrug des Teuffels erIösete." (Postilla, S. 568) Und in einer anderen Predigt heißt es: "Der Herr wuste wol, daß ihn die Schlange würde in die Ferschen stechen, und daß es also seyn muste, unter diesem Kuß sticht ihn die Schlange." (S. 619) Mit dem Judaskuß beginnt also die Erfüllung jener Verheißung vom endgültigen Sieg über den Satan. Ennöglicht wird diese Deutung wiederum durch die Adam-Christus-Typologie und durch das Äquivalenzdenken: die Wiedergutmachung des Bösen durch seine Wiederholung an Christus. Der anfängliche Fluch, an Christus vollzogen, wird den Verfluchten zum Segen. In Picanders Bild von Judas als der Schlange fmdet sich nur noch eine dunkle Spur, die auf diesen heilsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Judaskuß und Schlangenstich verweist. Indem Picander das Bild an einer, traditionsgeschichtlich gesehen, ,falschen' Stelle einsetzt ("als Judas die 30. Silberlinge genommen"), löst er es aus seinem typologischen und Äquivalenzbezug und verwendet es völlig frei als allgemeine Metapher für Falschheit und Verrat. Deren affektiven Gehalt, der auch bei Herberger zum Ausdruck kommt, macht er sich dabei zunutze und verstärkt ihn erheblich, indem er ein weiteres traditionelles, wenn auch nicht sehr verbreitetes Motiv einfUhrt: das des treuen Mutterherzens Jesu. Von dem "trewen Mutter Hertzen Christi" ist bei J. Heennann einmal ausdrücklich die Rede. 36 J. Arndt stellt zwischen der Mutter und Jesus eine allegorische Beziehung her, deren biblisches Fundament der Wiedergeburtsgedanke und Jesaja 66,13 sind: "Gleich wie eine fromme Mutter, die ihr Kindlein säuget, wann das Kindlein kranck wird, selbst einen bittern Trunck einnimmt, auff daß sich die Artzney mit der Muttermilch vereinigt, und dem Kindlein also geholffen werde, weil es für sich selbst den bittern Tranck nicht kan einnehmen. Also unser Herr Jesus Christus, der uns mit grossen Schmertzen neu geboren hat, und uns tröstet, wie eine Mutter ihr Kindlein tröstet, da wir kranck waren, und den bittern Kelch des Zorns Gottes und Bezahlung unserer Sünde nicht trincken konten, hat er denselben an unserer statt getruncken, auf daß uns sein bitterer Trunck durch die Milch des EvangeIii eine kräfftige Artzney würde." (Postilla, S. 461) Im Zusammenhang mit dem Judasverrat kommt des öfteren der Gedanke vor, daß Jesus die Jünger wie seine Kinder aufgezogen hat. So richtet Jesus in J. Jacobis Trauerspiel "Der um unsere Missethat willen verwundete und um unsere Sünde willen zerschlagene und gecreutzigte Jesus" (1680) an Judas die Frage: "Ist das der Liebes-Lohn/ Warum ich dich so .treulich aufferzogenl Daß du mich nun mit einem Kuß betrogen?" 36 Crux Christi, S. 81.
186
Näher bei der befremdlichen 3. Zeile von Picanders Arie liegen einige Verse aus J. Klajs "Trauerrede über das Leiden seines Erlösers" (l650): "Mein Bräutigam erhöret diß! erkennet meine Lüste! er spricht: komm her! komm trinck! komm ißt und gibt mir beide Brüste." Inhaltlich derri Picanderschen Vers entgegengesetzt, aber wegen der verwandten Vorstellung und derselben Reime hochinteressant sind einIge Zeilen aus P. Flemings "Klagegedichte(n) über das unschuldigste Leiden und den Tod unsers Erlösers Jesu Christi .. (1632), in denen Judas so angesprochen wird: "Du mörderischer Schelm, in Plutos Gruft erzogen, du hast beim Phlegeton Erynnis Brust gesogen, die blaue Neidesmilch ..... 37 Jesus als treue Mutter, Judas als Schlange: Von Herbergers PredigtsteIlen aus führte die Spur auf altes passionsgeschichtliches Material, das Picander auf seine Weise benutzt. Sein Verfahren ist hier ähnlich wie in "Am Abend da es kühle war" und in manchen anderen Stücken der Matthäus-Passion: Die traditionellen Vorstellungen und Bilder werden ihrer präzisen theologischen Bedeutu~ entkleidet, ihr religiöser Gehalt in den Dienst einer emotionalen Wirkabsicht gestellt. 3 Auch das Rezitativ (Nr. SI) und die Arie (Nr. 52) über die Geißelung Jesu haben eine deutliche Parallele in Herbergers Predigten: "Recit. Erbarm es Gott! Hier steht der Heyland angebunden, O! Geisselung, o! Schläg, o! Wunden! Ihr Hencker haltet ein! Erweichet euch Der Seelen Schmertz, Der Anblick solches Jammers nicht? Ach ja! ihr habt ein Hertz, Das muß der Marter-Säule gleich, Und noch viel härter seyn. Erbarmt euch, haltet ein!
.Also wirstu . . . jämmerlich an die Seule gebunden ... ! ... allhier ist aller barmhertzigkeit vergessen! also wirstu unschuldiges Lämblein Gottes! voll striemen und blutiger wunden! es möchte ein steinernes hertz erbarmen! ein frommes hertz möchte sich zu tode weinen .. ./ ... wem diß jemmerliche schawspiel nicht durchs hertze gehet! der muß ein eisern oder steinern gemüt haben.
37 In: P. Fleming, Deutsche Gedichte, Bd.l, S. 20. 38 Nach dem Bild von der Mutter in Z. 2!3 ist die Rede von dem "Pfleger" in Z. 4 der Arie verwirrend. Möglicherweise hat Picander dabei an eine Psalrnstelle gedacht, die als Prophezeiung des Judasverrats verstanden und in den Predigten oft zitiert wurde: • Wenn mich doch mein feind schändete! wolt ichs leyden! und wenn mich mein hasser pochete! woIt ich mich vor ihm verbergen. Du aber bist mein geselle! mein pfleger! und mein verwandter." (Ps 55,13 f.) Luther erläutert dazu: •... das gehet Judam an das ist certurn, war der schaffner [.pfleger" procurator] docebat eum in temporalibus." (WADB 3,57) Wenn Picander diese Stelle vorgeschwebt hat, so hat er sie falsch verstanden, indem er Jesus als den Pfleger deutete.
187
Aria Können Thränen meiner Wangen Nichts erlangen, O! so nehmt mein Hertz hinein. Aber laßt es bey den Fluthen, Wenn die Wunden milde bluten, Auch die Opffer-Schaale seyn." (S. 323)
Herr Jesu/ ich bringe mein Hertzkrüglein zu deiner blu tigen geisselung/ ach las deine allerheiligste Blutströpflein hinein fallen/ das ich von sünden werde gereiniget/ ach besprütze meine seel mit den edlen blutströpflin/ die aus deinem zarten leibe rinnen/ zur vergebung meiner sünd . . ." (Horoscopia, S. 283 ff.).
Auf den Unterschied zwischen der dramatischen Sprechhaltung bei Picander und der betrachtenden bei Herberger soll hier nur hingewiesen werden. 39 Auch sei nur kurz v.:rmerkt, daß Herberger nicht beim Mitleid mit dem Gegeißelten stehenbleibt, sondern sofort hindurchdringt zu den beiden "Ursachen" der Geißelung: "Ja er (scil. Gott) selbst schleget auff dich zu! und geisselt dein allerheiligstes hertz! mit den Blutpeitschen seines gerechten zorns" und: "Ach Herr Jesu verzeihe mir meine sünde! die dir diese geisseIn und peitschen geflochten und zugerichtet haben" (S. 284). Die Beobachtung, daß Picander derartige Deutungen möglichst mit Stillschweigen übergeht, haben wir beim Vergleich mit Müllers Predigten zu oft gemacht, als daß sie an dieser Stelle überraschen könnte. Wichtiger ist hier, daß die Arie, insbesondere ihr zweiter Teil mit dem nicht ganz einfachen Bild vom Herzen als Opferschale, von Herbergers Worten aus klarer wird. "OpfferSchaale" und "Hertzkrüglein" entsprechen einander. Das "Aber" in Zeile 4 markiert demnach den Wechsel der inneren Einstellung zu diesem Leiden Jesu: vom Wunsch, mit Jesus gegeißelt zu werden ("O! so nehmt mein Hertz hinein!"), zur Bitte, des Verdienstes teilhaftig zu werden, das er mit seinem Blutopfer erworben hat. Das "Aber" zeigt deutlich, welche Distanz das Picandersche fromme Ich zu überwinden hat, um von der menschlich·mitleidigen Betrachtung zur theologischen Deutung und Aneignung zu gelangen, während bei Herberger beide Betrachtungsweisen ohne jede Anstrengung ineinander übergehen. 4. Die übrigen madrigalischen Texte Die übrigen madrigalischen Stücke der Matthäus·Passion lassen sich in drei Gruppen einteilen: 1. Texte, die auf ähnliche Weise wie die bisher besprochenen nach anderen Vorlagen oder aufgrund der mündlichen Predigttradition entstanden sein mögen, mit denen sie nach Gehalt und Sprache Ähnlichkeiten aufweisen (z. B. Nr. 6, 20). Sie werden im folgenden nicht behandelt, weil sich dabei keine neuen Gesichtspunkte über die bisher gewonnenen hinaus ergeben würden.
39 Zu Picander Nr. 51 s. u. S. 195 f.
188
2. Die Einleitungstexte beider Teile der Matthäus-Passion (Nr. 1 und 30), die dichterisch und theologisch besonderes Interesse verdienen. 3. Texte, die nicht von dieser Tradition herkommen, sondern eindeutig andere Einflüsse verraten (Nr. 27 a, 27 b, 51).
a) Die Einleitüngslexle der heiden Teile der Matthäus-Passion Picander Nr. 1
Zwischen dem Einleitungschor der Matthäus-Passion, der deutlich auf die Kreuztragung Bezug nimmt (vor allem mit den beiden letzten frei gedichteten Versen), und einigen Passagen aus der 8. Predigt Müllers ("Vom Tode Christi"), die nach dem Exordium ebenfalls mit der Ausflihrung zur Kreuzigung beginnt, bestehen auffällige Ähnlichkeiten. Wenn man hier auch nicht wie bei den bisher verglichenen Texten von einer Nachdichtung sprechen kann, so hat doch Picander alle im Eingangschor verwendeten Motive, sogar die des Chorals, offenbar bei Müller gefunden. Müller "Wann denn! liebste Hertzen! ich am heutigen Tage der Braut Christi den Tod ihres allerliebsten Freundes ankündigen soll! möchte ich wol sagen: Ach! wie gern wolt ich! daß ich nicht predigen könte. Eine traurige Botschafft! der Bräutigam ist todt . . . Was wird die Braut Christi am heutigen Tage anders sagen! wann ihr geprediget wird von dem Tode ihres Bräutigams Christi! als diß: Ach! meine Sünden haben ihn zerrissen!" (S. 395) "Im Alten Testament hatte Gott verordnet! daß die Sünd-Opffer ausser dem Lager solten geschlachtet werden. Hier ist auch das Sünd-Opffer! Jesus! der sich selbst hat auffgeopffert Gott zu einem süssen Geruch ... " (S. 397). "Hie muß Christus erfüllen das Vorbild Isaacs! der das Holtz! darauff er solte geschlachtet werden! selbst tragen muste! nach dem Berg Moria. Mein Hertz! so gehet das Lamm Gottes! und träget der gantzen Welt Sünde! kanst leicht gedencken! mit was für Schmertzen." (S. 398)
Picander Nr. I "Kommt, ihr Töchter, helfft mir klagen, Sehet! - Wen? - deI). Bräutigam. Seht ihn; - Wie? - als wie ein Lamm. O! Lamm Gottes, unschuldig Am Stamm des Creutzes geschlachtet, Sehet; - Was? - Seht die Gedult. Allzeit erfunden geduldig, Wiewohl du warest verachtet, Seht; - Wohin? - auf unsre Schuld; All Sünd hast du getragen, Sonst müsten wir verzagen, Sehet ihn aus Lieb und Huld Holtz zum Creutze tragen. Erbarm dich unser 0 Jesu!" (S. 321)
Der Einleitungschor ist reich an traditionsgeschichtlich sehr alten Motiven, deren Aufnahme durch Müllers Predigtpassagen angeregt wurde. Es handelt sich vor allem um typologische Motive, deren Verständnis zur Würdigung dieses Textes unerläßlich ist.
189
Picander hat den Eingangschor als einen Klagegesang verstanden, mit dem .die Tochter Zion und die Gläubigen" Jesus auf seinem Kreuzweg begleiten. 40 Mit dieser Bezeichnung sind zunächst natürlich die in Lukas 23,27 erwähnten Frauen gemeint, die Jesus in Vers 28 als "Töchter von Jerusalern" anspricht. Hinter ihnen tauchen jedoch andere "Töchter Jerusalems" auf, gewissermaßen traditionsgeschichtliche Vorfahren dieser klagenden Frauen: die .Töchter Zions" aus dem Hohenlied, an die sich die .Braut" mehrfach um Hilfe wendet. Ein Blick auf die ersten Sätze bei Müller erinnert daran, daß das Hohelied insbesondere seit Bemhards berühmten 86 Sermones auch als allegorische Darstellung der Passion gelesen wurde. Die nachreformatorische Predigt hat auch in der Aufnahme dieser Deutung wieder auf die mittelalterliche Passionsauslegung zurückgegriffen. Als besonders klare prophetische Schau des Domgekrönten wurde Hoheslied 3,11 verstanden: "Gehet herauß/ und schauet an/ ihr töchter Zion/ den könig Salomo/ in der krone/ damit ihn seine Mutter gekrönet hat/ am tage seiner hochzeit." Müller zitiert diesen Vers bei der Auslegung der Dornenkrönung und übernimmt die übliche allegorische Deutung: "Der König Salomo ist Jesus Christus/ der rechte Friedens-König. Seine Mutter ist die Jüdische Synagog ... Der Tag seiner Hochzeit ist der Tag seines Leydens/ denn an dem Tage hat er seine Braut erkaufft mit seinem Blute. Die ClOne aber sind die Domen/ die ihm von den Kriegs-Knechten auff sein Haupt gesetzt worden" (S. 371). Bereits in Picanders .Erbaulichen Gedancken" von 1725 findet sich ein deutlicher Anklang an Hoheslied 3,11. Hier erwähnt er im Evangelistenbericht von der Geißelung Jesu neben den .tausend Wunden" nur die Domenkrönung ausdrücklich und fügt eine Arie der .Zion" an, deren Anfangszeilen verändert in denen der Matthäus-Passion wiederkehren: "Kommt heraus, und geht vorüber, Seht, ihr Töchter, wie mein Lieber So erbärmlich zugericht!" (S. 877) Sollten nicht beide Änderungen am Anfang der Matthäus-Passion, die Aufforderung zu klagen und die Bezeichnung .Bräutigam", auf das Exordium von Müllers Predigt zurückgehen? Deutlich ist aber auf jeden Fall, daß Hoheslied 3,11 und seine allegorische Deutung hinter den ersten Zeilen von Picanders Libretto steht.41 In der dritten Zeile nennt Picander den zweiten und wohl bekanntesten Typos, der nach alter Passionstradition den zur Hinrichtung geführten Christus präfiguriert: das Lamm. Den Grundtext für diese TYpologie bildet Jesaja 53,7: "Da er gestrafft und gemartert ward, that er seinen mund nicht auf/ wie ein Lamm/ das zur schlacht-banck geführet 40 Es wird also der Moment aus der Passion durch die Anfangsstellung hervorgehoben, der in Picanders .Erbaulichen Gedancken" durch die Ausgestaltung zu einer großen Szene als Zentrum des Librettos erkennbar war (s. o. S. 168). Man braucht nur diese beiden Stellen miteinander zu vergleichen, um zu sehen, welchen Gewinn - theologisch wie dichterisch - die Einbeziehung alter exegetischer Motive für die Matthäus-Passion bedeutet. 41 Spitta, der diese Auslegungstradition nicht kennt, hält es auch hier .für sicher", daß Picander inhaltlich .irgendeine Marienklage vorschwebte"; formal möchte er den Text auf .den alten Brauch der Charfreytags-Procession" zurückführen (Bach 11, S. 394 f.).
190
wird." Schon neutestamentlich wird das Lamm zum Typos Christi im Täuferzeugnis: "Sihe/ das ist Gottes lammt welches der welt sünde trägt." (Johannes 1,29)42 Daß beide Stellen und damit die Christus-lamm-Typologie überhaupt auf die Kreuztragung bezogen wurden, ist verständlich. Hier wurde Christus "zur Schlachtbank geführt" und trug mit dem Kreuz "der gantzen Welt Sünde.,,43 Der dritte Typos, den Picander ebenfalls bei Müller fand, ist "das Vorbild Isaacs/ der das Holtz/ darauff er solte geschlachtet werden/ selbst tragen muste/ nach dem Berg Moria" (S. 398). Nur wenn man aus der Auslegungstradition weiß, daß der Ausdruck "das Holz zum Kreuz (selber) tragen" an dieser Stelle der Passion unbedingt Christus als Antitypos lsaaks bezeichnet, erkennt man die beiden letzten Zeilen des madrigalischen Textes als Hinweis auf diesen. 44 Es zeigt sich also: Das Material, aus dem Picander den Eingangschor bildet, ist gewissermaßen passionstheologisches Urgestein. Zumindest das Lamm und lsaak sind feststehende Typen des kreuz tragen den Christus, und mit dem Typos des Lammes steht (möglicherweise vermittelt durch die "Hochzeit des Lammes" aus Offenbarung 19,7) der des Bräutigams in einer engen gedanklich,en Beziehung, wie auch alte Passionslieder bezeugen. 45 42 In der protestantischen Passionspredigt wurden im Anschluß an diese Stellen oft noch die Tieropfer von Leviticus 16, 27 als Präfiguration des nach Golgatha geführten Christus erwähnt, eine Deutung, die bereits in Hebräer 13,11 f. vollzogen wird. Auch Müller bezieht das Vorbild der alttestamentlichen .Sünd-Opfer" in seine Predigt ein.
43 In der protestantischen Passionsauslegung ist das Lamm außerdem der Typos des vor seinen Richtern schweigenden Christus: das Lamm, das .seinen Mund nicht auftat".
44 Bei Picander fehlt das kennzeichnende Wort .selbst" (tragen), das die Passionspredigten hier sinnvollerweise gerade betonen. Wegen der rhythmischen Unbeholfenheit der Zeile kann man freilich auch an einen Druckfehler denken und darf keine zu weitreichenden Schlüsse aus Bachs Hinzufügung des traditionellen "selber" (.Holz zum Kreuze selber tragen') ziehen.
45 So lautet etwa die 2. (in EKG 68 ausgelassene) Strophe des Liedes "Seele, mach dich heilig auf" von A. Kiesel (1675): "Seele! Sihe, Gottes Lamb Gehet zu dem Leiden, Deiner Seelen Bräutigamb Als zu Hochzeits-Freuden. Geht, ihr Töchter von Zion, ]esum zu empfangen, Sehet Ihn in seiner Cron Unter Dornen prangen.' (Fischer - Tümpel V, S. 450) Vgl. auch J. Rist, .0 Traurigkeit', Str. 4: .Dein Bräutigam, Das Gottes Lamm, Ligt hie mit Blu t beflossen ... " (Fischer - Tümpel n, S. 172) Ferner in dem Lied .]esu, meine Freude' von ]. Franck, Str. 1: .Gottes Lamm, mein Bräutigam ... "; das Lied .•Seelenbräutigam, ]esu, Gottes Lamm' von A. Drese. .
191
Wie verwendet nun Picander diese überlieferten Deutungen im Eingangschor der Matthäus-Passion? Konstitutiv für Form und Inhalt des Textes sind der Unterschied und das Zusammenwirken von freier Dichtung und Choral. In jener wird die Kreuztragung aus der Perspektive der Miterlebenden dargestellt, in diesem der Vorgang nach Jesaja 53 im kirchlichen Sinn gedeutet. Die Darstellung mit den Aufforderungen "kommt!" und "sehet!" und den Fragen der Angesprochenen ist allerdings nicht rein historlsch-dramatisch, sondern sie schillert zwischen historischer und allegorisch-deutender Vergegenwärtigung, so wie die "Töchter" sowohl historisch (als die Frauen von Lukas 23,27) als auch allegorisch (nach Hohemlied 3,11) verstanden werden können. Mit der Bezeichnung "Bräutigam" gewinnt jedoch der allegorische Charakter des Textes eindeutig das Obergewicht. Er enthält eine Aufforderung ähnlich der, die J. Gerhard dem "geistlich" verstandenen Hohenlied 3,11 entnimmt: "Jhr Töchter lion/ jhr gläubigen Seelen/ jhr wahren Glieder der christlichen Kirchen/ jhr Bürger des geistlichen Jerusalems/ gehet herauß non pedibus corporeis, sed affectu devotae mentis, nicht leiblicher/ sondern geistlicher weisel durch jnnigliche Andacht/ schawet an den König Salomon/ ewren Herrn und Heyland Christum/ den himlischen Salomon/ schawet jhn an in seiner Krone ... ,,46 Im folgenden bleibt die allegorische Deutung vorherrschend insbesondere durch die Rückwirkung des Chorals auf die freie Dichtung. Erscheint das Verhältnis zwischen den beiden Textelementen der äußeren Form nach auch als Abhängigkeit des Chorals von der madrigalischen Dichtung, deren Stichworte er aufnimmt und auf seine Weise ausführt, so hat nach dem Gehalt doch das fest geprägte, seit alters bekannte "Agnus dei" in der deutschen Fassung von N. Decius (1529) eindeutig die Priorität. Der Choral hat dem Dichter vorgeschrieben, "wie", .was" und "wohin" .die Gläubigen zu sehen haben. Und das, was unter seinem Einfluß gesehen werden soll. - Christus als Lamm, seine Geduld, unsere Schuld -, ist gar nicht die sichtbare Wirklichkeit, sondern die vom Glauben gedeutete, "nicht leiblicher/ sondern geistlicher weisel durch jnnigllche Andacht" geschaute Wirklichkeit. Das aber bedeutet: Der Vorgang wird aus der historischdarstellenden Vergegenwärtigung in die Gegenwärtigkeit des Bedenkens gerückt. Dieses Bedenken vollzieht sich als Wechsel von Benennen in den Madrigalzeilen ("wie ein Lamm") und Gebet in den Choralversen (,,0 Lamm Gottesj. Die Schwierigkeiten, die sich beim Übergang von der historisierenden Vorstellung zum Gebet einstellen würden,.gibt es nicht, wenn sich die betrachtende Haltung - "Seht - auf unsre Schuld" - zum anbetenden "All Sünd hast du getragen" vertieft und im "Christe eleison" zum Ziel kommt: ·"Erbarm dich unser, 0 Jesu!" Ist also die historisierende Vergegenwärtigung in den ersten Zeilen des Eingangschors durch die allegorische Deutung von Hohemlied 3,11 im Mittelteil durch die Einwirkung des Chorals ausgeschlossen, so gilt dies nicht in gleicher Weise von den Schlußzeilen 46 Postilla Salomonaea, S. 447.
192
der madrigalischen Dichtung. Die hinter ihnen stehende T~"ologie, das "Vorbild Isaacs", ist durch den Zusatz "aus Ueb und Huld" verdeckt. Wird Christus als Antitypos Isaaks dargestellt, so bedeutet das nur: Er ist der wahre zur Opferung geführte Sohn, die Erftillung des in Isaak schattenhaft vorgebildeten Opfers, das sein Holz selbst auf den Opferberg trägt. Seine innere Haltung, sein Motiv bleibt für die typologische Deutung völlig außer Betracht. Eine solche rein ,objektive' Betrachtungsweise ist Picander nicht mehr möglich. Die persönliche Beziehung zwischen Jesus und den Gläubigen, die er darzustellen und zu vermitteln sucht, bedarf eines Anhaltspunktes an Jesu Innerlichkeit, an seinen Gefühlen für die Menschen. Wir sehen also, wie auch hier der für Picander zentrale Begriff der Uebe zur Umbildung des traditionellen Materials dient und seine Einfügung in Picanders eigene Passionsdeutung ermöglicht. Picander Nr. 30 "Die Gläubigen, und Zion Z. Ach nun ist mein Jesus hin! GI. Wo ist denn dein Freund hingegangen, o du schönste unter den Weibern? Z. Ist es möglich, kan ich schauen? GI. Wo hat sich dein Freund hingewandt? Z. Ach! mein Lamm in Tyger-Klauen, Ach! wo ist mein Jesus hin? GI. So wollen wir mit dir ihn suchen. Z. Was soll ich der Seele sagen? Wenn sie mich wird ängstlich fragen: Ach! wo ist mein Jesus hin?" (S. 322) Zwischen den Texten der "Tochter Zion" und der "Gläubigen" am Anfang des ersten und des zweiten Teils der Matthäus-Passion besteht ein innerer Zusammenhang, den man allerdings erst erkennt, wenn man sich die Beziehungen bei der Texte zum Hohenlied und seiner allegorischen Auslegung klar macht. Ähnlich wie der Eingangschor hat auch die Arie mit Chor Nr. 30 zwei verschiedene Textelemente. Hier sind es madrigalische Dichtung und Bibelwort (Hoheslied 6,1), die zeilenweise wie ein Wechselgespräch ineinandergefügt sind. Die Worte der Sochter Zion" scheinen dabei lediglich auf die konkrete Situation bezogen: Jesus ist fort, er ist gefangen. Jedoch überschreitet der Text in zweifacher Hinsicht den reinen Situationsbezug - und darin vor allem liegt die Gemeinsamkeit mit dem Einleitungschor -: durch metaphorische Deutung der Situation in der Zeile ,;Ach! mein Lamm in Tyger-Klauen"; durch biblische Vertiefung der scheinbar nur vordergründigen Klage um Jesus, so daß hinter dieser eine andere, alttestamentliche Klage gehört werden muß. Dies letztere zeigt sich, wenn man auf die Beziehung zwis~hen den Worten der "Tochter Zion" und denen der "Gläubigen" achtet, die mit Hohemlied 6,1 wiederum die Rolle der "Töchter Jerusalems" übernehmen. "Mein Jesus" und "dein Freund", d. h. der Geliebte und Bräutigam des Hohenliedes, werden hier miteinander identifiziert, ganz so, wie es der Auslegungstradition entspricht. Kurz vor dem zitierten Vers 6,1 gibt es nun eine
193
Klage der Braut über den Verlust des Freundes, und in diese Klage hat Picander den Namen Jesus eingetragen. Der madrigalische Text ist eine Paraphrase von Hohemlied 5,6: Hoheslied 5,6 Und da ich meinem freund aufgethan hatte! war er weg und hingegangen. Da gieng meine seele herauß nach seinem wort! ich suchte ihn! aber ich fand ihn nicht! ich rieff! aber er antwortete mir nicht.
Hoheslied 6, I Wo ist denn dein freund hingegangen! o du schönste unter den weibern? Wo hat sich dein freund hin gewandt? So wollen wir mit dir ihn suchen.
Damit gewinnt das Wechselgespräch zwischen der »Tochter Zion" und den »Gläubigen" eine dichterisch wie theologisch tiefere Dimension. Der Dialog bleibt als ganzer in der Schwebe zwischen christlich gedeuteter alttestamen tlicher Lie besklage und biblisch vertiefter Klage um Jesus in einer bestimmten Situation seines Leidens. Wen die Braut des Hohenliedes verloren hat, das wird in der Passion Jesu offenbar, und um Jesus klagt der, der ihn liebt, wie die Braut um den verlorenen Freund. Ist in diesen Versen also der vordergründige Situationsbezug transzendiert, so erweist sich umgekehrt die Metapher vom »Lamm in Tyger-Klauen" als durchaus situationsbezogen. Als das Lamm unter Wölfen wird nämlich Jesus in Anspielung auf sein eigenes Wort Lukas 10,3 (»Sihe, ich sende euch als die lämmer mitten unter die wölffe.") eben an dieser Stelle, bei der Gefangennahme und dem Beginn des äußeren Leidens, in vielen Predigten bezeichnet. Müller nennt die Häscher Jesu Wölfe: "Da stehet das unschuldige Lämmlein unter den Wölffen/ und muß sich gleichsam zerreissen lassen" (S. 262). Nach Moller warten die Schriftgelehrten und Ältesten .als die hungerigen Wölffe/ auff das unschuldige Lämmlein Gottes/ sie trachteten ihm nach dem Leben/ und dürsteten nach seinem Blut" (SoWoquia, S. 28). J. Rist bezieht das Wort auf die Mißhandlung Jesu nach dem ersten Verhör vor dem Hohen Rat, und er stellt ebenso wie Picander eine Verbindung zwischen dein Lamm und dem Bräutigam des Hohenliedes her: "Wölffe zerren dieses Lam! Mörder schlagen den Geliebten! Unsrer Seelen Bräutigam Wird das Haupt der Hochbetrübten ... ,,4 7 Als Tiger werden die Feinde des Lammes bei S. Franck bezeichnet, aber hier ist damit die Volksmenge gemeint: "Sein Blut kom über uns und unsre Kinder! . So schreyt die tolle Schaar, Die gleich den Tygern durstig war, Nur nach des Lammes Blute! ... ,,48 47 J. Rist, Neue Hoch-heylige Paßions-Andachten, S. 37. 48 S. Franck, Poesien, S. 98.
194
Wenn also die "Tochter Zion" ihr "Lamm in Tyger-K1auen" erblickt, so deutet sie damit bereits die Situation, von der der Evangelist unmittelbar danach berichtet: "Die aber Jesum gegriffen hatten, flihreten ihn zu dem Hohenpriester Kaiphas, dahin die Schriftgelehrten und Ältesten sich versammlet hatten." Hier, so sagt diese deutende Metapher, beginnt sich das Zeugnis des Täufers zu erflillen. Hier fallen die wilden Tiere her über das Lamm, das bestimmt ist, der Welt Sünde zu tragen. Als dieses Lamm wird Christus dann im Choral des Einleitungschores (der ja eine zeitlich spätere Situation, die Kreuztragung, thematisiert) besungen. Die Erwähnungen des Lammes in den beiden Texten haben also eine Rahmenfunktion, indem sie den Anfang und das Ende des äußeren Opferleidens Jesu kennzeichnen: "Mein Lamm in Tyger-Klauen" "0 Lamm Gottes unschuldig/ Am Stamm des Kreuzes geschlachtet." Das Lamm und der Bräutigam (der Freund) stehen in den Einleitungstexten beider Teile der Matthäus-Passion programmatisch als Namen für Jesus, als Schlüsselbezeichnungen für sein Sein und Tun, seine liebe und sein Opfer, wie es Picander unter dem Einfluß kirchlicher Texte (Bibel, Predigt, Choral) zu deuten versucht. Unverschlüsselt und mit Picanders eigenen Worten fmdet diese ~utung ihren reinsten Ausdruck in der Anfangszeile der Arie Nr. 49: "Aus liebe will mein Heyland sterben."
b) Oratorienluzfte Texte Eine besondere Gruppe von Texten, .die fonnal und inhaltlich der protestantischen Passionstradition femstehen, umfaßt vor allem die Stücke 27 a, 27 b, 51. Nr. 27 a, 27 b "Zion und die Gläubigen Z. So ist mein lesus nun gefangen, GI. Laßt ihn! haltet! bindet nicht. Z. Mond. und licht Ist vor Schmertzen untergangen, Weil mein lesus ist gefangen. GI. Laßt ihn! haltet! bindet nicht. Z. Sie führen ihn; er ist gebunden. a 2. Sind Blitze, sind Donner in Wolcken verschwunden Eröffne den feurigen Abgrund 0 Hölle! Zerdrümmer, verderbe, verschlinge, zerschelle. Mit plötzlicher Wuth Den falschen Verräther, das mördrische Blut." (S. 322) Nr. 51
.. Erbarm es Gott! Hier steht der Heyland angebunden, O! Geisselung, o! Schläg, o! Wunden! Ihr Hencker haltet ein! Erweichet euch Der Seelen Schmertz, Der Anblick solches Jammers nicht?
195
Ach ja! ihr habt ein Hertz, Das muß der Marter-Säule gleich, Und noch viel härter seyn. Erbarmt euch, haltet ein!" (S. 323) Zu dieser Gruppe gehören aber auch der Schluß von Nr. 19 und Nr. 42 49 . Im Kommentar zu diesen bei den Stücken sind bereits die wesentlichen Merkmale der Gruppe und deren theologische Bedeutung dargelegt worden 50 . Auch die drei oben zitierten Texte erwecken die Fiktion direkter Teilnahme am Passionsgeschehen. Sie drücken den Wunsch aus, die Gefangennahme zu verhindern, den Verräter vernichtet zu sehen, der Geißelung Einhalt zu gebieten - das heißt, den Wunsch, Jesu Heilswerk möge nicht geschehen. Die der Passion gegenüber einzig angemessene, den Gegensatz von Trauer und Freude umfassende Haltung kommt zwar an anderen Stellen des librettos zum Ausdruck. 51 Aber es ist doch nicht zu übersehen, daß hier die unmittelbar-menschliche, nicht dialektisch-religiöse Betrachtung der Passion mit den entsprechenden oratorienhaften Formen einen erheblich stärkeren Einfluß gewonnen hat als etwa in der Iohannes-Passion. Gegen diese Behauptung ist der Einwand denkbar, sie übersehe den Zusammimhang zwischen Rezitativ und Arie in der Matthäus-Passion. Schon M. Dibelius hat darauf hingewiesen, daß sehr oft das Rezitativ ("Arioso") "der Betrachtung des biblischen Vorgangs dient, während die Arie von dem eigentlichen Vorgang absieht und den im Arioso gewonnenen Gedanken ohne Bindung an die Ereignisse paraphrasiert. ,,52 Das Verhältnis von vorgangsbezogenem Rezitativ und allgemein betrachtender Arie entspräche dann dem von Text und Auslegung, und eine isolierte Betrachtung des vorgangsbezogenen ersten Teils, etwa des Rezitativs Nr. 51 ohne seine den Vorgang religiös deutende Fortsetzung in der Arie Nr. 52, müßte zu Fehlschlüssen fUhren. Von ihm dürfte man dann ,Auslegung' gar nicht erwarten. - Tatsächlich läßt sich jenes Ergänzungsverhältnis zwischen vielen Stücken der Matthäus-Passion beobachten (Nr. 5/6; 22/23; 34/35; 39/40; 48/49; 59/60; 64/65). Man muß aber hinsichtlich der jeweils ersten dieser Doppelglieder differenzieren. Zwar zeigt" sich, daß die Vergegenwärtigung der biblischen Situation im Rezitativ umso leichter zur EinbruchsteIle oratorienhaftdramatischer Formen werden kann, je stärker der Affekt des betrachtenden Ich daran beteiligt ist - ein Vorgang, den wir bei Brockes noch deutlicher beobachten konnten. Aber keineswegs führt sie mit Notwendigkeit zu solchen Formen. VieIffiehr gibt es in der Matthäus-Passion neben der dramatisierenden Vergegenwärtigung, die an der zuletzt besprochenen Gruppe von Texten. aufgezeigt wurde, und sogar häufiger als sie die meditative Anknüpfung an die Situation (z. B. Nr. 12, 22, 34,39,48,64). Sie allein ist die der oratorischen Passion formal zugehörige.
49 S. o. S.171, 176. 50 . S. o. S. 172 f., 176. 51 Z. B. in Nr. 20: " ... Sein Trauren machet mich voll Freuden. Drum muß uns sein verdienstlich Leiden! Recht bitter und doch süsse seyn.· 52 A.a.O., S. 151.
196
S. Die Choräle Ein starkes Gegengewicht gegen die oratorienhaft- dramatisierende Tendenz des Librettos bilden die 15 Choralstrophen, die Bach selbst ausgewählt hat.53 Erst wenn man sie in die Betrachtung einbezieht, gewinnt man einen zureichenden Gesamteindruck von dieser Passionsdichtung. Die Choräle sind, wie häufig betont worden ist, "nicht Kunstleistungen, sondern Stimme der idealen Gemeinde, von der anwesenden Gemeinde als ihr Besitz anerkannt und im geheimen mitgesungen ...54 Schon die historische Entwicklung des Passionslibrettos legt dieses Verständnis der Choräle nahe: War durch sie doch ursprünglich die Gemeinde aktiv an der liturgischen Passionsabsingung beteiligt. Insofern kann man sagen, daß "die Choräle ... in beiden Passionen (seil. Bachs) den kultisch-kirchlichen Charakter des Werkes (begründen) ... 55 Jedoch wird man sie nicht, wie Dibelius dies tut, als Vertreter des "Gemeinde bewußtseins" dem "Individualismus" der freien Dichtung gegenüberstellen und in ihrer Verschiedenheit voneinander den "Ausdruck der beiden protestantischen Prinzipien, Gemeindeglaube und individueller Glaube" sehen dürfen. 56 Dibelius selbst weist daraufhin, wie stark der "Individualismus" im Sinne persönlichen Glaubensausdrucks z. B. P. Gerhardts Ich-Lieder prägt, und er sieht auch, daß andererseits die freie Dichtung gelegentlich zum Träger des "Gemeindebewußtseins" werden kann.57 Allerdings gibt es in den Passionen, insbesondere in der Matthäus-Passion, einen typologischen Unterschied zwischen verschiedenen Glaubenshaltungen, zu dessen Kennzeichnung auch die Choralstrophen Wesentliches beitragen. Aber nicht Individualismus und Gemeindebewußtsein sind die unterscheidenden Kriterien, sondern die beiden Auffassungen von der Passion, zu deren Unterscheidung uns die bisherige Untersuchung genötigt hat: die menschlich-urunittelbare oder die religiösdialektische Auffassung. Daß sich in ihnen der Wandel im Passionsverständnis zeigt, wurde an Picanders Benutzung seiner Vorlage und mehr noch an einigen nicht von den Predigten beeinflußten Stücken deutlich.
53 Picander hat, unter Auslassung des Bibeltextes und aller Choräle mit Ausnahme der beiden, die in die madrigalischp. Dichtung eingefügt sind, seinen eigenen Anteil am Libretto völlig zu recht unter dem Titel "Texte zur Paßions-Music ... " veröffentlicht. 54 M. Dibelius, Individualismus und Gemeindebewußtsein in Joh. Seb. Bachs Passionen, S. 141. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 A.a.O., S. 149. - Was Dibelius als zwei Prinzipien des Protestantismus bezeichnet, ist wohl eher
historisch als Aufeinanderfolge von stärker objektivierenden Glaubensaussagen der Reformationszeit und mehr subjektiv sich aussprechenden im 17. und frühen 18. Jahrhundert zu verstehen. Dieselbe Differenz besteht noch einmal zwischen den von Bach verwendeten' Chorälen des 17. Jahrhunderts und der Dichtung Picanders. Schließlich bietet auch der Unterschied zwischen der strengen formalen und sprachlichen Bindung des Chorals und der weit größeren Ungebundenheit der madrigalischen Dichtung eine Erklärung für den von Dibelius genannten Sachverhalt. Typologisch faßbare überzeitliche Glaubenshaltungen spiegeln sich jedoch in ihnen nicht.
197
Die religiöse Betrachtungsweise des Leidens Christi wird nun innerhalb des Librettos durch die Choralstrophen erheblich gestärkt. Die meisten von ihnen legen das Passionsgeschehen in einer den Predigten des 17. Jahrhunderts genau entsprechenden Weise aus. In drei Punkten sei das kurz erläutert. 1. Bachs Verfahren, viele Choralstrophen durch assoziative Anknüpfung mit dem vorangehenden Bibeltext zu verbinden, ist schon oft beschrieben und bewundert, selten aber als Auslegung verstanden worden. Bach hat damit den Text nicht anders gedeutet als jeder Prediger seiner Zeit, der jeweils von Einzelworten aus das Ganze der Passion erklärt. Wenn z. B. die höhnische Aufforderung der Priesterknechte: "Weissage uns, Christe, wer ist's der dich schlug?" aufgenommen wird von der Frage des Chorals: "Wer hat dich so geschlagen?", dann ist dies kein spontaner Ausdruck frommen Mitleids, sondern exakte Textauslegung im Sinne der Tradition. Denn die Frage war im Bewußtsein eines jeden. Hörers schon beantwortet in der nächsten Strophe desselben Chorals: "Ich, ich und meine Sünden ... / Die haben dir erreget/ Das Elend, das dich schläget/ ..." Das ist die Antwort der Predigten auf die Frage, wer Christus geschlagen hat: "Ach lieben Christen, das haben wir alle gethan! ... Wir haben ihn verspottet und verspeiet und geschlagen . . . alle Gottes-Lästerer verspotten und schlagen ihn jetzo noch."58
2. In den Choralstrophen wird ebenso wie in den Predigten die Passion schon als vollendet vorausgesetzt; sie sprechen grundsätzlich nicht vom Standpunkt fiktiven Miterlebens, sondern von dem der religiösen Gleichzeitigkeit aus. Darum kann unbedenklich schon im ersten Choral das "scharf Urteil" erwähnt werden, das man Jesus gesprochen hat, im zweiten, .Ich bin's, ich sollte büßen", anläßlich der Jüngerfrage "Herr, bin ich's?" können die "Geißeln und die Banden" genannt werden, die Jesus stellvertretend erduldet hat; und wie Müller an der Reue des Judas tadelt, daß er nicht "auffChristum und sein Verdienst" vertraut habe 59 , so begründet der Choral nach der Reue des Petrus das Vertrauen auf Gottes "Gnad und Huld" mit der bereits geschehenen Versöhnung: "Hat uns doch dein Sohn verglichen Durch sein' Angst und Todespein." 3. Vor allem aber ziehen die Choräle aus der Passionsbetrachtung dieselben Lehren, denselben Nutzen, von dem auch die Predigten sprechen. Man kann die Choralstrophen des Librettos nach ihrer inhaltlichen Beziehung zur Passion in drei Gruppen einteilen:
1) Kontemplative Betrachtung des leidenden Christus, Anteilnahme an seinem Leiden: Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen Ich will hier bei dir stehen o Haupt voll Blut und Wunden/ Du edles Angesichte Wer hat dich so geschlagen 58 Arndt, Postilla, S. 624. 59 Leyden Christi, S. 327.
198
2) Heilsbedeutung der Passion und Buße: o Lamm Gottes, unschuldig Ich bin's, ich sollte büßen Erkenne mich, mein Hüter Was ist die Ursach aller solcher Plagen o Mensch, bewein dein Sünden groß Bin ich gleich von dir gewichen Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe 3) Christliche Geduld, Leiden und Sterben des Christen: Was mein Gott will, das g'scheh allzeit Mir hat die Welt trüglich gericht' Befiehl du deine Wege Wenn ich einmal soll scheiden In diesen Gruppen finden sich die wichtigsten Auslegungsgrundsätze der Predigten wieder. Wie der Prediger zuerst fragt: Wer ist es, der da leidet? und daraus (vor allem im späteren 17. Jahrhundert) zahlreiche Anlässe gewinnt, die Größe der Erlösungstat staunend zu betrachten, so auch der Lieddichter - es ist bezeichnenderweise flir alle fünf Strophen dieser Gruppe P. Gerhardt-: .. Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe! Der gute Hirte leidet für die Schafe, Die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte, Für seine Knechte." ..... Du bist ja nicht ein Sünder Wie wir und unsre Kinder; Von Missetaten weißt du nicht." Unmittelbar menschliche Anteilnahme in historisierender Vergegenwärtigung scheint zumindest in der Strophe "Ich will hier bei dir stehen" Ausdruck zu fmden. Aber auch hier muß das über die assoziative Anknüpfung Gesagte berücksichtigt werden. Die Strophe nimmt als Treuebekenntnis des Gläubigen dasjenige des Petrus und der Jünger auf: "Und wenn ich mit dir sterben müßte, so will ich dich nicht verleugnen." "Ich will hier bei dir stehen", bekräftigt der Christ. Die erste Zeile trägt das Hauptgewicht, um ihretwillen ist die ganze Strophe gewählt worden. Auch ist zu beachten, daß sie nicht bei dem Ereignis steht, auf das sie anspielt. Beim Tode Jesu erklingt vielmehr eine andere Strophe desselben Liedes: "Wenn ich einmal soll scheiden, So scheide nicht von mir ... " Zuletzt ist es doch nicht das fromme Ich, das den toten Jesus in Arm und Schoß faßt, sondern er, der Lebendige, muß im Sterben dem Menschen helfen und ihn trösten: "kraft deiner Angst und Pein". .
199
Die Choralstrophen der zweiten, größten Gruppe bringen den ,,Nutzen" der Passionsbetrachtung zur Sprache: den satisfaktorischen und den meritorischen Aspekt, und dies meist in einer der satisfactio entsprechenden Haltung der Buße_ In der Betonung der Buße enthält die Auswahl der Choralstrophen dieser Gruppe den Hinweis auf das frömmigkeitsgeschichtlich späte Stadium der traditionellen protestantischen Passionsbetrachtung, in dem sich Bach zweifellos befindet.60 Diese Subjektivierung ist aber nicht gleichbedeutend mit einer rein menschlich-gefühlsmäßigen Betrachtung der Passion, sondern sie verweist auf die religiöse Deutung der Passion als ihre Voraussetzung. Denn Buße als "Gefühl" richtet sich nicht unmittelbar auf Iesus, sondern nur vermittelt oder gebrochen durch die Erkenntnis von dessen Versöhnungstat; ja sie ist nichts anderes als die subjektive Auffassung dieser Tat.61 Die dritte Gruppe von Choralstropnen nimmt, wie leicht ersichtlich, die Mahnungen der Predigten zum geduldigen Leiden in der Nachfolge auf. Bedenkt man, daß die Prediger aus der Passionsgeschichte auch eine umfassende Erkenntnis der Welt und des rechten Verhaltens in ihr gewinnen, so können die Strophen dieser Gruppe nicht mehr das Be· fremden erregen, das in der literatur zur Matthäus-Passion manchmal zum Ausdruck kommt. So zitiert z. B. F. Smend zustimmend die Kritik I. Smends an der Strophe "Wenn ich einmal soll scheiden". Diese "Erinnerung an das eigene Stündlein" sei "nicht ganz auf der Höhe des Tages, der nur dem Gedächtnis des Todes Christi gehört". F. Smend fUgt hinzu, das eigene Sterben dürfe "mit dem völlig Unvergleichbaren des Sterbens auf Golgatha nicht in einem Atem genannt werden."62 - Gegen die Wahl von "Befiehl du deine Wege" nach Iesu Verhör vor Pilatus erhebt Spitta den Einwand, "der milde und gefühlvolle Ton des Gerhardtschen liedes" passe nicht recht "zu dem tiefen Ernst der Lage und dem Ungeheuren, was der Gottessohn erleiden soll. ,,63 In diesen Fällen urteilen die Interpreten aus ihrem modernen Empfmden von der Erhabenheit ~nd dem Ernst der Passion und stoßen sich darum an der ethischen Ausrichtung der Passionsbetrachtung. Diejenige des 17. Iahrhunderts, in deren Tradition Bach steht, kennt solche Bedenken jedoch nicht. Ihr geht es nicht um eine einheitliche Stimmung frommer Versenkung in Iesu Todesgeschick, sondern stets um die Bedeutung dieses Todes für den Menschen. 60 Als "eine gewisse Verselbständigung der Buße und der sittlichen Forderungen aus der Passion" vollzieht sich auch nach Krummacher der allgemeine Wandel der Frömmigkeit innerhalb der Passionsdichtungen, a.a.O., S. 381.
61 Allerdings kann die Bußgesinnung, wie wir bei Brockes sahen; diesen Erkenntnisbezug verlieren oder zum bloßen Anlaß herabdrücken und so zum Selbstzweck werden. Indem sie dann letztlich in die rein menschliche Passionsbetrachtung mündet, bleibt sie jedoch nicht Buße, sondern wird bloße Traurigkeit.
62 Bach-Studien, S. 63. 63 Bach 11, S. 380 - Zu einer ebenfalls ethisch akzentuierten Strophe aus der Johannes-Passion, .Er nahm alles wohl in acht", mit der Aufforderung: .0 Mensch, mache Richtigkeitl Gott und Menschen liebe/ Stirb darauf ohn alles Leid/ Und dich nicht betrübe", schreibt Dibelius, dies sei .die einzige Stelle in beiden Passionen, da man ... bereits den Geist platt moralisierender Aufklärung zu spüren glaubt."(a.a.O., S. 146)
200
Zu der Strophe "Wenn ich einmal soll scheiden" ist zunächst gegen Smend festzustellen, daß sie gar nicht das "völlig Unvergleichbare des Sterbens auf Golgatha" und unseres Sterbens nivelliert, indem sie beides "in einem Atem" nennt. Vielmehr bittet der Dichter Jesus um Hilfe und Trost im Sterben "kraft deiner Angst und Pein" und verweist damit gerade auf den Vorrang jenes Sterbens. So aber müssen Jesu Sterben und das des Menschen in Beziehung zueinander gesetzt werden, ist doch Jesus nicht "für sich", sondern nur "für uns" gestorben. Weil er Angst und Verlassenheit im Sterben durchlitten hat, ist der Glaubende in seinem Sterben nicht verlassen. "per hanc angustiam peto, ut in angustijs mortis meae non derelinquas me Domine Deus meus", kann Musculus, ganz im Sinne des altkirchlichen Äquivalenzschemas, mit "Bonaventura" beten. 64 Gleichwohl muß nun zum vollen Verständnis dieser Choralstrophe darauf hingewiesen werden, daß die protestantische Passionstradition Jesu Tod in zwei verschiedenen Hinsichten bedenkt, die nicht gleich ursprünglich in ihr angelegt sind: Sie bedenkt ihn als Tod und als Sterben. Jesu Tod geschieht "uns zu gutl und umb unsert willen". Er ist "die Straffe unserer Sünde", die an ihm vollzogen wird, "damit der Gerechtigkeit Gottes ein Genüge geschehe". Seine "Krafft" liegt darin, "daß durch denselben wir mit Gott versöhnetl und von unsern Sünden gereinfget" werden. 65 Darum sollen wir nun auch der Sünde absterben. Dies ist, wie hier nicht mehr begründet zu werden braucht, die Deutung des Todes Jesu unter den auch sonst üblichen Aspekten der satisfactio, des meritum und des monitum. Daneben wird aber im 17. Jahrhundert in den meisten Predigten auch Jesu Sterben als Trost und als Vorbild für christliches Sterben verstanden. Dabei verbinden sich (in einer hier nicht näher zu untersuchenden Weise) Passionsfrömrnigkeit und Motive der mittelalterlich-mystischen ars moriendi zu einer gegenüber jener dogmatischen Auslegung des Todes sehr viel menschlicher wirkenden Betrachtung des Sterbens Jesu.66 Aus dieser Traditionstarnmt auch die Strophe "Wenn ich einmal soll scheiden", eine übertragung der folgenden Verse aus dem unter Bernhards Namen überlieferten Hymnus "Salve caput cruentatum" des Arnulf von Löwen: "Dum me mori est necesse, noli mihi tunc deesse, in tremenda mortis hora veni, Iesu, absque mora, tuere me et libera. "67 64 Precationes, S. 119. 65 Gerhard, Erklärung, S. 282 f.
66 Ermöglicht, ja nahegelegt wurde diese Verbindung dadurch, daß die ars moriendi ihrerseits auf die Passion, vor allem auf das Sterben Jesu als wesentlichen Trostgrund zurückgegriffen hatte. Vgl. dazu H...ch. Piper, Ars moriendi und Kirchenlied, bes. S. 106,118. 67 In: Ph. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied I, S. 124.
201
Diese Verbindung von Passionsfrömmigkeit und Sterbelehre wird von der protestantischen Passionspredigt aufgenommen und als ethischer Aspekt der dogmatischen Deutung des Todes lesu integriert. Aber es ist doch unverkennbar, daß hier die Stelle ist, an der die rein gefühlsmäßige und menschliche PaSSionsbetrachtung ihren Ansatzpunkt finden konnte. 68 Wenngleich P. Gerhardts "Wenn ich einmal soll scheiden" davon noch weit entfernt ist, so kann man angesichts der späteren Entwicklung dieser Traditionslinie dem Einwand Smends gegen diese Strophe doch ein gewisses Verständnis entgegenbringen. Anders steht es mit dem Choral "Befiehl du deine Wege", an dem Spitta Anstoß nimmt. Mit ihm wird das Schweigen lesu vor Pilatus als Ausdruck des Gottvertrauens verstanden, das jeder Christ auch gewinnen soll. Dasselbe Verständnis findet sich gewöhnlich in den Passionsauslegungen zur Stelle: "Es wil uns auch Christus mit diesem Stillschweigen lehren! daß man Vnrecht und Verleumbdung sol mit Gedult ertragen. Gott und der Zeit mus man viel befehlen! und erwarten! biß unsere Vnschuld hernach bekannt werde . . . Gottes und unsers Hertzens Entschuldigung tröstet mehr als die gantze Welt mit jhrer Verleumbdung und falschen Anklage mag erschrecken ... Hab ichs schon nicht umb die Menschen verschuldet! daß sie mich so verleumbden und verlestern! so habe ichs doch umb Gott verschuldet! darumb wil ichs mit Gedult tragen! meine Sache in der Stille jhm befehlen! er wird zu seiner Zeit meine Vnschuld ans Liecht bringen und für allen offenbar machen ...69 So also hängt lesu Schweigen in der traditionellen Deutung mit dem Vorsehungsglauben und der Mahnung zu geduldigem Leiden zusammen, und diese Beziehung hat Bach mit dem Gerhardtschen "Befiehl du deine Wege" ganz richtig ausgedrückt. Die Choräle, so bestätigt sich, sind Auslegungen des Passionstextes ebenso wie die madrigalischen Dichtungen. Due Auswahl ist bestimmt vorn Verständnis der entsprechenden Stellen in der protestantischen Predigttradition, mit einer für Bachs Zeit bezeichnenden Neigung 'zu den Ich-liedern (vor allem P. Gerhadts und 1. Heermanns) und einer ebenfalls zeittypischen Betonung der Buße. Soweit sie sich direkt auf die Passion beziehen, deuten sie diese im religiös-dialektischen Sinn als ein Leiden, das der Mensch verdient hätte, von dem er aber nun befreit ist: . "Hat uns doch dein Sohn verglichen Durch sein' Angst und Todespein." Darum und eben als Gottes Sohn ist lesus dem Gläubigen der "herzliebste lesus", "mein Heil", "mein Hirte", nicht aber, weil er einen unmittelbaren, in natürlichem Mitleid sich äußernden Zugang zu lesus gefunden hätte. 68 Vgl. dazu M.-L. Wolfskehl, Die Jesusminne in der Lyrik des deutschen Barock, S. 10: "Das Besondere der Bernhardinischen Mystik besteht vor allem darin, daß die konkrete Gestalt des geschichtlichen Jesus, die menschliche Seite des Heilandes entscheidend in den Vordergrund tritt." (Zit. bei H.-Ch. Piper, a.a.O., S. 118)
69 Gerhard, Erklärung, S. 155 f.
202
So bilden die Choräle zusammen mit den meisten von Müller beeinflußten madrigaHschen Dichtungen einen starken Schutz dagegen, daß jene um 1730 schon weit verbreitete vereinfachte, untheologische Passionsauffassung, der, wie wir sahen, auch Picander zuneigte, das libretto der Matthäus-Passion noch stärker prägen konnte. Versucht man in der Tiefe zu erfassen, welche Kräfte auf die Gestaltung dieser Passionsdichtung eingewirkt haben, so stellt sich unwillkürlich das Empfmden eines fast dramatischen Ringens zwischen einer 20Ojährigen, ja z. T. wesentlich älteren Tradition und dem Streben nach Befreiung von dieser Tradition, nach Vereinfachung und Vermenschlichung des Passionsverständnisses ein. Das Neue, das auch in diesem libretto immer wieder hervordrängt, versteht sich aber noch nicht als ein Neues, es erkennt seinen Widerspruch gegen das Alte nicht, sondern versucht sogar weithin, sich in dessen Formen und Gedanken auszudrücken. Eben dadurch aber zerstört es das Alte nur umso sicherer von innen heraus. Die Matthäus-Passion ist ein Passionslibretto voller Widersprüche, voller Risse und verborgener Unstimmigkeiten. Gerade. dies aber hebt sie als religiöse Dichtung weit über die durchschnittlichen, im Sinne des neuen Passionsverständnisses stimmigen Produktionen dieser Gattung hinaus. Alle Widersprüche überwölbend hält jedoch der Gedanke das libretto zusanunen, in dem Picander mit erstaunlich sicherem Gespür die Brücke zwischen der alten und der neuen Passionsauffassung entdeckt hat: "Aus Liebe will mein Heyland sterben." 70
70 Es sei nur darauf hingewiesen, daß F. Smend in seiner Analyse der Matthäus-Passion einen ursplÜnglichen Aufbauplan findet, in dessen Mittelpunkt (neben dem Choral.Wie wunderbarlich") die Arie .Aus Liebe will mein Heyland sterben" gestanden habe (Bachs Matthäus-Passion, in: Bach-Studien, S. 44). Und auch für den endgültigen Plan des Werkes erkennt er der Arie eine .ganz besondere Bedeutung" zu (a.a.O., S. 61).
203
Schluß Der Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert In den Kapiteln 5-7 wurden drei geschichtlich bedeutsame Passionslibretti auf ihr .verständnis des Leidens Christi hin untersucht. Die grundlegende Untersuchungsrnethode bildete der Vergleich zwischen der Passionsauffassung der libretti und derjenigen der protestantischen Passionstradition, wie sie sich in den Predigten über die leidensgeschichte im 17. Jahrhundert ausprägt. Begründet wurde diese Methode nicht nur durch den Nachweis faktischer Beziehungen zwischen Predigten und Libretti, sondern auch durch poetologische überlegungen. Aus allen drei Untersuchungsgängen ergab sich die Feststellung eines einschneidenden Wandels des Passionsverständnisses in den Texten des frühen 18. Jahrhunderts, der sich freilich in je verschiedener Weise und Stärke in ihnen durchsetzt. Im folgenden soll nun versucht werden, ungeachtet der Verschiedenheit der einzelnen Texte eine systematische Darstellung dieses Wandels zu geben und so zu dessen theologischer Gesamtdeutung vorzudringen. Dazu bedarf es zuerst eines zusammenfassenden überblicks über die Grundzüge und die Motive des Wandels, die sich in den Textuntersuchungen als bestimmend erwiesen haben. Sodann ist nach der theologiegeschichtlichen Einordnung dieses Vorgangs zu fragen, d. h. nach den theologischen und religiösen Kräften, die ihn tragen und vorantreiben. Und schließlich wird der Ertrag der Untersuchung für die theologische Bachforschung zu bestimmen sein.
1. Grundzüge und Motive des Wandels Der theologisch entscheidende Vorgang, der den Wandel des Passionsverständnisses um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert bewirkt, ist die allmähliche Auflösung der (vom Protestantismus modifiziert übernommenen) anselmischen Versöhnungslehre. 1 Alle übrigen Änderungen, die wir im Verhältnis zur Passionsauffassung des 16. und 17. Jahrhunderts beobachtet haben, lassen sich zu diesem Vorgang in Beziehung setzen, ja von ihm her verstehen. 2 Grundlegend für das lutherische Passionsverständnis ist der Ge!ianke des Strafleidens Christi. "Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten" (Jesaja 53,S) ist hier der
1 Zum Verhältnis zwischen ansebnischer und lutherischer Versöhnungslehre s. o. S. 19, Anm. 13, S. 21, Anm. 16. 2 Es sei noch einmal ausdrücklich betont, daß hier theologisch gesehen das Zentrum liegt. Von einem anderen Blickpunkt aus kann sehr wohl ein anderes Merkmal in den Mittelpunkt gerückt und der Verfall der Versöhnungslehre als dessen Konsequenz beschrieben werden.
204
Grundtext für jede Passionsdeutung. Dabei wird der erste Teil des Satzes im Sinne von Jesaja 53,6 als Folge eines Handeins Gottes verstanden: Christus trägt die Strafe, weil Gott "unser aller Sünde auf ihn warf" und darum auch die Sündenstrafe an ihm vollziehen muß. Erst die theozentrische Auffassung des Strafleidensgedankens bedeutet die äußerste Zuspitzung der Paradoxie in der Versöhnungslehre. Es ist darum veratändlich, daß an diesem Punkte auch ihre Auflösung beginnt. Deren erstes Kennzeichen ist die christologische Akzentuierung des Gedankens, d. h. seine Reduzierung auf die Aussage: Christus trägt die Strafe für uns. Damit aber ist bereits die schiefe Ebene betreten, auf der es kein Halten mehr gibt. Die Scheu vor der harten Paradoxie, daß Gott den Unschuldigen nicht nur leiden läßt, sondern straft, um die Schuldigen zu erlösen, führt unvenneidlich zur Eliminierung des Strafgedankens überhaupt aus dem Passionsvc:rständnis. Die Passion ist nicht Strafe, nicht Gericht, sondern sozusagen ,reines' Leiden. Damit aber wird zugleich - faktisch, nicht in ausdrücklicher Bestreitung - die Gottbezogenheit dieses Leidens schlechthin geleugnet. Gott kann zu Jesu Leiden keine Beziehung der Art mehr haben, daß er es gewollt hat. Christus trägt- nun nicht mehr mit der Sünde auch die Sündenstrafe, sondern nur noch die menschliche Sünde. Zwischen Sünde und Leiden besteht ein wenn auch vielleicht nicht rational, so doch geflihlsmäßig einsichtiger Zusammenhang, dessen Entfaltung die Grenze zum Paradox nicht mehr überschreiten muß. Daß aber auch in diesem Zusammenhang noch ein Ärgernis steckt, das nach Auflösung verlangt, ist evident. In der christologischen Akzentuierung der Versöhnungslehre wird die Passion reduziert auf ein Handeln Christi für die Menschen. Dieses wird vorzugsweise in der überlieferten Opfer- und Stellvertretungsterrninologie beschrieben, die aber selbstverständlich auch eine jener Reduzierung entsprechende Bedeutungsverengung erfährt. Christi Opfer hat nun nicht mehr, wie in der theozentrischen Versöhnungslehre, die Doppelbedeutung "sich selbst opfern" und "von Gott geopfert werden", sondern es bezeichnet nur noch sein Selbstopfer, das auch nicht Gott, sondern den Menschen dargebracht wird. Das Verständnis der Passion als eines wesentlich nur Christus und den Menschen betreffenden Geschehens verändert sowohl die Christologie als auch die Anthropologie. Und soweit der Gottesgedanke überhaupt noch mit der Passion verbunden wird, wirkt die Veränderung auch auf diesen zurück. Daß an die Stelle der Gottesbeziehung in der Passion diejenige zu den Menschen und ihrer Sünde tritt, fmdet seinen literarischen Niederschlag in einer intensivierten Darstellung sowohl des Leidens Christi als auch des menschlichen Sündenbewußtseins. Dies ist insofern völlig konsequent, als nun erst eine ungebrochene, unmittelbare ,Erfahrung' dieses Leidens möglich ist, die eine ebenso unmittelbare Sündenempfmdung hervorruft. In der traditionellen Passionsdeutung war die Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit stets durch einen Rückschluß vennittelt: Wenn Gott seinen geliebten Sohn so hart straft, wie schwer muß dann die Sünde sein, die er für uns trägt! Nur auf diesem ,reflexiven Umweg' wurde die Schwere der Sünde im Leiden Christi anschaulich; dem natürlichen Menschen dagegen mußte sie verborgen bleiben. Der Verlust des theo-
205
zentrischen Passionsverständnisses führt mit innerer Notwendigkeit zur Verlagerung der Leidens· wie der Sündenerfahrung auf die psychologische Ebene. Die im unmittel· baren Zugang nicht erreichbare Tiefe des ,theologischen' Sündenbewußtseins wird ersetzt durch die Intensität eines seelischen Sündenerlebnisses, das sich aus den eben· falls gesteigert dargestellten Qualen Jesu gewinnt. Auch auf dieser psychologischen Ebene jedoch wird die Beziehung zwischen Jesu Leiden und der Sünde des Menschen insgeheim noch vom Gottesgedanken vermittelt, weil die Annahme einer erlösenden Wirkung dieses Leidens dessen göttliche Kraft voraussetzt. Nur wird der Gottesgedanke jetzt mit Hilfe der Zweinaturenlehre gänzlich in die Christologie hineingezogen. Christus leidet und stirbt und erlöst uns als der Gottmensch. Dies kann freilich, sobald die Christologie von ihrer Verankerung in der Gotteslehre gelöst ist., nichts anderes mehr bedeuten als: Er tut dies alles kraft einer reinen, aufs höchste gesteigerten, ja übersteigerten Menschlichkeit, die als Göttlichkeit bezeichnet wird. Wie rasch sich eine solche verselbständigte Christologie zersetzt und in die Anthropologie übergeht, von der her sie im Grunde schon konzipiert ist, zeigt die Entwicklung im späteren 18. Jahrhundert nur zu deutlich. In dem nur fünf Jahre nach Bachs Tod entstandenen, nach der Brockes·Passion berühmtesten Passionslibretto des 18. Jahrhunderts, "Der Tod Jesu" (1755) von C. W. Ramler (vertont von C. H. Graun), heißt der Erlöser u. a.•Bester aller Menschenkinder", .(sanfter) Held", .Menschen. freund", .Weiser", "göttlicher Prophet", .Freund Gottes und der Menschenkinder". Dies ist eine andere Sprache als im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts; sie konnte nur gefunden werden, weil der Sache nach das Verständnis des Gottmenschen als des göttlichen Menschen in den Libretti dieser Zeit bereits enthalten war. Auch flir die Anthropologie selbst hat die Auflösung der Versöhnungslehre einschnei· dende Folgen. Solange Gott als der durch die Passion am Menschen Handelnde ver· standen wird, ist Christus der Spiegel, in dem der Mensch sich selbst vor Gott anschauen kann und muß. In ihm erkennt er sich zugleich als gerichtet und vom Gericht befreit, und diese Dialektik bestimmt sein Existenzverständnis: Er ist begnadigter Sünder. Frömmigkeit ist die Annahme des Verdammungsurteils über alles "Eigene" - in Reue und Buße - und der völligen Gerechtsprechung - in Freude und Dankbarkeit. Sie ist demnach eine dialektische Haltung, in der der Mensch sich auf die außerhalb seiner vollzogene Versöhnung und auf deren jeweils in der Verkündigung erneuerte Deutung als Gericht und als Begnadigung bezieht. Diese Dialektik hindert die Frömmigkeit daran, in einem ,einfachen' Gefühl zur Ruhe zu kommen oder auch ihren wechselnden Ge· fühlen ein wesentliches Interesse zuzubilligen. Mit jener Deutung der Passion fillt selbstverständlich auch dieses Verständnis der Frömmigkeit dahin. Der Auffassung von Jesu Leiden und Sterben als Selbstopfer flir die Menschen entspricht die Forderung; in eine solche Beziehung zu Jesus zu kommen, in der sie sich seines Opfers würdig er· weisen. Ist sein Opfer die Selbsthingabe an die Menschen aus Liebe zu ihnen, so kann auch die Beziehung zu ihm, die dessen würdig ist, nur Liebe sein. Sie ist eine ebenso natürliche Empfindung wie die Liebe gegenüber jedem anderen Menschen, von dem man
206
Gutes erfahren hat. 3 Diese Frömmigkeit der liebe ist scheinbar eine Oberbietungjener wesentlich nüchterneren, die "durch" Jesus Gottes Gericht und Gnade erfährt; in Wahrheit ist sie ein sicheres Kennzeichen für die Anpassung des Opfers Jesu an menschliche Maßstäbe von Güte und liebe. llmen wird in der Folge auch der Gottesgedanke unterworfen; das Christusbild wird in das Gottesbild zurückprojiziert. Auch Gott kann nur noch als "lieber Gott", als liebender Vater Jesu und aller Menschen verstanden werden. Als eigene göttliche Person wird er immer blasser und schemenhafter. Die unvermeidliche Folge des Christozentrismus scheint ein Christomonismus zu sein, der seinerseits mit Notwendigkeit in den Anthropozentrismus übergeht.4 An diesem Punkt der Darstellung läßt sich ein erstes wichtiges Fazit ziehen. Es zeigt sich, daß der Gedanke der Liebe zwei Passionsauffassungen miteinander verbindet, die theologisch durch einen Abgrund voneinander getrennt sind: die dialektisch-religiöse, deren Grundsatz lautet: Gott straft Christus aus liebe zu den Menschen, und die unmittelbar-religiöse, deren prägnanteste Zusammenfassung sich in Picanders Formulierung fmdet: "Aus liebe will mein Heyland sterben." Konsequenterweise bildet daher auch der Begriff der liebe die Brücke, auf der man im frühen 18. Jahrhundert von der einen zur anderen Seite hinüberschreiten konnte. Er konnte, ohne Bild gesprochen, dazu dienen, die Auflösung der Versöhnungslehre, die Eliminierung des Gottesgedankens aus dem Passionsverständnis und das Abgleiten der Christologie in Anthropologie zu überdecken. Fragen wir nun, warum im frühen 18. Jahrhundert die anselmisch-Iutherische Versöhnungslehre ihre das Passionsverständnis erschließende Kraft verliert und der Gedanke der liebe zwischen Jesus und den Menschen ihre Funktion übernimmt, so muß die Antwort lauten: weil diese liebe erfahrbar - und das bedeutet jetzt: dem Gefühl zugänglich - ist. Das Neue, das damit die Auffassung und die Darstellungen der Passion bestimmt, wird aber erst deutlich, wenn Erfahrung und Gefiihl in dem hier gemeinten Sinn von den entsprechenden Haltungen der älteren Passionsdeutung unterschieden werden. Denn auch von dieser wurde natürlich das "Gemüt" des Hörers und Lesers
3 Anthropologisch liegt diesem Verständnis der Bindung an Jesus der Glaube an die wesentliche Güte des Menschen zugrunde: "Ihr weich geschaffnen Seelen, Ihr könnt nicht lange fehlen; Bald höret euer Ohr Das strafende Gewissen, Bald weint aus euch der Schmerz", dichtet Ramler in "Der Tod Jesu· anläßlich der Reue Petri. 4 Für die christliche Theologie, die in ihrer gesamten neueren Geschichte (und heute wohl in besonderem Maße) mit vergleichbaren reduktionistischen Tendenzen konfrontiert war und ist, bedeutet dies, daß sie die Spannung zwischen Christologie und Gotteslehre unbedingt aushalten bzw. wiedergewinnen muß. Als Beispiel für die Wahrung dieser Spannung in einer heutigen Auslegung der Passion vgl. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens 11, § 19 Der Tod Gottes, insbes. S. 204 f., 239 ff.
207
bewegt, sollten vielfaItige Empfindungen wie Trauer und Freude, Empörung und Bewunderung, Angst und Zuversicht geweckt werden. Die Passion "bedenken" konnte und sollte der Mensch nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen. Aber seit Luthers Kritik an der gefühlsbetonten mittelalterlichen Passionspredigt blieb das Wissen um die Ambivalenz der emotionalen Anteilnahme in der protestantischer Passionspredigt lebendig und bewirkte, daß dem Gefühlsmäßigen nur eine begleitende Rolle zugestanden wurde. Allerdings ist unverkennbar, daß die Prediger im Laufe des 17. Jahrhunderts dem wachsenden Bedürfnis nach verstärkter innerlicher Aneigung der kirchlichen Lehre Rechnung trugen und es wohl auch ihrerseits zu fördern versuchten. 5 Der entscheidende Wandel im Passionsverständnis tritt jedoch erst ein, wenn dem Gefühl statt der - sei es auch intensiv - begleitenden die führende und tragende Rolle zugesprochen wird, wenn Einfühlung in das Leiden und Sterben Jesu als der beste Zugang und Mitfiihlen als der eigentliche Zweck der Passionsdarstellung gelten. Nur diejenigen Aussagen über die Passion, die sich der gefühlsmäßigen Erfahrung unmittelbar erschließen, werden zur Kenntnis genommen, und diese Erfahrung prägt in einem engen Zirkelschluß wiederum das, was von der Passion zu sagen möglich ist. Die von der Theologie grundsätzlich und stets neu zu bedenkende spannungsreiche Beziehung zwischen dem Hören des ,äußeren' Wortes und der religiösen Erfahrung als der lebenssituation, in der Hören und Aufnehmen des Gehörten sich vollziehen, wird hier aufgelöst zugunsten einer einseitig von ,unten', von der Erfahrbarkeit her konstituierten Beziehung.6
5 Wie dieses Bedürfnis aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung des 17. Jahrhunderts zu verstehen ist, muß im nächsten Abschnitt gefragt werden. 6 Auf das schwierige hermeneutische Problem der Bestimmung jener Spannung, d. h. vor allem der Denkbarkeit eines der Erfahrung wrgegebenen, sie allererst ermöglichenden ,äußeren' Wortes, kann hier nur hingewiesen· werden. Gleichwohl sei die Hypothese gewagt, daß die jeweiligen Lösungen dieses hermeneutischen Problems ein Kriterium zur Deutung und Bewertung der theologiegeschichtlichen Epochen bieten. Danach wäre die Reformation eine der ,klassischen' Epochen der Theologiegeschichte, weil sie jene Spannung zwischen dem äußeren und dem inneren Wort ausgehalten und bewußt gemacht hat. Der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts müßte eine bewundernswerte Anstrengung zugestanden werden, das Gleichgewicht festzuhalten gegen alle - um die Wende vom 17. und 18. Jahrhundert le tztlich siegreichen - geistigen Kräfte, die die Spannung herabzumindern versuchten. Hatte die Orthodoxie das schon früh (z. B. durch den Spiritualismus der Reformationszeit) geflilirdete Gleichgewicht durch die Betonung des der Erfaltrung Voigegebenen zu sichern versucht, so wird seine Auflösung durch den eindeutigen Vorrang des Moments der Erfahrung, u. z. zunächst der vom Gefühl bestimmten Erfahrung, besiegelt. - Wenn diese theologiegeschichtliche Konstruktion hier auch notwendigerweise umrißhaft bleiben muß, so kann sie doch durch die in dieser Arbeit vorgelegten Textuntersuchungen einiges Leben I!J:winnen. Was die Einordnung der einzelnen Passionslibretti in die skizzierte Entwicklungslinie angeht, so ist natürlich nicht in jedem Fall eindeutig zu entscheiden, ob dem Gefühlsmäßigen .eine begleitende oder eine konstituierende Bedeutung zukommt. Diese Unterscheidungsmerkmale sind systematischa: Art und müssen daher vom Einzelfall abstrahieren, aber sie systematisieren doch die am konkreten Material gewonnnenen Ergebnisse.
208
Was kann man auf dem Wege des Einfühlens und Mitfühlens von der Passion erfahren und was nicht? Es ist nicht schwer zu erkennen, daß diese Erfahrung genau das Bild von der Passion wiedergeben muß, das oben als Ergebnis der Auflösung der traditionellen Versöhnungslehre beschrieben wurde. Einfühlen kann man sich in Jesu Sterben als heldenhafte Selbstaufopferung, in seine menschliche Größe (die man bald .Tugend" nennen wird): seine Sanftmut, Geduld, unbeirrbare Festigkeit, seine Selbstlosigkeit bis zum letzten Atemzug, sein Gottvertrauen. Empfmden kann man in all dem seine liebe zu den Menschen und angesichts ihrer die eigene Unvollkommenheit, zugleich aber in der Gegenliebe die Erhebung zu neuern, besserem Menschsein. Die Einordnung der Passion in den dogmatischen Zusammenhang von Sünde und Gottes Zorn, Gericht und Versöhnung, Glaube und Rechtfertigung kann als nachträgliche und fUr den Erlebniszusammenhang unerhebliche Deutung außer Betracht bleiben, werm sich bereits der vom Leiden des Reinen erschütterte Mensch von der Verstrickung in die eigene Sündhaftigkeit befreit erfährt. Nicht erst im (nun erfahrungsleeren) Glauben an den Mittler zwischen Gott und Menschen, sondern unmittelbar in der Liebe, die durch den überwältigenden Eindruck der Passion geweckt wird, ereignet sich das Heil fUr den Menschen. Für die Darstellung der Passion im libretto kommt daher alles darauf an, diesen tiefen Eindruck hervorzurufen und dieses unmittelbare Erleben zu ermöglichen. Konsequenterweise geben dabei die Dichter dem Zusammenwirken dramatischer und lyrischer Formen den Vorzug vor der episch-lyrischen Gestaltung. Denn während die dramatische Grundform das äußere Geschehen vergegenwärtigt und die Fiktion von Nähe und Gleichzeitigkeit erweckt, bleibt die epische Darstellung immer in der Distanz, die dem .Bedenken" Raum gibt. 7 Es besteht also eine tiefe irmere Affinität zwischen den beiden hier charakterisierten Passionsauffassungen und den Hauptfonnen des Passionslibrettos: dem Oratorium und der oratorischen Passion. Die im frühen 18. Jahrhundert feststellbare Tendenz zur Dramatisierung der Passionslibretti ist die vollkommen logische Konsequenz des gewandelten Passionsverständnisses, das sich in dieser Zeit durchsetzt. Diese überlegungen zum Verhältnis zwischen Passionsauffassung und Fonn der Passionsdarstellung müssen aber noch einen Schritt weiter geführt werden. Bedenkt man, daß die Dramatisierung eines Stoffes nicht nur seine Vergegenwärtigung bedeutet, sondern auch seine Veräußerlichung und Verselbständigung (etwa im Vergleich zum Erzählen, in dem in viel stärkerem Maße der Erzähler präsent bleibt), so muß man fragen, wie dieser Wesenszug des Dramatischen mit der behaupteten Entsprechung zu der nach EinfUhlung strebenden Passionsauffassung vereinbar ist. Indem wir den hier scheinbar bestehenden Widerspruch bedenken, erschließt sich uns die Eigenart dieser Passionsauffassung noch
7 Die lyrischen Stücke, in denen die innere Anteilnahme an der Passion zum Ausdruck kommt. haben in den beiden Grundformen eine je verschiedene Funktion. die der Bedeutung des Geflihls in der dialektischen und in der unmittelbar-religiösen Passionsauffassung entspricht.
209
tiefer. Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, denn in Wahrheit gehört eine Tendenz zur Distanzierung, ja zur Historisierung der Passion gerade zu dieser auf das gefühlsmäßig Erfahrbare konzentrierten Passionsauffassung hinzu. Einfühlung setzt geradezu voraus, daß sein Gegenstand fremd, daß er ,äußerlich' ist: will sie ihn doch durch ihren Zugriff erst zu einem Inneren, Nahen machen. Die ,dramatische' Unmittelbarkeit ist eine durch Äußeres vermittelte, keine ,ursprüngliche' Unmittelbarkeit. Anders als der Erzähler (oder sein Zuhörer), für den Erzählen (oder Hören) und Erleben in eins fallen, dem äußeres Wort und inneres Dabeisein nicht auseinanderklaffen, muß der Dramatiker (und sein Zuschauer) ständig die Vermittlung zwischen dem (stets das Äußere bleibenden) Dargestellten und dem eigenen Inneren leisten. So ist es auch von diesem Gesichtspunkt aus konsequent, daß die Notwendigkeit zur Dramatisierung der Passion in einer Zeit empfunden wird, in der ihr ursprüngliches ,pro me' nicht mehr als selbstverständlich, d. h. als ihre Selbstmitteilung gehört wird, sondern in der erst auf dem Weg über die gefühlsmäßige Aneignung des ,Dramas' der Passion eine vermittelte Unmittelbarkeit zu ihr gewonnen werden muß. Das Verhältnis von Äußerem und Innerem im Wesen des Dramatischen entspricht dem von äußerem und innerem Wort im Wesen des Religiösen, nur daß ersteres auf der Ebene reiner Immanenz bleibt und die Vermittlung darum nicht dialektisch, sondern psychologisch geschieht. In der dramatisierenden Passionsdarstellung des frühen 18. Jahrhunderts werden die beiden Weisen der Vermittlung freilich verwechselt - d. h., die erstere wird durch die letztere ersetzt: Einfühlung wird für Glauben, Erschütterung für Bekehrung gehalten. 2. Theologiegeschichtliche Einordnung des Wandels Im· vorangehenden Abschnitt wurde ein in sich stimmiges, zusammenhängendes Bild des gewandelten Passionsverständnisses zu zeichnen versucht, das sich in dieser Eindeutigkeit in keinem der untersuchten Passionslibretti fmdet. Hier wurden gleichsam die in den Texten nur punktierten linien kräftig durchgezogen. Weder in der BrockesPassion noch gar in den von Bach vertonten libretti ist die anselrnisch-lutherische Versöhnungslehre bereits völlig aufgelöst, mit dem Gerichts- der Gottesgedanke überhaupt verdrängt und die Passion auf ein rein innerweltIich deutbares Leiden des ,göttlichen' Menschen Jesus reduZiert, zu dem man in der liebe eine psychisch erfahrbare Beziehung herstellen kann. Aber .in allen drei Texten finden sich Elemente dieser neuen Gesamtanschauung der Passion. Alle Abweichungen der untereinander so verschiedenartigen .libretti vom überlieferten Passionsverständnis weisen in diese Richtung. Nach ihrer Charakterisierung im ersten Abschnitt dieses Schluß teils kann kein Zweifel daran bestehen, daß dieses neue Passionsverständnis unter theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichem Aspekt das der Au{kliirung ist. Stellt man es der von J. Gerhards "Erklärung" am reinsten vertretenen Auffassung der lutherischen Orthodoxie gegenüber, so kann man kaum etwas anderes als einen schroffen Gegensatz konstatieren. Vom theologischen Ansatz bis hin zum Verständnis der angemessensten Darstellungsweise scheinen die beiden ,Richtungen' im Widerstreit miteinander zu sein. Wie kommt es dann aber, daß wir im Laufe der Untersuchung nicht ein einziges Mal einen wirklichen Bruch im Passionsverständnis beobachtet haben, sondern immer nur Akzentverschiebungen, Wechsel
210
der ,Stimmungen', gleitende, mitunter fast unmerkliche übergänge? Die Antwort muß lauten: Weil der Pietismus die Vermittlung zwischen den bei den Auffassungen leistet. Mit diesen Bemerkungen ist in einer ersten, sehr allgemeinen Weise der Wandel des Passionsverständnisses in die theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Entwicklung eingezeichnet worden, die im frühen 18. Jahrhundert in Kampf und wechselseitiger Durchdringung der drei genannten ,Richtungen' kulminiert. Die heute allgemein anerkannte Auffassung von der vielfaItigen Verschränkung zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung8 darf jedoch nicht zum Verzicht auf die gewiß mÜhevolle und stets vorläufige Herausarbeitung ihrer jeweiligen Besonderheiten führen, selbst wenn solche Konturierung überspitzungen und Einseitigkeiten mit sich bringt. Darum muß nun auch hier die Bedeutung der drei ,Richtungen' flir den Wandel des Passionsverständnisses genauer untersucht werden, nachdem die Frage nach der theologiegeschichtlichen Relevanz in den Textinterpretationen weitgehend ausgeklammert worden ist. "Der alte (seil. Spenersche) Pietismus ist, theologiegeschichtlich geurteilt, eine übergangserscheinung zwischen Orthodoxie und Aufklärung", schreibt E. Hirsch, der die vennittelnde Funktion des Pietismus am deutlichsten herausgearbeitet hat. 9 Wodurch und wie vennittelt nun der Pietismus zwischen dem alten und dem neuen Passionsverständnis? In den vier Punkten, die im folgenden zu nennen sind, sollen die Ergebnisse der Textuntersuchungen unter theologie- und frömrnigkeitsgeschichtlichem Aspekt zusammengefaßt werden. 1. Der Pietismus vermittelt aus dem mystischen Gedankengut, das bereits seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in breitem Strom in die protestantische Predigt- und Erbauungsliteratur eingeflossen ist, im Hinblick auf die Passionsbetrachtung vor allem
8 Als Beispiel sei hier nur auf M. Greschats Buch "Zwischen Tradition und neuem Anfang" verwiesen, das in der Gestalt und der Theologie des bedeutendsten Vertreters der lutherischen Spätorthodoxie, V. E. Löscher, diese Verschränkung sehr eindrucksvoll nachweist. Besonders klar z.B. S. 325: "Trotz der entscheidenden Prägung seiner (seil. Löschers) Persönlichkeit durch den Geist der lutherischen Orthodoxie läßt sich eine Fülle von Zügen ausmachen, die im Bereich der praktischen Frömmigkeit, aber auch im Blick auf sein persönliches Glaubensverständnis, den Einfluß Speners und seiner Schüler spiegeln. Nennt man ihn hier einen Pietisten, so reicht er auf der anderen Seite der erstarkenden Aufklärung doch wenigstens die linke Hand mit seiner Verteidigung des Intellekts, der Betonung des Vilrrangs der Vernunft gegenüber allem Fühlen und Empfmden, und endlich durch sein Lob der aufgeklärten Tugend und Moral, die auch für den Christen verbindlich sein sollen." Noch dichter als das Beziehungsgeflecht gedacht, wenn man Löschers tiefes Frömmigkeitsideal nicht auf einen ,,Einfluß" des Pietismus zurückführt, sondern, wie Greschats eigene DarsteRung vielf'ältig nahelegt, darin eine genuine Gemeinsamkeit zwischen Orthodoxie und Pietismus erkennt. 9 Geschichte der neuern evangelischen Theologie 11, S. 109. Hirsch sieht auch, daß der Pietismus in mancherlei Hinsicht einen tiefgreifenden "Umbruch in der Geschichte der deutschen evangelischen Theologie" bedeutet (a.a.O., S. 143) und daß sich gleichwohl "der Übergang vom Pietismus zur Aufklärung in der Hauptsache mit . . . unmerklicher Sanftheit vollzogen hat" (a.a.O., S. 151). Beides gilt auch für das Passionsverständnis.
211
das Motiv der innigen Jesus/iebe. Der aus dem Hohenlied gewonnene Gedanke der unio mystica mit dem Bräutigam Jesus, das Zentrum der Bernhardinischen Mystik, hatte schon im 17. Jahrhundert die Passionsfrömmigkeit vielfältig beeinflußt, aber als ein Gedanke neben anderen war er hier gewissermaßen neutralisiert worden. Wirklich mystische . Jesusliebe ist gekennzeichnet durch den Anspruch auf Ausschließlichkeit, durch die Konzentration auf die Beziehung zwischen Jesus und der Seele. Ansätze zu einer stärkeren Betonung dieser Beziehung finden sich in den Predigten des 17. J ahrhunderts häufig, etwa in der emotionalen Ausweitung der Antwort auf die übliche dogmatische Frage "Wer da leide?" oder in der intensiveren Ausmalung der Leiden Jesu. Aber erst der Pietismus des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts nimmt das Motiv wieder im eigentlich mystischen Sinne auf, insofern ihm die Erfahrung der Jesusgemeinschaft, das Schmecken und Fühlen seiner Liebe zum Kriterium der Wiedergeburt, d. h. des wahren Christseins wird. Von der Bernhardinischen Jesus-Mystik, in der die Seele sich in liebevoller Beziehung "auf gleichem Fuße mit dem Bräutigam" erlebt, hat A. Ritschl geurteilt, sie sei trotz aller Bemühungen letztlich nicht in der Lage gewesen, "die Gottheit des Menschen Jesus" mit seiner Niedrigkeit zusammenzudenken. Die widersprüchlichen Empfindungen von Bitterkeit und Süßigkeit angesichts der Passion seien "durchaus keine zuverlässige Probe dafür, daß er (seil. Bernhard) die göttliche Erhabenheit Christi mit der Erfahrung seiner menschlichen Erniedrigung zugleich sich eingeprägt hat". Bei aller Einseitigkeit von Ritschls neukantianischer Kritik an der Mystik hat er doch wohl recht mit seinem Hinweis auf die Neigung der mystischen Theologie, in Anthropologie überzugehen: "Bernhard's Contemplation ... kann zwar eine leidenschaftliche Gegenliebe und eine Dienstfertigkeit hervorrufen, welche auch das Bitterste in Süßigkeit verwandelt; das ist aber doch nur der Cultus des idealen Menschen, welchen die moderne Sentimentalität auch noch an Andere als an den Herrn Jesus zu verwenden gelernt hat. ,,10 Mag der Pietismus auch von seinen dogmatischen Voraussetzungen her noch weit vom Abgleiten in bloße Anthropologie entfernt scheinen, indem er die ausschließliche Bedeutung Jesu für das GlaubensIeben hervorhebt, so liegt doch in dieser Hervorhebung selbst bereits eine Ahnung von der drohenden Gefahr der ,;moderne(n) Sentimentalität". Dieselben mystischen Formeln, dieselben Beschreibungen einer innigen Liebesgemeinschaft kann man verWenden, wenn man an die Gottheit Jesu im strengen Sinne nicht mehr denkt, sondern allenfalls eine Göttlichkeit als gesteigerte Menschlichkeit meint. Ist die Bindung an den religiösen Vorgang aber erst einmal gelockert, dann werden die mystischen Begriffe frei verfügbar und können auf allgemein-menschliche Uebeserfahrungen übertragen werden. Eine solche zur Liebesreligiosität verallgemeinerte Mystik liegt etwa bei Brockes und.ansatzweise im Text der Matthäus-Passion vor; Sie ist nicht mehl pietistisch, aber sie ist durch den Pietismus vermittelt. 2. Der Pietismus überbietet die von der orthodoxen Passionspredigt stets erhobene Forderung nach einem frommen Leben (monitum) durch das Drängen auf die einmalige, plötzliche, das Leben grundlegend verwandelnde Bekehrung, der die Einsicht in die 10 Geschichte des Pietismus I, S. 54 ff.
212
eigene Verlorenheit und die Buße vorausgehen. Zwar ist auch dieser Gedanke natürUch nicht völlig neu. In den Passionspredigten des 17. Jahrhunderts wird sogar mit zunehmender Intensität nach der Art und Weise gefragt, wie der einzelne zum Heil kommt. Aber durch Spener und vor allem durch den Halleschen Pietismus gewinnt die Bekehrung als eigentlicher Anfang des Christenlebens eine zuvor nicht gekannte Bedeutung und eigenständiges Interesse. In der Folgezeit verselbständigt sich dieses Interesse: Die seelische Erschütterung des Menschen wird als Wert an sich betrachtet, durch ihr bloßes Eintreten erfährt sich der Mensch gereinigt und befreit, kommt er zu sich selbst. Gewiß bietet die Betrachtung der Passion nach wie vor einen wichtigen Anlaß zu solcher Erschütterung, wie die Passionen etwa von Brockes und Hunold und die theoretischen Äußerungen Trillers zeigen, aber der Anlaß wird jetzt auswechselbar; die tiefe Bewegung kann auch andere Anknüpfungspunkte fmden wie z.B. Naturereignisse ll oder Zeugnisse menschlicher Größe. Die pietistische Bekehrungserfahrung wirkt auch außerhalb des religiösen Bereichs fort in allen Auffassungen, die das Zu-sich-selbst-Kommen des Menschen nicht als Resultat einer allmählichen Entwicklung verstehen, sondern als ein alles neu machendes, grundstürzendes Widerfahrnis. Mag diese Auffassung späterhin auch in mancherlei Abflachung wirksam werden, indem z. B. von der Wiederholbarkeit derartiger Widerfahrnisse ausgegangen wird, so bleibt doch - auch im Widerspruch gegen rationale Besserungskonzepte - das ,Grundrnuster' der pietistischen Bekehrung erkennbar. ,Säkulare' Anlässe für eine solche Erneuerung des ganzen Menschen sind häufig Grenzerfahrungen wie liebe, Schuld und Tod, die dadurch ihrerseits einen Zuwachs an religiöser Kraft gewinnen. In der unmittelbar nachpietistischen Passionsauffassung wirkt dieses Erbe des Pietismus besonders stark, während später (z. B. in einem Text wie dem "Tod Jesu" von Ramler) der Einfluß der vom Humanismus herkommenden philosophischen Aufklärung mit wem Glauben an die ethische Entwicklung deutlich zu erkennen ist. Zwar ist auch zumindest der Spener-Hallesche Pietismus von einem stark moralistischen Einschlag geprägt; er kommt jedoch in der neuen Passionsauffassung zunächst nicht zur Geltung. - Formal vollzieht sich dieser Vorgang in der gleichen Weise wie die Vermittlung der mystischen Jesusliebe: Ein durch den Pietismus exponiertes und aufgewertetes Element der Glaubensüberlieferung wird frei verfügbar fiir menschliches Denken und Sprechen. 3. Eines der Hauptmerkmale des Pietismus ist die Forderung, daß alles religiös Bedeutsame auch in der Erfahrung gegeben sein müsse. Nur die erfahrene Wiedergeburt ist wirkliche und den Glauben gewiß machende Erneuerung und schützt gegen den ,toten', ,eingebildeten' Glauben. Die Verlagerung des Gewißheitskriteriums vom ,Wort', von der ,außerhalb' des Menschen gegebenen und gerade darum Gewißheit schenkenden Verheißung Gottes auf die Erfahrung markiert überhaupt die entscheidende theologiegeschichtUche Wende, die der Pietismus heraufführt. Auch mit seinem Erfahrungsbegriff kann der Pietismus an Vorgänger anknüpfen. Die Erbauungsliteratur des gesamten 17. Jahrhundert ist vom Drängen auf ein "wahres Christentum" der Herzensfrömmigkeit erflillt. Aber nach der Infragestellung der christlichen Wahrlteit durch den Skepti11 Belege daflir sind viele Gedichte aus Brockes' "Irdischem Vergnügen in GoU-.
213
zismus und den ,Atheismus' des 17. Jahrhunderts erhält die Berufung auf die Erfahrung weit größere Bedeutung und einen ganz neuen Klang. Die Gründung der christlichen Gewißheit auf die "persönliche(n) religiöse(n) Erfahrung der frommen Subjektivität" etwa bei Spener dient zur Sicherung der religiösen Wahrheit gegen ihre Bestreiter. Wie im "Bereich der natürlichen Erkenntnis die Erfahrung der Quell der Gewißheit" ist, so auch in der Religion. Ohne sie jedoch, "ohne die lebensbestimmende Herzenserfahrung" sind für Spener "alle christlichen und theologischen,ja alle religiösen Erkenntnisse ohne Grund und ohne Halt, bloßes Ergebnis der Angewöhnung", und sie müssen ,jedem Sturm zum Opfer fallen". 12 Es ist wichtig zu erkennen, daß die Berufung auf die Erfahrungsgewißheit ursprünglich, im Pietismus, keineswegs einen Rückzug in die Innerlichkeit angesichts der übermächtig werdenden empirischen Wissenschaften bedeutet, sondern daß dadurch im Gegenteil gerade die gemeinsame Basis mit dem neuzeitlichel,l Denken gewonnen werden soll. Insofern ist der Pietismus eine durchaus modeme Bewegung.13 Die erstrebte Erfahrung ist primär Selbsterfahrung, in die jedoch die Erfahrung Gottes und der Welt eingeschlossen sind. Die kontinuierliche, subtile Selbsterforschung des Pietisten, die ihm die Glaubensgewißheit ermöglicht, steht als erfahrungsgegrÜßdet nicht im Gegensatz zur Aufklärung, sondern trägt wesentlich zu deren Stärkung und Verbreitung bei - zugleich freilich wiederum zur Relativierung der religiösen Zwecke und Inhalte. Denn vertiefte Selbsterkenntnis dient nicht nur der religiösen Orientierung, sondern ist sehr leicht auch auf andere, "weltliche" Lebensbereiche übertragbar. Auch und gerade die Beschreibung der Passion und des menschlichen Verhaltens zu ihr müssen sich gegenüber der von Prinzipien ausgehenden orthodoxen Betrachtungsweise erheblich verändern, wenn sie aus Erfahrung herkommen und wiederum in Erfahrung einmünden sollen. Solche Veränderung geschieht freilich weniger in der Passionspredigt, deren festgefügte Fonnen sich als recht widerstandsfähig gegenüber pietistischem Interesse an der Erfahrung erweist. Während Spener in den "Porismata" seiner im übrigen ganz traditionellen Passionspredigten lediglich besonderes Gewicht auf den Gedanken der Heiligung und de.r Nachfolge legt, geht A. H. Francke in den seinen "über die orthodoxe Versöhnungslehre höchstens insofern hinaus, als er die von den Vorstellungen des Opfers und des Bluts ausgehende Wirkung auf Phantasie und Gefühl stärker zur Veranschaulichung der liebe Gottes in Christus einsetzt als den allgemeinen Lehrsatz von der Zurechnung des Gehorsams Christi",14 . Viel stärker bricht das vom Pietismus geweckte psychologische Interesse in den Passionslibretti durch, und hier gewinnt es umso breiteren Raum, je weiter sich der librettist von der kirchlichen 12 Hirsch, a.a.O., 11, S. 95. 13 S. dazu auch M. Schmidt, Das Zeitalter des Pietismus, S. XXII: "Im Zeitalter des beginnenden naturwissenschaftlichen Experiments und der ungebundenen historischen Beobachtung verkörpert er (seil. der Pietismus) die Selbstgewißheit der Innerlichkeit. Er blieb zugleich durch seine Betonung der eigenen Erfahrung dem Zeitgeist verwandt.· 14 Hirsch, a.a.O.,11, S. 197.
214
Deutung der Passion entfernt, also z. B. in der Brockes-Passion oder in Picanders DErbaulichen Gedancken" von 1725. In beiden Texten ist das Bemühen spürbar, sowohl die Handlung selbst als auch ihre Wirkung auf den Menschen psychologisch zu motivieren und zu intensivieren. Maria (Picander) und Petrus (Brockes) gilt dabei die besondere darstellerische Sorgfalt der Dichter, weil über diese Gestalten die Identifikation und damit das Mit- und Nacherleben am leichtesten gelingt. Sieht man die im Laufe der Untersuchung mehrfach konstatierte Tendenz zur Intensivierung des Erlebnismäßigen in den Passionen also unter theologiegeschichtlichem Gesichtspunkt, so muß man in ihr den ,nachpietistischen' Versuch sehen, religiösen Themen auf dem Wege über ihre Psychologisierung ein bleibendes Interesse zu sichern oder dem modernen, von der kirchlichen Lehre kaum noch ansprechbaren Menschen einen neuen Zugang zu ihnen zu vermitteln. Durch die Art dieses Zugangs aber gerät die Passion in eine Reihe mit anderen, nichtreligiösen Themen, die ebenso behandelt werden: Die Nivellierung ihres religiösen Charakters ist die unvermeidliche Folge. 4. Nach E. Hirschs bekannter Definition ist der Pietismus "eine Bewegung zur Erneuerung des frommen Lebens und zu einer solcher Erneuerung dienenden Reform der Kirche gewesen" .15 Als notwendiger Nachsatz gehört zu dieser Defmition der folgende: "Die Theologie verhält sich zu diesen seinen eigentlichen Zwecken als dienendes Mittel. ,,16 Dieses Verhältnis von Theologie und Frömmigkeit, das dem unter 3. genannten von ,Wort' und (innerer) Erfahrung entspricht, führt zu einer Konzentration der Lehre, die sich als Vereinfachung, als Reduktion, im Extremfall aber auch als Vergleichgültigung ausprägen und darstellen kann. Je nach diesen Ausprägungen wird man dem Pietismus das Verdienst einer kräftigen Hervorhebung der zentralen christlichen Wahrheiten zuerkennen oder ihn für den Beginn der Auflösung des christlichen Lehrgefliges verantwortlich machen. Vielleicht liegt beides aber auch näher beieinander, als es zunächst den Anschein hat: die entschiedene Betonung einzelner .Elemente der Lehre kann durchaus ein Anzeichen fiir die Auflösung des gesamten Lehrgebäudes sein. Und in der Tat führt im Pietismus die Ausrichtung aller Lehraussagen auf die Bedürfnisse des frommen Lebens, ihre Unterwerfung unter das Kriterium der Erfahrbarkeit zu einer Lockerung des lehrmäßigen Zusammenhangs, den die Orthodoxie mit den Mitteln der aristotelischen Schulphilosophie· zu wahren gesucht hatte. Gewiß vollzieht sich diese Lockerung gegen die Intention des Pietismus, die ja vielmehr auf Intensivierung gerichtet ist, aber in dessen Konsequenz. Dies braucht im Hinblick auf dasPassionsverständnis hier nur noch kurz rekapituliert zu werden, nachdem im ersten Abschnitt dieses Schlußteils als Hauptmotiv für dessen Wandel eben das Bedürfnis nach Erfahrung aufgewiesen wurde, das nunmehr als ein wesentliches Bindeglied zwischen Pietismus und Aufklärung bestimmt ist. Kennzeichnend für den Wandel des Passionsverständnisses ist die Auflösung von Paradoxien oder von spannungsvollen Beziehungen
15 A.a:.O., 11. S. 92.
16 Ebd.
215
durch die Akzentuierung jeweils einer ihrer Seiten. Ob es um die Beziehung zwischen der Gottheit und der Menschheit Jesu, zwischen GoUes Zorn und seiner liebe, göttlicher und menschlicher ,Verursachung' der Passion, Christi Verhältnis zu Gott und zu den Menschen in seinem Leiden oder um die Beziehung zwischen Versöhnung und Erlösung geht: stets wird die der Erfahrung unmittelbar zugängliche Seite hervorgehoben. 17 Alle hier noch einmal angedeuteten lehrmäßigen Veränderungen lassen sich als Konzentrations- und Reduktionserscheinungen verstehen, die der "Erneuerung des frommen Lebens" dienen sollen und in der Folge davon die Frömmigkeit gegenüber allem Lehrhaften verselbständigen. Diese Bewegung von der auswählenden, vereinfachenden, intensivierenden Frömmigkeit zur Lehre und zurück zu einer von der Lehre gelösten autonomen Frömmigkeit ist der Weg vom Pietismus zur Aufklärung, auf dem sich der Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert vollzieht. Es ist gewiß zunächst ein etwas ungewohntes Bild von der Aufklärung, das hier durch das Nachziehen der linien der gewandelten Passionsauffassung entstanden ist, ein Bild, in dem alle rationalistischen sowie kirchen- und dogmenkritischen Züge zu fehlen, die emotionalen Elemente dagegen überbetont scheinen. Nun wird man in der Tat sagen können, daß die pietistische Intensivierung des Gefühls auch dem Passionsverständnis der Aufklärung ihren Charakter aufgeprägt hat. Andererseits ist doch auch deutlich geworden, daß schon im Pietismus selbst ~nd erst recht in den meisten hier dargestellten Passionslibretti eben dieses intensive religiöse Gefühl rationalisiert wird. Denn was soeben in vier Durchgängen als Verselbständigung und Verallgemeinerung des Geflihls, Bindung an Erfahrbarkeit und anthropologische Ausrichtung der Lehre aufgewiesen wurde, ist auch als Ausdruck des Strebens nach einer vemunftgemiißen Passiol)sauffassung zu verstehen. Um die Verwirklichung des Natürlichen in der Religion geht es auch hier, nicht aber - fast überflüssig zu betonen - um eine rationalistisch entleerte Religiosität.1 8 3. Folgerungen für die theologische Bachforschung Was ist mit dem Aufweis des Wandels der Passionsauffassung im frühen 18. Jahrhundert, mit der Einsicht in seine theologiegeschichtliche Bedingtheit flir die theologische Bachforschung gewonnen? Sind wir, zugespitzt gefragt, dem Verständnis von Bachs Passionsfrömmigkeit ein Stück näher gekommen? Auf die einfache Frage muß eine differenzierte Antwort gegeben werden.
17 Hirsch sieht eine Gemeinsamkeit zwischen Spener und der Aufklärung auch darin, daß beide von der Erfahrung der Güte Gottes ausgehen und .mit einem unmittelbaren psychologischen Ansprechen des Menschen auf die Vorstellung vom Gott des Gesetzes und Gerichts nicht mehr rechnen" (a.a.O., 11, S. 143). 18 Eine solche wäre im übrigen für die theologische Aufklärung in Deutschland völlig untypisch. S. dazu M. Schmidt, Art ••Aufklärung, theologisch" in: TRE IV, 594-608.
216
1. Eindeutige biographische Zeugnisse zu Bachs Passionsauffassung gibt es nicht. Auf die Auswertung der einzigen direkten Quellen hierfür - Bachs Musik, vor allem die Vertonungen der beiden Passionen - wurden in dieser Arbeit grundsätzlich verzichtet. Dieser Verzicht ist keineswegs nur als Mangel zu bewerten. Ist doch die Deutung der Passionskompositionen Bachs unter theologischem Gesichtspunkt auf ein richtiges Verständnis der von der Musik ausgelegten Texte angewiesen. Methodisch hat daher die Textinterpretation eindeutig den Vorrang für die Darstellung von Bachs Passionsverständnis. 2. Eine i~direkte, gleichwohl sehr bedeutsame Quelle, die etwas über Bachs persönliches Passjonsverständnis aussagen kann, wurde in H. Müllers Passionspredigten gefunden. Es spricht alles dafiir, daß Bach selbst seinem Textdichter diese Predigten, die sich neben mehreren anderen Werken in seinem Besitz befanden, als Vorlage für das libretto der Matthäus-Passion empfohlen hat. Das erlaubt die Annahme zumindest einer weitgehenden Übereinstimmoog von Bachs eigenem Passionsverständnis mit dem der Müllerschen Predigten .,Vom l.eyden Christi", die im 2. Kapitel ausführlich untersucht wurden. Die Passionsauffassung dieser lehrmäßig ganz in der Orthodoxie verwurzelten, von inniger Herzensfrömmigkeit sowie einer milden l.eidensethik geprägten Predigten darf als diejenige Bachs angesehen werden. - In dieselbe Richtung weisen Bachs Auswahl der Choräle in seinen beiden Passionen und die im ganzen vergleichsweise traditionelle theologische Prägung des Librettos der Johannes-Passion (Kap. 6), als dessen Verfasser Bach selbst zumindest nicht auszuschließen ist. 3. Scheint Bachs Passionsverständnis nach diesen Beobachtungen fest in der lutherischen Tradition des 17. Jahrhunderts'verankert und von den Veränderungen, die sich im frühen 18. Jahrhundert vollziehen, völlig unberührt zu sein, so muß dieses Bild nun doch in Frage gestellt werden. Bach hat seinen Textdichter eben nicht nur auf Müllers Passionspredigten hingewiesen, sondern er hat auch das Gesamtlibretto zur Vertonung angenommen; Picanders der Vorlage ständig widerstrebende Bearbeitungstendenz aber wurde im 7. Kapitel aufgewiesen. Daß Bach die Widersprüche zwischen Müllers Predigten und dem libretto nicht erkannt haben sollte, hieße allzu gering von seiner theologischen Bildung denken. Ferner hat Bach mit Sicherheit Picanders frühes Passionslibretto, die "Erbaulichen Gedancken" von 1725 gekannt - und dessen Verfasser hat er mit der Aufgabe betraut, einen Text für seine große Passion zu schreiben. Schließlich hat Bach auch - wiederum vorausgesetzt, daß er das libretto der Johannes-Passion selbst zusammengestellt hat - die Brockes-Passion als dessen Grundlage gewählt. Auch wenn in Auswahl und Veränderungen ein kritisches Verhältnis zu dieser Vorlage zum Ausdruck kommt: einen Text, dessen Auffassung ihm gänzlich fremd und theologisch verfehlt erschienen wäre, hätte er auch einer solchen Bearbeitung nicht gewürdigt. Aufgrund dieser Feststellungen muß zumindest die Möglichkeit in Erwägung gezogen werden, daß Bach der Passionsauffassung eines Brockes oder Picander doch näher gestanden hat, als es zunächst schien - und als es mit dem Bild von Bach als dem strengen Lutheraner 19 oder gar dem zeitlos-refonnatorischen Prediger "der ganzen Paradoxie
19 H. Preuß, J. S. Bach, der Lutheraner; F. Smend, Luther und Bach, in: Bach-Studien, S. 153-175.
217
des christlichen Heilsglaubens in dem abstrakten Material der Töne"20 vereinbar wäre. Hat Bach vielleicht trotz seiner Bejahung der überlieferten Lehren vom Leiden Christi, wie er sie etwa bei Müller fand, keinen Anstoß genommen an der pietistisch-aufklärerischen Auflösung dieser Tradition, die bei Picander bereits deutlich spürbar war? Von den Texten und Dokumenten aus ist diese Frage nicht mehr zu beantworten. Wir müssen den Widerspruch, der sich hier zeigt, ungelöst stehenlassen. 4. Nun ist es aber nicht die einzige Aufgabe der theologischen Bachforschung, Bachs persönliche Stellung zu religiösen Problemen zu ermitteln. Ihr Forschungsgebiet ist vielmehr die gesamte von Theologie und Frömmigkeit noch stark geprägte Zeit und Umwelt Bachs. Nur vor einem theologisch erhellten Hintergrund kann sich auch die Religiosität Bachs deutlich abheben und feste Konturen gewinnen. Unter diesem Gesichtspunkt einer das Passionsverständnis der Bachzeit insgesamt untersuchenden Studie wurde die vorliegende Arbeit von Anfang an als Beitrag zur theologischen Bachfors~hung konzipiert: so daß wohl Bachs Passionslibretti ihr inneres und äußeres Zentrum bildeten, zugleich aber der weiteste sinnvollerweise zu ziehende Kreis abgeschritten wurde, um sie als Dokumente ihrer Zeit zu verstehen. An deren mannigfaltigen Widersprüchen, an dem Schwanken zwischen der überlieferten, vom Versöhnungsdogma bestimmten Passionsverständnis und einer undogmatisch-gefühlsbetonten Passionsfrömmigkeit haben sie in je verschiedener Weise und Stärke Anteil. Mit diesem Ergebnis ist, wie ich hoffe, flir einen Teilbereich die bereits in der Einleitung zitierte Forderung H. Beschs an die Theologie erfüllt: "die Welt der Frömmigkeit, in der Bach lebte, zu erschließen und das gefundene Material der Musikwissens~haft zur weiteren Verwendung zu überlassen". Besch begründete die Notwendigkeit gemeinsamer Forschung mit "der Eigenart Bachs, Musik und Theologie so tiefgründig ineinanderwachsen zu lassen". 21 Ob und wie sie in Bachs beiden Passionen zusammengewachsen sind, wird nun vielleicht neu zu fragen sein.
20 E. Burri, J. S. Bach, S. 172. Burri zeichnet das Bach-Büd der Dialektischen Theologie. Er sieht bei Bach .die strikte Transzendenz des Ewigen _ .. in größter Reinheit ausgedrückt" (S. 174). Bei Bach geschehe dies: .Die Ewigkeit richtet die Zeit, aber indem sie sie richtet, nimmt sie sich ihrer an ... " (S. 176).•Die ewige transzendente Welt wird Klang und neigt sich zur Zeitlichkeit" (S. 176). Dieses Bach-Verständnis, das sich leidenschaftlich gegen die. zeitgenössischen Modernisierungen Bachs nach ästhetischen Kategorien wendet, war 1927 zukunftsweisend mit der Forderung nach einer konsequent religiösen Betrachtungsweise des Bachschen Werkes, selber jedoch sehr zeitgebunden darin, daß es alle Zeitbezogenheit aus der Religiosität Bachs eliminierte und sie als reinen Typus reformatorischen Glaubens bestimmte. Dies mag noch vertretbar sein, wenn die typologische Bestimmung nicht anschließend unter der Hand historisch verwendet und gegen andere historische Ausprägungen von Religiosität ausgespielt wird, wie es bei Burri geschieht. Das führt dann zur Erneuerung des alten Topos' vom Genie, dem seine Zeit nur ein lästiges Hindernis bedeutet. So war nach Burri Bach angewiesen auf .die zum Teil grauenhaften, süßlich-pietistischen Texte" (S. 170), auf Texte, die .weit hinter der Musik zurückbleiben, zum Teil sogar erst überwunden werden müssen" (S. 172). Aber wie es für ein prinzipiell kritisches Verhältnis Bachs zu seinen Texten keinerlei Anhaltspunkte gibt, so auch nicht f1lr eine völlige Andersartigkeit seiner Religiosität in ihrer historischen Ausprägung gegenüber -derjenigen seiner Zeit.
21 J. S. Bach. Frömmigkeit und Glaube, S. 210.
218
Anhang I Betrachtungen über die Bande Jesu in Passionspredigten (zu S. 63 ff.) .
219
2:)cmattlUIIß WOll b,lI 2:)""0'"
~
. g~t nullle!!c Öftle/
be' ~t.errll t
wIe btr ~tfanbtt/ _ bet f;J!S:rr/ btr unftr :troff Iffl gef,,"' gen ItllrD 1_ ~IQgt.... ~cnn ~It btbtt M) an ba_ dllfjtrllctlt &~tn lIelne' .ptl· lallbe' an ftlnem allcrl)tUIgfftn eeUlt. Unb ~Ie 1ft rrft'liltt/ wad btr \!tlt·)Dattr ga,ob gt\l!tlf' fagrt I)II( I (8entf. '11'. 61m(O\I unD et!)1 Il)rt 6C\lrocrttr nnb m6rbtrtfctJt c.:IDaWm / meint etde tommt nlctJt In Il)rtn 9labtfllnl> mt,ntl ~I)rt fil) Rld)t In Il)ren Klrd)tn/Dtnn In Ibrem ~rn I)\tl"n fie IItn gllnn erwürget. fltbe (!5etlt /Wlt IJrlmml9 unb unlltftüm 'überfaDtn fit ~tlncn.t)l!rrn!c.:IDlt utlbarm&cr.! $Ig gCl)tn fit mit Il)m um f Q:lner rftfftt !)I'/lItrl anDtrt bll: !S:lner flößtt ~Ie/btr anllere ba; ~I' Der ttgrtl!ftt 16n btl) btn.panrcn / btr anbere bel) Dtm J)lllft : ~in(r btl.) b
en tnrgt. ~tJl.6Ie totrffen I!)re nlctJt bor ~lIgtn/ mir tlnanber. ~lIltgeft gefangen / unD I
~Iltl
~o/)(
Xröftt bfCtl!lItbt ~tdt / ber ~anbe bei· 1Iel f;J(frrn / unD femt' ~tf4ngnlfTc' : ~tnn tr ~t ,,~ fangen lalTtn I bau tr Dieb aut btm t\I)t,qcn .lttretcr trlöfett. ~r hllt!ic{! bin· tlrnla1fm/D .. 1i er Dlt ~Clntle ~tli Xtufd' AUrUTe I btrbllt In 6Unbtllgrfangm I)lclt aum XOtlt. ~rn \Btfdngll1li Ifl beine t!\llgt ~rlöfunß J Wlb ftllU ~nbf br~aeB Dir
220
~iitllll u •• ~ ~ aber nun tlIaettr 1 liebt 6telt / unD ~ !)lItt blc{> 1 baj bU nlett aufflJ lIeut In
b'~ I5atand e>trllfe filllrtl : ~mn er laßtt blr nactJ/ Uni> ffeGttftent met' aufff unb ItStt 3a1ltlrtl aUjf alleD«lnt ;megt. (fr fltlltt blr na~ In ffidctJll)um unll ~rll\Ul)t / Im ~fltn unb Xrtneten/ln 3rtul>t unb(!tIO!ln c.:IDortm un~ 2Btrlftn/ ja Im san~en (!tben I D& er 1I1ctJ Wlelltr fangen/uno In 6imlltn flitrotn ~ tt. f,8ttc obnt Unttrla8/unll fctJrtl}f '" beintm .pCfrrn( Der Dltb ein mnltrrmtt l)atClUj felnrn 6trutto/l>a~ tr DlctJ fcrntr bel)Cm. D J)~rr, fu! trrttte tnle{! \HIR Imn etrtete / brClte .elnt ;jlilgd .ilbtr mle{! ~ unD la~ ml~ Darunter Illle~tlt jlctJtr ftl1" fur Dltfem!Z)ractJcn. ~mtn I
tut~tenIDltft' g~r,
tmTff ~t Ilujtommen.
M. Moller, Soliloquia
tlt!Igt JrCl.ll)elt. ~d06rt fell ber J)(frr/ btr unlJ nlctJt gtbt Dcm :tmfd ßum ~ub In ftlne 3d~nt : Unftrt ettlt tI1 tnn'ullntn/ Wlt tIn SDogtf bcm etrlet btU 'llogeltttUtr' 1 ~tr 6trltt ilt Aurtfjtll/ unD Wir fillD 10' tl1>lgllc{>t
au~
. ~~c(iiii'j1l(i'Glt@~"A"'C...!!...
•
~roj1licl)er
141
1 - - .----
"ntcrricl)t
l'iL-~r9f1IiCQer\"nttrricl;lt bcn I b~mtC b~6 bilbtti6 tJon
----- -
~li~~~~~ SBmb ~\'I)oltf!u .mitternll~t. §(S($~5 t,
~M
lINmbltlt50ceC6 tott~
I
. 6cm .gebunbenen Gimfon / in Der (5cf)nfft (rfuHct! tmD \)nfcrc ~
e;unDc freffrig 1\lUreC gcbu!Tet. ~ '2!eam \)110 ~ua 9a~n Den cr,i,"I I faDen ;U tliefcn banDen gcfponnm. :' ~ir fini' Ourcf) 2{Dam~ faU allc in
~ <5U.·l1Dcn empfangCl1 !.'IlD gc&orenl • ~ 'C110 fcltm eerit1cgcl1 mit J)enecn l'n ~ f(l!Ten gcbullDCII I 'Cl1t' 1115' ,",tge 'CcrDamniS !Jcroortfen ",crOcn/1vie Ocf) bclTen Ne §pri~CI1 ~n jren ~,~ .. burtS'tagCl111urd, Die ~dnNit1/Dic · fic cin'lnDcr f{~id'cn / p~cgcn 5u Cl"::;
I
inncrn.
: ~Hc foge (0 (lfft 1vir ftinDigm/ .. (pinnen ",ir 'lli DCII b~nDCI1 Jc~ • · §Ori/h. »Cfrr 3cfu / Die Illorllcri~ fcf)cn 3üoCll befmllCll auff 'enS' I
.
ND
· '~L~'WD],\W&\W~~~
N N ,.....
V. Herberger, Horoscopia
1+6
frr
lic~n'"tcrrict>t
6Cin 12....~flllm: (5treif i;rcnQIl'C9
im" Wir nnD frCI) / Der 1lam beS' • Y,>~rrn '3efu fic~ tmS' ~el).C:Ou ~a/l l'nsdcnDcngefangmcn eine (trIa, . fung Cl1vor&en/ Eta. 61. Ligacus es, • ut lolvcres mundi rucntis compli. l. finget bir &u c~rcn Die ganQ'
ces,
~briflcll~ctt. ~cl1n wir ;ur ~cict;1
tdommen / fo la9 in fratft Deincr al(C l'l1fae 6tlnDenfcttm
~anbcn
Den autf (frbcn / ba~ eS' im Y,>imf md aud) (og ftl): ~u g~mD,ner .f){!rr3,Cu!Dirfeu (0& \)nD banet/ m nu ~& icf) cin frCl)CS'\)ngc&ultbcItCSI S}crQ / icf) mag mid) aUeS' gutS ~u Dir \)ufc~el1 / ~nun ~a&c icf) tms" fangene I \)nse&unbmc tüHe / -c6 mag fro(tet) falr baS' angcficf)t Dcil nCf 'VatCfS treten / !lUl1 ~a&c. t~
t,"g II~~~'~
I
._··_·_l'omJci~tn q:brijli.
149
~iclna~~enge/ fon~ttn t)trl(.Igei N1J 111M gal1ecS' Lebc!" fe~ eine r.cct~
- tc cjngqogel1c gebul1Drne &cit; Z)ni "I §pri/llt~c
;ud;t ~nD (rÖmm4Jfeit
~ ilt DO~ Die jcOönfic (Xcttc/ Damit rief) cin §~ri't ~urt.cn ran / ~1lIi a.r. ,~ Dir t\)o[gefdft/f,lgtC S. BenediClus
®bU Marino, Der fim aUS' eigener M, ~ Dad;t mit einer ciffernrn ~ctt, ~at~
I
. tt gebunDen/ Marianus Scotus.fi,b
., Mauricio.
~cr
aber mut~iUj9
(unDigct/tmD CII1 tmgqcmtcs- (eben
ru~rct/qui diITolucevivit, Ottn~ ~ lote gilrtet / Der binDet bi~ i)~r
Je;u/ Daß Ou 11)111 ~ictt tanft ~clf,
,m / ~11l\ tput 19m an feinem (i!l'~
nm ~ft"lCt ~nutrt\)inDUcf)cn f~af eDen. S)lfrr jefu I ~cr(ciQc mir ~ gCDult / iVC1In i~ in ~r Wflt 11.(,
__IBB_
~ l11eill(1I1 §~rifletJt~um&
~.
'~~~
»mb .~ e fil nes'
150
~rOf1li(l:)tr~l1trrrid~:t~n",~ •
nein.\tncnil~iliniliiit ~lcl~l~.
gftld's'&aIlDClIlllerDe &c/iridct, jn ' grotTen ~rallcfQcitCII ttlcrDcn mit"
offt mit f~merecl1 gcbul1~111 c(tb mal meine ~mlle / MV ict fit 11{d)t fcm regen I balD meine ftlffc: / D\lf, I td) ntd)r tan gC~Cl1 / Da '",trllc lcf) •
rc4t \)0\1 mnnCrt fctnD,n
gcftl~rctf
S)anna ~u §al)p~all'On ClnC11l . fdtmcrQcn oU Dem al1t"ml / 21m Da 1)0"
OQ'(~c
r>cin<m
mir stlll/It / Da~ i~llad) c~cntpd fd.lttl'i~(/~u ~a~
mtr ben (5ptcgr[ ftlrgctrQgcll / tcf) nnlflc: mi~ la f~ctntn/rot"" icf)S' foItr &cget"Ctl berfer bU ~abcnl"hs " flCf Cfg~ngcn. ~ tttll mit mdtlOl
~~~n~m.pro~t.Il/llliC8~
..rott fC1Den ttA'crttnt.Ecttcn/l)C6
C(lpcmn l'n~((Wt« ~llC ~
JalD:amigcn 6tnliaftit~!~
.
'(c{iab
.___lJo,!! .'ri~r~ ~.~rifli. 15 I f~cnd't 11'ertlm / wk Denl &ölligt
l,.~
q:r"fllkb '. 'l}.t tml) mit .~1a~6unOen~I"9(J~uff"n
2lgrippz fJ\r feme ciffanc &utc/ . b'lmit ,~u ~"bmus ~'ut, &iDbw
gCr1 ~9dl Dfr ein ~ilJg(110Cf
li!).I~ antiquit. '{)u 5;>trr 1'er44l~ tefl~n( gefangene ni~t/Pfal. 69.
~~~~~
l.~cn \'OIl1 &c"fCtCaliguu,Io"ph.
.6~tt §eru / USlitfC (\U~ Dane ~lifim / baj fie nid)t bCtS ~cuffclS ~ofcfctndber
merDetl/ filicfe bcr ~nbarm~ttQigtCit ~e~tm 1'&tt anDere j~re mit~~rt~
tmb
~aUdU"l Iln(iilRl11trupcrllcn.
s.E>m~ tin .. ncu:f}
.~.'!
fl''!iteeDnIl't. . j'J",
8 es \$ Sl)'\S . ft)irb gtrd)1~gett i~C!"ch: I.~ r~'\1)eiget / e:i~.t 9'it~lft gUtlW"
~cn/fie 5U pla~ ~nb 5U betrüben/ fenDern gieb '~ncn CillC!1 fanffrmllf
. ~1Un\~'Oenn.~"'~t(,:·; srn / ton'O 'rO~ ~p&!C:.~t' .:;11 , fctllil-oig g.&e(lt.. .
&::~'"'thtfd)tcn )llngflm tcag all I d)merQ&anbcn loB ImDcn / 1'rJ in ~ ~",~c" btr ""ami
~~tt §cfu/b(\ bt'4l b{e t~~ mrbarl1l~c:reigC\t 3~~llrn~* te bll.m ~ft9or ~ineill til9nl( muffen (je fur Dem altC11 Y,"lama~ filn\&cr g(~CI1I bCrO~C!l fcf)~p, paJ fi~ Piq, buuor ~I!~"" bal1-'cr . dtc ~~l.\&t· ,
t~cn '8ct1i/ b4~ einer t1cm «nDem bO) femen ~l~&anbal tr6fl~ fer; Wp wir mDlid) Md) bcn Uc~
~ iüj
"ob
Wir mu!Ten aber ,biere <:8anbe ClJ,ri~i abCi'l1Ia(& nad~ ~Ci! ~i'f(drllng,~acf2.am J;.an[(~cn/baO nemti~,0..öZ!Z Der 'lJ atcr fdbn j~1tl bierdbc Q;anbc.angdcgct/bcnn tvatl all~te gC[cr2icf2tll'a& t§ut.aUcß.~.D.~(lf.6.:Aat~unb@:s.J:5.n~E5 J)anb/~Wo1 rum am4.
'crWeCt 6iit1b~nc,labtn/ro: ~unb Ct' bttf~.l~~ rür ~J:)ttC& ~(ricf2*;
te al& ber 8ro~( EStinbcl'l. nic~t Iwar.a{& §ctte er."or feine '~crfon einige e5üttbc gct~anlrO'nbtflJ tnci'cf anlYtrcr €Sünbe auffflcQ 8(~ tioinmcn..~.4tun'ib1;'tH.§ti"~..öXX bct ~(f~~ t1ac~,btm 'X?or~ bilbe beß :Jra'ac61 ~cnef.am 11. Ut1b .tle&'6imrOn6 1.J~blc!,dm) affo ~cr~ricfcn,unb binbm.-, ~cr feuffcl ~atte at1fdngUcf2 imfcrc ct~c ~'fern "erf~~ret unb' fie in 6'ullbclt arro'"ct~ricft I "äff' nu~ mc'Jit auffu!1& alle biere €5alntrc6anbe fommen ri.~~r1 Ntff mir ,,,on
r.
llatttr [~1)njfnce~tc btr. elinb~/ :JQJjanni6.-am:S:\'(~falifft unter bit eüt1bc/~oman,7; lM(J roir [0 rocniß\iUff~..oZ~Q;E5 WC~ gen uni) in r~incn @)ebotctt f1'~nbcC" fönnen / a[ß cin gchmttcncr ro1cnrcr~ gr~" f~ln/ benn Dic.E:iinbc fC9" tcc~tc <::8an~ct1 bcr ecc~ '(tttlvi(gcrc~ricf(11 ~(~d'Pr(l(m 9. l)er crtlen, ~ncilau,~ bcrXcuffddnmaf bic
e linbmhtnbc un~ ~attc al1ßcbrad~tlro war b& eaMc:O)1·cnrcf2~.
{jd~c (!l4'fcr2k~t in ben
es triefen be~ XcutfdßI i\lie gcfd2riebtn pc~
~\t :,2i,".1. t)ap D'e smIQCl'fpeu~'ß(n f&11~
'n DC6. ~üifftl6 6rr"
J, Gerhard, Erklärung
225
Stl',cfm/llOn llltld)CIl tle ßctangrn finD All frfotm mJHJUl/
auc~ auff biere 6alnben~anbe gc:fol,get bi~ 6triffe. be" ~bieelUnb bel- ~eHen <;aanbtll))faf.n 6• 6rrtäe D(6 ~ODtt1S J)attl'l1 nHd) umbfanqen/~ngfl Der J)tßtn battem'd) trof'
(fs fcyn
fen / ~a wir waren aUe gefangen in (im .. ~I'u~c:n batinnen fein WaJfer war~ad~;am9' ~cnn burc~ bie esühbe §atte ber 2(uf~ fd Ollac~t ü&erfommcn I mit lfelfdn bes clVißen $tobte& unb bea: ~dLe"uns·lu 6inbcnl g(Cic~'1t1ie er fd6cr lVcgen feiner ~&crtrct~ tun8 mit jfetten ber trin~crnif,ge&unben I unb ~ur J)dten "er~o~ fCnh..?)ctl'tum 2..unb btutUt wir erftnnen ntogenlba6 tuir unferel: ~atur/nac~·afCe unter folc~tnßefd~rCid2Ctt ~anbtn beo ~cuffd& ri~"/fo· "er~d"gd ~..C>X~I bäV tJtr ~cuffd manc~c~ bit ~unße 6inbetl ~arti.am i. ba~ er i§t~r "~detl bit ~fallfe/ ~rct11tnb ~"~ bere @}licber binbet I bap fie bcrrd~cn nic~t 111"68,n brauc~ctt/ fo~ t~cS "er~dngt @;.J.)~.barumb '; ba~ man barauO fc~e/t11ic be' Xeuffd WC8Cll be!r.~iiVbe wo( 1l6cr un& aUe fo",,~c OJ?acf2t §cttel ba~ er nic~t aLLein unlfr' ieibe~ @JCicbenufo··binZ,/ f~Jlbcrn auc~ baV·wir an ..s,drib~ utlb·ffllJT( ße~Unbtn:in:bie" ewißetJin~rnifj moc~ten §inaup ßcwortfm wcr~cnlrolatt~~ 2.1~'.• ~afi nun bicfc~ t'lief2t gcfc~i~t I unt,. ba~ wir "on tsicfcit gefa§rUc~e" <.:8anbcn beO Zcutfef6l!Zobtc& unb bCr ~cUen fonnc:trttfoft·t w.crben / bae §a, 6ht1l'ir aUe in [~ri~o &11 bandeitl1l'dc~cr ßc~ umb qnfert lViI1~n ro wiUiß ~(tt '(lIT~n binbettl bap wirm.oc[2fcl1 l'on·D~n€5iit1bcnbat1f. lien ·crrcftet.wetbm /Z,atumb ~(~ct "on i~m ßcfif2he~cn ~ac~ar'9' 2)a9'rr bllrme 231m fetnce·2;unDt6IoB ht~ft ·Dle ~cfanqt" nm Qn~ brr Q3rubcn ~Qrfnntn.ftin ®tifTrr tttl "nb ,tr reiber rv.ri~t.J.)f.am73.~äVitd: l)'ir IDlifftf:ba t<Epbra'm ,,1 bufam. mcn gcbunDen I unI> abu 6tinDc tfl bebalten / abcr tcf) tuH 0" trtMrit alllS t;)rr JjtOtn lIlll1tOll trnrtobUl'r.-rttn. 'X?n rtrtr ~ ~tur n~lcr, (ißCI11Vir aUe in ber ticffcn ~rubel1 I bar~u6 ~,fc~~tr.lli,r~tm68cn ~"~ ~i8ncn !'rdfftm §CNUP ~u ~ri8(llIC& ifl .t J 'Ul'~.
226
C~tiflUG ft'irb ~U ~4tttf.M
16
ctU,~ in b(tfd~(".@Srlibcn-fein ~ro~'l'aITer nocf2 ~'qtltcf:ui1g l~ 6tr.q~l'i~u~;'tlfet ,mo ,auß bafdbcn ~ru~(11 burd2ß ot;8urt.fciliZ~ft6 :lugen g(~irl2 Cl(4i in cil' Q;ih1bleiu,gebunt>cn / bav J,Vir .b.erer ~a'bcn .rotten ctl'i~lße.t>llIlDcn !Vtl'bdt/(DUettwir ~er ~lCuon CFa'ettet ttlel'bcn/.bt'lV l,nf~J'Cecdcti fOllncn ein8cbunbcn tl'etben 'neQ?>ail1blc.tn bcr.«6cnbfßt11·b(1) beln J)f~~'n un(ct.m ~..c>XZIJ.64J1tU(~"f,fo nlulkQ:'J~rH1u6 (ic~ .awor 41fo Lnf.fet\bU1~~/~n bb ie.gr.c9"e @)tt4b~:unf -CS;U1Cl'bCllI,ba 6
'bur~ bie \J).tcbigt bee J).~uanßchi bctl~fll1l8(1lcn cine~rl(bi~ .autt81 unb ben@;c{)uttbcncn e!ne wi,·~ angc(ünb;getl.(t~
offnuSW
4, ~ivtc~r~t (t,~no fd~/jU
~incrJ)tr,rlig.fdt dng,cb.tJ1 / unI) .pt(~jgt.n 1.\\1Tfllm fdntm mtlmm ~ufft unI) IDrt'gc{)ung btr 6tl.nbm (ml·Cl' eDen ·sn-öfdtt'n. Q:r wH faßCt1/atfo mu~e q'~ripllS lcil'cl1/unb ill fcittctU ~tib(t1 ~c~
14f1jit &il'lbcn! auff -baO er ~r .eal~cn. ~nt~inblln~
b1tr'~fd" cmort.un~-r6nt( Qn'lbtbißC" lafTcn/te'ln1t)(H~J>l"ir.uG
j~ affli
gc6ut:1ben I fo'~at ct'b'abU1~c~ b~n .torcr~(ulfd "cr .[~ri~ti~
~~ jfir~cn ei'toorbcn/baO in $l'afft ·~lfdbcn bm ~nrn~tt'fu'&fcr* figcn 6l\t1i)cl'n i~re·6tltt-btnbmtbdÖftn~ gdofct 1\'etbcn/banun{t f.;Uen tDfr.nun mit ~al1cf-6I1l::(it biere&} (tfml1en/lmbJllit~'lUib :faßcna~ßbcl1t'116"Pfa(~ :Ou haft mtitu 23an~t.!trrifTrn tm:. Wil .ch I)all·d opN,.trn f",Um Ut16 auc~ ~ütm/baO Ut1& bcr ZCllf~ (el nitttwiebcrulf1& bie €trufe bcr .eunbcll an beN J?a(r.WC"I'ff"c/ "amte c& nicr~e 8c~C l.tvic gcfcf2.rickn ~c'~'.t I.[f'li~ clrtt f.
cdofct/
227
__ .__ .
wsn!) l~ip9"8 ~Tu~re.
s:r
trtof't I auff @}.ottC6 ~gtn UAUer~iltDcrt foUcn tt'antldn I unO. nntl mit f(~cm @)lalWCt1'an.[~ri~um:6inbCtl'1 auc~ fur bctl!.tc~ ~f6 ·E5tridenmit·(ffdO'~alun. -
fU c~ Xropgc&tn a!ldl ttCtlCtl/",d~e:nmblQ:;eEdntttiti bet@;6tftb t~ctt War~eit u)iUen' gc~un~crt· werbtn I Däfj ~-( mit 6.'}>mrto Ct1t barfur J)altetf/ wtil an OCll8C6unbmen unb' gecreut;fgtcn [~r~ ~ltm -gfdu6ett/ut1b i~n ~cEetm(""baf, bcrwegcn ~4nbc' unb [reu,"
fit
i1incttei"c~~rtfc9n'1 (!)rDtncf~t~etm~ Q311'nl)rtrvri~t~auJ
tus 3um Clotoffcrn arit·40. ~1dme~r foUrn'wir ~~ ~at1Dm~~ri~' ~i cinßcbtntffc~n I wie' l~tn'ntmhcf1 tta'Cf2 bcm~Ol'&UO' J~(P~I' ~cncf. am 40. unb n\'lc~ bem·~,cmpd lJc61}),op~aen
t'-il. ...
228
,. 'DIt9'nrlogtllt.\Btrrtrl,bit ~atanb ~ob,
~ flnll IlGntc ~anbt, ~mllUnftr eribunb e~.
It.tbunbtnift,abn~~rlPu' I)cII bitfdbt lurilffn, unbfralftlo' 9flllClel)l,anbun' bltgdtlllellt mi., ii~1 rmIOtben, ~f unrer QJmiffm~ 1ft Gon bt. Q1crttHl!lnfla9t,1IIn btml!icl1mftn unbc;n,ro mAltDqllna, unb IIon btr .faUrODltll "urdlt bt. dIIi9t11~obrl. ~n gltf~it fiel) rin flIrllltf QJt(an§tlltr aqtlril tu~ltR DlU. tur btm .otmftr, unb fÜr fdnn unarttr, Qulb rur btm QJcridJI unb Url~ril,unb bCnnf'rbtred!macllunb 'tObe: 911 fo _lÜltn mir une In f"i9rcil rurcllltll mulTtn tue bem .otntftr bnn 'ttulfrl, btf Qual bt. tl1ligtll 'tobtd, filr ~Itt troigtn Sorn,mD un' €briflu. burcb ftint ~anbt !)Da Ditftn ~&Umbtn 04nbtn nieb! baUt ID~ gtmaC!u. 0c(), rin bö(c QJrlllißrn. un_ bir fta!igr,i\'Urc()l un~ Wngfl, finD fcbrtcflicbe ~anbtn Drr I!5ftltn, ballon I)cII unI €briflu. td&. frl. !Dit mtrgtbung btt l!iunlltn, b4' ~Iu! ~bn. fli lolfl bitft ~onbt Guf, unb mGd)1 baI QlrroilTrll frt9 unb frolicb. 13011). p, 11. iDu "fTell IIUII bcint <5tfllngtne burctllZllul ~ aunbt., QU' btc tr -&~rr bill mi~ ge(Qnb JU pttbil gen btn<5tfo1nQt~erl tinrlll &ttnung btn<6cbun. bdlrn eint Il!r~igung. mon bClI ~anbtn ~.t unI €briftu.rrloftl, ~l!On~Qrrb.lll, 11· fttbtt: Z!linbttibtJ;' <,Anbr unb S6fTe, IInb Q)fr~ i/ln In ~ Auffcrflt SilJflcrnlli binQu••
11'. ,r.
Amdt, Postilla
229
b)
~um ~"Iatrtlulf(f~n,"'it(bri"u.gt
i::e.a4,' I. r,,"1I!" Uil&gcbunbtn atirO. .9ft "or.ebll~el in 50" btn 'J)bililtrtn. bei Pt bit eClOl 01. 0uIIOft .'fan,
sm habmm, unblfü~rtltn, Clllfr fit nd!ttt Pd! 811'OQII19 Gn btn W n. QJltidl l'Oit Die '))IJlliltrr iaud!~ltn, bG fie mfon ,rrangen nQbmrn, aM Ibn JmOl 9triel~ ibnrn lur großtn 'lBtberIClIIt, !Ja ~alicOelm(onncOtlt•. !i)jefe0anOl finl) unft. ",140 nWmbrll, Hf ~fQnJ1lif ift unflft tl\'lac frli. ftn,. Ditre 8d)ma!tl1lt unfm f~re. mllr foaen un. reinef ecblll4d) unb!&nOl nidll r"'llIen,rotil rrfllb un!im ed!mA~ unb 0C1Db, lII!(ir 8t~. Dltt.
230
I
2!O. I' 2.7'· _ _ 12.0, ~cn (~IUllren bur Jlrr uid)t (\~nr 11rli\o, lltn~, fdbigen gm bny 1,01)e,1 ;rtml .\)anIl1l5/ fiU fO((~tr 1((1.4/6. Pti(ller/~anaS/(aipl)a~~ !9l'olfer tlornclltcr SYl'lnnl ullb Jo1)annes I bmh c~ iOer/lllcgCII l'Itr 'Uuichulb _
i~cO jJ~rrn/ill fernem ~~t~ :!\lilfen tl~erb(llg~t war / IWI\rbt3~l1lbic6trlrt linD 't~'lnDe lalfen "bncmltlillD . c9 ~11 feinem ColI('gen: ~rnt &lel&
n(l: cin JI11)1= dm ben ah'l btt'h ttgircte.' ~u\\lib(r Mi ~ott(jcf)cn .ort'nung I Diei !I1umrr, Da tvoU( 1bll~ cin »l'~(r;1 HI'f· ,,~ieticr fllltc fo Il1l1g am
I
brud' in IInfcrlll ~c1t I Da~, ~ClI: 'Vlllllnllfj 41lfo berl ber C\['iJctrtttcnrjJo~cprj(l J) ~ -:X 9\ nl1m, lVi' 'Corl fiel' I,lltJtJl1E1 Den ~~rrlJ ßc6unbcn !Ur ~(lip~C\m !Jcbunben ~,,['cbllm Je~tfCI gcfu~rtt ""rMl: ge6un/.
gmllbcn
-?o~enpncOcr
1...
"
(atpl)1l gcfenllct. ,\\tt/fagcld) nocf} einm"l' 12.2. ~cnn c~ mödit' (~ mu8 Der {J~n \)on Dem a.f*
I
~ '_ -
sn iiij
tm, -
J. M. Dilherr, Buß· und Passionsbetrachtungen
231
17f.
~7+·
-
'(3d,ukcrn I Die Den -!)iiii ~CII/b(I) DiCi(i1~cffdn/b(" md tragtI1/UnDallft~dcf) Dicfcn ~ctt(ll t Die, fro",(r~ ®unD(nla~ 1$0. DlffCe forf! bu !Jt' Df~ gan~cn mcnfd>(jcl}a benttl, mein lieber §~ritt/ ~efd}'ed}r~ g({t!Jtt ~,. MfllHef(~ fCI) bcr gCbl1f,
118. ®,j( I(gl~allbe a~ tt~e ~(aaC/D(n fCin~iln~0~~... ~ ,\lfilig.ctJ leIb / Den Dil Iifcl}cr!ßattcr biubtn 'affel tiA'p~int "n~ctCl' / un~ All 3~1t1 cin an~ncme5
~11i
rau
',Don. 7 10.
tau(enbmal taw Optef bll ~a~cn. afjN(~ bknCtl/unD Jc~n ~5 ~I) ber gc~or(dtne
~ut1tlcrtmal
tau(cnb
~l'((P~J ben
feine 'Cigc~(,I!1!::17
aufWarten. i:' ~r grcul :hc n\~"r.unb'lII'nb ISru6tn ",urfen /
In
.
i
hd)en ~lin~ciC! .D ber un Ibc,""d} \'crt auftcn: tinb bil" .(~rtcn~.e~cit ! l~irfc5 f(~' ber Ranfe 119. Qt.a5 fll!l iro l'IOdl ~6im(on/Dm feinc d!lenci ~:: 11· nur geDencfen ~c" btcfc~ \C'ltIMleutc 6unDc/llnll Dcn\ : - ~~enibt') ~~fcn ~~_ni 1~~ilillcrl1lUlcr9,~6cn: ba~ _ Wl t'i ~Ic.' .., . . . . ben"
I 170• lliefe~ fCI) bM
.
;
177.
{f~ritl / b"~ blef(-~atlDc
rcd)te IlIn& ~u gut tommen. ec~lad)tl"nil(in/ {\lcll: l1)es .;u\'or tIlllflc g(6unben, ! m. ~if/ a(s C8ottlofe/ l'Ocrllcu/(~e e5 "'tlrbe auf~i !ltIaretl ~crrtri'tt tn bem ~r.L 17. 9/' geopfert. ~r,fe un(era ~Qn~ l31. Qnic brnn Der bciligel !bc/t\)ie ~a\' ib reDet 'In 9·(Be$. o~nc 3ftXifd ~-icraut 'Pfar. un(er( ~mdl)atf!~o::SI gcfe enl ",(Im bie mcind~ Ngc ~ottc ~~riflum eben; ~att( u~ (tntfangml t;ar4.)\l ed)atiboa:/ Otlir unb \~ir ~,,{bm. mit (~ scnmnd ",urllc) 'U Di~ bcm eltricf unftr,r\ €StaDt 3Cfufalc," ~,"eillli 6itnbe gel}alten / in' .f~r(t/Durro ",c(roes ma~ i~nflCll Die 6d)4~cinl f~ e"ridit".e"r.41n ,.~ap.! !bWUOPfef gc~!aud,t ",url; 16ciCf~ bctltobe& l}4t~ ~r;~ 16/ il!(I1/ftl~ctc.
I 1th
ilnlfan~11
231.iDicfCe forfl bQ fct1la1 1110. ullil "Pfal. ja bcr -eUre _ibcbcnd'en / lUein (jc6cr: \~att( un(.!!lJt (~incn _ _ i ~~rW g)l 'li elfl' _._------i
~
232
•-;;;;~<5tricfen'7'·gefangen I ,/16, u(dnemQB4lenlin tltr
I
179•
In lltr~".an tli(~br. im;>". ~.untl macf>ct roll r I was (ang ~utlor lIurcf> tlen 'Prol 2.. an 'ltnl.lm l.§ap. unD p~(teit Ofcllm war tlC~1 ~::~' (olten un~ J)anbe uttb flmNgct wortlen: ~e ~itlTe ge6unben / unb ~WlTct~at (fp~ra'm I~ Of. 11/ it'ir in ~'~n~«niB lu(ammen,~\.'6unbenl n/14. ~mauß gciOOrffC wal unb i~re ~(mbc ift 6c~
ben/ ba JXufen unb ßaken: 46cr' ta) Will ne ~"~~fJ~c" itym4lt, irlöfen'attß ber J)bUe/
Im u~.ß4p.
,;,' ,',
":J~+. i:)a~(tlf."" tVi~ 56;'1 bet: tt:lcbilltt &'Ddrbell I (6ft
unb \Xlm Zob '~rrettil
fm)3, §. MO ",f(nun tt1ft
~r~"IM0d) futlll11itr Da
\jreutlfn fagen to"nttl:
in
Jj~rrt1
~6."'it!'(k'lm Iittl@~m.1 bu f)a{l mctnc ~an~e~I;~~6/ lun6enecft/ut1 \'On bcn iun/Tett : bir- ~in tel) !<5imbem a6ge(onbcltl ~an'fopf(rt1/Unb bcß _ J
233
J. J. Rambach, Betrachtungen 234
dufTerl.1!dbm --- ----------(Iberba~
[bt:i~i im Odgartm.
187
~rafm ll/IJ. <5r~tTe Sarrf;t baben mid) umgc# ben / f~tte
,tnI
eie na~men Js.e.fum ~iJJ..
60 n.hld)t~ bic Q\ldt gU~ 235
236
237
X>it firbcnbt !Sctl'acbttthg trad)tct I ~('c t"irb baburd2.;u einem fro/lt1iUi~ gen Q5eboc~lm gegen feine
------
(~firr eine (f!)l'e fd'll~tn,.bem Jj~l'cn DU bienen,lInb ",enn mall gleicb (eine \)ö((ige_3rcl)~eit bdttc, ,v{lrbe man fie 1)ocl} nicl}t mifjbL'aucf)cn. D wie fellg ffisl feine anbCl'( ~anbc tl'agen, al~ bie ~anbc bel' ~icbe al11>(fl1 E5tricfm bcS. 6ata~ , bel' fommc mit fdncn Q)anbm an (!~riflo, 'vic jene ~ ~l1C. IJ, 11. bie od)tAci)ll gabe r\'~11l Satan" Acbunbtn Acwcftn; fl) Wirb Cl' auCf) J)ulte unb ~rcl)btit erlangen.
238
Anhang II Brackes-Passion: Jesu Gebete in Gethsemane (zu S. 124 ff.)
..
239
-tH (0) 1* ~i!:iu6.
pttrn'.
mir fllß idj: c&tIIO(~ btr .pllr,n tuirb &t\lcVnta&lfrciblll <:!DirO Du fd)on DrdlllaOllllid) Utrloußlltt I)aben. i(~ tuiU lml'lugncn ulID uedaffm. Qltr,it6tt I)itrl ieb t\liU 6l\ mdnem Q)af(r trelen; ~cblalft abtr nid)f / btlll1 eil in 2tit &u beIm. SOLILOQYIO Aria [.
)~il/i.
~<.Ein ~ottr! ~c()oit/ t\)it ic() midj 'ludre/ ~~lJ
i)ctrll6et lidj 6iß Oll bm ~obt.
~icr, Drllctt
ber6ul1i)tn Clenll1er,~an/ SJJlicb anglligtt OetJ 21bgrunod 6d)mttl1/ ~1ie~ roiU tin fd)lamm igftr iJ)lorn/l/
mer @jrunb,Io/i ifll bebed'en.
~lir vrtOt Der .f:>oUen t"HOt @}rutl ~IUd ~tin 1I11i> 21btrIJI OOlarcf Ulli) QJ/UI ; Unb rotil icb lIocb AU aUen ~Iagen
ffilllf; Oeintn @jrilllnt/:O maUrt tragetl' moa: !'Utlcbtsn I1Ue ~Jlarter Itiebll ~o
in tein ecJ.>lIIerflt Dee meinem ß(ti~t.
3fhf ltlogfi,O boß !Dein 30Clt ~djflmtl (50 (oß btn J\dcO uorti6tt: grf)lll ~I)cf) ltU'tm / 0.3llttr J nicOt mein m3i((t/
IDein m;me nne oUdn gt~OtOn. Ariofo. ;:~/(r I·.'R.
240
8imbtrl fd}aut mit SlIrd}t uub öagen U!urer 61IllbC:/l8~eura~1 (In I 10/1 bc:rttllmr 8rratf unb plagen <6
--tH (0) H.
<ElIangelin· ~it !pein "ermeorte fI(~ mit graufamm tr(d,i'ItIWlI ([301 baU er raulI1 \Jot 6d)mtr~m rod)efn funt: sman fal) bit fd)",ad)e @/ieber &illetn I Sl'aulII atomtte ftin trod'net Wlullbl !Valt &angeS..Jtrf~ ~lIg an (0 pard AU flopfftnl maU blutgtt ~d)I"tig I in unge&t!)lrcn <:tropffmJ 21u~ aUen 2l~trn i:lrangj miU er Aurt~t biB auf Den t;tob gtquOltl QJoll ~{l1g/ll &trmarrtrf 1 ~Qlb CIllf(c/t1
Q}ar mit Dem 'tobt rang.
241
Anhang III Brackes-Passion: Jesu Geißelung (zu S. 155 ff.)
242
*1 (0)
Hf-
pt
SOLI L 0 Q.V 10.. Arioro. Die gl&u&fge Jcb (cff an einen Steilt gebillfben I
ecclc.
iDcn tedlleinl ~cr cin SCIlc:n8rein iDerew'gen .f!.itbe rcbeint ~IJ fCyn; 'JDenl1/ alls brn l\itJ(IJ Rillr:r t1:)lIf1bm, Weil er ~ie
21uI.' jebtm tropffen ]jfuc ber J!,iebe Sunden fi.'rim
gell,
~rult1f(Stdel rd)llu mit Qnl1lid)ul1 QJtrgnllgenl
s»)lir hiUtet ~uffllnO mit btfltlllnJtel!J .fJtrUCI1I mein .pimmdceid) in feinen (5d)llItr(ltnl <:mie bit Qur~ol:ntnl oie ibn 11rd)CI1 I meiJ ~immtl~ (5d)lüfTd,~ful1ltll &ILI~nl !Du tann Der Breubm ~rlld)t l!OIl feintc ~trnJu6t 6rtcbm•. '6d)alllroie Ilie rolucDcr ibm Iluffeintlll U\llCrtn pßI'lgell -;mit tietf/,l'Ilie grQufam rieff fir ibte ~urd)tI1 Aitl)11 ( IDit er mit feinem Q3/ur btgiefTct, quorau~ bel: lollrm 9ßtlt Ord ~tbtnd ~rnbt' tlllfptierret) SOl ja ! au~ 3~illd ~lriCl11en ~iemt
Q:in Q}Qlfaml DelTen ~lIl1bet:'Xt~tTf mon (olcbte (dflltn Q;igen({~affu IDu~ er fein tinne nid)' J nur fremoe SIDunbtn Ödftt/ lln' ~tben/~ulll/110 '.troffl i~," fel6~ Om 'tot> mbeiftt" Arier. ~<E1ll ~illtlm( g(ticOt f?i1l6Ultt'ae~riCItt, tDi; ttr 9tllCfm! ~m mcgm·$ögtn ofme 30f)( ~(~ fauter tn,3cfdjen/ fcßltulcfttt; IDit (bn Nt 6imb<~[u6t untre~ (54)u(~ uer-
Itlgct) IDtr 60rbtn Q(c6e (5onuen·€;troOl :Jn ffint6 ~hlteß 2Bofcten/3tigrt. Ui
~ua~
243
--tH (0) Hfqf4ngdi~.
c:mie nun half Q)((u mil ~Irobrntn uott ibm rannl ~a ,o~tn ~e
ibm fimn q}urpllr onl
UI1~ frobl1ltn ibn I ,U oeOo groffmn {Jo~nl Wlii cjnrr~orntn'.5trobn.
SOLILOQY 10• tO~f'! Si~n,
.t\ ri~. ~3c ffioRIl trönen fonll ~tr rouOcn IDorncn ~ . 6piöm I ~te foutt~ I ~oß bier ein ~Ol11 bit ~oton~·
.more frönt ~ ~" ouf bie moren fonti ~(ltroto 'Pcrlttt tbt'dntl ijnlt,gt Oicr bft mote Id611 9tu6inm on alt fc()l"ium. :10 wo()( tt&dtmUd)c 9tuMnetl!
IDit OU5 gcrolluen"lJr ut ouf.)~rUL1e;tirnt ftc(m r ~d) weiß/ if)r \l)erbet mir aU1ll6~lUUCe ~(~ <5cden bitltm ~ Unb b(tltlO~ f"n fc{> cuc~ nic~t oOne 6c()tecfm f(f)ll.
mm'dtgnn !notn I Q3ot6arfd)t ~pi~nt/ merroiloerr ~)!otMlliOroll(b/l)alr eint GoU i)iefett S;>anprtd ~'ffenbtill stein ("rOOte etaebt! ßan(~ ,mUlm t
c.:Dm"anOclt wd> llielnttbr 111 €Iablllnb ~rii1Aml ~t1rcf) Diefc~ WlorOerlS)crtj all Drinneni ~ie ':titgetl feine ~)ltnl(bC\1 fevn; ~od) ~tr lltl",luq,re (5lraucb illlaub; .pot/roie mit fnit(cbUlbtm @.imlllld)1 e;tin Si)cad)tn 3abnen gltid)t~ taub :;Ourd)Drinaet (5ebnenl ~i)eml ~Ieif(~. I
Arb.
clWl~C6 bOc{> btcft
btr6t ScOmtrötn/
~ijred)e~ eun~trl Di~ an .pt~~cnl
244
~"
-tH(o)Hf-
2'lU botttt 2C. ~!t ,arten e>cbhitft finb 6i~ alld ~urd)(öd)err uni) 'Durcl)&obw 6(~au I Eitdtl fd)ou I
Qlebirne
~ie \)011 ver Q}oltlid)sfd)ontl1 ~rirl1tl QJlticb tintm ~urpllr'farbnen c.tbauJ SOcr bOn! ßtmrnttn S.;>iltlmtl fid) tl'ßit~1 ~il1/autt Q)a~ "Oll billIgem S).'urpur ßie~.
Aria.
m~rU I bicß mit unfCm (5ccren {IDj 3lt ~trlnd()ltlt/
<5cOtt1f(~t bein Iftbenb .5cr~ bor Qic6t; 30 bu gitfltl1 in bic
!.fm ;d!cr fcy
i~m lJnrcn~ö"ig:
fevfl bll Jubc"~Z\ö";q! Q;1!"n9di~. 3« f'bmeltn fi(b nicbll ibm ina Q.;tficl>t ,u fpeim. a;t~rüfTc:t
Aria.
Xoq,tcr3ion. ~(rr)dUtttcl1 bU/bu<5(~mttUl'trm>dU ~<spCit bein 'i)o~ltßttl1 mOcOnl/ ~cu6t ber ~r(lc{)m/
~eltl bel' one IDing tr~l\(tl U5
e5c{)r({nt 245
-tH (0) Hf-
(5e{)(eim unb <ßeifcr fnlf (ßc~djt/ Unb bie .port bcrl~lfnßt bte{) nfdjt l €"lIhBc(i~. llBorauf r.e mit bem Di06rl ball (fine S)dllDe rrugtnl
Gdn f
S:octlf(E
aion.
SOLIL0Q.VIO. ~~orlr(lttreunDIrI nimm in ad}t Si.)t~ S.:>eiIClI1D1S <5i)mrl·~tnl
fomnll mucge!
'Eie burd) Die J)tffrigfdt btr e~lage
IDie ~eult",,)oUt ~btictl frad)r I 2ßit r.e ftin bti'9t~S.Jirli crfd)fUml c:mie feine 'tQubenl~luatl1 fd)h)tUCI1I e5d)aul fein ~enCltlffct' .paarl $Da' "or mir 't1)QU !Jr/albt unD "oller focftn '"arl ~ni~t "011 ~~tmtaP/linD flebt "on DietenJ ~111" !tjjeu allcas Duloet cel blo~ Di~ 6u gut. Ariil.
Im. <EH btr 2l3dt I bein fcßnttrblfc(j (dbtn/
U(S~rtcft bie(Scd'l1ltb brfngt U,rtjltltbtn/ ~tt bftlU)r nC,,\rmUcO fd)on.
IDurc(j bie 9Jt(\l·tcr/ bit bie{) brücfttJ
~Bi~b ~t t\\)igUq,
ttquicftt/ Unb n,r groutbicO onJufCC",. {>til btr lJßdt/lC. (f~4I1gdi~. 9Dit lIlan ibl1lllun genua
Q,lerfptlCumg I .QuQa/unD ~djn1adj ~QfI' Ql1gf'ban; ffiiti llIall U)1I1 ab Den S))utputl Dm et trugt UnD log ihn! Dtauf ftin' eigne ilcioe~ an i UnD rnDlid) fllbrtttl1 r., Ibnl ~QO Oe rbn CCtu~;gttnl ,ur ~abd~Qrre ~in.
Aria. n7ir brln c[~or ber gläubigen Seelen. S:o~'eralon. ~3rtl trlr altgcfO\'()ttlt <stdtn/
~
IDcOt alilf ~C~rRPOtJ ~örbtr·.pö(tn/ ~omll1t!
246
Anhang IV H. Müller: Vom Begräbniß Christi S. Franck: Auf Christi Begräbniß gegen Abend (zu S.181.ff.)
247
H. Müller, 9. Passionspredigt
248
Salomo Franck, Geist- und Weltliche Poesien, Jena 1711, S. 3lf.
249
Literaturverzeichnis I. Allgemeine Quellen
Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. v. Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, Berlin 1930 Biblia, Das ist: Die gantze Heil. Schrifft Alten und Neuen Testaments Teutsch D. Martin Luthers, Ulm 1714 Dictionnaire de Spiritualite ascetique et mystique, T. I, hg. v. M. Viller, Paris 1937 Fischer, A. - Tümpel, W.: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Bd. V, Hildesheim 1964 (Nachdr .. d. Ausg. Gütersloh 1911) Migne, J.-P.: Patrologiae cursus completus, Series Latina, Paris 1844 ff. (abgek.: MPL) Sehling, Ernil: Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bd. 5, Leipzig 1913 . Sämtliche von J. S. Bach vertonte Texte, hg. v. Wemer Neumann, Leipzig 1974 (abgek.: BT) Wackernagel, Philipp: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jaluhunderts, Bd. I, Hildesheim 1964 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1864) 11. Passionspredigten und andere theologische Quellen Alardus, Wilhelm: Der gecreutzigte Christ, Leipzig 1634 Andreä, Jakob: Passional Büchlein, Wittenberg 1577 Anselm von Canterbury: Cur deus homo - Warum Gott Mensch geworden, lateinisch und deutsch, hg. v. F. S. Schmitt, Darmstadt 31970 Arndt, Johann: Geistreiche Schrifften und Wercke, hg. v. J. J. Rambach, Bd. I (postilla), Leipzig und Görlitz 1734 Augustinus, Aurelius: Oe doctrina christiana libri quattuor, ed. G. M. Green, CSEL LXXX, Vindobonae 1963 Dilherr, Johann Michael: Buß- und Passions-Betrachtungen, Nürnberg 1650 (abgek.: BPB) - : Heilige Karwochen, Nürnberg 1653 (abgek.: HK) Gerhard, Johann: Erklärung der Historien des Leidens und Sterbens unseres Herrn Christi Jesu, Jena 1611 (benutzte Ausg.: Jena 1652) (abgek.: Erklärung) - : Harmonia Historiae Evangelicae de passione, crucificatione, morte et sepultura Christi salvatoris nos tri, Frankfurt 1622 - : Postilla Salomonaea, hg. v. J. E. Gerhard, Jena 1652 - : Schola pietatis, Jena 51653 Greiffenberg, Catharina Regina von: Des allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi Zwölf andäch~ge Betrachtungen, Nürnberg 1672 Gryphius, Andreas: Dissertationes Funebres Oder Leich-Abdanckungen, Leipzig 1667 Heermann, Johann: Crux Christi, Leipzig 1618 Herberger, Valerius: Horoscopia Passionis Domini, Leipzig 1607 (abgek.: Horoscopia)
250
Lactanz, L. C. F.: Divinae Institutiones et Epitome Divinarum Institutionum. Opera Omnia, T. I, CSEL XIX, Prag 1890 Christi Leiden in einer Vision geschaut, hg. v. F. P. Pickering, Manchester 1952 Luther, Martin: Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff. (abgek.: WAl Luthers Evangelienauslegung Bd. 5: Die Passions- und Ostergeschichten aus allen vier Evangelien, hg. v. E. Mülhaupt, Göttingen 1950 (abgek.: M.) Moller, Martin: Meditationes sanctorum Patrum. Schöne andächtige Gebete ... aus den heiligen Altvätern Augustino, Bernhardo, Taulero und anderen, 2 Teile, Görlitz 1584-1591 (abgek.: MSP) - : Praxis Evangeliorum, Lüneburg 1601 - : Soliloquia de passione Jesu Christi, Görlitz 1587 (benutzte Ausg.: Lüneburg 1746) (abgek.: SoliIoquia) Müller, Heinrich: Anmerkungen über die Leidensgeschichte Jesu Christi, hg. v. A. H. Arnd, Frankfurt 1688 - : Vom Leyden Christi, neun Predigten, in: Geistreiche Paßions-Schule, Frankfurt 1688 (benutzte Ausg.: Frankfurt 1720); auch in: Evangelischer Hertzens-Spiegel, Frankfurt 1679 (abgek.: Leyden Christi) : Vom Leyden Christi, acht Predigten, in: Evangelisches Praeservativ wider den Schaden Josephs in allen dreyen Ständen, Frankfurt und Rostock 1681 - : Der leidende Jesus nach den vier Evangelien. Ein Passionsbuch, hg. v. J. L. Pasig, Halle 1856 - : Das Leiden unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi. Neun Predigten, hg. v. A. Hartmann, Nümberg 1862 Musculus, Andreas: Precandi formulae piae et selectae, Frankfurt 1553 - : Precationes ex veteribus orthodoxis doctoribus, Leipzig 1575 (abgek.: Precationes) 01earius, Johann: Heylsame Betrachtung deß unschuldigen Leidens und Sterbens Unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi, Leipzig 1666 Paßional-Hand-Büchlein, hg. v. L. A. Glauchen, Leipzig 1681 Pfeiffer, August: Magnalia Christi. Paßions-Andachten, Leipzig 1685 Rambach, Johann Jakob: Betrachtungen über das gantze Leiden Christi, 1730 (benutzte Ausg.: Jena 1732) (abgek.: Betrachtungen) - : Betrachtungen über die Sieben Letzten Worte des gecreutzigten Jesu, Basel 1739 Souchon, A. F.: Passions- und Ostersegen, Berlln 1857 III. Passions- und andere Dichtungen Brockes, Barthold Heinrich: Der für die Sünde der Welt Gemarterte und Sterbende Jesus, in: Verteutschter Bethlehemitischer Kinder-Mord des Ritters Marino, Cöln und Hamburg 1715 Der Geistlichen Erquickstunden ... DocL H. Müllers ... Poetischer Andacht-Klang: von denen Pegnitz-Blumengenossen verfasset, Nümberg 1673 Franck, Salomo: Geist- und weltliche Poesien, 2 Teile, Jena 1711-1716 Fleming, Paul: Deutsche Gedichte, hg. v. J. M. Lappenberg, Darmstadt 1965 (Nachdr. d. Ausg. Stuttgart 1865)
251
Grotius, Hugo: Leidender Christus Trauer-Spiel, übers. und eingel. v. D. W. Triller, Leipzig 1723 Gryphius, Andreas: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hg. v. M. Szyrocki und H. Powell, 1963 ff. Henrici, Christian Friedrich (Picander): Erbauliche Gedancken auf den Grünen Donnerstag und Charfreytag über den Leidenden Jesum, 1725. Abgedr. bei Spitta, Bach 11, S.873-881.· -: Texte zur Paßions-Music, nach dem Evangelisten Matthäo, am Char-Freytage bey der Vesper in der Kirche zu St. Thomä, in: Ernst-Schertzhaffte und Satyrische Gedichte, Anderer Theil, Leipzig 1729 (Faksimile in: BT, S. 321-324) Hunold, Christian Friedrich (Menantes): Der Blutige und Sterbende Jesus, in: Theatralische, Galante und Geistliche Gedichte, Hamburg 1706 Jacobi, Johann: Der um unsere Missethat willen verwundete und um unsere Sünde willen zerschlagene und gecreutzigte Jesus, Trauer-Spiel, Zwickau 1680 Klaj, Johann: Der leidende Christus, Nümberg 1645 - : Trauerrede über das Leiden seines Erlösers, Nürnberg 1650 Neumeister, Erdmann: Fünffache Kirchen-Andachten, Leipzig 1716 Opitz, Martin: Geistliche Poemata, 1638, hg. v. E. Trunz, Tübingen 1975 Auserlesene Passionsgesänge (Merseburger Gesangbuch), Merseburg 1709 Ramler, C. W.: Der Tod Jesu, Berlin o. J. (Textbuch) Rist, Johann: Der zu seinem allerheiligsten Leiden und Sterben geführter und an das Kreutz gehefteter Christus Jesus, Hamburg 1648 - : Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten, Hamburg 1664 Telemann, Georg Philipp: Seliges Erwägen des bittern Leidens und Sterbens Jesu Christi, Hamburg o. J. (Textbuch) Ziegler, Caspar: Jesus oder Zwantzig Elegien über die Geburt, Leyden und Auferstehung unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi, Leipzig 1648 . IV. Darstellungen Ackermann, Ingeborg: "Geistige Copie der Welt" und "Wirkliche Wirklichkeit". Zu B. H. Brockes und Adalbert Stifter, in: Emblem und Emblematikrezeption, Vergleichende Studien zur Wirkungsgeschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, hg. v. S. Penkert, Darmstadt 1978, S. 436-501 Alpers, Harm: Die Versöhnung durch Christus. Zur Typologie der Schule von Lund, Göttingen 1964 Althaus,·Paul: Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur, Gütersloh 1927 Auerbach, Erich: Neue Dantestudien, Istanbuler Schriften Nr. 5, Istanbul1944 - : Sermo humilis, in:· Literatursprache und pUblikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bem 1958 Aulen, Gustaf: Die drei Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens, in: ZSTh 8,1930/31,S.501-538 Axrnacher, Elke: Ein Quellenfund zum Text der Matthäus-Passion, in: Bach-Jahrbuch 64,1978,S.181-191
252
Johann Sebastian Bach, hg. v. W. Blankenburg, Wege der Forschung Bd. 170, Darmstadt 1970 Baier, Walter: Untersuchungen zu den Passionsbetrachtungen in der Vita Christi des Ludolf von Sachsen. Ein quellenkritischer Beitrag zu Leben und Werk Ludolfs und zur Geschichte der Passionstheologie. Analecta Cartusiana, hg. v. J. Hogg, Bd. 44, Salzburg 1977 Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970 Beck, Hermann: Die Erbauungsliteratur der evangelischen Kirche, Bd. I, Erlangen 1883 - : Die religiöse Volkslitteratur der evangelischen Kirche Deutschlands, Gotha 1891 Besch, Hans: 1. S. Bach, Frömmigkeit und Glaube, Kassel 21950 Blankenburg, Walter: Die Auffilluungen von Passionen und Passionskantaten in der Schloßkirche auf dem Friedenstein zu Gotha zwischen 1699 und 1770, in: Festschrift F. Blume zum 70. Geburtstag, Kassel 1963; Wiederabdr. in: Kirche und Musik, Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der gottesdienstlichen Musik. Zu seinem 75. Geburtstag hg. v. E. Hübner und R. Steiger, Göttingen 1979, S. 240-251 : Die deutsche Liedpassion, in: Musik und Kirche 9,1937, S. 12-22 : Art. "Die protestantische Passion", in: MGG X, Kassel 1962, Sp. 911-931 Bornkamm, Heinrich: Mystik, Spiritualismus und die Anfange des Pietismus im Luthertum, Gießen 1926 Brandl, Alois: Barthold Heinrich Brockes, Innsbruck 1878 Brausch, Paul: Die Kantate. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtungsgattungen, Diss. Heidelberg 1921 (masch.) Bub, Douglas Frederich: Das Leiden Christi als Motiv im deutschen Kirchenliede der Reformation und des Frühbarock, Diss. Bem 1951 (masch.) Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 51969 - : Ursprung und Sinn der Typologie als henneneutischer Methode, in: ThLZ 75, 1950, S. 205-212 Burri, Eduard: Johann Sebastian Bach, in: ZZ 5, 1927, S. 158-177 Chrysander, Friedrich: G. F. Händel, Leipzig 1858 c21919) Cruel, Rudolf: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter, Detmold 1879 Dibelius, Martin: Individualismus und Gemeindebewußtsein in J. S. Bachs Passionen, in: AfR 41,1948, S. 146-154 Dürr, Alfred: J. S. Bach und das Kirchengesangbuch, in: JLH 1, 1955, S. 120-122 - : J. S. Bachs Kirchenmusik in seiner Zeit und heute, in: Musik und Kirche 27, 1957, S. 65-74; Wiederabdr. in: J. S. Bach, hg. v. W. Blankenburg, a.a.O., S. 280-303. - : Kritischer Bericht zur Matthäus-Passion, NBA 11/5, Kassel 1974 - : Die vier Fassungen der Johannes-Passion. Zur Entstehung, Quellenlage und überliefemng, in: Vortragsheft der Sommerakadernie J. S. Bach 1979, hg. v. der Stuttgarter Konzertvereinigung, S. 67-86; stark gekürzt auch in: 57. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft 19.-24. Mai 1982 Würzburg (programmbuch), Würzburg 1982, S.92-106 : Die Kantaten von J. S. Bach, München/Kassel/Basel/London 41981 - : Zu den verschollenen Passionen Bachs, in: Bach·Jahrbuch 1949/50, S. 81-99
253
Dyck, Joachim: Ornatus und Decorum im Predigtstil des 17. Jaluhunderts, in: Zeitschrift rur deutsches Altertum 94, 1965, S. 225-236 Ebeling, Gerhard: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 11, München 1979 Eggebrecht, Hans-Heinrich: über Bachs geschichtlichen Ort, in: Deutsche Vierteljahresschrift für literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31, 1957, S. 527-556; Wiederabdr. in: J. S. Bach, hg. v. W. Blankenburg, a.a.O., S. 247-289 EIert, Werner: Morphologie des Luthertums, 2 Bde., München 1931-1932 Elze, Martin: Das Verständnis der Passion Jesu im ausgehenden Mittelalter und bei Luther, in: Geist und Geschichte der Reformation, Festgabe H. Rückert zum 65. Geburtstag, Berlin 1966, S. 127-151 Flossmann, Paul: Picander (Christian Friedrich Henrici), liebertwolkwitz 1899 Frederichs, Henning: Das Verhältnis von Text und Musik in den Brockespassiönen Keisers, Händels, Telemanns und Matthesons. Musikwissenschaftliche Schriften Bd. 9, München und Salzburg 1975 Geck, Martin: Die Vokalmusik D. Buxtehudes und der frühe Pietismus, Kassel 1965 Goppelt, Leonhard: Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen, Gütersloh 1939 Graff, Paul: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, 2 Bde., Göttingen 1921-;-1939 Greschat, Martin: Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie, Witten 1971 Habersetzer, Karl-Heinz: Tragicum Theatrum Londini. Zum Quellenproblem in Andreas Gryphius' Carolus Stuardus, in: Euphorion 66, 1972, S. 299-307 Hallbauer, Friedrich Andreas: Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie, Jena 1725 - : Nötiger Unterricht zur Klugheit erbaulich zu Predigen, zu Catechisiren und andere geistliche Reden zu halten, Jena 1723 (benutzte Ausg.: Jena 31728) Hamel, Fred: J. S. Bach, Geistige Welt, Göttingen 1951 Harnack, Theodosius: Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre, 2 Bde., Amsterdam 1969 (Nachdr. d. Ausg. Erlangen 1862-1886) Haselböck, Lucia: Studien zur Passionslyrik des Barockzeitalters, Diss. Wien 1967 (masch.) Haufe, E.: Brockes oder der Aufgang der Naturherrlichkeit im deutschen Gedicht. Nachwort zu: B. H. Brockes, Im grünen Feuer glüht das Laub, Ausgewählte Gedichte, Weimar o. J. Henschel, Martin: Figuraldeutung und Geschichtlichkeit, in: KuD 5, 1959, S. 306-317 Herbst, Wolfgang: J. S. Bach und die lutherische Mystik, Diss. Erlangen 1958 Hering, Herrnann: Die Lehre von der Predigt, Berlin 1905 Hermann, Rudolf: Anse1ms Lehre vom Werke Christi in mrer bleibenden Bedeutung, in: ZSTh 1, 1923, S. 376-396 Hirsch, Emanuel: Geschichte der neuem evanglischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde., Gütersloh 1949-1954 Hörner, Hans: Gg. Ph. Telemanns Passionsmusiken, Boma-Leipzig 1933
254
Keppler, Paul: Zur Passionspredigt des Mittelalters, in: Histor. Jahrbuch der GÖrresge· sellschaft 3,1882, S. 285-315;4, 1883, S. 161-187 Kessler, Hans: Die theologische Bedeutung des Todes Jesu, Düsseldorf 1970 König, Ingeborg: Studien zum Libretto des ,Tod Jesu' von K. W. Ramler und K. H. Graun, München 1972 Koepp, Wilhe1m: Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum, Aalen 1973 (Nachdr. d. Ausg. Berlin 1912) Krabbe, Otto: Heinrich Müller und seine Zeit, Rostock 1866 Krummacher, Hans-Henrik: Bibelwort und hymnisches Sprechen bei Klopstock, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 13, 1969, S. 155-179 - : Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern, München 1976 (Dazu die Rezension von W. Zeller in ZKG 1, 1979, S.133-134) Langen, August: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 21968 Leube, Hans: Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien, hg. v. D. Blaufuß, AGP 13, Bielefeld 1975 - : Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924 Lott, Walter: Zur Geschichte der Passionskomposition von 1650-1800, in: Archiv f. Musikwissenschaft 3, 1921, S. 285-320 Mahrenholz, Christhard: J. S. Bach und der Gottesdienst seiner Zeit, in: Musicologica et Liturgica. Gesammelte Aufsätze, hg. v. K. F. Müller, Kassel 1960, S. 205-220 Mattheson, Johann: Der musicalische Patriot, Leipzig 1975 (Nachdr. d. Ausg. Hamburg 1728) Mendel, Arthur: Kritischer Bericht zur Johannes-Passion, NBA 11/ 4, Kassel 1974 Müller, Heinrich: Orator ecclesiasticus, Rostock 1659 Neumeister, Erdmann: Die Allerneueste Art/ Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen, hg. v. Menantes (C. F. Hunold), Hamburg 1707 Niebergall, Alfred: Die Geschichte der christlichen Predigt, in: Leiturgia 11, Kassel 1955,S. 181-352 Oratorium, Festspiel, Deutsche Literatur, Reihe Barock Bd. 6, hg. v. W. Flernming, Leipzig 1933 Ott, Heinrich: Anse1ms Versöhnungslehre, in: Theol. Zeitschrift, hg. v. d. Theol. Fak. d. Univ. Basel 13, 1957, S. 183-199 Petersen, Peter: Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Stuttgart 1964 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1921) Pickering, Frederick P.: Das gotische Christusbild. Zu den Quellen mittelalterlicher Pas.sionsdarstelIungen, in: Euphorion 47, 1953, S. 16-37 Zur neueren Pietismusforschung, hg. v. M. Greschat, Wege der Forschung Bd. 440, Darmstadt 1977 Piper, Hans-Christoph: Ars moriendi und Kirchenlied, in: JLH 19, 1975, S. 105-122 Preuß, Hans: Bachs Bibliothek, in: Festgabe für Tb. Zahn zum 90. Geburtstag, Leipzig 1928, S. 105-129 - : J. S. Bach, der Lutheraner, Erlangen 1935
255
Rifkin, J.: The Chronology of Bach's Saint Matthew Passion, in: Musical Quarterly LXI, 1975, S. 360-387 Ritschl, Albrecht: Geschichte des Pietismus, 3 Bde., Bonn 1880-1886 - : Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3 Bde., Bonn 18701874 Röbbelen, Ingeborg: Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, Göttingen 1957 Ruh, Kurt: Zur Theologie des mittelalterlichen Passionstraktats, in: Theol. Zeitschrift, hg. v. d. Theol. Fak. d. Univ. Basel 6, 1950, S.17-39 Schering, Amold: Geschichte des Oratoriums, Leipzig 1911 Schian, Martin: Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt, Gießen 1912 Schings, Hans-JÜIgen: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen. Kölner Germanist. Studien Bd. 2, Köln und Graz 1966 Schmidt, Martin: Art. "Aufklärung, theologisch", in: TRE IV, 1979, S. 594-608 - : Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, AGP 2, Witten 1969 Schöne, Albrecht: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, Palaestra Bd. 226, Göttingen 21968 Schütz, Werner: Geschichte der christlichen Predigt, Berlin 1972 Schweitzer, Albert: Johann Sebastian Bach, Leipzig 1948 (11908) Smend, F.riedrich: Bach-Studien. Gesammelte Reden und Aufsätze, hg. v. Ch. Wolff, Kassel 1969 Spitta, Philipp: Die Anfange madrigalischer Dichtung in Deutschland, in: Musikgeschichtliche Aufsätze, Berlin 1894, S. 63-75 - : Johann Sebastian Bach, 2 Bde., Wiesbaden 51962 (11873-1880) Stackhouse, Janifer G.: In defense of Gryphius' historical accuracy: The missing source of Carolus Stuardus, in: Journal of EngIish and German phllology 71, 1972, S.466-472 Stiller, Günther: J. S. Bach und das Leipziger gottesdienstliche Leben seiner Zeit, Berlin und Kassel 1970 Tiililä, Osmo: Das Strafleiden Christi, Helsinki 1941 Traditio - Krisis - Reformatio aus theologischer Sicht. Festschrift W. Zeller zum 65. Geburtstag, hg. v. B. Jaspert und R. Mohr, Frankfurt 1976 Wallmann, Johannes: Die Anfange des Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus, hg. v. M. Brecht u. a., Bd. 4: Die Anfange des Pietismus, Göttingen 1977/18, S. 11-53 - : Pietismus und Orthodoxie, in: Geist und Geschichte der Reformation. Festgabe H. Rückert zum 65. Geburtstag, Berlin 1966, S. 418-441; Wiederabdr. in: Zur neueren Pietismusforschung, a.a.O., S. 53-81 - : Reformation, Orthodoxie, Pietismus, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 70, 1972, S. 179-200 - : Ph. J. Spener und die Anfange des Pietismus, Beiträge zur historischen Theologie 42, Tübingen 1970
256
Weber, Hans-Emil: Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, 2 Bde., Gütersloh 1940-1951 - : Der Einfluß der protestantischen Schulphilosophie auf die orthodox-lutherische Dogmatik, Leipzig 1908 Wiesenhütter, Alfred: Die Passion Christi in der Predigt des deutschen Protestantismus von Luther bis Zinzendorf, Berlin 1930 Wilhelmi, Thomas: Bachs Bibliothek. Eine Weiterflihrung der Arbeit von Hans Preuß, in: Bach-Jahrbuch 65, 1979, S. 107-129 Winkler, Dietrich: Grundzüge der Frömmigkeit Heinrich Müllers, Diss. Rostock 1954 (masch.) Winterfeld, Kar! von: Der evangelische Kirchengesang und sein Verhältnis zur Kunst des Tonsatzes, Bd. III, Hildesheim 1966 (Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1843-1847) Wolfskehl, Marie-Luise: Die Jesusminne in der Lyrik des deutschen Barock, Gießen 1934 Wustmann, Rudolf: Zu Bachs Texten der Johannes- und der Matthäus-Passion, in: Monatsschrift rur Gottesdienst und kirchliche Kunst 15, 1910, S. 126-131, 161165 Zarncke, Friedrich: Christian Reuter als Passionsdichter, in: Bericht der philosophischhistorischen Klasse der Kgl. Sächs. Ges. der Wissenschaften zu Leipzig, 1887, S. 306-368 Das Zeitalter des Pietismus, hg. v. M. Schmidt und W. Jannasch, Klassiker des Protestantismus Bd. VI, Bremen 1965 Zeller, Winfried: Theologie und Frömtnigkeit. Gesammelte Aufsätze, hg. v. B. Jaspert, Bd. I, Marburg 1971, Bd. 11, Marburg 1978
257