Kathrin Loer Automobilhersteller ohne eigene Marke
VS RESEARCH
Kathrin Loer
Automobilhersteller ohne eigene Marke ...
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Kathrin Loer Automobilhersteller ohne eigene Marke
VS RESEARCH
Kathrin Loer
Automobilhersteller ohne eigene Marke Aufstieg, Krise und Perspektiven
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück 2010 1. Gutachter: Prof. Dr. Helmut Voelzkow 2. Gutachter: Prof. Dr. Katharina Bluhm Tag der Disputation 30. Juni 2010
Gedruckt mit Unterstützung des Landes Niedersachsen im Rahmen der Förderlinie „Pro Niedersachsen“.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17885-1
Danksagung
„Going East – Internationale Automobilproduktion in den Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas“ hieß das Thema meines Exposés für eine Doktorarbeit, für die demnach eines schon früh feststand: Es sollte um die Automobilindustrie gehen. Zwar rückte das Verlagerungsthema in den Hintergrund, der Bezug zur Automobilindustrie und zu dem Phänomen der Krise in der Branche blieb. Über diesen Einstieg fand ich zunächst aus pragmatischen Gründen zum späteren Untersuchungsgegenstand: den „Automobilherstellern ohne eigene Marke“. Pragmatismus benötigt jede Forschungsarbeit, um schließlich realisiert und abgeschlossen werden zu können. Aber eine Forschungsarbeit ermöglicht es auch, sich (wenig pragmatisch) in ein Thema zu stürzen, einzutauchen, abwegige Fragen zu stellen und viel zu lernen. Dass dies möglich war, verdanke ich insbesondere meinen Gesprächspartnern in den ausgewählten Unternehmen. Ohne sie namentlich zu nennen, danke ich jedem von ihnen an dieser Stelle für alle Informationen, Eindrücke, tiefen Einblicke und Erkenntnisse, die er oder sie mir vermittelt hat. Damit das Eintauchen nicht zum Abtauchen führte und das Verfolgen einer sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeit nicht an den sich ständig verändernden Rahmenbedingungen scheiterte, war mein Doktorvater, Prof. Dr. Helmut Voelzkow, nicht nur geduldiger und interessierter Gesprächspartner, sondern derjenige, der mit fachlichem Rat und Kritik das Vorankommen der Arbeit unterstützt hat und mich rechtzeitig bremste. Dafür gilt ihm großer Dank. Prof. Dr. Katharina Bluhm übernahm die zweite Begutachtung der Arbeit und gab wichtige Impulse und Ideen, die in diese Überarbeitung der Dissertationsschrift einflossen: Dank auch dafür.
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Danksagung
Neben diesen Stützen und Begleitern meiner Arbeit danke ich meinen Hilfskräften im Projekt „Pro Niedersachsen“. Die Zusammenarbeit mit Swantje Kortemeyer, meiner ersten wissenschaftlichen Hilfskraft, verdient besondere Erwähnung, da sie sich nicht nur im universitären Kontext abspielen konnte und dadurch Fortschritte ermöglichte. Tatsächlich einzigartig ist es, wenn die Fragen und Probleme, die im Forschungsprozess auftauchen, bei frühmorgendlichen Waldläufen zur gemeinsamen Marathonvorbereitung diskutiert werden können. Das hat mir sehr geholfen und dafür bin ich überaus dankbar! Ronja Scheler und Raphael Dittrich begleiteten die Endphase der Arbeit und ließen sich auf „mein Autothema“ ein. Auch für ihre hilfreiche Unterstützung danke sehr. Die Förderung durch das Land Niedersachsen im Rahmen der Förderlinie „Pro Niedersachsen“ ermöglichte nicht nur Interviewreisen, Konferenzteilnahmen und den Einsatz von studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften. Sie erlaubte auch die zügige Veröffentlichung durch die Übernahme der Publikationskosten. Was zum Lebensumfeld und zu den Besonderheiten der Doktorandenphase zu sagen ist, lässt sich nahezu in jeder Doktorarbeit nachlesen. Verbunden sind diese Ausführungen mit dem Dank an Personen, die eine unerlässliche Hilfe insbesondere in den herausfordernden Phasen darstellen. Das möchte ich nicht wiederholen. Jeder noch so herzlich gemeinte Dank, der hier öffentlich geäußert würde, wird nicht dem gerecht, wofür ich mich bei meinem persönlichen Umfeld bedanken möchte. Dies folgt auf persönlichem Wege individuell!
Osnabrück, im Dezember 2010
Kathrin Loer
Inhalt
Inhalt ..................................................................................................................7 1 Einleitung .................................................................................................11 1.1 Fragestellung ............................................................................................11 1.2 Hintergrund der Untersuchung ............................................................14 1.3 Methodologie und empirisches Vorgehen...........................................19 1.4 Aufbau der Arbeit....................................................................................30 2 Theorieperspektiven ..............................................................................33 2.1 Funktionsteilung in der Automobilindustrie ......................................33 2.2 Funktion und Position der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“..........................................34 2.3 Transaktionskostentheoretische Erklärungen .....................................44 3 Branchenentwicklung............................................................................61 3.1 Phase 1. Von der Pionierzeit bis zum Wiederaufbau nach dem Krieg..............................................................63 3.2 Phase 2. Wachstum, Internationalisierung und erste Krisen ............65 3.3 Phase 3. Neue Wege, neue Märkte, neue Herausforderungen. ........69 3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren .......................................................................................81 3.4.1 Produktnachfrage – Produktionsmodelle..................................81 3.4.2 Gesellschaftliche Anforderungen an Produkte und Unternehmen – Produktionsmodelle und Innovationsfähigkeit .............................................................84 3.4.3 Arbeitskräftepotential, strukturpolitische Förderung – Beschäftigungsstrategie und Innovationspotential ..................87 3.4.4 Mitbestimmung im Betriebsrat und Verbandsinteressen........90
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Inhalt
3.4.5 Politische und ökonomische Veränderungen ...........................92 3.4.6 Unternehmensorganisation und Unternehmensfinanzierung .........................................................93 3.5 Akteurskonstellationen: von der Kette zum Netzwerk? ...................96 3.5.1 Kooperation und Konkurrenz in der Automobilproduktion .......................................................98 3.5.2 Bedeutung des Spannungsfeldes von Kooperation und Konkurrenz...................................................................................102 3.5.3 Zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über den Netzwerkbegriff...........................................................................105 4 Szenarien zu den Fallstudien .............................................................109 4.1 Szenarien .................................................................................................109 4.2 Rahmenbedingungen der Szenarien in den Fallstudien..................116 5 Unternehmensfallstudien ...................................................................119 5.1 Unternehmen 1 (Karmann) ..................................................................119 5.1.1 Unternehmensentwicklung der Wilhelm Karmann GmbH ..........................................................120 5.1.2 Rahmenbedingungen in Zeiten der Unternehmenskrise ......152 5.1.3 Analyse der Unternehmensentwicklung .................................161 5.1.4 Ausblick – Perspektiven für die Wilhelm Karmann GmbH .180 5.2 Unternehmen 2 (Magna).......................................................................184 5.2.1 Unternehmensentwicklung der Magna Steyr Fahrzeugtechnik AG & Co KG...........................184 5.2.2 Rahmenbedingungen in schwierigen Zeiten für die Auftragsfertigung ........................................................................195 5.2.3 Analyse der Unternehmensentwicklung .................................200 5.2.4 Ausblick: Perspektiven für Magna Steyr .................................213 5.3 Unternehmen 3 (Valmet) ......................................................................216 5.3.1 Unternehmensentwicklung der Valmet Automotive Inc. .....217 5.3.2 Rahmenbedingungen in Zeiten der Krise................................224 5.3.3 Analyse der Unternehmensentwicklung .................................226 5.3.4 Ausblick: Perspektiven für Valmet Automotive Inc. .............229
Inhalt
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5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment..................234 5.4.1 Unternehmen 4 (Heuliez)...........................................................234 5.4.2 Unternehmen 5 (Pininfarina) .....................................................241 5.4.3 Unternehmen 6 (Bertone) ...........................................................250 5.5 Schlussfolgerungen ...............................................................................255 5.5.1 Die veränderte Welt der Auftragsfertiger................................255 5.5.2 Ursachen für die Veränderungen im Branchensegment .......262 6 Theoretisches Fazit: Warum die Transaktionskostentheorie hier zu kurz greift .................................................................................269 6.1 Das Erklärungsmodell der Transaktionskostentheorie ...................269 6.2 Defizite des transaktionskostentheoretischen Zugangs...................271 6.3 Re-Konzeptionalisierung: Soziale Beziehungen in der Transaktionskostentheorie ...................................................................272 7 Perspektiven ..........................................................................................275 8 Literaturverzeichnis .............................................................................279 9 Internetressourcen ................................................................................291 10 Unternehmensberichte ........................................................................295
1 Einleitung
1.1 Fragestellung Karmann, Heuliez, Bertone – die Insolvenzen dieser Unternehmen in der Automobilindustrie offenbaren das Scheitern traditionsreicher Familienbetriebe mit ihren Geschäftsmodellen und Angeboten in bestimmten Marktsegmenten. Mitstreiter der Branche, wie Magna Steyr, Valmet und Pininfarina, leiden unter Umsatzeinbrüchen sowie einer gravierenden Verringerung ihrer Produktionsumfänge, müssen sich restrukturieren und neue Perspektiven suchen, um wettbewerbs- und damit überlebensfähig zu bleiben. Die vorliegende Arbeit widmet sich diesen „Automobilherstellern ohne eigene Marke“, die in ihrem besonderen Segment der Automobilindustrie innerhalb der vergangenen Jahre in existenzielle Schwierigkeiten gerieten1. Dass Unternehmen der Automobilindustrie in derartige Krisensituationen geraten, ist keine Neuigkeit. Auch haben die in der Automobilliteratur vielbeschriebenen Konsolidierungsprozesse in der Branche (vgl. z.B. Jürgens 2004, Cherdron et al. 2002, S. 121ff.) mittlerweile gezeigt, wie vielfältig die Gründe für eine Transformation von Unternehmen bzw. deren Niedergang sein können. Häufig handelt es sich dabei in der Zulieferindustrie sowie bei den Automobilproduzenten (Original Equipment Manufacturer – OEM) zunächst um einen Verdrängungswettbewerb, bei dem durch Fusionen, Joint-Ventures, feindliche oder freundliche Übernahmen und in Folge von Marktsättigung in den großen Absatzmärkten die Gesamtzahl der Unternehmen in der 1
Die Arbeit berücksichtigt Entwicklungen im Branchensegment bis zum Herbst 2009.
K. Loer, Automobilhersteller ohne eigene Marke, DOI 10.1007/ 978-3-531-92800-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einleitung
Branche zugunsten von großen Konzernstrukturen („mega supplier“, multinationale Automobilkonzerne) reduziert wurde. Im Fall der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ findet hingegen eine Transformation von anderer Qualität statt, durch die eine bislang offensichtlich wichtige Funktion – die konzernunabhängige Produktion kleiner Serien, Spezial- und Nischenfertigungen – auf den ersten Blick zu verschwinden scheint. Die zentralen Fragen, die im Wie kommt es dazu, dass diese Unternehmen ihren über Jahrzehnte stabilen Markt verlieren? Wie reagieren sie auf diese Veränderungen? Die Ergebnisse der Untersuchung sollen zeigen, dass Rationalitätsannahmen und Kostenkalkulationen nicht weiterhelfen, um die Veränderung im Branchensegment und vor allem die Reaktionen darauf zu verstehen. Der Charakter der Kooperationsbeziehungen zwischen Unternehmen, deren wechselseitigen Erwartungen und insbesondere die Selbstwahrnehmung de Unternehmen erweisen sich als entscheidende Faktoren dafür, welche strategischen Entscheidungen ein Unternehmen trifft und wie es sich entwickeln kann. Darüber hinaus können die Fallstudien zeigen, dass die untersuchten Unternehmen dieser Art mit zum Teil langer Geschichte und Tradition (industrieller Sektor, lange Unternehmenstradition) an Kontinuitätsvorstellungen festhalten, die Veränderungen verhindern oder erschweren. Dabei kann unter bestimmten Voraussetzungen von einer Pfadabhängigkeit ausgegangen werden, die letztlich nur Scheitern oder Erfolg des bisherigen Kurses zulässt und keine Neuorientierung zu einem alternativen Pfad ermöglicht. Ökonomischen Argumentationen und Rational-Choice-Ansätzen folgend wäre eine Erklärung für den Niedergang von Unternehmen oder Unternehmenssegmenten in logischer Konsequenz eines Versagens dieser Akteure im Markt zu suchen2. So könnte ein Unternehmen beispielsweise durch mangelnde Qualität seiner Produkte, zu hohe Kosten oder eine falsche Produktpolitik im Wettbewerb gescheitert sein. Die 2 Alternativ könnte es sich im Falle eines inhabergeführten Familienunternehmens auch um ein Nachfolgerproblem handeln. Dieser Fall liegt in der folgenden Analyse nicht vor bzw. spielt für die Betrachtung keine Rolle.
1.1 Fragestellung
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Analyse des Marktsegments der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ zeigt jedoch, dass Unternehmen in Existenzgefahr geraten bzw. durch Insolvenz aus dem Wettbewerb verschwinden, obwohl kein solch offensichtliches Scheitern im Markt vorgefallen ist. Die Auftragsfertiger (bzw. Gesamtfahrzeughersteller oder „Automobilhersteller ohne eigene Marke“) besetzten über einen langen Zeitraum eine Nischenposition in der internationalen Automobilbranche, in der sie als Spezialisten zur Entwicklung und Produktion kleiner Fahrzeugserien tätig wurden. Obwohl es zum einen nach wie vor einen Nachfragemarkt für ihre Spezialfertigungen gibt und zum anderen Studien zum Management von automobilen Wertschöpfungsketten der Kleinserienproduktion (Nischenfahrzeuge und Standardmodelle) aus produktionsorganisatorischen Gründen eine im allgemeinen große Bedeutung für die Zukunft zuschreiben (vgl. Mercer 2004, VDA 2003, Center for Automotive Research (CAR) 2006), stehen die Unternehmen, die sich gerade auf diese Fertigung spezialisiert haben, vor dem Aus. In dieser akuten Existenzkrise stellt sich die Frage nach der Handlungsfähigkeit der Unternehmen in Reaktion auf die Veränderungen. Die Verflechtungen und die äußerst flexiblen Kooperationsstrukturen in der internationalen Automobilindustrie sind sowohl formeller als auch informeller Natur und übersteigen die Erklärungskraft transaktionskostentheoretischer Argumente mit ihrer Dichotomie von „make-orbuy“-Entscheidungen3, wie im folgenden gezeigt werden kann. Auch wenn die Einschränkungen und Zusatzfaktoren Berücksichtigung finden, welche verschiedene Autoren in die Weiterentwicklung der Transaktionskostentheorie integrieren (vgl. z.B.Wolter et al. 2008, Baldwin 2007, Rindfleisch et al. 1997), führen diese Zugänge insbesondere dann nicht weiter, wenn es um die Reaktion der Unternehmen auf veränderte Marktbedingungen geht. Sie bilden allerdings die Grundlage der Bewertung von Veränderungen und erweisen sich somit als – vielleicht einzige – Logik, um unternehmerisches Handeln rationalisieren zu können. Eine 3 bzw. der Alternative einer „Hybrid-Variante“, wie z.B. Williamson beschreibt (vgl. z.B. Williamson et al. 1991).
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1 Einleitung
vergleichende Analyse der Unternehmensentwicklungen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ermöglicht hingegen, jene Mechanismen und Phänomene in der Wettbewerbsstruktur der Automobilbranche zu beschreiben, die wiederum mit klassischen ökonomischen Modellen und Theorien nicht erklärt werden können. Gleichzeitig bietet das empirische Material einen Fundus zur Anreicherung dieser soziologischen Zugänge. Das Ziel des Arbeit besteht demnach darin, auf der Grundlage einer Analyse von Wettbewerbssituation und Krisenphänomenen in der Automobilindustrie die Bedingungen für Unternehmensentscheidungen zu systematisieren und die Rahmenbedingungen ökonomischer Entscheidungen zu erklären.
1.2 Hintergrund der Untersuchung Besonderheiten der Automobilindustrie, der international tätigen OEM sowie der Zulieferunternehmen wurden in unterschiedlichen Disziplinen und aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert4. Eine Einbettung der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Automobilforschung erfolgt im Sinne der Fragestellung dieser Arbeit jeweils spezifisch und themenbezogen in den einzelnen Kapiteln. Demnach folgt kein allgemeiner Überblick über die Forschungsarbeit von Industrie-, Organisationsund Wirtschaftssoziologen zum Thema „Automobilindustrie“, sondern ausgewählte Beiträge werden genutzt, soweit sie direkt zur Bearbeitung der Fragestellung in dieser Arbeit beitragen können. Mit der Auswahl der Gesamtfahrzeughersteller gilt die Aufmerksamkeit dieser Arbeit einem Segment der Automobilbranche, dem bislang keine gesonderte wissenschaftliche Beachtung geschenkt wurde5. 4 (Jürgens et al. 1988, Womack et al. 1991, z.B. Boyer et al. 2003, Pries 2005, Kilper et al. 1999, Jürgens 2005, Kern et al. 1986, Nunnenkamp 2000). 5 Eine Ausnahme bilden hier zwei Kapitel aus einem Lehrbuch der Managementliteratur zu „Fallstudien zum Produktionsmanagement“. Hier werden Magna Steyr („Automobilhersteller ohne eigene Marke) und Valmet („Automobile made in Uusikaupunki“) anhand der Unternehmenshistorie, Unternehmenskooperationen sowie einiger Unternehmensdaten präsentiert, um anschließend Fragen an die Leser des Lehrbuchs zu richten (Bellmann et al. 2006).
1.2 Hintergrund der Untersuchung
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Die Entwicklung der Automobilindustrie, der Siegeszug und die Krise der tayloristischen und fordistischen Produktionsmodelle und ihre (sozioökonomischen) und gesellschaftlichen Folgewirkungen forderten Sozialwissenschaftler unter verschiedenen Fragestellungen heraus. Industrie- und organisationssoziologische Arbeiten widmen sich umfassend den Veränderungen von Produktionsmodellen, Arbeits- und Beschäftigungsstrategien. Managementstudien versuchten, die Strategien und Handlungsweisen der Akteure häufig aus betriebswirtschaftlicher Sicht zu erklären und weitere Entwicklungen zu prognostizieren (vgl. z.B. Becker 2007, Heigl et al. 2008, Proff et al. 2008, Kinkel et al. 2007). In Deutschland entstand eine erste umfassende Automobil-Studie ausgehend von einem Forschungsprojekt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), dessen Abschlussbericht 1988 unter dem Titel „Moderne Zeiten in der Automobilfabrik“ (Jürgens et al. 1988) als vergleichende Studie zu Strategien der Produktionsmodernisierung veröffentlicht wurde. Dieser Bericht kann gewissermaßen als europäische Version der US-amerikanischen MIT-Studie (Massachusetts Institute of Technology) gesehen werden, die 1990 erschien. Angelsächsische Sozialwissenschaftler entdeckten die Branche in den 1980er Jahren für ihre Forschungen insbesondere in Bezug auf Arbeits- und Produktionsmanagement: Zum Bestseller in den USA avancierte das unter dem Titel „MIT-Studie“ bekannte Buch zur japanischen Innovation der „lean production“ und ihren Auswirkungen auf die westlichen Automobilindustrien (Womack et al. 1991), im Vorfeld entstanden Studien zur Automobilzulieferindustrie von Susan Helper (Helper 1989) und Richard Lamming (Lamming 1989). Hieran zeigt sich, dass es zunächst eines systematischen Verständnisses der Produktionsorganisation in der Automobilindustrie bedurfte, das durch die unterschiedliche Entwicklung der konkurrierenden Unternehmen in der Triade6 weitere Anschlussfragen produzierte.
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Wirtschaftsräume: Nordamerika (insbesondere USA), Westeuropa, Japan.
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1 Einleitung
Wegweisend in konkreteren Fragen zu Produktionsmodellen in der Automobilindustrie sind die Arbeiten des Forschungsnetzwerks „GERPISA“, das sich aus einem französischen Verbund von Automobilforschern zu einem internationalen Forschungsnetzwerk entwickelte. Der Gründervater dieser Kooperation, Michel Freyssenet, stellte gemeinsam mit dem französischen Regulationstheoretiker und dem Ökonomen Robert Boyer eine Systematik zu Produktionsmodellen in der internationalen Automobilindustrie vor, die eine konstruktive Grundlage für weitere Arbeiten und Studien in diesem Bereich bietet. Dabei differenzieren sie zwischen den verschiedenen Produktionsstrategien der OEM und zeigen, inwieweit eine Kohärenz zwischen Produktionsorganisation, Arbeitspolitik und Nachfrageverhalten besteht (Boyer et al. 2003). Für den deutschen, den europäischen und nordamerikanischen Kontext lassen sich die genannten Autoren oder Autorengruppen als „Zentrum“ der Automobilforschung ausmachen: In der deutschen Forschungslandschaft sind darunter insbesondere Ulrich Jürgens und Ludger Pries mit zahlreichen Studien prägend7, GERPISA hat sich rund um Michel Freyssenet und Robert Boyer zum Europäischen Netzwerk8 für Automobilforschung etabliert. Es gelingt diesen Autoren und Autorengruppen jeweils, Facetten der Automobilindustrie unter Berücksichtigung der jeweils aktuellen konjunkturellen Situation zu beleuchten und zumeist im Hinblick auf Produktionsorganisation, mit einem Schwerpunkt zu den industriellen Beziehungen und/oder Hersteller-ZuliefererNetzwerke zu analysieren. Dabei ergeben sich häufig interdisziplinäre Vorgehensweisen, letztlich im weitesten Sinne aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, die sich insbesondere im Schnittfeld von Wirtschaftswissenschaften, Politikwissenschaft und Soziologie bewegt. Die Vielfalt der Fragestellungen aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven lässt den Schluss zu, dass es den Stand der Auto7 (vgl. insbesondere Jürgens 2004, Jürgens et al. 2007, Jürgens 2002, Jürgens et al. 2006, Jürgens 2005, Jürgens 2004). 8 (Boyer et al. 2003, Freyssenet 2009, Freyssenet et al. 2004, Boyer et al. 2000, Freyssenet 1998, Jürgens 1998).
1.2 Hintergrund der Untersuchung
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mobilforschung nicht gibt, vor allem auch deshalb nicht, weil es sich bei den Untersuchungsobjekten um „bewegliche Ziele“ handelt. Stattdessen kann möglicherweise ein allgemeiner Charakter der Automobilforschung beschrieben werden: Aktuelle Entwicklungen in der Branche inspirieren die sozialwissenschaftliche Automobilforschung, deren Protagonisten ihre Wurzeln häufig in der Politischen Ökonomie, in Arbeiten zu Industriellen Beziehungen, im Rahmen von Fragen der Arbeitsorganisation haben und die sich mittels eines breiten methodischen Repertoires quantitativer und qualitativer Forschung aktuellen Problemstellungen widmen. Für die vorliegende Studie erweisen sich ausgewählte Arbeiten aus diesem breitem Spektrum als fruchtbar, wenn es um Zusammenhänge der Branche, ihre strukturellen Merkmale und grundsätzliche Entwicklungstrends geht, die für die Auftragsfertiger relevant sind. Bezogen auf die Automobilforschung soll diese Studie einen Beitrag dazu leisten, ein bislang unbeachtetes Branchensegment in seiner Funktion und Struktur zu erklären und daran übergeordnete Fragen für den gesamten Sektor zu beantworten. Diese beziehen sich auf die Aufgabenteilung, die Machtstruktur in der Branche und in besonderer Weise auf die Veränderungen der Arbeitsbeziehungen. „Prognosen sind schwierig, weil sie die Zukunft betreffen“9 – soll hier nun eine Prognose über eine Branche im Umbruch, vielmehr über bestimmte Unternehmen dieser krisengeschüttelten Automobilbranche folgen? Dies ist sicherlich nicht möglich. Vielmehr soll die Arbeit vor dem Hintergrund existenzieller Unternehmenskrisen Zukunftsperspektiven für einen Teil dieses Wirtschaftszweigs aufzeigen und unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten veranschaulichen, die vor dem Hintergrund spezifischer Rahmenbedingungen zu erwarten sind: Zukunftsperspektiven für die „Automobilhersteller ohne eigene Marke“, die im folgenden auch „Auftragsfertiger“ oder „Gesamtfahrzeughersteller“ genannt werden 10. Neben diesen Grundlagen einer „Automobilstudie“ soll die vorliegende Arbeit mit einer Analyse der Beziehungen ökonomischer Akteure 9
Dieses Zitat wird Mark Twain zugeschrieben. Die Charakteristika dieses Branchensegments werden im Folgenden eingehend erklärt.
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1 Einleitung
als sozialwissenschaftliche Studie zwei Ziele verfolgen: Zum einen geht es darum, die Grenzen ökonomischer Erklärungsmodelle und Rationalisierungen aufzuzeigen, zum anderen darum, sozialwissenschaftliche Erklärungen herauszuarbeiten, die ein Verständnis der gravierenden Veränderungsprozesse ermöglichen. Daraus ergibt sich zudem eine Relevanz für die künftige Bearbeitung ähnlicher Problemstellungen. Die Strukturen von Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen in diesem Segment der Automobilbranche und die Konstitution des Marktes, in dem die Unternehmen handeln, sollen als Grundlage für die Überprüfung der Handlungs- und strategischen Veränderungsmöglichkeiten jeder einzelnen Unternehmung dienen. Zwar handelt es sich bei den berücksichtigten Unternehmen um einen sehr kleinen Ausschnitt der internationalen Automobilbranche, jedoch gleichwohl um einen Ausschnitt, der eng verzahnt und eingebettet ist in die Produktionsnetzwerke der automobilen Wertschöpfungskette. Daher können anhand der Veränderungen von Markt- und Verhandlungspositionen der Gesamtfahrzeughersteller auch Trends für die OEM (Original Equipment Manufacturers) und die Zulieferunternehmen unterschiedlicher Ordnung beschrieben werden. Vor allem zeigt die Studie, welche Rahmenbedingungen und Verflechtungen das ökonomische Handeln beeinträchtigen, beschränken und begrenzen und welche Folgen dieser Umwelt- und Umfeldbedingungen für die Unternehmen und den Markt wirksam werden. Dies betrifft in besonderer Weise die industriellen Beziehungen – verstanden als Verhandlungskonstellation zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern – und ihre Ergebnisse, denen auf Basis der Fallstudien ein Teil der Analyse gewidmet ist. Die Darstellung der Krise und der daraus abgeleiteten Entwicklungsperspektiven in den folgenden Kapiteln besitzt den Charakter einer Automobilstudie, um zunächst ein Verständnis für die Marktsituation zu gewinnen. Diese Ergebnisse sollen es ermöglichen, die Veränderungen der automobilen Wertschöpfungskette nachvollziehen und Erklärungen für Dilemmasituationen und Problemfelder finden zu können. Demgegenüber konzentriert sich die Analyse der Krisensituation – hier
1.3 Methodologie und empirisches Vorgehen
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am Beispiel der Automobilproduzenten – darauf, mit sozialwissenschaftlichen Methoden und Theorien „blinde Flecken“ der ökonomischen Theorie offenzulegen.
1.3 Methodologie und empirisches Vorgehen Bislang widmeten sich weder Automobilforscher dem Segment der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ und seiner Rolle in der automobilen Wertschöpfungskette, noch fand es Berücksichtigung in organisations- oder wirtschaftssoziologischen Kontexten. Bevor die Frage nach den Ursachen für Marktveränderungen und existenzielle Krisen beantwortet werden kann, muss daher zunächst ein Verständnis für die Funktionsweise des Unternehmenssegments innerhalb der Automobilbranche gewonnen und dazu geeignetes Material erschlossen werden. Die Vorgehensweise der empirischen Forschung folgt demnach den untersuchungsleitenden Fragen. Wie kommt es dazu, dass die Auftragsfertiger ihren über Jahrzehnte stabilen Markt verlieren? Zunächst gilt es zu klären, um welche Unternehmen es konkret geht. Aus der Definition des Untersuchungsgegenstands11 und der Begrenzung auf den europäischen Teil der internationalen Automobilbranche ergab sich die Fallauswahl für diese Arbeit. Durch den Ausschluss einiger sehr kleiner Automobilhersteller (Manufakturen, die auf Einzelfertigungen zumeist von Sportfahrzeugen spezialisiert sind), beschränkt sich das Segment auf Gesamtfahrzeughersteller12 aus fünf Ländern: Deutschland (Wilhelm Karmann GmbH), Österreich (MAGNA STEYR Fahrzeugtechnik AG & Co KG), Finnland (Valmet Automotive Inc.) sowie Italien (Gruppo Bertone und Pininfarina S.p.A.) und Frankreich (Heuliez Group). Diese Unternehmen bedienen zwar insbesondere die europäische Nachfrage – ihre Historie ist vor allem durch Produk-
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Dazu ausführlich im folgenden Kapitel 2. Damit sind alle Unternehmen erfasst, die der Definition entsprechen.
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1 Einleitung
tionen in Kooperation mit westeuropäischen Automobilherstellern geprägt –, sie sind aber auch am nordamerikanischen Markt vertreten. Um Antworten auf die Fragen nach Funktionsweise und Krisenphänomenen zu finden, muss zunächst geeignetes Material für die ausgewählten Unternehmen gefunden werden, um es anschließend mit sozialwissenschaftlichen Methoden zu nutzen. Zum einen lassen Unternehmensdaten, Presseberichte sowie Geschäfts- und Jahresberichte Rückschlüsse auf die ökonomische Situation der Unternehmen, ihre Auftragslage und Kooperationsstrukturen (Auftraggeber) zu. Für darüber hinausgehende Informationen besteht zum anderen die Möglichkeit zur Befragung der Akteure in Unternehmen und Unternehmensumfeld, die als Experten ihre Perspektive schildern. Diese Quellen sind auch notwendig, wenn es um die Erfassung der Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen in diesem Segment der Automobilbranche geht, die eine Beschreibung der Konstitution des Marktes ermöglicht. Dabei knüpft das methodische Vorgehen an die Überlegung an, dass nicht allein die Kostenstrukturen und Unternehmenszahlen genügend Aussagekraft besitzen, um die eingangs gestellten Fragen zu beantworten. Die Methode unterstreicht die Absicht, mehr zu entdecken durch die Beobachtung und Analyse der sozialen Beziehungen zwischen den beteiligten Personen. Aus empirisch-pragmatischen Gründen standen für die Fallstudien folgende Quellen und Zugänge zur Verfügung: • von der Autorin durchgeführte Interviews mit Experten in den ausgewählten Unternehmen und ihrem Unternehmensumfeld, • kleine Fallstudien und historische Berichte, in denen einzelne Unternehmen Berücksichtigung finden, • Geschäftsberichte bzw. Jahresberichte, • Presseberichte, • Archive. Für die beiden (über lange Zeit) marktführenden Unternehmen in dem Segment, Karmann in Osnabrück sowie Magna Steyr in Graz und Ober-
1.3 Methodologie und empirisches Vorgehen
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waltersdorf bei Wien, wurden im Untersuchungszeitraum von Sommer 2007 bis Sommer 2009 Experteninterviews durchgeführt, Geschäfts- und Jahresberichte, Presse- und Archivmaterial ausgewertet. Für das Unternehmen Karmann ergänzte eine umfangreiche Betriebsbesichtigung das Material. Für Valmet Automotive Inc. wurde ein Interview mit einem führenden Manager geführt. Die ausgeprägte Konkurrenzsituation zwischen dem deutschen und dem österreichischen Unternehmen, neue Aufträge der OEM zu gewinnen, dominierte das Segment in besonderer Weise. Aufgrund dieses prägenden Elements und der besonderen Charakteristika beider Unternehmen schenkt diese Arbeit ihnen ausdrücklich Beachtung und widmet sich ihnen im Rahmen der Interviewserien. Das finnische Unternehmen Valmet fungierte lange Zeit als „verlängerte Werkbank“ für Porsche und konnte sich in den letzten Jahren in eine neue Richtung entwickeln. Die Fallstudie zu Valmet stützt sich vor allem auf Pressedokumente, Geschäftsberichte, Unternehmensdokumente und wird ergänzt durch ein ausführliches Interview. Insbesondere bezüglich der Auftragssituation der Unternehmen im Branchensegment, mit der Erfolg und Krisen in unmittelbarem Zusammenhang stehen, wäre ein Zugang zu den Auftraggebern – in diesem Fall den führen Automobilkonzernen – wünschenswert gewesen. An dieser Stelle muss das Untersuchungsdesign jedoch sowohl zeitliche als auch organisatorische Restriktionen in Kauf nehmen. Für die Betrachtung der Auftraggeber (Automobilkonzerne) als weitere Ebene sind insbesondere Presseberichte und Automobilstudien aussagekräftig, darüber hinaus ergänzt die Darstellung der unternehmensexternen Interviewpartner das Bild. Aufgrund der besonderen Wettbewerbssituation in der Branche und der Schwierigkeit, Unternehmenszugänge zu erhalten, beschränken sich die Experteninterviews auf die Auftragsfertiger und ihr Umfeld, wie beispielsweise Gewerkschaften, regionale Wirtschaftsförderung und politische Akteure. Die Fallstudien greifen die Trennung der beiden Perspektiven – die Ausrichtung auf das Untersuchungsobjekt der Auftragsfertiger zum einen und auf die OEM auf der anderen Seite – auf und versuchen, weiterführende Erkenntnissen zu gewinnen, die bei der
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1 Einleitung
Erklärung der Krisensituation eine wichtige Rolle spielen. Die Darstellung der Unternehmensbeziehungen und Umwelteinflüsse ergibt sich vor allem durch die Nutzung relevanter Veröffentlichungen aus der Automobilbranche, ebenfalls ergänzt durch die Experteninterviews aus dem Unternehmensumfeld. Im konkreten Fall der europäischen Auftragsfertiger existieren eine wirtschaftshistorische Darstellung sowie didaktische Texte aus der Betriebswirtschaftslehre. Über das deutsche Unternehmen Karmann erschien 1996 eine umfassende Firmenhistorie, die zur Rekonstruktion der Unternehmensentwicklung (Knust 1996) genutzt wird. Darüber hinaus gibt es im Fall von Magna Steyr sowie Valmet kleine Fallstudien in einem Band zum Produktionsmanagement (Bellmann et al. 2006), die allerdings eher Lehrbuchcharakter besitzen und nur sehr spärliche (Zusatz-)Informationen bieten. Die Muttergesellschaft der Magna Steyr Fahrzeugtechnik AG, das Unternehmen Magna International Inc., gerät aufgrund ihrer Größe und Bedeutung als Mega-Supplier in verschiedenen Zusammenhängen in den Blick wirtschaftswissenschaftlicher Studien (vgl. z.B.van Biesebroeck 2005, Kurz et al. 1998, Baldwin et al. 1997). Dabei geht es vor allem um die Position des internationalen Konzerns als Zulieferer im Netzwerk mit OEM sowie untergeordneten Zulieferern oder aber um industrielle Beziehungen in Nordamerika; eine spezifische Fallstudie zu Magna International widmet sich der Ambivalenz, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu beschäftigen und gleichzeitig Niedriglohnstrategien umzusetzen (Holmes 2004). Zu den einzelnen Quellen gelten einige kritische Anmerkungen: Die Nutzung eines Unternehmens- oder Geschäftsberichts erfolgt unter der Berücksichtigung, dass zum einen bestimmte Berichtspflichten vom Unternehmen eingehalten werden müssen, und dass zum anderen damit die Perspektive des Unternehmens in Form einer Außendarstellung den Bericht prägt. Unternehmensdaten (wie Beschäftigtenzahlen, Umsatz, Renditen, Produktionszahlen u.ä.) lassen sich allerdings nicht anders erschließen, so dass auf die Richtigkeit dieser Angaben vertraut werden musste. Da immer wieder aktuelle Entwicklungen zu beobachten waren,
1.3 Methodologie und empirisches Vorgehen
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zu denen sich die Unternehmen selbst zum Teil nicht äußerten und zu denen nicht stets neue Interviews durchgeführt werden konnten, bot die Berücksichtigung von Presseartikeln eine gute Möglichkeit zur Erschließung dieser Daten. Aktuelle Sachverhalte und Ereignisse wurden aufgegriffen und berücksichtigt, indem Presseberichte ausgewählt und eben als solche behandelt werden: als Ergebnis journalistischer Recherchen im Auftrag bzw. für ein bestimmtes Pressemedium zur Erklärung aktueller Entwicklungen, die unter Zeitdruck, auf das Ereignis ausgerichtet erfolgen. Zum Teil handelt es sich dabei um „Interviews durch Dritte“ (z.B. Zeitungen, Magazine), wobei diesen Quellen stets kritische Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Bei den Experteninterviews handelte es sich um „problemzentrierte“ Interviews. Die Interviewführung stützte sich auf einen groben Leitfaden, der jedoch insbesondere hinsichtlich der Abfolge der Fragen nicht als starre Vorgabe angesehen wurde13. Letztlich zielten die Interviews darauf ab, empirische Sachverhalte besser beschreiben zu können. Angesichts der zum Teil aus Sicht der Unternehmen schwierigen Situation, über Unternehmensstrategien, Probleme und Wettbewerbsherausforderungen offen zu berichten, erwies es sich als hilfreich, einen eher informellen Gesprächscharakter14 herzustellen. Gleichzeitig zeigte sich auch, dass die Erläuterung zur Interviewstruktur und zur Zielsetzung des Interviews den Gesprächspartnern offensichtlich Sicherheit gab. Die eigens durchgeführten Interviews stellen damit die wesentliche Quelle für die beiden großen Fallstudien und ergänzend für die dritte Fallstudie dar. Dabei wurden die verschiedenen organisatorischen und/oder politischen Rollen der Interviewpartner differenziert und ihre Aussagen im Bewusstsein dieser Rollen verwendet. Die eigenen Beobachtungen (Betriebsbesichtigungen, Beobachtungen, „Randgespräche“) vervollständi13
Diekmann formuliert treffend den situativen Charakter einer Interviewsituation, wie sie für die Arbeit geschaffen wurde: „Abhängig vom Erzählfluss des Interviewten und passend zu seinen Ausführungen werden die Fragen der einzelnen Themenblöcke spontan positioniert“ (Diekmann 1995, S.451). 14 Besonderheiten dieser Interviews wurden bei der Vorbereitung und Durchführung berücksichtigt (vgl. Bortz et al. 1995, S.283, Hopf 1978, S.114).
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1 Einleitung
gen die Kenntnisse über das Unternehmenssegment, wurden aber nicht als spezifische Daten gesondert ausgewertet. Das methodische Vorgehen der Arbeit lässt sich knapp skizzieren. Grundlage für die Bearbeitung der Fragestellung(en) bildete eine explorative Phase, in der Branchen- und Segment-Daten, Unternehmenshistorien, aktuelle Problembereiche und Besonderheiten des Segments der Gesamtfahrzeughersteller betrachtet wurden und wiederholt geprüft wurde, warum bzw. in welcher Hinsicht die Strukturen, Prozesse und Mechanismen im Sinne der Fragestellung weiterführend sein können. Diese Basis nutzt Kapitel 3 für die Darstellung der Branchenentwicklung und bietet Anknüpfungspunkte, um Szenarien zu formulieren (Kapitel 4), die als Heuristik für die empirische Arbeit dienen. Die Kombination der Sammlung verschiedener Daten, Interviews und der anschließenden Auswertung des empirischen Materials bildet die Grundlage der Fallstudien (Kapitel 5), für die in einem nächsten Schritt mit Hilfe der Szenarien die Forschungsfragen überprüft werden können. Bedeutend für die Fallstudien in dieser Arbeit ist der Faktor Zeit insbesondere wegen parallel laufender Entwicklungen und der massiven Veränderungsprozesse im Untersuchungszeitraum. Wie sich im folgenden zeigen wird, mussten zum einen die Zeitpunkte der Befragung sowie die Tatsache berücksichtigt werden, dass es sich um „bewegliche Ziele“ handelt. Erste Interviews wurden im Unternehmensumfeld geführt, ebenso wie einige erste Gespräche, die nicht zur Interviewphase gerechnet werden können, sondern der Orientierung dienten. Im Laufe der Untersuchung wandelte sich die ökonomische Situation der Unternehmen, gleichzeitig wuchsen Erkenntnisse, es standen mehr Informationen zur Verfügung. Das bedeutet, dass zu den jeweiligen Zeitpunkten der Befragungen sowohl hinsichtlich der Unternehmen und der Branchensituation, als auch hinsichtlich des Wissens- und Erfahrungshintergrunds der Interviewerin unterschiedliche Rahmenbedingungen anzutreffen waren. Die Interviewpartner lassen sich in verschiedene Gruppen einteilen, da sie im Sinne der Fragestellungen unterschiedliche Aufgaben er-
1.3 Methodologie und empirisches Vorgehen
25
füllen. Diese Binnendifferenzierung in Bezug auf ihre Rollen berücksichtigt, dass sie nicht nur Information liefern, sondern eben auch eine politisch-organisatorische Rolle erfüllen. Die erste Gruppe stellen insbesondere Führungskräfte der Unternehmen dar, deren Informationen zur Rekonstruktion der Unternehmensentwicklung sowie zum Hintergrundverständnis der Marktveränderungen beitragen und durch deren Darstellung die Kooperationsstrukturen zu den Auftraggebern ermittelt werden können. Aus dieser Perspektive findet außerdem – soweit möglich – Beachtung, welche Bedeutung die Aushandlungsprozesse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Phase der Krisenbewältigung bzw. Restrukturierung haben. Die organisatorische Rolle, welche die Interviewpartner dieser Gruppe erfüllen, besteht zumeist in einer Führung organisatorischer Einheiten mit mehr oder weniger großen Entscheidungsbefugnissen. Letztlich tragen sie formal in ihrem Bereich Verantwortung für die Geschicke des Unternehmens, so dass zunächst eine positive Darstellung aus dieser Innenperspektive zu erwarten ist. Die zweite Gruppe spielt für das deutsche Unternehmen eine Rolle, da es nur hier möglich war, Arbeitnehmervertreter für Interviews zu gewinnen. Daraus ergeben sich Schilderungen der Arbeitsbeziehungen sowie Erläuterungen der Verhandlungsposition der Arbeitnehmer. Auch – oder gerade – in ihren Aussagen spiegeln sich ihre politischen Funktionen und Organisationsrollen wider und gehen als solche in die Fallstudien ein. Als dritte Gruppe bieten Vertreter von Landesregierungen, Wirtschaftsförderungen oder anderen öffentlichen Einrichtungen eine inhaltliche Ergänzung insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie Veränderungen vom Unternehmensumfeld aufzugreifen, zu unterstützen oder abzufedern sind. Einerseits sprechen diese Experten aus einer Außenperspektive auf die Unternehmen, andererseits als politische Vertreter eben jener Organisationseinheit, öffentlichen Institution o.ä., der sie angehören.
26
1 Einleitung
Tabelle 1-1: Übersicht Interviews
U1U3
Zeitraum
Funktion
Bezug zur Fragestellung
U1: Jun. 2007 – Apr. 2008
•
•
U2: Juli 2008 – Dez. 2008
•
U3: Aug. 2008
•
Leiter Rechnungswesen, Konzern Leiter Personalbetreuung Ausland Senior Manager, Roof Systems Organisation und Projektmanagement, Dachsysteme Leiter Technische Entwicklung, Unternehmenssprecher, Vertrieb, ehem. stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsführung Global Lead Management, Leiter Drive Projekt, Commodity Manager Electrics / Electronics Leiter Strategischer Einkauf Business Development Manufacturing Head of Strategy, Market Research & Business Intelligence Market Research & Planning, Vice President, Sales and Marketing 1. Bevollmächtigter, IG Metall ehemaliger Betriebsratsvorsitzender Betriebsratsvorsitzender
•
•
•
• •
• • • • • •
• •
U1
• • •
•
•
•
•
Rekonstruktion der Unternehmensentwicklung Hintergrundinformationen zu Marktveränderungen Darstellung der Kooperationsstrukturen zu Auftraggebern Bedeutung der industriellen Beziehungen
Interessen der Arbeitnehmer Verhandlungsposition der Arbeitnehmer
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1.3 Methodologie und empirisches Vorgehen •
Uu1 , Uu2
15
• •
•
ergänzend
• •
Referat 32, Niedersächsisches Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr, Hannover (verschiedene Gesprächspartner) Prokurist, Wirtschaftsförderung Osnabrück GmbH Chief Executive Officer, Automotive Power Styria, Graz sowie Prokurist, Steirische Wirtschaftsförderungsgesellschaft m.b.H., Graz, Österreich Cluster Managemer, Clusterland Oberösterreich GmbH, Linz, Österreich
• •
•
Bedeutung politischer Akteure Interessen der Landesregierung bzw. öffentlicher Akteure Maßnahmen und Programme zur Begleitung / Abfederung des Strukturwandels
Interviews zu Leiharbeit, Arbeitsmarktpolitik u.ä. Betriebsbesichtigungen
Zur Besonderheit von Fallstudien „The case study, I argued, is best defined as an intensive study of a single case with an aim to generalize across a larger set of cases. It follows from this definition that case studies may be small- or large-N, qualitative or quantitative, experimental or observational, synchronic or diachronic.“ (Gerring 2007, S.94).
Das Interesse der Fallstudien besteht darin, durch die Auswertung der verschiedenen Daten Mechanismen der Unternehmensbeziehungen identifizieren und erklären zu können (vgl. Gerring 2007). In diesem Sinne wird hier ein räumlich und zeitlich begrenztes Phänomen (hier: die Funktion und Verflechtung der Gesamtfahrzeughersteller in der automobilen Wertschöpfungskette) beobachtet (ebd., S.94). Die Literatur zu 15
Uu = Unternehmensumfeld
28
1 Einleitung
Fallstudien diskutiert häufig die Fallzahl. Die vorliegende Arbeit erfasst letztlich alle Unternehmensfälle, die es in dem Segment gibt. Insofern ist gegeben, was Flick als Voraussetzung für Fallstudien formuliert: Demnach sei „das entscheidende Problem die Identifikation eines für die Fragestellung der Untersuchung aussagekräftigen Falls, die Klärung, was zum Fall noch dazugehört und welche methodischen Zugänge seine Rekonstruktion erfordert“ (Flick 2004, S.254). Anders als bei einer Einzelfallstudie nimmt das fünfte Kapitel verschiedene (Unternehmens-)Fälle in den Blick. Was die „ideale Zahl“ von Fällen angeht, wird – wie oben erläutert – die Gesamtzahl der europäischen Gesamtfahrzeughersteller insofern als ideal angesehen, als sie in einer so überschaubaren Zahl vertreten sind, dass die Studie durchführbar ist und gleichzeitig damit alle Fälle in Europa berücksichtigt sind, die gleichzeitig auch für den US-amerikanischen Markt eine Bedeutung besitzen (vgl. Vennesson 2008). Des Weiteren führt Vennesson die „nature and richness of the data collected“ an; insofern wurde in der vorliegenden Studie versucht, alle Daten zu berücksichtigen, die für die Unternehmen zur Verfügung stehen. Hinsichtlich der Anzahl von Interviewpartnern (und auch der Anzahl an Unternehmenskontakten) galt es, zwei Aspekte einzukalkulieren: Nicht alle Unternehmen konnten aus organisatorischen und zeitlichen Gründen in gleicher Weise detailliert durch persönliche Kontakte und Interviews untersucht werden. Zum anderen konnte in den für die ausführliche Analyse ausgewählten Unternehmen nicht davon ausgegangen werden, dass von Seiten des Unternehmens die Bereitschaft zu Interviews und zur Preisgabe von Informationen unbegrenzt bestand. Della Porta beschreibt fallstudienbasierte Forschung und stellt dabei heraus: „a valuable feature of the case-oriented approach is the development of an extensive dialogue between the researcher’s ideas and the data in an examination of each case as a complex set of relationships, which allows causal complexity to be addressed“ (Della Porta 2008).
1.3 Methodologie und empirisches Vorgehen
29
Ein Dialog wurde im Fall der Unternehmen Karmann und Magna Steyr dadurch möglich, dass in der Folgezeit nach den Interviews weitere, weitestgehend informelle Gespräche stattfinden konnten, die einen Austausch der gewonnenen Erkenntnisse und eine Anpassung an die jeweils sich verändernde Unternehmenssituation ermöglichten. Wenn überhaupt, dürfen Generalisierungen, die sich aus der Analyse der Fallstudien ergeben, in dieser Arbeit nur mit größter Vorsicht und Behutsamkeit erfolgen. Ziel ist nicht, anhand der einzelnen Fälle Schlüsse zu ziehen, die Verallgemeinerungen erlauben. Das Forschungsdesign dieser Arbeit beruht vielmehr darauf, Verknüpfungen zu bestehenden Theorien herzustellen, um – soweit möglich und sinnvoll – eigene theoretische Ausblicke zu formulieren, die durch die Fallstudienanalyse gewonnen werden können. Sinnvoll beschreibt Behnke, welche Verknüpfung von Fallstudien und Theorie erfolgen kann: „Grundsätzlich gilt, dass Fallstudien nur dann im Sinne einer Bewährung einer Theorie interpretiert werden dürfen, wenn die Theorie unabhängig von der Durchführung der Fallstudie formuliert worden ist.“ (Behnke et al. 2006, S.78). In diesem Sinne sollen bestehende Annahmen getestet werden und die Fallanalysen eine Möglichkeit bieten, neue Annahmen zu verfassen (vgl. Muno 2009, S.113). Somit bilden im Folgenden transaktionskostentheoretische Überlegungen als Grundlage einer zunächst deduktiven Vorgehensweise die Basis, um die Fälle anschließend vor diesem Hintergrund zu testen und zu versuchen, diese Theorie ausgehend von den Fallstudienergebnisse zu erweitern. Über die gewissermaßen „fallstudien-endogenen“ Inhalte und Ergebnisse hinaus sind die exogenen Faktoren von Bedeutung und müssen in die Erklärungsvarianten integriert werden (vgl. Verba 1967). Veränderungsprozesse wurden als möglicherweise einmalige Phänomene erfasst, um ein Verständnis für diese Prozesse zu gewinnen und gleichzeitig die zugrundeliegenden Mechanismen zu identifizieren. Dies erwies sich als hilfreich, um anschließend, abhängig von beeinflussenden Faktoren, Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen und die Szenarien aus Kapitel 4 zu überprüfen.
30
1 Einleitung
1.4 Aufbau der Arbeit Dieses Buch widmet sich seinem Thema in drei Schritten. Zunächst geht es darum, wesentliche Grundlagen für ein Verständnis der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ (Auftragsfertiger) als eigenständiges Branchensegment zu entwickeln. Als nächstes stellt sich die Frage nach Ursachen und Wirkungszusammenhängen, welche die Unternehmen im Segment in Krisensituationen bringen. Zuletzt liefern die Fallstudien das Material, um die Weiterentwicklung des Unternehmenssegments und den Weg aus der Krise zu skizzieren und schließlich theoretische Erklärungen für die Veränderungen zu prüfen. Für das grundlegende Verständnis des Branchensegments führt das zweite Kapitel mit einer theoretischen Perspektive auf die Funktion und Position der Auftragsfertiger ein und grenzt die Unternehmen einerseits von den sonstigen Zulieferunternehmen in der Branche ab, positioniert sie andererseits im Verhältnis zu ihren Auftraggebern, den Automobilkonzernen (OEM). Die transaktionskostentheoretischen Erklärungen liefern die ökonomische Begründung, warum es zu dieser Funktionsteilung in der Automobilindustrie kommt und unter welchen Voraussetzungen die Beziehung zwischen Automobilkonzernen und Auftragsfertigern besteht. Das dritte Kapitel beschreibt die Branchenentwicklung mit besonderem Bezug zum Untersuchungsgegenstand. Zum einen lässt sich anhand der Entwicklungen der OEM und der Auftragsfertiger über die Zeit der Charakter der jeweiligen Marktsituation erkennen, zum anderen nimmt das Kapitel eine Phaseneinteilung vor, die in den Fallstudien wieder aufgegriffen wird. Eine Ergänzung zur zeitlichen Komponente stellt das Unterkapitel zu Umweltbedingungen und Herausforderungen dar, wodurch die Branchenentwicklung auch über die konkreten Unternehmensentwicklungen hinaus in ihrem vollen Umfang zur Geltung kommt. Gleichzeitig systematisiert dieser Teil der Arbeit Faktoren, um sie später in den Fallstudien zu prüfen. Die Akteurskonstellationen spie-
1.4 Aufbau der Arbeit
31
len eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Automobilbranche. Vor allem das Spannungsfeld von Kooperation und Konkurrenz lässt sich für die Beziehung zwischen Auftragsfertiger und OEM identifizieren. Im vierten Kapitel stellen die Szenarien in Entwicklungsperspektiven für die Auftragsfertiger vor, wie sich diese Unternehmen theoretisch vor dem Hintergrund veränderter Marktbedingungen entwickeln könnten. Die Fallstudien des fünften Kapitels schildern ausführlich die tatsächliche spezifische Unternehmensentwicklung am Beispiel und ordnen sie in die zuvor dargestellten Überlegungen ein. Dies ermöglicht Erklärungen, worin die Krise des jeweiligen Unternehmens bestand, und wie das Unternehmen damit umgegangen ist. Darüber hinaus führen die Unternehmensfälle auch zu Erkenntnissen über die Ursachen der Krise für das gesamte Branchensegments, welche die einzelnen Unternehmen in unterschiedlicher Weise traf. Das sechste Kapitel bietet theoretische Erklärungen für die Krisenphänomene im Branchensegment. Die transaktionskostentheoretischen Perspektive auf die „make-or-buy“-Entscheidungen bietet keine überzeugende Erklärung, wenn es um die Auftragseinbrüche für die Gesamtfahrzeugherstellung geht. Daher nutzt die Arbeit alternative sozialwissenschaftliche Zugänge, mit Hilfe derer eine Erklärung der Krise möglich wird und die einen Ausblick bietet, der auch für andere Industriebereiche genutzt werden kann.
2 Theorieperspektiven
2.1 Funktionsteilung in der Automobilindustrie Eine Erklärung der Funktion und Position des Unternehmenssegments „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ erfordert zunächst eine Abgrenzung zu allen anderen Unternehmen, die in die automobile Wertschöpfungskette integriert sind. Aufgrund der engen Vernetzung und Abhängigkeitsstrukturen betrachtet die Arbeit auch die großen Automobilkonzerne, und zwar in ihrer Rolle als Auftraggeber der Gesamtfahrzeughersteller. Da die Auftragsvergabe Bedingung für die Produktionstätigkeit der Gesamtfahrzeughersteller ist, befinden sie sich in direkter Abhängigkeit zu diesen Konzernen. Deren Restrukturierungsund Internationalisierungsprozesse, die Veränderungen von Produktportfolios und Produktionstechnologien wirken sich, wie zu zeigen ist, auf die Gesamtfahrzeughersteller aus. In aktuellen Ausführungen zu Veränderungen der automobilen Wertschöpfungskette verweisen Autoren häufig auf die besonderen Zukunftsperspektiven der Auftragsfertiger – diese Argumentationen und Prognosen greift dieser Teil der Arbeit ebenfalls auf. Angesichts der Existenzgefahr der Unternehmen im Branchensegment stellt sich die grundsätzliche Frage, welche Funktion sie bislang in der Automobilbranche übernommen haben, für deren Erklärung sich in einem ersten Schritt die Perspektive der Transaktionskostentheorie anbietet. Die Entwicklung dieser Unternehmen über viele Jahrzehnte zeigt, dass es für ihre Produkte einen Markt gab, der stärkeren konjunkturellen Schwankungen als im Allgemeinen in der Branche üblich und stets neuen Anforderungen un-
K. Loer, Automobilhersteller ohne eigene Marke, DOI 10.1007/ 978-3-531-92800-5_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Theorieperspektiven
terworfen war – die Gesamtfahrzeughersteller bewiesen jedoch diesbezüglich eine hohe Anpassungsfähigkeit, do dass ihre Integration in die automobile Wertschöpfungskette funktionierte. Die Gesamtfahrzeughersteller verfügen über keinen „eigenen“ Markt und keine direkten Beziehungen zum Kunden (als Endverbraucher bzw. Käufer des Autos). Im Folgenden wird anhand der Kompetenzverteilung in den unterschiedlichen Segmenten der Automobilindustrie sowie für die Entwicklungsphasen der Branche transaktionskostentheoretisch argumentiert, unter welchen Bedingungen eine vertikale Des-Integration der Produktion von Gesamtfahrzeugen stattfindet.
2.2 Funktion und Position der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ – was ist damit gemeint? Der folgende Abschnitt dient der Charakterisierung eines Segments der Automobilindustrie, für die sich eine Differenzierung anbietet: Zunächst erfolgt eine Dreiteilung von Unternehmenstypen in dieser Arbeit verstanden als drei unterschiedliche Segmente, um die „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ von den anderen Unternehmen(stypen) dieser Branche abzugrenzen. Bei letztgenannten handelt es sich um die großen Automobilhersteller als „Original Equipment Manufacturer“ (OEM) sowie die Automobilzulieferer und anschließend um die Gesamtfahrzeughersteller ohne eigene Marke. Die Beschreibung dieser Segmente ist Grundlage für die Berücksichtigung der jeweiligen Akteursperspektive (OEM und Gesamtfahrzeughersteller) und für die Darstellung, unter welchen Voraussetzungen es zu Auftragsvergaben kommt. „Keine andere Wirtschaftsbranche fertigt ein so komplexes Produkt in großer Stückzahl auf individuelle Kundenwünsche hin in einer ähnlich komplexen und global organisierten Wertschöpfungskette.“ (Pries 2005, S. 18). Oder wie Drucker schreibt: „It’s the industry of industries“ (Drucker 1946).
2.2 Funktion und Position der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“
35
Innerhalb der Automobilbranche wirken unterschiedliche Unternehmen zusammen, durch deren einzelne Entwicklungs- und Fertigungstätigkeiten eine komplexe Wertschöpfungsarchitektur entsteht. Da nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass die einzelnen Vor- und Zulieferprodukte in räumlicher Nähe zum OEM hergestellt werden, spricht man mittlerweile von einer global organisierten Wertschöpfungskette oder vielmehr einem Wertschöpfungsnetzwerk. Bevor jedoch dargestellt wird, wie sich die Kette zum Netz entwickelt und ob der vielzitierte und aktuelle Begriff16 des „Netzwerks“ tatsächlich treffend ist, geht es im folgenden um die Grundstrukturen dieser Hersteller-Zulieferer-Verflechtungen. Dabei scheinen die Akteursstrukturen darauf hinzuweisen, dass die Veränderungsprozesse zwar eine Art Netzwerk oder Netzwerkstruktur hervorgebracht haben, jedoch Hierarchie-Elemente das Netzwerk prägen, die teilweise im Widerspruch zur erwarteten Rolle bestimmter Akteure stehen.
Unternehmenstypen: Original Equipment Manufacturers (OEM) und Zulieferindustrie Ordnet man die in der Automobilbranche tätigen Unternehmen der automobilen Wertschöpfungskette zu, so lassen sich grob drei Unternehmenstypen (bzw. Segmente) differenzieren. Zunächst kann in Bezug auf die Produktion der Fahrzeuge die vermeintlich sehr einfache Frage gestellt werden: Wer macht was? Es wird schnell deutlich, wie schon von Pries (s.o.) angekündigt, dass die Frage nicht so einfach zu beantworten ist. Zur Veranschaulichung dient das folgende Beispiel: Beim Besuch eines großen Parkplatzes registriert der Betrachter vermutlich zu allererst wohlbekannte Automobilmarken, bei vielen Fahrzeugen reicht ein flüchtiges Hinsehen, um das Modell und die dazugehörige Marke zu identifi16
Netzwerke diskutieren sowohl Automobilstudien (Baldwin 2007, Agrawal 2009, Clark et al. 1987, insbesondere in Bezug auf die japanische Automobilindustrie z.B. Dyer 1996: 649666, und in besonderer Weise Sako 1996), als auch umfassende und übergreifende Ausführungen der Sozialwissenschaften.
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2 Theorieperspektiven
zieren. Dieser hohe Bekanntheitsgrad der großen Automobilhersteller ist Resultat langjähriger Produktionstätigkeit und Markenpräsenz sowie gleichzeitig ihrer geringen Gesamtzahl17. Daneben gibt es auf dem heimischen Markt18 Modelle von Automobilproduzenten, die nicht so geläufig sind wie die traditionellen deutschen, westeuropäischen, amerikanischen oder japanischen Marken. Doch hier genügt genaues Hinschauen bzw. der konkrete Blick auf das Markenemblem oder die Markenbezeichnung am Heck, um den Hersteller zu benennen. Alle Firmennamen, die auf diese Weise identifiziert werden können, gehören zu Unternehmen bzw. Konzernen, die als „Original Equipment Manufacturers“19 (OEM) bezeichnet werden. Sofern die vorliegende Arbeit die Abkürzung OEM nutzt, sind diese Unternehmen gemeint, die eine der Betrachtungsebenen darstellen. Aber handelt es sich wirklich um die Hersteller des jeweiligen Fahrzeugs? Hätte in einem nächsten Schritt nun der Parkplatzbesucher die Möglichkeit, die Fahrzeuge in ihre Einzelteile zu zerlegen, so fände 17
So waren in Deutschland zunächst in erster Linie deutsche bzw. kurze Zeit später andere westeuropäische Hersteller vertreten. Die beiden großen amerikanischen Hersteller Ford und General Motors (in diesem Fall mit Opel sogar als „deutsche Marke“) und später vor allem Toyota, Honda und Mitsubishi ergänzten mit einem europaspezifischen Angebot das Marktportfolio. 18 Hier ist die Perspektive auf den deutschen Markt gemeint. 19 Unter dem Dach eines OEM als Konzern können verschiedene Marken produziert und vertrieben werden. Als Beispiel sei der Volkswagen-Konzern mit seinen Marken „Volkswagen/VW“, „Audi“, „Skoda“, „Seat“, „Bentley“, Lamborghini“, „Bugatti“ und „Scania“ als Nutzfahrzeughersteller erwähnt (Stand Januar 2009). Die Bezeichnung OEM wird in unterschiedlicher Weise verwendet. So gibt es in der Literatur Beispiele, in denen Hersteller von „Originalteilen“, die an den Endhersteller geliefert werden, als OEM bezeichnet werden (Herbig et al. 1994) – in dieser Arbeit entspräche diese Funktionsbeschreibung den Zulieferern, ausschließlich die Endhersteller bzw. Auftraggeber für komplette Fahrzeugproduktionen werden als OEM bezeichnet. Hierbei wird die gängige Begriffsverwendung in der Literatur zur Automobilindustrie genutzt (Jürgens et al. 2007, Morschett et al., van Dyke Parunak et al. 1998, Wildemann 2006, MacDuffie et al. 2006, Czaja 2009, Semmler et al. 2007). Es handelt sich um die Charakterisierung der OEM als jene Unternehmen, die sowohl die Konzepterstellung, technische Entwicklung, Design als auch einen signifikanten Anteil an der Produktion des Fahrzeugs durchführen. Mittlerweile sind Zweifel angebracht, ob diese Terminologie nach wie vor passt: An Beispielen aus der Elektronikindustrie wird deutlich (z.B. DELL), dass die vermeintlichen „Originalhersteller“ (OEM) selber nicht mehr herstellen, sondern die Herstellung koordinieren, den Markennamen einsetzen und lediglich für Marketing und Vertrieb der Produkte zuständig sind (Sturgeon 2000, S.8f.).
2.2 Funktion und Position der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“
37
er vermutlich jeweils über 10.00020 Einzelteile oder Bauteile (bei aktuellen Modellen so genannte Fahrzeugmodule), welche die Zulieferunternehmen der Automobilindustrie für dieses spezifische Fahrzeug herstellen (vgl. Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) 2003). Somit zeigt sich, dass die Bestimmung eines Herstellers nicht möglich und die Bestimmung aller an der Fahrzeugherstellung und -entwicklung beteiligten Unternehmen nur sehr schwierig durchzuführen ist. Eine hohe Komplexität kennzeichnet die Wertschöpfungsarchitektur. Die OEM bestimmen sowohl das öffentliche Bild, die öffentliche Wahrnehmung der Automobilindustrie als auch – das ist für diese Arbeit von besonderer Bedeutung – die Wettbewerbssituation aller anderen in der Branche tätigen Unternehmen durch ihre Entscheidung über die Produkte21 für den „Endverbraucher“. Durch diese Entscheidungsund Verhandlungsmacht etablieren sie eine dominante Rolle für Kooperationen in der automobilen Wertschöpfungskette. Anhand welcher konkreten Aspekte diese Dominanz deutlich wird, zeigen insbesondere die Fallstudien. Es handelt sich bei den OEM um multinationale Unternehmen, also Konzerne, die international Fahrzeuge (Personenkraftfahrzeuge, LKW, Motorräder22) produzieren und vertreiben23. Die Beschreibung „original“ verweist auf ein (bislang!) wesentliches Merkmal der OEM: Sie bestimmen das Design, leisten die Entwicklungsarbeit, realisieren den „Zusammenbau“ ihrer Markenprodukte24 und sind anschließend für den Kontakt zu Händlernetzen und Kunden zuständig. Je nach ihrem Marktanteil, ihrer Produktvielfalt und Unternehmens-größe sind auch Zulieferunternehmen im Fokus des öffentlichen Interesses und in der 20
Dabei schwanken die Angaben von 10.000-15.000 Teilen (Oliver et al. 2008) bis zu Angaben über ca. 35.000 Einzelteile (Greca 2005, S.99). 21 und alle damit zusammenhängenden Aspekte wie: Fahrzeugentwicklung, Design, notwendige Werkzeuge, Maschinen, Fertigungslinien bzw. zumindest Produktionsorganisation, Marketing, Vertrieb. 22 Die Arbeit konzentriert sich auf eine Betrachtung der Automobilbranche für Personenkraftfahrzeuge. 23 Beispiele: Volkswagen, BMW, Daimler-Benz, Porsche, Renault, Peugeot-Citroën (PSA), Fiat (Europa), Ford, General Motors, Chrysler (USA), Toyota, Suzuki, Mazda, Honda, Kia (Asien). 24 Prägend hierbei ist sicherlich die „Hochzeit“, das Zusammenführen von Bodengruppe (Fahrwerk, Motor) und Karosserie (Binnebesel 2008, S.118).
38
2 Theorieperspektiven
Diskussion, insbesondere dann, wenn es um Beschäftigungsabbau, Standortschließungen bzw. -verlagerungen oder auch Fusionen geht25. Bekannt sind vor allem die so genannten „Mega-Supplier“, große Zulieferunternehmen, die entweder wesentliche Teile eines Fahrzeugs herstellen und international tätig sind26 oder aber eine hohe Produktvielfalt (an Vorprodukten, Modulen) für die Automobilherstellung anbieten27. Relevant im Zusammenhang dieser Arbeit ist nicht der Bekanntheitsgrad dieser Unternehmen in der Öffentlichkeit, sondern ihre wachsende Bedeutung in der automobilen Wertschöpfungskette. Dieser zunehmende Stellenwert resultiert aus einem kontinuierlichen Prozess vertikaler Desintegration durch die OEM zu den Zulieferern, da es diesen gelingt, neben ihren Produktionstätigkeiten auch wichtige Kompetenzen für „klassische“ Entwicklungsaufgaben auszubauen. Neben den als „MegaSuppliers“ bekannten Unternehmen sind weitere Zulieferunternehmen in der Automobilbranche tätig. Das Spektrum dieser Unternehmen reicht von Klein- und Kleinstunternehmen, wie z.B. IngenieurDienstleistungsbüros oder auch Betrieben, die einfachste Produkte herstellen, über mittelgroße Betriebe bis hin zu Großunternehmen: Entlang der automobilen Wertschöpfungskette befinden sich diese Unternehmen in einer Zulieferhierarchie, innerhalb derer zwar Unternehmensgröße und Marktposition korrelieren können, zunehmend aber auch kleine Unternehmen mit spezialisierten Aufgaben (insbesondere im Entwicklungsbereich) zu Zulieferern der ersten Hierarchiestufe werden (Tier-1, Tier-2, Tier-3, Tier-…, Tier-n – mit „Tier“ sind hier die Stufen gemeint; für die pyramidale Binnendifferenzierung vgl. Abbildung 1).
25
vgl. Scheffler - Conti; VDO. z.B. Continental als Reifenhersteller, Bosch, Denso, Johnson Siemens Automotive, TRW, Valeo, Delphi, Visteon (Fuchs et al. 2003: 36-36). 27 z.B. Magna International. 26
2.2 Funktion und Position der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“
39
Abbildung 1-1. Hersteller-Zulieferer-Hierarchie
(Quelle: eigene Darstellung)
Neben den Entwicklungsdienstleistern fungieren als direkte Verhandlungspartner und Auftragnehmer der OEM die Zulieferer erster Ordnung (Tier-1), die je nach Architektur der Wertschöpfungskette Module für den Fahrzeugbau (z.B. Frontmodule, in die neben der Lichtanlage auch die Klimatechnik bereits vormontiert ist) oder wesentliche Teile (z.B. Reifen, Sitze u.ä.) herstellen. Die Konsolidierung der Zulieferindustrie hat zu einer Ausdifferenzierung zwischen System- und Modullieferanten geführt. Für beide Arten der Zuliefertätigkeiten gilt, dass die Teile möglichst nahtlos in die Gesamtproduktion zu integrieren sind. Daneben übernimmt der Zulieferer die Aufgabe, die nachfolgende Teilebeschaffung selber zu organisieren. Sofern die Architektur der Wertschöpfungskette insbesondere auf Modulbauweise ausgerichtet ist, sinkt die Anzahl der Zulieferer: Zur Produktion der Module werden die Modulhersteller von Zulieferern nachfolgender Ordnung(en) beliefert. Im Kontext dieser Arbeit werden die Zulieferer erster bis n-ter Ordnung in einer Gruppe zusammengefasst und nur dann in den Blick genommen, wenn die Veränderung der Wertschöpfungskette bzw. ihrer
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2 Theorieperspektiven
Architektur Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten und Wettbewerbsbedingungen der Auftragsfertiger hat.
Unternehmenstypen: Automobilhersteller ohne eigene Marke Angekündigt wurde eine Dreiteilung, so dass eine Gruppe von Unternehmen bislang fehlt. Diese Unternehmen stellen die zentrale Betrachtungsebene der Arbeit dar. Zurück auf dem Parkplatz: Der Besucher fand die wohlbekannten Marken, außerdem Fahrzeugmodelle neuerer Markenhersteller28 sowie für den eigenhändig zerlegten PKW die einzelnen Bauteile und Module der Zulieferunternehmen. Einige der Fahrzeuge jedoch könnten mit ihrer Markenbezeichnung den Betrachter täuschen: Nicht der OEM, dessen Name durch das Markenemblem auf dem Heck abzulesen ist, produziert diese Autos. Hersteller des Fahrzeugs ist ein Auftragsfertiger bzw. Gesamtfahrzeughersteller. Dieser gehört zur dritten Gruppe, als Protagonist dieser Studie zu dem Segment der „Automobilproduzenten ohne eigene Marke“, eben zu jenen Unternehmen, die von der Konzeptphase, Entwicklung und Planung eines Fahrzeugs bis zur kompletten Fertigung alle einzelnen Fertigungsschritte eigenständig durchführen können. Das fertige Auto trägt schließlich jedoch nicht das Markenlabel des Gesamtfahrzeugherstellers, sondern das Zeichen eines OEM. Es handelt sich demnach um Unternehmen, die zwischen den großen Automobilproduzenten und ihren zahlreichen Zulieferunternehmen insoweit eine Zwitterstellung einnehmen, als sie selbst komplette Fahrzeuge entwickeln und produzieren können, aber über keine eigene Marke und keine eigenen Vertriebswege verfügen, sondern nur im Auftrag von großen Automobilunternehmen tätig werden. Diese Unternehmen werden in der Zulieferhierarchie auch als „Tier-0,5“-Zuliefer eingeord28
z.B. Dacia (Rumänien) ( vgl. zur Historie der Kooperation zwischen Dacia und Renault u.a.van Tulder et al. 1998), Tata, indisches Unternehmen, als Investor auch in Europa tätig (vgl. Humphrey et al. 2003); Brilliance (China) (Edmondson 2007)).
2.2 Funktion und Position der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“
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net. Neben der Bezeichnung „Automobilhersteller ohne eigene Marke“, Gesamtfahrzeughersteller oder Auftragsfertiger bzw. contract manufacturer, (Bellmann et al. 2006) werden in der Literatur auch die Begriffe Systemintegrator und Generalunternehmer (Manufacturing, Engineering, and Technology Group. Center for Automotive Research 2006) verwendet. Bei der englischsprachigen Bezeichnung „contract manufacturer“ gilt es zu berücksichtigen, dass dieser Begriff in der Literatur zu Management und Produktionssystemen sehr häufig für die pharmazeutische und vor allem die Elektroindustrie genutzt wird und sich der Charakter der Unternehmen in diesen Branchen stark von der Automobilindustrie unterscheidet. In der Elektroindustrie (vgl. Plambeck et al. 2005) und der Pharmabranche (vgl. Piachaud 2004) findet eine Verlagerung von Produktion durch die OEM an Auftragsfertiger (contract manufacturer) in erster Linie statt, um Kosten zu reduzieren, Arbeitsproduktivität zu steigern und die internen Unternehmensinvestitionen auf Forschung, Entwicklung, Design und Marketing zu konzentrieren. In besonderer Form lässt sich diese Strategie bei Anbietern von Computern beobachten (Beispiel Apple, Dell siehe z.B. Arrunada et al. 2006). Sturgeon weist darauf hin, dass in unterschiedlichen Industriesektoren Anbieter entstanden sind, die „Komplettpakete“ („complete bundles“) von Produktionsaufgaben übernehmen, für die sie wiederum über entsprechende Investitions- und Produktionskapazitäten und Steuerungsfähigkeiten verfügen müssen (Sturgeon 2000, S. 9). Teilweise würden diese Unternehmen laut Sturgeon als „contract manufacturer“, teilweise als „OEM-supplier“ bezeichnet, was nach Branche und Region (OEM-supplier vor allem in Taiwan/Asien) variiere. Weitgehend handelt es sich dabei allerdings um Unternehmen, die – im Gegensatz zu den „contract manufacturern“ der Automobilindustrie – keine eigenen Entwicklungskompetenzen besitzen, sondern Produktionskonzepte der OEM übernehmen. Die klare Differenzierung, die Herrigel und Wittke in Bezug auf das „contract manufacturing“ vornehmen, lässt sich ebenfalls nicht direkt auf die Automobilindustrie übertragen. Die beiden Autoren beschreiben eine
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2 Theorieperspektiven
eindeutige Aufgabentrennung zwischen OEM und Auftragsfertiger, die sich auf Produkt- und Prozessdesign auf der einen Seite (OEM) und reine Produktionsaufgaben auf der anderen Seite bezieht, wie es vor allem in der Elektronikindustrie der Fall ist. In diesem Falle fungieren die Contract Manufacturer als „verlängerte Werkbänke“ für die OEM. Für die Automobilbranche treffen die beschriebenen Differenzierungen insoweit nicht präzise zu, als die automobilen Auftragsfertiger zum Teil sehr wesentlich am Produktdesign und der Konzeptentwicklung im Vorfeld einer Fahrzeugproduktion beteiligt sind. Anhand der im Folgenden vorgestellten Beispiele zeigt sich, dass eine Charakterisierung der Unternehmenskompetenzen und damit eine branchenspezifische Definition notwendig ist: Die automobilen Auftragsfertiger besitzen die Fähigkeit, Fahrzeuge eigenständig zu entwickeln (auch: Designkompetenz), Werkzeuge zur Produktion zu konstruieren und ein Komplettfahrzeug im Auftrag eines Kunden herzustellen. Dabei geht es nicht um Aufgaben, welche die OEM dezidiert aus ihrem Tätigkeitsprofil ausgelagert haben, sondern zunächst um eine Ergänzung um Produkt- und Produktionsvarianten, die der OEM nicht erstellen kann. Später entwickelten die OEM, wie im Folgenden gezeigt wird, für ihre eigenen Werke Produktionsmodelle und Organisationsstrukturen, mit Hilfe derer sie Spezialserien bzw. Kleinserien fertigen konnten, so dass fortan eine Konkurrenz zwischen interner und externer Fertigung (Auftragsfertiger) entstand – diese Entwicklung findet in der weiteren Darstellung besondere Berücksichtigung. Über die beschriebenen Kompetenzen hinaus lässt sich ergänzen, dass die Unternehmen, die diesem Segment zugeordnet werden, die Branche mit Modulen, Spezialteilen und Zulieferprodukten versorgen und damit auch eine „klassische“ Zuliefererrolle (tier-1) erfüllen, diese aber bislang nachrangig gegenüber der Fahrzeugproduktion war. Betrachtet man die „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ etwas genauer, stellt man fest, dass diese Unternehmen insbesondere Serien
2.2 Funktion und Position der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“
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von Nischen- und Spezialfahrzeugen sowie Derivate29 fertigen. Mit der Charakterisierung als „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ bzw. Gesamtfahrzeughersteller wird im Kontext dieser Arbeit eine Abgrenzung zu kleinen Nischen- und Spezialfahrzeugproduzenten vorgenommen, die zum Teil Individualfahrzeuge oder z.B. Sportwagen in Miniserien fertigen, diese jedoch unter ihrer eigenen Marke verkaufen und nicht im Auftrag eines OEM tätig werden („Automobilhersteller mit eigener Marke“). Die Gesamtfahrzeughersteller ohne eigene Marke entwickeln das Fahrzeug eigenständig oder in Kooperation mit dem OEM, konstruieren Werkzeuge zur Produktion der Fahrzeuge und produzieren schließlich das Komplettfahrzeug im Auftrag des Kunden (OEM). Damit lassen sich die wesentlichen Charakteristika der Gesamtfahrzeughersteller wie folgt zusammenfassen: • Fähigkeit zur Entwicklung eines Fahrzeugkonzepts • Werkzeugbau • Technische Entwicklung und Organisation der Produktion von Fahrzeugen (Komplettfahrzeug inkl. Lackierung, Organisation der Zulieferkette, Logistik) Dem Unternehmenssegment der „Gesamtfahrzeughersteller“ kann eine hohe Relevanz für die gesamte Automobilbranche zugesprochen werden, auch wenn es sich um Unternehmen mit für die Branche vergleichsweise kleinen Beschäftigtenzahlen handelt. Worin diese Bedeutung liegt, stellt die Arbeit vor und diskutiert sie hinsichtlich der voraussichtlichen Entwicklung der Unternehmen unter Berücksichtigung der Veränderungsprozesse in der gesamten Branche. Die Arbeit stellt schließlich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Unternehmen in diesem Branchensegment. Die Beantwortung dieser zunächst einfachen Frage ist höchst voraussetzungsvoll, da dabei die verschiedenen
29
Als Derivate bezeichnet man Karosserievarianten eines bestimmtem Fahrzeugmodells (z.B. VW Golf Cabriolet). Auch Kombi-Varianten einer Limousine fallen unter diese Bezeichnung. (Hüttenrauch et al. 2008)
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2 Theorieperspektiven
Akteurskonstellationen, Handlungsebenen und Wirkungsdimensionen von Akteursentscheidungen berücksichtigt werden müssen.
2.3 Transaktionskostentheoretische Erklärungen Im Zuge der Dreiteilung von Segmenten in der Automobilindustrie, für die hier zunächst in Bezug auf ihre jeweiligen Funktionen eine Abgrenzung voneinander erfolgte, stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien die Unternehmen Entscheidungen über die Aufteilung der Wertschöpfungsanteile, also über Aufgabenteilung in der Automobilproduktion treffen. Mit „Funktion“ ist hier die Rolle in der Wertschöpfungsarchitektur gemeint. Trotz der im ersten Schritt relativ klaren Abgrenzung der einzelnen Segmente voneinander wurde bereits anhand der Charakterisierungen deutlich, dass es Überschneidungen hinsichtlich der jeweiligen Kompetenzen in der Automobilproduktion gibt. Oliver et al. beschreiben die generelle Herausforderung für die Unternehmensorganisation im Hinblick auf den Automobilbau treffend: „Car making comprises a complex set of processes, and orchestrating these successfully is a major organisational challenge.“ (Oliver et al. 2008, S.565). Welche Aspekte bei einer sinnvollen „Orchestrierung“ berücksichtigt werden müssen, gilt es, im Folgenden zu klären. Wenn es um die Abgrenzung von Unternehmen der Automobilindustrie geht, die im allgemeinen Verständnis entweder der Gattung „Automobilhersteller“ (OEM) oder aber der Zulieferunternehmen zuzuordnen sind, wird gleichzeitig davon ausgegangen, dass eben jede Gattung ihre Kernkompetenz erfüllt und im Zusammenwirken in die automobile Wertschöpfungskette einbringt. Für dieses „allgemeine Verständnis“ wäre dann auch zutreffend, dem OEM folgendes Merkmal zuzusprechen: Seine Kernkompetenz besteht darin, Automobile herzustellen. Die Charakterisierung des Unternehmenstypus’ Gesamtfahrzeughersteller hat gezeigt, dass der OEM unter bestimmten Bedingungen in
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Bezug auf die Fahrzeugproduktion mit dem Gesamtfahrzeughersteller konkurriert bzw. ihm die Fertigung der Automobile überträgt. In der Rolle als „Gesamtfahrzeughersteller ohne eigene Marke“ sind die Unternehmen dieses Segments demnach auf Aufträge zur Produktion von Fahrzeugen angewiesen, welche die OEM vergeben. Nimmt man diese Perspektive der OEM ein, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen Aufträge für die Produktion (sei es für gesamte Fahrzeuge oder Fahrzeugteile) vergeben werden. Mit anderen Worten kann zunächst gefragt werden, unter welchen Voraussetzungen sich aus Sicht der OEM vertikale Desintegration als plausibel erweist und welche Kriterien dafür zu nutzen sind. Auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen erfüllen die Gesamtfahrzeughersteller diese Kriterien? In einem weiterführenden Verständnis gilt es zu zeigen, wie ein Gleichgewicht in der Hersteller-Kunden-Beziehung entstehen kann. Folgt man der Annahme, dass vertikale Desintegration bzw. marktförmige Transaktionen das Opportunitätsrisiko30 steigern, gilt es dem gegenüberzustellen, welche Transaktionskosten bei vertikaler Integration entstehen. Die grundlegende Frage nach den Prinzipien ökonomischer Organisation und einer Theorie der Unternehmung erfasste Ronald Coase in seiner Arbeit zur „Nature of the Firm“ (Coase 1937, S.390). Unter der Annahme, dass der Preis (zunächst) das bestimmende und entscheidende Kriterium darstellt, entsteht ein Unternehmen als hierarchische Organisation dadurch, dass die Nutzung des Marktes höhere Kosten verursacht als die vertikale Integration innerhalb eines Unternehmens. Coase identifizierte verschiedene Kosten und griff dabei als erstes die These auf, dass alle relevanten Preise (am Markt) allen individuellen Marktakteuren zugänglich und bekannt seien, was die klassischen Markttheorien seiner Zeit zugrunde legten (Kaldor 1957).
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Williamson verweist zunächst auf Knight, um zu beschreiben, dass „Opportunismus [...] eine so subtile wie allgemein verbreitete Eigenschaft des Menschen [sei], mit der sich die Erforschung ökonomischer Organisationen aktiv auseinandersetzen [müsse]“ (Williamson et al. 1990, S.7, und vgl. Knight 1921).
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Nicht erst unter Berücksichtigung globalisierter Märkte und einer zunehmenden Komplexität für das Markthandeln ist offensichtlich, dass diese ubiquitäre Verfügbarkeit von Informationen nicht realistisch ist. Ein Einsatz von Spezialisten, die relevante Informationen bündeln, aufbereiten und verkaufen, mag diese Kosten der Informationsbeschaffung reduzieren oder zumindest darstellbar machen, kann sie jedoch nicht vermeiden. Zudem erzeugt jede Markt-Transaktion Verhandlungs- und Vertragskosten, die Berücksichtigung finden müssen. Die vertikale Integration in eine Unternehmung reduziert nun eben diese Vertragskosten. Im Sinne einer Schwarz-Weiß-Unterscheidung der jeweiligen Kosten, die bei (vollständiger) vertikaler Integration und vertikaler Desintegration entstehen, ergibt sich ein dazwischen liegendes Feld an Grauschattierungen. Die Vereinbarung von mittel- oder langfristigen Verträgen oder Vertragspaketen bei vertikaler Desintegration ließe sich als eben solche Grauschattierung illustrieren. Allerdings bergen diese Vertragscharakteristika ökonomische Risiken, da die mittel- oder langfristigen Vereinbarungen zum einen Marktentwicklungen nur unzureichend berücksichtigen und die Vertragspartner ihre konkreten Marktanforderungen zum anderen nur unzureichend im voraus spezifizieren können (vgl. Coase 1937, S. 391). Diese Grundannahmen provozieren die Frage, warum nicht diese gesamte Produktion in einer großen Firma organisiert ist. Zum einen ließe sich in dieser Hinsicht zeigen, dass es gewissermaßen „natürliche Grenzen“ des Unternehmenswachstums gibt, da ab einem bestimmten Punkt eine Balance zwischen dem Preis für die im Unternehmen integrierte und der vertikal desintegrierten Transaktion erreicht ist. Übersteigen die internen Organisationskosten die Kosten, die bei einer vertikalen Desintegration entstehen, dann ist mit einer KaufEntscheidung zu rechnen (vgl. Coase 1937: 386-405)31. Diese internen Organisationskosten können beispielsweise darin bestehen, dass die Inte-
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„Again, a point must be reached where the loss through the waste of resources is equal to the marketing costs of the exchange transaction in the open market or to the loss if the transaction was organised by another entrepreneur.“ (S. 395).
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gration die Produktionsorganisation stört oder zusätzliches Personal, Maschinenanschaffungen und –umbauten erfordert etc. Aus (rein) betriebswirtschaftlicher Sicht stehen Unternehmensleitungen vor der Frage, welche Art der Produktion – im eigenen Unternehmen oder eine Auftragsvergabe an eine fremdes Unternehmen oder Tochterunternehmen – sich am kostengünstigsten gestalten lässt. Während die Fallstudien das Kalkül der Akteure bzw. die Akteursperspektive im Hinblick auf die Frage nach vertikaler Desintegration und Integration nachzeichnen, folgt zunächst die gewissermaßen distanzierte wissenschaftliche Sicht auf die Transaktionskostenproblematik. Coase zeigt, dass die Nutzung des Preismechanismus’ Kosten verursacht, weshalb beispielsweise für die Produktion eines Gutes die Organisationsform des Unternehmens vorgezogen wird (Coase 1937). Damit identifiziert er eben jene Kosten der Planung, Organisation, Durchführung und Vertragsabsicherung, die mit einer ökonomischen Transaktion verbunden sind und welche das neoklassische Paradigma unberücksichtigt lässt. In der Fortentwicklung dieser Überlegungen hat Williamson die „Marktnutzungskosten“ als Transaktionskosten klassifiziert und weiterführend ausgearbeitet, dass damit sowohl ex-ante als auch ex-post entstehende Vertragskosten erfasst werden (Williamson 1979). Im Vorfeld eines Vertragsschlusses sind somit die Kosten für Entwürfe, Verhandlungen, mögliche Absicherung, das Signalisieren von Vertragstreue sowie das Akzeptieren von Rechtsvorschriften im Falle möglicher Vertragsstreitigkeiten zu berücksichtigen. Im Verlauf der Vertragsdurchführung treten eine Reihe weiterer Kosten auf, wenn ein Vertragspartner versucht zu feilschen, wenn die Einrichtung und Unterhaltung von Überwachungssystemen notwendig wird oder die Durchsetzung verlässlicher Zusagen an weitere Sicherungsmaßnahmen geknüpft ist. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Coase die Grenzen der Unternehmung als Gegensatz von Markt und Hierarchie herausarbeitet und ökonomische Motive für die hierarchische Organisation in Unternehmen identifiziert. Williamson ergänzte diese Dichotomie um die „Hybridform“, die weder der klassischen Marktbeziehung zweier Akteure, noch
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2 Theorieperspektiven
der Beziehung von unterschiedlichen Unternehmensteilen als vertikal integrierter Transaktion entspricht (Williamson 1991: 269-296). Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den OEM und den Auftragsfertigern bedeutet dies: Dem OEM stehen die interne Fertigung und die Vergabe an ein unabhängiges Unternehmen zur Verfügung. Die Überlegungen zu den Grenzen einer Unternehmung und zur Unterscheidung zwischen Markt, Organisation (Hierarchie) und gegebenenfalls einer Hybridvariante zeigen, dass es um Entscheidungen geht, für die Kostenerwägungen angestellt werden. Neben den konkreten Material- und Produktionskosten32 entstehen „Kosten“ im weiteren Sinne, die nicht genau zu bestimmen und zu berechnen sind. Nach Coase und Williamson entscheidet der OEM je nachdem, welche Variante diese Transaktionskosten reduziert. Die Entscheidung kann somit nicht als eine „rein betriebswirtschaftliche“, genauer gesagt als Entscheidung unter Berücksichtigung aller notwendiger Information nach rein rationalen Kriterien getroffen werden. Für die Akteure wird angenommen, dass sie begrenzt rational handeln, diese Rationalität selbst aber ihrer Handlung unterstellen (intendierte Rationalität) und sich gleichzeitig opportunistisch verhalten (können) (vgl. Simon 1997). Bezogen auf die Automobilindustrie stellt sich die grundsätzliche Frage, ob Transaktionen unternehmensintern, damit hierarchisch, oder unternehmensextern über den Markt, als Transaktionen organisiert werden, die zwischen rechtlich unabhängigen bzw. selbständigen Unternehmen geregelt werden sollen. Übertragen auf die Auftragsvergabe für die Produktion kompletter Fahrzeuge durch einen OEM bedeutet dies, zunächst zu hinterfragen, ob der OEM das spezifische Fahrzeug selbst bauen kann. Sofern – wie für die europäischen Automobilkonzerne – davon auszugehen ist, dass sie nicht über ein eigenes Spezialitätenwerk verfügen, also ein Werk, das darauf ausgerichtet ist, kleine Stückzahlen zu fertigen und ungewöhnliche Produk32
Auch für diese Kosten gibt es im Vorfeld keine exakten Bestimmungsmöglichkeiten (Wechselkursschwankungen, externe Schocks, schwankende Energie- und Rohstoffpreise), jedoch ist ein hohes Maß an Annäherung zur Kostenkalkulation möglich.
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tionen zu übernehmen, müssen die Unternehmen entscheiden, ob sie diese Sonderfertigungen in ihren eigenen Linien integrieren können. Die japanische Automobilindustrie bietet ein recht klares Bild, wenn es um die Produktion von Nischenprodukten, Derivaten und kleinen Stückzahlen geht: Hier ermöglicht die Gründung von Tochtergesellschaften innerhalb der Konzernstruktur der großen OEM eine Variante vertikaler Desintegration. Auf diese Weise scheinen Opportunitätsrisiken minimiert und gleichzeitig die Vorteile einer Trennung zwischen Massen- und Nischenproduktion genutzt werden zu können. Diese bestehen darin, dass die Nischenproduktion mit geringeren Stückzahlen und höherem technologischen Aufwand sowie Produktionsbesonderheiten die Massenproduktion nicht stört. Im Vergleich zur Massenproduktion andersartige Kostenstrukturen (Ergebnis sind zumeist Fahrzeuge mit hohem Kaufpreis) erlauben aufwendigere Produktionsstrukturen, erfordern häufig spezifisches Produktionswissen der Beschäftigen, unter Umständen die Herstellung hochwertiger Materialien u.ä. – vor allem verlängern sich die Taktzeiten für diese Produktion. Die Aufteilung der Produktionsaufgaben zwischen Mutterunternehmen und Tochtergesellschaft (als Spezialitätenwerk) zeigt ein funktionales Äquivalent zur „europäischen Lösung“. Aufgrund der engen Anbindung an den OEM und die nicht nur finanzielle Abhängigkeit entspricht diese Organisationsstruktur eher einer vertikalen Integration. Die Beobachtung vertikaler Integration von Produktionsaufgaben kann unter Rückgriff auf allgemeine Studien zur US-amerikanischen Automobilindustrie damit erklärt werden, dass bei zunehmender Spezifität, steigendem Entwicklungsaufwand und hohen Koordinationsanforderungen die Wahrscheinlichkeit der vertikalen Integration steigt (Walker et al. 1984, Monteverde et al. 1982). In diesem Fall wäre die Abwicklung der Produktion durch eine Tochtergesellschaft eine vertikale Transaktion, was im Verständnis von Coase und Williamson bedeutet, dass diese nicht am Markt ausgehandelt wird. Für die europäischen Automobilhersteller muss ein anderer Ausgangspunkt definiert werden. Dies betrifft zunächst die Genese der Ge-
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samtfahrzeughersteller: Europäische Gesamtfahrzeughersteller gingen aus eigenständigen Familienunternehmen hervor bzw. sind bis heute als solche tätig. Für die europäischen OEM besteht eine Tradition, Nischenfahrzeuge, Kleinserien oder Derivate bei einem Auftragsfertiger einzukaufen. Insofern zeigt die Existenz des Unternehmenssegments der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ eine Ausprägung vertikaler Desintegration in der Automobilbranche. Der naheliegende Grund besteht insbesondere historisch betrachtet in einer simplen Tatsache: Es handelte sich um Produkte, welche die OEM nicht herstellen konnten bzw. die teilweise in ihrer spezifischen Form (Cabriolet, Allradantrieb) von den Gesamtfahrzeugherstellern entwickelt wurden – es handelt sich um eine Frage der spezifischen Produktionskompetenz. Einige Studien der Automobilbranche bescheinigen den OEM grundsätzlich eine geringe Fertigungstiefe (Kinkel et al. 2003) und postulieren dies als maßgeblichen Trend (Womack et al. 1991). Allgemein messen Automobilforschung und Branchenstudien den Zulieferunternehmen einen großen Stellenwert zu: Angesichts dessen überrascht die europäische Situation nicht. Somit kann für die Ausgangssituation dieser Analyse eben dieser Aspekt hervorgehoben und betont werden: Das Kennzeichen der europäischen Automobilindustrie, insbesondere im Hinblick auf die Nischen- und Kleinserienfertigung und die Produktion von Derivaten, ist die vertikale Desintegration, also eine Koordination über den Preismechanismus bzw. über den Markt. Die Entstehung und Entwicklung der Nischenproduzenten ermöglichte den OEM, diese spezifischen Produktionen auszulagern – aus der Perspektive der Nischenproduzenten bedeutet das Fehlen von entsprechenden eigenen „Spezialitätenwerken“ der OEM, dass hier eine wichtige Funktion für die OEM fehlt, die extern erfüllt werden kann. Dieses Zusammenspiel funktioniert solange, wie der Mechanismus wiederum nicht transaktionskostentheoretischen Folgeproblemen unterliegt. Zusammenfassend kann zunächst konstatiert werden: Auf dem Automobilmarkt besteht eine Nachfrage nach Fahrzeugen, deren Produktion nicht ohne weiteres in die bestehenden Produktionsstrukturen
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der OEM integriert werden kann. Da es sich bei den Fahrzeugproduktionen der Gesamtfahrzeughersteller um Nischenprodukte, Derivate und Spezialfertigungen handelt, ist häufig zum einen besonderer technischer Sachverstand notwendig. Zum anderen benötigen diese Produktionen längere Taktzeiten, darüber hinaus sind Besonderheiten in der Fertigung zu berücksichtigen. Insofern lässt sich der Sachverhalt umgangssprachlich damit beschreiben, dass es Fahrzeugtypen bzw. Modelle gibt, deren Entwicklung und Produktion den OEM „Kopfschmerzen“ bereitet. Neben den genannten Sonderproduktionen ist auch denkbar, dass Vorteile aus Sicht des OEM darin bestehen, Spitzenabdeckungen in der Anlaufphase einer neuen Serie oder auch Auslaufproduktionen bei der Umstellung auf neue Modelle und Modellplattformen auszulagern. Dies ist zum einen der Fall, wenn nach dem Erreichen des „peaks“, des Höhepunkts der Produktionszahlen, die Nachfrage rückläufig ist, jedoch die Belegschaft, die für die Spitzenabdeckung gebraucht wurde, aus verschiedenen Gründen nicht kurzfristig entlassen werden kann. Zum anderen kann ein Umbau der Produktionslinien oder Plattformen aufwendig sein und die Produktion von auslaufenden Serien den Neustart des Nachfolgemodells oder eines neuen Fahrzeugs, also die Installation einer neuen Plattform, stören. Die Vergabe einer Automobilproduktion an einen Gesamtfahrzeughersteller betrifft demnach folgende Fälle: • Nischenmodelle in Kleinserie • Derivate • Spezialfertigungen • Spitzenabdeckung („peak shaving“) zu Beginn eines Modellzyklus’ • Auslaufserienproduktion am Ende eines Modellzyklus’. Für die europäischen Automobilhersteller existiert die Möglichkeit der vertikalen Integration (zunächst) nicht33, da es bislang keine Ausgrün33
Möglicherweise gibt es andere Produktionsbereiche, die aus Sicht der Unternehmensleitung besondere Kosten hervorrufen; dies bezieht sich aber nicht auf die Besonderheit kleiner Serien, Nischenfahrzeuge o.ä.
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dung oder Etablierung von Tochtergesellschaften der OEM (vgl. Japan) gegeben hat, die Kleinserien, Nischenprodukte und Derivate bauen. Richtet sich die Perspektive auf die europäischen Unternehmen, so stellt sich die Frage, ob eine Integration dieser besonderen Fahrzeuge und kleiner Stückzahlen in die bestehenden Produktionslinien grundsätzlich möglich wäre. Mit „möglich“ sind verschiedene Aspekte gemeint: die unternehmensinterne Fähigkeit zur Entwicklung der Sonderfahrzeuge, die technischen Rahmenbedingungen für die Produktion sowie die organisatorische Fähigkeit zur Kombination von Massenproduktion und Sonderserien (besondere Fahrzeuge, kleine Serien). Wenn also eine Nischenfertigung unternehmensintern organisiert würde, blieben zunächst die Schwierigkeiten und Kosten bei dieser vertikalen Integration innerhalb der Unternehmensorganisation des OEM, bis er selbst eine geeignete Organisationsstruktur und technische Lösungen für die betroffenen Standorte findet. Als Alternative böte sich die Auslagerung dieser Produktionsaufgabe an – entweder vollständig oder teilweise. Der OEM kann sich für die „buy“-Variante entscheiden und einen Gesamtfahrzeughersteller beauftragen, um Transaktionskoten zu vermeiden, die bei einer internen Variante entstünden. Die Produktionsund Organisationsstruktur der Gesamtfahrzeughersteller ermöglicht eine Übernahme dieses Auftrages, die den Besonderheiten der Kleinserienproduktion durch spezialisierte Lösungen gerecht wird. Letztlich führt jede dieser Varianten zu einer Austauschbeziehung zwischen OEM und einem spezialisierten Produzenten (OEM spezialisierte Tochtergesellschaft oder OEM spezialisierter Auftragsfertiger) – der entscheidende Unterschied besteht darin, ob der Spezialist rechtlich und finanziell unabhängig vom OEM ist. Zunächst soll von der These ausgegangen werden, dass aus transaktionskostentheoretischer Perspektive die Notwendigkeit besteht und als ökonomische Rationalität zugrunde gelegt werden kann, Aufträge für Kleinserien, Nischenproduktionen, Derivate und möglicherweise auch Auslaufserien (= kleinere Stückzahlen) an Gesamtfahrzeugherstel-
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ler zu vergeben. Um überhaupt als Alternative zur internen Produktion in Frage zu kommen, muss der Auftragsfertiger dem OEM eine Kombination anbieten aus • technischer Kompetenz (allgemein und für das spezifische Produkt), • einer Produktionsorganisation, die gewissermaßen andere „economies of scale“ zugrunde legt. Während der OEM Fahrzeuge in einer bestimmten Stückzahl bauen muss, um in Bezug auf die Nutzung von Anlagen, Produktions- und Humankapitalressourcen34 seine Werke effizient betreiben zu können, ist die Nischenfertigung35 auf kleinere Stückzahlen ausgerichtet, • Rentabilität trotz längerer Taktzeiten, • Flexibilität, • Qualität (es handelt sich zumeist um Fahrzeuge im oberen Preissegment). Die Berücksichtigung dieser Aspekte verdeutlicht, dass in jedem Fall (Produktionsorganisation, Flexibilität, Qualität) das Know-how für mittel- bis langfristige Austauschbeziehungen eine wichtige Rolle spielt. Die genannten Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit der Auftragsfertiger wettbewerbsfähig ist. Über die formalen Kriterien hinaus wirken informelle Organisationsstrukturen, menschlich-soziale Zusammenhänge auf die Entscheidung zur vertikalen Des-Integration in besonderer Weise ein (Barnard et al. 1968). Weitere „weiche“ Faktoren lassen sich ergänzen, wie langfristige Beziehungen, Vertrauen, „passende“ Unternehmenskulturen. Zu den „harten“ Voraussetzungen für die Auftragsvergabe treten also die „weichen“ Faktoren hinzu, damit es zum Vertragsabschluss für die Produktion eines neuen Fahrzeugs kommt. 34
Der OEM verfügt über einen großen Anteil an Produktionsmitarbeitern, die in diesem Zusammenhang gemeint sind. Diese Beschäftigtengruppen verfügen nicht über die Fähigkeiten, die für eine Nischen- bzw. Kleinserienfertigung benötigt werden. Insofern unterscheidet sich das Humankapital von Auftragsfertigern und OEM in Bezug auf die produktionsspezifischen Kompetenzen. 35 Damit sind hier alle Varianten gemeint: Derivate, Sonderfertigungen, Spitzenabfederung, Auslaufserien.
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Die Bedeutung von Effektivitäts- oder gar Effizienzkriterien ist für die Unternehmen groß, gleichzeitig sind diese Kriterien nur sehr schwierig zu messen. Alle diese Faktoren beziehen sich bislang ausschließlich auf das Austauschverhältnis zwischen den Vertragspartnern, gewissermaßen auf ein „Binnenverhältnis“ zweier Partner unabhängig von ihrer Umwelt. Bereits daran wird ein hohes Maß an Unsicherheit offenbar, dass die Entscheidung über vertikale Integration und Desintegration begleitet. Was kann darüber hinaus die Integrations- bzw. Desintegrationsentscheidung beeinflussen? Der Fall „Fisher Body“ ist ein in der Literatur vielfach verwendetes Beispiel, das Marktversagen illustrieren soll. General Motors beauftragte den Karosserieproduzenten „Fisher Body“, geschlossene Fahrzeugkarosserien in einer bestimmten Stückzahl zu produzieren. Dafür waren hohe Investitionen durch den Zulieferer notwendig. Kernmerkmal des Vertrags zwischen den beiden Parteien war das Ziel, jeweils Opportunitätskosten zu minimieren. Der scheinbar sichere Vertrag wurde durch die Veränderung der Umfeldbedingungen und zunehmende Konkurrenz für General Motors so unattraktiv, dass der OEM Kosteneinsparungen anstrebte, die durch den Zulieferer realisiert werden sollten36. Als Fisher Body diese Investitionen ablehnte, kam es schließlich zur Übernahme durch General Motors (Klein et al. 1978). Klein et al. griffen dieses Beispiel auf, um den Annahmen zur Dichotomie von Markt und Hierarchie von Richard Coase und seinen vermeintlich eindeutigen Prämissen zu entgegnen. Der Kern ihrer Kritik bestand darin, der Theorie von Coase ein zu hohes Maß an Simplifizierung zu bescheinigen. Ohne an dieser Stelle auf die umfassende Diskussion37 um den Fisher Body-Fall eingehen zu wollen – diese betrifft sowohl das methodische Vorgehen von Klein et al., als auch die Interpretationen und daraus abgeleitete theore36
Zum einen ging es um Investitionen in kostensparende Produktionstechniken, zum anderen um eine Standortverlagerung, um Transportkosten zu reduzieren. (vgl. Gilson et al. 2009, Hart et al. 2008, Helper et al. 2000, Langlois et al. 1989, Mahoney et al. 2006, Casadesus-Masanell et al. 2000 sowie Coase 2006).
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tische Annahmen etc. – bietet der Fall einen Ansatzpunkt, um wesentliche Parameter zu illustrieren, die im Falle der Gesamtfahrzeughersteller in besonderer Weise zu berücksichtigen sind: Der Gesamtfahrzeughersteller muss über investitionsintensive Anlagen verfügen (vgl. hohe Investitionen durch den Zulieferer Fisher Body, s.o.), um komplette Fahrzeuge bauen zu können. Wird dies ergänzt um die Entwicklungskompetenz und eine eigenständige technische Betreuung der Produktion, so sind entsprechende Personalressourcen unabdingbar (Besonderheit bei der Auftragsfertigung von Gesamtfahrzeugen). Der an den Gesamtfahrzeugbauer vergebene Auftrag umfasst neben Entwicklung und Produktion des kompletten Fahrzeugs zusätzlich alle weiteren Phasen des gesamten Produktlebenszyklus’. Insofern spielt die Komponente „Zeit“ eine wichtige Rolle, denn parallel zur Vertragserfüllung können sich konjunkturelle Veränderungen ergeben, externe Schocks auf den OEM oder den Gesamtfahrzeughersteller einwirken o.ä. (vgl. Fisher Body: Vertrag wurde durch die Veränderung der Umfeldbedingungen und zunehmende Konkurrenz für General Motors unattraktiv, s.o.). Überträgt man also die transaktionskostentheoretischen Annahmen auf die Beziehung zwischen OEM und Auftragsfertigern, so erweist sich dies als ein Beispiel mit besonderer Schärfe. Das Investitionsrisiko für den Auftragnehmer (Gesamtfahrzeughersteller), als auch das Risiko der Vergabe eines Gesamtfahrzeugs für den OEM ist ausgesprochen hoch. Der Gesamtfahrzeughersteller ist auf langfristige Vertragsbeziehungen angewiesen. Zum einen verfügt er im Hinblick auf die einzelnen Produktionsschritte über eine Ausstattung an Anlagen, also Werkshallen, Fahrzeugbänder, Maschinen etc., für die Fahrzeugproduktion, die – in kleinerem Maßstab – mit der eines OEMs verglichen werden kann. Da der Gesamtfahrzeughersteller auch Fahrzeuge konzipieren kann, Entwicklungsschritte übernimmt und die Produktion mit eigenem technischen Sachverstand durchführt, benötigt er außerdem eine Mitarbeiterstruktur, die diese Aufgaben übernehmen kann: vom Werker, Facharbeiter über Verwaltungspersonal bis hin zum Management und hochqualifizierten Ingenieuren. Die Auftragsvergabe für die Produktion eines
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gesamten Fahrzeugs muss aus der Perspektive des Gesamtfahrzeugherstellers insofern in besonderer Weise vor opportunistischem Verhalten geschützt sein. Die Vergabe eines kompletten Fahrzeugs ist unter bestimmten Voraussetzungen aus der Perspektive des OEM riskant: Sofern es sich um ein Derivat oder ein Nischenmodell auf der Basis eines Standardmodells aus dem Produktportfolio des OEM handelt, lässt er bei der Auftragsvergabe zu, dass produkt- und/oder produktionsspezifisches Wissen an ein externes Unternehmen fließt. Dies scheint im Widerspruch zur beschriebenen Produktionskompetenz für eine komplette Fahrzeugfertigung zu stehen, stellt im Vergleich zu anderen Branchen für die Automobilindustrie eine Besonderheit dar: Um ein Derivat zu entwickeln und zu produzieren benötigt der Auftragsfertiger insbesondere produktspezifisches Wissen für das Ausgangsmodell, auf dessen Grundlage das Derivat gebaut werden soll. Zusätzlich stellt sich die Frage, ob in den Betriebsstätten des Auftragsfertigers gleichzeitig Fahrzeuge für Konkurrenten des OEM gebaut werden. An dieser Stelle wäre das Risiko eines unerwünschten Wissenstransfers besonders virulent. Sollte es Stückzahlgarantien für den Auftragsfertiger geben, gerät der OEM in die Situation, die Kapazitäten möglichst genau einschätzen zu müssen. Wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, stellt sich angesichts der Entwicklungen der Automobilindustrie die Frage, inwieweit eine Auftragvergabe überhaupt (noch) möglich ist. Die Frage des „make or buy“ gilt für das gesamte Produkt, in diesem Fall das Fahrzeug. Inhärent ist gerade die Besonderheit des Produkts, da es nicht durch economies of scale der Massenproduktion von Volumenherstellern entspricht. Auch den Produktionsbedingungen kleinerer Stückzahlen, die die Rentabilität bei Premiumherstellern ermöglichen, unterliegt die Nischenproduktion der Auftragsfertiger nicht, da sie besondere Merkmale aufweist. In dem Moment, da der Automobilhersteller (OEM) ein gesamtes Fahrzeug nicht mehr selbst produzieren will oder kann, vergibt er im Sinne der „buy“-Entscheidung diesen Auftrag an den Gesamtfahrzeughersteller. Dabei werden zwei Unternehmensaufgaben relevant: Es geht um die Innovation eines neuen
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Fahrzeugs (Konzeption: Forschung und Entwicklung) sowie daran anschließend um die Produktion des neuen Fahrzeugs. Doch wer entscheidet über die Auftragsvergabe? Es handelt sich um Personen, die im Rahmen ihrer Funktion im Unternehmen, zum Beispiel als Geschäftsführer, Abteilungsleiter o.ä. handeln. Williamson beschreibt treffend: „Sie handeln in ihrer Rolle im Unternehmen, sie entscheiden (zumeist) nicht allein und unabhängig von anderen Personen oder Gruppen im Unternehmen.“ (Williamson et al. 1990, S.54). Aus der Sicht des jeweiligen Gegenübers – aus der Perspektive des Kunden ebenso wie aus der des Auftraggebers – stellt sich die Frage, welche Interessen der Akteur verfolgt. „Für ihr Handeln kann davon ausgegangen werden, dass das Verfolgen eines Eigeninteresses handlungsleitend ist. List und Formen von Täuschung charakterisieren opportunistisches Handeln sowie unvollständige oder verzerrte Weitergabe von Informationen, insbesondere vorsätzliche Versuche irrezuführen, zu verbergen, zu verzerren, verschleiern oder sonst wie zu verwirren“ (ebd.) In konkreten Fällen werden Formen opportunistischen Verhaltens häufig nicht oder nicht einfach zu erkennen sein, sie treten möglicherweise in subtilerer Form auf, als es Williamson hier beschreibt. Auch angesichts des Opportunitätsrisikos muss bei marktförmigen Transaktionen demnach wesentlich erneut der Faktor „Unsicherheit“ herangezogen werden. Damit lassen sich als die drei maßgeblichen Dimensionen bei der Beschreibung vertikaler Desintegration hervorheben: Unsicherheit, Faktorspezifität und Häufigkeit. Über einen langen Zeitraum prägend für die Kooperationen zwischen Gesamtfahrzeughersteller und OEM waren, wie sich in der Darstellung der Branchenentwicklung (Kapitel 3) deutlich zeigt, mittel- bis langfristige Beziehungen. Neben einer möglichen Reduktion der Produktionskosten durch die Vermeidung von Störungen im Produktionsablauf, wie sie bei der Integration kleiner Serien bzw. Stückzahlen und von Spezialfahrzeugen in der Massenfertigung aufträten, minimieren sich bei dauerhaften Hersteller-Kundenbeziehungen die Anbahnungskosten, die im Vorfeld eines Kontrakts anfallen und mit Aufwand für
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Informationsbeschaffung u.ä. verbunden sind. Eine Optimierung des Produktionsablaufs durch die Gesamtfahrzeughersteller scheint die Entscheidung zur vertikalen Desintegration zu rechtfertigen. Für die Auftragsvergabe einer Gesamtfahrzeugproduktion lassen sich folgende Voraussetzungen modellhaft zusammenfassen: • Die zu erwartende Stückzahl liegt unter der für einen OEM und seine Produktionsorganisation rentablen Seriengröße. Sie würde die Produktion der übrigen Modellserien stören. Der Auftragsfertiger kann diese „low volume“ Produktion hingegen rentabel durchführen. • Es sind spezifische Fähigkeiten zur Produktion des Nischenfahrzeugs notwendig, die der Auftragsfertiger durch langjährige Tätigkeit im Fahrzeugbau unter Beweis gestellt hat. • Eine auf Mittel- bis Langfristigkeit ausgelegte Auftragsvergabe bietet sich an, um dadurch die Investitionskosten zu kompensieren sowie Opportunitätsrisiken und Unsicherheitsfaktoren zu reduzieren. Hinsichtlich der Funktionsrelevanz von Gesamtfahrzeugherstellern lassen sich zwei Perspektiven unterschieden. Hier wurde zunächst die konkrete Perspektive auf die Entscheidung zur Auslagerung einer Produktionsaufgabe erklärt. Die Vogelperspektive bzw. die makroökonomischen Überlegungen richten den Blick zudem auf verschiedene Gründe für eine Art „Existenzberechtigung“ unabhängiger Auftragsfertiger bzw. von Gesamtfahrzeugherstellern. Aus dieser übergeordneten Perspektive lassen sich langfristige Entwicklungen modellieren, die von der kurz- bis mittelfristigen Perspektive der individuellen OEM-Entscheidungen zu unterscheiden sind. Im Zuge einer Entwicklung, in der Tochtergesellschaften oder sogar einzelne Werke der OEM zu „Profitcentern“ werden, treten die Gesamtfahrzeughersteller in Konkurrenz zu diesen Unternehmensteilen. Weiterhin versuchen Gesamtfahrzeughersteller, zum einen Innovationen voranzutreiben und über sehr spezifisches Produktions- und Entwicklungswissen zu verfügen sowie Innovations- und Investitionsrisiken abzufedern. Zum anderen fungieren sie darüber hin-
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aus – eher ungewollt und gezwungenermaßen – als strategischer Verhandlungspartner für den OEM-internen Standortwettbewerb. Auf diese Aspekte wird im Zusammenhang mit den Unternehmensfallstudien näher einzugehen sein. Jenseits dieser Vogelperspektive richtet sich der Blick auch auf die konkrete einzelne Unternehmenssituation. Dabei zeigt sich, dass aktuelle Marktsituationen, die zum Teil kurzfristig Veränderungen auslösen, der langfristigen Rationalität eines „Gesamtgleichgewichts“ in der Branche entgegen stehen.
3 Branchenentwicklung
Die Unternehmen der internationalen Automobilindustrie durchliefen unterschiedliche Entwicklungsphasen und Wandlungsprozesse. So lassen sich als einschneidende Zäsuren beispielsweise die Einführung und Durchsetzung der fordistisch-tayloristischen Massenproduktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts anführen, die sowohl hinsichtlich der Arbeitsorganisation als auch in Bezug auf die Produktionstechnik gravierende Veränderungen mit sich brachte, sowie auch die „Revolution“ der Automobilproduktion durch die Entstehung und Umsetzung des LeanProduction-Konzepts. Diese Evolutionen und Revolutionen der Branche prägten in unterschiedlicher Weise letztlich alle Unternehmen und ihre Märkte in der Triade (Westeuropa, Nordamerika, Japan) und entfalteten ihre Durchschlagskraft auch für weitere Regionen und Länder, die nach und nach eigene Automobilsektoren entwickelten. Wiederum etwa zwei Dekaden später kann von einer weiteren Zäsur der internationalen Automobilindustrie gesprochen werden. Hier sind es nicht vollständig neue Organisations- und Produktionskonzepte, sondern die Auswirkungen von Veränderungen der Marktstrukturen, die als neue Umweltbedingungen auf ökonomische Entscheidungen einwirken (Öffnung und Liberalisierung von Handelsmärkten, Finanzmärkten). Die Darstellung der Branchenentwicklung ergänzt die Beschreibung der Segmente, die in den vorangegangenen Kapiteln unabhängig von den Marktentwicklungen erfolgte. Die Ausführungen zu den historischen Entwicklungen veranschaulichen konkret, wie sich die Beziehungen zwischen Unternehmen empirisch verändern, welche Notwendigkeiten für neue Kooperations- und Verhandlungsmechanismen
K. Loer, Automobilhersteller ohne eigene Marke, DOI 10.1007/ 978-3-531-92800-5_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Branchenentwicklung
entstehen, wie sich die Situation der Beschäftigten verändert und welche neuen Anforderungen an die Mitarbeiter in der Branche gestellt werden. Daraus ergeben sich veränderte Unternehmensstrukturen. Die Entscheidungen über vertikale Integration und Desintegration sind stets bestimmt durch die dargestellten Umweltbedingungen. Bei der Betrachtung der aktuellen Veränderungsprozesse und ihrer Folgen soll es letztlich um den „Ablauf“ von Entscheidungsprozessen gehen und die Rahmenbedingungen, die dadurch für die einzelnen Akteure entstehen. Wesentliche Grundlage der Darstellung ist das Handeln von Personen, es geht also um Entscheidungen, die in Organisationen bzw. Unternehmen von Menschen getroffen werden (vgl. Williamson 1979). Mit Blick auf die mittlerweile über hundertjährige Geschichte der Automobilindustrie nimmt diese Arbeit eine kurze Skizzierung von drei Phasen vor. Grundsätzlich handelt es sich um eine gängige Differenzierung der Entwicklungsphasen in dieser Branche (vgl. z.B. Womack et al. 1991) – diese Einteilung ist sinnvoll, um die veränderten Rahmenbedingungen des Marktumfelds der Gesamtfahrzeughersteller strukturieren zu können. Der Fokus der Fallstudien richtet sich auf die dritte Phase, für die im folgenden die Unternehmensfälle analysiert werden. Eine kurze Beschreibung der vorangehenden Entwicklungsphasen dient dem besseren Verständnis von Unternehmensentscheidungen. Insbesondere hinsichtlich der Produktionsorganisation, der Beschäftigungsentwicklung und der (internationalen) Wettbewerbssituation der verschiedenen Automobilunternehmen ungeachtet des Stellenwerts und der Position in der automobilen Wertschöpfungskette lassen sich sehr prägende Merkmale einer jeden dieser Phasen verdeutlichen (Heigl et al. 2008). Die derzeit zu konstatierende Wettbewerbssituation in der Branche, die durch einen gravierenden Wandel in Produktionsorganisation und Beschäftigungsentwicklung gekennzeichnet ist, bildet schließlich den Ausgangspunkt der Arbeit. Die holzschnittartige Einteilung in drei Phasen wird hier nicht als Analyseergebnis vorweggenommen, sie dient dazu, wichtige Veränderungsprozesse zu unterscheiden, welche die Unternehmensentwicklungen und damit -perspektiven der Gesamtfahrzeughersteller
3.1 Phase 1. Von der Pionierzeit bis zum Wiederaufbau nach dem Krieg
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beeinflussen. Neben der Differenzierung von Unternehmenstypen und der (Macht-)Position der einzelnen Akteure im Wertschöpfungsnetzwerk spielt die zeitliche Komponente eine wichtige Rolle. Die Auftragsfertiger und ihre Nischenkompetenz wuchsen parallel zur Entwicklung der Automobilindustrie. Zumeist lässt sich anhand der Unternehmenshistorie der heutigen OEM nachzeichnen, dass sie sich aus jenen kleinen Automobilproduzenten heraus entwickelten, die eben gerade nicht als Spezialisten Nischenfahrzeuge o.ä. produzierten und verkauften. Den wachsenden Markt für besondere Automobile bedienten hingegen die Fahrzeugproduzenten, die eine besondere eigene Kompetenz entwickeln konnten, zum Beispiel eine besondere Kompetenz im Karosseriebau, und damit hochgradig spezialisiert waren. Somit ergab sich eine Funktionsteilung zwischen Massenproduzenten und Spezialfertigern.
3.1 Phase 1. Von der Pionierzeit bis zum Wiederaufbau nach dem Krieg Die erste Phase verlief von der Entstehung der Automobilindustrie bis zur ersten Etablierung und Festigung der Markt- und Kooperationsstrukturen, somit beginnend in den 1880er Jahren, als erste Automobilfabriken in Europa und den USA entstanden, bis etwa in die 1950er Jahre. Der Startschuss durch die ersten Massenproduktionen und die Einführung der Fließbandproduktion von Henry Ford ca. 1913 (Ford 2002 [1922]) wird teilweise als „erste Revolution“ in der Automobilindustrie bezeichnet, welche die individuelle Manufaktur von Fahrzeugen beendete. Somit entstand – verglichen mit der individuellen Fertigung – ein Markt für kostengünstige Autos. Die Steigerung des Beschäftigungsvolumens in der Produktion ging einher mit einem Einkommensniveau, das es dem einzelnen Arbeiter und Angestellten in der Automobilindustrie ermöglichte, Investitionsgüter wie beispielsweise ein eigenes Auto
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zu kaufen. Dieses Erfolgsmodell übernahmen nach und nach auch die europäischen Automobilhersteller. Als Kennzeichen dieser Phase I ist somit zunächst die sich in allen automobilproduzierenden Ländern ausbreitende Massenproduktion zu benennen, welche die jeweiligen Staaten insbesondere im Zuge des zweiten Weltkriegs zunächst für die Rüstungsproduktion bzw. den Bau von Militärfahrzeugen einsetzten. Nach 1945 entwickelten und stabilisierten sich dauerhafte Kooperationen zwischen OEM und Zulieferern sowie zwischen OEM und Gesamtfahrzeugherstellern (und Zulieferern). Das Wachstum in der Automobilindustrie sowie die große Verbreitung der Massenproduktion führten zu steigendem Beschäftigungsvolumen in dieser Branche, parallel vollzog sich die Herausbildung der Zulieferindustrie. Richtet man den Fokus auf die Gesamtfahrzeughersteller oder Auftragsfertiger, so verlief die Unternehmensentwicklung zunächst relativ parallel: Die neuen Ideen Henry Fords inspirierten auch die kleine(re)n Manufakturen, wie das Beispiel von Karmann (vgl. Kapitel 5.1) zeigt. Die ersten Kenntnisse im Bereich der Serienproduktionen wurden in der Phase des Krieges gewissermaßen zweckentfremdet genutzt. In der Nachkriegszeit mussten die Auftragsfertiger ihr Geschäftsfeld der Nischenproduktion bzw. der Sonderanfertigungen neu etablieren und geeignete Kooperationspartner in der zum Teil neu geordneten Auftraggeber-Landschaft suchen. Insofern kann diese erste Phase als Pionier- und Auftaktphase für die Konstituierung der Tier-0,5 Zulieferer, der Gesamtfahrzeughersteller, beschrieben werden. Eine Auslagerung von Fahrzeugproduktionen fand in dieser Phase dann statt, um die (räumliche) Nähe zum Kunden sowie eine Reduktion von Transportkosten vorteilhaft zu nutzen (Sturgeon et al. 1999). Für die erste Phase zeigt sich, dass sich einige Betriebe von der individuellen Manufaktur zur Massenproduktion entwickeln bzw. sich am Leitbild des Fordismus orientieren. Erste Ausdifferenzierungen können beobachtet werden.
3.2 Phase 2. Wachstum, Internationalisierung und erste Krisen
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3.2 Phase 2. Wachstum, Internationalisierung und erste Krisen Im Zuge der internationalen Entwicklung der Automobilindustrie nach dem zweiten Weltkrieg in Westeuropa, den USA und Japan bedingten sich Produktionsmodelle und Nachfragemärkte gegenseitig, die Unternehmen konnten letztlich in den ersten Dekaden auf konstantes Wachstum und sukzessiv steigende Nachfrage setzen (Boyer et al. 2003). Die zweite Phase begann in der Zeit nach dem Wiederaufbau in den 1950er Jahren und endete in den 1990er Jahren, in denen nicht nur die Öffnung der Märkte neue Wettbewerbsbedingungen schaffte, sondern sich die Marktumfeld- und Umweltbedingungen für die Unternehmen in der Automobilbranche in besonders gravierender Weise veränderten. Seit den 1950er Jahren wurde das Auto als Fortbewegungsmittel für den Individualverkehr zunehmend rentabler; jeder, der es sich leisten konnte, strebte danach, selbst ein Auto zu besitzen. Gleichzeitig entwickelte sich parallel zu den OEM eine Zulieferindustrie, die an der Wachstumsdynamik in der Branche teilhaben konnte bzw. diese durch (Prozess-) Innovationen forcierte. Prozesse vertikaler Desintegration förderten die Entstehung von Unternehmen im Umfeld der großen Hersteller. In der Nachkriegszeit fungierte die Automobilbranche insbesondere in den Ländern der Triade als „das Zugpferd des Wirtschaftswachstums“. Viele Zulieferbetriebe vollzogen spätestens in dieser Zeit eine Entwicklung von Handwerksbetrieben bzw. kleinen Manufakturen zu Spezialisten für Einzelteile. Grundsätzlich stellt sich aus heutiger Sicht die Frage, warum die Automobilhersteller Zulieferer brauchten, warum und an welcher Stelle der automobilen Wertschöpfungskette vertikal desintegriert wurde. Die Gesamtfahrzeughersteller ohne eigene Marke gehörten teilweise zu den ersten Automobilproduzenten, sie entstanden, wie beschrieben, aus Manufakturen des Wagen- oder Kutschenbaus, die Fahrzeuge unter ihrer eigenen Marke oder schon im Auftrag anderer Hersteller produzierten. Zumeist handelte es sich bei diesen Automobilherstellern bereits früh um Nischenspezialisten, deren Firmen- (bzw. Marken-) Name in der Branche bereits bekannt war. Im Zuge der Expan-
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3 Branchenentwicklung
sion der Automobilindustrie (international) wurden sie zu einem wichtigen Partner für die OEM. Sowohl ihre Innovationsfähigkeit im Bereich technologischer Kompetenzen als auch die Spezifika ihrer schmalen Organisationsstruktur und ihres Produktionswissens bildeten Alleinstellungsmerkmale, über welche die OEM nicht verfügten. Die Tier-0,5 Zulieferer besetzten spätestens in dieser Phase (Phase 2) somit eine Nische der Branche: An den Stellen, wo die OEM bestimmte Fahrzeugtypen oder Technologien nicht selber herstellen konnten oder wo es sich wirtschaftlich nicht abbilden ließ, zumeist kleine Stückzahlen selber zu produzieren, übernahmen die Gesamtfahrzeughersteller eine wichtige Funktion und konnten langfristige Beziehungen zu den OEM aufbauen und festigen. Wechselseite Abhängigkeiten prägten die Kooperationen dieser Zeit: Die OEM wollten bestimmte Fahrzeugtypen (Cabriolets, Geländewagen...) in ihrer Produktpalette anbieten, verfügten jedoch nicht über die entsprechende Expertise, Produktionskompetenz und Strukturen der Produktionsorganisation in diesem Bereich. Gleichzeitig war eine Integration dieser kleinen Fahrzeugserien in die übrige Produktion zum einen schwierig, zum anderen kostenintensiver als die vertikale Desintegration bzw. Auftragsvergabe an Tier-0,5 Zulieferer. Auf diese Weise besaßen die Gesamtfahrzeughersteller Alleinstellungsmerkmale, durch die sie sich am Markt behaupten konnten. Allerdings war es ihnen nicht möglich, Fahrzeuge unter eigenem Markennamen zu bauen38, da sie zum einen so mit ihren Auftraggebern in Konkurrenz getreten wären, zum anderen ein eigenes Vertriebsnetz hätten aufbauen müssen. Insofern lässt sich diese Phase derart beschreiben, dass es eine „Win-win-Situation“ für OEM und Tier-0,5 Zuliefern gab, die von wechselseitiger Abhängigkeit geprägt war. Bei diesen kleinen Spezialserien handelte es sich häufig um Fahrzeuge, die für das Produktportfolio der OEM trotz ihrer kleinen Stückzahl eine wichtige Funktion besaßen, da es häufig Fahrzeuge mit einem hohen Wiedererkennungswert waren. Stets prägte eine große Abhängigkeit von kon38
Einzelfälle, in denen es Automobilproduktion unter eigenem Namen gab, werden in den Unternehmensfällen beschrieben.
3.2 Phase 2. Wachstum, Internationalisierung und erste Krisen
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junkturellen Zyklen diese Akteurskonstellation, da es sich häufig in gewisser Weise um saisonale Produkte handelte (Cabriolets) bzw. die Fahrzeuge durch ihre hohen Anschaffungskosten nicht zu jeder Zeit auf dieselbe Menge an zahlungskräftigen Kunden trafen. Die Unternehmensgrenzen zwischen den OEM und den Gesamtfahrzeugherstellern blieben während dieser Phase relativ eindeutig und weitestgehend unverändert. Auch wenn einige OEM durch Gründung von Joint-Ventures oder im Zuge von Unternehmenskäufen, durch Auslagerung bestimmter Unternehmensfunktionen (Outsourcing) sowie den Aufbau internationaler Standorte ihre Konzernstruktur veränderten, so betraf dies zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht die Verbindung zu den Gesamtfahrzeugherstellern. Fand die erste Revolution der Automobilindustrie durch Henry Ford in den USA statt, so kann die zweite Revolution in Japan verortet werden: US-amerikanische Wissenschaftler identifizierten in der breit angelegten MIT-Studie die Andersartigkeit und damit führende Wettbewerbsfähigkeit der japanischen Automobilproduzenten — insbesondere Toyota — und zeigten damit, welchen neuen Herausforderungen sich die amerikanischen und europäischen Unternehmen stellen mussten. „Lean production“ wurde das neue Stichwort einer Produktionsweise, die Massenproduktion zur Qualitätsproduktion weiterentwickelt und besondere Maßnahmen integriert, durch die Fahrzeuge zu besonders günstigem Preis hergestellt werden können. In der zweiten Phase, für die diese Entwicklungen prägend waren, veränderte sich demnach die Marktsituation gravierend: Der zunehmende Marktanteil, den die japanische Automobilindustrie dank ihres neuen Konzeptes realisieren konnte, steigerte den Kostendruck für die Automobilunternehmen Europas und Nordamerikas. Prognostiziert wurde – insbesondere im Rahmen der MIT-Studie – ein Wettbewerb zwischen japanischen und westeuropäischen bzw. US-amerikanischen Anbietern, in dem die japanischen Hersteller deutlich überlegen sein würden (Womack et al. 1991).
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Auch wenn im Rückblick gezeigt werden kann, dass besonders die deutschen (bzw. westeuropäischen) „Premiumhersteller“ in dieser Zeit ihre Marktposition eher ausbauen konnten und somit die prognostizierte Krisensituation für diese Unternehmen nicht eintrat, so löste der technologische und organisatorische Wandel in der Automobilproduktion deutliche Veränderungsprozesse in der Branche aus. Die Einführung der „Plattformstrategie“ steigerte die Effizienz: Fortan konnten verschiedene Modelle oder Modellvarianten auf einer technischen Basis (Plattform) gebaut werden. So realisierten die Automobilproduzenten hohe Stückzahlen (high volume) unterschiedlicher Fahrzeugmodelle (van Biesebroeck 2006), was sich insbesondere im Bereich der Klein- und Mittelklassewagen durchsetzte. Einzelne Hersteller litten unter konjunkturellen Krisenphänomenen, die Konsolidierungsprozesse durch Unternehmensübernahmen, Joint Ventures oder Insolvenzen nach sich zogen. Auch die Zulieferbranche, die sich durch den Boom der Automobilindustrie in der Nachkriegszeit stark ausgebreitet hatte und stabile Wachstumsphasen durchlaufen konnte, konsolidierte sich, und es entstanden erste große Zulieferunternehmen (sogenannte „mega suppliers“), die eine Führungsrolle für die folgenden Hierarchieebenen übernahmen (Veloso 2000, S.17f.). Daneben – teilweise hierarchisch untergeordnet – wurden viele kleine Zulieferbetriebe in die automobile Wertschöpfungskette integriert, die unter einem starken Konkurrenz- und damit Kostendruck standen. Diese Zeit lässt sich als eine Phase beschreiben, in der auch die (west!)europäischen, US-amerikanischen und japanischen Märkte zunächst noch relativ geschlossen waren – gleichzeitig unternahmen einige OEM erste Schritte zur Internationalisierung (z.B. Bartlett et al. 1998, Tholen et al. 2004, Posth 2006), denen einzelne Zulieferunternehmen folgten. Die Ölkrise im Jahr 1973 sowie am Ende der 1970er Jahre traf nicht nur die Automobilbranche, sondern alle Wirtschaftszweige und Sektoren, jedoch bestand und besteht zwischen Öl- und Automobilindustrie grundsätzlich eine besonders enge Verbindung. Gleichzeitig beklagte die
3.3 Phase 3. Neue Wege, neue Märkte, neue Herausforderungen.
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Automobilbranche in ihren bislang bekannten Märkten Absatzrückgänge, vor allem aufgrund gesättigter Märkte. Bildlich gesprochen: Die Wegstrecke wurde sowohl für OEM als auch Zulieferer (etwas) holpriger. Während in der ersten Phase insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch davon gesprochen werden konnte, dass die Straße, auf der die Unternehmen fahren, asphaltiert wird, erschwerten jetzt erste Schlaglöcher die Fahrt. Und die Gesamtfahrzeughersteller? Ihre direkte Abhängigkeit von den OEM bedeutete, dass sie starken konjunkturellen Schwankungen ausgeliefert sind. Auf Grundlage der in der MIT-Studie prognostizierten Entwicklung hätte vermutet werden müssen, dass dieses Unternehmenssegment angesichts der Marktdominanz und des Wettbewerbsfaktors „lean production“ auf der Verliererseite landen. In dieser drastischen Weise war das nicht der Fall. Die Bedeutung des wachsenden „Premiumssegments“ und die Komplexität der Wettbewerbsfaktoren, die nicht auf „lean production“ reduziert werden können, kann angesichts der Marktsituation der Gesamtfahrzeughersteller belegt werden: Auch sie gerieten zum Teil „ins Schleudern“, kamen jedoch nicht von der Bahn ab – mit ihrer Produktion von Nischenfahrzeugen und Derivaten trugen sie weiterhin zu einem wichtigen (Produkt-) Bereich des Automobilmarktes bei. Die Unternehmen suchten neue Wege, um politische Regulierung, beschäftigungspolitische Begrenzungen und Regelungen (Kündigungsschutz, Tarifverträge u.ä.) zu umgehen, und gleichzeitig die Herausforderungen des internationalen Handels, der internationalen Konkurrenz zu bestehen sowie Regeln zum „local content“ bei Auslandsinvestionen zu entsprechen, die in dieser Phase begannen (Sturgeon et al. 1999).
3.3 Phase 3. Neue Wege, neue Märkte, neue Herausforderungen. Etwas verallgemeinernd könnte die dritte Phase mit folgender Überschrift versehen werden: „Krisen, Konkurse und Konsolidierungsprozesse“. Die Öffnung neuer Märkte, revolutionäre Veränderungen der In-
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formations- und Kommunikationstechnologien und der Einstieg neuer Wettbewerber in die Branche (z.B. aus China und Indien) schufen neue Voraussetzungen seit den 1990er Jahren. Erste Vorboten und Phänomene dieser Art traten in der vorangehenden Phase bereits auf, die Kernprobleme in Phase 3 resultierten aus – beabsichtigten oder unbeabsichtigten – Folgewirkungen der beschriebenen Entwicklungen (fordistische Massenproduktion, Automatisierung, Internationalisierung u. ä.). Auf der anderen Seite wirkten sich in dieser Phase neue Einschnitte und Herausforderungen auf die Handlungs- und Konkurrenzfähigkeit der Akteure aus. Bereits 1996 beschrieben Ealey und Troyano-Bermudez die allgemeine Krisensituation der internationalen Automobilindustrie treffend: „[…] demand across Europe, the US, and Japan has mostly matured; growth into the next century is likely to be no greater than 1 or 2 percent. High new car prices, stagnating wages, and a supply of inexpensive, good-quality used cars have throttled back demand. At the same time, new entrants to the market, new regulations, too much capacity, and insatiable demand for fresh and differentiated products have eroded profit margins for many original equipment manufacturers (OEMs).” (Ealey et al. 1996, S.63).
Die beiden Autoren widmeten sich anschließend den Strategien der Automobilkonzerne, die diese wählten, um dieser Realität zu begegnen. Dabei erläuterten die Autoren Beispiele, in denen „Anachronismus“ als Strategie gewählt wird, um die Markenposition und Produktionstätigkeit zu erhalten. Dies bedeutet eine Abwendung von der Massenherstellung, der Produktion von Serien mit hohen Stückzahlen, hin zu einer stärker individualisierten Produktion von Fahrzeugen der gehobenen Mittel- oder Oberklasse. An dieser Stelle sollen nicht in umfassender Breite die Strategieempfehlungen rezipiert werden, die im Kontext der vielfältigen Automobilstudien formuliert werden. Vielmehr soll es bei der Identifikation der wesentlichen Veränderungsprozesse und Mechanismen bleiben, auf deren Grundlage anschließend die Fallstudien diskutiert werden.
3.3 Phase 3. Neue Wege, neue Märkte, neue Herausforderungen.
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In dieser dritten Phase, die in den 1990er Jahren begann, wirkte sich zunächst insbesondere die Öffnung der Märkte nach Mittel- und Osteuropa auf die internationale Automobilbranche aus. Nicht nur die neue massive Nachfrage auf den nachholenden Märkten der ehemaligen sozialistischen Staaten, sondern auch die Möglichkeit, neue Standorte zu errichten, führten zu neuen strategischen Optionen und Notwendigkeiten. Expansionsstrategien bestimmten somit die Tagesordnung der Automobilunternehmen parallel zu Maßnahmen, um dem steigenden Konkurrenzdruck durch neue Wettbewerber zu begegnen. Das betrifft zu allererst die OEM, die in dieser Situation neue Managementstrategien entwickelten (Estrin et al. 2001, Bockmann et al. 2002, Sadler et al. 1994, Meardi 2002). Neben den Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten zur Etablierung neuer Produktionsmodelle, Organisationsstrukturen und Experimenten in den neuen Betriebsstätten, die aufgrund der Loslösung vom gewohnten heimischen Institutionengefüge ermöglicht wurden, bargen diese Gelegenheiten auch Risiken: Sprachschwierigkeiten galten als überwindbare Schwierigkeiten, der Umgang mit kulturellen Unterschieden erwies sich dagegen häufig als größere Herausforderung (Depner et al. 2005). Eine zunehmende internationale Standardisierung von Verträgen ergänzte umfassende Veränderungen der Unternehmensorganisation es mussten „andere Arten von Sicherheiten“ gefunden werden, wenn die bislang in westeuropäischen Märkten tätigen Unternehmen nun mit Unternehmen neuer Märkte zusammenarbeiteten39. Die Rahmenbedingungen für die Unternehmen in den Zielländern waren nur teilweise im Vorfeld zu eruieren. Sofern nur in geringem Maße (bzw. gar nicht) Beratungsmöglichkeiten in Anspruch genommen wurden, die auf die neuen Herausforderungen vorbereiteten, um Missverständnissen oder Fehlern vorbeugen zu können, liefen die Unternehmen Gefahr, sich durch die Auslandsinvestition ausschließlich immense Kosten einzuhandeln, die nicht kompensiert werden konnten. 39 Hier gab es (noch) keine etablierte marktwirtschaftliche Praxis bzw. einen Erfahrungsschatz.
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Ein besonderer Stellenwert kommt in diesem Kontext der Steigerung des inländischen Wertschöpfungsanteils (local content) zu, für die verschiedene Motive identifiziert werden können, und die die Architektur der Wertschöpfungskette bei Auslandsinvestitionen deutlich prägt. Die Bewertung dieses Faktors scheint ambivalent: Während er teilweise als eine politisch motivierte Restriktion (z.B. durch die Europäische Union) und damit als Bürde beschrieben wird (z.B. Graves 1993), lässt sich auf der anderen Seite argumentieren, dass die ausländischen Investoren selbst eine Einbettung in den regionalen Kontext anstrebten und bemüht waren, lokale Zulieferstrukturen aufzubauen (z.B. Lane 2000). Die Bezifferung des Anteils lokaler Wertschöpfung in den empirischen Darstellungen schwankt erheblich: Angaben über einen Anteil von 15% (Sadler et al. 1994), über 65-70% (Rhys 2004) bis hin zu einem Spektrum von 50% bis 80% (van Tulder et al. 1998) zeigen, dass jeder Unternehmenseinzelfall trotz nationaler Festlegungen detailliert betrachtet werden muss. Für die Zulieferindustrie hatte dies zum Teil erhebliche Auswirkungen: Häufig war sie gezwungen, dem Auftraggeber an den neuen ausländischen Standort zu folgen. Dies betraf teilweise auch die Auftragsfertiger, wie die Fallstudien zeigen. In Folge der zunehmenden Internationalisierung stieg auch der Kostendruck – diese Herausforderung ergab sich für die Gesamtfahrzeughersteller in besonderem Maße. Die „alte Art“ langfristiger Kooperationsbeziehungen funktionierte nicht mehr, so dass sich die Frage stellte, ob bisher gewohnte Verfahren, Verträge zur Fahrzeugproduktion abzuschließen, durch neue Aushandlungs- und Vertragsverfahren abgelöst werden mussten. Jürgens beschreibt, warum es zu einer Umstrukturierung der Zuliefersysteme kam, die sowohl durch Modularisierung als auch durch Auslagerung von Produktionstätigkeiten (und Dienstleistungen) gekennzeichnet waren: „Die Zielsetzung, die Anzahl der Direktzulieferer zu reduzieren, verband sich hier mit der Überlegung, sie mit der Fertigung und letztlich auch Entwicklung von Modulen und Systemen zu betrauen“. (Jürgens 2004, S.17). Damit sind zwei wesentliche, gravierende und branchenverändernde Entwicklungsschritte beschrieben, die sich gegen-
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seitig bedingten: Zum einen kam es zur Herausbildung von großen Zulieferunternehmen bzw. -konzernen („mega-suppliers“) und somit zu einer Konsolidierung der Zulieferindustrie, die wiederum notwendig war, um Fertigung und Entwicklung von Modulen und Systemen als Zulieferer eigenständig durchführen zu können. Darüber hinaus erforderten die in dieser Phase jahrzehntelang beklagten Überkapazitäten40 neue Beschäftigungsstrategien in den Automobilkonzernen, durch die es zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern kam. Für die deutschen Hersteller lässt sich nachvollziehen, dass aufgrund der tariflichen Rahmenbedingungen in unterschiedlichen Situationen eine umfangreiche Entlassungswelle als nicht durchsetzbare (Kündigungsschutz) sowie aus Kostengründen (Sozialplan, Abfindungen) durch die Unternehmensleitungen als auch nicht als ökonomisch anzustrebende Lösung angesehen wurde. Daher schlossen Geschäftsführungen und Betriebsräte „Standortsicherungsvereinbarungen“ ab, welche die Stammbelegschaften schützten und dieses Personal weiter an die Unternehmen banden, das kapazitär nicht benötigt wurde (vgl. insbesondere Jürgens et al. 2007). Sofern nun aus arbeitsund produktionsorganisatorischer Sicht auch technisch die Möglichkeit bestand, kleine Serien in die Linien einzelner Standorte zu integrieren, gibt es Aufgaben für diese Beschäftigten (die durch Standortsicherungsvereinbarungen weiterhin beschäftigt werden müssen), die zuvor nach außen vergeben wurden: an die Gesamtfahrzeughersteller. Die Veränderungen von Wertschöpfungsketten zu Wertschöpfungsnetzwerken, deren Architektur, Steuerungsmechanismen und Folgen der Veränderungsprozesse für die Unternehmen der Automobilindustrie verliefen demnach sukzessive, hatten aber gleichzeitig massive Auswirkungen auf die einzelnen Unternehmen. Kinkel und Lay schlugen zwar 2003 als künftiges Gegenmodell zum altindustriellen OEM (Konzern) „spezialisierte kleine Unternehmenseinheiten in flexibel kon40
(Becker 2007, S.106, 119 und insbesondere S.122, vgl. dazu Fuchs et al. 2003, S.8f., Pries 2003, S.1, Jürgens et al. 2005, S.21, Dörr et al. 1997, S.32)
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figurierten Wertschöpfungsketten“ vor, diagnostizierten gleichzeitig für die deutsche Industrie jedoch eine nach wie vor hohe Fertigungstiefe (ca. 75%) – dies bezog sich allerdings auf die gesamte verarbeitende Industrie in Deutschland. Die Automobilindustrie zeige, so die Autoren, eine Ausnahme (ca. 30%) (Kinkel et al. 2007). Für die Automobilindustrie – insbesondere für die deutsche – konnte insofern von einer geringen Wertschöpfungstiefe und somit einer ausgeprägten Integration der Zulieferunternehmen ausgegangen werden. Aktuell wird berichtet, dass der Trend zur Verringerung der Wertschöpfungstiefe auf Seiten der OEM und somit das gleichzeitige Erhöhen der Wertschöpfungsanteile für die Lieferanten nicht nur anhält, sondern zu einem regelrechten „radikalen Umbruch“ der automobilen Wertschöpfungskette(n) führe (vgl. ebd). Dabei werden in Automobilstudien Entwicklungs- und Fertigungstiefe unterschieden (Mercer Management Consulting et al. 2004, Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) 2003). Dieser Argumentation folgend müssten spürbare Wachstumstrends für die Zulieferindustrie zu beobachten sein, die jedoch gleichzeitig mit einem wachsenden Kostendruck verbunden sind (Haipeter et al. 2007). Dies betrifft insbesondere die Verlagerung von Fertigungstiefe zu den Zulieferunternehmen. Ob die Verlagerung von Entwicklungstätigkeiten an Zulieferunternehmen gleichzeitig mit erhöhtem Druck durch die OEM verbunden ist, hier Kosten einzusparen, lässt sich nicht eindeutig beantworten (Kinkel et al. 2003). Im Zuge einer Analyse von Umsatzrenditen für Automobilzulieferer im Vergleich zu anderen Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes zeigt sich, dass die Tier-1-Zulieferer einem besonderen Kostendruck ausgesetzt sind. Kinkel und Lay weisen nach, dass die Tier-1-Zulieferer im Durchschnitt eine Umsatzrendite vor Steuern in Höhe von 4,2 % erreichen (Erhebung aus dem Jahr 2001), während Tier-2-Zuliefer durchschnittlich um 1,5 Prozentpunkte (5,3%) höhere, andere Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes sogar um 2,1 Prozentpunkte höhere Renditen verbuchen (6,3%) (Kinkel et al. 2005, S.649). Auch wenn diese einzelnen Werte nur Anhaltspunkte sein können, so gibt es doch Grund zur
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Annahme, dass Tier-1-Zuliefer mit den OEM verstärkt im Rahmen von Fahrzeugentwicklungsprojekten kooperieren, die kosten- bzw. investitionsintensive Unternehmensbereiche voraussetzen. Dabei beschreiben Kinkel und Lay das Dilemma treffend: „Die first tier supplier könnten in eine Situation kommen, in der sie von zwei Seiten unter Druck geraten. So wird bereits von den tier-one-suppliern in der Zange zwischen Original Equipment Manufacturer und Vorlieferant gesprochen. Das ursprünglich angedachte Bild der starken Systemlieferanten auf der obersten Ebene der Zulieferhierarchie scheint sich nur eingeschränkt zu realisieren.“ (Kinkel et al. 2005, S8f.).
Dies ist, wie die Fallbeispiele im Folgenden zeigen, bei weitem zu vorsichtig ausgedrückt: Starke Player auf oberster Ebene wurden die Systemlieferanten nicht. Die Anforderungen an ihre Entwicklungs- und Innovationsfähigkeit stiegen an. Damit trugen sie mehr Risiken und übernahmen außerdem Anteile der Gesamtfahrzeugherstellung. Die Diskussion um die Veränderung der Fertigungstiefe bei den eigentlichen Hauptprotagonisten der Branche, den OEM, schließt an die Fragestellungen an, denen sich die Transaktionskostentheorie widmet. Der an dieser Stelle kurze Verweis auf eine Verschiebung der Gewichte in der automobilen Wertschöpfungskette wird im folgenden eine Rolle spielen, wenn es um die Veränderung der Funktion und Position der Gesamtfahrzeughersteller geht. Die Motorisierung bestimmter Regionen bot Investitions- und Expansionsoptionen und barg gleichzeitig Risiken. Zwar wurde der Aufbau neuer Standorte in diesen Regionen zunächst als Expansionsstrategie bzw. zur Erschließung neuer Märkte betrieben, häufig lässt sich eine Grenze zwischen dieser Art von Investition und Standortverlagerungen z.B. aus Kostengründen nicht scharf ziehen. Grundsätzlich zeigt sich für die internationale Automobilindustrie – sofern es sich um OEM oder große Zulieferkonzerne handelt –, dass diese Unternehmen mittlerweile einen großen Erfahrungsschatz im Bereich solcher Auslandsprojekte sammeln konnten. Gleichwohl verweisen Rückverlagerungsstudien darauf, in welchem Umfang Auslandsinvestitionen nicht so erfolgreich
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verliefen wie zuvor geplant oder gewünscht war, so dass die Unternehmen diesen Schritt wieder rückgängig machten 41. Sturgeon und Florida zeigen bereits 1999, dass der Wandel in der Automobilindustrie durch folgende Merkmale geprägt ist (Sturgeon et al. 1999, S.115), was weiterhin zutreffend ist: • Die Wettbewerbsfähigkeit und die Erschließung neuer Märkte kann nicht mehr ausschließlich durch Exporte sichergestellt werden, es müssen neue Auslandsstandorte aufgebaut werden und ein globales Produktionsmodell entwickelt werden. („increasingly demands day-to-day production function be organized on a regional and global basis“) • In früheren Zeiten wurden die aufholenden Märkte vor allem in Schwellenländern gewissermaßen als „Schutthalden“ für alte Produktionsmodelle und Maschinen genutzt. Diese Situation hat sich geändert, so dass Auslandsstandorte auch an „exotischen“ Orten, fernab der Heimat – oder gerade an diesen Standorten – als Versuchsbetriebe für neue Produktionsvarianten / -techniken genutzt werden. • Die Branche entwickelt sich „from an export-led industry [...] to a network-led industry“. • Wird die Frage nach den entscheidenden Kompetenzen der Automobilkonzerne gestellt, die ihnen zu hoher Wettbewerbsfähigkeit verhelfen, so steht nicht mehr die Exzellenz in der Produktion im Vordergrund. Wesentlich ist vielmehr die Fähigkeit des Managements, eine räumlich weit verbreitete Konzernstruktur effizient zu steuern, Tochtergesellschaften, Werke an unterschiedlichen Standorten (weltweit) sowie ein großes Zulieferernetzwerk zu organisieren, zu lenken. • Darüber hinaus muss das Unternehmen die Fähigkeit besitzen, die unterschiedlichen Märkte zu verstehen, insbesondere die
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Umfangreiche Studien dazu führt bspw. das ISI Karlsruhe durch (Kinkel et al. 2009, Kinkel et al. 2008)
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neuen Märkte passend einzuschätzen und die entsprechenden Strategien zur Markterschließung zu finden. Der Befund von Sturgeon und Florida verweist auf ein Phänomen, das nachhaltig zu gravierenden Problemen der gesamten Branche führt: „investments in emerging markets have the earmarks of a classic speculative over-extension, where groups of investors – all basing their decisions on the same assumptions and information – make similar investment moves at the same time“ (ebd.). Daraus resultiert das sich kontinuierlich verschlimmernde Problem der Überkapazitäten. Hinter diesem Problem steckt zudem ein Dilemma, das im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter thematisiert und analysiert werden kann: Die Unternehmen statten ihre Werke adäquat zur vorher ermittelten Marktanalyse und –prognose aus. Dabei müssen sie faktisch davon überzeugt sein, dass ihr Modell erfolgreich am Markt bestehen wird, sonst bräuchten sie das neue Modell nicht zu produzieren. Die Realität zeigt jedoch, dass die OEM in den meisten Fällen das Nachfragepotential überschätzen, so dass es seit vielen Jahren zu erheblichen Überkapazitäten kommt (Alpert et al. 1982: 294-305). Das Spektrum an neuen Herausforderungen für Automobilunternehmen ergibt sich in besonderer Weise daraus, zwei Fähigkeiten gleichzeitig zu erfüllen: In Fahrzeugkonzept und Design müssen die Wünsche der Kunden antizipiert sein, gleichzeitig werden hohe Ansprüche an die Produktqualität gerichtet. Die Koordinationsfähigkeiten sind in besonderem Maße gefragt, da wenige Fahrzeugplattformen ermöglichen müssen, dass die spezifischen Modellvarianten an die regionalen Nachfragebedürfnisse und –bedingungen angepasst sind. Was insbesondere im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise als akutes Problem der Automobilhersteller dargestellt wurde und in gravierenden Unternehmenskrisen mündete, ist eher das Ergebnis jahrzehntelanger Fehlkalkulationen und – anscheinend – unüberwindbarer strategischer Herausforderungen. So kann bereits 1999 mit Sturgeon und Florida gezeigt werden: „Automakers are seeking to mitigate the risks of
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globalization-induced overcapacity by building an new breed of highly efficient low-volume assembly plants that are easily expandable and very flexible in terms of product mix. The reduction of minimum scale economies is being facilitated by a strong move toward modular assembly, particularly among American and European automakers.“ (Sturgeon et al. 1999, S.116). Für die abhängigen Gesamtfahrzeughersteller, die auf Aufträge durch die OEM und insofern auch unmittelbar auf deren kontinuierlichen Erfolg angewiesen sind, bedeutet dies, dass der Kostendruck steigt und die Möglichkeit für neue Gesamtfahrzeugaufträge erschwert wird. Durch die im Zuge der Globalisierung stattfindende Auslagerung von wichtigen Produktionstätigkeiten und die Reorganisation der Wertschöpfungskette entstanden große Zulieferunternehmen, welche die OEM mit Modulen und Systemen versorgen. Die Kombination von Modularisierung und einem hohen Maße an Auslagerung führt zu einer umfangreichen Produktionsverantwortung und Wertschöpfungstätigkeit der First-Tier-Zulieferer. Diese verfolgten und verfolgen ihrerseits eine ausgeprägte Internationalisierungsstrategie, um in der Rolle als entscheidender Vorproduzent für insbesondere US-amerikanische und europäische OEM wettbewerbsfähig zu sein. Ihr Wachstum gründet außerdem auf verschiedene Firmenzusammenschlüsse, Aufkäufe, vertikale Integration. Dabei könnten sogar gewissermaßen „extreme“ Prozesse vertikaler Integration in die Fusion mit einem OEM münden, wie sie im Jahr 2009 fast im Fall von Magna International und Opel zustande gekommen wäre. Sturgeon und Florida sprechen treffend vom „rise of the global supplier“ und fassen zusammen: „Thus we are seeing simultaneous trends toward deverticalization (by automakers) and vertical integration (among first tier suppliers) that – in combination with globalization – is helping to create a new global supply-base capable of supporting the activities of final assemblers on a worldwide basis.“ (ebd, S.117).
Zudem verweisen die Autoren des Reports auf das ihrer Meinung nach wesentliche Merkmal der Reorganisation von Wertschöpfungsketten
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und der Auslagerung- und Globalisierungsprozesse: Mit ihrer neuen Rolle sind die Zulieferer gleichzeitig einem höheren Risiko ausgesetzt, da sie für neue Investitionen, wie beispielsweise die Errichtung eines Auslandsstandortes, eigene Investitionskosten tragen müssen. Aus dieser Entwicklung resultiert für große Zulieferunternehmen die Situation, dass sie ähnliche Herausforderungen bewältigen müssen wie die OEM: das Risiko von Überkapazitäten, Koordinations- und Kontrollprobleme einer großen und weiträumig angesiedelten Unternehmens- bzw. Konzernstruktur, die Steuerung verschiedener Unternehmensbeziehungen (auch joint-ventures) sowie nationale und regionale institutionelle Regulierungen (vgl. ebd.). Die Analyse der veränderten Anforderungen an Fahrzeuge und Fahrzeugproduktion kann insbesondere mit drei Begriffen auf den Punkt gebracht werden: • Innovation • Flexibilität • Individualität Child beschreibt in seinem Buch zu Organisationen und Management die maßgeblichen Veränderungen, die Unternehmen (unabhängig welcher Branche) vor besondere Herausforderungen stellen (Child 2008). Globalisierung wird demnach verstanden als kontinuierlich steigendes Niveau von Interdependenzen weltweit, wozu die Erosion von Grenzen der Handels- und Finanzmärkte beiträgt, sinkende Transportkosten die Überwindung von großen Distanzen erleichtert und Informations- und Telekommunikationstechnologien zu einer Verbreitung von „best practice“ Konzepten, Managementstilen und –kulturen beitragen. Neue Technologien im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie wirken sich in Form verbesserter Möglichkeit der Steuerung und Kontrolle von geographisch weit entfernten Unternehmenseinheiten aus, ein höheres Tempo in der Kommunikation, aber auch in weiten Teilen der allgemeinen Funktionsweise einer Organisation stellt gleichzeitig eine große Herausforderung dar.
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„Greater velocity has come to characterize virtually all aspects of organizational functioning, from internal communications, through product development, to competitive interchange. [...] With greater velocity in the environment comes an increase in the unpredictbility or volatility of events to which organizations have to respond.“ (Child 2008, S.37).
Werden nun die Charakteristika der Gesamtfahrzeughersteller, ihre technische Kompetenz, ihre Produktionsorganisation, die es erlaubt, kleine(re) Stückzahlen unter flexiblen Produktionsbedingungen zu realisieren, die Rentabilität trotz längerer Taktzeiten, ihr hohes Maß an Flexibilität und die Qualität, die kontinuierlich durch internationale Vergleichsstudien42 bestätigt wird, mit den Herausforderungen dieser Phase verknüpft, kann man zu folgendem Ergebnis kommen: Die Erfüllung dieser neuen Anforderungen könnte zur Paradedisziplin der Gesamtfahrzeughersteller werden. Bestätigung findet diese These in verschiedenen Studien zur Branchenentwicklung. Danach übernehmen die Zulieferer allgemein weitere Wertschöpfungsanteile, da insbesondere die Premiummarken als Wachstumssegment beschrieben werden, weshalb das Geschäftsmodell des Auftragsfertigers mit der Perspektive bis 2015 dezidiert als „zukunftsträchtig“ eingeschätzt wird (Mercer Management Consulting et al. 2004, S.42). Auch wenn es um das Potential für Unternehmen geht, die im Bereich der Antriebstechnologien und/oder des Karosseriebaus (Leichtmetall) eine besondere Kompetenz aufweisen können, werden ihnen positive Entwicklungstrends prognostiziert (ebd.). Auch alternative Studien kommen zu diesen Ergebnissen (Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) 2003). Bevor diese Aussichten in Unternehmensfallstudien für das besagte Segment mit der Realität kontrastiert werden, sei ein Verweis auf aktuelle Diagnosen erlaubt. Dieser besagt, dass die Entwicklung der Automobilindustrie zu Beginn des 21. Jahrhunderts letztlich zeigt, dass der Wettbewerbsdruck bzw. das Ausmaß an Konkurrenz ein Niveau erreicht hat, das kontinuierlich die Existenz sowohl der Neulinge im Markt als auch der etablierten Akteure gefährdet (vgl. Oliver et al. 2008, S.563). 42
Insbesondere: J.D.Power-Qualitätsstudien
3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren
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Die Ambivalenz von Chance und Gefahr soll die folgenden Teile der Arbeit begleiten und kann möglicherweise nach eingehender Diskussion der Unternehmensfälle eine Tendenz aufzeigen, welcher Aspekt für welches Segment der europäischen Automobilindustrie in der kommenden Zeit überwiegen wird.
3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren Die Unternehmen der Automobilindustrie befinden sich mit ihren Unternehmensstandorten und Produkten in besonderem Maße „mitten in der Gesellschaft“. Es sind nicht nur die hohen Beschäftigtenzahlen, die für die Automobilproduktion verzeichnet werden43, so dass dieser Industriebranche eine erhebliche arbeitsmarktpolitische und volkswirtschaftliche Bedeutung zukommt. Eine Verbindung zwischen Unternehmen und Unternehmensumwelt ergibt sich darüber hinaus an verschiedenen Schnittstellen – für die Entwicklungsperspektiven der Auftragsfertiger spielen sie eine wichtige Rolle. Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren beeinflussen sich wechselseitig. Bei der Betrachtung der Umweltfaktoren fällt auf, dass sie sich auf die OEM und die Auftragsfertiger in unterschiedlicher Weise auswirken. Auf einige Faktoren reagieren die Unternehmen in besonderer Weise. Gleichzeitig prägen wiederum bestimmte Unternehmensentscheidungen ihre Umwelt bedeutend.
3.4.1
Produktnachfrage – Produktionsmodelle
Das Automobil ist, wie sich in vorangehenden Kapiteln zur Branchenentwicklung über die vergangenen ca. hundert Jahre zeigte, zum wichtigsten Fortbewegungsmittel geworden. Dadurch wird es als nützliches 43
Dabei handelt es sich relativ konstant um 700.00 und 800.000 Beschäftigte in Deutschland zwischen 1999 und 2009 (vgl. Jahresberichte des VDA).
82
3 Branchenentwicklung
Produkt, aber auch als Statusobjekt und gewissermaßen schon „Kult(ur)objekt“ oder „künstlerisches Produkt“ für viele Menschen zu einer der wichtigsten und – abgesehen von eigenen Immobilien – zumeist einer der kostenintensivsten Investitionen. In historischer Betrachtung sorgt das Angebot an Automobilen, insbesondere durch die Massenproduktion, für eine sukzessive Sättigung der Märkte in der Triade. In der heutigen Zeit resultiert die Nachfrage nach Fahrzeugen in diesen Märkten meistens nicht mehr aus dem Wunsch, überhaupt ein Auto zu besitzen. Es geht eher um die Ersetzung oder Ergänzung der bereits bestehenden Fahrzeuge oder Fahrzeugflotten. In den aufholenden Ökonomien wiederum, also auf neuen Märkten, können die multinational tätigen Automobilunternehmen diese neue Nachfrage bedienen. Somit entsteht ein komplexes Bild von Nachfragevarianten, die eine breite Produktpalette bei den internationalen Konzernen hervorbringen, und die von verschiedenen Standorten aus bedient werden. Die Herausbildung unterschiedlicher Produktionsmodelle ermöglicht das Angebot eines breiten Produktspektrums, das sich letztlich auch in den Anschaffungskosten niederschlägt. Insofern bedingen sich Angebot und Nachfrage selbstverständlich gegenseitig. In dieser Hinsicht erweisen sich die Ausgestaltung von Produktionsmodellen, die Angebote in unterschiedlichen Preisklassen schafft, und die Internationalisierungsstrategie der Unternehmen, durch die Produkte für neue Märkte angeboten werden, als entscheidende Variablen. Die Auftragsfertiger kommen dann zum Zug, wenn der OEM die Entscheidung für ein bestimmtes Produkt und gleichzeitig für dessen externe Fertigung trifft. Die Fahrzeuge, um die es bei der Auftragsfertigung geht, gehören zu einem Modellsegment, das bestimmte Kundengruppen anspricht: Der Anspruch an die Ausstattungsmerkmale bestimmt besonders den Kundenwunsch. Die Nachfragestruktur ergibt sich aus unterschiedlichen Nutzungsmotiven und Ansprüchen an das Produkt. Betrachtet man den Aspekt der Nützlichkeit im Sinne der „Fahrtüchtigkeit“ des Autos, so zeigt sich, wie viele weitere Branchen und Dienstleistungen – über die direkten Automobilzulieferer hinaus – entweder direkt mit dem Auto-
3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren
83
mobil verbunden sind (Kfz-Reparaturdienste, Automobilhändler, Fahrzeugversicherungen, Fahrzeugfinanzierung, Hersteller von Fahrzeugzubehör wie Kindersitze, Transportsysteme, Unterhaltungselektronik etc.) oder aber dringend darauf angewiesen sind (wie insbesondere Transport- und Fahrdienste, Pflegedienste, Post und Paketdienste, Notdienste, Taxiunternehmen). Der Aspekt des „Statussymbols“ ist angesprochen, wenn das Automobil zum „Kunstobjekt“ bzw. Designobjekt wird44. Ginge es nur um die Nützlichkeit des Automobils als Fortbewegungsmittel, wären viele Automobiltypen und -modelle nicht vorstellbar (Sportwagen, Cabriolets, besondere Karosserievarianten). An diesen beiden Funktionen zeigt sich beispielhaft, wie sehr das Produkt den Erwartungen der Nutzer bzw. Käufer entsprechen muss – es muss in besonderem Maße die Nützlichkeits- oder aber die „Exklusivitäts“-Funktion (im Sinne von Design, Raffinesse, Individualität) besitzen45 bzw. sehr häufig beides in Kombination. Insofern kommt es auf das Automobilunternehmen an, den Umfang dieser verschiedenen Nachfragearten zu antizipieren und ihm durch geeignete Produkte zu entsprechen. Bezogen auf den Untersuchungsgegenstand der Gesamtfahrzeughersteller bedeutet dies: Sie sind darauf angewiesen, dass die OEM die Marktsituation passend zur Nachfragesituation, zu Moden und Trends einschätzen und den Gesamtfahrzeughersteller mit der Produktion beauftragen oder aber entsprechende Konzepte und Produktangebote der Gesamtfahrzeughersteller annehmen.
44
So findet das Auto Niederschlag in künstlerischen Arbeiten: Skulpturen des Künstlers Wolf Vostell in Malpartida de Cáceres, Spanien, Köln und Berlin (vgl. Vostell et al. 2001) oder der legendäre „Matra 530“ von Sonia Delaunay (vgl. McCully 2001) 45 Hinsichtlich der exklusiven Nischenfahrzeuge werden zum Teil auch bestimmte Funktionen zum Alleinstellungsmerkmal (wie z.B. Verdecke, Aufbauten etc.), insofern ist diese Differenzierung nur als grobe Illustration für bestimmte Nutzergruppen zu verstehen.
84 3.4.2
3 Branchenentwicklung
Gesellschaftliche Anforderungen an Produkte und Unternehmen – Produktionsmodelle und Innovationsfähigkeit
Beim Blick auf das Unternehmensumfeld geht es nicht nur um die individuelle Bedeutung des Automobils als Investitionsgut oder um die soziale Umwelt der Unternehmen und die Auswirkungen von Unternehmensentscheidungen zur Verlagerung von Produktion oder zur Erschließung neuer Produktionsumfänge. Das Innovationsverhalten der Automobilproduzenten ist gefragt, da der Personenindividualverkehr insbesondere in seiner Quantität in Industrieländern für hohe Umweltbelastungen verantwortlich gemacht wird. Darüber hinaus richten sich gesellschaftliche Forderungen an die (Verkehrs-)Sicherheit, das Auto wird hier als mögliches Gefahrenobjekt für andere Verkehrsteilnehmer eingeordnet. In kaum einem anderen industriell hergestellten Produkt sind so viele gesellschaftliche Ansprüche gebündelt wie im PKW (auch LKW, aber mit geringerer Aufmerksamkeit). Die Position der Unternehmen im internationalen Wettbewerb, die Folgen politischer Veränderungen, die zur Öffnung von Märkten führt und der Nachholbedarf bestimmter Weltregionen bei der Automobilisierung fordern die Innovationstätigkeit der Unternehmen zusätzlich heraus. Für die Automobilindustrie können besondere Innovationsverläufe nachgezeichnet werden, welche die Kooperations- und Konkurrenzstruktur der Automobilunternehmen, auch der Gesamtfahrzeughersteller, in besonderer Weise prägen (Jürgens et al. 2002). Bezogen auf die Verkehrssicherheit stehen die Automobilproduzenten vor der Aufgabe, innovative Lösungen für die Sicherheit der Insassen zu entwickeln (Gurt, Airbag, ABS, ESP…) und diese Sicherheitssysteme kontinuierlich zu verbessern. Zu erwarten ist ein direktes Interesse des Kunden an einem hohen Sicherheitsstandard des Fahrzeugs, für das er dann unter Umständen bereit ist, einen höheren Preis zu bezahlen. Dass diese Erwartung möglicherweise der Realität entspricht, beweisen Marketingstrategien für einzelne Modelle oder ganze Marken, die in besonderer Weise Eigenschaften zur
3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren
85
Fahrzeugsicherheit bewerben. Die Innovationsfähigkeit in diesem Bereich nutzen die Automobilkonzerne demnach direkt in der Kommunikation mit dem Kunden. Die Kehrseite dieser Medaille fällt in den Blick, wenn Rückrufaktionen aufgrund von Sicherheitsmängeln und Produkt(ions)fehlern notwendig sind, die das Renomée der Automobilmarke erheblich beeinträchtigen können. Auch politische und gesellschaftliche Diskurse um den vielzitierten „Klimawandel“ und Umweltproblematiken beeinflussen die Automobilindustrie. Dabei zeigt sich insbesondere in der Diskussion um Emissionen ein ambivalentes Bild: Einerseits versuchen die großen Automobilkonzerne, politische Regulierung zu verhindern, um nicht in ihren Handlungsfähigkeiten, genauer gesagt Produktpolitiken, eingeschränkt zu werden. Sofern es um politische Maßnahmen zur Begrenzung der CO2-Emissionen und dabei um starre Verbrauchsgrenzen geht, betrifft dies im besonderen „Premiumhersteller“. Die EU sieht sich aufgrund der vereinbarten Ziele des Kyoto-Protokolls veranlasst, eine Begrenzung von CO2-Emissionen einzuführen. In erster Linie nutzt die EU dafür das Instrument der „Freiwilligen Vereinbarung“ (Voluntary Agreements), im Rahmen derer sich die Automobilproduzenten zu einem Absenken des CO2-Ausstoßes verpflichten46. Bislang gibt es eine freiwillige Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und dem Dachverband der Automobilindustrie ACEA (Association des Constructeurs d’Automobiles Européens), in der Ziele vereinbart sind, die allerdings nicht verpflichtend erreicht werden müssen. Damit appelliert die EU an die Angebotsseite der Automobilhersteller. Gleichzeitig müssen die Käufer (Nachfrageseite) sich entsprechend verhalten, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Eine Studie von Ryan et al. zeigt, dass die steuerlichen Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle für die Reduktion 46
Darüber hinaus geht es auch um politische Steuerung in der Fiskalpolitik derart, dass den Käufern von effizienteren Fahrzeugen im Sinne der CO2-Reduktion steuerliche Kostenvorteile eingeräumt werden. Außerdem sieht die EU in einer Verbesserung der Verbraucherinformation über die Verbrauchswerte der Fahrzeuge einen Weg zur Reduktion der Emissionen (und legt damit bestimmte Rationalitäten und Wertvorstellungen der Verbraucher stillschweigend zugrunde).
86
3 Branchenentwicklung
der CO2-Emissionen spielen. Diesbezüglich differieren die nationalen Vorschriften47, da trotz entsprechender EU-Richtlinien den Mitgliedsstaaten für die Formulierung der steuerlichen Vorschriften erhebliche Spielräume bleiben (Ryan et al. 2009, S.371). Ein interessanter Befund dieser Studie besteht darin, dass die Besteuerung von Kraftstoffen unterschiedliche Folgewirkungen auslöst: Eine Erhöhung der Besteuerung von Dieselfahrzeugen führt zu einer steigenden Nachfrage nach benzinbetriebenen Automobilen. Umgekehrt wirkt sich die Steuererhöhung auf benzinbetriebene Fahrzeuge nicht positiv darauf aus, dass mehr Dieselfahrzeugen angeschafft würden, was z.B. auf den höheren Anschaffungspreis (ca. 2.000 Euro) für Fahrzeuge mit Dieselmotor zurückzuführen ist. Ohne diese Besonderheit politischer Regulierung und ihre Wirkungsmöglichkeiten eingehender thematisieren und ohne internationale Dimension einbeziehen zu können, verweist diese Debatte auf die wachsende politische und gesellschaftliche Bedeutung von Produktspezifika in der Automobilindustrie. Auf der anderen Seite bietet eben gerade diese globale Problematik für die Automobilunternehmen auch die Chance, sich zu profilieren und durch Innovationen in neue Märkte und Geschäftsfelder einzusteigen sowie gleichzeitig das Ansehen des Unternehmens zu steigern. Verbrennungsmaschinen, die einen geringeren CO2-Ausstoß verursachen, sind Ergebnis von Innovationstätigkeiten der Automobilhersteller. Somit setzt die Teilnahme an der „Freiwilligen Vereinbarung“ auch die Bereitschaft voraus, in umweltfreundliche Technologien zu investieren. Die wachsende politische und gesellschaftliche Bedeutung der Umwelt- und Klimapolitik entspricht der Beobachtung auf der Markoebene. Wieweit damit die individuellen Vorstellungen der einzelnen Autokäufer übereinstimmen, ist fraglich. Die Automobilproduzenten befinden sich demnach in der Situation, in der Öffentlichkeit und gegenüber politischen Forderungen ihr umwelt- und klimapolitisches Bewusstsein zu beweisen. Fraglich bleibt dabei, wie sehr das individuelle Käuferverhalten die47
vgl. http://ec.europa.eu/taxation_customs/taxation/other_taxes/passenger_car/ index_de.htm (Abruf: 12.12.2009).
3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren
87
se Bemühungen und das damit verbundene Innovationsverhalten honoriert, wie viel die Autokäufer zu bezahlen bereit sind. Für die Gesamtfahrzeughersteller spielt dieser Aspekt insoweit eine Rolle, als vor allem Fahrzeuge des Premiumsegments von der Notwendigkeit zur Reduktion von CO2-Emissionen betroffen sind, da sie aufgrund ihrer Motorausstattung über den von der EU gewünschten Werten liegen. Entweder ist daher eine enge Kooperation mit den OEM notwendig oder aber die Risiko- und Investitionsbereitschaft sowie das Innovationspotential gefragt, damit der Gesamtfahrzeughersteller selbständig z.B. im Bereich neuer Antriebstechnologien tätig wird.
3.4.3
Arbeitskräftepotential, strukturpolitische Förderung – Beschäftigungsstrategie und Innovationspotential
In den USA, in Japan und in Europa wird der Automobilindustrie eine wichtige Funktion zugesprochen, so auch in Deutschland: Als zweitgrößtem Industriezweig (hinter dem Maschinen- und Anlagenbau) widmen Gesellschaft, Politik und Verbände der Branche große Aufmerksamkeit. Primär spielt diesbezüglich sicherlich das Beschäftigungsvolumen48 die entscheidende Rolle. Daneben gibt es auch „kulturelle“ Faktoren: das Automobil als wesentliche Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, ein Investitionsgut, das eine hohe Emotionalität besitzt (vgl. insb. Franke 2005, Canzler 2005). Canzler zeigt, dass das Auto trotz „fundamentaler Autokritik“, trotz der gesellschaftskritischen und umweltpolitischen Positionen für den einzelnen nicht an Bedeutung verloren hat, sondern vielmehr von einer „Stärke des Privatautos“ gesprochen werden kann49. Das Automobil stellt demnach in industrialisierten 48
vgl. Beschäftigungsvolumen; Bedeutung Automobilindustrie: Im Jahr 2000 betrug der Wertschöpfungsanteil der Automobilindustrie an der gesamten industriellen Wertschöpfung in Deutschland 12 % (Weiß 2000). 49 In diesem Zusammenhang resümiert Canzler treffend: „Das Leitbild Automobilität ist auch in der zweiten Moderne dominant, das Auto als privat verfügbares Artefakt bedient und ermöglicht die gesellschaftlich geforderte flexible Mobilität. Es wird wie keine andere
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3 Branchenentwicklung
und entwickelten Ländern nach wie vor ein nachgefragtes Investitionsgut dar und besitzt erst recht in Entwicklungs- und Schwellenländern ein hohes Wachstumspotential als wesentliches Zielobjekt individueller Wünsche. Von einem Untergang der Automobilindustrie kann man also nicht sprechen. Allerdings zeigen die Konsolidierungsprozesse, dass es einen Wandel der Beschäftigungsstruktur in dieser traditionellen industriellen Branche gibt. Das Beschäftigungspotential für die gewerblichen Berufe und der Bedarf an Werker-Tätigkeiten, die bislang einen hohen Umfang erreichten, sinken oder bestehen lediglich noch im Rahmen kurzfristiger Beschäftigungsverhältnisse. Hier wirken sich Veränderungen gesetzlicher Regelungen beispielsweise im Bereich der Einführung von Leiharbeit o.ä. auf die strategischen Möglichkeiten der Unternehmen aus. Deutlich wird zum einen, dass sich der Markt verändert, dabei aber weiterhin Potential bietet. Deutlich wird jedoch zum anderen, dass sich die Schwerpunkte der Produktionsstrukturen verschieben, und sich das Beschäftigungspotential selbst bei gleichbleibenden Marktanteilen oder Unternehmenswachstum für bestimmte Gruppen erheblich verändert. Wenn nationale Regierungen, kommunale Verwaltungen oder ähnliche Akteure Interesse an der Automobilindustrie zeigen, dann geht es zumeist um Investitionen oder Arbeitsplätze. Konjunkturelle Schwankungen in der Automobilbranche verursachen Engpässe und Problemsituationen vor allem in zwei Fällen: Die Unternehmen rekrutieren hohe Zahlen an Beschäftigten entweder, wenn eine so große Nachfrage nach einem (neuen) Modell besteht, dass kurzfristig die Produktion ausgeweitet werden muss, oder im Zuge der Errichtung eines neuen Standortes. Dabei entsteht häufig ein Engpass an qualifizierten Beschäftigten (z.B. bei Investitionen in Mittel- und Osteuropa in Regionen, wo bereits andere Automobil- oder Industrieunternehmen produzieren). Bezogen auf Verkehrstechnik hybrid genutzt und entlastet von Alltagskomplexität, da es Handlungsroutinen begünstigt. Selbstbeweglichkeit ist der Maßstab für alle hybriden (intermodalen) Alternativen. Daran kommt keine ernst zu nehmende Autokritik mehr vorbei.“ (Canzler 2005, S.264).
3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren
89
Deutschland und seine Bildungs- und Ausbildungsstruktur kann dieser Situation entgegengesteuert werden, indem entsprechende Bildungseinrichtungen geschaffen werden, um die Automobilindustrie mit qualifiziertem Personal zu versorgen. Vorstellbar sind außerdem regionale „Werbeaktionen“, um neue Beschäftigte anzuziehen und für die Beschäftigungsmöglichkeit zu werben. Eine Problemsituation aus anderer Perspektive entsteht für eine Region dann, wenn das Unternehmen aufgrund eines konjunkturellen Rückgangs der Nachfrage und der notwendigen Stückzahlenreduktion das Beschäftigungsvolumen reduzieren und Mitarbeiter entlassen muss. Verschiedene Maßnahmen im Umfeld der Automobilunternehmen werden ergriffen, die häufig einen vergleichsweise hohen finanziellen Einsatz erfordern, um beispielsweise Auswirkungen dieser konjunkturellen Krisen abfedern zu helfen. So kommt es mit der Hilfe staatlicher, landespolitischer oder europäischer Mittel zur Einrichtung von Transfergesellschaften, die den Übergang von der Beschäftigung im Automobilunternehmen zu einem neuen Beschäftigungsverhältnis erleichtern soll. Aber auch Unterstützungsmaßnahmen zum Aufbau oder zur Stärkung automobiler „Cluster“ können in den Regionen gefunden werden, in denen Automobilunternehmen ansässig sind: Hier wird angenommen, dass räumliche Nähe von Automobilherstellern und Zulieferern wünschenswert und effektiv ist, um die Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Unternehmen zu steigern. Die regionale Förderung verfolgt außerdem das – möglicherweise hehre – Ziel, die Innovationsfähigkeit der Unternehmen durch verschiedene Maßnahmen zu steigern. Dies kann im Rahmen von Forschungsförderungen, der Ansiedlung und/oder Einrichtung von Forschungseinrichtungen, der Unterstützung von Bildungs- und Qualifikationsprojekten u.ä. geschehen. Zum Ausbau der Cluster werden Kollektivgüter verschiedener Art bereitgestellt: beispielsweise Infrastrukturmaßnahmen (Verkehrswege, Logistikzentren etc.), Bildungseinrichtungen, Dienstleistungseinrichtungen zum Wis-
90
3 Branchenentwicklung
senstransfer der Unternehmen mit regionalen Hochschul- und Forschungseinrichtungen, Kontaktbörsen u.ä.50 Konjunkturelle Krisen stellen die Unternehmen wie die Region unmittelbar vor arbeitsmarktpolitische und beschäftigungsstrategische Herausforderungen. Die hohe Relevanz der Beschäftigungssicherung führt sehr häufig zu konkreten Maßnahmen eines Unternehmens oder einer Region, die eine Lösung ähnlicher Probleme in anderen Unternehmen oder Regionen wiederum möglicherweise gravierend erschweren. Zu denken ist dabei an Standortsicherungsvereinbarungen in einem Unternehmen, die unmittelbar vor Ort größere Entlassungswellen zu vermeiden helfen, gleichzeitig aber Beschäftigung an diesen Ort binden. Besteht tatsächlich eine konjunkturelle Krise, muss der „gesicherte Standort“ trotzdem weiterproduzieren (da die Beschäftigten nicht entlassen wurden) und das Unternehmen Produktionsaufgaben reintegrieren. Dies geschieht zu Lasten Dritter, die anschließend mit Rückgang des Produktionsumfangs zurecht kommen müssen, indem sie Beschäftigung abbauen. Somit wirken sich die Mechanismen innerhalb bzw. im direkten Umfeld des automobilen Wertschöpfungsnetzwerks kontinuierlich auf Entscheidungen und Entscheidungsprozesse und auch auf das Votum zur vertikalen Integration bzw. Desintegration aus. Eine institutionelle Förderung und ein arbeitspolitischer Kompromiss mit sozial- und arbeitsmarktpolitischen Vorteilen für eine Region hat Konsequenzen für andere Regionen.
3.4.4
Mitbestimmung im Betriebsrat und Verbandsinteressen
Andere Schnittstellen von Unternehmen und Unternehmensumfeld ergeben sich dort, wo allgemeine Interessen der Automobilindustrie gegenüber Dritten – insbesondere durch Verbände gegenüber der Politik – 50
Ausführlich zur Governance regionaler Wirtschaftscluster und zur Bedeutung kollektiver Wettbewerbsgüter, z.B. (z.B. Voelzkow et al. 2007, Glassmann et al. 2003).
3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren
91
geäußert werden. Dies geschieht zumeist im Rahmen des mittlerweile etablierten Lobbyismus auf der nationalen, aber auch auf der europäischer Ebene (insbesondere im Rahmen der Europäischen Union)51. Die Themen für diese Interessenvertretung sind vielfältig, in den vergangenen Jahren beschäftigten die genannten umwelt- bzw. klimapolitische Regulierungen die Automobilunternehmen und ihre Repräsentanten in besonderem Maße. Insbesondere in korporatistischen Staaten mit einem ausgeprägten gewerkschaftlichen Organisationsgrad und großen politischen Einflussmöglichkeiten findet verbandliche Interessenvertretung für die Beschäftigten in der Automobilindustrie statt. Die Tarifabschlüsse in der Metallindustrie, beispielsweise in Deutschland, waren über lange Zeit Auftakt und Maßstab für folgende Tarifverhandlungen anderer Branchen und Orientierungsmarke der gesamten Lohnstruktur. Dabei lagen die Betriebsvereinbarungen der OEM häufig deutlich über den Tarifabschlüssen der Metallergewerkschaft, vor allem in den oberen Hierarchiebenen der Hersteller-Zuliefererpyramide herrschte ein hohes Einkommensniveau. Die gravierenden konjunkturellen Schwierigkeiten der vergangen zehn bis zwanzig Jahre, der sinkende Organisationsgrad der Gewerkschaften und die stärkere Orientierung auf individuelle Betriebsvereinbarungen haben die Verbandsposition und die Beschäftigungsbedingungen insbesondere in dieser Hinsicht geschwächt. Unterschiedliche Produktstrategien und Auftragsentscheidungen veränderten die Beziehungskonstellation zwischen Herstellern und Zulieferern. Entscheidend für das Unternehmensumfeld bleiben letztlich die Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation in einzelnen Werken entweder der OEM oder der Gesamtfahrzeughersteller. Hiermit sind konkrete Auswirkungen gemeint, welche die Auslastung einzelner Werke und damit die Beschäftigungsstrukturen im Bereich der Produktion betreffen. Bei einer Restrukturierung von Unternehmen oder Unternehmensteilen wirken sich diese Prozesse auch auf andere Beschäftigten51
zu nennen in diesem Kontext der VDA (Verband der Automobilindustrie), ACEA (Europäischer Automobilherstellerverband), OICA (Weltautomobilherstellerverband)
92
3 Branchenentwicklung
segmente aus. Die Anforderungen an Flexibilitäten in der Produktion forcieren die Einführung alternativer Beschäftigungsstrukturen, die nicht nur über flexible Arbeitszeitmodelle organisiert werden, sondern auch über den Einsatz von Leiharbeitern. Rechtliche Rahmenbedingungen müssen diese flexiblen Beschäftigungsformen ermöglichen, so dass auch hier politische Akteure und gesellschaftliche Akzeptanz gefragt sind. Konsequenzen dieser Entwicklung betreffen die betriebliche Mitbestimmung. Sowohl hinsichtlich der Entscheidungen über Restrukturierungsmaßnahmen in den einzelnen Betrieben, als auch in Bezug auf den Einsatzes von Leiharbeitern werden neue Zugeständnisse gefordert; nach und nach verändert sich die Rolle der Mitbestimmung durch neue Rahmenbedingungen zu einem „Co-Management“. Für Westeuropa lässt sich demnach der Korporatismus als wesentliche politisch-institutionelle Grundstruktur benennen, welche die Entwicklung der Automobilunternehmen in den jeweiligen Ländern (insbesondere Deutschland, Österreich und Frankreich) in besonderer Weise geprägt hat. Die langfristig etablierte und „eingeübte“ Mitbestimmung und der Einfluss von (Metall-)Gewerkschaften führten zu einem „Führungsstatus“ dieser Branche im Hinblick auf die allgemeinen Tarifverhandlungen und nationalen Lohnstrukturen. Differenzierte Betrachtungen der unterschiedlichen Unternehmenstypen in der Automobilbranche lassen den Schluss zu (wie im folgenden zu zeigen ist), dass die Einflussmöglichkeiten und Wirkungen betrieblicher und überbetrieblicher Mitbestimmung sich innerhalb der Branche sehr stark voneinander unterscheiden. Inwieweit es zu einer „Entmachtung“ der Arbeitnehmer in bestimmten Konstellationen kommen kann, belegen die Fallstudien.
3.4.5
Politische und ökonomische Veränderungen
Die Öffnung von Märkten und globale Handelsabkommen befördern die internationale Tätigkeit der Automobilunternehmen. In verschiedenen Regionen (Osteuropa, China) gehörten die OEM der Automobilbranche
3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren
93
zu den Pionieren, die teilweise sogar vor der politischen Öffnung und entsprechenden Veränderungen der Rahmenbedingungen mit der Produktion vor Ort begannen52. Deregulierung, Handelsliberalisierung und die Abschaffung nicht-tarifärer Handelshemmnisse schafften Handlungsräume und „Spielfelder“ für die Branche. Gleichzeitig erfordert die Nutzung dieser Potentiale, dass das Unternehmen Strategien wählt, die zwar durch Risikobereitschaft entstehen, allerdings nicht zu riskant sein sollten, die das hohe Maß an Unsicherheit berücksichtigen und Expertise verlangen. Jede dieser Investitionen hat Auswirkungen auf den Heimatstandort, sei es „positiv“ im Sinne der Schaffung neuer Arbeitsplätze, die die Auslandstätigkeiten unterstützen, sei es „negativ“ im Fall einer Verlagerung zur Nutzung kostengünstigerer Lohnstrukturen. Nicht erst im Zuge der Finanzkrise 2008/2009 wurde die Abhängigkeit der Automobilindustrie von der globalen ökonomischen Situation überdeutlich. Schnell ist der Einfluss der Politik gefordert, nicht erst dann, wenn massive ökonomische Engpässe einzelner Unternehmen zu Werksschließungen und damit Massenentlassungen führen könnten. Sicherlich sind die Einflussfaktoren im Unternehmensumfeld hiermit nicht erschöpfend dargestellt, jedoch sind diese ausgewählten Faktoren für die Fallbeispiele mit in den Blick zu nehmen und bieten Ansatzpunkte für die Einschätzung von Entscheidungen unter Unsicherheit sowie für die Berücksichtigung der Schwierigkeiten ökonomisch rationalen Handelns vor dem Hintergrund der Wechselwirkungen dieser Faktoren.
3.4.6
Unternehmensorganisation und Unternehmensfinanzierung
Joint-ventures und vor allem Übernahmen in der Automobilindustrie beruhen zunächst auf einzelnen Unternehmensentscheidungen bzw. den Verhandlungsergebnissen von verschiedenen Wettbewerbern innerhalb der Branche. Die veränderten Unternehmensorganisationen und – 52
Als Paradebeispiel dafür kann Volkswagen spätestens mit seinem Engagement in China gelten (vgl. z.B. Posth 2006, Depner et al. 2005, Gao 2002)
94
3 Branchenentwicklung
strukturen führen jedoch häufig auch zu Restrukturierungen und Beschäftigungsabbau, die dann eine gesamte Region tangieren können. Auch Entscheidungen zum Aufbau und zur Schließung einzelner Standorte oder Werke beziehen sich auf den ersten Blick auf ein konkretes Unternehmen, betreffen aber auch Zulieferer in der Wertschöpfungskette und regionale Arbeitsmarktstrukturen. Für Investitionstätigkeiten benötigen die Unternehmen – je nach Form der Unternehmensfinanzierung – Investoren bzw. Kapitalgeber. Auch hier zeigt sich eine wichtige „Schnittstelle“ mit der Unternehmensumwelt. Das Vertrauen in Hausbanken, die Verfügbarkeit von Kapital und der Zugang zu Investoren beeinflussen – also beförderen oder beschränken – die Möglichkeiten des jeweiligen Unternehmens. Folgende mittelbare und unmittelbare Faktoren, von denen die Unternehmen in hohem Maße abhängig sind, lassen sich resümieren: • Erfolg von Marktprognosen, passende Einschätzung des Käuferverhaltens (Produktnachfrage, gesellschaftliche Anforderungen an das Produkt), • Innovationsfähigkeit, • verbandliche Interessenvermittlung zur Vermeidung bzw. Mitgestaltung politischer Maßnahmen, welche die Branche betreffen (z.B. Regulierung von Emissionen, Sicherheitsstandards...), • wirtschafts- und strukturpolitische Maßnahmen zur Unterstützung, bestenfalls zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit einzelner Standorte. Für die US-amerikanische Automobilindustrie wurde berichtet, was auch für die europäischen Hersteller zutrifft und die Umfeldbedingungen hier konkret benennt: zunehmende Komplexität und kontinuierlich steigender Entwicklungsstandard für die Fahrzeuge, Umwelt- und Sicherheitsstandards, die von Regierungen oder supranationalen Institutionen (EU) vorgegeben werden, sinkende Zahlungsbereitschaft der Kunden, räumlich größere Märkte, teilweise höhere Markttransparenz (vgl. dazu z.B. Swiecki et al. 2008). Die Darstellung der Wirkungsdimen-
3.4 Das Wechselspiel von Unternehmensentscheidungen und Umweltfaktoren
95
sionen soll insofern zeigen, was „Unsicherheit“ konkret bedeutet: Sie prägt nicht nur die Beziehung von Verhandlungs- und Vertragspartnern sondern erschwert die Entscheidungen dieser ökonomischen Akteure auch durch äußere Einflüsse immens. In Tabelle 1 wird kurz unterschieden, inwieweit diese Einflüsse die OEM bzw. die Gesamtfahrzeughersteller betreffen. Tabelle 3-1: Einflussfaktoren 1 Unternehmensumfeld
OEM
Auftragsfertiger
a) OEM Auftragsfertiger
-
stark
b) Auftragsfertiger OEM
schwach
-
a) Branchenverbände (VDA etc.)
mittel
mittel
b) Gewerkschaften
stark
direkt: schwach, indirekt: stark
Wechselseitige Beeinflussung der im Netzwerk verbundenen Unternehmen (z.B. Produktpolitik, Auslandsstrategien, Beschäftigungsstrategien):
Verbandsstrukturen
politische und gesellschaftliche Forderungen: a) Umweltschutz (Innovationsverhalten, stark alternative Antriebstechnologien)
stark
b) Verkehrssicherheit (Innovationen im stark Bereich von Sicherheitssystemen, gesetzliche Einschränkung möglicher Fahrzeugfunktionen)
stark
Abhängigkeit Schwankungen
konjunkturellen hoch
direkt und indirekt: hoch
zunehmende Marktkomplexität – auch: hoch höhere Markttransparenz, zunehmende Konkurrenz
Indirekt: hoch, direkt: mittel
von
96
3 Branchenentwicklung
3.5 Akteurskonstellationen: von der Kette zum Netzwerk? Wenn es um die Zukunftsfähigkeit der Gesamtfahrzeughersteller geht, geraten unterschiedliche Handlungsebenen in den Blick, die für die weitere Darstellung von Bedeutung sind. Der „Startschuss“ für den Gesamtfahrzeughersteller zur Produktion eines Fahrzeugs fällt, wenn der OEM eine „buy“-Entscheidung (vertikale Desintegration: Auftragsvergabe) zu Lasten der „make“-Variante (vertikale Integration: innerbetriebliche Aufteilung von Produktionsaufgaben) trifft. Diese Entscheidung fällt die Unternehmensleitung oder Geschäftsführung eines OEM. Geht es um die Auftragsvergabe zur Fahrzeugproduktion, aus der sich Zukunftsperspektiven für die Gesamtfahrzeughersteller ergeben, sind die Unternehmensleitungen der OEM die entscheidenden Akteure. Dass deren Entscheidungssituation in eine Konzernstrategie eingebunden und abhängig von der Marktsituation des OEM, dem Wettbewerbsumfeld und technischen Voraussetzungen für die jeweilige Produktion ist, zeigt die Schwierigkeit, diese Ebene umfassend zu verstehen und zu analysieren. Letztlich kann diese Arbeit die durch den OEM getroffenen Entscheidungen über „make“ oder „buy“ und „how to buy“ nur als gegeben ansehen und im Rahmen der Analyse versuchen, zumindest die nach außen formulierten Gründe zu erfassen und eventuell Widersprüchlichkeiten angeführter Gründe zu identifizieren. In dem Moment, in dem es keine Auftragsvergabe an die Gesamtfahrzeughersteller gibt, stellt sich für diese Unternehmen die Frage, inwieweit sie den Unternehmensbereich „Fahrzeugproduktion“ noch weiterführen können bzw. wollen. Zuvor wurde bereits von der „automobilen Wertschöpfungskette“ gesprochen, so dass diese im folgenden kurz erläutert wird. Denkt man an die Hersteller-Zulieferhierarchie kann man nach Drehung der Pyramide um 90° eine erste Vorstellung von der Kette bekommen. Da es sich um eine Wertschöpfungskette handelt, stehen im zeitlichen Verlauf an erster Stelle die Entscheidung eines OEM zur Herstellung eines Produkts und entsprechende Konzeptphasen mit Forschungs- und Entwicklungsaufgaben. Bei der konkreten Betrachtung der Produktion folgen im
3.5 Akteurskonstellationen: von der Kette zum Netzwerk?
97
nächsten Schritt die Rohstoffgewinnung (insbesondere Stahl) und die Vorbereitung dieser Rohstoffe für die Weiterverarbeitung zur Herstellung einzelner Bauteile (siehe Abbildung 3). Folgt man den einzelnen Kettengliedern – über Systemproduktion, Modulherstellung und deren Integration, Serienentwicklung, Endmontage bis hin zum Marketing und Vertrieb – so kann für jeden dieser Schritte angenommen werden, dass der OEM selbst über entsprechende Kompetenzen verfügt oder aber einen Zulieferer beauftragt. Abbildung 3-1: Automobile Wertschöpfungskette
*
= „Automobilhersteller ohne eigene Marke“.
(eigene Darstellung nach Koch 2006, S.70)
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Das Verständnis der Architektur dieser Wertschöpfungskette hilft bei der Positionierung der „Gesamtfahrzeughersteller ohne eigene Marke“ im Hersteller-Zuliefer-Gefüge, wie in der Abbildung dargestellt. Für die Arbeit spielt insofern derjenige Teil der Kette eine Rolle, der mit der Produktion von Modulen beginnt, als die Gesamtfahrzeughersteller auch Unternehmensteile betreiben, die diese Module herstellen. Den Schwerpunkt der Betrachtungen bilden die „hinteren“ Bereiche der Wertschöpfungskette: System- bzw. Modulintegration, Serienentwicklung und Endmontage. Angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Automobilbranche mag es zynisch klingen, wenn Akteurssituationen und -konstellationen an dieser Stelle als „Spiel“ betrachtet werden. Wird diese Metapher gewählt und das Bild gezeichnet, lässt sich allerdings veranschaulichen, in welcher Beziehung die einzelnen Akteure zueinander stehen. Begreift man die drei Gruppen bzw. Unternehmen der drei Segmente – die Zulieferer, Gesamtfahrzeughersteller und die OEM – als potentielle „MitSpieler“, können unterschiedliche Teams gebildet und jeweils unterschiedliche Wettbewerbssituationen der Konkurrenten definiert werden. Dabei wird sichtbar, welche Flexibilitätsanforderungen in Bezug auf die Wettbewerbs- und Kooperationssituation an die Unternehmen gestellt werden. Hinsichtlich des Wettbewerbs kann zwischen der Konkurrenz unter den Anbietern des Endprodukts (fertiges Personenfahrzeug) und der Konkurrenz unter Produzenten substituierbarer Einzelteile und Module für die Fertigung des Endprodukts unterschieden werden.
3.5.1
Kooperation und Konkurrenz in der Automobilproduktion
Für die Kooperation und Konkurrenz in der Automobilproduktion ergeben sich verschiedene Ausgangssituationen, in denen von einer relativ eindeutigen „Teambildung“ ausgegangen werden kann und die sich kurz- oder mittelfristig für ein oder mehrere Produkte eines OEM (Seri-
3.5 Akteurskonstellationen: von der Kette zum Netzwerk?
99
enproduktion eines Fahrzeugs) ergibt. Dabei verlaufen die Kooperationen vertikal entlang der Wertschöpfungskette zwischen einem OEM und Zulieferunternehmen verschiedener Ordnung. In diesem Kontext stellt sich wiederholt die Frage, inwieweit alle Produktionsschritte und einzelnen Bestandteile des Produkts auch von einem vertikal integrierten Unternehmen übernommen und durchgeführt werden könnten (Coase 1937: 386-405). Voraussetzungen für die Kooperation von Unternehmen im Sinne der vertikalen Desintegration sind insbesondere die kontinuierlichen Qualitätsanforderungen, der Preis, möglicherweise die Erfahrung mit der Zuverlässigkeit des Herstellers, sowie in bestimmten Bereichen die räumliche Nähe. Im folgenden werden jeweils die Marktsituationen der Akteure (OEM und Zulieferer/Gesamtfahrzeughersteller), die Art der Produkte, Fahrzeugklasse und der Stellenwert von Produktionsplattformen berücksichtigt. Ausgangssituation 1 (unterschiedliche Produkte, unterschiedliche Plattformen, unterschiedliche Marken, eine Fahrzeugklasse bzw. ein Markt- und Preissegment): Innerhalb der Gruppe der OEM treten die einzelnen Spieler als Konkurrenten im (internationalen Automobil-)Markt gegeneinander an, wobei hinsichtlich der Fahrzeugklassen zu unterscheiden ist. Beispielsweise bieten die Firmen Toyota, Ford, Renault und Volkswagen Fahrzeuge der „Kompaktklasse“ auf dem europäischen Markt an. Es handelt sich um Autos in derselben Preisklasse, ähnlicher Größe, Ausstattung, technischer Eigenschaften etc., die wiederum nicht mit Porsche-Modellen konkurrieren. Zur Produktion dieser Fahrzeuge bilden die OEM jeweils „Teams“ mit Zulieferunternehmen, wobei vorstellbar ist, dass ein Zulieferer für mehr als einen OEM Module oder Fahrzeugteile herstellt. Sofern es sich nicht um Spezial- oder Nischenfahrzeuge handelt, spielen die Gesamtfahrzeughersteller in dieser Wettbewerbssituation keine Rolle. Ein Team besteht somit immer aus einem OEM und Zulieferern un-
100
3 Branchenentwicklung
terschiedlicher Ordnung53. Als Konkurrenten treten zum einen die OEM mit ihrem Endprodukt gegeneinander an. Hinsichtlich der Zuliefer- und Vorprodukte konkurrieren die entsprechenden Zulieferunternehmen (Tier-1 bis Tier-n) zum anderen um Aufträge der OEM, die zumeist für eine komplette Produktionsserie abgeschlossen werden. Ausgangssituation 2 (unterschiedliche Produkte mit einem bestimmten Nischenmerkmal (Allradantrieb, Cabriolet, Rechtslenker...), Auftragsfertiger nutzt Plattform des OEM, unterschiedliche Marken, eine Fahrzeugklasse bzw. ein Markt- und Preissegment): Innerhalb ihrer Produktpalette bieten die OEM Nischenfahrzeuge an, wie beispielsweise Cabriolets als Derivat eines ihrer Fahrzeuge (also auf Basis eines Serien-Modells), die sie selbst nicht herstellen (können). Für die Produktion der Fahrzeuge werden die „Gesamtfahrzeughersteller ohne eigene Marke“ beauftragt. Diese kooperieren dabei entweder mit den Zulieferunternehmen, die auch den OEM mit Teilen für die Fertigung des Serien-Modells versorgen, oder sie nutzen eigene Zulieferkont(r)akte für diese Produktion. In diesem Fall konkurrieren die Gesamtfahrzeughersteller möglicherweise mit einem OEM (falls das Konkurrenzprodukt von einem anderen OEM selbst hergestellt wird) oder mit einem anderen Gesamtfahrzeughersteller, der wiederum im Auftrag eines OEM tätig wird. Das Team besteht aus den Auftragsfertigern und den Zulieferunternehmen. Letztlich spielt das gesamte Team im Auftrag des OEM. Als Konkurrenten treten hier wiederum zum einen die OEM mit ihrem Endprodukt gegeneinander an. Hinsichtlich der Produktion dieses Fahrzeugs konkurrieren die Gesamtfahrzeughersteller um einen „großen“ Auftrag zur kompletten Fertigung der Serie und die Zulieferunternehmen im Hinblick auf Aufträge für Vorprodukte, Module u.ä.
53
Dabei ist auch vorstellbar, dass es auf derselben Zuliefer-Hierarchieebene mehrere Mitspieler gibt, da sie unterschiedliche Teile herstellen.
3.5 Akteurskonstellationen: von der Kette zum Netzwerk?
101
Ausgangssituation 3 (unterschiedliche Produkte, gemeinsam genutzte Plattform, unterschiedliche Marken, eine Fahrzeugklasse bzw. ein Markt- und Preissegment): Einzelne OEM kooperieren seit einigen Jahren zur Produktion von bestimmten Fahrzeugserien. Das bedeutet, dass sie eine Fahrzeugplattform entwickeln, auf der gemeinsam für zwei Marken die Serienfertigung erfolgt. Als Beispiel dafür kann die Fertigung des Porsche „Cayenne“ und des Volkswagen „Touareg“ auf einer Plattform dienen54. Dafür nutzen sie ebenfalls gemeinsam ein Zuliefernetz für dieses Produkt oder stellen Vorprodukte selber her. Ebenso lassen sich Zulieferkooperationen vorstellen, durch welche die Zahl der Konkurrenten im Zuliefernetz sinkt. Das Team besteht aus zwei (oder mehr) OEM. Daneben werden für diese Gemeinschafts-Produktion Zulieferunternehmen in die Wertschöpfungskette integriert, die für das Gesamtfahrzeug im Auftrag zweier (oder mehrerer) OEM die Teilefertigung übernehmen. Als Konkurrenten treten auch hier die OEM gegeneinander an, in diesem Fall als kooperierende Hersteller im Hinblick auf das Angebot an den Endkunden. Wie auch in den anderen Fällen, konkurrieren Zulieferer um Aufträge für Vorprodukte, Module u.ä. Ausgangssituation 4 (unterschiedliche Produkte mit einem bestimmten Nischenmerkmal (Allradantrieb, Cabriolet, Rechtslenker...), OEM nutzt Plattform auch zur Nischen- bzw. Kleinserienfertigung, unterschiedliche Marken, eine Fahrzeugklasse bzw. ein Markt- und Preissegment): Für die Produktion von Derivaten, Nischen- und Spezialfahrzeugen werden Aufträge an Gesamtfahrzeughersteller vergeben, es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass die OEM diese Kleinserien selber produzieren. Damit gibt es für ein spezifisches Produkt zwei mögliche Produzententypen: den OEM oder den Auftragsfertiger (Gesamtfahrzeughersteller). Das Team besteht aus einem OEM und den entsprechenden Zulieferunternehmen. Bei Auftragsvergabe durch den OEM 54
Die Karosserien werden im Volkswagenwerk in Bratislava/Slowakei gebaut, lackiert und die Fahrzeuge dort vormontiert.
102
3 Branchenentwicklung
gibt es zudem ein Team aus Gesamtfahrzeughersteller und Zulieferunternehmen. Da es um die Auftragsvergabe geht, die auch zugunsten von Tochtergesellschaften bzw. einzelner Werke des OEM entschieden werden könnte, treten als Konkurrenten die OEM gegen die Gesamtfahrzeughersteller an. Wie bereits in den anderen Fällen, konkurrieren Zulieferer um Aufträge für Vorprodukte, Module u.ä. Ausgangssituation 5 (unterschiedliche Produkte, unterschiedliche Plattformen, unterschiedliche Marken, unterschiedliche OEM nutzen gemeinsam Zulieferer bzw. Zuliefernetze (evtl. auch Auftragsfertiger unterschiedliche Fahrzeugklassen bzw. Markt- und Preissegment): Für die Produktion schließen sich OEM zu Einkaufsgemeinschaften zusammen, mit denen sie den Zulieferunternehmen (Tier-1) (denkbar auch: den Auftragsfertigern) als Verhandlungspartner gegenübertreten. Damit gibt es für verschiedene Endprodukte gleiche Bauteile, Module bzw. Zulieferteile. Das Team besteht aus zwei (oder mehreren) OEM; nach der Auftragsvergabe werden OEM und die entsprechenden Zulieferunternehmen gemeinsam tätig. Der Konkurrenz- und damit Preisdruck für die Zulieferunternehmen wird hier massiv erhöht, da sie mit zwei (oder mehr) OEM verhandeln. Gegenüber dem Endverbraucher stehen jedoch auch wieder die OEM mit unterschiedlichen Marken und Typen im Wettbewerb.
3.5.2
Bedeutung des Spannungsfeldes von Kooperation und Konkurrenz
Warum werden diese Überlegungen angestellt? Da davon ausgegangen werden kann, dass alle fünf beschriebenen Ausgangssituationen parallel auftreten (aufgrund des breiten Produktspektrums der meisten OEM), wird deutlich, wie verflochten die Unternehmensnetzwerke in dieser Branche sind (vgl. Wilhelm 2009). Die Zulieferer konkurrieren (fast ausschließlich) mit anderen Zulieferern (selten(er) mit OEM), die OEM wiederum entweder mit anderen OEM oder den Gesamtfahrzeugherstel-
3.5 Akteurskonstellationen: von der Kette zum Netzwerk?
103
lern, wenn es um die Produktion einzelner Fahrzeugtypen geht (Jentsch 1996). Das Ziel der Arbeit besteht darin, Machtasymmetrien aufzuzeigen, die durch diese unterschiedlichen „Spielfelder“, also Konkurrenz- und Kooperationssituationen entstehen, und ihre Konsequenzen zu analysieren. Dies erscheint hilfreich, um die Zukunftsperspektiven, die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für künftige Entwicklungspfade der Gesamtfahrzeughersteller besser ausloten zu können. Dieses spezielle Unternehmenssegment bietet sich auch deshalb in besonderer Weise an, weil die Unternehmen des Segments neben ihrer Rolle als Auftragsfertiger auch als Zulieferunternehmen am Markt teilnehmen. Anhand dieser zunächst recht abstrakten Überlegungen wird deutlich, welche Rolle die unterschiedlichen Akteure einnehmen können bzw. müssen. Die OEM befinden sich durchaus in einer Konkurrenzsituation mit den Gesamtfahrzeugherstellern, und die OEM „gewinnen“ im Wettbewerbs um die Durchführung von Fahrzeugproduktionen, wenn Nischen- und Spezialserien sowie Derivate mittels vertikaler ReIntegration in die eigenen Produktionswerke „zurückgeholt“ werden. Auf die Voraussetzungen für diese Re-Integration sowie die Gründe, die zu einer solchen Rückverlagerung führen, wird im folgenden ausführlich eingegangen, da diese Veränderungen maßgeblich für die Perspektiven der Gesamtfahrzeughersteller sind. Verschiedene Studien verweisen auf den „Netzwerk-“ Charakter von Hersteller-Zuliefer-Beziehungen in der Automobilindustrie55. Daher stellt sich die Frage, ob es sinnvoll bzw. angemessen ist, von einem automobilen Wertschöpfungsnetzwerk zu sprechen. Sydow, der sich umfassend Netzwerken in der Ökonomie gewidmet hat, die als „strategische Netzwerke“ verstanden werden, versteht diese als „eine auf die Realisierung von Wettbewerbsvorteilen zielende Organisationsform ökonomischer Aktivitäten [...], die sich durch komplex-reziproke, eher kooperative denn kompetitive und relativ stabile Beziehungen zwischen rechtlich selbständigen, jedoch zumeist wirtschaftlich abhängigen Unternehmen 55
(Helper 1989, Wilhelm 2009, vgl. Sydow 1992, Chanaron 2002, Helper 1991, Schonert 2008, Hermann 2003, Gaitanides 1998)
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3 Branchenentwicklung
auszeichnet“ (Sydow 1992, S.82). Ergänzend erläutert er zu seinem Begriffsverständnis, dass Netzwerke als Gemeinsamkeiten „Spontaneität und Informalität“, außerdem ein „hohes Maß an Kommunikation und Flexibilität“ und zugleich ein „Minimum an zentraler Koordination“ der Netzwerkmitglieder aufweisen (Sydow 1992, S.2). Passen diese Kriterien auch auf die Beziehung zwischen OEM und Gesamtfahrzeughersteller? Angesichts der Bindung hoher Investitionssummen und der zeitlichen Perspektive für die Fahrzeugproduktion passen „Spontaneität“ und „Informalität“, „Minimum an zentraler Koordination“ und Autonomie der Netzwerkmitglieder nur sehr begrenzt. Sydow selbst widmet sich in seinem Buch zu „Strategischen Netzwerken“ ausführlich und konkret „Unternehmungsnetzwerken in der Automobilindustrie“ (ebd., vor allem S. 20-23 sowie 38f.), für die er einen hohen Grad an Vernetzung identifiziert: Die Reduktion der Fertigungstiefe führe zur Herausbildung von Partnerschaften zwischen OEM und Zulieferbeziehungen mit Langfristcharakter. Begründet wird diese Entwicklung damit, dass die Automobilindustrie zum einen ihre Fertigungstiefe sukzessive reduziert habe, dass zum anderen durch die Um- und Durchsetzung des „just-in-time“Produktionskonzeptes die Notwendigkeit bestünde, in engen vertrauensvollen Partnerschaften zusammenzuarbeiten (vgl. ebd., S.21). Gleichzeitig wandelten sich, so Sydow, die Beziehungen zu den Händlerorganisationen, auf die in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen wird. Erwähnenswert ist jedoch der Befund, dass die Kooperationsbereitschaft der OEM untereinander kontinuierlich zunehme, so dass es nicht verwunderlich sei, dass die OEM „strategische Allianzen“ mit Konkurrenten eingehen (vgl. ebd., S.23). Daher scheint es zunächst unstrittig, dass es sich bei der modernen automobilen Wertschöpfungskette um ein Netzwerk handelt, was hinsichtlich der Beziehungscharakteristika folgenreich ist. Allerdings stellt sich darüber hinaus die Frage, ob der Netzwerkcharakter insbesondere für die horizontale Beziehung zwischen kooperierenden OEM zutrifft, während die Unternehmensverflechtungen mit Zulieferern unterschiedlicher Ordnung hingegen durch
3.5 Akteurskonstellationen: von der Kette zum Netzwerk?
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so starke hierarchische Elemente gekennzeichnet sind, dass sich hier Netzwerkcharakteristika nicht oder nur in geringem Maße finden.
3.5.3
Zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über den Netzwerkbegriff
Da der Begriff des „Netzwerks“ in dieser Arbeit so häufig verwendet wird, soll knapp auf das sozialwissenschaftliche Begriffsverständnis bzw. auf die Schwierigkeiten eines solchen Verständnisses hingewiesen werden. Die Soziologie widmet sich Netzwerken aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Dabei erweist sich die soziologische Definition und funktionale Erklärung von Netzwerken als diskussionswürdig 56. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive wird die gesellschaftliche Ausdifferenzierung als Ausgangspunkt gewählt und das Netzwerk als Interaktion und Interdependenz von Akteuren verstanden – diese sind sowohl zwischen privaten und öffentlichen Akteuren, als auch als intraund extra-organisational, dezentral, hierarchisch und nicht-hierarchisch möglich (Jansen 1998, S.42). Interaktion und Interdependenz sind Schlüsselwörter, wenn es um Eigenschaften von Netzwerken geht. Die vorgestellten theoretischen Konzeptionen verdeutlichen, welche Gefahren die Verwendung des Netzwerkbegriffs aus sozialwissenschaftlicher Perspektive birgt, nämlich gewissermaßen „alles oder nichts“ zu sein. In der Verknüpfung der zuvor dargestellten Besonderheiten von Kooperations- und Konkurrenzstruktur in der Automobilbranche mit dem Netzwerkbegriff offenbaren sich die Unzulänglichkeiten dieses Begriffs. Eindeutige Kriterien für das Netzwerk müssten formuliert und der Begriff gegebenenfalls erweitert werden. Mit konkreterem Bezug zum Untersuchungsgegenstand wählt Windeler einen Zugang, der die Bedeu56
Aus systemtheoretischer Perspektive beschreiben Bommes/Tacke Netzwerke als „sekundäre Strukturbildungen“ moderner Gesellschaften und legen einen Grundstein für ein allgemeines, theoretisches Begriffsverständnis (Bommes et al. 2006). Zumeist formulieren soziologische Arbeiten ihre Netzwerkkonzeption eher konkret am Untersuchungsgegenstand, wie beispielsweise im Kontext der Forschung zu Familien und Gruppen als sozialen Netzwerken.
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3 Branchenentwicklung
tung der Koordination von sozialen Interaktionen, sozialen Beziehungen und Geschäftspraktiken in Unternehmensnetzwerken herausstellt (Windeler 1998, S.24). Die Akteure, die in einem Netzwerk handeln, orientieren sich wechselseitig aneinander, so dass über einen gewissen Zeitverlauf etablierte Geschäftspraktiken die Handlungsweisen beeinflussen, aber auch durch das Akteurshandeln wiederum beeinflusst werden (Windeler 1998). Steht die Automobilbranche als konkretes Untersuchungsobjekt im Fokus, stellt sich die Frage, in welcher Form Unternehmensnetzwerke hier systematisiert werden können. Anknüpfend an die oben genannte Darstellung von Sydow zu Unternehmungsnetzwerken in der Automobilbranche, die aus den 1990er Jahren stammt, ermitteln aktuelle Studien Eigenschaften und Formen dieser Kooperationen in Netzwerken und beschreiben diese konkreter. Im Kontrast zu der theoretischen Diskussion um Netzwerke im allgemeinen und speziellen lassen sich somit pragmatisch zunächst verschiedene Formen von Unternehmensbeziehungen und Organisationsstrukturen skizzieren. Einer Arbeit zum Management von Netzwerken in der Automobilindustrie zufolge gibt es in einer weitestgehend formalen Perspektive fünf Varianten von Unternehmenskooperationen (Hensel 2007): • Joint Venture und Kapitalbeteiligungen (50:50) • Entwicklungspartnerschaften auf vertraglicher Basis • Entwicklungsdienstleistungverträge mit OEM und Tier-1 • Verträge für Serienentwicklung und Produktion • Rahmenverträge mit bevorzugten Partnern. Die Autorin kommt anhand von Unternehmensbefragungen zu dem Ergebnis, dass innerhalb der Wertschöpfungskette eine enge Anbindung externer Partner sehr üblich ist. Als Anlass wird zumeist ein konkretes Projekt genutzt. Eine interessante Formulierung charakterisiert die Machtstrukturen: „Kooperationen werden durch Kapitaleinsatz abgesichert, um besseren Durchgriff auf ein anderes Unternehmen zu gewährleisten“. Ein weiteres Ergebnis zeigt, dass Netzwerke mit wechselseitigen, direkten Kontakten vieler Partner nur selten vorkommen (ebd.
3.5 Akteurskonstellationen: von der Kette zum Netzwerk?
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S.188.) Dieselbe Studie ermittelt eine „Hitliste“ von Unternehmenseinschätzungen zu den Themen Vertrauen und Macht. Folgende Einschätzungen lassen sich dort finden: • Das Phänomen einer „partnerschaftlichen Zusammenarbeit“ war früher stärker ausgeprägt. • Größere Zulieferer müssen häufig alle vor- und nachgelagerten Risiken tragen. • Gestaltungsspielräume hängen von der Kultur des OEM ab. • Die menschlichen Beziehungen sind entscheidend dafür, ob Macht ausgenutzt wird. • Wenn es zu Eskalationen kommt, strahlen diese auf Folgegeschäfte aus. (ebd. S.203).
4 Szenarien zu den Fallstudien
4.1 Szenarien Wenn es um die Frage geht, welche Funktion die „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ in der Branche übernehmen, so lassen sich verschiedene Varianten von Unternehmenstypen mit spezifischen Strategien konstruieren. Diese setzen entweder voraus, dass es einen – vergleichsweise stabilen – Markt für die Produkte (also die Automobile ohne eigene Marke) gibt, oder aber sie berücksichtigen, dass eine gravierende Veränderung der Auftragslage eine neue Unternehmensstrategie und –struktur erfordert. Im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit sollen im folgenden Szenarien präsentiert werden, in denen die Unternehmen angesichts eines veränderten Umfelds ihre Wettbewerbsposition behaupten müssen. Zwei Grundannahmen begleiten die nachfolgenden Szenarien: Die Unternehmen schauen zum einen zurück auf eine längere Zeitspanne, in der sie sich als Auftragsfertiger etablieren, Kooperationen zu OEM aufbauen und damit eine besondere Funktion in der automobilen Wertschöpfungskette übernehmen konnten. Zum anderen bestehen die Herausforderungen darin, dass Marktveränderungen bisherige Unternehmensstrategien in Frage stellen und den Fortbestand des Unternehmens bedrohen. Das entscheidende Kriterium zur Abgrenzung der Szenarien ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen es gelingen könnte, die Unternehmenszukunft und damit auch Beschäftigung zu sichern. Für die Systematisierung der Szenarien folgt jeweils eine grobe Differenzierung zweier Unternehmensteile: Zum einen geht es um Produktions-
K. Loer, Automobilhersteller ohne eigene Marke, DOI 10.1007/ 978-3-531-92800-5_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Szenarien zu den Fallstudien
tätigkeiten, zum anderen um technische Dienstleistungen, die von der technischen Entwicklungsabteilung (Forschung & Entwicklung / Technische Entwicklung o.ä.) angeboten werden. Als Startpunkt der Szenarien wird für alle Unternehmensfälle davon ausgegangen, dass sie (in unterschiedlichem Umfang) über diese beiden Unternehmensbereiche verfügen. Obwohl dies zunächst recht holzschnittartig scheint, bietet es die Grundlage, in einem zweiten Schritt Konsequenzen der jeweiligen Entwicklungsvariante zu erläutern. Zudem werden für jedes Szenario zum einen die Veränderungen oder Kontinuitäten hinsichtlich der Unternehmensgrenzen beschrieben sowie mögliche Folgewirkungen der jeweiligen Entwicklung für die Beschäftigungs- und Einkommensstruktur aufgezeigt. Szenario 1. Auftragsfertigung als tier-0,5-Zulieferer für die „klassische“ Kleinserienproduktion. In diesem Szenario besteht das Unternehmen mit seinem bisherigen Geschäftmodell fort. Es versucht weiterhin, Aufträge für die Fahrzeugproduktion von den bekannten OEM zu gewinnen und Produktionskapazitäten zu erhalten. Kleinere, inkrementelle Innovationen prägen das Angebot des Auftragsfertigers. Insbesondere organisatorisch stellt das Unternehmen sich darauf ein, trotz des verringerten Auftragsvolumens wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Herausforderung besteht darin, trotz des deutlichen Rückgangs an Aufträgen und einer zunehmenden Risikoübertragung durch die OEM die technischen Bereiche (Technische Entwicklung) des Unternehmens zu erhalten oder gar auszubauen. Dazu benötigt das Unternehmen, je nach Heimatstandort, Dependancen im Ausland, die es in räumlicher Nähe zu – möglichst mehreren – OEM einrichtet. Beim Transfer oder Ausbau höherwertiger Dienstleistungen ins Ausland können zwei Motive eine Rolle spielen: Zum einen sind Verlagerungen von höherwertigen Dienstleistungen denkbar, die zur Kosteneinsparung durchgeführt werden. Dabei handelt es sich gewissermaßen um „verlängerte Service-Einrichtungen“ (als Analogie zur
4.1 Szenarien
111
„verlängerten Werkbank“). Insofern ist denkbar, dass ein Import höherwertiger Dienstleistungen aus dem Ausland, beispielsweise aus Osteuropa, Indien oder China erfolgt, da sich zumindest Teilbereiche der höherwertigen Dienstleistungen unter Nutzung neuer Technologien ins Ausland verlagern lassen. Von einem solchen Auslagerungsprozess wären vermutlich vor allem Verwaltungsmitarbeiter mit mittlerer Qualifikation (Programmiererung, technisches Zeichnen, technische Berechnungen, Simulationen etc.) betroffen. Auf diejenigen Mitarbeiter mit höherwertigen Qualifikationen, die am Heimatstandort verbleiben, wirkt sich diese Verlagerung aus Kostengründen derart aus, dass die Unsicherheit über die Perspektiven des eigenen Arbeitsplatzes steigt. Die weite Verbreitung und insbesondere Anwendung der englischen Sprache als gemeinsame Basis im technischen und administrativen Unternehmensalltag ermöglicht diese Strategie. Auf der anderen Seite sind Auslandsinvestitionen im Bereich höherwertiger Dienstleistungen die organisatorische Voraussetzung für Expansionsstrategien, wenn die ausländischen Standorte gewissermaßen als Brückenköpfe eingerichtet werden. Dabei handelt es sich um (zumeist kleine) Auslandsstandorte, die eine Kombination aus technischen Dienstleistungen und Managementfunktionen bilden, um Kooperationen zu Auftraggebern im Ausland zu stabilisieren, neue Märkte zu erschließen, Anschluss an potentielle Kooperationspartner zu finden oder technische Dienstleistungen für ausländische Unternehmen bzw. für ausländischen Standorte der OEM durchzuführen. Sofern es sich um den Einsatz von Expatriates57 handelt, die für eine gewisse Zeit am ausländischen Unternehmensstandort arbeiten, sind strukturelle Verschlechterungen der Einkommenssituation für die Mitarbeiter in Technischer Entwicklung und im Management zunächst nicht notwendigerweise zu erwarten. Das Unternehmen sammelt in diesem Szenario technische Kompetenzen im Ausland, kann über die Auslandsstandorte möglicherweise neue Aufträge akquirieren, die dann über den Produktionsstandort im Heimatland ausgeführt werden. 57
Qualifizierte Mitarbeiter, die für einen bestimmten Zeitraum an einen Auslandsstandort gesandt werden.
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4 Szenarien zu den Fallstudien
Letztlich bleibt der Auftragsfertiger in dieser Variante abhängig von den „alten“ OEM, den internationalen Automobilkonzernen und ihrer Entscheidung zur vertikalen Desintegration von Nischenfahrzeugen, Kleinserien und Derivaten. Dafür benötigt er die Kompetenz zur erfolgreiche Pflege und zum Ausbau seines Netzwerk, wozu beispielsweise Ingenieurbüros in OEM-Nähe beitragen können. Letztlich verbleibt der Auftragsfertiger in dieser Variante in der „traditionellen“ Nische.
Szenario 2. Auftragsfertigung als tier-0,5-Zulieferer im Auftrag neuer Partner. Das Unternehmen verfolgt in diesem Szenario ein neues Geschäftsmodell: Durch radikale Innovationen und vollständig neue Fahrzeugkonzepte findet der 0,5-tier Zulieferer neue Auftraggeber. Entweder fungiert ein solcher „neuer“ OEM insbesondere als Kapitalgeber, der unter Nutzung seiner Marke ein Fahrzeug auf den Markt bringen möchte, das weitgehend in Forschung, Entwicklung und Produktion in der Verantwortung des Auftragsfertigers liegt. Oder aber der „neue“ OEM benötigt zur Umsetzung seiner Idee, in die eigene konzeptionelle oder technische Entwicklungen einfließen, einen Automobilhersteller, da er selbst über keine oder nicht ausreichende Produktionsstrukturen verfügt. Die besondere Herausforderung für den Auftragsfertiger besteht darin, dass er seine Perspektive wechseln muss im Hinblick auf eine Kooperation mit Unternehmen, die beabsichtigen, in ihrem Namen ein Fahrzeug extern produzieren zu lassen. Es handelt sich dabei um komplett neue Fahrzeugkonzepte, die nicht unter die klassische Vorstellung von PKWs fallen, sondern beispielsweise mit dem Kennzeichen neuer Nutzungsformen oder mit alternativen Antriebstechnologien eine neue Nische darstellen. Wenn dieses Unterfangen glückt und neue Auftraggeber zur Verfügung stehen, kann die Abhängigkeit von den „alten“ OEM reduziert werden. In einer mittelfristigen Perspektive wäre sicherlich vorstellbar, dass der „neue“ OEM danach strebt, selbst Produktionskapazitäten aufzubauen, so dass letztlich auch hier eine Konkurrenzsi-
4.1 Szenarien
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tuation zwischen interner und externer Fertigung entstehen könnte. Das Hauptproblem für den Auftragsfertiger besteht in diesem Szenario jedoch darin, die eigene Unternehmensstruktur an die veränderten Anforderungen anzupassen. Um für die beschriebenen Projekte attraktiv zu sein und die Aufmerksamkeit und schließlich Aufträge der „neuen“ OEM zu gewinnen, muss der Auftragsfertiger seine technischen Kompetenzen ausbauen und Innovationen anbieten können. Zudem bleibt die Stückzahl der neuen Nischenmodelle unterhalb der Produktion für die klassische PKW-Fertigung. Dies erfordert eine Reduktion der Produktionskapazitäten und geht voraussichtlich mit einem Rückgang der Beschäftigtenzahlen in der Produktion einher. Für die Interessenvertretung der Arbeitnehmer könnte dies bedeuten, dass durch die Zunahme höherqualifizierter Beschäftigung und den zwingenden Beschäftigungsabbau auf der Ebene der Werker und Produktionsmitarbeiter ein Wandel stattfindet. Die verbleibenden Beschäftigten kennzeichnet, dass sie für die neuen Produktionen benötigt werden – sei es, weil für ihre Produktionstätigkeit weiterhin Bedarf ist, sei es, dass sie als (hoch-)qualifizierte technische Mitarbeiter wesentlich zur erfolgreichen Entwicklung und Durchführung der neuen Konzepte beitragen. Für diese Beschäftigtengruppen entspannt sich die Verhandlungsposition, sofern Aufträge in ausreichendem Umfang für die Fortführung der Unternehmensstrategie akquiriert werden können. Wenngleich die massiven Veränderungen der Unternehmensstruktur (insbesondere Fertigungskapazitäten) eine große Herausforderung darstellen, so bietet dieses Szenario doch einen alternativen Weg aus der Krise. Auf diesem Weg besetzt der Auftragsfertiger eine neue Nische und prägt ein Alleinstellungsmerkmal aus, durch das er weiter in seiner Funktion als Fahrzeugproduzent wettbewerbsfähig bleibt.
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4 Szenarien zu den Fallstudien
Szenario 3. Insolvenz oder Übernahme durch einen OEM. Wenn das Unternehmen keinerlei Auftrag akquirieren kann, stellt die ersatzlose Liquidation des Unternehmens durch einen Konkurs den Schlusspunkt dar. Alternativ dazu ist – zum Beispiel im Falle einer Insolvenz – ein Wechsel der Eigentumsverhältnisse vorstellbar, bei dem sich die Frage stellt, ob die neuen Eigentümer die Entwicklung und Produktion an den Heimatstandorten der Ursprungsunternehmen fortsetzen oder nicht. Eine Variante für die Veränderung von Eigentumsverhältnissen besteht darin, dass der Fahrzeughersteller ohne eigene Marke von einem der großen OEM gekauft wird. In diesem Fall wird der Zwitter zwischen den Automobilproduzenten und den Zulieferern zu einer Organisationseinheit (z.B. Tochtergesellschaft) des Automobilproduzenten; es kommt zur vertikalen Integration in die Konzernstruktur des OEM. In diesem Fall findet eine Verschmelzung des Unternehmens mit dem OEM statt, Produktionseinheiten und Dienstleistungstätigkeiten werden in die Konzernstruktur überführt. Vermutlich würde das Ursprungsunternehmen als Tochterunternehmen des OEM am Heimatstandort und an den Auslandsstandorten weiterleben können, allerdings nur als Teil eines Konzerns, was auch hieße, dass nur noch Markenfahrzeuge des neuen Eigentümers entwickelt und gefertigt werden. Sofern es sich um Kleinserien, wie Derivate, Nischen- und Spezialfahrzeuge handelt, nimmt das neue Tochterunternehmen die Rolle eines „Spezialitätenwerks“ ein. Die Veränderung der Organisationsgrenzen ist radikal. Die Konsequenzen für die Beschäftigungsstruktur am Heimatstandort lässt sich nicht eindeutig festlegen. Diese richtet sich danach, welche Unternehmensbereiche der OEM am Standort des einstigen Auftragsfertigers weiterführt und ob er Schwerpunkte der Unternehmenstätigkeit verändert. Die konzerninterne Konkurrenz zwischen Spezialitätenwerk und anderen Standorten des OEM entsteht dann, wenn die bisherigen Standorte im Hinblick auf ihre Produktionskapazitäten, technische Fähigkeiten und Organisationsstruktur auch Spezialfertigungen durchführen können. Je nachdem, um welchen OEM es sich handelt, könnte die
4.1 Szenarien
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Integration in den jeweiligen Konzern eine Stärkung der Arbeitnehmerposition bedeuten. Dies ist der Fall, wenn die Arbeitnehmerinteressenvertretung des integrierten Werkes in die Konzernbetriebsratsstruktur aufgenommen wird und gegebenenfalls die Beschäftigungsbedingungen des Konzerns auch für die neue Tochtergesellschaft gelten. Kennzeichen dieses Szenarios ist somit die Auflösung der bisherigen Unternehmensstruktur – sei es durch Übernahme oder Insolvenz. Tabelle 4-1: Szenarien für die Fallstudien
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4 Szenarien zu den Fallstudien
4.2 Rahmenbedingungen der Szenarien in den Fallstudien Die skizzierten Szenarien unterscheiden mögliche Entwicklungen, die sich in der Praxis nicht zwingend wechselseitig ausschließen, was auch heißt, dass sie parallel verfolgt werden könnten – wenngleich nicht in beliebiger Art und Weise. Im Rahmen der Überprüfung der Szenarien bzw. der Prüfung des empirischen Materials entlang der Szenarien kann ein Spektrum erklärender Variablen hinzugezogen werden. Augenscheinlich erzeugen Standortvereinbarungen innerhalb der Konzernstrukturen von etablierten OEM hohen Druck auf die kooperierenden – und damit abhängigen – Unternehmen. Des Weiteren wirken sich Wettbewerbsschwierigkeiten wegen mangelnden Absatzes für die Produkte der OEM auf die Spezialfertiger in besonderer Weise aus: In der Gesamtfahrzeugproduktion ist dieser Zusammenhang gravierend, da hohe Investitionssummen bei den Spezialfertigern anfallen, spätestens in Zeiten zunehmenden Wettbewerbsdrucks jedoch keine Stückzahlgarantien mehr durch die OEM gegeben werden. Gleichzeitig können sie in diesem Bereich keine eigene Produktpolitik betreiben, und das Spektrum der Auftraggeber ist begrenzt. Daneben sind die Auftragsfertiger über den OEM teilweise von Wechselkursschwankungen betroffen, sofern der OEM die Nischenfahrzeuge insbesondere auf ausländischen Märkten anbietet. Veränderte Produktionsbedingungen ermöglichen den OEM gleichzeitig eine flexiblere Produktionsweise, die vor allem durch zunehmenden Robotereinsatz ein schnelles Umschalten nutzen und somit ohne gravierende Erhöhung der Transaktionskosten Kleinserien produzieren kann. Mit Blick auf die internationalen Kunden-Zulieferbeziehungen zeigen Beispiele, dass bei der Nischenfertigung mittel- bis langfristige Zeithorizonte eingeplant werden müssen, was an der Vorgehensweise von Toyota veranschaulicht werden kann: Das Unternehmen pflegt zunächst etwa zehn Jahre Kontakt mit einem Spezialfertiger, der in dieser Zeit Vorstudien für gemeinsame Entwicklungskonzepte durchführt, bevor der erste Auftrag erteilt wird. Bislang gibt es keinen europäischen Auftragsfertiger,
4.2 Rahmenbedingungen der Szenarien in den Fallstudien
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der für Toyota baut. Dieser japanische OEM verlässt sich nach wie vor auf sein eigenes „Spezialitätenwerk“, eine Tochtergesellschaft des Konzerns. Konkurrenten, wie beispielsweise Nissan, haben hingegen bereits die Möglichkeit genutzt, Nischenfahrzeuge durch europäische Auftragsfertiger herstellen zu lassen. Die Notwendigkeit eines „langen Atems“ kollidiert mit den kurzfristigen Veränderungen auf den internationalen Märkten, die das Unternehmen möglicherweise zu eher kurzfristigen Strategiewechseln zwingen.
5 Unternehmensfallstudien
Die folgenden Unternehmensfallstudien präsentieren die europäischen „Automobilhersteller ohne eigene Marke“. Dabei gilt ein besonderes Augenmerk den beiden größten Unternehmen und gleichzeitig Marktführern in dem Segment, für die im Unternehmen und Unternehmensumfeld Experteninterviews durchgeführt wurden. Vier weitere Unternehmen werden anschließend ergänzend vorgestellt und ihre Marktposition sowie Entwicklungsperspektiven kurz skizziert. Aufgrund der besonderen Unternehmensentwicklung erfolgt die Darstellung für das finnische Unternehmen Valmet etwas ausführlicher als für die italienischen und den französische Auftragsfertiger. Die Vorstellung der Unternehmen Karmann, Magna und Valmet nimmt Bezug auf die Branchenentwicklung für die Automobilindustrie aus dem dritten Kapitel. Die Darstellung berücksichtigt außerdem für die drei Unternehmen die Faktoren des Unternehmensumfelds (Kapitel 3.4), welche die Entwicklung der einzelnen Auftragsfertiger beeinflussen, beeinträchtigen oder befördern – soweit dies auf Grundlage der vorliegenden Daten möglich ist. Abschließend werden die Perspektiven der einzelnen Unternehmen jeweils als Ausblick skizziert und auf die Szenarien aus Teil 4 bezogen.
5.1 Unternehmen 1 (Karmann) Das im Jahr 1901 gegründete Unternehmen, die Wilhelm Karmann GmbH, beschäftigte bis zum Beginn der gravierenden Unternehmens-
K. Loer, Automobilhersteller ohne eigene Marke, DOI 10.1007/ 978-3-531-92800-5_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Unternehmensfallstudien
krise im Jahr 2006 etwa 8.000 Mitarbeiter an sechs Standorten weltweit. Dabei spezialisierte sich Karmann im Laufe der Unternehmensgeschichte auf den Bau von Nischenfahrzeugen, darunter vor allem Cabriolets sowie später auf die Entwicklung und Fertigung von Fahrzeugmodulen, wie beispielsweise Dachsysteme und Karosserien. Nachdem seit 2006 mehrmals insbesondere am Heimatstandort Osnabrück Entlassungswellen teils angekündigt, teils realisiert worden waren, spitzte sich die Situation mit Blick auf die Beschäftigungssituation im Stammwerk Osnabrück und schließlich als existenzgefährdende Unternehmenskrise stetig zu.
5.1.1
Unternehmensentwicklung der Wilhelm Karmann GmbH
Unternehmensentwicklung in Phase 1: Selbstbewusste Pionierleistung, Durchhaltevermögen und der richtige Blick für neue Entwicklungen Nach einer wechselhaften Unternehmensentwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die maßgeblich durch die beiden Weltkriege als einschneidende Ereignisse bestimmt wurde58, konnte sich das Unternehmen seit den 1950er Jahren stetig und stabil zu einem wichtigen deutschen Automobilbauer entwickeln. Von der Gründung 1901 bis in die 1920er Jahre konzentrierte sich Karmann auf die Herstellung von Wagen und Kutschen. Für die Bielefelder Dürkopp-Werke baute der 58
Bereits während des Ersten Weltkriegs wurde das Osnabrücker Unternehmen vom Kriegsministerium aufgefordert, 100 Krankenwagen zu bauen – der erste Serienauftrag für Wilhelm Karmann (Knust 1996). Dies war der Auftakt für weitere Militärfahrzeuge und Zulieferteile, die in den folgenden Jahren gebaut wurden. In der Zeit zwischen den Weltkriegen widmete sich Karmann in besonderem Maße der Produktion von Karosserien, Aufbauten und Gesamtfahrzeugen. Inspiriert durch die Fortschritte der Fließbandtechnik und das Fordistische Produktionssystem, die der Unternehmensgründer vor allem durch eine Reise in die USA kennenlernte, wurde die Automobilproduktion sukzessive ausgebaut. Während des Zweiten Weltkrieges spannte die nationalsozialistische Regierung Karmann erneut für die Rüstungsproduktion ein. Die Aufträge aus Berlin lasteten das Unternehmen komplett aus, die massive Bombardierung Osnabrücks traf auch Karmann und zerstörte das Unternehmen fast vollständig (vgl. ebd. S.66).
5.1 Unternehmen 1 (Karmann)
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Osnabrücker Betrieb seine erste Karosserie (1902). Nach ersten Erfahrungen im Karosseriebau, die 1908 zum Bau einer „InnensteuerLimousine“ für Opel führten (1908), wagte sich Wilhelm Karmann mit einem Katalog 1905 auf die IAA in Berlin. Dort präsentierte er vier verschiedene Karosserien – noch unter dem Firmennamen „Wagenfabrik Chr. Klages“. Die Umbenennung in „Wagenfabrik Wilhelm Karmann“ folgte 1906. Den Grundstein für den Cabriobau legte der Osnabrücker Unternehmer mit seinem ersten Patent im Jahr 1913 für einen einfach zu bedienenden Faltverdeckmechanismus59 (vgl. Wilhelm-Karmann-GmbH et al. 2001). In der Zeit zwischen den Weltkriegen sorgten insbesondere die Aufträge der Adlerwerke (Frankfurt) für weitere Erfahrungen im Cabriobau. Karmann fertigte Cabrioversionen und Karosserien für Adler, Hanomag sowie das erste Ford-Modell im Auftrag (Ford Eifel Roadster 1930er Jahre, ca. 800 Exemplare) (ebd.). Die Weichenstellung für die Entwicklung, die das Unternehmen in der Folgezeit als Auftragsfertiger nahm, erfolgte in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch den Firmengründer Wilhelm Karmann selbst: Trotz der Wirren und Schwierigkeiten der Kriegsjahre und der damit verbundenen, gewissermaßen oktroyierten Produktion, hielt der Unternehmer an seinem Wunsch fest, ein Cabriolet (für die zivile Nutzung) zu bauen. Er erkannte am Volkswagen (KdF-Wagen) der Kriegsproduktion, dass auf dieser Basis ein Cabrio gebaut werden konnte. Nach einigen Verhandlungen zwischen Karmann und Volkswagen lieferte VW am 25. August 1949 das erste Cabriolet aus (vgl. Knust 1996). Dieser „offene Käfer“ wurde ein voller Erfolg und ebenso wie sein „geschlossenes Vorbild“ Sinnbild der Wirtschaftswunderzeit. Parallel dazu entwickelte und baute Karmann Prototypen für die Auto Union GmbH und fertigte schließlich DKWCabriolet-Karosserien.
59
Titel des Patents: „Anschlag zur Bewegungsbegrenzung und Abstandssicherung des Haupt- und Hilfsspriegels an hinteren Klappverdecken für Motorwagen“ (WilhelmKarmann-GmbH et al. 2001, S.28).
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5 Unternehmensfallstudien
Zusammenfassung Phase 1 Die Erfahrungen im Wagenbau vor dem ersten Weltkrieg und vor allem die ersten Auftragsfertigungen für Cabriolets und Karosserien von Limousinen erfolgreicher Automobilmarken in den 1930er Jahren bildeten das Fundament, auf das Karmann nach dem zweiten Weltkrieg bauen konnte. Das Unternehmen zeichnete sich in dieser Zeit dadurch aus, individuelle Lösungen in Anknüpfung an bestehende Modelle der Auftraggeber zu finden, innovative Techniken zu entwickeln und insbesondere über besondere Kompetenz im Cabriobau zu verfügen. Unternehmensentwicklung in Phase 2: Karmann etabliert sich als wichtige Adresse für Cabriolet-Produktion und Kleinserien in Europa Das Unternehmen expandierte in den 1950er Jahren, bezog neue Räumlichkeiten und errichtete neue Produktionswerke. So berichtete der Spiegel in seiner Ausgabe vom 1. Mai 1963 von „Wilhelm II.“, dem Sohn des Firmengründers Wilhelm Karmann, und „Europas größte[m] Spezialwerk für Automobil-Karosserien“, der Wilhelm Karmann GmbH in Osnabrück (Der Spiegel 1963, S.90f.). Dieser Erfolg war insbesondere durch den Bau des „Karmann Ghia“ möglich, der als weitere Auftragsfertigung für das Volkswagenwerk die Produktion der Cabrio-Variante des VW-Käfers begleitete. Die Serienfertigung des Karmann Ghia begann am 1. November 1957, zunächst als geschlossene Coupé-Version. Der Karmann Ghia60 entwickelte sich neben dem VW-Cabriolet und einem Porsche-Sportwagen zum Verkaufsschlager (Keller et al. 2006). Auf dieser Erfolgswelle eröffnete Karmann bereits 1961 seinen ersten ausländischen Standort mit „Karmann-Ghia do Brasil“ in Sao Paulo. Insbesondere in der Nachkriegszeit war die Unternehmensgeschichte und entwicklung der Wilhelm Karmann GmbH eng mit der des Volkswa60
Neben der Coupé-Variante beginnt das Unternehmen einige Jahre später auf der Basis des VW 1500 den „Großen Karmann-Ghia“ zu bauen. Eine Cabrioletversion dieses „großen Karmann Ghia“ wird zwar entwickelt, jedoch nicht als Serienproduktion aufgenommen. Der Karmann Ghia als Cabriolet in seiner Ausgangsversion wird bis 1974 gebaut.
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gen-Werks in Wolfsburg verwoben. Karmann fertigte in dieser Zusammenarbeit mit Volkswagen zum einen besondere Karosserien sowie zum anderen die ersten Cabrio-Versionen von Volkswagen-Modellen. Parallel zu den genannten Gesamtfahrzeugen und dem Kastenund Kombiwagen „Taunus 12 M“ für Ford stellte der Osnabrücker Hersteller auch Pressteile und Werkzeuge her, so dass der damalige Prokurist von Karmann in der Spiegel-Reportage zitiert wurde: „Man darf wohl ohne Übertreibung sagen, daß heute nur wenig Automobiltypen in Europa fahren, für die Karmann keine Preßwerkzeuge und Preßteile geliefert hat“ (Der Spiegel 1963, S.90ff). Der Aufbau der drei Säulen Fahrzeugbau, Presswerk und Werkzeugbau erfolgte bereits seit den 1940er Jahren, diese Säulen bestanden bis zur Unternehmensinsolvenz im Jahr 2009. An die Produktionen für Volkswagen und Porsche schloss sich 1962 ein Auftrag von Alfa Romeo zur Konstruktion der Karosserie, Prototypenbau und Werkzeugbau an. In Rheine stellte Karmann ab 1965 den BMW 2000 C/CS her und begann damit eine neue Kooperation mit einem renommierten OEM. Auch eine Opel-Produktion übernahm das Werk in Rheine ab 1966. Neben weiteren Produktionen für die genannten Automobilunternehmen stellte Karmann verschiedene Studien von Coupés und Cabriolets vor und entwickelte Derivate im Auftrag der OEM. Eine Besonderheit war die Produktion des VW Golf Cabriolets, das im Februar 1979 präsentiert wurde. Das Käfer-Cabrio baute Karmann bis zum Januar 1980 weiter, dann folgte die Ablösung durch das Golf Cabrio61 – dieser Volkswagen wurde in unterschiedlichen Weiterentwicklungen der Modellvarianten bis 2001 von Karmann produziert und gehört damit zum Markenzeichen des Osnabrücker Auftragsfertigers. Ein weiterer großer Erfolg gelang Karmann mit dem VW Scirocco, der als weiteres Golf-Derivat seit 1974 in Osnabrück in Serie gebaut und dessen Produktion im Jahr 1981 mit einem Nachfolgemodell direkt fortgesetzt wurde Der „Corrado“ von Volkswagen galt dann ab 1988 als Ersatz für den Scirocco und ermöglichte Karmann eine Fahrzeugproduk61
Beide Fahrzeuge werden für ca. 11 Monate parallel gebaut.
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tion bis 1995 mit insgesamt 97.521 Einheiten (vgl. Wilhelm-KarmannGmbH et al. 2001). Eine weitere Besonderheit in dieser zweiten Phase bestand in der ersten Kooperation mit Renault: Karmann gewann 1991 von Renault den Auftrag für den kompletten Rohbau sowie die Verdeckfertigung des Renault 19 Cabriolets. Karmann belieferte das Renault-Werk in Maubeuge von seinem Standort in Rheine aus. Ein Jahr später begann der Osnabrücker Auftragsfertiger mit der Produktion des „Ford Escort RS Cosworth“, von dem bis 1996 8.082 Stück gefertigt wurden. Neben dem „Dauerbrenner“ VW Golf Cabriolet verwirklichte Karmann in seinem Osnabrücker Werk eine neue Kooperation mit internationalem Charakter. Von 1995 bis 1998 bauten die Osnabrücker 25.984 Einheiten des „Kia Sportage“. Dafür lieferte Kia Motors 85% der Bauteile über Bremerhaven nach Osnabrück. Während bislang Derivate von Modellen aus der OEM-Palette sowie Fahrzeugverdecke für europäische Automobilunternehmen gefertigt wurden und ein relativ einheitliches Muster der Kooperation zwischen OEM und Auftragsfertiger zu beobachten war, zeigte diese Zusammenarbeit einige Besonderheiten: „Kia has used its cooperation with the German assembling company Karmann to effect know-how transfers in the field of quality management and processes. For instance, the firm has sent groups of Korean engineers to study German manufacturing practices and organization“ (Lautier 2001, S.221).
Als Karmann den Auftrag für den Corrado verlor, suchte die Geschäftsführung nach Kompensationsmöglichkeiten, um die Produktion in Osnabrück auszulasten. Dabei fand der Auftragsfertiger im Koreanischen OEM „Kia“ einen neuen Partner, der die Kooperationsmöglichkeit für eine Lokalisierungsstrategie nutzte. Karmann baute das Fahrzeug für Kia in Deutschland und half der asiatischen Marke dabei „in Europa Fuß zu fassen“ (Interview U1/Geschäftsführung). Karmann überzeugte den koreanischen OEM als Auftragsfertiger62 und baute innerhalb von 62
In den Unternehmensinterviews wurde vielfach auf die Schwierigkeit verwiesen, Aufträge von japanischen oder koreanischen OEM zu erhalten. Diese benötigen einen langen
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sechs Monaten die Produktion für einen Kia-Geländewagen auf und begann mit der Fertigung in Osnabrück. Diese Auftragsfertigung belegte die Fähigkeit des Unternehmers zur Produktion von Geländewagen mit Allradantrieb, welche die Domäne der Cabrio- und Coupéfertigung ergänzten (vgl. Interview U1/Geschäftsführung). Dieser Auftrag zeigte eine Variante der Auftragsfertiger für neue Produktionen, auf die verschiedene Akteure im Unternehmen in den Krisenzeiten der folgenden Zeit häufig rekurrierten, als es Schwierigkeiten in der Akquise neuer Aufträge für Nischenmodelle gab. Die OEM fragten nicht die Nischenkompetenz nach, es ging um die Fertigung eines Modells aus anderen Gründen: Markterschließung (Lokalisierungsstrategie), Auslaufmodell oder Spitzenabfederung. In den 1990er Jahren übernahm das Osnabrücker Karmann-Werk die Produktion der Auslaufserie für den Volkswagen Golf Variant (1997). Volkswagen ließ sich überzeugen, die Osnabrücker mit dem Bau des alten Modells zu betrauen, um der starken Nachfrage nach dem neuen Modell ohne überlange Wartezeiten entsprechen zu können (vgl. Wilhelm-Karmann-GmbH et al. 2001). Der ehemalige Karmann-Chef stellte die Flexibilität und die Bedeutung der Fachkompetenz heraus, die für ein solches Projekt notwendig waren – und verwies gleichzeitig darauf, dass diese Geschäftsfelder dem Unternehmen bei der Schließung von Beschäftigungslücken helfen konnten (vgl. Interview U1/Geschäftsführung). Diese Beispiele verdeutlichen, dass das Unternehmen Karmann bereits in den 1990er Jahren fehlende Anschlussaufträge überbrücken musste. Dies gelang, da bei den OEM – neben der Nischenproduktion – andere Notwendigkeiten enstanden, Produktionen auszulagern. Gleichzeitig bestand das Vertrauen gegenüber dem Osnabrücker Auftragsfertiger, um ihm Produktionskenntnisse anzuvertrauen und Produktionen zu übertragen, die zuvor unternehmensintern durchgeführt worden waren. Diese Projekte unterschieden sich von den übrigen AuftragsferVorlauf zum Aufbau einer vertrauensvollen Geschäftsbeziehung. Am Beispiel Kia erläutert eder ehemalige Karmann-Geschäftsführer, dass der Besuch in Seoul verbunden mit der Offenheit für die koreanische Kultur entscheidend war, um den Auftrag zu erhalten (vgl. Interview Geschäftsführung).
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tigungen dadurch, dass es sich um Fahrzeuge handelte, die nicht in Kooperation oder von Karmann entwickelt wurden. Dies erforderte zudem eine große Flexibilität des Auftragsfertigers, der sich schnell auf die neuen Produktionslinien einstellen musste ohne die übliche Vorlaufzeit eines neuen Fahrzeugprojekts. In dieser Phase von den 1950er Jahren bis in die späten 1990er Jahre entwickelte sich das Unternehmen mit verschiedenen Betriebsstätten im In- und Ausland, der Ausdifferenzierung von Unternehmenssparten (Betriebsmittelbau, Dachsysteme und Fahrzeugbau) sowie vielfältigen Kooperationsstrukturen zu europäischen und außereuropäischen OEM. Früh zeigten sich die besonderen Fähigkeiten des Osnabrücker Unternehmens: In besonderer Weise durch den Firmengründer verkörpert und durch entsprechendes Mitarbeiterpotential ergänzt war das Unternehmen in der Lage, als Ideenschmiede mit Gespür für Trends und Moden zu fungieren, Innovationen voranzutreiben, die an bestehende Produkte der OEM anknüpfen, und diese Ideen und Innovationen als verlässlicher Auftragsfertiger, Kooperationspartner und flexibles Unternehmen in Serienfertigungen umzusetzen. Darüber hinaus schloss der Sohn des Firmengründers, Wilhelm Karmann jun., an die Führungskultur des Vaters an, Innovationsbereitschaft und die Offenheit für neue Wege mit Akribie, Sorgsamkeit und Bodenständigkeit zu verbinden. Beispielhaft dafür ist die Investition zur Einrichtung des Unternehmensstandortes in Brasilien, die auf der Basis umfangreicher Vorbereitungen, mit großer Skepsis und Vorsicht erfolgte (vgl.Knust 1996, S.126), gleichzeitig aber die Bereitschaft zur Internationalisierung zeigt. Weitere Auslandsstandorte folgten und waren entweder auf die Anforderungen der Auftraggeber ausgerichtet (Produktion in Mexiko ab 1996 – Kooperation mit VW), verfolgten das Ziel, einzelne Produktionsschritte kostengünstig zu gestalten (Portugal ab 1992 – dort werden Verdecke genäht63) oder zeugten von dem Bestreben, neue Märkte zu erschließen
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Der Standort in Portugal zeichnete sich durch eine geographisch günstige Lage aus: Die Textillieferung für die Verdecke kamen aus Südamerika und wurden nach der Weiterverarbeitung von Portugal aus weiter nach Norden transportiert. Das Arbeitskräftepotential
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und neue Kooperationen aufzubauen (Standort für technische Entwicklung in der Nähe von Detroit ab 1996). In der Situation, eine kostengünstigere Fertigungsstätte in Portugal aufzubauen, zeigten sich zum ersten Mal in der Unternehmensgeschichte die Auswirkungen der Standortkonkurrenz auf die Beschäftigungsbedingungen in Osnabrück. Im Konflikt zwischen Arbeitnehmern und Unternehmensleitung saß letztere „am längeren Hebel“: Das Aufzeigen der Alternative eines kostengünstigeren Produktionsstandorts sollte die Beschäftigten zu Zugeständnissen bringen. Als Kompromiss schlug die Geschäftsführung die Einigung auf den Textiltarif vor, der für das Unternehmen eine Kostenreduktion um 20% bedeutete. Als Betriebsrat und Gewerkschaft dieses Angebot ablehnten, fiel die Entscheidung für die Errichtung der neuen Betriebsstätte in Portugal (vgl. Interview U1/Geschäftsführung). Zusammenfassung Phase 2 Neben dem Ausbau der Kompetenz im Cabriobau, der Innovationsfähigkeit für Dach- und Verdecksysteme zeigte der Osnabrücker Gesamtfahrzeughersteller die Fähigkeit, neue Geschäftsmodelle anzubieten und erfolgreich umzusetzen (Auslaufserien) und Kooperationen mit außereuropäischen Auftraggebern (Kia) zu knüpfen. Das Unternehmen etablierte sich und verfolgte Internationalisierungsstrategien sowohl eigenständig (Portugal), als auch für die Zusammenarbeit mit einem OEM (Mexiko). Die Projekte in dieser Phase offenbaren allerdings auch, dass die OEM in eine besondere Situation rückten: Sie profitierten von großer Nachfrage, strebten auf neue Absatzmärkte. Insofern gab es auf Seiten der Auftraggeber Nachfragepotential, das durch ihre eigenen Kapazitäten – sei es aus geographischen Gründen, sei es aus produktionsorganisatorischen Gründen – nicht erfüllt werden konnte. In dieser Situation erwies sich ein Auftragsfertiger als wichtiger und kompetenter Partner und wurde in die Wertschöpfungsarchitektur einzelner Fahrfür die erforderlichen Tätigkeiten stammte aus Regionen, die vormals durch die Textilindustrie geprägt waren (vgl. Interview U1/Geschäftsführung, Interview U1/Personal).
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zeuge, zumeist für Kleinserienproduktionen, eingebunden. In der Rückschau auf diese Phase dominiert bei erstem Hinsehen der Erfolg, der mit bestimmten Fahrzeugmodellen verknüpft war, allerdings erlebte das Unternehmen bereits konjunkturelle Schwankungen und suchte nach Strategien zur Überbrückung dieser Zeiten, in denen nicht die gesamten Produktionskapazitäten ausgenutzt werden konnten. Die Gesamtsituation in der Automobilbranche ließ es zu, dass Karmann auch schwierige Phasen überstehen konnte, um daran mit Auftragsfertigungen in großem Umfang in der Fahrzeugproduktion anzuschließen. Unternehmensentwicklung in Phase 3: Der Abstieg vom Gipfel – der Auftragsfertiger am dünnen Faden im Wertschöpfungsnetzwerk Die späten 1990er Jahre begannen verheißungsvoll: Karmann entwickelte im Auftrag von Daimler Chrysler die Dachkonstruktion für den Mercedes-Benz SLK und lieferte fortan Module und Rohbauteile ins Bremer Mercedes-Werk. 1997 begann der Osnabrücker Auftragsfertiger mit dem Bau des Mercedes-Benz CLK Cabriolets, kurze Zeit später außerdem mit der Coupé-Variante dieses Modells – es handelte sich zwar um eine Kleinserie (Umfang für das Cabriolet: 10.000-25.000 Einheiten pro Jahr), die jedoch zum großen Erfolg und soliden Standbein für Karmann wurde (Wilhelm-Karmann-GmbH et al. 2001). Der Auftrag zur Produktion des „Chrysler Crossfire“ im Jahr 2003 erwies sich zunächst als Highlight in der Unternehmenshistorie. In Kombination mit der Produktion des Mercedes CKL Cabriolets (in Osnabrück) und der Produktion des Audi A4 Cabriolets (in Rheine) sorgte diese Zusammenarbeit mit dem damaligen Daimler-Chrysler-Konzern für die Einstellung von 1.000 neuen Arbeitskräften und die Weiterbeschäftigung von Mitarbeitern mit befristeten Verträgen (neue-oz.de 2003a). Somit war offensichtlich, dass dieser positive Beschäftigungstrend nur von sehr kurzer Dauer war, sollte es keinen weiteren Auftrag geben, für den das Unternehmen das zusätzliche Beschäftigungspotential bräuchte.
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Insgesamt beschäftigte Karmann im Jahr 2003 an den Standorten in Osnabrück und Rheine über 9.000 Mitarbeiter. Der Unternehmenssprecher stellte heraus, dass „die Marktlage“ entscheiden müsse, für welchen Zeitraum die neuen Mitarbeiter im Unternehmen schließlich beschäftigt würden, es handele sich bei Karmann um eine „atmende Fabrik“, die „größtmögliche Flexibilität“ eben durch befristete Beschäftigungsverhältnisse ermögliche (ebd.). Als herausragend und außergewöhnlich beschrieben Fachleute die Fähigkeiten, die Karmann für die Produktion des Chrysler Crossfire bot: „So schnell hätten wir das Auto nirgendwo anders produzieren können“, so ein Chrysler-Manager64 (Lamparter 2003). Diese Flexibilität und „Aus-Atmung“ drohte – aus Sicht der Beschäftigten – bereits im Laufe des Jahres 2003, als die Beschäftigtenzahl zurückging und das Unternehmen im November vermeldete, dass ein Teil der Mercedes-CLK-Produktion durch DaimlerChrysler übernommen würde. Der Beschäftigungsrückgang sei allerdings nicht durch diese Verlagerung der Produktion nach Bremen verursacht. DaimlerChrysler übernähme, so die Geschäftsführung, damit jene Teile der Fahrzeug-fertigung, die aufgrund der großen Nachfrage über das vertraglich vereinbarte Produktionsvolumen hinaus herzustellen seien (vgl. neue-oz.de 2003b). Weiterhin lieferte Karmann für diese Fertigung Rohkarosserien und Verdecke. Optimismus prägte im Jahr 2003 die Einschätzung der Marktsituation für die Auftragsfertiger. Insbesondere für ein Unternehmen wie Karmann schien es besondere Vorteile zu geben: „Der Reiz des Geschäftsmodells liegt in der Symbiose: Getaktete Teamarbeit in den Hallen, organisiert als eine Art flexibler Manufaktur mit Großserienansatz, dazu Tradition aus dem Bau eigener Modelle – eine Firma wie Karmann gibt es in keinem Lehrbuch und auch sonst nirgends in diesem Land“,
berichtete das Handelsblatt euphorisch (Brors 2003). Die OEM verkauften Fahrzeuge, die nicht in ihre eigenen Produktionsstrukturen passten. 64
Ein wesentlicher Grund für dieses besondere Tempo und den Erfolg dieser Produktion bestand in der Verbindung zwischen dem Mercedes SLK und dem Chrysler Crossfire: Der Crossfire basierte auf dem SLK der ersten Generation (gleiche Bodengruppe, Werkzeuge vorhanden etc.).
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Dafür benötigten sie die Flexibilitätsmerkmale verbunden mit Erfahrungswissen in der Kleinserienproduktion, die der Osnabrücker Gesamtfahrzeughersteller bieten konnte. Es sprach vieles für dieses Geschäftsmodell, das eine besondere Funktion in der Automobilindustrie erfüllte. Im darauffolgenden November präsentierte die Presse den „Abstieg vom Gipfel“ (ebd). Nachdem Karmann eine unerwartet hohe Zahl von 90.000 Gesamtfahrzeugen im Jahr hergestellt hatte, rechnete das Unternehmen Ende des Jahres 2004 mit deutlich niedrigeren Zahlen in der Zukunft. Im Oktober 2004 beschäftigte der Auftragsfertiger insgesamt (also an allen nationalen und internationalen Standorten) 9.761 Mitarbeiter, davon 8.109 in Osnabrück und Rheine (83,4% der Gesamtbeschäftigung). Für die beiden letztgenannten Standorte war somit bereits ein deutlicher Beschäftigungsrückgang zu verzeichnen. Die Neue Osnabrücker Zeitung schrieb im November 2004, dass „sich Betriebsrat und Unternehmensleitung nach monatelangen Verhandlungen Anfang November auf einen Sanierungsplan für den Betriebsmittelbau geeinigt [hätten], der bis zu 120 Entlassungen vorsieht. Durch Versetzungen in andere Abteilungen und der Nutzung von Regelungen der Altersteilzeit soll die Sparte binnen weniger Monate von 650 auf 400 Mitarbeiter verkleinert werden.“ (Neue Osnabrücker Zeitung vom 26.11.2004). Parallel zu der Veränderung der Beschäftigtenzahlen verwies die Firmenleitung auf eine sehr gute Auslastung des „jungen Geschäftsfeldes Dachsysteme“ (ebd.), in dem sich das Unternehmen zum Weltmarktführer habe entwickeln können. Damit betätigte sich Karmann in einem Bereich, in dem es mit den Dachsystemen eben nur ein Zulieferteil herstellte. Mit Blick auf dieses Geschäftsfeld eröffnete Karmann eine neue Produktionsstätte 2004 in Plymouth (USA), um dort Dachsysteme mit 250 Mitarbeitern zu produzieren. Am heimischen Standort in Osnabrück hingegen herrschte eine gewisse Frustration über die veränderte Beschäftigungssituation: 770 Mitarbeiter, die 2003 eine befristete Beschäftigung bei Karmann gefunden hatten, verließen das Unternehmen ein Jahr später. Aufgrund der sehr kurzfristigen Einstellung von 1.000
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Mitarbeitern sorgte der Automobilhersteller im Jahre 2003 für Furore, der Unternehmenssprecher wiederholte in einer Stellungnahme die Strategie des „atmenden Unternehmens“, die Karmann verfolge, „im März 2003 atmete das Unternehmen kräftig ein, jetzt muss es ausatmen“ (neue-oz.de 2004). In diesem Kontext wurde beschrieben, was für die Region charakteristisch ist: Als eines der größten Unternehmen in der Region erfuhr der Arbeitsmarkt vor Ort einen deutlichen Impuls, wenn Karmann eine größere Zahl an Mitarbeitern einstellt. So versuchten beispielsweise Facharbeiter aus dem Handwerk, durch eine Beschäftigung beim Autobauer bessere Verdienstmöglichkeiten zu realisieren65 – in Schwierigkeiten geriet der regionale Arbeitsmarkt wiederum dann, wenn diese Beschäftigungswelle abebbte, das Unternehmen Mitarbeiter entließ, die nicht durch andere Betriebe aufgefangen werden konnten. Die Vertragsfrist von zwei Jahren für die im Jahr 2003 eingestellten Mitarbeiter konnte durch Karmann nicht eingehalten werden; 90% dieser Beschäftigten verließen das Unternehmen vorzeitig Ende des Jahres 2004. Im Jahr 2005 folgten weitere Negativmeldungen: Betriebsbedingt erhielten 250 insbesondere jüngere Mitarbeiter eine Kündigung, weitere ca. 100 Beschäftigte schieden nach Auskunft des Betriebsrates und der Geschäftsführung durch eine Altersregelung aus dem Unternehmen aus (vgl. neue-oz.de 2005). . Der Betriebsrat betonte, dass diesen älteren Mitarbeiter zwar auch gekündigt würde, sie aufgrund eines Sozialplanes einen Ausgleich der Differenz zwischen Arbeitslosengeld und bisherigem Nettoausgleich für bis zu 32 Monaten erhielten, einmalige Abfindungen sollen Rentenverluste ausgleichen. Eine zusätzliche Arbeitszeitregelung – Verkürzung der Arbeitszeit in den Frühjahrsmonaten und damit verbundene Einkommenseinbußen – sollte die Beschäftigten vor weiteren Entlassungen bewahren, letztlich drohten „nach Darstellung des Betriebsrates bis zu 800 Kündigungen“ (ebd.), 65
„Und jetzt gibt es eine Riesendiskrepanz. Zwischen den Industriearbeitsplätzen hier bei Karmann und einem KfZ-Mechaniker hochqualifiziert, bei Beresa, bei Härtel. Da verdient man hier an so einem Industriearbeitsplatz, nur weil man auf so einem Stapler sitzt, 30% mehr als ein hochqualifizierter KfZ-Mechaniker, der Ihnen genau sagen kann, was mit Ihrem Auto los ist.“ (Interview U1/Betriebsra t2).
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eine Zahl, die durch die beschriebenen Maßnahmen abgemildert werden könnte. Der Ankündigung des Unternehmensvorsitzenden zum Beschäftigungsabbau im Januar 2006 folgten im Februar Berichte über die Reaktion der Beschäftigten. Für sie schien diese Entscheidung zwar nicht überraschend, löste jedoch große Befürchtungen aus. Ein Mitarbeiter berichtete, es sei ähnlich schlecht im Jahr 1993 gewesen, fügte aber an: „Wir wussten damals, dass neue Aufträge reinkommen und wir bald wieder Arbeit haben“ (Meyer 2006). Dies war in der jüngsten Entwicklung nach Angabe der Mitarbeiter nicht der Fall, insbesondere nicht im Fahrzeugbau, der bislang die Beschäftigung in Osnabrück gesichert hatte. Daneben wurde eine weitere Besorgnis geäußert: „Das ist doch so [...], wenn irgendwann wieder Leute eingestellt werden, dann kommen die von Zeitarbeitsfirmen.“ (ebd.) Die Situation des Unternehmens wurde zu diesem Zeitpunkt als schwierig charakterisiert: Kapazitätsanpassungen waren notwendig, die insbesondere das Personal betrafen. Der Vorsitzende der Geschäftsführung, Dr. Bernd Lieberoth-Leden, stellte im Gespräch mit der regionalen Zeitung heraus, „dass Karmann als Hersteller von Nischenfahrzeugen hochspezialisiert und ein attraktiver Partner für die Automobilwirtschaft“ sei. Auch hinsichtlich der Herstellungskosten habe das Osnabrücker Unternehmen „in aller Regel die Nase vorn“ (neue-oz.de 2005). Dennoch gab es keine neuen Aufträge, welche eine führende Wettbewerbsposition hätten bestätigen können. Insofern stellte sich angesichts des (scheinbaren?) Optimismus’ des Geschäftsführers die Frage, unter welchen Bedingungen Karmann denn tatsächlich noch „ein attraktiver Partner“ für die OEM hätte sein können. Die geplanten Entlassungen im Fahrzeugbau im Jahr 2005 veranlassten den Betriebsrat, auf die anstehenden Kündigungen zu reagieren. Dabei unterstrich der Betriebsrat die besondere Situation Karmanns als Automobilzulieferer: „Wir wollen keine Illusionen schüren. Die mutigen und beispielhaften Aktionen bei Opel in Bochum haben letztlich nicht verhindert, dass es auch dort zu Entlassungen kommen wird. Außerdem gibt es im Verhältnis zu Karmann einen wichtigen Unterschied: In Konzernen wie Opel, DaimlerChrysler und VW ist der Adressat von Forderungen der Beleg-
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schaft zur Arbeitsplatzsicherung die eigene Konzernleitung. Bei Karmann als Zulieferer der besonderen Art müsste diese Forderung aber an externe Adressen gehen: Nämlich z.B. an die oben angeführten und andere mögliche Auftraggeber, für die wir Autos bauen möchten und die uns heute und für morgen keine oder zu wenig Arbeit geben. Denn der Betriebsrat will nichts unversucht lassen, um bei Karmann so viele Arbeitsplätze wie eben möglich zu halten. Adresse für diese Forderungen ist unsere Geschäftsführung.“ (Betriebsrats-Info vom 26.01.2005).
Diese Aussage verdeutlichte bereits die schwierige Situation des Unternehmens bzw. von dessen Geschäftsführung: Karmann war in besonderer Weise von den Folgen der Unternehmensentscheidungen seiner Auftraggeber betroffen, die wiederum aufgrund ihrer eigenen prekären Lage einen besonderen Druck auf den Zulieferer ausübten. Als Schritt in Richtung Beschäftigungssicherung bot der Betriebsrat der Geschäftsführung daher an, den Tarifvertrag zwischen Arbeitgeberverband und IG Metall über Beschäftigungssicherung, der eine Absenkung der Arbeitszeit auf bis zu 29 Stunden bei entsprechender Kürzung des Lohns vorsah, auch im Arbeiterbereich anzuwenden, um diesen Faktor maximal auszuschöpfen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Vorstellungen der Geschäftsführung im Hinblick auf die Bildung von Altersklassen beim Beschäftigungsabbau dargelegt. (vgl. ebd.). Im März 2005 unterzeichneten Betriebsrat und Geschäftsführung schließlich ein Maßnahmenpaket, um – wie es in den Betriebsratsinformationen hieß – „der schwerwiegenden Beschäftigungslücke bei Karmann entgegen[zu]wirken und gleichzeitig eine Brücke in die Zukunft von Karmann [zu] bauen“ – daneben begründete der Betriebsrat seine Position damit, dass er den „Standortkampf“ nicht derart führen wollte, dass es letztlich dem gesamten Unternehmen (Image, Wettbewerbsfähigkeit u.W.) schaden würde (Betriebsrats-Info vom 16.03.2005 sowie vom 10.05.2005). Instrumente in diesem Maßnahmenpaket waren Arbeitszeitabsenkung und Kurzarbeit, während der Betriebsrat die Bildung von „Altersbändern“ als Sozialauswahl unter vergleichbaren Arbeitnehmern innerhalb einer Altersgruppe, die die Geschäftsführung anstrebte, zunächst ablehnte. Die Einigung wurde vom Betriebsrat als „Atempause“ gewertet und dargelegt, dass auf diesem Weg eine „riesi-
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ge Massenentlassung“ abgewendet werden könne (Betriebsrats-Info vom 16.03.2005). Die Einführung von Kurzarbeit wurde im Folgenden als Arbeitsplatzsicherungsmaßnahme bewertet, womit der Betriebsrat seine Übereinkunft mit der Geschäftsführung in dieser Frage rechtfertigte. Im Hinblick auf die strategische Ausrichtung des Unternehmens verwies der Osnabrücker Betriebsrat wiederholt darauf, dass der Fahrzeugbau weiter erhalten bleiben müsse. „ [...] ohne Gesamtfahrzeugaufträge – also ohne „Futter für den Ochsen, der den Karren zieht“ – [würde] das Karmanngefährt nicht mehr gezogen werden können“ (vgl. Betriebsrats-Info vom 06.02.2006). Aus den Dokumenten des Betriebsrates wird deutlich, dass eine intensive Diskussion über die Zustimmung zum oben beschriebenen Maßnahmenpakte auf die Einigungen im Frühjahr 2005 folgte. Umfangreiche Kritik gab es an der Informationsund Kommunikationspolitik der Geschäftsführung gegenüber dem Betriebsrat. Der Betriebsrat erklärte den Beschäftigten die Krisensituation auch und insbesondere im Zusammenhang mit Standortsicherungsvereinbarungen, die durch die Konzernbetriebsräte und die IG Metall für die Belegschaften der großen Automobilhersteller (Volkswagen, DaimlerChrysler) geschlossen worden waren. „Eingebrochene Deiche an der Nordsee[...]können nicht durch Dämme an der Hase ersetzt werden“ formuliert der Karmann-Betriebsrat als Metapher die Konsequenzen dieser Konzernentscheidungen. Ein Interessenausgleich zwischen dem Betriebsrat von Karmann, den Konzernbetriebsräten der OEM und der IG Metall sollte dabei helfen, den Standort zu sichern (vgl. BetriebsratsInfo vom 10.05.2005). Wie ein solcher Ausgleich hätte aussehen können, blieb unklar. Die Machtasymmetrie, die zwischen den Betriebsräten der einzelnen Unternehmen bestand, zeigte sich an der geschwächten Position des Karmann-Betriebsrates in besonderer Weise. Während zu Beginn des Jahres 2006 noch Unklarheit über die genauen Restrukturierungspläne des Osnabrücker Autobauers herrschte, zeigte sich die IG Metall offen für Instrumente, die bei der Volkswagen AG im Hinblick
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auf drohende Entlassungen gewählt wurden (vgl. 5000x5000). Ebenfalls im Februar 2006 berichtete die regionale Presse über Planungen einer Beschäftigungsgesellschaft, um deren Gründung sich Ministerpräsident Christian Wulff bemühte. Der Betriebsrat von Karmann hingegen hielt zu diesem Zeitpunkt noch an einer Lösung ohne Beschäftigungsgesellschaft fest. Gleichwohl erläuterte er in seiner Information an die Belegschaft vom 07.03.2007, dass der Ministerpräsident eine Schlüsselfigur darstelle, weshalb mit ihm feste Informations- und Gesprächswege vereinbart worden seien. Daneben strebte der Betriebsrat unter dem Stichwort „diplomatische Offensive“ weitere Gespräche mit dem Vorsitzenden der IG Metall, Jürgen Peters, sowie dem Betriebsrat von Volkswagen an. Die Wortwahl („diplomatisch“) verweist auf ein Konfliktpotential, das aufgrund der asymmetrischen Machtsituation zwischen den Akteuren bestand. Die grundsätzliche Kompromissbereitschaft des Betriebsrates gegenüber der Geschäftsführung von Karmann nach einer ersten Phase der Konfrontation wurde zu diesem Zeitpunkt ersichtlich (vgl. Betriebsrats-Info vom 07.03.2006). Gleichwohl spitzte sich die Situation am Osnabrücker Standort so weit zu, dass der Ministerpräsident persönlich bei einer Betriebsversammlung im Februar 5000 Beschäftigten der Wilhelm Karmann GmbH ein Lösungsmodell in Form einer Beschäftigungsgesellschaft präsentierte. Daran wurde deutlich, dass ein massiver Beschäftigungsabbau nicht oder kaum mehr abzuwenden war. Die Geschäftsführung gab im Mai 2006 im Rahmen einer Betriebsrats-Sondersitzung bekannt, dass sie ihrerseits die Verhandlungen über den Interessen-ausgleich und Sozialplan für eröffnet erkläre, bei denen es um die Entlassung von 1.100 Beschäftigten gehe, die aufgrund der fehlenden Stückzahlen im Fahrzeugbau notwendig sei. Darüber hinaus solle nach Information der Geschäftsführung unter dem Titel „fit for future“ ein Programm gestartet werden, das alle Standbeine und Standorte des Unternehmens umfasse. Durch dieses Programm seien Einsparungen in Höhe von 60 Mio. Euro möglich, die durch Preisverfall als Kostenreduktion unabdingbar seien und „Perso-
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nalanpassungen“ mit einschlössen (vgl. Betriebsrats-Info vom 04.05.2006). Im Juni 2006 schrieb die Regionalzeitung, dass die Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung über einen Sozialplan liefen. Insgesamt wurde über eine Größenordnung von 1.250 Arbeitsplätzen gesprochen, die sowohl in der Produktion (ca. 850) als auch in der Verwaltung (ca. 400) bedroht seien (vgl. Neue Osnabrücker Zeitung 2006). Parallel zu dieser Ankündung des Arbeitsplatzabbaus berichtete die Presse über eine neue Investition des Autobauers in Polen. Gleichzeitig informierte die IG Metall, dass der Aufsichtsrat diesem Aufbau eines Produktionsstandortes in Polen zugestimmt habe: „Die Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat war nicht in der Lage, eine Entscheidung für den Aufbau eines Produktionsstandortes für die Fertigung von Cabrioverdecken zu verhindern. Zukünftig werden zwei Aufträge in Polen gefertigt werden“ (IG Metall Presse Medien Information vom 21.06.2006). In diesem Kontext betonten die Akteure, dass die Entscheidung nicht für den Beschäftigungsabbau in Höhe von 1.250 Mitarbeitern verantwortlich sei, da dieser ausschließlich auf den Produktionsrückgang zurückzuführen sei (vgl. ebd.). Als Folge der Verunsicherung in der Belegschaft über den geplanten Beschäftigungsabbau und mögliche Neuinvestitionen des Unternehmens an anderen Standorten kündigte der Betriebsrat Mahnwachen und Arbeitsniederlegungen an. Hinsichtlich des neuen Standortes in Polen wurden Befürchtungen zur Konkurrenz dieses neuen – vermeintlich kostengünstigen – Standortes mit dem Produktionsstandort Osnabrück laut. Der Betriebsrat kritisierte die Verlagerung nach Polen als „nicht durchdacht“ da sich der Eindruck verstärke, „die Entscheidung für Polen [sei] über den Daumen gepeilt“ (Betriebsrats-Info vom 04.05.2006). Im Zuge dieser Kritik forderte der Betriebsrat die Geschäftsführung auf, alle Seiten der Kostenrechnung des Projektes und die Vor- und Nachteilsrechnung dieser Standortverlagerung komplett darzulegen (vgl. ebd.). Im August 2006 informierte der Betriebsrat die Beschäftigten über den Interessenausgleich bei der Aushandlung des Sozialplans. Auch
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wenn der Betriebsrat die Bildung der „Altersbänder“ scharf kritisiert hatte, die im Rahmen der Maßnahmen zum Beschäftigungsabbau als Kriterium verwandt werden sollten, versuchte er, die Vorteile der Transfergesellschaft als einen sinnvollen Restrukturierungsbestandteil zu vermitteln. Mit Blick auf die Altersgruppen-Regelung erläuterte er, dass die Geschäftsführung den „heute schon hohen Altersschnitt in der Belegschaft nicht weiter wachsen lassen“ wollte. Die Zustimmung des Betriebsrates sei daran geknüpft, die Zahl der Entlassungen zu verringern (Betriebsrats-Info vom 15.08.2006). Mit dem Ziel, verlässliche Zahlen über die Kostenstrukturen von der Geschäftsführung zu erhalten, beauftragte der Betriebsrat 2006 eine Beratungsfirma. Hinsichtlich der angestrebten Einsparungsziele beschrieb der Betriebsrat im Februar 2007 das Dilemma, einerseits mit Zugeständnissen zu notwendigen Einsparungen beitragen zu wollen, andererseits die eigene Position nicht zu stark zu schwächen und das Anspruchsniveau der Arbeitnehmer zu reduzieren (Betriebsrats-Info vom 22.02.2007). Zusammenfassend erklärte der Betriebsrat zu den Entscheidungen über die Kosteneinsparungen: „[...] jede entgangene Million beim Personalabbau erhöht den Druck woanders. Hätten wir dazu prinzipiell „Nein“ gesagt, so wäre das wohl der Beginn der Abwicklung des Geschäftsmodells Karmann gewesen. [...] Unsere Zugeständnisse waren unter riesigem Druck diktiert von dem Ziel: Die Gesellschafter sollen weiterhin ihr Geld in der GmbH halten wollen.“ (Betriebsrats-Info vom 22.02.2007).
Als Instrument für diese Restrukturierungsmaßnahme gründete Karmann – wie bereits in der Chronologie der Ereignisse der Jahre 2005 und 2006 angesprochen – eine Transfer- resp. Auffanggesellschaft. Das Niedersächsische Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr erklärte in einer Pressemitteilung, dass es die Transfer- und Qualifizierungsgesellschaft für Karmann-Mitarbeiter fördere. Dabei ging es um einen umfangreichen Personalabbau, um „strukturelle Personalverän-
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derungen im Rahmen eines Sozialplans“66 (Interview MW Niedersachsen). Das Land Niedersachsen und die Bundesagentur für Arbeit trügen demnach die finanzielle Hauptlast der Transfer- und Qualifizierungsgesellschaft (vgl. Informationen des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr). Die Transfer- und Überleitungsgesellschaft sollte den entlassenen Mitarbeitern dabei helfen, in andere Betriebe vermittelt zu werden. Die Einrichtung dieser Transfergesellschaft würde, so das Ministerium, von den Betriebsparteien ebenso wie von der Arbeitsverwaltung, der Staatskanzlei und dem Wirtschaftministerium unterstützt. Dem Ministerium zufolge regte die niedersächsische Landesregierung das Konzept einer auf den „job-to-job-Transfer“ ausgerichteten Gesellschaft an, die bereits frühzeitig in die Suche nach einer sozialverträglichen Lösung einbezogen würde. Aufgabe der Transfergesellschaft solle es sein, die Betroffenen schnell in neue Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Finanziell verfügt das Land über Mittel des Europäischen Sozialfonds, die in diesem Zusammenhang eingesetzt werden, um die Kosten für Beratung und Qualifizierung zu einem Teil zu übernehmen. Weiteren Berichten zufolge wurde so am 01. Oktober 2006 auf Anregung des niedersächsischen Ministerpräsidenten die „Schaffer Service GmbH“ gegründet, die jene Mitarbeiter betreuen sollte, die von Karmann eine Kündigung erhielten (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr.) Der Gesamtumsatz der Karmann-Gruppe verschlechterte sich 2007 auf Grund der schwierigen Situation im Fahrzeugbau um 16% auf 1,5 Milliarden Euro. Die Produktion von Gesamtfahrzeugen sinkt um 13% auf 41.676 Einheiten. Infolge der geringen Stückzahlen stellte das Unternehmen die Lackiererei in Osnabrück auf einen Einschichtbetrieb um. Angesichts leerer Auftragsbücher kündigte die Geschäftsleitung im Oktober 2007 an, Lackiererei und Fertigmontage im Jahr 2010 zu schließen, wenn bis zum 30. Juni 2008 keine neuen Aufträge akquiriert wer66
„Also es gibt hier nicht das atmende Unternehmen in der Form, dass das Unternehmen so eine Transfergesellschaft dafür nutzt, eine vorübergehende Flaute auszugleichen. [...] Hier geht es um Personal, um strukturelle Personalveränderungen im Rahmen eines Sozialplans.“ (Interview MW Niedersachsen).
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den können (Handelsblatt.com 2008b, Wilhelm Karmann GmbH und Co KG 2007). Mit dem unplanmäßigen und vorzeitigen Auslaufen der Fertigung des Chrysler Modells wurde Mitte des Jahres 2007 klar, dass bis Jahresende eine weitere Entlassungswelle anstünden, von der bis zu 870 Mitarbeiter betroffen waren. Im Oktober verkündete die Unternehmensleitung, dass innerhalb eines Jahres 1.770 der 5.000 Arbeitsplätze in Rheine und Osnabrück abgebaut würden. Die Geschäftsleitung setzte der Gewerkschaft eine Frist bis zum 31.12.2007, um einen Sozialplan auszuhandeln. Die Mitarbeiter empfanden die Vorschläge der Unternehmensführung als eine Provokation, da sie ihrer Meinung nach nur bereit war, 16 Millionen Euro in den Sozialplan zu investieren. Neben den Kündigungen sollten alle Angestellten auf 7% ihres Lohns verzichten. Davon ausgenommen waren die Arbeitnehmer des Betriebsmittelbaus, die bereits Lohnkürzungen bei Mehrarbeit bis Ende 2008 akzeptiert hatten. Die Arbeitnehmervertreter forderten hingegen eine Sozialauswahl nach Alter, Betriebszugehörigkeit, Versorgungsverpflichtungen und Schwerbehinderungen. Entsprechend dem Sozialplan sollte erneut eine Transfergesellschaft eingesetzt werden. Anfang des Januar 2008 verließen circa 500 Mitarbeiter das Werk in Osnabrück, weitere 370 schieden freiwillig aus (Rheiner Merkur 2008). Im Januar 2008 verabschiedeten die Betriebsparteien den Sozialplan. Parallel zum ersten Sozialplan übernahm die „Schaffer Service GmbH“ die Qualifizierung und Weitervermittlung von 500 Mitarbeitern. Damit verlängerte sich der ursprünglich bis zum 31.Januar 2008 befristete Personaltransfer um ein Jahr. Das Land Niedersachsen und die Agentur für Arbeit Osnabrück beteiligten sich ebenso wie Karmann an den Kosten. Dabei galt als Zielvorgabe, dass mindestens 60% der Entlassenen neu vermittelt werden sollten. Im Februar 2008 nahmen 393 Karmann-Mitarbeiter dieses Angebot an. Bis Mai 2008 konnten davon 107 bzw. 27% neu vermittelt werden (Yahoo News 2008), so dass schließlich im Juli 43,5% (170) der ehemaligen Karmann-Mitarbeiter in einem neuen Arbeitsverhältnis tätig waren. Angesichts dieser Zahlen zeigte sich die Schaffer GmbH zuversichtlich, bis Ende des Jahres die
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avisierte Vermittlungsquote von 60% erfüllen zu können. Von den 642 Fachkräften, die im Zuge der Entlassungswelle 2006 die Beratung der Schaffer GmbH in Anspruch nahmen, hatten 80% eine neue Anstellung gefunden (Motorzeitung.de 2008). Mit dem Auslaufen der Produktion des Audi A4 Cabriolets wurden in Rheine weitere 900 Stellen gestrichen. Dank einer Aufstockung des Auftrags um 5000 Fahrzeuge, konnte die Produktion fünf Monate länger bis zum 31.März 2009 Aufrecht erhalten werden. Von den 1000 Mitarbeitern wurden 100 am Standort Rheine weiter beschäftigt, die restliche Belegschaft erhielt im August eine Kündigung zum 31. März 2009. (ahlener-zeitung.de 2008). Anfang Juli einigten sich die Verhandlungspartner auf einen Sozialplan für Rheine. 850 der 900 ausscheidenden Mitarbeiter würden Abfindungen erhalten begleitet von der Gründung einer Transfergesellschaft (münsterschezeitung.de 2008). Der Standort Rheine erfüllte lange Zeit eine Ergänzungsfunktion für das Osnabrücker Werk. Ursprünglich expansiv orientiert und im Hinblick auf die OEM als ein Angebot vorgesehen, mit dem ihr Auftrag nicht in Osnabrück neben der Produktion eines Konkurrenten ausgeführt würde, erfüllte der Standort später über weite Strecken die Funktion eines „Überlaufbeckens“ (vgl. Interview U1/Betriebsrat2). Somit traf die Existenzfrage bei fehlenden Aufträgen als erstes das Karmann-Werk am Nachbarstandort. Die IG Metall demonstrierte am 21. Mai auf dem deutschen Katholikentag für eine Verlängerung der Frist, bis zu der das Unternehmen um Aufträge werben würde, bis zum Herbst 2009. Zudem veranstaltete sie im Juni einen „Aktionsmonat“ mit Solidaritäts-, Kultur- und Diskussionsveranstaltungen (IG Metall Betriebsratsinfo, 20.04.2008: IG Metall Medieninformationen 02.06.2008). Die Unternehmensführung lehnte die Fristverlängerung lange Zeit ab mit der Begründung, dass die Entwicklung eines neuen Fahrzeugs 24 Monate dauere – die leer stehenden Werksräume jedoch nur sechs Monate erhalten werden könnten (Handelsblatt.com 2008b). Im Juni stimmte Geschäftsführer Harbig dennoch, insbesondere auf Druck des Betriebsrats und der Gewerkschaft, einer
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Verlängerung der Frist bis zum Herbst 2009 zu. Dabei konnte es sich allerdings nur um einen Auftrag ohne vorlaufende Entwicklung handeln (Automobil Industrie, 30.07.2008; Auto-Motor-Sport, 31.07.2008). Die IG Metall setzte ihre Hoffnung auf die kurzfristige Erteilung eines Auftrags zur Rettung der angeschlagenen Unternehmenssparte (Neue Osnabrücker Zeitung 2008: 17). Die Schwierigkeiten im Fahrzeugbau konnten nur bedingt durch die anderen drei Sparten aufgefangen werden, obwohl insbesondere der Bereich „Dachsysteme“ im Jahr 2007 eines der besten Ergebnisse in der Unternehmensgeschichte erreichte. Der Umsatz betrug in diesem Geschäftsfeld 300 Millionen Euro. Die Herstellung von Dachsystemen erhöhte sich um 9% auf 164.890. In den USA konnte Karmann Aufträge zur Produktion von Dachsystemen für Ford, Chrysler und GM/Pontiac gewinnen. Allerdings erhöhte die Wirtschaftskrise ab 2008 den Druck auf die Zulieferer im amerikanischen Markt, wovon auch Karmann betroffen war. In Bereich „Dachsysteme“ waren in Deutschland 480 Mitarbeiter aktiv, weltweit kamen 800 weitere hinzu. In den kommenden fünf Jahren strebte die Unternehmensleitung eine Verdoppelung der Produktion sowie eine Umsatzsteigerung auf 450 bis 500 Millionen Euro an, womit sich der Weltmarktanteil von 30% auf 35% erhöht werden sollte (Wilhelm Karmann GmbH und Co KG 2007, automobilindustrie.vogel.de 2008). Der Unternehmensbereich „Technische Entwicklung“ erreichte einen Umsatz von ungefähr 100 Millionen Euro, der zunächst stabil blieb. Im Jahr 2007 entwickelte Karmann zwei Fahrzeugmodelle von der Skizze bis zur Serienreife (Handelsblatt.com 2008a). Die 2007 gegründete Tochterfirma „Karmann Engineering Services“ (KES) mit 80 Mitarbeitern erweiterte zudem das Portfolio, indem sie sich nicht auf automobile Entwicklungen beschränkte, sondern auch als Konstruktionsdienstleister bei der Produktentwicklung fungierte. Dabei kooperierte die KES mit Kunden aus der Luft- und Raumfahrt sowie mit Landmaschinenherstellern. In den Jahren 2007 und 2008 verfolgte das Unternehmen die Strategie, diesen Bereich weiter auszubauen und auszudifferenzieren.
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Insgesamt stagnierte die Zahl der Angestellten im Bereich „Technische Entwicklung“ bei ca. 880 Arbeitnehmern (minimaler Anstieg um vier zusätzliche Stellen). Der ehemalige Betriebsrat erläuterte, dass dieser Unternehmensbereich „als einziger [...] in der Lage ist, relativ deutlich schwarze Zahlen zu schreiben” (Interview U1/Betriebsrat1). Allerdings gab er zu bedenken, dass „die technische Entwicklung selbst [...] an ein Volumenmodell gebunden” war (ebd.). Die Probleme im Bereich Fahrzeugbau beeinträchtigten allerdings den Betriebsmittelbau, dessen wichtigster Kunde der eigene Fahrzeugbau war. Trotz guter Qualitätsstandards und Innovationsfähigkeit waren auch hier innerbetriebliche Einsparungen notwendig. Das Presswerk wurde wegen rückläufiger Aufträge und zur „besseren Generierung von Synergieeffekten“ im Jahr 2007 dem Betriebsmittelbau angegliedert (Wilhelm Karmann GmbH und Co KG 2007). Angaben der Branchenpresse zufolge hatte der Restrukturierungsprozess, der 2005 begann, das Unternehmen etwa 40 Mio. Euro gekostet. Zu Beginn des Jahres 2007 wurde deutlich, dass weniger Mitarbeiter im Zuge der Restrukturierungsmaßnahmen entlassen wurden, als zunächst angekündigt worden war. Die Zahl der Kündigungen hatte sich, einem Bericht des Handelsblattes nach, von 378 auf 140 reduziert Ursache dafür sei, „natürliche Fluktuation und die interne Besetzung bisher offener Planstellen“ gewesen, was durch den Betriebsratsvorsitzenden als gewisser Erfolg gewertet wurde (Handelsblatt 2007). Ein Verzicht auf sieben Prozent des Monatseinkommen schien die Weiterbeschäftigung der 238 Mitarbeiter ermöglicht zu haben. Als Konsequenz dieser Entwicklungen gab die Unternehmensleitung bekannt, dass sich der Fokus zukünftig verstärkt auf die Geschäftsfelder „Dachsysteme“ und „Technische Entwicklung“ richtete (Manager Magazin, 18.06.2008). Auf Grund der Neuorientierung des Unternehmens fiel die Entscheidung, das Karmann-Werk in Sao Paolo (Brasilien) mit 500 Angestellten an den brasilianischen Automobilzulieferer Grupo Brasil zu veräußern. In den 1960er und 1970er Jahren waren an diesem Standort eine Version des Karmann Ghia und bis in die Schlussphase
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vor dem Verkauf der Land Rover Defender in Lizenz hergestellt worden. Allerdings beschränkte sich die Produktion in den letzten Jahren des Brasilianischen Werkes auf Werkzeuge und Pressteile. Im Jahr 2007 betrug der Jahresumsatz 35 Millionen Euro. Einige Jahre vor der Schließung teilte die Geschäftsleitung mit, dass eine Restrukturierung des Standorts notwendig sei. Die in Sao Paolo notwendigen Modernisierungs- und Ersatzinvestitionen entsprachen nicht mehr dem Fokus der Karmann-Gruppe, weshalb die Verkaufsentscheidung mit Wirkung zum 31. März 2008 getroffen wurde (Neue Osnabrücker Zeitung, 16.04.2008). Ebenso verkaufte Karmann die Tochtergesellschaft Julius Heywinkel im Jahr 2007 (Karmann Geschäftsbericht 2007). Die unterschiedlichen Entwicklungen der einzelnen Unternehmenssparten und deren Erfolge konnten nicht verhindern, dass weiter die dringende Notwendigkeit besteht, einen neuen Auftrag für den Fahrzeugbau zu erhalten, ohne den das Unternehmen vor dem Aus stand. Die Maßnahmen zum Beschäftigungsabbau waren Ausdruck fehlender Aufträge. Warum gelang es Karmann nicht, an die Situation der 1980er und 1990er Jahre anzuknüpfen und Aufträge für Nischenproduktionen und Auslaufserien zu gewinnen? Spätestens seit 2008 bescheinigten die Berichte aus der Automobilindustrie einen gewissen „Trend“ zur vertikalen (Re-)Integration von Nischenserien und Derivatproduktionen: Das von Karmann entwickelte Audi A3 Cabriolet baute Audi in Eigenregie im ungarischen Györ (Rheinischer Merkur 2008: 13). Im Mai 2008 entschied VW trotz angestrengter Bemühungen von Karmann, das neue Golf Cabriolet selbst herzustellen und somit nicht von Karmann produzieren zu lassen. Diese Entscheidung war nicht nur von großer ökonomischer Bedeutung, sondern besaß auch eine hohe Emotionalität für Karmann, da bislang alle Cabrioletversionen des Golfs in Osnabrück gebaut worden waren. Insgesamt handelte es sich dabei um 600.765 Fahrzeuge – bis zur Einstellung der Produktion im Jahr 2001. Karmann versuchte in der Folgezeit u.a. mit der Präsentation einer Studie für ein Cabriolet auf Basis des VW Polo auf der IAA in
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Frankfurt (2007), das Wolfsburger Unternehmen zu überzeugen und für einen neuen Auftrag zu gewinnen (Karmann Geschäftsbericht 2007). Während Karmann also ebenso wie seine Konkurrenten Heuliez, Pininfarina oder Valmet um neue Aufträge kämpfte, gelang es dem Grazer Gesamtfahrzeughersteller Magna Steyr, neue Kunden zu gewinnen. Ende des Jahres 2007 verliert Karmann gegen die Österreicher das Rennen um den Bau des Mini-Geländewagens „Countryman“. Magna Steyr akquirierte weitere Aufträge, wohingegen das Osnabrücker Unternehmen um neue Aufträge zur Automobilproduktion bangte. Auch in der Frage um die Fertigung des Porsche Boxster gab es für Karmann kein positives Ergebnis, da Karmann zu der Ausschreibung um dieses Fahrzeug nicht eingeladen worden war. Ein Firmensprecher teilte in der regionalen Tageszeitung mit, dass Karmann gerne seine Wettbewerbsfähigkeit in dem Bieterwettkampf bewiesen hätte, die Firma jedoch offiziell erst am Tag der Auftragsvergabe von der Ausschreibung erfahren habe. Die Beziehung der beiden Unternehmen wurde belastet durch einen Rechtstreit über das Porsche Boxster Modell, wobei Porsche vorgeworfen wurde, bei Karmann abgekupfert zu haben (neue-oz.de 2008b). Porsche-Chef Wendelin Wiedeking hatte 2007 ein angespanntes Verhältnis zu Karmann eingeräumt: „Die Atmosphäre ist nicht toll“ (autohaus.de 2008). Mit Blick auf diese Unstimmigkeiten forderte Ministerpräsident Wulff den VW-Großaktionär und Karmann auf, die „atmosphärischen Störungen im gegenseitigen Verhältnis zu beseitigen“. Der in den Medien wortreich vertretene Automobilexperte Dudenhöffer war der Auffassung, Porsche blockiere die Vergabe von Aufträgen, nachdem Karmann den Prozess gegen Porsche gewonnen hatte (Neue Osnabrücker Zeitung, 02.11.2007). Inwieweit tatsächlich „Nachwehen“ des Rechtsstreits für das Ausbleiben von Aufträgen aus Zuffenhausen oder Wolfsburg verantwortlich waren, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Während Dudenhöffer dem Konkurrenten in Österreich eine bessere Wettbewerbsfähigkeit bescheinigte, sah Geschäftsführer Harbig das Unternehmen Karmann im Wettbewerb mit Magna gut aufgestellt.
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„Kein anderer kann unsere Qualität zu besseren Preisen aufwarten [....] Magna und Karmann spielen – dank ihrer Entwicklungskompetenz - in Europa in der ersten Liga der Auftragsfertigung. Andere Anbieter – wie Heuliez, Valmet, Pininfarina und Bertone müssen diese Kompetenz erst aufbauen, um überhaupt für bestimmte Ausschreibungen in Erwägung gezogen zu werden.“ (auto-motor-und-sport.de 2008).
Dennoch konnte das Unternehmen im Wettbewerb um neue Aufträge keine Erfolge verzeichnen, so dass der Geschäftsbereich der Gesamtfahrzeugherstellung in große wirtschaftliche Bedrängnis geriet. Der Chrysler Crossfire und der Mercedes CLK in Osnabrück sowie das Audi A4-Cabrio für den Standort Rheine waren somit die letzten Serienproduktionen, die Karmann für europäische OEM übernommen hatte. Nach 2004 erreichten das Osnabrücker Unternehmen keine Produktionsaufträge in der Größenordnung mehr. Bis 2007 (Crossfire) bzw. 2009 (Audi, Mercedes) liefen die Produktionen, da für die Zeit danach keine Aufträge gewonnen werden konnten, endete auf diese Weise die Gesamtfahrzeugproduktion. Für das Jahr 2008 erwartete Geschäftsführer Harbig einen Rückgang des Umsatzes um 30% auf 1 Mrd. Euro. Dennoch wird von einer ausgeglichen Bilanz ohne Verluste ausgegangen. Das Unternehmen forcierte die Neuorientierung auf die Sparten Dachsysteme und Entwicklung. In dem Bereich „Technische Entwicklung“ sollte die Anzahl der 850 dort tätigen Ingenieure um 50 Mitarbeiter erweitert werden. Seine Vision hinsichtlich der Expansionsmöglichkeiten im Bereich „Technische Entwicklung“ schilderte der Leiter der Unternehmenskommunikation: „Wir müssen bei Karmann [...] uns transformieren in ein Hochtechnologieunternehmen. Und dieses Hochtechnologieunternehmen hat dann im Wege der internationalen Arbeitsteilung [...] überall in der Welt Produktionsstandorte, wo das, was man im Headquarter gedacht hat, realisiert wird. Und das ist der Krieg der Köpfe“ (Interview U1/Vertrieb).
Die Belegschaft in Polen sollte auf 450 und in Japan auf 100 aufgestockt werden. Damit wurden in dem Jahr 200 neue Mitarbeiter eingestellt. Die
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Produktion für das Jahr sollte sich nach Einschätzung Harbigs auf 38.000 bis 39.000 Fahrzeuge belaufen. Die Geschäftsleitung hielt sich mit Informationen über mögliche neue Aufträge stark zurück. Auf diese Weise sollten keine falschen Hoffnungen geschürt werden. Offiziell gebe es keine Ausschreibungen für Gesamtfahrzeuge in Europa, Karmann verhandle allerdings inoffiziell mit einigen Herstellern über denkbare Projekte, so die Unternehmensleitung. Geschäftsführer Harbig erklärte „über solche Hoffnungswerte rede ich nicht weiter, denn so etwas belastet unsere Belegschaft. Und um eines klar zustellen: Kein Hersteller wird uns einen Auftrag aus Sympathie geben, wenn eines seiner eigenen Werke nicht ausgelastet ist [...] Eine Gesamtfahrzeug-Entwicklung haben wir uns übrigens kürzlich sichern können; zwei weitere große Projekte stehen unmittelbar vor der Unterschrift.“
Grundsätzlich erwartete Harbig eine Erholung des Markts bis 2012 – allerdings mit geringeren Größenordnung von ca. 5.000 bis 20.000 Fahrzeugen pro Jahr anstelle der bisherigen etwa 50.000 Fahrzeuge jährlich im Segment der Nischen- und Sonderfertigungen. Zudem ging er von einer Konsolidierung des Marktes aus. Das Geschäft bliebe weiterhin schwer planbar (auto-motor-und-sport.de 2008). Mit Blick auf neue Aufträge und die Stabilisierung der Marktposition des Automobilherstellers Karmann wurde deutlich, dass sich Karmann als „markenunabhängiger Hersteller“ in einem Dilemma befand: Die OEM, wie beispielsweise General Motors, DaimlerChrysler bzw. Daimler-Benz und Volkswagen, litten selbst darunter, Überkapazitäten bewältigen zu müssen, was sie dazu veranlasste, eigene Nischenmodelle (wie beispielsweise das VW-Model „Eos“ als Nachfolgemodell des Golf-Cabriolets, das bislang von Karmann für VW gebaut wurde) selbst zu fertigen. Ein wichtiger Grund für diese „make“-Entscheidung der OEM anstelle einer Auftragsvergabe an Spezialhersteller wie Karmann bestand der Fachpresse zufolge in den Standortsicherungsvereinbarungen resp. Beschäftigungsgarantien, die diese Unternehmen ihren Mitarbeitern gegeben hatten. Illustriert wird dies beispielhaft durch die der
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Entscheidung von Mercedes bzw. DaimlerChrysler, den Mercedes CLK, den Karmann seit 2002 in Osnabrück baute, ab 2010 nur noch in Bremen zu produzieren. Karmann zeigte sich von diesem Beschluss nicht überrascht, auch wenn es zu einem kompletten „Aus“ in der Produktion von Serienfahrzeugen komme, konzentrierte sich das Unternehmen auf die Bereiche Technische Entwicklung, Betriebsmittelbau sowie die Sparte Dachsysteme. Am 9. Juni 2008 bestätigten die Eigentümer, dass sie über einen Verkauf des angeschlagenen Unternehmens nachdächten. Die drei Eigentümerfamilien Karmann, Boll und Battenfeld beauftragten Investmentspezialisten von Rothschild und Georgieff Capital, alle Optionen zu prüfen. Die Probleme mit Volkswagen wurden als ein zentraler Faktor für diese Entscheidung genannt. Die Gewerkschaften kündigten in diesem Zusammenhang an, sich nicht gegen den Einstieg eines Investors zu sträuben, wenn damit der Erhalt des Unternehmens gesichert werden könne. Mögliche Interessenten könnten aus China oder Indien kommen. Die Verkaufspläne waren eine Reaktion der Inhaber auf die anhaltende Krise in der Traditionssparte Fahrzeugbau (Handelsblatt.com 2008a). „Die Gesellschafter prüfen alle strategischen Optionen zur Zukunftssicherung“, darunter falle die Möglichkeit, Karmann als Ganzes oder in Teilen zu veräußern (n-tv, 09.06.2008). Der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Gerhard Schrader äußerte gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, dass seine Hoffnungen neuen Eigentümern gälten. „Mein erstes Ziel ist der Verkauf“, doch dabei müsste die Sicherung der Arbeitsplätze wichtiger sein als der Verkaufserlös, so Schrader (Hannoversche Allgemeine Zeitung 2008). In einer Fragestunde im Niedersächsischen Landtag bestätigte auch Ministerpräsident Wulff die Verkaufsverhandlungen. „Es hat Gespräche gegeben, jetzt auch über die Übernahme des Werkes durch einen anderen Automobilhersteller oder eine andere Marke.“ Jedoch wurden keine Details über mögliche Interessenten veröffentlicht. Mitarbeiter von Karmann demonstrierten vor dem Landtag und fordern Hilfe von der Landesregierung. Diese lehnte jedoch eine finanzielle Beteili-
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gung mit dem Verweis auf europäisches Recht ab. Eine Übernahme durch das Land käme ebenfalls nicht in Frage (Peiner Allgemeine Zeitung 2008). Die Verkaufspläne betrafen nicht nur den Fahrzeugkomplettbau. Am 2. Juli 2008 teilte die Geschäftsführung betriebsintern mit, den Bereich Werkzeugbau ebenfalls veräußern zu wollen. In einer Aufsichtsratssitzung Ende Juni wurde erstmals offen zwischen Aufsichtsräten und Gesellschaftern über diese Option gesprochen, wobei die Gesellschafter deutlich machen, dass sie für den Werkzeugbau keine Zukunft in der Karmann-Gruppe sähen (neue-oz.de 2008a). Als Grund gaben sie die fehlende Wettbewerbsfähigkeit im globalen Konkurrenzkampf an. Angesichts der Überkapazitäten, der Ausbreitung technologischen Wissens in Niedriglohnländern sowie sinkender Margen war Karmann nicht mehr in der Lage, angemessene Preise an den Märkten zu erzielen, so dass die Verluste in dem Bereich in den vergangenen Jahren zweistellige Millionenbeträge betragen hatten. Nach Informationen der Neuen Osnabrücker Zeitung war der Bereich noch bis in die zweite Jahreshälfte 2009 ausgelastet. 250 Arbeitsplätze sind zunächst bedroht, falls sich kein Käufer fände und die Sparte geschlossen würde. Dabei handelte es sich um hochqualifizierte Arbeitnehmer, die Werkzeuge für den Fahrzeugbau fertigen. Der wichtigste Kunde war die angeschlagene unternehmenseigene Sparte des Fahrzeugbaus, aber auch andere Autohersteller, wie beispielsweise VW, bezogen Werkzeuge von dem Unternehmen (neue-oz.de 2008a). Die IG Metall warnte, dass Karmann mit dem Verkauf dieser Sparte ein wichtiges Kompetenzfeld verlöre (welt.de 2008). Im September 2008 prognostizierte der Vorstand einen erheblichen Umsatzrückgang, der durch einen Arbeitsplatzabbau jedoch zu einer ausgeglichenen Bilanz führen könne. Zunächst führte das Unternehmen wegen der schlechten Auftragslage Kurzarbeit ein. Das Jahr 2009 begann mit umfangreichen Diskussionen über die Schließung des Fahrzeugbaus und den Verkauf von Unternehmensteilen. Während der Betriebsrat und Gewerkschaftsvertreter für diesen Fall einen Sozialplan forderten, der den entlassenen Mitarbeitern ein halbes Monatsgehalt
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pro Arbeitsjahr sowie den Übergang in eine Transfergesellschaft ermöglichen sollte, beschränkte sich das Angebot der Geschäftsführung auf die Einrichtung bzw. Weiterführung einer Transfergesellschaft. Die Ereignisse spitzten sich von diesem Zeitpunkt an in hohem Tempo massiv zu, was hinsichtlich insbesondere auf die (vermeintlichen) Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise für die Automobilindustrie zurückzuführen war. Gravierende konjunkturelle Probleme der OEM begrenzten die Neigung dieser Unternehmen, Aufträge zu vergeben und damit die Chance für die Auftragsfertiger, überhaupt noch Aufträge zu erhalten. Zunächst erläuterte die Geschäftsführung eine „Zwei-SäulenStrategie“, mit der die Bereiche „Technische Entwicklung“ (mit ca. 570 Mitarbeitern) und „Dachsysteme“ (mit 365 Mitarbeitern) weitergeführt und durch einen zwar verkleinerten – aber immer noch vergleichsweise großen – Zentralbereich (160 Mitarbeiter) unterstützt würden. Von massivem Beschäftigungsabbau war als erstes der Produktionsstandort in Rheine betroffen: Hier blieben von den 753 Beschäftigten noch 100, um Cabriodächer zu produzieren. Die Unternehmensleitung bot 1.390 Arbeitern den Übergang in die Transfergesellschaft an, die durch einen Kredit in Höhe von 30 Millionen Euro und durch die beiden Säulen „Technische Entwicklung“ und „Dachsysteme“ finanziert werden sollte. Ein spontaner Streik im Februar 2009, der die Situation des Unternehmens aufgrund des Produktionsausfalls zusätzlich verschlechterte, zähe Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und Versuche zur Lösung der Konfliktpunkte mündeten schließlich in eine Streitschlichtung im März 2009. Diese war verbunden mit der Hoffnung, dass das Unternehmen weitergeführt werden kann. Die langen Verhandlungen um einen Sozialplan scheiterten jedoch, so dass das Unternehmen am 4. April 2009 beim Amtsgericht Osnabrück den Antrag auf Einleitung des Insolvenzverfahrens stellte. Betroffen waren die Wilhelm Karmann GmbH, die Automotive Global Service GmbH Bissendorf, die Karmann Rheine GmbH und Co KG sowie die Karmann Rheine Verwaltungs GmbH. Trotz der gravierenden Ereignisse im Zuge der Unternehmensinsolvenz stellte Karmann im April 2009
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auf der Hannover-Messe ein Elektroauto in Kooperation mit EWE vor. Auch wenn die Konsequenzen des Insolvenzverfahrens unklar blieben, unterrichtete der Insolvenzverwalter im April die Belegschaft über seine primären Ziele. Dabei stellte er heraus, dass die Insolvenz jeden Arbeitsplatz bei Karmann bedrohte. Gleichzeitig sollte so lange weitergearbeitet werden, wie es Aufträge gab. Das Unternehmen, die Marke und die einzelnen Unternehmenssegmente standen zum Verkauf. Die drohende massive Entlassungswelle sollte eine Transfergesellschaft auffangen, für die Hilfen vom Land, dem Bund und der Europäischen Union erwartet werden. Produktionsausfälle aufgrund eines insolvenzbedingten Zulieferstopps, stockende Lohnzahlung sowie die Unterbrechung der Produktion von Dachsystemen beeinträchtigten die Entwicklungen der folgenden Zeit. Schließlich forderten Betriebsrat und IG-Metall im Mai die Gesellschafter auf, firmeneigene Grundstücke, Anlagen und Gebäude an Investoren zu verkaufen, um Arbeitsplätze zu erhalten. Gerade die Gebäude, Anlagen und Grundstücke gehörten allerdings nicht der insolventen Wilhelm Karmann GmbH, sondern der Karmann GmbH und Co KG. Dieses Unternehmen gehörte zu 60% der Familie Karmann, jeweils zu 20 % den Familien Boll und Battenfeld, so dass der Insolvenzverwalter darüber keine Verfügungsgewalt hatte. Im Juni 2009 verließ das letzte Auto die Produktion in Osnabrück und war damit das letzte von insgesamt etwas 3,3 Millionen Fahrzeugen des Osnabrücker Automobilproduzenten. Im selben Monat wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Ebenfalls im Juni stimmte der Gläubigerausschuss der Gründung einer Transfergesellschaft zu, um eine Mindestabsicherung für 1.540 entlassene Mitarbeiter zu gewährleisten. Diese bestand darin, dass die ehemaligen Karmann-Beschäftigten ihrer Entlassung zustimmen und von der Transfergesellschaft angestellt werden sollten. Im Juli 2009 schien ein Entwicklungs-Auftrag von Volkswagen für eine gewisse finanzielle „Entspannung“ zu sorgen. Für die Entwicklung von Elektroautos gründeten die Geschäftsführung der Wilhelm Karmann GmbH und die Insolvenzverwaltung die „Karmann E-Mobil GmbH“. Diese sollte fortan Fahrzeuge für Per-
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sonen- und Wirtschaftsverkehr entwickeln und vermarkten – in einem ersten Schritt ging es um Lieferungen an den Energieversorger EWE (focus.de 2009, Die Zeit 2009). Das Geschäftsfeld erhoffte sich Zuschüsse aus dem Konjunkturpaket II der Bundesregierung und berichtete über bereits vorliegende Aufträge. Spekulationen über einen Einstieg von Volkswagen zur Rettung des Osnabrücker Autobauers mündeten darin, dass der Wolfsburger OEM „Maschinen und Immobilien von Karmann aufkaufen und in Osnabrück ab 2011 eine Fahrzeugproduktion starten” werde. (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2009). Der Einstieg von Volkswagen bei Karmann war perfekt. Im Februar 2010 folgte die Nachricht über den Verkauf der Dachsparte an Magna International, die aus kartellrechtlichen Gründen noch nicht als endgültig gelten konnte. Sicher hingegen war der Verkauf der japanischen Dachsparte des Unternehmens an Magna (Handelsblatt.com 2010). Zusammenfassung Phase 3 Die Unternehmensentwicklung in der dritten Phase illustriert auf den ersten Blick eine gewisse Aussichtslosigkeit, nachdem die Auftragssituation Ende der 1990er Jahre noch Anlass zu Optimismus gab. Der Osnabrücker Auftragsfertiger konzentrierte sich zunächst auf prestigeträchtige und umfangreiche Projekte (Crossfire, Mercedes CLK), bevor sich unmittelbar anschließend die Gesamtsituation dramatisch verschlechterte. Dabei richteten sich die Versuche zur Kompensation auf das Geschäftsfeld „Dachsysteme“, das jedoch – trotz seiner führenden Rolle in der weltweiten Konkurrenz – nicht einen Umfang erreichen konnte, mit dem die Einbrüche im Bereich der Fahrzeugproduktion hätten kompensiert werden können. Mit den Auslandsengagements verfolgte das Unternehmen zwei unterschiedliche Strategien: Zum einen wurden Entwicklungszentren in Japan und den USA eingerichtet bzw. ausgebaut, um dort Kontakte zu knüpfen, Marktbedürfnisse zu ermitteln und Netzwerke zu OEM aufzubauen, die in neue Produktionsaufträge münden sollten. Dabei ging es allerdings vor allem um den Bereich der „Dachsysteme“. Zum ande-
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ren versuchte Karmann mit Hilfe der neuen Standorte in Polen, von (vermeintlich) kostengünstigen Standortbedingungen zu profitieren und den Betriebsmittelbau bzw. Werkzeugbau, der in Osnabrück sukzessive zurückgefahren wurde, zu verlagern. Das Werk an der deutschpolnischen Grenze fiel auch in die Unternehmenssparte „Dachsysteme“ und fungierte direkt als Zulieferbetrieb für den BMW-Standort in Leipzig sowie für den BMW-Standort in Oxford (Mini). Die Unternehmenssparte der Fahrzeugproduktion konnte nicht aufrecht erhalten werden, schließlich führte das fehlen von (Anschluss-)Aufträgen verschärft durch die Rückverlagerung der Mercedes-Produktion zur Insolvenz des Unternehmens.
5.1.2
Rahmenbedingungen in Zeiten der Unternehmenskrise
Seitdem das Unternehmen dauerhaft unter fehlenden Aufträgen im Fahrzeugbau litt, was das Überleben und die Fortführung des Geschäftmodells gefährdete, richteten sich Forderungen an politische Akteure, dem Unternehmen insbesondere durch Vermittlung und Einflussnahme auf die OEM zu helfen. Die Reaktionen auf die Unternehmenskrise flankierten die Entwicklung, beeinflussten sie allerdings nicht grundlegend. Ebenso wirkten sich die Unternehmensentscheidungen über die Investitionen in Auslandsstandorte auf die Entwicklung des Heimatstandortes aus. Wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Standorten prägten deren weitere Entwicklung und die weitere Ausrichtung der Produktionstätigkeiten vor allem in Osnabrück. Zudem zeigte die Vorgehensweise bei der Einrichtung neuer Betriebsstätten im Ausland, welche Hindernisse, Schwierigkeiten und Probleme auftraten, die den Unternehmenserfolg bei den Auslandsstrategien beeinträchtigten. Die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen unterstrich den Trend der Unternehmensentwicklung und veranschaulichte die disparate Entwicklung der einzelnen Unternehmenssparten. Daraus ergab sich ein Ansatzpunkt für die Darstellung, in welche Rich-
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tung sich die einzelnen Unternehmensbereiche – auch nach einer Insolvenz – weiter hätten entwickeln können. Reaktion der Politik auf die Unternehmenskrise Allgemein hielt sich die Politik in dem Prozess von den ersten Krisen und Entlassungswellen bis zur Insolvenz stark zurück. Der Osnabrücker Oberbürgermeister beteuerte mehrfach, dass die Stadt dem Autobauer Karmann nicht helfen und auch keinen Einfluss auf die Auftragsvergabe der OEMs nehmen könne. „Ich kann nicht zum VW-Vorstand gehen und ihn bitten, Aufträge nach Osnabrück zu geben. Da muss man einfach realistisch bleiben.“ (neue-oz.de 2007). Gemeinsam mit dem Landrat des Landkreis Osnabrück etablierte der Osnabrücker Oberbürgermeister im Oktober 2007 ein „Personalkompetenznetzwerk“, an dem Personalverantwortliche der Region beteiligt wurden, um die Qualifikationsbedürfnisse der regionalen Unternehmen und die frei werdenden Kapazitäten von Karmann zu vergleichen. Auf diese Weise sollte qualifiziertes Personal in der Region gehalten werden (ebd). Darüber hinaus beteiligten sich lokale Politiker sowie auch Ministerpräsident Christian Wulff am 3.11.2007 an einer Demonstration mit etwa 9.000 Teilnehmern unter dem Motto „Arbeit für Karmann – Die Region muss leben“. Damit wollten sie ein Zeichen setzen, dass die OEMs soziale Verantwortung übernehmen und Karmann unter die Arme greifen solle (Neue Osnabrücker Zeitung, 24.10.2007; Rheinischer Merkur 14.02.2008). Eine Einmischung der Politik wurde unterschiedlich bewertet. Einerseits forderte Dudenhöffer eine Reaktion der Landesregierung sowie einen Verkauf des 20-prozentigen Landesanteils an VW, wodurch neue Aufträge für Karmann hätten ausgehandelt werden können. Andererseits betonte Willi Diez von der IFA, dass sich die Politik heraushalten müsse. Sie könne Gespräche anregen – „aber letztendlich müsse die industrielle Logik und nicht die politische gelten“ (Neue Osnabrücker Zeitung, 12.04.2008). Karmann selbst erwartete keine politische Unterstützung. „Wir schätzen die Unterstützung, die wir zuletzt von unserem Ministerpräsidenten Wulff erhalten haben. Aber wir fordern sie nicht aktiv. Denn auch die Politik wird keinen poten-
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ziellen Auftraggeber davon überzeugen, uns einen Produktionsauftrag zu übertragen, wenn wir hier nicht klar das beste Angebot unterbreiten.“
sagte Geschäftsführer Harbig im Juli 2008 (Auto Motor und Sport, 31.07.2008). Allerdings gab es Versuche, Kontakt mit politischen Akteuren aufzunehmen, was der Vorsitzende des Betriebsrates in einer Anekdote schilderte: „Es ist noch gar nicht so lange her, da waren wir sogar im Kanzleramt. So zwei Meter von Angela Merkel war ich weg. Was schon erstaunlich war, das sage ich ganz offen. Da sind Sie so ein kleiner Betriebsratsvorsitzender da, und dann dürfen Sie in die siebte Etage des Kanzleramts fahren. Und der sagt mir dann gleich: „Ja, puh, können Sie sich vorstellen, dass das auch nicht üblich ist, dass wir hier alle Betriebsratsvorsitzenden der Republik empfangen?!“ So. Hat dann auch Politik vermittelt, da konnten wir dann sozusagen mal unseren Frust loswerden. [...] ich bin ja nicht so naiv zu glauben, da könnte man großartige Dinge erwarten.“ (Interview U1/Betriebsrat2).
In der akuten Krisensituation weckten regionale Politiker Hoffnung mit dem Verweis auf Hilfe durch den „Europäischen Globalisierungsfonds“. Letztlich handelte es sich dabei jedoch um ein Instrument zur finanziellen Unterstützung von Umstrukturierungen. Das Problem struktureller Arbeitslosigkeit in strukturschwachen Regionen, dessen Ursache im Verlust der Wettbewerbsfähigkeit aufgrund des globalen Standortwettbewerbs und Kostendrucks zu finden ist, sollte insbesondere durch Weiterqualifikation und Vermittlungstätigkeiten gelindert werden. Eine Rettung für das Unternehmen oder den Automobilstandort bedeutete eine solche finanzielle Hilfe nicht. Obgleich fraglich war, inwieweit tatsächlich im Fall Karmann die Kriterien erfüllt waren, die für den Globalisierungsfonds durch die Europäische Kommission formuliert sind, kündigte die Bundesregierung im November 2008 an, dass Mittel aus dem Globalisierungsfonds für Karmann genutzt werden könnten. Im Februar 2010 bewilligte der Haushaltsausschuss des Europäische Parlaments vorbehaltlich der Zustimmung von Europäischem Parlament und Ministerrat finanzielle Hilfe aus dem „Globalisierungsfonds“ in Höhe von 6,2 Mio. Euro (vgl. ec.europa.eu 2009). Die Mittel
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waren für die Vermittlung und (Weiter-)Qualifikation der entlassenen Arbeitnehmer vorgesehen. Die Funktion politischer Akteure bestand im Hinblick auf die Situation von Karmann – wie die Anekdote des Betriebsrats illustriert – in erster Linie darin, Ansprechpartner zu sein. Dies geschah, wie gezeigt, sogar auf höchster politischer Ebene. Zwar tauchte immer wieder der Verweis auf die Einflussmöglichkeiten der Politik auf, diese schienen jedoch zunächst sehr begrenzt zu sein. Die besondere Rolle des Landes Niedersachsen als Anteilseigner an der Volkswagen AG beeinflusste stets die Forderungen nach „Vermittlung“ oder Einflussnahme. Diese richteten sich zunächst auf eine Auftragsvergabe durch den Wolfsburger Konzern, um die Fahrzeugproduktion und letztlich das gesamte Osnabrücker Unternehmen zu retten. Im Zuge der Verhandlungen über eine Übernahme des Osnabrücker Unternehmens durch Volkswagen sowie nach der Entscheidung kommentieren Beobachter den großen Einsatz des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Wulff und seinen Einfluss auf den Wolfsburger Konzern als entscheidend (z.B. Schneider 2009). Inwieweit tatsächlich politische Akteure die Übernahmeentscheidung maßgeblich beeinflusst hatten, kann nicht abschließend beurteilt werden. Unternehmensstandorte Seit 1964 bestand das Karmann-Werk in Rheine als Nachbarstandort von Osnabrück. Insbesondere die räumliche Nähe zu Osnabrück, die gute Infrastruktur und das Fachkräftepotential aus der krisengeschüttelten Textilindustrie in der Region um Rheine erklären die Unternehmensentscheidung, dort einen zweiten Standort zu betreiben. In den Nachkriegsjahrzehnten gründete Karmann neben besagtem Standort in Brasilien (1960) weitere Auslandsstandorte in Portugal (1992), Mexiko (1996), England (2005), eine Tochtergesellschaft für technische Entwicklung in der Nähe von Detroit (1996) sowie 2005 eine Produktionsstätte für Dachsysteme in den USA. In jüngerer Zeit folgen Unternehmenssit-
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ze in Sunderland/England, die neuen Betriebsstätten in Polen (2006) und ein Entwicklungsstandort in Japan. Die Unterscheidung zwischen „eigenständiger Expansion“ (Rheine) und neuen Produktionsstandorten für die Kooperationen ergab sich aus dem Motiv der Investition und dem Grad der Abhängigkeit vom Auftraggeber. Die Formulierung „eigenständige Expansion“ bei der Investition in neue Standorte ist angesichts der Charakteristika des Unternehmenssegments etwas einzuschränken: Der Auftragsfertiger baute immer im Auftrag und auch vermeintlich „eigenständig“ betriebene Auslandsstandorte konnten auf eine Kooperation mit einem OEM o.ä. ausgerichtet sein. Der Produktionsstandort in Rheine befand sich im Unterschied zu den Standorten in Brasilien, Mexiko, England, Polen I (Zary) und den USA nicht in unmittelbarer Nähe zu einem Auftraggeber bzw. den Auftraggebern, deren Produkte an dem Standort gebaut werden. Das Werk in Rheine wurde wechselnd für Produktionen verschiedener OEM genutzt. Die Fertigungsstätten in Brasilien und Mexiko produzierten für Kooperationen mit Volkswagen; bei dem Betrieb in England (Sunderland) handelt es sich um ein „plant-in-plant“ mit Nissan (Interview U1/Personal). In Polen I (Zary), direkt an der deutsch-polnischen Grenze baut Karmann Verdecke für BMW-Produktion in Leipzig. Insbesondere für die Standorte in Portugal und Polen II (Chorzow / nähe Kattowitz) spielten Kostenfaktoren eine wichtige Rolle. Dort produzierte das Unternehmen keine kompletten Fahrzeuge sondern Zulieferteile (Dachfertigung, Verdeckstoffe, Werkzeuge). Diese Standorte betrieb Karmann „selbständig und autark“ (ebd.). Während in Portugal neben den Lohnkostenunterschieden die besondere Qualifikation der regional verfügbaren Arbeitskräfte und der Standort aus logistischen Gründen (vgl. Interview U1/Geschäftsführung) entscheidende Standortvorteile bot, dominierte für die Investitionen in Polen das Kostenmotiv. Allerdings zeigte sich in den Interviews im Unternehmen, dass das Unternehmen bei diesem Auslandsengagement vor Ort auf unvorhergesehen Probleme stieß:
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„Der Markt in Kattowitz ist sicherlich schwierig. Wir haben da suggeriert bekommen: Ja, kein Problem. Genügend Fachkräfte da. 25% Arbeitslosigkeit. So. Aber für die Stellen, die wir jetzt suchen, da sieht das schon ein bisschen anders aus. Da ist der Markt nämlich eigentlich leergefegt. Das heißt, im Konstruktionsbereich, im Facharbeiter- und Metallbereich, da sind viele Automobilzulieferer in de Region tätig, und da haben wir uns schon schwergetan, die Leute entsprechend unseren Vorgaben zu finden.“ (Interview U1/Personal).
Das Unternehmen beklagte mangelnde Ausbildung, hohe Fluktuation, steigendes Lohnniveau und administrativen Aufwand67. Insgesamt schien die Standortsituation in Polen, insbesondere am Standort Chorzow, das Unternehmen vor besondere Herausforderungen zu stellen. Stärker als interkulturelle Herausforderungen verursachten konkrete Standortmerkmale Kosten, die das Unternehmen nicht – oder nicht in dem Ausmaß – erwartet hatte. Die Interviewpartner (vor allem: Interview U1/Personal, Interview U1/TE, Interview U1/Konzernrechnung) unterschieden zwischen „kundengetriebenen“ Auslandsinvestitionen und solchen aus Kostengründen. Während sich der portugiesische Standort in den 1990er Jahren noch als direkter Kostenvorteil erwiesen hatte (vgl. Interview U1/Geschäftsführung), konnte dies für den polnischen Standort nicht mehr so gelten. Hier entstanden Transaktionskosten, die höher waren als erwartet. Ein hoher Unsicherheitsfaktor begleitete die Auslandstätigkeit und erschwerte die Realisierung der erhofften Kostenvorteile. Entwicklung der Beschäftigtenzahlen In den 1950er Jahren wuchs die Mitarbeiterzahl kontinuierlich und erreichte 1953 den Stand von 1.607 Mitarbeitern (Knust 1996: 256-256), S.113). Ende der 1950er sah sich Karmann wie viele andere Unternehmen im „Wirtschaftswunderland Deutschland“ der Nachkriegszeit mit
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„In Polen ist es eigentlich so, dass die Anforderungen an die administrativen Bereiche schon sehr hoch sind. Also für alles brauch man eigentlich eine Genehmigung, ein Dokument, einen Vertrag. Irgendetwas, wo ein Stempel drauf sein muss, irgendein offizielles Dokument. [...] der Grad der Bürokratisierung ist in Polen doch noch mal höher, als wir das hier aus Deutschland gewohnt sind.“ (Interview U1/Personal).
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der akuten Schwierigkeit konfrontiert, neue Arbeitskräfte zu rekrutieren. So fanden 1959 erste ausländische Gastarbeiter in dem Osnabrücker Betrieb eine Beschäftigung. Die Mitarbeiterzahl stieg in dieser Dekade auf über 3.000 an und erreichte bereits im Jahr 1960 4.000 Mitarbeiter (vgl. ebd. S.128). Der stetige Ausbau der Produktion erklärte sich in der Folgezeit insbesondere durch die hohen Stückzahlen in der Gesamtfahrzeugproduktion, vor allem für Volkswagen. Da Karmann konstant seine Kooperationen mit den großen Automobilherstellern Europas ausbauen und intensivieren konnte (Karmann produzierte neben Volkswagen für Volvo, Ford, Porsche, Jaguar und Renault), stieg die Mitarbeiterzahl auf über 6.000 (6.376 Mitarbeiter im Jahr 1986, vgl. ebd. S. 189). Wie Abbildung 5-1 zeigt, wuchs in den 1990er Jahren die Beschäftigung auf über 8.000 Mitarbeiter an und pendelte sich in der Größenordnung um 6.000 bis 1997 ein. Bis 1999 lässt sich ein relativ paralleler Verlauf von Beschäftigtenzahlen und Stückzahlen in der Fahrzeugproduktion beobachten. Es sei darauf hingewiesen, dass die Stückzahlen in der Fahrzeugproduktion nicht allein verantwortlich für das Beschäftigungsvolumen des Unternehmens waren: Der Betriebsmittelbau, die Technische Entwicklung sowie auch der Bereich „Dachsysteme“ trugen zur Gesamtentwicklung des Unternehmens bei – mit sehr unterschiedlichen Beschäftigtenvolumina. Überraschend scheint die Entwicklung ab 1999: Während die Stückzahlen in der Fahrzeugproduktion vor dem Beginn der Chrysler-Fertigung eher rückläufig waren, stieg die Mitarbeiterzahl in diesem Zeitraum deutlich an, bis sie im Jahr 2003 ihren Höhepunkt von über 9.000 Beschäftigten erreichte.
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Abbildung 5-1: Entwicklung von Beschäftigtenzahlen und Stückzahlen in der Fahrzeugproduktion
(eigene Darstellung, Quelle: Jahresberichte Wilhelm Karmann GmbH, 1991-200768)
Der geringe Ausstoß an Fahrzeugen 2002 erklärt sich durch die Umstellung der Produktion für die neuen Projekte Mercedes CLK Cabriolet und Chrysler Crossfire Coupé. Im Jahr 2003 liefen die neuen Produktionen an und erreichten 2004 ihren Höhepunkt (typisch: peak im ersten vollen Produktlebensjahr). Dass der Einbruch im Folgejahr so massiv ausfiel, kommentierte das Unternehmen verhalten: „Der Fahrzeugbau [...] sah sich im Berichtsjahr zusätzlich zu dem typischen zyklischen Rückgang der Nachfrage verstärkt durch die allgemeine Marktschwäche einem in seinem Ausmaß über den Erwartungen und auch den Erfahrungen aus früheren Modellzyklen liegenden Nachfragerückgang ausgesetzt.“ (Wilhelm Karmann GmbH und Co KG 2007).
Die Prognosen für den Chrysler Crossfire lagen demnach deutlich über der tatsächlichen Nachfrage. Wie Abbildung 3 zeigt, vollzog sich der Beschäftigungsabbau verhaltener als der Einbruch der Produktionszah68
Unternehmensberichte Karmann 1991-2007.
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len – letztlich lief die Entwicklung jedoch darauf hinaus, dass dieses Standbein des Osnabrücker Auftragsfertigers gravierend in seinen Grundfesten erschüttert wurde, was später zur Insolvenz des Unternehmens führte. Eine Differenzierung der einzelnen Unternehmenssparten ab 2003 – also vom Beginn des Auf- und schnell folgenden Abschwungs an – illustriert anschaulich (vgl. Abbildung 5-2) deren unterschiedliche Entwicklung. Zum einen erlebte die Sparte Dachsysteme einen Bedeutungszuwachs, der im Jahr 2007 noch als „Wachstumsmotor“ bezeichnet wurde. Das Unternehmen stellte heraus, dass die Ergebnisse dieser Sparte die Umsatzrückgänge in den anderen Unternehmensbereichen kompensieren könne (Wilhelm Karmann GmbH und Co KG 2007). Kontinuitäten zeigte der Bereich Technische Entwicklung, dessen Mitarbeiterzahl stabil blieb – das Unternehmen berichtete über einen Anstieg der Umsätze dieser Sparte. Dieser Prozess und die Etablierung dieser Unternehmenssparte veranlassten die Unternehmensführung 2008 zur Krisenstrategie, den Bereich Technische Entwicklung weiter auszubauen und in diesem Bereich auch an Auslandsstandorten zu expandieren, um den Schwerpunkt des Unternehmens zu technischen Dienstleistungen zu verlagern. Der sukzessive Rückbau des Betriebsmittelbaus resultierte weniger aus einer akuten konjunkturellen Krise, sondern vielmehr aus einem strukturellen Wandel, der bereits in den Vorjahren zu einem Beschäftigungsabbau in der Sparte geführt hatte.
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Abbildung 5-2: Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in den Unternehmenssparten
(eigene Darstellung, Quelle: Wilhelm Karmann GmbH und Co KG 2007)
5.1.3
Analyse der Unternehmensentwicklung
Das Unternehmen Karmann in Osnabrück entspricht der Beschreibung „Automobilhersteller ohne eigene Marke“, auch wenn ein Fahrzeugmodell direkt mit dem Unternehmensnamen verbunden war: der „Karmann Ghia“. Allerdings handelte es sich auch bei diesem Modell um eine Auftragsfertigung, so dass den „Karmann Ghia“ das Volkswagen-Emblem als „Marke“ am Kühler zierte. Die Historie der Unternehmensentwicklung zeigt, dass das Unternehmen sich gerade dadurch etablieren konnte, dass es im Auftrag anderer Unternehmen – der OEM – Fahrzeuge baute, die es entweder zuvor selbst konzipierte und konstruierte, oder für dessen Entwicklung und Produktion es einen direkten Auftrag erhielt. Der Leiter der Technischen Entwicklung beschrieb dieses Charakteristikum treffend und verwies auf die damit verbundenen Probleme:
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„Ich sagte das am Anfang ja in so einem Nebensatz: Ohne eigene Marke. Das große Problem, das die Firma Karmann hat, ist ja: Wir haben kein eigenes Produkt, Sie können keinen Karmann kaufen. Und das macht die Firma so anfällig oder so gefährlich. Wir sind immer darauf angewiesen, dass irgendein Partner mit uns sein Auto, sein Produkt zur Welt bringen will.“ (Interview U1/TE)
Für ein Fahrzeug unter eigenem Markennamen benötigt ein Automobilbauer eine Vertriebs- und Werkstättenstruktur, gleichzeitig entstehen Schwierigkeiten, wenn er beabsichtigt, weiterhin auch im Auftrag Fahrzeuge herzustellen. Denn dadurch stünde er in einem Konkurrenzverhältnis zu seinen Auftraggebern. Aus diesen Gründen strebte das Unternehmen Karmann nicht an, ein eigenes Produkt (Fahrzeug) unabhängig von einem OEM auf den Markt zu bringen. Während Karmann in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit vor allem als Ideenschmiede mit Gespür für Trends und Moden und als verlässlicher Auftragsfertiger auf sich aufmerksam machte, und mit innovativen Modellen an bestehende Produkte der OEM anknüpfte und diese in Serienfertigungen übertrug, führte diese Funktion in der Automobilbranche zu einer großen – und später gewissermaßen „tückischen“ – Abhängigkeit. Die weitere Unternehmensentwicklung entschied sich unmittelbar durch Aufträge der OEM. Dabei geriet der Osnabrücker Gesamtfahrzeughersteller unter steigenden Kostendruck, da zum einen kostengünstige ausländische Standorte durch verbesserte Logistik-, Informations- und Kommunikationssysteme eine attraktive Alternative für Produktionstätigkeiten boten, zum anderen die wachsenden Konzernstrukturen der OEM einzelne Werke zu Wettbewerbern für die Nischenfertigung werden ließ. Zusätzlich zum ohnehin konjunkturell anfälligen Geschäftsfeld der Cabrioletproduktion (saisonabhängig) verschärft sich für den Osnabrücker Automobilbauer die Konkurrenz um Fertigungsaufträge.
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Produktnachfrage - Produktionsmodell Zwar zeigt sich im historischen Verlauf die Fähigkeit des Unternehmens, neue Geschäftsmodelle anzubieten und umzusetzen (Auslaufserien) und Kooperationen mit außereuropäischen Auftraggebern zu knüpfen. Jedoch spürte das Unternehmen Karmann im beschriebenen Zeitraum in besonderer Weise seine Abhängigkeit von den Auftraggebern. Deren konjunkturelle Schwankungen sowie die Notwendigkeit, auf Nachfragespitzen wie Auftragsrückgänge unmittelbar und äußerst flexibel zu reagieren, schlug direkt auf den Auftragsfertiger durch. Die zitierten Unternehmensaussagen lassen die Verflechtungen mit den OEM besonders gut erkennen: Die Geschäftsführung sprach von der Notwendigkeit zu „atmen“ und meinte damit einen hohen Flexibilitätsbedarf im Hinblick auf die Beschäftigungskapazitäten in Osnabrück und Rheine. Der Begriff des „atmenden Unternehmens“ geht zurück auf ein Produktionskonzept des ehemaligen Personalvorstands der Volkswagen AG, Peter Hartz (Hartz 1996). Plattform- und Modulstrategien ermöglichen, trotz großer Modellvielfalt economies of scale zu realisieren. Verschiedene Modelle und Marken eines Konzerns werden zum einen mit gleichen Bauteilen und Modulen versehen, zum anderen auf gleichen oder kompatiblen Plattformen gebaut, um die Produktion zwischen den einzelnen Standorten je nach Auslastung zu verteilen. Das „Atmen“ bezog sich sowohl auf die flexible Ausnutzung der Produktionsanlagen als auch auf die Beschäftigungsstrategie: In dem Moment, in dem das Unternehmen weniger Arbeitskräfte benötigte, musste es über Rahmenbedingungen verfügen, die unkomplizierte Entlassungen ermöglichten. Auf der anderen Seite bestand in Wachstumsphasen sowie insbesondere zu Beginn der Produktion eines neuen Modells der Bedarf hoher bzw. höherer Beschäftigtenzahlen. Eine Übertragung auf Karmann erwies sich als schwierig und problematisch, da das „Atmen“ nicht unter den Voraussetzungen geschehen konnte wie bei den OEM. Soweit es um die zusätzliche Auslastung von Kapazitäten bei den OEM ging, ließe sich umgangsprachlich feststellen, dass die Produktionspotentiale für Karmann „weggeatmet“ wurden, da die OEM keine Aufträ-
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ge vergaben, sondern durch konzerninterne Re-Organisation vertikal integrierten. Fraglich bleibt also, wie der Osnabrücker Auftragsfertiger im Gesamtfahrzeugbau für kleine Stückzahlen und unter hohem Kostendruck rentabel hätte Produktionen durchführen können. Lange Zeit gelang es dem Unternehmen, seine Kompetenzen wettbewerbsfähig durchzusetzen im Rahmen von Aufträgen für den Fahrzeugbau und insbesondere für die Fertigung von Dachsystemen. Dabei zeigt sich das Alleinstellungsmerkmal des Osnabrücker Auftragsfertigers vor allem in den Charakteristika des Cabriobaus, auf den sich das Unternehmen lange Zeit verließ. Der Leiter der Technischen Entwicklung beschrieb die Veränderungen, die es in diesem Segment gibt: „Also dieses Produkt „Gesamtfahrzeug“ wird natürlich im Laufe des Lebens oder der Zeit immer komplexer, immer höhere Anforderungen. [...] während man wahrscheinlich beim alten „Karmann Ghia“ das Lastenheft noch auf einen Bierdeckel hat schreiben können, [...] sind eben heute ganze Ordner-Wände voll Lastenheftanforderungen, die eben erfüllt sein müssen.“ (Interview U1/TE).
Dabei spielten gesetzliche Anforderungen und Umweltschutzauflagen eine wichtige Rolle, aber auch die Ansprüche an Qualität und Funktionalität hatten sich erhöht. Beim Auftrag zum Bau eines Cabriolets musste Karmann dieses Fahrzeug zunächst vollständig neu entwickeln, gleichzeitig jedoch an das Ausgangsmodell anpassen, so dass der Unternehmensbereich „Technische Entwicklung“ einen hohen Anteil im Vorfeld der Produktion erbrachte (vgl. ebd.). Die Darstellung verdeutlicht, welche Rolle der spezialisierte Auftragsfertiger übernahm und welche Vorteile eine ausgelagerte Produktion für einen OEM bieten konnte. Karmann bot die Kombination aus einer technischen Entwicklung, die über langjährige Erfahrung im Fahrzeugbau verfügt, und den notwendigen Produktionskapazitäten. Nimmt man diese Merkmale ernst, schienen die Wettbewerbsfähigkeit nach wie vor zu bestehen. Die besondere Fähigkeit in der Fertigung von Cabriolets bestand anscheinend unwidersprochen – auch bei zunehmenden Schwierigkeiten, neue Aufträge für die Gesamtfahrzeugpro-
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duktion zu akquirieren, waren es weder Kompetenzzweifel, Qualitätsprobleme noch mangelnde (Produkt-)Innovationsfähigkeit, die diese Probleme auslösten. Das Problem schien viel früher zu entstehen: bei den Überkapazitäten der OEM und ihren z.T. neuen Strategien, um erst einmal alle noch intern mögliche Produktion vertikal zu integrieren. Doch dieser Entwicklung konnte sich das Unternehmen nicht entziehen. Welche Strategien suchte Karmann also? Es scheint, als bliebe der Fokus zunächst im Bereich der Gesamtfahrzeugherstellung als Derivat auf Basis eines Massenmodells. Die Technische Entwicklung stellte die „Mittel zum Zweck“ bereit, um die Voraussetzungen für die Produktion zu schaffen (vgl. Interview U1/TE). Insofern zeigt sich, dass das Selbstverständnis und die Funktion der technischen Entwicklung darin bestand, notwendige Ergänzung für die Produktion zu sein. Der ehemalige Betriebsrat erläuterte, dass der Unternehmensbereich, der technischen Dienstleistungen (Engineering) für die Verdeckproduktion erbringt, das Standbein des Unternehmens darstelle, dass besonders profitabel und im Wettbewerb erfolgreich sei (vgl. Interview U1/Betriebsrat1). Allerdings gab er zu bedenken, dass „die technische Entwicklung selbst [...] an ein Volumenmodel gebunden” sei (ebd.). Dies entspricht auch dem Verweis auf die umfangreichen Investitionen, die an den Standort Osnabrück gebunden waren. Mit dem Bau der Lackieranlage war die Hoffnung auf langfristige Tätigkeit im Fahrzeugbau verbunden69. Die Facetten der Unternehmensentscheidungen sowie die Aussagen der Interviewpartner lassen den Schluss zu, dass das Unternehmen weiterhin auf die Gesamtfahrzeugproduktion in Osnabrück, setzte bestenfalls ergänzt um eine starke Technische Entwicklung sowie einen Schwerpunkt in der Zulieferkomponente „Dachsysteme“. Die strategische Ausrichtung auf diese Sparten präsentierte das Unternehmen als Neuorientierung, die im Bereich der Technischen Entwicklung auch mit personellem Ausbau 69
„die Familie Karmann hat nicht unlängst diese Lackieranlage, die Sie hier sehen [zeigt aus dem Fenster], ja das waren 150 Mio. Euro, das haben die hier investiert! Und damit quasi in Beton gegossen das Bekenntnis, am Standort in Osnabrück hier Autos zu bauen. Diese Anlage steht nicht in Györ oder in Tschechien, sondern in Osnabrück.“ (Interview U1/TE).
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verbunden war. Der Leiter der Technischen Entwicklung skizzierte die Perspektiven für den Bereich „Dachsysteme“, indem sich dem Osnabrücker Unternehmen die Chance böte, „ein Alleinstellungsmerkmal“ zu haben: „das Dach von Karmann. So ähnlich wie der Scheinwerfer von Hella. Oder die Bremse von Tewes. [Das Unternehmen hat] das Modul „Dach“ gestärkt, indem man eben aus der früheren technischen Entwicklung und Produktion und Vertrieb usw. alle die Komponenten rausgenommen hat, und hat die in [einem] Dachcenter zusammengefasst. Das hat also weniger damit zu tun, dass der Markt für Dächer irgendwie so groß ist, sondern einfach: Man möchte aus dieser Ecke raus, dass man kein eigenes Produkt hat.“ (Interview U1/TE)
An dieser Aussage zeigt sich das Bestreben, sich aus der Abhängigkeitssituation zu lösen und im Wettbewerb eigenständiger handeln zu können. Als Vorteil der Wettbewerbsposition im Unternehmensbereich „Dachsysteme“ stellten die Interviewpartner heraus, dass ausländische Produktionsstandorte (z.B. Polen, USA) „Hier im Engineeringbereich Arbeitsplätze sichern – und das nicht zu knapp“ (Interview U1/ Betriebsrat2). Der Markt sei in diesem Bereich noch nicht gesättigt (vgl. U1/Dachsysteme), gleichzeitig begünstige die gute Qualifikation der Ingenieure die internationale Wettbewerbsfähigkeit durch das Alleinstellungsmerkmal, technische Kompetenz für Dachsysteme anzubieten (vgl. Interview U1/TE)70. Die Gesamtsituation des Unternehmens und ihre öffentliche Wahrnehmung erschwerte eine Expansion in diesem Geschäftsfeld jedoch erheblich. Es fiel dem Osnabrücker Auftragsfertiger schwer, hochqualifizierte Fachkräfte für eine Beschäftigung in Osnabrück („beim angeschlagenen Autobauer“) zu gewinnen (vgl. Interviews U1/TE, U1/Dachsysteme, U1/Vertrieb71). 70
„Das heißt, ich bin schon der Meinung, dass wir dadurch, dass wir als deutsches Unternehmen unterwegs sind, mit deutschen Ingenieuren, dass wir dadurch einen großen Vorteil haben. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Ich sage mal, deutscher Ingenieurgeist ist nach wie vor überall in der Welt ein Markenzeichen. Das ist so. Sehen Sie es mir nach, ich bin Ingenieur. Da bin ich natürlich stolz drauf. Aber es ist wirklich so, dass wir Deutschen, was unsere Ingenieursleistung angeht weltweit uns sehen lassen können.“ (Interview U1/TE). 71 „Einmal ist das eben das Thema „Rekrutierung von Köpfen“ – auch [aus] anderen Regionen. Weil die Schlagzeilen, die wir zur Zeit schreiben, die ja eigentlich nur diesen 0,5-
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Eine Herauslösung aus der Abhängigkeitssituation versuchte das Unternehmen durch eine Konzentration auf die Komponentenfertigung (Dachsysteme). Der Wettbewerb unter Zulieferern in diesem Segment war groß, jedoch etablierte das Osnabrücker Unternehmen tatsächlich eine führende Stellung in diesem internationalen Konkurrenzfeld. Der Vorteil, den die Rolle als Modullieferant bot, bestand darin, ein eigenes Produkt am Markt anzubieten – dabei war das Unternehmen natürlich auch von der Auftragsvergabe durch die OEM abhängig. Doch dieser entschied damit nicht gegen eine komplette Serienfertigung innerhalb seiner Konzernstruktur, sondern nutzte für die Fahrzeugproduktion die eigenen vorhandenen Ressourcen und ließ sich eine Fahrzeugkomponente von einem spezialisierten Hersteller zuliefern. Damit nutzte er die Expertise des Kooperationspartners und vermied gleichzeitig die Forcierung eigener Überkapazitäten. Für Karmann blieb jedoch der Stellenwert der Fahrzeugproduktion hoch, die das Charakteristikum der Abhängigkeit von der Auftragsvergabe unter den bestehenden Voraussetzungen nicht abschütteln konnte. Dies hinderte das Unternehmen, aus der schwierigen Situation herauszukommen, obwohl ein Unternehmensbereich durchaus sehr erfolgreich auf dem Weltmarkt bestehen konnte. Gesellschaftliche Anforderungen an das Unternehmen Der allgemeine Trend zur Entwicklung von Fahrzeugen mit alternativen Antriebstechnologien eröffnete auch den Auftragsfertigern eine Marktnische. Insofern entsprachen die Aktivitäten in diesem Bereich (nur) indirekt der Reaktion auf gesellschaftliche Anforderungen an das Unternehmen. Durch die gestiegene Aufmerksamkeit durch die Debatte um Klimawandel und Umweltprobleme erhielt der Auftragsfertiger jePart betrifft, natürlich ausstrahlt auf den klassischen Zuliefererbereich. Und wir einem Diplomingenieur aus Reutlingen einen tollen Job anbieten. Der findet es super, was er da hier in der technischen Entwicklung macht, der glaubt auch, dass die technische Entwicklung noch in zehn Jahren da sein wird. Und er sieht plötzlich, dass er mit 1000 Euro in Osnabrück viel mehr anfangen kann als in Reutlingen, im Stuttgarter Raum. Und dann kommt er ganz....hach...glücklich nach Hause. Und dann sagt seine Frau: Sag mal, bist Du denn wahnsinnig geworden? Nach Osnabrück, zu Karmann?“ (Interview U1/Vertrieb).
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doch eine Chance, durch eigene Entwicklungen in diesem Bereich und Kooperationen mit Partnern ein neues Geschäftsfeld zu etablieren. Obwohl die Insolvenz des Unternehmens unausweichlich war, präsentierte Karmann im Jahr 2009 ein Elektrofahrzeug („E3“) und demonstrierte damit sowohl seine Innovationsfähigkeit als auch den Versuch, neue Nischen zu nutzen als Ausweg aus der Krise. Die Gründung einer Tochtergesellschaft, der „Karmann E-Mobil GmbH“ ermöglichte diese Neuausrichtung. Der Sprecher für diese Tochtergesellschaft prognostizierte, „sechs bis acht Prototypen“, um im Jahr 2012 mit einer Serienproduktion zu beginnen (Die Zeit 2009). Eine andere Facette gesellschaftlicher Anforderungen bzw. vielmehr öffentlicher Forderungen richtete sich an die Eigentümerfamilie des Unternehmens und später an den Insolvenzverwalter. In der regionalen Tageszeitung gab es eine umfangreiche Berichterstattung, die zu Teilen von Spekulationen und vermeintlichen Gerüchten getrieben ist. Gleichzeitig prangerte die Tageszeitung das Verhalten der Eigentümerfamilien an und beklagt öffentlich deren fehlende soziale Verantwortung (vgl. z.B. Hinrichs et al. 2009). Anhand verschiedener Artikel wird deutlich, wie die Gewerkschaft IG-Metall die Darstellung von Einzelschicksalen entlassender Mitarbeiter nutzen wollte, um Druck gegenüber den Eigentümerfamilien aufzubauen. Eine ausgewogene und differenzierte Berichterstattung erfolgte nicht. Die Vermittlung des Falls in den Medien suggerierte, die einzelnen Schritte des Insolvenzverwalters verfolgen zu können, dabei wurde jeder Hoffnungsschimmer „zelebriert“ und ein „happy end“ für das Unternehmen und die Region in Aussicht gestellt. Die Emotionalität, mit der auch überregionale Tageszeitungen über die Insolvenz des Unternehmens berichteten, war erheblich: Vielfach fanden sich zahlreiche Bilder des Karmann Ghia im Zusammenhang mit Texten über die Unternehmensgeschichte und das „traurige“ Ende. Letztendlich löste sich das Spannungsfeld von „happy end“ und „traurigem Schicksal“ in der Nachricht auf, dass die Volkswagen AG wesentliche Teile des insolventen Osnabrücker Fahrzeugproduzenten übernimmt.
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Arbeitskräftepotential Während das Unternehmen in Zeiten des Wachstums der 1950er und 1960er Jahre den Mangel an Arbeitskräften für die Fahrzeugproduktion beklagte und Gastarbeiter anwarb, stabilisierte sich in der Folgezeit das Verhältnis zwischen Bedarf und Angebot. Das Unternehmen entwickelte sich zum beliebten regionalen Arbeitgeber, zu dem Fachkräfte z.B. aus dem Handwerk wechselten, um dort für angelernte Tätigkeiten in der Produktion gute Verdienstmöglichkeiten zu realisieren. Insbesondere in konjunkturell bedingten Aufschwungphasen nutzten diese Arbeitskräfte die Stellenangebote des Automobilbauers, was zu großen Schwierigkeiten führte, wenn die Kapazitäten die Auftragssituation überstiegen. Insofern wandelte sich der Auftragsfertiger vom regionalen „Zugpferd“ zum arbeitsmarktpolischen Problemfall. Dies betraf insbesondere die Beschäftigten, die als Werker, als angelernte Produktionsmitarbeiter oder gewerbliche Facharbeiter im Unternehmen tätig waren. Die Einrichtung der Transfergesellschaften sowie die Bereitstellung von Mitteln aus dem Globalisierungsfonds der Europäischen Union verdeutlichten, dass das Problem von politischen Akteuren und regionaler Verwaltung als gravierend eingeschätzt wurde. Etwas anders stellte sich die Situation im Bereich qualifizierter Fachkräfte und Ingenieure dar. Hier suchte das Unternehmen bis zuletzt – teilweise händeringend – nach Personal. Insbesondere Nachwuchskräfte und Hochschulabsolventen konnten die entwicklungsorientierten Unternehmenssparten aufgrund der ungewissen Zukunftssituation des Unternehmens kaum oder gar nicht gewinnen.
Mitbestimmung - Beschäftigungsstrategie Die Auseinandersetzungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung erscheinen zunächst konfliktär, insbesondere solange die Arbeitnehmervertretung noch davon ausging, dass neue Aufträge hätten gewonnen werden können. Allerdings waren die Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung gewissermaßen „fleischlos“, als der
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Betriebsrat selbst erkannte, dass es keine Verteilungsmasse gab. Der Betriebsrat zog sich daher auf die Vermittlerrolle zurück: „Wobei unser Interesse trotzdem ist, soviel Beschäftigung wie möglich [zu erhalten]. [...] Man muss sich der Entwicklung stellen und muss dann die richtigen Schritte tun. [...] Ja, also in erster Linie muss so ein Betriebsrat, ist eine Interessenvertretung auch dafür da, für diese Entwicklung Verständnis zu schaffen. Anstatt nur dagegen zu arbeiten“ (Interview U1/Betriebsrat2).
Dessen Position und die Selbsteinschätzung seiner Handlungsmöglichkeiten waren bereits 2008 von großer Resignation geprägt, zeigten auf der anderen Seite den Perspektivenwechsel durch den Betriebsrat. Die allgemeine Hilflosigkeit äußerte sich in besonderer Weise in einem Klammern an den Gedanken, eine Überbrückungsphase helfe bis zu einer Zeit, in der es wieder Aufträge gäbe, wenn die Standortsicherungsvereinbarungen ausgelaufen und die Überkapazitäten bei den OEM abgebaut sein würden. Die Interviewpartner entwickelten Ideen angesichts der Frage, wie man die „Durststrecke“ überleben könnte: „Das ist eine, für die betroffenen Firmen vielleicht die schwierigste Frage überhaupt. Weil sie von keinem der Hersteller erwarten können, dass die ihnen jetzt irgendwo eine Beschäftigungsaufgabe geben in der Annahme, wenn man diese Brücke - wir nennen das eben: zum neuen Ufer – […] über ein oder zwei Jahre schafft, dann könnte man […] diese Lücke überbrücken […] Und wo soll denn diese […] herkommen? Wer gibt die ab? […] man kann ja nicht sagen: Karmann produziert in der Zwischenzeit Kochtöpfe […]. Sondern es müssen ja für die Fabrik […] fahrzeugspezifische Aufgaben sein. Andere [Aufgaben] können die Leute nicht, die Maschinen sind auch nicht geeignet. Und wirtschaftlich muss es auch noch bleiben.“ (Interview U1/Geschäftsführung).
Auch der Betriebsratsvorsitzende zeigte nur scheinbare Hoffnung: „Bis zum allerletzten Tage oder bis zur allerletzten Sekunde ist das alles möglich. Und selbst Produkte, die den SOP hinter 2010 haben, sind ja nicht einfach wegzuschieben. Wir könnten – so ein Produkt vor Augen – ja über alles mögliche nachdenken bis dahin. Wie wir das Personal über ein Jahr sozusagen „verproviantieren“ können. Da gibt es genügend Modelle. Da sind der Phantasie ja keine Grenzen gesetzt. Wir könnten [...] mit innovativen Arbeitsmarktstrategien versuchen, unser Personal in anderen Unternehmen zu parken für diese Zeit. [...] Und von daher ist auch so ein Produkt, was nach 2010 irgend-
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wie realisierbar wäre, für uns interessant. So, und da tun sich die Automobilhersteller ja immer so schwer, sich da wirklich zu äußern, was sie denn da vorhaben. Das sind Produktstrategien, da stecken wir nicht so drin, können denen das ja auch nicht vorschreiben.“ (Interview U1/Betriebsrat2).
Die Äußerungen in beiden Interviewpassagen demonstrierten Hoffnung, blieben jedoch nebulös und waren letztendlich Ausdruck der Handlungsunfähigkeit. Gewissermaßen gelähmt wartete das Unternehmen auf Aufträge, während die einzelnen Akteure selbst ihr Verständnis darüber ausdrückten, weshalb das Motiv der OEM fehlt, in dieser Phase neue Aufträge zu vergeben. Neben den vielzitierten Standortsicherungsvereinbarungen (Interview U1/Betriebsrat1, U1/Gewerkschaft, U1/TE) verwies insbesondere ein Interviewpartner auf die veränderten Voraussetzungen für Kleinserienproduktion bei den OEM: „Die großen Automobilhersteller haben enorm an Produktivität, Effizienz und auch Flexibilität gewonnen. Sie können das, so kleinere Projekte, 20.000, 25.000 bei sich unterzubringen.“ (Interview U1/Vertrieb). Damit schränkte er seine eigene Aussage ein, dass „sich die Großwetterlage, auch was das Thema betrifft, drehen [wird]. Denn mit Sicherheit, in Deutschland ohnehin, ist die Wirtschaftlichkeit einer Produktion in Osnabrück höher gegeben als woanders bei gleicher Qualität, wenn nicht besser. Zumindest auch, was die Zeit betrifft, die Entwicklungszeit. So dass wir, was das Thema betrifft, sehr...sehr zuversichtlich sind. Dass wir unsere Leistungen dort durchsetzen werden.“ (ebd.). Charakteristisch war in allen Interviewsituationen ein „hoffnungsloser Optimismus“, der keine Argumente lieferte, warum ein oder mehrere OEM noch Aufträge für die Fahrzeugproduktion an Karmann hätten erteilen sollen. Analyseergebnis Im Verlauf der Unternehmensentwicklung zeigt sich, dass die Krise das Unternehmen während des Umbruchs von hohen Stückzahlen der Crossfire-Produktion zu fehlenden Aufträgen begann. Seit 2006 fand ein gravierender Rückbau und Beschäftigungsabbau statt, der durch feh-
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lende Aufträge begründet wurde. Da davon ausgegangen werden kann, dass bei den OEM grundsätzlich immer noch Bedarf für eine ausgelagerte Kleinserienproduktion bestand, stellt sich die Frage, warum Karmann davon nicht profitieren konnte. Einige wichtige Charakteristika seien vorab dargestellt, um die Rahmenbedingungen des Unternehmens zu berücksichtigen. Bis zur Insolvenz blieb Karmann durchgängig ein reines Familienunternehmen, das zu drei Familienstämmen gehörte. Nachdem der Sohn des Unternehmensgründers in den 1990er Jahren die Geschäftsführung abgegeben hatte, übernahmen familienfremde Geschäftsführer die Leitung. Im Vergleich zur Zeit vor dem Jahr 2000 blieben die Geschäftsführer danach für einen kürzeren Zeitraum im Unternehmen. Inwieweit die Persönlichkeit und die Netzwerke der jeweiligen Geschäftsführer die Schwierigkeiten der Einwerbung neuer Aufträge für den Fahrzeugbau beeinträchtigten, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Sofern die Annahme zutrifft, dass es kein Qualitätsproblem gab und zudem wettbewerbsfähige Kostenstrukturen durch Kooperationsbereitschaft und Zugeständnisse der Arbeitnehmer erreicht werden konnten, bliebe die Annahme von strategischen Fehlentscheidungen, mangelnder Kooperationsfähigkeit und wenig Verhandlungsgeschick der jeweiligen Geschäftsführungen als Erklärung. Der Umbruch vom familiengeführten Unternehmen zum managergeführten Familienunternehmen fiel in eine Zeit, in der sich die Managementstile veränderten. Gleichzeitig stand das Unternehmen vor der Herausforderung, sich auf neue Verhandlungsmodi und Vertragsgrundlagen für die Auftragsfertigung einzustellen. Dabei handelte es sich vor allem um eine Internationalisierung der Vertragsgestaltung in der internationalisierten Automobilbranche (Vertragsgestaltung nach angelsächsischem Recht versus Vertrag nach BGB), die entsprechende juristische Kompetenz im Unternehmen voraussetzte. Der Aufbau einer vertrauensvollen Geschäftsbeziehung, welche die Grundlage für eine Produktionsvergabe gesamter Fahrzeugproduktionen bildet, wurde durch häufige(re) Wechsel der Geschäftsführungen (sowohl bei OEM als auch Gesamtfahrzeughersteller) zusätzlich erschwert. Die Zeit der
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„gentlemen’s agreements“, als Grundlage für Vertragsschlüsse zwischen langjährigen Geschäftspartnern, scheint zwar überholt, die Netzwerke auf der obersten Hierarchieebene der Unternehmen spielten und spielen jedoch nach wie vor eine wichtige Rolle. Sofern die Geschäftsführer von Karmann diesbezüglich nicht ausreichend eingebunden waren, wäre dies ein weiterer Erklärungsbaustein für den Auftragseinbruch. Über einen langen Zeitraum betrieb Karmann sehr stabile Beziehungen zu VW, Ford, Daimler, die wichtige Spezialserien in Osnabrück fertigen ließen. Im Falle des Volkswagen Konzerns handelte es sich zudem um Fertigungen für die Tochtergesellschaft AUDI. Die beiden deutschen Unternehmen gerieten aufgrund der ÜberkapazitätsProblematik selbst unter Druck und suchten nach Lösungen, um ihre eigenen Standorte zu sichern; dies führte zur Rückverlagerung oder Entscheidung über eine interne Produktion. Ford litt, wie insbesondere die US-amerikanischen Automobilkonzerne, unter Absatzkrisen, und vergab schon seit den späten 1990er Jahren keine weiteren Aufträge an Karmann. Die anderen Kooperationen mit internationalen OEM (z.B. Kia, Renault) entstanden später und schienen nicht mehr den „alten“ Charakter der Beziehungen zu Daimler und Volkswagen erreichen zu können, so dass es sich z.T. um singuläre Aufträge oder maximale zwei Folgeaufträge handelte. Eine Anekdote, deren tatsächliche Bewertung einen „Blick hinter die Kulissen“ notwendig machen würde, mag die Bedeutung der persönlichen Beziehungen zwischen den Geschäftsführern von OEM und Gesamtfahrzeughersteller veranschaulichen: In den 1990er Jahren zeigte Karmann den Stuttgarter Sportwagenbauer Porsche wegen Ideenklaus an und bekam Recht. Die Interviewpartner deuteten an – oder führten aus –, dass dies zu einer gravierenden Verstimmung von Porsche geführt habe. Inwieweit die zunehmende Verzahnung von Porsche und Volkswagen in den vergangenen Jahren dazu beitrug, dass sich der Wolfsburger OEM von dieser Auseinandersetzung und Verärgerung anstecken ließ, lässt sich nicht belegen. Allerdings gab es nach Auslaufen der Produktion des Golf Cabriolets (2001)
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keinen weiteren Auftrag der Volkswagen AG, die seit 1949 konstant Spezialfertigungen in Osnabrück hatte durchführen lassen. Insbesondere zu der Zeit, als das Osnabrücker Unternehmen noch auf einen Auftrag zur Fahrzeugproduktion hoffte, um diesen Pfeiler des Unternehmens zu sichern, gab es Versuche politischer Akteure, Einfluss zu nehmen. Beispielsweise kündigte der niedersächsische Ministerpräsident im Landtagswahlkampf bei einem Besuch des Betriebsrates Anfang 2008 an, dass der Wolfsburger VW-Konzern einen Auftrag an Karmann erteilen würde. Nachdem kein Auftrag folgte und sich die OEM von Vermittlungsversuchen der Politik nicht beeindrucken ließen, konzentrierten sich Landesregierung und regionale Bundestagsabgeordnete darauf, Maßnahmen zur Einrichtung von Transfergesellschaften u.ä. zu unterstützen. Letztlich war dies jedoch bereits Teil des Rückbaus – für die Kontinuität des Unternehmens als Auftragsfertiger spielten politische Akteure keine Rolle. Wie gezeigt werden konnte, scheiterten die Profilierungsversuche von Politikern, trotz der Einflussmöglichkeiten des Landes Niedersachsens bei der Volkswagen AG. Etwas anders gestaltete sich die Situation nach der Insolvenz: Möglicherweise war der Einstieg von VW bei Karmann durch politische Interessen beeinflusst, da auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist, warum Volkswagen einen weiteren Werksstandort braucht, nachdem eine Expansion dieses deutschen OEMs mittlerweile ausschließlich in Mittelund Osteuropa sowie außerhalb Europas stattfindet und sich deutsche bzw. westeuropäische Standorte immer wieder mit Schließungsdrohnungen konfrontiert sehen. Im Laufe der Zeit veränderte sich die Rolle und damit auch die Verhandlungsposition des Osnabrücker Auftragsfertigers gravierend: Zunächst bot er Produkte mit bestimmtem Nischenmerkmal an, deren Produktion er im Auftrag des OEM ausführt. Dabei gab es keine Konkurrenz mit dem OEM, da dieser (technisch und organisatorisch) keine eigenen Kapazitäten nutzen konnte, um die kleine Serie bzw. das Nischenprodukt herzustellen. Die Krisensituation schien sich nun – auf den ersten Blick – daraus zu ergeben, dass der OEM selbst Produkte mit
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Nischenmerkmal bzw. Kleinserien herstellen kann und eigene Überkapazitäten die Kosten für eine externe Lösung erhöhen. Im Vorfeld der Entscheidung zur Produktion eines neuen Fahrzeugs konnte der OEM das Angebot und Konzept des Auftragsfertigers nutzen, um seine eigenen Werke hinsichtlich ihrer Kostenstrukturen unter Druck zu setzen. Seit Karmann das Geschäftsfeld Fahrzeugproduktion nicht weiter betreiben kann, entfällt für die OEM diese Wettbewerbsoption. Insofern konnte dem Auftragsfertiger eine Wettbewerbsfunktion im Vorfeld von Produktionsentscheidungen zugeschrieben werden, die möglicherweise nicht auf den ersten Blick erwartbar scheint. Allerdings motivierte diese Wettbewerbskonstellation die OEM nicht, für eine „Existenzsicherung“ des Gesamtfahrzeugherstellers zu sorgen. Auch wenn diese Forderung vielfach an die OEM gestellt wurde, entsprachen sie ihr nicht durch Auftragsvergabe. Die Tatsache, dass weiterhin Aufträge für Kleinserien und Spezialfertigungen durch die OEM vergeben werden, obwohl mittlerweile produktionsorganisatorisch eine vertikale Integration als Alternative zur Verfügung steht, zeigt, dass ein komplexes Wirkungsgefüge von Einflussfaktoren zur Entscheidung für oder gegen die Auftragsvergabe beiträgt. Dabei scheinen, wie auch in diesem Fallbeispiel gezeigt werden kann, gewisse „weiche“ Faktoren, wie die Beziehung der Geschäftsführungen, die Historie der Kooperation u.ä. eine wichtige Rolle zu spielen. Historische Erfahrungen prägten die Erwartung an den Beziehungscharakter von historischen Erfahrungen, die eine Neuorientierung verhindern. Das Beispiel der Beziehung von Karmann zu Volkswagen verdeutlicht, dass personelle Veränderungen und die dynamische Weiterentwicklung der unabhängig voneinander tätigen Unternehmen diese wechselseitigen Erwartungen verändern können. Gleichzeitig spielt das gegenseitige Vertrauen nach wie vor eine entscheidende Rolle. Der Modus, über den dieses Vertrauen hergestellt wird, hat sich im Laufe der Zeit gewandelt: Es scheint so, als habe Karmann sich nicht ausreichend auf die neuen Grundlagen der OEM-Auftragsfertiger-Beziehung einstellen können. Die Selbstwahrnehmung als Auftragsfertiger, der
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davon ausgeht, eine unersetzbare und nahezu einzigartige Funktion in der Automobilbranche zu erfüllen, entspricht nicht den veränderten Rahmenbedingungen in der Branche. Enge Kooperationen mit Volkswagen prägten zunächst die Auslandsinvestitionen des Osnabrücker Unternehmens, das Werksstandorte in unmittelbarer Nähe zu VW-Produktionsstätten zur Fertigung von Cabriolets einrichtete. Ein spätes eigenständiges Auslandsengagement versuchte der Osnabrücker Auftragsfertiger in Polen – dies erfolgte allerdings in einer Zeit, als es angesichts des höheren Einkommensniveaus, zum Teil geräumter Arbeitsmärkte und der gestärkten Verhandlungsposition des EU-Mitgliedslandes schon vergleichsweise teuer war, dort zu investieren. Karmann versuchte den Spagat zwischen großer Unsicherheit und z.T. Unerfahrenheit, die gewisse Kosten verursacht und der Notwendigkeit zur Kostenreduktion, die durch Auslandsstandorte realisiert werden und den Heimatstandort stärken sollten. Während einer der beiden Polenstandorte (Zary) als Zulieferstandort (Dachsysteme) für das räumlich nah gelegene Leipziger BMW-Werk fungierte, sollte sich der zweite Standort (Chorchow) als kostengünstiger Produktionsstandort etablieren. Diesen Effekt konnte das Werk in Chorchow im zeitlichen Zusammentreffen mit der Auftragskrise sicherlich nicht mehr erzielen. Finanzieller Druck durch die hohen Anfangsinvestitionen in Polen könnten die angespannte Unternehmenssituation verschärft haben. Hinsichtlich der beschäftigungspolitischen Flexibilität am Osnabrücker Standort zeigte die Fallstudie, dass keine Einführung von Leiharbeit stattfand und bis zur Auftragskrise ein hohes kontinuierliches Beschäftigungsvolumen zu verzeichnen war, das noch einmal aufgestockt für die Chrysler-Produktion noch einmal aufgestockt worden war. In diesem Zusammenhang sorgten befristete Beschäftigungsverhältnisse für Flexibilität und eine Absicherung für die Zeit nach dem Auftrag. Grundsätzlich schienen kooperative Strukturen zwischen Geschäftsführung und Betriebsrat zu bestehen. Der Betriebsrat sah es insbesondere in den vergangenen Jahren (auch) als seine Aufgabe an, das Geschäftsmo-
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dell des Fahrzeugbaus zu verfechten und auch beschäftigungspolitisch daran festzuhalten. Als das Unternehmen im Jahr 2006 unter dem Einbruch der Chryslerproduktion litt, Beschäftigungsabbau ankündigte und gleichzeitig in einen neuen Standort in Polen investierte, kam es zu heftigem Protest und einem kurzfristigen Streik, den der Betriebsrat initiierte. Daraufhin forcierte die Geschäftsführung einen Wandel in der personellen Besetzung des Betriebsrates, dem fortan Angestellte (Ingenieure) des Unternehmens vorstanden. Die Probleme des Fahrzeugbaus lastete der Betriebsrat zunehmend der Geschäftsführung an – in den Maßnahmen zum massiven Beschäftigungsabbau verhärteten sich die Fronten. Allerdings musste der Betriebsrat schnell einsehen, dass die Geschäfts-führung des Unternehmens kein Gegner war, so lange es keine weiteren Aufträge gab und das Fortbestehen des Unternehmen in Gefahr war. Möglicherweise verschärfte sich der Konflikt kurz vor der Einleitung der Unternehmensinsolvenz, als sich Betriebsrat und Geschäftsführung nicht auf einen Sozialplan einigen konnten. Letztlich zeigte sich jedoch, dass die Komponente Arbeitgeber-ArbeitnehmerBeziehungen nicht ausschlaggebend für die Bewegungsunfähigkeit des Unternehmens war. Finanzielle Belastungen durch die Auslandsinvestitionen und mangelnde Flexibilität der Beschäftigungsbedingungen in der besonders angespannten Situation können zwar Teil der Erklärung sein, erweisen sich im Fallbeispiel jedoch nicht als die dominierenden Faktoren zur Erklärung der Existenzkrise. Der Unternehmensbereich der technischen Entwicklung, der lange als wichtiger Pfeiler des Unternehmens galt und von den OEM solchermaßen wahrgenommen wurde, kämpfte zunehmend auf einem immer ausdifferenzierteren Markt, auf dem neue Anbieter als Entwicklungsdienstleister zum Teil mit engen Verzahnungen zu OEM agieren. Auch wenn diese über keine eigenen Produktionskapazitäten verfügen, so sorgt die modulare Produktionsweise und vor allem die Integration in die Produktion des OEM für eine enge Anbindung, durch die mögliche Nachteile eines solchen Dienstleisters reduziert werden
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können. Die Geschäftsführung von Karmann wagte in Reaktion auf die ausbleibenden Aufträge für die Fahrzeugproduktion den Vorstoß, die Unternehmenssäule technische Entwicklung dahingehend zu stärken, dass sie als ebensolcher technischer Dienstleister – unabhängig von der Fahrzeugproduktion – eine entsprechend eigenständige Marktnische einnähme. Eine Studie im Rahmen des Forschungsprojekts ergab, dass eine solche Funktion nur dann erfolgreich sein kann, wenn der technische Dienstleister direkt vor Ort an der Produktionsstätte tätig wird. Im Falle Karmanns hätte der Unternehmensteil „Technische Entwicklung“ eine völlig neue Rolle als Tier-1-Zulieferer einnehmen müssen. Diese strategische Ausrichtung suchte das Unternehmen während der Unternehmenskrise, konnte es letztlich nicht als Kompensation für die verlustträchtigen Unternehmensbereiche nutzen. Nach der Insolvenz blieb der Unternehmensbereich Technische Entwicklung zunächst bestehen und arbeitete weiter; letztlich plant Volkswagen die Übernahme eines Teils der Beschäftigten für seinen neuen Osnabrücker Produktionsstandort. Karmann behauptete über lange Jahre stabil seine Marktposition als Familienunternehmen, das – anders als Konkurrenten im Marktsegment – nicht in eine Konzernstruktur eingebettet war. Die Labilität des Pfeilers Fahrzeugproduktion löste die Existenzkrise aus, die schließlich zur Insolvenz führte, das Unternehmen beklagte allerdings bereits seit den späten 1990er Jahren für den Werkzeugbau massive Probleme. Die Sparte Dachsysteme hingegen setzte sich erfolgreich gegen die Wettbewerber durch, eine Komplett-Transformation in einen tier-1Zulieferer mit Auslandsstandorten zur Kostenreduktion (und in direkter Zusammenarbeit mit einem OEM) schien plausibel (vgl. Technische Entwicklung) aber nicht gewünscht. Schließlich zeigt der Bieterwettstreit um diesen Unternehmensteil im Zuge der Insolvenzverhandlungen die große Attraktivität, die jedoch nicht ausreichte, um andere Schwachstellen des Unternehmens zu kompensieren. Der Erfolg der Strategien zur Stärkung der Zulieferfunktion (Technische Entwicklung und Dachsysteme) war höchst voraus-
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setzungsvoll und stand im Kontrast zum Festhalten am Fahrzeugbau und dem Selbstverständnis als Auftragsfertigers. Eine Kombination beider Strategien schien widersprüchlich und vor dem Hintergrund der sonstigen Rahmenbedingungen des Osnabrücker Unternehmens zum Scheitern verurteilt. Sämtliche Interviews, die zumeist im Jahr 2008 geführt wurden, vermittelten den Eindruck eines „hoffnungslosen Optimismus“ – einer diffusen Vorstellung von einem Weg, der das Unternehmen aus der Krise führen würde, und dem Glauben an ein Weiterbestehen der Fahrzeugproduktion und gleichzeitig der konkreten Darstellung struktureller Probleme, die den Optimismus und die Hoffnung bremsten bzw. immens einschränkten. Die Unternehmensentwicklung zeigte, dass das Fehlen neuer Aufträge für den Fahrzeugbau ohne Kompensationsmöglichkeiten durch die anderen Unternehmenssparten letztlich zur Insolvenz des Unternehmens führte. Die Versuche zur Neuorientierung geben einen Hinweis darauf, welches Geschäftmodell unter bestimmten Bedingungen zukunftsfähig gewesen wäre. Allerdings hätte es ein Aufgeben und – finanziell lohnendes – Verkaufen der Fahrzeugproduktion bedurft, dem Herzstück des Unternehmens. Dies schien organisatorisch, betriebswirtschaftlich und letztlich vermutlich auch emotional nicht durchführbar. Im Fall von Karmann gibt es nicht „die eine Erklärung“ , weshalb das traditionelle, regional verwurzelte Familienunternehmen insolvent wurde. Allerdings ermöglicht das Beispiel, eine Reaktionskette nachzuvollziehen, für die wichtige Einflussfaktoren feststehen: Die technische und organisatorische Möglichkeit zur internen Fertigung kleiner Stückzahlen nutzten die OEM insbesondere, als sie in Folge von Beschäftigungssicherungsvereinbarungen eigene Werke auslasten mussten, in denen diese „gesicherten Beschäftigten“ tätig waren. Ein Familienunternehmen in der Größe von Karmann scheint ohne zusätzliche Investoren ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr in der Lage zu sein, starke Auftragsschwankungen oder –einbrüche überbrücken zu können, wenn es keine Kompensationsmöglichkeiten gibt.
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Studien zur Veränderung der automobilen Wertschöpfungsarchitektur folgend hätte erwartet werden können, dass das Alleinstellungsmerkmal (Kompetenz im Cabriobau / Dachsysteme) ein Fortbestehen des Familienunternehmens trägt. Dabei wäre eine Konzentration auf den Wandel zum Zulieferer notwendig gewesen. Die Entwicklung und Produktion von Dachsystem-Varianten passt zum Trend der Modulbauweise. In diesem Bereich konnte das Unternehmen die Marktführerschaft behaupten. Allerdings hätte dies ausreichen müssen, um einen Fahrzeugbau mitzutragen, der aufgrund der genannten Entwicklungen (Standortsicherung, Veränderung der Produktionstechnik, Stellenwert der eigenen Produktion für die OEM) unter schwierigeren Bedingungen hätte konkurrieren müssen. Die zusätzlichen Probleme bei der Aufrechterhaltung von Kooperationen, die wechselseitiges Vertrauen prägte, schwächten die Aussichten auf künftige Aufträge durch OEM, die ein Interesse an der Auftragsfertigung hätten. Die Entscheidung zur kompletten Aufgabe des Fahrzeugbaus schien zur Rettung der übrigen Unternehmensteile nicht möglich gewesen zu sein – war doch in Werkshallen, Maschinen, Anlagen (Lackieranlage) u.ä. das meiste Kapital gebunden. Die Struktur der Unternehmensorganisation und die Interessen der entscheidenden Akteure (Geschäftsführer, Eigentümerfamilie, regionale Politik, Arbeitnehmer) scheinen zu einer Trägheit und Entscheidungsunfähigkeit geführt zu haben, die eine Durchführung verschiedener, aufeinander abgestimmter Veränderungsschritte und damit einen Fortbestand verhinderten.
5.1.4
Ausblick – Perspektiven für die Wilhelm Karmann GmbH
Für das Osnabrücker Unternehmen Karmann prägten über Jahre Kontinuität und Wachstum die Entwicklung, wenngleich konjunkturelle Schwankungen diese begleiteten. Auslandsinvestitionen erfolgten zunächst „kundengetrieben“ und stärkten den Heimatstandort. Die Kooperation zwischen Karmann und „den Großen“, den OEM, lassen sich
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als langfristig gewachsene Kooperationen charakterisieren (VW/Audi, Porsche, Ford, Mercedes; später: DaimlerChrysler, Renault, Nissan). Das Osnabrücker Unternehmen spezialisierte sich auf ein differenziertes, singuläres Produkt in der Nische (Cabriolet) und besticht durch Alleinstellungsmerkmale in diesem Segment. Als überaus entscheidend für die (weiteren) Perspektiven der Unternehmens erwiesen sich die Strategien der OEM über die Auftragsvergabe einzelner Modelle. In dem Moment, in dem die OEM sich gegen eine Auslagerung von Fahrzeugproduktionen entschieden hatten, verlor der Auftragsfertiger seine Funktion. Überkapazitäten der OEM zwangen zu Restrukturierungsmaßnahmen, diese wiederum führten vor allem bei den deutschen Automobilunternehmen zur Aushandlung von Standortsicherungsvereinbarungen zwischen Unternehmensleitung und Betriebsräten. Die Beschäftigten ließen sich auf Einsparmaßnahmen und Kürzungen ein zugunsten einer einstweiligen Absicherung von Arbeitsplätzen im Unternehmen. Die Kombination aus Standortsicherungsvereinbarung und der technischen und produktionsorganisatorischen Möglichkeit, Fahrzeuge in kleinen Stückzahlenumfängen auch in den Werken der OEM bauen zu können, nahm dem Osnabrücker Auftragsfertiger sein Marktsegment. Insofern lag das Fehlen von Produktionsaufträgen nicht direkt an einem Rückgang der Nachfrage für die spezifischen Produkte (z.B. Cabriolets), sondern hinsichtlich der Produktnachfrage mittelbar an der gesamten Marktsituation, konjunkturellen Schwächen der OEM und dem hohen Maß an Unsicherheit, Nachfragepotentiale passen einzuschätzen – Faktoren, durch welche sich die OEM veranlasst sahen, Beschäftigung abzubauen oder als Alternative Konzessionen von den Beschäftigten zu verlangen, um Kosten zu senken. Im Verlauf der Zeit veränderte sich die Rolle und damit auch die Verhandlungsposition des Auftragsfertigers gravierend: Zunächst bot er Produkte mit bestimmtem Nischenmerkmal an, deren Produktion er im Auftrag des OEM ausführte. Dabei gab es keine Konkurrenz mit dem OEM, da dieser (technisch und organisatorisch) keine eigenen Ka-
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pazitäten nutzen konnte, um die kleine Serie bzw. das Nischenprodukt herzustellen. Die Krisensituation ergab sich nun daraus, dass der OEM selbst Produkte mit Nischenmerkmal bzw. Kleinserien herstellen konnte und eigene Überkapazitäten die Kosten für eine externe Lösung erhöhten. Im Vorfeld der Entscheidung zur Produktion eines neuen Fahrzeugs konnte der OEM das Angebot des Auftragsfertigers nutzen, um seine eigenen Werke hinsichtlich ihrer Kostenstrukturen unter Druck zu setzen. In dem Moment, in dem Karmann das Geschäftsfeld Fahrzeugproduktion nicht weiter betreiben konnte, entfiel für die OEM diese Wettbewerbsoption. „Denn die Chance, die auch die Hersteller in der Vergangenheit genutzt haben, ihre eigenen Fabriken unter Druck zu setzen, die geht ja auch mit weg.“ (Interview U1/Geschäftsführung). Insofern konnte dem Auftragsfertiger vormals eine Wettbewerbsfunktion zugeschrieben werden, die möglicherweise nicht auf den ersten Blick erwartbar scheint. Allerdings motivierte diese Wettbewerbskonstellation die OEM nicht, für die „Existenzsicherung“ der Gesamtfahrzeughersteller zu sorgen. Auch wenn diese Forderung vielfach an die OEM gestellt wurde, entsprachen sie ihr nicht durch Auftragsvergabe an die Unternehmen des Segments. Die Analyse der Unternehmensentwicklung verdeutlichte, dass Karmann in der existenzgefährdenden Krise ab 2004 zwei Strategien verfolgte, um sich neu zu positionieren: Die höherwertigen Dienstleistungen wurden am Heimatstandort festgehalten, der Unternehmensbereich „Technische Entwicklung“ auch personell ausgebaut. Gleichzeitig betrieb das Unternehmen sowohl für die Produktionsbereiche, in denen es Aufträge gab (z.B. im Fall des Standortes Polen I), als auch aus eigenem Antrieb (Polen II, Portugal) Auslandsstandorte, um von geringeren Lohnkosten zu profitieren. Der Ausbau des Unternehmensbereichs „Dachsysteme“ (Dachcenter) entsprach dieser Logik, da das Unternehmen auch hier insbesondere die höherwertigen Dienstleistungen stärkte und auf Entwicklungskompetenz – und deren Konkurrenzfähigkeit – setzte. Der Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften erhöhte sich, was zu gewissen Schwierigkeiten insbesondere dann führte, als
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sich – wie im Fall Karmann – die Schlagzeilen über wirtschaftliche Probleme des Unternehmens mehrten. Das Unternehmen beklagte eine hohe Fluktuation von hochqualifizierten Beschäftigten und das Problem, beispielsweise Hochschulabsolventen aus Süddeutschland für eine Beschäftigung in Osnabrück zu gewinnen. Der Fahrzeugbau am Standort Osnabrück bildete gewissermaßen den Kern, das Herz des Unternehmens als die Unternehmenssparte, in der die meisten Mitarbeiter beschäftigt und in der die umfangreichsten Investitionen gebunden waren (Maschinen, Anlagen, Lackieranlage). Gleichzeitig spielte der Fahrzeugbau eine – wenn nicht die – entscheidende Rolle für die Innovationsfähigkeit, Expertise und Kompetenz der Technischen Entwicklung. Dabei bestand eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Produktion und Technischer Entwicklung. Das Unternehmen hielt lange daran fest, die Gesamtfahrzeugproduktion zu erhalten, und erhoffte sich durch die Einrichtung von Entwicklungsbüros im Ausland – vergleichsweise spät – einen Aufbau von Kontakten und Netzwerken, die zu neuen Aufträgen führten: Die ausländischen Standorte sollten als Brückenköpfe fungieren, die eine Kombination aus Managementfunktionen und technischen Dienstleistungen bieten. Der Erfolg beider Strategien, sofern sie einzeln verfolgt wurden, war höchst voraussetzungsvoll. Eine Kombination beider Strategien schien widersprüchlich und vor dem Hintergrund der sonstigen Rahmenbedingungen des Osnabrücker Unternehmens zum Scheitern verurteilt. Sämtliche Interviews, die zumeist im Jahr 2008 stattfanden, vermittelten den Eindruck eines „hoffnungslosen Optimismus“ – einer diffusen Vorstellung von einem Weg, der das Unternehmen aus der Krise führt, und dem Glauben an ein Weiterbestehen der Fahrzeugproduktion und gleichzeitig der konkreten Darstellung struktureller Probleme, die den Optimismus und die Hoffnung bremsen bzw. immens einschränken. Die Unternehmensentwicklung zeigt, dass das Fehlen neuer Aufträge für den Fahrzeugbau ohne Kompensationsmöglichkeiten durch die anderen Unternehmenssparten letztlich zur Insolvenz des Unternehmens (vgl. Szenario 3, Kapitel 4) führte.
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5 Unternehmensfallstudien
5.2 Unternehmen 2 (Magna) Das heutige Unternehmen MAGNA STEYR Fahrzeugtechnik AG & Co KG (im folgenden: Magna Steyr) blickt auf eine lange Unternehmenshistorie zurück, in der unterschiedliche Betriebe und Unternehmen eine wichtige Rolle spielen – wenngleich erst seit dem Jahr 2001 unter dem heutigen Namen. Die Entstehungsgeschichte begann in vier verschiedenen Unternehmen: der Steyrischen Waffenproduktion in Steyr, der österreichischen Daimler-Fertigung, der Zweirad- und später Automobilwerke von Johann Puch sowie der kanadischen „Multimatic Investments“, später „Magna International“. Vor allem nach der Übernahme durch Magna International gelang es dem Gesamtfahrzeughersteller, eine Reihe von Aufträgen für die Fahrzeugproduktion zu gewinnen und sich zum Nischenproduzenten in großem Maßstab zu entwickeln. Doch auch Magna Steyr leidet unter den Veränderungen des Marktsegments und dem Rückgang an Auftragsvergaben für die Fahrzeugproduktion durch die OEM und sucht nach neuen Perspektiven zur Kompensation verloren gegangener Auftragsvolumina.
5.2.1
Unternehmensentwicklung der Magna Steyr Fahrzeugtechnik AG & Co KG
Unternehmensentwicklung in Phase 1. Vom Zweirad zum Allrad geht es bergauf! Ein Pfeiler des Unternehmens geht auf die „Waffenfabrik und Sägemühle“ zurück, welche die Brüder Josef und Franz Werndl im Jahr 1864 in Steyr (Oberösterreich) gründeten, etwa 180 km nordwestlich von Graz gelegen (vgl. Schilder 1921). Noch im 19. Jahrhundert wurde das Unternehmen als „Österreichische Waffenfabriks-Gesellschaft“ (OEWG)
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in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Vor der Jahrhundertwende begann die OEWG mit dem Bau von Fahrrädern und ab 1916 mit der Produktion von Automobilen. Das Unternehmen beschäftigte einen Automobildesigner, Hans Ledwinka, und widmete sich dem Ausbau der Fahrzeugproduktion, aus der nach dem Krieg das sogenannte „Waffenauto“, der Steyr II, hervorging. In der Folgezeit produzierte Steyr eine Reihe unterschiedlicher Fahrzeugtypen, bis die Weltwirtschaftskrise 1929 auch den österreichischen Automobilbauer traf und die Nachfrage massiv abnahm. Die daraus resultierenden finanziellen Probleme führten zum einen zur Kooperation mit der Schweizer „Solothurn AG“, in der seit den 1920er Jahren die deutsche „Rheinmetall“ den Mehrheitsanteil hielt. Zum anderen half das Joint-Venture mit der „Austro-DaimlerPuch Werke AG“ dabei, das Fortbestehen der Steyr-Werke zu sichern. Das Unternehmen setzte die Waffenproduktion fort, die insbesondere Ende der 1930er Jahre und mit Beginn des Zweiten Weltkriegs an Bedeutung gewann . Die Österreichische „Daimler-Motoren KG“ in Wien, die 1899 gegründet wurde, konzentrierte sich zunächst auf den Zusammenbau von Fahrzeugteilen, die das Daimler-Werk aus Deutschland lieferte. Diese „Daimler-Dependence“ in Österreich stellte die zweite Wurzel des Unternehmens von Magna Steyr dar. Im Jahr 1900 stellte das Unternehmen das erste Fahrzeug her. Der Wechsel der Besitzverhältnisse mündete schließlich in die Gründung einer Aktiengesellschaft unter Federführung des Wiener Bankvereins im Jahr 1910. Dem Ausbau der Automobilproduktion verdankte das Unternehmen eine kontinuierliche wachsende Beschäftigung, die 1913 die Zahl von 1.200 Mitarbeitern erreichte (Mathis 1987). Die Produktion während des Ersten Weltkrieges führte zu einem immensen und kurzfristigen Wachstum der Österreichischen Daimler-Motoren Werke, auf das nach Kriegsende ein entsprechender Rückbau folgte. In Österreich gab es zu dieser Zeit neben den Daimler Werken auch die „Österreichischen Fiatwerke“ sowie die Puchwerke (s.u.). Durch Übernahme der Aktienmehrheit bei Fiat und Puch durch Daimler kam es zunächst zu einer vorläufigen Fusion dieser österreichi-
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schen Automobilwerke. 1927 entstand nach Verkauf der Fiatanteile die „Austro-Daimler-Puchwerke AG“. Aus der Zusammenarbeit mit den „Steyr-Werken“, die zunächst in einer Art Einkaufsgemeinschaft bestand, entwickelte sich eine weitere Annäherung der beiden Unternehmen, die schließlich in eine Fusion mündete. Das neu entstandene Unternehmen verlegte den Produktionsstandort der Daimler-Puchwerke von Wien nach Steyr. Die dritte Basis des Auftragsfertigers begann mit Zweirädern. 1889 gründete Johann Puch die „Syria Fahrradwerke“, aus der die „Erste Steiermärkische Fahrradfabrik Johann Puch AG“ hervorgeht. Auch wenn Johann Puch sein erstes Unternehmen an die Bielefelder Dürkopp-Werke verkaufte, blieb er der Produktion von zunächst Zweirädern treu und gründete 1899 ein zweites Unternehmen. So war mit dem Namen Puch über lange Zeit die österreichische Tradition in Fahrrad-, Motorrad- und später der Automobilproduktion verbunden, die ab 1906 begann (Mathis 1987). Dabei handelte es sich um die „Voiturette“, die in Serie hergestellt wurde, und der „hervorragende Bergsteigeigenschaften“ (Bellmann et al. 2006) zugeschrieben wurden. Als Johann Puch im Jahr 1912 ausschied, beschäftigte das Unternehmen 1.100 Arbeiter, die ca. 16.000 Fahrräder, 300 Motorräder und 300 Autos pro Jahr produzierten (Mathis 1987). Bis in die 1920er Jahre entwickelte und baute das Unternehmen verschiedene Fahrzeugtypen, die vom Arztwagen, über das Coupé und Sportwagen bis hin zu Nutzfahrzeugen reichten. Seit 1928 handelte es sich bei den „Puchwerken“ um die AustroDaimler AG, die später (1935) zur Steyr-Daimler-Puch AG umfirmierte. Das Werk in Graz-Thondorf, in dem bis heute wesentliche Teile der Fahrzeugfertigung durchgeführt werden, betrieb das Unternehmen seit 1941. Der Zweite Weltkrieg nahm auch Steyr-Daimler-Puch für die Kriegs- und Rüstungsproduktion in Beschlag. Zusammenfassung Phase 1 In der Rückschau lässt sich diese erste Phase nicht als eine Entwicklungsphase für das Unternehmen Magna Steyr beschreiben. Bei den Un-
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ternehmen, auf die der spätere Auftragsfertiger zurückgeht, handelte es sich zunächst um Waffen- oder Fahrradhersteller. Der Aufstieg des Automobils und die neuen Fertigungstechniken inspirierten diese Unternehmen, in das neue Geschäftsfeld „Automobil“ vorzustoßen. Möglicherweise aufgrund der geophysischen Besonderheiten im Alpenland spezialisierten sie sich auf bergtaugliche Fahrzeuge, mit denen der Grundstein für die spätere Kompetenz in Antriebstechnologien (Allrad) gelegt war. Auch die österreichischen Fahrzeugbauer widmeten sich im Auftrag des Staates der Kriegs- und Rüstungsproduktion – im Falle des einstigen Waffenherstellers lag dies besonders nah. Als weitere Besonderheit lässt sich die Verbindung zur deutschen Daimler AG herausstellen, die ebenfalls noch lange Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die weitere Unternehmensentwicklung und Fusionen prägte. Abbildung 5-3: Unternehmenshistorie Magna Steyr
(eigene Darstellung)
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Unternehmensentwickung in Phase 2. Durch langfristige Kooperationen zum Erfolg mit geländegängigen Fahrzeugen. Direkt nach dem zweiten Weltkrieg knüpfte Steyr-Daimler Puch Kontakte nach Italien und erhielt den ersten Fertigungsauftrag für Fiat aus Turin. Ledwinka, mittlerweile Leiter der Versuchsabteilung bei Steyr, konstruierte den „U1“ als Zweitakter, der sich mit einer kleineren Version des Fiat 600 kombinieren ließ. Das Unternehmen berichtete aus seiner Historie: „Das Puch-Auto wurde in zwei Karosserievarianten (Zweitürer und Kombi), sowie zwei Motorvarianten (493 und 643 bzw. 660 ccm) angeboten. In den Anfangsjahren war der solide, preiswerte Kleinwagen ein toller Verkaufserfolg, als die Welt bereits nach größeren Autos verlangte, startete das Pucherl eine zweite Karriere als ernsthaftes Sportgerät.“ (Magna International Inc. 2010). Die Kernkompetenz des österreichischen Automobilproduzenten bestand im Allrad-Antrieb: 1958 folgte der Serienstart des Puch Haflingers, der für Steyr-DaimlerPuch zum „Verkaufsschlager“ wurde. Auch der „Pinzgauer“ konnte sich am Markt behaupten – für beide Modelle zeigte sich, dass die Fahrzeuge eine ausgesprochen lange Gesamtlaufzeit hatten (Pinzgauer von 1970-1999) und der österreichische Autobauer damit eine Marktnische für Gelände- und Militärfahrzeuge besetzte. Neben der Konzentration auf Allrad-Antrieb schätzten die Auftraggeber die Fähigkeit im Motoren-Bau, so dass der Fiat beispielsweise ab 1973 das Modell „126“ mit einem Puch-Motor ausstattete. Die lange Tradition der Zweiradfertigung gab das Unternehmen in den 1980er Jahren auf. In dieser Zeit etablierte Steyr-Daimler-Puch eine wichtige Kooperation mit der deutschen Volkswagen AG. Die Österreicher übernahmen die Serienproduktion des VW Transporter T3 (Offroad Transport), der insgesamt 63.915 Mal vom Band lief (Magna International Inc. 2010). Beginnend in den 1970er Jahren entwickelte Steyr-Daimler-Puch gemeinsam mit der Daimler-Benz AG einen Geländewagen. Die Serienfertigung des „Geländewagen G“ startete 1979. Von diesem „Mercedes-
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Puch“-Modell wurden bis zum Ende der Serienfertigung im Jahr 1999 140.000 Exemplare hergestellt. Als weitere Auftragsfertigung übernahm Steyr-Daimler-Puch den „Jeep Grand Cherokee“ und unterstrich damit seine Fertigungskompetenz für Geländefahrzeuge. Zwar nicht als Geländewagen, aber in der Kategorie „Allradantrieb“ produzierte das Grazer Unternehmen ab 1996 die Baureihe „4Matic“ der MercedesBenz-E-Klasse und ergänzte damit die Auftragsfertigungen aus der Produktpalette des deutschen Premiumherstellers. Als viertes Unternehmen und heutiger Namensgeber ist auf „Magna International“ zu verweisen. Die Gründung dieses Unternehmens fiel in die zweite Phase, weshalb eine kurze Erläuterung an dieser Stelle erfolgt. Die Geschichte des Unternehmensgründers könnte den Titel tragen „vom Tellerwäscher zum Millionär“: Der Österreicher Franz Strohsack wanderte in den 1950er Jahren nach Kanada aus und gründete dort als Frank Stronach das Unternehmen „Multimatic Investments“, um Werkzeuge an die Automobilindustrie zu liefern. Nach erfolgreicher Unternehmensentwicklung und der Fusion mit „Magna Electronics“ benannte er das Unternehmen 1973 in „Magna International Inc.“ um. Dieses Unternehmen konnte sich zum führenden Zulieferer („mega-supplier“) der internationalen Automobilindustrie entwickeln Zusammenfassung Phase 2 Sollen typische Merkmale des österreichischen Fahrzeugbauers für die Phase zwischen den 1950er und den 1990er Jahren genannt werden, so könnten diese „Konzentration“ und „Langfristigkeit“ lauten. Das Unternehmen firmierte – wie in Abbildung 5-3 dargestellt – unter dem Firmennamen „Steyr-Daimler-Puch“ und baute seine bisherigen Kooperationen und Kompetenzen sukzessive aus. Zum einen gewann der Automobilproduzent an Bekanntheit durch seine speziellen Technologien zum Allrad-Antrieb. Zwei Fahrzeugmodelle, die mit diesem Antrieb ausgestattet waren, sorgten für eine kontinuierliche Auslastung der Produktionskapazitäten. Die Fahrzeugfertigung wurde ergänzt durch den Bau von Kleinwagen für den italienischen Fiat-Konzern, mit dem
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der österreichische Autobauer eine langfristige Kooperation pflegte. Darüber hinaus gelang es ihm auch, eine Kooperation mit der Volkswagen AG zur Serienproduktion einer besonderen Variante des VW Transporter sowie mit Audi eine solche für den Bau des Audi V8L zu etablieren. Einen besonderen Erfolg, der lange anhielt und für das Fortbestehen des Unternehmens auch später von entscheidender Bedeutung ist, bescherte die Geländewagenfertigung für Daimler-Benz. Das Stichwort „Konzentration“ bezieht sich auf die technologische Kompetenz und das Besetzen der Nische Allradantrieb, von Langfristigkeit sind die Kooperationen insbesondere zu Daimler und Fiat geprägt. Unternehmensentwicklung in Phase 3. Ernüchterung nach der Erfolgsfahrt zum größten Auftragsfertiger. Der aktuelle Firmenname des österreichischen Auftragsfertigers „Magna Steyr“ geht auf die Übernahme der Aktienmehrheit durch „Magna International Inc.“ im Jahre 1999 zurück. Das kanadische Unternehmen investierte in den österreichischen Auftragsfertiger und gründete zwei Jahre später die „Magna Steyr AG & Co KG“ als eigene Sparte unter dem Dach der kanadischen Holding. Ein Jahr später übernahm das Unternehmen das Grazer „Eurostar“ Werk, das von Chrysler 1990/1991 für die Produktion des Voyager errichtet worden war. Der amerikanische Konzern stellte in den 1990er Jahren in Graz in einem Joint-Venture mit „Steyr-Daimler-Puch Fahrzeugtechnik“ insgesamt über 53.000 Fahrzeuge (p.a.) mit ca. 1.500 Mitarbeitern her. Nach einigen Verhandlungen zwischen Daimler Chrysler und Magna Steyr übernahm Magna das Eurostar-Werk im Jahr 2002 und führte dort die Produktion des Chrysler Voyager fort (Bellmann et al. 2006). In der jüngeren Unternehmensgeschichte verbuchte Magna Steyr einige Erfolge bei der Akquise neuer Gesamtfahrzeugproduktionen. So startete 2003 die Fertigung des Saab 9-3 Cabriolet sowie des BMW X3. Neben dem Karosseriebau (Cabriolet) und Allradantrieb gewann Magna Steyr mit der Übernahme von „Tesma International Inc.“ Kompe-
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tenzen im Bereich von Tanksystemen hinzu. Im Jahr 2005 verkündete der damalige Vorstandschef von Magna Steyr, Manfred Remmel, eine strategische Wende durch die Übernahme von Massenmodellen. Fielen die bisherigen Auftragsfertigungen in den Nischensektor der Automobilproduktion mit – vergleichsweise – geringen Stückzahlen in der Serienfertigung, so erreichte das Grazer Werk mit der Produktion des „Chrysler 300C“ ab Juni 2005 neue Dimensionen. Der Gesamtfahrzeughersteller übernahm einen Teil der Serienproduktion für den amerikanischen Automobilkonzern, da dessen Kapazitäten für das Modell erschöpft waren: Es handelte sich demnach um die Variante des „peak shaving“ (vgl. Handelsblatt 2005a). Ein Jahr später sah sich das Unternehmen gezwungen, Stellen im Grazer Werk abzubauen. Die Rückverlagerung der Mercedes E-Klasse (4Matic) in das Stammwerk von Daimler nach Sindelfingen führte zur Entlassung von 500 Leiharbeitern. Gleichwohl vermeldete das Unternehmen, dass es im Jahr 2006 der Produktionsrekord von 240.000 Fahrzeugen erreicht (osterreich.orf.at 2009). Auch der österreichische Auftragsfertiger spürte die große Abhängigkeit von OEM. „Hat Chrysler einen Schnupfen, geht das dem Zulieferer Magna an die Nieren“, schrieb das Handelsblatt vom 12.03.2007 (Stock 2007). Dieser Zusammenhang galt für den gesamten Magna Konzern, da Magna International insbesondere in Nordamerika sehr eng als wichtiger Zulieferer mit Chrysler zusammenarbeitete. Gleichzeitig bestand die enge Kooperation von Daimler Chrysler und Magna Steyr in Europa, die in Schwierigkeiten geriet, als Daimler eine Trennung von Chrysler in Betracht zog. Doch zunächst blieb es bei der Auftragsfertigung für den angeschlagenen amerikanischen Konzern. Magna Steyr stellte seine Kompetenz auch im Bereich der Entwicklungsdienstleistungen heraus. So präsentierten die Österreicher im März 2007 in Genf den „Mila“ als Sportwagen mit variablem Dachsystem (Grünweg 2007). Einen Monat später kündigte das Grazer Unternehmen die Produktion des offenen Sportwagen „X-Bow“ an, der in Kooperation mit dem oberösterreichischen Motorradhersteller KTM produziert werden sollte. Die Planungen für dieses Fahrzeug beliefen
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5 Unternehmensfallstudien
sich auf einen Serienumfang von 1.000 Einheiten pro Jahr (Wiener Zeitung 2007). Allerdings entschied KTM wenig später, die Produktion der Kleinserie zwar in Graz, allerdings in einem eigenen kleinen Werk in Eigenregie durchzuführen (Schmudermaier 2008). Mit dem Auftrag für den Mini „Countryman” gelang Magna Steyr im Jahr 2007 ein großer Erfolg. Für diese Produktion wurde ein jährlicher Umsatz von einer Milliarde US$ erwartet, sobald das Programm die Vollproduktion erreichte (Magna International Inc. 2007), die 60.000 (- 80.000) Stück entsprach. Für dieses Fahrzeug baute das Unternehmen in Graz eine neue Produktionslinie auf der Basis des 1er-BMW auf. Bei dieser Auftragsfertigung handelte es sich wiederum um ein AllradFahrzeug, was der besonderen Expertise von Magna entsprach. Trotz dieses Erfolgs berichtete die Presse 2007 über einen Produktionsrückgang von 25%, der insbesondere auf das Auslaufen der Chrysler Voyager Produktion sowie die Rückverlagerung der Mercedes E-Klasse zurückzuführen war. Daher war der österreichische Gesamtfahrzeughersteller dringend auf Folgeaufträge angewiesen (Leban 2007). Neben der Fertigung des BMW-Countryman beschäftigte sich das Grazer Unternehmen mit dem Bau des „Aston Martin Rapide“, der als Luxuscoupé ein Prestigeprojekt des Auftragsfertigers darstellte. Von diesem Fahrzeug sollten etwa 2.000 Stück pro Jahr gefertigt werden. Wegen fehlender Kapazitäten im Aston Martin Firmensitz Gaydon entschied sich die britische Luxusmarke für eine Verlagerung nach Österreich. Neben diesem Nischenfahrzeug gewann Magna im Sommer 2008 den Auftrag für ein neues Sportcoupé des französischen Herstellers Peugeot, Damit erhoffte sich das Unternehmen, die Produktion des BMW X3 ersetzen zu können, der ab 2010 in den USA produziert werden sollte. Ab 2010 baute Magna Steyr das Peugeot Sportcoupe 208 RCZ und produzierte davon voraussichtlich 17.000 Stück pro Jahr (oesterreich.orf.at 2008a). Überraschend zog Porsche im Juni 2008 die Auftragsvergabe für die neuen Modelle des Porsche Boxster/Cayenne und des Cayman von Valmet in Finnland ab und übertrug Magna die Verantwortung für die-
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se Fahrzeuge ab 2012 (Baeuchle 2008). Als Begründung führte der Premiumhersteller aus Zuffenhausen an, Magna Steyr habe „das finanziell attraktivste Angebot“ gegeben, und könne aufgrund großer Flexibilität schwankende Auftragszahlen kompensieren. So vereinbarten die beiden Unternehmen eine Vertragslaufzeit von acht Jahren. Porsche verfolgte seit vielen Jahren die Strategie, alle Produktionsreihen auszulagern, die aus Kapazitätsgründen nicht im Porschestammwerk gebaut werden konnten. Für die Fertigung des Boxster und des Cayman plante Porsche, Motoren und diverse Komponenten zu liefern (Baeuchle 2008, oesterreich.orf.at 2008b). Zwei einschneidende Veränderungen in der Branche gaben Anlass zur Verunsicherung, ob es tatsächlich zu einer Porsche-Produktion in Graz käme: Das Bestreben des Mutterkonzerns „Magna International“, Opel zu übernehmen, verstimmte die Konkurrenten in der Branche, so auch Porsche. Außerdem verlor Porsche im November 2009 die Eigenständigkeit und wird Teil des VW-Konzerns. Volkswagen entschied sich für die Übernahme der Fahrzeugbausparte vom Magna-Konkurrenten Karmann in Osnabrück und gewann dadurch neue Produktionskapazitäten, die der Wolfsburger Konzern möglicherweise künftig auch mit der Produktion von Porsche-Modellen nutzen würde. Im November mehrten sich die Berichte, Porsche wolle Magna den Auftrag entziehen und die Fertigung in Stuttgart/Zuffenhausen bzw. Osnabrück durchführen (sueddeutsche.de 2009). Der schwedische General-Motors-Tochtergesellschaft Saab geriet im Zuge der Wirtschaftskrise in arge Bedrängnis. Dies gefährdete auch die Auftragsfertigung, die Magna Steyr seit 2003 für Saab in Graz durchführte. Die Stückzahlen des Saab Cabrio 9-3 gingen bereits 2008 auf 5.000 Stück zurück, zu Beginn des Jahres 2009 stoppte der Grazer Automobilbauer die Produktion und führte für die Mitarbeiter Kurzarbeit ein. Die Produktion von Elektroautos sollte sukzessive freie Kapazitäten auffüllen, die durch Auslaufen von Aufträgen entstanden. Das Projekt „Elektroauto“ richtete sich in erster Linie an die technische Entwicklung, um sowohl allgemein neue Antriebe, wie Elektro und Wasserstoff zu erforschen, als auch eine leistungsstarke Lithium-Ionen-Bat-
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terie auf den Markt zu bringen (kleinezeitung.at 2009, oesterreich.orf.at 2008c). Im Frühjahr 2009 sorgte ein Vorstoß des Managements von Magna Europa für Aufruhr, der die Angestellten zum Gehaltsverzicht aufforderte. Als Ausdruck der Solidarität mit den Kurzarbeitern sollten Angestellte an einem Sparmodell mitwirken, das folgende Kürzungen vorsah: „Wer ein Jahreseinkommen von bis zu 50.000 Euro brutto hat, soll auf fünf Prozent seines Lohns verzichten. Dann steigt der Verzicht mit jeder 10.000-Euro-Stufe um 1,5 Prozent an. Wer also bis 60.000 Euro verdient, verzichtet auf 6,5 Prozent, bis 70.000 auf acht Prozent und so weiter bis zu einer Obergrenze von 20 Prozent.“ (oesterreich.orf.at 2009).
Der Betriebsrat lehnte den Vorschlag mit dem Verweis ab, dass keine Aufträge oder zusätzliche Arbeitsplätze durch die Maßnahme zu erwarten seien (diepresse.com 2009). Im September verschärfte sich die Situation für den österreichischen Gesamtfahrzeughersteller. Nach der Übernahme von Chrysler durch Fiat kündigte Fiat-Chef Marchionne an, die europäischen Chrysler-Modelle fortan in Italien statt in Graz fertigen zu lassen. Der massive Rückgang der Produktionszahlen für Chrysler in der Vergangenheit zwang den Auftragsfertiger in Graz zu umfangreichem Beschäftigungsabbau. Nachdem er in den Jahren 2004 und 2005 noch ca. 9.000 Mitarbeiter beschäftigte, verzeichnete er im Jahr 2009 eine Beschäftigtenzahl von ca. 5.500. Zusammenfassung Phase 3 In der dritten Phase, die mit dem Einstieg des austro-kanadischen Zulieferunternehmens Magna International begann, spürte der österreichische Autobauer die ausgeprägten konjunkturellen Schwankungen, die für das Segment der Auftragsfertiger typisch sind. Nach der immensen Steigerung von Produktionsumfängen und Beschäftigungsvolumen traf der Abschwung, der sich durch die Wirtschaftskrise 2008/2009 und die Turbulenzen um eine mögliche Übernahme von Opel durch den Mutterkonzern von Magna Steyr verstärkte, den Grazer Auftragsfertiger be-
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sonders massiv. Gleichwohl dominierte das Unternehmen insbesondere seit Mitte der 2000er Jahre als führender und größter Gesamtfahrzeughersteller die europäischen Konkurrenz. Kontinuierlich sorgte die enge Verbindung und langjährige Kooperationsbeziehung zu Daimler Benz für Fertigungsaufträge und wichtige Projekte, die weite Kapazitäten des Grazer Produktionsstandortes auslasteten. Hinzu kam nach der Fusion von Daimler und Chrysler der vermeintliche „Glücksfall“ eines Volumenmodells, das für zusätzliche Arbeitsplätze in der Fertigung sorgte. In diesem Fall führte jedoch die Marktschwäche des Auftraggebers zu Umsatz- und Produktionseinbrüchen beim Gesamtfahrzeughersteller. Anders schien zunächst die Kooperation mit BMW zu verlaufen: Der X3 entwickelte sich zum „Verkaufsschlager“ in seinem Marktsegment und übertraf die Erwartungen. Allerdings erwies sich auch diese Kooperation als endlich, da BMW das Nachfolgemodell des X3 ab 2011 in den USA bauen lässt. Die Verbindung mit dem bayrischen Automobilhersteller blieb mit dem Auftrag für den „Countryman“ (Projektbezeichnung: Colorado) jedoch bestehen, so dass Magna statt des Geländewagens (X3) einen Mini-SUV in die Produktpalette der Gesamtfahrzeuge mit aufnahm. Die starken konjunkturellen Schwankungen versuchte der Grazer Autobauer dadurch abzufedern, dass er ca. 10% der Beschäftigung über Leiharbeit organisierte. Wie sich insbesondere nach Rückverlagerungen und Kürzungen der Produktionsumfänge im Zuge der Wirtschaftskrise 2008/2009 zeigte, reichte der Leiharbeitsanteil als „Flexibilitätspuffer“ jedoch nicht aus, so dass auch Teile der Stammbelegschaft von Entlassungen betroffen waren.
5.2.2
Rahmenbedingungen in schwierigen Zeiten für die Auftragsfertigung
Obwohl Magna Steyr Erfolge durch die Akquise neuer Produktionsaufträge verzeichnete, kämpfte auch das österreichische Unternehmen in einem zunehmend schwierigen Marktsegment. Um die Unternehmens-
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5 Unternehmensfallstudien
entwicklung im folgenden differenziert analysieren zu können, gilt es die Besonderheiten hinsichtlich der Unternehmensstandorte sowie der Entwicklung der Beschäftigtenzahlen vorzustellen. Daran zeigen sich charakteristische Merkmale des österreichischen Auftragsfertigers, die es von den Konkurrenten – insbesondere vom Osnabrücker Unternehmen Karmann – stark unterscheiden. Die Reaktion und Einflussnahme der Politik auf Unternehmensentscheidungen, die für Karmann angesichts der existentiellen Krise eine besondere Rolle spielte, blieb für Magna Steyr aus, da es keinen Handlungsbedarf zur „Unternehmensrettung“ gibt. Allerdings fand eine umfangreiche Förderung der „Automobilregion Steiermark“ statt, die in der Analyse der Unternehmensentwicklung dargestellt wird. Unternehmensstandorte Das Unternehmen Magna Steyr betreibt Standorte in Europa, Asien und Nordamerika. Ausschließlich das Werk in Graz übernahm und übernimmt die Gesamtfahrzeugproduktion. Das Unternehmen verfügt über keine „kundengetriebenen“ Standorte bzw. baute keine Werkstätten auf, um für einen Kunden die Produktion an einem anderen Ort als Graz durchzuführen. Aus Sicht des Unternehmens lohnte es sich nicht, ein Werk in Kundennähe aufzubauen, um dort Serien in der Größenordnung von 20.000 Einheiten zu produzieren (vgl. Interview U2/ Strategie2, U2/Strategie1). Die übrigen Standorte gehören zu den Bereichen „Engineering“, „Vertrieb“ und „Module“. Ingenieurbüros (Engineering) befinden sich am Standort Graz sowie in Wolfsburg und Ingolstadt, in Paris, Györ, in Pune und in Detroit. Die geographische Verteilung verrät das Motiv für die Investition in diese Standorte: Magna Steyr sucht mit hochqualifizierten technischen Mitarbeitern die Nähe zu Kunden und potentiellen Auftraggebern. Vertriebsstandorte betreibt das Unternehmen in München, Sindelfingen und Wolfsburg für die deutschen OEM, in Birmingham sowie Tokio, Seoul und Shanghai als Brücke für den asiatischen
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Markt. Darüber hinaus investiert Magna in Produktionsstandorte zur Modulfertigung in Grevenbroich, Albersdorf, Weiz und Sinabelkirchen. Magna Steyr plante eine Kooperation mit AvtoVaz (Lada) im Rahmen der Errichtung einer Fertigungsstätte im Lada-Stammwerk in Tolgiatta an der Wolga, um dort jährlich 450.000 Autos herzustellen. Die Planungen zielten auf einen Beginn der Montage im Jahr 2009 – allerdings scheitern diese Pläne, nach dem Einstieg von Renault bei AvtoVaz. Renault beteiligt sich mit 25% an dem Lada-Hersteller (automobilindustrie 06.02.2008). Entwicklung der Beschäftigtenzahlen Die Schwierigkeiten in der Automobilindustrie und speziell im Segment der Auftragsfertiger lösten einen Beschäftigungsabbau auch bei Magna Steyr aus. So arbeiteten in dem Unternehmen im Jahr 2009 weniger als 6.000 Beschäftigte, während es in Spitzenzeiten über 9.000 Mitarbeiter verzeichnen konnte. Die Beschäftigungsstruktur lässt sich anhand der Daten aus dem Jahr 2007 veranschaulichen: Das Beschäftigungsvolumen befand sich in dem Jahr mit 7.500 Mitarbeitern noch auf einem relativ hohen Niveau, allerdings beschäftigte Magna Steyr 10% dieser Personen als Leiharbeiter. Gleichzeitig suchte auch der österreichische Auftragsfertiger nach flexiblen Beschäftigungsmodellen. Kündigungen wurden mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer „atmenden Fabrik“ ausgesprochen, die erste Kündigungsrunde startete im November 2007. Das Ende eines Modellzyklus in der Produktion erforderte aus Sicht des Unternehmens Flexibilitäten beim Kapazitätsabbau (Pichlmair 2007). Wegen der rückläufigen Produktionszahlen für die Chrysler-Modelle kündigte das Unternehmen an, bis Ende des Jahres 2007 1.000 Leiharbeitsplätze abzubauen (Kleine Zeitung 2007). Als das Werk im Jahr 2008 keine Leiharbeiter mehr beschäftigte, betraf der Beschäftigungsabbau die Stammbelegschaft. So entließ der Grazer Auftragsfertiger im August des Jahres 600 Mitarbeiter und plante, zu Beginn des Folgejahres weitere 150 bis 200 Arbeitsplätze abzubauen. Erneuert begründete das Unternehmen
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diese Entscheidung mit den Absatzproblemen der Chrysler-Produktion (DiePresse.com 2008). Die Unternehmensleitung befasste sich mit neuen Strategien, die nicht mehr ausschließlich auf die Fertigung von Komplettfahrzeugen ausgerichtet waren (handelsblatt 23.11.2007). Eine zweite Kündigungsrunde folgte im August 2008, gleichzeitig wurde die Entwicklungsabteilung durch Einstellung von 250 Ingenieuren ausgebaut. Der Beschäftigungsabbau umfasste die Streichung von 600 Stellen – je nach Berichterstattung handelte es sich auch um 700 Arbeitsplätze, manche sprachen sogar von 850 bis 3000 gefährdeten Arbeitsplätzen. Die Zahl ergab sich aus ca. 350 Leiharbeitern und 250 bis 350 Stammarbeitern, die bis zum Herbst 2008 den Konzern verlassen sollten. Ein schrittweiser Beschäftigungsabbau folgte 2009 für die Stammbelegschaft. Im September 2008 verkündete der Magna-Steyr Vorstand Apfalter optimistisch, dass es sich bei dieser Kündigungswelle um eine „Einmal-Maßnahme“ handele, da es anschließend wieder sukzessiv aufwärts gehe (news.at 2008a). Bereits im Oktober 2008 sah sich der Grazer Auftragsfertiger jedoch erneut gezwungen, weitere Kapazitäten zu reduzieren, indem ab November für 2.616 Mitarbeiter Kurzarbeit eingeführt wurde. Der Landeshauptmann der Steiermark sicherte dem Unternehmen und seinen Beschäftigten Unterstützung zu, um einen „möglichst hohen Ausgleich in Sachen Nettogehalt“ zu erreichen (news.at 2008b, siehe auch Financial Times Deutschland, diepresse.com 2008). Das gekündigte Stammpersonal wurde in eine bestehende Stiftung eingegliedert, die das Land Steiermark mit 490.000 Euro und MagnaSteyr mit 600.000 Euro unterstützte. Die Mitarbeiter sollten sich solange in der Stiftung weiterbilden, bis Magna Steyr sie 2010 wieder einstellen würde, wenn die neue Produktion anliefe (Die Presse 26.08.2008, ORF 26.08.2008). Abbildung 5-4 veranschaulicht die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen und die Auftragssituation anhand der jährlichen Produktionszahlen. Dabei fällt auf, dass das österreichische Unternehmen ein enormes Wachstum zwischen 2003 und 2004 verzeichnete. Im Inter-
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view mit Magna brachte die U2/Strategie1) dies auf den Punkt:
Interviewpartnerin
(Interview
„[...] momentan [...] schwächelt der Bereich für Contract Manufacturing schon sehr [...] Wenn man sich den Markt wirklich anschaut, ist er im Grunde nur dadurch gewachsen, dass es den BMW X3- Auftrag gegeben hat. [...] Wenn man sich wirklich die Entwicklung anschaut, [dann] hat es den Riesenpeak im Grunde zum einen mit dem Chrysler Voyager [gegeben] , weil Eurostar [...] uns [das] übergeben hat. Und zum anderen durch den X3, der einfach Stückzahlen gebracht hat [...]. Dadurch haben wir eigentlich den gesamten Markt für Contract Manufacturing in Europa auf ein komplett neues Niveau gehoben allein durch zwei Aufträge. Und die sind natürlich über kurz oder lang jetzt weg. Auf Grund der OEM-Entscheidungen.“ (Interview U2/Strategie1)
Magna nutzte Leiharbeiter, um die nötige Flexibilität in der Anpassung des Beschäftigungsvolumens zu erzielen, allerdings reichte dies angesichts des massiven Rückgangs der Stückzahlen nicht aus. Auch Teile der Stammbelegschaft erhielten die Kündigung, so dass die Beschäftigung auf unter 6.000 Mitarbeiter schrumpfte. Im Jahr 2009 weitete sich der Beschäftigungsabbau auf die Abteilung für Forschung und Entwicklung aus. In diesem Bereich beschäftigte das Unternehmen sogenannte „Leih-Techniker“, denen das Unternehmen keine Vertragsverlängerung geben konnte. Die Nachricht über einen „Hoffnungsschimmer“ vermeldete das Unternehmen im Oktober 2009: Magna Steyr erhielt den Auftrag zur Entwicklung und Produktion der Aluminiumkarosserie für den Mercedes-Benz SLS AMG. Die Unternehmensleitung betonte, dass Magna Steyr „der einzige Automobilzulieferer“ sei, „der die Technologie zur Herstellung einer reinen Aluminiumkarosserie“ beherrsche (derStandard.at 2009).
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5 Unternehmensfallstudien
Abbildung 5-4: Entwicklung von Beschäftigtenzahlen und Stückzahlen in der Fahrzeugproduktion
Quelle: jährliche Unternehmensberichte (1999-2008)72
5.2.3
Analyse der Unternehmensentwicklung
Produktnachfrage – Produktionsmodelle Der Ursprung des Unternehmens Magna Steyr verweist bereits auf einen spezifischen Bedarf an Fahrzeugen: Für besonderen Einsatz im Gelände und in den Bergen bewährte sich der Allradantrieb verbunden mit passenden Karosserien für diese Nutzung. Die Nachfrage nach diesen Fahrzeugen entwickelte sich kontinuierlich und erfuhr seit den späten 1990er durch den Trend der „Sport Utility Vehicles“ (SUV) einen besonderen Aufschwung. Diesen erlebte das Unternehmen vor allem im Rahmen der Produktion des X3 für BMW. Darüber hinaus gewann Ma-
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Unternehmensberichte Magna International 1999-2008.
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gna Steyr prestigeträchtige Aufträge für ein Luxusauto (Aston Martin) sowie eines Mini-SUV (BMW Mini Countryman). In der Rückschau auf die produzierten Fahrzeugtypen tritt zunächst der Aspekt der „Nützlichkeit“ in den Vordergrund, wenn es um das besondere Merkmal der Nische geht (Allradantrieb, Geländefahrzeuge). In jüngerer Zeit erkannten OEM darüber hinaus die Fähigkeiten des österreichischen Auftragsfertigers in der Produktion von sportlichen Fahrzeugen, besonderen Karosserievarianten sowie der Kleinserienfertigung von Automobilen aus dem obersten Preissegment. Fahrzeugproduktionen mit Allradantrieb sind die traditionelle Nische von Magna Steyr (bzw. seinen Vorläufer-Unternehmen), hinzu kamen Kleinserien von Luxusfahrzeugen sowie später der Cabriobau, für den das Unternehmen keine historisch gewachsene Nischenkompetenz besitzt. Die verschiedenen Fertigungsaufträge, die der österreichische Automobilbauer von OEM erhielt, lassen sich in zwei Varianten aufteilen: Zum einen handelte es sich um Nischenproduktionen, die bei den OEM „technische Kapazitätsengpässe“ auslösten (vgl. Interview U2/Strategie2). Die Produktion war zu komplex, um sie in die eigene Fertigungslinien zu integrieren, so dass der OEM sich für eine vertikale Desintegration entschied. Für Magna Steyr lässt sich diesbezüglich die Produktion der Mercedes E-Klasse mit Allradantrieb nennen. Die OEM profitierten neben der technischen Kompetenz von einer Kostenteilung im Sinne einer Risikoverteilung. Im Laufe der Zeit verringerte sich das Marktpotential für diese Nischenproduktion, was durch bessere Möglichkeiten innerhalb der Produktionsabläufe der OEM erklärt werden kann, diese Art der Produktion technisch zu integrieren. Ein Interview schilderte diesen Prozess so, dass „sich auf die Dauer [...] herausgestellt [hat], dass all diese Faktoren mehr oder weniger total aufgeweicht werden“. Zudem schränkte eine weitere Branchenentwicklung die Handlungsmöglichkeiten für Auftragsfertiger in der Nische ein: „Das mit dem Kapazitätsengpass [bei technisch anspruchsvollen Serienfertigungen, Anm.d.A.] [...] baut jetzt ab, dieses Argument, weil sich die OEMs jetzt interessanterweise auch untereinander immer besser verstehen. [...] Man sieht ja jetzt schon, dass die immer
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häufiger zusammenarbeiten [und] immer mehr gemeinsam Fahrzeuge bauen. [...] Wozu brauche ich jetzt Magna Steyr, einen Auftragsfertiger? Da arbeite ich lieber gleich mit einem OEM zusammen, weil da bin ich wenigstens auf gleicher Augenhöhe mit ihm.“ (ebd.)
Demnach veränderten sich die „Spielregeln“ in der internationalen Automobilbranche: Konkurrenten werden zu Kooperationspartnern und versuchen, den Herausforderungen des Marktes dadurch zu begegnen, dass sie Synergien untereinander suchen. Denkbar ist im Rahmen dieser Entwicklung, dass zwei oder mehr OEM sich zusammenschließen, um ein eigenes Spezialitätenwerk zu betreiben. Ein anderes Motiv zur Auslagerung von Produktionsumfängen bestand für die OEM dadurch, dass er am Ende eines Modellzyklus schnell auf eine neue Produktion umstellen muss, sich jedoch nicht mehr um die Auslaufproduktion kümmern will. Die Variante „Auslauffertigung“ hatte auch Magna Steyr für die Produktion der „M-Klasse“ (Mercedes) durchgeführt. Der besondere Wettbewerbsvorteil des Grazer Unternehmens bestand darin, innerhalb eines halben Jahres nach Vertragsunterzeichnung die Fahrzeuge an den deutschen OEM zu liefern. Diese Variante der Auftragsproduktion schätzten die Interviewpartner aufgrund der verkürzten Produktlebenszyklen als zukunftsfähig ein (Interview U2/Management). Die tatsächliche Auftragssituation von Magna Steyr zeigt jedoch, dass diese Option von den OEM (bislang) nicht in einem Umfang genutzt wird, der dem Auftragsfertiger eine mittel- bis langfristige Absicherung der Produktionskapazitäten bieten könnte. Ähnliches kann für das Marktpotential des „peak shaving“ beobachtet werden. Ein Interviewpartner schilderte dieses Konzept als theoretische Möglichkeit für ein Motiv der OEM zur vertikalen Desintegration (vgl. Interview U2/Projekt). Allerdings zeigte das Auftragsspektrum von Magna Steyr bislang hier keine praktische Umsetzung. Die Kooperation des Grazer Autobauers mit Chrysler erfüllte einen anderen Zweck als die Beauftragung für eine Nischenproduktion oder Fertigung einer Auslaufserie. Chrysler betrieb kein eigenes Werk in Europa und
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nutzte den Auftragsfertiger für seine „Lokalisierungsstrategie“ zur Erschließung des europäischen Marktes. Der OEM wägte ab, dass es sich nicht lohne, in ein eigenes Werk zu investieren, weshalb der Auftragsfertiger eine interessante und attraktive Alternative darstellte, um trotzdem den regionalen Markt – hier den europäischen Markt – zu bedienen. Diese Variante scheint neben der Übernahme von Auslaufmodellen aus Sicht der Interviewpartner (noch) zukunftsfähig (vgl. Interview U2/Strategie2, U2/Einkauf). Gleichzeitig offenbart sich am Beispiel von Magna Steyr auch die besondere Verwundbarkeit des Auftragsfertigers, wenn er als Teil der Lokalisierungsstrategie Fertigungen übernimmt: Das Volumen eines solchen Auftrags ist zwar beachtlich und fordert umfangreiche Produktionskapazitäten. Entspricht die Nachfrage nach diesem Modell aber nicht den Prognosen des OEM, trägt der Auftragsfertiger die Folgekosten. Die Verringerung der Stückzahlen erfordert Kompensationen durch andere Fahrzeugproduktionen, die gegebenenfalls kurzfristig eingeworben werden müssten. Die Erfahrungen des Grazer Unternehmens zeigen, dass die OEM-Entscheidung über die Auslagerung einer Produktion sehr schwierig vorherzusagen und abzuschätzen ist. In der Gegenüberstellung unterschiedlicher OEM und ihrer Auslagerungs„Kulturen“ für Nischenfertigungen und Kleinserien gaben die Interviewpartner zu bedenken, dass in dieser Frage keine generellen Trends zu beobachten wären: „Ich glaube, dass das [Auftragsfertigung, Anm.d.A.] immer noch Zukunft hat, aber [...] das kommt drauf an, wie das Industrialisierungskonzept beim Kunden gerade aussieht. [...] Das geht irgendwie so in Wellen.“ (Interview U2/Strategie2). Auch Magna Steyr verwies auf die Überkapazitäten der OEM, die zu einer Rückverlagerung führten und das Marktpotential verringerten. Neben konjunkturellen Schwankungen, die direkt die Nachfrage nach bestimmten Produkten betrafen, erschwerte diese Unberechenbarkeit der Entscheidungen durch die OEM die Situation der Auftragsfertiger. Darüber hinaus erforderten die Kooperationen ein Vertrauen des OEM in die Fähig-
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keiten und Zuverlässigkeit des Auftragsfertigers, so dass kurzfristige Aufträge als unwahrscheinlich dargestellt wurden. Gesellschaftliche Anforderungen an die Produkte und an das Unternehmen Magna Steyr entdeckte das Geschäftsfeld „Elektroauto“ und nutzte diesen Trend zur Entwicklung alternativer Antriebstechnologien. Allerdings zeigte sich am Beispiel der Kooperation in diesem Bereich und der Zurücknahme eines Produktionsauftrags für die Kleinserie des XBow, dass es sich um ein sehr junges und unbeständiges, wenig verlässliches Segment handelt, das im Verhältnis zu gewohnten Produktionsumfängen und Auftragsvolumina für die Gesamtfahrzeugherstellung noch keine herausgehobene Rolle spielen kann. In diesem Geschäftsfeld gibt es (noch) keine Aufträge von den „alten“ OEM, hier übernahm der Auftragsfertiger bislang die dominierende Rolle und suchte sich gegebenenfalls einen Kooperationspartner mit ergänzenden Kompetenzen. Die Entscheidung für eine Verlagerung von Produktion an Magna Steyr durch die OEM fiel aufgrund der besonderen Nischenkompetenzen auch für Oberklasse-Fahrzeuge. Dabei handelte es sich um jene Autos, die im Produkt-Portfolio der OEM die höchsten CO2Emissionswerte verzeichnen. Insofern spielten gesellschaftliche Anforderungen an die Produkte des Auftragsfertigers – mit Ausnahme der Elektrofahrzeuge als Nische – bei einer Rückschau auf die bisherigen Aufträge keine entscheidende Rolle. Auf Veränderungen dieser Situation machten die Interviewpartner aufmerksam. Obwohl es sich noch um „freiwillige Selbstverpflichtungen“ der Automobilhersteller handelt, stehen die Produzenten unter gewissem Druck: Jene OEM, die insbesondere Fahrzeuge mit hohen CO2-Emissionswerten anbieten, werden aufmerksam und kritisch beäugt. Solange sie nicht durch gesetzliche Vorgaben zur Veränderungen der Motorisierung ihrer Fahrzeuge verpflichtet sind, geht es zwar „nur“ um eine Image-Frage. Jedoch scheint es leichtfertig zu sein, dieses Thema zu ignorieren. Magna Steyr griff die Forderung nach klimafreundlichen Antriebstechnologien als Perspektive auf, um den OEM entsprechende Konzepte für Fahrzeuge mit alter-
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nativen Antriebstechnologien anzubieten. Eine Expertin erläuterte, dass der Auftragsfertiger gefordert ist, Trends zu erkennen, die auch mit gesellschaftlichen Anforderungen zusammenhängen und „proaktiv auf den Kunden zuzugehen“ (Interview U2/Strategie1). Trotz der Abhängigkeit vom OEM, der über Fahrzeugtypen und –modelle entscheidet und die Produktion dieser Autos dann möglicherweise vergibt, zeigte das Unternehmensbeispiel Magna Steyr gewisse Gestaltungsspielräume und Einflussmöglichkeiten. Inwieweit diese sich als erfolgreich erweisen, bleibt ungewiss, da bislang kein solches Fahrzeug mit alternativen Antriebstechnologien vom OEM an den Grazer Auftragsfertiger vergeben wurde. Arbeitskräftepotential Die Kontinuität des Grazer Standortes stützte sich durch die lange industrielle Tradition in der Produktion auf ein entsprechendes Arbeitsbzw. Fachkräftepotential. Das hohe Qualifikationsniveau der Beschäftigten und die damit verbundene Flexibilität in der Produktion sicherte die Qualität – das Unternehmen verweist darauf, einen Facharbeiteranteil zu beschäftigen, der mit über 50% über dem Branchendurchschnitt lag (vgl. Interview U2/Management). Aufträge zur Fahrzeugproduktion im Oberklasse-Segment (Beispiel: Aston Martin) haben einen hohen Wertschöpfungsanteil und erfordern die Beschäftigung von Fachkräften (vgl. Interview U2/Projekt). Regulierung/Deregulierung von Beschäftigung - Beschäftigungsstrategie des Unternehmens Durch das Instrument flexibler Beschäftigungsformen gelang es Magna Steyr zunächst, das konjunkturell bedingte, und segmenttypisch stark schwankende Beschäftigungsvolumen anzupassen und den Kostenaufwand bei kurzfristigen Einstellungen und Entlassungen zu minimieren. Bei der Auswertung der regionalen Presse fällt die Unauffälligkeit des Betriebsrates von Magna Steyr auf. Sicherlich kann dies auch einer zurückhaltenden Berichterstattung zugerechnet werden – lediglich in der
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Frage des Lohnverzichts im Herbst 2009 zitierte die Presse die ablehnende Haltung des Betriebsrates dazu. Generell schilderten die Interviewpartner eine große Bereitschaft des Betriebsrates zur Flexibilität und zur Suche nach einvernehmlichen Lösungen: „[...] wir sind bei der Metallergewerkschaft und die ist aus der Tradition heraus ein bisschen flexibler, und bei uns ist der Betriebsrat gezwungen, flexibler zu sein. (vgl. Interview U2/Management). Oder kurz gesagt: „Schauen Sie, bei uns gibt es von der Flexibilität Dinge, die es in Deutschland nicht hat. Die undenkbar wären.“ (Interview U2/Projekt). Die Kooperationen zwischen Unternehmen und Betriebsrat prägt eine gemeinsame Zielsetzung: Konsens als oberstes Prinzip. Es gibt enge Verbindungen zwischen Unternehmensleitungen, Arbeitnehmervertretungen und politischen Akteuren, die kritisch eingeschätzt werden. Jedoch kann dies auch als Erklärungsansatz dienen, weshalb es den Unternehmen zum Teil in besonderer Weise – und entgegen den Erwartungen an eine korporatisch geprägte, koordinierte Ökonomie möglich war und ist, schnell und flexibel auf Veränderungen des Marktes zu reagieren. Die Einführung von Leiharbeit trug zur Flexibilität bei – diese Beschäftigungsform betraf nicht nur Produktionsmitarbeiter sondern auch technische Aufgaben im „Engineering“ (vgl. Interview U2/Management.). Für Magna Steyr erwiesen sich diese Flexibilisierungsmöglichkeiten als wichtiger Wettbewerbsfaktor, weil eine Reaktion auf Auftragsschwankungen und Anpassungen der Produktionsstückzahlen besser möglich war. Clusterpolitik – regionale Wirtschaftsförderung Das Land Steiermark investierte umfangreich in die Förderung des „ACStyria Autoclusters“ rund um Magna Steyr. Der Prokurist der Steirischen Wirtschaftsförderung, der das Autocluster seit Bestehen begleitete, erläuterte, dass „das Ganze [...] zu einem Zeitpunkt initiiert worden [ist], wo in der Automobilbranche sich sehr große Umbrüche abgezeichnet haben. Das war der Beginn des damaligen großen Trends der Outsourcing-Thematik. Also Reduktion der eigenen Fertigungstiefe bei den
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OEMs und Verlagerung der Fertigungstiefe hin zu Systemlieferanten.“ (Interview U2/Cluster1).
Das Wachstum des Unternehmens Magna Steyr trug zur Entwicklung einer Automobilregion bei73, insofern gab es wechselseitige Abhängigkeiten und großes Interesse auf Seiten der Politik und Wirtschaftsförderung, die Unternehmen in der Region insbesondere durch kollektive Wettbewerbsgüter zu fördern: Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, Kontaktnetzwerke, Werbe- und Präsentationsmöglichkeiten auf Messen u.ä,, Serviceangebote für die Unternehmen. Für die entscheidenden Entwicklungsschritte des Unternehmens Magna Steyr schien diese regionalpolitische Förderung eher eine im Hintergrund laufende Unterstützung als ein entscheidender Wettbewerbsfaktor zu sein. Vermutlich half und hilft diese Förderung und Infrastruktur in besonderer Weise kleineren und mittleren Betrieben der Zulieferindustrie, die sich im Umfeld von Magna Steyr und AVL List angesiedelt haben. Standortstrategie Der Produktionsstandort in Graz bleibt die Basis des Unternehmens und bekam bislang keine unternehmensinterne Konkurrenz durch andere Produktionsstandorte. Der Auftragsfertiger betreibt keine „kundengetriebenen“ Werke zusätzlich zum Grazer Heimatstandort. International investierte Magna Steyr in den Aufbau von kleinen Niederlassungen, die insbesondere als strategische Standorte den Kundenkontakt suchen, herstellen und ausbauen sollten. Außerdem unterhält das Unternehmen vor Ort „beim Kunden“ Büros für technische Dienstleistungen („Engineering“) (vgl. Interview U2/Projekt). Interviewpartner stellten heraus, dass die internationalen Aktivitäten insbesondere über die Unternehmenssparte „Entwicklung“ betrieben wür73
Die Entwicklung des Autoclusters ist nach Meinung von Gerd Holzschlag „einerseits natürlich getrieben, massiv getrieben auch durch die Erfolge der Magna Gruppe, das damit verbunden wird, dass ein gewisses Produktionsvolumen am Standort entstanden ist. Mit dem Vorhandensein dieses Produktionsvolumen sich plötzlich Vorortansiedlungen von Systemlieferanten kommerziell gerechnet hat.“ (Interivew U2/Cluster1)
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5 Unternehmensfallstudien
den, so dass dieser Bereich als Brückenkopf für das Geschäftsmodell der Auftragsfertigung fungiert. Finanzierungsform – Organisationsstruktur des Unternehmens Als Tochtergesellschaft von „Magna International“ befindet sich Magna Steyr in der besonderen Situation, einem Kunden für die Fertigung von Komplettfahrzeugen zusätzlich auch Zulieferteile anzubieten, die Schwestergesellschaften aus dem Konzern produzieren. Dieses Konzept verfolgt das Unternehmen unter dem Begriff „one-stop-shop“, wie ein Interviewpartner erklärt (vgl. Interview U2/Strategie2). Gleichzeitig ermöglicht die Konzernstruktur die Nutzung von Kompensationsmöglichkeiten in Problemsituationen. Allerdings verdeutlichten die Verhandlungen zur Opel-Übernahme durch „Magna International“, dass möglicherweise die Konzerntochter Magna Steyr als Auftragsfertiger negative Folgen zu tragen gehabt hätte, wenn Opel zur Schwestergesellschaft in der Konzernstruktur geworden wäre: Mit der Perspektive auf den gesamten Konzern hätte ein anderer OEM mit Magna Steyr einem Konkurrenten den Auftrag zur Gesamtfahrzeugherstellung erteilen müssen. Letztlich kam es nicht zur Übernahme, so dass dieses Gefährdungspotential für den österreichischen Auftragsfertiger nicht (mehr) besteht. Mit der Finanzierungsform von Magna Steyr als Tochtergesellschaft eines internationalen Konzerns hängt auch die Organisationsstruktur zusammen. Die Interviewpartner betonen die flachen Hierarchien im Unternehmen, hohe Flexibilität und eine dezentrale Organisation, die dem nordamerikanischen Konzept entspricht (vgl. Interview U2/Strategie2, Interview U2/Strategie1). Die Einbindung in die Konzernstruktur birgt das Potential von Synergieeffekten und Kooperationsmöglichkeiten. Allerdings verbessert die Bindung an die kanadische Muttergesellschaft (noch) nicht die Marktposition von Magna Steyr als Auftragsfertiger in Nordamerika. Umgekehrt fungiert Magna Steyr für andere Teile des Konzerns als Türöffner, da die österreichische Tochtergesellschaft als Entwicklungsdienstleister früh Informationen
5.2 Unternehmen 2 (Magna)
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bekommt und langfristige, vertrauensvolle Kooperationen zu OEM unterhält.
Analyseergebnis Der österreichische Automobilproduzent litt zwar, wie die starken Rückgänge an Produktionsvolumen und Beschäftigtenzahlen zeigen, unter den veränderten Marktbedingungen für die Auftragsfertigung, konnte jedoch eine existentielle Unternehmenskrise vermeiden. Das Unternehmen kehrte im Jahr 2008 mit den Stückzahlen in der Fahrzeugproduktion ungefähr auf das Niveau der Jahre 2002/2003 zurück, so dass der dazwischen liegende Zeitraum als Ausnahmephase gewertet werden kann. Seit der österreichische Auftragsfertiger Teil des Konzerns „Magna International“ ist, musste er sich – mehr oder weniger – an den Interessen der Konzernmutter orientieren, allerdings bot und bietet diese Einbindung möglicherweise Kompensationsmöglichkeiten für diese Sparte in schwierigen Zeiten. Trotz der Annahme, dass sich die institutionellen Rahmenbedingungen Deutschland und Österreichs im Hinblick auf die Beschäftigungsstrukturen ähneln, zeigt das Fallbeispiel von Magna Steyr ein differenziertes Bild. Das Unternehmen spricht von einer hohen Flexibilität der Arbeitnehmer und der Beschäftigungsstruktur, die durch Einführung von Leiharbeit am Standort Graz ergänzt wurde. Eine starke Mitbestimmung existiert, jedoch – wie in Interviews deutlich wurde – scheint das Unternehmen bei der Aushandlung unternehmensspezifischer Lösungen von einer großen Bereitschaft zu Flexibilität und Sonderlösungen zu profitieren. Dies korrespondiert mit allgemeinen Befunden zur Besonderheit des österreichischen Korporatismus: Auch wenn mittlerweile ein Aufweichen der langen Tradition einer Sozialpartnerschaft „à l’autrichien“ beobachtet wird (fehlende Problemlösungsfähigkeit des nationalen Modells in einem internationalisierenden Umfeld, dass die nationalen Handlungsspielräume reduziert oder ver-
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5 Unternehmensfallstudien
nichtet (Tálos et al. 2003), sorgte dieses österreichische Modell über lange Zeit dafür, dass unternehmensspezifische Lösungen, Sonderregelungen u.ä. gefunden werden konnten. So war es durch die Kooperation von Gewerkschaften / Betriebsräten, Unternehmensleitungen und Politik möglich, auch jenseits des Tarifvertrags individuelle Regelungen zu finden. Dies trug zur Wettbewerbsfähigkeit im Branchensegment der Auftragsfertigung bei, das zunehmend unter einem hohen Kostendruck steht. Der Grazer Produktionsstandort kann darüber hinaus von seiner topographischen Lage in unmittelbarer Nähe zu kostengünstigen Zulieferstandorten wie Slowenien und ggf. Ungarn profitieren. Im Wettbewerb mit den konzerninternen Werken der OEM muss sich jedoch künftig bei jeder potentiellen Auftragsfertigung aufs Neue erweisen, ob – neben anderen Rahmenbedingungen – das Kostenargument für Magna Steyr spricht. Im konkreten Fall des österreichischen Auftragsfertigers zeigt sich eine besondere Internationalisierungsstrategie. Magna Steyr betrieb keine weiteren Produktionsstandorte außerhalb Österreichs, richtete allerdings Entwicklungsbüros in räumlicher Nähe der OEM ein. Dadurch expandierte das Unternehmen im Bereich der technischen Entwicklung und technischer Dienstleistungen. Gleichzeitig fungierten diese Büros als „Brückenköpfe“ zu den OEM, die das Netzwerk stärkten. Dies mag Teil der Erklärung sein, warum es dem österreichischen Unternehmen gelang, weitere Produktionsaufträge von den OEM zu gewinnen. Die Gesamtfahrzeugproduktion von Magna Steyr bediente über lange Zeit insbesondere die Stuttgarter Daimler AG. So kam es zu umfangreichen Produktionsaufträgen für Chrysler-Fahrzeuge zu der Zeit, als die amerikanische Marke Teil des Daimler-Konzerns war. Durch den Fiat-Einstieg bei dem amerikanischen OEM74 schließlich wurde diese Kooperation beendet. Eine kontinuierliche Entwicklung vollzog sich in der Kooperation mit BMW, einem OEM, der bislang nur an Magna 74
Fiat übernahm nicht nur den amerikanischen Automobilhersteller Chrysler sondern auch den italienischen Auftragsfertiger „Bertone“, dessen Produktionsstandort er möglicherweise zum „Spezialitätenwerk“ machen und vor allem als Chryslerfertigung einrichten könnte.
5.2 Unternehmen 2 (Magna)
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Steyr Aufträge vergeben hat. Die Fallstudie zeigt, dass wechselseitiges Vertrauen durch einen langen Vorlauf informeller Kooperationen notwendig war, um BMW als Auftraggeber gewinnen zu können. Der Stellenwert des Unternehmens für die Region Steiermark und die nationale Industriestruktur in Österreich ist von erheblicher Bedeutung und spielt damit eine besondere Rolle für diese Kooperation, die auch von politischen Akteuren und den Branchengewerkschaften geschätzt wird (Interview FÖ1). Auch hier kann nur vorsichtig ein Einflussfaktor angenommen werden, allerdings scheinen die Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren in Österreich und dem benachbarten deutschen Bundesland Bayern bei der Festigung der Kooperation von Magna Steyr und BMW nicht hinderlich gewesen zu sein. Durch die Abhängigkeit des Gesamtfahrzeugherstellers vom OEM besteht auch eine große Abhängigkeit von dessen Erfolg: BMW erwies und erweist sich als äußerst erfolgreicher Premiumhersteller und Aston Martin als Prestigeprojekt. Beobachtet man die Bedarfe und Trends des Automobilmarktes, so ließe sich das typische Merkmal von Magna Steyr, die Allradfertigung, nicht als Zukunftsmodell bezeichnen. Das Unternehmen konnte seine Fähigkeiten jedoch um den Cabriobau erweitern und von der Besonderheit der Premiumfahrzeuge profitieren, das als Oberklasse-Segment mit stabiler Auftragslage besteht (vgl. vor allem Aston Martin). Das Beispiel des Unternehmens Magna Steyr illustriert, wie technische Kompetenz und Zukunftsstrategien im Ausland sowie damit verbundene informelle Netzwerkaktivitäten den heimische Produktionsstandort stärken können. Allerdings geht es dabei nicht um die Verlagerung von höherwertigen Dienstleistungen aus Kostengründen, sondern vielmehr um die Ausstattung kompetenter „Brückenköpfe“, um Netzwerke zu Kooperationspartnern (OEM) im Ausland aufzubauen. Jede Form der Kontaktanbahnung zu einem OEM muss aus der Perspektive von Magna Steyr im Ausland stattfinden, da es in Österreich keinen solchen Auftraggeber gibt. Was auf den ersten Blick banal erscheint, mag ein Teil der Erklärung für den Erfolg dieses Auftragsfertigers sein, wie auch das Beispiel der Kooperation zu BMW zeigt. Die
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5 Unternehmensfallstudien
dauerhafte Pflege der Beziehung zu potentiellen oder aktuellen Geschäftspartnern durch die räumliche Nähe der Verbindungsbüros, in denen Ingenieure des Unternehmens sowie Mitarbeiter mit Managementaufgaben tätig sind, erwies sich als entscheidender Faktoren für den kontinuierlichen Aufbau von Vertrauensbeziehungen zu OEM. Die Marktveränderungen für das Segment der Auftragsfertiger trafen auch Magna Steyr, wenngleich nicht mit so gravierenden Auswirkungen für das gesamte Unternehmen wie seine Konkurrenten. Für die Gesamtfahrzeugherstellung sieht sich auch das österreichische Unternehmen gezwungen oder herausgefordert, neue Strategien zu entwickeln. Eine Orientierung in verschiedene Richtungen ist folgendes zu erwarten: Zum einen gilt es, das Geschäftsfeld der „Modulfertigung“ zu stärken als Kompensationsmöglichkeit für die Verringerung der Produktionsvolumina im Fahrzeugbau. Für diesen „angeschlagenen“ Unternehmensbereich muss sich das Unternehmen auf geringere Volumina einstellen. Auch wenn die Erfahrung in der Produktion von Auslaufserien für die Übernahme solcher Fertigungen spricht, besteht von Seiten der OEM – zumindest in Zeiten laufender Standortsicherungsvereinbarungen und umfangreicher Überkapazitäten in den eigenen Werken – wenig Neigung, Auslaufserien nach Graz auszulagern. Ähnlich stellt sich die Situation für das „peak shaving“ dar: Theoretisch sprechen viele Argumente für die Beauftragung von Auftragsfertigern, um die eigenen Produktionskapazitäten beim Anlauf neuer Serienproduktionen nicht zu stark „aufblähen“ zu müssen. Doch auch dieses Motiv schlägt (bislang) nicht soweit durch, dass die OEM die Produktion eines neuen Modells in Kooperation mit einem Auftragsfertiger organisieren. Insofern bleibt die klassische Nischenproduktion, die jedoch einen neuen Charakter bekommt: Fahrzeuge mit alternativen Antriebstechnologien bilden ein entsprechendes Marktpotential als Nische mit so geringen Stückzahlen und aufwendigen Produktionsbedingungen, dass eine Auslagerung an einen Spezialisten wahrscheinlich ist. Allerdings scheint dieses Nischensegment noch nicht geeignet, um die gesamten Produktionskapazitäten von Auftragsfertigern auszulasten, was für den
5.2 Unternehmen 2 (Magna)
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Grazer Produktionsstandort in besonderer Weise zutrifft. Eine Etablierung in diesem Geschäftsfeld erfordert wettbewerbsfähige und ideenreiche technische Konzepte, die einen Ausbau der technischen Entwicklungsabteilung(en) ermöglicht. Magna Steyr konnte den bereits eingeschlagenen Pfad weiter verfolgen, durch Entwicklungsbüros in räumlicher Nähe zum Kunden Netzwerke aufzubauen und dauerhaft zu pflegen. Nach einer vergleichsweise erfolgreichen Vergangenheit mit hohen Produktionsvolumina zwang die neue Marktsituation auch den österreichischen Auftragsfertiger zu Kapazitätsanpassungen. Daher ist eine Reduktion der Beschäftigtenzahl in der Fahrzeugproduktion zu erwarten, während der Umfang des technischen Personals und der Mitarbeiter mit Managementaufgaben möglicherweise kontinuierlich ausgebaut wird bzw. werden muss. Die Möglichkeit zur Nutzung flexibler Beschäftigungsformen und zur Vereinbarung unternehmensspezifischer Arrangements mit den Arbeitnehmern (Betriebsrat und Gewerkschaften) könnten diese Entwicklung erleichtern. Flankierende Maßnahmen durch landespolitische Clusterförderungen boten bislang eine zusätzliche Hilfe, dauerhaft qualifizierte Mitarbeiter zu finden sowie die automobilspezifische Infrastruktur zur Weiterqualifikation zu nutzen. Inwieweit der geringere Bedarf an Mitarbeitern in der Produktion mit geringerem Qualifikationsprofil (Werke, gewerbliche Beschäftigte) zu strukturellen Arbeitsmarktproblemen in der Region führt, bleibt abzuwarten.
5.2.4
Ausblick: Perspektiven für Magna Steyr
Für die Gesamtfahrzeugherstellung erreichen das österreichische Unternehmen nach wie vor Aufträge. Allerdings zeigt sich auch für den österreichischen Auftragsfertiger die Schwierigkeit, dass der Markt für Nischenproduktionen bzw. Auftragsvergabe von Gesamtfahrzeugen, wie sie die Gesamtfahrzeughersteller bisher gewohnt waren, schrumpft.
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5 Unternehmensfallstudien
Der Strukturwandel für die Auftragsfertigung besteht in einer Reduktion der Stückzahlen in (noch) kleinere Volumina für die Gesamtfahrzeughersteller mit einer größeren Modellvielfalt, für die ein hohes Maß an technischer Kompetenz (Engineering) erwartet wird (vgl. Interview U2/Projekt). Der Trend zur Modularisierung, also die wachsende Bedeutung von kompletten Fahrzeugmodulen, die für ganze Modellreihen von spezialisierten Zulieferunternehmen an die OEM geliefert werden, stellt das Grazer Unternehmen vor die Aufgabe, das ProduktionsPortfolio zu verändern und in diese Richtung auszubauen. Wenngleich die Auftragsvergabe durch die OEM ab ca. 2005 für Magna erfolgreich verlief, erkannte das Unternehmen in der Folgezeit das schrumpfende Geschäftsfeld für die Gesamtfahrzeugproduktion und suchte nach neuen Konzepten. Am Beispiel neuer Antriebstechnologien, die für neue kleine Serien neuer Fahrzeugmodelle entwickelt werden, erläutert ein Interviewpartner die entscheidende Voraussetzung für die Akquise dieser Produktionsaufträge: „Sehr viel ist wirklich davon abhängig, zur richtigen Zeit mit den richtigen Personen zu sprechen. Auch diese Aufträge basieren [auf Kontakten] zwischen Menschen. Da ist das Netzwerk ein sehr wichtiges.“ (Interview U2/Entwicklung, S.7). Obwohl der Kostenvergleich durch den OEM zwischen interner Fertigung und Vergabe an einen Auftragsfertiger als wesentlicher Entscheidungsgrund angeführt wird, kommt außerdem dem Aspekt des „Vertrauens“ zwischen den Kooperationspartnern eine entscheidende Rolle zu (vgl. ebd.). Sämtliche Interviews mit dem österreichischen Unternehmen bestätigen die enge Verknüpfung zwischen Produktionstätigkeit und technischen (Ingenieur)Dienstleistungen bzw. Entwicklungskompetenz. Sowohl für den Produktionsstandort Graz als auch für die einzelnen Entwicklungsstandorte weltweit spielt die Vernetzung dieser Unternehmensbereiche und deren gegenseitige Abhängigkeit die entscheidende Rolle. Die Erfahrungen der Gesprächspartner verdeutlichen den Trend, dass die OEM von den Auftragsfertigern Konzepte und umfangreiche Entwicklungskompetenzen verlangen. Dabei verändert sich das
5.2 Unternehmen 2 (Magna)
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Verhältnis von Anfragen zur Erstellung dieser Konzepte bzw. Entwicklungsaufträgen und Aufträgen zur Fahrzeugproduktion (vgl. Interview U2/Strategie2). Das Unternehmen strebt an, Technologieführer in seinem Marktsegment zu sein und stärkt die Entwicklungskompetenz durch Investition in neue Entwicklungsstandorte und eigene Entwicklungsprojekte (vgl. z.B. Interview U2/Strategie1). Dieser Bereich ist eng verknüpft mit dem Betätigungsfeld „Systeme und Module“, für das ein wachsendes Nachfragepotential erwartet wird. Mit seinen Kompetenzen bei der Konzeptentwicklung für neue Aufträge erfüllt Magna Steyr – aus Sicht der OEM – eine wichtige Rolle: Im Anschluss an die Erstellung neuer Fahrzeugkonzepte durch den Auftragsfertiger nutzen die OEM diese Informationen, um die eigenen Werke innerhalb der Konzernstruktur in den Wettbewerb mit dem externen Anbieter zu bringen75. Die Komplexität für den Auftragsfertiger und Schwierigkeit, Produktionsaufträge für den Fahrzeugbau zu gewinnen, steigt durch die zunehmenden Produktionsverflechtungen zwischen den OEM. Die Interviewpartner zeigen sich diesbezüglich beeindruckt, von der „Vielzahl an Kooperationen“ (Interview U2/Entwicklung). Diese betreffen nicht nur Einkaufskooperationen (vgl. Interview U2/Einkauf), sondern auch die gemeinsame Fertigung von Fahrzeugen. Einerseits steigt grundsätzlich die Notwendigkeit, Produktionskooperationen einzugehen, was das Marktpotential für die Auftragsfertiger auf den ersten Blick erhöht, andererseits reduziert sich dieses Potential eben gerade durch die Kooperationen der OEM untereinander.
75
Die Interviewpartner verdeutlichten dies anschaulich: „Die holen‘s bewusst ein, um dann irgendwelche Benchmarks da zu zeigen, die dann im internen Bereich auch bei ähnlichen Produkten [genutzt werden], wo dann gesagt wird: „Schaut‘s her, die Grazer“. […] Und da wird dann bewusst dieses Konkurrenzverhalten geschürt, wo dann irgendein Werksleiter beim Daimler sagt: „Verstehe ich nicht, die Grazer, die bringen das zusammen, warum bringt ihr das nicht zusammen?“ […] Also das ist ein Wettkampf, um das Ganze anzukurbeln und durchaus manchmal auch ein gewisses Drohpotential in der Hand zu haben.“ (Interview U2/Projekt). Damit erfüllt der Auftragsfertiger die – aus Sicht des OEM – nützliche Funktion eines Informationsgebers und gleichzeitig eines Sparringspartners für die eigenen Betriebsstätten, die innerhalb des Konzerns konkurrieren (vgl. Interview U2/Einkauf2).
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5 Unternehmensfallstudien
Auch Magna Steyr orientiert sich am Trend, alternative Antriebstechnologien zu entwickeln und für Fahrzeugproduktionen anzubieten. Sofern in diesem Bereich das einzige Potential für die Nischenfertigung besteht, ist der Grazer Auftragsfertiger zu einer gravierenden Restrukturierung gezwungen: Die Produktionskapazitäten, die für die verschiedenen Serienfertigungen genutzt wurden, können auch bei der erfolgreichen Akquise von Aufträgen für Elektrofahrzeuge voraussichtlich nicht ausgeschöpft werden. Eine besondere Herausforderung besteht darin, in der Entwicklung dieser Technologien schneller zu sein als die OEM. Darin erreicht nach Aussage der Interviewpartner der österreichische Auftragsfertiger einen Wettbewerbsvorteil. Während auch Massenmodelle mit alternativen Antrieben denkbar sind, die der OEM selber produziert, gilt es für den Auftragsfertiger die Fahrzeugtypen anzubieten, die aufgrund kleiner Stückzahlen nach außen vergeben werden (vgl. Interview U2/Entwicklung). Die Unternehmenssituation von Magna Steyr spricht dafür, dass das Unternehmen weiterhin Aufträge für komplette Fahrzeugproduktionen am Standort in Graz durchführt. Vor dem Hintergrund der veränderten Rahmenbedingungen in der Branche ist allerdings fraglich, wie lange das Unternehmen die Sparte Fahrzeugfertigung für die „klassische“ Auftragsfertigung noch rentabel betreiben kann. Doch zunächst lässt die Analyse des österreichischen Auftragsfertigers zu, ihn dem ersten Szenario (Kapitel 4) zuzuordnen: Auftragsfertigung als tier-0,5Zulieferer für die „klassische“ Kleinserienproduktion.
5.3 Unternehmen 3 (Valmet) Das finnische Unternehmen Valmet Automotive Inc (im folgenden: Valmet) spezialisierte sich auf die Nischenfertigung und konnte über weite Strecken von umfangreichen Produktionsaufträgen einzelner OEM profitieren. Dabei prägte den finnischen Auftragsfertiger vor allem die Funktion als „verlängerte Werkbank“. Spätestens der Verlust
5.3 Unternehmen 3 (Valmet)
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der Produktion für die Porsche AG im Jahr 2009 zwang Valmet zu einer Neuausrichtung: Das Unternehmen entwickelte eine Innovationsfähigkeit und vollzog einen Perspektivenwechsel, der für gute Zukunftsaussichten sorgt. Obwohl es sich um ein vergleichsweise kleines Unternehmen im Konzert der europäischen Auftragsfertiger handelt, dass durch seine Eigenschaft als „verlängerte Werkbank“ lange Zeit in der Wahrnehmung marginalisiert war, lohnt sich die genaue Betrachtung der Unternehmensentwicklung in jüngster Zeit. Die Formulierung der Perspektiven für Valmet erweisen sich als lehrreich für das gesamte Segment.
5.3.1
Unternehmensentwicklung der Valmet Automotive Inc.
Phase 276. Die erste Automobilproduktion in Finnland Im hohen Norden spezialisierte sich das finnische Unternehmen Valmet auf die Auftragsfertigung. Ursprünglich aus einem staatlichen Stahlwerk (Valtion Metallitehtaat) hervorgegangen77, entstand das Automobilwerk im Jahr 1968 durch einen Zusammenschluss des schwedischen Automobilherstellers Saab mit dem finnischen Unternehmen Valmet. Zuvor hatte es in Finnland keine Automobilproduktion gegeben (Willner 2003, S.8). Fortan produzierten die Finnen Autos im Auftrag von Saab, das wiederum 1989 ein Joint-Venture mit dem US-amerikanischen Konzern General Motors einging, der dabei 50% der Anteile am Unternehmens übernahm. Saab-Valmet wurde somit indirekt Auftragsfertiger von General Motors (Saab) und gleichzeitig zum Unternehmensteil des amerikanischen Konzerns. Welches Interesse verfolgte General Motors mit dieser Strategie? „To tap [the] broader automobile market, 76
Die Unternehmensentwicklung beginnt im Jahr 1968, so dass eine Darstellung für Phase 1 nicht möglich ist. Der Aufbau und insbesondere die Expansion des Metall- und Stahlunternehmens Valmet resultiert aus einer Phase umfangreicher Reparationszahlungen an die Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg, was insbesondere die Sparte „Schiffbau“ betraf (Willner 2003, S.7).
77
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5 Unternehmensfallstudien
GM’s Opel Europe division entered a joint venture to produce a „people’s car“. The agreement is with Finnish partner, Valmet, which produces Opels and other cars under contract in Finland [...]“ (McCarthy et al. 1997). Die Attraktivität des joint ventures bestand für General Motors darin, in Europa eine Produktion für kleine Serien betreiben zu können. Diese Phase der Abhängigkeit endete als Valmet 1992 unabhängig und 1995 zu „Valmet Automotive“ umfirmiert wurde. Den Unternehmensnamen behielt der Bereich der Automobilproduktion auch nach der Fusion von Valmet und Rauma zur „Metso Corporation“ im Jahr 1999 bei. Die Tochtergesellschaft hätte auch in „Metso Automotive“ umbenannt werden können, jedoch sprach der Bekanntheitsgrad des Markennamens „Valmet“ in der Automobilproduktion für seine Beibehaltung (vgl. Interview U3/Unternehmensleitung). Zusammenfassung Phase 2 Valmet war bis zum Jahr 1992 kein Auftragsfertiger im „klassischen“ Sinne, also nicht OEM-unabhängig, sondern Teil eines Konzerns für die Produktion von Nischenfahrzeugen und Derivaten. Damit entwickelte das Unternehmen (noch) kein eigenständiges Profil, gewann jedoch vor allem Produktionserfahrung in der Nischenfertigung von Kleinserien. Durch die Einbindung in die Konzernstruktur der „Metso Corporation“ erhielt der finnische Auftragsfertiger eine tragfähige Finanzierungsgrundlage und konnte auch unter dem Dach der Konzernmutter sein Geschäftsmodell fortführen. Phase 3. Von der verlängerten Werkbank zum innovativen Nischenspezialisten Aktuell handelt es sich bei Valmet Automotive um eine Aktiengesellschaft als Tochterunternehmen der Metso Corporation78 mit Firmensitz 78
Die „Metso Corporation“ ist ein internationaler Technologiekonzern mit Sitz in Finnland. Er verfügt über drei (bzw. vier) Konzernteile (Quelle: metso.com): Metso Paper (nach Daten aus dem Jahr 2009: ca. 2,9 Mrd Euro, 46% des Umsatzes, 44% der Angstellten), Metso Minerals (ca. 2,6 Mrd Euro, 41% des Umsatzes, 39% der Angestellten), Metso Automation (700 Millionen, 11% des Umsatzes, 13% der Angestellten) sowie Valmet Automotive (2% des Umsatzes, 3% der Angestellten): damit ist aus der Perspektive des Gesamtkonzerns so unbedeutend, dass Metso auf seiner Website nur die anderen drei Bereiche als
5.3 Unternehmen 3 (Valmet)
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am ursprünglichen Standort in Uusikaupunki (etwa 200 km nordwestlich von Helsinki und 80 km nordwestlich von Turku direkt an der Ostsee gelegen). Als Standortvorteile, die ursprünglich – nach Angaben des Unternehmens – zur Wahl dieser Stadt geführt haben, nennt Valmet den Hafenzugang und damit kurze Im- und Exportwege, ein großes Grundstück sowie das zur Verfügung stehende Arbeitskräftepotential (valmet automotive). Valmet Automotive wird als „extrem flexibler“ Fahrzeugfertiger beschrieben (Appelqvist 2005, S.2), laut eigenen Unternehmensangaben kennzeichnet vor allem das Konzept der Teamarbeit die Produktionsorganisation in Uusikaupunki. Für die klassische Auftragsfertigung erwartete das Unternehmen von jedem Mitarbeiter, drei Arbeitsaufgaben an unterschiedlichen Produktionsstationen übernehmen zu können. 200 Fahrzeuge pro Tag wurden in zwei Schichten produziert, so dass durchschnittlich vier-Minuten-Zyklen an jeder Station des Fließbands vorgesehen sind. Valmet arbeitete nach dem „just-in-time“ Prinzip und den Kanban-Grundsätzen, die in der japanischen Automobilindustrie entwickelt wurden (valmet automotive). Neben den Saab Automobilen (beginnend mit dem Saab 96 im Jahr 1969) baute Valmet den ChryslerTalbot, Opel Calibra, Euro-Samara und für Porsche den Boxster sowie den Cayman. Im Jahr 1992 erreichte Valmet den zahlenmäßigen Höhepunkt der Fahrzeugproduktion mit insgesamt 46.668 Einheiten (Saab und Opel Calibra). Darüber hinaus stellte das Unternehmen seit 2002 eine Reihe von Konzeptfahrzeugen her (z.B. Volvo C70 Coupé Cabriolet, Thunderbird als Retractable Glass Roof). Im Jahr 2001 erklärte der Präsident und CEO des Unternehmens, Juhanni Riutta, dass die Nachfrage nach Nischenfahrzeugen steigen werde, einer Studie zufolge als Verdopplung auf über 2,5 Millionen Fahrzeuge für dieses Segment (Brooke 2001). Als Vorteile einer Auslagerung dieser Nischenprodukte an Auftragsfertiger wurde vor allem der schnellere Markteintritt für ein neues Produkt benannt, der ohne Unternehmensbereiche anführt und auch nur für diese die Verkaufszahlen, etc. angibt. Valmet Automotive wird unter „joint ventures and others“ aufgelistet.
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5 Unternehmensfallstudien
hohe Fixkosten (für die OEM) sowie mit höherer Flexibilität erfolgen könnte, als wenn diese Produktion vertikal in das Unternehmen des OEM integriert wäre (ebd.). Im Jahr 2001 investierte das Unternehmen in eine neue Fertigungsstraße ($ 7 Mio.), um höhere Modellflexibilität zu erreichen und die Zahl der produzierten Fahrzeuge pro Schicht auf 125 zu steigern (valmet automotive). Zu diesem Zeitpunkt kündigte Valmet an, seine Kundenbasis zu verbreitern. Als weiteren besonderen Wettbewerbsvorteil beschrieb der CEO die enge Kooperation mit Porsche, die insbesondere durch die Überzeugung von Wendelin Wiedeking geprägt wurde, diesen Auftragsfertiger für die Produktion des Boxster gewählt zu haben: „We couldn’t have done it (the Boxster) so quickly without Valmet, [...] Valmet was right on time, and its quality is excellent. Valmet keeps our Zuffenhausen factury on its toes.“ (Brooke 2001). Noch im Jahr 2002 erwartete Valmet neue Aufträge, weil die Kompetenz, die das Unternehmen besitzt, künftig in besonderer Weise nachgefragt werde. So äußerte sich ein Mitglied der Geschäftsführung im Jahr 2002 darüber, dass Valmet „can handle these niche products more effectively and more inexpensively“ (Automotive Industries 2002). Für den deutschen Sportwagenhersteller Porsche konnte Valmet in den Folgejahren die Produktion des „Cayman“ übernehmen79 und durchbrach 2005 die Marke von insgesamt 1.000.000 Fahrzeugen, die in Uusikaupunki hergestellt worden waren. Allerdings endete 2003 die SaabProduktion, auch die Zusammenarbeit mit Porsche wurde ab 2012 nicht mehr fortgesetzt, da der Konkurrent Magna Steyr (zunächst) die Produktion von Porsches extern vergebenen Produktionen erhielt. Insofern galt es für den finnischen Autobauer, neue Geschäftsfelder zu erschließen, da die allgemeine Marktlage zeigte, dass bisher gewohnte Volumen an Nischenproduktionen oder Derivaten durch die OEM nicht mehr vergeben würden. Im April 2008 machte Valmet Automotive Schlagzeilen, da es im Raum St. Petersburg nach einem möglichen Produktionsstandort (10.000 Fahrzeuge, geschätzte 10 Mio. Investitionssumme) zur Erschließung des russischen Markts suche (Automotive 79
Produktionsbeginn: 2006.
5.3 Unternehmen 3 (Valmet)
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News 16.4.2008). Diese Pläne setzt das Unternehmen (bislang) nicht um, so dass es beim einzigen Produktionsstandort in Uusikaupunki blieb. Deutsche Nachrichtenagenturen meldeten 2009, dass angesichts der flauen Verkaufszahlen bereits in dem Jahr Teile der Boxster Produktion von Valmet nach Zuffenhausen zurückverlagert werden könnten. Die Cayman Produktion sollte vorerst in Finnland bleiben (sueddeutsche.de 03.11.2008). Zu Beginn des Jahres 2009 gab das Unternehmen bekannt, mit dem dänischen Unternehmen Garia A/S, das sich selbst als „European luxury golf car company“ bezeichnet (Garia A/S 2009), eine Produktionskooperation zu beginnen. Es handelte sich dabei um die Herstellung eines elektronisch betriebenen Golfautos. Der CEO von Valmet Automotive, Ilpo Korhonen, betonte, „Garia A/S shares our ideas of achieving full customer satisfaction by providing individual solutions and top quality to the market. The cooperation with Garia A/S is a clear sign of the agility and flexibility of Valmet Automotive on the changing markets. Garia is an electric vehicle and its design, construction and materials represent the newest trends in automotive industry.“ (automotive manufacturing solutions 2009).
Im Rahmen dieser Kooperation wurde eine jährliche Stückzahl von ca. 5.000 Fahrzeugen erwartet, die eine besondere Bedeutung für den finnischen Auftragsfertiger besitzt. Zusätzlich entschloss sich Valmet gemeinsam mit EnerDel, das insolvente Unternehmen TH!NK vor der Schließung zu bewahren, indem die beiden Unternehmen den „TH!NK City“ ab 2009 bauen (Kahl 2009). Im Jahr 2009 berichtete das Unternehmen über eine neue strategische und organisatorische Ausrichtung, die es im Rahmen des Genfer Autosalons im März des Jahres präsentierte. Neben den bisherigen Unternehmenstätigkeiten, den Modellen der Porsche-Boxster Baureihe, begann Valmet, als weitere Schwerpunkte „Produkt- und ProzessEngineering“ anzubieten und künftig Hybrid- und Elektrofahrzeuge zu produzieren. Der Auftragsfertiger eröffnete ein neues Büros in Frankfurt sowie Niederlassungen in Michigan (USA), Japan und Südkorea. In
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5 Unternehmensfallstudien
der Selbstbeschreibung des Unternehmens verweist es auf die hohe Kompetenz zur „Entwicklung und Produktion umweltfreundlicher Fahrzeuge“ (valmet automotive). Als veränderte Unternehmensstrategie gab Valmet 2009 bekannt, sich auf drei Kernsäulen zu konzentrieren: Gesamtkonzept, Fahrzeugbau und Engineering Services. Vergleichbar mit anderen Auftragsfertigern beansprucht auch Valmet für sich die Kompetenz, von der Produktentwicklung bis zur Serienfertigung, „schnelle und kosteneffiziente Markteinführung hochwertiger Sondermodelle“ anzubieten (valmet automotive). Umfangreich fiel der Auftrag des US-amerikanischen Unternehmens „Fisker Automotive“ aus, gemeinsam mit Valmet Automotive das Fahrzeug für den „neuen OEM“, den Fisker Karma, im Sommer 2010 auf den Markt zu bringen. Es handelt sich dabei um einen Sportwagen (Kaufpreis ca. $ 87.900), der mit Solarzellen auf dem Dach ausgestattet ist und der ca. 80 Kilometer ohne Betankung zurücklegen kann (automotive manufacturing solutions 2009: 8, Anonymous 2009). Die Produktion des Fahrzeugs lief im vierten Quartal des Jahres 2009 an und soll und eine jährliche Stückzahl von 15.000 erreichen. Zunächst sollen von diesem Fahrzeug bei Valmet 4.000 Stück vom Band laufen und bis zum Ende des Vertrags im Jahr 2016 insgesamt ca. 100.000 Fahrzeuge gebaut werden. Staatliche Zuschüsse ermöglichten Fisker umfangreiche Investitionen in die Forschung und Entwicklung von Hybridfahrzeugen – dies löste in den USA heftige Kritik insbesondere deshalb aus, weil Fisker das Fahrzeug bei Valmet in Finnland bauen lässt (Lyster). Fisker rechtfertigte seine Vorgehensweise und den hohen Investitionsaufwand und kündigte an, die nächste Generation des Fisker Karman in den USA bauen zu lassen (ebd.). Valmet erlebte einen schweren Rückschlag, als Porsche wegen Nachfrageeinbruchs einen Teil der Produktion des Boxster in das Stammwerk nach Zuffenhausen zurückholt. Daher hoffte der finnische Gesamtfahrzeughersteller, durch den Fisker-Auftrag sowie die Gariaund Th!nk-Produktion Kompensationseffekte zu erreichen. Auch wenn diese Projekte im Vordergrund der künftigen Produktionstätigkeiten
5.3 Unternehmen 3 (Valmet)
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stehen, baute Valmet zunächst weiter auf Nischenproduktionen in Kleinserie von „traditionellen OEM“ und eine steigende Nachfrage in diesem Bereich (Kahl 2009). Mit Blick auf die Elektro- und Hybridfahrzeuge erläuterte der Präsident von Valmet, dass mindestens bis 2015 noch nicht zu erwarten sei, dass dieses Fahrzeugsegment ein nennenswertes Niveau erreichten. So versucht das Unternehmen, sich durch die Kooperationen mit den „neuen OEMs“ zu etablieren und gleichzeitig die „alten OEMs“ für zusätzliche Projekte in diesem Geschäftsfeld zu gewinnen (ebd.). Zusammenfassung Phase 3 Zunächst konzentrierte sich Valmet auf die Auftragsfertigung von Nischenfahrzeugen für die „traditionellen“ OEM. Dabei gewann das Unternehmen zwar große Aufmerksamkeit durch die zunächst erfolgreiche Zusammenarbeit mit Porsche, innerhalb derer der finnische Auftragsfertiger jedoch die Funktion einer „verlängerten Werkbank“ erfüllte, die in Branchenkreisen nur begrenzt ernst genommen wurde. Insbesondere Vertreter von Karmann und Magna Steyr gingen von fehlender Entwicklungskompetenz, Nachteilen aufgrund der geographischen Lage und Marginalisierung im Feld der Auftragsfertiger aufgrund der großen Abhängigkeit von Porsche aus (vgl. z.B. Interview U1/Geschäftsführung, U2/Einkauf). Zunächst lässt sich aber ohne Wertung diagnostizieren, dass Valmet für Porsche die Variante des „peak shaving“ betrieb und für den deutschen Sportwagenherstellers eine wichtige Funktion übernahm, um die Transaktionskosten in dem Unternehmen zu senken. In der dritten Phase zeigte sich, wie es Valmet gelang, trotz des fehlenden Anschlussauftrags für Porsche die eigene Produktionstätigkeit im Fahrzeugbau fortzusetzen. Mit den Kooperationen zu „neuen OEMs“, wie Fisker und Garia betrat der finnische Gesamtfahrzeughersteller Neuland und stärkte durch den Ausbau der eigenen Entwicklungsabteilungen die technische Kompetenz für Zukunftschancen in dem Marktsegment für alternative Antriebstechnologien.
224 5.3.2
5 Unternehmensfallstudien
Rahmenbedingungen in Zeiten der Krise
Unternehmensstandorte Valmet betreibt in Uusikaupunki (Finnland) den einzigen Produktionsstandort des Unternehmens. Neben der Produktion befinden sich dort die Entwicklungsabteilung, Fertigungsplanung und die Unternehmensverwaltung an diesem Standort. Daneben unterhält Valmet ein Büro in Frankfurt sowie Vertriebsvertretungen in Japan, Südkorea und in den USA. Das Interview mit Valmet verdeutlicht, dass die Auslandsstandorte zum einen eine starke Funktion im Vertrieb erfüllen (sollen), zum anderen auch Entwicklungsleistungen erbringen, die für neue Projekte wertvoll sind. Die Entwicklungsvertretung in Detroit bildet den Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit mit Fisker, wo Valmet-Ingenieure direkt im Unternehmen arbeiten. Perspektiven sieht das Unternehmen in Russland, hat dort jedoch (noch) keinen Fertigungsstandort eröffnet (vgl. Interview U3/Management).
Entwicklung der Beschäftigtenzahlen Bei der Betrachtung der Mitarbeiterzahlen (vgl. Abbildung 5-5) im relativ kurzen Zeitraum von 2002 bis 2008 erkennt man die segmenttypischen Schwankungen. Das Beschäftigungsvolumen bewegte sich in einem Spektrum von 716 (2003) bis 1.498 (2002). Von 2002 bis heute hat es somit zunächst zwischen 2002 und 2003 einen starken Beschäftigungsrückgang auf das Niveau von 716 Mitarbeitern gegeben, das von da an zwar weiterhin Schwankungen unterlag, jedoch nicht mehr die Marke von fast 1.500 Mitarbeitern erreichte. Ende des Jahres 2008 sind 783 Mitarbeiter bei Valmet Automotive beschäftigt (valmet automotive). Bei der Gegenüberstellung von Beschäftigtenzahlen und Stückzahlen in der Fahrzeugproduktion fällt auf, dass das Unternehmen trotz einer erheblichen Volumensteigerung im Jahr 2006 gleichzeitig keinen entsprechender Anstieg der Mitarbeiterzahlen verzeichnete. Der Beschäftigungsumfang überstieg nach 2002 nur marginal die Grenze von
5.3 Unternehmen 3 (Valmet)
225
1.000 Mitarbeitern. Eine Ausweitung des Produktionsvolumens war demnach ohne entsprechende Ausweitung der Personalressourcen möglich. Ohne über die Gründe dafür zu spekulieren, bietet die Beobachtung einen Ansatzpunkt zur Erklärung der künftigen Entwicklung: In dem Moment, in dem sich die Produktionszahlen – z.B. wegen des grundsätzlichen Rückgangs an Fertigungsaufträgen – verringerten, folgte mit der Perspektive auf das gesamte Unternehmen offenbar nicht die Notwendigkeit von Entlassungen und Kapazitätsanpassungen. Allerdings handelte es sich tatsächlich um eine Veränderung der Beschäftigungsstruktur. Valmet reduzierte die Mitarbeiterzahlen in der Produktion („blue collar workers“), als Porsche das Produktionsvolumen verringerte. Gleichzeitig stellte das Unternehmen zusätzliche Ingenieure für neue Projekte ein (Kahl 2009). Abbildung 5-5: Entwicklung von Beschäftigtenzahlen und Stückzahlen in der Fahrzeugproduktion
(Quelle: eigene Darstellung nach Valmet-automotive.com 2008)
226 5.3.3
5 Unternehmensfallstudien
Analyse der Unternehmensentwicklung
Produktnachfrage und Produktionsmodell Das Fehlen von Produktionsaufträgen in bisher gewohntem Umfang veränderte den Bedarf an Produktionskapazitäten. Für Porsche fertigte das Unternehmen jährlich ca. 20.000 Fahrzeuge und war damit nicht voll ausgelastet. Die Produktionskapazität von Valmet umfasst 100.000 Einheiten pro Jahr in drei Schichten, die jedoch nie ausgelastet werden konnten (vgl. Interview U3/Management), (Kahl 2009: 7.10.2009). Den Höhepunkt erreichte das Unternehmen mit der Kombination von Fahrzeugen für Porsche und Saab, die eine jährliche Stückzahl von 50-60.000 erreichten. Valmet geht davon aus, dass solche Projekte in dieser Größenordnung nicht mehr vergeben werden, und sieht das Unternehmen dadurch vor der Notwendigkeit, Flexibilität als Auftragsfertiger unter Beweis zu stellen und bei Produktionen unter 20.000 oder 15.000 Einheiten im Jahr rentabel zu sein. Das Produktionsmodell zeichnet sich durch einen hohen Automatisierungsgrad aus. Der Valmet-Manager erläuterte im Interview zwei Gründe für die Automatisierung im Betrieb: Zum einen entlastet die maschinelle Fertigung durch Roboter die Werker in der Produktion bei körperlich schweren Tätigkeiten. Zum anderen geht es um die Qualitätssicherung durch Robotertechnologie, die der Interviewpartner als „Wieder-Genauigkeit“ beschreibt. Gleichzeitig stellte er die fachliche Qualität der eigenen Werker in Uusikaupunki heraus, die eine hohe Zuverlässigkeit in der Produktion bieten, wodurch weniger Automatisierung notwendig ist. Dies bietet den Vorteil, bei Kapazitätsanpassungen besser reagieren zu können: Die Finanzierung von Anlagen und Maschinen muss durch entsprechende Produktionszahlen gewährleistet werden, während die Beschäftigung und Entlassung von Produktionsmitarbeitern (als Alternative) ein höheres Maß an Flexibilität bietet. Die Entwicklungen in der Branche zeigen, dass für spezielle Produktionsschritte die menschliche Arbeitskraft unbedingt benötigt wird, da sie „größte Flexibilität“ bietet. Insgesamt nahm jedoch das Beschäftigungs-
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227
volumen in der Produktion deutlich ab (vgl. Interview U3/Management). Das Unternehmen erklärte, dass es durch die Zusammenarbeit mit Porsche zunächst auf seine Produktionskompetenz und –kapazität reduziert war. Eine Beteiligung an der Entwicklung der Fahrzeuge gab es nicht, so dass sich die Entwicklungskompetenz von Valmet nicht weiterentwickelte (vgl. Interview U3/Managment). Durch die Veränderung der Unternehmensstrategie begann Valmet, das Produktionsmodell stärker auf die Entwicklungskompetenz auszurichten, die es im Rahmen der Kooperationen mit Fisker und Garia ausbaute. Das Nachfragevolumen für die Fahrzeugkonzepte, auf die sich Valmet mittlerweile konzentriert, ist im Vergleich zu früheren Produktionen deutlich kleiner. Generell verwies der Interviewpartner auf die große Schwierigkeit, treffende Stückzahlenprognosen zu erstellen. Dies beeinträchtigt seiner Meinung nach die Bereitschaft, sich auf neue Fahrzeugkonzepte in der Nische einzulassen, für die eine entsprechende Prognose noch deutlich schwieriger zu treffen ist (vgl. Interview U3/Management)80. Für das traditionelle Geschäftsfeld der „Nischenproduktionen“ registriert das finnische Unternehmen einen Wandel bei den OEM. Der Manager von Valmet schilderte die Beobachtung, dass die OEM das spezifische Know-How, zum Beispiel für den Bau von Cabriolets, mittlerweile integriert hätten. Das Hauptkriterium für eine Vergabe dieser Produktionen sei, so der Interviewpartner, die Stückzahl – eine zu kleine Serienfertigung (unter 10.000 Einheiten) störe den Produktionsfluss (vgl. Interview U3/Management). Ein weiteres Motiv könne die Risikoverlagerung sein, wenn es um neue Konzepte und neue Technologien gehe.
80
Die Anforderungen an den finnischen Auftragsfertiger sind klar zu umreißen: „Unsere Aufgabe ist wirklich, Wege zu finden in der Fertigungsplanung, mit wenigen Investitionen oder mit klugen neuen Investitionen [...] Projekte wirtschaftlich zu machen. Ich sehe kein Segment, wo es zum Beispiel heißt: Ja, da ist ein Bereich, wo ich Potential sehe. Wir müssen [...] unseren Fertigungsprozess und auch Entwicklungsprozess natürlich so neu gestalten, so anders machen können, dass [wir] diese vielen kleinen Projekte, also mit 10.000-15.000 Einheiten pro Jahr, wirtschaftlich machen können.“ (Interview U3/Management).
228
5 Unternehmensfallstudien
Der Interviewpartner erläuterte den Aspekt von Risiko und Opportunität. Auch das neue Projekt mit Fisker sei „mit enorm vielen, großen Risiken und gleichzeitig mit enorm großer Opportunität“ verbunden. Das Risiko werden zwischen den Partnern verteilt, so Bernard Girard, nachdem es eine Zeit gegeben habe, in denen der Auftragsfertiger das komplette Risiko bei einer Fertigung für einen OEM trug (Interview U3/Management). Gesellschaftliche Anforderungen an das Unternehmen Das Unternehmen entdeckte das Geschäftsfeld „Elektrofahrzeuge“ und entwickelte einige Zukunftsperspektiven in dem Bereich. Die gesteigerte Nachfrage nach alternativen Antriebstechnologien bzw. die Erwartung einer steigenden Nachfrage eröffnete ein Marktpotential, dass auch das finnische Unternehmen erkannte. Direkt richten sich Anforderungen in Bezug auf bestimmte Umwelt- oder Sicherheitsstandards jedoch nicht an den Auftragsfertiger. Arbeitskräftepotential Durch die Veränderung der Unternehmensschwerpunkte wuchs der Stellenwert der Entwicklungsabteilung und stieg der Bedarf an Mitarbeitern in diesem Bereich. Dafür rekrutierte das Unternehmen sukzessive neue Fachkräfte. Die Rekrutierungsmöglichkeiten schilderte der Interviewpartner als schwierig – insbesondere aufgrund der geographischen Lage des Arbeitsplatzes in Uusikaupunki. Hoffnungsvoll rekurrierte er jedoch auf bisherige Erfahrungen81 (vgl. Interview U3/Management). Für die Produktion beklagte das Unternehmen keine Engpässe bei der Suche nach geeignetem Personal sondern betonte vielmehr die hohe Qualität der finnischen Produktionsmitarbeiter.
81
„Also die erfahrenen Arbeitskräfte, wie z.B. der Dr. Petra kommt aus Deutschland. Das funktioniert. Das ist ein Deutscher, der aber permanent in Finnland lebt und wohnt. Der hat seine Wohnung in Finnland. Das funktioniert, das geht.“ (Interview U3/Management).
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229
Mitbestimmung – Beschäftigungsstrategie Valmet verfügt über „bestimmte Flexibilitäten“ im Bereich der Beschäftigung. Dies äußerte sich insbesondere hinsichtlich der Arbeitszeit. Das Unternehmen geriet im Jahr 2009 in die Situation, Kurzarbeit einführen zu müssen. Aufgrund der vergleichsweise kurzen Zugehörigkeit zum Unternehmen und der Tätigkeit vor allem in französischen Unternehmen konnte der Interviewpartner über keine diesbezüglichen Erfahrungen berichten. Auch in den Pressedokumenten zu Valmet finden sich keine Hinweise auf Besonderheiten hinsichtlich der Beschäftigungsstrategie. Allerdings verwies der Manager auf die finnische Besonderheit der ausgeglichenen Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das Konfliktpotential beurteilte er als gering und spricht von einer „Partnerschaft“ (vgl. Interview U3/Management).
5.3.4
Ausblick: Perspektiven für Valmet Automotive Inc.
Die Entwicklung des finnischen Auftragsfertigers begann mit „reiner Produktionsarbeit“ für Saab. Durch diese Aufgabe etablierte das Unternehmen nach und nach auch eine Entwicklungskompetenz, die der OEM unterstützte, um die Erfahrungen der Produktion für weitere Entwicklungstätigkeiten zu nutzen. Bei der Zusammenarbeit mit Porsche stellte sich die Situation anders dar: Porsche achtete dezidiert darauf, Entwicklung und Produktion zu trennen, Valmet ausschließlich mit der Produktion zu beauftragen und hinsichtlich der technischen Entwicklung ausschließlich die interne Kompetenz einzubeziehen. Die Ursache dieser Aufteilung lag darin begründet, dass Porsche die Tochtergesellschaft CTS („Car Top Systems“) gegründet hatte, um dies als Sparte für die Entwicklung von Cabrios aufzubauen82. Das Fallbeispiel des finnischen Auftragsfertigers zeigt in besonderer Weise das Wechselspiel von Unternehmensumwelt und Unterneh82
Porsche verkaufte diese Unternehmenstochter im Jahr 2005 an Magna International. Zunächst als Joint-Venture mit DaimlerChrysler 1995 gegründet, gehörte CTS von 2003-2005 zu Porsche.
230
5 Unternehmensfallstudien
mensentscheidungen. Die Ausgangssituation des Unternehmens bestand über längere Zeit darin, als abhängige Unternehmenssparte von General Motors ein Spezialitätenwerk zu sein und damit in großer Abhängigkeit von einem OEM Produktionsstätte für Nischenfahrzeuge zu sein – zunächst in der engen Zusammenarbeit mit Saab sowie vor allem anschließend als Teil des General-Motors-Konzerns. Während dieser Zeit fungierte das Unternehmen tatsächlich als „verlängerte Werkbank“. Es gelang ihm dennoch, Entwicklungskompetenz und Erfahrungswissen aus der Produktion auszubauen, auf die es später aufbaut. Durch die Kooperation mit Porsche setzte sich die starken Abhängigkeit fort und wurde in dem Fall sogar noch dadurch verschärft, dass Porsche im Zusammenhang mit der Auftragsfertigung keinerlei Entwicklungsressourcen des finnischen Unternehmens nachfragte83. Die aktuelle Situation des Unternehmens zeigt, dass zwar Nachfrage nach Produkten besteht, die das Unternehmen herstellt bzw. herstellen kann, das Unternehmen allerdings durch die große Abhängigkeit vom OEM in seiner eigenständigen Entwicklungsmöglichkeit beeinträchtigt war. In dem Moment, in dem Porsche entschied, Valmet nicht länger mit der Produktion zu beauftragen, konnte der Auftragsfertiger nur durch die Orientierung an neuen Geschäftsfeldern und Kooperationen mit anderen Auftraggebern seine Existenzberechtigung behaupten. Diese „Wendung“ gelang dem Unternehmen. Während andere Auftragsfertiger weiter um Aufträge der OEM kämpften und versuchten, auf diese Weise mit Kleinserien ihre Produktionskapazitäten auszulasten, begann der finnische Automobilhersteller mit Kooperationen in einer neuen „Nische“. Dabei verließ er sich nicht auf die großen OEM als Auftraggeber. Partner für dieses neue Segment der Auftragsfertigung sind neue Hersteller wie Fisker oder Garia, die ausgehend von einzelnen Fahrzeugmodellen Stück für Stück in die Serienproduktion einsteigen. Während 83
„Also wir waren schon ein bißchen an der Entwicklung des Projekts frühzeitig [...] beteiligt, ja. Aber nicht an der Entwicklung, an der Konzeptentwicklung. Gar nicht. Das war also nicht die Strategie von Porsche. Das war aber ein spezifischer Fall aufgrund der Porsche-Strategie [...]. Und dadurch hat sich dann die Entwicklungs- und Ressourcenkompetenz von Valmet nicht mehr weiterentwickelt wie es eigentlich der Stand war mit Saab“ (Interview U3/Management).
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231
die Perspektive der OEM gewissermaßen „von groß nach klein“84 erfolgt, stellt sich die Situation für die neuen Auftraggeber anders da: Sie streben die Serienproduktion eines – bislang noch – exotischen Fahrzeugmodells an und sind auf die Expertise eines Unternehmens angewiesen, das diese Serienfertigung auf Grundlage seiner langjährigen Erfahrung übernehmen kann. Die Herausforderung für Valmet besteht nun darin, die Organisationsstruktur und die Produktionskapazitäten anzupassen, die auf die „klassische“ Auftragsfertigung ausgerichtet waren. Darüber hinaus fand Valmet im Zusammenhang mit den Projekten im Fahrzeugbau durch die Orientierung an technologischen Trends außerhalb der Automobilbranche (z.B. Telekommunikation) einen neuen Bezugsrahmen und integrierte Unternehmen anderer Branchen in die Fahrzeugprojekte, wie beispielsweise eine Kooperation mit Nokia zeigt. Als Vorteil nutzt der finnische Auftragsfertiger, dass die neuen Auftraggeber auf die Zusammenarbeit angewiesen sind, solange sie nicht selbst Produktionskapazitäten aufbauen und Produktionserfahrung gewinnen. Zusätzlich ist für den Erfolg dieses Modells unabdingbar, dass tatsächlich eine entsprechende Nachfrage nach den „exotischen“ Fahrzeugmodellen (elektronisch betriebenes Golfauto u.ä.) besteht. Die Fokussierung auf alternative Antriebstechnologien entspricht auch hier dem Trend der Zeit, weshalb für Valmet überhaupt erst diese Konstellation mit den neuen Auftraggebern möglich ist. Valmet ergriff durch die Umstellung des Produktionsmodells die „Flucht nach vorn“. Parallel zur Intensivierung neuer Kooperationen, um die Verluste der Porsche-Produktion zu kompensieren, baute das Unternehmen einzelne Auslandsbüros als Entwicklungs- und Vertriebsstandorte auf (Deutschland, USA, Japan, Südkorea). Ein neuer Produktionsstandort in Russland war im Gespräch, wurde jedoch nicht eingerichtet. Bislang konzentriert sich die gesamte Produktionstätigkeit auf den finnischen Heimatstandort in Uusikaupunki. Berichte und Interview zeigen, dass das Unternehmen im Hinblick auf die Fahrzeugpro84
(nach dem Motto: „Wir können Massenfertigung, kleine, besondere Produktionen stören den Ablauf, erfordern spezifische Produktionsweisen und –kenntnisse – das erledigt der Auftragsfertiger)
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5 Unternehmensfallstudien
duktion keine Internationalisierungsstrategie verfolgt hat. Die enge Bindung an Saab bzw. General Motors war sicherlich ein Grund, weshalb das finnische Unternehmen in früheren Zeiten keine „eigenen“ Auslandsstandorte eröffnete: Valmet war selbst Fertigungsstätte für ausgelagerte Produktion. Valmet gelang es, ein Alleinstellungsmerkmal zu finden und sich – trotz allgemeiner Krise durch den Auftragseinbruch im Hinblick auf die „alten“ OEM – in der Nische zu etablieren. Darüber hinaus dreht das Unternehmen insofern noch gewissermaßen „den Spieß um“, indem es durch die Beteiligung am Unternehmen „Th!nk“ selbst zum OEM wird und Fahrzeuge unter dieser eigenen Marke produziert. Das Unternehmen profitiert vom Rückhalt durch die Einbindung in die Konzernstruktur von Metso. Salopp formuliert: Die Mutter unterstützt die Tochter dabei, auch mit geringeren Stückzahlen, durch die die Produktionskapazitäten an sich nicht ausgelastet sind, profitabel zu sein. Zusammenfassend lassen sich folgende Merkmale für die Neuausrichtung von Valmet benennen: • Perspektivenwechsel, der eine Loslösung von der „klassischen Auftragsfertigung“ ermöglicht und den Druck reduziert, im schrumpfenden Marktsegment der Auftragsfertigung für die OEM Produktionen durchführen zu können • Fähigkeit, auch mit geringeren Stückzahlen das Geschäftsfeld „Fahrzeugproduktion“ fortführen zu können. • Risikobereitschaft zur Investition in neue Marktnischen. Für die Perspektiven von Valmet bietet sich die Verknüpfung mit dem zweiten Szenario an (Kapitel 4). Auf der einen Seite spielte der Ausbau der technischen Kompetenz eine wichtige Rolle für die weitere Unternehmensentwicklung. Darüber hinaus sorgen mittlerweile Netzwerke, neue Kooperationen für Perspektiven in neuen Geschäftsfeldern. In gewisser Weise sorgen die Entwicklungskooperationen im Ausland für eine Stärkung der heimischen Produktion bzw. deren Kontinuität (Kapazitäten werden nicht ausgebaut, maximal konstant gehalten). Aller-
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dings fand keine Auslagerung der höherwertigen Dienstleistungen statt, vielmehr sorgten diese Expansionen durch Verbindungsbüros dafür, Anschluss an potentielle Kooperationspartner zu finden und technische Dienstleistungen bzw. Produktionsprojekte gemeinsam mit dem Partner im Ausland durchzuführen. Gleichzeitig expandierte auch der Unternehmensbereich „technische Entwicklung“ am Heimatstandort. Gegebenenfalls könnte das Wachstum bzw. die Erfolgsmöglichkeit dieses Modells künftig dadurch beeinträchtigt werden, dass Fachkräfte nicht in ausreichendem Maße rekrutiert werden können. Sofern es Valmet gelingt, dieses Problem zu lösen und zudem die Produktionskapazitäten in Uusikaupunki an das neue Geschäftsmodell anzupassen, kann sich die Neuausrichtung als zukunftsfähig erweisen. Nachdem das Unternehmen vor allem aus dem Blickfeld der Wettbewerber geraten war, nicht über die Kooperationserfahrung mit verschiedenen OEM verfügte, hätte vermutet werden können, dass der finnische Auftragsfertiger in besonderer Weise durch den allgemeinen Rückgang in der Vergabe von Fahrzeugproduktionen betroffen wäre. „Valmet, pathbreaking in a world of its own?“. Das Unternehmen verfolgt zwei Strategien: Die Bereitschaft zur Kooperation mit neuen Partnern ermöglicht neuartige Entwicklungsprojekte für Konzeptfahrzeuge mit dem Ziel der Serienfertigung. Dabei verändert das Unternehmen die gewohnte Blickrichtung und orientiert sich zu Kooperationspartnern, die selbst keine Serienfertigung durchführen können. So gewinnt Valmet durch seine Produktionserfahrung die entscheidende Stärke in der Kooperation und wird selbst zum wichtigen Partner für den Auftraggeber. Die Umsetzung dieses Konzepts erfordert eine Anpassung der Produktionskapazitäten, um rentabel kleinere Stückzahlen als bislang gewohnt fertigen zu können. Die Beschäftigtenstruktur verändert sich dahingehend, dass der Bedarf an qualifizierten Fachkräften steigt und das Unternehmen voraussichtlich weniger Produktionsmitarbeiter benötigt.
234
5 Unternehmensfallstudien
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment Neben Karmann, Magna und Valmet spielten drei weitere Wettbewerber im europäischen Segment der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ eine mehr oder weniger große Rolle für die Auftragsfertigung. Die kurzen Unternehmensportraits bilden die Grundlage für eine Einschätzung der Unternehmensentwicklung und des jeweiligen Alleinstellungsmerkmals dieser Gesamtfahrzeughersteller. Diese Skizzen komplettieren das Bild der europäischen Auftragsfertiger. Die Entwikklungsperspektiven für jeden dieser Konkurrenten ermöglichen ein umfassendes Verständnis von Funktionsweisen in der automobilen Wertschöpfungskette und Transformationsprozessen, die neue Herausforderungen an alle beteiligen Akteure stellen. 5.4.1
Unternehmen 4 (Heuliez)
Auch in Frankreich spezialisierte sich ein traditioneller Wagenbauer sukzessive auf die Gesamtfahrzeugproduktion im Auftrag namhafter Hersteller. Das Unternehmen „Heuliez“ blickt auf eine wechselhafte Unternehmenshistorie zurück und kämpfte in den vergangenen Jahren um das Überleben der Fahrzeugproduktion. Eine Skizzierung der wichtigsten Ereignisse erfolgt ab 2003, um anschließend einen Ausblick auf die Perspektiven des französischen Auftragsfertigers zu geben. Das französische Automobilunternehmen „Heuliez“ wurde von Adolphe Heuliez im Jahr 1920 gegründet – zunächst zur Produktion von Pferdewagen. Die erste Autoproduktion folgte 1925 für Peugeot (Modell: 177B), wenige Jahre später begann die erste Busproduktion. Das Unternehmen spezialisierte sich auf Nischenfahrzeuge, Derivate, Karosserien und Klappdachsysteme. In den Bereichen Produktentwicklung und Prototypenbau beschäftigt das Unternehmen 260 Angestellte an zwei Standorten in Frankreich: in Massy (Großraum Paris) sowie in Le Pin (Westfrankreich). In der Produktion arbeiten 1.100 Angestellte an drei Standorten in Frankreich (Cerizay), Spanien (Mojados) und in der Slowakei (Trencin).
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment
235
Im Jahr 1980 gründete Heuliez die Sparte „Heuliez Bus“, die Busse im Auftrag von Renault produzierte. Renault und Volvo übernahmen diesen Betrieb 1991 und verkauften ihn im Jahr 1998 weiter an Irisbus (IVECO). In den 1980er fokussierte sich das Unternehmen auf die Gesamtfahrzeugherstellung und konnte seit Mitte der 1980er Jahre bis zur Unternehmenskrise der jüngsten Zeit über 450.000 Fahrzeuge produzieren. Im Jahr 2003 kündigte die Unternehmensleitung eine Umsatzsteigerung von 260 Millionen auf 500 Millionen Euro und eine Aufstockung der Belegschaft um 1.300 Arbeiter auf insgesamt 2.000 Angestellte und Arbeiter als Ziel an (de Saint-Seine 2003). Paul Queveau wurde neuer CEO des Unternehmens, er ist mit Adolf Heuliez verwandt, so dass das Unternehmen weiterhin durch ein Familienmitglied geführt wurde. Heuliez und die französische Dessault-Group gründeten das JointVenture „SVE“, das die Entwicklung von „hybriden Elektrovans“ vorantreiben sollte. Im Juni 2004 begann der französische Automobilhersteller mit der Produktion des Dachsystems für den Opel Tigra Twin Top. Verfolgt man die jüngere Unternehmensgeschichte, konzentrierten sich die Kooperationen mit OEM auf Opel und Peugeot. So fertigte Heuliez seit 2000 den Peugeot 206 CC, im Jahr 2004 folgten der Opel Tigra Twintop und Cleanova 2, deren Produktion die Sparte „Gesamtfahrzeugbau“ zwar in den kommenden Jahren dominierte, jedoch nicht zu großen Erfolgen führte. Die Beschäftigtenzahl schwankte zwischen 1.000 und 2.000. Im Jahr 2006 gab Heuliez bekannt, mit ASC zusammen zu arbeiten, um gemeinsam die Reichweite auszudehnen. Die schwindende Nachfrage bzw. Auftragsvergabe der OEM traf auch den französischen Gesamtfahrzeughersteller, so dass er im Oktober 2007 um gerichtlichen Gläubigerschutz bat – zwei Monate später meldete das Unternehmen Insolvenz an (Spiller 2009). Im Januar 2008 verlängerte ein französisches Gericht den Gläubigerschutz um drei Monate, um dem Unternehmen Zeit zu geben, ein neues Projekt zu entwickeln und neue Partner zu finden (Automotive News 21.1.2008). Die Perspektive auf Erhalt des Familienunternehmens hielt nicht lange: Im August 2008
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5 Unternehmensfallstudien
stieg „Argentum Motors“ mit der Anteilsübernahme von 60% (10 Mio. Euro) bei Heuliez ein. Außerdem verpflichtete sich der Investor, innerhalb der nächsten fünf Jahre weitere 10 Mio. Euro zu investieren und damit den Anteil auf 67% aufzustocken – andere Berichte sprechen von 25 Mio. Euro Investitionen, vgl. (Business Standard 2008). Frankreichs Staatsinvestor CDC übernahm dabei eine Minderheitenbeteiligung, mit 5 Mio. Euro. Welche Motive veranlassten den indischen Investor, sich an dem angeschlagenen Unternehmen zu beteiligen? Zum einen verfolgte Argentum die Strategie, die starke Vetriebsplattform und die Entwicklungsabteilung der Firma zu nutzen, um eine globale Autodesignfirma zu schaffen. Darüber hinaus bot die Investition in Frankreich die Möglichkeit, sich Know-how anzueignen, um zu einem Auftragsfertiger für europäische und japanische Fahrzeuge in Indien zu werden. Außerdem erkannte Argentum den ausgeprägten Trend, in alternative Antriebe zu investieren. Die Erfahrung im Bau und Design von Elektrofahrzeugen sprach für das Unternehmen Heuliez, das 25 Jahre in diesem Bereich tätig ist. Die Kombination von Investition und vorhandener Expertise sollte die Grundlage bilden, um den schnell wachsenden Markt für Elektroautos zu erschließen. Mit der Sparte „Heuliez Electric“ strebte Argentum an, den französischen Autobauer von einem Nischenproduzenten zu einem der führenden europäischen Produzenten von emissionsfreien Autos auszubauen. Dafür war der Aufbau eines eigenen Vertriebsnetzwerks geplant, in erster Linie um Regierungsinstitutionen mit Elektrofahrzeugen zu beliefern. Fahrzeuge für den europäischen Markt sollten in Cerizay hergestellt werden – die Planung sah vor, ab 2014 jährlich 50.000 Fahrzeuge herzustellen (Bergerolle 2008). Die Bereiche Elektrofahrzeuge, Ingenieur- und Designdienstleistungen und Gesamtfahrzeugherstellung sollten in einzelne Unternehmensteile aufgeteilt werden (Heuliez Electric, Heuliez Engineering & Design and Heuliez Manufacturing), die Sparte „Heuliez Electric“ Elektrofahrzeuge unter der Marke Heuliez für den Weltmarkt produzieren und mit den führenden OEM kooperieren, um modernste Elektrotechnologie und Fahrzeuge zu entwickeln. Die Zusammenarbeit von „Ar-
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment
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gentum Engineering & Design“ und „Heuliez Engineering & Design“ sollte die globale Marktpräsenz im Hinblick auf automobiles Design sichern. Heuliez Manufacturing stellte weiterhin in seinen Produktionsstandorten Cerizay, Spanien und in der Slowakei Gesamtfahrzeuge und Autoteile her und sollte Argentum bei seinem Einstieg in den europäischen Markt sowie mit seinem Know-how (Patente) unterstützen und Heuliez Electric bei der Produktion durch entsprechende Fertigungskompetenz ergänzen. Auf dem Pariser Autosalon präsentierten Michelin, Orange und Heuliez eine gemeinsame Elektrofahrzeugstudie, für die Michelin die Entwicklung der Antriebstechnologie übernahm, Orange die Kommunikationstechnologie integrierte und Heuliez das Chassis entwickelte (Reifenpresse 2008). Gemeinsam mit Michelin und Venturie veröffentlichte der Gesamtfahrzeughersteller im Jahr 2008 Ergebnisse der Studie „Active Wheel“, in der es um die Herstellung eines Elektrofahrzeugs ging. Die Planungen richteten sich darauf, mit diesem Fahrzeug 2010 in Großserie zu gehen (motorline.cc 2008). Die ausgeprägte Fokussierung auf Elektrofahrzeuge zeigte sich auch darin, dass Heuliez die Entwicklung weiterer Modelle von Elektromobilen plante und zudem den Prototypenbau für den „Mindset“ beenden konnte (Baseler Zeitung 2008). Nicht nur das Unternehmen selbst sondern auch das politisch-institutionelle Umfeld unterstützten die Bestrebungen zur Entwicklung und zum Bau von Elektrofahrzeugen: So gab die französische Regierung bekannt, dass sie 250 Millionen Euro in der Form eines Darlehns für die Entwicklung eines kohlenstofffreien Fahrzeug zu Verfügung stellt. In der ersten Runde wurden 11 Projekte ausgewählt, die mit 57 Millionen aus dem „pacte automobile“ finanziert wurden. Heuliez beteiligte sich mit Michelin und CEA an dem Projekt Forewheel, in dem die Zuverlässigkeit des Elektrodemonstrationsfahrzeug inklusive der Integration aller wichtigen Funktionen getestet werden sollte (Reifenpresse 2008). Im darauffolgenden Jahr (2009) beendete Argentum Motors die Partnerschaft mit Heuliez und stellte Heuliez damit vor erhebliche finanzielle Probleme: Die Medien berichteten über fehlendes Kapital in
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5 Unternehmensfallstudien
Höhe von ca. 45 Millionen Euro, um das operative Geschäft fortführen zu können. Die französische Regierung sicherte zu, aus dem Staatsfonds FSI85 die Hälfte beizusteuern, trotzdem fehlte weiterhin ein zweistelliger Millionenbetrag. Im Jahr 2009 bestand besondere Hoffnung, als der Unternehmensberater Bernard Krief ankündigte, in den angeschlagenen Auftragsfertiger zu investieren. Anfang des Jahres 2010 gab er jedoch bekannt, sich nicht am Unternehmen zu beteiligen, und eröffnete die Perspektive auf den möglichen Einstieg eines türkischen Investors (Bartnik 2010). Die finanzielle Absicherung des Unternehmens blieb ungeklärt. Am Beispiel des französischen Auftragsfertigers zeigte sich eine besondere Verbindung von Politik bzw. Verwaltung und Automobilunternehmen: 2007 wurde vermeldet, dass die französische Post in Aussicht stellte, mindestens 5.000 Elektrofahrzeuge zu kaufen (moteur nature 2007). Die eher knappe Darstellung und Würdigung dieses Falles begrenzte die Möglichkeiten, einzelne Faktoren zu bewerten, die den Umweltfaktoren und Unternehmensentscheidungen zugrunde liegen. Die Produktnachfrage als Faktor der Unternehmensumwelt spielte in diesem Fall eine sehr entscheidende Rolle: Heuliez befand sich aufgrund der geringen (bzw. nicht vorhandenen) Produktvielfalt in hoher Abhängigkeit von Opel / General Motors. Dieser OEM bot mit dem Tigra ein Nischenmodell an, dessen Erfolg womöglich im Vorfeld als hoch eingeschätzt, sich jedoch nicht einstellte. Gleichzeitig fand Heuliez mit General Motors einen Kooperationspartner, der selbst mit großen Wettbewerbsschwierigkeiten kämpfte. Insbesondere die Marke „Opel“ unter dem Dach von General Motors gehörte bereits seit den 1980er Jahren zu den problembehafteten Sparten des US-amerikanischen Konzerns, als die Sparmaßnahmen des damaligen Opel-Manager José Ignacio López zu erheblichen Qualitätsproblemem führten. Die Kooperation mit diesem selbst angeschlagenen Partner erwies sich für Heuliez nicht als för85
Die „Caisses des Dépôts“ verwaltet die Rentenbeiträge. Darüber hinaus verfügt diese Bank über Eigenmittel in Höhe von über 18 Milliarden Euro, um in Unternehmen zu investieren. Damit beteiligte sie sich an dem Staatsfonds FSI zu 51%, mit dem aus Sicht des Staates als „strategisch“ erachtete Unternehmen gefördert wurden (Bläske 2009).
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment
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derlich und bot spätestens nach der Opel-Krise im Jahr 2009 keine weitere Perspektive. Die Orientierung des französischen Auftragsfertigers hin zu alternativen Antriebstechnologien und ihrer Umsetzung in neuen Fahrzeugmodellen – konkret die Entwicklung von Elektroautos – könnte als Antwort auf gesellschaftliche Anforderungen verstanden werden, was in der Interpretation in diesem Zusammenhang zu weit geht. Vielmehr suchte das Unternehmen schlicht nach einer Nische, nach einem Marktsegment, mit dem es wieder rentabel produzieren konnte. Die Zukunft wird zeigen, wie erfolgreich dies gelingt. Die vorliegenden Berichte geben keinen Hinweis, inwieweit möglicherweise ein Fehlen qualifizierten Personals für die Werke des Auftragsfertigers beklagt wird. Der Beobachtungszeitraum von 2003 bis 2009 zeigt eher, dass ein Beschäftigungsabbau stattfand, auch für den höherqualifizierten Bereich (Ingenieure) berichtet das Unternehmen nicht von einem Ausbau der Beschäftigung86. Politische Maßnahmen im Unternehmensumfeld mit direktem Einfluss auf die Unternehmenssituation können im Fall Heuliez eindeutig diagnostiziert werden. In auffälliger Weise agierte der Staat bzw. die Provinz Poitou-Charentes als Subventionsgeber und förderte damit die Stückzahlenentwicklung für Elektrofahrzeuge87 (Barroux et al. 2010). Die Öffnung von Märkten, im besonderen die Öffnung der Kapitalmärkte bildeten die Grundlage für ausländische Investoren, zum Beispiel um in Europa tätig zu werden. Der Einstieg des indischen Investors war dadurch ermöglicht und lässt sich außerdem durch das Motiv erklären, Erfahrungen und technisches Know-How zu erlangen, um im Heimatland weitere Entwicklungen anzustoßen und das Wachstum der Märkte dort zu nutzen. Bedeutend in diesem französischen Fall eines Auftragsfertigers ist der Wechsel der Finanzierungsgrundlage des Unternehmens. Das Aus86
Den Höhepunkt an Beschäftigungsvolumen erreicht Heuliez 2004 mit 2.000 Mitarbeitern, der Rückgang auf ca. 1.000 erfolgt im Jahr 2009. Diese Maßnahme führt in Frankreich zu heftigen Diskussionen und löst Kritik gegenüber der Vorsitzenden des Regionalrates von „Poitou-Charentes“, Ségolène Royal, aus (vgl. Le Monde, Les Échoes u.a., insbesondere ab Februar 2010)
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5 Unternehmensfallstudien
scheiden oder Aufgeben des indischen Investors Argentum lässt die Frage zu, ob dort das Motiv in einer sehr kurzfristigen Gewinnorientierung bestand. Die Hoffnung auf kurzfristigen Erfolg wurde nicht erfüllt, so dass der Auftragsfertiger zunächst ohne neues Finanzierungsfundament agiert. Schnell wechselnde Investoren lassen darauf schließen, dass das die Erfolgsperspektiven des neuen Konzepts (Elektrofahrzeuge) noch nicht überzeugen. Etwas überspitzt formuliert könnte die Schlussfolgerung lauten: Der Entwicklungspfad ist eindeutig, Heuliez überlebt durch einen staatlich subventionierten Strategiewechsel und kann nur dadurch für Finanzinvestoren attraktiv bleiben. Die Anwendung des Falls auf die Szenarien scheint zunächst offensichtlich: Insolvenz und anschließendes Weiterleben (Szenario 3). Dafür braucht der Auftragsfertiger Kooperationen, um den Entwicklungsweg zum Produzenten für Elektroautos einzuschlagen. In gewisser Weise weist dies in die Richtung einer Reduktion des Unternehmensportfolios und Konzentration des Unternehmenskerns von Heuliez auf die Produktion. Die Zukunftsperspektive ist fraglich: Wenn das Unternehmen über die Bestellung von öffentlichen Einrichtungen und Verwaltung hinaus am Markt erfolgreich bestehen will, muss es sich in einem bislang noch recht unüberschaubar und schwer kalkulierbarem Markt zurecht finden. Gleichzeitig erreichte das Unternehmen bei der Orientierung auf Elektrofahrzeuge – zumindest zunächst – nicht die Stückzahlen, die ein europäischer Auftragsfertiger bei der Nischenproduktion für OEM vormals gewohnt war. Insofern ist ein sukzessiver Beschäftigungsabbau zu erwarten. Voraussichtlich hält Heuliez, sofern das Unternehmen erfolgreich am Markt mit den Projekten zu alternativ betriebenen Fahrzeugmodellen bestehen kann, die Beschäftigungssituation im Bereich der technischen Entwicklung konstant, während in der Produktion ein massiver Beschäftigungsrückgang zu erwarten ist. Die neue Strategie ermöglicht nur geringe Stückzahlen, für die die gewohnten Kapazitäten nicht mehr ausgelastet werden können. Insofern ist fraglich, inwieweit sich das Unternehmen rentabel weiterentwickeln
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment
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kann, und wie sehr es auf die öffentlichen Aufträge angewiesen sein wird.
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Unternehmen 5 (Pininfarina)
Das Unternehmen „Pininfarina“ gehört zu den bekannten „DesignSchmieden“ in der Automobilbranche. Lange Jahre spielte Pininfarina erfolgreich im Konzert der Auftragsfertiger und bekam prestigeträchtige Aufträge zur Produktion von Fahrzeugen, die wegen ihres Designs schnell bekannt und beliebt wurden. Insofern stand die Designentwicklung im Vordergrund, zu den weiteren Betätigungsfeldern der Italiener gehörte die Produkt- und Prozessentwicklung sowie letztlich die Produktion von Nischenfahrzeugen. Das Unternehmen war in Italien, Frankreich Deutschland, Schweden, Marokko und China tätig. In Italien gründete Battista Farina, der den Spitznamen „pinin“ trug, im Jahr 1930 die „Carrozzeria Pinin Farina“. Bevor es zu dieser Unternehmensgründung kam, begann er seine Karriere als „carozzien“, bis der Fiat-Chef Giovanni Agnelli sein Talent entdeckte und ihm den ersten Auftrag erteilte: Battista Farina entwarf 1912 den „Fiat Null“. Im Jahr 1920 schickte Fiat den jungen carrozien nach Amerika, damit er bei Ford die Produktionsmethoden studierte. Die Carrozzeria Pinin Farina präsentierte 1931 als erstes Fahrzeug den Lancia Dilambda, es folgte ein Modell für Fiat (Fiat 518 Ardita). Wenig später entstand aus der Kooperation mit Alfa Romeo die Produktion des 6C 1750 Gran Sport Cabrio sowie des Spider Aerodinamico, die in kleinen Serien gefertigt wurden. Die Produktionsumfänge für weitere Modelle, den Spider Version Gulietta und Giulia, waren erheblich größer und erreichten 10.000 und 17.000 Stück. Die Kooperation mit Alfa Romeo unterhielt der Auftragsfertiger auch über den zweiten Weltkrieg hinaus. In der Nachkriegszeit (1951) gelang der italienischen Fahrzeugschmiede der Durchbruch im US-amerikanischen Markts, was in besonderer Weise dem Auftritt des „Nash Healey Spider“ in Billy Wilder’s Film „Sabrina“ zu verdanken
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5 Unternehmensfallstudien
war (vgl. Pinifarina 2007). Im folgenden Jahr konnte Pininfarina eine Kooperation mit Ferrari begründen, die über lange Zeit anhielt. Die 1950er Jahre bescherten dem italienischen Auftragsfertiger einige Erfolge: Der Lancia Aurelia erreichte eine große Nachfrage, so dass nahezu eine „Massenproduktion“ notwendig war. Auch mit diesem Wagen gelang im US-amerikanischen Markt ein großer Erfolg. 1955 begann die Kooperation mit Peugeot, im Folgejahr errichtete Pininfarina einen zusätzlichen Produktionsstandort. Ferrari orderte vom Modell „250 GT“ 200 Einheiten. Im Jahr 1961 übergab der Firmengründer Battista „Pinin“ Farina an seinen Sohn Sergio und seinen Schwiegersohn Renzo Carli. In den 1960er und 1970er Jahren gelang es dem Unternehmen, verschiedene Fahrzeuge im Auftrag von Peugeot, Ferrari, Alfa Romeo und Chevrolet zu bauen und Konzeptsstudien zu entwickeln. Im Bereich Konzeptentwicklung, Forschung und Technik warb das Unternehmen 1972 damit, the „first full size wind tunnel for aerodynamic research in Italy“ zu betreiben (Pinifarina 2007). Der Unternehmensteil „Pininfarina Studi e Ricerce S.p.A.“ führte seine Tätigkeiten mit einem unabhängiger Geschäftsbereich in Cambiano. Der „Spider“ erwies sich als das Erfolgsmodell des italienischen Auftragsfertigers, das Modell „124 Sport Spider“ aus dem Jahr 1966 wird bis 1983 über 200.000 Mal gebaut. Im Jahr 1991 gründete Pininfarina eine deutsche Tochtergesellschaft (Pininfarina Deutschland GmbH), die sich technischen Entwicklungsdienstleistungen, dem Werkzeugbau sowie dem Prototypenbau widmete. Weitere Auslandstätigkeiten führten das Unternehmen 2003 nach Schweden, als joint venture gründete Volvo mit den Italienern die „Pininfarina Sverige AB“ in Uddevalla. Offene Fahrzeug baute Pininfarina für verschiedene OEM: Die Fertigung des „Ford Focus convertible“ beruhte auf einer Kooperation mit dem US-amerikanischen OEM. Pininfarina schloss außerdem eine Vereinbarung mit Mitsubishi Motors Europe zum Bau des Colt Coupé-Cabriolet, daneben engagiert sich der italienische Auftragsfertiger in einem joint venture mit „Open Air Systems GmbH to Webasto“.
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment
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Das Ende der Auftragsfertigung für Alfa Romeo und Peugeot im Jahr 2004 sowie der Produktionsrückgang für andere Modelle waren erste Ursachen einer gravierenden Unternehmenskrise. Die Schwierigkeiten nahmen 2006 zu, da die OEM Aufträge rückverlagerten (sueddeutsche.de 07.08.2008). Pininfarina hatte zuvor sehr umfangreiche Investitionen vorgenommen und blickte zurück auf zwei Jahre Verluste. Im März 2008 kündigte der Auftragsfertiger an, zukünftig nur noch Autos zu bauen, wenn sich die Auftraggeber an der Vorfinanzierung beteiligten. Bislang investierte Pininfarina und wurde von den OEM für jede gelieferte Einheit bezahlt. Für den Alfa Romeo Brera und Spider, das Ford Focus Coupe Cabriolet sowie den Mitsubishi Colt CZC investierte Pininfarina ca. 600 Mio. Euro, um die Fahrzeuge zu entwickeln und zu bauen. Diese hohen Investitionen in Kombination mit einem niedrigeren Absatzvolumen verursachten die Schieflage des Konzerns (Automotive News 17.3.2008). Im August des Jahres 2008 einigte sich Pininfarina mit seinen Gläubigerbanken auf ein sogenanntes „Stillhalteabkommen“ bis Ende September 2008. Das Ziel dieser Vereinbarung bestand darin, dass Pininfarina weiterhin Zinsen bezahlte, während die Banken in dieser Zeit nicht auf eine Rückzahlung der Kredite drängten. Pininfarina verhandelte über ein Abkommen zur Refinanzierung seiner hohen Schulden (600 Mio. Euro) und konnte die Rückzahlungsfrist auf 2014 verlängern (bfai 17.09.2008). Eine Kapitalerhöhung um 100 Mio. Euro stand an, um das Elektroautoprogramm voranzutreiben. Damit würde der Anteil der Familie unter 50% fallen (auf 30-40% anstelle der aktuellen 55%) (auto-motor-sport 11.03.2008, Automotive News 17.3.2008) Nachdem im August 2008 der Konzernchef Andrea Pininfarina bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte, mehrten sich die Spekulationen über einen Verkauf, die Vincent Bolloré oder Ratan Tata als potentielle Käufer ins Spiel bringen (handelsblatt 13.08.2008). Trotz der Rückschläge blieb das Unternehmen weiter zukunftsorientiert und stellte im September das Elektroauto Pininfarina B0 vor, das es in Koopera-
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5 Unternehmensfallstudien
tion mit Bolloré88 entwickelte (Alich 2009). Das Joint-Venture „Pininfarina-Bolloré“ und sein Projekt wurde in den Medien nicht als besonders aussichtsreich bewertet, gleichwohl strebte die Unternehmenskooperation den Start der Serienproduktion Ende 2009 an. Im Oktober 2008 bekräftigte Tata sein finanzielles Engagement für Pininfarina: Der indische Konzern plante, mit Pininfarina ein Designbüro in Indien zu eröffnen (handelsblatt 2.10.2008). Die Finanzkrise führte Tata selbst in Schwierigkeiten, so dass der Konzern nicht nur den indischen Staat um Unterstützung bittet, sondern auch für die konzerneigene Jaguar-Land-RoverGruppe auf Hilfen des britischen Staats hoffte (1,2 Mrd. Euro) (Süddeutsche 23.11.2008). Die Investition in Italien erwies sich damit aus Sicht Pininfarinas als unsicher. Die besonderen Fähigkeiten der italienischen (Automobil-) Designer spiegelten sich im Erfolg der Unternehmenstochter „Pininfarina Extra S.R.L.“, die das Design für Innenausstattung, Verpackungen, Sportgeräte, Küchen etc. entwickelte. Dieser Unternehmensteil unterhielt wiederum jeweils die Tochter „Pininfarina Recchi Building Design“ (zu 50%) sowie die Pininfarina USA Corp. Die Unternehmenssparte „Technische Entwicklung“ gehörte zu 50% der „Electric Vehicles Pininfarina Bolloré SAS“, an der Bolloré zu 50% beteiligt war. Pininfarina übernahm 2004 die Automobilsparte des Matra Konzerns (Matra Automobile Engineering S.A.S.), nachdem das Unternehmen ein Jahr zuvor auf Grund massiver Absatzprobleme verbunden mit dem Wegfall wichtiger Systemlieferanten sein Werk in Romorantin-Lanthenay schließen musste (Matra gehört mittlerweile zur EADS). In Marokko unterhielt Pininfarina über die Matra-Beteilung die „Matra Automobile Engineering Maroc S.A.S.“. Ein weiterer Auslandsstandort befand sich in Deutschland (Pininfarina Deutschland, sowie „mpx Entwicklung GmbH“ als Tochtergesellschaft). In Schweden beteiligte sich Pininfarina seit Mitte des Jahres 2005 zu 60% an der RHTU Sverige AB (als Dach88
Bei diesem Unternehmen handelt es sich um einen französischen Mischkonzern, der neben der Ölverarbeitung (Produktion von Filmen, Plastikprodukte) über Logistik und Kommunikation bis hin zur Entwicklung von unterschiedlichen Batterietypen ein recht breites Betätigungsspektrum abdeckt.
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment
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hersteller für Volvo) – die anderen 40% unterhielt die Volvo Car Corporation. Am schwedischen Standort in Udevalla waren mehr als 800 Mitarbeiter beschäftigt und produzierten ca. 20.000 Fahrzeuge pro Jahr (Volvo C70). In Italien (in Grugliasco, San Giorgio und Bairo) stellte der Auftragsfertiger Fahrzeuge für Alfa Romeo (Alfa Spider, Alfa Brera seit 2002, beide in San Giorgio), für Ford (Focus Coupé – seit 2008), und für Mitsubishi (Colt CZC seit 2006) her. Der Unternehmensstandort in San Giorgio sollte zudem Elektroautos bauen. Für neue Aktivitäten in China schloss Pininfarina im Jahr 2004 ein Abkommen mit Saic Automobile Co. über die Entwicklung eines Designs. Einen ersten Auftrag aus China bekam Pininfarina vom staatseigenen chinesischen Automobilhersteller „Chan Feng“ (bzw. Chang Feng Group) im Jahr 2005 im Bereich „Engineering und Design“. Während der zweiten Hälfte des Jahres 2005 intensivierte Pininfarina die Zusammenarbeit mit Changfeng und baute darüber hinaus eine weitere Kooperation auf: Gemeinsam mit der Anhui Jianghuai Automobile Co. (Abkürzung „JAC“) sollten DesignEntwicklung und Engineering Tätigkeiten aufgenommen werden. Diesbezüglich berichtete das Unternehmen 2006 über die Entwicklung von drei neuen Modelle für künftige Fahrzeugtypen. Neben den Investitionen in China setzte Pininfarina auch auf weitere „neue Märkte“, z.B. durch eine Zusammenarbeit mit der türkischen Firma „MC Sanayi ve Ticaret A..“, kurz „BMC“. Auch die Kooperationen mit anderen Herstellern (Peugeot Mitsubishi, Ferrari, Maserati) verwiesen auf die besondere Kompetenz von Pininfarina: Die Entwicklung von Designs für neue Modelle stand im Vordergrund der Aktivitäten, die im Auftrag der OEM durchgeführt werden. Angesichts der rückläufigen Stückzahlen in der Auftragsfertigung und der dargestellten Schwierigkeiten des Unternehmen überraschte die Entwicklung der Mitarbeiterzahlen. Auf Grundlage der Unternehmensberichte lässt sich ermitteln, dass es keinen gravierenden Beschäftigungsabbau in dem italienischen Unternehmen gegeben hat (Jahresberichte Pininfarina 2001-200889). Im Gegenteil kann man einen 89
Jahresberichte Pininfarina S.p.A. 2001-2008.
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5 Unternehmensfallstudien
Anstieg der Beschäftigtenzahlen von 2003 bis ca. 2007 beobachten, der erst 2008 abbrach, als es zu einem Abbau von ca. 1.000 Arbeitsplätzen kam (ebd). Das Spektrum der OEM, die Fahrzeugaufträge an Pininfarina erteilten, war breit: American Motors Corporation (Nash Healey), Alfa Romeo, BLMC, Cadillac, Chevrolet, Cisitalia, Citroen, Daewoo, Fiat, Fiat-Albarth, Ford, GM, Hafei, Honda, Maserati, Mitsubishi, Peugeot und Volvo. Seit 2007 kämpfte Pininfarina mit gravierenden Finanzproblemen und begab sich auf die Suche nach Investoren. Berichten zufolge sollten zum einen die Familie Pininfarina ihren Unternehmensanteil aufstocken und gleichzeitig der französische Investor Bolloré, mit dem Pininfarina eine Kooperation unterhielt, weitere Unternehmensanteile kaufen (AutomotiveWorld.com 2008). Das Unternehmen wies diese Berichte jedoch zurück. Automobil-Analysten diagnostizierten Qualitätsprobleme in der Fertigung und zu hohe Kostenstrukturen aufgrund eines zu breiten Produktspektrums als Ursache der Krise. Das Unternehmen plante, nur noch selektiv Aufträge für Gesamtfahrzeugproduktion zu übernehmen und die Gesamtproduktion zu reduzieren (Michaels 2008). Im Januar 2009 berichtete die Automobilpresse darüber, dass Pininfarina die komplette Fahrzeugfertigung einstellen wolle, sobald die letzten Aufträge abgewickelt wären (im Jahr 2011). Anschließend beabsichtigte das italienische Unternehmen, sich ausschließlich auf die Entwicklung und Fertigung von Elektrofahrzeugen zu konzentrieren (z.B. Pininfarina B0, vgl. Ciferri 2009). Im Herbst 2009 mehrten sich die Diskussionen um den Verkauf von Pininfarina. Letztlich verdankte das Unternehmen seine Rettung insbesondere den Banken, die auf 250 Millionen Euro Außenstände verzichteten. Ein Teil dieser Summe wandelten die Finanzinstitute in Eigenkapital um, gleichzeitig verpfändete die Familie 77,3% ihrer Beteiligung an dem Unternehmen an die Gläubigerinstitute. Verknüpft mit dem Erhalt des Unternehmens war der massive Abbau von Beschäftigung, der zu Beginn des Jahres 2010 die Höhe von 600 Mitarbeitern er-
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment
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reichte – ein gravierender Rückbau im Vergleich zur relativ konstanten Beschäftigung von 2.000 bis 3.000 Mitarbeitern während der letzten Jahre (vgl. Abbildung). Der Finanzinvestor Gian Mario Rossignolo übernahm eine Autofabrik von Pininfarina, zwei Werke blieben in der Hand des Unternehmens Pininfarina. Trotz der ausgeprägten Krisensituation konnte Pininfarina einzelne Aufträge akquirieren, jedoch unter sehr ungünstigen Bedingungen und vor allem unter Einschluss eines sehr hohen Risikos. Bis einschließlich 2013 liefen in den italienischen Werken einzelne Produktionen für Ford, Alfa und Volvo, Folgeaufträge gab es nicht. Der neue Unternehmenschef Silvio Angori stellte fest, dass es für die traditionelle Auftragsfertigung in Serie keine Zukunft mehr gibt (Piller 2010: 12). Dafür verwies er treffend auf die veränderten Rahmenbedingungen in der Branche: „Früher hat Fiat jährlich 600.000 Kleinwagen nur in 5 Versionen gebaut, nun sind es 330.000 in 15 Varianten.“ (ebd.). Das neue Ziel für Pininfarina bestand darin, Risiken durch die Autoproduktion zu vermeiden und sich auf die Kernkompetenz des Autodesigns bzw. von Designmodellen zu konzentrieren. Gemeinsam mit Bolloré sah das Unternehmen Marktpotential für ein eigenes Elektroauto. Während die Firmenkrise zu Beginn des Jahres 2010 vorerst als überstanden eingeschätzt wurde, suchte das Unternehmen nach einem Käufer für den Aktienanteil der Familie, der den Banken verpfändet wurde. Für Pininfarina zeigte sich, dass die Auftragssituation (also die Nachfrageproblematik) nicht für die Unternehmenskrise verantwortlich zu machen war. Gerade das breite Produktspektrum schien zu Schwierigkeiten zu führen, da das Unternehmen nicht (mehr) die erforderliche Qualität lieferte. Umgangssprachlich formuliert könnte man sagen: Pininfarina hatte sich verzettelt. In diesem Fall spielten die Unternehmensentscheidungen eine wichtige Rolle: Die Verschiebung der Unternehmensaktivitäten hin zu umfangreichen Produktionstätigkeiten und die weniger starke Fokussierung auf die besondere Kompetenz in der Design- und Karosserieentwicklung verursachen finanzielle Probleme. Die Rückbesinnung auf den im Wettbewerb sehr erfolgreichen Bereich
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5 Unternehmensfallstudien
des Automobildesigns schien einen Weg aus der Krise zu weisen. Im Fall von Pininfarina spielten die Überkapazitäten der großen OEM keine entscheidende Rolle. Dies lässt sich dadurch erklären, dass es sich bei den Fahrzeugen sehr viel stärker um Nischenprodukte handelte als bei den Konkurrenten im Segment der Auftragsfertiger. Pininfarina gelang es in gewisser Weise, ein Alleinstellungsmerkmal aufrecht zu erhalten: das besondere Gespür für automobiles Design. Ohne dass es dazu bislang entsprechende Berichte oder Nachweise gibt, ist zu erwarten, dass die Mitarbeiterzahl sukzessive reduziert werden muss. Überraschenderweise zeigten die Unternehmenszahlen im Zeitraum von 2004 bis 2007 trotz eines extremen Rückgangs der Produktionszahlen keine Veränderungen bei den Beschäftigtenzahlen (Jahresberichte Pininfarina 2001-2008, s.o.). Bei einer Neuausrichtung der Unternehmensschwerpunkte ist eine Verschiebung zu Gunsten der technischen Tätigkeitsbereiche zu erwarten, mit der eine Veränderung der Beschäftigtenstruktur verbunden ist. Die Standortentscheidungen schienen den Unternehmenserfolg nicht in besonderer Weise beeinträchtigt zu haben, möglicherweise hatte Pininfarina durch die verschiedenen Auslandsstandorte Kontakte zu OEM gepflegt. Die Finanzierungsgrundlage des Unternehmens veränderte sich durch die finanziellen Engpässe erheblich. Die Familie Pininfarina spielte eine entscheidende Rolle, als sie ihre Finanzierungsanteile an Banken verpfändete, um die Kapitalgrundlage des Unternehmens zu sichern. Diese Aspekte lassen die Vermutung zu, dass es ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Familie und Finanzinstitutionen gibt, und dass das Unternehmen – trotz qualitativer Mängel in der Produktion – sein Renommee in der Automobilbranche erhalten konnte und nach wie vor als besondere Adresse für automobiles Design gilt. Der heimische Standort etablierte die technischen Dienstleistungen spezifisch im Bereich Design. Unter Berücksichtigung dieser aktuellen Veränderungen, die außerdem mit einem Rückgang der Stückzahlen in der Fahrzeugserienproduktion verbunden waren, schien sich bei Pininfarina eine Wandlung zum „Beratungsunternehmen“ bzw. „Techni-
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schen Dientsleister“ mit besonderer Ausrichtung zu vollziehen. Die Rückbesinnung auf die Wurzeln des Unternehmens, das als „Designschmiede“ Furore machte und international Anerkennung fand, kombiniert die neue Unternehmensführung mit zwei Erkenntnissen: Für die Auftragsfertigung in Kleinserie sind Aufträge nur sehr schwierig zu gewinnen. Diese wären verbunden mit einem hohen Investitionsrisiko. Eine neue Nische für Fahrzeugherstellungen wollte auch Pininfarina besetzen und verfolgte Anstrengungen, um im Segment der alternativen Antriebstechnologien – hier Elektroautos – Fuß zu fassen. Der Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften wird auch hier steigen. Hier gilt es über die Qualifikation hinaus, mit Glück besonders kreative Köpfe zu finden, die weiterhin das Design und den besonderen Stil der Unternehmensentwürfe für neue Fahrzeuge prägen. Um diese Mitarbeiter konkurriert Pininfarina mit anderen Unternehmen, so dass dieser Konkurrenzdruck möglicherweise das Unternehmen in Schwierigkeiten bringen könnte. Als entscheidende Faktoren wirken die Struktur des regionalen (hier vermutlich nationalen) Arbeitsmarktes, das Fachkräftepotential durch Hochschulen und Universitäten, die Attraktivität der Region sowie die Fluktuation in branchenähnlichen oder –gleichen Unternehmen (hier im weitesten Sinne v.a. Industriedesign) auf die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens ein. Die finanziellen Schwierigkeiten führen bei Pininfarina nicht zur Insolvenz, eine Übernahme durch einen OEM scheint zunächst nicht zu erfolgen. Jedoch besteht die Herausforderung, einen Kapitalgeber für das verpfändete Kapital der Familie Pininfarina zu finden. Eine Übernahme durch einen OEM , der das Unternehmen eng an sich bindet bzw. in unmittelbare Abhängigkeit bringt, könnte die Wettbewerbssituation für Pininfarina beeinträchtigen: Gerade bei einer solch sensiblen Aufgabe wie dem Design eines neuen Fahrzeugs werden sich potentielle Auftraggeber vermutlich ungern an ein Unternehmen wenden, das unter dem Dach eines Konkurrenten firmiert. Ähnlich verhält sich die Situation bei bestimmten anderen Investoren: Ob gerechtfertigt oder nicht – die Angst vor „Ideenklau“ ist groß, beispiels-
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5 Unternehmensfallstudien
weise vor Investoren aus „jungen“ Automobilregionen, deren Motiv für die Investition in Europa im Erwerben von know-how u.ä. besteht. Daher bleibt abzuwarten, inwieweit es Pininfarina gelingt, die Risiken hinsichtlich der Investoren-Frage abzuwenden und die Kernkompetenz im Geschäftsfeld Automobildesign erfolgreich auszubauen. Dort könnte es in alte Fußstapfen zurückkehren und die Tradition der italienischen Design-Häuser im Automobilbau fortsetzen. Fraglich ist darüber hinaus, welches Entwicklungs- und Marktpotential Pininfarinas „Elektroauto“ besitzt und wie die weitere Zusammenarbeit mit Bolloré verläuft. Die Transformation zum „technischen Dienstleister“ hieße für Pininfarina: Das Hauptbetätigungsfeld sind Dienstleistungen in der Konzeption von Fahrzeugen mit einem besonderen Fokus auf den Aspekt „Design“ – für technische Entwicklungen, die alternative Antriebe integrieren, ist Pininfarina auf Kooperationen angewiesen.
5.4.3
Unternehmen 6 (Bertone)
Das Automobilunternehmen Bertone gilt als ältester Contract Manufacturer Italiens. Das Unternehmen fußt auf vier Standbeinen: „Stile Bertone“ als Unternehmensbereich für Design Studien, Machbarkeitsstudien im Bereich „Engineering“ sowie Modell- und Prototypbau, „Bertone Engineering“ als Sparte für Produkt- und Prozessingenieurleistungen, „Carrozzeria Bertone“ als Kernstück für die Fahrzeug-Produktion und Prototypenproduktion90 und „Socar-ICS“, die sich der Produktion von speziellen Fensterscheiben widmeten. Giovanni Bertone, der sich zum Spezialisten für den Bau und die Reparatur von Pferdekutschen entwickelte, gründete 1912 die „Carozzeria Bertone“. Den ersten Auftrag erteilte die Società Ligure Piemontese Automobili (SPA), ein Automobil- und Militärfahrzeughersteller im Jahr 1921. Früh setzte Bertone die aus den USA übernommene Fließ90
In den „besten“ Zeiten stellt die „Carrozzeria Bertone“ ca. 70.000 Fahrzeugen im Jahr her, 1990 lag die Produktion noch bei 30.000.
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment
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bandtechnik ein. Giovanni Bertones Sohn Giuseppe – genannt Nuccio – gelang es, das Unternehmen zu einem führenden Designspezialisten für Automobile zu machen. Dennoch beklagte auch dieser italienische Gesamtfahrzeughersteller große wirtschaftliche Probleme. Schon im Jahr 2001 stellte Bertone ein Konzept für ein Elektrofahrzeug vor und präsentierte das elektronische Konzeptauto „by wire“. Zwar erreichte die offizielle Beschäftigung im Jahr 2003 noch die Zahl 1.700, davon wurden 700 Mitarbeiter jedoch von Juli bis November vorübergehend entlassen, die übrigen 1.000 arbeiteten nur jeden zweiten Tag, die jährliche Fahrzeugproduktion reduzierte sich von 35.000 (2002) auf 22.000. Das Unternehmen entließ Bruno Cena, der seine Tätigkeit als CEO im Jahr 2000 aufgenommen hatte, im Jahr 2003, weil er keine neuen Fertigungsaufträge an Land ziehen konnte – Lilli Bertone trat an seine Stelle. Doch auch der Witwe von Giuseppe Bertone gelang es nicht, das Unternehmen aus der Krise zu führen. Im Jahr 2005 erreichte die Zahl der produzierten Fahrzeug nicht mehr die Marke von 10.000, 1.500 Mitarbeiter sind offiziell bei Bertone beschäftigt, davon allerdings 1.400 vorübergehend entlassen. Das Unternehmen sorgte im März 2005 beim Genfer Automobilsalon mit einer Konzeptstudie für das Design von Großraumlimousinen für Furore (Handelsblatt 2005b). Der Zukunft der Fahrzeugserienproduktion konnte dies jedoch nicht zu neuen Erfolgen verhelfen. Auch im Jahr 2007 beteiligte sich der italienische Auftragsfertiger an der Genfer Automobilmesse: Dort präsentiert er einen kleinen Spider (Basis: Fiat Panda) und erinnert Publikum und OEM an die langjährige Kooperation mit dem italienischen Automobilkonzern (Grünweg 2007). Im Dezember 2005 stellte Bertone die Volumenproduktion ein. Seit diesem Zeitpunkt wurden die 1.300 Mitarbeiter bis zum 31.12.2007 durch ein vom Staat finanziertes Kündigungsschutzprogramm finanziert (Automotive News, 31.1.2008). Im November 2007 stellte das Unternehmen einen Insolvenzantrag wegen anhaltender Verluste über drei Jahre in Folge (bfai 17.09.2008). Einen Monat später, im Dezember 2007, folgte die Ankündigung durch Gian Mario Rossignolo, Konzernmanager, der
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5 Unternehmensfallstudien
zuvor bei Fiat und Telecom Italia tätig war, Bertone für einen symbolischen Euro kaufen zu wollen. Kurzfristig bestand eine Konkurrenz zwischen Gianmaria Rossignolo und Domenico Reviglio, der ebenfalls Interesse am Turiner Autobauer signalisierte (Turiner Investor, Gründer der Gruppo Prototipo) (Automotive News 18.2.2008). Am 1.1.2008 gab Lili Bertone bekannt, dass sie 65% der Carrozzeria Bertone und 100% von Stile Bertone an Domenico Reviglio (Keplero, Gründer der Gruppo Prototipo) verkaufen würde. Sie selbst würde 35% in dem neu geschaffenen Konzern halten. Der Vertrag wurde am 23.1.2008 unterzeichnet. Das Unternehmen sollte noch zwei Monate unter Insolvenzschutz bleiben. Allerdings bezeichneten die Töchter von Lilli Bertone die Transaktion als illegal, da die Mutter nicht alle Anteile kontrollieren würde, die sie verkauft hatte. Diese Ansicht vertrat auch ein Turiner Gericht, das am 28.1.2008 den Verkauf stoppte (Lilli Bertone kontrolliert 20% der „Carrozzeria Bertone“, über die anderen 45% verfügt die Finanzsparte des Unternehmens „NuBe“, deren Anteile wiederum Familienmitgliedern gehören). Gleichzeitig mit dem Einstieg von Domenico Reviglio setzte die italienische Regierung eine dreiköpfige Kommission ein, welche die Leitung der Fahrzeugproduktion übernehmen und die Zukunft des Unternehmens und seiner Arbeiter innerhalb von 24 Monaten sichern sollte (Automotive News 21.1.2008). Daraufhin zog sich Reviglio zurück, um nicht in juristische Streitereien hineingezogen zu werden. Aufgrund der anhaltenden Streitigkeiten über die Zukunft des Unternehmens wurde der Familie die Kontrolle über die Holding entzogen – Lili Bertone strebte eine Fortführung der Produktion und einen Erhalt der Arbeitsplätze an, ihre beiden Töchter wollten die Unternehmenswerte verkaufen. Ein Turiner Gericht bestellte am 11. März 2008 Maurizio Gili als neuen Geschäftsführer. (Automotive News 17.3.2008, Automotive News 31.1.2008, Automotive News 18.2.2008). Bertone plant, die Arbeit an dem Konzeptauto BAT 2 auf dem Genfer Autosalon 2008 zu präsentierten, sagte aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten jedoch den Stand auf dem Salon kurzfristig ab. Im August 2009 gab Fiat bekannt, den Auftragsfertiger Bertone zu
5.4 Unternehmensportraits der Wettbewerber im Segment
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übernehmen (Piller 2009, businessweek.com 2009). Fiat erklärte sich bereit, 1.100 Mitarbeiter zu übernehmen und 150 Millionen Euro in das Bertone-Werk zu investieren – der neue Produktionsstandort sollte Fiats Spezialitätenwerk für Premiumfahrzeuge werden (z.B. Lamborghini Countach, Lancia Thesis). Bertone produzierte von der Gründung bis zur Insolvenz insgesamt 123 Fahrzeugmodelle für verschiedene OEM: Fiat, Lamborghini, Citroën, Alfa Romeo, Volvo, Lancia, Opel, BMW, Ferrari, VW, Daewoo, Skoda, Audi, Lancia, Ferrari, Maserati, Iso, Arnolt, Siata, Healey, Autobus, Diatto und SPA. Sofern die Geschäftsberichte die richtigen Zahlen wiedergeben, überrascht im Fall Bertone das Verhältnis zwischen Beschäftigungsentwicklung und der Entwicklung der Produktionszahlen. Zwar nahm die Beschäftigungszahl 2002 recht stark ab, hielt sich anschließend jedoch trotz Unternehmenskrise konstant (vgl. Geschäftsberichte Bertone 2000-200891). Die Ankündigung des neuen Unternehmens-eigners Fiat bestätigte diesen Befund: In der Produktionsstätte von Bertone sollten weiterhin über 1.000 Arbeitsplätze erhalten bleiben. Die Kompetenz in der Konzeption außergewöhnlicher Karosserien bzw. Fahrzeugdesigns sicherte den Unternehmenserfolg von Bertone über lange Zeit und führte zu sympathischen (Unternehmens-)Bezeichnungen: „Karosserienschneider“, Designschmiede, Designstudio, Auto im „Bertone-Dress“, Styling-Werkstatt oder schlicht „Autodesigner“ (z.B. (Aachener Nachrichten online 2010, Spiegel Online 2003). Über viele Jahre, insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren gelangen Bertone erfolgreiche, zum Teil futuristische Kreationen, die allerdings immer mit den segmenttypischen Schwankungen verbunden waren. Der massive Einbruch der Produktionszahlen ab 2003 sorgte für solch akute Finanzierungsschwierigkeiten, die in die Insolvenz des Unternehmens führen. Das Familienunternehmen gelante in der Folgezeit durch Auseinandersetzungen um die Finanzierungsstruktur in die italienischen Schlagzeilen. Jedoch kam es schließlich zu einer Lösung, die 91
Unternehmensberichte Bertone 2000-2008(Bertone 2008, Bertone 2007, Bertone 2005, Bertone 2004, Bertone 2003, Bertone 2002, Bertone 2001, Bertone 2000).
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5 Unternehmensfallstudien
eine besondere Variante des Insolvenz-Szenarios darstellt: Insolvenz und Übernahme durch einen OEM. Die Übernahme durch den FiatKonzern sicherte die Kontinuität der Produktionstätigkeiten im Werk in Grugliasco nahe Turin. Das Unternehmen wurde in verschiedene Bereiche geteilt: Die „Carrozzeria Bertone“ als Produktionsstätte, die von Fiat übernommen wurde, „Bertone Engineering“ als technischer Dienstleister, das DesignCenter „Stile Bertone“ und „Bertone Glass“. Die Planungen des FiatKonzerns lassen vermuten, dass aus der ehemaligen BertoneProduktion ein „Spezialitätenwerk“ für den OEM werden kann. Nachdem Fiat sich nach der Übernahme von Chrysler zunächst der Sanierung des US-Autobauers widmet, ermöglicht die neue (ehemalige Bertone-) Produktionsstätte in Turin, Chrysler-Fertigungen für den europäischen Markt zu übernehmen. Darüber hinaus vertritt insbesondere die Design-Sparte „Stile Bertone“ das traditionelle Kerngeschäft des Unternehmens und versucht, durch Messeauftritte, die Vorstellung neuer, spektakulärer Fahrzeugkonzepte und Designstudien in diesem Geschäftsfeld an die Unternehmenserfolge früherer Zeiten anzuknüpfen. Insofern kennzeichnen zwei Pfade die Entwicklungsperspektive des Unternehmens Bertone: Ein führender OEM (Fiat) übernimmt die Fertigungsstätten und nutzt künftig die Produktionskapazitäten – möglicherweise vor allem für Nischenproduktionen des eigenen Konzerns. Das ehemalige Bertone-Werk ist „klein genug“, um sich für Kleinserienproduktionen zu eignen. Die Sparte „Stile Bertone“ verfolgt offensiv den Weg eines technischen bzw. vielmehr konzeptionell-künstlerischen Dienstleisters. Dazu ist zum einen Glück mit kreativem Personal und hochqualifizierten Fachkräften notwendig, die gewissermaßen den „Nerv der Zeit“ treffen und damit Geschick bei neuen Fahrzeugkonzepten beweisen, die auf das Interesse der Kundschaft stoßen. Zum anderen verbessert eine Zusammenarbeit mit der Produktion bzw. die Nutzung von Erfahrungswissen aus der Produktion die Erfolgswahrscheinlichkeit für diesen Unternehmenszweig. Der Einstieg von Fiat ermöglicht somit Perspektiven
5.5 Schlussfolgerungen
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für Bertone und bietet eine gewisse Grundabsicherung – solange sich der OEM im Wettbewerb der internationalen Automobilbranche behaupten kann und damit langfristig eine stabile Basis in der Konzernstruktur darstellt.
5.5 Schlussfolgerungen Auf Basis der Fallstudien ergeben sich Schlussfolgerungen in zweierlei Hinsicht, um die Veränderungen im Branchensegment zu analysieren. Einerseits ermöglichen die Beispiele, die veränderte Welt der Auftragsfertiger zu charakterisieren und die Entwicklungsperspektiven für die einzelnen Unternehmen aufzuzeigen. Daraus ergeben sich drei Varianten für den Fortbestand der Kleinserienfertigung. Andererseits zeigen die Unternehmensfälle, welche Ursachen es für die Veränderungen gibt. Dabei erweitert sich die Perspektive, die sich zunächst auf die Auftragsfertiger richtete, um deren Auftraggeber sowie die veränderten Rahmenbedingungen im automobilen Wertschöpfungsnetzwerk.
5.5.1 Die veränderte Welt der Auftragsfertiger Die „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ entwickelten sich aus Manufakturen im Fahrzeugbau parallel zur gesamten Branche vor allem nach dem zweiten Weltkrieg zu spezialisierten Automobilproduzenten. Dabei bildeten sie spezifische Kompetenzen für Nischenfahrzeuge aus und fokussierten die Kleinserienproduktion, die für die großen Werke der OEM zumeist schwierig oder unmöglich zu integrieren war. Im Laufe der Zeit kristallisierten sich vier verschiedene Varianten bzw. Motive für die Auftragsvergabe heraus: • Die klassische Nischenfertigung. • Das „peak shaving“: die Übernahme von Produktionsspitzen zumeist in der Anlaufphase einer neuen Serienproduktion.
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• Die Übernahme von Auslaufserien. • Die Produktion für Lokalisierungsstrategien (ausländischer OEM) Insbesondere am Beispiel von Karmann, Magna und Valmet zeigt sich, dass diese Unternehmen von den OEM in mindestens einer dieser Varianten zum Teil umfangreich mit Aufträgen zur Fahrzeugfertigung versorgt wurden. Insgesamt beklagten die Unternehmen des Segments in den vergangenen Jahren jedoch einen massiven Rückgang des gesamten Auftragsvolumens für Nischen- bzw. Kleinserienproduktionen der OEM. Nach wie vor besteht eine Nachfrage für Nischenprodukte – die Ausdifferenzierung von Modell- und Ausstattungsvarianten spricht sogar dafür, dass gewissermaßen die „Verteilungsmasse“ für Kleinserienproduktionen zunimmt. Die Entwicklung der Modularisierung und Integration von Plattformstrategien sowie weitere technische Veränderungen in der Produktion versetzten die OEM in die Lage, Kleinserieund Nischenproduktionen selbst durchzuführen. Im Rahmen der Gespräche mit Experten in den Unternehmen stellte sich die Frage, ob und in welcher Qualität tatsächlich eine immer stärkere Ausdifferenzierung in den Werken der OEM möglich ist, die bislang auf größere Serienvolumina ausgerichtet waren. Der Prozess vertikaler Integration durch die OEM in den eigentlichen Betätigungsfeldern der Auftragsfertiger zeigte, dass die Realität (zunächst) für diesen Veränderungsprozess spricht. Standortsicherungsvereinbarungen, welche die OEM trotz massiver Überkapazitäten geschlossen haben, verstärkten die Neigung bzw. Anstrengungen der OEM, auch Kleinserienfertigung in die eigenen Werke zu integrieren. Das „peak shaving“ betrieb Valmet im Auftrag von Porsche über lange Jahre. Jedoch war es – abgesehen von einem kleinen Intermezzo bei Magna – die einzige nennenswerte Umsetzung dieser Variante. Dabei spielt in besonderer Weise eine Rolle, dass die OEM für ein solch sensibles Produkt wie ein neues Fahrzeugmodell nur ungern das entsprechende Wissen an Dritte weitergeben. Die Vorgehensweise von
5.5 Schlussfolgerungen
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Porsche bestätigt diese Vermutung: Bewusst nutzte der OEM den finnischen Auftragsfertiger ausschließlich für die Produktion, ohne ihn in Entwicklungsprozesse einzubinden. Anders als bei der Nischenfertigung, die gerade wegen der besonderen technischen Kompetenz an einen Auftragsfertiger vergeben wurde, handelt es sich beim „peak shaving“ um ein eigenes Modell des OEM, für das er zuvor nicht die Kompetenz des Auftragsfertigers benötigte. Als etwas weniger „sensibel“ hinsichtlich des Unternehmenswissens erscheint die Variante, Auslaufserien an einen Auftragsfertiger zu vergeben. Dies zeigt sich in den Fallstudien als ein Modell mit Erfahrungswerten. Allerdings besteht auch hier kein breites Marktpotential: Zumeist sind die eigenen Werke der OEM nicht ausgelastet (Überkapazitäten), so dass zunächst diese Produktionsressourcen genutzt werden können, ohne dass ein externes Unternehmen mit der Fahrzeugfertigung beauftragt wird. Die Variante, für eine Lokalisierungsstrategie Produktionsvolumina an Auftragsfertiger zu vergeben scheint auf den ersten Blick für beide Seiten (OEM und Gesamtfahrzeughersteller) attraktiv zu sein. Auf den zweiten Blick offenbaren die Fallstudien einen Nachteil, der die erste Freude über den Auftrag nach Beginn der Produktion trübt: Da es sich häufig um Volumenmodell handelt, kommt es zunächst zu einem kurzfristig starken Anstieg der Produktionszahlen, der bei rückläufiger Nachfrage oder anderen externen Einflussfaktoren (Wechselkursschwankungen, fehlerhafte Einschätzung des Nachfragevolumens) für eine schnelle Reduktion der Produktionszahlen sorgt. Richtet der Auftragsfertiger seine Produktionskapazitäten auf das zunächst angenommene Volumen bzw. die erwartete Stückzahl aus, muss er in der Folgezeit daraus entstandenen eigenen Überkapazitäten abbauen (vgl. Karmann, Magna). Dies ist nicht nur mit hohen finanziellen Verlusten, sondern auch zum Teil gravierenden sozialen Folgen verbunden, wenn kurzfristige Entlassungen nicht mehr zu vermeiden sind. Der Rückgang der vergebenen Fahrzeugproduktionen bzw. die Rückverlagerung bisheriger Auftragsfertigungen betraf alle Unterneh-
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5 Unternehmensfallstudien
men in diesem Segment. Vergleicht man die Reaktionen bzw. Bewältigungsstrategien in dieser Krise, können zunächst zwei Varianten unterschieden werden: Überleben oder Insolvenz. Drei der sechs Unternehmen stellen im Beobachtungszeitraum einen Insolvenzantrag. Das Fortbestehen der Fahrzeugproduktion scheint im Fall von Karmann und Bertone mit der Übernahme durch einen OEM (Volkswagen bzw. Fiat) gesichert. Ob und in welchem Umfang der jeweilige OEM die ehemaligen Betriebsstätten der Auftragsfertiger als eigenes „Spezialitätenwerk“ nutzt, ist noch nicht durch entsprechende Produktionstätigkeiten bestätigt, kann jedoch als realistisch eingeschätzt werden. Die Situation des insolventen französischen Unternehmens Heuliez ist nach dem Ein- und Ausstieg verschiedener Investoren noch ungewiss, staatliche Finanzierung stützt bislang das Unternehmen. In allen drei Fällen nutzen Unternehmenssparten, die nach der Insolvenz weiter bestehen, bestimmte Nischen, die jeweils ein hohes Maß an technischen Dienstleistungen bedürfen: Karmann (mit einer aus der Insolvenz gegründeten Gesellschaft) und Heuliez (staatlich subventioniert) konzentrieren sich auf Innovationen für alternative Antriebstechnologien und versuchen, sich insbesondere durch Fahrzeugkonzepte in dieser Nische zu etablieren. Bertone besinnt sich auf die „traditionelle“ Kompetenz des Fahrzeugdesigns und verfolgt diesen Unternehmenszweig mit „Stile Bertone“ weiter. Bei allen handelt es sich bei dieser Blickrichtung um eine Transformation zum „technischen Dienstleister“ ohne direkte Produktionstätigkeit (für Serienproduktionen). Das Unternehmen Pininfarina besteht – ohne Insolvenz – weiter, befindet sich aber in einer strukturellen Krise. Das rückläufige Auftragsvolumen beeinträchtigt die Unternehmenssituation massiv und ohne einen finanzstarken Investor bleibt ungewiss, wie lange der italienische Auftragsfertiger von einer Insolvenz verschont bleibt. Die Transformation zum technischen Dienstleister mit Schwerpunkt Fahrzeugdesign versucht Pininfarina, um den Rückgang in der Produktion auszugleichen. Auch dieses Unternehmen „entdeckte“ den Trend alter-
5.5 Schlussfolgerungen
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nativer Antriebstechnologien als Marktnische, in der es seine Entwicklungs- und Produktionskompetenzen unter Beweis stellen will. Den Unternehmen, die trotz der Krise des Branchensegments, auch im Fahrzeugbau ihre Existenz – relativ stabil - sichern konnten, sind drei Merkmale gemein: Sie gehören zu einem multinationalen Konzern. Sie betreiben Entwicklungsstandorte in Kundennähe und nutzen Kooperationen im Bereich der technischen Entwicklung als Brückenkopf für mögliche Aufträge zur Fahrzeugproduktion. Die Produktion (von Gesamtfahrzeugen) konzentriert sich auf den Heimatstandort. Im Vergleich von Valmet und Magna gibt es jedoch, was die strategische Ausrichtung angeht, gravierende Unterschiede. Magna setzt auf die Kontinuität von Auftragsfertigungen für „traditionelle“ OEM und engagiert sich mit Konzepten für alternative Antriebstechnologien zunächst im Rahmen technischer Entwicklungsleistungen. Allerdings verweisen die Interviews darauf, dass Magna hier ein Marktpotential sieht, von den OEM für Kleinserien dieser Nischenfahrzeuge beauftragt zu werden. Als entscheidend stellen die Interviewpartner dabei heraus, dass das Unternehmen die passenden Konzepte für Serienproduktionen von Elektro- oder Hybridfahrzeugen vorlegen, bevor der OEM selbst mit seinen eigenen Entwicklungsarbeiten zu vergleichbaren Ergebnissen kommt. Insofern handelt es sich um eine neue „Nischenfertigung“ von bislang „exotischen“ Fahrzeugen, für deren Produktion eine Auslagerungsentscheidung der OEM aus technischen, produktionsorganisatorischen Gründen oder mit dem Ziel der Risikominimierung plausibel erscheint. Valmet hingegen konzentriert sich (zunächst) nicht mehr auf die bekannten, „traditionellen“ OEM, sondern nutzt die Nachfrage jener neuen Anbieter, die Fahrzeuge in Serie produzieren wollen, jedoch selbst nicht über eigene Ressourcen verfügen. Damit verändert das Unternehmen seine Rolle im Segment der Auftragsfertiger. Zum einen produziert es – im Anschluss an umfangreiche eigene Entwicklungstätigkeiten – Fahrzeuge im Auftrag, zum anderen entwickelt sich das Un-
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5 Unternehmensfallstudien
ternehmen durch den Einstieg bei „Th!nk“ selbst zu einem (kleinen) OEM und fertigt Automobile unter diesem Markennamen. Tabelle 5-1: Anwendung der Szenarien auf die Unternehmensfälle
(SSV = Standortsicherungsvereinbarung)
Auf die Frage nach den Reaktionen auf die Krisensituation, konnten die Fallbeispiele unterschiedliche Antworten geben. Hannan und Freeman verweisen darauf, dass für eine erfolgreiche Adaption an sich verändernde Rahmenbedingungen das Tempo der Veränderung von Strategien innerhalb der Organisation entscheidend ist (Hannan et al. 2008). Die empirischen Fälle illustrieren einen solchen Zeitbezug; darüber hinaus lässt sich für die beiden über lange Zeit marktführenden Unternehmen ein gewisses Maß an Trägheit konstatieren, welches die Veränderungen erschwerte. Diese Erklärung erzeugt jedoch unmittelbar die Anschlussfrage, warum keine bessere Adaptionsfähigkeit besteht und
5.5 Schlussfolgerungen
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die Trägheit eine Verbesserung der Wettbewerbssituation lähmt. Zur „Adaption an sich veränderte Rahmenbedingungen“, wozu auch die Veränderung der Geschäftsbeziehungen zählt, müssten diese Veränderungen zunächst überhaupt wahrgenommen werden. Das Problem der Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen verschärft sich, wenn diese Unternehmen ihrerseits spezifische Investitionen gebunden haben im Vertrauen auf einen Fortbestand des Branchensegments. Die Entwicklung der Unternehmen in den Fallstudien zeigten, dass die Unternehmen insbesondere Mitte der 2000er Jahre ein hohes Auftragsniveau erreichen konnten, das mit entsprechenden Produktionskapazitäten bewältigt wurde. Wenngleich mit Blick auf die Beschäftigten bereits Vorkehrungen getroffen wurden (befristete Verträge, Leiharbeit), um die Kapazitäten bei einem Auftragsrückgang reduzieren zu können, so ließen sich andere Produktionskapazitäten (Investition von Anlagen, z.B. Lackieranlage, modernde Produktionslinien) nicht mehr flexibel anpassen. Gleichwohl eröffnen die Fallstudienergebnisse die Möglichkeit, künftig zwei Wege für die weitere Unternehmensentwicklung als Auftragsfertiger zu beschreiten: Werde Exot und bleibe „klein genug“ mit einer wettbewerbsfähigen Entwicklungskompetenz oder schlüpfe unter das Dach eines Konzerns (wenn du nicht schon in eine Konzernstruktur eingebunden bist)! Unter Bezugnahme auf die Tradition der japanischen Automobilindustrie, für die Auftragsfertigung Tochtergesellschaften zu nutzen, die eingebunden in die Konzernstruktur Spezialitätenwerke betreiben, könnte diese Variante mit „Japanisierung“ betitelt werden. Nun noch über ein geringes Volumen der vertikal desintegrierten Fahrzeugfertigung „nach altem Muster“ entscheidet der Markt. Verknüpft man nun die „Exoten“, die „Spezialitätenwerke der OEM“ und die „Auftragsfertigung nach klassischem Muster“ mit den Optionen, die grundsätzlich für die Auftragsfertigung bestehen, ergeben sich jeweils Entwicklungsperspektiven, die mit bestimmten Voraussetzungen verbunden sind. Prädestiniert für die Übernahme von Auslaufserien sowie das „peak shaving“ sind die Spezialitätenwerke
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5 Unternehmensfallstudien
und die Unternehmen, die auf das bisherige Geschäftmodell setzen. Beide verfügen über entsprechende Kapazitäten, im Falle der Spezialitätenwerke bliebe das Produktionswissen innerhalb der Konzernstruktur. Für die Umsetzung von Lokalisierungsstrategien bieten beide Varianten keine optimalen Voraussetzungen: Der Exot ist voraussichtlich zu klein, wenn es um die Etablierung eines bestimmten Modells in einem neuen Markt geht (vgl. Kia/Chrysler). Die Tochtergesellschaft eines OEM scheint für einen Konkurrenten des OEM nicht der geeignete Ort, um ein neues Fahrzeugmodell fertigen zu lassen – es sei denn, es besteht die Bereitschaft zu einem Joint-Venture und ein gemeinsames Interesse an der Lokalisierung des OEM im jeweils regionalen Markt. Damit gewinnt das traditionelle Geschäftsmodell einen Vorteil, da es sich um konzernunabhängige Fertigung mit ausreichenden Produktionskapazitäten handelt. Theoretisch besteht als drittes Motiv für die Auftragsfertigung der gewissermaßen „klassische“ Zusammenhang: Die OEM sind nicht in der Lage, ein Fahrzeug selbst zu produzieren (verfügen über kein eigenes Spezialitätenwerk) und leiden nicht unter Überkapazitäten. In diesem Fall kommt es auf das Volumen dieses Auftrags an, ob die Kapazitäten des Exoten ausreichen bzw. erweist sich der traditionelle Auftragsfertiger als geeigneter Partner. Vermutlich wählt ein OEM für diese Nischenfertigung kein Spezialitätenwerk eines konkurrierenden OEM, außer es gibt Vorteile einer solchen Kooperation. Eine weitere Option, die beiden Unternehmensmodellen offensteht, bietet die Etablierung einer „neuen“ Nische: Die (Klein-)Serienproduktion eines Elektroautos o.ä. Das Modell des „Exoten“ ist gerade auf die Anforderungen einer solchen Produktion ausgerichtet, für die Innovationsfähigkeit und Flexibilität entscheidend sind.
5.5.2 Ursachen für die Veränderungen im Branchensegment Für die Automobilhersteller, die über lange Zeit eine Zusammenarbeit mit Auftragsfertigern pflegten, führten insbesondere Überkapazitäten
5.5 Schlussfolgerungen
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dazu, dass sie im Zeitraum von 2004 bis 2006 Beschäftigungspakte schlossen, die bis 2011 laufen92. Die eingeschränkte – oder drastischer ausgedrückt: unmögliche – Prognosefähigkeit zur Nachfrage neuer Modelltypen erzeugte massive Überkapazitäten der OEM. Im Allgemeinen beruht die Entscheidung für ein neues Fahrzeugmodell, sei es als Nachfolger eines bereits vorhandenen Fahrzeugtyps oder als Neuentwicklung, auf Marktprognosen. Dass die Unternehmen diese im tatsächlichen Marktgeschehen zumeist nicht erreichen, lässt sich insbesondere durch ein logisches Grundproblem erklären: Das Unternehmen muss nach der Investition in die Entwicklung eines neuen Fahrzeugs und dem Abschluss einer Konzeptstudie vom Erfolg(spotential) des neuen Produkts überzeugt sein, um mit der Produktion zu beginnen, die wiederum weitere Investitionen notwendig macht. Dabei muss das Unternehmen gewissermaßen „daran glauben“, dass sich das Modell gegen vergleichbare Angebote der Konkurrenten durchsetzt, um die Vorstellung aufrecht zu erhalten, eine ökonomisch rationale Entscheidung getroffen zu haben. Bei begrenztem Nachfragevolumen insbesondere auf den gesättigten westeuropäischen und US- amerikanischen Märkten kann jedoch letztlich nicht jedes Fahrzeug einen solchen Nachfrageerfolg verbuchen. Kalkulierte hingegen ein Unternehmen im Vorfeld die potentiellen Verluste des Modells in seiner Fahrzeugklasse zu Gunsten der Konkurrenzmodelle ein, müsste es am eigenen Konzept zweifeln. Eine theoretische Erklärung für dieses Phänomen liefert der „Overconfidence-Effect”, den insbesondere experimentelle Sozialpsychologen und Ökonomen seit den 1980er Jahren nachweisen (vgl. z.B. Alpert et al. 1982). Um das Problem der Überkapazitäten zu bewältigen und Kosten zu reduzieren, sahen sich die OEM gezwungen, Beschäftigung abzubauen. Traditionell zeichneten sich die Beschäftigungsbedingungen in der Automobilindustrie durch komfortable Lohnniveaus und
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Übersicht: Volkwagen (2004/2005 bis 2011), Audi (2005 bis 2011), Ford (2006 bis 2011), Mercedes Benz (2004 bis 2011), Porsche (2004: Ankündigung eines „Verzichts auf betriebsbedingte Kündigungen“ bis 2010), BMW schloss für seinen Leipziger Standort eine „Formel für Arbeit“ ab, die auf Basis des Flächentarifvertrags eine Flexibilität an Arbeitszeitmodellen ermöglicht.
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5 Unternehmensfallstudien
Arbeitsbedingungen aus, was den Kostendruck in besonderer Weise erhöhte. Allerdings ließen sich Beschäftigungsvolumina nicht ohne weiteres bzw. kurzfristig abbauen, da die Unternehmen in diese Mitarbeiter investiert hatten und möglicherweise auf einen konjunkturellen Aufschwung warteten, bei dem entsprechend ausgebildetes Personal wieder gefragt wäre. Entlassungen und Wiedereinstellungen verursachen im übrigen grundsätzlich hohe Kosten für das Unternehmen (Streeck 2005). Bevor die OEM also schwierige Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Beschäftigungsabbau und einen damit verbundenen Sozialplan hätten aufnehmen müssen, bestand die Option, mit den Arbeitnehmern alternative Vereinbarungen zur Standortsicherung zu treffen, in deren Rahmen die Arbeitnehmer insbesondere Zugeständnisse in Bezug auf ihren Arbeitslohn machen. Dadurch erreichten die OEM die notwendige Kostenentlastung, ohne zusätzliche Kosten zu verursachen, die eine Entlassungswelle nach sich zögen: Es wurden Standortsicherungs-vereinbarungen geschlossen, auf die sich die Betriebsräte einließen, da unter der Bedingung einer Beschäftigungssicherheit die Belegschaft – für einen bestimmten Zeitraum – bereit war, Einschnitte an anderer Stelle in Kauf zu nehmen (vgl. Rehder 2003). Verschiedene Studien zeigen, dass das Beschäftigungsvolumen und damit das Gewicht der betriebsinternen Mitbestimmung im Hinblick auf die Einflussmöglichkeiten der Betriebsräte von kleineren Unternehmen in der Branche eine wichtige Rolle spielt. Haipeter und Banyuls wiesen für die europäische Automobilindustrie einen Wandel zum Wettbewerbskorporatismus nach, der die „kooperative Durchsetzung von Beschäftigungsinteressen“ in den Vordergrund stellt. Als Ergebnis für die deutsche Automobilindustrie konstatierten sie eine „Verbindung aus Lohnzurückhaltung und Beschäftigungssicherung“ (Haipeter et al. 2007, S. 25). Damit bezogen sie sich auf die Verhandlungsergebnisse zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern der OEM, die häufig in besagte Standortsicherungsvereinbarungen mündeten. Die Folgen für die Auftragsferti-
5.5 Schlussfolgerungen
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ger (bzw. die Zulieferindustrie93) waren immens. Die Fallstudien bestätigen dies mit der Beobachtung, dass die Betriebsräte der Auftragsfertiger in ihrer Position geschwächt wurden und nach neuen Strategien suchten: Angesichts der äußeren Veränderungen (Marktsituation) fungierten sie als Co-Management, das händeringend um neue Aufträgen buhlte, um den Unternehmensfortbestand zu sichern. Die Reorganisation des Wertschöpfungsnetzwerks wirkte sich somit stark auf die Handlungsfähigkeit der Auftragsfertiger auf und drängte sowohl deren Unternehmensleitung als auch die Interessenvertretung der Arbeitnehmer in die Enge. Für das „Überleben“ des Fahrzeugbaus in diesen Unternehmen blieb den Betriebsräten keine andere Wahl, als sämtliche Zugeständnisse einzugehen. Die Verbindung zwischen Verbänden und OEM wiederum stärkte die Position der OEM – ihnen wurde in besonderer Weise durch politische Akteure, Verbände, Medien und Gesellschaft Aufmerksamkeit geschenkt, und teilweise versuchte man sogar, auf spezifische Bedürfnisse einzugehen (vgl. staatliche Hilfe für Opel im Jahr 2009), wodurch die Standortsicherungsvereinbarungen ein beliebtes Instrument wurden. Diese Entwicklungen veranlassten die Unternehmen zum Teil, ausgelagerte Produktionen an einen Konzernstandort zurückzuholen, zum Teil wurden für neue Fahrzeugmodelle die Auftragsfertiger in den Wettbewerb der Produktionsstandorte einbezogen, schließlich aber doch ein unternehmenseigenes Werk zur Durchführung ausgewählt. Wenn zuvor davon die Rede war, dass es technische Hürden gab, weshalb ein Auftragsfertiger mit der Produktion von Fahrzeugen in geringer Stückzahl, von Nischen- und Spezialfertigungen oder Derivaten betraut wurde, so lassen sich auch in dieser Hinsicht Veränderungen zu beobachten. Für die (europäische) Automobilindustrie zeigten sich in den vergangenen Jahren Modularisierung und „Outsourcing“ zunächst als dominierende Trends. Zulieferer prägten neue Kompetenzen aus und 93
vgl. dazu Jürgens / Krzywdzinski 2006: While there are gradual changes at the OEMs at the top of the value chain, the pressure to lower work and wage standards and to shift production to low-cost countries is much higher for suppliers.“ (Jürgens et al. 2006S. 49).
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5 Unternehmensfallstudien
konnten so eine neue Schlüsselrolle an der Schnittstelle zu den OEM einnehmen (Hoetker et al. 2007). Dadurch kam es zu einer wachsenden Differenzierung zwischen den Zulieferunternehmen der unterschiedlichen Hierarchiestufen. Die Auftragsfertiger nahmen als Tier-0,5Zulieferer angesichts ihrer Entwicklungskompetenz ebenfalls eine solche Schlüsselrolle ein. Allerdings standen sie mit ihrem Produkt, dem Gesamtfahrzeug, in stärkerer Konkurrenz zum OEM als ein Systemoder Modullieferant, der einen Teil der Produktion für den OEM übernimmt. Wesentlich für die Nutzung der Produktionskapazitäten (insbesondere der Arbeitskräfte, die durch Standortsicherungsvereinbarungen gebunden werden) wirkte sich die Veränderung der Wertschöpfungsarchitektur aus. Sie vereinfachte die Integration von unterschiedlichen Produktionsvarianten innerhalb einer Fertigungslinie. Dies hatte zur Folge, dass die „alte Nische“ (fast) zum Standard wird. Wie beispielsweise der Pininfarina-Chef im Jahr 2009 skizzierte, baute „ein OEM jährlich 600.000 Kleinwagen in 5 Versionen, heute sind es 330.000 in 15 Varianten.“ (Piller 2010). Modularisierung, Plattformstrategien, Veränderungen der Produktionsorganisation und neue Produktionstechniken schafften die technischen Voraussetzungen dafür, dass die OEM Produktionen mit zwei Merkmalen nun selbst durchführen konnten: verglichen mit den bisherigen Massenproduktionen „kleine“ Stückzahlen (10.000-30.000) sowie technische Besonderheiten (z.B. Cabrio). Frigant und Talbot stellten am Beispiel der Automobilindustrie allerdings heraus, dass nicht technologischer Wandel die Voraussetzung für die Nutzung dieser Kapazitäten darstellt, auch die produktionsorganisatorische Fähigkeit zur Fertigung kleiner Stückzahlen muss vorhanden sein. Die Entwicklung neuer technologischer Instrumente vollzog sich demnach in einer Industrie, die bereits im Hinblick auf ihre Organisation modularisiert war (vgl. Frigant et al. 2005, S.352) Wie auch die Analyse der Veränderungsprozesse in den Kooperationsbeziehungen zwischen Auftragsfertigern und OEM zeigte, handelt es sich nicht um technologischen Determinismus, der die organisatorischen Strukturen einseitig prägt, vielmehr handelt es sich um Wechselwirkungen, die von Fall zu
5.5 Schlussfolgerungen
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Fall verschieden sind. Gleichzeitig entwickelte sich eine spezialisierte Zulieferindustrie, die durch die Herstellung von Fahrzeugmodulen und –systemen (Systemintegratoren) auch diesbezüglich die Voraussetzung schaffte, dass die OEM vertikal integriert die Kleinserienproduktionen übernehmen können. Daran sind teilweise die Auftragsfertiger mit ihren Unternehmenssparten für die Modulfertigung (z.B. Magna und Karmann) selbst beteiligt. Somit lässt sich als Zwischenschritt festhalten, dass die Standortsicherungsvereinbarungen den wesentlichen Erklärungsfaktor für den Rückgang des Auftragsvolumens darstellen, und dass die Modularisierung als technische Veränderung die Nutzung dieses nun gebundenen Arbeitskräftepotentials ermöglichte. Damit wirken sich die Beschäftigungspakte negativ auf andere Unternehmen und damit auf ihre Beschäftigten aus, weil die Funktionsteilung in der Wertschöpfungskette unter neuen Vorzeichen entschieden wird. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des „concession bargaining“ (oder deutsch der „betrieblichen Konzessionsvereinbarungen“), der Beschäftigungspakte oder Standortsicherungsvereinbarungen betonen die Autoren häufig den positiven Wert dieses Instruments (vgl. z.B. Sisson et al. 2000). Eine internationale Perspektive verwirrt an dieser Stelle, wenn z.B. mit Blick auf die institutionellen Grundlagen in den angelsächsischen Ländern die Vergleichsfolie für eine Bewertung, welche auf die positiven Effekte dieser Form von Institutionalisierung abhebt, stark von der deutschen oder teilweise kontinentaleuropäischen Situation abweicht (vgl. z.B. Capelli 1995: 563-602). Insbesondere in deutschen Diskussionen prägen häufig Fragen nach der Dauerhaftigkeit der vereinbarten Bündnisse oder Zweifel an der Wirksamkeit (Rehder 2003, Hübler 2006, Jürgens et al. 2006) die kritische Einordnung der Analyse, auch die – scheinbare – Balance zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkonzessionen stellen die Autoren in Frage (Stracke et al. 2010, Lengfeld et al. 2004) Insgesamt herrscht in diesen Arbeiten die Überzeugung vor, dass die Verhandlungsstärke der Unternehmensleitungen wächst
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5 Unternehmensfallstudien
und eine Orientierung an Partikularinteressen zunimmt (vgl. auch Haipeter et al. 2007). Daran wird allerdings deutlich, dass es sich entweder um die Binnenperspektive des Unternehmens (Geschäftsführungen versus Betriebsräte/Arbeitnehmervertretungen) oder um die Bedeutung solch dezentralisierter Lösungen für die Zukunftsfähigkeit von Tarifverträgen handelt oder die Erosion der institutionellen Struktur industrieller Beziehungen identifiziert wird (vgl. Hassel 1999, S.496). Im Fall der hier präsentierten Automobilkonzerne (OEM) entfalteten die Standortsicherungsvereinbarungen eine weitere externe Wirkung. Einige Autoren sahen externe Folgen im Hinblick auf die Schließung des betrieblichen gegenüber dem externen Arbeitsmarkt (Massa-Wirth et al. 2005, Köhler et al. 2010). Anhand der Fallbeispiele konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass das „Flexibilitätsinstrument“ der betrieblichen Beschäftigungspakte gravierende Auswirkungen hat, wenn sich dadurch die Aufgabenteilung in einem Wertschöpfungsnetzwerk ändert. In den präsentierten Fällen gingen die betrieblichen Vereinbarungen und der „Erfolg“ jener Arbeitnehmer, die Beschäftigung in ihrem Betrieb (OEM) sichern konnten, zu Lasten der Beschäftigten anderer Betriebe, die auf dieser Weise ihre Verhandlungsmacht verloren. Damit wirkten die Standortsicherungsvereinbarungen als entscheidender Faktor aus, wenn es um die Entscheidungsgrundlage über vertikale Desintegration oder Integration ging. Die Auftragsfertiger verloren damit die Gelegenheit, durch eigene Kostenreduktionen, attraktive Angebote oder besondere technische Fähigkeiten einen Auftraggeber für die Fahrzeugproduktion zu gewinnen.
6 Theoretisches Fazit: Warum die Transaktionskostentheorie hier zu kurz greift
Diese Arbeit verfolgte das Ziel, zunächst die Funktionsweise eines besonderen Marktsegments in der Automobilindustrie zu erklären, um anschließend die Krisenphänomene dieses Branchensegments zu analysieren. Angesichts der Prognosen, die der Auftragsfertigung die aussichtsreiche Zukunft eines Wachstumsmarktes versprachen, traf die Krise die jeweiligen Unternehmen in unerwartetem Ausmaß und erzeugte massive Umbrüche. Geht es um die Erklärung der Funktion von Auftragsfertigung durch unabhängige Unternehmen in der Automobilindustrie, hat sich die Transaktionskostentheorie als brauchbares Konzept bewährt. Die Veränderungen in der Automobilindustrie jedoch lassen sich mit diesem theoretischen Zugriff nicht vollständig erklären. Standortsicherungsvereinbarungen veränderten die Entscheidungsgrundlage der OEM, der Charakter und die Auswirkungen dieser Veränderungen bringt einen neuen Faktor in die Transaktionskostentheorie ein.
6.1 Das Erklärungsmodell der Transaktionskostentheorie Transaktionskostentheoretisch lässt sich für die Existenz des Marktsegments eine funktionalistische Erklärung finden, die darauf beruht, dass die OEM den Markt (Beauftragung der Gesamtfahrzeughersteller) zur Effizienzsteigerung nutzen (Williamson 1975)94. Wenngleich 94
vgl. für die Automobilindustrie z.B. Langlois und Robertson, die davon ausgehen, dass in den frühen Phasen einer Industrie die Existenz kleiner, voneinander unabhängiger Un-
K. Loer, Automobilhersteller ohne eigene Marke, DOI 10.1007/ 978-3-531-92800-5_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Theoretisches Fazit: Warum die Transaktionskostentheorie hier zu kurz greift
Williamson und vor allem Simon auf die Grenzen rationalen Handelns (vgl. Simon 1997) hinweisen, geht Williamson davon aus, dass die Akteure ihre Entscheidung (relativ) unabhängig voneinander und unter Abwägung der jeweiligen Transaktionskosten treffen, die einer Rationalisierung bedarf. Das Beispiel der Auftragsfertigung in der Automobilindustrie zeigt, wie eine „hybride“ Organisationsform funktioniert, in der zwar der Markt als Tauschebene genutzt, jedoch durch Langzeitverträge gewissermaßen stabilisiert wird. Technische und organisatorische Fähigkeiten und Alleinstellungsmerkmale der Auftragsfertiger begründen, warum es zu einer solchen Nutzung des Marktes als Tauschebene kam – gleichzeitig stärkten die Kontinuität und zahlenmäßige Überschaubarkeit der kooperierenden Partner diese Organisationsform und boten eine Sicherheit gegen die Risiken marktförmiger Austauschprozesse. Der transaktionskostentheoretischen Argumentation folgend hängt das Votum für oder gegen eine Integration von Kleinserien von der Bewertung der Transaktionskosten ab, die dabei jeweils entstehen (insourcing versus outsourcing). Branchenstudien, die eine Verringerung der Wertschöpfungstiefe bei den OEM zugunsten einer Spezialisierung und des Bedeutungsgewinns von Zulieferunternehmen diagnostizieren und den Auftragsfertigern als „Systemintegratoren“ eine aussichtsreiche Zukunft vorhersagen, vertreten ein solches transaktionskostentheoretisches Argument: Durch die Spezialisierung und Aufgabenteilung reduzierten sich die Kosten, Risiken würden verteilt, Kompetenzen optimal genutzt. Die Entscheidung zwischen vertikaler Integration und Desintegration hinge demnach ausschließlich davon ab, welche Lösung effizienter ist – oder vielmehr: welche Lösung als effizienter eingeschätzt wird. Angesichts der Prognose müsste diese Entscheidung zugunsten der externen Fertigung ausfallen.
ternehmen wahrscheinlich ist. Eine „reife” Industrie konzentriert sich stärker auf „economies of scale” und ist durch Massenproduktion geprägt. Anschließend finden beide Prozesse (vertikale Integration) und Desintegration parallel statt, entscheidend sei die Logik der Transaktionskostentheorie (Langlois et al. 1989).
6.2 Defizite des transaktionskostentheoretischen Zugangs
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6.2 Defizite des transaktionskostentheoretischen Zugangs Der Einbruch der Auftragssituation für die Gesamtfahrzeughersteller widerspricht diesen Schlussfolgerungen und Branchenanalysen: Die Transaktionskostentheorie kann die unerwarteten Veränderungen im Branchensegment nicht erklären. Die detaillierte Betrachtung der „Automobilhersteller ohne eigene Marke“ zeigte, dass die Unternehmen ihren über lange Zeit stabilen Markt verloren haben, obwohl sie nach wie vor Kostenstrukturen erreichen konnten, die eine Auslagerung der Kleinserienproduktion hätten rechtfertigen können. Teilweise beauftragten die OEM die Unternehmen sogar zur Konzepterstellung im Vorfeld einer Nischen- oder Spezialproduktion, was darauf hinweist, dass die OEM nicht an der technischen Fähigkeit der Auftragsfertiger oder der Qualität ihrer Produkte zweifelten. Somit zeigt sich, dass ein Faktor die Entscheidungen der OEM über die vertikale Integration oder Desintegration beeinflussen muss, den die Transaktionskostentheorie nicht berücksichtigt. In den Fallstudien stellte sich heraus, dass die Standortsicherungsvereinbarungen der OEM den wesentlichen Grund für die vertikale Re-Integration darstellten. Nicht das Marktvolumen für Spezialfertigungen, Nischenfahrzeuge und Derivate hat sich verringert, sondern das Marktsegment der Auftragsfertiger im Verhältnis zum gesamten Markt schrumpfte erheblich. Insofern handelt es sich nicht um eine Krise der Spezialfertigung an sich sondern der vertikal desintegrierten Fahrzeugfertigung und damit der Auftragsfertiger als unabhängige Unternehmen im Wertschöpfungsnetzwerk. Die ökonomische Rationalität scheitert beim Versuch zu erklären, warum die Unternehmen die Fertigung vertikal integrieren, da sie den Einfluss sozialer Beziehungen nicht berücksichtigt. Im Gegensatz zum Kosten- und Effizienzkriterium beeinflussen Macht und Aushandlungsergebnisse der industriellen Beziehungen die hier diskutierten Unternehmensentscheidungen.
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6 Theoretisches Fazit: Warum die Transaktionskostentheorie hier zu kurz greift
6.3 Re-Konzeptionalisierung: Soziale Beziehungen in der Transaktionskostentheorie Die Tatsache, dass sich in Folge dezentralisierter Aushandlungsergebnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern variable Kosten zu fixen Kosten wandeln, muss in die Transaktionskostentheorie integriert werden. Im Rahmen der Kosten für eine Transaktion, die sich aus Unsicherheit, Häufigkeit und Ausmaß der transaktionskostenspezifischen Investitionen ergeben, wirken nun die Arbeitskosten als zusätzliche transaktionsspezifischen Investitionen (assets), die nicht mehr flexibel zu steuern sind. Die Rückverlagerung von Produktion in die eigenen Werke der OEM als Folge von Standortsicherungsvereinbarungen verändert die Bedeutung von Arbeitskosten aus transaktionskostentheoretischer Perspektive. Berücksichtigte diese bisher die Ausbildung und das Erfahrungswissen der Mitarbeiter als spezifische Investition („human asset specifity“) für eine bestimmte Transaktion, wandeln die Standortsicherungsvereinbarungen den Faktor „Beschäftigung“ insgesamt zu einem fixen Kostenpunkt. Wenn es, wie bei Williamson (z.B. Williamson 1979, vgl. auch Kapitel 2), um spezifische Investitionen geht („asset specifity“), wie sie zum Beispiel beim Kauf oder Bau von Anlagen getätigt werden, so dienen diese zur Realisierung von Kostenvorteilen für eine bestimmte Unternehmenstätigkeit. Die Standortsicherungsvereinbarungen verändern die Arbeitskosten, die vor allem abhängig vom Beschäftigungsvolumen sind, in eine konstante Größe, die nicht mehr flexibel anzupassen ist – demnach handelt es sich um eine „Investition“, die nicht der Logik folgen kann, dass sie zur Realisierung von Kostenvorteilen getätigt wurde. Die Aushandlungsergebnisse zwischen Unternehmensleitungen und Arbeitnehmern hängen von institutionellen Rahmenbedingungen ab, die bestimmte Vereinbarungen überhaupt ermöglichen. Außerdem spielen soziale Erwartungen eine wichtige Rolle, denen sich die Unternehmen verpflichtet fühlen: Ein umfangreicher Beschäftigungsabbau – insbesondere in einer Größenordnung, die von den OEM angestrebt
6.3 Re-Konzeptionalisierung: Soziale Beziehungen in der Transaktionskostentheorie
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würde – erzeugt großes öffentliches Aufsehen und ruft politische Akteure auf den Plan, die gegebenenfalls vermittelnd einschreiten. Diese Rahmenbedingungen beeinflussen auch die Konzessionsbereitschaft der Arbeitnehmer und erhöhen die Wahrscheinlichkeit und den Abschluss der Standortsicherungsvereinbarungen. Anhand der Konsequenzen dieser Vereinbarungen konnte gezeigt werden, wie sich die Entscheidungsoptionen eines Unternehmens unabhängig von den üblicherweise angenommenen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen verändern, wenn es um die Frage vertikaler Integration oder Desintegration geht. Die Wahl des Marktes als institutionelles Arrangement, sei es im Rahmen eines klassischen Vertrags, sei es ein langfristiger Vertrag (Hybrid), steht in diesem Fall nicht mehr zur Verfügung. Somit lässt sich ausgehend von den Fallbeispielen in der Automobilbranche identifizieren, dass die sozialen Beziehungen Voraussetzungen schaffen, durch die sich das Beschäftigungsvolumen und die damit verbundenen Kosten zu einer entscheidenden Faktorspezifität wandeln, so dass keine Entscheidungsoption über vertikale Integration oder Desintegration nach Effizienzkriterien bleibt. Eine solcher Mechanismus, der schließlich einflussreichere Auswirkungen hat und rein ökonomische Kostenabwägungen überwiegt, lässt sich auch in anderen Branchen vermuten. Eigeninteressen für eine exklusive Gruppe dominieren und prägen die Verhandlungsergebnisse, wenn der ökonomische Druck so groß wird, dass andere Aushandlungsoptionen ausgeschlossen sind, und es letztlich nur noch um den Fortbestand eines Standortes bzw. die Weiterbeschäftigung eines bestimmten Teils der Mitarbeiter gehen kann. Diese Aushandlungsergebnisse (Standortsicherungsvereinbarungen) erzeugen aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit der Unternehmen im Wertschöpfungsnetzwerk eine Kettenreaktion, der sowohl Geschäftsführungen als auch Arbeitnehmervertretungen der Zulieferunternehmen machtlos ausgeliefert sind. Insofern wandelt sich nicht nur mit Bezug zur Transaktionskostentheorie der „Faktor Arbeit“ in eine nicht länger flexible Kostenkomponente, sondern erhält die Dichotomie interner und externer Arbeits-
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6 Theoretisches Fazit: Warum die Transaktionskostentheorie hier zu kurz greift
märkte eine weitere Facette: Die internen Arbeitsmärkte der Unternehmen mit Standortsicherungsvereinbarungen, schließen sich gegenüber denjenigen, die nicht von dieser Standortsicherungsvereinbarung erfasst sind. Nicht nur die bislang identifizierten Verlierer, wie beispielsweise Leiharbeiter, gehören zur exkludierten Beschäftigtengruppe solcher betrieblichen Verhandlungsergebnisse, sondern auch die vormals regulär, langfristig und tarifvertraglich gesicherten Arbeitnehmer der abhängigen Zulieferunternehmen tragen die Folgen.
7 Perspektiven
Die Unternehmen des Branchensegments stehen angesichts der dargestellten Rahmenbedingungen vor der Herausforderung, wesentliche Fundamente des eigenen Geschäftsmodells in Frage zu stellen bzw. aufzugeben. Dies erweist sich insbesondere dann als unüberwindbare Hürde, wenn es sich bei dem Fundament um den Wesenskern des Unternehmens gehandelt hat. Auch wenn daneben wettbewerbsfähige Unternehmensstandbeine existieren, galt die Kontinuität des gewachsenen Geschäftsmodells als vertrauensbildendes Moment und Signal an die OEM. Zudem spiegelt sich in der Selbstwahrnehmung der Unternehmen und der Bewertung des Fahrzeugbaus die Hierarchie im Wertschöpfungsnetzwerk wieder. Mit einer Auflösung des Bereichs, der als „0,5tier“ in der Wertschöpfungshierarchie verankert war, würde das Unternehmen gewissermaßen „abrutschen“ und müsste fortan eine neue Rolle einnehmen. Als neuer prägender Faktor in der Branche wirkt auf die Auftragssituation der Gesamtfahrzeughersteller – neben dem Erfolg des Produkts, das er für den OEM herstellt – insbesondere das Entstehen neuer Bündnisse zwischen den OEM in einem Zusammenspiel aus Wettbewerb und Kooperation. Dadurch verringert sich die Zahl der potentiellen Auftraggeber und erhöht sich deren Machtposition im Wertschöpfungsnetzwerk. Neben politisch-institutionellen Einflussfaktoren, spielen Bedarfe und Trends eine Rolle für die Zukunftsperspektiven der Auftragsfertiger. Insbesondere bei der Ausrichtung auf neue Antriebstechnologien, bei der Konzeption neuer Fahrzeugmodelle und deren Serienproduktionen erhöht sich die Unsicherheit im Vergleich zur bisherigen „klassischen“ Nischenfertigung deutlich. Eine Marktein-
K. Loer, Automobilhersteller ohne eigene Marke, DOI 10.1007/ 978-3-531-92800-5_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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schätzung wird dadurch erschwert, dass es bislang keine Standardisierung von Systemen (z.B. Tanksystemen) und Infrastrukturen für diese neuen Technologien gibt und die Kosten der verschiedenen Energieträger schwierig vorherzusagen sind. Allein an diesem Beispiel zeigt sich, wie viele Schnittstellen eine Rolle spielen, wenn es um den Erfolg der neuen Strategien geht. Ein hohes Maß an Unsicherheit begleitet grundsätzlich die Entscheidungen und strategischen Ausrichtungen aller Marktteilnehmer. Die Anpassungsfähigkeiten von Unternehmen als Reaktion auf Marktveränderungen oder in weiser Vorausschau auf diese Veränderungen sind unterschiedlich ausgeprägt und entscheiden letztlich über den Erfolg des Unternehmens und seine Zukunftsfähigkeit. Zufälle begleiten diese Entwicklung, was die Voraussicht auf Marktentwicklungen und das Verfolgen von Strategien stark erschwert. Die vielfältigen Konstellationen im Branchensegment zwischen Auftragsfertigern und OEM veranschaulichten, dass Machtbeziehungen zwischen den Akteuren nicht stabil und ihre Rollen in den vielfältigen Marktbeziehungen ambivalent sind. Neben den sichtbaren Marktbeziehungen finden zudem vielfältige informelle Kontakte und Kooperationen statt, werden Netzwerke betrieben, in denen es um nicht marktförmigen (Aus)Tausch von Informationen geht95. Herrigel und Zeitlin stellen heraus, dass es eine Gewissheit über die Macht in Produktionsnetzwerken gibt: Sie ist instabil und inkonsistent. Insofern geben die Perspektiven, die für die einzelnen Unternehmen formuliert wurden, lediglich eine Einschätzung wieder, die vor dem Hintergrund der bisherigen Entwicklungen und unter Berücksichtigung der inneren und äußeren Einflussfaktoren angenommen werden kann. Modelle, die mit ökonomischer Rationalität argumentieren, besitzen keine ausreichende Erklärungskraft für die eingangs gestellten Fragen. Die Unternehmen des Branchensegments verlieren ihren über Jahr95
Für das Segment der Auftragsfertiger konnte im Rahmen der Interviews die Beobachtung gemacht werden: Jeder kennt jeden, zumeist auch persönlich. Personen in entscheidenden Positionen im Unternehmen sind breit vernetzt (Messen, Konferenzen etc.) und haben zum Teil bereits eine berufliche Erfahrung im konkurrierenden Unternehmen.
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zehnte stabilen Markt, da die OEM durch Standortsicherungsvereinbarungen Beschäftigungsvolumen in der Produktion binden, für das es Aufgaben im eigenen Konzern geben muss. Die sozialen Beziehungen wirken sich somit stärker aus als reine Effizienzkriterien, da diese mit einer Einigung zur Standortsicherung im Widerspruch stünden. Die vertikale Integration ergibt sich folglich zwangsläufig und verändert die Ausgangsbedingung für die Bewertung von Transaktionskosten. Auch wenn Akteure aus dem Unternehmensumfeld zum Teil „wortreich“ und mit großer Präsenz die Transformationsprozesse des Branchensegments bzw. der einzelnen Unternehmen begleiteten, so zeigten die Fallstudien, dass ihr Einfluss insgesamt begrenzt ist. Politische Maßnahmen und insbesondere die Machtposition im Wertschöpfungsnetzwerk spielen die entscheidende Rolle, wenn es um die Abfederung der Folgen eines Beschäftigungsabbaus geht. Am Beispiel des Segments der Auftragsfertiger ließ sich eindrucksvoll zeigen, dass die Standortsicherungsvereinbarungen der OEM, denen politisch und gesellschaftlich ein hoher Stellenwert96 beigemessen wird, eine entscheidende Wirkung auf den Fortbestand anderer Unternehmen haben. Die Sicherheit der Beschäftigten eines Unternehmens geht nicht nur zu lasten der Beschäftigungschancen in abhängigen (Zuliefer-) Unternehmen sondern provoziert beim Ausbleiben von Aufträgen die Existenzfrage für diese Unternehmen. Beobachtet man die Reaktion der Auftragsfertiger auf diese Veränderungen, zeigt sich, dass sie zu einem geringen Maße noch Auf-träge akquirieren und damit ihr bisheriges Geschäftsmodell fortsetzen können (Magna Steyr). Diese Aufträge gibt es dann, wenn die Produktionsaufgabe nicht aufgrund von Vereinbarungen zur Standort-sicherung integriert wird. Dies ist entweder der Fall, weil die Aufgabe doch technische Spezifika erfordert, über die der OEM nicht verfügt, oder weil sie seine Kapazitäten übersteigen. Für die Auftragsfertigung gibt es darüber hinaus neue Partner („neue OEM“), bei denen keine solchen Restriktionen 96
als Zeichen der Flexibilität, der Kompromissfähigkeit und damit der Wettbewerbsfähigkeit von Produktionsstandorten
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herrschen, und die eine Entscheidung über vertikale Desintegration oder Integration nach den vormals dominierenden Kriterien treffen. Dieser Fall bestätigt die Logik der Transaktionskostentheorie, da eine interne Fertigung im Vergleich zur Marktnutzung als weniger effizient bewertet wird. Dabei stehen für den Auftragsfertiger allerdings Restrukturierungsmaßnahmen an, weil der bisherige Produktionsumfang durch das insgesamt verringerte Auftragsvolumen nur schwierig erreicht werden kann. Weniger als direkte, willentliche Reaktion auf die Krise sondern vielmehr unvermeidliche Folge trifft die Insolvenz jene Unternehmen, die keine oder zu geringe Auftragsvolumen in der klassischen Fahrzeugfertigung für sich gewinnen können und sich nicht auf neue OEM konzentrieren (können). Als unabhängige Auftragsfertiger gibt es in diesem Fall keine Zukunftsperspektive, die Standorte können sich jedoch künftig zu Spezialitätenwerken der OEM entwickeln, wenn im Zuge der Insolvenz ein OEM investiert und den „alten“ Auftragsfertiger in seine Konzernstruktur integriert. Als Perspektive für die Auftragsfertigung in der Automobilindustrie bleibt demnach festzuhalten, dass das klassische Modell der unabhängigen Fertigung für die bekannten Automobilkonzerne und damit Spezialfertigungen gängiger Fahrzeugtypen in sehr reduziertem Maße fortbesteht und eine Nische für die „exotische“ Auftragsfertigung neu entsteht. Die Investition der OEM in ehemalige Werke der Auftragsfertiger weist auf den Bedarf für Fahrzeugproduktionen, die besondere Produktions- und Organisationsstrukturen bedürfen. Damit beginnt eine Ära der „Spezialitätenwerke“ für europäische Automobilkonzerne – ein Modell, das bislang nur in Asien existierte. Ein gravierender Wandel vollzog sich in diesem Segment, die neuen Strukturen müssen sich etablieren und die Zukunft wird zeigen, welche Modelle tatsächlich tragfähige Perspektiven für diese Branche bieten.
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