Akif Pirinçci Der eine ist stumm, der andere ein Blinder Thriller
Meinen Familien gewidmet
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Akif Pirinçci Der eine ist stumm, der andere ein Blinder Thriller
Meinen Familien gewidmet
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Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich. Anna Karenina Leo Tolstoj
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1. Das Computerspiel »Die Siedler von Uris« war im Netz in‐ nerhalb von wenigen Wochen zu einer Sensation geworden. Die Handlung spielte in der mittelalterlichen Fantasywelt Uris, ein idyllischer Landstrich, dem augenscheinlich ein Kli‐ schee‐Irland Modell gestanden hatte: saftige Wiesen über hü‐ geligem Gebiet und schroffe Felsabhänge am rauschenden Meer. Der Reichtum von Uris bestand aus seltenen Erzen, die tief in der Erde schlummerten. Die Aufgabe der Siedler war es, das Erz in einem verschachtelten Minennetz abzubauen, zuta‐ ge zu fördern und schließlich Handel damit zu treiben. Jeder Spieler war Führer eines Siedlerclans, der möglichst schnell einen Erfolg im Erzgeschäft von Uris verbuchen mußte. Da es sich bei der Gewinnung von Erz um ein sehr personalintensi‐ ves Geschäft handelte, war unabdingbar, daß der Clan die Anzahl seiner Mitglieder ständig vergrößerte, um gegen die anderen Clans konkurrenzfähig zu bleiben und sie am Ende auszustechen. Der neue Clan mußte also zwecks Steigerung der Arbeitskraft unablässig dafür sorgen, daß möglichst viele neue Menschen in die Welt gesetzt wurden. Dies wiederum bedeutete unweigerlich, daß man mit den anderen Clans zu‐ mindest biologische Allianzen schloß. Konkret hieß das: Män‐ ner und Frauen des eigenen Clans mußten mit Frauen und Männern der anderen Clans anbändeln, sich mit ihnen ver‐ mählen und mit ihnen möglichst viele Kinder zeugen. 5
Es war eigentlich wie im richtigen Leben: Jedes Kind, das im Land Uris das Licht der Welt erblickte, wurde von den Eltern mit Hoffnungen, Wünschen und Befürchtungen begleitet, und jedes Kind hielt im Laufe seines Erwachsenwerdens für seine Eltern eine Überraschung parat. Die Aufzucht der Kinder kostete den Spieler viele Energie‐ beziehungsweise Minuspunkte, was ihn in einen regelrechten Abwägungsstreß brachte. Er mußte pausenlos ausloten, ob er die vorhandenen Leute zu mehr Arbeit antreiben oder besser Pärchen bilden und durch sie mehr Kinder in die Welt setzen sollte. Keine oder wenig Kinder zu zeugen und die eigenen Leute sich unermüdlich in den Minen abstrampeln zu lassen, bedeutete den sicheren Untergang. Die Clan‐Mitglieder wur‐ den alt, ihre Kräfte erlahmten, bis sie schließlich starben und so den Clan verkleinerten. Viele Kinder waren gut, aber sie bedeuteten zugleich mehr Nahrungsbeschaffung und Zeit‐ und Energieaufwand, also frustrierende Minuspunkte. Im Lande Uris steckte man immerwährend in einem Dilemma. Zudem war der Lohn der Investition in Nachwuchs keines‐ wegs garantiert, da die Kinder ohne weiteres als Erwachsene zur Konkurrenz überlaufen konnten. Die große Frage, für welchen Clan das einzelne Kind später seinen Minendienst verrichtete, hatten die Spiel‐Erfinder verblüffend geistvoll beantwortet: Jede Figur im Land Uris besaß einen einzigarti‐ gen Charakter, und in der richtigen Zusammenfügung dieser Charaktere lag der eigentliche Schlüssel zum Erfolg des Com‐ puterspiels. Wenn der Spieler die richtigen Paare zu Eltern machte, sorgten diese durch Vererbung ihrer Charaktereigen‐ 6
schaften dafür, daß die entstandenen Kinder sich schon auf die Seite des eigenen Clans schlugen. Das Ganze war eine Art Glücksspiel, nur daß ein gehöriges Maß an Vorausschau und strategischem Geschick das Glück beeinflussen konnte. Und im Gegensatz zum richtigen Leben wurden die Kinder in Uris innerhalb von zehn Minuten er‐ wachsen und konnten dann ihre Arbeit in den Erzminen auf‐ nehmen. Der Suchtfaktor des Computerspiels wurde durch ominöse Gerüchte im Internet weiter angeheizt. Angeblich gab es einen todsicheren Trick, wie man sich der riskanten Strategie der Kinderproduktion hemmungslos hingeben konnte, ohne Mi‐ nuspunkte einzukassieren. In der Spielanleitung war davon allerdings nichts zu finden. Vielleicht war es auch nur eine aus Überdruß geborene Spinnerei von gescheiterten Spielern. Die Schweine verrieten den Trick jedenfalls nicht und begnügten sich allein mit hämischen Andeutungen … Hugh klappte den Laptop auf seinem Schoß zusammen und seufzte. Das grüne Uris‐Land wich einem kupferfarben schimmernden Sonnenaufgang hinter der Windschutzscheibe des Wagens, der ihn die Augen zusammenkneifen ließ. Er war schon bei Level eins herausgeflogen. Was für eine Schande! Zum Glück hatte er für dieses dämliche Spiel – und jedes Spiel, das er nicht gewann, war für ihn dämlich – nichts be‐ zahlt, sondern hatte es sich über das Netz von einer illegalen Tauschbörse heruntergeladen. Nicht gerade die korrekte Vor‐ gehensweise, die man sich von einem Hauptkommissar er‐ wartete. In Wirklichkeit hieß Hugh auch nicht Hugh, sondern 7
Hugo Hoffer. Aber er ließ sich von Freunden und Kollegen gern so nennen, weil er den Schauspieler Hugh Grant mochte, nein, mehr noch, verehrte, jedenfalls in seinen Rollen als Pa‐ rade‐Single. Meistens kam Kino‐Hugh nach allerlei romanti‐ schen Verwicklungen am Ende des Streifens doch noch unter die Haube, doch Hugo‐Hugh wußte, daß das bloß ein Zuge‐ ständnis an das weibliche Publikum war. Getreu der Pointe dieses einen Witzes: Warum schauen sich Frauen einen Porno zur Gänze an? Weil sie glauben, daß die Darsteller am Schluß heiraten! Die Woche hätte nicht angenehmer beginnen können. Es war Mitte September, der Altweibersommer hatte begonnen, doch die Temperaturen stiegen tagsüber immer noch auf über fün‐ fundzwanzig Grad. Hughs Dienstkarosse, ein schwarzes Mer‐ cedes‐E‐Klasse‐Modell, stand um sieben Uhr morgens ziem‐ lich alleine auf dem weiten, mit einem weißen Netzmuster markierten Parkplatz da. Nur wenige Wagen der Leute, die in dem alten Gebäude davor arbeiteten, leisteten ihm Gesell‐ schaft. Bei der aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts stammenden Anlage handelte es sich um ein weinrotes Zie‐ gelsteinmonster mit gotischen Anleihen. Endlose Reihen von Spitzbogenfenstern unterbrachen Gewölbearkaden mit Kreuz‐ rippen und schnörkellosen runden Pfeilern. Alles dehnte sich unübersichtlich und schier endlos aus, hob und wölbte sich überall mittels Türmchen und Erkern und verlor sich über‐ gangslos in kleinere Nebengebäude, so daß man über den eigentlichen Grundriß nur mutmaßen konnte. Das Gebäude war von einem sich fast bis zum Horizont ers‐ 8
treckenden Park umgeben. Lediglich wenige Bäume und Sitz‐ bänke störten die Schlichtheit des tadellos gepflegten engli‐ schen Rasens. Über der Endlosigkeit dieses Parks ging nun die Sonne mit allen ihr zur Verfügung stehenden Rot‐ und Gold‐ tönen am wolkenlosen Himmel auf, tauchte das Gras einem Steppenbrand gleich in tiefes Glühen, und ihr immer intensi‐ ver strahlendes Licht ließ Hughs Lider sekündlich enger wer‐ den. Die Vögel legten mit ihrem Gezwitscher los; die emsig‐ sten unter ihnen drehten bereits ihre ersten Runden in der Luft. Nach Hughs Empfinden sah das Gebäude wie eines dieser verrotteten alten Gefängnisse aus, die heutzutage nicht einmal einem hartgesottenen ukrainischen Drogendealer zugemutet werden durften und deshalb längst abgerissen gehörten. Er wußte aber, daß es sich nicht um ein Gefängnis handelte, son‐ dern um ein Irrenhaus. Es war als ein solches gebaut worden, damals, als allmählich das Bewußtsein dafür wuchs, daß kein geringer Anteil der Bevölkerung vollkommen irre war und daß man diese Menschen nicht einfach totschlagen konnte. Die Institution nannte sich natürlich nicht mehr Irrenhaus, sondern Therapeutisches Zentrum für irgendwas − das Schild an der Auffahrt hatte er nicht ganz gelesen −, doch er wußte auch so, daß da drin nur Zwangsjackenkandidaten hausten. Hugh mußte hin und wieder derlei Institutionen aufsuchen, sei es, um Täter, Opfer oder Zeugen zu interviewen oder deren Ärz‐ te oder Gutachter. Solche Besuche gehörten zur Routine. Wo‐ rüber er sich jetzt wirklich wunderte, war die Tatsache, daß er aus solch einer Institution zum ersten Mal einen Kollegen ab‐ 9
holen mußte, in diesem Fall sogar seinen zukünftigen Chef. Er konnte es immer noch nicht fassen, aber einer dieser Irren da drin war ihm am Freitag, also vor drei Tagen, als Vorgesetzter zugeteilt worden! Doch eigentlich war es ihm auch gleichgültig. So wie ihm al‐ les gleichgültig war, was seiner steil ansteigenden Karriere nicht in die Quere kam. Manchmal verglich Hugh seinen Le‐ bensweg mit dem so beschwingten und doch von äußerster Kraft und Konzentration durchpulsten Segelflug eines Adlers. Er war achtundzwanzig Jahre alt und hatte, wie er fand, bis jetzt alles richtig gemacht. Nach dem Studium auf der Polizei‐ führungsakademie ein steiler Aufstieg bis zum Hauptkom‐ missar ohne Fehl und Tadel, und privat lief auch alles bestens. Er verfolgte seine Ziele unerbittlich, aber mit diplomatischem Geschick. Niemand konnte sich über den stets modisch ge‐ kleideten schwarzhaarigen Mann mit den dünnen, langen Koteletten und dem spitzen Unterlippenbärtchen beschweren. Sogar Mörder, die er ihrer lebenslänglichen Bestimmung zu‐ geführt hatte, ließen später über dritte verlauten, daß sie vor seinem Charme kapituliert hätten. Ganoven wie Kollegen er‐ wiesen ihm Respekt, vielleicht seiner ozeangrünen Augen wegen, aber wohl eher wegen seiner geschmeidigen Art. Im Grunde hatte er bis heute niemanden richtig verhaftet, son‐ dern jedesmal zu einer Verhaftung überredet. Vom Gebrauch der Waffe ganz zu schweigen. Hugh glaubte, daß er das einzig richtige Leben lebte, und je‐ der neue Tag schien ihm recht zu geben. Zum Beispiel der letzte Sonntag. Nach dem gewohnten Müsli‐ und Obstfrüh‐ 10
stück hatte er während des Verdauungsspaziergangs in einer Eisdiele einen blonden Engel von Studentin kennengelernt. Studentinnen waren sein Spezialgebiet. Sie waren nicht so ordinär und gebärfreudig wie die Mädels von der proletari‐ schen Abteilung, was nicht hieß, daß diese nicht auch ihre (schweinischen) Reize haben konnten. Und es fehlte ihnen das Hysterische und Besitzergreifende der Karrieretanten mit akademischem Grad, die sich in ihrem tiefsten Innern heim‐ lich nach einem »modernen« Familienidyll à la IKEA‐ Küchenkatalog und Club‐Robinson‐Prospekt sehnten, wobei in diesen Impressionen der selbstredend gutverdienende Mann nach getaner Arbeit abwechselnd babywickelnd oder Antonio Banderas im Bett imitierend nur als Dekorationsele‐ ment vorkam. Da blieb Hugo doch lieber Hugh und gedachte des Lieblingsspruchs seines Vaters, der in Sachen Sprachstil ein wahrer Feingeist war: am Arsch! Die Schöne in der Eisdiele war eine Kunststudentin, und Hugh hatte nicht einmal eine Stunde gebraucht, bis sie sich in ihn verliebte. Schließlich maß er einsachtundachtzig, was für die weibliche Empfänglichkeit in Liebesdingen vielleicht nicht alles bedeutete – aber fast alles! Zudem konnte man förmlich durch seine Kleidung hindurchsehen, daß er intensiv Sport trieb. Krafttraining im Studio, Kampfsport bei den Sportlei‐ stungsnachweisen im Dienst und Ausdauersport wie Joggen und Rudern am Gerät in seiner Wohnung, wann immer es ging. Sein Körper sah schon aus wie ein verdammtes Relief. Er rauchte nicht und trank am Wochenende höchstens mal zwei Bierchen. Das alles hörte sich nach einer gesunden Lebensfüh‐ 11
rung an, doch irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, daß er die ganze Plackerei nur auf sich nahm, um die Weiber ins Bett zu kriegen, und irgendwie hatte er auch manchmal den Ver‐ dacht, daß er schon stark an eine Witzfigur auf einem Um‐ zugswagen in einer dieser inflationären Schwulenparaden erinnerte. Wie üblich hatte er es schon am ersten Abend geschafft, mit der Kunststudentin zu schlafen. Bei Frauen weckte der Be‐ rufsstand des Polizisten nicht gerade Assoziationen an Beach‐ boy‐Abenteuer oder an Feingeister, die im Kaffeehaus an ih‐ rem ersten Roman herumdokterten. Eher an zuschnappende Handschellen und an wildgewordene Besoffene, die einem auf die Schuhe kotzten, bevor man sie in die Ausnüchterungs‐ zelle verfrachtete. Aber Hughs nonchalante Erscheinung ließ derlei unappetitliche Bilder gar nicht erst aufkommen. Wenn einer wie er mit einem frisch aus der Reinigung gelieferten Boss‐Anzug durch die Gassen spazierte, gaukelte sich die weibliche Welt schon von ganz allein vor, daß so ein gutaus‐ sehender Polizist sich eher mit James‐Bond‐Bösewichtern mit Monokel und seidenem Einstecktuch befaßte. Und gerade bei Kunststudentinnen konnte er exzellent punkten, indem er den großen Kunstkenner heraushängen ließ. Schließlich hatte er selbst einmal Kunst studieren wollen, bevor er sich entschlos‐ sen hatte, daß er noch vor seinem dreißigsten Geburtstag ei‐ nen Porsche und eine Bang&Olufsen‐Anlage sein eigen nen‐ nen wollte. Im Bett war es gut gelaufen. Auch wie üblich. Eigentlich nichts, wofür man ein Feuerwerk abbrennen und das Hallelu‐ 12
ja aus der Matthäus‐Passion hätte anstimmen müssen. Zu‐ mindest war Bruder Trieb wieder auf seine Kosten gekom‐ men. Eine Sache jedoch überraschte und rührte Hugh stets aufs neue. Es fesselte ihn während des ersten sexuellen Bei‐ sammenseins mit einer Frau so sehr, daß es ihn schier aus dem Gleichgewicht brachte. Jedesmal gab es ihm richtigge‐ hend einen Kick. Bei Lichte betrachtet gab es heutzutage in der westlichen Welt zwischen Männern und Frauen in seiner Altersklasse keine Unterschiede mehr. Sogar die Medien hatten sich ange‐ paßt. Frauen‐ wie Männermagazine verbreiteten ein und den‐ selben sattsam bekannten Karrieremachen‐Stumpfsinn und das identische abgeschmackte Psycho‐Gedöns (»Burnout – Wenn die Seele schlappmacht«). Und tätowiert waren inzwi‐ schen sowieso alle. Wenn überhaupt, existierten nur noch drei merkliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Erstens sahen Männer und Frauen körperlich unterschiedlich aus – eine bio‐ logische Tatsache. Zweitens kleideten sie sich anders, obwohl man inzwischen nach einer Frau mit einem Rock oder einem einfachen Kleid lange suchen mußte. Und drittens unterschie‐ den sich Frauen und Männer in ihrer Sexualität, wobei Hugh auch dafür nicht so ohne weiteres seine Hand ins Feuer legen mochte. Alle seine weiblichen Bekanntschaften hatten die sei‐ ner männlichen Phantasie entsprungenen Sauereien immer unter Freudenjauchzern mitgemacht. Von wegen angeborene weibliche Scham! Männer und Frauen verklebten immer mehr miteinander, wurden zu einem grauen Menschenteig, in dem lediglich auf 13
einen Bestseller erpichte Sachbuchautoren markante Graustu‐ fen zu erkennen vermochten. Da konnten die Damen von Schuhen nicht genug bekommen, und die Herren bekamen nicht genug von der Sportschau. Doch Hugh glaubte, einen vierten Unterschied zwischen den Geschlechtern ausgemacht zu haben, den letzten, der vielleicht auch bald verschwinden würde. Der Unterschied, dessen nur Sekunden währende Sichtbarwerdung ihm immer wieder diesen Kick verpaßte. Er war schon richtig süchtig danach. Die Kunststudentin letzte Nacht hatte ihm ebenfalls wieder jenen intensiven Kick beschert. Er wurde erzeugt durch das Zusammenspiel von Mimik und Gestik des weiblichen Gege‐ nübers, kurz bevor die eigentliche Hauptsache stattfand, und durch etwas, was Hugh nicht wirklich auszudrücken ver‐ mochte, etwas, das die Wahrnehmung allein anhand von flüchtigen Details registrierte, eine bestimmte Art von Augen‐ aufschlag oder das fast unmerkliche Zittern der Unterlippe oder ein spezieller Geruch oder ein unwillkürlicher leiser Laut, der sich der Kehle entrang. Es ließ sich kaum mit einem Wort beschreiben. Doch die sprachliche Annäherung an diese Verhaltensweise hätte zweifellos »devote Hingabe« geheißen. Es handelte sich um jenen magischen Moment, in dem im Kopf der Frau die Entscheidung zum Sex mit einem Fremden fiel. Dieser Moment war so spektakulär und herzergreifend wie das Bild eines starken Dammes, der dem Ansturm von Milliarden von Kubikmetern Wasser bis zum Schluß uner‐ schütterlich standgehalten hatte, doch nun mit einem Male brach, auseinanderbarst in unzählbare Einzelstücke. Plötzlich, 14
als sie in seiner Wohnung stand und das romantische Küssen allmählich mit seiner gierigen Grabscherei einherging, da trat der vierte Unterschied zwischen den Geschlechtern zutage. Jedenfalls aus Hughs Sicht. Sie lächelte entrückt, irgendwie traurig, geradeso, als habe man ihr eine harte Drogeninjektion verabreicht, zugleich schien sie sich klein zu machen, sich in das kleine Mädchen von einst zurückzuverwandeln, versuch‐ te noch verzweifelte Gesten der Scheu, indem sie bei der ers‐ ten Berührung sanft nach hinten glitt, beim Küssen kurz die Augen öffnete und übertrieben theatralisch blickte und sie wieder schloß, mit ihrem ganzen Körper die Pose einer Be‐ siegten signalisierte und sich dann schließlich endgültig hin‐ gab, ja, wirklich hingab. Die devote Hingabe bei der ersten sexuellen Begegnung, das war der vierte Unterschied, der die Frau vom Manne trennte. So Hughs Analyse. Der Rest war für ihn Routine, freilich eine lustvolle. Aber der Kick war ihm im Lauf der Zeit fast noch wichtiger geworden als der Sex selbst. Er wußte nicht, woran das lag. Seelenklempner hätten vielleicht diagnostiziert, daß bei ihm der Jäger‐ und Sammlerinstinkt des Mannes beson‐ ders ausgeprägt sei oder, um es eine Nummer schlichter aus‐ zudrücken, er ein blöder Macho wäre, der sich nur noch an frischen Eroberungen zu berauschen vermochte. Hugh hielt diese Diagnose für abwegig. Schließlich empfand er die höch‐ ste Erregung eben nicht beim Sex mit einer Neueroberung, sondern in einem quasi transzendentalen Moment davor. Die‐ ser Moment erinnerte ihn … er hatte keine Ahnung, an was er ihn erinnerte, denn es gab keine vergleichbare Erinnerung in 15
seinem Gedächtnis. Es gab, wenn überhaupt, eine ferne Asso‐ ziation: das Paradies. Obwohl es eine ganz nette Nacht gewesen war, würde sie für ihn so folgenlos bleiben wie die konfusen Bilder, die er manchmal in den Spätnachrichten sah, wenn er von der Ar‐ beit heimkehrte. Während die Kunststudentin noch schlief, hatte er um fünf Uhr seine Wohnung verlassen, um noch ein Stündchen zu joggen. Vier Stunden Schlaf reichten ihm völlig aus. Er hatte ihr einen Zettel auf dem Nachtschränkchen hin‐ terlassen, auf dem geschrieben stand: Es war wunderschön. Ich rufe dich an! Darunter hatte er ein Herzchen mit vielen kleinen Blitzen drum herum gezeichnet, welches die Intensität von »wunderschön« illustrieren sollte. Natürlich würde er eher einen Elefantenbullen erlegen und sich aus dessen Stoßzähnen einen Stuhl schnitzen, als sie je anzurufen. Obwohl er in ihrer Gegenwart mit romantisch verklärtem Blick ihre Nummer in seinem Handy gespeichert hatte. Er wußte, sie würde die gan‐ ze Woche auf seinen Anruf warten, ständig die Funktionsfä‐ higkeit ihres Handys kontrollieren, um sicherzustellen, daß der ersehnte Anruf nicht an irgendeiner Störung scheiterte. Doch der Anruf würde nie kommen. Nach dem Joggen hatte er im Präsidium schnell geduscht und sich rasiert, und nun saß er hier im edlen Nichtraucher‐ Dienstwagen vor dem prächtigsten Sonnenaufgang und war‐ tete darauf, daß sein zukünftiger Chef aus der Klapsmühle entlassen wurde. Hugh konnte sich genau vorstellen, was für einen Stempel irgendwelche Klugscheißer seinem Leben zwi‐ schen Karriererallye, Bodystählen, sporadischem Studentin‐ 16
nenpflücken, Single‐Urlauben und Computerspiel‐ und Inter‐ netexzessen aufdrücken würden: oberflächlich. Oberflächlich, leer, beziehungsunfähig, im Kerne vereinsamt. Die Phantasie‐ losesten unter ihnen würden sogar den angestaubten Begriff aus den Achtzigern wieder unter dem Teppich hervorzerren und ihn als Yuppie bezeichnen. Damals, als die alten Säcke noch einigermaßen knackig waren, hieß ja schon jemand Yuppie, der sich Gel in die Haare schmierte und mit einem Diplomatenkoffer durch die Gegend rannte. Aber sie hatten unrecht. Der Schein trog. Nicht Hugh war oberflächlich, sondern die anderen, die Mehrheit, die Masse. Er glaubte, das »normale Leben« vom Umgang mit seinen Kollegen annähernd zu kennen. Alles gestandene Männer, die im Mainstream schwammen. Die meisten von ihnen waren geschieden und verbrachten ihre freie Zeit damit, sich mit ihrer Ex bis aufs Blut über Unterhaltsansprüche zu zanken oder darüber, wann, unter welchen Bedingungen und ob überhaupt sie die Kinder einmal im Monat sehen durften. Wenn Hugh ihre Meinung zu einem aktuellen Buch hören wollte, schauten sie ihn an, als spreche er von außerirdischen Lebensformen. Über zwei Dinge jedoch waren alle jederzeit und bestens informiert: wie viele Boxenstopps Michael Schuhmacher beim letzten Rennen eingelegt hatte und wem Boris Becker gegenwärtig sein Ding reinsteckte. Der Rest nannte bessere Hälften sein eigen, deren Ärsche den Durch‐ messer eines Traktorreifens besaßen und deren Stimmorgane selbst das von Adolf Hitler in den Schatten stellten. Doch zum Glück gab es ja den Baumarkt, wo man sich wie in eine ge‐ 17
schützte Höhle zurückziehen und gleich einer meditativen Übung über die optimale Apparatur zum Anbringen von Dachpappe philosophieren konnte. Natürlich waren da auch noch die Kinder. Die allerdings machten einem schon mit sie‐ ben Jahren klar, daß man die Großeltern im Heim eigentlich nicht mehr so gern besuchen wolle, weil »letztens ist der Oma so komisches Zeug aus dem Mund geflossen, und der Opa hat nach Scheiße gestunken«. Ein hübscher Vorgeschmack auf die Art von Dankesbezeugungen im Alter für die Mühe, die man sich mit seinem eigenen Nachwuchs machte. Wenn er oberflächlich war, dachte Hugh, während er durch die Windschutzscheibe dem jungen Tag entgegengähnte, dann waren die Normalos schon tot. Sie hatten es nur nicht gemerkt. Er wurde den Verdacht nicht los, daß hinter all den miesen Vorurteilen über solche Typen wie ihn in Wahrheit nichts als simpler Neid steckte. In die Welt gesetzt von sexuell frustrierten Journalisten, die in Umkehrung ihrer eigenen Tri‐ stesse dem Singledasein eine solche attestierten. Hugh hatte unterdessen den höchsten Gipfel der Zufrieden‐ heitsskala erreicht. Die vor seinen Augen aufsteigende Sonne hatte die verhaltenen Kupfertöne längst hinter sich gelassen und präsentierte sich in einem pompösen Gleißen, das ihm das Gesicht erhitzte. Er nahm durch die geschlossenen Augen‐ lider nichts als in Wellen aufbrandendes, helles Licht wahr. Auch wenn er nicht recht wußte, was er von der Zusammen‐ arbeit mit einem gerade aus dem Irrenhaus entlassenen Chef halten sollte, brannte er geradezu auf die vor ihm liegende Aufgabe. Vom ersten Moment an hatte er Freude an seinem 18
Beruf gehabt. Doch der aktuelle Fall, so grausam für die Opfer und so schmerzlich für die Angehörigen, erschien ihm wie ein geknackter Superjackpot. Nicht wegen der zu erwartenden kriminalistischen Lorbeeren bei erfolgreicher Auflösung, son‐ dern, ja, auch das klang grausam, wegen des Thrills! Zwölf Kinder, verschwunden innerhalb eines Jahres, jeden Monat eins, im Umkreis von ungefähr hundert Kilometern. Anfangs schien keine Verbindung zwischen den einzelnen Vorfällen zu existieren. Bei den ersten waren die jeweiligen Polizeidienststellen zunächst von tragischen Unglücksfällen ausgegangen, Badeunfälle und dergleichen. Meist fehlten brauchbare Augenzeugen. Schließlich handelte es sich um kleine Kinder, und die Spielkameraden, die bei den wenigen Malen mit unterwegs gewesen waren, machten zum Zeit‐ punkt und Umstand des Geschehens widersprüchliche Anga‐ ben. Man startete aufwendige, von der Presse zum nationalen Drama aufgeblasene Suchaktionen. Es folgten Durchkäm‐ mungsmärsche von Hundertschaften in umliegenden Wäl‐ dern, Aufrufe an die Bevölkerung übers Fernsehen, Hub‐ schraubereinsätze über fragliche Gebiete, ja sogar Flüge von Kampfjets mit Wärmebildkameras. Von den Kindern jedoch keine Spur. Als die Monate ins Land gingen und immer noch jeden Mo‐ nat ein weiteres Kind verschwand, wuchs sich die Sache zum echten nationalen Drama aus. Die Presse sowie profilierungs‐ süchtige Politiker übten auf die Polizei einen derartigen Druck aus, daß gleich mehrere Generalstaatsanwälte den Fall an sich rissen und diesen Druck noch um einige Zacken multiplizier‐ 19
ten. Es wurde eine Sonderkommission namens »Udo« gebil‐ det, benannt nach dem ersten verschwundenen Kind. Darin gaben sich kriminologische Einsteins aus allen Landesteilen die Klinke in die Hand, mit der Folge, daß so manch schreck‐ licherer Fall andernorts unbearbeitet blieb. Wie nicht anders zu erwarten, schwebte der Kommission als Täter ein Kinder‐ schänder vor, der offenkundig das polizeiliche Handbuch der Spurensicherung auswendig gelernt hatte. Denn die einzige Spur, die er an den Tatorten hinterließ, war nicht der be‐ rühmt‐berüchtigte Zigarettenstummel, sondern ein Phantom‐ bild ohne Gesicht in den Köpfen der Experten, an dem sie verzweifelten. Die Medien nahmen die eingängige Theorie mit Freuden auf und entfachten eine Kinderschänderhysterie von solchem Ausmaß, daß jeder Kindergarten und jede Grundschule im Lande polizeilichen Dauerschutz beantragte. Eltern befürchteten Kinderschänderattacken im Supermarkt und wollten ihre Kinder am liebsten an sich ketten. Die Spielplätze waren in diesen Monaten ziemlich verwaist. Ehe‐ malige oder unter Beobachtung stehende Sexualstraftäter, selbst einige in Haft, wurden gleich mehrmals vorgeladen, verhört und zur Herausgabe von gentechnischen Proben wie Speichel oder Hautpartikel gezwungen, sofern man noch kei‐ ne besaß. In der Sache kam man trotzdem keinen Millimeter voran. Das große Verschwinden ging weiter. Das Kardinalproblem war offensichtlich und zum Haareaus‐ raufen: Es gab keine Leichen, keine einzige, anhand deren Verletzungsmerkmalen oder der Todesursache die Experten Rückschlüsse auf den Typ des Täters hätten ziehen können. 20
Mikroskopisch kleine Spuren an einer Leiche konnten mit den heutigen wissenschaftlichen Techniken geradewegs zur Woh‐ nungstür des Täters führen, und sei es auch nur eine unbe‐ deutende Schimmelart an einem Hautpartikel. Doch keines der Kinder tauchte auf, weder tot noch lebendig, und die Son‐ derkommission hatte absolut keine Spuren oder Anhaltspunk‐ te für ihre Ermittlungen. Während die Frustration der Kolle‐ gen ins Unendliche wuchs, nahm das Interesse der Medien immer mehr ab. Denn wenn Nachrichtenmagazine eins nicht mochten, dann war es die immer gleiche Nachricht. So wan‐ derten die verschwundenen Kinder schleichend an den Schlußteil der News, bis sie irgendwann gänzlich aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt wurden. Hugh war in den Fall lediglich am Rande involviert gewe‐ sen, und das auch nur in der heißen Phase ganz am Anfang. Er hatte die sogenannten sachdienlichen Hinweise aus der Bevölkerung bearbeitet. Den Höhepunkt stellte ein Anrufer dar, der gleich ein vollständiges Geständnis ablegte. Er war fünfundvierzig und lebte noch bei seiner Mama. Als Dank für sein Entgegenkommen verlangte er die Erstürmung des Hau‐ ses durch ein Sondereinsatzkommando, wobei er darum fleh‐ te, daß man in dem ganzen Tohuwabohu die Alte als erste abknallen möge. Irgendwann wurde er von der elenden Aufgabe abgezogen, und seitdem hatte er von der Sache genauso viel oder wenig erfahren wie ein vorgestriger Journalist, den die Sache noch interessierte. Auch die kriminalistischen Einsteins hatten sich mangels Erfolgserlebnissen nach und nach von der Kommis‐ 21
sion verabschiedet und waren zu ihren ertragreicheren Ver‐ brechensgefilden heimgekehrt. Zurückgeblieben war eine kleine Kernmannschaft von Masochisten, die tatenlos zusehen mußte, wie Monat für Monat eine neue Familie die Hölle bet‐ rat. Wilde Spekulationen wechselten sich ab mit Leerlauf und Leerlauf mit wilden Spekulationen. Bis vor einer Woche die erste Leiche auftauchte! Es handelte sich ausgerechnet um Udo, das erste ver‐ schwundene Kind. Die Leiche brachte gleich zwei sensationel‐ le Erkenntnisse zum Vorschein: Erstens war das Kind nicht sexuell mißbraucht worden, sondern der Täter hatte mit ihm etwas Grausameres angestellt. Im Reich der Schmerzen kamen solcherlei Feinheiten freilich die gleiche Bedeutung zu wie Temperaturschwankungen auf dem Planeten Venus. Und zweitens, und das war die wirkliche Sensation, war der Junge erst zwei Tage vor seiner Auffindung gestorben. Folglich hatte er nach seiner Entführung noch knapp ein Jahr lang weiterge‐ lebt. Der Täter mußte ihn in dieser Zeit irgendwo gefangenge‐ halten haben. Was wiederum bedeutete, daß die restlichen elf Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach noch am Leben waren. Ihr Entführer brachte sie nicht gleich um. Was weiter bedeute‐ te, daß die Sonderkommission »Udo« nun wirklich ein schwerwiegendes Problem hatte, eins von der Sorte, das der sonore Off‐Kommentator von Trailern für Actionfilme reiße‐ risch mit »Wettlauf gegen die Zeit« anzukündigen pflegt. Es ging jetzt plötzlich nur noch sekundär darum, den Unhold zu stellen und ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Jetzt hieß es, Kin‐ derleben zu retten, um jeden Preis und so schnell wie möglich. 22
Der Erfolgsdruck, unter dem die Sonderkommission »Udo«, am Anfang sehr stark, später eher theoretisch, gestanden hat‐ te, stieg mit einem Male um die Tausenderpotenz. Während die Forensische ihre kostbaren Befunde in aller Sorgfalt Stück um Stück herausrückte, liefen die tapferen Dagebliebenen voller Kraft und doch orientierungslos umher wie vom Ehr‐ geiz zerfressene Fußballer, die jahrelang mit der Ersatzbank vorliebnehmen mußten und nun jäh die Aufforderung des Trainers zum Spielen erhalten hatten. Die Umstellung vom Zuschauer zum Spieler legte Nerven blank. In dieser aufgeladenen Situation behielt wenigstens einer ei‐ nen klaren Kopf: Hartmut Weinstein, ein bedächtiger Dino‐ saurier, der schon seit über vierzig Jahren bei der Kripo war und wohl den Zeitpunkt seiner Pensionierung mehr fürchtete als sämtliche Verbrecher, die er in dieser Zeit eingelocht hatte. Ihm war in der Zwischenzeit die Kommissariatsleitung über‐ tragen worden. Der erfahrene Dreiundsechzigjährige wirkte mit seinen vermutlich am Beginn seiner Laufbahn erworbenen Anzügen und den schon ausgeblichenen Krawatten wie die Kabarettversion eines Spießers. Zudem trug er eine derart massiv gerahmte und dicklinsige Brille, daß das ganze Gesicht nur aus diesem Ding zu bestehen schien. Gleichwohl reagierte er auf die neue Wendung des Falles recht unorthodox. Er pfiff die kriminologischen Einsteins nicht wieder zurück, denn seine Erfahrung sagte ihm, daß, wenn Genies nicht gleich am Anfang etwas Geniales ausspuckten, danach auch nichts Ge‐ niales mehr folgte. Statt dessen fuhr er zweigleisig. Die »Udo«‐Mannschaft ermunterte er mit einer für sein kaltblüti‐ 23
ges Naturell außergewöhnlich väterlichen Nun‐zeigt‐mal‐ was‐ihr‐könnt‐Jungs!‐Parole. Und im geheimen ließ er ein kleines U‐Boot ins Wasser. In diesem Geheim‐U‐Boot saß Hugh. Freilich nicht als Kapi‐ tän, sondern lediglich als Maschinist oder, besser gesagt, als Bordsteward. Der Kapitän war der Irre in dem weinroten Zie‐ gelgebäude. Von einer Legende zu sprechen, wäre übertrieben gewesen. Aber es machten unter den älteren Kollegen Ge‐ schichten über ihn die Runde. Die schillerndste darunter war natürlich die von »Anomab«, den der Irre zur Strecke ge‐ bracht hatte. Wie er das angestellt hatte, blieb ein Rätsel. Al‐ lerdings eins, das je nach Erzähler immer skurrilere Details gebar. Anomab war ein hochangesehener Apotheker in einer kleinen feinen Ortschaft gewesen. Nachdem er sein hübsches Geschäft am Abend geschlossen hatte, fuhr er noch ein biß‐ chen in der Gegend herum, entführte Frauen und vergewal‐ tigte sie im Keller seines hübschen Landhauses. So weit, so gewöhnlich. Anomab besaß jedoch noch ein weiteres Hobby, nämlich die Chirurgie. Er hatte als junger Mann so gern Chi‐ rurg werden wollen, doch seine Eltern hatten darauf bestan‐ den, daß er die Familienapotheke übernahm. Irgendwann hatte sich der Herr Apotheker deshalb Kompensation ver‐ schafft und im besagten Keller einen kompletten Operations‐ saal mit allem dazugehörigen medizinischen Instrumentarium eingerichtet, einschließlich eines Narkose‐ und Dauerbeat‐ mungsapparates. Nach der Triebbefriedigung amputierte er als Hobbychirurg seinen Opfern je nach Lust und Laune Au‐ gen, Nase, Ohren, Mund, Arme oder Beine – die Aneinander‐ 24
reihung der Anfangsbuchstaben der Körperteile zu einem Wort hatte die Ermittler in ihrem morbiden Humor dazu ver‐ anlaßt, ihm diesen Spitznamen zu verpassen: Anomab! Solcherart Schaueranekdoten rankten sich um den Mann, der Monster von so einem Kaliber hinter Gittern gebracht hat‐ te. Und der dann seinerseits für lange Zeit hinter dicken goti‐ schen Mauern verschwunden war, wenn auch freiwillig. Oder etwa unfreiwillig? Hugh wußte nicht, was er von seinem neu‐ en Chef halten sollte. Vor allem hatte ihm niemand gesagt, warum so ein Könner irgendwann die Mauerseite wechseln mußte. Weinstein hätte sich eher seine abgenutzten Krawatten in den Rachen gesteckt und wäre daran erstickt, als irgend etwas Privates über seine Mitarbeiter zu verlautbaren. Und die sich im Umlauf befindlichen Gespenstergeschichten über das Gespenst waren letzten Endes nichts als Geschichten, bei denen jeder, der sie erzählte, am Ende ein entzauberndes »Hab’s so gehört« dranhängte, damit man ihn für den Wahr‐ heitsgehalt des Erzählten nicht verantwortlich machte. Heut‐ zutage nannte man so einen wohl Profiler, das klang sauber und technisch, vor allem englisch und nach Business‐Speak, also unheimlich effizient, wie eine Wissenschaft für sich. Nur glaubte Hugh kaum, daß der Mann hinter den Mauern wußte, was Profiler überhaupt bedeutete. Alkoholismus oder Alkoholmißbrauch, Depressionen oder der nackte Wahnsinn. Diese drei Möglichkeiten zog Hugh als Grund für den langen Klinikaufenthalt seines neuen Bosses in Betracht. Viel mehr Möglichkeiten gab es ja wohl nicht. Nur eins wollte Hugh auf keinen Fall in Betracht ziehen, nachdem 25
ihn die aufgehende Herbstsonne endgültig in eine illuminierte Erscheinung verwandelt hatte: daß während der künftigen Zusammenarbeit mit diesem Bastard dessen Wahnsinn auf ihn abfärbte. Schließlich hatte er Mühe genug, seinen eigenen kleinen Wahnsinn unter Kontrolle zu halten. Gleichzeitig ahn‐ te er, es würde so kommen. Denn er hatte den Superjackpot geknackt, die Traumreise gewonnen, die ihn wer weiß wohin führen würde, aber bestimmt nicht mehr zurück zu dem öden Scheiß mit den Kunststudentinnen. Plötzlich wußte er, er war alt geworden, die Jugend war vorbei, jetzt, in dieser Minute. Trotz vielen Lichts ringsumher spürte er plötzlich tiefste Dü‐ sternis in seinem Herzen. Altsein war traurig wie ein asthma‐ tisch hechelnder alter Hund mit trüben Augen, und es gab kein Entkommen. Hugh würde sich nun auf diese dunkle Traumreise begeben; er spürte schon, wie die Verheißung in seinen Adern pochte. Wohin die Reise ging? Nach Uris vielleicht, warum nicht zur devoten Hingabe, zum Paradies, vielleicht sogar geradewegs in den Kern der alles verschlingenden Düsternis. Wo es ewig schneite und wo es kalt war in aller Ewigkeit.
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2. Das Gesicht des Mannes, der ihm aus dem Spiegel entgegen‐ schaute, ließ ihn an klassische Opern denken. Traurig und hochdramatisch zugleich, weil fast alle Opern traurig und hochdramatisch waren. Richard Claudius kannte sich mit Opern aus, denn es war die einzige Musik, die er hörte. Wenn er überhaupt dazu kam, Musik zu hören. Seit acht Monaten, in denen er in diesem von Gott vergessenen Ort weilen durfte, hatte er jedenfalls keinen einzigen melodiösen Ton vernom‐ men, außer vielleicht dem bizarren Singsang von Mitpatienten nach Mitternacht. Wenn es zum Wahnsinn einen entspre‐ chenden Soundtrack gab, dann war es dieser wie ein rück‐ wärts laufendes Tonband anmutender Gesang eines hochgra‐ dig schizophrenen Menschen in den Nachtstunden. Während er in der zurückliegenden Ewigkeit in seinem Zimmer wach gelegen hatte, zermartert von Dämonen, die das Leben gebar wie eine häßliche, glitschige Kreatur ihre zigtausend Eier, war es ihm bisweilen so vorgekommen, als wäre dieses verrückte Geleier der aus Milliarden Kehlen aufsteigende Chor der gan‐ zen Welt. Claudius’ voluminöser Kopf besaß eine eckige Form und ging fast halslos zum ebenfalls kantigen, gedrungenen Körper über. Er sah aus wie ein schwerer, alter Tresor aus einem Schwarzweiß‐Gangsterfilm aus den Fünfzigern. Irgendwie hatte er auch das Gefühl, daß er um so schwarzweißer wurde, je stärker ihm das Alter zusetzte. Der Prozeß des Alterns 27
schien einem die Farben auszusaugen. Er war jetzt sechsund‐ fünfzig, und wer weiß, wenn er mit ein bißchen Glück die siebzig erreichte (was kaum danach aussah), würde er ver‐ mutlich nur noch aus einer dunkelgrauen Masse bestehen. Seine vielen wurstigen Falten an der Stirn erinnerten ihn an einen aufgeladenen Gewitterhimmel und die blauen Augen darunter, die längst ihre einstige Strahlkraft eingebüßt hatten, an die bleiche Lichtstimmung bei derlei Wetterumbrüchen. Der Rest war eine schroffe Landschaft aus einer wie verhauen wirkenden großen Nase, dicken, fast blauen Lippen und ei‐ nem wuchtigen Kinn mit einem markanten Grübchen darin. Tiefe Furchen überzogen diese verbrauchte Landschaft, als bestünde sie aus zerknülltem Papier. Seltsam, seine Haare waren kaum ergraut. Ein paar weiße Härchen hier und dort, aber sonst waren sie rabenschwarz wie immer. Er hatte sie erst am vorigen Tag vom Anstaltsfriseur in die gewohnte rechts gescheitelte Fasson bringen lassen. Herr im Himmel, wie altmodisch er aussah! Nicht nur alt, sondern auch noch altmodisch. Er steckte in einem mit aus‐ geblichenen beigen Längsstreifen gemusterten Hemd, das zwar ordentlich gebügelt war, von dem er jedoch nicht mehr wußte, seit wann es überhaupt in seinem Besitz war. Im Ge‐ gensatz zu der dunkelgrauen Hose. Er hatte das gute Stück genau vor zwanzig Jahren in einem Herrenbekleidungsge‐ schäft erstanden, das schon damals den Mief von hundert Jahren ausgedünstet hatte. Wahrscheinlich war er der letzte Kunde darin gewesen, bevor es bankrott ging. Zu allem Über‐ fluß mußte er bei dieser Affenhitze in seinem alten Mantel im 28
Fischgrätenmuster vor die Tür treten, der vom Umfang und von der Stoffstärke her locker einer Polarexpedition getrotzt hätte. Der Arzt aus dem Rettungswagen hatte ihn im Februar darin eingemummt hierhergebracht. Was Stil betraf, stellte Claudius nicht zum ersten Mal fest, war er eine einzige Niete. Im Gegensatz zu diesem Polizistendressman in seinem schnieken Dienst‐Mercedes da draußen, der auf ihn zu warten schien wie ein aufgekratzter Zirkuszuschauer auf den Clown mit den überlangen Schuhen. Er wandte sich vom Spiegel ab und durchquerte das 14‐ Quadratmeter‐Zimmer bis zum Fenster. Ein schlichtes Bett, ein Kleiderschrank mit dem Charme einer Europalette, ein zerkratztes Pult plus Stuhl, vermutlich aus dem Bestand einer aufgelösten Schule, ein Nachtschränkchen für persönliche Sachen, fast leer, und ein kleiner Fernseher in zwei Metern Höhe auf einem Stützregal. Während seines gesamten Klinik‐ aufenthaltes hatte er ihn kein einziges Mal eingeschaltet. Aus dem Fenster auf den sonnenbeschienenen riesigen Parkplatz herunterblickend, fiel ihm plötzlich auf, daß er sich seit lan‐ gem nicht mehr so wohl gefühlt hatte. Das war natürlich eine Untertreibung, denn wenn er sich recht entsann, hatte er sol‐ che Frische zuletzt als Zwanzigjähriger verspürt. Kein Wun‐ der, denn danach hatte er mit dem Saufen angefangen. In den acht Monaten, in denen er hier untergebracht war, hatte er allerdings keinen Tropfen Alkohol angerührt. Und keine ein‐ zige Zigarette angefaßt. Sondern die meiste Zeit, nun ja, die Wände angestarrt. Wenn man von den gelegentlichen Unterb‐ rechungen durch die Gesprächstherapie einmal absah. 29
Während dieser Sitzungen saß er mit anderen Kaputtnixen und einer Therapeutin mit dem paradoxen Namen Frau Hübsch im Kreis zusammen und log über die Ursachen seines Zusammenbruchs, daß sich die Balken bogen. Dabei gelangte er zu der Einsicht, daß es sich bei den anderen in der Runde um nicht minder begabte Dichter handelte. Einer von ihnen, ein Kerl von der Gestalt eines Yetis und mit der Stimmgewalt eines Preßlufthammers, brach andauernd in Tränen aus und behauptete, daß er sich zeit seines Lebens immer so klein und so schwach gefühlt habe. Folgerichtig hatte er seiner Frau das Gesicht derart gründlich zertrümmert, daß sie fortan eine Na‐ senprothese aus Kunststoff tragen mußte. Was ihn persönlich anging, war an allem der Teufel Alkohol schuld, und damit Schluß! Claudius mußte sich eingestehen, daß ihn der junge Mann im Mercedes ein bißchen nervös machte. Weinstein hatte ihm bei seinem Anruf am Freitag vor vollendete Tatsachen gestellt. Entweder, er übernahm den Fall und machte bald Schluß mit dem Spuk, oder er war endgültig raus aus dem Club. Bei einer modernen Polizei, die sich auf wissenschaftliche Methodik stützte, war kein Platz mehr für einen Ermittler, der nur noch von seinem eigenen Mythos zehrte. Schon gar nicht riß man sich um einen, dessen bloße Namenserwähnung selbst bei der Reinigungskraft im Präsidium die berühmte Scheibenwi‐ schergeste mit der Hand vor der Stirn hervorrief. Es war die letzte Chance für ihn. Natürlich war ihm dieser pathetische Letzte‐Chance‐Mist schnurzegal. Doch was sollte er wirklich tun, wenn er die nicht ergriff? Wieder die Wände anstarren? 30
Diesmal bis an sein Ende? Hartmut Weinstein war ein Weggefährte aus alten Tagen. Im Gegensatz zu Claudius hatte er jedoch nie persönlich die Dunkelkammer der menschlichen Psyche betreten. Er war von Beginn an in der administrativen Ebene tätig gewesen und kannte die Aldi‐Tüten voller abgehackter Glieder meist nur aus dem Album des Polizeifotografen. Zudem hatte er sich einen fetten Panzer der Kleinbürgerlichkeit zugelegt, inklusi‐ ve emsiger Schrebergarten‐Aktivitäten. Weinstein war trotz seiner verstockten Art ein glücklicher Mann. Und kein dum‐ mer. Deshalb hütete er sich natürlich davor, einen wie Clau‐ dius allein auf einen derart brisanten Fall loszulassen. Er wollte ihn durch einen jungen Wachhund unter Kontrolle wissen, wenn auch einen charmanten Wachhund, wie man hörte. Claudius hatte dem Deal schließlich zugestimmt. Unter zwei Bedingungen: Erstens würde er der Sonderkommission »Udo« nicht als ein weiterer Baustein zur Verfügung stehen, sondern parallel zu ihr allein seine Kreise ziehen. Mit allen Vollmach‐ ten, die auch die Kommission besaß. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß er zur Teamfähigkeit etwa so viel taugte wie eine Abrißbirne zum Statuenmeißeln. Der Schönling im Mercedes würde lediglich als sein Assistent ohne Stimmrecht fungieren und sonst als gar nichts – außer vielleicht noch als fleißiger Petzer des Untersuchungsverlaufs an Weinstein. Das war das kleine Zugeständnis. Zweitens durfte er etwas härter als »Udo« an die Sache herangehen. Er hatte Weinstein davon überzeugen können, daß in der gebotenen Eile vielleicht nicht 31
alle die Samthandschuhe ausziehen mußten, doch zumindest einer. Falls es mediales oder politisches Aufheulen darüber gab, nicht so schlimm, sollten sie doch alles auf den durch‐ geknallten Einzelgänger schieben. Obwohl er die Vorzüge seines Quasigefängnisses nach und nach zu schätzen und am Ende gar lieben gelernt hatte, war der Wunsch, nach achtmonatigem Totalausfall wieder aktiv zu werden, groß. Aber zwei andere Motive wogen mehr. Er wollte unbedingt Erika und Alfie wiedersehen. Schließlich waren die beiden seine Familie, oder etwa nicht? Das Wort ging ihm sogar in Gedanken schwer über die Lippen. Familie war das Lagerfeuer, an dem sich der vom Eisregen des Lebens durchfrorene Mensch wärmte. Freilich handelte es sich bei Erika und Alfie um keine herkömmliche Familie. Um keine, die einem mit einer Schachtel Pralinen einen Besuch abstatte‐ te, wenn man im Krankenhaus lag – oder im Irrenhaus die Wände anstarrte. Sie verkörperten für ihn die Idee von einer Familie. In seinem Falle eine sehr komische Idee. Doch wenn man so lange wie er im Eisregen gestanden hatte, war selbst die Idee eines Lagerfeuers wärmespendend. Und er wollte diesen kleinen Kindern wirklich helfen, ihr kleines Leben zu behalten. Irgend etwas sagte in ihm, daß sie noch lebten und ihn um Hilfe riefen. Das schönste Gefühl für jeden halbwegs normalen Erwachsenen war eben weder Sex noch Millionen auf dem Konto, sondern eine winzige weiche Hand, die die eigene hielt, warm, ein bißchen klebrig und nach Süßigkeiten riechend, aber fest und fordernd: Ich brau‐ che dich, Großer! 32
Claudius starrte aus dem Fenster auf den weiten Parkplatz hinunter, der an diesem klaren Septembermorgen derart in‐ tensiv strahlte, als sei die Sonne darauf gefallen. Er freute sich auf seinen ersten Kaffee, eine Knackwurst mit reichlich schar‐ fem Senf drauf, auf die erste Rothändle seit langem und auf den Job. Ihm ging es richtig gut. Wer hätte das gedacht, diese Frau Hübsch hatte es tatsächlich geschafft, ihn wieder hinzuk‐ riegen! Eigentlich war alles viel zu schön, um wahr zu sein. Und als der Blick in sein Inneres fiel, da erkannte er, daß das auch der Wahrheit entsprach. Er spürte trotz der perfekten Aufbruchstimmung etwas Übles in sich rumoren wie schlei‐ chendes Gift. Es war die Erinnerung an die Tage, bevor man ihn in diese Anstalt gebracht hatte. Tausende Bildschnipsel blitzten vor seinem geistigen Auge auf, als würde ein Video‐ band im Schnelldurchlauf vor‐ und rückwärtsgespult. Aber wie viele Bilder das Band auch präsentierte, am Ende froren sie allesamt zu einer einzigen Momentaufnahme zusammen. Nämlich wie er in seiner kleinen Wohnung mit den herunter‐ gelassenen Jalousien saß und die schmutzigen Wände anstarr‐ te. Ihn beschlich dabei immer mehr das Gefühl, daß sich draußen gigantische Wellen auftürmten und ganze Stadtteile unter sich begruben. Er hörte ihr Wüten. Und allmählich mischte sich darin wie aus der Ferne das Wimmern des Hundes, das wie ein sich quälend langsam be‐ wegendes, rostiges Scharnier klang. Er kannte den Hund; er hatte ihm eigenhändig in den Kopf geschossen. Ja, der legen‐ däre Claudius hatte es auch mal eine Nummer kleiner getan und einen gejagt, dessen ganz spezielle Liebe den Tieren galt. 33
Wie sich später herausstellte, litt der Mann, ein einsamer Bauer, unter einem Hirntumor von der Größe einer Kartoffel. Die sich daraus ergebenden katastrophalen Auswirkungen auf seine psychische Steuerungsfähigkeit waren weder ihm selber noch seiner Umgebung besonders aufgefallen. Diese Kartoffel zerstörte sukzessive sein Resthirn, übernahm all‐ mählich die Kontrolle darüber und ließ ihn in der Nacht Din‐ ge aus dem Handbuch des Satans tun. Er verstümmelte Tiere. Pferde in der Koppel, komplette Schweine‐ und Kuhställe, aber auch Katzen und Hunde. Stets so intelligent dosiert, daß die Kreaturen viele Stunden, manchmal sogar noch tagelang weiterlebten, bevor sie schließlich ausbluteten oder unter grausamen Schmerzen verreckten. Als Claudius ihn endlich in seinem verfallenen Gehöft auf‐ gespürt hatte, wähnte er sich in einem Gemälde von Hiero‐ nymus Bosch. Das abscheulich stinkende Anwesen war voll‐ gestopft mit geklautem und mißhandeltem Getier jeglicher Art. Sie waren die Darsteller in einer Show für einen einzigen Zuschauer, bei dem man offenkundig die Nervenbahnen zu den Gefühlsregionen gekappt hat. Eine Sau mit abgehacktem Schwanz und abgeschnittenen Ohren rannte blutüberströmt über Kothaufen, Blutlachen und Kadaver und gab ohne Un‐ terbrechung schrille Quiekser von sich. Es hörte sich an wie die Singübung einer verrückt gewordenen Sopranistin. Eine Katze war am Rücken gegen einen Holzpfeiler genagelt wor‐ den, bewegte aber noch den Kopf und winselte. Dann sah er den Hund. Er war ein Drahthaarfoxterrier. Weißes Fell mit geströmten roten und leberfarbenen Abzeichen und dem sig‐ 34
nifikanten wuscheligen Bart. Sein Peiniger hatte ihm mit blo‐ ßen Stiefeln alle vier Beine zertrümmert. Simple Knochenbrü‐ che, die nicht sofort zum Tode führen würden, aber eine schier endlose Schmerzensreise versprachen. Der Hund lag da, konnte sich nicht bewegen, zuckte jedoch andauernd, als erhielte er kontinuierlich Stromstöße, wimmer‐ te dieses Rostiges‐Scharnier‐Wimmern und blickte Claudius durch verzweifelte kohlschwarze Augen so an, als wolle er wissen, warum ihm das geschehen war. Der schlaue Ermittler aber konnte dem armen Tier darauf keine einleuchtende Ant‐ wort geben. Denn derjenige, der ihm das angetan hatte, war selber zertrümmert, wenn auch inwendig. Alles, was hier an Schrecklichem passiert war und je passieren würde, war rei‐ ner Zufall! Der wuchernde Tumor im Kopf seines Folterers genauso wie der Umstand, daß dieser sich ausgerechnet den süßen Struppi für die Erfüllung seiner kranken Begierde aus‐ gesucht hatte. Und wenn bei dieser zufälligen Tragödie Gott irgendeine Rolle spielte, ein Gott, der die Geschicke alles Le‐ bendigen lenkte, dann war auf so einen zufälligen Gott auch geschissen. Dann schoß Claudius dem Hund mit seiner Wal‐ ther in den Kopf. Er hatte in seiner Wohnung mit den heruntergelassenen Ja‐ lousien gesessen – später erfuhr er von Frau Hübsch, daß es sich wohl um ganze zwei Wochen gehandelt haben mußte –, die schmutzigen Wände angestarrt, dabei gesoffen und über den Zufall sinniert. Bis er das Wüten der Riesenwellen ver‐ nahm und dann das leise Wimmern von Struppi. Ihm kam es jedoch gar nicht so vor, als habe er nun die Grenze zum 35
Wahnsinn überquert. Im Gegenteil, er glaubte plötzlich, die wahre Natur der Welt mit noch nie dagewesener Klarheit er‐ kannt zu haben. Als habe bis jetzt eine meterdicke Mauer in seinem Kopf ihn davon abgehalten, auf den wahren Kern der Dinge zu schauen. All die Leichen, meist bis zur Unkenntlich‐ keit verunstaltet, die er schon so oft begutachten durfte, und all das unerträgliche Leid, das hinter ihnen lag, es war nichts weiter als ein Produkt der Zufallsmechanik. Eine Art Fehler im System, entstanden mit der Erschaffung der Welt. Man konnte den Fehler nicht ein für allemal beheben, aber ihn ausmerzen, wo man auf ihn traf. So wie man instinktiv Kaker‐ laken zertrat, wenn man sie in der Wohnung entdeckte, ob‐ wohl man wußte, daß dadurch das Kakerlakenproblem nicht gelöst wurde. Er war vorher wahnsinnig gewesen, hatte Richard Claudius gedacht, während er in der Wohnung mit den heruntergelas‐ senen Jalousien die nächste Schnapsflasche aufschraubte. Nun aber war er mit einem Mal geheilt und hörte den echten Sound: die Riesenwellen, die alles unter sich begruben, und Struppis nicht enden wollendes Wimmern. Diese Wissen‐ schaftler mit ihrer Silberhaarpracht hatten tatsächlich recht. Die Welt war entstanden aus Chaos und beruhte auf Chaos. Kein Wunder, daß sie jetzt unterging.
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3. Achtung, jetzt geht’s los! sagte sich Hugh, als er den Alten an der Eingangspforte erblickte. Ganz Diener alter Schule, der bei seinem neuen Herrn einen tadellosen ersten Eindruck hinter‐ lassen will, sprang er sofort aus dem Wagen, eilte zur Beifah‐ rertür, öffnete sie und baute sich davor mit dem charmante‐ sten Lächeln auf, das er im Repertoire hatte. Es fehlte nur noch eine Chauffeursmütze auf seinem Kopf. Eigentlich hatte er noch vor einer Minute beschlossen, derlei Schleimereien ein für allemal zu lassen. Doch die alten Reflexe waren ihm offen‐ kundig in Fleisch und Blut übergegangen. Er erkannte Claudius augenblicklich, obwohl er von dem Kerl außer dem Namen und den sich um ihn rankenden ko‐ mischen Geschichten nichts weiter wußte. Aber es stimmte, er war in der Tat eine eindrucksvolle Gestalt. Wenn auch anders als gedacht. Hugh hatte eher so etwas wie eine für den Poli‐ zeidienst modifizierte Figur aus einer dieser aktuellen Comic‐ verfilmungen erwartet. Mit graumelierten Schläfen, blutädri‐ gen Augen und einer bis zum Boden reichenden schwarzen Pelerine. Doch der Mann, der ihm über den weiten Parkplatz mit einem verlegenen Lächeln und einer Plastiktüte in der Hand entgegenschritt, entsprach ganz und gar nicht dieser Vorstellung. Er war ein wahrer Klotz von einem Menschen. Und gräßlich gekleidet. Klein, eins siebzig vielleicht, und von kastenartiger Gestalt. Er schien irgendwie komprimiert, gera‐ deso, als habe man einen großgewachsenen Mann mittels ei‐ 37
nes speziellen Verfahrens in eine möglichst kompakte Form gepreßt. Hätte Hugh ihn mit einem Tier vergleichen müssen, wäre es ein Gorilla gewesen. Ein Gorilla in einem angesichts dieser Bullenhitze absurden Wintermantel. Das Gesicht in dem kantigen Schädel wirkte allerdings wie ein Fremdkörper. Das Alter hatte seltsamerweise das jugend‐ liche Antlitz trotz aller Verunstaltungsattacken nicht ganz zu zerstören vermocht. Zwar ein bißchen verblichen, strahlten die blauen Augen immer noch voller glühender Intensität, und immer noch streckten sich Hugh markante Stellen wie Nase, Mund und Kinn wie gemeißelte scharfe Vorsprünge entgegen. Erstaunlich, Claudius’ schwarze Haare waren kaum ergraut und schienen auch nicht gefärbt zu sein. Freilich hätte die Frisur mit dem akkuraten Rechtsscheitel nicht antiquierter sein können. Überhaupt mutete sein neuer Chef wie ein Zeit‐ reisender aus den Heinz‐Erhard‐Fünfzigern an, der sich zufäl‐ lig ins 21. Jahrhundert verirrt hatte. Vielleicht war er deshalb im Irrenhaus gelandet. Als Claudius am Mercedes angekommen war, setzte er die Tüte ab, in der sich wahrscheinlich Unterwäsche und Toilet‐ tenartikel befanden, und streckte Hugh eine leicht zitternde Hand entgegen. »Einen wunderschönen guten Morgen an diesem wunder‐ schönen Tag für die vor uns liegende wunderschöne Zusam‐ menarbeit, Herr Claudius«, sagte Hugh. Sie schüttelten sich die Hände. Hugh merkte sofort, daß sei‐ ne sorgsam vorbereitete Begrüßung unübertrefflich peinlich klang. Claudius’ verlegenes Lächeln fror vollends zu einer 38
Maske ein. »Hugo Hoffer – nennen Sie mich einfach Hugh!« Sie stiegen ins Auto, in dem trotz der heruntergelassenen Scheiben starke Hitze herrschte. Selbstverständlich hätte Hugh die Klimaanlage einschalten können, doch ohne es aus‐ sprechen zu müssen, spürte er, daß Claudius das im begin‐ nenden Herbst irgendwie für unnatürlich gehalten hätte. Eine kleine Ewigkeit lang herrschte Schweigen. Hugh merkte, daß sie beide das Gefühl der ersten Fremdheit dadurch übertünch‐ ten, indem sie ihre Kleidung zurechtzupften und so taten, als bemühten sie sich um eine optimale Sitzstellung. Die Frage, warum einer von ihnen keine geringe Zeit in dem Backstein‐ monstrum verbracht hatte, schwebte an der Autodecke umher und wollte auf keinen Fall beantwortet werden. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Claudius schließlich. »Sag‐ ten Sie eben, ich solle Sie Juch nennen?« Hugh verzog die Lippen zu einem Grinsen und nickte ver‐ ständnisvoll. Ein netter junger Mann, der seinen älteren Mit‐ bürgern ihre altersbedingten Mankos nachsieht. »Nicht Juch, sondern Jhuhh, H‐u‐g‐h, englisch ausgesprochen, verstehen Sie? Ein Spitzname.« »Wer hat Ihnen diesen Spitznamen gegeben?« Claudius schaute Hugh so naiv erwartungsvoll ins Gesicht, als wolle ein Buschmensch von seinem Kolonialherrn erfahren, wie das mit der Elektrizität funktioniert. »Wie bitte?« Er fing unter seinem weißen Boss‐Hemd mit dem ausladenden spitzen Revers zu schwitzen an – und das nicht nur wegen der Hitze. 39
»Nun ja«, begann Claudius und wandte den Blick wieder nach vorne ins Sonnenlicht. Hugh hatte das Gefühl, daß sich in den anfänglich von echter Neugier geprägten Ton etwas Schelmisches gemischt hatte. »Gewöhnlich hat man seinen Spitznamen anderen zu verdanken, Freunden oder Kollegen, manchmal sogar seinen Eltern. Er ist meist an eine lustige Anekdote geknüpft. Oft spielen auch drollige Charaktereigen‐ schaften, auffällige Körpermerkmale, ein besonderer Gang oder so etwas eine Rolle.« »Ich muß Sie enttäuschen«, antwortete Hugh betont unge‐ rührt. »Den habe ich mir selber zugelegt.« Natürlich hätte er ihm das mit Hugh Grant erzählen können. Aber er hegte den Verdacht, daß Claudius, so wie er aussah, weder Hugh Grant kannte noch irgendeinen seiner Filme. Der Mann neben ihm wirkte eher so, als wäre er zum letzten Mal im Kino gewesen, als noch Schwarzweißgestalten stumm und unter Klavierbegleitung auf der Leinwand agierten. Und weil das so war, hätte er ihm erst mal lang und breit seine Bewun‐ derung für Grant in seinen Single‐Rollen erklären müssen und was das alles mit seinem eigenen Leben zu tun hatte, das heißt eigentlich wiederum doch nicht so viel, jedenfalls nicht in der klischeehaften Art und Weise, wie Filmfritzen sich das Single‐ Dasein zusammenphantasierten, und dann wäre er bei dem sonderbaren Gedankenbrei der letzten halben Stunde ange‐ langt. Mehr noch, wenn er all diese intimen Details einem Fremden tatsächlich anvertraut hätte, wäre sein Kopf im nächsten Augenblick vor Scham mit einem gewaltigen Knall explodiert. 40
»Sie haben sich selbst einen Spitznamen gegeben?« Claudius schien auf die Frage keine Antwort zu erwarten, doch es war klar, daß die Vorstellung ihn belustigte und er große Mühe hatte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Ich habe mir auch immer einen Spitznamen gewünscht«, fuhr er fort. »Schon als Kind. Aber ich hatte nie Freunde, die mir einen verpaßt hätten. Obwohl mein Aussehen doch wohl danach schreit. Aber ihr jungen Burschen seid echt weiter. Ihr verpaßt euch einfach selbst Spitznamen, wenn …« »Hören Sie, Herr Claudius …«, unterbrach ihn Hugh. Der Punkt war erreicht, wo die Neckerei in Beleidigung umzukip‐ pen drohte. Besser, er setzte zwischen den beiden Autositzen gleich eine Grenze des Respekts, als daß künftig der respekt‐ lose Grenzverkehr in eine Richtung zur Gewohnheit wurde. Er war doch nicht der nette Typ mit der Chauffeursmütze. »Nein, Sie hören mir jetzt zu!« unterbrach ihn Claudius ebenfalls. Der Lautpegel reichte zwar nicht an ein Brüllen he‐ ran, war aber auch nicht sehr weit davon entfernt. In seinem Gesicht hatten sich ebenso zahllose Schweißperlen gebildet, die ihm die Schläfen und den Hals herabrannen und im Kra‐ genschlitz des scheußlichen Hemds versickerten. Hugh hatte den Verdacht, daß die Ursache dafür wie bei ihm nur teilwei‐ se an der Hitze im Auto lag. »Ich weiß, was in Ihrem Kopf vorgeht, Juch«, sprach Clau‐ dius weiter. Hugh brachte den Willen nicht auf, ihn noch einmal zu ver‐ bessern. Entweder wollte dieser blöde alte Sack den Namen nicht richtig aussprechen, oder er konnte es tatsächlich nicht. 41
Offen gesagt konnte er ihn inzwischen selbst nicht mehr hö‐ ren. Wie hatte er je auf die Idee verfallen können, sich nach einem Schauspieler zu nennen, dessen Erscheinung die opti‐ male Onaniervorlage für Schwuchteln abgab? »Sie denken, daß Sie es bei mir mit einem Verrückten zu tun haben. Vielleicht stimmt das sogar. Aber Sie haben sich fest vorgenommen, die Sache durchzuziehen – wegen des rei‐ bungslosen Verlaufs Ihrer Karriere oder weil Sie andernfalls die bis aufs Komma genau ausgerechnete Höhe Ihrer Pension in Gefahr sehen. Dafür würden Sie mit jedem Wolf heulen, auch wenn der kräht und ein Geweih trägt. Stimmt’s?« Er wandte das Gesicht mit den verblaßten blauen Augen von Hugh ab und starrte auf das von der grellen Sonne umflorte Gebäude in der Ferne. Ohne daß sich der Ekel in seiner Stim‐ me wesentlich reduzierte, fuhr er fort: »Damit Sie es wissen: Ich verabscheue solche Leute wie Sie! Als Weinstein von Ih‐ nen erzählte, wie toll Sie mit allen Belastungen, die dieser Be‐ ruf mit sich bringt, umgehen, wie charmant Sie wären und teamfähig und lösungsoffen, ich glaube, er erwähnte diese affi‐ gen Begriffe, da wußte ich Bescheid. Ich wußte, was Weinstein mir als einen Goldjungen verkaufen will, ist in Wahrheit nichts weiter als ein gewöhnlicher Arschkriecher, dem alles gleichgültig ist. Hauptsache, er erklimmt die Leiter zum Poli‐ zistenhimmel Stufe um Stufe, ohne nach rechts und links und über den Tellerrand hinauszuschauen und je begreifen zu wollen, was der eigentliche Sinn unseres Tuns ist, nämlich dafür zu sorgen, daß Menschen sich nicht gegenseitig weh tun.« 42
Er drehte den Kopf wieder zu Hugh zurück und schaute ihm in die Augen. Die vielen Schweißperlen von vorhin hatten sich zu einer Brühe vereinigt, die ihm wie eine unversiegbare Flut am Gesicht herunterfloß. Vielleicht sollte er endlich die‐ sen verdammten Zu‐meiner‐Zeit‐hatten‐wir‐noch‐richtige‐ Winter‐Mantel ablegen, dachte Hugh. »Doch soll ich Ihnen was sagen, Juch? Es ist mir scheißegal! Es ist mir egal, was Sie über mich denken, und es ist mir auch egal, aus welchem Holz Sie geschnitzt sind. Man hat sich an mich gewandt, weil man nicht mehr weiterweiß. Das ist im‐ mer der Fall, wenn man sich an Claudius wendet. Ich bin es gewohnt. Kommen Sie aber nur nicht auf die schwachsinnige Idee, uns als ein Team zu betrachten, als gutgeölte Partner oder so etwas in der Art. Sie sind der Wasserträger, der Be‐ fehlsempfänger, von mir aus auch Weinsteins Informant. Das war der Deal. Ich aber gehe meiner eigenen Wege, und wohin ich gehe, fürchte ich, werden Sie mir niemals folgen können, Juchi!« »Ist gut, Opi, ich werde es beherzigen.« Auch Hugh hatte sich inzwischen einen Betonbohrerblick zugelegt. Er kniff die Lider zusammen, glotzte seinem Gegenüber geradewegs in die Pupillen und unterließ das Blinzeln. »Wie haben Sie mich genannt?« In Claudius’ erregter Miene tat sich diagonal ein Riß auf, ei‐ ne Art Comicblitz‐Zickzack, der die selbstgerechte Fassade auseinanderbrechen und im Nu in sich zusammenfallen ließ. »Ich hab Opi zu Ihnen gesagt. Das ist der Ausdruck von kar‐ rieresüchtigen jungen Arschkriechern für ältere Herrschaften 43
wie Sie, die sich noch künstlich älter machen, indem sie glau‐ ben, daß sie bei der ersten Begegnung mit einem vermeintli‐ chen Konkurrenten einen moralphilosophischen Anschiß los‐ werden müssen. Übrigens: Ich halte Sie in der Tat für ver‐ rückt, sonst wären Sie ja nicht so lange da drin gewesen. Mich hat es schon gewundert, daß man Sie in diesem phänomenal modischen Mantel herausgelassen hat anstatt in der Zwangs‐ jacke. Aber es ist mir, um mit Ihren Worten zu sprechen, auch scheißegal. Sie wissen schon, wegen der bis aufs Komma ge‐ nau ausgerechneten Höhe meiner Pension. Ja, ich glaube, das wäre im Moment alles. Ach, vielleicht noch eins: Wenn Sie sich schon immer einen Spitznamen gewünscht haben, kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein. Wie wär’s nun wirklich mit Opi!« Claudius schien in seiner Wut versteinert. Eine Wachspuppe mit einem bis zum äußersten gespannten und erröteten Ge‐ sicht, das einer Megawarze glich, aus dem jeden Augenblick der Eiter herauszuplatzen droht. Hugh machte sich mit dem Gedanken Mut, daß er Kampfsport beherrschte. Das Warzen‐ gesicht des Alten verdunkelte sich noch um einige Rottönun‐ gen, straffte sich weiter – bis plötzlich aus dem wulstigen Mund so etwas wie ein langanhaltendes Furzgeräusch ent‐ wich. Dieses wiederum ging nahtlos in ein langsam anstei‐ gendes, kehliges Gegacker über, das schließlich in einem lau‐ ten Gelächter kulminierte. Claudius lachte so hingebungsvoll, daß ihm Tränen in die Augen stiegen. Hugh beschloß nach einigem Zögern, in das Lachen einzu‐ stimmen, ohne genau zu wissen, warum. Zunächst zaghaft, 44
dann, als keine Gefahr mehr zu drohen schien, aus voller Keh‐ le. Die beiden Männer lachten, als wären sie die besten Freun‐ de und als hätte einer von ihnen gerade einen schmutzigen Witz der Extraklasse vom Stapel gelassen. »Opi«, brachte Claudius schließlich unter Mühen hervor. »Das ist tatsächlich ein toller Spitzname für mich. Opi und Juchi – klingt wie eine Polizeiserie mit zwei Deppen in den Hauptrollen. Erste Folge: ›Eine verrückte erste Begegnung‹. Verdammt, ich würde mir wirklich jede einzelne Folge gern reinziehen, wenn es sie denn gäbe!« »Nicht so voreilig, Herr Claudius«, sagte Hugh, während er ebenfalls sein Lachen abzustellen versuchte. Er reckte sich nach hinten, um die Unterlagen vom Rücksitz zu holen. »Wer sagt Ihnen denn, daß wir uns besser anstellen als unsere bei‐ den komischen Serienhelden? Vielleicht machen wir uns bei diesem Fall genauso zu Witzfiguren, auch wenn die Sache nicht gerade witzig ist.« »Juch«, sagte Claudius und ergriff Hughs nach hinten ver‐ drehten Oberarm. Das Lachen war aus seinem Gesicht gewi‐ chen. Er wirkte von einem Moment zum anderen wie ver‐ wandelt, die blauen Augen waren verhangen vor Scham. »Es tut mir leid. Ich war unhöflich zu Ihnen, ich … ich war wie einer dieser verbitterten alten Männer, die die Jugend für ihre Bitternis verantwortlich machen. Was heißt wie! Ich habe eine schwere Zeit hinter mir, doch das letzte, was ich möchte, ist, Ihnen diesen prächtigen Tag durch die Karikatur eines unaus‐ stehlichen kaputten Vorgesetzten zu verderben. Opi möchte Ihnen nur sagen, ich habe es mit uns gleich am Anfang ver‐ 45
masselt, und meine ach so reiche Lebenserfahrung sagt mir, daß das bestimmt nicht mein letzter Fehler bleiben wird. Ich hoffe nur, Sie bringen mich auf den richtigen Kurs, wenn ich mich das nächste Mal lächerlich mache.« »Wird erledigt, Chef«, sagte Hugh in bemüht unkomplizier‐ tem Tonfall und zwinkerte ihm zu. »Wollen wir jetzt ein biß‐ chen arbeiten?« »Ja, das wollen wir. Kann es schon gar nicht mehr abwar‐ ten.« »Was hat Ihnen Weinstein erzählt?« Hugh langte zwischen den beiden Autositzen mehrmals nach hinten und wuchtete dicke Aktenordner auf seinen Schoß. »Nur das allgemein Bekannte. Er sagte, Sie würden mich in die Details einweihen. Die meiste Zeit hat er eigentlich nur von Ihnen geredet.« »So? Was sagte er denn?« »Den üblichen Schwachsinn, von dem er genau weiß, daß es mich auf die Palme bringt. Daß Sie der moderne Polizist wären und so weiter. Elegant im Umgang mit der Materie, mit der wir es zu tun haben, und daß kein anderer den Dienstlei‐ stungsgedanken bei der Polizei so konsequent anwenden würde wie Sie. Ja, die Begriffe Dienstleistung und Kunde er‐ reichten in dem Telefonat eine geradezu inflationäre Häufung. Den alten Knaben hat man in meiner Abwesenheit offensich‐ tlich in eins dieser Managerseminare auf Fuerteventura ge‐ steckt und ihm das Gehirn gewaschen, während er über glü‐ hende Kohlen laufen mußte. Wir werden ja sehen, mit wel‐ 46
chem Kunden wir es im vorliegenden Fall zu tun haben.« »Der Gedanke gefällt Ihnen wohl nicht, daß Sie einsamer Wolf Ihr Revier allmählich an die Eierköpfe abtreten müs‐ sen?« Als allerletztes schnappte sich Hugh zwei Gegenstände vom Rücksitz, die für Claudius bestimmt waren, und beugte sich wieder nach vorne. »Ich bin kein Wolf«, sagte Claudius und zog eine angewider‐ te Miene. Dabei befreite er sich umständlich aus seinem Man‐ tel. »Ich jage Wölfe. Und was die Eierköpfe angeht, scheinen die bis jetzt auch nicht der große Knaller gewesen zu sein. Sonst hätte mich Dienstleister Weinstein wohl kaum angeru‐ fen.« »Apropos Anruf: Hier ist Ihr Diensthandy«, sagte Hugh und drückte ihm das silbrig glänzende Gerät in die Hand. Claudius betrachtete es mit abwesendem Blick. »Ich habe nie eins gehabt. Wie funktioniert es?« »Ganz einfach: Hier sprechen Sie hinein …« Hugh deutete mit dem Zeigefinger auf die Sprechmuschel. »Und da kommt die Stimme Ihres Gesprächspartners heraus.« Er wies auf die Hörmuschel und lächelte spitzbübisch. Claudius’ buschige Augenbrauen fuhren kurz erzürnt hoch. Eine Sekunde später aber verstand er den Witz, und er vollführte eine wegwerfen‐ de Geste. »Ich habe für Sie sämtliche wichtigen Nummern auf Kurz‐ wahl einprogrammiert und zeig Ihnen auch gleich, wie das Ding zu bedienen ist. Ach ja, Ihre Dienstwaffe …« Hugh legte Claudius die Walther P5 in die freie Hand. »Was soll ich damit?« Claudius ließ die Pistole zwischen 47
Daumen und Zeigefinger am Griff herunterbaumeln, als han‐ delte es sich dabei um einen stinkenden toten Fisch. »Glauben Sie etwa, unser Kunde läuft uns in der nächsten halben Stunde über den Weg, und ich muß ihn abknallen?« Er tippte gegen den Druckknopf des Handschuhfachs, ließ den Deckel aufspringen, legte die Waffe hinein und schloß den Kasten wieder. »Haben Sie schon einmal jemanden erschossen?« wollte Hugh wissen. »Zweimal, um genau zu sein.« »Und wie war’s?« »Darüber möchte ich nicht sprechen … Es waren nicht der Weihnachtsmann und der Osterhase, wenn Sie das meinen.« »Okay«, sagte Hugh im gedehnten Tonfall. Das Wort hörte sich an wie die Aufbruchstimmung signalisierende Stimme des Lehrers am ersten Tag des Schuljahres. Er schlug den Deckel des ersten Aktenordners auf und deutete mit dem Zei‐ gefinger auf eine Fotografie, die in einer Klarsichthülle steckte. »Das hier ist Udo Rinke – das hier war Udo Rinke.«
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4. Das Bild zeigte einen schmächtigen, ja ein bißchen verhärmt aussehenden kleinen Jungen, der mit einem angewinkelten Bein auf dem Sitz einer Schaukel auf einem Spielplatz stand. Er war blond und besaß graublaue Augen. Sein Gesicht war an einigen Stellen etwas vom Sand beschmutzt. Bei der Auf‐ nahme handelte es sich offenkundig um ein Sommerfoto, denn der Junge steckte in einem verwaschenen ärmellosen Shirt mit Benjamin‐Blümchen‐Motiv auf der Brust und in ro‐ ten Shorts. Er umklammerte mit beiden Händen die Eisenket‐ ten der Schaukel und lachte in die Kamera hinein. Es war kein gutes Foto. Die Farben wirkten ausgeblichen und das Licht fahl. Vielleicht war es mit einer billigen Einwegkamera ge‐ schossen worden. Dennoch schien durch die schäbige Optik hindurch, daß man es hier mit einem ungeheuer aufgeweck‐ ten kleinen Menschen zu tun hatte. Der Blick verriet es. Selbstbewußt, intelligent und das Lachen ein Versprechen: Ich werde es euch allen noch zeigen! »Und so sah Udo Rinke aus, als ihn vor fünf Tagen ein Forstangestellter fand«, sagte Hugh und blätterte eine Klar‐ sichthülle weiter. Nun kamen mehrere kleinere Fotos zum Vorschein, profes‐ sionell ausgeleuchtet und gestochen scharf. Eins zeigte Udos totes Gesicht mit den geschlossenen Augen sowie den Schul‐ teransatz. Claudius erkannte deutlich die auberginefarben schimmernden Würgemale am Hals des Jungen. Die nächsten 49
Bilder wirkten schier idyllisch, geradezu wie von Künstler‐ hand arrangiert. Udo lag nackt und mit am Bauch zusam‐ mengefalteten Händen auf dem Rücken inmitten einer ausge‐ dehnten Waldlichtung, als hätte er sich zum Schlafen hinge‐ legt. Mehr noch, er glich einem Engel, der sich zwischen sei‐ nen anstrengenden Flügen eine Verschnaufpause gegönnt hatte. Die Würgemale waren aus der Entfernung kaum wahr‐ nehmbar. Der Wald im Hintergrund glühte bereits in den röt‐ lichen Tönen des beginnenden Herbstes. Den folgenden Fotos – Hugh blätterte erbarmungslos weiter – haftete nichts Engelhaftes mehr an. Im Gegenteil, sie schie‐ nen wie in der Hölle geknipst. Die kleine Leiche lag jetzt auf dem wannenförmigen, stählernen Obduktionstisch auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gelegt. Den Rücken, den Po und die Hinterbeine überzogen vertikal und diagonal verlaufende Striemen, die aus aufgeplatzter blutiger Haut bestanden. Das Blut an den Wundrändern war schon geronnen und dunkel geworden, so daß die Striemen auf einigen Aufnahmen wie mit Kohle gezogene Striche wirkten. »Peitschenhiebe«, sagte Hugh. »Sigi meint, das Schwein hat es nur wenige Stunden bevor er die Leiche auf der Lichtung abgelegt hat getan, vermutlich irgendwann nach Mitternacht. Es muß für Udo eine Erlösung gewesen sein, als er anschlie‐ ßend erwürgt wurde.« »Wer ist Sigi?« wollte Claudius wissen. »Dr. Sieglinde Vetter ist die Chefin der Forensischen. Ich ar‐ beite immer noch an einem Beschwerdebrief an den Polizei‐ präsidenten, in dem ich fordere, daß Frauen, die ihren Le‐ 50
bensunterhalt auch durchaus als Modell für den Playboy be‐ streiten können, fairerweise aus diesen hochdotierten Beam‐ tenverhältnissen ausgeschlossen bleiben sollten. Sie erwartet uns am Nachmittag bei der Gerichtsmedizin, um Ihnen aus‐ führlichere Details der Obduktion mitzuteilen.« »Weiter.« »Udo war das erste der zwölf verschwundenen Kinder.« Hugh blätterte in den Akten weiter. »Mit ihm fing alles an. Letztes Jahr, fast genau um diese Zeit, spielte er wie gewöhn‐ lich mit den anderen Jungs von der Straße in einem benach‐ barten Abbruchviertel eine Mischung aus Verstecken und Räuber‐und‐Gendarm. Bei dem Areal handelt es sich um eine Ansammlung von heruntergekommenen, leerstehenden Gründerzeitgebäuden. Das Regenwasser plätschert durch Löcher in den Dächern in die Treppenhäuser, Tauben nisten in Räumen mit verfallenen Stuckdecken, die Keller sehen aus wie Katakomben aus dem Mittelalter. Sowohl die Eigentümer als auch die Stadt haben vor den Kosten der Instandsetzung kapituliert. Deshalb wird ein Gebäude nach dem anderen ab‐ gerissen, um Platz für eine Reihenhaussiedlung zu schaffen – wegen Rechtsstreitigkeiten einiger Erbengemeinschaften al‐ lerdings in quälender Langsamkeit. Ein gefundenes Fressen für die Kinder aus der Umgebung. Sie betrachten diese Gei‐ sterhäuser als idealen Abenteuerspielplatz. Nach Aussagen von seinen Spielkameraden hat es vor allem Udo getan. Es zog ihn magisch dorthin. Öfter als die anderen Kinder.« Während er weitersprach, löste Hugh hin und wieder Do‐ kumente aus der Ordnermechanik und legte sie Claudius ge‐ 51
flissentlich auf den Schoß. Sie enthielten Geburts‐ und andere behördlich belegte Daten und genanalytische Befunde der jeweiligen Kinder, die anhand vorhandener Blutproben bei Kinderärzten oder später aufgefundener Körperspuren wie Haare und Hautpartikel erstellt worden waren. Des weiteren Angaben zum Milieu und zum Verhaltensbild der Kinder durch Aussagen der Eltern, minutiöse Hergangsprotokolle ihres Verschwindens, Tatortzeichnungen, Mutmaßungen zum Täterprofil von den besten Köpfen der Sonderkommission »Udo« und natürlich noch zahllose weitere Fotos. Für einen Moment kam es Claudius so vor, als sei er ein Bettler, der ei‐ gentlich ein Almosen verlangt hatte, doch nun auf einmal mit unermeßlichem Reichtum beschenkt wurde. Er blickte von den Akten hoch zu Hugh. »Der kleine Kerl war zum Zeitpunkt seines Verschwindens etwas älter als fünf Jahre«, sagte Claudius. »Hat ihn denn niemand beaufsichtigt?« »Leider nein.« Der junge Hauptkommissar zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie mich fragen, der einzige Zeitraum, in dem er je beaufsichtigt wurde, war der im Bauch seiner Mut‐ ter. Hedwig Rinke, genannt Hedda, ist eine Millionärin – an Problemen. Sie ist dreißig, Alkoholikerin oder drogensüchtig oder schwachsinnig, dem Bericht hier zufolge aber von allem ein bißchen. Sie hat drei Kinder von drei verschiedenen Män‐ nern, das heißt jetzt nur noch zwei, und lebt oder besser ge‐ sagt führt eine Abfallvariante von Leben in der Ucker‐ Siedlung. Sie wissen schon, das ist die bezaubernde Ecke au‐ ßerhalb der Stadt, wo sich die Kollegen von der Streife nur mit 52
schußsicherer Weste hintrauen. Achtzig Prozent Ausländeran‐ teil und jede Nacht ein in Flammen stehendes Auto. Zum Zeitpunkt der Tat war Udo das einzige Kind, das zu betreuen man Hedda zugetraut hatte. Die anderen hatte das Jugendamt bereits an Pflegefamilien weitergereicht.« »Und wie ist der Junge verschwunden?« »Am fraglichen Nachmittag hat Udo mit der ganzen Rassel‐ bande in einem der Abbruchhäuser gespielt. Es gab dort viele Stockwerke, viele Wohnungen und eine wahre Geisterbahn an Kellern. Die Kinder haben wohl schnell den Überblick darü‐ ber verloren, wer eigentlich wen suchen und wer sich verstek‐ ken mußte. Bald herrschte ein lärmendes Durcheinander, Treppen rauf und Treppen runter, munteres Geschrei bei der Begegnung mit einem anderen Spielkameraden und am Ende ein einziges Chaos. Kinder halt. Zum Abend hin haben sie sich alle vor der Haustüre getroffen und festgestellt, daß Udo fehlt. Sie sind davon ausgegangen, daß er wohl schon nach Hause gelaufen ist. Jedenfalls haben sie es später so zu Proto‐ koll gegeben. Ich persönlich bin der Meinung, daß Udos Feh‐ len ihnen in Wahrheit gar nicht aufgefallen ist. Das setzt näm‐ lich verantwortungsbewußte Wahrnehmungsfähigkeit voraus, und dafür sind diese Kinder viel zu klein.« »Sie haben erwähnt, daß Udo sich mehr als die anderen Kin‐ der zu diesem Abrißgebiet hingezogen fühlte. Haben seine Spielkameraden das ausdrücklich bestätigt?« »Ja.« »Heißt das, daß er zwischendurch auch alleine dort war?« »Ich glaube schon – ich weiß es nicht.« 53
»Fahren Sie fort, Juch.« Hugh wurde auf die Zwischenfrage hin plötzlich von einem unbehaglichen Gefühl heimgesucht. Er kam sich nun wie ein Schüler vor, der für die entscheidende Prüfung zwar immens viel gebüffelt, doch nun gleich bei der ersten Aufgabenstel‐ lung gepatzt hat. War ihm bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch je aufgefallen, daß Udo sich auch ganz gerne mal alleine bei diesen Schrotthäusern herumgetrieben hatte? Und wurde dieses Detail in den Berichten der Sonderkommission besonders hervorgehoben? Er hatte auch für sich selbst keine besonders originelle Antwort: Ich glaube schon – ich weiß es nicht. »Hedda besaß von Anfang an eine Theorie, wer Udo ent‐ führt hatte. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß Hedda oft zu tolldreister Theorienbildung neigt, deren Ursache ein‐ deutig in ihren vielen Lebensnöten zu finden ist. Sie hat da‐ mals ausgesagt, daß sie den Vater des Jungen in Verdacht ha‐ be. Dieser Kerl, der eine Weile bei ihr gelebt, sich an den ihr zufließenden Sozialleistungen gütlich getan und sie nebenbei gebührenfrei gebumst hat, soll Udo angeblich schon als Baby pervers befummelt haben. Bis sie ihn vor die Tür gesetzt hat. Ein Anwalt, der sich auf derlei Sozialfälle spezialisiert hat, unterstützt sie bei dieser Theorie. Derselbe Anwalt fordert auch Unterhaltszahlungen von dem Kerl, obwohl er genau weiß, daß der seit acht Jahren selber von der Sozialhilfe lebt. Aber sogar der sinnloseste Anwaltsbrief bringt noch ein paar Scheinchen aus der Staatsschatulle.« »Hat der Kerl ein Alibi?« 54
»Nein. Angeblich hockt er immer allein zu Hause, da er niemanden kennt. Damit meinte er wohl, daß er nicht in die Verlegenheit kommt, jemanden kennenzulernen, weil er den ganzen Tag damit beschäftigt ist, mindestens einen Kasten Bier in sich hineinzuschütten. Nach Udos Verschwinden hat die Sonderkommission ihn richtig in die Mangel genommen. Aber er ist offensichtlich weder geistig noch körperlich in der Lage, eine Entführung durchzuziehen, ohne daß das Ganze in eine Komödie ausartet. Als später Monat für Monat andere Kinder aus anderen Orten und aus völlig entgegengesetzten Milieus verschwanden, ist er aus dem Kreis der Verdächtigen gänzlich ausgeschieden. Doch jetzt kommt das Allerbeste: Der Kerl hat damals den juristischen Kampf mit Hedda aus reiner Bosheit aufgenommen und sich seinerseits einen staatlich be‐ zahlten Anwalt zugelegt. Er hat gleich sämtliche Unterhalts‐ ansprüche mit der Begründung zurückgewiesen, daß Udo gar nicht sein eigen Fleisch und Blut sei, oder um es mit seinen Worten auszudrücken, ›daß diese Drecksnutte für jeden, der aus einem Schwanz pißt, die Beine breitmacht‹. Zumindest dieser Rechtsstreit hat nun ein Ende, wenn auch ein tragi‐ sches. Jedenfalls kam nach der Sache mit Udo das endgültige Aus für die altehrwürdigen Gründerzeitgebäude. Trotz des Zoffs mit den Erbengemeinschaften. Erst wurde jeder Winkel mehrmals abgesucht und dann alles Stein für Stein abgetra‐ gen, um vielleicht doch noch irgendwo eine versteckte Leiche zu finden. Vergeblich.« »Irgendwelche Spuren?« Claudius blätterte in den Unterla‐ gen auf seinem Schoß herum, betrachtete das eine oder andere 55
Foto, überflog Zeugenaussagen und Tagesberichte der jewei‐ ligen Kriminalbeamten. Da, nur für einen kurzen Augenblick, glaubte er in dem Material etwas immens Bedeutungsvolles entdeckt zu haben. Eine kleine Offenbarung! Doch so eruptiv diese Erkenntnis in sein Bewußtsein gedrungen war, so jäh verschwand sie auch wieder, ohne eine Spur zu hinterlassen. War da überhaupt etwas gewesen? »Negativ. Unser Mann raucht nicht, hat keine Schuppen und scheint in Schuhen zu gehen, deren Sohlen kein Profil besit‐ zen. Wie es aussieht, fährt er auch kein Auto, jedenfalls nicht, wenn er die Kinder mitnimmt. Entweder gehen sie freiwillig mit ihm mit, oder er schlägt sie bewußtlos oder betäubt sie irgendwie, bevor er sich ihrer bemächtigt. Es wurden an kei‐ nem der Tatorte verdächtige Reifenspuren entdeckt.« Claudius schob die Unterlagen etwas von sich und schloß die Augen gegen den überhellen Himmel, als wolle er sich ein bißchen sonnen. »Erzählen Sie mir von den anderen Kindern.« »Von allen?« »Ja, von allen.« Hugh lehnte sich zurück, schloß ebenfalls kurz die Augen und holte tief Luft, als müsse er jetzt ein Gedicht aufsagen. Allerdings ein schwermütiges. Einen eigenen Kinderwunsch hatte er niemals verspürt, und die Frauen, die er bis jetzt be‐ schlafen hatte, waren entweder zu jung oder zu unreif oder zu sehr in einen solitären Lebensstil verstrickt, als daß sie je einen Gedanken an Kinderkriegen verschwendet hätten. Deshalb verstand es sich stets von selbst, daß man bei der Tätigkeit, die eigentlich der Produktion von Kindern diente, von vornherein 56
alle Maßnahmen traf, um das zu verhindern. Aber Hugh war auch selber einmal ein kleiner Junge gewesen und konnte sich noch sehr gut daran entsinnen, wie er als kleiner Junge ge‐ dacht und gefühlt hatte. An den Spaß beim Horten von Sam‐ melbildern aus Cornflakespackungen zum Beispiel oder an Schlachten mit Plastiksoldaten, die sich viele Nachmittage lang immer und immer wieder für die gerechte Sache opfer‐ ten. An kleine Dinge eben, die damals doch die ganz große Welt bedeutet hatten. Obwohl Hugh den Fall bis jetzt aus rein professioneller Sicht betrachtet hatte, als Herausforderung und Thrill, spürte er nun auf einmal, daß das Schicksal dieser verschwundenen Kinder ihm doch sehr nahe ging. Ein Junge war schon tot und würde sich nicht mehr an Sammelbildern aus Cornflakespak‐ kungen erfreuen. Und die anderen elf Kinder … Bevor er sich von düsteren Phantasien übermannen ließ, beschloß er, das Gedicht aufzusagen. »Giselle Heimlich, das zweite entführte Kind, heute sechs Jahre alt. Der Vater besitzt mehrere Möbelhäuser, die Mutter ist Hausfrau. Oberschicht, in der Geld so gut wie keine Rolle spielt. Au‐pair‐Mädchen, eine Köchin und ein Gärtner. Zum vierten Geburtstag des Mädchens wurde ein Shetlandpony aus Irland eingeflogen. Das Eigenheim gleicht einem kleinen Schloß und besitzt eine Garage, in die fünf Autos hineinpas‐ sen. Und jeder Platz ist mit einem Hundertfünfzigtausend‐ Euro‐Modell belegt. In der Zeit, als Giselle, die jüngste der drei Töchter, gerade mit dem Klavier‐ und Ballettunterricht begonnen hatte, ist sie aus dem parkähnlichen Garten ver‐ 57
schwunden. Man hatte sie nur für eine halbe Stunde aus den Augen gelassen.« Hugh reichte Claudius ein Foto in einer Klarsichthülle, auf dem ein rothaariges Mädchen mit Sommersprossen vor einem kitschigen Fotografenhimmel posierte. Das Kind war so aus‐ nehmend schön, daß man sie glattweg als Engelsfigur auf die Spitze eines Christbaums hätte plazieren können. »Sven Adel, das dritte Opfer, heute sechs Jahre alt. Mutter alleinerziehend, Vater unbekannt. Marlis Adel, die Mutter, behauptet, daß sie den Lebensunterhalt für die kleine Familie mit Gelegenheitsarbeiten bestreitet. Wahrscheinlich arbeitet sie schwarz als Kellnerin oder Putzfrau oder so etwas in der Art. Sie kriegt offenkundig immer wieder die Kurve, bevor sie in die Sozialhilfe abrutscht. Nach allem, was hier in dem Be‐ richt steht, scheint Sven ein helles Köpfchen zu sein. Sein Wortschatz war zum Zeitpunkt seines Verschwindens unge‐ wöhnlich reichhaltig. Er konnte zur Belustigung aller verblüf‐ fend gut Tiere und Leute imitieren und besaß überhaupt viel Sinn für Humor. Er ist während eines Kirmesbesuches verlo‐ ren gegangen, als Marlis einen Plüschpinguin in einer Losbu‐ de in Empfang nahm und ihrem Sohn für einige Momente den Rücken zugewandt hatte.« Wieder ein Foto. Diesmal ein spitzgesichtiger, schwarzhaari‐ ger Junge, der Claudius mit solchem Schalk in den Augen anschaute, daß er sich den Faxenmacher auch ohne viel Phan‐ tasie gut vorstellen konnte. Er trug einen richtigen Anzug, inklusive Weste und Krawatte, in dem er wie ein kleiner Er‐ wachsener wirkte. Der aus stilisierten Lichtstreifen bestehende 58
Hintergrund und die einwandfreie Beleuchtungs‐ und Kont‐ rastqualität des Bildes ließen darauf schließen, daß es in einem Profiatelier aufgenommen worden war. Was wiederum Rück‐ schlüsse auf das Verhältnis der Mutter zu ihrem einzigen Sohn erlaubte. Mochte Marlis Adel noch so arm sein, an einer kostspieligen Studioaufnahme von ihrem auffällig herausge‐ putzten Kind hatte sie trotzdem nicht gespart. Hugh löste einen weiteren Schnellhefter aus dem Ordner und schlug ihn auf. »Abdullah al Said ist das vierte ver‐ schwundene Kind und heute ebenfalls sechs Jahre alt. Der vollständige Name ist ein bißchen länger, aber ich kann ihn nicht aussprechen. Die Al Saids, bestehend aus Vater Karim, Mutter Aischa und vier Kindern, stammen aus Tunesien oder Marokko oder irgendeinem anderen arabischen Land. So ge‐ nau weiß man es nicht, weil Karim immer wieder eine neue Nationalität aus dem Hut zaubert, sobald eine Abschiebung droht. Die Familie besitzt nur Duldungsstatus – und das schon seit Jahren. Einzige Einkommensquelle: Sozialhilfe. In Wahrheit aber ist Karim hauptberuflich Islamist. Er betreibt eine sich am Rande der Legalität bewegende Internetseite, deren Inhalt aus unverhohlenen Sympathiebekundungen für islamische Terrorakte rund um die Welt und aggressiver Het‐ ze gegen Israel und die USA besteht. Daneben gibt es aber auch ein paar nützliche Alltagstips. Eine Rubrik beispielswei‐ se trägt den wunderschönen Titel ›Abrichtung von Frauen‹. Zudem kämpft er gemeinsam mit einem dubiosen Islamverein dafür, daß hier an jeder Straßenecke eine Moschee errichtet wird. Die Sonderkommission hatte so gut wie keine Gelegen‐ 59
heit gehabt, das Innenleben der Familie zu durchleuchten. Karim verweigert jede Art von Zusammenarbeit, weil seine Religion angeblich solcherlei intime Schnüffelei seitens Un‐ gläubiger nicht erlaube. Die Mutter läuft im Schleier herum und spricht nicht einmal ein paar Brocken Deutsch.« Hugh reichte Claudius die Vergrößerung eines neuen Fotos in einer Klarsichthülle. Es war etwas unscharf, und man muß‐ te schon zweimal hinsehen, um zu erkennen, daß es sich dabei um ein Farbfoto handelte. Doch trotz solcher optischer Män‐ gel fiel auf, daß der gegen eine Backsteinmauer gelehnte Junge nicht gerade typisch arabisch aussah. Die Haut war wesentlich heller, und anstatt dunkler hatte er blaue Augen. Die Ge‐ sichtszüge besaßen eine gewisse Strenge, wie es eher beim mitteleuropäischen Typ der Fall ist. Verrückte Launen der Natur. Wenn man aus dem Bild überhaupt etwas Konkretes herauslesen konnte, dann nur, daß es sich bei dem Abgebilde‐ ten um ein unglückliches Kind handelte. Es schaute trübsinnig ins Objektiv wie ein seit Jahren gefangenes Wildtier im Käfig. »Über Abdullah gibt es wenig zu erzählen«, fuhr Hugh fort. »Ein paar Kinder, die ihn kannten, haben berichtet, daß er nur wenig Deutsch gesprochen hat und deshalb die meiste Zeit von ihren Spielen ausgeschlossen blieb. Erwachsene Zeugen wollten ihn lediglich gemeinsam mit seinen Geschwistern unterwegs vom Wohnhaus zu der ein paar Straßen entfernt liegenden Koranschule und wieder zurück gesehen haben. Und auf diesem Weg ist er denn auch verloren gegangen, als ihm die Geschwister einmal vorauseilten. Es war eine Sache von einer Minute. Vater Karim bekommt seitdem einen Tob‐ 60
suchtsanfall nach dem anderen und verbreitet im Internet das Gerücht, daß die Entführung seines Kindes eine Koprodukti‐ on des Mossad und der CIA sei. Doch irgendwie vermittelt er dabei den Eindruck, als ärgere er sich über den Verlust seines Großbildfernsehers.« »Was sagt die Mutter dazu – Aischa, so heißt sie doch?« »Wie soll man die Meinung einer Frau erfahren, von der man nur die Augen sieht und die sich nicht einmal in der Ge‐ bärdensprache äußern darf?« »Wie alt ist sie?« »Hier steht dreiundzwanzig.« »Und hat schon vier Kinder geboren!« Claudius pfiff aus einem Mundwinkel. »Demnach war sie selbst noch fast ein Kind, als Karim sie zur Frau nahm.« Hugh lächelte matt. »Wer weiß, vielleicht hat er noch andere Frauen. Eine andere Rubrik auf seiner Internetseite heißt ›Lobpreisung der Vielweiberei‹, jedenfalls sinngemäß, wie unser arabischer Übersetzer meint.« »Weiter im Programm«, sagte Claudius. Hugh nahm sich den nächsten Schnellhefter vor und schlug ihn auf. »Sylvia Tale, das fünfte Kind, heute sechs Jahre alt. Vielleicht ist Ihnen Sigbert Tale ein Begriff, wenn Sie auf zeit‐ genössische Literatur stehen. Das ist der Vater. Ein renom‐ mierter Autor mehrerer Romane, mit Preisen überhäuft und vom Feuilleton als Wunderkind gefeiert. Bestimmte Kreise halten ihn sogar für literaturnobelpreisverdächtig. Ich habe es über mich gebracht, fünfzig Seiten von seinem Zeug zu lesen. Wenn Sie mich fragen, handelt alles darin von Sex, oder bes‐ 61
ser gesagt davon, daß man mit einer Frau nicht endlos Sex haben kann, ohne Probleme mit ihr zu bekommen. Also vom Weltproblem Nummer eins. Allerdings auf hohem sprachli‐ chen Niveau, mit sich über anderthalb Seiten hinziehenden Schachtelsätzen, jeder Menge Fremdwörtern und ohne einen einzigen Dialog. Tale lebt mit seiner jungen Frau, einer ätheri‐ schen Schönheit, in einem aufwendig renovierten Gehöft auf dem Lande. Linda Tale schirmt den Künstler gegen alle stö‐ renden Einflüsse der Welt ab und regelt das Geschäftliche für ihn. Seit Sylvia, ihr einziges Kind, verschwunden ist, leidet der Künstler aber unter einer Schreibblockade. Und die Muse unter Depressionen. In einem Zwischenbericht steht, daß sie ihr Seelenheil mittlerweile in der Religion sucht. Die Schuld, die sie sich wegen des Verschwindens des Mädchens gibt, scheint sich in eine ausgewachsene Neurose verwandelt zu haben.« Hugh reichte Claudius das obligatorische Foto in der Klar‐ sichthülle. Diesmal war ein echter Engel zu sehen. Mit blond‐ gelockten, schulterlangen Haaren und riesigen Flügeln aus Schwanenfedern. Die überirdisch anmutende Erscheinung steckte in einem strahlendweißen Chiffondreß, der den klei‐ nen Körper wie eine zweite Haut umhüllte. Sylvia lächelte mit ihren großen blauen Augen, die von innen beleuchteten Edel‐ steinen ähnelten, und ihrem überbreiten Mund wie fleischge‐ wordener Katholikenkitsch in die Kamera. Ein goldfarbener Heiligenschein aus Draht, der hinten aus der Flügelattrappe wuchs und etwas schief über dem Kopf schwebte, vollendete das himmlische Bild. Es war gewiß anläßlich eines Kostümfe‐ 62
stes aufgenommen worden, und das gemalte Wolkenfeld im Hintergrund und die auf Dramatik zielende professionelle Ausleuchtung ließen darauf schließen, daß die Eltern keine Kosten gescheut hatten, diesen aufregenden Lebensmoment ihrer hübschen Tochter für die Ewigkeit festzuhalten. »Wie ist Sylvia verschwunden?« wollte Claudius wissen. Hugh erzählte es ihm in aller Ausführlichkeit, gespickt mit seinen eigenwilligen Kommentaren. In dem heißen Wagen ging es noch eine gute Stunde so weiter. Eins nach dem ande‐ ren kamen die restlichen sechs verschwundenen Kinder an die Reihe, ihre Charaktereigenschaften, ihre Gewohnheiten und die Familien, in denen sie bis vor ihrem Verschwinden gelebt hatten. Just diese Familien waren der eigentliche Kern des Problems, wie Claudius rasch erkannte, wie übrigens schon vor ihm auch die Sonderkommission »Udo«. Denn sie hätten in ihrer Struktur, finanziellen Ausstattung, ihrem Lebensstil, vor allem aber in ihrer offensichtlichen Anschauung zu der Institution Familie an sich nicht unterschiedlicher sein kön‐ nen. Mal abgesehen davon, daß sie jeweils relativ weit ent‐ fernt voneinander wohnten. Es war von allem etwas dabei: die stolze Alleinerziehende, die einfache Arbeiterfamilie, die gut‐ gelaunte Patchwork‐Family, die Geschiedenen, die dennoch eine Art virtuelle Familie gewesen waren, weil das Kind zwi‐ schen Vater und Mutter hin‐ und hergependelt war, bis es verschwand, ja bis zum bekennenden Lesbenpaar, das über eine Samenspende das Kinderglück erfahren hatte. Allein das ihnen zugefügte Leid vereinte alle diese Familien oder fami‐ lienähnlichen Gemeinschaften nun miteinander. Das geliebte 63
Kind blieb verschwunden, war vielleicht schon tot. Oder würde sterben müssen, wenn die Polizei nicht bald ein Wun‐ der vollbrachte. Claudius sah ein weiteres Problem. Bei dem Entführer han‐ delte es sich nach Hughs Angaben über die erste Leiche nicht um einen Pädophilen. Leider! Meist waren Sexualstraftäter kalkulierbarer. Denn sie wurden ausschließlich von ihrem Trieb gelenkt. Nicht gerade ein Impuls, der viel Spielraum für vorausschauende Planung bot. Irgendwann machten sie im‐ mer einen Fehler. Selbst der ausgefuchsteste Kinderschänder hinterließ in der Hitze seiner angestrebten Befriedigung ir‐ gendeine Spur, auch wenn solcherlei Details von der Polizei gegenüber der Presse oft zurückgehalten wurden. Faustregel Nummer eins: Der Trieb siegte über kurz oder lang immer über den Verstand. Wenn der große Unbekannte aber kein Kinderschänder war, was war er dann? Hugh wischte sich mit einem gebügelten schneeweißen Ta‐ schentuch den Schweiß von der Stirn. Inzwischen hatte er ebenfalls seine Jacke abgelegt. Er wandte sich nach hinten und warf die Akten wieder auf den Rücksitz. »So, und jetzt will ich vom sagenumwobenen Richard Claudius etwas hören, was die Kollegen, die so scharf auf diese Zusammenarbeit waren, vor Neid noch grüner werden läßt: nämlich die Auflösung des Falles.« Claudius massierte sich mit den Fingern der rechten Hand das Gesicht. »Schwierig, sehr schwierig«, sagte er nach einer Weile. »Aber eins ist klar: Er ist ein Professor.« »Was, das wissen Sie jetzt schon? Ich meine, Sie können tat‐ 64
sächlich schon sagen, was er von Beruf ist?« Im nächsten Mo‐ ment wich die Ironie in Hughs Gesicht jenem Ausdruck, der normalerweise durch eine Ohrfeige entsteht. Claudius grinste, griff in seine Jackentasche, holte eine Pak‐ kung Rothändle heraus und machte sich daran, die Zello‐ phanhülle aufzureißen. »Leider nein. Es handelt sich nur um einen privaten Definitionskatalog. In meiner Lesart gibt es den Idioten, den Angestellten und den Professor. Mit etlichen Graustufen und Hybridwesen dazwischen, versteht sich. Der Idiot steht dabei auf der untersten Stufe. Er wird von seinen perversen Gedanken, übermächtigen Aggressionen, vor allem aber von kaum kontrollierbaren Begierden gesteuert. Er schlägt zu, ohne auch nur einen Gedanken daran zu ver‐ schwenden, daß man ihn dafür bestrafen könnte. Es ist ihm auch egal. Meist sind es Menschen mit extrem niedriger Intel‐ ligenz. Sie sind wie böse Kinder, und sie einzufangen ist dann auch ein Kinderspiel. Beim Angestellten wird die Sache komplexer. Er ist psychisch nicht weniger derangiert, doch noch Herr über seine Steuerungsfähigkeit. Er ist der Überzeu‐ gung, daß ihm nichts weiter passieren kann, wenn er alles richtig macht. Es ist der Typ, der über ein semiprofessionelles Wissen um die Polizeiarbeit verfügt und deshalb größte Vor‐ sicht walten läßt, um nicht erwischt zu werden. In der Regel tarnt er sich hinter der Fassade des langweiligen Spießers, des netten Nachbarn oder gar des geselligen Kumpels, ja des Clowns. Doch im Innern sind alle echten Gefühle abgestorben, sie haben sich zugunsten des einzigen verderblichen Gefühls verschoben. Kinder beiderlei Geschlechts stehen beim Ange‐ 65
stellten ganz oben auf seiner Hitliste, dann junge Frauen, dann Tiere, dann Frauen jeden Alters und schließlich jeder, den er in die Finger kriegen kann. Er handelt wirklich wie ein Angestellter und wägt das Risiko bei seiner Jagd stets penibel ab. Und doch ist er zutiefst provinziell. Er betrachtet die Welt allein aus seiner eingeschränkten kleinbürgerlichen Perspekti‐ ve, insbesondere die Arbeit der Polizei, und bezieht jeden ausgestoßenen Furz auf sich selbst. Das Ländliche, das Vor‐ städtische ist sein Zuhause. Er ist heimatverbunden. Er mag nicht in Gegenden wildern, die er nicht kennt. Großer Fehler! Ferner kennt er in der Regel seine Opfer. Zweiter großer Feh‐ ler! Diese Leute hinter Schloß und Riegel zu bringen erfordert schwere Arbeit. Sie ist aber fast immer vom Erfolg gekrönt. Über kurz oder lang. Der Professor dagegen …« »… ist ein Genie!« platzte es aus Hugh heraus. Er glaubte, für den inzwischen völlig entspannten Mann an seiner Seite zu sprechen. Dieser schob sich eine Zigarette in den Mund. »Irrtum«, ent‐ gegnete er. »Er ist ein Philosoph. Und das macht die Sache nahezu aussichtslos.« Er kramte aus der Hosentasche ein Einwegfeuerzeug und klickte es an. »Das ist ein Nichtraucherauto«, sagte Hugh. Claudius hielt mit der Flamme vor der Zigarettenspitze inne und warf seinem Assistenten einen Blick zu, der selbst von einem »Professor« hätte stammen können. »Na ja, andererseits geht es hierbei um die Rettung von Kin‐ derleben.« Hugh wandte sich ab und sackte einen Kopf tiefer 66
in seinen Sitz. »Ich glaube, in diesem Falle ist eine Ausnahme erlaubt.« Claudius steckte sich grinsend seine erste Zigarette nach acht Monaten an. »Fahren Sie los«, sagte er. »Das mit dem sogenannten Professor erkläre ich Ihnen nachher.« »Okay. Aber wonach suchen wir?« »Nach Gemeinsamkeiten zwischen den Kindern natürlich.« »Aber es gibt keine.« »Es gibt immer Gemeinsamkeiten. Eine kennen wir ja schon: So wie es aussieht, sind sie allesamt von ein und demselben Scheißkerl entführt worden. Wenn das nicht eine heiße Spur ist.« Hugh startete den Wagen. Claudius zog an seiner Zigarette wie ein Ertrinkender, dessen Leben allein von diesem einen Strohhalm abhängt. Es war inzwischen Mittag geworden. Das goldene Septemberlicht übergoß die Parklandschaft rings um die Anlage wie Zauberstaub und verlieh der sich zum Abster‐ ben vorbereitenden Flora eine schier jenseitige Aura. Erste Kaskaden von safran‐ und ockerfarbigen Blättern, die sich von den Bäumen lösten, fegten durch die Luft und dann noch wei‐ ter über das Gras hinweg. Hugh kam ins Grübeln. Denn er war sich nun sicher, daß ihn sein Gefühl von vorhin nicht getrogen hatte. Seine Reise mit Richard Claudius zu den verschwundenen Kindern würde etwas ganz Besonderes sein, etwas, das sein Leben irreversibel verändern würde. Für einen Moment zog er in Erwägung, sich noch einmal mit der Frau von letzter Nacht zu treffen, vielleicht schon heute abend. Wie hieß sie überhaupt noch? 67
Carla, ja, sie hatte Carla geheißen. Ihr schönes Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Er würde also Carla anrufen und sich mit ihr verabreden. Und dann würden sie ein Paar werden. Er würde den Polizeidienst quittieren, im Turbotem‐ po das Kunststudium nachholen und sich fortan als Detektiv für verschollene Kunstschätze verdingen, als so eine Art In‐ diana Jones des Kultusministeriums. Etwas in der Richtung. Er und Carla würden Kinder bekommen, mindestens vier. Sie würden eine Familie sein, eine sehr laute und eine sehr glück‐ liche. Eine Familie, die nichts von Idioten, Angestellten und Professoren weiß, auch nichts von einem Richard Claudius und seinen blöden Ahnungen, schon gar nicht, wo dieses Backsteinmonster von Irrenanstalt liegt und was Menschen widerfahren muß, damit sie dort hineinkommen. Um so mehr jedoch davon, wie man Kindern das Fahrradfahren beibringt oder wie man den Weihnachtsbaum schmückt. Er, Carla und die Kinder wären eine Familie, die anderes Wissen hütete, das Wissen um das Paradies … »Moment noch«, sagte Hugh und langte nach seinem Handy in dem Halter am Armaturenbrett. Mit einem Tastendruck brachte er auf dem Display die Liste mit den gespeicherten Nummern zum Vorschein und rollte sie bis zu den Namen mit dem Anfangsbuchstaben C herunter. Die graue Markie‐ rung kam bei Carla zum Stehen. Hugh drückte auf Option und dann, als er sich eine ausgesucht hatte, seitlich die Befehlsta‐ ste. Nummer löschen? fragte das Gerät auf einem kleinen wei‐ ßen Feld sicherheitshalber noch einmal, ja, antwortete Hugh stumm und betätigte wieder die Befehlstaste. 68
5. Der schwarze Mercedes glitt nahezu lautlos über die Auto‐ bahn. Sowohl Motor‐ als auch Außengeräusche wurden von der massiven Karosserie wie durch Magie verschluckt, so daß man im Wageninnern nichts weiter als ein kaum wahrnehm‐ bares Rauschen hörte. Vor Claudius’ Augen flog ein Land‐ schaftsfilm vorbei, der an Golfplatz‐Impressionen erinnerte. Sich im Halbrund wölbende Hügel im satten Grün und wie mit dem Lineal gezogene Baumreihen mit in exakt gleicher Höhe befindlichen Wipfeln. Es war eine künstliche Natur, von Menschenhand modelliert. Kilometerlang. Eine Ahnung über die Ursache der Umgestaltung erhielt man, wenn man den Blick zum Horizont richtete. Gegen den blauen Himmel bildeten sich dort silhouettenhaft Schachtför‐ dergerüste, Fördertürme, Gasometer, Kokereien und ähnliche Insignien einer untergegangenen Arbeitswelt ab. Der ganze Landstrich hatte einst der Stein‐ und Braunkohlegewinnung gedient, sowohl Übertage‐ als auch Untertagebau. Nun aber waren diese Wahrzeichen einer die gesamte Region prägen‐ den Industrie zu musealen Orten verkümmert, zu Ausflugs‐ zielen für Schulklassen und Liebhaber der Technik aus dem vergangenen Jahrhundert. Seitdem die Kohleförderung an‐ dernorts rentabler geworden war, hatte hier eine Zeche nach der anderen schließen müssen. In der sich schier endlos ers‐ treckenden Anlage hielt sich kein einziger Kumpel mehr auf. Der zerschundenen Landschaft mit ihren Halden, offenen 69
Gruben und von Tausenden von Schächten und Bunkern un‐ tertunnelten Äckern hatten sich irgendwann Politiker und Landschaftsplaner angenommen. Strukturwandel nannte man das. Statt vom »Schwarzen Gold« sollten die Investoren jetzt von einer maßgeschneiderten Naturkulisse in die Gegend ge‐ lockt werden. Komisch nur, daß man keine einzige Menschen‐ seele sah und daß fast alle Neubauten mit den pompösen Glasfassaden leerstanden. »Wohin fahren wir eigentlich?« fragte Hugh. Seit der Abfahrt von der Klinik vor einer Viertelstunde hat‐ ten sie kein Wort miteinander gewechselt. Trotz des anstren‐ genden Rapports im Auto sah der junge Hauptkommissar immer noch unglaublich frisch und attraktiv aus. Das Privileg der Jugend, dachte Claudius. Und wußte doch, daß er sich in die eigene Tasche log. In seinem Alter hatte er wegen der an‐ dauernden Sauferei immer zwanzig Jahre älter ausgesehen. Und sich auch so gefühlt! »Nun, wenn ich mich nicht täusche, in die Stadt«, erwiderte er. »Am besten zum Bahnhof. Davor steht nämlich die beste Würstchenbude der ganzen Gegend. Ich schlage vor, dort ge‐ nehmigen wir uns ein Würstchen mit Senf. Anschließend ers‐ tatten wir Dr. Sieglinde Vetter bei der Gerichtsmedizin einen Besuch und lassen uns von ihr etwas über die Leiche erzäh‐ len.« »Würstchen?« Hugh schaute kurz himmelwärts, als erbitte er Gottes Beistand. »Wieso, mögen Sie keine Würstchen?« »Nicht besonders. Aber in einem angenehmeren Ambiente 70
würde ich sogar Würstchen zu mir nehmen.« »Ach, Sie meinen die vielen Junkies, die dort überall herum‐ lungern? Keine Sorge, die beißen nicht. Sie werden sehen, die Würstchen schmecken wirklich phantastisch.« Für eine Weile herrschte wieder Schweigen. Claudius glaub‐ te seit geraumer Zeit, etwas Wichtiges in den Akten gesehen zu haben, um genau zu sein, er hatte das Gefühl, daß er etwas übersehen hatte. Etwas, wovon er annahm, daß es ihn für den Bruchteil einer Sekunde stutzig gemacht hatte, aber dann sei‐ nem Wahrnehmungsradius entschlüpft war, oder bildete er sich das nur ein, weil aus der Unterredung am Vormittag par‐ tout nichts Greifbares hervorgehen wollte und er schon vor lauter Verzweiflung von der blitzenden Nadel im Heuhaufen halluzinierte? Es war ärgerlich. Wie ein Name, der einem auf der Zunge liegt. »Sagen Sie, Juch, diese Leute, von denen Sie mir vorhin er‐ zählt haben, ich meine, die Eltern der Kinder, haben Sie die alle persönlich interviewt?« Er wandte sich mit dem Oberkörper nach hinten und wuch‐ tete die Akten wieder auf seinen Schoß. Planlos und ziemlich ruppig durchstöberte er sie, was ihm mißbilligende Seiten‐ blicke seines Assistenten einbrachte. »Nein, das habe ich nicht«, sagte Hugh. »Warum auch? Die Eltern wurden von den Kollegen von der Sonderkommission tausendmal befragt, jedesmal mit einem anderen Schwer‐ punkt. Und nicht nur die: Auch Bekannte, Verwandte und Nachbarn wurden intensiven Vernehmungen unterzogen. Alle Gesprächsprotokolle befinden sich in den Akten. Nach 71
menschlichem Ermessen gibt es nicht einmal das Atom einer neuen Information.« »Wir müssen trotzdem noch einmal mit ihnen sprechen«, sagte Claudius. Das Gefühl, ein brisantes Detail an das Reich des Vergessens verloren zu haben, wurde in ihm immer mächtiger. Es fühlte sich an wie folternder Juckreiz, ohne die Möglichkeit, sich kratzen zu können. »Weshalb das?« erwiderte Hugh. »Was versprechen Sie sich davon? Es ist eine Weile her, seitdem die Kinder weg sind. Was die Eltern gleich nach ihrem Verschwinden zu Protokoll gegeben haben, ist frischer und authentischer als das, was Sie jetzt von ihnen bekommen werden.« »Ich weiß nicht. Ich muß ihnen halt persönlich begegnen.« »Verstehe immer noch nicht, wozu das gut sein soll.« Claudius blätterte weiterhin verbissen in den Akten, zog bisweilen ein Papier aus der Klarsichthülle heraus, überflog es kurz und stopfte es zerknittert wieder hinein. Dann machte er sich ohne erkennbares System über die nächste Akte her. Hugh verdrehte die Augen. »Ich bekomme ein Gefühl für diese armen Leute, wenn ich mit ihnen spreche«, sagte Claudius, ohne aufzuschauen. »Da‐ durch bekomme ich ein Gefühl für die Kinder und durch sie wiederum ein Gefühl für ihn.« »Sie suchen immer noch nach Gemeinsamkeiten zwischen den Kindern, stimmt’s?« »Ähm, bekenne mich im Sinne der Anklage schuldig.« »Vergessen Sie’s. Der Kerl ist ein Sadist, ein Gewaltfreak. Und ein feiger noch dazu. An Erwachsene traut er sich mit 72
seiner Peitsche nicht heran. Er genießt es, wenn er kleine Lei‐ ber malträtiert, die sich nicht wehren können. Das gibt ihm ein Gefühl der Allmacht.« Claudius schlug die Akte zwischen seinen Händen zusam‐ men und griff nach seinen Zigaretten in der Jackentasche. »Einspruch, junger Mann! Nein, unser Kunde ist kein Sadist. Ein echter Sadist ist jemand, dessen ganzes Sehnen und Drän‐ gen sich zu jeder Tag‐ und Nachtzeit um das Quälen seiner Mitmenschen dreht. So einer entführt nicht ein Kind, versorgt es ein Jahr lang mit Nahrung und womöglich mit ein bißchen Abwechslung in einem Verschlag, um dann am Ende für ein Stündchen loszulegen, bevor er es schließlich erwürgt. Ein Freßsüchtiger kauft sich ja auch nicht eine Cremetorte, be‐ trachtet die einen Monat lang im Kühlschrank, um dann ein Stückchen davon abzubeißen.« Er zündete sich eine Zigarette an und ignorierte dabei Hughs Mißfallen signalisierende Körpersprache. »Okay, der Punkt geht an Sie. Er ist kein Sadist, sondern ein anders gepol‐ tes verrücktes Arschloch.« »Verrückt ist er allemal, verrückt wie eine Scheißhausratte«, sagte Claudius und zog tief an seiner Rothändle. Die vielen Akten, die ihm inzwischen bis zum Hals reichten, gaben ihm das Gefühl, als sei er ein armer Teufel, der mit seinen wenigen Habseligkeiten gerade umzieht. Wenn er es sich genau über‐ legte, entsprach das auch den Tatsachen. »Er ist aber gleichzeitig auch der König der Verrückten, ein Philosoph. Schon vergessen?« »Was soll das sein: ein Mörder, der Nietzsche gelesen hat?« 73
»Damit liegen Sie gar nicht so daneben. Selbst wenn bei ihm Trieb und Aggression eine bedeutende Rolle spielen, und das tun sie bestimmt, so ordnen sie sich stets der hehren Sache unter. Er hat im Lauf der Jahre ein ungeheuer komplexes Wahngebäude errichtet. Es kann etwas Religiöses sein oder fetischistisch Sexuelles oder tatsächlich eine sadistische Phan‐ tasie. Aber das Niveau und das intellektuelle Fundament die‐ ses Wahns sind von respektgebietendem Anspruch. Der Pro‐ fessor ist allzeit Herr seines Handelns und arbeitet seinen Plan Punkt für Punkt akribisch ab, mehr noch, der Plan ist selbst ein wesentlicher Teil des Ganzen. Für den gewöhnlichen Kin‐ derschänder oder Serienmörder, der nur darauf wartet, ob die Luft rein ist, hat er nur ein müdes Lächeln übrig. Denn der Professor wartet nicht auf eine Gelegenheit, sondern hat seine Hausaufgaben schon vor langer, langer Zeit gemacht. Er läßt sich niemals zu etwas hinreißen, auch wenn die Situation für ihn günstig erscheint. Alles verläuft nach dem grandiosen Plan. Vermutlich ist er über die Kenntnisse der polizeilichen Spurensicherung hinaus im Besitz eines genialen Tricks, von dem er glaubt, daß man ihm dadurch nicht auf die Spur kommt.« »Na toll! Dann können wir ja zu den Würstchen auch noch eine Portion Pommes bestellen und den Rest des Tages mit Kaffeetrinken verbringen.« »Nicht so pessimistisch, Juch. Sogar der Professor hat eine Schwäche. Und die ist beachtlich. Er ist auf einer wichtigen Mission. Und wie jeder auf einer wichtigen Mission ist auch er der festen Überzeugung, daß die übrige Menschheit davon 74
erfahren sollte. Denn was nützt es einem, wenn man davon überzeugt ist, auf eine weltbewegende Erkenntnis gestoßen zu sein, die Welt jedoch davon nichts mitkriegt? Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn sich in diesen Akten kein Hinweis darauf fände.« »Er hinterläßt jedenfalls keine Bilderrätsel oder einen weisen lateinischen Spruch, wenn Sie das meinen. Er hat es weder mit neunmalschlauen Zeichen, noch sucht er den Kontakt zu ir‐ gendwem, schon gar nicht zu uns. Ich weiß, worauf Sie hi‐ nauswollen, Herr Claudius; ich besitze die umfangreichste Sammlung an Serienmörder‐Thriller‐DVDs auf diesem Konti‐ nent. Aber nicht jede Bestie handelt nach den dramaturgi‐ schen Flickflacks eines Hollywood‐Drehbuchautors, wissen Sie.« »Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Claudius und verwarf auch die letzte Hoffnung, daß ihm die gedankliche Stern‐ schnuppe von vorhin wieder erscheinen würde. Wenn er überhaupt eine Sternschnuppe gesehen hatte. Die traurige Einsicht schlug sich in seinem Gesicht nieder, und die Stirnfalten und Nasen‐Lippen‐Furchen wurden noch faltiger und furchiger. Hugh bemerkte es aus den Augenwin‐ keln und konnte sich eines Mitgefühls nicht erwehren. Aller‐ dings stimmte es ihn auch milde, daß die Zigarette seines neuen Chefs mittlerweile bis zum Filter abgeraucht war. »Ich dachte, wir sollten dem Pessimismus keine Chance ge‐ ben, Herr Claudius«, sagte er. »Gehen wir noch mal die Ge‐ meinsamkeiten zwischen den Kindern durch, die ganz offen‐ sichtlich sind. Vielleicht fällt uns noch etwas auf.« 75
»Alle entführten Kinder sind sechs Jahre alt«, erwiderte Claudius monoton wie ein Sprachautomat. »Das heißt, sie waren fünf, als sie entführt wurden.« »Das ist richtig.« »Und was sagt uns das?« »Daß er auf Fünf‐ bis Sechsjährige steht. Nichts Besonderes, diese Klientel hegt eine Vorliebe für bestimmte Altersgrup‐ pen.« »Aber woher wußte der Kerl, daß sie allesamt fünf Jahre alt waren? Hat er jedes Kind, das ihm über den Weg lief und in diese Altersgruppe zu passen schien, danach gefragt? Da‐ durch hätte er sich nur verdächtig gemacht.« Claudius spürte, wie sein Enthusiasmus von vorhin allmählich wieder zurück‐ kehrte. »Man braucht Kinder nicht unbedingt zu befragen, um ihr genaues Alter herauszubekommen«, sagte Hugh gelassen. »Ein geübtes Auge und ein bißchen Erfahrung reichen. Viel‐ leicht hat er selbst Kinder und konnte anhand ihrer Wach‐ stumsentwicklung lernen, das Alter eines Kindes exakt abzu‐ schätzen. Mütter können so was bei fremden Kindern aus dem Effeff. Oder er hat beruflich etwas mit Kindern zu tun. Ich wette, daß eine Kindergärtnerin oder ein Grundschulleh‐ rer bei einem Kinder‐Altersquiz stets den ersten Preis gewin‐ nen würde.« »Klingt einleuchtend. Die nächste Gemeinsamkeit: Alle zwölf Kinder haben blaue Augen.« »Nicht alle. Bei einigen ist die Augenfarbe graublau.« »Und was soll uns das sagen?« 76
»Etwas vollkommen Belangloses: Unser Kunde steht auf blauäugige Sechsjährige. Zur Not sackt er auch welche mit graublauen Augen ein. Ich stehe auf Angelina Jolie. Na und? Diese Feststellung bringt uns keinen Millimeter weiter.« »Sie haben wieder recht.« Claudius schwieg und blickte er‐ neut aus dem Seitenfenster. Die wie von einem Maler aus der naiven Richtung kreierte Landschaft rauschte vor seinem Au‐ ge vorbei, ohne daß er sie richtig wahrnahm. Busenförmige Hügel und geschwungene Täler, wie von einem flauschigen grünen Teppichboden bedeckt, und die schattenhafte Zechen‐ anlage am Horizont. Alles ein bißchen unwirklich. Er war drauf und dran, sich eine neue Zigarette anzustecken, dachte jedoch an Hughs affige Verrenkerei von eben. Der kleine Scheißer fing schon an, ihn zu disziplinieren. »Es gibt noch eine Gemeinsamkeit«, platzte er schließlich he‐ raus. »So, welche denn?« »Die Kinder sehen sich ähnlich.« Er spürte, wie der Wagen leicht, ganz leicht und nur für ei‐ nen kleinen Moment eine Schlangenlinie fuhr. Hughs Finger am Lenkrad hatten sich derart verkrampft, daß an den Knö‐ cheln das Weiße hervortrat. »Nein, das tun sie nicht«, sagte er betont langsam. »Sie sehen sich überhaupt nicht ähnlich. Und das wissen Sie. Sie wollen nur mit Gewalt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen ihnen konstruieren. Sogar um den Preis einer bewußten Fehlinter‐ pretation.« »Sie sehen sich aber wirklich ähnlich, Juch«, sagte Claudius 77
und beeilte sich, die Akten auf seinem Schoß wieder aufzu‐ schlagen. »Da ist irgendwas in ihren Gesichtern, das sie alle miteinander verbindet. Ich kann nicht sagen, was es ist, weil es sich um eine minimale Ähnlichkeit handelt oder, genauer gesagt, um eine Art von mimischer Gemeinsamkeit, die allein das Gefühl zu erfassen vermag. Es bewegt sich in jenem diffu‐ sen Bereich, mit dem Maskenbildner für Theater und Film bisweilen zu kämpfen haben. Einen zwanzigjährigen Schau‐ spieler in einen Siebzigjährigen zu verwandeln, ist keine große Kunst. Man stülpt ihm eine Gummiglatze mit einem weißen Haarkranz über den Schädel, klebt ihm viele Runzeln ins Ge‐ sicht und schwärzt die Wangen, damit sie hohl wirken. Aber wie verwandelt man einen Zwanzigjährigen in einen Dreißig‐ jährigen? Verstehen Sie, was ich meine? Die charakteristischen Gesichtsmerkmale, die die Kinder miteinander verbinden, sind in einem solchen Unschärfebereich, daß nur … tja, ich gestehe, daß nur ich sie zu erkennen glaube. Aber vergleichen Sie selbst …« Er hielt Hugh zwei Fotos in Klarsichthüllen entgegen. Der schaute bewußt weg. »Nicht nötig«, sagte er. »Seitdem Weinstein mich angerufen hat, habe ich mir diese Bilder so oft angeschaut, daß ich alle Gesichter sogar in fotorealistischer Manier malen könnte. Und vorausgesetzt, die Kinder sehen sich tatsächlich ein bißchen ähnlich, was beweist das?« Claudius schob die Fotos wieder in die Akten zurück. »Das weiß ich nicht.« »Ich schon: Unser Kunde steht auf blauäugige Sechsjährige, 78
die einem bestimmten Typ von Kind entsprechen. Juhu, schon wieder eine belanglose Erkenntnis gewonnen!« Er winkte mit der rechten Hand ab. »So belanglos vielleicht auch wieder nicht, Juch. Denn Sie müssen eins berücksichtigen: Wenn tatsächlich alle diese drei Merkmale auf die Kinder zutreffen, kann unser Mann keiner geregelten Arbeit nachgehen.« »Wieso denn das?« »Ganz einfach: Stellen Sie sich vor, das Fernsehen sucht für irgendeine blöde Show im Umkreis von hundert Kilometern zwölf Kinder, auf die diese drei Kriterien zutreffen müssen. Der Aufwand für solch ein Casting würde mindestens fünf‐ zig Mitarbeiter beschäftigen, und bis man die Richtigen findet, hätten von dem ganzen Auswahlverfahren schon tausend Leute erfahren. Unser Mann jedoch hat es im geheimen getan, ohne aufzufallen und ohne auch nur eine einzige Spur zu hin‐ terlassen. Womöglich auch noch, ohne ein Auto zu benutzen, denn Sie sagten ja, an den Tatorten wären keine verdächtigen Reifenprofile gefunden worden. Wie kann also ein einzelner solch einen Aufwand betreiben und gleichzeitig einen Beruf ausüben?« Hugh massierte mit einer Hand heftig seine Kehle. »Da könnte etwas dran sein. Vorausgesetzt, die Kinder sehen sich wirklich ein bißchen ähnlich – was ich immer noch bestreite. Der Kerl entführt diese armen Würmer Ihrer Meinung nach also hauptberuflich?« Claudius nahm allen Mut zusammen und fingerte die näch‐ ste Zigarette aus der Jackentasche. »Nein, er hat eine andere 79
Masche, wie er die zu seinem Schema passende Beute findet. Vermutlich eine ganz simple. Wir sollten uns darauf konzent‐ rieren.« Bevor er sich die Zigarette zwischen die Lippen steckte, räusperte er sich umständlich. Es waren unwillentliche Laute, erzeugt durch Nervosität, weil er Hughs Rüffel fürchtete. »Rauchen Sie ruhig«, sagte Hugh. »Ich bringe meine Sachen sowieso wöchentlich zur Reinigung. Und was das Sterberisiko durch Passivrauchen angeht: C’est la vie! Aber ich könnte wirklich darüber in Tränen ausbrechen, daß die Innenausstat‐ tung eines Mercedes E 55 AMG Schicht um Schicht mit Niko‐ tin überzogen wird.« Er machte eine kleine Pause und räusperte sich ebenfalls. Dann wandte er das Gesicht von der Straße ab und seinem Chef entgegen. »Sagen Sie, Claudius, wie war das eigentlich, wenn Sie so einen zur Strecke gebracht hatten? Ich meine, ich bin nie einem Monster von solchem Kaliber begegnet. Wie war es, wenn Sie sich am Ende von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden?« Claudius drückte auf den Zündknopf des Einwegfeuerzeugs und ließ die Flamme emporlodern. »Es war …« Er steckte sich die Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch mit weitgeöffnetem Mund und schier obszön heraus. »… different.« »Different. So, so. Und was werden wir tun, wenn wir den Kerl wirklich erwischen sollten?« »Wir werden ihn erschießen. Am besten das ganze Magazin leerschießen, damit ihn der Notarzt später nicht wieder hink‐ 80
riegt. Oder irgendso ein verständnisvoller Richter.« Hugh wartete darauf, daß auf dem Gesicht ein ironisches Lächeln zum Vorschein kam, welches das Gesagte nachträg‐ lich zu einem ulkigen Spruch relativierte. Aber es kam nichts. Dann aber doch. Ein Lächeln, allerdings kein ironisches. »Keine Sorge, Juch«, sagte Claudius und lächelte weiter. »Wir werden es natürlich so hinbiegen, daß es nach Notwehr aussieht.«
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6. Das Institutsgebäude für Forensische Medizin entsprach so gar nicht seinen glorifizierten Ebenbildern aus TV‐ Polizeiserien. Bedauerlicherweise, mußte auch Hugh sich ein‐ gestehen. Weder handelte es sich um einen altehrwürdigen Bau, der einer englischen Grafschaft gut zu Gesicht gestanden hätte, noch um einen in jedem Winkel mit Edelstahl beschla‐ genen High‐Tech‐Palast. Es war ein häßlicher Kasten aus den Fünfzigern, alles grau in grau, sowohl äußerlich als auch in‐ nerlich. Die Fassade wurde von unzähligen, für damalige Zweckbauten üblichen, schießschartenkleinen Fenstern ver‐ unziert. Der bröckelnde Putz war eigentlich keiner Form, Far‐ be, ja selbst Substanz mehr zuzuordnen. Drinnen verstärkte sich die optische Tristesse. Abgesehen von der Halle für die Leichenfächer, den Obduktionssälen und den Laboren be‐ stand das Gebäude ausschließlich aus winzigen dunklen Bü‐ ros, in denen mindestens fünf Jahre alte Computer vor sich hinsurrten und Gummibäume verwelkten. Das Mobiliar schien noch aus den Achtzigern zu stammen. Das ebenfalls graue Linoleum war derart abgeschabt, daß überall großflä‐ chige blanke Stellen hervortraten. Im Grunde war es der au‐ thentischste Ort für die Toten, denn etwas Vergleichbares, in dem so viel Abwesenheit vom Leben herrschte, mußte man lange suchen. Dumm nur, daß sich hier in den Geschäftsstun‐ den auch ein paar Lebende aufhielten. Claudius und Hugh marschierten flotten Schrittes einen fin‐ 82
steren Korridor entlang, der zur »Obduktion 3« führte. Hugh hatte über Handy erfahren, daß in diesem Autopsiesaal Dr. Sieglinde Vetter auf sie wartete … und Udo. Er hatte den ihn betreffenden Schnellhefter unter den Arm geklemmt. Außer der Tatsache, daß er seine erste Leiche seit einer Ewigkeit sehen würde, noch dazu eine Kinderleiche, ging dem jungen Hauptkommissar noch etwas anderes Befremdli‐ ches durch den Kopf. Noch vor einer halben Stunde hatten er und sein sonderbarer Chef im Wagen auf dem Bahnhofsvor‐ platz gesessen und Knackwürste vertilgt. Claudius hatte gelo‐ gen. Die Dinger schmeckten nicht phantastisch, wie er ge‐ schwärmt hatte. Sie schmeckten nicht einmal neutral, sondern geradezu brechreizerregend. Kein Wunder, denn der Verkäu‐ fer in der stinkigen Bude, die etwas seitlich vom Hauptein‐ gang plaziert war, sah so aus, als hätte er einen Eid abgelegt, sich nach jedem Toilettengang auf keinen Fall die Hände zu waschen. Er war ein schmieriger, magerer Kerl mit fettigen Haaren und steckte in einem Kittel, der seine Ursprungsfarbe Weiß durch all die Fett‐ und Schmutzflecken lediglich erahnen ließ. Es war ein Mysterium, weshalb Claudius diese eine Bude über den grünen Klee gelobt hatte, wo es doch in der Stadt mindestens hundert andere gab, die entscheidend Besseres boten. Während er sein Würstchen aus reiner Loyalität herunter‐ würgte und gute Miene zum unappetitlichen Spiel machte, betrachtete Hugh durch die Scheiben das Treiben um das Au‐ to. Zwischen den eilenden Reisenden mit Taschen und Kof‐ fern in den Händen schwirrten all die Junkies umher wie un‐ 83
sichtbare Zombies, die sich von ihrem einstigen geschäftigen Leben nicht lösen können. Unsichtbar schienen sie in der Tat zu sein. Denn das normale Volk nahm sie nicht wahr, schaute quasi durch sie hindurch, als existierten sie nur in einer paral‐ lelen Geisterwelt. Hugh hatte nie im Drogendezernat Dienst geschoben. Des‐ halb hatte er von der Materie nicht mehr Ahnung als ein Laie. Jetzt fiel ihm etwas auf, über das er sich früher nie so richtig Gedanken gemacht hatte. Gewöhnlich galten Junkies als schmutzige Taugenichtse, die den lieben langen Tag damit verbringen, dem Genuß ihrer Droge zu frönen. Das mit dem Schmutz stimmte. Diese Gespenstergestalten, viele von ihnen nur noch Haut und Knochen, oft humpelnd, mit offenen Wunden im Gesicht und an den Armen, schienen wirklich lediglich von Schmutz zusammengehalten zu werden. Das Taugenichtsklischee zog allerdings nur bedingt. Im Gegenteil, die Leute befanden sich in einer permanenten Streßsituation. Auf der Jagd nach ihrem Stoff hetzten sie wie ausgehungerte Kojoten unentwegt umher, rotteten sich zwecks Austauschs geheimer Tips zusammen, um im nächsten Moment in Se‐ kundenschnelle wieder auseinanderzustieben, baldowerten mit ihren Dealern Preise und Treffen für die Übergabe der Ware aus, boten sich Vorbeikommenden als Nutten oder Stri‐ cher an oder bettelten sie aggressiv an, und das alles in einem atemberaubenden Tempo, ohne sich eine Atempause zu gön‐ nen oder die Mundwinkel zwischendurch zu einem Lächeln zu verziehen. Hugh fragte sich, was das sollte. Selbst wenn der Flash der Droge eine gewisse Entschädigung für all die 84
Mühe in Aussicht stellte, war der Aufwand dafür doch viel zu hoch. Für die Nonstop‐Strapaze, die wahrscheinlich auch kei‐ nen Feierabend kannte, hätte man ihm ein Millionengehalt zahlen müssen – und selbst dann hätte er es nicht getan! Plötzlich klopfte es an Claudius’ Scheibe. Es war eigentlich kein Klopfen, sondern ein Hämmern. Die beiden Polizisten rissen gleichzeitig ihre Köpfe herum und blickten einem Ge‐ sicht entgegen, das die Fratze eines Nachtmahrs hätte sein können. Es handelte sich bei der Grauensgestalt um einen alten Junkie, einen Schwerstdrogenabhängigen, der entgegen der Mehrheit seiner Leidensgenossen nach dem Verschwin‐ den der Jugend trotzdem weitergemacht hatte. Es gab nicht viele von seiner Sorte. Ab einem gewissen Alter – das dreißig‐ ste Lebensjahr galt gewöhnlich als der Wendepunkt – machte entweder der Körper nicht mehr mit, und die Leute verreck‐ ten einfach an dem Gift, oder sie kriegten es wegen der sich häufenden Zusammenbrüche mit der Angst zu tun, wurden vernünftig oder stiegen auf Alkohol um. Exzessiver Konsum von harten Drogen war größtenteils ein Jugendphänomen. Der Mann, der sie durch das Seitenfenster mit einem solchen Irrsinn in den Augen anstarrte, als würde er jeden Moment seinen Kopf durch das Glas hindurchschlagen, um sie dann bei lebendigem Leibe aufzufressen, schien die Jugend längst hinter sich zu haben. Hugh schätzte ihn auf Mitte Dreißig, was nichts daran änderte, daß er physiognomisch wie siebzig aus‐ sah. Sein in unzählige Runzeln zusammengefallenes Gesicht ähnelte einem Kunststoffgebilde, das sich unter Hitze ver‐ klumpt hat. Wegen des übermäßigen Aufenthalts im Freien 85
trug er eine auffallende Bräune. Die verhalf ihm jedoch mit‐ nichten zur Attraktivität, sondern ließ ihn eher wie skalpiert wirken. Die Augen waren blutunterlaufen, und die Haut wies abstoßende Pusteln auf. Großflächige Schweißflecken bildeten sich auf seinem schmuddeligen Lumpendreß ab. »Ich kümmere mich darum«, sagte Hugh und langte nach dem Türgriff. Der Kerl war offenkundig dermaßen mit Dro‐ gen vollgepumpt, daß er einen Zivilwagen der Polizei nicht von einer Familienkiste zu unterscheiden vermochte. Seine nicht weniger zugedröhnten Kollegen besaßen übrigens sehr feine Antennen für solcherlei Details. »Stop!« sagte Claudius, ergriff seine Schulter und zog ihn wieder in den Sitz zurück. »Ist schon gut.« Er betätigte den Knopf und ließ die Scheibe herunterfahren. »Hallo, Alfie, na, wie geht’s denn, Kleiner?« »Scheiße geht’s mir, Claudius!« sagte der alte Junkie. Es war genaugenommen ein Röcheln, das sich in Worte kleidete. »Mir geht’s so wie der Titanic drei Stunden nach dem Grüßgott mit dem Eisberg. Ich bin am Ende. Wo warst du so lange, Mann?« »Woanders«, erwiderte Claudius ungerührt. »Weit weg. Ge‐ he ich richtig in der Annahme, daß du die Therapie schon wieder geschmissen hast?« »Das war keine Therapie, sondern Folter, Mann. Die wollten, daß wir um sechs Uhr in der Frühe aufstehen und einen Waldlauf machen. Ich und Waldlauf, kannst du dir das vor‐ stellen? Abends gab’s nicht mal ein Bier zu trinken. Und der Oberdoktor dort hat andauernd so ein geschwollenes Zeug gefaselt von Selbstkontrolle und irgendwas vom inneren Au‐ 86
ge. Wo mir doch mein inneres Auge schon längst aus dem Arsch rausguckt. Hat nicht viel gefehlt, und wir hätten aus Plastilin Entchen und Häschen kneten müssen. Als sie mir beim Entzug nicht einmal eine Zigarette geben wollten, bin ich abgehauen.« »Hast du offene Wunden, die behandelt werden müssen?« »Nee, aber ich vertrage diesen Methadon‐Mist nicht. Muß andauernd kotzen davon. Die Pillen helfen auch nicht. Gib mir hundert Euro, Mann, sonst muß ich mir diese gepantsch‐ ten Steine besorgen. Und die sind wirklich übel. Ich brauche reines H, Richard, ehrlich, sonst gehe ich endgültig vor die Hunde. Mann, ich werde verrecken, diesmal auf Nimmerwie‐ dersehen. Bitte, bitte …« Hugh stellte fest, daß Claudius sich die Leier mit solch nüch‐ terner Miene anhörte, als sammele er Elendsberichte für eine Doktorarbeit. Noch merkwürdiger war, daß der stinkende Kerl sein Heroingeld ausgerechnet von einem hochrangigen Polizisten erbettelte. Natürlich wußte er, daß die Kollegen vom Drogendezernat bei derlei hoffnungslosen Fällen ein Au‐ ge zudrückten. Die Bekämpfung oberster Hierarchien des Drogenhandels war wichtiger, als todgeweihte Opfer hopszu‐ nehmen. Doch die sich vor ihm abspielende Szene schien ge‐ radezu einem Polizeisketch in einer Karnevalssitzung ent‐ lehnt. Claudius zog aus der Gesäßtasche sein Portemonnaie he‐ raus, zauberte daraus einen Hunderter hervor und überreichte ihn der kaputten Gestalt. »Wirst du es noch mal mit einer Therapie versuchen, Alfie?« 87
sagte er. »Ja, vielleicht, Mann«, erwiderte der Junkie und schnappte sich den Hunderter. Ohne Anstalten zu einer Geste des Dan‐ kes zu machen, drehte er sich um und wollte schon gehen. »Alfie!« »Was ist?« Er blickte aus seinen wäßrig‐roten Augen kurz zurück. »Werde ich dich je wiedersehen, hier an dieser Stelle?« In Claudius’ Stimme hatte sich plötzlich Schwermut eingeschli‐ chen. Statt einer Antwort hob der Junkie die rechte Hand hoch und zielte mit dem Zeigefinger in den Himmel. Dann ver‐ schwand er in den eiligen Strömen des Bahnhofsvolks. »Warum, um Himmels willen, haben Sie dieser Leiche das Geld gegeben?« fragte Hugh. Aber am liebsten hätte er nur die Hände überm Kopf zusammengeschlagen. »Na, Sie haben es doch gehört«, antwortete Claudius wie von weiter Ferne. »Weil er es brauchte.« Das klare Sonnenlicht des Nachmittages schoß quaderförmig durch eine wie perforiert aussehende Fensterreihe unterhalb der Decke in die »Obduktion 3«. Dennoch änderte die von tanzenden Staubpartikeln durchsetzte Strahlkraft kaum etwas an der vorherrschenden Düsternis im Saal. Sämtliche Metall‐ schränke, die Regale mit den Behältern für verschiedenerlei Chemikalien und Lösungen und selbst die gerichtsmedizini‐ schen Instrumente trugen gedeckte Farben, waren aber vor‐ nehmlich in Schwarz oder Dunkelgrau getaucht. Der ganze Raum schien sowohl optisch als auch atmosphärisch der hier 88
zu verrichtenden »letzten Arbeit« am Menschen Rechnung zu tragen und sich in Schatten zu hüllen. Mehrere Obduktionstische, welche im Grunde rechteckige Edelstahlwannen mit niedrigen Wänden und einem Abfluß in der Mitte waren, reihten sich dicht an dicht über eine ansehn‐ liche Strecke hinweg. Dreiäugige OP‐Lampen hingen an Schwenkarmen von der hohen Decke herab wie göttliche Scanner, die die eingelieferten Kandidaten für das Jenseits abtasteten. Auf einem Tisch im Mittelbereich bildete sich die Silhouette einer auf dem Rücken liegenden nackten Kinderlei‐ che ab. Doch nicht so sehr sie, sondern der Anfangseindruck ließ in einem für immer ein Gefühl von Schauder und Trau‐ rigkeit zurück: der Kontrast zwischen den durch die Fenster flutenden überhellen Lichtbalken zu dem wie von einer finste‐ ren Schmiere bedeckten Rest der Räumlichkeit. Wenn es einen endgültigen Beweis dafür brauchte, daß Ri‐ chard Claudius wirklich zu alt für diesen Job geworden war, dann lieferte ihm den die Erscheinung von Dr. Sieglinde Vet‐ ter an diesem Ort. Er konnte sich daran erinnern, daß noch vor ein paar Jahren hier dickbäuchige Männer seines Jahrgan‐ ges gewirkt hatten. Meist wuchs ihnen eine halbzerkaute Zi‐ garre aus dem Mundwinkel, ihr Atem roch ein bißchen nach dem stets griffbereiten Flachmann in der Schreibtischschubla‐ de, und sie hatten immer einen morbiden Witz auf den Lip‐ pen. Man sah auch die eine oder andere Frau, unscheinbar und grau wie das Ambiente und absolut humorfrei. Bei der jungen Dame jedoch, die neben dem Obduktionstisch mit Udos Leiche stand, fragte sich Claudius ernsthaft, weshalb 89
Juch nicht auf der Stelle um ihre Hand anhielt. Er hätte es in seinem Alter getan. Sie war eine großgewachsene nordische Schönheit mit zum Pferdeschwanz gebundenen hellblonden Haaren und einer Figur, die selbst Göttinnen vor Neid hätten erblassen lassen. Der aufgeknöpfte weiße Arztkittel enthüllte ein rubinrotes T‐Shirt und eine gebleichte schwarze Jeans, die sich eng an ihren Körper schmiegten. Sie trug eine markante eckige Brille, die die Strenge ihres Gesichts noch mehr betonte und Unnahbarkeit signalisierte. Doch gleichzeitig weckte die‐ ses unnahbare Gesicht die Assoziation an etwas Glühendes unter einer tiefen Eisschicht, als ob es nur darauf hoffte, daß einer das Eis endlich zum Schmelzen bringen möge. Wenn es zu seiner Zeit solche Kolleginnen gegeben hätte, wäre er kaum zum Arbeiten gekommen. Er fragte sich, wie Juch das geregelt bekam. Irgend etwas stimmte mit diesen jungen Leuten nicht! »Hallo, Sigi«, sagte Hugh und gab ihr die Hand. »Na, heute schon bei deinen Patienten Temperatur gemessen? Haha, kleiner Scherz am Rande! Darf ich vorstellen …« Er schwenkte den Arm ausladend zu Claudius wie ein Con‐ ferencier, der einen Star ankündigt. »Das hier ist der sagenumwobene Richard Claudius. Du hast sicherlich von ihm gehört. Und diese unscheinbare Dame ist …« Er wollte die theatralische Geste in umgekehrter Richtung wiederholen. »Dr. Sieglinde Vetter«, kam ihm Claudius zuvor und schüt‐ telte ebenfalls ihre Hand. »Es freut mich sehr. Juch macht gern Witze. Das ist gar nicht mal das Verkehrteste bei so einem 90
traurigen Anlaß. Er sagte, daß Sie für uns ein paar Extrain‐ formationen über die Leiche bereithielten.« »Wie man’s nimmt«, erwiderte die Pathologin. Ihrer Stimme wohnte etwas Prickelndes inne, das an das Perlen von Trop‐ fen an einem klaren Bach erinnerte. »Aber zunächst möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich stolz und froh bin, einer Legende wie Ihnen dienen zu dürfen. Hugh und ich machen in der Tat gern Witze, vor allem über die alte Garde. Aber in Wahrheit zerfrißt uns der Neid auf die Leistungen, die Ihresg‐ leichen vollbracht haben. Herzlich willkommen!« Claudius schwankte zwischen einem Errötungsanfall und dem Drang, seiner Verlegenheit durch einen erneuten dum‐ men Witz Luft zu machen. Letztendlich beschloß er, mit der Arbeit einfach fortzufahren. »Danke für die Blumen! Also, was haben wir denn hier?« Die drei wandten sich dem Tisch zu, auf dem Udo lag. Sieg‐ linde Vetter betätigte einen Schalter unten an der Metallsäule, worauf die OP‐Lampen ihr unbarmherzig scharfes Licht auf den kleinen Körper warfen. Claudius hatte derlei Zeugnisse der Barbarei schon oft ansehen müssen, und wie immer ver‐ spürte er sofort das unbändige Bedürfnis, sich auf der Stelle bis zur Bewußtlosigkeit zu betrinken. Dadurch verschwanden die Eindrücke irgendwann, alles wurde wärmer, ja relativer: War selbst ein totes Kind bei Lichte besehen nichts weiter als ein notwendiger Bestandteil im ewigen Kreislauf der Welt? Milliarden und Abermilliarden Kinder waren schon gestor‐ ben, und das Universum war deshalb trotzdem nicht aus den Fugen geraten. 91
Sieglinde Vetter zog einen Rollwagen heran, auf dem sich auf weißem Tuch chirurgische Instrumente wie gekröpfte Scheren, kleine Edelstahlsägen und Pipetten befanden. Sie ergriff eine lange Pinzette und zeigte damit auf den Kopf des Jungen. Im Gegensatz zu seinem Erscheinungsbild auf den Fotos hatte Udo inzwischen alles Engelhafte verloren. Er war nur noch ein armer toter Junge, sonst gar nichts. Die Haut hatte sich bläulich verfärbt, an einigen Stellen begann sie so‐ gar grau zu werden, als würden sich allmählich von innen Schatten auf das Gesicht legen. Die einst strahlenden blonden Haare wirkten nun ausgeblichen und stumpf. Die blutleer gewordenen Lippen waren leicht geöffnet, und gerade dieses winzige Detail hätte Claudius beinahe die Tränen in die Au‐ gen getrieben. Denn trotz des eindeutigen Zustandes wurde dadurch die Illusion erweckt, als würde das Kind nur schla‐ fen. »Die Todesursache ist zweifelsfrei Würgen«, sagte Vetter. »Der Kehlkopf ist eingedrückt. Sehr massiv. Hier die Würge‐ male um den Hals. Es muß sehr schnell gegangen sein. Der Täter hatte offensichtlich keinen Gefallen an der Betrachtung eines langen Todeskampfes.« Sie steckte die Pinzette ein Stück weit in eins der Nasenlö‐ cher und hob etwas den Nasenflügel an, so daß die beiden Polizisten direkt in die Nasenhöhle blicken konnten, die das von oben kommende Licht ausleuchtete. Sie beugten sich he‐ runter und sahen deutlich, daß die Innenwände leicht gerötet und mit getrocknetem Nasenschleim überzogen waren. »Die Schleimhäute sind extrem trocken. Scheint etwas Chro‐ 92
nisches zu sein. Deshalb bin ich davon ausgegangen, daß Udo über einen langen Zeitraum hinweg an einem ebenso extrem trockenen Ort gefangengehalten wurde. Ich hatte eine ver‐ rückte Idee, aber ich wollte nichts unversucht lassen, selbst die unglaublichste Spekulation auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Also habe ich Blut und Gewebe und später die Magenschleimhaut untersucht, die, wie sich herausstellte, kleine Einblutungen aufwies. Es steht außer Zweifel: Udo wurde über einen sehr langen Zeitraum hinweg mit Acetylsa‐ licylsäure versorgt.« Claudius und Hugh blickten ziemlich ratlos drein. »Aspirin!« sagte die Pathologin und lächelte gütig, als hätte sie kleinen Kindern das Selbstverständlichste der Welt erklärt. »Durch die trockene Luft litt der kleine Kerl unter Kopf‐ schmerzen. Der Täter gab ihm zur Linderung Aspirin, in kindgerechter Dosis übrigens.« »Bewundernswürdige Fürsorge«, sagte Hugh. »Er macht alle kleinen Wehwehchen heile, um am Ende den ganz großen Schmerz aus dem Sack zu holen.« »Das ist wirklich interessant«, sagte Claudius, ohne auf Hughs Bemerkung einzugehen. »Phantastische Arbeit!« Sieglinde Vetter lächelte ein stolzes Klein‐Mädchen‐Lächeln ob des Lobes aus dem Mund der alten Legende. »Das ist aber noch nicht alles«, fuhr sie fort. »Ich wußte, daß ein derart gerissener Täter nicht einmal den Hauch einer Spur an einer Leiche hinterläßt, bevor er sie der Öffentlichkeit zur Besichtigung freigibt. Aber selbst er ist gegen Spuren macht‐ los, die sich nach und nach im Gedächtnis des Körpers an‐ 93
sammeln. Nach der Entdeckung der trockenen Schleimhäute habe ich mich deshalb konsequent auf die Suche nach mini‐ malen Organanomalien der chronischen Art verlegt. Und wurde prompt wieder fündig. Die Stimmbänder des Jungen sind angeschwollen. Es befanden sich auf ihnen sogar erste Ansätze zu Knötchen, die sich im Lauf der Zeit und in ihrer krassesten Form zu sogenannten Schreiknötchen etablieren können. Udo war zum Zeitpunkt seines Todes ziemlich heiser. Nach dem Grad der Verhärtung der Stimmbänder zu urteilen war er es schon sehr lange.« »Heißt das, er hat anhaltend geschrieen – vielleicht vor Schmerzen?« wollte Hugh wissen. Sie zuckte mit den Schultern. Aber man sah es ihr an, daß sie dieser Deutung nur widerwillig beipflichten wollte. »Das heißt es wohl.« »Moment, Moment, nicht so eilig«, sagte Claudius und hob die rechte Hand, als wolle er symbolisch den Film an dieser Stelle kurz anhalten. »Wie stand es mit dem allgemeinen Ge‐ sundheitszustand des Jungen?« »Ausgezeichnet. Das Gewicht ist normal, keine Mangeler‐ scheinungen, keine Spuren von Mißhandlung – wenn man von dieser einen Sache einmal absieht …« Nun wanderten alle Blicke auf den Rest des Körpers, der oberflächlich betrachtet unversehrt schien. Doch dann stachen einem die an den Flanken des Oberkörpers und der Beine hervorlugenden geronnenen Blutstriemen ins Auge. Deren ganzes Ausmaß kam nur deshalb nicht zum Vorschein, da die Leiche auf dem Rücken plaziert war. Ohne daß man darüber 94
ein Wort verloren hatte, war allen Beteiligten von vornherein klar gewesen, daß man sich die Sache mit der Auspeitschung bis zum Schluß aufsparen würde. Dem hatte Claudius nun einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bis jetzt hatten die beiden Polizisten bewußt nicht hingesehen, nun taten sie es. Die Pathologin fuhr mit ihren Ausführungen fort, ohne eine Miene zu verziehen. »Wenn man berücksichtigt, daß die Auspeitschung unmit‐ telbar vor der Tötung stattgefunden hat, wenn man also die‐ sen Fakt, so zynisch es auch klingt, ausklammert, muß aus me‐ dizinischer Sicht zugestanden werden, daß der Mörder Udo in dem einen Jahr ganz ordentlich behandelt hat. Zugegeben, der Junge war bei seiner Auffindung ziemlich blaß, weil er nicht regelmäßig oder überhaupt nicht ins Freie kam. Auch die Muskulatur entspricht nicht dem eines Jungen in seinem Al‐ ter, der sich täglich austoben darf. Aber sonst …« Hugh lachte bitter. »Toll, ein richtiger Kindernarr ist das!« »Ist Udos Heiserkeit vielleicht durch eine Erkältung erklär‐ bar?« sagte Claudius. »Daran habe ich auch gedacht«, erwiderte Vetter. »Deshalb habe ich das Blut unter diesem neuen Aspekt nochmals unter die Lupe genommen. Resultat: negativ, Udo war unmittelbar vor seinem Tod nicht krank gewesen.« Hugh schüttelte den Kopf angesichts der seiner Ansicht nach offensichtlichen Erklärung, die man beharrlich ignorierte. »Was gibt es da groß herumzurätseln?« sagte er etwas schril‐ ler, als es der Situation angemessen war. »Der Junge wurde von diesem Monster ausgepeitscht. Dabei würde selbst ich vor 95
lauter Schmerzensschreien heiser werden.« »So?« Die Pathologin runzelte die Stirn. »Wie lange dauert so etwas denn?« Hugh verzog das Gesicht, als hätte sie eine Frage zur Quali‐ tät seiner Unterleibsgymnastik gestellt. »Keine Ahnung, Sigi. Die letzte Peitsche in Aktion, die ich gesehen habe, war in der Hand des Löwenbändigers im Zir‐ kus.« Er räusperte sich umständlich und zurrte seine Ge‐ sichtsmuskeln wieder auf ernst, weil ihm sein Sarkasmus im nachhinein unangemessen erschien. »Vielleicht fünf Minuten, vielleicht zehn Minuten, weiß der Teufel. Länger dürfte es allerdings nicht gedauert haben, weil ein Kind unter solchen Schmerzen sonst zusammenbricht.« »Das reicht nicht«, sagte Vetter. »In der kurzen Zeitspanne kann man vom Schreien nicht heiser werden.« »Okay, dann hat der arme Wurm halt vorher die ganze Zeit geschrieen, weil der Kerl ihm kontinuierlich Angst eingejagt hat. Das ganze Jahr über.« »Oder er mußte singen«, meldete sich Claudius wieder zu Wort. Hugh und Sieglinde Vetter hielten inne und schauten den Alten so verdutzt an, als hätte dieser plötzlich selbst zu singen angefangen. Der Oberkommissar ignorierte ihre ent‐ gleisten Mienen. »Ich meine, wenn man aus voller Kehle singt, regelmäßig und stundenlang, dann müßten sich doch an den Stimmbän‐ dern die gleichen Symptome zeigen, oder etwa nicht?« Hugh und Vetter atmeten tief ein und dann ebenso tief wie‐ 96
der aus. Sie brauchten eine Weile, um den Gedanken zu ver‐ dauen. Er besaß einen gewissen Reiz, obwohl er, bildlich aus‐ gemalt, ziemlich grotesk anmutete. »Sie mögen recht haben«, sagte die Pathologin nach ein paar weiteren tiefen Atemzügen. »Man kann auch durch hinge‐ bungsvolles, lautes Singen heiser werden, vor allem, wenn man keine geschulte Stimme hat. Deshalb werden die besag‐ ten Schreiknötchen bisweilen auch als Sängerknötchen be‐ zeichnet. Man müßte es aber auf die Spitze treiben wie Teena‐ ger in einem Rockkonzert, die ihre Idole grölend unterstützen, oder Fußballfans im Stadion ihren Verein. Das Singen müßte schon über ein gelegentliches Tralala hinausgehen, damit die Stimmbänder solcherlei Verhärtungen aufweisen.« »Und ganz nützlich wäre auch eine schalldichte Bude«, sagte Hugh und ließ in seine Stimme erneut eine Prise Sarkasmus einfließen. »Wenn ich bei mir zu Hause zwölf entführte, zu jeder Tages‐ und Nachtzeit aus voller Kehle singende Kinder hätte, würde ich mich nicht unbedingt auf die Leidensfähig‐ keit meiner Nachbarn verlassen.« »Bis jetzt haben wir nur ein Kind, das unter Heiserkeit gelit‐ ten hat«, bemerkte Vetter. Plötzlich hielten alle inne. Dann wollten alle drei das gleiche aussprechen, doch Claudius kam den anderen zuvor. »Diese Örtlichkeit, wo sich die Kinder befinden, ist absolut schalldicht. Und da davon auszugehen ist, daß es sich dabei wohl kaum um ein anständig klimatisiertes Tonstudio han‐ delt, herrscht darin eine miese Luft und Trockenheit! Hier geht es nicht um eine abgelegene Waldhütte oder um ein ver‐ 97
lassenes Fabrikgebäude. Nein, ich spreche von einem reinweg verbunkerten Raum, in den nur ein bißchen Luft eindringt und sonst gar nichts.« »Keine schlechte Theorie«, sagte Hugh. »Und welche Art von Liedern müssen die Kinder Ihrer Meinung nach dort zum Vortrage bringen?« »Geben Sie mir bitte die Fotos, die bei der Auffindung der Leiche gemacht wurden.« Hugh reichte ihm den Schnellhefter. Claudius schlug ihn auf und blätterte die Bilder des Polizeifotografen hastig durch. Schließlich blieb sein Blick an einer Aufnahme hängen, die den toten Jungen in der Waldlichtung aus der Nähe zeigte. Vor dem Hintergrund der in rötlichen Herbstfarben glühen‐ den Bäume lag er nackt und mit am Bauch zusammengefalte‐ ten Händen auf dem durch die Sommersonne vertrockneten Gras da. Er war noch ganz der schlafende Engel, bevor er sich später auf dem Obduktionstisch in dieses traurige Etwas ver‐ wandeln sollte. Claudius löste das Foto aus dem Schnellhefter und hielt es Hugh und Sieglinde Vetter wie einen Strafzettel entgegen. »Hier, schauen Sie mal genau hin. Was fällt Ihnen auf?« »Die Hände sind gefaltet«, antworteten beide im Chor. »Richtig. Er hat die Leiche nicht einfach weggeworfen oder lieblos verscharrt oder verunstaltet oder sie mit irgendwel‐ chen Fetischaccessoires drapiert. Ich wette ein Abendessen, daß er den Jungen sogar vorher gewaschen hat, bevor er ihn auspeitschte.« »Bingo!« bestätigte die Pathologin. »Darauf hätte ich Sie als 98
nächstes hingewiesen. Wir kennen inzwischen selbst Marke und Typ des Duschgels, das er bei der Waschung benutzt hat.« »Waschung und gefaltete Hände bei einem Toten: Woran erinnert uns das?« »An ein religiöses Bestattungsritual«, sagte Hugh. »Sie ver‐ gessen aber eine Kleinigkeit: Zu einem ordentlichen Begräbnis gehört vor allem, daß man den Toten auch bestattet.« »Nein, das hat er nicht getan. Da haben Sie recht. Weil er wollte, daß wir Udo finden. Und zwar exakt in der hier vor‐ liegenden Pose. Doch darauf komme ich gleich zu sprechen.« »Er läßt also die Kinder pausenlos Kirchenlieder oder sonst irgendwelches religiöse Zeug singen. Bloß, was hilft uns das weiter? Sollen wir jetzt jeden Pfarrer vorladen, dessen wir habhaft werden können?« »Nein, denn ich glaube kaum, daß wir es mit einem Profi‐ christen zu tun haben. Vermutlich kennt er sich im Christen‐ tum gar nicht mal so doll aus. Er hat sich aus der Lehre ledig‐ lich die Stellen herausgepickt, die seinen Wahn besonders stimulieren. Scheiße, er ist ein Jesus‐Freak! Das sind die schlimmsten.« In der folgenden Viertelstunde nahm sich das Trio die Ver‐ letzungen am Rücken und an der Rückseite der Beine des Jungen vor. Zu diesem Zwecke zogen sie sich Gummihand‐ schuhe an, drehten die Leiche auf den Bauch und beschauten sich jeden einzelnen der blutigen Striemen durch eine von Sieglinde Vetter gereichte übergroße Lupe. Doch außer der bereits bekannten Tatsache, daß es sich hierbei um von einer 99
Peitsche, vermutlich einer Reitpeitsche, verursachte Hieb‐ wunden handelte, gab es keinen weiteren Erkenntnisgewinn. Claudius wollte aus den wenigen Anhaltspunkten zu neuen Hypothesen ansetzen, erkannte jedoch schon im Vorfeld, daß er damit vielleicht die beiden zu ihm aufschauenden jungen Leute, aber wohl kaum sich selbst beeindrucken würde. Au‐ ßer den schon angestellten Vermutungen hatte er im Moment nichts mehr zu bieten. Deshalb beschloß er, für ihn das einzig Sinnvolle zu tun, nämlich den Autopsiesaal schnellstmöglich zu verlassen und sich die nächste Zigarette anzustecken. Und damit sollte der gar nicht einmal so ertragsarme Arbeitstag ein Ende finden. »Vorhin im Auto habe ich gesagt, daß unser Kunde wahr‐ scheinlich nicht zu der Kategorie von Tätern gehört, die an‐ hand irgendwelcher hinterlassener Zeichen ein filmreifes Kommunikationsspielchen mit uns treibt«, sagte Hugh, wäh‐ rend sie den grauen Korridor zurück in Richtung Ausgang schritten. Die beiden Männer hatten Sieglinde Vetter in ihre Mitte genommen, die ihnen bedächtig zuhörte und in ihrem weißen Kittel für die einzige Aufhellung sorgte. »Nun, das nehme ich zurück«, fuhr Hugh fort. »An Ihren Schlußfolgerungen könnte vielleicht etwas dran sein.« »Glauben Sie, Juch?« Claudius lächelte gequält, wodurch die Felslandschaft von seinem Gesicht um einige schroffe Kanten reicher wurde. Er sog heftig an seiner Zigarette. »Sind Sie sich ganz sicher, daß Sie nicht auf die Tricks des alten Zauberers hereingefallen sind, auf ein bißchen mittel‐ mäßigen Hokuspokus? Vielleicht sind Sie deshalb so über die 100
Maßen beeindruckt, weil Sie nur den Glorienschein des alten Zauberers sehen wollen, aber nicht dessen zerlumpten Frack. Wie wär’s damit: Die Austrocknung der Schleimhäute könnte auch eine simple Ursache haben. Der Junge wurde wie Vieh in einem Kabuff gefangengehalten und schrie sich die ganze Zeit die Seele aus dem Leib, was wiederum die Heiserkeit erklärt. Die gefalteten Hände? Unser Mann hat nach dem Mord Schuldgefühle bekommen und glaubte sich bei seinem Schöp‐ fer lieb Kind machen zu können, indem er seinem Opfer die letzte Ehre erwies und die Hände in diese Stellung brachte. Alles ganz einfach. Na, was halten Sie davon?« Hugh verlangsamte seine Schritte ein wenig. »Tja, wo Sie es sagen …« »Tun Sie das nicht!« blaffte Claudius unvermittelt. Sieglinde Vetter zuckte leicht zusammen und wurde ebenfalls langsa‐ mer. »Entweder, Sie glauben an Ihre Hypothese und verfolgen diese, bis sie sich als richtig oder falsch erwiesen hat, oder Sie gehen stur den Weg der Schulkriminologie und lassen sich für jede Vermutung erst einmal einen Beweis liefern.« »Tut mir leid, ich kann nichts dafür, aber ich bin aufs neue beeindruckt«, sagte Hugh. »Ich auch, um ehrlich zu sein«, ergänzte Vetter. »Und was will uns der große Meister damit sagen?« wollte Hugh wissen. »Nichts weiter. Bloß mal gucken, ob die Jünger noch bei der Stange sind. Darüber hinaus glaube ich, daß zwischen der Auspeitschung, den gefalteten Händen und der Plazierung 101
der Leiche an exponierter Stelle ein mysteriöser Zusammen‐ hang besteht. Auspeitschung gilt in jedem Kulturkreis als eine Strafe; der Versuch einer Tötung mit diesem Mittel darf als untauglich betrachtet werden. Doch selbst wenn wir davon ausgehen, daß eine Strafe vollzogen werden sollte, welche kindliche Verfehlung kann eine solch grausame Strafe rech‐ tfertigen?« »Vielleicht hat der Junge einen Fluchtversuch unternom‐ men«, sagte Hugh. »Der Scheißkerl wollte vor den anderen Kindern ein Exempel statuieren.« »Klingt überzeugend. Mein Gefühl aber sagt mir etwas an‐ deres. Ich glaube eher, daß der Zustand der Leiche uns etwas mitteilen soll. Spontan fallen mir Assoziationen zu gefallenen Engeln ein. Es dreht sich um eine Sünde, die in die Welt ge‐ kommen ist. Unser Mann benutzt die Leiche quasi als Podium für seine Botschaft und zeigt uns, wie er diese Sünde wieder aus der Welt zu schaffen gedenkt. Wie auch immer, die Kin‐ der sind der Schlüssel zu seinem kranken Reich. Vielleicht gar nicht einmal sie selbst, sondern das, was sie alle miteinander verbindet, was sie in seiner Wahnwelt versinnbildlichen.« Er wandte sich an die Pathologin. »Könnten Sie mir viel‐ leicht einen Gefallen tun und die Haut nochmals einer gründ‐ lichen Analyse unterziehen? Ich weiß, daß Sie das bereits ge‐ tan haben. Aber vielleicht findet sich ja doch noch ein mikros‐ kopisch kleines Erdpartikel oder das Beinchen eines seltenen Insekts, die Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Verstecks der Kinder erlauben.« Sie nickte. 102
»Ach, noch etwas. Sämtliche Ideen, die wir in der letzten Stunde ausgetauscht haben, geben Sie Wort für Wort an die Kollegen von der Kommission weiter. Wir führen hier keinen Wettkampf, bei dessen Finale der beste Ermittler eine Reise in die Dominikanische Republik gewinnt.« Nachdem sie sich von Dr. Sieglinde Vetter verabschiedet hatten, was natürlich nicht ohne Hughs geschmacklose Witze‐ leien abging, saßen die beiden Männer noch eine Weile im Wagen. Das gleißende Licht des späten Nachmittages bekam erste Stiche ins Rosé. Claudius hatte Angst, in seine alte Woh‐ nung zurückzukehren. Noch mehr aber fürchtete er sich da‐ vor, nicht in die Wohnung zurückzukehren, sondern vorher in einer Bar vorbeizuschauen. Da fiel ihm eine Sicherheitsmaßnahme ein, um dem vorzu‐ beugen. Er kramte aus seinem Mantel ein kleines Notizbüch‐ lein heraus, kritzelte darin ein bißchen, riß die Seite heraus und übergab sie Hugh. »Seien Sie bitte morgen früh um Punkt neun bei dieser Adresse. Sie brauchen nicht zu hupen, ich se‐ he Sie vom Fenster aus.« »Und wohin wird die Reise gehen?« »Ich sagte ihnen doch, daß ich mit den betroffenen Familien sprechen muß, um ein Gefühl für die ganze Geschichte zu bekommen. Mit Hedda fangen wir an.« »Na, die wird sich freuen!« sagte Hugh und setzte sich eine elliptisch geformte Sonnenbrille mit dunklen Gläsern auf. Der schwarzhaarige Mann mit den langen Koteletten und dem spitzen Unterlippenbärtchen wirkte nun wie einem Werbe‐ spot für ein Sportcoupé entsprungen. Erstaunlich, diese jun‐ 103
gen Leute von heute, flog es Claudius durch den Kopf. Sie sehen verboten gut aus und haben auch noch was in der Bir‐ ne. Zu seiner Zeit waren Typen solchen Schlages entweder Blender oder Arschlöcher – oder Säufer, wie er immer einer gewesen war. »Ich habe mir Ihre Behauptung, die Kinder sähen sich ir‐ gendwie ähnlich, durch den Kopf gehen lassen«, sagte Hugh. »Es gibt da eine Möglichkeit, so einen Eindruck wissenschaft‐ lich zu überprüfen. Ich habe einen alten Kumpel beim BND, der mir noch was schuldig ist. Die haben dort nach dem 11. September von der CIA ein sehr aufwendiges und sehr ge‐ heimes Gesichtserkennungsprogramm spendiert bekommen. Es ist dafür gedacht, Gesichter von Terroristen und ähnlichen bösen Buben selbst unter widrigsten Umständen herauszufil‐ tern. Sogar Manipulationen an der Physiognomie mittels pla‐ stischer Chirurgie sind kein Problem für das Wunderding. Das Beste aber ist, daß das Programm Ähnlichkeiten zwischen Gesichtern auch im graduellen Bereich erkennen und das Er‐ gebnis in Prozentangaben wiedergeben kann. Ich scanne heu‐ te abend alle Fotos von den Kindern und maile sie an meinen Kumpel. Wenn herauskommt, daß die Kinder sich unterei‐ nander zu siebzig Prozent ähnlich sehen, haben Sie gewon‐ nen.« »Wunderbar«, sagte Claudius und freute sich wirklich. »Das ist echt eine große Hilfe. Ich frage mich nur, wofür man so einen alten Sack wie mich noch braucht, wenn diese raffinier‐ ten Computerprogramme die ganze Arbeit erledigen.« Hugh verdrehte die Augen und pfiff durch die Zähne. 104
»Herrje, man kann auch so erbärmlich kokettieren, daß es zum Himmel stinkt!«
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7. Hugh hatte es sich am späten Abend so richtig gemütlich ge‐ macht: Er saß an seinem Schreibtisch vor dem Laptop. Ja, nicht nur in Familien gab es zu später Stunde die vielgerühm‐ te Gemütlichkeit, wo Papa und Mama sich bei Chips und Wein den Fernseher über den Kopf stülpten, die Kinder vor dem Zubettgehen noch ein bißchen die Xbox malträtieren durften und die Oma anhand des TUI‐Katalogs schon ihren vierten Urlaub in einem Jahr auf Mallorca plante. Nein, auch der Single kannte jene Gemütlichkeit, die die dunkle Tageszeit mit sich brachte. Meist zog man sich eine DVD rein (manch‐ mal auch drei hintereinander) oder las irgendeinen Blödsinn, der gerade en vogue war. Vorausgesetzt natürlich, daß das Sportstudio nicht rief. Oder irgendein Kochkranker aus dem Bekanntenkreis, bei dem das Pendel der Einsamkeit eben in die kulinarische Richtung ausgeschlagen hatte. Ansonsten gab es natürlich das Internet, auch so ein Lager‐ feuer, vor dem um diese Stunden viele Schicksalsgenossen herumsaßen. Man konnte hier unglaublich viele interessante Dinge über den Planeten Erde und seine Bewohner erfahren, die zu erfahren einem seltsamerweise vorher nie gefehlt hat‐ ten. Oder man konnte Dinge ersteigern, die in internetlosen Zeiten direkt auf dem Müll gelandet wären. Und man konnte chatten. In den Chatrooms traf man meistens sich selbst in einer anderen Person, allerdings in einer unfaßbar verlogenen, schamlosen, primitiven, perversen, idiotischen, kurzum völlig 106
irren Variante. Die Frauen bildeten da keine Ausnahme, wenn es sich bei dem aktuellen Gesprächspartner überhaupt um eine Frau handelte. Denn die Chatter versteckten sich stets hinter einem lustigen oder originellen Pseudonym, und es lag deshalb im Bereich des sehr Wahrscheinlichen, daß man seine intimsten Gedanken und Wünsche gerade einem Stockschwu‐ len mit dem Nickname »hot bunny« anvertraute. Er selbst nannte sich in beispielloser Ehrlichkeit immer »Hugh«. Nach vielen leidvollen, vor allem jedoch peinlichen Erfahrungen hatte Hugh gelernt, sich, soweit es ging, von derlei gefährli‐ chen Gegenden fernzuhalten. Er hatte eine harmlosere Varian‐ te der Internetkommunikation für sich entdeckt: die Online‐ Spielerei. Nachdem er als Gegengift zu dem widerlichen Würstchen am Mittag einen selbstzubereiteten Feldsalat mit angebrate‐ nen Speckwürfeln, Champignons, Parmesan und etwas Ba‐ guette vertilgt hatte, scannte er das Fotomaterial der ver‐ schwundenen Kinder und mailte es an seinen Bekannten beim BND. Er glaubte felsenfest daran, daß Ähnlichkeiten zwischen den Kindern sich, wenn überhaupt, als rein typbedingt ent‐ puppen würden. Aus Claudius wurde er nicht ganz schlau, wußte jedoch inzwischen, daß auch die Legende fehlbar war und einen Hang zum Sich‐Aufplustern besaß. Bevor Hugh sich auf die Seite von »Die Siedler von Uris« be‐ gab, streifte sein Blick über die im milden Dämmerlicht lie‐ gende Sechzig‐Quadratmeter‐Wohnung. Alles IKEA! Sogar bis hin zu MAGI, den nie entflammten Teelichtern auf HEM‐ BERG, dem Glascouchtisch, und INBJUDAN, den sechs Kaf‐ 107
feetassen, von denen vier nicht ein einziges Mal benutzt wor‐ den waren. Ganz zu schweigen von NORESUND, dem Bett, und GÖTERBORG, dem Sofa, und MAGIKER, dem Side‐ board. Lauter gute Freunde. So vielfältig, formschön und praktisch die IKEA‐Produkte auch daherkamen, irgendwie wurde Hugh bei ihrem Anblick das Gefühl nicht los, daß es sich bei ihnen lediglich um Beinahemöbel und um Beinaheac‐ cessoires handelte. Das lag nicht nur am niedrigen Preis, wo‐ durch die Sachen zwangsläufig etwas wackelig und weniger massiv gerieten. Nein, Hugh hatte den Verdacht, daß dieses Sortiment in erster Linie für einen Zeitgenossen wie ihn ge‐ dacht war: den Beinahemenschen. Ein Mensch, der nicht ein‐ mal mehr ein Festnetztelefon besaß, weil er ständig unterwegs war, und Kinder nur noch aus dem Fernsehen kannte – oder von den Tatortaufnahmen des Polizeifotografen. Er dachte wieder an seine zahllosen geschiedenen Kollegen, denen die selige Erinnerung an ihre einstigen Familienabenteuer jetzt auch nichts mehr nützte. Aber, und das war das Entscheiden‐ de, sie besaßen richtige Möbel! Unsagbar häßlich vielleicht und nur noch die wenigen Stücke, die der Richter ihnen beim Scheidungsprozeß zugestanden hatte, doch massiv und kein bißchen wackelig. Das Beste an IKEA war, hörte man die Leu‐ te sagen, daß man das Zeug einfach dem Sperrmüll anvert‐ rauen konnte, wenn es einem nicht mehr gefiel, um sich dann wieder etwas Neues von IKEA zu besorgen. Vielleicht galt das gleiche auch für den Beinahemenschen. Hugh schnappte sich das Handy und wollte Carla von ge‐ stern nacht anrufen. Dann fiel ihm siedendheiß ein, daß er die 108
Nummer ja gelöscht hatte. Er saß noch eine Weile reglos vor dem Laptop und starrte auf den Schirm. Der Bildschirmscho‐ ner zeigte NASA‐Astronauten, die in ihren weißen Weltrau‐ manzügen durch das pechschwarze All schwebten. Die ver‐ spiegelten Lichtschutzblenden der Helme versperrten die Sicht auf ihre Gesichter. Es half nichts, er konnte den Tag nicht mit diesen defätistischen Gedanken ausklingen lassen. Nicht einmal eine Ex‐Frau konnte er anrufen, um sich von ihr be‐ schimpfen und demütigen zu lassen. Die Gemütlichkeit war dahin. Also zurück zu »Die Siedler von Uris«. Es war wie Onanie. Da er im Spiel alleine keinen Schritt vorankam, wollte er es online mit einem Rivalen aufnehmen. Vielleicht konnte er sich von ihm ein paar Tricks abgucken oder, falls dieser sich gar als ein Hexer seines Fachs erweisen sollte, ihn um den Cheat anbetteln, der dann alle Level freischaltete. Jedenfalls deuteten die Kommentare im Netz an, daß dieser mysteriöse Cheat tatsächlich existierte. Über Google fand er eine Uris‐Seite auf einem inoffiziellen Server, auf der der Spaß im Gegensatz zu einer kommerziellen nichts kostete. Es forderten ihn gleich acht Spieler heraus. SACKGESICHT NIEMAND SUPERASS PARADIES4 LON‐ LEY BEAST LORD G DICKER HEINRICH BLACK MASK Die Liste befand sich links in einem kleinen Kästchen, aus dessen Rahmenbalken kontinuierlich Sternchen hervorblitz‐ ten. Den Rest der Seite schmückten Slogans und bewegte Ver‐ 109
größerungen von Figuren aus der Uris‐Welt, Gästebuchein‐ träge, ein bißchen Werbung und Links zu dubiosen Gothic‐ Homepages. Wenn Hugh es sich recht überlegte, hatte er kei‐ ne Lust, sich mit einem Typ zu duellieren, der sich Sackgesicht nannte. Auch die anderen Nicknames gefielen ihm nicht be‐ sonders. Bis auf einen: PARADIES4. Das Paradies war nun einmal das Paradies, auch mit einer Vier am Ende, was auch immer das bedeuten mochte. Er klickte mit der Maus den Button Private Session an, und schon begannen die beiden Computer miteinander zu kom‐ munizieren. Hugh schickte einen Teil seiner Leute quer durch das Uris‐Land, auf daß sie geeignete Partner zwecks Fortpflanzung antreffen mochten. Der Rest marschierte mit Schippe und Spaten in die Minen, um das kostbare Erz abzu‐ bauen. Wenn man zwei der drolligen Figuren zueinanderfin‐ den und sie schließlich zu einem Paar werden ließ, stiegen über ihren Köpfen wie Rauchzeichen rosa Herzchen auf. Dann verschwanden die Liebenden in den Wäldern und traten et‐ was später mit einem Sprößling wieder zum Vorschein. Da man diesen Vorgang im Halbminutentakt initialisieren mußte, wimmelte das Uris‐Reich binnen kurzem von umherstreifen‐ den Paaren, aufsteigenden Herzchen und tobenden Kindern. Man verlor leicht den Überblick und konnte nur schwer die Strategie des Gegners durchschauen, zumal dieser ja seiner‐ seits am laufenden Band Familien fabrizierte. Während die heranwachsenden Kinder einem immer mehr und immer schneller Energiepunkte abluchsten, mal zum Lager des ge‐ gnerischen Clans liefen, mal sich in den Minen umschauten, 110
kamen aus allen Richtungen Mitglieder des Konkurrenzclans herbeigeströmt und warben um die Liebesgunst der eigenen Männer und Frauen. Es war ein einziges Durcheinander. Wie sollte man unter diesen chaotischen Umständen optimale Paarbildung betreiben? Sein Gegner, dieser PARADIES4, verhielt sich zunächst zu‐ rückhaltend, um nicht zu sagen, ziemlich orientierungslos. Er ließ seine Leute wahllos um die Hand Paarungswilliger anhal‐ ten, ohne daß Hugh in seinem Handeln eine nachvollziehbare Selektionsstrategie erkennen konnte. Doch bald wendete sich das Blatt. Obwohl weiterhin kein System auszumachen war, mußte Hugh voller Entsetzen und tatenlos zusehen, wie die allmählich erwachsen werdenden Kinder in überwältigender Mehrheit zum Feind überliefen und ihren Arbeitsdienst in seinen Minen aufnahmen. Das einzige Andenken, das sie hin‐ terließen, war der Leerstand in der Energie‐Meßsäule, die in‐ zwischen signalrot aufleuchtete und Hugh vor Augen führte, wieviel Ressourcen, Zeit, Aufmerksamkeit, letztendlich aber Energiepunkte diese kleinen Biester ihm schon gestohlen hat‐ ten. Das war der Dank dafür, daß er ihnen das Leben ge‐ schenkt und sie unter Mühen großgezogen hatte. Wie bei seinen einsamen Selbstversuchen verlor Hugh das Spiel innerhalb kürzester Zeit. Er brütete grimmig vor dem Bildschirm und ließ den Verlauf des Wettkampfs vor seinem geistigen Auge noch einmal Revue passieren. Wie hatte der Kerl das nur gemacht? Wie konnte er mit derart schlafwandle‐ rischem Geschick dieses Männlein und jenes Weiblein zu‐ sammenwürfeln und sich dabei gewiß sein, daß die daraus 111
hervorgehende Saat schon für das eigene Geschäft schuften würde? Hugh dachte nach. Nein, ihm fiel auch nachträglich nichts Ungewöhnliches auf. Höchstens vielleicht eine seltsame Beobachtung. Er konnte sich jedoch irren. Oder er gaukelte sich jetzt etwas vor, um im Vorgehen des Gegners auf Teufel komm raus ein intelligentes Muster zu erkennen. Konnte es sein, daß er in dem ganzen Balztrubel ein paar Männlein ge‐ sehen hatte, welche sich gar nicht um eine Partnerschaft be‐ müht hatten? Statt dessen hatten sie nur dumm herumgestan‐ den und waren dann klammheimlich den Frischverliebten in die Wälder gefolgt. Was hatte das zu bedeuten? Wie man die Sache auch drehte und wendete, Hugh war da‐ von überzeugt, daß der Wunder‐Cheat dabei eine große Rolle spielte. Und er mußte diesen Cheat haben, koste es, was es wolle! Da traf es sich doch sehr günstig, daß PARADIES4 zwar keine E‐Mail‐Adresse hinterlassen hatte, doch dafür am unteren Bildrand einen Link zu seiner eigenen Homepage. Wie er sie verabscheute, diese privaten Homepages! Meistens prangte gleich oben ein Foto von einem Mutanten, das Auf‐ schluß darüber lieferte, weshalb ein erwachsener Mensch sei‐ ne kostbare Freizeit mit so einem Schwachsinn wie privaten Homepages vergeudete. Als nächstes folgten die aus einem völlig unerklärlichen Mitteilungsbedürfnis geborenen übli‐ chen Peinlichkeiten: »Meine Hobbys: Fahrradfahren, Reisen und Musikhören. Meine Lieblingsschriftsteller: Stephen King und Dan Brown. Meine Lieblingsfilme: Spiderman und Der Herr der Ringe …« Dann folgten in der Regel ein paar philoso‐ phische Weisheiten zur Weltlage im allgemeinen und über das 112
Leben im besonderen: »Ich finde, daß es in unserer Welt sehr viel Elend und Ungerechtigkeit gibt. Vielleicht sind wir zur Liebe gar nicht mehr richtig fähig. Überall gibt es Kriege, und in Afrika verhungern die Kinder. Der George W. Bush ist ein Schwein, und unsere Volksvertreter verarschen uns alle! Ich als Angestellter im öffentlichen Dienst in Dinslaken kann da‐ gegen natürlich nichts ausrichten, aber ich habe schon dieses eine Buch von Michael Moore bis zur Hälfte gelesen und er‐ nähre mich einen Tag im Monat total vegetarisch. Ich würde mich freuen, wenn du in meinem Gästebuch einen lustigen Kommentar hinterlassen würdest.« Direkt im Anschluß daran erschienen die Fotos von der Sonnenseite der Existenz: »Ich und Tina in Tunesien am Hotelpool«, »Ich, Heinz, Nico und Margot bei unserem Schafskopf‐Stammtisch an jedem Frei‐ tag«. Und ganz unten das übergroße Zählwerk, das Auskunft darüber gab, wie viele Gestörte diese Seite schon besucht hat‐ ten: exakt neunzehn! Es stimmte schon, das erste, was die Sucht einem nahm, war die Würde. Jeder, der heutzutage was auf sich hielt, salbaderte etwas von Würde. Doch mal ganz ehrlich, was wog schon das bißchen Menschenwürde gegen den Wunder‐Cheat für »Die Siedler von Uris«? Hugh mußte einfach auf diese Homepage, auch wenn sie im Mittelpunkt der Hölle lag. Denn vielleicht war es vorstellbar, daß in der Arktis Palmen wuchsen, jedoch wohl kaum, daß jemand sich eine Homepage einrichtete, ohne darin seine E‐Mail‐Adresse zu plazieren. Über E‐Mail würde Hugh PARADIES4 erst ganz lieb um den Cheat bitten und dann darum betteln, und falls der Kerl das Ding immer noch 113
nicht herausrückte, würde er den Polizeiausweis zücken und ihm mit Verhaftung drohen. Er klickte den Link an. Erst wur‐ de der ganze Bildschirm dunkel. Dann kam ein Zweizeiler in weißen Lettern zum Vorschein. WILLKOMMEN GESELL IN DIESEM BORDELL! Nach ein paar Sekunden verschwand der Spruch, und ein Text auf braunem Hintergrund erschien. Kein Firlefanz mit blinkenden Lichtern und auf der Stelle rennenden Comicfigu‐ ren, keine Überschrift, kein Autorenname, keine Rubriken, kein Gästebuch, keine E‐Mail‐Adresse, keine Fotos, nur Text und sonst gar nichts. Hugh brauchte ein Weilchen, bis er ka‐ pierte, daß es sich bei der Seite um ein Weblog handelte. Ein Weblog oder Blog, ein Kunstwort aus »Web« und »Logbuch«, war eine Art Online‐Tagebuch. Weltweit gab es Millionen Internetnutzer, die auf diese Weise das Weltgeschehen oder auch nur ihr eigenes Leben kommentierten und diskutierten, oft in täglichen Einträgen, immer aber subjektiv. Noch ein Weilchen später begriff Hugh, daß er es im vorliegenden Falle auch nicht mit einem gewöhnlichen Weblog zu tun hatte. Die Datumsangabe stammte aus einer Zeit, als das Internet noch im Aufbau begriffen und so etwas wie ein Weblog wenig be‐ kannt war. Zudem ließ der Inhalt die Frage offen, ob der Ver‐ fasser der Online‐Gemeinde eine Erinnerung, eine Phantasie, eine Provokation oder seine ersten literarischen Gehversuche darbot. Als Hugh den Text fertiggelesen hatte, schwankte er zwi‐ 114
schen Faszination und Ekel. Eins stand fest: Das Beschriebene ließ ihn nicht kalt. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Zwar wurde weder eine kriminelle Handlung beschrieben, noch hätte der Stoff eine solch beunruhigende und seltsam erregende Wirkung entfaltet, wenn er nicht schriftlich fixiert worden wäre. Dennoch glühte etwas Dunkles darin, etwas sehr Bedrohliches, wie in einer Raubkatze trotz ihrer Anmut und der Geschmeidigkeit. Es war eigenartig, PARADIES4 hatte ihm nun ein größeres Rätsel aufgegeben als mit seinem Vorgehen im Spiel. Mehr noch, er hatte ihn mit dem Zusatz Fortsetzung folgt am Textende zu einer neuen Sucht verleitet. Hugh bereute zum ersten Mal in seinem Leben, daß er sich zur Beruhigung keine Zigarette anstecken konnte. Aber ihm fiel ein, daß von gestern nacht noch eine halbe Flasche Weiß‐ wein im Kühlschrank stand. Er schenkte sich ein Glas ein, dann begann er, den Eintrag noch einmal zu lesen … 25.6.1999 /MUSCHEL Schlendere die Landstraße entlang, so gut aufgelegt wie lange nicht. Weil ich weiß, was gleich kommt. Ich kenne das Ge‐ heimnis, ihr Geheimnis, nur ich. Schlendere die Landstraße entlang mit einem Honigkuchenpferdlächeln im Gesicht wie ein Menschendarsteller aus der Vitaminpillen‐Reklame: Wo‐ chenende, gut gefrühstückt, Vollkornbrot und Marmelade aus freilaufenden Erdbeeren, fester Stuhlgang von mindestens einem Pfund, und dann auch noch Sonne am Sonntag. Also, 115
wenn das nicht der Sinn des Lebens ist! Fehlt nur noch, daß mir Rentner in diesen schwulen engen Radlerhosen auf Mountainbikes entgegenrauschen. Das Idyll! Um mich herum Weizenfelder, soweit das Auge reicht. Alles gerade wie Bürstenhaarschnitt. Früher war die Landschaft bestimmt etwas hügelig; hier und dort ragte aus dem Acker vielleicht eine einsame, knorrige Eiche hervor oder befand sich ein kleines Wäldchen am Rande. Ja, ja, der alte Bauer hat‐ te noch Respekt vor der Natur, auch wenn der Drecksack ihr nach und nach Teile ihres Körpers amputierte wie ein uner‐ sättlicher Transplantationschirurg. Scheißflurbereinigung! Ich schaue zum Himmel empor und sehe Gott. Sein Gesicht formt sich aus Schäfchenwolken. Er lächelt mir zu. Wie im‐ mer. Aus seinem Mund und den Nasenlöchern wabert glei‐ ßendgoldener Brodem, und sein Antlitz wird von neckischen Funken umspielt. Seltsam, daß Gott haargenau wie Opa aus‐ sieht. Gütig und ganz, ganz lieb. Mit sieben habe ich Opa da‐ bei zugesehen, wie er Otto, seinen klapperigen Gaul, mit ei‐ nem Knüppel fast totprügelte, weil der wieder nicht pariert hatte. »Opa, man darf Tiere nicht schlagen«, sagte ich. »Doch«, erwiderte er. »Man darf alles schlagen, ja sogar töten, was böse ist.« Danke für den Tip! Im gleichen Jahr offenbarte ich meiner Mutter, daß Gott zu mir spricht. Sie meinte, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Gott würde nur zu denjenigen sprechen, die beson‐ ders heilig wären, zum Beispiel zu Propheten, oder zu denen, die eine heilige Begabung besäßen. Ich nannte ihr meine heili‐ ge Begabung. Sie bekam einen Wutkoller und brüllte, am lieb‐ 116
sten würde sie meinen Mund mit Kernseife auswaschen. Dann schleppte sie mich zum Psychologen der Caritas. Das war lustig. Der Kerl war Kettenraucher und lief während der einen Stunde, in der er mir unter Zuhilfenahme einer lachhaf‐ ten Handpuppe irgendwelche verschütteten Traumata aus der Nase ziehen wollte, vor lauter Entzugserscheinungen ganz rot an. Ich machte mir einen Spaß daraus, die Sitzungen künstlich in die Länge zu ziehen, damit er nicht an sein geliebtes Niko‐ tin rankam. Er fragte mich, was Gott zu mir spreche. Ich ver‐ riet es ihm. Daraufhin drohte er, mich in ein spezielles Kran‐ kenhaus einliefern zu lassen (damals ahnte ich es nur, heute weiß ich, daß er damit die Psychiatrie gemeint hatte), wenn ich weiterhin auf der Zwiesprache mit Gott beharre. Also fand bei mir eine spontane Heilung statt. Jedenfalls glaubten sie das alle. Danach sprach ich nicht mehr in der Öffentlichkeit mit Gott, sondern nur noch in meinem Grab. Gott sagt, und dabei bewegt er seine wulstigen Wolkenlip‐ pen gemächlich wie in Zeitlupe, daß sie jetzt kommen. Und tatsächlich, als ich den Blick zurückwende, taucht auf der sonnenflirrenden Landstraße, die die Weizenödnis wie ein Schwert in zwei Teile zerschneidet, der Landrover auf. Sie denken, ich weiß von nichts. Sie denken, ich sei irgend so ein blöder Schwanz, den sie sonst immer von der Straße aufga‐ beln. Dabei bin ich doch ihretwegen hier, genauer gesagt, we‐ gen ihr. Ich habe die Bücher des Ziegenbocks gelesen und mir so meine Gedanken gemacht. Sein Gesicht ist mir vom Auto‐ renfoto auf dem Schutzumschlag seiner Bücher bekannt. Er wirkt darauf staatsmännisch, geradeso, als wolle er gleich eine 117
Rede zur Lage der Nation halten. Muschel dagegen habe ich in einer Literaturzeitschrift entdeckt. Ein Schnappschuß, wie sie anläßlich einer Preisverleihung an seiner Seite auf der Bühne steht. Obwohl das Bild überbelichtet war und sie sehr unvorteilhaft herüberkam, ging sie aus meinem Casting als die Gewinnerin hervor. War ja klar. Ich habe ein wenig über die beiden recherchiert und dann ihre Spur aufgenommen. Was ich schließlich dann im Dorfcafé von ihnen mitkriegte, als er, sie und der Affe und der Zigeuner gemeinsam zwei Fla‐ schen Prosecco leerten, sehr zum Ärger der einheimischen Gäste schmutzige Witze rissen, schallend lachten und sich dabei unter dem Tisch gegenseitig betatschten, bestätigte mei‐ ne Vermutung aufs Vortrefflichste. Ich wußte gleich, daß es heute passieren muß. So verließ ich das Café auf ziemlich auf‐ fällige Art und Weise, wohlwissend, daß auch sie mich die ganze Zeit aus den Augenwinkeln beobachteten und mir fol‐ gen würden. Wenn ich mich nicht irre, hat mir Ziegenbock sogar zugezwinkert. Nun sind sie da. Der Landrover kommt neben mir zum Ste‐ hen. Ziegenbock sitzt am Lenkrad, neben ihm Muschel und hinten der Affe und der Zigeuner. Muschel schweigt, würdigt mich keines Blickes, schaut stur geradeaus, scheint aber in sich hineinzulächeln, als wäre sie schon bei den Wonnen, die da auf sie harren. Ihr Gesicht gleicht dem einer Schönen aus ei‐ nem Gustav‐Klimt‐Gemälde. Erhaben sind die Züge, ein biß‐ chen streng und doch so zart, Grande Dame und zugleich ver‐ spielte Nymphe. Alles an ihr ist feingliedrig. Ihre hüftlangen Haare besitzen jene magische Schwärze, die aufgebrochener 118
Steinkohle zu eigen ist: tief, tief schwarz und doch im passen‐ den Licht ölig reflektierend in Spektralfarben. Das Atembe‐ raubende aber ist ihre Haut. Sie besitzt Seltenheitswert, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der europäische Mensch durch die Vermischung unterschiedlicher Rassen in früheren Epo‐ chen, vor allem jedoch in jüngster Zeit unmerklich immer dunkler geworden ist. Diese Haut jedoch ist nicht nur von einem unbeschreiblichen Cremeweiß, sondern scheint aus der organischen Variante des Stoffes zu bestehen, mit dem die Innenschale einer Muschel ausgekleidet ist. Sie glänzt, chan‐ giert geradezu, als sei sie lackiert. Wenn es ein optisches Äquivalent von Weichheit, von weichem Fleisch gäbe, dann wäre es dieser bleiche Ton ihrer Haut. Ich stelle mir vor, daß ihre großen Schamlippen bei geringster Reibung oder unter Druck rot aufquellen. Na ja, wir werden ja sehen. Der Affe und der Zigeuner lallen dummes Zeug und lachen unmotiviert. Auch sie beachten mich nicht. »Lust auf ’ne Party?« ruft mir Ziegenbock aus dem geöffne‐ ten Fenster zu und grinst vielsagend. »Aber immer!« antworte ich und grinse zurück. Dann steige ich hinten ein. Wir fahren zirka eine Viertelstunde durch das Weizenmeer, wobei mir der Zigeuner vermittels der Halskrankheit, die er seine Sprache nennt, unentwegt Sachen ins Ohr brabbelt und dann grölend lacht. Es scheint ihn nicht im geringsten zu stö‐ ren, daß ich ihn nicht verstehe. Aber irgendwie verstehe ich ihn ja doch. Als die Dämmerung anbricht, erreichen wir einen Bauernhof ohne Bauern und ohne Tiere und ohne irgend et‐ 119
was, für das dieser Ort einmal vorgesehen war. Im Innern des großen Haupthauses ist auch nichts Rustikales zu finden. Da‐ für das recht bizarre Resultat einer Renovierung. Das Gebäu‐ de wurde entkernt, vom Boden bis zur Dachdecke sind sämt‐ liche Stockwerke und Zimmer zugunsten eines einzigen über‐ dimensionierten Raumes weggerissen worden. Das Ganze ist eine Art Bade‐Eß‐Gäste‐Arbeits‐Wohnzimmer und Küche in einem. Überall stehen abstrakte Plastiken, die an unter Hitze zerlaufenen Kunststoff erinnern. Sie werden in ihrer Häufig‐ keit nur noch von kunstvoll geschreinerten und völlig ohne System im Raum verlaufenden Gitterwänden und Paravents übertroffen. Im trüben Licht kann man durch die Öffnungen und Auslassungen im Edelholz hindurchsehen, andererseits wiederum versperren die luftigen Konstruktionen eine wirk‐ lich freie Sicht. Es ist alles wie in einem halbtransparenten Irrgarten. Der Ziegenbock läuft schnurstracks zur Bar, schenkt Was‐ sergläser bis zum Rand mit Wodka voll und verteilt sie unter uns. »Zieh dich aus«, sagt er, als er mir mein Glas überreicht. Dann verschwindet er hinter den Gitterwänden. Kurz darauf ertönt in ohrenbetäubender Lautstärke Bach, irgend so ein Celloungetüm, schwer und tief, wie sich der gute alte Johann Sebastian die Stimmungslage von Gott vorstellte. Der Affe trinkt sein Glas fast bis zum Grund leer und kommt zu mir. »Du wollen eine Tablette?« sagt er und hält mir auch schon die gelbe Pille vor die Nase. »Lindert es auch Kopfschmerzen?« erwidere ich und mache 120
ein verschmitztes Gesicht. Offenkundig ist er nun nicht mehr zu Späßen aufgelegt und starrt mich mit seiner grobschlächtigen Visage an, ohne auch nur einen einzigen Gesichtsmuskel zu verziehen. Er gehört zu den Männern, die zweimal am Tag eine Rasur benötigen. Be‐ reits jetzt zu Mittag sprießt ihm ein pechschwarzer Schatten aus den Backen. Ich nehme die Pille und schlucke sie herun‐ ter. Wer weiß, wofür sie gut ist. Muschel hat sich in der Zwischenzeit hingekniet und fingert am Hosenschlitz des Zigeuners herum. Ihre seidenen schwar‐ zen Haare reichen ihr bis zum Hintern, und in ihrem pastell‐ beigen Trägerkleid und der grotesk sakralen Pose gleicht sie einem einfältigen Mädchen, das irgendwelcher eingebildeter Sünden wegen Jesus Christus am Altar um Vergebung bittet. Zum Vorschein kommt ein beschnittener Schwanz, der sogar einem Esel zur Zierde gereichen würde. Der Apparat ist das größte menschliche Geschlechtsorgan, das mir je unterge‐ kommen ist. Allein die tiefrotglühende Eichel besitzt fast das Volumen eines Tennisballs. Es ist noch nicht ganz steif. War‐ ten wir es also ab. »Bring ihn zum Fliegen!« ruft Ziegenbock aus den Weiten des Labyrinths. »Bring ihn ganz hoch zum Fliegen!« Ich genehmige mir einen gehörigen Schluck aus dem Glas und ziehe mich langsam aus. Im Wechselspiel mit der Wir‐ kung der Pille verursacht der Alkohol ein ambivalentes Ge‐ fühl. Ich könnte vor Kraft und Euphorie Galaxien erschaffen und gleichzeitig wie der dämlichste Sentimentalist in Anbet‐ racht der Schönheit dieser Welt in Tränen ausbrechen. Ich 121
trinke weiter und lege dabei ein Kleidungsstück nach dem anderen ab. Nun sehe ich auch Gott wieder. Er sitzt, vielmehr schwebt, im Schneidersitz auf einer der mißförmigen Plasti‐ ken und lächelt mir wie gewohnt kontemplativ zu. Er ist von einer silbrigen Korona umrahmt wie Buddha auf dem Kitsch‐ poster und scheint irgendwie selber total scharf zu sein. »Na, was hab ich dir versprochen?« sagt er. Und dann: »Denk an deine Bestimmung!« Ich strecke als Zeichen meines Einverständnisses den Dau‐ men empor. Ziegenbock schleicht derweil wie ein Gespenst auf Amphetamin zappelig hinter den Gitterwänden umher und riskiert gierige Blicke durch die Löcher. Man weiß nie, wo er gerade steckt, weil er ständig seine Position ändert. Nur das Weiß seiner Augen blitzt gelegentlich in der Dunkelheit auf, manchmal auch ein Augenpaar, das wie das eines nachtakti‐ ven Tieres zu phosphoreszieren scheint. Ich glaube, er hat jetzt auch eine dieser neumodischen digitalen Kameras dabei, de‐ ren Objektiv er bisweilen durch die Löcher schiebt. Er filmt uns alle. Was mich betrifft: A star is born! Der Zigeuner wichst sich unterdessen schon mal warm. Er massiert sein schweres Ding mit der Hingabe eines Meister‐ melkers und gibt dabei ein gleichmäßiges Grunzen von sich. An der Harnröhrenöffnung bildet sich bereits klarer Schleim. Schließlich nimmt Muschel ihm die Arbeit ab. Sie legt ihre schneeweißen Hände um den bräunlich schimmernden Rie‐ senpenis, knetet ihn ein bißchen und stopft ihn sich dann in den Mund. Obwohl sie einen sehr großen Mund besitzt, scheint das Ding am Anfang nicht hineinpassen zu wollen. 122
Erst als der Zigeuner ihren Hinterkopf mit einer seiner Pran‐ ken stützt und dann mit ein paar kräftigen Beckenstößen nachhilft, findet der Kolben seinen natürlichen Rhythmus und erlangt zum guten Schluß seine vollendete Härte. »Schneller! Schneller!« blökt Ziegenbock aus seinem finste‐ ren Labyrinth. »Nicht nachlassen jetzt!« Wie anbetungswürdig sie in dieser Haltung aussieht, wie ein Archetypus ihres Geschlechts, wie »Die Geburt der Venus« von Botticelli oder die Heilige Jungfrau mit dem Gottessohn im Arm. Ach ja, die junge Frau … Eigentlich ist sie kein Mensch im geläufigen Sinne, sondern ein Werkzeug Gottes zur Vollstreckung seines unergründlichen Plans. Die fruchtba‐ re junge Frau ist das, worum sich das Weltgeschehen bestän‐ dig dreht und drehen wird immerdar. Wir alle kommen aus ihrem Loch, und das ist auch alles, was von uns eines Tages übrigbleiben wird: sinnlose, blutende Löcher in der Nacht. Jetzt hat sich auch der Affe freigemacht. Der Anblick meiner Geliebten hat mich abgelenkt, so daß ich seinen Striptease gar nicht mitbekam. Er sieht aus wie, na ja, wie ein Affe halt aus‐ sieht. Man müßte im Sommer bestimmt fünftausend Freibäder durchkämmen, um einen derart behaarten Erdensohn zu fin‐ den. Ihm wachsen aus jedem Körperteil schwarze Haare, und das büschelweise: aus dem Hals, der Brust, den Armen, dem Bauch, den Schultern, dem Rücken, den Beinen, aus dem Arsch, einfach überall. Die Anschaffung eines Wintermantels ist für so einen Zeitgenossen die reinste Geldverschwendung. Sein Schwanz kann mit dem des Zigeuners natürlich nicht mithalten. Dafür kann er mit einem wahren Schamhaarinferno 123
aufwarten, das selbst seinen Sack wie das Nest eines düsteren Vogels umschließt. Er begibt sich zu Muschel, kniet sich neben sie und beginnt sie zu entkleiden. Während sie ihren stummen Dienst am Zi‐ geuner verrichtet, sogar die Finger zu Hilfe nimmt, um seine Eier zu kitzeln oder sein Ding zusätzlich zu stimulieren, ver‐ hilft ihr der nackte Affe zu ihrer wahren Präsenz. Es ist so, als würde man einem Zauberer bei einem verblüffenden und doch mit beispielloser Eleganz an Fingerfertigkeit vorgeführ‐ ten Trick zuschauen. Mit nur wenigen Handgriffen schält er sie aus ihrem Sommerkleid und – tja, danach ist in dieser Sa‐ che sowieso nichts mehr zu verrichten, denn sie trägt weder BH noch Slip. Meine Begabung läßt mich gelegentlich auch erahnen, wie es um die eigentliche Beschaffung des Gefäßes steht. Die freudige Ahnung wird in diesem Fall von der Wirklichkeit weit über‐ troffen. Ihre im Rhythmus wackelnden Brüste sind groß, al‐ lerdings von jener Kontur, wie sie ein Architekt als Lanzettbo‐ gen zu bezeichnen pflegt. Will sagen, was ungeheuer massig anfängt, wölbt und verjüngt sich sehr schnell zu den dau‐ mendicken Brustwarzen, so daß das Resultat eben nicht mit einem mit Wasser gefüllten Luftballon zu vergleichen ist, sondern eher mit einem mit Wasser gefüllten Präservativ. Obwohl die Physik für solch eine Konstruktion eine natürliche Träge vorgesehen hat, heben sich ihre Busen stolz und fest vom Körper ab. Sie ist schlank, doch nach der Grenzüberschreitung der Hüf‐ te abwärts wird ihr Arsch unversehens, geradezu auf aufse‐ 124
henerregende Weise zu einem mächtigen Planeten, auf dem nur die kühnsten Astronauten landen mögen. Gebärfreudig nennt man diese Beckenlinie wohl. Weil sie eine gebückte Hal‐ tung einnimmt, sehe ich die ganze Pracht von hinten. Ihr feucht glänzender purpurner Schlitz, dessen Umgebung nur mäßig rasiert ist und aus dem die kleinen Schamlippen he‐ rauswachsen wie der Kelch einer psychedelischen Blüte, ist eine sämtliche Männersehnsüchte absorbierende Schlucht. Etwas darüber die Rosette, die, wie ich es mir schon gedacht habe, bei diesem überhellen Hauttyp rosa schimmert. Ziegenbock gibt aus dem Hintergrund Laute von sich, die sich nach schlimmem Schluckauf anhören. Allerdings kom‐ men die Hickser in sehr kurzen Abständen, sind abnorm laut und derart in die Länge gezogen, als parodiere er einen Schluckauf. Der Affe positioniert sich hinter Muschel, schlägt ihr mit sei‐ nem aufgerichteten Schwanz ein paarmal gegen die Möse, als wolle er sie für irgendwas bestrafen, steckt ihn anschließend hinein und beginnt sie dann zu ficken. Sie bläst und wird ge‐ fickt, und das ohne sichtliche Probleme und eine ziemliche Weile lang. Währenddessen wird Ziegenbock mit seiner Per‐ siflage von einem Schluckauf immer hysterischer, versteigt sich zwischendurch sogar zu einer Art Wolfsgeheul. Johann Sebastian Bach fährt mit seinem Cellosong für Gott ungerührt fort, als wäre nichts passiert, begibt sich sogar in noch dunklere Tongefilde, als müsse er einen Besinnlichkeits‐ rekord aufstellen. Dann kommt es zum Positionswechsel. Der Zigeuner streckt 125
sich rücklings auf dem Boden lang. Sein Schwanz ragt wie ein archaischer Leuchtturm auf rauhem Gefilde himmelwärts, während seine überlangen Arme in die Höhe fahren und seine Hände Muschels Becken von hinten ergreifen. Er zieht sie zu sich herunter und fährt in sie hinein. Ich bemerke jetzt, daß ihre großen Schamlippen und die Peripherie inzwischen tat‐ sächlich rot aufgequollen sind. Und noch etwas springt mir ins Auge, als sie, ihren exorbi‐ tanten Arsch dem Steuermann zugewandt, mit breitgespreiz‐ ten Beinen ihre Muschi an dem Riesenrohr auf‐ und abflut‐ schen läßt: Aus der den Schlitz abschließenden winzigen Fleischhöhle oben, die einem putzigen Dach für ihr Ge‐ schlechtsorgan ähnelt, hat sich ihr Kitzler herausgetraut. Sieht schon aus wie ein kleiner Pimmel. Vielleicht hat sie wirklich Spaß an dem Ganzen. Der Affe steht unmittelbar neben ihr und masturbiert in Richtung ihres Gesichts, wobei er zwischendurch sein Ding an ihren Lippen und Wangen reibt. Das alles geht wieder ewig so weiter, und Ziegenbock in seinem verrückten Irrgang über‐ schlägt sich während der ganzen Zeit mit schrillen Geräu‐ schen, als ersticke er an einer Gräte. Schließlich ejakuliert der Affe Muschel ins Gesicht. Es ist keine geringe Ladung, die aus der Spritzpistole unseres ausländischen Mitbürgers herausge‐ schossen kommt. Als das Zeug auf ihrem kalkweißen Engels‐ antlitz explodiert, fliegen viele sämige Spritzer auf ihre Haare, ihre Ohren und auf den Hals. Sie reagiert darauf nicht, jeden‐ falls nicht so, wie man es von den Pornos her gewohnt ist. Sie reibt sich die Soße nicht mit lüsternem Ausdruck auf ihrem 126
Gesicht herum und verstreicht sie auch nicht auf ihren Titten mit den steifen Nippeln. Sie läßt sich von dem Zigeuner ein‐ fach beharrlich weiter ficken, während es von ihren Oberli‐ dern und der Nasenspitze heruntertropft wie heißes Wachs vom Rand einer Kerze. Dafür ist jetzt Ziegenbock ganz aus dem Häuschen. Wenn es überhaupt eine sprachliche Steigerung zu seiner eh schon überdrehten Gemütsverfassung gibt. »Das Öl!« kreischt er so gellend los, als rufe er nach der Feuerwehr. »Schnell, das Öl! Schnell, das Öl!« Der Affe rennt mit noch tröpfelndem Schwanz sofort los, verschwindet in der Verschachtelung der Gitterwände und kommt nach ein paar Sekunden mit einer dunkelgrünen Fla‐ sche zurück. Auf dem Etikett glaube ich griechische Buchsta‐ ben zu erkennen. Die Redensart »Öl aufs Feuer gießen« be‐ kommt jetzt eine doppelsinnige Bedeutung, denn der Inhalt der Flasche ist griechisches Olivenöl. Der Zigeuner stöpselt sich aus Muschel heraus, und diese nimmt erneut die Hundestellung ein. Beide Männer ergreifen die Flasche und gießen ihr das Öl so sorgsam über die Arsch‐ spalte, als wären sie Chemiker bei der Ausführung eines Jahr‐ hundertexperiments. Dann schiebt der Zigeuner sein Ding bequem in ihr Arschloch hinein. Nicht allein die Vagina ist enorm dehnbar, you know. Jetzt plötzlich gibt Muschel ver‐ nehmliche Seufzer von sich. Ob der Lust oder der Pein, das ist ungewiß. Der Affe steht dabei ziemlich verloren da, und aus reiner Verlegenheit oder Langeweile beginnt er wieder zu masturbieren. Dabei schauen mir alle drei direkt und so fuch‐ 127
sig in die Augen, als wäre ich ein Pfarrer, der sie bei einer blasphemischen Tat in der Kirche erwischt hat. Der Zigeuner fickt Muschel so hart in den Arsch, daß sie zu wimmern anfängt. Der unsichtbare Ziegenbock gibt zur Ab‐ wechslung so etwas wie eine Abfolge von Kichern von sich, was sich aber auch nicht sonderlich anders anhört als das kranke Gewürge davor. Der Affe hat durch die fleißige Handmassage sein Ding inzwischen wieder komplett aufge‐ richtet. Ich werde allmählich unruhig, weil ich weiß, daß mein Einsatz unmittelbar bevorsteht. Gott erscheint zwischen mir und den Agierenden wie ein Hologramm aus Star Wars. Er trägt den zerschlissenen alten Pyjama, den Opa im Sterbebett zuletzt trug, sein Gesicht ist übersät mit weißen Bartstoppeln, und er glotzt mich traurig an. Irgendwie auch skeptisch, weil er mir mein Gelübde wohl nicht so richtig abnimmt. Na, der wird sich wundern! »Jetzt du!« befiehlt Ziegenbock schließlich donnernd. Es trifft mich wie ein elektrischer Schlag. Der Anblick der drei Genitalartisten hat mich derart gefesselt, daß ich nicht mehr abschätzen kann, wie lange sie schon zugange sind. Vielleicht spielt mir auch die Wirkung der Pille wahrneh‐ mungstechnische Streiche. Ziegenbocks Ruf reißt mich jeden‐ falls schlagartig aus der Trance heraus, und ich marschiere los wie ein just eingeschalteter Roboter. Auf meinem Weg ist mir der transparente, im bläulichen Neon leuchtende Gott im Py‐ jama im Wege. Ich gehe einfach durch ihn hindurch. Und als ich das tue, beginne ich selbst wie verrückt zu leuchten, bläu‐ lich zu illuminieren, als ob man mich mit so einem modernen 128
Leuchtstoff überschüttet hätte. Ich beginne zu brennen, so‐ wohl äußerlich als auch innerlich. Dabei habe ich die Sorge, daß die anderen das merken könnten. Aber es scheint über‐ haupt nicht der Fall zu sein. Der Zigeuner zieht seinen Schwanz mit monotoner Erleichterung aus Muschels Ar‐ schloch heraus, als hätte er die Fabriksirene zum Feierabend vernommen. Er gesellt sich zu seinem haarigen Kumpanen und überläßt mir neidlos das Feld. »Ficken und abspritzen!« ermahnt mich Ziegenbock aus sei‐ nem finsteren Reich. Und nach einer kleinen Verzögerung, geradeso, als hätte er beinahe das Wichtigste vergessen, sagt er noch: »Draußen abspritzen!« Mein Schwanz pocht schmerzvoll wie der eines Sechzehn‐ jährigen nach einem feuchten Traum. Ich nähere mich Mu‐ schels Muschi von hinten. Es ist eine Weile her, daß sie sie rasiert hat. Und das macht die Sache noch aufregender. Ein Wald von schwarzen Stoppeln erwartet mich, in dessen Zent‐ rum mich ihr Genital gleich einem Abgrund für Selbstmörder hypnotisch anschaut. Ihr Arschloch steht nach der Traktie‐ rung des Zigeuners noch ein wenig offen. Ich dringe in sie ein und spüre augenblicklich die geballte Kraft Gottes in jeder einzelnen meiner Fasern. Ich weiß, er ist jetzt ganz nah bei mir und wird mich leiten. Dann schmiege ich mich an ihren weichen Muschelleib und verschaffe mir festen Halt, indem ich ihre Busen von unten ergreife. Mit Zeigefinger und Daumen zerre ich an ihren Brustwarzen. Schließlich beginne ich zu stoßen. Trotz der zu‐ rückliegenden Anstrengung riecht sie immer noch unglaub‐ 129
lich, unglaublich frisch und ganz nach Frau, wie es fraulicher nicht sein kann. Eine Art Inhalationsdroge, die einen einlullt und entführt in eine bessere Welt. Aber um ehrlich zu sein, interessiert mich dieser Duft weniger, denn ich bin ja Realist. Meine Begabung ist für etwas anderes vorgesehen und ge‐ währt mir Zugang zu einem anderen Duft – zu dem, auf den es ankommt. Neonbläulich ist mein Penis, der unermüdlich in ihre feuchte Höhle hineinfährt und wieder zurückflutscht. Bis zur Gebär‐ mutter wird er es leider nicht schaffen, aber wie unter dem Mikroskop sehe ich, daß sich aus den klaren Lusttropfen, flink gleich Nachtgestalten, die ersten Spermien lösen und einen Sprint zum Muttermund absolvieren. Sie werden den sper‐ miumfeindlichen Schleim in dieser Gegend für die Nachhut neutralisieren. Ich hebe den Kopf und sehe, daß der Affe und der Zigeuner wie zwei Wachsoldaten vor Muschel stehen und ihre ange‐ schwollenen Schwänze abwichsen. Ich würde lügen, wenn ich sagte, daß mich der Anblick kaltließe. Muschels Hinterkopf fährt bei jedem meiner Stöße ruckhaft in die Höhe, und ir‐ gendwie sieht das Ganze so aus, als dirigiere sie auf diese Weise die beiden Latten. Ziegenbock im Labyrinth strebt nun offenkundig ebenfalls seinem Gipfel entgegen, denn er hat einstweilen eine andere Platte aufgelegt. Anstatt des siechen Gekrächzes stimmt er einen dunklen, kehligen Singsang wie aus dem Munde eines Medizinmannes an, voller unverständ‐ licher, wie rückwärts ausgesprochener Worte. Wir alle sind jetzt auf dem Weg zum Himmel. Wir alle, Mu‐ 130
schel, Ziegenbock, der Zigeuner, der Affe, ich sind jetzt Galee‐ rensklaven, die auf dem Höhepunkt von Endorphinen und körpereigenen Opiaten überschüttet werden. Sie entheben uns jeglicher Schmerzen, machen uns herkulisch, lassen uns mit doppelter Geschwindigkeit an den schweren Rudern reißen und so dem göttlichen Ziel sekündlich näher kommen. Apro‐ pos göttlich: Gott sitzt an meiner Seite im schäbigen Pyjama von Opa und verfolgt meine Aktivität mit teils mißmutigem, teils ungläubigem Blick. Nicht einmal die Tatsache, daß ich inzwischen fast noch intensiver bläulich phosphoresziere als er, scheint ihm eine Anerkennung wert. »Du hast es mir versprochen«, sagt er, und seine Stimme echot tausendfach im riesigen Raum, verschmilzt mit Ziegen‐ bocks absonderlichem Geleier, wird zur gesungenen Andacht. »Du hast es mir versprochen. Du hast es mir versprochen …« Wir kommen alle gleichzeitig. Der Zigeuner, der Affe, ich, womöglich sogar Muschel und, nach seiner sich plötzlich überschlagenden Stimme zu urteilen, auch Ziegenbock im Hintergrund. Die Erfüllung eines sturzdummen Frauen‐ traums: Schatz, laß uns gleichzeitig kommen! Der Zigeuner und der Affe schleudern beachtliche Sperma‐ stränge durch den Raum. Für den Bruchteil einer Sekunde sieht es aus, als kotzten winzige Münder mit was weiß ich wieviel Atü Babynahrung aus. Das Zeug fliegt hoch durch die Luft und besprenkelt unsere allerliebste Dame wie der Inhalt einer explodierten Cremedose. Auch ihre Haare und ihr gan‐ zer Rücken bleiben von dem Bombardement nicht verschont. Sogar ihre Pobacken, stelle ich mit Erstaunen fest, bekommen 131
etliche Spritzer ab. Ich dagegen wähle den konservativen, um nicht zu sagen, den biederen Weg. Mein blauer Penis flutet Muschels Ge‐ burtskanal mit dem Millionenheer meiner »Jungs«. Auch sie leuchten blau in der Finsternis wie zu Atomgröße geschrump‐ fte Glühwürmchen, und sie treiben mit ihren zappelnden Schwänzchen in Richtung Gebärmuttermund. Der Großteil von ihnen gibt hier den Geist auf. Versager! Die wenigen Tap‐ feren erreichen die Gebärmutter, und davon wiederum schafft es nur noch ein lächerlicher Rest schließlich zu Muschels Eilei‐ ter. Sie schwimmen gegen den Flimmerstrom dem Ei entge‐ gen. Nur einer von ihnen dringt am Ende in das verdammte Ding hinein. Jetzt ist es Gott, der mir respektvoll seinen Daumen empors‐ treckt. Er lacht dabei süffisant, als hätte ich einen schmutzigen Witz gerissen. Ziegenbock beginnt ohrenbetäubend zu bellen, weil ich mich nicht an seine Anweisung gehalten habe, und kommt mit der blöden Kamera in der Hand aus seinem Labyrinth herausge‐ stürmt. Sein in Zornesfalten verzerrtes Gesicht gleicht einem mehrstöckigen Parkhaus, das bei einem Erdbeben in der Mitte in sich zusammengesackt ist. »Ich hab’ doch gesagt, draußen abspritzen!« brüllt er. »Draußen abspritzen!« Da läßt sich Muschel auf ihrem Hintern nieder, dreht sich mir zu und gebärdet sich ebenfalls fuchsteufelswild. Sperma‐ fäden ziehen sich über Augenbrauen und Nase erdwärts, träu‐ feln kontinuierlich auf ihre wunderhübschen Busen und auf 132
ihren Bauch. Von der ganzen Fickerei sieht ihr Unterleib in‐ zwischen aus, als hätte man ihr dort eine Wunde zugefügt. »Kannst du nicht aufpassen, du Scheißkerl?« sagt sie. »Gib mir eine Antwort! Kannst du nicht sprechen? Oder kannst du nur ficken?« Irgend etwas in ihrem von Verachtung entstellten Gesicht erinnert mich plötzlich an Mutti. Ich erinnere mich an eine Zeit, da war ich so, ich war klein, was weiß ich, vier oder fünf Jahre alt. Wir hatten diese alte Hündin, die hatte gerade Wel‐ pen gekriegt. Und ich kam ins Badezimmer irgendwann und traf auf meine Mutter. Und sie kniete da, und, ja, da waren die Welpen, ungefähr acht. Und meine Mutter beugte sich über sie und brachte jeden einzelnen von ihnen in der Badewanne um. Und ich weiß noch, wie ich fragte: »Wieso?« Sie sagte: »Ich muß das töten, um was ich mich nicht kümmern kann.« Dann sagte meine Mutti zu mir, sie sah mich dabei unglück‐ lich an und sagte: »Ich wünschte, das könnte ich mit dir auch tun!«
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8. Als Richard Claudius an der Haustür klingelte, hatte er ein gutes Gefühl. Das Leben, seins und das von Erika, dieser einst so flotte und fröhliche Zug, der auf halber Strecke aufs schlimmste entgleist war, konnte nun vielleicht doch wieder auf ein stabiles Gleis kommen. Vor allem auf ein ruhiges. Selbst um den Preis, daß sie den geliebten letzten Waggon ein für allemal würden abkoppeln müssen. Die Straße, in der seine von ihm geschiedene Frau wohnte, gefiel ihm. Sie lag in einem bürgerlichen Viertel. Keine Rei‐ chengegend, aber auch kein Armenghetto. Hier ein kleiner Gemüseladen, dort ein schickes Café, direkt gegenüber ein Videoverleih, gleich daneben ehrwürdige Altbauten, in denen Anwaltskanzleien und Arztpraxen residierten. Junge Mütter schoben auf dem Gehweg ihre Kinderwagen vor sich her, gutgekleidete Alte zogen ihre Einkaufskarren hinter sich. Er und Erika hatten damals auch zusammen in einer solch ange‐ nehmen Straße gewohnt. Wenn man von seinen gelegentli‐ chen Alkoholabstürzen einmal absah, waren sie damals bis an den Rand eines Rausches glücklich gewesen. Sie hatten ihren Sohn großgezogen und zuversichtlich in die Zukunft geblickt. Bis irgendwann alles in einen Alptraum gekippt war, den sich Autoren von Horror‐Romanen nicht hätten grausamer ausma‐ len können. Das Wetter war in der Nacht umgeschlagen. Jetzt um acht Uhr am Morgen blies ein steifer Wind, der die toten Blätter 134
von den Bäumen pflückte und über die Straße wirbelte. Die strahlende Sonne des Vortages hatte sich eine diesige Maske aufgesetzt und war um merkliche Grade erkaltet. Der Herbst hatte schon einen Fuß in der Tür. »Ich bin’s!« sagte Claudius, als über die Gegensprechanlage die Frage kam, wer Einlaß verlange, und sofort ertönte das Summen des Öffners. Er hatte den Wintermantel gegen eine graubeige Wildlederjacke ausgetauscht, die allerdings Hugh und verwandte Zeitgenossen von der Modepolizei auch nicht gerade zu Beifallsstürmen hingerissen hätte. Zumindest trug er darunter ein sauberes weißes Hemd und eine gutsitzende Anzughose. Er hoffte nur, daß die Sachen Erika nicht allzu bekannt von früher vorkamen. Während er sich anschickte, über die spiralförmige Holz‐ treppe die drei Stockwerke zu nehmen, dachte er über gestern abend nach. Das Wiedersehen mit der alten Wohnung war völlig anders gewesen als befürchtet. Es hatte für ihn sogar eine dicke Überraschung bereitgehalten. Nachdem ihn Hugh mit den vielen Akten vor dem Haus abgesetzt hatte, waren noch zwei quälende Zigarettenlängen im Treppenhaus nötig gewesen, um seine Angst vor dem Betreten der Wohnung zu bannen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was genau er hier in den Wochen seines Totalausfalls vor acht Monaten genau getrieben hatte. Ihm schwante jedoch, wie sich das, was sich in dieser Erinnerungslücke verkapselte, auf den Zustand der Räumlichkeiten, insbesondere in bezug auf Ordnung und Hygiene ausgewirkt haben mochte. Schließlich ging er doch hinein und – wurde blaß vor Ers‐ 135
taunen. Nicht nur, daß das erwartete Chaos fehlte, nein, noch nie hatte die Bude vor Reinheit derart geglänzt, war sie so tadellos aufgeräumt gewesen. Das blankpolierte Mobiliar und die anderen Sachen, all die Vasen und Tischleuchten, schienen wie von einem Innenarchitekten in die gefälligste Position arrangiert. Es roch sogar nach Tannenduft aus einem Raum‐ spray. Drauf und dran, sich mit dem Glauben an die Existenz von Heinzelmännchen anzufreunden, ging ihm plötzlich auf, wer einzig und allein für solch eine rigorose Säuberung ver‐ antwortlich zeichnen konnte: Hartmut Weinstein, sein ewig sauberer Chef! Dieser Pedant hatte ihm sicher zu seiner Ent‐ lassung aus der Klinik eine Putzkolonne in die vermüllte Wohnung geschickt, wohlwissend, daß deren Anblick sein »As im Ärmel« nur demoralisieren würde. Claudius stand noch lange inmitten seines wie von der Putz‐ fee geküßten Wohnzimmers und konnte sich nicht so recht entschließen, ob er tiefe Dankbarkeit empfinden oder nicht besser sofort zum Telefonhörer greifen und dem Kerl ordent‐ lich die Meinung geigen sollte. Denn auch wenn die Sache eine segensreiche Tat war, haftete ihr doch etwas von der Auf‐ räumaktion einer Mutter im Kinderzimmer an. Fehlte nur noch, daß man ihm Essen auf Rädern nach Hause schickte! Etwas später hatte Claudius sich wieder beruhigt, über einen Lieferservice eine Pizza Calzone bestellt und war dann erneut über den Akten versunken. Natürlich förderte die ganze Ak‐ tenfresserei, die ohne diesen abstinenzlerischen Hugh mit einem geradezu orgiastischen Nikotinkonsum einherging, keine neuen Erkenntnisse zutage. Eigentlich war das auch gar 136
nicht der Zweck der Übung. In Wirklichkeit wollte er durch das wiederholte Studium des Materials, quasi mit dem Brech‐ eisen, jenes brisant scheinende Detail aus seiner Erinnerung hochholen, das ihm anfangs wie eine grelle Reflexion ins Au‐ ge gesprungen, im nächsten Moment jedoch so heimtückisch verschütt gegangen war. Was ihm natürlich nicht gelang. Schon um zweiundzwanzig Uhr zeigte die eingespielte Routi‐ ne aus der Anstalt ihre Wirkung, und er fiel in einen traumlo‐ sen Schlaf. Er hatte in der ganzen Zeit kein einziges Mal an Alkohol gedacht. Erika erwartete ihn oben an der geöffneten Tür mit einem warmen Lächeln. Herr im Himmel, hatte die Frau sich erholt! Sie war jetzt fünfzig, hätte aber locker als eine flotte Vierzig‐ jährige durchgehen können. Als damals die Katastrophe über sie hereingebrochen war wie ein in sich zusammenstürzender Damm, hatte sie mit ihrer zu einer Maske versteinerten Lei‐ densmiene stets wie ihre eigene Großmutter ausgesehen. Je weiter weg von Richard Claudius, schoß es ihm durch den Kopf, desto deutlicher der Verjüngungseffekt bei den Damen. Sie hatte die brünetten langen Haare wie zu jener Zeit, als sie sich gerade kennengelernt hatten, zu einer diagonal verlau‐ fenden Schnecke frisiert. Die antiquierte Steckfrisur verlieh ihr den Glanz einer versunkenen Frauenära, in der das Weibliche mittels ästhetischem Raffinement betont worden war. Ihr ko‐ baltblauer Kleiderrock mit kurzen Ärmeln und sparsamem Ausschnitt hätte ebenfalls aus ihrer Jugendzeit stammen kön‐ nen, so stramm war ihre Figur noch. Erika brachte das Kunststück fertig, die Aura der Lebenserfahrung einer reifen 137
Frau mit mädchenhafter Frische zu verbinden. Zu Hause schmeckt’s doch am besten! wollte Claudius gera‐ de zu sich sagen, als ihm einfiel, daß Erika schon lange nicht mehr sein Zuhause war. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange und führte ihn ins Wohnzimmer. Die kleine Zweizimmerwohnung wirk‐ te durch den treffsicheren Geschmack ihrer Bewohnerin grö‐ ßer, es war der Traum einer Redakteurin einer Ambiente‐ Zeitschrift. Eine aufgearbeitete Sitzbank aus einem alten Bahnhof stand an einer Wand, ein gußeiserner, buchlesender Affe mit einem Fez auf dem Kopf hockte auf der Ablage einer Kommode, selbstgeschneiderte rote Ballonvorhänge hingen über der zweiflügligen Terrassentür. Der Ort verströmte den Geist einer kunstsinnigen Person, die sich an der Mischung unterschiedlicher Lebens‐ und Kultureinflüsse erfreute. Clau‐ dius erkannte auch ein paar Stücke aus ihren gemeinsamen Tagen der immerwährenden Traurigkeit wieder, doch selbst die schienen wie neugeboren in einer lichten Welt. Er nahm in einem schwarzen Clubsessel Platz und konfron‐ tierte sich damit frontal mit dem einzigen Gegenstand, der ihm in dieser Wohnung mißfiel: eine im schnörkeligen Rah‐ men steckende Fotografie von einem grinsenden Kerl mittle‐ ren Alters an der Wand. Seinen eckigen Kopf schmückte eine graumelierte Fönfrisur, und er hatte sich so steif mit einem Zweireiher, Krawatte und Einstecktuch ausstaffiert, als mar‐ schiere er gleich zu einer Vorstandssitzung. Vom ruhmreichen Ex, dem Oberkommissar selbst, konnte Claudius nirgends ein Foto entdecken. Er hatte immer gewußt, wohin sie nach der 138
Scheidung gezogen war, sich jedoch nie getraut, ihr einen Be‐ such abzustatten. Nicht gewußt, aber sehr wohl geahnt hatte er dagegen, daß sie sich mit einem neuen Mann eingelassen hatte. Was Wunder! Man mußte schon komplett hirnampu‐ tiert sein, um anzunehmen, daß eine derart attraktive Frau ihr Leben nach der Scheidung als Nonne verbringen würde. Nun aber, im Angesicht des Feindes sozusagen, fühlte Claudius etwas schwer und glühendheiß wie Lava in sich aufsteigen, das dringend einen Schlot als Ausgang suchte. »Wie geht es dir, Erika?« sagte er, nachdem sie sich ihm ge‐ genüber auf einen Lehnstuhl gesetzt und ihm so die Sicht auf das Abbild des Widersachers genommen hatte. Er mußte da‐ bei seine Stimme und Hände kontrollieren, damit diese wegen der immer vernehmlicher pochenden Wut in seinem Innern nicht zu zittern anfingen. »Mir geht es hervorragend, Richard«, sagte sie. Auch sie schien bei sich irgend etwas zu kontrollieren, denn sowohl die heitere Mimik als auch die aufgesetzt zwitschernde Stimme hätten eher zu einem Vorstellungsgespräch gepaßt als zur Begegnung eines Paares, das eine bewegte Vergangenheit hin‐ ter sich hatte. »Aber ich höre, dir soll es zuletzt nicht so gut ergangen sein.« »Das ist überwunden.« Jetzt zog er den Vorstellungsge‐ sprächston vor. Der neuen Anstellung sollte der Grund für die Ausfallzeit möglichst nicht im Wege stehen. »Möchtest du vielleicht einen Kaffee? Hab ihn gerade frisch aufgesetzt.« 139
»Nein, danke. Ich werde in Kürze abgeholt. Du weißt schon, die Arbeit ruft.« Er stand auf und ging ans Fenster, um so zu tun, als wäre es jeden Augenblick soweit. In Wahrheit wollte er weiterhin die blöde Fresse von diesem Anzugheini auf dem Foto im Auge behalten, um anhand der mimischen Nuancen Rückschlüsse auf die Qualität der Beziehung mit seiner Frau zu ziehen. Die reinste Verzweiflung! Draußen schoben ein paar junge Mütter ihre Kinderwagen vor sich her. Für jede vom Leid zertrüm‐ merte Vergangenheit lag in diesen Wagen eine schmerzerfüll‐ te Zukunft. Ein trostloser Kreislauf. »Ich habe mich über deine vielen Besuche in der Klinik übri‐ gens sehr gefreut.« Die Ironie eines Rhinozerosses! Erika atmete schwer. »Ich mußte mich zwingen, nicht zu dir zu kommen, Richard, obwohl mich Weinstein schon am ersten Tag über deinen Verbleib informiert hat«, sagte sie. »Weißt du auch, warum? Leute, die in solche Orte hineingeraten, sollen sich von ihrer Vergangenheit möglichst radikal lösen. Allein das läßt sie genesen. Das ist jedenfalls meine Philosophie, ist mir egal, was neunmalkluge Therapeuten davon halten. Jede Figur aus dem früheren Leben ist in Wahrheit ein Gespenst, das dich beim Aufbruch in dein neues Leben ins Elend zu‐ rückreißen wird.« »Du bist keine Figur, sondern meine Frau! Und daß du mich ins Elend reißt, ist mir noch nie aufgefallen.« Sie tat ihm den Gefallen und warf ihm kein abgedroschenes »Ich bin nicht deine Frau, wir sind geschieden!« an den Kopf. Statt dessen verfiel sie in Schweigen. Claudius schüttelte den 140
Kopf und ließ sich erneut ihr gegenüber auf den Sessel sinken. Er kramte aus der Jackentasche seine Zigaretten hervor und steckte sich eine an. Erfreulich, daß sich gleich neben dem Sessel ein Miniaturtisch mit tellergroßer Platte befand, auf dem der dreieckige, gelbe Klassiker‐Aschenbecher mit dem Emblem von »Cinzano« stand. »Gehst du immer noch zu Alfie?« sagte er, nachdem er den Rauch des ersten Zuges lange und bedächtig herausgeblasen hatte. »Nein«, erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen. »Warum nicht?« »Ich möchte meinem Sohn nicht beim Sterben zusehen … Hast du …« »Ja, ich habe ihm gestern einen Besuch abgestattet.« »Und?« Er massierte sich das Gesicht, spürte die zerklüftete Land‐ schaft seiner Falten. »Nun, er ist noch nicht gestorben. Ich fra‐ ge mich, ob wir …« »Was, Richard? Ob wir wieder eine Rettungsaktion für ihn starten sollen? Ob wir wieder nächtelang aufbleiben sollten, weil wir jeden Moment mit einem Anruf rechnen müssen, daß er wegen einer Überdosis auf der Intensivstation liegt oder schon tot ist? Ob wir wieder einen deiner Kollegen überreden sollten, seine Dealer in einer dunklen Seitengasse zusammen‐ zuschlagen? Ob wir die fünfzigste Therapie für ihn buchen sollten? Ob wir uns wieder abwechselnd eine Woche von der Arbeit freinehmen sollten, weil wir einen ständig kotzenden und ins Bett scheißenden erwachsenen Mann beim Entzug im 141
Zaum halten müssen?« Über ihr wie feines Porzellan schimmerndes Gesicht rannen die ersten Tränen und verwandelten es in die häßliche Wunde zurück, die er längst verheilt geglaubt hatte. Risse taten sich darin auf und brachten die Erinnerung an die Zeit ihrer Zwei‐ samkeit wieder zum Vorschein. »Fragst du dich, ob wir bis ans Ende unseres Lebens bluten müssen, nur weil wir uns angemaßt haben, ein Kind in die Welt zu setzen, Richard?« »Er ist unser Sohn«, sagte Claudius hilflos. Die Inhalations‐ frequenz an der Zigarette hatte er inzwischen vervielfacht. Das Ding zwischen seinen Fingern war beinahe schon wieder abgeraucht. »Nein, das ist er nicht!« erwiderte Erika. Sie ging zu einer an‐ tiken Kommode und fingerte aus einer Schublade ein Ta‐ schentuch heraus. Nervös betupfte sie sich damit die tränen‐ schweren Augen und schneuzte hinein. »Er war es einmal. Unser Sohn war der alte Alfie, der Alfie, der ganz anders aus‐ sah, ja sogar mit einer ganz anderen Stimme sprach. Der Alfie, der es nicht abwarten konnte, jedes Wochenende dein Auto zu waschen, weil du ihm dafür fünf Mark gegeben hast. Er sparte sich das Geld für eine Bergsteigerausrüstung auf, weil er auch so ein toller Bergsteiger wie Reinhold Messner sein wollte – erinnerst du dich? Oder der Alfie, der Stars so gut parodieren konnte, daß wir uns vor Lachen den Bauch halten mußten. Diesen Alfie gibt es nicht mehr, er ist tot. Er wurde von einer finsteren Macht verschluckt, aufgesogen. Wie in diesen Scien‐ ce‐fiction‐Filmen, in denen die Außerirdischen aus Menschen 142
seelenlose Hüllen machen. Und diejenigen, die diesen Zom‐ bies folgen, weil sie glauben, daß es sich bei ihnen immer noch um vertraute Gestalten handelt, werden irgendwann selber welche.« Claudius weinte nicht. Es war ihm bloß ein bißchen Zigaret‐ tenqualm in die Augen gekommen. Deshalb waren sie jetzt feucht. Er drückte die Kippe im Aschenbecher aus, stand auf und ging wieder ans Fenster. Hugh war unten eingetroffen und hatte den schwarzen Mercedes auf der gegenüberliegen‐ den Straßenseite geparkt. Lange Zeit herrschte Stille, nur Erika schneuzte ab und an laut in ihr Taschentuch. »Okay, du hast ihn abgeschrieben«, sagte er nach einer Wei‐ le, ohne seinen Blick von der diesigen Szenerie draußen ab‐ zuwenden. Die ersten Regentropfen klopften gegen die Fen‐ sterscheibe. »Ich habe dir nichts vorzuwerfen. Du hast für ihn mehr getan, als eine Mutter für ihren Sohn tun kann. Du möchtest die Hand des Versinkenden loslassen, weil du fürch‐ test, sonst mit nach unten gerissen zu werden. Das verstehe ich. Aber ich … weißt du, Erika, ich bin der Vater aus diesem Science‐fiction‐Film, der seinem seelenlosen Zombie von ei‐ nem Sohn folgen muß. Meine Welt ist genauso seelenlos. Es macht keinen Unterschied. Außerdem habe ich keinen Affen mit Krawatte und Einstecktuch, der mich in der Nacht trö‐ stet.« »Untersteh dich, blöde Witze über ihn zu reißen. Er ist ein besserer Mann, als du je einer sein wirst. Ja, du hast recht, er tröstet mich in der Nacht, aber du wirst es nicht für möglich 143
halten, er tut es auch tagsüber! Und das, obwohl er Diabetes und ein kurzes Bein hat. Stell dir vor, es gibt auch Männer, die nicht nur vom Saufen krank sind. Weißt du noch, wie wir immer zusammen gefrühstückt haben, wie schön das war? Wahrscheinlich nicht, denn es ist hundert Jahre her! Danach hast du nur noch deinen Rausch ausgeschlafen, während Alfie dein Portemonnaie heimlich für einen Schuß geplündert hat. Und weißt du noch, wie wir regelmäßig in die Oper gegangen sind, weil du Opern so mochtest? Daran kannst du dich ver‐ mutlich nicht mehr erinnern, weil du von dem ganzen Didel‐ dum in billigen Bars nach Feierabend musikalisch auf den Hund gekommen bist. Ich gebe zu, mit Krawatte und Ein‐ stecktuch kann man schlecht die Mordmethoden von irgend‐ welchen Frauenschlitzern durchhecheln. Aber dafür klappt’s mit dem gemeinsamen Frühstück bestens, und wir haben in‐ zwischen ein Abonnement für die Oper.« Sie weinte jetzt nicht mehr. Claudius fühlte, daß seine Kehle wie von einem Stahlseil zugezurrt wurde. Die Sache schien ernster zu sein als erwartet. Daß die Rückeroberung der Fe‐ stung kein Spaziergang sein würde, hatte er sich schon vorher gedacht, aber daß inzwischen sogar das Tor dort hinein ver‐ mauert war, stellte sich als eine völlig niederschmetternde Überraschung dar. Er wandte sich vom Fenster ab und begab sich geradewegs zu ihr. »Ich sage es dir rundheraus, Erika: Ich will dich wieder zu‐ rückhaben.« Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Claudius legte sanft seinen Zeigefinger auf ihre Lippen. 144
»Ich weiß, daß bei uns alles schiefgelaufen ist, was nur schieflaufen kann, Erika. Die schönsten Jahre unseres Lebens sind in den Abguß geronnen, und dafür trage einzig und al‐ lein ich die Schuld. Doch sogar der Teufel verdient eine zweite Chance. Ich verspreche dir drei Dinge, wenn du mich wieder in der Nacht tröstest: Ich werde jeden gottverdammten Mor‐ gen mit dir frühstücken; ich hole sogar frische Brötchen in der Frühe. Und ich reserviere uns noch heute Karten an der Mai‐ länder Scala für Weihnachten. Und ich werde das kostbare Stück wieder zusammenflicken, das uns auf halber Strecke in tausend Scherben zersprungen ist: unser Herz.« Er nahm den Finger von ihren Lippen und lächelte traurig. Sie erwiderte das Lächeln, allerdings in einer schelmischen Variante. »Es gibt da nur einen Haken, mein Lieber«, sagte sie. »Menschen ändern sich nicht.« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange, wandte ihr den Rücken zu und bewegte sich in Richtung der Tür. »Sag das nicht. Ich kenne so manchen Frauenschlitzer, der sich auf seine alten Tage im Knast die Emma abonniert hat.« »Das glaube ich dir nicht«, sagte sie und verstärkte den Schalk in ihrem Lächeln. »Na gut, das war gelogen.« Claudius öffnete die Wohnungs‐ tür und drehte sich zu ihr um. »Es war nicht die Emma, son‐ dern die Brigitte. Sag mal, was machst du eigentlich, wenn du mit Krawatte und Einstecktuch keine Frühstücksorgien feierst?« »Ich bin dick ins Hollywood‐Business eingestiegen!« »Wie bitte?« 145
»Die Videothek gegenüber, ich arbeite dort halbtags. Eigent‐ lich ist es eine DVDthek, Videos gibt es ja kaum mehr. Willst du eine professionelle Beratung? Ich hätte da auch ganz rüh‐ rige Schinken mit Stars von vorgestern für solche alten Herr‐ schaften wie dich. Ach, übrigens: Wir werden nicht mehr zu‐ sammenkommen.« »Doch, das werden wir«, sagte Claudius und zog die Tür hinter sich so weit zu, daß nur noch sein Kopf durchlugte. »Warum?« »Weil ich der Glückliche war, der dich entjungfert hat. Das vergißt eine Frau nie!« Er zwinkerte ihr zu und sah noch für einen kurzen Moment Erikas Lächeln aufblitzen, bevor die Tür ins Schloß fiel.
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9. »Sie sind über Nacht zum Star geworden«, sagte Hugh und reichte Claudius die Zeitung. Der Mercedes verließ gerade die Stadt und verlor sich in einem Gewirr von Autobahnabschnit‐ ten in Richtung der ineinanderverkeilten Wohnsilos am Stadt‐ rand. Man sah sie schon aus weiter Ferne hinter den dunkel‐ grau brodelnden, wehenden Regenschleiern. Es handelte sich um Klötzchenarchitektur, die von vornherein für Leute erbaut worden war, die der Stadt möglichst fernbleiben sollten. Selbstverständlich sprachen die Verantwortlichen lieber von »erschwinglichem Wohnraum«, wenn man sie nach dem Schlamassel fragte, den sie angerichtet hatten. Doch alle wuß‐ ten, daß das bloß eine Sprechblase war. Die Menschen, die in diesen trostlosen Waben lebten, brachen bei dieser Phrase schon deshalb nicht in Jubelschreie aus, weil die Miete, seit sie denken konnten, ja sowieso vom Sozialamt bezahlt wurde. Je mehr sich der Wagen der Ucker‐Siedlung näherte, desto eindringlicher drängte sich einem die Ähnlichkeit mit einem Haufen völlig planlos hochkant aufgestellter Schuhkartons auf, in die man Luftlöcher gebohrt hat. Manche der Wohn‐ türme waren vor Jahren einmal bunt bekleckst worden, weil irgendein feinsinniger Soziologe wohl die Auffassung vertre‐ ten hatte, die hiesigen Bewohner würden beim Anblick von ein bißchen Farbe an ihren Fassaden augenblicklich zu Mu‐ sterbürgern mutieren. Jetzt, eine kleine Ewigkeit nach dem Anstrich, sah das Resultat verheerend aus. Die Farbe blätterte 147
großflächig ab, für einen Neuanstrich fehlte der Stadt das Geld, und die Leute, die in diesen Gebäuden hockten und den Hauptteil ihres nüchternen Zustandes mit Fernsehen ver‐ brachten, empfanden zwischen ihrem eigenen Ambiente und den TV‐Bildern aus Kriegsgebieten wahrscheinlich keinen großen Unterschied. Claudius nahm Hugh die Zeitung aus der Hand. Dabei fiel sein Blick auf die Schuhe seines Assistenten. Es waren die ele‐ gantesten Treter, die er je hatte bewundern dürfen. Das hell‐ braune Leder war in Form von dünnen Bändern wie grober Stoff zu einem imposanten Muster gewebt und schmiegte sich in solch ästhetischer Weise an den Fuß, daß man unwillkür‐ lich das Bedürfnis verspürte, es zu berühren. Beige Schnür‐ senkel rundeten das Meisterstück ab. Auch der Rest von Hugo Hoffer war nicht zu verachten. Selbstredend trug er einen an‐ deren Anzug als am Tag zuvor. Einen von Rotbraun ins Schwarz changierenden, dessen kurzer Kragen vom ausla‐ dend weiten Kragen des schwefelgelben Hemdes überdeckt wurde. Claudius fand es befremdlich, daß ein Polizist seinen Look dem Diktat dieser inflationären Modemagazine unter‐ warf. Trotzdem überlegte er ernsthaft, ob er über seinen Schat‐ ten springen und sich stilistisch von Hugh beraten lassen soll‐ te. Denn seitdem er Erika verlassen hatte, gewann in ihm im‐ mer eindringlicher die Überzeugung die Oberhand, daß er im Kampf um seine Frau »Krawatte und Einstecktuch« als erstes auf dem fashionablen Felde schlagen mußte. »Tolle Schuhe!« sagte er, bevor er seinen Blick auf die Zei‐ tung richtete. 148
»Danke«, entgegnete Hugh, ohne den Blick von der Beton‐ ödnis in der Ferne abzuwenden, welche im Regenfilm kurz‐ zeitig in Unschärfe verschwand, um dann durch die emsige Aktivität der Scheibenwischer wieder klar hervorzutreten. »Italienische – dreihundertachtzig Euro!« Mist, auch noch die Titelseite! Sein eigenes Gesicht sprang Claudius aus der Zeitung ins Auge. Sofort verbannte er jeden Gedanken an ein stilsicheres Outfit. Der Artikel handelte vor‐ wiegend davon, daß die Polizei nach der Auffindung der ers‐ ten Leiche einen »alten Hasen« an den Fall gesetzt hatte, und nahm lediglich die untere Viertelseite ein. Doch es mußte für die Sonderkommission »Udo« einer Ohrfeige gleichkommen. Schon deshalb, weil Weinstein den Fleißarbeitern dort seine Doppelstrategie verschwiegen hatte. Genau das hatte Clau‐ dius um jeden Preis vermeiden wollen. Bis gestern war die Kommission für ihn eine unerschöpfliche Materialquelle ge‐ wesen, aus der er nach Belieben schöpfen konnte. Nach dem Artikel jedoch, an dessen rechtem Rand zu allem Überfluß auch noch ein altes Foto von ihm aus glücklicheren Zeiten prunkte, hatte er nur beleidigte Konkurrenten gegen sich. Männer und Frauen, die sich ein Jahr lang den Arsch abgear‐ beitet und trotzdem nicht einmal den Zipfel eines Erfolgser‐ lebnisses erwischt hatten und nun auf einmal erfahren muß‐ ten, daß ein alter Sack ihnen zumindest publizistisch den Rang ablief. Vielleicht hatten sie davon gerüchteweise auch schon vorher gehört und waren willens gewesen, es still‐ schweigend zu dulden. Doch nun standen sie vor aller Welt wie Versager da. Austausch von Informationen, kollegiale 149
Hilfe, Schulter an Schulter für die gute Sache, das alles konnte Claudius sich jetzt an den Hut stecken. Er fragte sich kurz, wer der Informant sein könnte, der die unfrohe Botschaft der Presse verklickert hatte, dann zuckte er mit den Schultern. Es spielte keine Rolle mehr. Am Eingang des mindestens fünfzehn Stockwerke hohen Wohnblocks lümmelten fünf türkische Jugendliche. Dem Aus‐ sehen nach waren sie nur ein paar Monate davon entfernt, nach dem Erwachsenen‐Strafrecht verurteilt zu werden. Was natürlich nichts zu sagen hatte. Irgend etwas in ihren Gesich‐ tern verriet Claudius, daß sie bereits ein umfangreiches Vor‐ strafenregister vorzuweisen hatten, für das ihnen manch neunzigjähriger Berufsverbrecher Respekt gezollt hätte. Alle fünf hatten sich ausstaffiert, wie ein mit grobem Strich arbei‐ tender Karikaturist Ghetto‐Gangsterrapper gezeichnet hätte. Sie trugen Markenjogginganzüge in grellen Farben, bis zur Stirn heruntergezogene schwarze Wollmützen und Turnschu‐ he mit luftgepolsterten Sohlen, die kostenmäßig mit Hughs italienischen Edellatschen locker mithalten konnten. Ihre Häl‐ se schmückten klobige Ketten, ihre Finger eine verwirrende Anzahl von Ringen, meist mit den Initialen ihrer Hip‐Hop‐ Heroen. Zwei von ihnen hatten derart viele Narben von Mes‐ serstichverletzungen im Gesicht, daß der Kollege beim Erken‐ nungsdienst mindestens ein ganzes DIN‐A4‐Blatt benötigen würde, um sie alle zu dokumentieren. Das Gebäude, vor dem sie standen, war ihnen ebenbürtig. Die untere Fläche des Kastens war lückenlos mit Graffiti voll‐ beschmiert. Es sah aus, als sei ein lustiger Riese des Weges 150
entlangflaniert und hätte farbenfroh auf die Fassade gekotzt. Selbst diejenigen Abschnitte, auf denen etwas Gegenständli‐ ches wie der Umriß eines Gesichts zu erkennen war, wirkten, als hätte der Künstler sein Handwerk in einem Zwei‐Stunden‐ Workshop für Pop‐art in den sechziger Jahren gelernt. Der niederprasselnde Regen tauchte die Szenerie in eine solch bleierne Tristesse, daß dagegen selbst Bilder von einer Flutka‐ tastrophe aus Bangladesch vergeblich angestunken hätten. Hugh parkte den Wagen genau vor dem Eingang. Man sah es den Jungs an, daß sie ihr Glück nicht fassen konnten. Bis jetzt hatten sie an diesem grauen Morgen ihrem Ghetto‐ Blaster vor ihren Füßen gelauscht, aus dem deutsch‐türkischer Hip‐Hop in Konzertlautstärke drang, und Gott einen guten Mann sein lassen. Nun plötzlich schienen sie von Niagarafäl‐ len von Adrenalin durchflutet zu werden. Sie glichen dabei Katzen, die in ihrer Mitte plötzlich Mäuse gesichtet haben. Sobald die beiden Polizisten aus dem Wagen gestiegen waren, bewegten sie sich wie soeben eingeschaltete Apparate mit einem sich überlagernden Yo‐Yo‐Singsang zu ihnen. Einer von ihnen – weißer Jogginganzug, silbernes Piercing durch die linke Augenbraue, fisseliges Schnauzbärtchen, vernarbte dunkle Gesichtshaut – tat sich als besonders keck hervor und begann mit einem breiten Grinsen um die Mundwinkel um Claudius herumzutänzeln. »Hey, Opa, krasse Kiste hat sich dein Enkel da an Land ge‐ zogen. Glaubst du, er läßt mich damit ’ne Spritztour machen ?« Während die anderen Wollmützen mit grimmiger Miene 151
den Wagen umstellten, tänzelte er in seiner spöttischen Art weiter und stützte sich dann mit weitgespreizten Armen auf die Motorhaube. »Ich glaube nicht«, sagte Claudius ungerührt. »Mein Enkel ist eigen, was die Kiste angeht. Er hat einen richtigen Fimmel damit.« »Stimmt«, bestätigte Hugh. »Zum Beispiel mag ich es über‐ haupt nicht, wenn irgendwelche schlechten Snoop‐Doggy‐ Dog‐Imitate mit ihren Drecksflossen die Motorhaube be‐ schmutzen.« Das Grinsen der weißgekleideten Wollmütze wurde jetzt zu einem höhnischen Lachen. »Meine Flossen sind sauber, Mann«, sagte er. »Riechen nach Rosen und der Muschi deiner Mutter. Hab aber das sichere Gefühl, daß du gleich mächtig stinken wirst, Alter. Und zwar nachdem ich dir den Arsch aufgerissen habe und die ganze Scheiße aus dir rausgep‐ lumpst ist.« Er zauberte ein Butterfly‐Messer aus seiner Hosentasche. So sehr vertraute er dessen Wirkung, daß er sich nicht einmal die Mühe machte, die Klinge herausspringen zu lassen. Claudius verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Steck das Ding lieber wieder weg, Kleiner«, sagte er. »Sonst schießt dir mein Enkel noch ein Loch in die Mütze.« Hugh lüftete ein wenig die linke Vorderseite seiner Jacke und ließ alle Anwesenden Einblick auf die Waffe im Schulter‐ holster gewähren. »Fuck, das sind ja Bullen!« entfuhr es dem Gangsterrap‐ Häuptling, worauf jegliche Coolness sofort von ihm abfiel. 152
Auch seine Kumpane zogen von einem Moment zum ande‐ ren einen Rollenwechsel vor. Gerierten sie sich eben noch als düstere Wegelagerer, die Fremde auf »ihrem Territorium« nach altem Brauch drangsalieren konnten, präsentierten sie sich nun mit ihren gesenkten Köpfen und den in den Hosenta‐ schen verborgenen Händen mehr als Lausbuben, die es mit ihren Streichen etwas zu weit getrieben haben. »Hör mal, Alter, das war doch alles nur Spaß«, sagte der Häuptling und zog sich in den Schutz seiner Clique zurück. Das Butterfly‐Messer hatte er längst in den Eingeweiden sei‐ nes Jogginganzugs verschwinden lassen. »Außerdem haben wir ja überhaupt nichts angestellt.« »Doch«, sagte Hugh. »Du hast das Geschlechtsteil meiner Mutter beleidigt – darauf steht die Todesstrafe!« »Hey, versuch uns nicht zu verarschen, Alter. Wir kennen unsere Rechte!« Claudius ging zum Eingang und studierte die unübersich‐ tlich vielen Namensschildchen an der Klingelanlage. Einige von ihnen enthielten überhaupt keine Namen, auf den ande‐ ren befanden sich Kritzeleien in unleserlicher Schrift, die wohl nicht einmal ein Graphologe hätte entziffern können. Claudius wandte sich in Richtung der Jugendlichen zurück. »Jungs, wißt ihr vielleicht, wo eine Hedwig Rinke wohnt?« Sie glotzten ihn an, als redete er von der Queen von Eng‐ land. »Hedda«, ergänzte Claudius. »Ach, die Schlampe«, sagte weißer Jogginganzug. »Neunter Stock, rechter Flur, Wohnung fünf. Paß auf, daß du dir keinen 153
Siff fängst, Alter!« Er lächelte wissend. Claudius wollte schon ins Haus gehen, als Hugh die Augen‐ lider zusammenkniff und die versammelte Mannschaft mit dem eisigsten Blick bedachte, den er im Repertoire hatte. »Okay, solange wir weg sind, paßt ihr auf den Wagen auf. Wenn wir bei unserer Rückkehr auch nur den kleinsten Krat‐ zer auf dem Lack entdecken sollten, dann verhaften wir euch wegen Vergewaltigung.« »Was für ’ne Vergewaltigung?« Die Gangsterrapper machten nun ernsthaft besorgte Gesichter. »Keine Ahnung«, sagte Hugh. »Sucht euch eine aus, die in letzter Zeit in der Gegend vorgekommen ist.« Claudius verkniff sich ein Grinsen und trat in den vermüll‐ ten Hausflur. Als er und Hugh sich dem Aufzug näherten, öffneten sich die Türen der Kabine, und sie erblickten im In‐ nern die frische und monströs stinkende Hinterlassenschaft eines Hausbewohners. Es handelte sich nicht um Hundekot, das sah man sofort. Nicht daß der ebenfalls total mit Graffiti beschmierte Kasten ohne den Haufen zum Verweilen eingela‐ den hätte. Aber sein jetziger Zustand machte eine Benutzung ganz und gar unmöglich. Auf dem beschwerlichen Weg über die Treppe fragte sich Claudius, wie Udo wohl in dieser Hölle aufgewachsen war. Dabei wußte er doch genau, daß dieses Kind zu seinen Lebzei‐ ten erst den Vorhof der Hölle betreten hatte. Aber Claudius überquerte gedanklich eine Grenze, von der er genau wußte, daß man sie nicht überqueren durfte. Und trotzdem fragte er sich weiter, ob Menschen, die an diesem freudlosen Ort vege‐ 154
tierten, nicht auf die eine oder andere Weise alle schlußend‐ lich einfach wie Udo enden mußten. Was sollte man mit die‐ sen Menschen tun? Taugten die griffigen Rezepte, die die Poli‐ tiker propagierten, wirklich, um sie knetmassenartig in gutge‐ launte Mittelstandsbürger mit Dentalset und kleinem Aktien‐ depot zu verwandeln? Oder war die Wahrheit nicht eher in den unscharfen Bildern und Reflexionen von der nahenden Apokalypse zu finden, die Claudius in den Wochen seines Ausfalls wahrgenommen hatte? Oben keuchend angekommen, bogen sie in den rechten Flur. Vor einer der Türen stand ein Kinderwagen, vor den meisten anderen türmte sich Müll in Einkaufstüten. Die Bewohner dieses Hauses waren einfach zu dauererschöpft, um ihren Unrat nach unten in den Container zu tragen. In einem Punkt jedoch unterschieden sie sich vom Hollywood‐Klischee. Wenn im Film nämlich der Held in einem vergleichbar herunterge‐ kommenen Wohnblock durch einen vergleichbar schmutzigen Flur seiner anonymen Unterkunft entgegenschlich, drang durch die Türen Menschliches, allzu Menschliches an seine Ohren: sich streitende Paare, Kindergeschrei, Sexgestöhne, dumpfe Arrgs! und Ahhs! von einer Prügelei vielleicht. Hinter den Türen in der Wirklichkeit waren ebenfalls menschliche Laute zu vernehmen – allerdings gesprochen und geschrien von Schauspielern. Sämtliche Bewohner im Block ließen sich schon um diese frühe Uhrzeit vom Fernsehen berieseln. Das Fernsehen war wie eine Droge, die eine außerirdische Macht diesen Leuten heimlich verabreichte, um sie von ihren Welt‐ herrschaftsplänen abzulenken. Deshalb herrschte relative Stil‐ 155
le in dem unruhigen Haus. Die Tür von Wohnung fünf stand sperrangelweit offen. Als Claudius und Hugh hineingingen, stellten sie fest, daß die Tür überhaupt nicht vorhanden war. Es wirkte geradeso, als hätte man bei der Bauabnahme des Kastens das Fehlen einer Tür übersehen. Sie fanden die Küche und sahen sich mit einem Kerl in Unterhose konfrontiert. Er hatte schulterlange, schmie‐ rige Haare und eine sehr fahle Gesichtshaut. Seine brüchigen Lippen und die Finger waren vom Konsum von Selbstgedreh‐ ten schon ganz gelb geworden. Er saß im Zentrum einer Ca‐ nyon‐Landschaft aus nie gewaschenem Geschirr und nie he‐ runtergetragenem Müll und starrte eine leere Bierflasche auf dem Tisch vor sich an. Aus dem Wohnzimmer nebenan plärr‐ te der Fernseher, das Gekreische von Irren in einer Trash‐Talk‐ Show. Nach einer Weile richtete der Mann den Blick unerträglich langsam auf die Polizisten und sagte: »’ne Kippe?« Claudius überreichte ihm eine Zigarette und gab ihm Feuer. »Wo ist Hedda?« Der Mann zitterte leicht und deutete mit dem Daumen nach links. Sie folgten dem Wink und betraten das Schlafzimmer. In dem kleinen Raum befanden sich ein Bett und Kleidungsstük‐ ke, die in einem unglaublichen Chaos rundherum verstreut waren. Aus diesem Durcheinander ragte hier und da ver‐ staubtes Kinderspielzeug wie eine Wasserspritzpistole, ein Plastikpferd oder eine kleine Ritterburg hervor. Die Frage, wo sich das Kinderzimmer vor einem Jahr befunden hatte, erüb‐ rigte sich. An die schmutzigen Wände waren mit Klebeband 156
Poster von ehemaligen Sängern aus Deutschland sucht den Su‐ perstar geklebt. Den Rücken halb gegen ein Kissen gestützt, lag auf dem Bett eine Frau in einem knielangen, geschlossenen schwarzen Kleid. Das Preisschild baumelte noch von einem der Knöpfe am Oberteil herunter. Sie war ungefähr dreißig, großgewach‐ sen, blaß, schwarzhaarig und hatte etwas von einem kurz vorm Verhungern stehenden, langgliedrigen exotischen Vo‐ gel. Das knochige, verheult wirkende Gesicht war eingefallen wie eine Konstruktion, die, bereits fehlerhaft gebaut, nie für eine Funktion vorgesehen war. Allein ihre voluminösen Lip‐ pen ließen eine Ahnung davon aufkommen, daß diese Gestalt noch vor ein paar Jahren so etwas wie Begehrlichkeit ausgest‐ rahlt haben mochte. »Guten Morgen, Hedda«, sagte Claudius. »Ich heiße …« »Bulle!« unterbrach Hedda ihn und verzog eine angewiderte Miene. »Du heißt Bulle! Na, habt ihr mir meinen Jungen in einer Lidl‐Tüte mitgebracht, oder schnippelt ihr immer noch an ihm ’rum?« Claudius seufzte laut auf und ließ sich auf die Bettkante sin‐ ken. »Was fällt dir ein, deinen fetten Arsch auf mein Bett zu pflanzen, Bulle! Steh wieder auf!« Claudius erhob sich und warf Hugh einen hilflosen Blick zu. »Du solltest uns etwas Respekt entgegenbringen, Hedda, wir wollen nur …«, setzte der junge Hauptkommissar an. »Lassen Sie mal, Juch«, sagte Claudius und winkte mit der rechten Hand ab. 157
»Also noch einmal, Hedda: Ich heiße Richard Claudius, und dieser junge Mann ist mein Kollege Hugo Hoffer. Wir beide können nur ahnen, was Sie zur Zeit durchmachen, doch den Schmerz fühlen, so wie Sie ihn jetzt fühlen, das können wir sicherlich nicht. Vielleicht hilft es Ihnen aber ein bißchen, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich selbst in einer vergleichba‐ ren Situation befinde. Ich habe auch einen Sohn, den ich bald verlieren werde.« »Wieso, soll er auch zu Tode gepeitscht werden? Scheiße …« Aus ihren dunklen Augen schoß ein wahrer Sturz von Tränen hervor. Ihr ausgemergeltes Gesicht verzerrte sich zu scharf‐ kantigen Falten, und sie begann, laut zu schluchzen. Die Bläs‐ se in ihrem Gesicht färbte sich augenblicklich rot. »Warum, warum mußte dieses perverse Schwein ihn auch noch auspeitschen!« schrie und weinte sie gleichzeitig. Dann stand sie auf und begann, in den rings ums Bett verteilten Kleidungsstücken herumzukramen. Jetzt sah man im ganzen Ausmaß, wie dünn sie war. Ein Lufthauch hätte sie umblasen können. »Behalten Sie diese Wut, Hedda«, sagte Claudius. »Wir wer‐ den auch von dieser Wut getrieben. Udo wird nicht mehr zu‐ rückkommen, das ist wahr. Aber ich verspreche Ihnen eins: Eher wird sich die Erde ab morgen rückwärts drehen, als daß wir diesen Scheißkerl nicht erwischen und ihn nicht die glei‐ chen Schmerzen spüren lassen werden, die Ihr kleiner Mann gespürt hat.« »Hört mal, Jungs, tut mir echt leid, daß ich euch gleich am Anfang so angefahren habe«, sagte sie und zog unter einem 158
Haufen von Plunder eine halbleere Flasche mit klarem Inhalt hervor. »Aber eure Kollegen haben mir erzählt, wie sie ihn gefunden haben. Und seitdem, seitdem …« Sie setzte die Flasche an die Lippen und trank sie mit kehli‐ gen Lauten in einem Schluck mindestens um vier Zentimeter leer. Danach gab sie ein befreites Ächzen von sich. Von der ganzen Tränenflut sah ihr Gesicht so aus, als hätte sie es gera‐ de gewaschen. »Ich bin keine Scheißmutter, wißt ihr. Ich liebe meine Kin‐ der. Hab’ mit Udo damals sogar einen vom Müttergene‐ sungswerk gesponserten Urlaub gemacht. In Bayern. Das hat ihm gefallen, dem Scheißerchen, auf diesem todlangweiligen Bauernhof, wo es nicht einmal einen Zigarettenautomaten gab. Okay, ich sauf manchmal zuviel, und okay, bei mir geht’s nicht wie im Mädcheninternat zu. Aber das gibt dem Jugend‐ amt noch lange kein Recht …« »Hedda, Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen«, unterb‐ rach sie Claudius und setzte sich doch wieder auf die Bettkan‐ te. »Wichtig ist jetzt nur, was Sie mir über Udo und über die Umstände seines Verschwindens erzählen können.« »Was soll das denn jetzt? Das habe ich doch schon zehntau‐ sendmal deinen Kollegen verklickert.« »Ich möchte es noch einmal hören. Machen wir einfach ein Geschäft. Ich habe eben bemerkt, daß Sie keine Wohnungstür mehr besitzen. Und ich nehme an, daß Ihr guter Freund in der Küche …« »Sitzt der Penner immer noch da?« Sie wankte ein bißchen mit der Flasche in der Hand, kriegte es jedoch noch halbwegs 159
hin, ein verdutztes Gesicht zu machen. »Ja, er sitzt immer noch da. Ich gehe davon aus, daß er hinter Ihrem Rücken diesen Jugendlichen unten am Eingang die Tür als Tausch gegen alkoholische Getränke angeboten hat, weil sich in dieser Wohnung keine Wertgegenstände befinden. Also, ich besorge Ihnen die Tür zurück, und Sie erzählen mir was.« Hedda drehte den beiden Polizisten den Rücken zu und ließ ihren Blick durch das Fenster zu den vom Regen umtosten grauen Wohnklötzen schweifen. Claudius verstand die Geste als ihr Einverständnis. »Wie aus den Berichten hervorgeht, hat Udo sich oft mit an‐ deren Kindern, wahrscheinlich auch ganz alleine bei diesen Abbruchhäusern herumgetrieben. Hat er Ihnen von seinen Abenteuern dort etwas erzählt?« »Mann, das ist ja wie Wiederkäuen bei ’ner Kuh! Was soll das? Er hat darüber nur den üblichen Kinderkram verzapft. Daß er und die ganze Rasselbande manchmal ein paar von den Abbrucharbeitern geärgert haben, die dort malochten, und so. Aber die sind alle sehr nett gewesen, hat Udo gesagt. Ein paar von denen haben ihnen sogar Schokoriegel zuge‐ schmissen. Das war alles.« Claudius warf Hugh einen fragenden Blick zu. »Sämtliche in Frage kommenden Bauarbeiter wurden von der Kommission mehrmals verhört, Herr Claudius«, antwor‐ tete Hugh rasch. »Sie bestätigten, daß sie die Kinder bisweilen verjagen mußten. Einige von ihnen haben gelegentlich zu ei‐ ner List gegriffen und sie mit Süßigkeiten bestochen, damit sie 160
sich von dem einsturzgefährdeten Gebiet fernhalten. Bei kei‐ nem dieser Männer konnte auch nur der Anflug eines Ver‐ dachts festgestellt werden.« Claudius wandte sich wieder Hedwig Rinke zu. »Udo hat nie von einer erwachsenen Person gesprochen, der er auch alleine dort begegnet ist und die, sagen wir mal, einen beson‐ deren Eindruck auf ihn gemacht hat, Hedda?« »Nein, verdammt! Und das Scheißerchen hat immer wie ein Wasserfall geplappert.« Sie nahm wieder einen mächtigen Schluck aus der Flasche. »Bis auf diese eine blöde Schlampe.« Claudius und Hugh zuckten regelrecht zusammen. »Was für eine blöde Schlampe?« Hedda drehte sich mit einem abgeklärten Lächeln zu den beiden Männern um. Sie schien es zu genießen, daß sie nun an ihren Lippen hingen. »’ne Kippe?« grinste sie hinterfotzig. Claudius gab ihr eine und steckte sie mit seinem Feuerzeug an. Sie blies den Rauch aus den Nasenlöchern, und der dun‐ stige Schleier verwandelte das Knochengesicht für einen Mo‐ ment in das begehrenswerte Antlitz ihrer Jugendtage zurück. Damals mußte Udo in ihrem Bauch erst eine Ansammlung von wenigen Zellen gewesen sein. »Tja, Udo hat mal gemeint, daß er in einem der leeren Häu‐ ser auch eine Frau getroffen hat«, sagte sie. »Die hat ihm an‐ scheinend gesagt, daß sie ihn kennt. Und daß sie seinen Vater gut kennt. Die muß sich dort öfter herumgetrieben haben.« »Und dann?« »Nix und dann – das war’s.« Claudius schaute Hugh an. Vielleicht wußte der ja eine Lö‐ 161
sung auf dieses Rätsel, das sich Claudius wie ein komplizier‐ tes mathematisches Problem präsentierte, zu dem er partout keinen Zugang finden konnte. Leider erwiderte der Assistent sein stummes Flehen mit einem ebenso perplexen Blick. »Stand davon auch etwas in den Berichten, Juch?« fragte Claudius. Hugh zuckte mit den Schultern. »Glaube, eher nicht.« »Haben Sie das damals auch bei meinen Kollegen erwähnt, Hedda?« »Keine Ahnung«, sagte Hedda. »Bin ich ein Tonband? Au‐ ßerdem war ich zu der Zeit vor Sorge um Udo komplett durchgeknallt. Kann dir aber verraten, wer diese Alte be‐ stimmt war. Die neue Flamme von diesem Wichser, der ab‐ streitet, daß er Udos Vater ist – ich meine, war.« »Norbert Kowalski«, ergänzte Hugh. »Das ist der Mann, mit dem Frau Rinke sich wegen des Unterhaltsanspruchs für Udo jahrelang juristisch gestritten hat.« »Genau!« brach es aus Hedda heraus. »Das war bestimmt die Aktuelle von Noby, diesem bescheuerten Arsch. Natürlich weiß ich nicht, wie die aussieht. Aber wenn die genauso wun‐ derwunderschön ist wie Noby, dann gute Nacht, Madam!« Sie stieß ein gekünsteltes Spottgelächter aus. »Ich fasse mal kurz zusammen«, sagte Claudius und raufte sich im Geiste die Haare. »Udo hat Ihnen erzählt, daß er bei den Abbruchhäusern mehrmals eine Frau getroffen hat. Sie sind sich aber nicht sicher, ob Sie diese wichtige Information meinen Kollegen von der Sonderkommission nach dem Ver‐ schwinden des Jungen weitergegeben haben. Richtig?« 162
»Ja, kann sein.« Hedda setzte die Flasche wieder an den Mund, nahm aber diesmal einen sparsamen Schluck. »Des weiteren haben Sie aus den Worten des Jungen ge‐ schlossen, daß es sich bei dieser Frau um die aktuelle Freun‐ din Ihres ehemaligen Lebenspartners handelt. Sie kennen die‐ se Frau jedoch nicht, wissen nicht einmal genau, ob Herr Ko‐ walski überhaupt eine Freundin hat. Richtig?« »Ja, ja, richtig.« »Nichtsdestotrotz haben Sie das ganze Jahr über, in dem Udo verschwunden blieb, es nicht für nötig gehalten, dieses brisante Detail der Polizei zu melden.« »Na und?« In ihrem Gesicht zeigte sich in Sekundenschnelle ein Trotz, dem etwas Ordinäres anhaftete und der Rückschlüsse erlaub‐ te, wie simpel gestrickt sie war. Impulsivität, die Gewohnheit, die Dinge zurechtzurücken, wie sie einem gerade passen, und der Reflex, sofort die ganze Welt für das persönliche Unglück verantwortlich zu machen, ohne einen Gedanken an die eige‐ nen Fehler zu verschwenden, von all dem erzählte nun dieses trotzige Gesicht. Claudius betrachtete Hedda lange, dann sprang er vom Bett auf und baute sich respekteinflößend vor ihr auf. »Jetzt reicht es aber!« brüllte er. »Sagen Sie mal, für wie blöd halten Sie uns eigentlich?« »Wieso? Was regst du dich denn plötzlich so auf, Alter?« »Das kann ich Ihnen verraten, Hedda. Gleich nach dem Ver‐ schwinden von Udo haben Sie meinen Kollegen zu Protokoll gegeben, daß Sie Ihren Verflossenen als Täter verdächtigen, 163
weil er angeblich pädophile Neigungen gegenüber seinem eigenen Sohn hegte. Dabei haben Sie geflissentlich unterschla‐ gen, daß Sie sich mit ihm seit Jahren in einem Unterhaltskrieg befinden. Das Ganze war schon abstrus genug. Nachdem sich herausgestellt hat, daß er als Entführer nicht in Frage kommt, waren Ihnen die Hände gebunden, und Sie haben stillgehal‐ ten. Und jetzt, wo der Junge tot ist, zaubern Sie auf einmal eine vermeintliche Freundin aus dem Hut, um ihm über Ban‐ de nachträglich vors Schienbein zu treten. Nach dem Motto: Wenn er es nicht war, dann halt seine dämonische Freundin – irgendein Schmutzfleck wird schon an ihm haftenbleiben. Glauben Sie tatsächlich, daß wir Ihnen diesen Mist abkaufen, Hedda?« Überraschenderweise brach sie wieder in ein Geheule aus. Irgendwie brachte sie es fertig, gleichzeitig zu weinen und zu trinken und dabei auch noch zu rauchen. »Ihr Bullen habt ja keine Ahnung!« schrie sie. Ihre Tränen vermischten sich mit dem flüssigen Rotz aus ihrer Nase und dem Speichel in ihren Mundwinkeln. Der aus den Nasenlö‐ chern ausströmende Zigarettenrauch verlieh ihrer ganzen ausgezehrten Physiognomie etwas von einem dunstigen Moor. »Ihr kommt nur hierher, wenn ein Kind verreckt ist, weil dann auch noch RTL und die BILD angerannt kommen. Was wißt ihr schon? Wißt ihr überhaupt, daß ich in dieser Woh‐ nung schon zweimal vergewaltigt worden bin? Die Bullen haben meine Aussage aufgenommen und dann nur gemeint, daß ich ja schließlich mit den Kerlen auch gesoffen hätte. Da‐ 164
mit ist die Sache dann im Sande verlaufen. Und wißt ihr, daß ich von den Türken in diesem Scheißkasten andauernd als Hure beschimpft werde und daß einer von ihnen mir sogar ein blaues Auge auf dem Hausflur verpaßt hat, weil ich mit ihm nicht ins Bett wollte? Nein, das wißt ihr natürlich nicht, das wollt ihr auch gar nicht wissen. So ein Scheißkleinkram interessiert euch nicht, denn wegen so einer Kleinkramscheiße kriegt ihr keine Scheißmedaille an die Brust geheftet! Noby ist ein Perverser, das habe ich von Anfang an gesagt, und das sage ich auch heute noch. Er hat dem Baby sein Ding schon nach einer Woche in den Mund gesteckt, damit es daran nuk‐ kelt. Das habe ich damals mit eigenen Augen gesehen, Gott ist mein Zeuge! Danach habe ich ihn aus der Wohnung gejagt. Ich bin eine gute Mutter …« Claudius reichte ihr ein sauberes Stofftaschentuch, ohne die Härte aus seinem Gesicht zu nehmen. »Und was ist jetzt mit dieser Frau, die Udo angeblich in den Abbruchhäusern gese‐ hen hat?« fragte er. Hedwig Rinke schneuzte in das Taschentuch hinein und wischte sich dann die Tränen von den Augen. »Was soll mit der sein?« »Hat Udo das tatsächlich erzählt, oder wollen Sie mit dieser Aussage Ihren verhaßten Noby nur weiter belasten? Ich warne Sie, wenn Sie die Unwahrheit sagen, kann es echt unange‐ nehme Konsequenzen für Sie haben.« »Unangenehme Konsequenzen, daß ich nicht lache! Mein ganzes beschissenes Leben ist eine unangenehme Konse‐ quenz. Ich glaube mich zu erinnern, daß er irgendwas von 165
einer Frau erzählt hat. Aber vielleicht hat er auch etwas durcheinandergebracht. Vielleicht hat er diese Frau in Wirk‐ lichkeit auch ganz woanders getroffen, und die Alte hat uns gekannt, ich meine, Noby und mich, von früher. Es war nur Kindergeplapper. Udo war klein, weißt du, er war sehr, sehr klein …« Wieder unten im strömenden Regen inmitten der türkischen Hip‐Hopper, wollte in Claudius so gar nicht mehr das Gefühl der spaßhaften Überlegenheit aufkommen, die er bei seiner Ankunft gegenüber den Jungs empfunden hatte. Er war in Gedanken mit Udo beschäftigt, der mit seinen vielen blutigen Striemen leblos auf dem Obduktionstisch lag und sich von der Welt genauso verabschiedete, wie er in sie hineingeboren worden war: ohnmächtig. Ohnmächtig gegenüber der Gewalt, die von seinem ersten Atemzug an auf ihn niedergekracht war wie die Gesteinsbrocken einer Apokalypse, und gegen die er einfach nichts auszurichten vermochte, weil − »er war klein, weißt du, er war sehr, sehr klein …« Zu keiner Stunde seines kurzen Lebens hatte Udo wirklich das genießen dürfen, was das allgemeine Bewußtsein stets mit unverfälschtem Glück und Unschuld im wahrhaftigsten Sinne verband und das schlicht Kindheit hieß. Seine Welt war schon vor seinem schrecklichen letzten Gang nicht heil gewesen, und der einzi‐ ge Eindruck, den er von dieser Welt in die ewige mitgenom‐ men haben mochte, durfte wohl der einer immer schwärenden Traurigkeit gewesen sein – und vielleicht auch ein befreites Lachen darüber, daß er diese Traurigkeit nicht hatte bis zum 166
bitteren Ende erleben müssen. Die Hip‐Hopper hatten sich mit solch martialischer Präsenz um den Mercedes aufgebaut, als befürchteten sie jeden Au‐ genblick ein Attentat darauf. Hughs Drohung von vorhin hat‐ te durchschlagende Wirkung gezeigt. Jetzt waren sie nur noch normale Jugendliche, die keinen Ärger mit der Polizei haben wollten. Claudius machte ihnen unmißverständlich klar, daß sie Heddas Tür zurückbringen sollten. Sie taten so, als wüßten sie von nichts. Vielleicht stimmte das sogar. Aber sie kannten mit absoluter Sicherheit diejenigen, die das Ding weggeschleppt hatten. Solchen Typen entging nichts im Block. Jedenfalls beherrschten sie sehr effiziente Methoden, um eine verschwundene Tür in null Komma nix wieder an die ihr zugehörigen Angeln hängen zu lassen. »Ich kann mir schon denken, zu wem Sie jetzt befördert werden wollen, Chef«, sagte Hugh, als sie wieder im Wagen saßen. Er gab langsam Gas. »Hab’ mir schon die Adresse he‐ rausgesucht.« »Dann fahren Sie dahin«, sagte Claudius, den Blick aus dem regenbeschlagenen Seitenfenster auf die übelkeitserregenden Graffiti gerichtet. »Wenn ich Ihnen mal ein Kompliment machen darf: Das war ein grandioser Schachzug, die Sache mit Ihrem angeblichen Sohn und daß Sie ihn auch bald verlieren werden. Damit ha‐ ben Sie sie geknackt. Den Trick werde ich mir für die Zukunft merken.«
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10. Bei dem Viertel, in dem Norbert Kowalski wohnte, handelte es sich um Heddas Wohnsilo in der Stadtvariante. Auch hier bestand der überwiegende Teil der Bewohner aus Sozialhilfe‐ empfängern, Arbeitslosen und Ausländern. Überall sah man Männer in billigen Jogginganzügen und ausgeblichenen T‐ Shirts mit einem Markenlogo auf der Brustseite. Bei den Frau‐ en war das Bild zweigeteilt. Entweder waren sie unglaublich fett, was sie jedoch trotzdem nicht davon abhielt, in engen Jeans in Übergröße und bauchfreien Tops herumzulaufen, oder sie trugen lange Staubmäntel und Kopftücher. Und na‐ türlich trieben sich an den Ecken verschlagen dreinblickende Kinder und Jugendliche herum, die um diese Uhrzeit eigent‐ lich in der Schule sein sollten. Die Häuser, die kleine Mietwohnungen beherbergten, stammten noch vom Anfang der Sechziger, damals noch rich‐ tig erstrebenswerte Paläste mit Heizung und fließend war‐ mem Wasser. Sämtliche Fassaden trugen entweder die Farbe schmutzigbeige oder schmutziggrau, abgesehen natürlich von den obligatorischen Graffiti‐Explosionen im unteren Bereich. Die Geländerverkleidungen der Balkone bestanden aus Well‐ blech. Fast alle waren halbverrostet, löchrig oder nur noch rudimentär vorhanden, woraus man schließen konnte, daß seit ihrer Anbringung nichts mehr daran getan worden war. Der unaufhörliche Regen verstärkte die Tristesse nur unwe‐ sentlich. Hugh konnte sich nur zu gut vorstellen, daß die 168
Elendsszenerie bei strahlendem Sonnenschein auch nicht ge‐ rade heiter aussah. Als er mit Claudius aus dem Wagen stieg, machte er sich ein wenig Sorgen um seine teuren Schuhe. Wenn das Leder erst einmal Wasser aufgesogen hatte, würde es niemals mehr die jetzige funkelnde Eleganz zurückgewinnen, die den Träger des Schuhs aus der Masse wie eine Illumination hervorstechen ließ. Und den Todesstoß würde das gute Stück erhalten, wenn das durchnäßte Leder obendrein eine Beanspruchung durch einen sich über Gebühr verrenkenden Fuß erführe. Der helle Wahnsinn. Hugh schmunzelte im Geiste. Worüber man sich doch sorgen kann, während man einem Kindermörder auf die Schliche kommen will! Zum Glück residierte »Noby« nicht wie Hedda nahe den Wolken, sondern gleich im Erdgeschoß. Der Name prunkte sogar fein säuberlich auf der Klingelanlage. Dennoch zogen es die beiden Polizisten instinktiv vor, nicht an der Haustür zu klingeln, sondern den Hausflur zu betreten, als ein Bewohner zufällig gerade das Gebäude verließ. Mit ernsten Gesichtern bauten sie sich vor der fraglichen Wohnungstür auf. Hugh hatte Claudius darüber informiert, daß ihr Klient über ein hübsches, wenn auch harmloses Vorstrafenregister verfügte. Kleinere Diebstähle und Kreditkartenbetrug. Alles lange her. Mit zunehmendem Alter schien aus Noby die kriminelle Luft entwichen zu sein, und er hatte sich hauptberuflich auf Sozi‐ alhilfe verlegt. Aber man wußte ja nie. Dann klingelten und klopften sie wegen des einschüchtern‐ den Effektes gleichzeitig an die Tür, und das ununterbrochen 169
und recht aggressiv. Hinter der Tür herrschte zunächst absolute Stille. Dann war von drinnen panisches Gepolter und unterdrücktes Gefluche zu vernehmen. »Herr Kowalski, öffnen Sie die Tür, hier ist die Polizei!« rief Hugh in aufgesetztem Kasernenton und klopfte noch ein‐ dringlicher an die Tür. Dabei warf er Claudius einen amüsier‐ ten Seitenblick zu, der seinerseits den Zeigefinger rhythmisch auf den Klingelknopf drückte. Als die Tür endlich aufging, stand ein untersetzter Mann mit kohlschwarzem Bürstenhaarschnitt vor ihnen. Zu ihrem Ers‐ taunen war er nur mäßig dick, und wie es schien, klappte es auch mit der Hygiene einigermaßen. Jedenfalls machte er von der ganzen Erscheinung her nicht den Eindruck, als hätte ein garstiges Schicksal ihn brutal unter die Räder geraten lassen. Er trug ein sauberes blaues T‐Shirt, auf dem in weißen Lettern »Ich bremse auch für Frauen!« stand, und der Folklore der hiesigen Gegend entsprechend eine Jogginghose. Selbstver‐ ständlich besaß er den Ansatz zu Herrentitten, was auf über‐ mäßigen Konsum von Bier und Tiefkühlpizza zurückzuführen war. Die ihn schon um diese Uhrzeit umgebende Alkoholfah‐ ne bestätigte diese Theorie. Doch sonst wirkte Norbert Ko‐ walski wie ein fideler Mittvierziger, genauer gesagt, wie Herr Jedermann aus der Lotto‐Werbung, dem die Angestellten der Lottogesellschaft zwischen Tür und Angel den Millionen‐ scheck überreichen. »Was wollen Sie?« fragte Kowalski und vermittelte durch einen gekünstelt widerborstigen Gesichtsausdruck die Bot‐ 170
schaft, daß er sich mit seinen Rechten bestens auskenne und entschlossen war, sich nichts gefallen zu lassen. »Mit Ihnen sprechen«, antwortete Claudius und schob sich mit Hugh an ihm in die Wohnung hinein. »Haben Sie überhaupt …« »… einen Durchsuchungsbefehl?« vollendete Claudius für ihn den berühmten Satz im Geiste. Die Leute sahen zuviel fern, vor allem Krimiserien, und glaubten fälschlicherweise, daß für jede Unterhaltung mit der Polizei in ihrer Wohnung ein richterliches Dokument nötig sei. Vor allem glaubten das die Leute, die etwas zu verbergen hatten. Kowalski aber schien schon mitten im Satz den Widerstand gegen die Staatsgewalt aufzugeben, und er machte keine wei‐ teren Anstalten mehr, den Durchmarsch der Polizisten in sein Reich aufzuhalten. Sie gelangten durch einen langen Flur in das Wohnzimmer, das sich im Vergleich zu Heddas Behau‐ sung wie eine wahre bürgerliche Oase ausnahm. Von der braunen Schrankwand über die schwarze Couchgarnitur bis hin zum Fernseher mit 82‐Zentimeter‐LCD‐Bildschirm, zu den sechs im Raum verteilten Dolby‐Surround‐Boxen und dem silbrigfunkelnden DVD‐Player unterschied sich rein gar nichts vom Wohnambiente eines gutverdienenden Facharbeiters. An den Wänden hingen billige Kunstdrucke von abstrakten Ma‐ lern, deren einzige Aufgabe darin bestand, Farbe in das Zim‐ mer zu bringen. Im Regal stand sogar eine ansehnliche Reihe von Büchern in der Taschenbuchausgabe, unter anderem Al‐ bert Camus. Unglaublich, der Kerl las richtige Literatur! Hugh rätselte über den Trick, wie so ein Typ sich beim Sozialamt als 171
bettelarm rechnete. Und von woher bloß floß die Zusatzkohle für all den Tinnef? Die Balkontür stand einen Spaltbreit offen und ließ das leise Geprassel des Regens hereinwehen. Links ging eine Tür zu einem Nebenraum ab, die verschlossen war. Vermutlich war dort das Schlafzimmer. Und wenn man allein lebte, verschloß man die Tür zum Schlafzimmer gewöhnlich nicht. Hugh flog die Vermutung durch den Kopf, ob sich dort drinnen wohl diese ominöse Freundin aufhalten könnte. »Ich hätte mir denken können, daß Sie kommen«, sagte Ko‐ walski in übellaunigem Ton. »War ja klar, daß diese Irre sofort die Polizei auf mich hetzt, nachdem die Leiche des Jungen aufgetaucht ist. Leider muß ich Sie aber wie vor einem Jahr wieder enttäuschen. So wie sie es im Fernsehen gesagt haben, geschah der Mord in der Nacht zum Freitag. Da war ich – im Puff! Die Nutten können es Ihnen bestätigen.« »Das ist ja sehr schön für Sie, Herr Kowalski«, sagte Clau‐ dius. Hugh war den beiden nicht bis ins Zentrum des Zim‐ mers gefolgt, sondern am Türrahmen stehengeblieben. Sein Blick driftete wie magnetisch angezogen zu der links von ihm gelegenen verschlossenen Tür. Er blickte zu Claudius, und wie Telepathen, die keines Wortes bedürfen, um sich auszu‐ tauschen, verstand der Oberkommissar augenblicklich, was er beabsichtigte. Hugh wollte unbedingt einen Blick in das Zimmer werfen, doch solange musste Noby von der Aktion abgelenkt werden. Claudius legte freundschaftlich einen Arm um Kowalski und drehte ihn im Schwung der Bewegung wie beiläufig in Richtung der Balkontür. Selbst von seiner Position 172
aus konnte Hugh sehen, daß der Umschlungene ein bißchen zitterte. »Aber wissen Sie was, wir verdächtigen Sie gar nicht wegen irgendeiner Mordsache. Und daß Sie nichts mit der Entfüh‐ rung der Kinder tun haben, wußten wir bereits von Anfang an.« »Echt?« sagte Kowalski und klang dabei seltsamerweise gar nicht so sehr erleichtert, wie er tat. Hugh beobachtete ihn ge‐ nau und bemerkte ein schier unmerkliches seitliches Zucken seines Kopfes. Offenbar hatte er das Fehlen von Bulle Num‐ mer zwei an seiner Seite bemerkt und begann sich nun zu fra‐ gen, was der Typ eigentlich da hinten trieb. »Echt, Herr Kowalski! Sie sind schon längst aus dem Kreis der Verdächtigen heraus. Und wenn Sie je dringewesen war‐ en, so entschuldigt sich die Polizei dafür.« Nobys Miene wirkte oberflächlich so, als würde sie erneut ein zwischen Ungläubigkeit und Dankbarkeit schwankendes »Echt?« gebären. Darunter jedoch schienen lauter kleine Pa‐ nikmännchen in einem von Panik erfüllten Raum den Not‐ ausgang zu suchen. Folgerichtig gab er sich diesmal nicht mehr mit einem seitlichen Kopfzucken zufrieden, sondern versuchte kurz nach hinten Reißaus zu nehmen. Was Clau‐ dius natürlich mit einem noch festeren Schultergriff sofort unterband. Hugh tat einen Schritt auf die verschlossene Tür zu. »Nein, Herr Kowalski, wir sind nur hier, um Sie als Mitar‐ beiter für die Auflösung des Falles zu gewinnen. Es geht um die Klärung von ein paar Fragen, die Sie uns freundlicherwei‐ 173
se beantworten möchten. Sie haben jahrelang mit Hedwig Rinke einen Unterhaltsstreit wegen Udo geführt, obwohl Sie mit der Frau lange zusammengelebt haben und ihre Schwan‐ gerschaft in diese Zeitspanne fiel. Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, daß Udo nicht Ihr Sohn war?« »Wie, ist das alles?« sagte Kowalski und versuchte sich diesmal auf die sanfte Tour aus Claudius’ Umschlingung zu lösen. Es gelang ihm wieder nicht. »Um mich das zu fragen, kommen Sie extra her? Herrgott, das alles steht doch in den Tonnen von Prozeßakten. Außerdem haben mich Ihre Kolle‐ gen deswegen schon tausendmal ausgequetscht.« »Erzählen Sie es mir einfach noch einmal.« »Also, Hedda ist ein ziemlich lockeres Mädchen. Jedenfalls hatte sie zu dieser Zeit noch etwas Mädchenhaftes. Besonders ein Teil von ihr ist mehr als locker, wenn Sie verstehen, was ich meine …« Es war wirklich großartig, wie fix der Alte sein Vorhaben er‐ raten hatte und nun so souverän improvisierte. Hugh warf einen letzten Blick auf die beiden, die Schulter an Schulter in das Gespräch verwickelt vor der Balkontür standen, dann packte er die Gelegenheit beim Schopfe. Er drückte die Klinke linker Hand leise herunter und öffnete die Tür. Das herein‐ strömende fahle Tageslicht zeigte weder ein Schlafzimmer noch irgendeine Frau darin. Es handelte sich um einen winzi‐ gen Raum mit heruntergelassenen Jalousien, vielleicht acht Quadratmeter groß, der ganz offensichtlich Nobys zweitem Hobby nach dem Biertrinken diente. Auf einem metallenen Computerschreibtisch stand ein schwarzer Flachbildschirm, 174
darunter in einem Fach der abgeschaltete Rechner, und auf dem freien Platz ringsherum stapelten sich DVD‐Rohlinge, Computerfachzeitschriften und kleine Spezialgeräte zur Stei‐ gerung der Rechnerleistung. Hugh fiel auf, daß nirgendwo ein Drucker zu sehen war. Offenkundig hatte Noby das Ideal vom »papierlosen Büro« für sich Realität werden lassen und erle‐ digte sämtliche seiner Angelegenheiten im sogenannten Cy‐ berspace. Alle Achtung für einen, der seit Jahren von der So‐ zialhilfe lebte! Oder aber Noby achtete penibel drauf, daß kei‐ ne seiner cyberspacigen Aktivitäten auf Papier gebannt wur‐ de. Ein kleiner Hinweis darauf bezeugte ein vom Rechner abge‐ hendes Kabel, das sich unten durch die Nebenwand ins Wohnzimmer bohrte und von dem Hugh annahm, daß es dort den LCD‐Bildschirm mit vom Internet heruntergeladenen Filmchen versorgte. Doch wenn man von diesen im gesetzli‐ chen Unschärfebereich schwebenden Vergehen und von den wohl soeben geleerten zwei Bierflaschen neben dem Tischfuß einmal absah, gab es nichts, was ausgereicht hätte, um Herrn Norbert Kowalski zu lebenslänglich zu verdonnern. Hugh wollte gerade die Tür leise wieder schließen, als ihm mit einem Mal etwas Irritierendes ins Auge sprang. Eine win‐ zige orange Diode an der Unterleiste des Bildschirms und eine am Rechner selbst glühten noch. Das System war also doch nicht vollständig heruntergefahren, sondern nur vorüberge‐ hend in den Stand‐by‐Modus versetzt worden. Vielleicht hatte für das Herunterfahren die Zeit nicht mehr gereicht, als die Polizei so nachdrücklich um Einlaß verlangte. 175
Hugh wandte den Kopf zu Claudius und Kowalski, die im‐ mer noch das Bild zweier trauter Kumpane in anregendem Gespräch abgaben. Beim näheren Hinsehen fiel jedoch auf, daß der Oberkommissar Noby mit brüderlich ausgestrecktem Arm um seine Schulter fest im Griff hatte. Dessen etwas schie‐ fe Körperhaltung signalisierte den inständigen Drang nach Abstand, was jedoch ein frommer Wunsch bleiben würde, bevor Hugh seine Spionagearbeit nicht erledigt hatte. »… ja, wir haben damals zwar zusammengelebt, Herr Kommissar, aber Hedda gehört zu der Sorte Weib, das sogar mit einem Alligator zusammenleben würde, wenn der ihr im viertelstündigen Rhythmus einen Schnaps spendiert, verste‐ hen Sie«, fuhr der Fachmann für Computer und Bier gerade mit der Klageleier gegen seine Ex fort. »Die will immer Party, und wie das so ist bei Partys, man kommt sich näher. Zu der Zeit jedenfalls ist ihr die halbe Ucker‐Siedlung nähergekom‐ men, das kann ich Ihnen verraten. Und plötzlich sagt sie, sie wäre von mir schwanger …« Hugh wog im Bruchteil einer Sekunde die Möglichkeit des Ertapptwerdens bei einer illegalen Einsicht in die Computer‐ daten eines immer noch als unbescholten geltenden Bürgers gegen die folternden Vorwürfe ab, die er sich nachher machen würde, wenn er es nicht tat. Und kam schnell zu dem Schluß, daß das letztere mit schlimmerem Sodbrennen verbunden sein würde. Er betrat den dunklen Raum, begab sich flugs zum Tisch und drückte den Stand‐by‐Knopf auf der Tastatur, den ein eingestanzter Halbmond kennzeichnete. Mit einem leisen Pfeifgeräusch fuhr der Rechner hoch und präsentierte 176
auf dem langsam heller werdenden Bildschirm ein lachsfar‐ benes Mosaik. Auf den ersten Blick sah es jedenfalls so aus, als handelte es sich bei dem Bild um ein Mosaik, denn es bestand flächendeckend aus unübersichtlich vielen kleinen rechtecki‐ gen und quadratischen Schnipseln. Doch je mehr sich der Kontrast, die Helligkeit und die Farben intensivierten, desto deutlicher wurde es, daß diese Schnipsel selbst winzige Bilder waren, Miniaturen, genauer gesagt, miniaturisierte Fotogra‐ fien. Es gab keinen Zweifel, Hugh betrachtete ein Album – ein Datenpaket von Fotos oder zum Standbild gefrorenen Film‐ chen, die man mit dem Cursor nur anzuklicken brauchte, um sie zu vergrößern oder zum Laufen zu bringen. Der vorherr‐ schende Lachsfarbton hatte sich längst zu der Farbe von men‐ schlicher Haut stabilisiert – von sehr junger menschlicher Haut. Mehr als die Hälfte der Bilder hatte das gleiche Motiv: Ein nacktes Kind, vornehmlich ein Kleinkind, befriedigte oral ei‐ nen nackten erwachsenen Mann, vornehmlich mit einem Schmerbauch. Oder der Schmerbauch hielt die Beine eines fünf‐, sechs‐, siebenjährigen Mädchens gespreizt und streckte dessen Geschlecht im grellen Scheinwerferlicht dem Betrach‐ ter entgegen. Dies waren noch die harmlosesten Eindrücke. Der Rest bewegte sich nicht am Abgrund der menschlichen Seele entlang, sondern zeigte unmittelbar, wie es um die men‐ schliche Seele im freien Fall in den Abgrund bestellt ist. Es war eine Reise zu einem Ort, in dem die Physik des Menschseins auf den Kopf gestellt, wenn nicht sogar vollstän‐ dig abgeschafft worden war. Da gab es Kinder mit blutleeren, 177
traurigen Gesichtern, die dem Hauptdarsteller/Regisseur als bloße leblose Dinge dienten, die zufällig Lust erzeugten und sich von ihm unter unmöglichsten Verrenkungen »gebrau‐ chen« lassen mußten. Oft mußten sie auf Geheiß des Inszena‐ tors auch untereinander eine schäbige Kopie von jenem Ver‐ halten liefern, das sie erst nach der Geschlechtsreife verstehen und ausüben würden. Aber so wie es in Alpträumen manch‐ mal Treppen zu einem unterirdischen Reich der Verdammnis gab, die kein Ende nehmen wollten, wie tief man auch hinab‐ stieg, so wurde der Tiefpunkt in diesem Album ebenfalls nie erreicht, ganz im Gegenteil, der Weg nach unten wurde stets aufs neue von einem noch elenderen Tiefpunkt unterboten. Waren es die Babys, die gar nicht einmal mitbekamen, was mit ihnen angestellt wurde, und die nur den unerträglichen Schmerz spürten? Oder waren es diese kleinen Mädchen, de‐ ren Augen sich ganz langsam mit Tränen füllten, während sie den Anweisungen des regieführenden »Genießers« folgten? Oder die wie tot wirkenden Gesichter der kleinen Jungen, die schon im Alter der Unschuld erfahren mußten, daß diese Welt eben nicht allein mit Piraten, Rittern und Weltraumcowboys angefüllt war, sondern überwiegend mit dem übelriechenden Schleim erwachsener Männer? Hugh hatte darauf auf die Schnelle keine Antwort parat. All die fotografischen Eindrücke hatten seinen Verstand massiv in Lähmung versetzt. Nur zwei Dinge wußte er: Hedda hatte die Wahrheit gesagt, auch wenn sie nach außen hin das Bild der unglaubwürdigen Asozialen abgab. Weder beruhten ihre Haßattacken gegen Norbert Kowalski auf Hirngespinsten 178
noch auf Rachegelüsten, weil der keinen Unterhalt zahlen wollte. Und das Rätsel, wodurch Noby die kärgliche Sozialhil‐ fe aufbesserte, war gelöst. Als Hugh wieder ins Wohnzimmer trat, verstummte urp‐ lötzlich das Gespräch zwischen Claudius und Kowalski. Die Telepathie schien inzwischen ein flächendeckendes Ausmaß angenommen zu haben, denn sowohl Claudius als auch Noby ahnten offenkundig, welche Geheimnisse im Hinterzimmer gelüftet worden waren. Claudius nahm den Arm unvermittelt von Kowalskis Schul‐ ter. Er drehte sich mit solcher Behutsamkeit zu Hugh um, als würde jede hastige Bewegung zu einem Bruch führen. »Er dealt übers Internet mit Kinderpornos!« sagte Hugh. In dem Moment holte Kowalski mit der Rechten blitzschnell aus und verpaßte Claudius einen donnernden Schlag auf die Nase. Während der Oberkommissar rückwärts auf den Tep‐ pichboden kippte, machte Noby einen Riesensatz durch die halbgeöffnete Balkontür, stürzte hinaus und sprang über das Geländer auf die Straße. Hugh eilte zu seinem auf dem Boden liegenden und stark aus der Nase blutenden Chef und richtete ihn halbwegs wieder auf. »Halb so schlimm, Juch, mir geht’s einigermaßen«, sagte Claudius, während er mit zittrigen Fingern nach einem Ta‐ schentuch in seiner Jackentasche fummelte. Der Blutschwall hatte sich in Sekundenschnelle wie ein rotlackierter Latz über die gesamte untere Hälfte seines Gesichts und den Hals ge‐ legt. »Laufen Sie dem Kerl hinterher, und fangen Sie ihn, um Gottes willen!« 179
Das ließ sich Hugh nicht zweimal sagen. Er stürmte ebenfalls auf den Balkon und hechtete über das Geländer auf den Bür‐ gersteig. Der Regen fiel heftig und in dicken Tropfen und ver‐ schleierte dadurch die Sicht. Kowalski hatte zwar nicht viel, aber immerhin Übergewicht. Und wahrscheinlich war er zu‐ letzt so schnell gerannt, als er zwölf war und seine Lungen teerfrei. Deshalb war es nicht verwunderlich, daß sich der Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger in kürzester Zeit verringerte. Es war der sinnloseste Fluchtversuch, den Hugh je gesehen hatte. Vorne der tölpelhaft hetzende Joggingho‐ senmann, der wahrscheinlich bereits jetzt mit Atembeschwer‐ den zu kämpfen hatte, und zirka fünfzig Meter hinter ihm Hugh, der sich erst so allmählich warmzulaufen begann. In dem gemütlichen Tempo hätte er die Jagd mindestens eine Stunde lang durchhalten können, im gnadenlosen Turbogang immerhin eine Viertelstunde. »Wohin läufst du, du Arsch?« rief Hugh Kowalski hinterher, und wenn er nicht noch diese Ekelbilder aus dem Computer im Hinterkopf gehabt hätte, hätte er ihn ausgelacht. »Habe ich dir schon erzählt, daß ich beim New‐York‐Marathon Platz zwölf belegt habe?« Kowalski steuerte auf eine vielbefahrene Querstraße zu, in der dichter und rasanter Verkehr herrschte. Spätestens dort konnte Hugh ihn stellen, weil an eine unproblematische Überquerung nicht zu denken war. Am liebsten wäre er ste‐ hengeblieben und hätte noch ein bißchen seinen Gedanken nachgehangen, bevor er diesen Schwachkopf dann in einem fulminanten Endspurt einholte. Dann aber spürte er sich jäh 180
von einem gewaltigen Handikap gehindert. Die Schuhe! Seine italienischen Dreihundertachtzig‐Euro‐Treter – sie waren durch das abfließende Regenwasser auf dem krumm und schief verlegten Bürgersteig völlig naß geworden! Die Feuch‐ tigkeit kroch schon in seine Socken. Wenn er so weitermachte, würde das Leder seine schnittige Form verlieren und sie, auch wenn sie wieder trocken waren, nie wieder erlangen. Das durfte unter keinen Umständen passieren! »Bleib stehen!« rief Hugh und preschte mit der gesamten Wucht, die in seinen durchtrainierten Gliedern steckte, vor‐ wärts. Innerhalb weniger Sekunden befand er sich knapp zehn Meter hinter Noby, der vor Erschöpfung schon in leicht‐ en Schlangenlinien auf dem Bürgersteig torkelte. Die Quer‐ straße rückte immer näher, und das Geräusch des rasenden Autostroms hatte inzwischen Brüllautstärke angenommen. »Bleib doch endlich stehen, du verdammter Idiot!« schrie Hugh und spürte, wie der Ärger über die versauten Schuhe in ihm explosive Kräfte und unbändige Aggressionen gleicher‐ maßen freisetzte. »Wo willst du denn hin?« Nur noch fünf Meter! Hugh überlegte, ob er langsam zum Sprung ansetzen sollte. Doch obwohl Noby mittlerweile bei‐ nahe den Atem seines Verfolgers am Genick spüren mußte, hechelte er sein albernes Weglaufprogramm weiterhin schlin‐ gernd und wie eine ferngesteuerte Puppe herunter. Hugh ging die gleich erfolgende Aktion schnell im Kopf durch: Er würde sich von hinten auf Kowalski werfen, dann würden sie beide ineinander verkeilt auf den nassen Bürgersteig stürzen, dabei würde der rotbraune Anzug, den er erst heute morgen 181
von der Reinigung abgeholt hatte, naß und schmutzig wer‐ den. Und so blöd, wie dieser Kerl war, würde er sich sicher auch noch wehren, dabei würden sie über den Boden rollen, bis Hugh das Treiben schließlich und endlich mit einem Faustschlag in die Biervisage beendet hatte. Fazit: Täter ge‐ faßt, Anzug und Schuhe endgültig hin! Da hatte Hugh eine Eingebung. Keine drei Meter hinter sei‐ nem Ziel blieb er abrupt stehen, zog sich einen Schuh aus und schleuderte ihn mit aller Kraft auf den Hinterkopf des Flüch‐ tenden. Er hörte deutlich ein »Tock«, als der Schuh mit der Absatzkante am Kopf aufschlug. Noby zuckte, ohne innezu‐ halten, zusammen, wobei jedoch sein Lauftempo augenblick‐ lich langsamer wurde und der Schlingerkurs ausladender. Er wankte nur noch, ohne sich umzudrehen, verließ den Bürger‐ steig und taumelte in die Querstraße. Von links sauste ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit he‐ ran und erfaßte ihn mit der Schnauze. Bremsende Räder kreischten, und Norbert Kowalski wurde wie eine hohle At‐ trappe über die Motorhaube auf das Dach des Wagens ge‐ schleudert, wo er sich einmal überschlug und dann hinten wieder auf die Straße krachte.
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11. Im Zimmer 168, dritter Stock, Trakt D/Unfallchirurgie des städtischen Franz‐von‐Assisi‐Krankenhauses hätte man den Eindruck gewinnen können, daß sich die komplette Ver‐ wandtschaft des Verunfallten zum Krankenbesuch eingefun‐ den hatte. Solche Aufmerksamkeit hätte sich wohl jeder ans Bett Gefesselte gewünscht. Leider handelte es sich aber bei den vielen Leuten, die um das Bett herumstanden, nicht um die lieben Verwandten – wenn einer wie Kowalski überhaupt Verwandte hatte, die ihn sehen wollten. Als Claudius und Hugh die Zimmertür öffneten, blickten ihnen sieben Männer ins Gesicht, wobei die Skala des mimi‐ schen Ausdrucks von unglücklich bis haßerfüllt reichte: zu‐ nächst Hartmut Weinstein. Er war noch erbärmlicher geklei‐ det als Claudius am Tag zuvor und wirkte wie ein demenz‐ kranker Großvater, der sich während seiner konfusen Wande‐ rungen durch die Krankenhausflure im Zimmer geirrt hat. Der Leiter der Sonderkommission trug einen weichen Hut wie ein Angestellter aus den Fünfzigern, einen verschossenen grünen Regenmantel und blinzelte durch die lupendicken Gläser seiner schweren Brille ziemlich vergrämt zu den beiden Eintretenden auf. Ein ledergesichtiger Kerl mit Mallorca‐Bräune stand neben dem Kopfende des Bettes, in dem der frisch Operierte lag. Der Mann war sicher nur wenige Jahre jünger als Weinstein, doch an Eleganz übertraf er selbst Hugh. Er hatte eine schulterlange 183
Silbermähne und schmückte sich mit einer goldenen Rolex‐ Yacht‐Master und einem metallicfarben schimmernden Anzug aus der aktuellen Kollektion von Armani, der eigentlich für Dreißigjährige gedacht war. Auf seiner Nase saß eine gold‐ randige Lesebrille. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um sofort zu wissen, daß es sich bei ihm um den Rechtsanwalt des Patienten handelte. Er machte ein solch vorwurfsvolles Gesicht, als hätte nicht sein Mandant, sondern das Polizeiduo, das ihn gefaßt hatte, sich mit Kinderpornos eingelassen. Erik Simon und »Uli« Heidler, die schärfsten Hunde der Sonderkommission »Udo«, standen direkt am Eingang und vermittelten durch ihre blutgeränderten Augen und rotange‐ laufenen Köpfe den Eindruck von zwei kurz vorm Bersten stehenden Kesseln. Simon war ein Schrank von einem Mann, dessen dunkle Haare sich am Pol des Schädels wie ein ent‐ laubter Wald arg lichteten und die Kopfhaut durchscheinen ließen. Mit einer Glatze hätte er mühelos als Bruce‐Willis‐ Double in Hollywood anheuern können, denn es war un‐ schwer zu erkennen, daß er unter seiner Kleidung nichts als massive Muskelpakete trug. Er hatte ein gewaltiges Aggressi‐ onsproblem, war deswegen auch mehrmals in Therapie gewe‐ sen und sogar einige Male vom Dienst suspendiert worden. Seine liebe Ehefrau hatte ihn während dieser Krisenphase immer fürsorglich begleitet – indem sie bei ihren wiederholten Krankenhausaufenthalten dem Arzt auf die Frage, warum ihr Gesicht schon wieder zertrümmert sei, stets »Bin die Treppe hinuntergefallen« zur Antwort gab. Simon steckte seit unge‐ fähr hundert Jahren in einer halblangen braunen Lederjacke, 184
die mittlerweile großflächig abgewetzt und schon ganz hell geworden war. Vermutlich ging er mit dem Teil sogar ins Bett. Uli Heidler sah mit seiner linksgescheitelten strohblonden Haarpracht, dem blassen schmalen Gesicht, dem Kassenge‐ stell auf der Nase und dem grauen Anzug von der Stange auf den ersten Blick wie das genaue Gegenteil von Simon aus, eigentlich wie ein Milchbubi. Doch der Eindruck täuschte. Er betete seinen Partner derart an, daß er vermittels einer aufge‐ setzt machohaften Körpersprache und eines derben Vokabu‐ lars schon eine schlechte Karikatur von Simon abgab. Dennoch konnte keine auf verzwickte Fälle spezialisierte Kommission auf das Paar verzichten, weil es in den zurück‐ liegenden Jahren den Erfolg überwiegend auf seiner Seite ge‐ habt hatte. Im Zimmer befanden sich noch ein etwas zu klein geratener Arzt iranischer Abstammung im blütenweißen Kittel, auf des‐ sen Brustnamensschild »Dr. Habibi« stand, und ein schwer‐ gewichtiger alter Streifenpolizist, der den soeben aus der Nar‐ kose erwachten Patienten bewachen sollte. Patient Noby stand im Mittelpunkt dieses Szenarios, viel‐ mehr lag er im Bett und blinzelte über auberginefarben aufge‐ quollene Unterlider hinweg die versammelte Mannschaft an. Er hatte einen komplizierten Beckenbruch, an dem er frisch operiert worden war, mehrere gebrochene Rippen und Quet‐ schungen überall am Körper, die sich großflächig von rot über blau nun mehr zu rabenschwarz transformiert hatten. Sein ganzer Kopf war eingewickelt in eine Art Mullturban, und er schien binnen weniger Stunden merkliche Kilos abgenommen 185
zu haben. Infusionsschläuche und Verbindungskabel führten von der zentralen Überwachungsanlage zu seinem Körper; in seinen Nasenlöchern steckten transparente dünne Schläuche für frische Sauerstoffzufuhr. Gleich nach dem Unfall war Hugh auf die vielbefahrene Straße gestürzt und hatte den Verkehrsstrom durch wildes Wedeln der Arme zum Erliegen gebracht. Dann hatte er über Handy zwei Rettungswagen angefordert, einen zum Unfall‐ ort, einen zu Kowalskis Wohnung. Anschließend noch Strei‐ fenwagen zu jeweils beiden Orten. Als schließlich die Kolle‐ gen eintrafen und sich zusammen mit den Sanitätern um den bewußtlosen Kowalski kümmerten, begab er sich zu Claudius. Der wurde unmittelbar vor dem Wohnhaus an der offenen Hecktüre des Rettungswagens behandelt. Seine eh schon achtungsgebietende Nase war inzwischen zur Größe und Ge‐ stalt einer besonders häßlichen Knolle aufgebläht und hatte sich weinrot verfärbt. Jetzt am Nachmittag, als sie Kowalskis Krankenzimmer betraten, hatte die Farbe schon zu purpurvio‐ lett gewechselt und der Umfang noch mehr zugenommen. »Volltrottel!« sagte Erik Simon und stierte Hugh so an, als sei er die niedrigste Kreatur in Gottes Schöpfung. »Du gott‐ verdammter Volltrottel!« Er wandte sich an Claudius, der mit seiner mißgestalteten Nase wie eine einzige Provokation wirkte. »Das gilt auch für Sie, Sie Ermittlungskünstler! Warum mußtet ihr euch da ein‐ mischen, ihr Blödmänner? Jetzt ist alles im Arsch!« »He, mal sachte, Simon«, sagte Hugh, während er sich mit seinem Chef an den beiden Wadenbeißern vorbei ins Zimmer 186
schob. »Immerhin haben wir einen dicken Fisch an Land ge‐ zogen – was euch, nebenbei bemerkt, in einem Jahr Kommis‐ sionsarbeit nicht gelungen ist.« »Ich möchte alle hier Anwesenden darauf aufmerksam ma‐ chen, daß mein Mandant auf keinem der Fotos zu sehen ist«, bemerkte der Anwalt und rückte seine goldglänzende Halb‐ brille zurecht. »Du hältst die Schnauze!« bellte Simon und baute sich breit‐ beinig vor Hugh und Claudius auf. Uli Heidler folgte seinem Idol wie ein von ihm scharfgemachter Kampfhund und imi‐ tierte seine angriffslustige Körperhaltung. »Von wegen nichts erreicht! Ihr wißt ja gar nicht, was für ei‐ nen Schlamassel ihr angerichtet habt. Wir überwachen den Kerl, seitdem er in unserem Radius aufgetaucht ist.« »Ach wirklich?« entgegnete Hugh und merkte gleich, daß er einen Tick zu cool klang, als daß die Männer es ihm abge‐ nommen hätten. »Wir haben aber kein Überwachungsteam von euch in der Nähe des Hauses gesichtet. Und es kam auch keiner von euch herbeigeeilt, als ich ihm bei dem Fluchtver‐ such nachgesetzt habe.« Simon lachte ein bitteres Lachen, das wirkte, als müsse er gleich weinen. »Was für ein Fluchtversuch, du Spinner? Wo‐ hin soll denn so eine Null wie Kowalski schon flüchten? Glaubst du etwa im Ernst, daß wir bei einem, der übers Inter‐ net Kinderpornos vertickt, hinter einem Busch vor der Tür hocken und notieren, um welche Uhrzeit er genau sich Bier von Aldi holt?« »Wo ist denn Ihr Problem, Freund?« mischte sich Claudius 187
ein. »Wir sind einem Hinweis nachgegangen und haben den Verdächtigen auf frischer Tat ertappt. Was hätten wir darauf‐ hin sonst tun sollen? Ihn um ein Autogramm bitten?« Simon öffnete den Mund, und es war mehr als vorhersehbar, daß daraus nichts als unflätiges Zeug hervorbrechen würde. Doch sein Schatten kam ihm zuvor. »In welcher Dekade leben Sie denn eigentlich, alter Mann?« sagte Heidler und machte ein höhnisches Gesicht, das den Unterschied zwischen seiner eigenen Dekade und der des alten Mannes sichtlich unterstreichen sollte. »Verdächtige die‐ ses Typs werden kaum mehr vor Ort beschattet, weil sie ihre Verbrechen über das Internet begehen. Es gilt daher in erster Linie, ihre Netzaktivitäten zu registrieren. Kowalski wird seit Hedwig Rinkes Aussage vor einem Jahr von zwei unserer Netzspezialisten rund um die Uhr überwacht. Er hat Kontakte zu etwa siebenhundert Gleichgesinnten in aller Welt. Das von Hardcore‐Kinderfickern fabrizierte Material wird rege unte‐ reinander ausgetauscht. Zuweilen sind auch richtige Geld‐ summen im Spiel. Die Bilder und Filme sind verschlüsselt oder zerhackt und werden über wandernde Server verschickt, was sowohl den Adressat als auch den Empfänger weitge‐ hend anonymisiert. Der Ursprung des Datenstroms ist also nur unter erschwerten Bedingungen zu ermitteln. Wir haben Kowalski deshalb an der langen Leine gehalten, bis wir genug Beweise gesammelt hatten, vor allem aber seine weitverstreu‐ ten Kontaktleute lokalisieren konnten. In ein paar Tagen woll‐ ten wir in einer konzertierten Aktion mit Interpol und dem FBI überall gleichzeitig zuschlagen. Anwalt Silbermähne dort 188
drüben hat aber nach der Verhaftung seines Mandanten so viel Staub aufgewirbelt, daß viele der Kinderfreunde im Mo‐ ment damit beschäftigt sein dürften, ihre Festplatten und DVDs durch den Schredder zu jagen. Danke auch recht schön für die Hilfe, ihr Clowns!« »Ich verbitte mir diese Unterstellungen, Herr Hauptkommis‐ sar!« rief der Anwalt aus dem Hintergrund und kriegte es trotz seiner geschniegelten Erscheinung hin, sich zu einer Pose des um seine Bürgerrechte kämpfenden Davids zu spreizen. »Und was Sie angeht, Herr Hoffer, gegen Sie habe ich schon Anzeige wegen Mißhandlung eines Verdächtigen erstattet und eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingereicht. Nehmen Sie das bloß nicht auf die leichte Schulter, ich werde das in der Presse ziemlich breittreten.« Hugh hatte das Gefühl, als hätte man den Boden unter sei‐ nen Füßen mit Schmierseife behandelt und er müsse jeden Moment darauf ausrutschen und böse stürzen. Zum ersten Mal in seiner Karriere drohte seine so angestrengt gepflegte weiße Weste schmutzige Flecke abzubekommen. »Ich verstehe nicht recht, was Sie unter Mißhandlung verstehen, Herr An‐ walt«, sagte er. »Meine Herren, wäre es vielleicht möglich, daß Sie Ihre Mei‐ nungsverschiedenheiten vor der Tür austragen?« sagte Doktor Habibi leise. »Immerhin ist der Patient erst vor einer halben Stunde nach einer schweren Operation aus der Narkose er‐ wacht.« »Du hältst die Schnauze!« bellte Simon erneut und warf dem Arzt einen Blick zu, der seinerseits Assoziationen an Operati‐ 189
on und Narkose auslöste. »Wir können uns auch mal deine Akte mit den vielen Kunstfehlern vornehmen, Perserteppich‐ Boy. Mal gucken, ob du dann immer noch so rührend um dei‐ nen Patienten besorgt bist.« Doktor Habibi wandte den Kopf unvermittelt zum Fenster, als hätte er von dort verlockende sphärische Klänge vernom‐ men. Dann verfiel er in Schweigen. »Sie haben meinen Mandanten einen Schuh an den Kopf geworfen«, antwortete der Anwalt ruhig auf Hughs Frage. »Dadurch erlitt er eine Gehirnerschütterung und geriet vor einen vorbeifahrenden Wagen. Praktisch haben Sie ihn in die‐ sen Unfall gehetzt. Das ist ein klassischer Fall von Mißhand‐ lung! Ich behalte mir vor, Sie noch auf Schmerzensgeld zu verklagen.« »Was hätte ich denn Ihrer geschätzten Meinung nach sonst tun sollen, um einen fliehenden Täter zu stoppen, Sie Schlau‐ meier?« fragte Hugh. »Nun, ich gehe davon aus, daß Sie eine qualifizierte Ausbil‐ dung genossen haben und wissen müßten, welche Maßnahme ein Polizist in einer solchen Situation zu ergreifen hat.« Er legte genüßlich eine Kunstpause ein. Dann fuhr er mit aufge‐ setzt unschuldiger Miene fort: »Sie hätten ihm ins Bein schie‐ ßen müssen, um ihn am Laufen zu hindern.« In Sekundenschnelle senkte sich ein Hitzepolster auf Hughs Körper, besonders auf den Gesichtsbereich, und er konnte förmlich zusehen, wie sämtliche Hemmungen von ihm abfie‐ len, gleich Murmeln, die aus einem aufgerissenen Säckchen herausplatzten. Irgend etwas in seinem Kopf, eine eminent 190
wichtige Sicherung, das spürte Hugh jetzt, war nach dem letz‐ ten Satz des Anwalts durchgebrannt. »Du Kanaille!« schrie er. »Du gottverdammte, miese Kanail‐ le!« Dann stürzte er mit zwei Riesenschritten auf den Anwalt zu, aus dessen braungebranntem Ledergesicht jede Selbstgerech‐ tigkeit verschwand und einem geschockten Ausdruck wich. Kurz bevor Hughs Fäuste das Ziel trafen, wurde er von den anderen Männern im Raum in den Klammergriff genommen. Hugh hatte das Gefühl, als umschlängen die Arme eines Kra‐ ken seinen Leib. »Hör auf, du machst alles nur noch schlimmer, du Schwach‐ kopf!« sagte Simon. »Mäßigen Sie sich, Herr Hoffer«, sagte Weinstein, der schwer atmete. »Claudius und Sie haben an einem Tag schon mehr erreicht als die ganze Kommission in einem Jahr. Ge‐ fährden Sie das jetzt nicht.« »Wie bitte, ich höre wohl nicht recht«, sagte Simon, und Uli Heidler wirkte so, als höre er auch nicht recht. »Juch, lassen Sie doch den Affen reden, was er will.« Clau‐ dius ergriff mit einer Hand Hughs Nacken und zwang ihn so, ihm direkt in die Augen zu schauen. »Sie glauben doch nicht etwa, daß er damit durchkommt?« Entgegen aller Aufforderungen um Beherrschung spürte Hugh, wie nun eine weitere wichtige Sicherung unter seiner Schädeldecke durchschmorte. Die Bilder aus dem Computer kamen wieder in sein Bewußtsein gekrochen. Er bekam trotz des Geschlinges um seinen Oberkörper einen Arm frei und 191
griff damit nach unten. Gut zu wissen, daß der Patient sich bei dem Unfall auch ein paar Rippen gebrochen hatte. Obwohl die anderen Männer ihn mit aller Kraft zurückrissen, schaffte er es, die Hand gerade noch auf Kowalskis Brustkorb zu pla‐ zieren. Der versuchte, sich mit dem hin‐ und herschlagenden Turbankopf aufzurichten, was ihm nicht gelang. »Du perverse Sau, du warst es!« brüllte Hugh. »Du hast all diese Kinder gekidnappt und den Jungen kaltgemacht. Gib’s zu, oder ich werde dich hier und jetzt eigenhändig noch mal operieren!« »Um Gottes willen, so tun Sie doch etwas, Herr Weinstein!« sagte der Anwalt aus dem Abseits und klang in Anbetracht der brenzligen Situation eigentlich recht sachlich. »Der Mann foltert ja den Verdächtigen!« »Nein, Herr Anwalt, noch foltert er den Verdächtigen nicht«, gab Weinstein keuchend zurück, während er mit diagonal übers Gesicht verrutschter Brille und schiefhängendem Hut Hugh vom Bett wegzudrängen versuchte. »Seine Hand ruht lediglich auf dem Oberkörper des Verdächtigen.« »Genau«, sagte Simon, während er ebenfalls schnaufend damit beschäftigt war, Hugh im Zaum zu halten. »Und wenn du etwas anderes siehst, können wir die beschissene Visage von deinem Mandanten locker mal in eine der Fotoserien reinretuschieren. Glaub mir, von solchen digitalen Tricks hat kein Richter eine Ahnung. Dann könnt ihr beiden Hübschen euch von der Hoffnung auf ein bißchen Geldstrafe verab‐ schieden.« »Von oben die ersten drei Rippen rechts«, meinte Doktor 192
Habibi. »Leute, ich habe eigentlich seit einer halben Stunde Feiera‐ bend«, sagte der seiner Frühpensionierung entgegenschlafen‐ de fette Streifenpolizist und lockerte den Griff um Hughs Tail‐ le. »Den Foltervorwurf nehme ich wieder zurück«, meldete sich der Anwalt. »Was, bist du verrückt geworden, du Arsch?« röchelte Ko‐ walski und begann tatsächlich zu weinen. Ein heftiges Zittern erfaßte ihn, und aus seinem eh schon arg blassen Gesicht mit den auberginefarbenen Verdickungen unter den Augen schien sich allmählich auch der letzte Blutstropfen zu verabschieden. Es fehlte nicht viel, und er würde das Bewußtsein verlieren. Auf der Polizeiführungsakademie hatte Hugh einmal eine Vorlesung besucht, welche die Unfähigkeit zur Empathie bei Gewaltverbrechern, Sadisten und kaltblütigen Mördern zum Thema gehabt hatte. Es war eine ziemlich akademische Ver‐ anstaltung gewesen, bei der sich ein Professor lang und breit darüber ausgelassen hatte, ob die Ursache für dieses erschüt‐ ternde Fehlen an menschlichem Mitgefühl nun genetischer Natur, sozialisationsbedingt oder dem Milieu verschuldet sei. Eine eindeutige Antwort darauf hatte der gute Professor al‐ lerdings trotz seiner ermüdenden Schwafelei letztendlich nicht geben können. Was den ansonsten staubtrockenen Vor‐ trag aber einigermaßen interessant gemacht hatte, war die kleine Sammlung an Fallbeispielen gewesen. Beispiele dessen, was Menschen bereit waren, anderen Menschen anzutun. Die‐ se Fälle hatten Hugh damals dermaßen umgehauen, daß er 193
noch wochenlang darüber gebrütet hatte. Nun befand er sich in einer vergleichbaren Situation. Unter ihm lag ein Musterbeispiel an Wehrlosigkeit, ein Mensch, den der Schmerz bereits so fest in seinen Klauen hielt, daß jede Zufügung von weiterem Schmerz ihn nicht nur in die Bewußt‐ losigkeit stürzen würde, sondern auch das Wertelot des Schmerzzufügers ein für allemal verändert hätte. Gewiß, No‐ by hatte für seine Gelüste billigend in Kauf genommen, daß unschuldige Seelen ausgelöscht wurden und künftig bar einer Unschuldserfahrung durchs Leben torkeln mußten. Doch in‐ zwischen hatte der Verursacher der Misere die Rolle gewech‐ selt und war selbst in Gefahr, zum Opfer eines zur Empathie unfähigen Sadisten zu werden. »Alles ist relativ«, hätte wohl Einstein dazu gesagt. Und wäre Einstein Kriminalist gewesen, dann hätte er noch hinzugefügt, daß in diesen Gefilden Schwarz und Weiß nicht existierten, sondern nur die Farbe Grau. Claudius’ Worte hallten durch Hughs Inneres wie der Klang eines eingängigen Akkords. »Wir werden ihn erschie‐ ßen. Am besten das ganze Magazin leerschießen, damit ihn der Notarzt später nicht wieder hinkriegt. Oder irgend so ein verständnisvoller Richter.« Tja, es war wirklich nicht leicht, den eigenen Weg zu finden, wenn man sich bislang überwie‐ gend mit Kunststudentinnen und italienischen Schuhen be‐ schäftigt hatte … Hugh drückte zu. Kowalski schrie auf, aber trotz dieses gellenden Lauts konn‐ ten alle Umstehenden das Knirschen vernehmen, welches er‐ zeugt wurde, als die Bruchstellen der Rippen aneinanderrie‐ 194
ben. Hartmut Weinstein schien dem Erbrechen nahe und wandte sich vom Bett ab. Ebenso Doktor Habibi. Simon und Heidler betrachteten den Gepeinigten mit neugierigem Blick wie kleine Jungs, die einer Fliege gerade die Flügel ausgeris‐ sen haben. »Ich glaube, das könnte jetzt doch den Tatbestand der Folter erfüllen«, sagte der Anwalt und schaute betreten zu Boden. »Vielleicht«, erwiderte Simon. »Falls du für deine Behaup‐ tung einen Zeugen findest.« Kowalski wand sich vor Schmerzen, soweit der Beckenbruch solche heftigen Bewegungen zuließ und nicht noch schlimme‐ re Qualen verursachte. Sein im Krampf verzerrtes Gesicht wurde in dem Tränenstrom ertränkt, der ihm ohne Unterlaß aus den Augen flutete. Er keuchte rasselnd, weil die gebro‐ chenen Rippen jetzt gegen die Lunge drückten. »Wo sind die Kinder?« brüllte Hugh. »Wo sind sie?« »Ich hab damit nix tun, Mann!« heulte Kowalski und machte würgende Geräusche. Er war jetzt schweißüberströmt und wurde von unwillkürlichen Spasmen heimgesucht. »So glaubt mir doch. Ehrlich, ich habe nur ab und zu mal einen Stricher mit nach Hause genommen. Das war alles. Okay, ich gebe ja zu, daß ich so ein Kind gern mal ficken würde, aber ich bin ein Feigling und habe mich immer nur mit Fotos und Filmen beg‐ nügt.« Hugh drückte wieder auf den Brustkorb. Kowalski schrie noch erbärmlicher auf als beim letzten Mal. Es hörte sich wie das Geheul eines angeschossenen Tieres an. Aus seinem Mund sickerte ihm Speichel auf das Kinn. 195
»Du dreckiger Lügner!« sagte Hugh, den die anderen Män‐ ner noch immer im Klammergriff hielten. »Hedda hat uns erzählt, daß du Udo als Baby dein Ding in den Mund gestopft hast.« »Ja, ja, verdammt, ja!« jaulte Kowalski. »Hab ich vergessen, ehrlich, Mann. Tut mir echt leid. Da und dort habe ich es auch mal selber versucht. Aber es ist immer aufgeflogen, bevor der eigentliche Spaß beginnen konnte. Ihr könnt euch nicht vor‐ stellen, wie gerissen diese Kids heutzutage sind. Hedda hat es übrigens nach einem Tag gemerkt. Ich schwöre, weiter ist nichts passiert. Und mit diesen Entführungen und dem Mord an dem Jungen habe ich wirklich nichts am Hut. Scheiße, wenn ich zwölf Kinder entführt hätte, würde ich doch die Hauptvorstellung filmen und im Internet verchecken. Aber ich hab nichts damit zu tun. Überprüft doch das Zeug auf dem Computer!« Claudius zerrte Hugh mit aller Kraft vom Bett weg. Die an‐ deren Männer halfen ihm halbherzig dabei. Dann ließen sie endlich von ihm ab. Der frischgebackene Folterknecht stand in einer dunklen Ecke des Raumes und spürte nur, wie ihm bit‐ tere Galle hochstieg, so als müsse er sich jeden Augenblick übergeben. Hugh hatte sich zu Schlimmerem hinreißen lassen, als Simon und Heidler es je getan hätten. Claudius’ Gesichtsausdruck wurde düster, als er wieder ans Bett trat. Kowalski, der innerhalb der letzten Minuten minde‐ stens noch ein weiteres Kilo abgenommen haben dürfte und schon wie ein ausgewrungener Lappen aussah, vergrub den Turbankopf tiefer ins Kissen, als der Oberkommissar seinen 196
strengen Blick auf ihn sinken ließ. »So, Noby, jetzt stelle ich dir noch ein paar letzte Fragen«, sagte Claudius. »Sollten deine Antworten unglaubwürdig klingen, beschäftigt sich mein Mitarbeiter mit den sensiblen Händen wieder mit dir.« »Ich sage Ihnen alles, was Sie wissen wollen, Chef«, sagte Kowalski und hustete. »Hast du eine Freundin?« »Nein, bin eigentlich eher schwul. Stehe auf kleine Jungs. Junge Körper, du weißt schon. Ich schaffe mir so eine Schlam‐ pe nur an, wenn Ebbe in der Kasse ist.« »Warst du in den letzten Jahren mit einer Frau liiert, die Hedda und Udo kannte?« »Nein, seitdem ich mit dem Internetzeug angefangen habe – das ist jetzt etwa fünf Jahre her ‐, hat keine Frau mehr meine Wohnung betreten. Ähem, aus Sicherheitsgründen. Wenn mich der Hafer sticht, gehe ich in den Puff. Scheiße, so schwul bin ich vielleicht doch nicht, wenn ich es mir recht überlege.« »Und du hast keiner Frau, sagen wir einmal, einer Bekann‐ ten, Nachbarin oder einer früheren Freundin, erzählt, daß du der Vater von Udo bist, oder ihr ein Bild von ihm gezeigt oder etwas in der Art?« »Ich bin, ich war nie Udos Vater! Das hatten wir doch schon. Nein, ich habe niemandem von den Rechtsstreitigkeiten mit Hedda erzählt. Warum hätte ich das auch tun sollen? Und wie der Junge aussah, wußte ich auch nicht. Ich hab zum ersten Mal ein Foto von ihm in der Zeitung gesehen, als er vor einem Jahr entführt wurde.« 197
»Ich werde noch etwas deutlicher: Kannst du dir eine Frau vorstellen, die dich und Hedda aus früheren Tagen kannte und fälschlicherweise davon ausging, daß Udo euer Kind ist?« Kowalski machte ein Gesicht, als verstehe er die ganze Frage nicht, was weiteres Nachbohren in dieser Richtung von vor‐ nherein nicht besonders erfolgversprechend machte. Ganz langsam und schwach wie ein fahler Lichtpunkt am Ende des Tunnels, der einem geisterhaft entgegenkriecht, formte sich eine letzte Frage in Claudius’ Kopf, ohne daß er sich der ihr innewohnenden Relevanz wirklich klar war. Er erklärte sich die Sache schlicht mit Instinkt. »Und nun die Frage aller Fragen, Noby«, sagte Claudius. »Wenn Hedda dich all die Jahre mit der Unterhaltsklage schi‐ kaniert hat, warum hast du nicht einfach beim Gericht einen Antrag auf einen Vaterschaftstest gestellt? Damit wäre die Wahrheit ans Licht gekommen und der ganze Ärger für dich aus der Welt.« Kowalski war momentan offensichtlich nicht nach Lachen zumute. Dennoch brachte er es fertig, ein boshaftes Grinsen um seine Mundwinkel zu zaubern. »Ganz einfach: Ich wollte, daß die Gegenseite den Vaterschaftstest beantragt. Was sie übrigens nie getan hat.« »Was glaubst du, wieso nicht?« »Weil Hedda ganz genau weiß, daß ich nicht der Vater sein kann. Mit einem Vaterschaftstest hätte der Prozeßzirkus im Nu ein Ende gehabt. Und ich wäre um den Spaß ärmer gewe‐ sen. Zumal der mich ja nie einen Heller gekostet hat. Offen gesagt war das Ganze für mich eine Art Hobby. Ich wollte am 198
Schluß den Triumph über sie genießen, vor allem aber ihrem dämlichen Anwalt eins reinwürgen.« »Aber wie konntest du mit letzter Endgültigkeit wissen, daß du als Vater nicht in Frage kommst? Weil sie sich damals auch mit all den anderen Kerlen eingelassen hat?« Kowalskis Grinsen wurde nun breiter. »Das ist nur die halbe Wahrheit. Ausgerechnet zu dieser Zeit, vielleicht, weil Saturn ungünstig gestanden hat oder weil sie gerade vom Bier auf Schnaps umgestiegen ist, was weiß ich, da hat sie sich nämlich mit der Hurerei zurückgehalten. Doch der liebe Gott hat Hed‐ das Verstand derart tiefergelegt, diese Frau kennt sich nicht einmal mit ihren eigenen Körpervorgängen aus. Dafür aber ich um so präziser. Wissen Sie, ich habe ja nicht studiert und so, aber sobald ich was lese, vor allem über mathematische Dinge, bleibt’s mir im Gedächtnis haften. Tja, verschwendetes Talent! Ich habe damals beobachtet, wann sie ihre Tampons wechselt und wie ihre Periode allmählich weniger wurde. So konnte ich mir bis an die Grenze der Exaktheit ausrechnen, wann ihre fruchtbaren Tage beginnen würden. Im Internet habe ich mal gelesen, daß es sogar Männer geben soll, die die fruchtbaren Tage der Frau riechen können. Wie der Zufall jedenfalls so gespielt hat, habe ich sie in diesen Tagen eben nicht gefickt.« »Bist du dir da ganz sicher?« »Völlig sicher. Ich kann ja rechnen.« »Also hat sie sich den Nächstbesten von der Straße gekrallt, was?« »Unkorrekte Formulierung, Chef. Einen Schwanz hat sie sich 199
zwar gekrallt, aber bestimmt nicht den nächstbesten von der Straße. Sie ist damals nur mal eine Nacht weggeblieben. Das hatte sie schon oft getan, und dann hab ich sie immer am nächsten Morgen vor der Haustür gefunden, scharf an der Grenze zur Alkoholvergiftung. Diesmal war es anders. Sie ist am nächsten Tag halbwegs nüchtern mit einer großen Plastik‐ tüte angedackelt gekommen und wollte sofort pennen. Natür‐ lich habe ich mir die Tüte angeschaut, während sie geschlafen hat. Und was erblicken meine entzündeten Augen da? Einen weißen Eins‐a‐Bademantel, auf den in Nobelschrift ›Grand Hotel Luxor‹ gestickt war, und zwei Handtücher mit dem gleichen Schriftzug. Das Hotel kenn ich. Damals hat ein einfa‐ ches Zimmer dort schon so um die fünfhundert Mark geko‐ stet. Sie hat in diesem Fünf‐Sterne‐Kasten übernachtet und die Sachen mitgehen lassen. Außerdem hab ich in ihrer Jeansta‐ sche ein Briefchen mit Resten von astreinem kolumbianischen Koks gefunden. Allein für das bißchen Zeug hätte nicht mal unsere Sozialhilfe zusammen gereicht.« »Und wie hast du dir das erklärt?« »Das ist es ja: Ich hab’s mir überhaupt nicht erklären können. Daß irgend so ein reicher Sack ausgerechnet die kaputte Hed‐ da zu einem Schäferstündchen in eine Kaviarkiste schleppt, das ist doch lachhaft. Hedda kannst du schon für eine halbe Flasche Korn hinterm Gebüsch haben. Jedenfalls war es später für mich eindeutig, daß Udo das Produkt dieser teuren Nacht im Luxushotel gewesen ist.« Kowalski ließ erschöpft den Turbankopf auf das Kissen sin‐ ken. Mehr schien auch Claudius nicht aus ihm herausquet‐ 200
schen zu können. Weinstein griff wieder ein und versuchte Ordnung zu schaffen. Das heißt, er bemühte sich, all die Häß‐ lichkeiten, die vorgefallen waren, auf seine onkelhafte Art nachträglich wieder ungeschehen zu machen. Der gnadenlose Druck, der wegen der vermutlich noch am Leben befindlichen anderen Kinder auf allen lastete, die angespannten Nerven, die daraus resultierenden schlimmen Entgleisungen – die Herrschaften mochten dafür doch bitte Verständnis aufbrin‐ gen, ja sollten die Sache einfach vergessen. Die gesamte Leier trug Weinstein in einem teils bettelnden, teils drohenden Ton vor. Kowalskis Anwalt blickte so drein, als überlege er sich, ob er wegen der stattgefundenen Ungeheuerlichkeiten eine Mon‐ sterklage am besten gleich gegen das ganze Bundesland ein‐ reichen oder doch lieber wieder einen ausgedehnten Erho‐ lungsurlaub auf Mallorca buchen sollte. Der zitronensaure Ausdruck ließ eher das Letztere vermuten. Doktor Habibi tat so, als wäre nichts weiter passiert, und gab sich den Anschein, als untersuche er gewissenhaft seinen armen Patienten, indem er seinen Brustkorb befingerte wie ein Bäcker die Konsistenz des Teiges. Simon und Heidler warfen immer noch Blicke um sich wie zwei Kojoten, gegen die sich die ganze Savanne ver‐ schworen hat. Kowalski selbst war wenige Sekunden nach seinem Totalgeständnis eingeschlafen. Vielleicht hatte er auch das Bewußtsein verloren. Doch alles in allem schienen die Anwesenden der Amnesie eine Chance geben zu wollen, ein‐ schließlich des dicken Wachtmeisters, dessen Kopf wegen des Ausbleibens seines Nachmittagsnickerchens jeden Moment auf die Brust zu kippen drohte. Wahrscheinlich waren schon 201
alle fieberhaft mit dem Gedanken ans Abendessen beschäftigt. Hugh und Claudius verließen das Krankenhaus und traten in den strömenden Regen. Hugh war deprimiert und voller Scham, doch als er zu Claudius blickte, sah sein Chef nur unendlich kaputt aus. Schwankend wie zwei Gestrauchelte näherten sie sich über den weitläufigen Parkplatz dem Mer‐ cedes, als Hughs Handy klingelte. Die Männer blieben im unübersichtlichen Meer der Autos stehen, auf deren Dächern die niederprasselnden Regentropfen ein Trommelkonzert ver‐ anstalteten. Am anderen Ende der Leitung meldete sich sein Freund vom BND. Hugh hatte Mühe, sich auf das Ergebnis des Computerabgleichs der Kinderfotos zu konzentrieren. Nach einer Weile bat er seinen Gesprächspartner um eine Un‐ terbrechung und preßte das Handy gegen die Brust. »Es ist mein Kumpel vom BND«, sagte er. Über Claudius’ Gesicht mit der aufgequollenen Nasenpartie plätscherte der Regenguß wie über eine buckelige Hügellandschaft. Seine schwarzen Haare waren inzwischen vollkommen naß und klebten franselig an der Kopfhaut. »Er hat das CIA‐Programm mit den Physiognomien der ein‐ zelnen Kinder gefüttert und sie untereinander vergleichen lassen. Der optische Ähnlichkeitsfaktor zwischen den Kindern beträgt tatsächlich bis zu siebzig Prozent. Das heißt aber noch lange nicht, daß Ihr Auge recht hat. Bei Erwachsenengesich‐ tern ist die Ausprägung der einzelnen Unterscheidungs‐ merkmale abgeschlossen. Wogegen Gesichter von kleinen Kindern immer noch dem Kindchenschema entsprechen. Durch die schwache Ausprägung von markanten physiogno‐ 202
mischen Eigenschaften ähneln sich Kinder naturgemäß mehr als Erwachsene. Das Programm ist für die Erkennung von Terroristen entwickelt worden. Und bei denen handelt es sich nun einmal nicht um Kinder. Also wenn Sie mich fragen … ach, sprechen Sie doch einfach selber mit ihm.« Hugh drückte das Handy in Claudius’ Hand und eilte zum Wagen. Während sein Chef im Regen zurückblieb und das Gespräch mit dem BND‐Mann entgegennahm, sprang Hugh in den Wagen und schloß die Tür hinter sich. Dann ergriff er mit beiden Händen das Lenkrad und stieß einen Schrei aus. Es verschaffte ihm keine echte Befriedigung und linderte seinen inneren Schmerz nicht annähernd, wie er es sich erhofft hatte. Von seiner durchnäßten Kleidung tröpfelte und sickerte es auf den schwarzen Ledersitz seines geliebten Mercedes E 55 AMG. Aber das machte ihm nichts mehr aus. Genausowenig wie der Umstand, daß sein Anzug und die edlen Schuhe in‐ zwischen endgültig hinüberwaren. Ihn quälte nur ein einziger Gedanke. Er fragte sich, wie er innerhalb eines einzigen Tages vom eleganten Hugh zu einem Folterpolizisten hatte werden können. Das Naheliegendste kam ihm in den Sinn. Hatte er nicht gestern noch befürchtet, daß die Zusammenarbeit mit Claudius ihn verändern könnte, daß dessen Wahnsinn auf ihn abfärbte? Nein, das war bloße Selbsttäuschung. Er kannte die wahre Antwort, er kannte sie nur allzu gut. Nicht Claudius, sondern er selbst war die ganze Zeit wahnsinnig gewesen. Er hatte es nur vor sich selber und den anderen immer geschickt verschleiern können. Ein unge‐ filterter Blick auf eine Kinderleiche, ein paar Bildchen von 203
geschändeten Kindern, die Phantastereien eines Sexfreaks, ein paar krause Gedanken, all der Dreck und all der Moder, und schon war er aus ihm ausgebrochen, der Wahnsinn. Und nun? Was sollte nun werden? Wohin führte die Reise? Auch das wußte er mit einem Mal. Gestern nur eine Ahnung, heute unerschütterliche Gewißheit: Sie ging geradewegs in den Kern der alles verschlingenden Düsternis. Wo es ewig schneite und kalt war in alle Ewigkeit.
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12. In den folgenden Wochen setzte das große Pflanzensterben ein, und die Straßen wurden allmählich haufenhoch von wel‐ ken Blättern gesäumt. Die Sonne verabschiedete sich leise, während ein kühler Wind durch die immer kahler werdende Natur und um die Häuser zu pfeifen begann. Claudius und Hugh blieb wohl oder übel nichts anderes übrig, als die Hausbesuche bei den einzelnen betroffenen Familien fortzu‐ führen. Wohl oder übel deshalb, weil es an Udos Leiche of‐ fenkundig keine weiteren aufschlußreichen Spuren zu entdek‐ ken gab. Auch tauchte keine neue Kinderleiche mehr auf, de‐ ren Zustand etwas Bahnbrechendes hätte offenbaren können. Und das große Kombinieren, welches die beiden Polizisten mangels neuer Spuren zwanghaft betrieben, führte auch nicht zu erhellenden Erkenntnissen. Claudius hielt immer noch daran fest, daß er in den Kern der Materie am besten eindringen würde, wenn er erst einmal das Umfeld der Kinder eruierte. Was er sich allerdings von dieser Vorgehensweise exakt versprach, wollte sich selbst ihm kaum mehr erschließen. Die Akten enthielten solcherlei Milieure‐ cherchen schon zuhauf, dazu hatte der letzte Vorstoß gemäß dieser Methode mehr Unheil angerichtet als etwas genützt. Was Norbert Kowalski auf dem Krankenbett gezwitschert hatte, erwies sich im nachhinein als wertlos. Es war für den vorliegenden Fall ohne Belang, von wem Udo gezeugt wor‐ den war. Claudius verstand mittlerweile selbst nicht mehr, 205
weshalb er so erpicht darauf gewesen war, die Wahrheit zu erfahren. Gewiß, als Nebeneffekt der Aktion war ein poten‐ tieller Kinderschänder aus dem Verkehr gezogen worden, zugleich jedoch eine geheime Operation gegen die Wand ge‐ fahren, die vermutlich einen internationalen Kinderpornoring hätte zerschlagen können. Unter diesem Gesichtspunkt half es da auch wenig, daß eine ferne Stimme in seinem Innern dieses unbrauchbare Verhör trotzdem weiterhin als bedeutend ein‐ stufte. »Wieso haben wir von der Überwachung von Kowalskis Netzaktivitäten nicht vorher erfahren, Juch?« wollte Claudius einmal wissen. »Weil die Kommission die Sache bewußt für sich behalten hat. Die lieben Kollegen dort müssen die Möglichkeit der Hinzuziehung eines Außenseiterteams schon von Anfang an erwogen haben. Da wollten sie ihre Kronjuwelen der Konkur‐ renz nicht gleich in die Vitrine stellen. Schließlich hängen von so einem großen Ding Karrieren ab. Heißt so etwas nicht Be‐ wahrung von Herrschaftswissen? Oder ist es nur die übliche Bürokratenkacke?« Simon und Heidler hatten die ganze Krankenzimmer‐Farce natürlich brühwarm an die Kommission weitergeleitet und sich zusammen mit den anderen köstlich über das Versagen der beiden »Genies« amüsiert. Die können auch keine Wunder vollbringen, war der einhellige Tenor. Weinstein blieb trotz‐ dem bei seiner Doppelstrategie, doch das einzige Mal, bei dem Claudius und Hugh ihn nach ihrem denkwürdigen Zusam‐ menprall im Krankenhaus zu Gesicht bekamen, gab er deut‐ 206
lich zu erkennen, daß er von seinem Außenseiterteam eben doch bald ein Wunder erwartete. Denn nur ein wundersamer Ermittlungserfolg rechtfertigte, daß die ganze Polizeidirektion dafür ihren guten Ruf ruinierte. Inmitten dieses hoffnungslosen Leerlaufs meldete sich Sieg‐ linde Vetter wieder und bat die beiden zu sich in das Insti‐ tutsgebäude für Forensische Medizin. Nach einer nochmali‐ gen Untersuchung an Udos Leiche habe sie doch noch eine letzte neue Spur finden können, verhieß sie. Hughs Gesicht war anzusehen, daß er eine erneute deprimierende Inaugen‐ scheinnahme des toten Jungen befürchtete, als er sich mit Claudius durch die lichtlosen grauen Korridore erneut zur »Obduktion 3« quälte. Aber auf halber Strecke wurden sie von einem Mitarbeiter Vetters, einem jungen Mann, der aussah, als habe sich ein Zehnjähriger als Arzt verkleidet, abgefangen und direkt zum Büro der Pathologin geleitet. Der kleine Raum, durch dessen Fenster der Blick auf einen verhangenen Himmel und darunter auf den Parkplatz eines Discounters schweifte, besaß den Charme einer ausgebliche‐ nen Fernsehdokumentation über Ämtermief aus den Siebzi‐ gern. Von der Sonne verschossene rundliche Büromöbel à la Colani, die seinerzeit wohl als der letzte Schrei gegolten haben mochten, doch nun nichts als Tristesse ausstrahlten, waren um einen Schreibtisch gruppiert, der nur deshalb noch eini‐ germaßen ansehnlich wirkte, weil die vielen Vorbenutzer ihre schmierigen Bürosexabenteuer nicht in Form von Einkerbun‐ gen von Herzchen in der Tischplatte verewigt hatten. An den Wänden stapelten sich Akten über Akten. Das einzig Moderne 207
in dem Zimmer war ein Computer – wenn man die Entwick‐ lung des Computers im Geiste um eine Dekade zurückdrehte. Als Claudius und Hugh vor Dr. Sieglinde Vetter Platz ge‐ nommen hatten, streckte sie ihnen ein winziges Glasröhrchen entgegen. Beide Männer dachten unwillkürlich an etwas an‐ deres und doch an das gleiche: Das, was dieses Büro mit der Gegenwart und der Bewältigung ihrer tausenderlei Konflikte verband, war allein seine wie eine Heldin strahlende Benutze‐ rin. Die großgewachsene junge Frau mit dem hellblonden Pferdeschwanz und der eckigen Brille, die sie strenger wirken ließ, als sie in Wahrheit war, ihr blütenweißer Arztkittel, der mehr verhieß als enthüllte, gehörten nicht hierher. Sie gehörte zu einem Ambiente, das vor Zukunftsgeist nur so hätte strot‐ zen müssen. Statt dessen saß sie in diesem Kabuff, in diesem kaputten Kasten, in dem man für die Anforderung einer Pin‐ zette bestimmt acht Formulare ausfüllen und diese bei fünf unterschiedlichen Dienststellen einreichen mußte, um sechs Monate später zu erfahren, daß dafür im Ressort momentan kein Geld vorhanden war. So ging dieser verkommene Staat mit seinen besten Köpfen um! Claudius und Hugh starrten gebannt auf das Glasröhrchen zwischen Vetters Fingern, fuhren ihre Hälse teleskopartig aus, um Genaueres zu erkennen. Doch sie sahen rein gar nichts. »Versuchen Sie es damit«, sagte Sieglinde Vetter und über‐ gab Claudius eine mammuthafte Lupe. Er schaute durch das Glas hindurch und erkannte nun auf dem Boden des Röhr‐ chens vier, fünf klitzekleine Körnchen. Dann reichte er die Lupe an Hugh weiter, der sich seinerseits in die Betrachtung 208
des mikroskopischen Bodensatzes vertiefte. »Sind das Staubkörnchen?« fragte Claudius. »Es sind Partikel von Holz und Kohle«, erwiderte Vetter. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und machte ein ver‐ schmitztes Gesicht. Man sah es ihr an, daß sie auf ihren Fund stolz war und es nicht abwarten konnte, die daraus resultie‐ renden Ergebnisse loszuwerden. »Sie sehen, Herr Claudius, ich habe mir Ihre Worte bezüglich einer wiederholten gründlichen Analyse der Leiche zu Herzen genommen.« »Gratuliere! Wo haben Sie sie gefunden?« »Im Ohr des Jungen, genauer, in seinem Ohrenschmalz. Es hat die Partikel verkapselt und trotz der Körperwaschung durch den Täter nicht wieder freigegeben.« Claudius’ Laune drohte ins Mittelprächtige abzurutschen, doch er riß sich zusammen, um der Frau ihre Illusion von ei‐ nem sensationellen Anhaltspunkt und ihren offensichtlichen Enthusiasmus nicht zu nehmen. Deshalb strahlte er. »Ich kann mich nur wiederholen: phantastische Arbeit! Es ist nur so, daß wir hier in einem Gebiet leben, in dem seit knapp hundert‐ fünfzig Jahren im industriellen Maßstab sowohl Stein‐ als auch Braunkohle abgebaut wurde. Auch wenn das heutzutage kaum mehr der Fall ist, gehe ich mal davon aus, daß Reste von dem Zeug als unsichtbare Wolken immer noch durch die Luft fliegen. Ich wette, wenn Sie mein Ohrenschmalz unters Mik‐ roskop stecken, sehen Sie darin auch ein paar Kohlepartikel.« Vetters Selbstbewußtsein schien seltsamerweise nicht im mindesten zu bröckeln. »Das stimmt. Doch Sie hatten letztens 209
ziemlich klare Vorstellungen von dem Versteck. Sie sprachen von einem verbunkerten, schalldichten und trockenen Raum, in den nur ein bißchen Luft eindringt. Eine abgelegene Wald‐ hütte oder ein verlassenes Fabrikgebäude oder etwas Ähnli‐ ches haben Sie von vornherein ausgeschlossen. Diese Hypo‐ these verträgt sich jedoch wohl kaum mit umherfliegenden Kohlepartikeln, die sich sogar im Ohrenschmalz einzunisten vermögen.« Hätte Claudius im Laufe seines Berufslebens nicht ein paar mimische Verstellungstricks zur Kaschierung der eigenen Fehleinschätzung gelernt, wäre ihm nun glatt der Unterkiefer heruntergeklappt. Die Frau besaß anscheinend einen ver‐ dammt scharfen Intellekt, der einem schlimme Schnittwunden zufügen konnte, wenn man sich unterhalb ihres Levels begab. »Da mögen Sie sicher recht haben«, begann er ins Ungefähre. »Aber Sie müssen auch in Betracht ziehen, daß selbst ein sehr enger Lüftungsschacht derartige Partikelverwirbelungen …« »Moment, es geht noch weiter«, unterbrach ihn Sieglinde Vetter, worauf Claudius jegliche Hoffnung fahrenließ, sich mittels spekulativer Blendgranaten durchzumogeln. Noch schlimmer war, daß Hughs Gesichtsausdruck während des ganzen Dialogverlaufs sekündlich maliziöser wurde. Er schien es geradezu zu genießen, daß »die Legende« samt ihren tollen Hypothesen angesichts derart geballten Scharfsinns langsam, aber sicher absoff. »Das Holz ist für unseren Fall interessanter als die Kohle«, fuhr Vetter fort. »Bei diesem Stoff greift die Radiokarbonme‐ thode zur Bestimmung des Alters der Elemente zu hundert 210
Prozent. Nach Angaben unseres Labors sind diese Holzparti‐ kel eindeutig knapp hundert Jahre alt. In der freien Natur löst sich gefälltes oder entwurzeltes Holz während dieser langen Zeitspanne gewöhnlich vollständig auf, es wird pulverisiert und verbindet sich kaum mehr unterscheidbar mit dem Er‐ dreich. Oder es verwandelt sich, sofern es eine professionelle Schutzbehandlung erfahren hat, in starres, totes Holz, das ohne eine gewaltsame Einwirkung von außen keine Partikel mehr freisetzt. So oder so, es ist extrem unwahrscheinlich, daß derart alte Holzpartikel heute noch in der Luft umherfliegen. Folglich können sie auch nicht von außen in den verbunkerten Raum gelangt sein.« »Und was folgerst du daraus, Sigi?« fragte Hugh. Er hatte das Interesse an Claudius’ derangiertem Gesichtsausdruck verloren, weil er wohl selbst von den neuen Fakten völlig in den Bann gezogen wurde. »Puh …«, machte Vetter. »Offen gesagt, nicht viel. Ich möch‐ te euch beiden ja nicht zu nahe treten, aber eigentlich seid ihr für die Schlußfolgerungen zuständig. Ich liefere nur die Fak‐ ten und mache auf Widersprüche aufmerksam.« »Sie sagten, daß es sich um sehr altes Holz handelt«, meldete sich Claudius zu Wort. Wie mit einem Ruck war seine alte Selbstsicherheit wieder zurück – zumindest versuchte er das den beiden anderen vorzuspielen. Aber er wollte ihnen be‐ weisen, daß er keiner Herausforderung aus dem Weg ging. Vor allem sich selber wollte er das beweisen. »Haben Sie Hinweise auf Holzwurmfraß gefunden?« »Nein«, erwiderte Sieglinde Vetter. »Aber wahrscheinlich 211
nur deshalb nicht, weil die Objekte zu klein sind, um das fest‐ stellen zu können.« »Kann es sein, daß diese Partikel morsch und vermodert sind und vielleicht schon eine korkähnliche Struktur aufwei‐ sen?« »Ja. Worauf wollen Sie hinaus?« »Darauf, daß sie nicht von Möbeln, Dielenbrettern, Türen, Fenstern, Wandvertäfelungen oder dergleichen herrühren können. Denn die wurden auch vor hundert Jahren schon mit Holzschutzmitteln und Lacken behandelt. Es sei denn, das Holz kam über einen langen Zeitraum hinweg mit Flüssigkeit in Berührung. Was ich jedoch nicht glaube, denn dann hätte es sich ja schon längst ganz aufgelöst. Außerdem hänge ich wei‐ terhin der Theorie des absolut verbunkerten Raumes an.« »Ich verstehe immer noch nicht recht, worauf Sie hinauswol‐ len.« »Ganz einfach: Dieses Holz ist ein nicht unbeträchtlicher Be‐ standteil des Verstecks. Trotzdem ist es aber seltsamerweise unbehandelt und deswegen im Lauf der Jahre vermodert. Par‐ tikel lösen sich schon von ihm ab und wirbeln durch die Luft. Was meinen Sie, Hugh, welche Art Baulichkeit käme für eine derartige Szenerie in Frage?« »Ein Heuschuppen!« »Nicht schlecht«, sagte Claudius, um im nächsten Moment skeptisch eine Augenbraue zu heben. »Doch es gibt in unserer Gegend kaum noch Bauernhöfe, und dann erscheint es mir ziemlich unwahrscheinlich, daß auf den wenigen verbliebe‐ nen Höfen noch Schuppen aus dem Anfang des zwanzigsten 212
Jahrhunderts existieren. Dennoch: Sie funken mal gleich die Kollegen an, die sich auf dem Lande auskennen. Die sollen die Augen nach derlei betagten Bretterbuden offenhalten.« Hugh nickte. »Ich habe auch noch eine Idee«, sagte Vetter. »Es handelt sich um den Keller eines großen alten Hauses, vermutlich Typ Gründerzeitbau. Meistens sind diese Keller durch spalierarti‐ ge Holzabtrennungen für das Zeug der Mieter unterteilt. Da, wo ich wohne, ist es jedenfalls so. Bisweilen befindet sich auch vorsintflutliches Baumaterial darin. Außerdem wurden solche Häuser ursprünglich mit Kohleöfen geheizt. Auch wenn das heutzutage nicht mehr der Fall ist, denkbar ist es, daß hart‐ näckige letzte Schichten von dort gelagerter Kohle nicht zu entfernen waren. Das könnte vielleicht die Spurenkombinati‐ on aus Holz und Kohle erklären.« »Vielleicht«, sagte Claudius. »Hört sich aber ziemlich kons‐ truiert an. Ich kann mir nicht vorstellen, daß in irgendeinem Keller noch unbehandeltes Holz von vor hundert Jahren he‐ rumsteht. Und es klingt nach dem Klischee schlechthin: der Serienkiller, der in seinem riesigen Keller die Hölle imitiert. Mein Gefühl sagt mir, daß wir es hier nicht mit einem Serien‐ killer zu tun haben, nicht im herkömmlichen Sinne. Er ist viel ausgebuffter, wie soll ich sagen, komplizierter. Er hat ein An‐ liegen. Und auch wenn das abartig klingt, aber ich wette, er mag Kinder. Die restlichen elf sind noch am Leben, da bin ich mir sicher.« Sieglinde Vetter und Hugh bekamen nun wieder diesen ehr‐ fürchtigen Gesichtsausdruck wie schon bei ihrem ersten Zu‐ 213
sammentreffen mit Claudius. Erstaunlich, die Frau hatte ihn hierherbestellt, um ihm seine hochtrabenden Mutmaßungen zu zertrümmern, und nun saß sie wieder vor ihm und him‐ melte ihn an, als sei er ein Prophet, der den Weg weist. »Danke für die neuen Informationen«, sagte Claudius und erhob sich. Hugh folgte ihm zeitverzögert, da er anscheinend ebenfalls immer noch unter dem Eindruck des Meisters beg‐ nadeter Inspirationen stand. »Und vergessen Sie bitte nicht, all die hier erörterten Gedan‐ ken brav an die Kommission weiterzuleiten. Vielleicht schrauben die sich dort wirklich etwas Gescheites daraus zu‐ sammen.« »Ja, natürlich«, erwiderte Vetter. In ihrem Gesicht, das wie von einem mit klassischen Kontu‐ ren arbeitenden Bildhauer geschnitzt schien, erkannte Clau‐ dius erste Anzeichen von Überarbeitung. Dieser graue Kasten, der ihr leise, aber stetig das Mark aussaugte, hinterließ in der herb‐schönen Fassade allmählich häßliche Spuren. Leicht ent‐ zündete Augen, rauchfarbene Augenringe, feine Fältchen ent‐ lang der Lippen und trotz des jüngsten Erfolgserlebnisses ein matter Blick. Sicherlich war sie jung, und dieser gottverfluchte Dienst hatte im Namen der noch lebenden Kinder jedes Recht, einer so talentierten Fachkraft massiv zuzusetzen. Aber dafür sollte der gottverfluchte Dienst ihr wenigstens einen anstän‐ digen Schreibtisch vorsetzen und nicht den Sperrmüll von Colani! »Sind noch weitere Untersuchungen an der Leiche ange‐ setzt?« fragte er noch, bevor er dieses wirklich traurige Haus 214
der Toten verließ. »Nein, es gibt nichts mehr zu untersuchen«, sagte Vetter und lehnte sich kraftlos in ihrem Stuhl zurück. »Der tote Junge ist längst an seine Familie zurückgegeben worden. Ich habe ge‐ hört, daß er heute bestattet wird.« Die Kosten für die Bestattung – die echte Luxusvariante mit satingepolstertem Eichenholzsarg, Trägern in Schwarz und weißen Samthandschuhen, Kranz mit gesticktem Sinnspruch auf der Schleife, goldgraviertem Marmorgrabstein vom Fein‐ sten und einer Blaskapelle – hatte auf Geheiß des Bürgermei‐ sters komplett die Stadt übernommen, wie Hugh nach ein paar Telefonaten schnell herausbekam. Bei solch abgrundtie‐ fer Tragik wollte sich nicht einmal eine bankrotte Stadt lum‐ pen zu lassen. Als Claudius und Hugh auf den Friedhof ge‐ langten, war die Trauerfeier schon längst vorüber. Der Pfarrer, der Bürgermeister und sein Anhang, die Sargträger, die Ka‐ pelle, alle waren sie nach den Trostreden schnell wieder ver‐ schwunden. Der Presse hatte man den Termin klugerweise verschwiegen, damit es keinen voyeuristischen Auflauf gab. Und andere Trauergäste gab es sowieso nicht. Über dem nur mit wenigen Gräbern bestückten Areal, des‐ sen Rasen sich trotz des Herbstanfangs immer noch im saftig‐ sten Grün darbot, riß just in dem Moment der grauschwarze Wolkenbrodem auf, als Claudius und Hugh eintrafen. Die Goldstrahlen der Sonne schossen wie geradewegs aus dem Himmelreich entsandte Zeichen auf den Park der Gewesenen, der von einem Tannenwäldchen gesäumt wurde. Zwischen 215
diesen Tannen versteckten sich die zwei Polizisten. Warum sie nun hier standen, wußten beide nicht so genau. Hugh hoffte, daß wenigstens Claudius einen vernünftigen Grund dafür hatte. Sie waren dienstlich hier und hielten die Augen offen, weiter nichts. Jedenfalls hatten sie nicht vor, der Hinterbliebenen ihr Bei‐ leid zu bekunden oder ihr einen steifen, offiziellen Trost im Namen der Polizei auszusprechen. Weil … weil es in Wahr‐ heit keinen Trost gab, wenn ein Kind starb. Ein totes Kind war nämlich nichts mehr als die imaginierte Vorstellung eines er‐ dachten Lebens, wie es hätte werden und sein können. Sollte man da noch stur beteuern, daß all das zwar für immer eine Imagination bleiben würde und deshalb höchst bedauerlich sei, aber das eigene Leben irgendwie doch weiterging? Wel‐ ches beschissene Leben denn? Claudius und Hugh beobachteten aus der Ferne Hedda, die ausgemergelte, lange Vogelgestalt. Sie stand in dem gleichen schwarzen Kleid, das sie schon bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte und das vermutlich von einer der hiesigen H&M‐Filialen gespendet worden war, dicht vor dem frisch ausgehobenen Grab. Etwa zwei Meter hinter ihr befand sich ihr Pennerfreund mit den schulterlangen schmierigen Haaren aus dem Hochhaus. Er hielt in einer Hand einen Bund gelber Blumen, deren Stengel sich irgendwie drollig erdwärts bogen, als bestünden sie aus geschmolzenem Plastik. In der anderen Hand klemmte eine glühende Selbstgedrehte. Hedda hatte den Kopf tief geneigt und weinte wohl. Aus dieser Distanz war es nicht mit letzter Klarheit zu erkennen. Oder sie sprach 216
etwas zu dem kleinen Sarg in dem Erdloch. Auch das war nicht ganz eindeutig auszumachen. Das plötzliche Sonnen‐ licht verwandelte die beiden in illuminierte Figuren aus einem romantischen Gemälde im expressionistischen Stil, die ledig‐ lich ein menschliches Element in eine stimmungsvolle Natur‐ szenerie bringen sollten. Wäre dieser Anblick wirklich ein gerahmtes Bild gewesen, viele Leute hätten es sich ohne Prob‐ leme an die Wand gehängt, so versöhnlich und schön war es anzusehen. Claudius aber wußte es besser. Diese kitschige Impression tarnte sich nur als eine solche. In Wahrheit illust‐ rierte sie das Grauen im Endstadium. Deshalb sagte er etwas, wandte der scheinbar friedvollen Kulisse den Rücken zu und begann, den Ausgang aus dem Tannenlabyrinth zu suchen. Hugh hatte ihn kaum verstehen können, weil er es wie zu sich selbst und dazu noch ziemlich genuschelt ausgesprochen hatte. Doch im nächsten Moment fügte sich das Genuschelte in Hughs Kopf zu konkreten Worten, als sei plötzlich ein kompliziertes Computerprogramm für Spracherkennung aus einem Spionagelabor angesprungen. Claudius hatte etwas gesagt, das man nicht sagen sollte, wenn man nicht wollte, daß die Welt sich bald in ihre Atome auflöste. Leb wohl, Udo! Glaub mir, es ist besser so. Hugh eilte dem Alten, der sich schnaufend durch das Unter‐ holz kämpfte, hinterher, ergriff von hinten seinen Arm, riß ihn zu sich herum und zwang ihn so zum Stehenbleiben. »Was haben Sie da eben gesagt?« sagte er mit bebender Stimme. »Lassen Sie meinen Arm los!« Claudius starrte ihm mit sol‐ 217
cher Feindseligkeit ins Gesicht, als würde er sich jeden Au‐ genblick in einen speienden Flammenwerfer verwandeln. »Nein«, sagte Hugh, »das tue ich nicht, Sie selbstgerechtes Arschloch! Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, daß Sie eine solche Ungeheuerlichkeit von sich geben? Udo war noch ein Kind!« »So? Sie haben doch gar keine Kinder. Also was kümmert es Sie? Glotzen Sie mich nicht so künstlich entrüstet an. Und tun Sie bloß nicht so, als wäre Ihnen bei unserem netten Besuch in Heddas Pißbude nicht das gleiche durch den Kopf gegangen.« »Na und? Der kleine Kerl stammte halt aus kaputten Ver‐ hältnissen. Was soll’s. Trotzdem hätte aus ihm später ein Mil‐ lionär werden können. Ach was, scheiß auf die Millionen! Er hätte auch einfach ein ganz normaler junger Mann werden können. Er hätte Freunde gehabt, eine schicke Freundin, hätte vielleicht ein tolles Fußballspiel sehen können oder New York oder einen perfekten Vollmond, oder er hätte einfach die Son‐ ne genießen können oder einen guten Fick!« Claudius blickte ihm immer noch frostig in die Augen, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln, dabei befreite er sich quälend langsam aus Hughs Griff. Als er sich von ihm endlich gelöst hatte und ein paar Schritte zurücktrat, stand er in seiner graubeigen Wildlederjacke inmitten der sonnenbeschienenen Tannen so verloren da wie der allerletzte Waldgeist. »Ach, das sind ja echt tolle Aussichten für einen toten Jun‐ gen, dessen Mutter sich stündlich dem Säufer‐Nirwana nähert und der in einer Wohnkaserne mit vollgeschissenen Fahrstüh‐ len gehaust hat. Aber geschenkt! Bezeichnend ist doch, daß in 218
Ihrer farbenfrohen Parallelwelt Udo nur als junger Mann lustwandelt. Was ist denn mit dem alten Udo? Genießt er dann immer noch den Sonnenschein und einen guten Fick? Oder betrachtet er sich nicht vielmehr als drogenkranker Halbirrer im Spiegel? Kotzt er nicht im Vollrausch in den Rinnstein, weil er erkannt hat, daß sein Leben von Anfang an beschissen war und Stück für Stück in Trümmer zerfallen mußte? Verflucht er nicht seine ganze Existenz voll unerfüllter Sehnsüchte und kaputter Begebenheiten? Wünscht er sich nicht auch, daß er nie geboren wäre?« »Sie hassen Kinder«, sagte Hugh und verzog die Gesichts‐ muskeln zu einem krampfhaften Lachen. »Ja, Sie hassen Kin‐ der. Das ist es! Warum bin ich nicht vorher darauf gekom‐ men?« »Irrtum«, erwiderte Claudius. »Ich mag Kinder, ich mag Kinder so sehr, Sie können sich nicht im entferntesten vorstel‐ len, wie sehr ich Kinder mag. Ich mag es nur nicht, wenn sie keine mehr sind.« »Na, dann ist ja heute Ihr Glückstag! Das da in der Grube drüben wird bestimmt nicht mehr erwachsen werden.« Hugh wandte sich ab, ging zwischen den Bäumen hindurch und trat dann aus dem Tannendickicht in die Lichtung, um Hedda doch noch sein Beileid auszusprechen.
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13. Hugh hatte am Nachmittag ein Treffen mit Marlis Adel, der Mutter des dritten entführten Kindes, arrangiert. Es war Mitte Oktober und merklich kühler geworden, als der schwarze Mercedes vor dem Haus vorfuhr. Zwar schien die Sonne, doch ihre Strahlen mußten sich durch einen feinen Nebel‐ schleier kämpfen und milderten sich in dieser Gegend zu ei‐ nem messingfarbenen Glanz ab. In ein paar Stunden würde die Dunkelheit kommen. Das Haus stand am Anfang einer sich schier endlos erstrek‐ kenden Zeile von kleinen Ziegelsteinbauten, die im ausklin‐ genden neunzehnten Jahrhundert von der Bergwerkgesell‐ schaft für Bergmannsfamilien errichtet worden waren. Diese Reihenhäuser, die ersten ihrer Art, überzogen in dicht aufei‐ nanderfolgenden Wellen das ganze Gebiet am nördlichen Stadtrand und prägten sein Gesicht. Allerdings hatte solche‐ rart Wohnkultur weder vom Komfort noch vom Milieu her etwas mit der modernen Reihenhaussiedlung gemein. Es handelte sich in Wahrheit um als Häuser verkleidete Woh‐ nungen, allenfalls achtzig Wohnquadratmeter groß, mit sehr niedrigen Decken und trotz zurückliegender Modernisie‐ rungsschübe immer noch ziemlich schlecht ausgestattet. Darin lebten kaum mehr Familien, sondern überwiegend Rentner, in der Regel ehemalige Bergmänner im Greisenalter, meist je‐ doch ihre Frauen, die sie überlebt hatten. Dennoch besaß die einstige Arbeiterkolonie mit ihren putzigen Gartenzwergdi‐ 220
mensionen und den liebevoll gepflegten Vor‐ und Hintergär‐ ten einen unwiderstehlichen Charme des Verwelkten. Es war leicht, die Spekulation zu wagen, daß nach dem Ableben der Alten gutverdienende Singles diesen Stadtteil für sich entdek‐ ken und dann architektonisch einiges auf den Kopf stellen würden. Was Claudius als erstes ins Auge stach, war der weithin sichtbare Anlaß zur Entstehung der Siedlung. Gleich hinter der Reihenhauszeile, der letzten am äußersten Rand, erstreck‐ te sich etwa eineinhalb Kilometer lang ein Ödland mit mäßig wucherndem Gestrüpp und ein paar krüppelig gewachsenen Bäumen. Diese Wüste en miniature endete an der gewaltigen Silhouette der stillgelegten Kohlebergwerke, die den gesamten Horizont einnahm. Durch den Nebel ragten jetzt die Schacht‐ fördergerüste, Aufbereitungsanlagen, verglühte Schlote und diverse andere Industrieruinen geisterhaft in den fahlen Himmel empor. Es war so, als wäre ein titanischer Drache, der einstmals mit seinem Feuer‐ und Rußatem den Menschen das Leben schwer gemacht, aber sie letztlich auch gewärmt hatte, schon vor Urzeiten verendet, und niemand hätte sich die Mü‐ he gemacht, den Mammutkadaver wegzuschaffen. Mit ein bißchen Phantasie konnte man wie auf einer Doppelbelich‐ tung sehen, wie seinerzeit die Kumpel mit den geschwärzten, müden Gesichtern nach ihrer Schicht dem Maul des Drachen entstiegen und über das Ödland zu ihren Familien heimkehr‐ ten. Hugh hatte eine komprimierte Zusammenfassung der Ent‐ führungsfälle in einer Aktentasche dabei, als sie bei Marlis 221
Adel klingelten. Er trug eine knielange schwarze Lederjacke, Claudius hatte sich schon den Wintermantel mit dem Fisch‐ grätenmuster übergestülpt. Frau Adels Vorgarten unterschied sich drastisch von denen ihrer Nachbarn. Unkraut und ver‐ wuchertes Buschwerk, wohin das Auge reichte. Kein Wunder, denn wenn einem das geliebte Kind abhanden gekommen war, betäuben nicht einmal die stärksten Drogen den Schmerz, geschweige denn die wohltemperierte Freude an der Gartenarbeit. Die Tür wurde geöffnet, und an der Schwelle stand eine Frau, die trotz ihrer fünfunddreißig Jahre wesentlich jünger wirkte. Ihre Schönheit war von jener Art, die sich nur jeman‐ dem mit einem Hang zur Dramatik erschloß. Sie besaß schul‐ terlange, wild über das ganze Gesicht verstrubbelte dunkle Haare, die den Eindruck aufkommen ließen, als sei sie gerade durch einen Sturm gelaufen. Die ein wenig verhangen wir‐ kenden Lider, die hohen Wangenknochen, der große Mund mit den vollen Lippen und die etwas spröden und doch ver‐ borgene Sinnlichkeit versprechenden Züge erinnerten entfernt an die junge Jane Birkin. Ihre Haut gehörte dem überhellen Typ an, so daß man auf ihr jeden kleinen Mitesser und noch die winzigste Druckstelle erkennen konnte. Etwas irritierte Claudius an diesem erschöpften und gleich‐ zeitig von fiebrigen Nächten zeugenden Gesicht. Er konnte es sich nicht erklären und machte es zunächst an dem Auffällig‐ sten fest. Umgeben von rauchfarbenen Ringen, strahlten zwei brillantblaue Augen mit derartiger Intensität, als würden da‐ hinter bengalische Feuer lodern. Im nächsten Moment jedoch 222
erkannte er, daß es nicht daran lag. Es war vielmehr der ver‐ klärte Blick aus diesen Augen, der durch ihn hindurchzuglei‐ ten schien, als wäre er transparent. Ein bißchen war es wie beim Blick von jenen Blinden, denen man nicht gleich ansieht, daß sie blind sind, und die deswegen stets den Eindruck er‐ wecken, als würden sie hinter der realen Welt nur ihnen zu‐ gängliche Gefilde sehen. Marlis Adel trug ein bodenlanges Kleid, das ihre schlanke Linie zwar optimal betonte, sich jedoch heutzutage recht schrullig ausnahm. Claudius konnte sich noch sehr gut an diese Art Gewandung entsinnen. Hippiemädchen‐Kleid hatte man es damals, etwa von Mitte der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre, genannt. Danach waren solche Kleider für immer aus dem Modebewußtsein der Damen verschwunden. Es handelte sich um einen indisch‐marokkanischen Stilmi‐ schmasch aus gechintzter hellbrauner Baumwolle. Im ausla‐ denden Dekolleté wies das Kleid schwülstige Ornamente aus Spiegelpailletten und hier und dort naive Stickereien auf, und wie bei einem Umstandskleid setzte die klassische Taillenraf‐ fung direkt unterhalb der Brüste an. Mochte sein, daß außer Frau Adel noch irgendwelche Aussteigerinnen auf Bali solche Teile trugen. Um ihren Hals prunkte ein sehr großes Kruzifix mit fast ins Schwarz gehendem Lapislazuli‐Besatz. Es schien sich um ein altes Erbstück zu handeln, weil die goldene Einfassung viele Kerben aufwies und nur mehr matt schimmerte. Claudius stellte sich und Hugh vor. Er wollte von Anfang an die Atmosphäre eines zwanglosen Besuches simulieren. Die 223
Sonderkommission hatte Frau Adel schon mitgeteilt, daß Sven höchstwahrscheinlich noch am Leben war. In solch einem nervenzerfetzenden Schwebezustand würde eine Mutter jedes Wort, das sie sagten, auf die Goldwaage legen. »Wir werden Sie nicht lange aufhalten, Frau Adel«, sagte Claudius so beiläufig, als schauten sie nur auf einen kurzen Schnack vorbei. »Ein paar Fragen, und schon sind wir wieder verschwunden.« »Sie können mich aufhalten, bis die Welt untergeht«, erwi‐ derte sie. Ihr Kinn begann leicht zu zittern. »Ich weiß, daß der Junge noch lebt, ich spüre es so real, wie ich Ihre Hand ge‐ spürt habe, als wir uns eben begrüßt haben. Und ich weiß auch, daß Sie ihn mir wieder zurückbringen werden. Er … er wird zurückkommen, das weiß ich. Er wird sich erst einmal mit seinem Teddy ausschlafen, dann wird er sich an den Frühstückstisch setzen, und ich werde ihm Rühreier mit Speck zubereiten, sein Lieblingsgericht, und dann …« Sie brach ab, trat völlig unvermittelt einen Schritt vor und umarmte Claudius, fest und voller Hingabe, preßte sich mit aller Kraft an ihn und weinte so laut und mit solch innigen Schluchzern, daß ihr Körper wie unter Strom von heftigen Zuckungen heimgesucht wurde. Der Tränenfluß versickerte im Mantelstoff, bildete richtig große Flecken auf dem Fisch‐ grätenmuster. Claudius inhalierte unwillkürlich den Geruch, der ihr aus der Haut und den Haaren entströmte, ein wohl‐ tuender Duft, den er seit Jahren nicht mehr gerochen hatte. Frauengeruch, der ihn kurzzeitig benebelte und doch eine intensive Verbindung zwischen ihm und ihrem grenzenlosen 224
Schmerz herstellte, vor allem aber ein Gefühl in ihm hervor‐ rief, von dem er nicht gedacht hatte, daß er dazu überhaupt noch imstande war. Schließlich löste er sich behutsam aus ihrer Umarmung, während er mit beruhigenden Worten auf sie einredete. Hugh stand dabei die ganze Zeit ratlos da und wußte offenbar über‐ haupt nicht, wie er reagieren sollte. »Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie vielmals«, sagte Mar‐ lis Adel leise und wischte sich die Tränen am Ärmel ihres Kleides ab. Dann bat sie die Polizisten hinein. »Möchten Sie gleich das Zimmer sehen?« fragte sie, während sie eine enge Diele mit extrem niedriger Decke passierten, welche rechter Hand zu einer Holztreppe zum ersten Stock‐ werk führte und vorne ins Wohnzimmer mündete. Die Wän‐ de zu beiden Seiten waren nahezu lückenlos mit schon arg vergilbten gerahmten Fotografien versunkener Bergmanns‐ welt drapiert. Gruppenbilder von Kumpeln vor dem Eingang des Fördergerüsts, allesamt in kohlegeschwärzter Arbeits‐ montur, mit Helmen und Grubenleuchten auf dem Kopf. Die Augen der einstigen jungen Männer leuchteten aus dem all‐ gegenwärtigen schwarzen Dreck hervor wie gleißende Auto‐ scheinwerfer in der Nacht. Dann Impressionen von Familien‐ seligkeiten dieser arbeitsamen einfachen Leute: scheu in die Kamera lächelnde Frauen in Kitteln, die im Freien Wäsche aufhängten, Spaziergänge mit dem Nachwuchs im Kinderwa‐ gen unternahmen, Männer, die in billigen Anzügen auf Ge‐ burtstagen das Glas hoben oder auf Betriebsfesten eine Ur‐ kunde für irgendwas in Empfang nahmen. Alles vorbei und 225
tot. Dazwischen auch Porträts von verknöcherten Päpsten, die heute keiner mehr kannte. Die Farben auf dem Papier waren schon so ausgeblichen, daß nur noch die Wangen der Abge‐ bildeten rosa schimmerten. Es sah aus, als hätten die Stellvert‐ reter Gottes Rouge aufgetragen. »Welches Zimmer?« wollte Claudius wissen. Sie standen nun im kleinen Wohnzimmer, das den Muff ei‐ ner Siebziger‐Jahre‐Spießerhölle entfaltete. Dickgepolsterte braune Couchgarnitur, deren Stoff schon großflächig abge‐ wetzt war, ein niedriger Tisch mit Spitzendeckchen, ein Dino‐ saurier von einem Fernseher mit Zimmerantenne, die obliga‐ torische Kuckucksuhr an der Wand und eine Schrankwand, die an Häßlichkeit kaum mehr zu übertreffen war. Kitschige Porzellanfiguren, bunte Schnapsgläschen und Bierkrüge mit der Aufschrift Warum ist es am Rhein so schön? in der Vitrine zeugten ebenfalls vom Flair einer mumifizierten Willy‐Brandt‐ Ära. Claudius und Hugh konnten zunächst überhaupt nicht be‐ greifen, weshalb sich eine relativ junge Frau mit solch einem musealen Stil umgab. Doch dann fiel bei ihnen der Groschen. In den Berichten war erwähnt worden, daß Marlis Adel den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn vermutlich mit Gele‐ genheitsarbeiten bestritt, viel wahrscheinlicher jedoch ir‐ gendwo schwarz arbeitete. Chronische Armut bestimmte ih‐ ren Alltag, so daß sogar IKEA für sie einen Luxus darstellte. Und da es sich bei diesen Bergmannshäusern nicht um Sozi‐ alwohnungen handelte, sondern überwiegend um Grundbe‐ sitz, gab es nur eine Erklärung: Sie saß inmitten des Erbes ih‐ 226
rer Eltern, samt des öden Einrichtungsplunders, den sie ihrer Tochter hinterlassen hatten. Diese Theorie bezeugten auch die gerahmten Fotos an den Wänden des Wohnzimmers. Zu den Motiven aus der Ar‐ beitswelt des Kohleabbaus gesellten sich hier Bilder aus dem katholisch‐klerikalen Bereich. Kirchen aus aller Welt, Jesus’ nachgestellter Kreuzgang durch die Straßen Jerusalems, Auf‐ nahmen von populären Reliquien und so fort. Daneben Schnappschüsse von Gottesdiensten, Taufen, Trauungen und Kanzelreden, in deren Mittelpunkt immer der gleiche Priester stand, der von Bild zu Bild kontinuierlich älter wurde, bis er am Ende als Greis im Ornatsrock zu sehen war. Die schwachen Sonnenstrahlen drangen durch die kleinen Fenster in den Raum und erzeugten eine diffuse Helligkeit, die jedem Gegenstand seinen Glanz nahm. Draußen waren das weite Ödland und dahinter schemenhaft die Zechenanla‐ gen zu erkennen. »Na, das Kinderzimmer«, sagte Marlis Adel. »Das möchten Sie doch bestimmt als erstes sehen. Jedenfalls wollten das Ihre Kollegen immer, die waren oft hier.« »Haben Sie darin irgend etwas verändert, seitdem Sven ver‐ schwunden ist?« fragte Claudius. »Nein. Es ist alles immer noch so wie an diesem unglückse‐ ligen Tag vor zehn Monaten. Ich habe nicht einmal ein Stoff‐ tier verrückt.« »Dann eilt es mit der Besichtigung auch nicht. Außerdem haben wir jede Menge Fotomaterial davon. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir dort nach so langer Zeit noch auf neue 227
Hinweise stoßen.« »Möchten Sie Tee?« sagte sie. »Tut mir leid, ich habe keinen Kaffee im Haus, weil ich selbst keinen trinke.« Claudius und Hugh hatten gegen Tee nichts einzuwenden, und nach einer Weile kehrte Frau Adel mit einem vollen Tab‐ lett aus der Küche zurück. »Recht gemütlich haben Sie es hier«, sagte Claudius, wäh‐ rend sie aus einer uralten Porzellankanne mit blauen Wind‐ mühlenmotiven die Tassen vollschenkte. Die beiden Polizisten hatten inzwischen auf der abgewetzten Couch Platz genom‐ men, deren Sprungfedern sich schon reliefartig auf der Sitzflä‐ che abzeichneten. Als Marlis Adel Claudius die Tasse überreichte und sie sich deshalb zu ihm herunterbücken mußte, konnte er ihr in den Ausschnitt schauen. Er sträubte sich zunächst dagegen, weil das grausame Verbrechen, wegen dem er nun in diesem Haus saß, sich einen solchen schmutzigen Blick von selbst verbat. Doch ein Tier in ihm, ein gieriges altes Tier, das sich weder um Moral noch um irgendwelchen anderen menschlichen Dünkel scherte, zwang ihn, genau das in sich aufzusaugen. Durch den weiten Rundkragen des Hippiemädchen‐Kleides schnappte sein Auge für den Bruchteil einer Sekunde den An‐ satz der herabhängenden, drallen Busen und der rotbraunen Warzenhöfe auf. Im gleichen Moment schämte er sich für die‐ sen Reflex so sehr, daß er sich am liebsten mit einem lauten Paff! in Luft aufgelöst hätte. Und als sollte der verbotene Blick auf der Stelle bestraft werden, lächelte sie ebenfalls für den Bruchteil einer Sekunde wissend zurück. Vielleicht aber hatte 228
er es sich nur eingebildet, und niemand hatte etwas gemerkt. »Danke, daß Sie die Lüge so hübsch verpacken«, sagte Mar‐ lis Adel und ließ sich in den Sessel ihnen gegenüber sinken. Das hereinflutende Zwielicht verlieh ihr etwas von einer blei‐ chen Wachspuppe. Das schmale Gesicht mit den hochkon‐ zentrierten und doch halbverborgenen Augen verschwand zwischen den verwuschelten Haaren, die nach vorne fielen. »Mir ist durchaus bewußt, daß ich in einem Haufen von Sperrmüll hause. Offen gesagt würde ich lieber heute als mor‐ gen woanders leben als in dieser Rentnerkolonie. Aber was soll ich tun? Das Haus und dessen Inventar sind das einzige, was ich besitze. Mehr hat Papi mir nicht hinterlassen.« »War er Bergmann?« Claudius rührte mit dem Löffel be‐ dächtig in seinem Tee. »Nein, er war Priester. Katholischer Pfarrer, um genau zu sein. Um ganz genau zu sein, Bergmannspfarrer. Ja, stellen Sie sich vor, damals in den goldenen Zeiten, als mit Kohle richtig Kohle zu machen war, konnte sich die Betreibergesellschaft nicht nur Siedlungen für ihre Arbeiter leisten, sondern auch noch Geistliche, die sich exklusiv um deren Seelenheil küm‐ merten. Klingt heute wie ein Witz, nicht?« Claudius und Hugh warfen einen verdutzten Seitenblick auf die Fotografien, die den Mann in Ausübung seiner mannigfal‐ tigen kirchlichen Aktivitäten zeigten. »Verzeihen Sie, ich möchte nicht indiskret sein«, sagte Clau‐ dius. »Aber haben Sie gesagt, daß Ihr Vater katholischer Prie‐ ster gewesen sei?« Sie lächelte bitter. »Allerdings! Er lebte nur für seinen Glau‐ 229
ben und selbstverständlich streng zölibatär. Dachte ich jeden‐ falls, bis ich mit sieben Jahren herausbekam, daß katholische Geistliche keine Kinder zeugen dürfen und seine fürsorgliche Haushälterin in Wahrheit meine Mutter war. Als nächstes fragen Sie mich bestimmt, wie er mit so einem Laster in dieser Liliputanersiedlung jahrelang leben konnte, wo jeder über jeden Bescheid weiß. Ganz einfach: Er hatte Glück und steckte geschützt in einem Kokon. Bereitwillig gesponnen von den einfachen Leuten hier, die täglich die Erfahrung machten, daß es aus diesem rußgeschwängerten Universum nur zwei Arten von Flucht gibt: Alkohol oder Sex, im Idealfall das eine in Verbindung mit dem anderen. Irgendwie schien selbst der Allmächtige zu diesem Arrangement seinen Segen erteilt zu haben. Sie hatten Verständnis für ihren Priester und haben ein Auge zugedrückt. Er war ihr Oberhirte, und von den Dingen, die hinter den Mauern dieses Hauses vor sich gingen, wollten sie lieber nichts erfahren. Er war ungeheuer beliebt, erhielt bis zu seinem Lebensende eine stattliche Pension von der katholi‐ schen Kirche und am Ende sogar eine Audienz beim Papst. Vor zehn Jahren ist er völlig friedlich verstorben.« »Und Ihre Mutter?« »Die hatte die Arschkarte gezogen. Unheilbarer Brustkrebs mit achtunddreißig. Es ging sehr schnell. Da hat der Herrgott nicht lange gefackelt.« Das bittere Lächeln war zu einer Maske erstarrt, welche die immer noch schwärenden Wunden dahinter verbarg. Ein Schatten hatte sich auf ihr Gesicht gelegt. Hugh erkannte an Claudius’ Ausdruck, daß dieser vor lauter 230
Anteilnahme schier zerfloß. Die willkürlichen Gefühlsum‐ schwünge seines Chefs waren ihm immer noch ein großes Rätsel, noch weniger verstand er dessen undurchsichtige Sympathievergabe. Was ja auch kein Wunder war, hatte er den Mann schließlich erst vor ein paar Wochen aus einer Insti‐ tution für solcherlei diffizile Problemchen abgeholt. Nichtsdestotrotz sah Hugh keinen Grund, jetzt selbst senti‐ mental zu werden und die brisanten Fragen, um derentwillen sie hier erschienen waren, rücksichtsvoll hintanzustellen. Zu‐ mal ihm gleich zu Beginn und aus einem unerklärlichen Grund etwas an der Frau mißfiel. »Da wir gerade bei Familienangelegenheiten sind«, platzte er in das einträchtige Schweigen hinein, das entstanden war, nachdem Marlis Adel ihre bizarre Familienchronik beendet hatte. »In dem von unseren Kollegen verfaßten Bericht ist eine Sache gerade in diesem Bereich völlig lückenhaft. Es geht um die Vaterschaft von Sven. Hier steht …« »Ich weiß, Vater unbekannt steht da«, sagte sie sofort. »Na‐ türlich weiß ich, wer er ist. Aber ich hielt es für nicht erwäh‐ nenswert.« »Wieso nicht?« »Sie haben ja Ihren Tee gar nicht angerührt, Herr Kommis‐ sar. Mögen Sie keinen Tee?« Die Intensität ihres brillantblauen Tranceblickes nahm zu, bis in dem Schatten zwischen den Haarfransen nur noch diese beiden überhellen Punkte zu sehen waren. Hugh ließ sich da‐ durch nicht beirren und hielt dem Blick konfrontativ stand, ohne auf ihre Frage einzugehen. 231
»Ich war damals in Indien, über ein Jahr, schätze ich«, fuhr sie schließlich fort. »Ich hatte eine harte Zeit hinter mir und wollte Abstand gewinnen von all den Enttäuschungen, vor allem von mir selbst. Ich hab ihn in einem Ashram getroffen, wo man gemeinsam meditierte und es sich auch sonst gutge‐ hen ließ. Das Leben dort ist spottbillig, die Sonne scheint den ganzen Tag, und ich war jung. Er war Franzose. Na ja, jeden‐ falls glaube ich, daß er Franzose war, weil er Maurice hieß und Englisch mit französischem Akzent gesprochen hat. Nach seinem Nachnamen habe ich nie gefragt, und auch nicht, wo er herkam.« »Das ist alles?« »Ja, das ist alles. Ich bin wieder in die Liliputanersiedlung zurückgekehrt, ohne zu ahnen, daß ich schwanger war. Als ich es schließlich merkte, kam es mir wie der Weltuntergang vor. Irgendwie war es auch so für mich. Eine alleinstehende schwangere Frau ohne Job, gefangen im modrigen Reich eines bigotten, toten Vaters. Am Horizont hab ich schon die klaren Konturen einer nicht enden wollenden Sozialhilfekarriere aufgehen sehen. Ich dachte an Abtreibung, habe es aber letz‐ ten Endes nicht über mich gebracht, die Sache in die Tat um‐ zusetzen. Und dann kam er … Sven, und er war ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Anstatt mir Kraft und die Illu‐ sion von den Freuden eines unabhängigen Daseins zu rauben, gab er mir Kraft und Freude im Übermaß. Ich wurde eins mit ihm und er mit mir. Wir hatten immer unseren Spaß. Er hat mein Leben von Grund auf geändert, und die Suche nach dem Sinn nahm endgültig ein Ende. Mit einem Wort, ich wurde 232
eine glückliche Liliputanermutter.« Klingt wie Saulus nach der Bekehrung zu Paulus in der weiblichen Variante, dachte Hugh. Aber auch nicht aufregen‐ der als die Bekenntnisse von einstigen desolaten Singlefrauen nach ihrer Gebärerweckung in der Zeitschrift Eltern. Er jeden‐ falls wollte sich nicht beirren lassen und den nächsten blinden Fleck in den Berichten nicht aus den Augen verlieren. »Es mag Ihnen vielleicht komisch vorkommen, Frau Adel, doch wir bräuchten einige Informationen darüber, womit Sie Ihren Lebensunterhalt bestreiten. Soweit wir wissen, kassieren Sie kein Arbeitslosengeld und auch nicht Hartz IV.« Marlis Adel lächelte matt. »Verfolgen Sie etwa die Theorie, daß der Entführer sich die Kinder nach dem Beruf der Eltern herausgepickt hat? Ich meine, macht er vielleicht eine Aus‐ nahme bei Astronauten oder Bauchrednern?« »Nein, das nicht, aber …» »Ich verrate Ihnen, womit ich mein Geld verdiene, wenn Sie mir versprechen, daß Sie mich nicht wegen Schwarzarbeit drankriegen.« »Dieser Bereich berührt unsere Arbeit nicht im entferntesten, Frau Adel«, mischte sich Claudius ein. Das, was sein ver‐ schämter Blick eben gestreift hatte, verleitete ihn immer ein‐ dringlicher zur Milde, um nicht zu sagen, zu unendlicher Gü‐ te. So kannte er sich gar nicht. »Und selbst wenn, wir dürfen die Informationen im Verlauf eines derart sensiblen Falles ohnehin nicht an die entsprechenden Stellen weiterleiten. Wir wollen es auch gar nicht.« »Das ist beruhigend«, sagte sie und trank einen Schluck aus 233
ihrer Teetasse. Der Sonnenuntergang draußen schritt im Zeit‐ raffertempo voran und belegte das verblühte Ambiente mit düsteren Rottönen. »Ich habe vor Jahren eine Umschulungsmaßnahme vom Ar‐ beitsamt bekommen. Meist haben in dem Kurs abgehalfterte Kameraden gesessen, die sich ihr erstes Bierchen schon mor‐ gens um neun haben schmecken lassen. Und Frauen, deren letzter Job als Regalauffüllerin bei Aldi sie schon stark über‐ fordert hat. Alle wollten die dicke Arbeitslosenstütze einstrei‐ chen für die Zeit, während die Schulung lief, und dachten nicht im Traum daran, irgendwas zu lernen. Aus uns sollten erfolgreiche Webdesigner werden. Das war große Mode da‐ mals. Das Arbeitsamt hat wohl geglaubt, daß man bald sogar Klopapier online bestellen wird. Man brauchte das Wort Internet nur richtig auszusprechen, und schon trat man in Bill Gates’ Fußstapfen. Das hat man sich jedenfalls zusammenhal‐ luziniert.« »Aber Sie haben tatsächlich Gefallen daran gefunden?« frag‐ te Hugh. »Ja, aber leider keinen Job in dem Metier. Ich war wirklich die einzige in dieser Null‐Motivations‐Klasse, die von dem ganzen Internetzeug völlig fasziniert war. Aber dann ist die IT‐Blase geplatzt, und es wurden selbst Genies ihres Fachs reihenweise entlassen. Von uns angelernten Arbeitsamts‐ krüppeln ganz zu schweigen. Eine Präsenz im Web ist jedoch immer noch gefragt, sogar von winzigen Handwerkerfirmen, auch wenn man dafür nicht mehr den Gegenwert eines Por‐ sches zahlen will. Lange Rede, kurzer Sinn, wenn Sie eine ei‐ 234
gene Homepage plus laufender Aktualisierung benötigen, kann ich sie Ihnen für fünfhundert Euro bar auf die Kralle machen. Es ist ein cooler Job. Man kann ihn sogar erledigen, wenn das Kind längst schläft. Ich meine, ich konnte an den Webseiten sogar arbeiten, während Sven geschlafen hat.« »Auch wenn Sie die Umstände von Svens Verschwinden oft beschrieben haben, Frau Adel, könnten Sie es vielleicht für uns noch einmal tun?« bat Claudius. »Er war scharf auf Kirmes«, erwiderte sie. Ihr Kinn zitterte wieder, und der Schatten zwischen ihren Locken wurde noch etwas dunkler. »Wie alle Kinder. Sven hatte zwar noch kein voll ausgepräg‐ tes Gefühl für die Jahreszeiten, aber wann die große Kirmes in die Stadt kommt, wußte er schon Monate vorher. Außerdem hat er Gewinnspiele geliebt und durfte sogar ausnahmsweise lange aufbleiben, um mit mir auf der Couch »Wer wird Mil‐ lionär« zu sehen. Auf dem Jahrmarkt haben ihn die Losbuden magisch angezogen. ›Mama, noch ein Los, noch ein Los!‹ hat er immer wieder gedrängt, wenn eine Niete nach der anderen folgte. Es war an diesem Tag kaum ein Durchkommen durch das Menschengewühl auf dem Rummel. Ich mußte ihn bis‐ weilen tragen, damit er nicht verlorenging. Und dann ist auch schon rechts von uns die erste Losbude aufgetaucht. Ein ge‐ waltiger Truck, vor dessen reichbestückter Auslage ein als Pirat kostümierter Typ lautstark Animation betrieben hat. Was soll ich sagen, das erste Los war gleich so etwas wie der Hauptgewinn. Ein Plüschpinguin, der fast größer war als ich. Da habe ich Sven wohl für ein paar Momente aus den Augen 235
gelassen. Vielleicht habe ich mich über die Freude, daß unsere kleine Familie zum ersten Mal etwas gewonnen hat, zu aus‐ giebig bei dem Pirat bedankt, vielleicht war ich auch zu sehr mit mir selbst beschäftigt, weil ich plötzlich im Mittelpunkt stand und alle Leute ringsherum mich bewundernd angeg‐ lotzt haben. Als ich mich wieder umgedreht habe, war Sven weg.« »Hat denn der Animateur nichts bemerkt?« fragte Claudius. »In dem Bericht steht, daß der Mann an diesem Tag schon seit sechzehn Stunden die Show abgezogen hat«, schaltete sich Hugh ein. »Er meinte, er hätte es nicht einmal registriert, wenn zwischen den Menschenmassen ein UFO gelandet wäre. Was hinter Frau Adels Rücken vorgegangen ist, hat der nicht wahrgenommen. Im nachhinein hat er sich nicht einmal daran erinnern können, daß da ein Kind stand.« Claudius wandte sich wieder an die wie völlig in sich zu‐ sammengefallen wirkende Frau. »Wir ziehen mittlerweile die Möglichkeit in Betracht, daß der Entführer sich vorher mit den einzelnen Kindern heimlich angefreundet hat. Sie könnten freiwillig mit ihm gegangen sein. Hat Sven je von solch einer Begegnung mit einem fremden Erwachsenen erzählt oder et‐ was in dieser Richtung angedeutet, Frau Adel?« »Nein. Alle Erwachsenen, die er kannte, kannte ich auch. Andere zu imitieren war sein Hobby, insbesondere Fremde. Wenn er ohne mein Wissen draußen jemanden kennengelernt hätte, wäre er früher oder später damit herausgerückt. Schei‐ ße, jetzt rede ich schon in der Vergangenheitsform über ihn!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. 236
Claudius und Hugh wechselten verständige Blicke, die das Ende der Unterhaltung beschlossen. Marlis Adel war mehr als auskunftswillig gewesen, und wäre ihr in den letzten Mona‐ ten noch ein wichtiges Detail eingefallen, hätte sie es bestimmt erwähnt. Es ergab keinen Sinn, sie das allseits Bekannte nochmals und nochmals wiederkäuen zu lassen. »Dann schauen wir uns zum Abschluß vielleicht doch noch das Kinderzimmer an«, sagte Claudius und erhob sich ge‐ meinsam mit Hugh von der Couch. Draußen war die Dunkelheit hereingebrochen, und Claudius hatte das Gefühl, daß sie in dem lichtlosen Raum wie drei Gestalten wirken mußten, die sich zu einem konspirativen Treffen zusammengefunden hatten. Er konnte nur noch die Silhouetten der beiden anderen erkennen. Marlis Adel wischte sich ihre Tränen wieder am Ärmel ab und stand ebenfalls auf. »Dann kümmere ich mich derweil ums Abendessen«, sagte sie und schaltete die Lampe ein, ein billiges Kronleuchterimi‐ tat mit vier 40‐Watt‐Glühbirnen, welches das Zimmer eher in ein Zwielicht versetzte, als es wirklich erhellte. »Die Treppe hinauf und dann am Ende des Ganges.« Hugh konnte es sich natürlich nicht verkneifen, unterwegs zum Kinderzimmer jede Tür entlang des Korridors aufzusto‐ ßen und einen Blick hineinzuwerfen, was ihm von Claudius mißbilligende Seitenblicke einbrachte. Die Tür zum Bade‐ zimmer öffnete sich, das gleichfalls den nostalgischen Reiz der Siebziger ausstrahlte. Rosa Wandkacheln, Klosettdeckel mit rosa Frotteeüberzug, rosa Klosettumrahmung, Badewanne im Minimaßstab, rosa Badematte und ein Spiegelschrank über 237
dem Waschbecken mit einer Neonleuchtröhre darüber. Alles war furchtbar eng und stickig, ein vollkommenes Bild der Schäbigkeit. Hugh ging hinein, betätigte den Lichtschalter und schaute sich einen Augenblick lang um. Dann öffnete er den Spiegelschrank und erschrak regelrecht. Der Kasten war bis auf den letzten Kubikzentimeter vollgepfropft mit Medi‐ kamentenpackungen. Es mußten mehr als fünfzig Päckchen sein, fein säuberlich übereinandergestapelt wie in einer Apo‐ theke. Vermutlich therapierte sich Marlis Adel nach Svens Verschwinden selbst mit Beruhigungsmitteln oder Psycho‐ pharmaka. In den Berichten stand nichts darüber, daß sie eine professionelle Therapie in Anspruch nahm, um ihren Schmerz zu verarbeiten. Vielleicht sollte ihr jemand sagen, daß das ein großer, wenn nicht sogar lebensgefährlicher Fehler war. Er zog sein Notizbüchlein aus der Tasche und begann, die prägnantesten Namen der Medikamente aufzuschreiben. Im Hinterkopf vergegenwärtigte er sich das leicht zerzauste Aus‐ sehen von Marlis Adel. Vermutlich waren diese Medikamente daran schuld. Dennoch hatte sie sich ziemlich klar, bisweilen recht schlagfertig gegeben, und auch das Haus machte trotz des uralten Mobiliars einen ordentlichen Eindruck. Nirgend‐ wo sah man einen Hinweis darauf, daß seine Besitzerin sich in irgendeiner Weise gehen ließ. »Was tun Sie eigentlich da?« Claudius stand hinter ihm und zog ein Gesicht wie ein Va‐ ter, der den Bub bei seinen ersten Onanieranstrengungen er‐ wischt hat. »Nichts weiter.« Hugh schloß die beiden Flügel des Spiegel‐ 238
schranks wieder. Dann löschte er das Licht, und beide verlie‐ ßen den Raum. Das Kinderzimmer war der Traum eines Sechsjährigen schlechthin. Überall Spielzeuge über Spielzeuge. An den Wänden klebten Poster von Furby und Superman, eine für Kinder simplifizierte Weltkarte und viele gerahmte Fotogra‐ fien von Svens Entwicklung vom Baby bis zum stolzen Besit‐ zer eines Fahrrads ohne Stützräder. In einer Ecke noch der Laufstall, den Mama aus reiner Sentimentalität immer noch nicht abgeschafft hatte. Von der Decke baumelten an Nylon‐ fäden zwei Star Wars‐Raumschiffe, denen man es ansah, daß sie recht schlampig von Kleinjungenhänden zusammengeba‐ stelt worden waren. Ein ganzer Stamm von Plüschtieren saß auf dem kleinen Bett, zu dessen Füßen der riesige Pinguin mit den untertellergroßen Augen kauerte, der sich irgendwie für diese ganze traurige Leere verantwortlich zu fühlen schien. Claudius und Hugh schauten sich gründlich um, nahmen dieses und jenes in die Hand und untersuchten alle Schubla‐ den, doch einen greifbaren Anhaltspunkt dafür, daß der Junge vor seinem Verschwinden ein Geheimnis gehütet hatte, ent‐ deckten sie nicht. Sie waren schnell wieder unten. »Haben Sie noch weitere Fragen an mich?« Marlis Adel stand mit einem Pfannenwender in der Hand in ihrer engen Küche. Auch deren Einrichtung erweckte wie der Rest des Hauses den Eindruck, als habe sie sich per Zeitmaschine ge‐ rade noch so in das einundzwanzigste Jahrhundert gerettet. An den Wänden hingen mindestens zehn unterschiedlich ge‐ staltete Kruzifixe. »Ich stehe Ihnen weiterhin zur Verfügung, 239
wenn’s sein muß, bis zum Morgengrauen.« Claudius roch es schon die ganze Zeit, doch nun sah er, daß auf dem Herd in einer Pfanne reichlich Fisch und in einer an‐ deren Bratkartoffeln brutzelten. Er hätte das Zeug am liebsten mit bloßen Händen aus der Pfanne geklaubt und dann in Re‐ kordgeschwindigkeit hinuntergeschlungen. Er vermißte schmerzhaft die sehr schmackhaften Speisen der Klinikkanti‐ ne. Zwischen ihnen und dem Fraß, den er sich jeden Abend von irgendeinem Lieferservice kommen ließ, lagen kulinari‐ sche Galaxien. Doch die Krönung alles Kulinarischen würde für ihn ewig die gute alte Hausmannskost bleiben, wie sie Erika in höchster Vollendung zu zaubern vermochte. Und allem Anschein nach konnte auch Marlis Adel deftig kochen. »Nein, wir sind fertig«, sagte er und schielte scheu auf das Essen. »Mein Kollege und ich sind selbst alleinstehend und müssen allmählich auch unser Abendessen organisieren.« »Muß doch nicht sein«, erwiderte sie, wobei sie Claudius mit einem freundlicheren Blick bedachte als Hugh. »Bleiben Sie einfach hier, und wir essen alle gemeinsam. Ist genug da.« Hugh lächelte ungläubig, als habe sie etwas so Inakzeptables gesagt, daß es nur als Witz gemeint sein konnte. Er schüttelte sofort den Kopf. Claudius dagegen schaute ziemlich nach‐ denklich, um nicht zu sagen, wohlwollend drein. Er gab sich nur notdürftig den Anschein des Zaudernden. Ihre Blicke kreuzten sich für einen Moment, und in dem des Alten er‐ kannte Hugh so etwas Ähnliches wie die stumme Bitte um Billigung. Und noch etwas anderes erkannte er darin: die ver‐ zweifelte Sehnsucht nach Wärme. Er hatte sich immer noch 240
nicht getraut, ihn nach dem Grund seines Aufenthalts in der Psychiatrie zu fragen. Nicht einmal über die familiären Ver‐ hältnisse seines seltsamen Chefs wußte Hugh Bescheid, falls so ein Granitblock wie Claudius überhaupt eine Familie be‐ saß. Kurz, er kannte die Tragödie hinter der harten Fassade nicht. Infolgedessen wohl auch nicht das Verlangen dahinter. »Ich … ich muß leider passen«, sagte Hugh und drehte sich halb weg. »Muß noch einiges erledigen. Tut mir leid. Wün‐ sche einen guten Appetit!« »Juch!« Hugh wandte sich mit saurer Miene um, als erwarte er eine peinliche Erklärung des Zurückbleibenden. »Lassen Sie die Unterlagen hier«, sagte Claudius und blickte schon wieder recht geschäftsmäßig drein. »Vielleicht finde ich darin doch noch ein paar Fragen, die ich Frau Adel stellen kann.«
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14. Hugh fragte sich bestimmt schon zum fünfzigsten Male, wie er die gelöschte Telefonnummer von Carla, der Kunststuden‐ tin, durch irgendeinen technischen Trick oder gar mittels rei‐ ner Magie im Speicher seines Handys wieder erscheinen las‐ sen könnte. Soweit er wußte, brachten es einige Spezialisten fertig, Gelöschtes aus Datenträgern selbst dann noch zu retten, wenn diese schon in tausend Scherben lagen. Irgendwie erin‐ nerte ihn die Vorgehensweise an Sigi und die Spuren, die sie aus ihren Leichen herauszukitzeln vermochte. Funktionierte das auch bei Handys? Vielleicht sollte er sich an so einen Spe‐ zialisten wenden und ihm sagen, daß er gerne die gelöschte Nummer von einer Frau wiederhaben wollte, die er zu heira‐ ten gedachte, die ihm im anderthalbjährlichen Rhythmus ein Kind nach dem anderen gebären, zu einer Familie verhelfen und ihm letztlich Zugang zum – zum Paradies verschaffen sollte. Aber dann würde dieser Spezialist, ein ziemlich be‐ griffsstutziger Typ mit einer affigen Kappe auf dem Schädel, ihn fragen, weshalb er denn die Nummer erst gelöscht habe. Und er würde antworten müssen: Weil ich das alles ja in Wahrheit gar nicht ernst meine. Weil ich panische Angst da‐ vor habe, mit einem Menschen zusammenzuleben. Weil ich an meiner beschissenen Freiheit hänge, obwohl sie mich inzwi‐ schen zu einem autistischen Irren gemacht hat. Weil ich inner‐ lich schon genauso tot bin wie all die Toten, die mir in mei‐ nem Beruf begegnen. Daraufhin würde der Spezialist sich am 242
Kopf kratzen und sagen: Ja, was denn, Kumpel, willst du nun die Nummer oder nicht? Er aber würde statt einer Antwort nur in ein schreckliches Geheule ausbrechen. Er war wieder allein – wie jeden Abend. Saß in seinem properen IKEA‐ Gehäuse, verdaute das Fleischgericht, das er sich nach dem Rezept irgendeines dieser inflationären blöden Modeköche aus dem Fernsehen zubereitet hatte, reflektierte mit einem Achtel seines Hirns noch über den soeben gesehenen Vin‐ Diesel‐Actionkracher auf DVD und versuchte sich allen Ern‐ stes einzureden, daß das der wohlverdiente Feierabend eines erwachsenen Mannes war. Damit das Gefühl von häuslicher Gemütlichkeit entstand, hatte er sich der kühlen Jahreszeit entsprechend sämtliche IKEA‐Teelichter angezündet, die in grünen und roten Gläschen vor sich hin dämmerten. Eigent‐ lich aber dachte er die ganze Zeit an Carla und die entführten Kinder. Vielleicht hatte Carla inzwischen schon einen neuen Freund, diesmal einen richtigen Kerl, der sie schon geschwän‐ gert hatte und mit dem sie alt werden wollte. Und die ver‐ schwundenen Kinder? Vermutlich waren die schon längst alle tot und seine und Claudius’ Anstrengungen völlig umsonst. Ja, so betrachtet ergab die Sache in der Tat einen Sinn: Carla und ihre Fortpflanzungsorgane waren für das neue Leben zuständig und er für die toten Kinder, die nie gezeugten und die umgebrachten. Er ging ins Arbeitszimmer, setzte sich mit einem Glas Rot‐ wein an seinen Schreibtisch und klappte den Laptop auf. Seit‐ dem er in dieser verzwickten Ermittlungsarbeit steckte, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, allabendlich eine halbe 243
Flasche Wein zu genießen. Na ja, wenn man’s genau nahm, gelegentlich auch eine ganze. Was ihm aber nicht im minde‐ sten Sorgen machte. Vielleicht würde er sogar bald mit dem Rauchen anfangen – oder mit dem Koksen. Zu der Mucki‐ Bude ging er sowieso nicht mehr. Es war ihm egal! Natürlich wußte er genau, auf welche Internetseite es ihn über kurz oder lang verschlagen würde. Landete er doch dort am Ende jeden Abends, um dann stets frustriert festzustellen, daß das großkotzige Versprechen FORTSETZUNG FOLGT schon wieder schändlich gebrochen worden war. Aber vorläu‐ fig wollte er für sich die Illusion des unerbittlichen Polizisten‐ Rechercheurs noch ein Weilchen aufrechterhalten und ging erst einmal auf Google. Er gab den unaussprechlichen Namen eines Medikaments ein, das er im Arzneireservoir in Marlis Adels Spiegelschrank entdeckt und sich dann notiert hatte. Die Suchmaschine spuckte gleich Tausende von Treffern aus, fast allesamt Links zu Pharmafirmen. Er klickte einige an und erlebte eine faustdicke Überraschung. Bei dem Präparat han‐ delte es sich weder um ein Beruhigungsmittel noch um ein Psychopharmakon, sondern – es war unglaublich – um ein Mittel gegen Krebs! Das Zeug war ziemlich harter Tobak und wurde nur todkranken Patienten in Kombination mit der Chemotherapie verabreicht. Man mußte es einnehmen, wenn der Krebs schon hoffnungslos gewuchert und gestreut hatte. Krebs im Endstadium war wohl das passende und häßliche Wort dafür. Hugh gab die anderen Medikamentennamen ein, doch das Ergebnis war stets gleich. Alle Medizin in Frau Adels Schrank 244
war dafür gedacht, den Krebs im Endstadium entweder noch ein bißchen in Schach zu halten oder ihn erträglicher zu ma‐ chen. Hugh schenkte sich Rotwein nach, nahm einen Schluck aus dem Glas und massierte sich heftig die Stirn. Sie hatte erzählt, daß ihr Vater vor zehn Jahren verstorben sei – friedlich, wie sie ausdrücklich betont hatte. Nun, vielleicht hatte sie sich in diesem Punkt etwas vorgemacht, wie viele Hinterbliebene sich später etwas vormachen, wenn ein geliebter Mensch nach einer schweren Krankheit aus ihrer Mitte gerissen wurde. Doch warum bewahrte sie diese an Angst und Trauer erin‐ nernden Medikamente immer noch auf? Abgesehen davon, daß etwa die Hälfte der Arzneien vor zehn Jahren noch gar nicht auf dem Markt gewesen waren. Litt sie vielleicht selber an Krebs? Gewiß, der Eindruck, den sie geboten hatte, war nicht gerade der vom blühenden Leben gewesen. Sie wirkte ziemlich blaß, und die verwuschelten Haare vor dem Gesicht taten ihr übriges, um ihr einen siechen Look zu verleihen. Doch weder waren Spuren vom dramati‐ schen Haarausfall, der mit einer Chemotherapie einhergeht, zu erkennen gewesen noch wirklich krankhafte Veränderun‐ gen an der Haut, an den Gliedmaßen, an ihrem Gang oder an ihrer restlichen Erscheinung. Ausgepowert ja, aber rein kör‐ perlich hatte sie sonst recht gesund ausgesehen. Also warum? Warum so massenhaft schwere Krebsmedikamente horten wie andere Leute Eingemachtes? Vielleicht gab es eine ganz einfa‐ che Erklärung dafür. Er vermerkte die Medikamentennamen mit einem dicken Fragezeichen in seinem Notizbüchlein, um das Problem bei passender Gelegenheit mit Claudius zu erör‐ 245
tern. Allmählich spürte Hugh die Wirkung des Rotweins, die in ihm so etwas wie eine versöhnliche Stimmung auslöste. Die Teelichter waren fast abgebrannt, und das Arbeitszimmer lag nahezu in vollkommener Dunkelheit. Jetzt sah er die Dinge schon ein wenig zuversichtlicher. Er könnte am Wochenende wieder zu der Eisdiele spazieren, sich dort ein paar Stunden herumlümmeln und darauf hoffen, daß Carla irgendwann hereinspaziert käme. Das lag durchaus im Bereich des Wahr‐ scheinlichen. Er würde sich dafür entschuldigen, daß er sich so lange nicht bei ihr gemeldet hatte, sie würde die Entschul‐ digung nach einer gehörigen Standpauke annehmen, und bei‐ de würden dann wieder dort anfangen, wo sie aufgehört hat‐ ten. Zudem würden Claudius und er die Masche dieses Mons‐ trums schon bald durchschauen, es in die Enge treiben und dann verhaften – oder auf seinen fetten Bauch ihre Magazine leerschießen. Und wer weiß, vielleicht war Vin Diesel doch ein hochtalentierter Schauspieler, der sich für diese Actionschwar‐ ten nur so lange hergab, bis seine acht Villen auf den Beverly Hills und die neun Lamborghinis abbezahlt waren, um dann endlich die echt tiefgründigen Klopse mit Wim Wenders zu drehen. Jedenfalls sollte man die Hoffnung nie fahrenlassen! Er wollte aufstehen, weil es schon auf zwei zuging, als ihm der ursprüngliche Grund für die Laptop‐Session einfiel. Mochte sein, daß der Rotwein ein bißchen vergeßlich machte. Er konnte sich jetzt selbstverständlich selbst betrügen und so tun, als sei er noch scharf auf eine Runde Die Siedler von Uris online. Aber was würde das bringen? Er verlor ja doch stets 246
aufs neue. Ohne den Cheat lief da gar nichts. Außerdem woll‐ te er allein mit PARADIES4 spielen. Und bei dem fesselte ihn sowieso etwas ganz anderes. Schließlich hörte er von einem Moment zum anderen auf, Gedanken zu wälzen, und klickte wie jede Nacht einfach den Link an. FORTSETZUNG FOLGT … Eben das stand diesmal nicht unter dem schon bekannten Text, sondern überraschender‐ weise tatsächlich eine Fortsetzung. PARADIES4 hatte sich endlich, endlich dazu bequemt, einen weiteren Eintrag ins Netz zu stellen und so etwas Neues von sich preiszugeben. Hugh füllte sein Glas nach, massierte sich noch mal die Stirn und begann dann zu lesen … 17.6.1999/FISCH »Das Problem ist, daß heutzutage kein Schwein mehr richtig arbeiten will«, sagt der Fischmann. Ich dagegen glaube eher, das wirkliche Problem besteht dar‐ in, daß dieser fette, häßliche und aus seinem wulstigen Maul wie eine verendete Kröte stinkende Mensch jeden zweiten Satz mit »Das Problem ist, daß …« anfängt. Sein Bauch preßt sich gegen die bis zu den Füßen reichende weiße Kunststoff‐ schürze, die beschmiert ist mit Fischgekröse. Er trägt bis auf ein lächerliches Resthaar über den Ohren eine Glatze. Um dies zu verschleiern, hat er sich die kümmerlichen Fäden an der linken Seite lang wachsen lassen, längs über die Pläte ge‐ kämmt und, damit sie auch in Fasson bleiben, tüchtig eingesp‐ 247
rayt. Das Ergebnis soll volle Haarpracht simulieren, wirkt aber eher so, als wölbe sich eine Drahtkonstruktion über den Schädel. Sein Gesicht ist teigig, seine Finger gleichen mißge‐ stalteten Würsten, kreuz und quer zerschnitten von der gan‐ zen Fischhackerei. Er hat diesen Fischladen, in dem nur die gut Betuchten ein‐ kaufen. Alles frisch! Sie finden es schick, ihren Fisch in einer Seitengasse zu holen. In einem muffig‐dunklen Laden im Sou‐ terrain, in dem sich seit dreißig, vierzig Jahren nicht das Ge‐ ringste verändert hat. Verstaubte Neonleuchten baumeln von der Decke herab, deren Fassungen noch aus den Siebzigern stammen. Selbst die mechanische Registrierkasse ist aus dieser Zeit. Zu allem Überfluß schmücken auch noch Fischernetze, Positionslampen und anderer maritimer Tinnef die Wände – offenbar zur Steigerung der Gemütlichkeit, und das mitten in der Stadt. Überall stehen Kübel und Wannen randvoll mit zerstoßenem Eis, und im Eis liegen all diese armen toten Fische mit ihren aufgerissenen glitschigen Augen. Viele von ihnen sehen exo‐ tisch aus, sind rund und platt und besitzen eine markant ge‐ zackte Rückenflosse, die der Zahnreihe einer Fuchsschwanz‐ Säge ähnelt. O ja, sie haben einst Eden erblickt, diese Kreatu‐ ren: schimmernde Korallenriffe, sich in der Strömung wie‐ gende Seegrasfelder und das Licht der Sonne, das sich wie flackernde Lanzen von der Wasseroberfläche bis zu ihnen in den Grund bohrt. Aber das alles ist jetzt leider vorbei. Der Fischmann hat gerufen, und sie sind zu ihm geeilt – wenn auch schon sehr tot. 248
Als ich klein war, wurde meine Mutter über einen ziemli‐ chen Zeitraum hinweg – ich weiß nicht mehr genau, wie lange – regelmäßig von genau so einem ollen Knacker beehrt. »On‐ kel August« mußte ich ihn nennen. Er brachte ihr sogar Blu‐ men mit. Meine Mutter bekam viel Herrenbesuch. So zahl‐ reich waren diese Kerle, daß sie in meinem Gedächtnis inzwi‐ schen zu Bewohnern einer bizarren Stadt geworden sind, eine Stadt, bewohnt ausschließlich von Männern, die alle zu mei‐ ner Mutter wollen. Der alte Mann aber war der einzige, der uns einen einwöchigen Urlaub spendierte. An der Nordsee. Das war das erste und einzige Mal, daß ich leibhaftig das Meer sah. Und die Fische darin. Ich spielte alleine am Strand und fand einen Seestern halb verborgen im Sand. Stolz auf meinen Fund, lief ich gleich zu den beiden zwischen den Dünen, um ihnen das Ding zu zei‐ gen. Sie hatten sich gegen die steife Brise mit einer Windfang‐ plane abgeschirmt. Und wie ich um die Ecke komme, sehe ich, wie Onkel August auf unserem großen Badetuch mit dem Rosenstrauchmotiv gerade Mutti fickt. Sein Fleisch fällt in massigen Falten wie ein Teigklumpen, den man hingeworfen und dann sich selbst überlassen hat. Seine Haut ist überwu‐ chert mit sichelartig gekrümmten silberweißen Haaren und übersät mit Altersflecken, viele von ihnen pfenniggroß. Sein Stoßrhythmus ist lahm, als sei er ein defekter Apparat, der zwar den Geist noch nicht aufgegeben hat, aber alles nur noch auf niedrigster Geschwindigkeit erledigen kann. Beide äch‐ zen, als ob sie eine schwere und ungeliebte Arbeit verrichten. Als meine Anwesenheit bemerkt wird und sie sich zu mir 249
wenden, fällt mir auf, daß auch seine Schamhaare ergraut sind. Und daß der Mittelfinger seiner rechten Hand in Muttis Arsch steckt. Sie lösen sich voneinander, wobei sie ihre Geni‐ talien nur halbherzig vor mir verbergen. Er ist naßgeschwitzt, seine Lider sind von der Anstrengung verhangen, die ganze Erscheinung wirkt wie kurz vor dem Kollaps. Dennoch um‐ spielt ein spitzbübisches Lächeln seine Mundwinkel, als hätte ich ihn bei einem Streich erwischt. Dafür ist Mutti total aus dem Häuschen. »Du Drecksau!« brüllt sie mich an, während ihr gerade eben noch gekünstelt lüsternes Gesicht einer haßerfüllten Fratze weicht. »Du gottverdammte Drecksau! Hast du nichts Besse‐ res zu tun, als hier rumzulungern und den Leuten bei so was zuzugucken? Mozart hatte in deinem Alter schon hundert Opern komponiert. Du kannst nicht einmal deinen eigenen Namen richtig schreiben! Nein, statt dessen beschäftigst du dich den ganzen Tag mit schmutzigem Zeug und bohrst in der Nase. Du Drecksau!« Wie sie so in einer Tour weiterbrüllt und ich wie schockgef‐ roren dastehe und dagegen ankämpfe, in Ohnmacht zu fallen, da springt mir noch etwas ins Auge. Der Kerl hat sein küm‐ merliches Ding schon längst aus Mutti herausgezogen, doch sein Mittelfinger steckt immer noch in ihrem Arsch. Die ganze Zeit, während sie mich anbrüllt. Heute weiß ich, daß der Körper bei Anstrengung, worunter auch das Schreien fällt, bestimmte Muskeln konvulsiv zucken läßt. Das trifft auf die Afterschließmuskulatur am häufigsten zu. Es muß Onkel August ungeheuer erregt haben, daß sein 250
Finger von Muttis Anus wie in einem Schraubstock zusam‐ mengepreßt wurde, während sie mich anbrüllte. Er muß einen Heidenspaß daran gehabt haben. Wer weiß, sie vielleicht auch. Später, dreiunddreißig Jahre später, fahre ich zu dem Sana‐ torium, in dem sie, von Lungenkrebs zerfressen, wie sie es verdient hat, dahinsiecht und sich auf das Jenseits vorbereitet. Oder vorbereiten sollte. Denn gerade das tut sie eben nicht. Sie will lieber noch ein bißchen hier bei uns bleiben. Vermut‐ lich ahnt sie, was sie auf der anderen Seite erwartet. Ich ahne es nicht, ich weiß es bereits. »Ach Junge, ach Junge, ich habe solche Angst«, röchelt sie, und aus ihren Mundwinkeln sickert gelbe Flüssigkeit auf das schneeweiße Kissen. Sie ist über Schläuche und Kabel an tau‐ send Apparaturen angeschlossen und erinnert an eine klappe‐ rige Marionette im Gewirr ihrer Fäden. Es ist dunkel im Zim‐ mer. Auf dem Nachttischschränkchen brennt nur eine trübe Leseleuchte, und die farbigen Kontrollämpchen der Geräte blinken in einem geheimnisvollen Rhythmus. Ein lautes Summen erfüllt plötzlich den Raum, bis es ebenso unvermit‐ telt wieder verstummt. Die Frau, die mir so vertraut ist … Oder ich fange es anders an: Der einzige Mensch, den ich je geliebt habe, ist ge‐ schrumpft. Ich schätze, daß Mutti nur noch knapp vierzig Kilo wiegt. Alles Fleisch an ihr ist wie fadenscheiniges Tuch ge‐ worden, das ihr Knochengerüst eher ent‐ als verhüllt. Sie trägt trotz ihres Alters immer noch lockiges langes Haar. Aber mitt‐ lerweile wirkt es wie chemisch ausgebleicht und von einem 251
dilettantischen Friseur Locke für Locke krumm und schief an ihren Schädel geklebt. Ihr Gesicht besteht nur mehr aus Schluchten. Einst zog die magische Beschaffenheit und Anordnung von nur millimeterdicken Fettpölsterchen so unendlich viele Männer in ihren Bann wie ein Wallfahrtsort Pilger, doch diese sind gänzlich verschwunden. Geblieben sind die bloßen Schädelknochen, die auf diesem fahlen Ge‐ sicht zu erkennen sind. Mit einem Wort, der Totenkopf scheint schon durch. »Ach Junge, ich habe solche Angst«, wiederholt sie. »Was mache ich bloß, wenn ich tot bin?« Ich beuge mich über die Bettdecke, die noch genauso glatt daliegt, wie die Schwester sie ausgebreitet hat, weil die Patien‐ tin sich kaum bewegt. Dann nähere ich mich mit dem Mund ganz dicht ihrem Ohr, da sie schlecht hört. »Mach dir mal darüber keine Sorgen, Mutti«, sage ich. »Du könntest zum Beispiel dort, wo du bald sein wirst, ein neues Kind gebären, noch einen Jungen. Diesmal von Gott gezeugt. Er wäre Gottes Sohn, vollkommen und schön, eine Art sakra‐ ler Brad Pitt. Ich sehe euch drei schon morgens am Früh‐ stückstisch sitzen und den neuesten Klatsch aus dem Paradies durchhecheln. Eine glückliche Familie … Weißt du noch, wie einmal Papa bei uns vorbeigeschaut hat? Jedenfalls hast du damals gesagt, daß der abgerissene Typ mein Papa wäre. Er hat nach Korn und Schweiß gestunken und nach Scheiße, als hätte er sich seit zwei Wochen nicht unter die Dusche gestellt. Er hat mir den lebenswichtigen Tip gegeben, daß ich immer brav meine Hausaufgaben machen soll. Danach haben wir ihn 252
nie wieder gesehen. Also, mit deiner neuen Familie im Him‐ mel könnte dir so etwas echt nicht passieren, Mutti.« Sie schaut mich an, wie sie mich zeit meines Lebens ange‐ schaut hat: voller Verachtung, aber auch voller Selbstmitleid, gerade so, als sei ich etwas, was ihr zugestoßen ist, ein Auto‐ unfall oder ein Erdbeben oder so was ähnliches. »Irgend etwas stimmt mit dir nicht, Junge«, sagt sie nach ei‐ ner Weile und dreht den Kopf zur Seite. »Mit dir hat schon immer etwas nicht gestimmt.« Und mit einem Mal tritt aus dem Totenkopf die grellge‐ schminkte Visage der alten Nutte hervor, die sie immer gewe‐ sen ist. Sie trägt eine derart massive Schicht Make‐up, daß man über die tatsächliche Farbe des Teints nur rätseln kann. Ihre Lider sind mit dem Kajalstift überfett nachgezogen, was die Augen wie bei einer Comicfigur markant und übernatür‐ lich groß erscheinen läßt. Die Lippen sind rubinrot und flei‐ schig feucht. Der ganze Anblick ist ein billiges Versprechen für billige Männer. Doch durch all diesen Schmutz schimmert noch ein weiteres Bild hindurch. Ein arg verstaubtes Bild, das bis jetzt nicht im Keller verborgen war, sondern in einem lichtlosen Gemäuer noch weit darunter. Während mir die ersten Tränen auf die Wangen kullern, betrachte ich es. Es zeigt eine junge Frau, die einen lachenden kleinen Jungen in die Luft wirbelt und ihn wieder auffängt und dabei voller Freude ständig ausruft: »Du bist mein kleiner Hase! Du bist mein kleiner Hase! …« »Was stimmt denn nicht mit mir, Mutti?« sage ich, wobei aus der süß‐sauren Erinnerung plötzlich unbändiger Zorn wächst. 253
»Was stimmt denn nun nicht mit mir? Was denn?« Ich presse die rechte Hand über ihren Mund und die Nase und drücke so fest zu, wie ich nur kann. Sie beginnt augenb‐ licklich zu zappeln wie ein lustiges Spielzeug. Die welken Streichholzarme schlagen um sich, der Streichholzkörper bäumt sich auf, und die Streichholzbeine trampeln auf der Matratze. Es steckt noch eine Menge Leben in der alten Dame. Die Bettdecke fliegt weg, die Kanülen reißen aus der Haut, irgendwo plätschert der Inhalt der Infusionsflaschen auf den Boden. Das laute Summen von vorhin geht wieder los, aber auch andere schrille Töne aus den Apparaturen. »Warum hast du damals am Strand seinen Finger in deinem Arsch stecken lassen, während du mich die ganze Zeit angeb‐ rüllt hast, Mutti?« frage ich. »Warum hast du das verdammt noch mal zugelassen!?« Aber sie kann mir nicht mehr antworten. Es kehrt Stille ein. Sie benimmt sich wieder artig, hört auf, um sich zu schlagen, und nimmt eine reglose Pose ein. Und die Apparaturen sum‐ men nur noch leise. Ich nehme die Hand von ihrem Gesicht und sehe, daß ihr Mund offensteht, als würde sie den süße‐ sten Schlaf ihres Lebens schlafen. Sie ist tot. Unglaublich, Mut‐ ti ist wirklich tot! Neuer Zorn brandet in mir auf, noch mächtiger als zuvor, Zorn, der mir das Blut in den Kopf treibt und die Halsmus‐ keln vor Anspannung schmerzvoll pochen läßt. Aber nicht deshalb, weil ich sie kaltgemacht habe, nein, ich könnte mich vielmehr stundenlang selbst ohrfeigen, daß ich es nicht schon vor Jahrzehnten getan habe! 254
Das alles liegt jetzt schon so lange zurück, doch immer, wenn ich Fische sehe, muß ich an diesen denkwürdigen Abend mit Mutti denken. Es war das einzige Mal, daß wir uns richtig ausgesprochen haben. Der Grund, warum ich nun beim Fischmann stehe, hängt na‐ türlich mit meiner heiligen Begabung zusammen. Ich kam des Weges entlang, und mein Blick wanderte zufällig durch das Schaufenster, dann wie ein Zoom an der Schulter des fetten Kerls an der Theke vorbei und schließlich durch die dahinter befindliche offenstehende Tür zum Hinterhof. Da stand sie, mit dem Rücken gegen die Mauer mit dem abfallenden Putz gelehnt, und rauchte eine Zigarette. Der schwarze Engel, es ist der schwarze Engel! Ich hatte gewußt, daß ich ihm irgend‐ wann begegnen würde. Selbstlob ist mir verhaßt, gleichwohl kann man auf diesem Planeten diejenigen an einer Hand abzählen, welche selbst durch Fischgeruch das herausriechen können, was mir meine Begabung klar und eindeutig zutrug. So spazierte ich in den Laden, legte mir das Gehabe eines Schnösels mit Kochfimmel zu und fing ein lockeres Geplauder an. Ich hege die Theorie, daß die Reichen mit den Verkäufern deshalb so nervend lange und im familiären Ton plaudern, weil es auf ihre ehrwürdige Tradition des Sklavenhaltens zurückgeht. Schon im alten Rom mochten wohl diese armen Teufel einem irgendwann ans Herz gewachsen sein. »Das Problem ist, daß der Staat jedem Zucker in den Arsch bläst, verstehen Sie?« sagt der Fischmann. Seine Finger befüh‐ len unter dem Vitrinenglas Hummer im Wasser, deren Sche‐ 255
ren mit Klebeband zusammengebunden sind. Ihre Antennen bewegen sich bedächtig hin und her, als philosophierten sie auf ihre Art über ihr Dilemma. Ich kann es auch nicht ausste‐ hen, wenn einer nach jedem vollendeten Satz ein »Verstehen Sie?« dranhängt. Und ich frage mich, wie wir überhaupt auf dieses bescheuerte Thema gekommen sind. »Man braucht nur zu rufen ›Ich bin arm!‹, und schon kommt der Staat und richtet einem die Wohnung ein, verstehen Sie?« fährt der Fischmann fort. »Das Problem ist, daß es den Leuten zu leicht gemacht wird, weiterzuschlafen. Das ist das Prob‐ lem. Schauen Sie sich die da an …« Er winkelt den linken Arm nach hinten und zielt mit dem Daumen in Richtung Hinterhof, ohne selbst hinzusehen. Da‐ bei verzieht er das Gesicht, als hätte er in einen verdorbenen Fisch gebissen. »Die hat mir das Sozialamt geschickt, damit sie wenigstens so tut, als wäre sie ein nützliches Element der Gesellschaft. Aber das Problem ist, daß sie ja gar nicht arbeiten will, verste‐ hen Sie? Sie ist seit vier Stunden hier und hat davon zwei Stunden Zigarettenpause gemacht. Das ist das Problem, ver‐ stehen Sie?« Es ist nicht meine Art, solche Heuchler bloßzustellen. Zumal ich lieber Flaneur und Beobachter bin und meine Meinung gern für mich behalte. Doch ist die Versuchung in diesem Fall übermächtig. »Aber Sie bekommen doch auch etwas dafür, daß Sie so eine problematische Person bei sich beschäftigen, nicht wahr?« sage ich. »Was meinen Sie damit?« 256
Der Fischmann ist verdutzt wie ein Kind, das man nach dem Verbleib der Schokolade im Kühlschrank fragt und das dar‐ aufhin mit den Schultern zuckt, obwohl seine Mundwinkel ganz verschmiert sind damit. »Nun ja, Vater Staat wird Sie doch wohl für Ihre Großzügig‐ keit auch hübsch alimentiert haben.« Er tut so, als hätte er die Pointe eines Witzes erst jetzt kapiert und lacht verkrampft. »Schon wahr«, sagt er dann. »Ihr Gehalt läßt das Sozialamt springen, und ich bekomme was von der Steuer abgezogen. Aber das Problem ist, daß die mich bei der Arbeit eher aufhält als unterstützt, verstehen Sie?« Die Ladentür geht auf, und eine arg klapprige Oma wackelt hinein. Sie trägt ein rosa Chichi‐Kostüm aus einem dieser sündhaft teuren französischen oder italienischen Modehäuser und ist über und über mit Goldklunkern behängt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß man es hier mit einer Mumie aus dem Ägyptischen Museum zu tun hat, die für eine Wanderausstellung besonders luxuriös verpackt wurde. Wäre sie ein Foto, würde die Bildunterschrift Die Erben scharren schon mit den Hufen lauten. Der Fischmann hat das Interesse an mir inklusive des Dis‐ kurses über die Deformationen im Wohlfahrtsstaat augenb‐ licklich verloren und stürmt auf sie los. Sein Kennerblick hat sie auf der Stelle als professionelle Hummermörderin identifi‐ ziert. Er lacht ein geiferndes Schachererlachen, reibt sich sogar die Hände dabei und schießt gleich am Anfang sein gesamtes Arsenal an Arschkriech‐Anreden wie »Gnä’ Frau« und »Ma‐ dam« ab. Er scharwenzelt um sie herum, führt sie von einem 257
maritimen Massengrab zum anderen und lacht zwischen‐ durch unmotiviert und ohrenbetäubend, damit die schwerhö‐ rige Alte auch mitbekommt, wie sehr ihre Gegenwart ihn mit Wohlgefallen erfüllt. Eigentlich kaum zu ertragen, wie tief ein Mensch für den pe‐ kuniären Gegenwert eines Hummers zu sinken bereit ist. Für mich dagegen ist die neue Kundin ein Grund zum Jubeln. Ich blicke mich verstohlen wie ein Ladendieb um, verlasse dann das Geschäft, biege einmal ums Gebäude, finde den Eingang und spaziere durch den Hof mit der aufgerissenen Betondek‐ ke, bis ich endlich auf sie stoße. Mit einem Seitenblick durch die rechter Hand gelegene offene Tür versichere ich mich, daß der Fischmann immer noch damit beschäftigt ist, der Chichi‐ Oma seine Hummer aufzuschwatzen. »Weißt du, wer ich bin?« sage ich, während ihr spezifischer Geruch mich regelrecht umhaut. Ich fürchte, auf die Knie zu fallen und einen irren Gesang anzustimmen ob ihrer anbe‐ tungswürdigen Schönheit, mehr jedoch noch wegen ihres momentanen Zustands. Gleichzeitig spüre ich, wie meine Ei‐ chel schon aus der Vorhaut schlüpft. Die Frau ist das Gegen‐ teil von dem, was die Boulevardpresse als »Luder« zu be‐ zeichnen pflegt. Die Ahnungslosen! Sie wissen nichts über den Tümpel, der desto besinnungsloser Leben gebiert, je mehr der Schmutz sich darin ansammelt. Sie ist eine junge Frau, schätze Mitte Zwanzig, die schon verloren hat, bevor das Spiel erst beginnt. In zehn Jahren wird ihr Alter keine Rolle mehr spie‐ len, dann ist sie ein zermanschter Pfirsich. Die Männer, die Drogen, die Kinder, die sogenannten Umstände, vor allem 258
aber sie selbst werden sie zugrunde gerichtet haben. Doch heute strahlt sie für mich. Der Tümpel ist fruchtbar noch! Ihr schwarzes Haar ist schulterlang und wellig, ihre Ge‐ sichtshaut ist blaß und wirkt ungepflegt, was ein Hinweis darauf ist, daß sie die Sonne scheut, viel daheim hockt und viel raucht, noch viel mehr aber säuft. Es ist ein knochiges Gesicht, das heutzutage etwas aus der Mode gekommen ist, jedoch seinerzeit von den Präraffaeliten sehr bevorzugt wur‐ de. Auch so Arschgeigen, die – billig, billig – ihre Models be‐ vorzugt aus den Armenvierteln holten. Der Umstand, daß ihre aufgedunsenen Lippen mit einem erdbeerroten Sonderange‐ botslippenstift beschmiert sind, und das auch noch über die Lippenränder hinaus und ein paar Schmieren noch weit darü‐ ber, verschafft mir beinahe schon jetzt Erleichterung. Ihr mit Fischgekröse befleckter weißer Kittel steht vorne offen, und so erhalte ich einen Blick auf ihre Figur. Sie hat etwas Vogelhaf‐ tes, vornübergebeugt, ein bißchen ausgemergelt. Die Spitzen der Schlüssel‐ und Hüftbeine bilden sich durch den Stoff ab. Ihr ausgewaschenes, erbärmlich gebügeltes lindgrünes Sonn‐ tagshemd, das ihr der Sachbearbeiter vom Sozialamt wohl als Outfit für den ersten Arbeitstag empfohlen hat, läßt kleine Brüste erahnen. Ihre Arme sind viel stärker behaart als bei der Durchschnittsfrau. Ein Hinweis darauf, wie es um ihre Ach‐ sel‐ und Schambehaarung steht. Ihre langen dünnen Vogelbe‐ ine versteckt sie unter einer schäbigen Jeans, Marke Ukraine. Sie enden an Schuhen, deren Design jeder Beschreibung spot‐ tet und die sich an den Füßen der Schreckschraube von drin‐ nen passender ausnehmen würden. 259
Das Auffälligste an ihrer Erscheinung ist jedoch, daß sie den Inbegriff eines Opfers darstellt. Nicht jemandes Opfer, auch nicht ein Opfer im politischen oder sonstwie verkopften Sin‐ ne. Nein, ein Opfer par excellence, von Gottes Gnaden sozu‐ sagen. Sie ist nun einmal der Tümpel und nicht der klare See. Sie ist nur dazu bestimmt, weitere Opfer in die Welt zu setzen. »Ich weiß, wer du bist«, sagt sie und zieht hingebungsvoll an ihrer fast bis zum Filter heruntergerauchten Zigarette. Der aus ihren Nasenlöchern entweichende Rauch hüllt ihr Vogelge‐ sicht ein. In der dadurch entstandenen Unschärfe ähnelt es für einen Moment dem ernst und besinnlich dreinblickenden Ant‐ litz einer Kirchenstatue. »Du bist der Typ, der da drin mit dem Fettsack rumge‐ schleimt hat. Du kommst vom Sozialamt, um mich zu kontrol‐ lieren.« »Irrtum«, erwidere ich. »Ich komme vom Hochamt.« »Hochamt? Was ist das für ’n Scheiß?« »Kleiner Scherz am Rande. Nein, mit dem Sozialamt habe ich wahrlich nichts am Hut. Eigentlich wollte ich dich entfüh‐ ren.« Sie lacht bitter. »Meinst du, das lohnt sich? Für mich bezahlt kein Schwanz Lösegeld. Außerdem muß ich jetzt Fische ent‐ schuppen.« »So ein Quatsch, wofür soll das gut sein? Hat ja eh keinen Sinn.« Ich lache das aufgesetzte Lachen eines arroganten Pfef‐ fersacks, dem die Vorstellung der täglichen Mühsal des Geld‐ verdienens nur Amüsement abnötigt. »Komm gleich mit mir, ich führe dich ins Grand Hotel.« 260
»Grootel? Was is’n das, eine Absteige für Nutten?« In ihrem jungen Gesicht, in dem sich ihre Gedanken so mü‐ helos ablesen lassen wie Schaubilder auf der Gebrauchsanlei‐ tung für ein Kinderspielzeug, sehe ich, daß sich ein Wider‐ streit entzündet. Auf der einen Seite ist da die Furcht, sich einen weiteren Schritt auf den Abgrund zuzubewegen, einen unwiderruflichen Fehler zu begehen, wenn sie diese fischige, nichtsdestotrotz letzte Chance vertut. Auf der anderen Seite jedoch lockt die alltägliche Apathie, das süße Versprechen des Rausches, das routinierte Augenschließen davor, was morgen alles noch kommen mag. Nach und nach gewinnt das letztere die Oberhand. Ob Druck vom Sozialamt oder ein Arschfick von diesem reichen Kerl, wo liegt da der Unterschied? »Nein, nein«, erwidere ich und verleihe meinem Lachen et‐ was Nonchalantes. »Das ist ein Luxushotel, in dem wir gute Sachen trinken und ein paar lustige Abenteuer erleben wer‐ den, meine Liebe.« »Das mit dem Trinken hört sich toll an. Ich hab aber das blö‐ de Gefühl, daß mir die lustigen Abenteuer nicht so schmecken werden.« »Woher willst du das wissen? Probieren geht über studieren, sagt man.« »Das ist auch mein Spruch, Kollege – auch wenn ich nicht weiß, was das genau bedeutet«, sagt sie, schnippt mit Daumen und Zeigefinger die Kippe weg, zieht den Kittel aus und läßt ihn zu Boden fallen. Noch ein letzter, wie mir scheint wehmü‐ tiger Blick in den Fischladen, in dem ihre vermeintlich golde‐ ne Zukunft liegen sollte, dann hakt sie sich bei mir unter. 261
Da sie sich für die Arbeit einigermaßen gepflegt gekleidet hat, ist es kein Problem, in dem Fünf‐Sterne‐Hotel als vertrau‐ tes Paar aufzutreten und ein Zimmer zu bekommen. Ich orde‐ re gleich bei der Rezeption Champagner und natürlich Hum‐ mer. Es stecken auch zwei Gramm astreines Koks in meinem Portemonnaie. Auf dem Weg zum Fahrstuhl springt mir an der Kaminecke der Empfangshalle etwas ins Auge, das mich sehr rührt. Es handelt sich um eine messinggerahmte, von einer Glasscheibe geschützte riesige Tafel, an der Hunderte von Fotografien haften. Das Motiv der Fotos ist immer gleich: Vor dem Hintergrund des Kamins lächeln Paare in die Kame‐ ra, die alle einmal Gast in diesem Haus gewesen sind. Offen‐ bar läuft hier ein Fotograf herum, der den Leuten mit dem Versprechen, daß sie durch diesen Akt eine Art Hotelunsterb‐ lichkeit erlangen können, das Geld aus der Tasche zieht. An den Frisuren der Frauen und natürlich an der Kleidermode erkenne ich, daß einige der Bilder schon seit zehn Jahren oder länger an der Tafel prangen. Kaum haben wir das Zimmer betreten, zieht sie sich auch schon eine dicke Linie rein. Leider muß ich passen, denn es versteht sich von selbst, daß meine heilige Begabung jegliche Manipulation an der Nase verbietet. »Scheiße, ist das Zeug geil!« stöhnt sie, nachdem sie den ein‐ gerollten Schein von der Nase abgesetzt hat. So sehr scheint sie sich nach dieser Art der Erlösung gesehnt zu haben, daß ihre Augen sich vor lauter Erfüllung, vielleicht auch Dankbar‐ keit, mit Feuchtigkeit füllen. Dann erst nimmt sie den insze‐ nierten Luxus um sich herum wahr. Sie geht wie ein kleines 262
Mädchen, das soeben ins Reich der Feen und Trolle geschubst wurde, staunenden Blickes von Zimmer zu Zimmer und stößt alle naslang ein »Boah!« aus. Sie inspiziert lange das Bad, ist ganz hin und weg vom Whirlpool und von den in der Decke versenkten Halogenstrahlern, die alles gleich einer Theaterku‐ lisse akzentuiert erleuchten. Am stärksten beeindrucken sie aber die edlen rosa Stofftapeten und die im Zimmerpreis in‐ begriffenen Hotelpräsente, die Schale voll Obst und Schokola‐ de hier und dort. Doch vielleicht ist sie auch nur von etwas überwältigt, das sie nie zuvor, schon gar nicht in ihrer eigenen Wohnung je gesehen hat: eine saubere und aufgeräumte Bude. Ich folge ihr auf Schritt und Tritt, und da sehe ich plötzlich, wie zwischen ihren Schulterblättern die Flügel herauswach‐ sen. Sie bohren sich durch das lindgrüne Hemd hervor, wer‐ den zunehmend größer, bis sie schließlich die Spannweite eines Drachenfliegers erreichen. Sie sind gefiedert, raben‐ schwarz und schwingen sanft auf und ab wie bei einem Rie‐ senvogel im Gleitflug. Ich habe davon geträumt, daß ich dem schwarzen Engel begegne und daß sein goldener Strahl mich trifft, daß ich eins werde mit ihm, daß wir zusammen eine Stufe erreichen, die nicht einmal Gott zu erklimmen vermag, und daß wir etwas Großartiges in Sünde zeugen. Jetzt wird sie wahr, meine Vision. Sie steht im Zentrum des Schlafzimmers und breitet die Flü‐ gel in voller Breite aus. Sie sind gigantisch, und ihre Enden berühren schon die Decke. Die tiefschwarzen Federn funkeln silbrig im Widerschein der Sonnenstrahlen, die durch das seit‐ liche Panoramafenster in den Raum hineinfluten. Immer noch 263
blickt die Fischfrau halb ungläubig, halb fasziniert drein. Da klopft es an der Tür. Der Typ vom Zimmerservice schiebt auf einem Wägelchen den Champagner und den Hummer hinein. Wir trinken ein bißchen und knabbern an dem Scha‐ lentier, das ihr gar nicht so doll mundet, weil sie so etwas noch nie gegessen hat. »Was jetzt?« sagt sie und gießt sich schon das dritte Glas mit Champagner voll. »Jetzt spielen wir ein Spiel«, antworte ich. »Was für ein Spiel?« »Das Spiel heißt ›Ich lecke dir den Kitzler blank‹. Ich fange an.« »Ach, das Spiel meinst du! Scheiße, was soll’s.« Sie genehmigt sich noch eine Nase und beginnt dann sich zu entblättern. Es ist eine Offenbarung! Es ist besser als alles, was ich bei meiner Mission je gesehen und erlebt habe. Ihr Körper blendet mich geradezu. An dem dürftigen weißen Fleisch bil‐ den sich die Knochen ab, vor allem am Brustkorbbereich. Ihre Brüste sind nicht größer als handelsübliche Tomaten, aber die Warzen erinnern an im Frühlingsrausch übers Ziel hinausge‐ schossene Knospen, so voluminös und hart sind sie. Ihre Figur ist die einer großgewachsenen jungen Frau, die sehr wenig ißt. Doch das wenige, was sie ißt, reicht offenkundig immer noch aus, um die Körperstellen mit sexueller Signalwirkung ausrei‐ chend auszustatten. Der hagere Körper erhält seinen absolu‐ ten Knalleffekt im Zusammenspiel mit der Behaarung an den brisanten Regionen. Rabenschwarze Büschel wachsen ihr un‐ ter den Achseln, lang und schweißverklebt. Aber das mit Ab‐ 264
stand Aufregendste ist die Schambehaarung. Sie gleicht einer finsteren Schürze, die noch über die Leistenbeugen hinaus‐ reicht, ja Ausläufer bis zum Bauchnabel vorweist. Wuchernd, anschwellend, sich schier grenzenlos ausdehnend wie ein sich selbst überlassener geheimnisvoller Hain. Und aus der Mitte dieses düsteren Forstes scheint die rosa Muschi hervor, eine gefährlich glimmende Glutfurche. Ich stürze mich auf sie, werfe sie auf das Bett und grätsche ihre Beine auseinander. Ihre Klitoris springt mir aus dem Dü‐ sterwald entgegen wie eine geliebte alte Freundin, die mich lange entbehren mußte. Beim Großteil der weiblichen Welt ist das Ding so winzig, daß man eine Lupe zur Hand nehmen muß, um es überhaupt ausfindig zu machen. Bei Fisch ist es anders. Ich lecke und massiere den Nippel, der zur Größe von der Spitze des kleinen Fingers angeschwollen ist, bis sie mit dem Unterleib auf‐ und hochzufahren anfängt. Ich weiß nicht, ob ihr das Ganze tatsächlich Spaß bereitet, aber es ist mir auch einerlei. Die weibliche Sexualität verstehen zu wollen ist so aussichtslos, wie den Ursprung des Universums zu ergrün‐ den. Jeden Tag eine neue Theorie. Jetzt gibt sie Stöhnlaute von sich. Seltsam nur, daß sie sich gleichzeitig wie Schluchzer an‐ hören. Vielleicht weint sie nur. Ihre Hüftschaukelei wird immer wilder, und sie sagt: »Komm jetzt!« Aber selbst das klingt nach einem hingeflenn‐ ten Betteln. Ich lasse von ihr ab, um mir die Hose auszuzie‐ hen, und ermuntere sie, es sich solange selbst zu machen. Da‐ bei bemerke ich, daß aus ihren zu Schlitzen verengten Augen tatsächlich Tränen entlang der Schläfen kullern. Ja, der 265
schwarze Engel und ich sind Seelenverwandte, denn auch mir ist beim Sex meistens zum Weinen zumute – vermutlich je‐ doch aus ganz anderen Gründen. Ich spreize ihre Beine und dringe in sie ein, ohne mich auf sie zu legen, so daß ich mich weiterhin an ihrer Masturbation ergötzen kann. Dann beginne ich, sie mit sachten Stößen zu ficken. Dabei ist ihr Schluchzen die ganze Zeit an meinem Ohr. »Warum weinst du, meine Liebe?« sage ich, während mein Schwanz im gemächlichen Rhythmus in sie rein‐ und rausf‐ lutscht wie ein Apparat, der irgend etwas in ihr repariert. »Du solltest lachen darüber, daß es so gekommen ist.« »Ach, ach, ach«, stöhnt sie und rubbelt weiter an ihrem Kitz‐ ler. »Ich weine, weil ich nie etwas zu lachen haben werde. Bis zum beschissenen Ende meines Lebens, das weiß ich.« »Was willst du?« frage ich, und es interessiert mich wirklich. »Ich will wieder vierzehn sein und mit den Jungs um den Block ziehen. Das war immer lustig.« In dem Moment spritze ich meine Ladung in sie hinein. Meine heilige Begabung läßt mich wissen, daß es ein Volltref‐ fer ist. Mehr Schmutz ist in den Tümpel hineingeflossen, und doch wird diese freudlose Mischung bald etwas von solcher Reinheit erschaffen, daß angesichts dieser Glorie selbst die weißen Engel darniederknien werden. Sie hat nun ebenfalls den Gipfel erklommen und sagt: »Halt mich, halt mich jetzt ganz fest!« Ich gehorche ihr, ergreife sie, drücke sie fest an mich, spüre ihre heißen Tränen an meinem Gesicht und vernehme ihren 266
laut gehauchten Orgasmus an meinem Ohr. Und für einen Moment ist es so, als, wie soll ich sagen, als wären wir und diese ganze Situation hier ganz normal, als hätten da zwei Ge‐ strauchelte zueinandergefunden, die sich kraft der Liebe ge‐ genseitig wieder aufrichten. Für einen sehr, sehr kurzen Mo‐ ment ist es wirklich so. Danach kommen wir wieder zur Besinnung. Sie zieht sich eine neue Linie rein. Anschließend trinkt sie den Rest des Champagners direkt aus der Flasche. Ich veranstalte derweil ein bißchen zähflüssige Konversation und bekomme so ganz nebenbei ihre Adresse heraus. In den langen, wortlosen Pau‐ sen dazwischen liegen wir nackt auf dem Bett und schauen durch das Panoramafenster auf die blöde Stadt. Die Sonne geht allmählich unter und beschließt einen weiteren sinnlosen Tag unter sich. Die warmen Farben der Dämmerung, koral‐ lenrot und bordeauxviolett, schmeicheln unseren Netzhäuten, aber sie ändern auch nichts mehr. Die Euphorie von vorhin ist futsch. Aber plötzlich ist sie wieder da. Sie will aus dem Zimmer gehen, und ich frage: »Wohin?« »Na, aufs Klo. Muß mal Pipi.« »Das brauchst du nicht. Mach es gleich hier – bei mir …« Sie ist inzwischen derart zugedröhnt, daß sie es nicht gleich kapiert. »Was soll ich machen?« Ein paar Sekunden später beginnt ihr die Tragweite des Ge‐ forderten doch noch aufzugehen. Ich verfolge es an ihrem Gesicht. Erst erscheint dort ein naives Erstaunen, das dann aber schnell in Bestürzung umkippt. Schließlich ist nur noch 267
der leere Blick da. Das ganze Zimmer beginnt mit einem Mal – zu leben! Die Wände mit den rosa Stofftapeten transformieren sich zu organischer Materie, aus der kompliziert verzweigte blaue Arterien durchscheinen. Alles pocht und schwingt, als umschließe uns lebendiges Fleisch. Ich höre das Zimmer at‐ men. Die Strahlen der Sonne verwandeln den Raum in ein Reich, in dem nur das Rot und seine ihm ergebenen Nuancen regieren. Allein Fisch leuchtet darin gleißendhell wie kochen‐ des Gold, das sternenförmige Funken um sich schießt. Die Welt ist jetzt nur noch rot und golden. Allein ich bleibe in der Finsternis, wo ich hingehöre. Sie steht aufrecht auf dem Bett und schaut irgendwie streng auf mich herab. Die schwarzen enormen Büschel unter den Achseln und an ihrer Mose glühen im roten Licht. Doch was mich vor Ekstase an den Rand eines Infarkts bringt, sind ihre rabenschwarzen Flügel. Ganz langsam breitet sie sie aus, ge‐ rade so, als wuchte sie einen schweren, alten Opernvorhang. Die riesigen Federn spreizen sich, und man erkennt ganz deutlich, wie die die ganze Konstruktion tragenden Knochen gleich Stahlarmen die Last ohne den Hauch eines Zitterns stemmen. Dann sind sie bis zum Anschlag ausgebreitet. Diese düsteren Segel ragen meterweit über ihrem Kopf empor und nehmen das ganze blutrote Zimmer ein. Sie kniet sich ein wenig nieder, der schwarze Busch senkt sich mir aufs Gesicht wie eine schwere Nacht, und ich schaue direkt in ihr noch ein wenig aufklaffendes Loch hinein. Auch darin ist es blutrot. »Irgend etwas stimmt mit dir nicht, Junge«, sagt sie und 268
schießt ihren goldenen Strahl geradewegs auf mein Gesicht. Er wächst aus ihrem Dunkelwald zu mir wie eine gleißende Brücke in einem Traum. Und während ich von der süß per‐ lenden, warmen Flüssigkeit benetzt werde und mir erlö‐ sungsbedingt heute zum zweiten Mal einer abgeht, frage ich mich, ob dieser Hotelfotograf jetzt wohl noch irgendwo aufzu‐ treiben ist.
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15. Diesmal hatte sein guter alter Freund eine Grenze überschrit‐ ten. Der Text unterschied sich vom vorigen in einem grund‐ sätzlichen Punkt, und dazu noch wurde Hugh ab dem Mittel‐ teil von einem heftigen Déjà‐vu‐Erlebnis heimgesucht. Er vermochte kaum mehr zu unterscheiden, ob die Schwumme‐ rigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte, dieser Irritation im Gelesenen oder dem Rotwein zu verdanken war. Seine Sicht auf die verbotene Welt kippte quasi in eine Schräglage. Der fundamentale Unterschied zwischen MUSCHEL und FISCH bestand schlicht und einfach darin, daß in der letzten Episode ein Mord geschildert wurde und er, der Polizist, dies nicht so ohne weiteres ignorieren konnte. PARADIES4 hatte, so wie es aussah, seine Frau Mama umgebracht. Doch hier kündigten sich auch schon die schier unlösbaren Probleme an. Wer war PARADIES4, wer versteckte sich hinter dem Namen, gab es ihn wirklich, oder war er nur eine Fiktion? Und wie verhielt es sich mit dem Wahrheitsgehalt der literarischen Ergüsse? Sicher handelte es sich bei den Aufzeichnungen um eine Beichte, freilich die Beichte eines offenkundig psychisch gestörten, nichtsdestotrotz überdurchschnittlich intelligenten Erzählers. Doch konnte gerade dieser Beichtstil als ein küns‐ tlerisches Ausdrucksmittel interpretiert werden, zumal die phantastischen Einschübe reichlich Zeugnis davon ablegten. Realität oder Phantasie, das war hier die Frage. Erst so richtig ins Grübeln kam Hugh, wenn er sich mit sei‐ 270
nem Déjà‐vu‐Erlebnis während des Lesens auseinandersetzte. Bei der Schilderung des sexuellen Abenteuers hatte er unwill‐ kürlich an das für ihn beschämende Geständnis von Norbert Kowalski im Krankenhaus denken müssen. Noby hatte dabei Sachen von sich gegeben, als hätte er vorher ebenfalls die Be‐ kenntnisse aus dem Weblog studiert: Sie ist am nächsten Tag halbwegs nüchtern mit einer großen Plastiktüte angedackelt gekom‐ men und wollte sofort pennen. Natürlich habe ich mir die Tüte an‐ geschaut, während sie geschlafen hat. Und was erblicken meine ent‐ zündeten Augen da? Einen weißen Eins‐a‐Bademantel, auf den in Nobelschrift ›Grand Hotel Luxor‹ gestickt war, und zwei Handtü‐ cher mit dem gleichen Schriftzug. … Außerdem hab ich in ihrer Jeanstasche ein Briefchen mit Resten von astreinem kolumbianischen Koks gefunden. Reiner Zufall? Schließlich ließen sich junge Damen aus der Unterschicht schon seit Menschengedenken und überall auf der Welt von den Verlockungen der Herren aus der Ober‐ schicht zu sexuellen Handlungen hinreißen. Das klang gera‐ dezu zum Gähnen alltäglich. Aber, und dieses Aber wog wahrlich schwer: Wenn die Datumsangabe sich wirklich wie bei einem Tagebuch auf die tatsächlichen Geschehnisse am 17. Juni 1999 bezog, dann hätte Udos Zeugung in diese Zeitspan‐ ne fallen können … Sein Handy klingelte. Hugh hatte das Gefühl, als würde er durch eine Explosion einem Traum entrissen. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war halb drei. Die einzige Lichtquelle, die den Raum in ein diffuses Blau tauchte, war der Bildschirm des Laptops. Die 271
Kerzen waren schon längst erloschen. Er nahm ab. »Ich wollte, daß Eure wohlgeborene Eminenz der Ermitt‐ lungskunst es als allererstes erfährt«, sagte die Stimme auf der anderen Seite. Erik Simon. Er hörte sich derart aufgekratzt an, als berichte er von einer tollen Party. »Es ist eine neue Leiche aufgetaucht! Giselle Heimlich, das Mädchen von dem Möbel‐ haus‐Millionär. Sieht um einiges schlimmer aus als der Junge vom letzten Mal. Jammerschade, daß man so eine Schweinerei nicht hat verhindern können, obwohl man doch gleich zwei Genies auf den Fall angesetzt hat! Findest du nicht, Hughi‐ Boy? Ruf den alten Knacker an, und dann setzt ihr eure Är‐ sche zum Zentralfriedhof in Bewegung. Hier gibt es eine echte Horrorshow!« Er legte auf. Hugh stierte das Handy an, als habe man ihn im Moment eines höchsten Gefühls schockgefroren. Ganz im Ge‐ gensatz dazu herrschte in seinem Inneren plötzlich ein so ver‐ heerendes Chaos, als ob ungeheuerliche Vulkanausbrüche, Wirbelstürme und Erdbeben ein Land gleichzeitig erschütter‐ ten. Ihm wurde von dieser inneren Unruhe übel, doch para‐ doxerweise wurde er auch schlagartig wieder nüchtern. Lang‐ sam gewann er seine Aktionsfähigkeit zurück, und als ihm dies halbwegs gelungen war, wählte er Claudius’ Nummer. Mittendrin klingelte das Handy erneut. Hugh schaute über‐ rascht auf das Display. Es war Claudius.
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16. Den Fisch, die Bratkartoffeln, den Tomatensalat und den Quark mit Erdbeersirup zum Schluß, alles, alles hatte Clau‐ dius in solchem Maße genossen, daß er Marlis Adel um ein Haar gefragt hätte, ob er nicht jeden Abend bei ihr vorbei‐ schauen dürfe. Sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, der von einer Hängeleuchte mit abgesprungenem schwarzem Lack erhellt wurde. Vor ihnen standen die Teller mit den sau‐ ber abgelutschten Gräten, die bis zur untersten Krustenschicht leergekratzte Bratkartoffelpfanne, die Schüssel mit dem Rest des Salatdressings und Wassergläser. Während des Essens hatte er von den neuen Ermittlungsergebnissen und seinen darauf basierenden Spekulationen gesprochen. Sie hatte immer nur genickt und, als könne jedes Wort aus seinem Mund ihr den verlorenen Sohn Silbe um Silbe näher‐ bringen, ihn beständig aufgefordert, mehr zu erzählen. »Darf ich rauchen?« fragte Claudius jetzt und erstickte aus Höflichkeit einen Rülpser in der Speiseröhre, bevor dieser seiner Kehle entweichen konnte. »Klar«, erwiderte Marlis Adel. »Geben Sie mir auch gleich eine.« Allmählich erschien ihm die Einrichtung des Hauses gar nicht mehr so schäbig und ärmlich wie am Anfang, sondern ganz im Gegenteil wie ein Hort des Wohlbehagens. Das Ge‐ fühl, mittels einer Zeitmaschine in eine Epoche gereist zu sein, deren vermeintliche Unschuld von einer Resopalküche sym‐ 273
bolisiert wurde, machte sich wider besseres Wissen immer intensiver in ihm breit. Selbstverständlich lag das daran, daß er seine glücklichsten Jahre selbst in den frühen Siebzigern verbracht hatte und sich nun hier wie in einem Claudius‐ Museum en miniature wähnte. Aber es gab dafür auch einen anderen und nicht gerade unmaßgeblichen Grund. Und dieser Grund hieß Marlis. Es war das erste Mal, daß er bei ihrem Anblick den Nachnamen im Geiste einfach wegließ. Auch sie wurde zunehmend ein Symbol für ihn, ein Symbol für etwas, für jemanden. Die junge Erika vielleicht, jene Erika, die er durch sein Verhalten schrittweise in einen lebenden Leichnam verwandelt hatte, bis sie ihm schließlich aus eigener Kraft ent‐ ronnen war. Und wie sie zu jener Zeit wurde Marlis während des gemeinsamen Essens mehr und mehr zum Sinnbild des Aufbruchs für ihn und, ja, warum sollte er es sich nicht einge‐ stehen, so etwas wie ein Sinnbild der Liebe. Gewiß, er liebte Erika immer noch. Doch diese Liebe war übersät mit Narben. Narben, über die man sehr behutsam streicheln mußte, weil sie sich sonst schnell wieder in Wunden verwandelten. »Das war das Beste, was mir in den vergangenen Monaten passiert ist«, sagte er, kramte seine Zigaretten aus der Seiten‐ tasche des Sakkos hervor und bot ihr eine an. Marlis blickte ihn fragend an. »Ihr Essen, meine ich«, fuhr er fort. »Und ob Sie es glauben oder nicht, in dem betagten Ambiente hier hat es mir ge‐ schmeckt wie in der guten alten Zeit. Tausend Dank!« »Die gute alte Zeit?« Sie lächelte abgeklärt, nahm die Ziga‐ rette entgegen und ließ sich Feuer geben. »Die hat es nie gege‐ 274
ben. Hat man Sie darüber nicht aufgeklärt? Jedenfalls brauche ich jetzt etwas, das mich in Stimmung bringt!« Sie stand auf, öffnete die Kühlschranktür und holte eine Fla‐ sche Weißwein heraus. Dann fingerte sie von einem Hochre‐ gal zwei Weingläser herunter. »Für mich bitte nicht, Frau Adel. Ich trinke keinen Alkohol.« Sie hob eine Augenbraue. »Probleme damit gehabt?« »Nicht der Rede wert«, log er. Von irgendwoher hatte sie einen Korkenzieher in der Hand und versuchte umständlich, die Flasche zu öffnen. »Lassen Sie mich das machen«, sagte er und nahm ihr Fla‐ sche und Korkenzieher ab. Sie nickte und begann, das Geschirr vom Tisch abzuräumen. »Gehen Sie schon mal ins Wohnzimmer«, sagte sie. »Hier ist es zu eng, um in Stimmung zu kommen.« Claudius tat, wie ihm geheißen, machte jedoch am Türpfo‐ sten halt und warf aus einer Laune heraus einen Blick über seine Schulter zurück. Sie wirbelte zwischen Tisch und Kü‐ chenplatte hin und her und verfrachtete das schmutzige Ge‐ schirr in die Spüle. Die wild über das ganze Gesicht schwin‐ genden dunklen Haare verbannten die vollen Lippen und die brillantblauen Augen in ein Schattenreich, und doch wirkten ihre Züge dadurch noch sinnlicher. Sie war zweifelsohne eine schöne Frau. Dann, als er sich schon abwenden wollte, voll‐ führte sie eine Geste, die ihn unversehens in tiefere Emotions‐ gewässer hinabriß. Dorthin, wo er eigentlich nicht hinwollte. Sie schob mit ihm zugedrehten Rücken geistesabwesend den Rock ihres Hippiemädchen‐Kleides hoch und kratzte sich an 275
der Hinterseite ihres Oberschenkels. Claudius’ Augen streif‐ ten ganz kurz über zwei wohlgeformte, lange Beine, die noch heller zu sein schienen als die Gesichtshaut und die für einen ewig Einsamen wie ihn Ungeheuerliches versprachen. Als müsse er bei diesem Anblick zu einer Salzsäule erstar‐ ren, drehte sich der Oberkommissar auf der Stelle herum und begab sich schnurstracks zur Wohnzimmercouch. »Ach, Frau Adel!« rief er wie beiläufig und entkorkte dabei die Flasche. »Vielleicht bringen Sie mir doch ein Glas mit.« Wenige Minuten später stand sie mit den Gläsern in der Hand im dürftigen Licht des Kronleuchters vor ihm. Er schau‐ te mit argloser Freundlichkeit zu ihr auf, weil er davon aus‐ ging, daß sie sich ihm gegenüber auf den Sessel hinter dem Couchtisch niederlassen würde. Doch ohne das geringste An‐ zeichen von Gezwungenheit ging sie um den Tisch herum und setzte sich neben ihn. Während sie die Gläser vollschenk‐ te, wandte er wie ein schüchterner Schuljunge bei seinem ers‐ ten Rendezvous den Blick von ihr ab und vertiefte sich in die Betrachtung der Wände. Muskulöse Bergmänner in kohlebe‐ schmutzten Unterhemden, verhärmte Frauen mit einem Pulk Kleinkinder an ihren Rockzipfeln und selbst zu ihren Lebzei‐ ten sehr tot wirkende Päpste in Schwarzweiß blickten aus den gerahmten Fotografien zu ihm zurück. Und Kirchen über Kir‐ chen. Kathedralen, Dome, Basiliken, aus aller Herren Länder und Zeitepochen. Eine Kirche beeindruckte ihn besonders. Nicht wegen ihres zeitgeschichtlichen Hintergrunds, ihrer die Gottesgröße ver‐ anschaulichenden Dimensionen oder des künstlerischen 276
Bombastes, an dem sich Stars ihrer Ära abgearbeitet hatten, sondern im Gegenteil wegen ihrer Schlichtheit. Sie war fast so klein wie eine Kapelle und bestand ausschließlich aus Holz, zusammengenagelt aus hellen Brettern. Der Kirchturm war nur unwesentlich höher als das Satteldach, und über dem Eingang, einer einfachen Tür, hing ein schwarzes Kreuz. Die winzigen quadratischen Fenster schienen überhaupt keine Scheiben zu besitzen. Eigentlich glich diese karge Kirche jenen in den Prärien Amerikas hunderttausendfach aus dem Boden gestampften Bretterbuden zu Ehren eines eher dem Purita‐ nismus zugeneigten Gottes, allerdings in einer noch beschei‐ deneren Ausgabe, geradezu wie eine Miniatur. Das Foto war offenkundig in der Nacht mit Blitzlicht aufgenommen wor‐ den, denn während im Vordergrund das Gotteshaus wie an‐ gestrahlt leuchtete, verschwand der Hintergrund, im Grunde alles ringsum, in vollendeter Schwärze. »Die Kirche des Heiligen Judas«, sagte Marlis. »Wie bitte?« Claudius traute sich, nun wieder zu ihr hinü‐ berzusehen. Milde lächelnd reichte sie ihm das volle Glas. »Sie gefällt Ih‐ nen doch auch am besten, oder etwa nicht?« Sie prostete ihm andeutungsweise zu und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Claudius’ Hand zitterte, was er ver‐ barg, indem er sich ein wenig von ihr abwandte und auch noch die andere Hand zu Hilfe nahm, als er das Glas an den Mund führte. Seltsamerweise verursachte der Genuß des Weines weder die befürchtete Implosion in seinem Innern, welche das nimmersatte Monster von der Leine ließ, noch 277
einen Schwächeanfall nach der langen Zeit der Abstinenz. Es war eher so, als begegne er im schönsten Sommerwetter ei‐ nem geliebten alten Freund wieder und verspüre unbändige Lust, sich mit ihm so richtig auszusprechen. Die Qualität des Weines interessierte ihn dabei nicht die Bohne. »Ja, sie imponiert mir in der Tat am meisten. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, warum«, sagte Claudius, während er über‐ legte, ob er vielleicht einen augenfällig zu großen Schluck ge‐ nommen hatte. »Ich wußte gar nicht, daß Judas auch ein Hei‐ liger ist.« »Ja, da gehen die Meinungen auseinander.« Sie griff, ohne zu fragen, nach der Zigarettenschachtel, die er auf dem Tisch abgelegt hatte. »Vordergründig hat Judas seinen Meister aus Habgier verra‐ ten. Die tieferliegende Motivation könnte jedoch auch Enttäu‐ schung gewesen sein. Judas hat in Jesus den erhofften Befreier gesehen, der die Römer vertreiben sollte. Jesus aber verkünde‐ te ein nichtweltliches Gottesreich, das nichts mit weltlicher Herrschaft gemein hatte. Es bleibt die Frage offen, ob sich Ju‐ das hätte anders entscheiden können oder ob er sich so hat entscheiden müssen, weil es ihm vorherbestimmt war. Einige Kirchenväter tendieren eindeutig zu letzterem und sehen in ihm deshalb einen Heiligen. Man darf ja nicht vergessen, daß mit dem Verrat des Judas Jesus’ Opfertod und Erlösung erst wirklich beginnen.« Claudius zündete Marlis’ Zigarette mit seinem Einwegfeuer‐ zeug an und steckte sich bei der Gelegenheit selbst eine neue an. Sogar durch den aufsteigenden Rauch nahm er ihren spe‐ 278
zifischen Geruch wahr, der sporadisch zu ihm herüberwehte und der ihn, wenn er ehrlich war, schon bei ihrer ersten Umarmung betört hatte. Etwas Archaisches schien darin ver‐ borgen zu sein wie in der Duftmarke eines Tierweibchens, von der das Männchen selbst über kilometerlange Entfernungen hinweg angelockt wird. »Sie haben sich mit diesen Dingen wohl sehr gründlich aus‐ einandergesetzt?« »Bleibt nicht aus, wenn der eigene Vater in der Branche tätig ist.« »Steckt bei Ihnen nicht mehr dahinter?« »Ihnen bleibt wohl auch gar nichts verborgen, Professor Röntgen!« Sie nippte wieder an ihrem Glas und zog an der Zigarette, doch das Feuer in ihren Augen schien erheblich von seiner Strahlkraft verloren zu haben. Über das schmale Gesicht hatte sich tiefe Nachdenklichkeit gelegt. »Die Spiritualität scheint in meinen Genen zu stecken«, sagte sie bedächtig. »Da war schon immer ein Sehnen in mir, das sich ein allmächtiges Wesen herbeiwünschte oder eine alles durchdringende Kraft, die mich erlösen und die Finsternis in mir mit Licht durchfluten möge. Noch heute kann ich beim Anblick von brennenden Kerzen auf dem Opferkerzentisch in einer Kirche vor Ergriffenheit in Tränen ausbrechen. Es hat bereits in der Pubertät angefangen. Zunächst katholische Ju‐ gendarbeit, Jesus, Jesus über alles, Wanderungen zu Wall‐ fahrtsorten, wo einem in Jugendherbergen gottesfürchtige katholische Jungmänner inklusive ihrer Hirten den Finger Sie 279
wissen schon worein stecken, orgiastische Gefühle zur Weih‐ nachtszeit und zu Ostern und Spendensammeln für die Hun‐ gernden in Afrika. Mädchen in dem Alter himmeln heute ir‐ gendwelche Boygroups an, ich dagegen habe dem Papst zuge‐ jubelt. Ist aber das gleiche! Dann wurde ich älter und die Su‐ che intellektueller. Die Bibel erschien mir mehr und mehr wie ein grausames Märchenbuch und der Gott darin wie ein sadi‐ stisch veranlagter alter Mann. Da haben mir andere Heilsleh‐ ren echt was Besseres versprochen, quasi den Turboexpreß geradewegs in den inneren Gott.« Claudius hatte nachgeschenkt, und beide genehmigten sich nun immer tiefere Schlucke und qualmten heftiger. Ihm schien es, als würden die Augen der längst toten Gesichter auf den zahlreichen Fotos, in denen das Weiße grell leuchtete, sie dabei stumm anfeuern. »Ich habe mir gleich die volle Dröhnung verpaßt«, fuhr Mar‐ lis fort. »Mit der Urschrei‐Therapie ging es los, bei der man sich irgendwelche kindlichen Verletzungen aus der Seele brül‐ len soll. Aber selbst der lauteste Schrei konnte irgendwann nicht mehr die finstere Leere der jungen Marlis füllen, die sich insgeheim immer noch nach dem göttlichen Licht sehnte. Ich war von zu Hause ausgezogen und schuftete mich in drei Knochenjobs gleichzeitig ab. Denn auch die Heilssuche ist eine außerordentlich kostspielige Angelegenheit, das kann ich Ihnen verraten. Dann geriet ich an die Scientologen, die mir das Hirn wie mit einem Quirl durcheinanderrührten. Und die waren leider besonders teuer und sind mir mit ihren monoto‐ nen Auditings langsam auf den Geist gegangen. Abgesehen 280
davon, daß sie das Vakuum in mir auch nicht füllen konnten. Nur so als Zeitvertreib streifte ich danach die Psychoanalyse und NLP, das ist besonders lustig, das Neuro‐Linguistische Programmieren. Wenn Sie wissen wollen, was das ist, tun Sie mir leid. Aber letzten Endes hat mir das alles nichts geholfen. Keine Erlösung, nirgends. Schließlich hab ich ein paar Gänge höher geschaltet und mich den UFO‐, einmal sogar einer Sex‐ sekte angeschlossen. Die haben wenigstens den entspannen‐ den Nebeneffekt, daß sich ihre Ausbildungszentren meist ir‐ gendwo auf den Kanarischen Inseln befinden, wo immer die Sonne scheint. Was nicht heißt, daß sie seltener die Hand auf‐ gehalten haben als die Scientologen‐Brüder, obwohl man als Frau eh für jeden ungewaschenen Spinner den Arsch hinhal‐ ten mußte …« Claudius konnte nicht mehr an sich halten und brach in lau‐ tes Lachen aus. Er hob dabei entschuldigend die Hand und schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie bitte …«, brachte er unter Mühen hervor, während er ohne Unterlaß weiterlachte. Auch Marlis schien jetzt amüsiert und schloß sich dem La‐ chen an. Dabei rückte sie wie en passant näher an ihn heran. »Es braucht Ihnen nicht leid zu tun«, sagte sie. »Komisch ist das allemal. Ich erlöse Sie auch gleich von Ihrem Leiden und komme zum Ende der Bekenntnisse einer Vollidiotin. Na ja, wie das so ist mit dem Alter, mit den Jahren wurde auch ich langsam spießig. Das heißt in unserem Heilssuchegeschäft: Der Ganges ruft! Jeder, der irgendwie spirituell veranlagt ist, landet auf seine alten Tage beim Buddhismus oder bei einer seinen vielen Spielarten. Der Buddhismus ist sozusagen das 281
geistige Äquivalent zur klassischen Musik. Zunächst bin ich nach Poona in den Osho‐Ashram gegangen, weil ich immer noch von einem gottähnlichen Wesen träumte, das in mich hineinfahren möge wie ein Geschoß aus purer Energie. Doch seitdem der gute alte Bhagwan das Zeitliche segnete, hat sich die ganze Anlage dort in ein esoterisches Disneyland für Er‐ schöpfte aus der ganzen westlichen Hemisphäre verwandelt. Der Ashram ist ein großes Wellness‐Hotel, in dem sich ver‐ schrobene Gymnasiallehrer und Manager mit Burnout‐ Syndrom herumtreiben, die bei der Gelegenheit auch ihren sexuellen Appetit stillen wollen, und solche verwirrten Wei‐ ber wie ich. Und nach den Bankkonten dieser spirituellen Gourmets sehen auch die Preise aus. Bei jedem zweiten Schritt in den dunkelroten Gewändern muß man die Kreditkarte zücken. Irgendwann habe ich beschlossen, dem Sannyasin‐ Dasein zu entsagen, und habe eine Tour d’India durch ganz gewöhnliche Ashrams gemacht. Das war viel erfüllender – und billiger! Den Rest habe ich Ihnen ja schon erzählt.« Die Heiterkeit von eben war mit einem Schlag einem furchtsamen Ernst gewichen, dessen Ursache vielleicht in dem Schuldbewußtsein wurzelte, daß man in einem Haus, in dem man schon so lange ein Kindergelächter vermißte, nicht so ohne weiteres lachen durfte. Marlis blickte in das leere Glas in ihrer Hand, und Claudius erkannte in dem wie hinter einer Arabeske aus Haarsträhnen verborgenen blassen Gesicht tief‐ ste Schwermut. »Sie haben also Ihren Gott niemals gefunden, obwohl Sie so lange an so vielen Orten nach ihm gesucht haben?« wollte er 282
wissen. »Doch«, sagte sie, und eine einsame Träne trat aus ihrem linken Auge hervor, kullerte entlang der Nasenfurche herab und benäßte ihre Lippen. »Schlußendlich habe ich ihn doch gefunden. Zunächst füllte er die finstere Leere in mir aus, wie ich es mir immer ersehnt hatte, und zwar derart massiv, daß ich dachte, ich müßte bald platzen. Und dann kam er am 29. April 2000 aus meinem Schoß herausgeglitten wie ein strah‐ lender Fisch. Er hatte blaue Augen und roch so herrlich, wie ich mir immer vorgestellt hatte, daß das Paradies riecht. Und ich sollte recht behalten, ihn hat tatsächlich diese göttliche Aura umgeben, deren Einfluß mich manchmal vor Glück fast hat zerspringen lassen. Ich habe nur für ihn gelebt. Und mich gleichzeitig dafür verflucht, daß ich meine ganze Jugend mit diesen Irren vergeudet hatte, die so tun, als hätten sie das Göttliche für sich gepachtet. Vom wahrhaft Göttlichen verste‐ hen die so viel wie eine verdammte Klobürste. Ich bereute, daß ich nicht schon viel früher Kinder bekommen habe. Mehr noch, angesichts dieses kleinen Gottes ist der Herrgott immer mehr aus meinem Blickwinkel verschwunden. Einmal, ich erinnere mich genau, er muß so drei Jahre alt gewesen sein, haben wir einen Spaziergang gemacht, und er hat seine Hol‐ zente mit Rädern hinter sich hergezogen, die andauernd mit dem Kopf gewackelt hat. Plötzlich ist eine dieser meterlangen Leichenlimousinen an uns vorbeigefahren, und er wollte wis‐ sen, was das für ein komischer Wagen sei. Ich hatte ihm einen Tag vorher beim Gutenachtgebet erklären müssen, wo Gott wohnt, weil er es unbedingt wissen wollte. Im Himmel, hatte 283
ich gesagt. Jetzt, wo der Leichenwagen vorbeifuhr, mußte ich ihm auch noch die Sache mit dem Tod erklären, weil er es wieder ganz genau wissen wollte. Ich habe gesagt, daß jeder Mensch und jedes Tier irgendwann sterben müsse und daß alle dann in den Himmel kämen. Daraufhin ist er abrupt ste‐ hengeblieben, hat das kleine Gesicht in Falten gelegt, wie im‐ mer, wenn er angestrengt überlegt hat, und dann hat er ge‐ fragt: Ist Gott auch tot? Und ich hab geantwortet: Ja!« Es trat Stille ein, und das bleiche Licht des Kronleuchters verlieh dem ganzen Raum gleich einem Trauerflor die Stimmung einer unterbelichteten Aufnahme. Staubpartikel schwebten in der trüben Luft, irgendwo im Hintergrund tickte eine Uhr. Keiner von beiden regte sich, sogar ihr Atem schien zum Stillstand gekommen. Marlis weinte nicht mehr; allein an den Rändern der unteren Augenlider glänzten noch die letzten Tränen. Nach einer kleinen Ewigkeit steckte sich Claudius eine neue Zigarette an. Sein Gesicht wurde von den Rauchkringeln ein‐ gehüllt. »Es mag sich bei dieser Gelegenheit vielleicht etwas unpassend anhören«, sagte er und zog tief an der Zigarette. »Aber wissen Sie, an was mich dieser Fall erinnert? An dieses Märchen, an den Rattenfänger von Hameln. In einer moder‐ nen Variante jedenfalls.« »Überhaupt nicht unpassend«, erwiderte sie. »Daran habe ich auch schon gedacht. Der Rattenfänger, der die Kinder der Falschheit ihrer Eltern wegen mitnimmt in ein geheimnisvol‐ les Reich.« »Ja, er hat sie alle mitgenommen«, wiederholte Claudius so leise, als spräche er zu sich selber. 284
»Nein, er hat nicht alle mitgenommen.« »Wie bitte?« »Es ist ein Märchen aus unseren Kindertagen, deshalb haben wir einige Einzelheiten schon vergessen, insbesondere eine interessante Stelle am Schluß. Als mir in den letzten Monaten die Parallele irgendwann einmal aufgefallen ist, habe ich mir Svens Märchenbuch vorgenommen und die Geschichte gele‐ sen. Es gibt da auch ein nach dem Rattenfänger‐Motiv ent‐ standenes Gedicht, das diese vergessene Stelle gut veran‐ schaulicht. Es endet mit den Zeilen: ›… Und jedes Kind, das laufen kann, zieht er mit der Flöte in seinen Bann. / Er führt sie hinaus und öffnet den Stein, bringt tief sie in den Berg hi‐ nein. / Am verschlossenen Berge steh’n nur noch zwei Kinder, der eine ist stumm, der andere ein Blinder. / Der Blinde kann ihnen den Ort nicht zeigen, der Stumme muß zu allem schweigen. / Die Eltern weinen und klagen sehr! / Zu spät … sie sehen ihre Kinder nie mehr.‹ Der Rattenfänger hat das stumme und das blinde Kind zurückgelassen.« »Was bedeutet das?« »Schwer zu sagen. Aber es ist ein Märchen aus dem Mittelal‐ ter, wo Behinderte und Versehrte stigmatisiert waren, als un‐ rein, sündhaft beladen, als Mißgeburten des Teufels galten, als Dämonen. Das war das vom religiösen Aberglauben geprägte Menschenbild damals. Der Rattenfänger hat nur die Kinder reinen Herzens mitgenommen. Er hat die Unschuld mitge‐ nommen. Die Unschuld, die jeder von uns zwangsläufig ver‐ liert, wenn er ein bestimmtes Alter überschreitet.« »Der Stumme und der Blinde – das sind also wir?« 285
»Ja, wir sind es, die Verkrüppelten, die ohne Hoffnung auf das Himmelreich sind, die Dämonen, die in dieser dämoni‐ schen Welt bis zu ihrem erbärmlichen Ende ausharren müs‐ sen. Das Märchen erzählt auch, daß der Stumme und der Blinde ihr ganzes Leben lang traurig waren, weil sie den an‐ deren Kindern nicht folgen konnten.« »Es gibt keine Unschuld, nur Nichtwissen«, sagte Claudius und wandte sich ihr wieder zu. Sie blickte ihn unverwandt mit ihren glühenden Brillantenaugen an. Und erneut schien es ihm, als schaue sie durch ihn hindurch. Unglücklich war ihr Blick, der hinter den vielen Haarsträhnen ein Geheimnis ver‐ barg, das die Hoffnung auf Enträtselung schon längst aufge‐ geben hatte. Claudius hatte das Gefühl, daß er nun an der Reihe war und versuchen mußte, das Rätsel zu lösen. Das Ge‐ sicht im Verborgenen begann mit einem Mal zu leuchten. Er spürte, wie alles um ihn herum in Auflösung begriffen war und nur noch das zu enträtselnde Geheimnis übrigblieb. »Nach dem Wissen setzt der Schmerz ein«, sagte Marlis, oh‐ ne den glühenden Blick von ihm abzuwenden. »Und der geht nie mehr weg.« Sie erhob sich ein wenig, bückte sich, ergriff ihre Rockschö‐ ße, raffte sie bis zu den Oberschenkeln hoch, streifte das Kleid mit Schwung über den Kopf und zog es aus. Dann entledigte sie sich auch des Slips und sank wieder auf die Couch. »Habe ich dir schon erzählt, daß ich als Kind sehr krank war?« Da sie keinen BH trug, zwangen sich ihm ihre drallen Brüste, deren Warzen vor Erregung die Dicke und Festigkeit von 286
Hartgummibolzen angenommen hatten, geradezu auf. Ihr schmaler Oberkörper vollführte gleich einer antiken Prunkva‐ se von der Taille abwärts eine eindrucksvolle Ausdehnung und wartete mit solch einer Augenweide von wohlgeformten Rundungen auf, daß es Claudius die Sprache verschlug. Das dunkle Dreieck ihrer Schamhaare, in dessen vertikaler Mitte sich schemenhaft ihre rosa schimmernden Schamlippen an‐ deuteten, sog seinen Blick unwiderstehlich an. Sie, ihr verfüh‐ rerischer Körper mit seinem mädchenhaft mageren Ober‐ und saftig ausladenden Unterbau der reifen Frau, letztendlich Marlis, die Verstrubbelte, mutete für ihn wie ein gelobtes Land an, das er vor langer, langer Zeit verlassen hatte und in das er nun endlich wieder heimkehren durfte. Es war ihm seit ihrer ersten Begegnung klar gewesen, daß es so kommen mußte, daß er sich hier, bei ihr, in etwas verlieren würde, aus dem er sehr schwer, vielleicht sogar niemals mehr herauskä‐ me. Es würde Folgen nach sich ziehen, das wußte er. Viel‐ leicht ein Leben lang. »Nachdem meine Mutter gestorben war, wurde ich mit Streptokokken infiziert, die normalerweise Halsentzündungen und rheumatisches Fieber auslösen«, fuhr sie fort. Bei jedem Atemzug hoben sich ihre schweren, blanken Brüste auf und ab, so daß er seine eigene Atemfrequenz unwillkürlich mit ihrer synchronisierte. »Eine Mutation davon greift im Hirn die Schnittstelle zwi‐ schen Sinneswahrnehmungen, Gefühlen und Körperbewe‐ gungen an. Aber weißt du was, ich bin dankbar für diese Krankheit, weil sie mir von Gott gesandt wurde, um mir die 287
Augen zu öffnen. Ich habe während der schlimmen Fieber‐ schübe Dinge gesehen, die kein Mensch je gesehen hat. Ich sah den Schmerz, wie er in Gestalt eines heimtückischen Wurmes schon in jungen Jahren in den Menschen hineinkriecht und sich für immer in ihm einnistet. Und das Erstaunliche bei die‐ sem Wurm ist, daß er sich von seinesgleichen speist. Ja, der Schmerz ernährt sich vom Schmerz. Hast du das gewußt? Er entwickelt im Organismus nach und nach ein unersättliches Maul. Er wird größer und größer, bis man am Ende nicht mehr zwischen dir als Mensch und dem Schmerz unterschei‐ den kann. Und gleichgültig, wieviel Gutes dir im Leben auch widerfährt, am Ende stehst du immer ganz allein da mit dei‐ nem Schmerz. Weil er allzeit in dir ist, der Schmerzenswurm. Ich habe ihn schon als Kind gesehen, Richard Claudius, und sein Anblick hat mir fast den Verstand geraubt!« »Ich … ich weiß nicht, was Sie … was, was erwartest du von mir, Marlis?« fragte er. Aber eigentlich war es gar keine Frage, sondern nur die hohle Phrase des Besiegten während der Ka‐ pitulationsverhandlungen, der niemand eine Bedeutung bei‐ mißt. »Ich möchte, daß du den Schmerz wegmachst!« Sie schmieg‐ te sich an ihn, küßte seine Lippen und ergriff mit einer Hand die merkliche Ausbeulung in seinem Schritt. »Mach ihn weg, starker Mann!« verlangte sie. »Mach ihn mir sofort weg, den Schmerz! Es tut so weh! Es tut so weh …« Er befand sich im Ozean ihres Duftes, ein Ozean, dem etwas so Urweibliches innewohnte, daß jeder Widerstand gegen das Ertrinken von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Seine 288
Arme umschlangen sie wie mechanische Glieder, die nur für diese eine Aufgabe vorgesehen waren, und seine Finger und sein Mund vollführten Dinge, die ebenfalls diesem lustvollen Automatismus gehorchten. Nichtsdestotrotz dachte er dabei an Erika, der er … die Ehe versprochen hatte, hätte er in Ge‐ danken beinahe gesagt. Freilich war er ihr auch schon früher einige Male fremdgegangen. Mit halbseidenem Damenvolk und, ja, warum sollte er jetzt noch lügen, ebenso mit Frauen, für die er mehr empfunden hatte. Aber das alles lag schon tausend Jahre zurück. Alfie mußte zu dieser Zeit noch ein Kind gewesen sein. Alfie, der Schmerzenswurm in seinem Innern. Was tat der Kleine in diesem Moment? Seinen eigenen Schmerz speisen oder den seines Vaters? Aber darum ging es nicht. Die eigentliche Frage war: Wollte er zu der einzigen Person zurück, die hundertprozentig imstande war, ihn wie‐ der in die Auen des Glücks zu führen? Die Frage hieß schlicht und einfach: Wollte er wirkliche Liebe oder Verliebtsein? Selbstverständlich kannte er das häßliche Wort vom One‐ night‐stand, purer Sex mit jemandem, unverbindlich und ohne einen Gedanken an ein Morgen danach – Hello! Goodbye! Doch mit dieser Gepflogenheit konnte er schon deswegen nichts anfangen, weil er einer Generation angehörte, bei der Unver‐ bindlichkeit in intimen Dingen einer Todsünde gleichkam. Und er war nun auch wirklich zu alt, um um der Lust willen mal schnell mit einer Frau ins Bett zu hüpfen. Tiefe Gedanken hin, bestechende Analyse her, in Wahrheit ging es um etwas anderes, nicht wahr? Um Bedeutenderes, um die Wiederho‐ lung eines zerstörerischen Fehlers, aus dem er eigentlich 289
schon längst hätte gelernt haben müssen, ohne den aber nun mal das verdammte Leben so wenig Geschmack enthielt wie ein Gericht ohne Fett und Gewürze. Es ging darum, daß er sich gleich vom ersten Moment an in Marlis verliebt hatte: zweihundert Prozent! »Ich bin kein starker Mann«, flüsterte er ihr ins Ohr, wäh‐ rend er sich gleichzeitig mit zitterigen Händen aus seinen Kleidern befreite. »Ich bin schwach. Du hast keine Vorstellung davon, wie schwach.« »Nein, nein«, flüsterte sie ebenfalls und zog wie beiläufig den Reißverschluß seiner Hose herunter. »Du bist bisher der Stärkste. Es würde mich nicht wundern, wenn du mich am Ende erledigst.« Als er die Augen aufschlug, blickte er geradewegs auf die Kir‐ che des Heiligen Judas inmitten der Vielzahl von anderen Fo‐ tografien an der Wand. Er hatte Marlis noch fragen wollen, wo sie eigentlich stand. Doch das war jetzt so bedeutsam wie die Überlegung, ob es sich bei Judas um einen Heiligen han‐ delte oder nicht. Wichtig waren nur der Traum und der darin verborgene Schlüssel zu der explosiven Erkenntnis. Der billige Kronleuchter legte wie eh und je sein düsteres Licht über das muffige Siebziger‐Jahre‐Museum und erlaubte keinen Aufschluß darüber, ob inzwischen vierzig Jahre ver‐ gangen waren oder nur ein Augenblick. Claudius schaute auf seine Armbanduhr. Es war Viertel nach zwei. Er mußte kurz vor Mitternacht eingeschlafen sein. Marlis lag nicht mehr ne‐ ben ihm auf der Couch. Vermutlich war es ihr auf dem engen 290
Platz unbequem geworden, und sie hatte sich ins Schlafzim‐ mer begeben, ohne ihn aus seinem süßen Schlummer wecken zu wollen. Er sollte ihr dorthin folgen. Denn das, was sie mit ihm vor ein paar Stunden angestellt hatte, war nur die Ouver‐ türe gewesen. Nur kurz schweiften seine Gedanken zu Erika ab. Doch die Selbstanklage mußte noch warten. Die Suche nach dem Schlüssel im Traum hatte Vorrang. Er reckte sich mit dem Oberkörper hoch und stellte fest, daß er in seiner Unterwäsche steckte. Außerdem war er schweiß‐ gebadet. Natürlich kannte er den Grund, weshalb er in seinem Alter nach solch einer Anstrengung mitten in der Nacht wie‐ der aufgewacht war. Schuld trug der Wein, der Alkohol, dem er schon ziemlich entwöhnt war und der, sobald man ihm einen Finger reichte, sogleich wieder den ganzen Körper ver‐ schlingen wollte und sich zu diesem Zwecke sogar erdreistete, einen kaputten alten Mann aus dem Schlaf zu reißen. Clau‐ dius konnte nicht leugnen, daß er sich nach einem kräftigen Schluck aus der Pulle sehnte. Aber auch das mußte vorerst warten. Er war genau im richtigen Moment erwacht, nach einem seltsamen Traum, in dem er eine eminent wichtige, doch längst verloren geglaubte Information wiedergefunden hatte. In diesem wie mit verwaschenen Farben kolorierten Traum saß er wie zu Anfang ihrer Begegnung im Mercedes neben Hugh und stöberte in den Akten auf seinem Schoß, während draußen der graue Autobahnfilm und irgendwo im Hinter‐ grund die schemenhaften Zechenanlagen rasend schnell vor‐ beiflogen. Wenn er den Kopf hob und durch die Windschutz‐ 291
scheibe schaute, stürzte ein Bilderstrom aus den Gesichtern der entführten Kinder auf ihn ein. So wie damals wurde er von heftigen Frustrationswellen geschüttelt, weil er ein brisan‐ tes Detail in den Akten gesehen zu haben glaubte, etwas, das ihn stutzig gemacht hatte, aber dann seiner Wahrnehmung entglitten war. Er nahm sich ein Dokument nach dem anderen vor, doch sämtliche Papiere waren unbeschriftet, strahlend‐ weiß wie frisch gefallener Schnee. Wut über die eigene Dummheit kroch in ihm hoch, dann merkte er, daß die Kin‐ dergesichter aus den Fotos allmählich durch die Scheibe drangen und ihn zu umschwirren begannen. Irgendwann hielt er die innere Spannung nicht mehr aus, stieß die vielen Akten von sich weg und wandte sich an Hugh. Doch am Steuer saß jetzt nicht mehr sein geschniegelter Assi‐ stent, sondern Marlis. Sie war nackt, und aus ihrer linken Brustwarze tropfte, nein, keine Muttermilch, sondern eine schwarze Substanz, die irgendwie Rohöl ähnelte. Als sie seine Aufmerksamkeit spürte, nahm sie die Hände vom Lenkrad und drehte sich ganz langsam zu ihm herum, ohne den Kör‐ per wirklich zu bewegen, gerade so, als säße sie auf einer Drehscheibe. Das Auto geriet augenblicklich ins Schlingern, während sie ihn mit ihrem entrückten Blick fixierte. »Zunächst füllte er die finstere Leere in mir aus«, sagte sie, während der Wagen ins Schleudern kam und sich längsseits von der Fahrbahn abhob. »Und dann kam er am 29. April 2000 aus meinem Schoß herausgeglitten wie ein strahlender Fisch!« Der Wagen überschlug sich, die Scheiben zerbarsten, das 292
schrille Kreischen von sich verbiegendem und auseinander‐ reißendem Metall explodierte in seinen Ohren, und der Blick nach draußen zeigte schlagartig nur noch eine mit bunten Klecksen besprenkelte rotierende Scheibe. Und in diesem chaotischen Moment der Todesnähe ging Claudius mit einem Mal auf, was er bei der ersten Einsicht der Akten übersehen hatte. Dann war er aufgewacht. Er erhob sich von der Couch und versuchte sich in Erinne‐ rung zu rufen, wo Hugh die Aktentasche mit den Unterlagen hingestellt hatte. Er wußte, daß Träume reale Erlebnisse nicht nur grotesk verfremdeten, sondern auch reale Daten und Fak‐ ten bisweilen auf solch trickreiche Weise zurechtzurücken vermochten, daß diese dem Träumenden realer erschienen als die Wirklichkeit selbst. Dennoch sagte eine Stimme in seinem Innern, jene Stimme übrigens, die ihn damals auch auf das vergessene Detail aufmerksam gemacht hatte, daß diesmal Realität und Traum miteinander übereinstimmten. Er schaltete das Licht in der Diele ein und sah die Tasche ge‐ gen die Fußleiste der Wand gelehnt. Nachdem er sich hingek‐ niet hatte, kippte er ihren ganzen Inhalt gleich auf dem Lino‐ leumboden aus. In rascher Folge schlug er die Schnellhefter nacheinander auf und betrachtete darin nur jeweils die erste Seite. Udo Rinke, geboren: 13. April 2000 Giselle Heimlich, geboren: 28. April 2000 Sven Adel, geboren: 29. April 2000 Abdullah al Said, geboren: 30. April 2000 Sylvia Tale, geboren: 18. April 2000 293
Claudius ging auch die Geburtsdaten der übrigen Kinder durch und war am Ende vom Ausmaß seiner Entdeckung geradezu erschüttert. Wie hatte eine solch evidente Gemein‐ samkeit ihm nicht gleich beim ersten Mal ins Auge springen können? Allerdings mußte er auch ein dickes Lob an sein altes Hirn aussprechen, weil es diesen augenfälligen Punkt zwar nicht sofort registriert, doch immerhin auch nicht gelöscht, sondern streng nach Vorschrift an die Jungs von der Be‐ schwerdestelle weitergeleitet hatte. Und die hatten ihren Job nun erwiesenermaßen tadellos verrichtet! Er eilte ins Wohnzimmer und kramte in den Taschen seines auf dem Boden liegenden Sakkos nach dem Diensthandy, das Hugh ihm bei ihrem ersten Treffen übergeben hatte. Es war ihm gleichgültig, ob Herr Hugo Boss nun im Tiefschlaf schnarchte oder sich gerade mit einer brasilianischen Schön‐ heitskönigin amüsierte. Ihm kam es so vor, als habe er einen neuen Kontinent entdeckt, und wenn schon nicht die ganze Welt, so sollte doch sein getreuer Hugh sofort davon erfahren. Als er das silberfarbene Ding endlich in den Händen hielt, mußte er sich kurz die Sache mit den gespeicherten Nummern vergegenwärtigen. Schließlich fand er im Telefonbuch den Namen »Hugo Hoffer« und drückte auf die Taste. Hugh hob schon nach dem ersten Tuten ab. Schlief der Kerl eigentlich nie? »Hallo, Juch, ich bin’s, Claudius!« »Ich weiß«, sagte sein immerwacher Assistent. Hugh klang wie betäubt, so, als habe er gerade an einer Narkosemaske 294
geschnüffelt. »So? Woher denn? … Ist ja auch egal. Jedenfalls ist mir bei nochmaliger Akteneinsicht etwas sehr Seltsames aufgefallen, das wir bis jetzt übersehen haben. Nun halten Sie sich fest …« »Es ist eine neue Leiche aufgetaucht«, unterbrach ihn Hugh. Es war, als setze man Claudius selbst plötzlich die Narkose‐ maske auf. Zu dem Schuldgefühl wegen des Ex‐Ehefrau‐ Betrugs gesellte sich jetzt auch noch eine weitere Schuld. Hier war er hübsch seinem Vergnügen nachgegangen, während woanders ein weiteres Kind sein Leben hatte lassen müssen. Natürlich waren beide Selbstvorwürfe absurd; weder konnte man seine Ex betrügen, noch wäre das Kind noch am Leben, wenn er die letzten Stunden im Polizeipräsidium in der Not‐ rufzentrale verbracht hätte. Dennoch schlug die schlichte In‐ formation mit der Wucht eines Meteoriten auf Claudius ein, und da seine Beine sich kurzzeitig in Stelzen aus Gummi ver‐ wandelt hatten, setzte er sich erst einmal auf die Couch. Gott‐ verdammt, jetzt konnte er wirklich einen Schluck gebrauchen! »Was sagen Sie da?« »Sie haben richtig gehört. Gerade hat Erik Simon angerufen. Es ist Giselle Heimlich, die Tochter des Möbelhaus‐Millionärs. Wir sollen sofort zum Zentralfriedhof. Muß ziemlich schlimm aussehen dort.« Es entstand eine lange Pause, in der Claudius die Hand mit dem Handy wie in Zeitlupe vom Ohr nach unten sinken ließ. Er hätte nun nur zu gern in der Kirche des Heiligen Judas Zu‐ flucht und Trost gesucht. »Sind Sie noch da?« fragte Hugh leise. 295
»Ja«, entgegnete Claudius. »Wir sehen uns gleich.« »Moment, nicht auflegen! Verraten Sie mir noch rasch, was Sie entdeckt haben.« »Ich weiß nicht, jetzt erscheint es mir doch nicht mehr so weltbewegend. Vielleicht ist die Sonderkommission auch schon dahintergekommen, und ich habe nur das Rad neu er‐ funden. Mir ist aufgefallen, daß alle entführten Kinder im sel‐ ben Zeitraum geboren sind.« »Wenn sie alle heute sechs Jahre alt sind, müssen sie das ja wohl.« »Nein, Sie verstehen nicht. Sie sind alle im selben Monat, im April 2000, geboren!« Es entstand wieder eine Pause, in der Claudius sich nur das Grauen vorstellte, das auf dem Friedhof harrte, und nicht einmal mehr ein Lob für seine Entdeckung erwartete. »Okay«, sagte Hugh schließlich. »Weder der Kommission noch mir ist dieser Punkt je aufgefallen. Aber was bedeutet es für den Fall?« »Nun, Sie waren damals im Auto folgender Ansicht: Selbst alle offenkundigen Gemeinsamkeiten zwischen den Kindern – Alter, blaue oder graublaue Augen, die frappante Ähnlichkeit – müßten eine Zufallsauswahl seitens des Täters bei seiner Jagd nach der Beute nicht unbedingt ausschließen. Sinngemäß sagten Sie, ein geübtes Auge und ein bißchen Erfahrung mit Kindern reichten aus, um die zum Schema passenden Objekte quasi im Vorübergehen einzusammeln. Unser Mann mag viel‐ leicht eine Koryphäe darin sein, das Alter von Kindern exakt abzuschätzen, und wenn diese blaue Augen besitzen und sich 296
untereinander irgendwie ähnlich sehen, umso besser. Aber er kann nie und nimmer mit absoluter Gewißheit wissen, daß alle Kinder, die er einsammelt, in ein und demselben Monat gebo‐ ren sind. Das kann kein Mensch.« »Zufall«, sagte Hugh wie aus der Pistole geschossen, doch Claudius hörte es ihm an, daß es sich nur um eine verzweifel‐ te Spontanreaktion auf die brisante Erkenntnis handelte. »Nein, kein Zufall. Bei zwölf Kindern kann der Zufall viel‐ leicht fünfzig Prozent betragen, von mir aus achtzig, doch auf gar keinen Fall hundert Prozent.« »Sie haben recht! Was ziehen Sie daraus für Schlußfolgerun‐ gen?« »Der Scheißkerl kennt jede betroffene Familie persönlich, so intim, daß er sogar die genauen Geburtsdaten ihrer Kinder weiß. Wie er dieses Unterfangen koordiniert, über solche Ent‐ fernungen hinweg und bei derart andersgearteten Milieus, und was das alles überhaupt soll, will sich mir zur Zeit aller‐ dings nicht erschließen.« »Da habe ich eine bessere Erklärung: Er verfügt über im‐ menses Datenmaterial, mit an Sicherheit grenzender Wahr‐ scheinlichkeit aus einer riesigen elektronischen Datenbank. Wie bei diesen Internet‐Kontaktbörsen gibt er einfach seine Wunschkriterien ein, und schon spuckt das Programm die paßgenaue Beute für ihn aus. Er braucht dann nur hinzugehen und das entsprechende Kind zu entführen. Spontan fällt mir nur das Zentralregister ein. Aber zu diesen Daten haben nur wir von der Polizei und bestimmte Beamte Zugang, und das Ding ist ziemlich massiv geschützt. Höchstens Computer bei 297
Kinderärzten und in Krankenhäusern kämen für eine derarti‐ ge Datenabfrage vielleicht ebenfalls noch in Betracht.« »Vielleicht haben Sie recht«, sagte Claudius. »Bleibt am Ende immer noch die Frage, was es damit auf sich hat, daß die Kin‐ der im gleichen Jahr und Monat geboren wurden.« »Nicht so bescheiden«, erwiderte Hugh, und Claudius hörte aus dem Hintergrund Geräusche, die mit dem Verlassen der Wohnung einhergehen. »Sie haben doch schon bestimmt eine fertige Theorie in der Tasche, die das alles erhellen wird.« »Tja, wenn ich nur wirklich eine hätte. Ich habe damals in der Pathologie gesagt, daß die Kinder der Schlüssel zu dem kranken Reich unseres Kunden sind. Aber vielleicht sind es gar nicht einmal sie selbst, sondern das, was sie alle miteinan‐ der verbindet, was sie in seiner Wahnwelt versinnbildlichen. Dieses verbindende Element könnte tatsächlich der Zeitpunkt ihrer Geburt sein. Aber diese Kinder müssen sich von anderen noch durch etwas ganz Spezielles unterscheiden, etwas, das nur er kennt. Etwas, das er nun zerstören will.« Claudius machte eine lange Pause, um seine Gedanken zu sortieren. Doch da diese Gedanken nichts anderes als den fle‐ hentlichen Ruf nach »Bitte einen kräftigen Schluck!« produ‐ zierten, sagte er nur: »Treffpunkt Zentralfriedhof, Juch!«, und legte auf.
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17. Aus der Sicht der Piloten im Polizeihubschrauber mußte das Bild unten einer grenzenlosen Schwärze mit einem gleißenden Zentrum und vielen blinkenden Punkten an dessen Peripherie gleichen. Es handelte sich um den von vier Eintausendfünf‐ hundert‐Watt‐Scheinwerfern angestrahlten Fundort der Lei‐ che. Für das Lichterspiel an den Rändern sorgten die Signal‐ lichter der Streifenwagen und Ambulanzen und der Schein der Taschenlampen in den Händen der Beamten von der Spu‐ rensicherung, die zwischen den Gräbern umherschwirrten. Claudius wandte den Blick von dem Hubschrauber ab, der wie an einer Schnur baumelnd am nebligen Nachthimmel auf der Stelle schwebte und mit dem Strahl seiner Suchscheinwer‐ fer über dem Zentralfriedhof mal hierhin, mal dorthin zielte. Der Oberkommissar wußte nicht, was ihm mehr auf den Geist ging, das ohrenbetäubende Geknatter der Rotorblatter oder dieses grelle Licht, das die kleine Leiche bar jeder Würde bloß‐ legte. Hätte man das Drei‐Hektar‐Areal mit dem Monopoly‐Spiel verglichen, wäre diesem Abschnitt der Wert der Schloßallee zugekommen. Fernab der Standardware befanden sich hier die prunkvollsten Grabkammern, die protzigsten Grabsteine, die formvollendetsten Skulpturen, die exquisitesten Grabla‐ ternen, sogar einige kleine Mausoleen. Eingebettet war die ganze Todespracht in einen künstlichen Hain aus Schwarz‐ pappeln, Birken, edlen Farnpflanzen und größenwahnsinni‐ 299
gem Efeu, der mittlerweile jeden Baum und jeden Stein zu‐ mindest teilweise okkupiert hatte. Breite Wege durchzogen diese Ruhestätte de Luxe, in die durch den Auflauf der Poli‐ zeikräfte doch noch einmal pulsierendes Leben zurückgekehrt war. Sie lag auf der mit Goldgravurschrift verzierten Granitplatte eines pompösen Familiengrabs. Am Kopfende des sarkopha‐ gähnlichen Kastens wuchs die Statue eines knienden, beten‐ den Engels mit einem fließenden Gewand und riesigen Flü‐ geln empor. Dabei befand sich doch der wahre Engel zu sei‐ nen Füßen. Dieser Engel jedoch war geschändet, wenn auch nicht in sexuellem Sinne, und deshalb sah man ihm das Himmlische nicht gleich an. Giselle, mit langen roten Haaren und überall mit neckischen Sommersprossen ausgestattet, war von solch lieblicher Schönheit, daß sie dazu prädestiniert ge‐ wesen war, irgendwann Kompanien von Männern den Kopf zu verdrehen. Jetzt ruhte das Kind auf dieser kalten Steinplat‐ te splitternackt wie eine Wachspuppe, die in der Ausstellung eines wahnsinnigen Künstlers die Besucher möglichst effektiv schocken sollte. Wie zum Hohn dessen, was ihr in den letzten Stunden an Schrecklichem widerfahren war, hatte das Unge‐ heuer ihr die Hände gefaltet. Der Beamte, der den Eltern die grausame Nachricht überbringen mußte, tat Claudius jetzt schon leid. Auch am Hals von Giselle Heimlich bildeten sich aubergine‐ farbene Würgemale ab, und auch sie war vor ihrem grausa‐ men Tod ausgepeitscht worden. Aber diesmal nicht von hin‐ ten, sondern frontal. Machte es wirklich einen Unterschied? 300
Blutige Striemen überzogen das Gesicht, den Brustkorb, die Arme und die Beine wie Furchen in einem Höllenacker. Das Blut war geronnen, und deshalb wirkte der ganze Leib wie kreuz und quer mit einem dicken schwarzen Filzstift bekrit‐ zelt. Dennoch mußte man dem Täter etwas zugute halten: Die Anzahl der Striemen war diesmal geringer als jene am Rücken von Udo, nicht mehr als acht oder zehn. Er schien vor seinem finalen Ausraster immer noch eine Bestrafung des Opfers für nötig zu halten, aber vielleicht hatte er diesmal den Anblick seiner Untat nicht länger aushalten können und war schnell zum Tötungsakt übergegangen. Es machte tatsächlich doch einen Unterschied, ob man bei solcher Behandlung seinem Op‐ fer in die Augen schaute oder nicht. Sieglinde Vetter war zur Unterstützung der Spurensiche‐ rung gleich mit drei Assistenten angerückt. Sie sahen in den weißen Kapuzenoveralls zur Vermeidung von Eigenspuren wie Soldaten in Tarnuniform für ein alpines Einsatzgebiet aus. Gummibehandschuhte Hände zapften der toten Giselle an Ort und Stelle Blut ab, entnahmen mit Pinzetten und schmalen Abschabkellen ihrem kleinen Körper Proben und fuhren eini‐ ge Stellen mit einem tragbaren Ultraviolettlichtgerät ab. Clau‐ dius war der Pathologin noch nicht nähergekommen, auch hatte er sich noch nicht mit ihr ausgetauscht. Doch er sah an ihren dunklen Augenringen, die um halb vier in der Nacht noch um einige Schattierungen dunkler waren, daß sie an den letzten Resten ihres Energiedepots nagte. Neben dem Kopf des Mädchens standen zwei halbvolle Rotweinflaschen. Leider stammten sie nicht vom Täter, sonst 301
wäre man jetzt um unschätzbar wertvolle Spuren reicher. Die Rotweinflaschen gehörten den jugendlichen Entdeckern der Leiche. Selbstverständlich schrillten in einem Polizistenkopf sofort die Alarmsirenen, wenn gemeldet wurde, daß fünf Leu‐ te mitten in der Nacht und bei Temperaturen um den Gefrier‐ punkt in einem abgeriegelten Friedhof eine Kinderleiche ent‐ deckt hatten. Claudius schaute zu den etwa zwanzig Meter entfernt par‐ kenden Rettungswagen hinüber, deren Hecktüren offenstan‐ den und freien Einblick ins Innere gewährten. Dabei dachte er an die ersten Worte Hughs, als er ihn vor einer halben Stunde am riesenhaften Eisentor in Empfang genommen hatte. »Teenager haben sie entdeckt. Sie fragen sich bestimmt, was die um diese Uhrzeit hier getrieben haben. Es sind Gothics.« »Got‐was?« »Goths, Grufties, das ist eine Subkultur der Jugendszene. Ungeheuer introvertiert veranlagte Jugendliche aus der Mit‐ telschicht, die Melancholie und Todessehnsucht zelebrieren. Allen gemein ist die Hinwendung zu mystischen und morbi‐ den Themen. Sie treffen sich gerne mal auf dem Friedhof, um auf ihre Art Party zu machen. Die fünf haben erst eine Weile lang ihre tieftraurige Musik aus dem Player angehört, die Fla‐ schen kreisen lassen und sich Schluck für Schluck dem Geist der Toten näher gefühlt. In der Dunkelheit konnten sie wenig sehen und haben die Leiche für eine Liegeskulptur an der Grabplatte gehalten. Bis einer von ihnen eine Kerze angezün‐ det und eines der Mädels Giselle berührt hat.« So, so, Todessehnsucht. Claudius sah jetzt zwei der Mädchen 302
im Rettungswagen, wo sie von Sanitätern mit Beruhigungs‐ spritzen versorgt und getröstet wurden. Ein Mädchen und zwei Jungs standen draußen und steckten sich eine Zigarette nach der anderen an. Allesamt waren sie zurechtgemacht wie Darsteller aus einem lustigen Vampirmusical. Blaß geschminkte Gesichter, hochtoupierte, schwarzgefärbte, überschulterlange Haare, Piercings mit Silberkettchen von der Nase bis zum Ohr und Tätowierungen am Hals, okkulte Sym‐ bole als Schmuck, Lederhosen und teils zerrissene Netzhem‐ den, lange Ledermäntel, Kampfstiefel, und alles in lackglän‐ zendem Schwarz. So stellten sich die jungen Herrschaften also den süßen Tod vor. Als sie den Tod aber versehentlich ange‐ faßt hatten, waren bei ihnen die Nerven durchgegangen. Der Tod war nämlich weder melancholisch noch mystisch, son‐ dern ziemlich ungehobelt und direkt. Bisweilen sprang er ei‐ nem mitten ins Gesicht … Kinder! Streifenpolizisten eilten hin und her, einige suchten die Um‐ gebung mit Taschenlampen nach verwertbaren Spuren ab, andere lieferten sich schon kleine Rangeleien mit den erstaun‐ lich rasch informierten TV‐Teams und Pressefotografen hinter den Absperrungen aus rotweißen Plastikbändern, Grüppchen von Kriminalbeamten aus der Sonderkommission steckten die Köpfe zusammen oder gaben ihren Untergebenen irgendwel‐ che Anweisungen. Über den Köpfen aller ratterte dieser ver‐ dammte Hubschrauber und bewirkte rein gar nichts, außer mit absoluter Sicherheit Kopfschmerzen. Claudius kannte den Ablauf eines solch hysterischen Eine‐grausam‐zugerichtete‐ Leiche‐ist‐aufgefunden‐worden‐Theaters zur Genüge. Schließ‐ 303
lich war sein Talent fürs Aufspüren von Königsbestien schon im Alter von fünfundzwanzig Jahren entdeckt worden, und seitdem hatte er vielleicht – er wußte selbst nicht mehr, wie viele er von ihnen inzwischen gecasht hatte. Das hieß jedoch nicht, daß es von Mal zu Mal leichter geworden wäre. Nein, es war eher von Mal zu Mal schwerer und unerträglicher ge‐ worden. Bei dieser Materie handelte es sich nicht um eine Sa‐ che, die einem durch Erfahrung immer lockerer von der Hand ging. Es glich eher den sich konstant in den Blutgefäßen an‐ sammelnden Ablagerungen, die früher oder später einen Herzinfarkt verursachten oder einen Schlaganfall. Was ihn anging, hatte er ja bereits den psychologischen Infarkt hinter sich. Vielleicht sollte er nach diesem Fall tatsächlich bis zu seinem Lebensende nur noch die Wände anstarren. Oder Ro‐ sen züchten, jedenfalls etwas in der Art. Wie wäre es wohl, mit Marlis einen Neuanfang zu wagen? Er beobachtete Erik Simon und Uli Heidler, dieses äußerlich so ungleiche Paar, zwischen den Edelgräbern in ihre Handys brüllen. Simon schien ein Kerl wie aus Eisen gemacht. Selbst um diese Uhrzeit vermittelte der durchtrainierte Hüne mit den millimeterkurzen Haaren das Bild eines mit zig PS‐ Stärken laufenden Schwermaschinenmotors. Er steckte wie gewöhnlich in seiner abgewetzten braunen Lederjacke und vollführte selbst beim Sprechen Bewegungen, welche auch beim Thai‐Boxen nützlich gewesen wären. Claudius hatte ihn von Anfang an richtig eingeschätzt: Der Mann war mit Leib und Seele Polizist, ein aggressiver, impulsiver, ungerechter, gehässiger, sich maßlos überschätzender zwar, aber ein Poli‐ 304
zist. Der liebe Gott hatte ihn einzig und allein zu diesem Zweck das Licht der Welt erblicken lassen. Er war zu nichts anderem fähig. Sein Schatten oder besser gesagt sein verzerrtes Spiegelbild Uli Heidler gab sich augenscheinlich viel Mühe, mit dem Partner gleichzuziehen. Doch der Mann mit der brav geschei‐ telten, strohblonden Frisur und dem feingeschnittenen, blas‐ sen Gesicht, das von der modisch altmodischen Brille domi‐ niert wurde, vermochte nur eine kümmerliche Kopie vom Original abzuliefern. Vermutlich vertrugen sich die beiden deshalb so gut. Der eine legte pausenlos die Performance des abgebrühten Bullen hin, und der andere hielt es gewisserma‐ ßen für die Nachwelt fest, indem er dieses Verhalten schim‐ pansenhaft nachahmte. Hugh war überall und nirgends. Kaum hatte er Claudius an der Eingangspforte abgeholt und mit den aktuellsten Informa‐ tionen versorgt, hatte er sich wieder in das Getümmel ge‐ stürzt. Claudius hatte ihn seitdem mal mit einem Zeugen oder einem Beamten von der Spurensicherung sprechen, ein an‐ dermal sich heftig mit Simon und Heidler streiten und dann wieder bei Sieglinde Vetter gesehen, doch persönlich über‐ haupt nicht mehr zu Gesicht bekommen. Nichtsdestotrotz war ihm nicht entgangen, daß sein ihm mittlerweile ans Herz ge‐ wachsener Assistent eine ziemliche Fahne hatte. Mußte er sich jetzt auch noch darum Sorgen machen? Daß ausgerechnet der schöne Hugh, dessen edles Rasierwasser jeden Morgen den Mercedes mit solch einem Wohlgeruch auszufüllen pflegte, daß der Tag einfach großartig beginnen mußte, daß dieser … 305
gute Freund nun im Begriff war, jenen von Schmerz und Wahnsinn gesäumten Pfad zu beschreiten, den er einst selbst hatte betreten müssen? Es war Claudius nicht verborgen ge‐ blieben, daß Hugh sich in letzter Zeit verändert hatte. Er wirk‐ te bisweilen abwesend, nachdenklich, irgendwie traurig. Was war mit ihm geschehen, mit dem schönen Hugh? Hatte er eine Kinderleiche zuviel gesehen? Oder hatte er mit einem Mal erkannt, daß das Fließband, auf dem die Kinderleichen dicht an dicht lagen, bis zum Ende seiner Laufbahn nicht aufhören würde zu rollen? Wenn dem so war, dann willkommen im Club! Aus dem lange Schlagschatten werfenden Menschengewirr schälte sich eine gedrungene Gestalt heraus und bewegte sich auf ihn zu. Nur allmählich erkannte Claudius in ihr den alten Weggefährten. »Guten Morgen, Richard«, sagte Hartmut Weinstein und gab ihm einen freundlichen Klaps auf den Oberarm. »Das ist ja eine merkwürdige und doch recht spektakuläre Entdeckung, die du da gemacht hast. Hugh hat es uns erzählt. Gratuliere dir zu deinem Scharfsinn!« Der mit einer an Glasstärke, Gestellumfang, vor allem aber an Häßlichkeit ihresgleichen suchenden Brille geschlagene Mittsechziger steckte in einem signalroten Steppanorak. Man brauchte nicht unbedingt ein begnadeter Menschenkenner zu sein, um zu erraten, daß seine Frau ihm dieses geschmacklose Teil besorgt hatte, höchstwahrscheinlich als Weihnachtsge‐ schenk. Er sah darin aus wie einer dieser neumodischen Gag‐ Heißluftballons, die wie Schloß Neuschwanstein oder eine 306
Coca‐Cola‐Flasche geformt waren, wobei man sich Weinsteins ergrauten Kopf und seinen dürren Unterleib als den Gag‐ Anteil vorstellen mußte. Doch Claudius wußte, den von seiner Frau gelenkten Spießer gab Weinstein nur zu Hause. Es war seine Berliner Mauer gegen ausgepeitschte und gewürgte Kinder und ähnliches Grauen, das er auf diese Weise von sich fernhielt. Wenn Claudius ehrlich war, bewunderte er den al‐ ten Knaben dafür. Ganz anders verhielt sich Weinstein im Job. Ein Gefühl für das Wesentliche, Strenge mit Augenmaß im Umgang mit Untergebenen, diplomatisches Geschick mit Hie‐ rarchien und offen für jede Art von sinnvoller technischer Neuerung, kurz, der perfekte Polizeichef. Claudius würde es nicht wundern, wenn Weinstein trotz seines Alters bald zum Polizeipräsidenten berufen würde. »Ja, eine merkwürdige Entdeckung«, sagte er und deutete mit dem Kopf in Richtung des Grabmals, auf dem Giselles Leiche lag. »Leider hat sie der Kleinen dort auch nichts mehr genützt. Wenn sie überhaupt eine so dolle Bedeutung hat.« Zwei Fotografen vom Spurendienst hatten sich mittlerweile der Leiche angenommen. Tief gebeugt knipsten sie mit ihren schweren Apparaten jeden einzelnen Abschnitt des kleinen Körpers. Es sah aus, als fledderten Geier das Aas. Die hinter ihm liegende Hölle hatte dem Mädchen seine ungeheure An‐ mut nicht nehmen können. Es lag auf der kalten Steinplatte und sehnte sich nach seinen Engelsflügeln. So schien es Clau‐ dius jedenfalls. »Jetzt nur nicht den Kopf hängen lassen, Richard«, sagte Weinstein. »Du und Hugh seid auf dem richtigen Weg. Das 307
habe ich im Urin, alter Freund. Wir sind nur noch einen Zoll davon entfernt, den schwarzen Mann in den Käfig zu schik‐ ken. Es ist doch kaum zu fassen, daß sich seit über einem Jahr so viele Experten mit der Sache befassen und keinem die au‐ genfälligste Gemeinsamkeit zwischen den Kindern auffällt. Aber nun geht es aufwärts. Glaub mir, dieses arme Mädchen da ist das letzte tote Kind, das wir zu beklagen haben. Die restlichen sind noch am Leben, dessen bin ich mir so gewiß wie daß bald der Tag anbricht.« »Dein Wort in Gottes Gehörgang«, erwiderte Claudius, griff nach der Zigarettenpackung in seiner Jackentasche und steck‐ te sich eine an. »Wie geht es übrigens Erika?« Das war das einzige, was er an Weinstein haßte. Obwohl dieser ganz genau wußte, daß Erika und er seit zwei Jahren geschieden waren, erkundigte er sich regelmäßig nach dem werten Befinden der Frau Gemahlin. Aber vielleicht tat er es gar nicht aus einem antiquierten Anstandsbegriff heraus, nach dem ein Ehepaar für immer ein Herz und eine Seele zu blei‐ ben hatte, gleichgültig, wie die Realität aussah. Nein, viel‐ leicht spürte sogar ein so phantasieloser Mann wie Weinstein, daß zwischen ihm und Erika nicht wirklich alle Bande ge‐ kappt waren, daß er sich seit der Trennung selbst mindestens einmal am Tag fragte: »Wie geht es übrigens Erika?« Wein‐ steins Höflichkeitsfloskeln hinsichtlich der Frau Gemahlin waren in Wahrheit vielleicht augenzwinkernde Ermahnung und zugleich Ermutigung. Doch nicht einmal der alte Fuchs konnte ahnen, was heute 308
nacht an Herzensangelegenheiten in Claudius’ Leben vorge‐ fallen war. Marlis hatte ihm nicht nur das gegeben, was sein Körper seit einer kleinen Ewigkeit bitterlich hatte entbehren müssen. Sie hatte ihm zudem ein Versprechen gemacht, das für einen Mann in seinem Alter ungeheuer wertvoll war: das Versprechen, einander lieben zu wollen, als sei man ein unbe‐ schriebenes Blatt. Wenn er zu Erika zurückging, würden sie sich über kurz oder lang an denselben schlecht verheilten Stel‐ len reiben, bis diese irgendwann wieder aufplatzten. Die Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit der Enttäuschungen würde stets zwischen ihnen stehen. Das wußte Claudius. Selbst gebranntes Kind, hatte Marlis ihm statt dessen einen Neuanfang versprochen. Und noch viel mehr. Nachdem er sich in dem Liliputanerhaus mit dem Handy ein Taxi bestellt hatte, war er über dieses Dilemma gewaltig ins Grübeln gekommen. Am liebsten wäre er nach oben zu Marlis ins Schlafzimmer gerannt. Er wollte ihr so sehr sein Herz aus‐ schütten und sich von ihr die Absolution für den endgültigen Bruch mit seiner Vergangenheit erbeten. Am Ende hatte er sich doch nicht getraut. Denn natürlich war ein unbeschriebe‐ nes Blatt in seiner neue Verheißungen versprechenden Art viel aufregender als ein schon beschriebenes, aber mal ehrlich, las man denn nicht immer wieder gern seine Lieblingsstellen? »Erika geht es prima, Hartmut«, sagte Claudius und rang sich sogar ein sarkastisches Lächeln ab. »Nach unserer Tren‐ nung scheint sie in einen Jungbrunnen gefallen zu sein. Den Unterschied zu früher würdest du selbst ohne deine schöne Brille erkennen. Sie hat auch einen neuen Freund. Er trägt 309
Krawatte und besitzt ein sehr hübsches Einstecktuch. Und erst seine Frisur …« Sieglinde Vetter trat an sie heran. So sehr war er mit dem Spott auf den Rivalen beschäftigt, daß er sie erst gar nicht hat‐ te kommen sehen. Die junge Frau in dem weißen Overall war trotz ihrer erschöpften Erscheinung hoch konzentriert. Ihre grünen Augen glühten. »Das gleiche wie bei Udo«, sagte sie und streifte sich die Ka‐ puze vom Kopf. Im grellen Scheinwerferlicht kam die strenge Pferdeschwanzfrisur zum Vorschein, deren Farbton man in Claudius’ Jugend als »gülden« bezeichnet hätte. »Wir werden die Leiche natürlich noch ausführlichen Analysen unterzie‐ hen. Doch nach meinem ersten Eindruck ist Giselle in der Zeit ihrer Gefangenschaft zufriedenstellend versorgt worden. Ge‐ wicht normal, Wachstum und allgemeiner Gesundheitszu‐ stand, so wie es aussieht, ebenfalls. Keine Mißhandlungen vor dem finalen Gewaltakt, auch keine Spuren von sexuellem Mißbrauch, soweit ich es hier und jetzt beurteilen kann. Die Haut ist extrem blaß, was darauf schließen läßt, daß die Kleine lange keine Sonne gesehen hat. Sie ist ausgepeitscht und an‐ schließend erwürgt worden. Der Todeszeitpunkt liegt so um ein Uhr, die Folter muß knapp davor stattgefunden haben. Alles muß sehr schnell gegangen sein. Der Kerl kriegt allmäh‐ lich Routine. Und es gibt noch eine klitzekleine Abweichung zu Udo. Er hat die Leiche diesmal nicht gewaschen. Entweder hatte er keine Zeit dazu, oder er fühlt sich inzwischen so unangreifbar, daß er Nachlässigkeiten in Kauf nimmt. Um so besser für uns, denn jetzt können wir die Epidermis unter 310
dem Mikroskop Stück für Stück nach Ablagerungen aus dem Versteck absuchen. Noch etwas? Ach ja …« Sie schaute Claudius direkt ins Gesicht. »Finden Sie endlich den Kerl, und brechen Sie ihm das Genick!« »Das will ich gerne tun, Frau Vetter«, erwiderte Claudius und ließ den Blick erneut zu Giselle auf der Grabplatte schweifen. Zwei Beamte hoben die Leiche vorsichtig hoch und legten sie auf eine mit sterilem grünem Tuch ausgelegte Roll‐ bahre. Danach erloschen die Scheinwerfer. Zurück blieb nur eine Finsternis, deren wütendes Schreien wahrscheinlich nur Claudius hören konnte. »Ich fürchte nur, er wird es nicht verstehen, wenn ich ihm das Genick breche«, fuhr er fort. »So wie ich die Sache sehe, ist er nämlich überzeugt davon, daß er ein großes Werk verrich‐ tet.« »Was sagst du da?« Weinstein griff nach seiner Brille, damit sie ihm nicht vom Gesicht fiel. »Als Udo mit gefalteten Händen auf der Lichtung lag, hat sich mir zunächst die Assoziation zu einem gefallenen Engel aufgedrängt. Diesen Gedanken habe ich seit heute nacht ver‐ worfen. Jetzt weiß ich es ganz genau.« Er wies mit der rechten Hand auf die Engelsstatue über dem Grabkasten, auf dem bis vor kurzem Giselle gelegen hatte. »Es dreht sich nicht um gefallene Engel, sondern um richti‐ ge, um Kinder, die unserem tiefsten Empfinden nach ab einem bestimmten Alter keine Engel mehr sind. Sie werden langsam erwachsen, und es ist abzusehen, daß diese schlechte Welt sie zwangsläufig in gewöhnliche Sünder verwandeln wird, wie 311
wir längst welche geworden sind. Engel sind Gesandte des Himmels, sie sind Boten, sie überbringen uns Gottes Wort. Doch auf der Erde einmal aufgeschlagen, verlieren sie ihre Unschuld, sie vergessen ihre Botschaft und die Erinnerung ans Gottesreich. Wie Kinder. So jedenfalls sieht es unser Klient. Die Fingerzeige, die er uns gibt, sind unübersehbar. Ich fürchte, diese werden bei den folgenden Leichen noch an Deutlichkeit zunehmen, wovor uns Gott bewahren möge. Wenn also Kinder Engel sind, was liegt da näher, als die Engel gar nicht erst auf der Erde aufschlagen zu lassen, sondern sie in ihrem noch engelhaften Zustand, kurz bevor sie das sünd‐ hafte Alter erreichen, umzubringen und so als Engel wieder Gott zuzuführen? Denn ihre Botschaft von Unschuld und Reinheit haben sie uns ja durch ihre ein paar Jahre dauernde Anwesenheit schon übermittelt. Danach kann nur noch eine erbärmliche Existenz folgen. Er hat es schon richtig erkannt, unser Klient: Man sollte immer Kind bleiben, nicht erwachsen werden, man sollte ein Engel sein und sich die Unschuld be‐ wahren. Kurz, es ist besser, als Kind zu sterben, als ein Leben in Sünde und ohne Hoffnung und Aussicht auf Erlösung zu verbringen.« »Wieso peitscht er aber dann die Kinder noch vorher aus?« wollte Sieglinde Vetter wissen. Hugh, Simon und Heidler tauchten plötzlich aus dem Schein der vielen Taschenlampen und den hin und her huschenden Silhouetten auf und kamen mit schnellen Schritten näher. Sie wirkten, als hätten sie gerade untereinander einen Ringkampf ausgefochten. Ihre Gesichtszüge waren eingefallen wie bei 312
alten Männern, und sie schienen auch wie Alte zu gehen. Hugh sah von ihnen am unglücklichsten aus. Erik Simon brachte es trotzdem fertig, ein stolzes Lächeln zur Schau zu stellen. »Wir haben das kranke Schwein!« verkündete er.
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18. »Er heißt Sebastian Acker, doch bekannt ist er unter dem put‐ zigen Namen Knochen«, sagte Erik Simon und schwenkte den Kopf zu der Projektionswand am Stativ. In dem durch heruntergelassene Jalousien verdunkelten Raum im zweiten Stockwerk des Polizeipräsidiums saßen zirka fünfzig Männer und Frauen vom Sondereinsatzkom‐ mando auf Klappstühlen. Zu ihren Füßen lagen dunkelgraue schußsichere Westen. Es war ein ziemlich karger Ort, denn außer den Stühlen beherbergte er nichts weiter als eine ver‐ staubte Stereoanlage, zwei Fernseher mit Videorecordern, einen PC mit altmodischem Bildschirm, einen Overheadpro‐ jektor auf einem Tisch und eben den Diaprojektor mit Lein‐ wand. An den Wänden hingen ein paar mit Klebefilm befe‐ stigte und arg verblaßte Fotografien in Großformat von Ge‐ sichtern von Schwerverbrechern, die die Truppe schon vor Jahren einkassiert hatte: Claudius erschienen sie wie das Äquivalent zu präparierten Köpfen von abgeschossenem Wild. Nachdem der Friedhof bis zum Morgengrauen erfolglos auf etwaige Spuren vom Täter abgesucht worden war, hatte Hartmut Weinstein allen unmittelbar mit dem Fall Beschäftig‐ ten bis zum Nachmittag freigegeben. Obgleich Simons sensa‐ tionelle Erfolgsmeldung unter den Beamten eine zwischen Ungläubigkeit und Euphorie schwankende Stimmung ausge‐ löst hatte, sollten sie erst einmal den versäumten Nachtschlaf 314
nachholen und sich dann frisch und gesammelt zur Einsatz‐ besprechung zusammenfinden. Auch Claudius und Hugh hatten von der Verschnaufpause Gebrauch gemacht, wobei der junge Hauptkommissar zu aufgedreht war, um noch nach Hause zu gehen, und statt dessen mit dem Mercedes vorlieb‐ genommen hatte. Claudius hatte bei Marlis erst angerufen, nachdem er sich für ein paar Stunden aufs Ohr gelegt hatte. Glücklicherweise hatte sie am Telefon nicht wie eine Frau geklungen, bei der in ihrer Verzweiflung für ein paar Stündchen der Verstand aus‐ gesetzt hatte und die den Fehler jetzt bitter bereute. Im Gegen‐ teil, sie war sehr ernst und behutsam in ihrer Wortwahl und deutete an, daß er sich genau überlegen solle, ob er mit ihr etwas anfangen wolle, denn flüchtige Bettgeschichten kämen für sie nicht in Frage. Nun hatte er den Salat! Wenn er ehrlich war, wollte er sich momentan zu gar nichts entscheiden und die letzte Nacht am liebsten aus seinem Gedächtnis streichen. Um seiner Konfusion noch die Krone aufzusetzen, rief er gleich darauf Erika an und machte mit ihr ein bißchen Small talk. Vermutlich, um seine Nerven zu beruhigen. Bei ihrem untrüglichen Instinkt jedoch schwante seiner Ex‐Frau schnell etwas, und als sie peu à peu anfing, seltsame Fragen zu stel‐ len, entschuldigte er sich abrupt mit dem Vorwand der begin‐ nenden Einsatzbesprechung und legte auf. Der Gedanke, nach dem Abschluß des Falles bis an sein Lebensende nur noch die Wände anzustarren, gewann für ihn immer mehr an Reiz. Die bombige Nachricht von der Auffindung des »kranken Schweins« hätte ihn für all das Gefühlschaos entschädigen, ja 315
mit Stolz erfüllen können, war doch das über einige Umwege erzielte Ergebnis seiner Entdeckung von den miteinander fast identischen Geburtsdaten zu verdanken. Dennoch kam ihm auch diese Sache wie leichtes Unwohlsein nach einem vorzüg‐ lichen Mahl vor, von dem es später hieß, daß irgendeine Zutat darin verdorben gewesen sei. Es schien alles zu stimmen, und doch stank darin etwas gewaltig zum Himmel. Das spürte er. Um allerdings Udo und Giselle in ihrem Himmel zu zeigen, daß er hier auf Erden alles Erdenkliche für die Ergreifung ih‐ res Mörders tat, wäre er sogar in einen verdammten Krieg marschiert. Hugh lehnte sich im Dunkeln gegen die Hinterwand und verzog eine Miene wie ein Schulrowdy auf dem Pausenhof, der nur auf einen geringfügigen Anlaß wartet, um eine Raufe‐ rei vom Zaun zu brechen. Der schnittige schwarze Boss‐ Anzug war durch den unruhigen Schlaf im Wagen völlig zer‐ knittert, ein düsterer Stoppelbart sproß auf seinem Gesicht, das normalerweise stets wie ein Handschmeichler für Frauen‐ hände wirkte, die Haare waren zerzaust, und der Haltung haftete etwas Gebrochenes an. Dennoch hätte er es mit dieser verlotterten Pose garantiert auf das Titelblatt jedes Trendma‐ gazins geschafft. Die Jugend war ein ambivalentes Geschenk, von dem der Beschenkte selten wußte, daß es ihm überhaupt zuteil geworden war. Hartmut Weinstein saß in der ersten Reihe und strahlte durch seine dicken Brillengläser wie ein Gymnasiallehrer, der die komplette Klasse erfolgreich durchs Abitur geschleust hat. Uli Heidler bediente den Diaprojektor und tat dabei so, als 316
stehe er hinter einem Flakgeschütz. Der Rest der Männer und Frauen zupfte zwischendurch nervös an ihren Waffen in den Schulterholstern oder an der Headset‐Ausrüstung herum, welche aus wanzenkleinem Mikrofon am Kragen, stöpselgro‐ ßem Hörgerät im Ohr und einem Kästchen in der Jackenin‐ nentasche bestand. »Er ist achtundvierzig Jahre alt, hat aber davon neunzehn im Knast verbracht, und zwar am Stück«, fuhr Simon fort. Auf der Projektionswand war das hagere Gesicht eines Mannes zu sehen. Die tief in den Höhlen und eng beieinander liegenden dunklen Augen, die mehrfach gebrochene und unförmig ver‐ heilte Nase und der schmallippige Mund ließen wohl noch den Vorurteilsfreiesten an Begriffe wie »das Böse« denken. Von der linken Schläfe bis zum Mundwinkel zog sich eine markante Narbe, darunter am Hals prunkte eine bläuliche Tätowierung von einem Wust ineinander verschlungener Schlangen. Durch den Stoppelhaarschnitt schien eine auf der Kopfhaut angebrachte andere Tätowierung hervor: Jesus Christus am Kreuz in der kitschig verschnörkelten Variante. Heidler ließ das Diamagazin weiterrotieren und warf ver‐ schiedene Schnappschüsse von »Knochen« auf die Leinwand. Ganz offenkundig waren sie mit einem Teleobjektiv irgendwo auf der Straße oder in einer Bar heimlich aufgenommen wor‐ den. Wie es aussah, bevorzugte der muskulöse Mann in Sa‐ chen Outfit schwarzes Leder. Jacken, Hosen, Westen, Mäntel, manchmal ein Stirnband, immer glänzte er im speckig‐ finsteren Tierhaut‐Look. Aber trotz der Aura der Gewalttätig‐ keit, die ihm aus jeder Pore zu quellen schien, und der augen‐ 317
fälligen Nonkonformität wirkte er weder heruntergekommen noch in irgendeiner Weise dem Drogenkonsum verfallen. Im Gegenteil, das vorgerückte Alter sah man dem Kerl kein biß‐ chen an, und stets machte er in seinen unterschiedlichen Le‐ derkluften eine äußerst gepflegte Figur. »Den Spitznamen ›Knochen‹ haben ihm während der Haft seine Mithäftlinge verpaßt, weil er jedem einzelnen von ihnen mindestens einen Knochen gebrochen hat. Bereits im zarten Alter von siebenundzwanzig ist er lebenslänglich in den Bau marschiert.« Erik Simon schien den Vortrag ungeheuer zu genießen, wahrscheinlich, weil er in seinem Größenwahn allen Ernstes dachte, daß der Erfolg, den er schon in der Tasche wähnte, hauptsächlich auf seinem Mist gewachsen wäre. »Er hat damals drei jugendliche Camper, zwei Mädchen und einen Jungen, in einem Ausflugsgebiet im Süden überfallen und in einen Weltkrieg‐II‐Bunker im Wald verschleppt. Dort hat er sie, auch den Jungen, über Tage so massiv vergewaltigt und mit einem Jagdmesser gefoltert, daß später bei der Identi‐ fikation nicht einmal die Eltern ihre Kinder wiedererkannt haben. Nach Erkenntnissen der Gerichtsmedizin hat er seine Opfer dazu gezwungen, sich gegenseitig ganze Fleischstücke aus dem Körper herauszubeißen. Im Lauf der Nachermittlun‐ gen kam heraus, daß solcherart Späße seit seiner frühesten Jugend zu Knochens Lieblingsbeschäftigung gehörten. Leider konnte man ihm später nur noch einen weiteren Mord nach‐ weisen, geht aber von anderen ähnlich gelagerten, ungeklär‐ ten Taten aus, die er zu verantworten hat. Knochen war nie 318
kooperativ und hat zu allem stets geschwiegen. Immerhin bekam er die Höchststrafe.« Nein, sagte sich Claudius, der ist es bestimmt nicht! Sex und Gewalt und Foltern aus Spaß – das war nicht ihr Kunde. Al‐ lerdings unterschied sich die Passion obscure im Prinzip von keiner anderen Leidenschaft. Man verfeinerte mit dem Alter die Techniken, die zum Höhepunkt führen, lernte einiges da‐ zu, entdeckte artverwandte Leidenschaften, absorbierte diese als Ergänzung der eigenen, bis man am Ende Feuer und Flamme für etwas ganz anderes war als zu Beginn. Auch das Böse entwickelte im Lauf der Jahre eine Art Kultur. »Im Knast hat Knochen zunächst einmal allen anderen die Knochen gebrochen. Damit hat er sich den Respekt der ande‐ ren Knackis verschafft«, sprach Simon weiter. »Und er hat dort einen religiösen Fimmel bekommen, vermutlich weil ihn die blutigen Stories in der Bibel so angeturnt haben. Im Schwimmbecken des Gefängnisses hat er sich von einem Bap‐ tistenprediger taufen lassen und ist ein wiedergeborener Christ geworden, allerdings einer, vor dem die anderen Jungs gezittert haben. Während der ausgedehnten Indoor‐Ferien hatte Knochen nachweislich acht Freundinnen mit Schwanz. Nach zehn Jahren hat man bei einer Routineuntersuchung festgestellt, daß der Kerl einen IQ von hundertfünfzig besitzt. Daraufhin gewährte man ihm eine Therapie, die er über sich hat ergehen lassen. Aber der Psychofritze hat da offensichtlich einen Erfolgsorgasmus nach dem anderen gekriegt. Er hat dafür plädiert, daß Knochen einen Computer in die Zelle ge‐ stellt bekommt, später durfte er sogar als einziger in der An‐ 319
stalt ins Internet. Im Alleingang hat Knochen sich beigebracht, wie man programmiert, die Handelskammerprüfung gemacht und sogar ein Diplom erhalten. Irgendwann hat er im Netz auf einem Sexforum eine ehemalige Nutte namens Frauke Gast kennengelernt. Lucky nennt die Frau sich. Sie betreibt ein Tattoo‐Studio in der Innenstadt, in dem sie nebenher SM‐ Tinnef verkauft. Wenn sich in dieser Klitsche nicht mindestens fünfzig Peitschen befinden, fresse ich meinen eigenen Gürtel! Jedenfalls scheint unser Freund auf Lucky einen noch größe‐ ren Eindruck gemacht zu haben als auf seinen Therapeuten.« Heidler betätigte die Fernbedienung, und auf der Projekti‐ onswand erschienen in langsamer Abfolge Bilder von einer Frau, die sich grob geschätzt in den Vierzigern befand. Sie hatte blondierte, hochgesteckte Haare, eine knitterige, stark gebräunte Gesichtshaut, die Bände über den Mißbrauch von Sonnenstudiobesuchen sprach, und eine durch ein Lederkor‐ sett zu einer grotesken Sanduhrlinie zusammengezurrte Figur. Ihr Ausdruck war ordinär bis boshaft, ihre grünen Augen funkelten wie die eines heimtückischen Reptils. Schwarzes Leder, okkulter Schmuck und möglichst viele Tätowierungen gehörten auch zu ihrem Stil. Auf jedem Foto waren von die‐ sen drei Accessoires immer mindestens zwei zu sehen. Dann folgten einige Aufnahmen von »Zartbitter Stich«, dem Tattoo‐Laden. Sie waren offenbar heimlich von der gegenü‐ berliegenden Straßenseite geschossen worden. Das mit Foto‐ grafien der üblichen Tattoo‐Bilder wie Drachen, Dolchen, En‐ geln, mannigfachen Jesus‐Antlitzen, japanischen Schriftzei‐ chen und keltischen Symbolen ausstaffierte Schaufenster er‐ 320
laubte lediglich eingeschränkte Sicht ins Innere. Außer zwei antiquarischen Zahnarztstühlen, die nun als Sitzgelegenheit für die Nadelopfer dienten, und an Kleiderbügeln hängenden Federklamotten in SM‐Manier sah man kaum etwas. »Nach der Verbüßung der Haftstrafe – wegen der ständigen Knochenbrecherei hatte ihm ein weiser Richter noch ein paar Jährchen mehr gegönnt – ist Knochen schließlich vor einem Jahr freigekommen«, sagte Simon und stellte sich direkt ins Licht des Diaprojektors. Die Drachen, Engel und Jesus‐ Antlitze bewegten sich nun geisterhaft über sein erleuchtetes Gesicht. »Nach der Fangzeitprognose des Therapeuten zu urteilen, war aus ihm inzwischen so was wie ein Ghandi für Arme ge‐ worden, der vom Dach gefallenen Tauben die gebrochenen Flügel schient. Er hat Unterschlupf bei Lucky gefunden, was seinen Resozialisierungshelfer in höchsten Tönen von wieder‐ hergestellter Bindungsfähigkeit, gelungener Sozialisation und ähnlichem Schrott schwafeln ließ. Der Typ hat ihm auch einen Job bei der Firma DataMix besorgt, ein Kleinunternehmen, das sich auf Wartungsarbeiten von Großrechnern spezialisiert hat. Der Bewährungshelfer ist übrigens einer der stillen Teil‐ haber des Fadens. Und nun kommen wir zu der Sache, die allein unserem Profiler‐Gottvater Richard Claudius aufgefal‐ len ist.« Simon vollführte mit der Geste eines Showmasters eine aus‐ ladende Handbewegung in Richtung Claudius. Der wußte nicht, wie ihm geschah, als plötzlich aufbrausender Applaus über ihn hereinbrach. Ganz schön anständig von dem selbst‐ 321
herrlichen Kerl, daß er dem Erzkonkurrenten seinen Respekt erwies. Claudius konnte sich ein verlegenes Schmunzeln nicht verkneifen. »DataMix hat vor eineinhalb Jahren den Zuschlag für die Wartung des zentralen Computersystems des Landes erhal‐ ten. Sie hatten das kostengünstigste Angebot«, fuhr Simon fort, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war. »In dieser weit‐ vernetzten Anlage sind recht brisante Bürgerdaten gespei‐ chert. Abstammungsurkunden, Daten über Alter, Geschlecht und Berufsstand, Adressen, Informationen über Herkunft und aufenthaltsrechtlichen Status von Ausländern, Autokennzei‐ chen, Vorstrafen, Haftbefehle, Strafzettelregister und so ein Zeug. Ausländer‐, Finanz‐, Einwohnermelde‐ und Standesäm‐ ter und der Polizeiapparat fragen alle paar Sekunden dort etwas ab. Normalerweise hätten alle Mitarbeiter einer War‐ tungsfirma, die Zugang zu solchem Datenmaterial erhalten können, vorher polizeidienstlich überprüft werden müssen. Aber irgendein Bürokratenarsch da oben hat wieder geschla‐ fen. Oder es ist Kohle geflossen, damit DataMix den Auftrag bekommt. Jedenfalls ist nach dem Einsatz von DataMix Wun‐ dersames passiert. Die Verbraucherzentrale hat uns bestätigt, daß ab ungefähr diesem Zeitpunkt Werbeprospekte plötzlich auffallend zielgruppengenau in die Haushalte verteilt wur‐ den. Nur Frauen über fünfundvierzig erhielten Werbung für Medikamente gegen Beschwerden in den Wechseljahren. Und nur Familien, in denen Kleinkinder leben, erhielten Post von Spielzeug‐Discountern. Maßgeschneiderte Zielgruppenwer‐ bung nennt man das. So etwas ist nur anhand differenzierter 322
Daten möglich. Irgendwer bei DataMix zapft intime Informa‐ tionen aus dem Zentralregister an und verkauft sie unter der Hand an interessierte Firmen weiter. Und derjenige, der das tut, weiß auch ganz genau, welche Kinder im April 2000 hier in der Umgebung geboren worden sind. Jetzt ratet mal, wer …« »Na und? Das beweist doch überhaupt nichts, Simon!« rief Hugh. Die Männer und Frauen auf den Klappstühlen drehten die Köpfe nach hinten. Claudius sah seinen Assistenten in knittri‐ ger Kleidung den Seitengang entlang nach vorne kommen. »Gut, die Sache mit dem Zentralcomputer hat wirklich etwas Verlockendes«, sagte Hugh und machte an der vordersten Reihe halt. »Da sind Claudius und ich selbst schon drauf ge‐ kommen. Und mag auch sein, daß der Typ den Computer anzapft und illegal Daten verkauft. Aber theoretisch sind auch Tausende von Beamten und Polizisten zu so etwas in der La‐ ge. Wenn wir wollten, kämen wir alle an diese Daten heran. Wo ist der klare Zusammenhang zwischen Knochens Hinter‐ grund und den Kindern, die sämtlich in diesem bestimmten Zeitraum geboren sind? Ich sehe ihn nicht. Nur weil wir jetzt wissen, daß ein grausamer Killer Zugriff auf sensible Daten besitzt, haben wir noch lange nicht das Ei des Kolumbus ge‐ funden. Sagtest du nicht, daß Knochen seinerzeit Jugendliche vergewaltigt und abgeschlachtet hätte?« Ein Raunen ging durch den Raum, und Hartmut Weinstein drehte sich nach hinten und schaute Claudius hilfesuchend an. »Was meinst du denn, Richard?« 323
Claudius schwieg. Er konnte sich denken, daß der intensive Abwägungsprozeß sich in seinem Gesicht widerspiegelte, wo sich die vielen scharfkantigen Falten zusammenzogen und zu dem Bild einer am Felsen zerschellenden Brandung verdichte‐ ten. Die ganze Aufmerksamkeit der fünfzig Kripoleute ruhte auf ihm. »Hat man den Kerl überprüft, als die Entführungsserie be‐ gann?« fragte er schließlich in die Stille hinein, als fast dreißig Sekunden verstrichen waren. »Klar«, erwiderte Simon. »Und er hatte ein total glaubwür‐ diges Alibi: Lucky!« »Gesetzt den Fall, er ist es wirklich – wo hält er die Kinder versteckt?« »Das wird er schon ausspucken, wenn Uli und ich ihn für ein Stündchen in einem schalldichten Verhörraum ganz allein für uns haben. Also, für mich stellt sich die ganze Geschichte folgendermaßen dar: Der Knochenmann und seine Tattoo‐ Tante haben sich gegenseitig in einen religiösen Wahn hinein‐ gesteigert. Vermutlich inspiriert durch seine Bibellektüre im Knast gepaart mit den Gewaltphantasien. Er hat sie nach sei‐ ner Entlassung quasi angesteckt. Sie ist es übrigens auch, die sich um die Kleinen im Versteck kümmert. Ich habe keinen Schimmer, warum sie nur Kinder entführt haben, die in einem bestimmten Monat und Jahr geboren sind. Vielleicht hat zu der Zeit Satan hier in der Gegend Urlaub gemacht und ihnen ein Bier spendiert. Oder die Daten dieses Zeitabschnitts gehö‐ ren zu einer okkulten Zahlenmystik, was weiß ich? Es stimmt, was Hugh sagt, außer Knochen haben die gesamte Polizei und 324
etliche andere Behörden Zugang zum Zentralcomputer. Aber mein Instinkt sagt mir, daß dieser Schweinepriester unser Kandidat ist. Was sagt Ihr Instinkt, Claudius?« Er blickte den alten Ermittler unverwandt an. Der kratzte sich gemächlich am Kopf. »Mein Instinkt sagt mir, daß die Wissenschaft von Totmachern keine exakte Wis‐ senschaft ist, auch wenn die Besserwisser in den Medien das immer wieder behaupten. Es gibt in diesem Geschäft keine unveränderlichen Konstanten. Will sagen, nur weil jemand solche Scheußlichkeiten schon mal Jugendlichen angetan hat, heißt das nicht, daß er es für immer und ewig so handhabt. Variablen und Ausdehnungen sind möglich, wenn nicht sogar die Regel. Was mir Ihren Verdacht ein bißchen sympathisch macht, ist die hypothetische Rolle von Lucky. Hedwig Rinke hat uns erzählt, daß der kleine Udo sich bei diesen Abbruch‐ häusern mit einer unbekannten Frau angefreundet hat. So genau wußte Hedda es allerdings auch nicht. Vielleicht ist das die Masche, wie die Kinder geräusch‐ und spurlos entführt werden. Ich persönlich glaube eher nicht, daß einer wie Kno‐ chen für so eine ausgefeilte Sache in Frage kommt. Aber man hat schon Pferde kotzen sehen. Die endgültige Entscheidung, ob wir den Kerl festsetzen, liegt bei Weinstein.« Simons Mundwinkel kräuselten sich zu einem zufriedenen Lächeln. »Schnappen wir uns den Mann!« brummte Weinstein, und durch die Menge ging ein hörbares Aufatmen. Hugh schaute seinen Chef von der Wand her so enttäuscht an, als hätte die‐ ser die gute Sache verraten. Claudius zuckte mit den Schul‐ 325
tern und hob die Hände. Konnte der Junge nicht verstehen, daß sie jeder noch so unwahrscheinlichen Spur nachgehen mußten? »Okay«, sagte Simon, als er sich gewiß war, daß alle sich wieder auf ihn konzentrierten. »Wir werden den Laden nicht stürmen. Das Paar bewohnt eine Wohnung über dem Ge‐ schäft, und ich wette meine letzte Socke, daß es darin ein hüb‐ sches Waffenarsenal gehortet hat. Solche Leute haben immer Waffen. Wir werden nichts riskieren, sondern schön abwarten, bis Knochen aus dem Laden kommt. Dann lassen wir ihm ein kleines Weilchen lange Leine und schlagen an geeigneter Stel‐ le zu. Das Stichwort heißt wie immer: Zugriff!«
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19. Der Knochen, der das »Zartbitter Stich« verließ, hatte einiges vom Reiz des respektgebietenden Ledermanns aus der poli‐ zeilichen Diashow eingebüßt. Zwar verliehen ihm sein langer schwarzer Ledermantel, die tellergroße silbrige Gürtelschnalle in Form einer zungerausstreckenden Dämonenfratze und die spitzen Stiefel mit metallenen Vorderkappen immer noch et‐ was Furchteinflößendes. Und auch das knochige Gesicht mit den tief in den Höhlen sitzenden Kohleaugen hatte nichts von seiner einschüchternden Wirkung verloren. Dennoch hatte der Mann etwas Fahriges an sich. Er ging irgendwie gehetzt und schien überhaupt unter Druck zu stehen. Claudius, der seit zwei Stunden neben Hugh im Mercedes saß und den Laden aus einer Entfernung von zirka fünfzig Metern im Visier hatte, kannte den Grund für die Wandlung. Ob schuldig oder nicht, seitdem die Medien den ganzen Tag hindurch über die neue Kinderleiche berichteten, hatten Leute wie Knochen nichts mehr zu lachen. Sie mußten befürchten, daß die Polizei sie sich allesamt wieder vorknöpfen und dabei schon irgend etwas aus ihnen herausquetschen würde. In Knochens Fall sah die Sache noch ein wenig schlimmer aus, denn er konnte sich an fünf Fingern abzählen, daß sein emsi‐ ger Datenklau sofort auffliegen würde, wenn er wieder ins Visier der Ermittlungsbehörden kam. Und eher würde so ei‐ ner künftig in Weinsteins Klamotten herumlaufen als wieder in den Knast wandern wollen. 327
Das Tattoo‐Studio wurde von fünf weiteren Zivilfahrzeugen der Sonderkommission beschattet, die in größeren Abständen wie zufällig am Straßenrand parkten oder um den Block fuh‐ ren. Sie alle hatten die Anweisung, im viertelstündlichen Rhythmus den Standort zu wechseln. Zudem patrouillierten Kripobeamte in Zivil auf der Straße. »Zartbitter Stich« lag in einer angesagten Einkaufszeile, in der sich extravagante Sneaker‐Shops, Läden von Independent‐ Modelabels, vegetarische Sandwich‐Bars, experimentierfreu‐ dige Einrichtungsgeschäfte und ähnliche Shoppinggelegenhei‐ ten für den trendigen Städter aneinanderreihten. Trotz der Kälte und des Nieselregens befanden sich viele Leute auf der Straße. Knochen steuerte mit schnellen Schritten eine Quer‐ straße an, die zum Eingang einer weitverzweigten Einkaufs‐ passage führte. Hugh startete den Wagen, bugsierte ihn aus der Parklücke heraus und ließ ihn ganz gemächlich an dem Ledermann vorbeigleiten. Diskrete Seitenblicke genügten, um zu erkennen, daß der Eilende auf dem Bürgersteig stark schwitzte. Von einer Waffe war allerdings nichts zu sehen. Doch der lange Ledermantel bot genug Platz, um selbst eine Panzerfaust darunter zu verstecken. »Langsam kommen lassen«, hörten sie Simons Stimme aus dem Headset. »Da vorne ist eine Ampel, die in wenigen Se‐ kunden auf Rot springen wird. Wenn er dort zum Stehen kommt, erfolgt der Zugriff.« Einige der umherschwirrenden Männer und Frauen vom Sondereinsatzkommando kamen Claudius aus der Einsatz‐ besprechung bekannt vor. Sie änderten ihre Schritte so, daß 328
Knochen wie selbstverständlich in ihren Mittelpunkt geriet. Claudius sah es Hugh an, daß er das Ganze für Affentheater hielt. Und in der Tat wäre es dem jungen Hauptkommissar ein leichtes gewesen, einfach die Fahrertür aufzureißen, he‐ rauszuspringen und dem Beschatteten überfallartig seine Waf‐ fe vors Gesicht zu halten. Doch wußte Claudius aus bitterer Erfahrung, daß auch eine auf den ersten Blick so simpel er‐ scheinende Festnahme in einem Blutbad enden konnte. Man konnte gegen Simon die ärgsten Einwände erheben, die mei‐ sten zu Recht, aber sein Verhalten bei dem Zugriff war höchst professionell. Die Ampel sprang auf Rot, und Knochen, der Musterbürger mit dem Charme von Gevatter Hein, blieb tatsächlich am Straßenrand stehen. Die Männer und Frauen des SEK zogen die unsichtbare Schlinge enger um ihn und näherten sich ihm bis auf wenige Meter. Der Mercedes hatte inzwischen in die zweite Reihe des vor der Ampel zum Stillstand gekommenen Autostroms ausweichen müssen. Direkt auf der gegenüberlie‐ genden Straßenseite waren Erik Simon und Uli Heidler zu erkennen. Sie taten orientierungslos und verrenkten die Köpfe in alle Himmelsrichtungen, um unbemerkt in die Kragenmik‐ rofone zu sprechen. »Zugriff!« sagte Simon leise. Claudius und Hugh blickten zu den beiden SEK‐Männern, die direkt rechts und links von Knochen standen. Diese dreh‐ ten sich zu ihm. In ihren Augen schien ein intensives Licht aufzuflackern … »Kommando zurück!« hörten sie Simons sich fast überschla‐ 329
gende Stimme. »Kein Zugriff! Kein Zugriff! Kein Zugriff, ver‐ standen?« Noch völlig verwirrt, registrierten alle, daß ein kleiner Junge mit Rucksack und eine alte Frau sich wie aus dem Nichts Knochen genähert hatten. Sie standen nicht einmal eine Handbreit von ihm entfernt an der Ampel. Auch der Haupt‐ darsteller schien dies bemerkt zu haben, oder Claudius bildete es sich ein. Jedenfalls machte sich in dem Knochengesicht ganz kurz ein frostiges Lächeln breit. Claudius wollte es sogar scheinen, als rückte der Ledermann noch ein bißchen näher zu dem Jungen mit dem Rucksack heran. Kaum sprang die Ampel auf Grün, gab Hugh mächtig Gas. Claudius wußte genau, was sein Assistent vorhatte. Er wollte den Wagen rasch irgendwo auf der anderen Seite abstellen, um sich dann den Kollegen als zusätzlicher Fußsoldat zur Verfügung zu stellen. Und wie Hugh hatte auch Claudius mit einem Mal das seltsame Gefühl, daß bei diesem Einsatz jede Hand gebraucht wurde – und jede geladene Kanone darin. Die Passage war dicht gefüllt mit umherschlendernden, bis‐ weilen vor den Schaufenstern Grüppchen bildenden Men‐ schen in Einkaufslaune. Weihnachten rückte immer näher. Fünf extrabreite, von Markengeschäften gesäumte Korridore führten sternförmig zum Zentrum der Anlage, wo die Imitati‐ on eines Gartenrestaurants lockte, Palmen und Blumen aus Kunststoff inklusive. An den Seiten des domartigen Baus ers‐ treckten sich über drei Etagen und ebenfalls mit Nobelläden bestückte Galerien, die über stark frequentierte Rolltreppen zu erreichen waren. Die höchste Etage lag nur wenige Meter un‐ 330
ter dem Glaskuppeldach, durch welches das düstere Licht des Oktoberendes in den Konsumtempel hineinkroch. Das Gefun‐ kel und Geflimmer aus den Läden ließ den Ort jetzt schon erstrahlen wie einen überdimensionierten Christbaum. Nachdem Knochen die Passage betreten hatte, waren auch die Beamten sukzessive und aus verschiedenen Richtungen in das Foyer eingedrungen, allen voran Simon und Heidler. Den beiden Befehlshabenden war es vorhin nicht vergönnt gewe‐ sen, ihren Kunden noch auf der anderen Straßenseite abzu‐ passen. Geschützt durch die Passanten und mit der Wendig‐ keit eines Aals hatte es dieser geschafft, im pulsierenden Men‐ schenstrom kurzfristig zu verschwinden und sein offensichtli‐ ches Ziel zu erreichen. Nun konnte man durch die sich lau‐ fend abwechselnden Zwischenmeldungen aus den Headsets wie auf einer akustischen Karte erahnen, wo die vielen Zivil‐ polizisten sich in der Anlage verteilten. Als Hugh nach ein paar ärgerlichen Versuchen keinen Park‐ platz gefunden hatte, ließ er den Mercedes einfach mitten in einer Seitenstraße stehen. Sollten sie ihn doch abschleppen, es war ihm egal. Claudius war der gleichen Meinung, und so‐ bald sie draußen waren, stürmten beide sofort in den nächst‐ gelegenen Passageneingang. Drinnen schien sich die Lage trotz der anfänglichen Unübersichtlichkeit durch die wogen‐ den Menschenmassen beruhigt zu haben. Alle Beamten hatten sich inzwischen günstige Positionen ausgesucht und glotzten, ohne etwas zu sehen, in irgendwelche Schaufenster. Verstoh‐ lene Seitenblicke verrieten, daß sie jede Bewegung des Zielob‐ jekts im Auge behielten. 331
»Okay, wir übernehmen wieder«, hörten sie Simon im Headset flüstern. Claudius und Hugh, die außer Atem inmit‐ ten des Gartenrestaurants standen, blickten um sich und ent‐ deckten Knochen auf einer der Rolltreppen auf der rechten Seite. Simon und Heidler bogen wie zufällig um die Ecke und betraten ebenfalls die Rolltreppe. Oben auf der ersten Galerie angekommen, ging Knochen ein paar Schritte weiter und nahm dann die Rolltreppe zur zweiten Etage. Er wirkte noch nervöser und machte einen gänzlich verschwitzten Eindruck. Es war unübersehbar, daß er Lunte gerochen hatte und die Bluthunde an seinen Fersen spürte. Über das Headset wurden hektische Anweisungen durchge‐ geben. Claudius und Hugh eilten zu der Rolltreppe, während andere SEK‐Leute den Fahrstuhl nahmen. »Versuch’s nicht allein. Warte, bis wir alle oben sind, Si‐ mon«, sprach Hugh in sein Mikrophon, während er die Leute auf der Rolltreppe unsanft zur Seite stieß, um rascher nach oben zu gelangen. Doch Simon antwortete nicht. Knochen erreichte die zweite Etage, blickte sich hastig um und schritt dann zielgerichtet den langen Gang zwischen der Ladenzeile und dem Galeriegeländer entlang. Simon und Heidler gaben sich keine Mühe mehr, ihre Tarnung aufrech‐ tzuerhalten, und eilten ihm angriffslustig hinterher. Claudius und Hugh trafen nun ebenfalls auf der zweiten Etage ein. Schon von weitem sah der Oberkommissar, wie Knochen ein Geschäft am Ende des Ganges betrat. Mit uner‐ schütterlicher Gewißheit wurde ihm in diesem Augenblick klar, daß gleich etwas Schreckliches passieren würde. 332
Es war ein Reisebüro. Claudius zählte in Sachen Technik si‐ cherlich nicht zu den Fortschrittlichsten, dennoch wußte sogar er, daß ein Computer‐As wie Knochen eine Reise bestimmt nicht in einem Reisebüro buchen würde, sondern ganz be‐ quem von zu Hause aus übers Internet. Nein, der Grund, weshalb ihr Kunde das geschützte Tattoo‐Studio verlassen hatte, erklärte sich durch seine soziopathische Charakterstruk‐ tur. Leute mit diabolischer Intelligenz saßen nicht in der trau‐ ten Bude herum und warteten, bis man sie abholte und wieder ins Loch sperrte. Sie fühlten sich ihrem Gegner ebenbürtig, wenn nicht sogar weit überlegen, labten sich an größenwahn‐ sinnigen Rache‐ und Mordphantasien und strebten die größt‐ mögliche Apokalypse an, bevor sie abdankten. Das Ganze war eine Falle. Die dummen Bullen sollten denken, daß er gleich die Fluchttickets für die nächste Maschine nach Südafrika oder Brasilien kaufen würde, und dann die Kontrolle verlie‐ ren. »Wenn der nicht eine Waffe irgendwo unter seinem Mantel versteckt hat, dann hab ich keinen Kopf mehr auf dem Hals«, brummte Claudius. Simon und Heidler lungerten vor dem Reisebüro herum. Schon ihre Rückenansichten mit den abwechselnd auf‐ und abzuckenden Schultern vermittelten den Eindruck, als stün‐ den sie kurz davor, die große Knochenshow zu beenden. Claudius und Hugh liefen auf die beiden zu, ebenso die ande‐ ren Beamten an ihrer Seite und hinter ihnen. »Machen Sie keinen Fehler, Simon«, rief Claudius schnau‐ fend in sein Mikro, während alle wie um ihr Leben rannten 333
und die Weihnachtseinkäufer einfach wegrempelten. »Gehen Sie auf keinen Fall da rein!« Er bekam eine Antwort, doch leider nicht die, die er sich ge‐ wünscht hatte. »Scheiß der Hund drauf«, sagte Simon, ohne sich umzudre‐ hen. »Ich hole den Wichser jetzt raus!« Erik Simon betrat das Reisebüro mit nach hinten verschränk‐ tem rechten Arm. Die verborgene Hand umklammerte fest die Walther P5, die halb im Holster an seinem Hosengürtel steck‐ te. Die Vorderseite des Ladens bestand aus einer durchgehen‐ den Glaswand, an die Reklamezettel für Last‐Minute‐Flüge und günstige Pauschalurlaube geklebt waren. In einem zur Galerie gewandten Großbildschirmfernseher lief ein Film in der Endlosschleife über sonnenbeschienene Palmenstrände irgendwo in der Karibik. Halbnackte, braungebrannte Men‐ schen schütteten einen exotischen Drink nach dem anderen in sich hinein, lächelten und entblößten dabei perlweiße Zähne. Die Impressionen der Sorglosigkeit wiederholten sich auf der gegenüberliegenden Seite. Hinter einem thekenlangen hell‐ grauen Schreibtisch präsentierte eine gigantische Wandtapete erneut einen Palmenstrand, diesmal allerdings bei Abend‐ dämmerung. Dort, auf diesem Lichtjahre entfernt scheinenden Planeten aus sanft brandenden Meereswellen, korallenrot glühenden Wolkenformationen, feinem Sand und sich wie‐ genden Kokospalmen, schien das Glück zu wohnen. Knochen stand, den Rücken Simon zugedreht, am Tresen und unterhielt sich mit einer blonden jungen Angestellten, die ihm Reisekataloge aus einem neben ihr befindlichen kleinen 334
Regal holte. In dem langen schwarzen Ledermantel sah er aus wie ein intergalaktischer Aggressor, der den Glücksplaneten vorerst noch auf dem Megaschirm in seinem Raumschiff be‐ trachtet. Draußen vor dem Schaufenster ging Uli Heidler an‐ gestrengt lässig auf und ab und tat so, als studiere er die An‐ gebote. Die Gruppe von atemlosen Männern und Frauen, die noch in einiger Entfernung auf das Reisebüro zustürmten, beachtete er nicht. Obwohl Simon durch das Öffnen der Glastür einen dezenten Gong ausgelöst hatte, wandten sich weder die Blondine noch Knochen um. Simon war zirka fünf Meter von dem Tresen entfernt. Allzu nahe durfte er sich nicht an die schwarze Be‐ drohung heranwagen, und trotzdem mußte er es irgendwie schaffen, daß der Kerl sich zu ihm umdrehte. Er mußte unbe‐ dingt die Hände von Knochen sehen. Doch Simon wollte auch nicht wie angewurzelt hier herumstehen und warten, bis man endlich auf ihn aufmerksam wurde. Aus dem Hörgerät in seinem Ohr vernahm er hysterische Stimmen, die ihn alle zum Rückzug bewegen wollten. Lächerlich, er zog so ein Ding doch nicht zum ersten Mal durch! Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt …, war sein letzter Gedanke, bevor er sich doch einen Schritt nach vorne wagte. »Mensch, ist das denn die Möglichkeit?« rief Simon in Rich‐ tung der beiden. Die rechte Hand hinter seinem Rücken spannte mit dem Daumen den Hammer der Pistole und ließ ihn einrasten. Die Waffe war scharf. »Knochen, bist du es? Mann, ich glaub’s ja echt nicht. Ich bin’s, Junge, Toni!« Die Blondine hob den Kopf und sah ihn freundlich lächelnd 335
an. Dann wanderte ihr Blick zu Knochen zurück, der trotz Simons naßforschem Ausruf keinerlei Anstalten machte, sich umzudrehen. Statt dessen kam Unruhe in die lederne Hinter‐ ansicht, was wohl dadurch verursacht wurde, daß vorne et‐ was Hektisches geschah. Der immer noch Spuren von einem Lächeln enthaltende Blick der Blondine wich allmählich der Verstörung. Schließlich zerplatzte das Lächeln wie ein Luft‐ ballon. Mit einem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht rollte die Blondine auf ihrem Schreibtischstuhl zurück. Endlich drehte sich Knochen zu Simon um. Er hatte eine kohlschwarze Vorderschaftrepetierflinte, Modell IMPERA‐ TOR in den Händen, eine Pumpgun. Knochen versteifte die Gesichtsmuskeln zu einem grausa‐ men Clownslachen, zog den Holzschaft durch und drückte ab. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen zerbarst die Glaswand, und Simon wurde schier explosionsartig aus dem Reisebüro herausgeschleudert. Sicherheitsweste – nur dieser Gedanke schoß Claudius durch den Kopf, als er seinen Lauf unterbrach und mit Mühe zum Stehen kam. Das Glas zerbrach klirrend und scheppernd in tausend Stücke, kleinere Scherben regne‐ ten wie Hagelkörner herab, und axtscharfe große Teile flogen wie Geschosse umher und zerschellten dann auf dem Boden. Er hatte nach der Einsatzbesprechung mit eigenen Augen be‐ obachtet, wie Simon die Weste angelegt hatte. Deshalb gab es einen Funken Hoffnung, daß der Mann noch lebte. Uli Heidler hatte im Moment des Auseinanderbrechens der Scheibe gei‐ stesgegenwärtig einen Riesensatz nach hinten getan, so daß er 336
unversehrt geblieben war. Regungslos lag Erik Simon in dem Scherbenmeer auf dem Rücken, seine Arme und Beine waren grotesk verdreht. Er schien aus Schnittwunden zu bluten, die aus der Distanz nicht zu lokalisieren waren. In der gesamten Etage brach Panik aus. Menschen flohen schreiend vom Ort des Geschehens und stießen andere rück‐ sichtslos beiseite. In Sekundenschnelle bildete sich vor den Polizisten eine unüberwindliche Mauer aus gegen sie anstür‐ menden Menschen, die ihnen nun den Weg versperrten. Claudius wollte in dem Chaos nach seiner Pistole greifen, als ihm einfiel, daß das verdammte Ding ja im Handschuhfach des Mercedes steckte. Dafür zogen die SEK‐Leute um ihn he‐ rum, mittlerweile waren es etwa zwanzig Männer und Frauen geworden, ihre Waffen aus den Schulterholstern. Hugh war schon schußbereit. Auch Heidler hatte sich inzwischen berappelt und zückte seine Pistole. Allerdings schien er immer noch gegen den Schock anzukämpfen, vermutlich aber machte ihm der elende Anblick seines Partners auf dem Boden am meisten zu schaf‐ fen. Knochen kam aus dem nun mehr frontlosen Reisebüro herausspaziert und schoß ihm mit seiner Pumpgun sofort in den rechten Arm. Der Unterarm samt der Pistole wurde regel‐ recht weggesprengt, so daß nur noch ein zerfetzter Stumpf aus der Schulter hing. Dann zog der Ledermann den Schaft der Flinte blitzschnell durch und feuerte Heidler mitten ins Gesicht. Es sah aus, als würde ein Stück Spießbratenklops ex‐ plodieren. Rote Fleischfetzen und Teile des Schädelknochens flogen weit durch die Luft, eine Blutfontäne schoß aus dem 337
Hals, bis der Körper schließlich seitlich wegkippte. Simon begann sich inzwischen wieder zu regen; so wie es aussah, hatte er das Bewußtsein wiedererlangt, und suchte jetzt ver‐ zweifelt nach seiner Pistole. Ohne viel Federlesen schoß ihm Knochen in den Unterleib. Zwischen den glitzernden Glas‐ splittern wurde Erik Simon von einem Moment zum anderen zu einer Puppe, die über Fernsteuerung abgeschaltet worden war. Einige Polizisten positionierten sich kniend, andere presch‐ ten aus dem Pulk der Fliehenden hervor und eröffneten das Feuer. Das trommelfellschädigende Geräusch hätte auch von Keulen stammen können, die einem auf das blanke Hirn hämmern. Einmal zuckte Knochen zusammen, ohne daß sich aber irgendwelche wahrnehmbaren Folgen zeigten. Er ballerte noch ein paar Patronen auf die Gruppe der SEK‐Beamten ab, dann ging er ohne große Eile rechts zu der zur dritten Galerie hochführenden Rolltreppe. Die Polizisten folgten ihm in ge‐ duckter Haltung. Claudius konnte erkennen, daß sich in Kno‐ chens linker Wange ein Loch aufgetan hatte, aus dem ein biß‐ chen Blut kullerte. Vermutlich war dort eine Kugel einged‐ rungen und auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Auf der Rolltreppe befanden sich noch einige Leute, sogar Kinder. Sie waren alle in die Hocke gegangen, weinten und schrien. Während Knochen hochfuhr, griff er in die ausladen‐ de Tasche seines Ledermantels und förderte eine Handvoll Patronen zutage. Ohne ein Anzeichen von Schmerz oder Auf‐ geregtheit lud er die Pumpgun nach. Hugh hastete vor, bog um die Ecke des rollenden Gummihandlaufs, streckte die 338
Walther hoch und gab über die Köpfe der Winselnden auf den Stufen drei gezielte Schüsse auf Knochen ab. Die erste Kugel traf ihn erneut in die Wange, die gänzlich aufriß und ihm wie ein zerfetzter, blutdurchtränkter Lappen vom Gesicht herun‐ terhing. Die Sicht auf sein Gebiß wurde frei. Die zweite Kugel sprengte einen kleinen Krater in seine linke Halsschlagader, aus dem sich ein Blutschauer ergoß. Die dritte verfehlte ihr Ziel. Doch der Ledermann war inzwischen mit dem Nachla‐ den fertig, und obwohl er schon so viel eingesteckt hatte, rich‐ tete er die Pumpgun seelenruhig nach unten und drückte mehrmals ab. Er erwischte eine hinter Hugh hereilende Frau des SEK‐ Teams an der Schulter. Sie überschlug sich wie von einem riesenhaften Gummiband zurückkatapultiert und flog meter‐ weit aus dem Schußfeld. Der Kugelhagel traf den Fuß eines weiteren Beamten, der sofort aussah wie ein mit roter Farbe übergossener Matschklumpen. Eine auf den Stufen hockende alte Frau wurde am Bauch gestreift. In dem ganzen Chaos beobachtete Claudius, wie eine seltsame Ruhe in den dicht vor ihm stehenden Hugh einkehrte. Ganz ohne Deckung und so breitbeinig, wie er da vor der Treppe stand, wähnte sich sein Assistent offenkundig unverwundbar. Mit beiden Händen umklammerte er die Waffe und zielte ruhig und konzentriert, genau so, wie sie es einem bei den Dienstleistungsnachweisen im Schießstand beibrachten. Hugh gab dann einen einzigen Schuß ab. In der Mitte von Knochens Stirn entstand ein schwarzes Loch. Er öffnete den blutspeienden Mund, als wolle er die 339
Welt um ein paar berühmte letzte Worte bereichern, schloß ihn aber im nächsten Moment wieder, als hätte er es sich doch anders überlegt, und stürzte dann vornüber auf die Rolltrep‐ penstufen. Die Pumpgun flog ihm aus den Händen und glitt wie ein Schlitten zwischen den traumatisierten Leuten ab‐ wärts. Knochen wurde von der Rolltreppe nach oben beför‐ dert, aber die dort wieder eben werdenden Stufen schafften es nicht, den schweren Körper auf die Plattform zu schieben. Der leblose Körper wurde quasi zusammengefaltet. Das Hinterteil ragte grausam und komisch zugleich empor und fuhr immer wieder auf und ab, als vollführe es einen lustigen Tanz. Claudius umarmte seinen Assistenten und schaute ihm di‐ rekt in die wie von Trance vernebelten Augen. Hugh starrte nach oben und beobachtete das drollig auf‐ und abfahrende Hinterteil. »Ganz ruhig, Junge«, sagte Claudius. »Irgendwann ist es immer das erste Mal. Glaub mir, darüber kommst du hinweg. Alles wird gut!« »Nein, das ist es nicht«, entgegnete Hugh, ohne den Trance‐ blick von dem Hinterteil abzuwenden. »Ich hätte ihm nur zu gern noch bißchen weh getan, bevor ich ihm die Kerze aus‐ geblasen hab.«
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20. Ivette Heimlich saß allein in ihrem Garten, während die ersten Schneeflocken wie Daunenfedern aus einem überdimensiona‐ len geplatzten Kissen majestätisch auf den gepflegten Rasen niederschwebten. Der Novemberanfang hatte einen frühen Wintereinbruch beschert und die Temperaturen auf nahe dem Gefrierpunkt sinken lassen. Jetzt kam noch der Schnee dazu, der sich aber wahrscheinlich nicht lange halten würde. Die Wörter Garten und Haus führten bei den Heimlichs ein bißchen in die Irre. »Anwesen« wäre passender gewesen. Obwohl ein Neubau, handelte es sich bei dem mindestens zwanzig Räume umfassenden Hauptgebäude um die getreue Nachbildung einer Gründerzeitvilla. Die Türmchen, die ver‐ schnörkelten Erker und Balkone, die mit feinsten Stofftapeten bespannten hohen Wände, die Stuckdecken, Dielenböden, Kamine, jede noch so antik scheinende Einzelheit enthielt nicht die leiseste Spur von Patina, sondern strahlte, als wäre sie erst gestern von Filmarchitekten für ein Kostümdrama erschaffen worden. Garagen, in denen Luxuswagen besser untergebracht waren als Normalsterbliche in Wohnungen, und ein kleiner Reitstall flankierten die Pracht. Der Garten im rückwärtigen Teil besaß parkähnliche Aus‐ maße. Das Zentrum des riesigen Terrains bestand aus einem künstlichen See, dessen Ufer Sumpfpflanzen säumten. Ein romantischer Holzsteg ragte ins Wasser. Um die Aussicht ab‐ wechslungsreich zu gestalten, hatte man die Landschaft ab‐ 341
sichtlich gewellt, mittels niedriger Hügel, welche sanft anho‐ ben, durch kleine Baumgruppen zum Verweilen einluden oder mit Pavillons im schwülstigen Renaissancestil aufwarte‐ ten. Man merkte, daß der Bauherr nichts von moderner Archi‐ tektur hielt und sich den Glanz alter Tage mitten auf die grüne Wiese gestellt hatte. Über diesem kleinen Paradies ging jetzt der verfrühte Schnee nieder und verwandelte es ganz allmählich in ein Wintermär‐ chen. Man hörte im Geiste schon das Knacken der brennenden Holzscheite im Kamin und sah die Eichhörnchenfamilien vor den Fenstern, die um Erdnüsse bettelten. Und doch schien der ganze Reichtum um die Hauptsache ärmer geworden: um Giselle. Hugh hatte noch am Mittag dem Mercedes Winterreifen aufziehen lassen. Eine südamerikanisch aussehende, dicke Haushälterin ließ ihn und Claudius in das Haus. Gleich im mit Carraramarmor beschlagenen Foyer teilte sie ihnen mit, daß der Hausherr sie nicht sehen wolle. Daraufhin erkundig‐ ten sie sich nach Frau Heimlich und wurden in den Garten hinausgeführt. Ivette Heimlich saß vor der sekündlich weißer werdenden Landschaft in einem extravagant gewölbten De‐ signerkorbstuhl, hatte sich eine cognacfarbene Merinowoll‐ decke auf die Beine gelegt und starrte ins Leere. Ihre blauen Augen glichen vom exzessiven Weinen mittlerweile mit Blut gefüllten Kelchen. Sie war eine rothaarige junge Vorstadt‐ schönheit mit heller Haut, ausladendem Dekolleté, ins Dralle gehender Figur und jenem etwas plumpen Sex‐Appeal, der sich gut in Fotokalendern von Herrenmagazinen macht. Trotz 342
ihres sichtlich elenden Zustandes entfaltete sie immer noch dieses wie von einem Comic‐Künstler überzeichnete feminine Flair. Claudius stellte sich und seinen Assistenten vor und erging sich erst einmal in Komplimenten über das schmucke Anwe‐ sen. Aber er kam nicht weit. »Was wollen Sie?« unterbrach sie ihn gleich nach ein paar Sätzen mit einem gewissen Abscheu in der Stimme, der jedoch gar nicht dem Lobredner zu gelten schien, sondern dem Ob‐ jekt des Lobes. Sie machte sich dabei nicht einmal die Mühe, zu den beiden Männern aufzuschauen. »Tut mir leid, Frau Heimlich«, sagte Claudius in seinem dik‐ ken Fischgrätenmustermantel, dessen große Zeit endlich ge‐ kommen war. »Ich habe einen unverzeihlichen Fehler ge‐ macht. Mein Kollege und ich hätten Ihnen natürlich gleich am Anfang unser Beileid aussprechen müssen, was wir hiermit auch in aller Aufrichtigkeit und Anteilnahme tun. Aber, wie soll ich sagen, ich habe mich gescheut, mit dem Schmerzhafte‐ sten zu beginnen, das Sie wohl jetzt umtreibt.« »Was wollen Sie?« wiederholte sie. »Ihnen vielleicht ein paar erfreuliche Nachrichten bringen. Dieser Ex‐Sträfling, der bei dem Schußwechsel starb – man hat Sie schon davon unterrichtet –, er scheint in der Tat einiges auf dem Kerbholz gehabt zu haben. Wir vernehmen gerade intensiv seine Freundin und gewinnen dabei jede Menge Ein‐ sichten. So, wie es aussieht, war das Paar sehr lebhaft in einem Sado‐Maso‐Zirkel engagiert, der auch vor Folter und Mord nicht zurückgeschreckt hat. Ob die Tötung von Kindern dabei 343
auch eine Rolle gespielt hat, können wir zur Zeit leider nicht beantworten, aber …« »Das ist mir egal«, sagte sie. Alle drei waren jetzt mit einer feinen Schneeschicht bedeckt. Claudius fürchtete, daß die Frau sich hier draußen eine Erkäl‐ tung zuziehen könnte, zumal es gegenwärtig um ihre Ab‐ wehrkräfte in jeder Hinsicht nicht zum besten stand. »Von mir aus können Sie diese Frau und alle anderen Sado‐ Maso‐Menschen auf dem Markplatz auf einem Scheiterhaufen verbrennen. Ich werde nicht hurra schreien. Giselle wird da‐ von nicht wieder lebendig, verstehen Sie? Es tut mir leid um Ihre Kollegen, die bei der Schießerei ums Leben gekommen sind. Und ich wünsche Ihnen noch viel Glück bei der Rettung der anderen Kinder. Aber ich habe damit eigentlich nichts mehr zu schaffen. Ich lebe jetzt in einer anderen Welt. In einer vergangenen. Wo Giselle noch lebt …« Die Tränen kullerten ihr aus den eh schon bis an den Rand eines Sehschadens geröteten Augen, vermengten sich mit den auftreffenden Schneeflocken auf den Wangen, glitten bis zur Kinnspitze herab und sickerten dann Tropfen für Tropfen auf die Decke auf ihrem Schoß. Claudius warf einen Seitenblick zu Hugh. Der drehte den Kopf demonstrativ nach hinten und schaute zu einem erleuchteten Erkerfenster im ersten Stock‐ werk der Villa hoch, als wolle er den Alten auf etwas auf‐ merksam machen. Der reglose Schatten eines Mannes bildete sich dort im Gegenlicht ab. Herr Heimlich beobachtete sie die ganze Zeit, doch einen eigenen Kommentar zu der Tragödie wollte er wohl nicht abgeben. Allmählich brach die Dunkel‐ 344
heit an. Der graue Himmel, der immer mehr Schneeflocken erdwärts sandte, legte sich wie ein finsteres, kaltes Tuch über den Park. Im Haus wurden nach und nach alle Lichter einge‐ schaltet, deren Schein bis zu ihnen reichte. »Wir sollten ins Haus gehen, Frau Heimlich«, sagte Clau‐ dius. »Ich meine, es wird langsam frostig hier draußen, und Sie könnten sich erkälten …« »Sie war anders als die anderen Mädchen, wußten Sie das?« sprach Ivette Heimlich einfach weiter, als hätte sie Claudius gar nicht gehört. Er hatte das Gefühl, als spreche sie zu Gei‐ stern. »Sie war den ganzen Tag damit beschäftigt, ihre vier Puppen zu versorgen. Sogar beim Essen mußten die am Tisch immer dabeisein und gefüttert werden, weil sie fürchtete, daß sie sonst verhungern könnten. Sie war sehr weiblich, sie war … wie ich. Heutzutage ist weiblich nur ein anderes Wort für sexy. Sex, Sex, Sex, das ist das Gütesiegel für eine Frau in un‐ serer Zeit. Wenn man dagegen als Frau seinen natürlichen weiblichen Interessen nachgeht, wie sich um den Haushalt kümmern oder Kinder aufziehen, gilt man als blöd. Meine zwei anderen Mädchen jedenfalls können jetzt schon den Tag nicht mehr abwarten, an dem sie auf irgendeinem schmutzi‐ gen Discoklo von einem pickeligen Hornochsen entjungfert werden. Aber Giselle …« Sie bedeckte mit der linken Hand ihr Gesicht und begann lauthals zu schluchzen. Es war ein überwältigender Krampf, gegen den der Wille des Körpers machtlos ist. »Warum mußte er ihr so weh tun, warum mußte er meinem Baby so weh tun? Sagen Sie mir, warum mußte er das tun?« 345
Claudius kniete sich neben sie und legte die Arme um sie. Der Schnee rieselte auf ihre Gesichter. Inzwischen war es ganz dunkel geworden, und die Finsternis kroch auch in ihre Her‐ zen. »Ich weiß es nicht, Frau Heimlich«, sagte Claudius und strei‐ chelte ihr den Rücken. »Glauben Sie mir, meine Kollegen und ich sind genauso verzweifelt wie Sie. Was ich aber mit Sicher‐ heit weiß, ist, daß jede Verzweiflung irgendwann dem Frieden weicht, so wie jede Dunkelheit dem Licht. Giselle ist nicht umsonst gestorben. Ihr Tod hat einen Sinn gehabt. Die Spu‐ ren, die wir an ihrem Körper fanden, könnten uns unter Um‐ ständen endgültig zu den anderen Kindern führen.« Auch Hugh kniete sich nun zu ihnen und legte eine Hand auf die Schulter der verzweifelten Frau. »Er hat recht, Frau Heimlich. Der Mörder hat sich diesmal nicht die Mühe gemacht, die Leiche zu waschen«, sprach er leise. »Die Gerichtsmedizinerin konnte anhand dieser deutli‐ chen Spuren unsere Anfangshypothese jetzt mit Gewißheit nachweisen. Die Kinder werden an einem Ort gefangengehal‐ ten, an dem anscheinend überwiegend Steinkohle und sehr altes Holz gelagert wird. Es ist dort angenehm warm, und der Boden besteht aus gewöhnlichem Erdreich. Giselle ist offenbar oft barfuß gegangen. Sie hat sich die meiste Zeit mit Singen und dem Formen von Wachsfiguren vertrieben. Es wurden feine Ablagerungen von Wachs in den Hautrillen ihrer Hände gefunden. Vermutlich ist es sehr dunkel in dem Versteck, und es müssen stets viele Kerzen brennen, damit man überhaupt etwas sieht. Wir nehmen an, daß die Kinder sich als Zeitvert‐ 346
reib aus dem auslaufenden Wachs Spielzeuge formen, wenn sie unbeobachtet sind. Sie sehen, Giselle hatte auch dort ihre lieben Puppen, die sie füttern konnte. Außerdem pflegen wohl alle Kinder einen liebevollen Umgang miteinander. Am Kör‐ per Ihrer Tochter entdeckten wir mikroskopisch kleine Haut‐ partikel von den anderen. Offenkundig kuschelt sich die gan‐ ze Gruppe zusammen, wenn Schlafenszeit ist. Alles in allem ist Giselles Körper eine kleine Schatztruhe von Spuren und Hinweisen.« Ivette Heimlich hatte aufgehört zu weinen. Während sie sich mit einem gestickten weißen Taschentuch die Tränen vom Gesicht wischte, kehrte allmählich jener distanzierte Blick wieder zurück, mit dem sie die beiden Polizisten empfangen hatte. Ein Anflug von Mißbilligung war sogar darin zu sehen, die sich gegen die auf ihr ruhenden Hände richtete und die zu bedeuten schien, daß es des Trostes genug gewesen sei. Clau‐ dius und Hugh ließen daraufhin von ihr ab und erhoben sich wieder. »Und Sie meinen, daß dieser Ex‐Sträfling wirklich der Mör‐ der ist, Herr Kommissar?« sagte sie und musterte Claudius so gnadenlos, als verfüge sie über einen telepathischen Lügende‐ tektor. »Ja, wie gesagt, er und seine Freundin, sie haben Waffen ge‐ hortet und waren über das Internet mit sehr morbiden Gestal‐ ten in Kontakt, die nichts anderes im Sinn hatten, als Leute zu quälen und …« Claudius hielt inne und sah zu dem immer dichter werdenden Schneegestöber auf. Er schämte sich dafür, daß dieser verdammte Fall ihn inzwischen zu einem Lügner 347
gemacht hatte. »Nein«, sagte er schließlich und neigte tief den Kopf. »Es sieht nicht so aus, daß der Mann, den wir getötet haben, mit der Entführungs‐ und Mordserie etwas zu tun gehabt hat, obwohl er den Tod bestimmt tausendmal verdient hat. Wissen Sie, es war nicht meine Idee, daß wir uns auf ihn konzentriert haben. Der Wirbel wegen der Sache in der Presse kann leicht den Eindruck entstehen lassen, als wäre es bald vorbei mit dem Spuk und als stünde die Heimkehr der anderen Kinder jeden Tag bevor. Doch dieser Eindruck ist falsch. Wir sind weiter als am Anfang, das ist wahr. Mein Kollege hat Ihnen von den Fortschritten in der Spurenanalyse berichtet. Doch wir wissen immer noch nicht, wo die Kleinen gefangengehal‐ ten werden. Auch beißen wir uns an dem Punkt die Zähne aus, was die Identität dieses Monsters anbelangt. Giselle war uns eine große Hilfe, aber es hat leider nicht gereicht. Ich hätte das alles gerne auch Ihrem Mann erzählt. Vielleicht könnten Sie es an ihn weiterleiten.« »Sagen Sie es ihm selber.« Ihr Blick verlor sich wieder im dunklen Nirgendwo. »Ich bin sowieso nicht mehr lange hier. Giselles Tod hat mir die Augen geöffnet. Nach fünfzehn Jah‐ ren. In dieser ganzen Zeit habe ich ohnmächtig in diesem gro‐ ßen Bett aus Seide und Brokat gelegen. Sie werden es nicht glauben, doch vor unserer Ehe habe auch ich auf einer ge‐ wöhnlichen Matratze geschlafen. Ich habe als Lehrlingsmäd‐ chen in einem seiner Möbelhäuser gearbeitet. Bei einem Rundgang hat er mich dann … nun ja, er hat mich erwählt. Er war schon Mitte Fünfzig und hat noch schnell eine Gebärma‐ 348
schine benötigt in seiner Kollektion von Maschinen in Men‐ schengestalt.« »Wir brauchen solche Dinge nicht zu erfahren, Frau Heim‐ lich«, sagte Claudius, schlug den Kragen hoch und rückte auf‐ fällig an seinem Mantel herum, um zu signalisieren, daß er aufbrechen wolle. Hugh trat im Hintergrund von einem Fuß auf den anderen und räusperte sich. »Warum nicht?« erwiderte sie, den Blick weiterhin ins Nichts gerichtet. Mittlerweile war sie völlig eingeschneit. »Hö‐ ren Sie ruhig zu. Vielleicht können Sie etwas lernen. Ich mußte ja auch erst lernen, daß es tatsächlich Menschen gibt, die klei‐ ne Mädchen auspeitschen können. Vorher konnte ich mir so etwas nicht vorstellen. Ich mußte mich an diesen Gedanken gewöhnen. Aber wissen Sie, an was ich mich in all den Jahren nie gewöhnen konnte? An das Sperma meines Gatten. Ich meine, an sein Sperma nach dem Geschlechtsakt in mir drin. Ich habe es danach immer abgewaschen, und dennoch ist es in der Nacht aus mir herausgequollen, und ich habe es die ganze Zeit riechen müssen. Das stinkende Sperma eines alten Man‐ nes. Alles, was Sie hier sehen, ist nur Reklame. Bezahlt von Leuten, die sich alle zwanzig Jahre eine häßliche Couchgarni‐ tur anschaffen. Der Schrott wird fabriziert von armen Teufeln in Rumänien für einen Hungerlohn und hierhergekarrt in LKWs mit abgefahrenen Reifen. Es ist schon erstaunlich, wie‐ viel Kälte in einem entstehen kann, wenn man alles im Leben richtig gemacht hat. Ich hab mich dagegen zu einem großen, dummen Fehler hinreißen lassen: Mit so einem abgedrosche‐ nen Spruch habe ich mich verführen lassen. ›Wollen Sie mit 349
mir französisch essen gehen?‹ Obwohl ich diesen ganzen französischen Fraß überhaupt nicht mag.« »Eine Frage noch, bevor wir uns von Ihnen verabschieden müssen, Frau Heimlich«, sagte Claudius. Ihr seltsamer Mono‐ log berührte ihn zutiefst. Die Frau in ihrer naiven Weiblichkeit erinnerte ihn komischerweise an Marlis, die doch so ganz an‐ ders war. Doch er ließ sich nichts anmerken. »Hat Giselle je‐ mals von einer Person gesprochen, die sie außerhalb der Fa‐ milie, des Personals hier im Haus, des Bekanntenkreises oder außerhalb des Kindergartenumfeldes kennengelernt hat und die Sie nie zu Gesicht bekommen haben?« »Klar«, antwortete sie. »Es war eine erfundene Freundin, sie hat sie ›meine liebe Schwester‹ genannt. Angeblich hat sie sie am Zaun des Parks kennengelernt und dort auch immer wie‐ der getroffen. Weder wir noch das Personal haben diese ›Schwester‹ je gesehen. Wir haben uns immer amüsiert, wenn Giselle von ihr erzählt hat. Sie war mit ihren fünf Jahren schon viel weiter als ich: Dieses Kind hatte soviel Phantasie.« 28.6.1999/SPINNE Mampf, mampf, mampf… Der Kerl am Ende der Leitung kaut vielleicht gerade auf ei‐ nem Brötchen herum oder vertilgt eine Pizza, während er sich herabläßt, mit mir so etwas ähnliches wie eine Unterhaltung zu führen. Ich nehme an, daß er beim Telefonieren ißt, soll seine Geringschätzung, vielleicht sogar Verachtung mir gege‐ 350
nüber ausdrücken. »Wie siehst du überhaupt aus, Kumpel?« will er wissen. »Phantastisch«, sage ich. »Ich meine, ziemlich männlich, fe‐ ste Muskeln, großer Apparat.« »So, so, männlich, mampf, mampf, mampf… Hast du denn so was schon mal gemacht?« »Nein«, gestehe ich. »Aber ich bin ein Naturtalent!« »So, so, Naturtalent.« Er lacht, was sich wie das Heulen eines Seehundes anhört. »Das sagen sie alle, mampf, mampf, mampf, und dann kommen sie hierher, und was ist? Nüscht ist. Schlappofix ist!« »Kann mir nicht passieren«, sage ich. »Bin allzeit bereit. Las‐ sen Sie sich überraschen.« »Wie alt bist du?« Ich verrate es ihm. »Bist du nicht ein bißchen zu alt für den Scheiß?« »Hören Sie, Sie haben ein Inserat aufgegeben, und ich habe mich darauf gemeldet. Entweder Sie werfen einen Blick auf mich oder lassen es bleiben. Ganz einfach.« »Den Traum vom großen Geld kannst du aber gleich knik‐ ken. Es gibt zweihundert Mark für vier Stunden, Fahrt‐und Essenskosten inbegriffen. Und das auch nur, wenn du Lei‐ stung bringst.« »Ich will kein Geld. Es geht mir nur um den Spaß.« Er lacht wieder sein Seehundlachen. »Spaß«, sagt er hämisch und philosophisch zugleich, als er sich endlich wieder eingekriegt hat. »Mal sehen, wieviel Spaß du hast, wenn zehn Leute um dich herumstehen und dir bei 351
der Arbeit zugucken. Mal sehen, ob du dann immer noch all‐ zeit bereit bist.« Er diktiert mir eine Adresse, zu der ich morgen um zwanzig Uhr kommen soll. »Muß ich einen AIDS‐Test mitbringen?« frage ich. »Ist mir scheißegal. Das heißt, mußt du wissen. Von mir aus. Bring auf jeden Fall einen Bademantel mit.« Bevor er auflegt, ermuntert er mich noch auf rührende Wei‐ se. »Ach übrigens, Kumpel, wenn du nicht so aussiehst, wie du es beschrieben hast, kannst du gleich wieder abdampfen.« Die Frage, weshalb ich mich auf ein solches Niveau hinabbe‐ gebe, ist berechtigt. Die Antwort aber denkbar einfach: Ich habe kein Niveau, denn ich bin nicht der Sohn von Lord Che‐ sterfield, sondern schlicht und einfach der Sohn einer Hure. In unserer Familie pflegen wir eine alte Tradition, was diese Art von Dienstleistung betrifft. Ich erfuhr allerdings erst vor eini‐ gen Jahren davon. Als mir das Altersheim nach Muttis Tod ihre Habseligkeiten in einem alten Pappkoffer schickte und ich, Mutti‐Altertumsforscher, der ich bin, jedes einzelne kost‐ bare Stück peinlich genau in Augenschein nahm. Ein Notiz‐ buch mit Adressen und Telefonnummern. Es befanden sich nur zwei Männernamen darin. Na so was! Als ich die Num‐ mern anrufe, haben deren einstige Besitzer entweder schon längst selbst das Zeitliche gesegnet, oder man hat nicht die blasseste Ahnung, von wem ich spreche. Dann vergilbte Foto‐ grafien von schmucken jungen Männern in Anno‐Tobak‐ Anzügen, deren Haare mit Pomade zurückgekämmt sind. Wer waren sie? Familienmitglieder, Onkel vielleicht oder 352
Auserwählte aus dem riesigen Heer von Muttis Herrenbe‐ kanntschaften? Allein dafür, daß sie dieses Geheimnis mit ins Grab genommen hat, könnte ich sie noch einmal umbringen! Ein paar Kleidungsstücke und sehr wenig Schmuck. Ich rieche daran, aber Muttis spezifischer Geruch hängt nicht mehr an den Sachen. Vermutlich haben sie zu lange im Freien gelegen. Mutti ist aus meinem Leben endgültig verduftet, könnte man sagen. In dem Pappkoffer befindet sich noch eine Zeitschrift na‐ mens Facetten aus dem Jahre ’67. Der Name ist mir kein Be‐ griff, und als ich darüber etwas recherchiere, bekomme ich heraus, daß das Heft seinerzeit nur für ein halbes Jahr auf dem Markt herumgegeistert ist, bis es dann wieder in der Ver‐ senkung verschwand. Ein Flop. Ich lese die Artikel darin, die vom Allerlei des Weltgeschehens oder Prominentenklatsch handeln, und begutachte die Fotos und die Werbung. Nach‐ dem ich Facetten zirka fünfzigmal von vorne bis hinten und von hinten bis vorne durchgearbeitet habe, weiß ich immer noch nicht, weshalb Mutti dieses unscheinbare Blatt aufgeho‐ ben hat. Es steht nicht einmal etwas über Damenmode darin. Bis mein Blick eines Nachmittags zufällig über die Rückseite des Heftes streift. Sie ist bis auf den letzten Quadratmillimeter voll mit Kleinanzeigen für irgendwelche dubiosen Produkte. Expander für den schmalbrüstigen Mann, asiatische Wurzeln gegen praktisch alle Krankheiten, eine sogenannte Röntgen‐ brille, mit der man vermeintlich durch Kleider hindurch‐ schauen kann, Reizwäsche, die heutzutage nicht einmal einen notgeilen Irren hinter dem Ofen hervorlocken würde, Schlüs‐ 353
selanhänger mit eingebauter Minitaschenlampe … Es war damals üblich, daß sogar renommierte Blätter ihre allerletzte Seite für die Reklame von derlei Tinnef zur Verfügung stell‐ ten. Heute käme das schon wegen der wachsamen Augen der Verbraucherschutzverbände nicht in die Tüte. Denn es ist of‐ fensichtlich, daß der ganze Kram von irgendwelchen Klit‐ schen angeboten wurde, allein zu dem Zwecke gegründet, um die Leute übers Ohr zu hauen und dann still und leise wieder abzutauchen. Die Zeitreise durch die alte Warenwelt hat meinen Horizont erweitert, aber ich bin so schlau wie zuvor, was Muttis An‐ hänglichkeit für dieses blöde Heft anbelangt. Und wie ich so frustriert weiter die Anzeigen für »Zauberpulver«, das angeb‐ lich selbst schwarze Zähne strahlendweiß machen soll, und Rasierapparate mit Aufziehmechanismus studiere, sehe ich plötzlich im äußersten linken Winkel ein mikroskopisch klei‐ nes Schwarzweiß‐Porträtfoto einer jungen Frau mit laszivem Lächeln. Das Bild besitzt den Umfang von höchstens fünf Mil‐ limetern. Heiße Küsse in Paris, steht darunter, Super‐8‐Film, in Farbe, 10 min., 19,80 DM, eine Qualitätsware aus dem Hause Magma Film. Ich nehme eine Lupe zur Hand, doch selbst da‐ mit ist es unmöglich zu unterscheiden, ob es sich bei dem Ge‐ sicht auf dem Foto um das von Mutti handelt oder von irgen‐ deiner anderen Frau. Könnte sein oder auch wieder nicht. Für was für eine Art Streifen hier geworben wird, ist mir aller‐ dings vom ersten Moment an klar. Geht es um typisch weibli‐ che Eitelkeit? Hat Mutti diese Zeitschrift gekauft und dann über Jahrzehnte aufbewahrt, nur weil auch sie einmal in der 354
Zeitung stand, auch wenn der Anlaß hierfür nicht gerade glorreich war? Ich sehe sie vor mir, wie sie ab und an das bek‐ nackte Heft unter dem Kissen hervorkramt, ihr mikroskopi‐ sches Gesicht auf der Rückseite betrachtet und sich daran freut, weil auch sie einmal medial gewürdigt worden ist. Mann, ich stehe auf so einen kranken Scheiß! Nach dem Fund bin ich Feuer und Flamme für die Jagd nach dem Schatz und starte die größte Suchaktion in der Mensch‐ heitsgeschichte. Unter einem Pseudonym schalte ich Inserate in den einschlägigen Zeitschriften, schreibe bekannte Pornog‐ raphen und Sammler an und wende mich an die neu auf‐ kommenden Sex‐Foren im Internet. »Suche Heiße Küsse in Pa‐ ris, zehnminütiger Super‐8‐Streifen, Magma Film, Herstel‐ lungsjahr 1967. Biete 5000 DM für ansehnliche Kopie, mög‐ lichst mit Originalverpackung.« Nach etwa einem halben Jahr kommt der Erfolg. Ein Typ ruft mich an, der sich wie neunzig anhört, vermutlich jedoch viel jünger ist. Nach der Stimme zu urteilen, ist er starker Raucher. »Ich habe mir den Film nicht ein einziges Mal ange‐ sehen«, sagt er. »Deshalb steckt die Rolle immer noch in der versiegelten Schachtel. Ich hab ihn von dem Produzenten ge‐ schenkt bekommen, weil ich in dem Film umsonst mitgespielt habe. Die Hauptrolle.« Seine asthmatische Stimme kippt hier in einen ehrfürchtigen Ton, als hätte ich es mit einem verkannten Marlon Brando zu tun. »Und deshalb«, fährt er fort, hustet, befördert Raucherschleim in den Rachen und würgt das Zeug wieder herunter, »und deshalb muß ich leider fünftausend‐ dreihundert Eier verlangen.« 355
»Ich gebe Ihnen siebentausend«, sage ich. Er kann es gar nicht fassen. Doch nach der ersten Freude kommen ihm Bedenken, wie die Transaktion vonstatten gehen soll. Er selbst ist sogleich mit einer genialen Idee zur Hand: Ich schicke ihm die Kohle, und er gibt den Film bei der Post auf. Ich tue auf konservativer Geschäftsmann und sage ihm, daß er sich bei soviel Geld gefälligst zu mir bemühen soll. Er ist mißtrauisch, vermutet finstere Absichten, doch die Aus‐ sicht auf den sagenhaften Reichtum, der vermutlich seine kärgliche Rente mindestens für zwei Jahre aufbessern wird, schaltet am Ende seinen Verstand aus. Er steigt aus dem Zug am Vorstadtbahnhof aus, den ich als Treffpunkt genannt habe und von dem ich weiß, daß sich dort nur zweimal am Tag ein paar Pendler herumtreiben. Von Überwachungskameras keine Spur. Wie erhofft befindet sich auf dem Bahnsteig keine Menschenseele. Und die wenigen Leute, die mit meinem Geschäftspartner den Zug verlassen, sind im Nu in alle Himmelsrichtungen verschwunden. Er sieht aus wie ein abgewirtschafteter, harmloser Opa mit zotteligen, zwischen schmutziggelb und schlohweiß schwan‐ kenden Haaren, denen ein Friseurbesuch guttäte. Er steckt in einem grauen C&A‐Opa‐Parka, trägt Deichmann‐Opa‐Schuhe und hält in der Hand eine Plus‐Tüte, in der sich anscheinend der Schatz befindet. Das Urbild des vereinsamten Alten, von dem man manchmal in der Zeitung liest, daß er nach dem tödlichen Schlaganfall noch acht Monate in der Wohnung ge‐ legen habe, ohne daß die Nachbarn davon je etwas mitgek‐ riegt hätten. 356
Er steckt sich sofort eine Zigarette an und hält mir die Tüte ohne einen Gruß oder Fragen zu meiner Person entgegen. »Kann ich das Geld haben?« sagt er. Ich entnehme dem Zucken seiner runzeligen Unterlider, die wegen einer defekten Tränendrüsenfunktion dauerfeucht sind, daß ihm die Sache jetzt doch nicht mehr geheuer ist. Als Zeichen meiner Seriosität lasse ich aus der Manteltasche die Tausendmarkscheine hervorblitzen. »Hier nicht«, sage ich. »Lassen Sie es uns auf der Toilette re‐ geln.« Das mag vielleicht für einen XY‐Ungelöst‐geschulten alten Herrn wirklich shocking klingen, doch die Tausender entfalten auf der Stelle ihre durchschlagende Wirkung. Seine Augen quellen beim Anblick der braunen Scheinchen geradezu über, er bekommt einen kleinen Hustenanfall, was er durch noch heftigeres Inhalieren an der Zigarette zu lindern versucht, was wiederum das Husten weiter verstärkt, bis ich ihm schließlich freundschaftlich einen Arm auf die Schulter lege und ihn in Richtung der Toilette lotse. Es ist ein weißgekachelter, über und über mit Graffiti ver‐ schmierter und viehisch nach Urin stinkender kleiner Raum mit nur einem Pissoir und einer Kabinenabtrennung fürs gro‐ ße Geschäft. Halbausgewickelte Klopapierrollen sind auf dem feuchten Boden verteilt. »Warum, um alles in der Welt, wollen Sie diesen Streifen denn so unbedingt?« will er jetzt wissen. Ja, ja, die menschli‐ che Neugier. Sogar in einem abgestumpften alten Sack, der sich normalerweise für nichts anderes als für seine Blutwerte 357
bei den wöchentlichen Arztbesuchen und für den nächsten Musikantenstadl interessieren dürfte, regt sie sich noch. »Ist doch nur so ein vergammelter Porno.« »Weil ich darin auch eine Hauptrolle spiele«, erwidere ich. »Vielleicht eine größere als Sie.« Ich nehme ihm die Tüte ab, greife hinein und hole die Schachtel heraus. Er hat nicht gelogen. Sie ist ungeöffnet und wirkt so neu, als käme sie gerade aus einem optimal klimati‐ sierten Archiv. Auf dem Titelbild ist Mutti in einem rosa Neg‐ ligé engumschlungen mit Opa Deichmann zu sehen, der lange Koteletten trägt und nur eine Unterhose anhat. Natürlich sind sie es nicht wirklich, sondern nur noch ihre Geister, zwei jun‐ ge Menschen aus einer untergegangenen Zeit, als das Blut in ihren Adern noch ungestüm pulsierte. Die beiden sind derart überkoloriert, daß sie wie Opfer einer gräßlichen Verbrühung aussehen. Im kanariengelben Hintergrund ragt ein schlecht hineinretuschierter Eiffelturm empor, und dahinter verspre‐ chen reißerisch gestaltete Lettern Heiße Küsse in Paris. Ich lupfe mit dem Zeigefingernagel die Lasche am oberen Schachtelende auf und vergewissere mich, daß die Filmrolle tatsächlich drinsteckt. Alles in Ordnung. »Mein Geld«, erinnert mich der einstige Hengst. »Klar«, sage ich, greife wieder in die Manteltasche und hole es heraus. Dann erfolgt das Geräusch: Tschuuup! Mit dem gleichen ärgerlichen Ausdruck, den man gewöhn‐ lich aufsetzt, wenn man irgendwo am Körper einen spontanen Juckreiz empfindet, greift er sich an die von einem Ohr bis 358
zum anderen aufgeschlitzte Kehle und versucht unbeholfen, den Schlitz irgendwie wieder zusammenzupappen, der jetzt einem obszön offenstehenden Maul ähnelt. Ein Blutschwall niagaramäßigen Ausmaßes schießt daraus hervor und über‐ flutet alles, was er am Leibe trägt. Sogar seine Deichmann‐ Schuhe wechseln im Bruchteil einer Sekunde die Farbe. Ers‐ taunlich, was man mit einem frischgewetzten Küchenmesser alles anstellen kann. »Warum hast du das getan?« sagt er mit einer Stimme, die nach einem kaputten Staubsauger klingt, gibt die blöde Fum‐ melei an seiner offenen Kehle schließlich auf und starrt mich nur noch durch milchig gewordene Augen an, während er sanft hin und her schwankt. »Warum hast du meine Mutter gefickt, du Arschloch?« ant‐ worte ich. Bevor es losgeht, mache ich es mir zu Hause so richtig ge‐ mütlich – mit dreißig Flaschen Absolut Wodka. Ich baue die Projektionswand auf, dunkle das Wohnzimmer ab, klemme die Filmspule an den extra für diesen Zweck angeschafften Super‐8‐Projektor, und schon kann der Heimkinospaß begin‐ nen. Nebenbei gesagt liefert der Streifen unter Berücksichti‐ gung des bescheidenen Formats und der damaligen Aufnah‐ metechnik astreine optische Qualität. Ich schaue mir den Film also an. Und dann schaue ich ihn mir noch einmal an. Und dann noch einmal. Dann noch mal. Dann noch mal. Dann noch mal … Ich schaue mir diese zehn Minuten ich weiß nicht wie viele Tage hintereinander immer wieder an. Manchmal höre ich 359
beim Betrachten Kirchenmusik, manchmal singe ich volltrun‐ ken selbst, manchmal lache ich, manchmal weine ich, manch‐ mal zerdeppere ich im Suff die Möbel im Haus, und manch‐ mal sehe ich nur den hellen Strahl aus dem Projektorauge und lausche dem monotonen Geräusch, wenn die Rolle durchge‐ laufen ist und das lose flatternde Endstück des Filmstreifens unablässig gegen den Apparat klatscht. Heiße Küsse in Paris wird zu meinem absoluten Lieblingsfilm, obwohl die Handlung gelinde gesagt ein bißchen ideenarm ist und die Darsteller es schwerlich mit den Meistern ihres Fachs aufnehmen können. Die Geschichte spielt, wie der Titel schon sagt, in einem Schlafzimmer in Paris, wobei dies eine freche Behauptung bleibt, weil die Stadt der Liebe lediglich in Ge‐ stalt einer gerahmten Fotografie des Eiffelturms an einer der Wände erscheint. Außer einem schwülstig verschnörkelten Himmelbett und einer Frisierkommode im gleichen Stil befin‐ det sich nicht viel im Raum. Die Protagonistin sitzt im Negligé vor dem Frisierspiegel und kämmt sich die langen Haare, während ihr männlicher Gegenpart sich in voller Montur in der gegenüberliegenden Ecke herumdrückt und feixende Fratzen schneidet, die wohl seine anschwellende Geilheit zum Ausdruck bringen sollen. Dann geht es schnell zur Sache. Nachdem die beiden das bißchen Fummelei hinter sich ge‐ bracht haben, entledigen sie sich ihrer Sachen und stehen da, wie Gott sie erschaffen hat. An dieser Stelle wird mir klar, daß Opa Deichmann mich in einem Punkt doch belogen hat. Er spielt in diesem Opus mit‐ nichten die Hauptrolle, sondern meine Mutter oder, besser 360
gesagt, ihre haarige Möse. Bis zum Erbrechen wird das gute Stück wieder und wieder in die Großaufnahme gezerrt, mal als starres Porträt, mal mit einem Finger von dem Kerl drin und mal einfach so als unmotivierter Zwischenschnitt. In die‐ sem altmodischen Filmstreifen wird dem Zuschauer auch noch ein Anblick präsentiert, der im modernen Pornofilm aus ästhetischen Gründen kaum mehr Verwendung findet, weil ihm etwas Gynäkologisches anhaftet und er geradezu Asso‐ ziationen an eine Operation am offenen Herzen hervorruft. Mutti läßt mittels Zeige‐ und Mittelfinger in einer Scherenbe‐ wegung ihre kleinen Schamlippen auseinanderklaffen und gewährt einen tiefen Einblick in das Innere ihres Lochs. Und in einer Filmära, in der das Kopierwerk nicht mit Farbe geizte, ist die hiervon ausgehende Wirkung doppelt so stark. Alsbald wird gefickt, von vorne und von hinten und nach Herzenslust. Bei der letzteren Stellung werden auch die he‐ rabbaumelnden, wackelnden Brüste der Dame gewürdigt. Masturbation, Blow‐Job oder gar Analverkehr finden nicht statt, schon gar nicht wird gezeigt, wie es ihm kommt. Denn obwohl Ende der Sechziger im ganzen Land auf Teufel komm raus aufgeklärt wurde, wollten selbst Hartgesottene des Me‐ tiers dem Onanisten in seinem stillen Kämmerlein die Zur‐ schaustellung derlei Vorgänge nicht zumuten. Habe ich etwas vergessen? Ach ja, während des körperlichen Nahkampfs lachen sowohl Mann als auch Frau, als würde jemand hinter der Kamera am laufenden Band köstliche Witze zum besten geben. Ich nehme an, das ist auch dem Zeitgeist zu verdanken. Eine Erklärung könnte darin liegen, daß man 361
sich gescheut hat, den ekstatischen Ausdruck auf den Gesich‐ tern der Akteure während des Geschlechtsaktes zu zeigen, denn ganz offensichtlich wurde dieses Werk für den seit der Bronzezeit verheirateten braven Familienvater hergestellt, der in Anbetracht echter Wollust Frau und Kinder glatt auf der Stelle hätte verlassen können. Oder aber die beiden lachen sich deshalb scheckig, weil damals Sex für alle hörbar nicht mehr der Pflicht zur Kinderzeugung diente, sondern zum Spaß erklärt wurde und man bisher unter Spaß eben ausgiebi‐ ges Lachen verstanden hatte. Und ja, Sie haben mich erwischt, natürlich habe ich Ihnen das Wichtigste im Zusammenhang mit Heiße Küsse in Paris vorenthalten, den eigentlichen Grund, weshalb ich mir den Film eine Million Mal angesehen, mich eine Woche lang an den Rand des Todes gesoffen und anschließend diesen Dreck mit all dem anderen Plunder von Mutti im Garten verbrannt habe. Der da, das bin nämlich ich, der wahre Hauptdarsteller. Sie sehen nichts, sagen Sie? Geben Sie sich Mühe, schauen Sie etwas genauer hin – fällt Ihnen etwas auf? Genau, die Dame, die gerade von diesem Stück Scheiße mit den langen Kotelet‐ ten und der beschissenen Rente in spe penetriert wird, hat eine auffallende Bauchwölbung. Sie rührt sicherlich nicht vom Übergewicht her, denn ansonsten ist der Rest der Figur tipp‐ topp. Sie ahnen es: Ich bin da drin, in diesem wunderbaren Universum voll warmer Flüssigkeit, bin im Entstehen, bin auf der höchsten Stufe des Glücks, von der es eigentlich nur noch abwärtsgehen kann, während der stinkende Schwanz dieser Null meine Zwiesprache mit den Göttern stört. Sehen Sie jetzt 362
besser? Dringt Ihr Blick allmählich durch die Bauchdecke meiner schönen Mutti hindurch? Erkennen Sie mich nun, mit meinem unbehaarten großen Kopf, meinen Augen, die kaum mehr sind als unergründliche schwarze Punkte, meinen zar‐ ten Rippchen, Ärmchen und Beinchen, meiner niedlich ge‐ krümmten Körperhaltung, meinem Daumen, an dem ich gele‐ gentlich nuckele, mit meinem in diesem Moment Sie fixieren‐ den Blick, in dem eine einzige Aussage liegt: ICH KOMME VON GOTT UND ICH BIN HEILIG? Wenn Sie es tun, dann verstehen Sie vielleicht auch, warum Sex für mich eben kein Spaß ist, sondern der Wille Gottes verkleidet als ein menschli‐ ches Bedürfnis. Einstweilen in der tristen Wirklichkeit jedoch sollen wir das Göttliche nur simulieren. Heiße Küsse in Paris liegt schon lange, lange zurück, und ich befinde mich in einer geräumigen Wohnung, die lieblos auf Feststimmung dekoriert ist. Luft‐ schlangen und Lampions allenthalben, halbvolle Flaschen und Gläser, deren Inhalt wie Alkohol aussieht, die aber in Wirk‐ lichkeit mit Cola und Apfelsaft gefüllt sind, und Kartoffel‐ chips und Erdnußflips auf den Tischen und kunterbunter Lichtschein, der von den aufgestellten Scheinwerfern kommt. Auf dem vierzigsten Berufsjubiläum eines graugesichtigen Versicherungsangestellten dürfte es kaum fröhlicher ausse‐ hen. Wir, das sind neben meiner Wenigkeit noch zehn Frauen und vier Männer (Männer sind in diesem Genre im Gegensatz zu denen in der sexuellen Realität meistens in der Minderzahl, das ist Usus). Die mampfende Telefonstimme von gestern läßt sich Fränkie nennen und stellt sich uns als der Regis‐ 363
seur/Drehbuchautor/Produzent/Kameramann vor. Er war es auch, der mich vorhin unter zwölf Bewerbern für die horizon‐ tale Leistungsshow auserwählt hat. Alles arme Würstchen, die entweder einen umsonst wegstecken wollten, aber selbst nackt so aussehen wie Buster Keaton, oder Muskeltiere, deren exzessiver Anabolikakonsum ihre Pimmel zur Größe von Streichhölzern hat schrumpfen lassen. Es gab auch ein Frauen‐ Casting, doch da war ich nicht dabei. Das Tolle ist, ich kann mein schauspielerisches Können sofort unter Beweis stellen. Wir alle ruhen in Bademänteln gesittet auf drei in U‐Form angeordneten Couchen und lauschen den Anweisungen von Fränkie. Er vereinigt nicht nur die oben erwähnten, für die Herstellung eines Films unerläßlichen Funktionen in Perso‐ nalunion, sondern scheint auch der Inhaber der Produktions‐ firma zu sein, die solcherlei Dämonenfutter fabriziert. Mit anderen Worten, er beliefert Videotheken im Lande mit scharf ausgeleuchteten Fickfilmchen, und jetzt, da die Leute sich allmählich von Video auf DVD umstellen, ist bei ihm erst recht das Goldgräberfieber ausgebrochen. Fränkie sieht aus wie ein angejahrter Hippie, graumelierte hüftlange Haare, ausgewaschenes T‐Shirt, auf dem noch undeutlich »Hate USA« zu erkennen ist, und bleiche Jeans mit gewollten Lö‐ chern drin. Vielleicht war er wirklich einmal ein Hippie, und als er eines Nachts auf einem Hippiemädchen lag, ist in sei‐ nem bekifften Schädel die geniale Idee entstanden, daß man das Ganze auch einfach filmen und dann verkaufen könnte. Da war es um ihn geschehen. Die Entscheidung, den Weg der Dämonen zu wählen, kostet oft nichts weiter als ein Finger‐ 364
schnippen. Ich lasse den Blick kreisen und mache weitere interessante Entdeckungen. Der Großteil der Frauen besteht erkennbar nicht aus Profis. Ihren Gesichtern fehlt erfreulicherweise das Ordinäre, das Verbissene, ja bisweilen Flehentliche, das man in den Zügen von echten Nutten findet. Auch figürlich befin‐ den sie sich auf einem höheren Level, nichtsdestotrotz kriegen sie weder das unschuldige Sonnenscheinlächeln noch den knisternden Ausdruck der unnahbaren Arroganz von Models hin. An den Wölbungen ihre Bademäntel vorne erkenne ich, daß drei von ihnen gewillt sind, Muttis Beispiel zu folgen: Die Damen sind schwanger, dem ersten Augenschein nach zu urteilen, haben sie die Hälfte der Brutstrecke schon hinter sich gebracht. Bei zwei weiteren Frauen ist es heute offenkundig das erste Mal. Die eine, Typ Soziologiestudentin, die sich vermutlich etwas nebenher verdienen möchte und die ers‐ taunliches Frischfleisch entblößen wird, sobald sie die eckige Neunmalschlau‐Brille abgenommen und sich aus dem Schlabberzeug geschält hat, ist ziemlich nervös. Sie rutscht in ihrem Sitz andauernd hin und her und lacht unmotiviert. Die andere ist so leicht zu durchschauen wie eine Spinne. Wenn ich ehrlich bin, gibt sie mir in vielerlei Hinsicht Rätsel auf. Sie verbirgt ihren Körper unter einem exotischen schwarzen Umhang, der Stickereien in Form von asiatischen Symbolen in Rot und Gold aufweist. Ihre schulterlangen dunklen Haare fallen ihr in wilden Strähnen kreuz und quer vor das schmale Gesicht, als wolle sie es gegen die Außenwelt abschirmen. Ihre hellblauen Augen funkeln mich derart intensiv an wie kostba‐ 365
re Edelsteine in einer Mine. Ein geheimnisvolles Lächeln um‐ spielt konstant ihren großen Mund, geradeso, als kenne sie den Ausgang unser aller Schicksal. Vielleicht ist sie auch nur auf Droge. Auf den ersten Blick scheinen die Innenflächen ihre Hände schmutzig zu sein, so daß man geneigt ist, sie dar‐ auf aufmerksam zu machen. Doch dann merkt man, daß sie mit Henna gefärbt sind. Alles in allem wirkt sie höchst anzie‐ hend und mysteriös zugleich, ein Fabelwesen, das einem nie empfundene Freuden zu bereiten verspricht, aber auch Höl‐ lenschmerz. So weit, so ungewöhnlich. Aber es kommt noch besser, ge‐ nauer gesagt, noch ungewöhnlicher. Meine heilige Begabung läßt es mich wissen. Selbstverständlich wittert unsereiner eine Gelegenheit hinter jeder Ecke. Schließlich bin ich im Auftrage des Herrn unterwegs. Aber eine solche Gelegenheit hier, in dieser Situation, angeboten von einer Frau, die sich für einen Porno zur Verfügung stellt? Entweder ist sie auf diesem Ohr taub und hört die Stimme ihres Körpers nicht, oder … Was immer es ist, und welche Richtung das Bäumchen‐wechsel‐ dich‐Spiel auch gleich einschlagen wird, ich jedenfalls muß es sein, der sie zu einem Teil des göttlichen Puzzles werden läßt. Wie halte ich mir aber die vielen anderen Dämonen vom Lei‐ be? Aus dem nostalgischen Bedürfnis, in Muttis Fußstapfen zu treten, ist also am Ende doch bitterer Ernst geworden. »Leute, entspannt euch«, sagt Fränkie und setzt ein breites Lächeln auf, was wohl als Demonstration äußerster Entspan‐ nung gelten soll. Es war natürlich nichts als hohle Prahlerei, als er am Telefon drohte, ich könne eventuell versagen, wenn 366
während des Spaßes zehn Leute um mich herumstünden. Da‐ mit wollte er bei mir, vielleicht aber in Wirklichkeit eher bei sich selbst, die Illusion wecken, daß wir es hier mit einem pro‐ fessionellen Dreh zu tun haben. Das ist absoluter Bullshit. Ne‐ ben ihm lungert nur ein schmieriges Männeken herum, das wie er eine 08/15‐Videokamera in den Händen hält und des‐ sen linkisches Gehabe mir sagt, daß es sich an diesem Abend eher nach seinem ersten Schnaps sehnt als nach dem Anblick einer Vagina. Es gibt keine Filmklappe, kein Schminken der Darsteller, schon gar nicht etwas zu essen, und die sogenann‐ ten Scheinwerfer sind Amateurfunzeln aus einem x‐beliebigen Fotoshop. Doch wer weiß, vielleicht ist das Fränkies Erfolgs‐ rezept: die schonungslose Darstellung menschlichen Elends. So manch einer hat dafür den Oscar eingeheimst. »Also, wir befinden uns auf dem Höhepunkt einer Party«, sagt er, und seine langen Haare wiegen sich pittoresker hin und her als in jeder Woodstock‐Zeitlupe. »Und wie wir alle wissen, ist jeder Gast auf dem Höhepunkt einer Party total geil und will am liebsten gleich über den anderen herfallen. Logisch. Wir illustrieren diese Situation.« Illustrieren ist gut! Ich merke jetzt, daß überhaupt kein Dreh‐ buch existiert, ergo auch keine Geschichte. Ein gewichtiger Posten im Produktionsetat schon mal gespart. Vorbei die Zei‐ ten, als selbst Pornofilme sich mit einer Handlung schmück‐ ten, wenn auch mit einer äußerst dünnen und bizarren. Doch nun, da die DVD mit einem Menü und diversen Kapiteln und Unterkapiteln dienlich ist, muß der Wichser seine Zeit nicht mehr mit der Jagd des geilen Wolfs hinter Rotkäppchen mit 367
den Megamöpsen verplempern, sondern kann auf Knopf‐ druck sofort zur Hauptsache kommen. »Folgende Dinge müßt ihr ständig im Hinterkopf behalten. Viele von euch wissen es bereits, aber wir haben heute auch ein paar Neulinge unter uns: Die leckeren Filmchen sind zu neunundneunzig Komma neun Prozent für den männlichen Endverbraucher bestimmt …« Endverbraucher ist noch besser! »… und der will Abwechslung. Also, Mädels, Eierkraulen, Blasen, Ficken und dann direkt wieder zum nächsten Kunden. Immer schön reihum. Und immer schön auf meine Anwei‐ sungen hören. Ihr könnt ruhig sprechen, während ihr es treibt. Wir nehmen ohne Ton auf, und später in der Synchronisation werden in die Tonspur sowieso nur Gestöhne und schmutzige Sprüche reingeklatscht. Wenn ihr aber quatscht, macht ein geiles Gesicht dabei. Die speziellen Nummern übernehmen heute Annette und Nicki. Für die Männer gilt: den Saft zu‐ rückhalten, solange es geht. Jeder Cumshot wird mit einem Fünfziger extra bezahlt. Also strengt euch an. Ach ja, bevor ich es vergesse, das Material von heute abend wird zu zwei Fil‐ men zusammengeschnitten, die verschiedene Geschmäcker bedienen sollen. Nehmt euch deshalb der frohen Hoffnung munter an. Ihr versteht schon, was ich meine.« Mein Blick driftet zu einem Papier in einem Klemmbrett auf dem Boden, in das Fränkie mit einem Kuli irgendwelche Zah‐ lenkolonnen und Notizen gekritzelt hat. Und übergroß die Titel der beiden Filme. Nun ja, seit den seligen Zeiten, als Mutti noch Heiße Küsse in Paris empfangen hat, ist viel Wasser 368
den Rhein hinuntergeflossen. Die Menschen haben sich inzwi‐ schen verändert, sind aufgeschlossener geworden, was die Liebe betrifft, und scheuen sich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Insofern sind diese zwei Filmtitel geradezu bei‐ spielhaft für die neue Ehrlichkeit: Spritzparade und Die Sau fickt noch bis ins Wochenbett. Fränkie schaltet die hinter ihm befindliche Stereoanlage an, worauf aus den Lautsprechern ohrenbetäubender Heavy Me‐ tal dröhnt. Mozart wäre mir lieber. Aber ich beuge mich sei‐ nen subtilen Regiemethoden, mit denen er aus jedem das Be‐ ste herausholen will. Wir ziehen die Bademäntel aus und ge‐ ben sie dem Co‐Kameramann, der sie in ein anderes Zimmer verfrachtet. Einige der Frauen tragen transparente schwarze Reizwäsche, der Rest ist splitternackt. Wir Männer sowieso. Bis auf Spinne sind sämtliche Damen rasiert; der Glanz von Gleitcreme schimmert an den entsprechenden Stellen. Au‐ genblicklich entsteht eine aufgeladene Stimmung, die jedem, der, anstatt zu Hause ein Vogelhäuschen zu basteln, lieber mal eine anständige Orgie besucht, bekannt vorkommen dürf‐ te. Die Kameras werden eingeschaltet. »Action!« ruft Fränkie, der Regietitan, völlig grundlos, denn erstens ist es sowieso scheißegal, wo diese ganze Ferkelei be‐ ginnt und wo sie aufhört, und zweitens hat das große Ku‐ scheln eh schon angefangen. Jeweils ein Damenpaar nimmt sich eines Herrn an, und während in der Regel die eine an seinen Eiern zugange ist oder ihm den Arsch krault, bearbeitet die andere mit dem Mund seinen Schwanz. Mein eigener wird übrigens von einer der Schwangeren verwöhnt, die dafür in 369
die Hocke gegangen ist. Der Schmierlappen von Co‐ Kameramann kommt ganz nah an uns heran, schwenkt auf das aufregende Geschehen am Unterleib und danach wieder zu mir hoch, um meinen brünstigen Gesichtsausdruck zu er‐ fassen, und dann immer so fort. Auch Michael Ballhaus hätte keine intelligentere Kameraführung wählen können. Dennoch reicht keine Optik der Welt an mein Auge heran, das hinter das Sichtbare zu dringen vermag und die Wirklich‐ keit hinter der Wirklichkeit zutage fördert. Ich sehe, wie aus dem Blasemund der Schwangeren seitlich zwei gekrümmte Stoßzähne herauswachsen wie bei einem Wildschwein. Ihre Ohren verfärben sich in Blitzgeschwindigkeit in ein fleckiges Gelb gleich dem Herbstlaub, um dann stetig dunkler und ir‐ gendwie lederner zu werden. Gleichzeitig transformieren sie sich zu spitzen Trichtern. Ihr Gesicht erhält immer fratzenhaf‐ tere Züge, bis es am Ende dem eines mißgebildeten Reptils gleicht. Deformierte kleine Flügel stoßen aus ihrem Rücken hervor, die zwischen den Trageknochen aus sepiabraunen, zerfetzten Hautlappen zu bestehen scheinen. Der ganze zu‐ sammengekrümmte Körper ist schnell ein gnomartiges, ver‐ schrumpeltes Gebilde, die Fortpflanzungsmaschine eines Nachtmahrs. Ich sehe ebenso das Kind in ihrem Bauch. Auch es ist ein Dämon, ein männlicher, der aus seinem geriffelten Penis phosphorgelben Eiter in die Bauchhöhle seiner Mutter uriniert, dabei das unförmige Maul aufreißt und dolchartige Zähne entblößt. Als ich zu meinen Mitstreitern herüberblicke, zeigt sich mir ein faszinierendes Bild. Sie alle vereinen sich allmählich zu 370
einer einzigen mißgestalteten Masse. Münder, Mösen und Arschlöcher, welche die wulstige und grobe Form von Astlö‐ chern angenommen haben, verspritzen üble, fahlfarbene Sek‐ rete oder empfangen freudig zuckend die schlangengleichen Schwänze, die überall wie selbständige Wesen herumwuseln. So manch eine Dämonendame wird doppelt gefickt: Während ein Dämonenschwanz sich von hinten in ihrem Arsch gütlich tut, macht es sich ein anderer in ihrer Muschi gemütlich. So geht es immer weiter. Man reicht dem männlichen Dämon einen prallen Busen, und der saugt den siechen Saft mit kehli‐ gen Lauten im Nu aus, bis nur noch eine verschrumpelte Hül‐ le übrigbleibt. Man fickt einen weiblichen Dämon in den Arsch, und während man das tut, formen sich die Arschbak‐ ken langsam zu einer Visage, die einen geil und debil zugleich anlacht. Alle verklumpen immer mehr und inniger mit den anderen, das Ganze ist bald nur noch ein riesiger Berg ver‐ gammelten Fleisches, aus dem nur noch zitternde Dämonenf‐ lügel, flatternde und saugende Münder und Schamlippen, pechschwarzes Sperma verspritzende Eicheln und die häßli‐ chen Fratzen der Ungeborenen hervortreten, um im nächsten Moment wieder zu verschwinden und einer anderen Wider‐ wärtigkeit Platz zu machen. Fränkie taucht plötzlich vor mir auf. Ich ertappe mich dabei, wie ich gerade eine schwangere Dämonin von hinten bediene. Sie ist eine zusammengekrümmte Mumie, von der bei jedem Stoß unter Staubverwirbelungen Teile abfallen, so daß ich allmählich ihr bloßes Gerippe sehen kann, einschließlich des Babydämons in ihr. Fränkie hat sich sehr verändert. Er ist 371
nackt und am ganzen Körper über und über mit rätselhaften Zeichen und Symbolen bemalt wie ein australischer Urein‐ wohner. Während er mir die Kamera vors Gesicht hält, froh‐ lockt er irgend etwas auf arabisch oder hebräisch, jedenfalls in einer Sprache, die sich für mich wie unverständliches Gebrab‐ bel von einem stark beschädigten Tonband anhört. Dann wie‐ der streckt er die Zungenspitze aus einem Mundwinkel und lacht obszön. Arme ergreifen mich von hinten, und ich weiß sofort, daß es Spinne ist. »Ich kenne dich«, sagt sie. Ich lasse von der schwangeren Dämonin ab und wende mich ihr zu. Die völlig verschwitzte Frau wirkt mit ihren satten Rundungen und den angeschwollenen Brustwarzen wie ein hypnotisches Feuer, das einem die Furcht vor Verbrennungen augenblicklich aus dem Sinn verbannt. Sie legt sich auf den Rücken, spreizt die Beine und präsentiert mir ihr vom exzes‐ siven Ficken schon weit aufklaffendes Loch. Sofort dringe ich in sie ein. »Du bist dieser Parfüm‐Papst. Ich habe mal in einer Parfü‐ merie gearbeitet, und da war so ein Prospekt mit einem klei‐ nen Artikel und deinem Bild. Der Mann mit der goldenen Nase, so nennt man dich doch in der Branche, nicht wahr? Es hieß, du könntest zwischen fünfhundert Duftgrundstoffen unter‐ scheiden.« »Ja, meine heilige Begabung«, sage ich. Unsere Bewegungen werden immer schneller, und gemeinsam umklammern wir einander so fest, als wollten wir das bißchen Liebe, das wir 372
vielleicht noch im Leib haben, auch noch herausdrücken. »Bist du jetzt pervers geworden, daß du dich für so etwas hergibst?« »Nicht mehr als du. Erzähl mir nicht, daß du wegen der paar Kröten hier bist. Ich rieche deinen Östrus. Kann es sein, daß auch deine Schritte von Gott gelenkt werden?« »Jaaah!« schreit sie. »Jaaah! Jaaah!« Ich ergieße mich in ihr, während sie in ihrer Ekstase heftig zusammenzuckt, als suche sie ein Ganzkörperkrampf heim. Ihre Augäpfel drehen sich weg, bis zwischen den Lidern nur noch das Weiße zu sehen ist. Gleichzeitig vernehme ich aus dem Hintergrund Fränkies krächzende, laute Stimme. Er regt sich furchtbar darüber auf, weil ich den kostbaren Saft nicht für seinen Cumshot aufgespart habe. Ich habe das Gefühl, daß ich meinen neuen Job jetzt wohl los bin. »Glaubst du, daß wir Fränkie erst die lange Matte abschnei‐ den müssen, bevor wir mit seinem abgehackten Kopf Fußball spielen können?« will ich von Spinne wissen. »Fürchte schon«, erwidert sie und kuschelt sich dichter an mich heran.
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21. Für Erik Simon und Uli Heidler kam es nicht zu einer gemein‐ samen Trauerfeier. In ihrer Verzweiflung gaben beide Witwen jeweils dem Mann der anderen die Schuld für das Desaster. Auf den getrennt stattfindenden Begräbnissen ging es im buchstäblichen Sinne todtraurig zu. Die Kommissionsmitglie‐ der, Hartmut Weinstein, Sieglinde Vetter, Hugh, Claudius und ein paar Abgesandte des Polizeipräsidiums, wirkten auf den Treffen vor den Gräbern so, als wären sie die Versteine‐ rungen ihrer selbst. Über das grausame Ende der beiden jun‐ gen Polizisten waren alle immer noch völlig am Boden zer‐ stört. Doch ohne es voreinander auszusprechen, empfanden sie auch Schmerz über ein weiteres nahendes Ende, nämlich das der Sonderkommission »Udo«. Mit dem Tod von Simon und Heidler, so kam es im stillen einem jeden vor, hatten sie nicht nur ihre wichtigsten Werkzeuge eingebüßt, sondern auch jegliche Hoffnung. Die Beamten wurden von einer solch tiefen Depression erfaßt, daß sie, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gleich, in Apathie verfielen und nicht einmal mehr die tägliche Routinearbeit zustande brachten, geschwei‐ ge denn einen neuen, kreativen Ermittlungsansatz entwickeln konnten. Viele meldeten sich krank, andere wurden bei Wein‐ stein vorstellig und wollten auf einen anderen Fall angesetzt werden. Ihre ausgepowerten, niedergeschlagenen Gesichter gleich bei zwei Begräbnissen zu sehen, und beide Male bei heftigem Schneefall, bedeutete für Hugh den absoluten Tief‐ 374
punkt der eh mit Höhepunkten dünngesäten zurückliegenden Geschehnisse. Claudius und ihm fiel nun automatisch die Anführerrolle in der Sonderkommission zu, was sie eigentlich mit Stolz hätte erfüllen müssen. Doch angesichts der desolaten Lage mutete ihnen der Rollenwechsel wie der Antritt eines defizitären Er‐ bes an. Auf dieser Kommission schien ein Fluch zu lasten. Sie hatte seit ihrer Gründung nichts erreicht, und auch die letzte, vermeintlich heiße Spur hatte nirgends hingeführt, außer für Erik Simon und Uli Heidler geradewegs ins Grauen hinein. Hugh hatte trotzdem das Gefühl, daß seine einsame und recht sonderbare Zusammenarbeit mit Claudius doch noch Früchte tragen würde. Natürlich war es ein völlig unbegründetes Ge‐ fühl, denn objektiv betrachtet standen sie immer noch mit leeren Händen da. Dennoch war ihm ein unberechenbarer Claudius lieber als ein motivationsloser Apparat voller dep‐ rimierter Seelen. So kam es, daß die Kommission zwar offiziell, insbesondere für die Presse weiterhin eine putzmuntere Existenz führte, aber in Wahrheit aus nichts weiter bestand als aus verwaisten Büros und ein paar antriebslosen Gestalten, die öden Telefon‐ dienst schoben. Selbst Weinstein steckte immer seltener seine Nase in diese tristen Räumlichkeiten. Claudius und Hugh hatten es gleich ganz gelassen. Sie riefen nie bei der Sonder‐ kommission an, und von dort verlangte auch keiner ein Ge‐ spräch mit ihnen. Und das war gut so. Es war inzwischen Mitte November, und die beiden Polizi‐ sten saßen wieder einmal im Mercedes, diesmal auf dem Weg 375
zur Familie Al Said. Sie hatten die arabische Familie absich‐ tlich nicht über ihren bevorstehenden Besuch informiert. Vater Karim verweigerte immer noch jegliche Art der Kooperation mit der Polizei und würde sich vermutlich mittels vom Staat bezahlter Anwälte querstellen, wenn man in seine »Privats‐ phäre« einzudringen versuchte. Seine Frau Aischa hatte in dieser Angelegenheit wohl nichts zu vermelden. Der frühe Wintereinbruch war kein Bluff des Wettergottes gewesen, sondern ein ehrliches Versprechen, welches er in Gestalt eisiger Temperaturen und sporadisch einsetzender Schneeschauer immer eindringlicher einhielt. Während sie zum Ausländerghetto in der Innenstadt fuhren, tanzten Schneeflocken vor der Frontscheibe des Wagens, so daß Hugh die Scheibenwischer auf Intervallschaltung stellen mußte. Nach dem schrecklichen Erlebnis in der Passage hatte er in Sachen Destruktivität ein paar Gänge zurückgeschaltet. Es reichte zwar nicht so weit, daß er zurück zur Mucki‐Bude ging, und auch die zwanghaften Gedanken an Carla wollten nicht aufhören, in ihm zu rumoren, doch zumindest hatte er die allabendlichen Weingelage wieder eingestellt. Es klang hart, aber es hatte in der Tat etwas Reinigendes, jemanden zu erschießen, der es verdient hat. Hugh trug einen grauen Boss‐Anzug, der seine optimale Wirkung erst mit dem auf dem Rücksitz liegenden halblangen schwarzen Mantel entfaltete, er war frisch rasiert und hatte die Haare mit Gel zu gemäßigt wilden Strähnen arrangiert. Wenn er in den Rückspiegel schaute, erblickte er darin eigent‐ lich immer noch den alten Hugh. Doch das war so unwahr 376
wie der manchmal aufkommende Gedanke, daß er Simon und Heidler, diese blöden Betonköpfe, überhaupt nicht vermißte. Der alte Hugh war so tot wie die beiden ehemaligen Konkur‐ renten. Von ihm war nur noch die Hülle übriggeblieben, in der sich alptraumhafte Bilder, schreckliche Erkenntnisse, eine sich gegen jeden und alles richtende Wut, vor allem aber die Furcht aufstaute, daß keine Medizin der Welt die schwarze Galle je wieder aus ihm herausbekommen würde. Er versuch‐ te, Freude zu empfinden, was ihm nicht gelang, und fragte sich dann, wie er das früher hingekriegt hatte. Vielleicht könn‐ te er sich während der Weihnachtsferien ein bißchen entspan‐ nen und etwas von der einstigen Sorglosigkeit zurückgewin‐ nen. Er könnte in den Skiurlaub fahren. Fragte sich nur, ob der Kinderschlächter zu dieser Zeit dann auch einen Skiurlaub einlegen würde. Hugh war nicht entgangen, daß auch Claudius sich verän‐ dert hatte. Aber da dieser ja gerade aus dem Höllental ge‐ kommen war, hatte es mit ihm nicht weiter bergab gehen können. Im Gegenteil, mit Claudius ging es sichtlich bergauf. Es gab dafür einen beachtlichen Grund, und dieser Grund hatte, wenn Hugh sich nicht irrte, eine einladende jugendliche Figur und brillantblaue Augen. Seinem Chef gegenüber spiel‐ te er den Ahnungslosen, doch er zog seine eigenen Schlüsse aus der Tatsache, daß dieser sich nach Feierabend immer sel‐ tener vor seiner Haustür absetzen ließ, sondern irgendwo in der Nähe der ehemaligen Bergarbeitersiedlung. Natürlich raufte sich auch Claudius mangels eines durchschlagenden Erfolgs die Haare, und natürlich stierte auch er in der Befürch‐ 377
tung, daß jeden Tag eine neue Kinderleiche auftauchen könn‐ te, oft bekümmert ins Leere. Doch seine düstere Weltsicht war einer lichten Stimmung gewichen. Wie bei allen frisch Verlieb‐ ten. Unglaublich, der Alte aus dem Irrenhaus erlebte seinen zweiten Frühling. Hugh wäre froh gewesen, wenn er über‐ haupt den ersten gehabt hätte. Er griff in das Türfach, holte daraus den Stoß Papiere, den er aus dem Weblog ausgedruckt hatte, und legte ihn Claudius auf den Schoß. »Würden Sie mir einen Gefallen tun und das hier bei Gelegenheit lesen?« »Was ist das?« Claudius blätterte sichtbar überrascht in den Seiten. »Eine Art Test. Ich möchte wissen, ob Sie auch genau die Dinge darin erkennen, die ich zu erkennen glaube.« »Wo haben Sie dieses Manuskript her?« »Aus dem Internet. Es sind Fragmente eines Tagebuchs aus dem Jahr 1999, fiktiv, nehme ich an. Allerdings ist es ein ziem‐ lich schräges Tagebuch. Könnten aber auch die Hirngespinste eines literarisch veranlagten Witzbolds sein, der sich auf diese Weise Aufmerksamkeit verspricht.« »Und wie sind Sie darauf gestoßen?« »Das ist eine lange Geschichte.« Hugh erklärte Claudius alles über Die Siedler von Uris und wie er in das Weblog von PA‐ RADIES4 gekommen war. Claudius fragte kurz nach, als Hugh von der Existenz des Cheats berichtete, ansonsten hörte er aufmerksam zu. »Ich wußte gar nicht, daß Sie ein Spielefan sind«, sagte er schließlich. »Offen gesagt habe ich immer gedacht, Sie hätten 378
in Ihrer Freizeit alle Hände voll damit zu tun, Ihre Tür gegen den Ansturm Tausender von Schönheiten zu verrammeln.« In Claudius’ Gesicht breitete sich ein anzügliches Lächeln aus. Hugh hielt es für geboten, nicht darauf einzugehen. Was diese Art Anspielungen anging, hätte er Claudius auch so einiges präsentieren können. Aber der Respekt vor der Le‐ gende hielt ihn davon ab, die Sache mit Marlis Adel zur Spra‐ che zu bringen. Immerhin handelte es sich bei der Frau um die Mutter eines der entführten Kinder, mit der man als Oberver‐ antwortlicher des Falles nicht gerade eine Beziehung eingehen sollte. »Ich verstehe es immer noch nicht so recht«, fuhr Claudius fort, der Hughs Gedanken gelesen zu haben schien und von einem Moment zum anderen wieder auf Ernst schaltete. »Was hat das mit unserer Arbeit zu tun? Sind in diesem Tagebuch irgendwelche Hinweise auf den Fall enthalten? Sie haben ge‐ sagt, es stammt von 1999.« Hugh zuckte mit den Schultern. »Mich interessiert nur, ob Sie beim Lesen von demselben Unbehagen heimgesucht wer‐ den wie ich. Persönlich halte ich das Geschreibsel für die Aus‐ geburt eines Perverslings. Da hat sich jemand so richtig aus‐ gekotzt. Man kann die Seiten im Internet mit solchen Sexbe‐ ichten gar nicht zählen – alles nur Wunschträume von armen Wichsern. Unser Freund hier unterscheidet sich allerdings von den anderen in vielerlei Hinsicht. Zunächst einmal hat er es sehr geschickt angestellt, die Leute auf seine Site zu locken. Ich nehme an, er hat sich Die Siedler von Uris deshalb als Köder ausgesucht, weil es in dem Spiel im weitesten Sinne ebenfalls 379
um Fortpflanzung geht. Und ich glaube, daß er gar nicht sel‐ ber spielt, sondern ein Programm vorgeschaltet hat, das für ihn die Arbeit erledigt. Die Leute ahnen, daß er den Cheat besitzt, nehmen mit ihm Kontakt auf, und schon landen sie in seiner Gülle. Er hat eine Botschaft und will sie möglichst vie‐ len an die Backe kleben.« »Juch, entschuldigen Sie bitte, aber was hat die Sexbeichte eines Irren mit unseren Kindern zu tun? Udo und Giselle sind doch gar nicht sexuell mißbraucht worden.« »Moment noch. In dem Tagebuch kommen zwei Morde und ein angedeuteter Mord vor. Bis jetzt, denn der Kerl veröffent‐ licht in Fortsetzungen. Das können wir immer noch überprü‐ fen, denn zwischen den Zeilen wimmelt es nur so von Hin‐ weisen. Man könnte meinen, der Schreiber legt es darauf an, daß man ihn enttarnt. Und wenn wir ihn dann gefunden ha‐ ben, wird er uns vermutlich mit einem RTL‐Team vor der Tür erwarten und Buh! machen und danach die Rechte seiner lite‐ rarischen Scheiße an den Meistbietenden verkloppen. Dank Internet wird so ein Publicity‐Trick immer populärer. Aber egal – es gibt einige seltsame Überschneidungen mit unserer Geschichte. Jedenfalls will es mir so vorkommen.« »Und die wären?« »Ich sagte Ihnen doch, es ist ein Test. Falls Ihnen während des Lesens nicht die gleichen Einzelheiten wie mir ins Auge springen, können Sie mich getrost zum Telefondienst in die Sonderkommission abkommandieren.« Die Al Saids lebten in einem Viertel, das noch vor fünfzehn 380
Jahren überwiegend Einheimische bevölkert hatten. Als »gut‐ bürgerlich« war damals ein derartiges Wohngebiet bezeichnet worden. Doch als sich die Schulen dort nach und nach mit ausländischen Kindern füllten, zogen immer mehr deutsche Familien weg. Die Sprachschwierigkeiten und infolgedessen das sinkende Leistungsniveau in den Klassen gefährdeten den schulischen Aufstieg ihrer Zöglinge. Daraufhin kam es zu einer Kettenreaktion. Die Vermieter holten sich noch mehr Ausländer ins Haus, weil diese, zumeist arbeitslos, dank der pünktlich eintreffenden Mietzahlungen vom Sozialamt eine sichere Bank darstellten. Das hatte wiederum zur Folge, daß noch mehr Alteingesessene das Weite suchten. Heute mußte man sich einige Mühe geben, wenn man auf den Klingelschil‐ dern einen deutschen Namen finden wollte. Die Gasse, wo die Al Saids wohnten, hätte sich auch ir‐ gendwo in Anatolien, auf dem Balkan oder im Mittleren Osten befinden können. Es war wie eine kleine Reise ins Aus‐ land. Überall waren Werbeschilder in türkisch und arabisch zu sehen, die in Friseursalons, Imbißstuben, Reisebüros, Arzt‐ praxen oder Anwaltskanzleien einluden, in denen der Kunde in seiner Landessprache empfangen wurde. Zwischen den Verkaufsständen hörte man kaum ein deutsches Wort. Neben Obst und Gemüse gab es hier alle Sorten von Schafskäse, Oli‐ ven und Fladenbrot, aber auch Knöpfe und Stoffe zu kaufen. Frauen mit Kopftüchern und in langen Mänteln, Männer mit Bärten und Gebetskappen auf den Köpfen und feixende Ju‐ gendliche in Jogginganzügen prägten das Straßenbild. Clau‐ dius und Hugh betraten einen wahren Trümmerhaufen von 381
einem Mehrfamilienhaus und quälten sich bis zum vierten Stockwerk durch ein Treppenhaus, in dem muffiger Gestank eine unerträgliche Verbindung mit exotischen Essensdüften einging. Sie klingelten an einer braunen Tür, die einen derart demo‐ lierten Eindruck machte, als würde sie von einem Bison re‐ gelmäßig als Angriffsfläche benutzt. Nach einer Weile wurde sie ihnen von einem Jungen geöffnet, der schätzungsweise zehn Jahre alt war. Es mußte sich um einen der großen Brüder des entführten Abdullah handeln. Hugh fiel sofort auf, daß er sich vom Typ her deutlich von seinem Bruder unterschied. Die dunkle Hautfarbe und die schwarzen Augen seiner Ah‐ nen waren bei ihm voll durchgeschlagen. Und im Gegensatz zu Abdullah besaß er wulstige Lippen. Er schaute in einer Mischung aus Verwirrung und Furcht zu den beiden Polizi‐ sten hoch. »Guten Tag, junger Mann«, sagte Claudius. »Sind deine El‐ tern zu Hause?« Der Junge schwieg und rührte sich nicht. Aus der Wohnung drang das Geräusch von fließendem Wasser. Claudius warf Hugh einen verzweifelten Blick zu. Der kniete sich nieder und begab sich in Augenhöhe zu dem Jungen, was diesen noch mehr einschüchterte. »Wir sind von der Polizei, Kleiner«, sagte er. »Das verstehst du doch, oder?« Der Kleine war mittlerweile zu einem Standbild gefroren. »Papa da drin?« Hugh deutete mit dem Zeigefinger in die Wohnung. 382
Der Junge schüttelte den Kopf. »Mama?« Der Junge nickte. »Na, siehst du mal, ist also doch einer von ihnen daheim.« Er erhob sich wieder, und ohne Claudius’ Reaktion abzu‐ warten, drückte er sich an dem Jungen vorbei und ging ein‐ fach in die Wohnung hinein. Dabei klopfte er leise gegen die Tür, was wie ein verschämtes Alibi für sein unerlaubtes Ein‐ dringen wirkte. »Frau Al Said?« rief er en passant und nicht gerade laut. »Frau Al Said?« Die Wohnung wäre selbst in der Dritten Welt kaum als eine Luxusherberge durchgegangen. Die grauen Wände waren gleich einem experimentellen Muster nahezu lückenlos mit Schimmel überzogen. An einigen Stellen löste sich schon die Tapete und hing wie ein bizarrer Schmuck herunter. Auch der großflächig durchgetretene grüne Teppichboden hatte sich teilweise gelöst, war wellig geworden und warf überall Falten. Die reinsten Stolperfallen. Die beiden Polizisten durchquerten einen Flur, den zu beiden Seiten gerahmte Fotografien von der Kaaba in Mekka, Ajatollah Khomeini und last not least vom guten alten Osama zierten. Hugh sah vorne schon das große Wohnzimmer, in dem sämtliche Einrichtungsgegenstände vom Sperrmüll zu stam‐ men schienen. Eine an mehreren Stellen aufgeplatzte Couch mit hervorquellender Polsterung, ein von einem Spitzendeck‐ chen bedeckter Tisch aus grauer Vorzeit, ein paar Stühle mit stumpf gewordenem Lack und ein uralter Fernseher standen 383
im Zimmer verteilt. Bilder von Moscheen und Sprüche in ara‐ bischer Schrift im Stehrahmen auf einer völlig zerkratzten Holzkommode vollendeten die Tristesse. Auf dem Boden sa‐ ßen zwei Mädchen, die nicht älter als vier oder fünf Jahre alt sein durften und schon weiße Kopftücher und bis zu den Fü‐ ßen reichende, erkennbar handgenähte Kleidchen trugen. Sie beschäftigten sich gerade mit einem Brettspiel und rissen die Köpfe erschrocken hoch, als sie den großgewachsenen Mann den Gang entlangkommen sahen. Das Geräusch fließenden Wassers wurde lauter. Als Hugh sich im Vorbeigehen nach rechts wandte, wurde ihm durch eine einen Spaltbreit offen‐ stehende Tür ein Anblick gewährt, mit dem er in dieser Woh‐ nung am wenigsten gerechnet hätte. Aischa stand unter einer Dusche ohne Vorhang, deren Fuß‐ becken Risse aufwies. Die junge Mutter schaute durch den über ihren Körper rauschenden Wasserschleier Hugh unver‐ wandt in die Augen. Das Bad war ein trostloser Raum ohne Fenster, in dem eine herabbaumelnde Funzel für ein bißchen Helligkeit sorgte. Nichtsdestotrotz erzeugte das Gesehene bei Hugh eine Wirkung, die von einem Kinnhaken hätte stammen können. Die langen pechschwarzen Haare der dunkelhäutigen Schönheit klebten in wilden nassen Strähnen auf ihrem Ge‐ sicht und gewährten nur partiell Einsicht auf die wie aus Steinkohle bestehenden Augen und auf den schmollenden Klatschmohnmund. Sie besaß eine derart wohlgeformte und den männlichen Blick anziehende Figur, daß selbst das über‐ triebenste Tausend‐und‐eine‐Nacht‐Klischee daran nicht he‐ ranzureichen vermochte. Ihre zu den Warzen hin sehr spitz 384
zulaufenden, drallen Brüste hoben sich wie Erlösung verspre‐ chende Zwillingsplaneten himmelwärts, und ihre Hüfte wand sich ab der Taille in einer solch spektakulären Dimension, daß das Wort »Rundung« dafür nur armselig klang. Sie hatte sich die Schamhaare rasiert und zeigte ihre Frucht in ganzer Pracht. Für einen Moment fürchtete Hugh, er könne die durch die‐ sen Anblick ausgelöste Erstarrung nicht mehr abschütteln und müsse noch stundenlang hier ausharren. Da spürte er wie einen Windhauch jemanden unmittelbar in seiner Nähe. Er drehte sich um und sah den Jungen neben sich, welcher ihn durch seine großen schwarzen Augen mit indifferentem Aus‐ druck anstarrte. Vielleicht hatte er die Situation durchschaut, vielleicht aber auch nicht. Hinter ihm drängelte Claudius, des‐ sen ungehaltene Körpersprache andeutete, daß er sich über den Stau auf dem Gang ärgerte. Hugh schloß die Badezim‐ mertür und betrat das Wohnzimmer. Die Polizisten versuchten ein paar Minuten lang, mit den drei Kindern zu reden. Doch diese wirkten sehr gehemmt, verstanden sie nicht oder taten so, jedenfalls bekundeten sie durch ihr ganzes freudloses Verhalten, daß ihnen Besuche von »Ungläubigen« ziemlich fremd waren. Dann endlich kam Ai‐ scha aus dem Bad. Das heißt, man konnte nur vermuten, daß es sich bei der wunderlichen Gestalt um Aischa handelte. Die junge Frau war von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Umhang gehüllt und trug sogar schwarze Stoffhandschuhe. Nur die glühenden Kohleaugen stachen durch einen engen Schlitz im Schleier hervor. Der Vergleich mit einem gewaltigen Tusche‐ 385
fleck drängte sich einem auf. In Hughs Kopf stiegen die betö‐ renden Tausend‐und‐eine‐Nacht‐Bilder von vorhin wieder hoch. Sie hielt einen gelben Zettel in der Hand. »Ich grüße Sie, Frau Al Said«, sagte Claudius und setzte ein freundliches Vertreterlächeln auf. »Wir sind von der Krimi‐ nalpolizei. Mein Name ist …« Er wurde von polternden Geräuschen aus dem Flur unterb‐ rochen, lärmende Schritte und Gefluche drangen ins Wohn‐ zimmer. Der rauhe Ton verhieß nichts Gutes. Hugh und Claudius verdrehten die Augen, und alle im Raum blickten in Richtung des Flurs. Schließlich erschienen zwei Männer im Zimmer, deren Mienen kurz von Überraschung zeugten, doch sich dann in Lichtgeschwindigkeit in Ärger verwandelten. Wer von ihnen Vater Karim war, sah man auf den ersten Blick. Und doch kam Hugh aus dem Staunen nicht heraus. Die in den Akten dargestellten Familienverhältnisse noch im Ge‐ dächtnis, hatte er bei dem Orientalen eher einen sabbernden alten Gnom mit einer Vorliebe für Bräute im Kindesalter er‐ wartet. Das Gegenteil schien der Fall zu sein. Karim war ein sehr attraktiver Araber mit lockigen Haaren, intelligentem Blick, einer markanten Adlernase und für einen Mann bemer‐ kenswert sinnlichen Lippen. Er verfügte über einen kräftigen Körperbau und befand sich ungefähr in Hughs Alter, durfte also nur wenige Jahre älter sein als Aischa. Der Mann hinter ihm überragte alle Anwesenden mindestens um einen Kopf. Er war rothaarig und extrem hellhäutig und trug im Gegen‐ satz zu Karim, der im legeren Jeans‐Outfit steckte, ein weißes arabisches Gewand mit goldfarbenen Stickereien und eine 386
Gebetskappe auf dem Schädel. Sein Ausdruck schwankte zwi‐ schen grenzenloser Naivität und einer aufgesetzt wirkenden Grimmigkeit. Hätte ein TV‐Team für einen Bericht über das Wirrwarr der Religionen das Abziehbild eines Konvertiten gesucht, dem sein Christentum irgendwann zu lasch gewor‐ den war, es wäre bei dem Lulatsch fündig geworden. »Was passieren hier?« schrie Karim. Seine dunklen Augen verdüsterten sich noch mehr, bis das Weiße darin fast gänz‐ lich verschwand. Es hatte den Anschein, als würde sich der Mann jeden Moment mit einem lauten Knall in seine Bestand‐ teile auflösen. Der Konvertit äffte das explosive Verhalten nach, was aber eher komisch wirkte. Die beiden erinnerten Hugh irgendwie an Simon und Heidler, die sich in ihrem pa‐ ranoiden Weltbild ebenfalls immer gegenseitig die Bälle zu‐ geworfen hatten. Claudius schien den Ernst der Lage erkannt zu haben und verlieh seinem für Fremde reservierten onkelhaften Ausdruck umgehend die nötige Strenge. »Was soll denn hier passieren, Herr Al Said?« sagte er. »Sie sehen doch, nichts passiert hier. Wir sind von der Kriminalpolizei und wollen Sie noch um ein paar Informationen über Abdullahs Verschwinden bitten. Vielleicht haben Sie schon gehört, daß eine neue Kinderleiche …« »Nix!« schrie Karim wieder. Er baute sich konfrontativ vor Claudius auf. »Du verschwinden! Dein Kollege verschwinden! Sofort! Sofort!« »He, nur mit der Ruhe, Karim«, sagte Hugh. Von dem Ge‐ schrei des Kerls bekam er langsam Kopfschmerzen. Die bei‐ 387
den kleinen Mädchen hatten zu weinen angefangen. An der Wand neben der Couch stand dieses schwarze Etwas namens Aischa wie ein Bettlakengespenst auf einem Negativabzug und regte sich nicht. »Wir sind weder deine Feinde, noch ha‐ ben wir in deiner Wohnung irgend etwas angerührt. Wir wol‐ len dir nur helfen, deinen Sohn wieder zurückzubekommen. Es wäre gut, wenn du erst mal tief durchatmen würdest.« Karim trat noch näher an Claudius heran, so nah, daß sich ihre Nasen beinahe berührten. Er schnaufte schwer und schwenkte den Kopf hin und her, wie Hugh es oft bei Gewalt‐ tätern beobachtet hatte, bevor sie die Kontrolle verloren. Sein im Grunde attraktives Gesicht war jetzt zu einer haßerfüllten Fratze geworden. »Nix!« brüllte er. »Das mein Haus! Du können nicht kom‐ men ohne Anwalt sprechen! Das mein Haus! Das sauber Haus! Das mein Haus! Du verschwinden! Raus! Raus!« Er packte Claudius an der Schulter, riß ihn in einer Viertel‐ umdrehung zu sich herum und stieß ihn dann mit aller Kraft von sich weg. Es sah aus, als würde der Oberkommissar eine Pirouette drehen. Blitzschnell wandte er sich zu Hugh und wollte auch nach seiner Schulter greifen. Hugh schlug mit der rechten Faust sofort zu und brach Ka‐ rim die Nase. Alle im Raum vernahmen das spezifisch dump‐ fe Knacken, wenn Knochen zu Bruch gehen. Der Araber tau‐ melte zurück und griff mit beiden Händen nach dem lädierten Teil, doch trotzdem schoß zwischen seinen Fingern ein Blut‐ schwall hervor und ergoß sich auf seine Jeanssachen. Die Kin‐ der, auch der Junge, brachen in ein schrilles Heulen aus, Ai‐ 388
scha schwebte zu ihrem Schloßherrn, und der Konvertit, des‐ sen Gesichtszüge nun ziemlich entgleist wirkten, streckte die Arme himmelwärts und hob allen Ernstes zu einem Gebet in arabisch an. Hugh zog die Walther P5 aus dem Schulterholster, stürzte sich auf Karim und schleuderte ihn zu Boden. Dann setzte er sich rittlings auf den Brustkorb des blutüberströmten Mannes, ergriff mit der linken Hand seine Wangen, preßte diese mit Daumen und Zeigefinger zusammen, so daß Karim ein Fischmaul formte. Anschließend stieß Hugh ihm die Mün‐ dung der Pistole gegen seine Zähne. »Mach das Maul auf!« brüllte er. »Mach das verdammte Maul auf, du Kamelficker!« Claudius, der Konvertit, Aischa, ja sogar die Kinder zogen an seinen Beinen und Schultern und versuchten, ihn mit ver‐ einten Kräften von Karim herunterzuholen. Doch der Wutan‐ fall verlieh Hugh schier übernatürliche Kräfte und ließ ihn wie ein Kaugummi an dem Widersacher kleben. Das Gekreische der Kinder, Claudius’ Rufe zum Einhalt und das Flehen des Konvertiten blendete er völlig aus. Im hintersten Winkel sei‐ nes von brodelnder Lava durchfluteten Hirns erkannte Hugh diffus die Ursache für seine plötzliche Wut. Sie hing auf eine vertrackte Weise mit dem Anblick von Aischas nacktem Kör‐ per zusammen, der Tatsache, daß sogar dieser auf Stütze an‐ gewiesene Macho eine Familie sein eigen nannte, und mit Hughs eigenem Versagen auf diesem Gebiet. Dann aber wur‐ de auch diese letzte vage Einsicht von der Lava begraben, und die Rage kehrte mit doppelter Intensität zurück. Er drückte 389
die Pistolenmündung so fest gegen die Zähne des Arabers, daß dieser den Mund schließlich öffnete und Hugh den Lauf bis zur Hälfte hineinstoßen konnte. »Na, wie fühlst du dich jetzt, Karim?« fragte Hugh den Mann unter sich, der sein eigenes Blut schluckte, um daran nicht ersticken zu müssen. »Ich will wissen, wie du dich jetzt fühlst. Fühlst du dich immer noch so stark wie eben? Bist du jetzt immer noch der starke Mann, der bei seinen Gastgebern auf den Tisch scheißen darf, weil ihn irgendwelche schwulen Gesetze vor Konsequenzen schützen? Du verstehst mich nicht? Ich wette, das tust du doch, du Arschloch! Also sag mir, wie du dich jetzt fühlst, bevor ich dir dein beschissenes Hirn rausblase!« Karim starrte ihn von unten durch wie vereist wirkende Au‐ gen an. In diesem Moment nahm Claudius Hughs Hals von hinten in einen Klammergriff und brachte seine Lippen ganz nah an sein Ohr. »Ich schwöre Ihnen, Juch, wenn Sie mit dem Theater nicht augenblicklich aufhören, werde ich dafür sor‐ gen, daß Sie noch heute aus dem Polizeidienst entlassen wer‐ den! Und das ist keine leere Drohung.« »Sie brauchen Urlaub, Abstand zu dem Fall, was auch im‐ mer«, sagte Claudius, als sie wieder vor der Tür des herunter‐ gekommenen Gebäudes standen. Sie hatten für Karim einen Notarzt rufen wollen, was dieser jedoch strikt abgelehnt hatte. Offenbar erlaubte ihm sein Ehrgefühl nicht, sich von denjeni‐ gen helfen zu lassen, die ihn gedemütigt hatten. Wie er seine zertrümmerte Nase wieder hinkriegen wollte, blieb ihm selbst 390
überlassen. Sie hinterlegten ihre Visitenkarten, falls er sich über den Zwischenfall im Polizeipräsidium beschweren oder deswegen gar einen Anwalt einschalten wollte. Das orientalische Treiben um sie herum ging in dem immer stärker werdenden Schneefall seinen gewohnten Gang. Alte Männer mit weißen Bärten und Gebetsketten in den Händen und Kopftuchfrauen, hier und da sogar Ganzkörperver‐ schleierte zogen an ihnen mit einem Gleichmut vorüber, als wären sie Figuren aus einem Fantasyfilm, die nicht gemerkt haben, daß ein Regisseur sie aus ihrer mittelalterlichen Welt in die moderne hineinkopiert hat. Aber vielleicht zeigte die Stra‐ ße auch nur ein Bild der nahen Zukunft. Weder Claudius noch Hugh hatten je irgendwo anders so viele Frauen einen Kin‐ derwagen vor sich herschieben sehen. »Menschenskind, ich erkenne Sie ja kaum wieder«, fuhr Claudius fort. »Sie sollten eigentlich auf mich, den Irren, auf‐ passen und nicht ich auf Sie, den gleichgültigen Schnösel. Was ist denn mit Ihnen los? Noch einen von diesen Ausfällen kann ich jedenfalls nicht verantworten.« »Was regen Sie sich so auf, Herr Claudius?« erwiderte Hugh. Seine Kleidung war überall mit Karims Blut befleckt, am auf‐ fälligsten am Schritt, weil er auf ihm gesessen hatte. Es sah aus, als wäre ihm ein peinliches Malheur unterlaufen. »Der Wichser hat Sie angegriffen, und bei mir wollte er es auch ver‐ suchen. Hätte ich ihm etwa den Rücken massieren sollen, da‐ mit er sich wieder abregt?« Er steckte die Hände in die Ta‐ schen seines Mantels. »Besser, als ihm eine Kanone in den Mund zu rammen. Ha‐ 391
ben Sie so etwas im Kino gesehen?« Hugh machte ein komisches Gesicht, worauf Claudius’ Är‐ ger vollends in Empörung umkippte. Erst flippte ihm der mo‐ dische Lackaffe zum zweiten Mal in diesem Fall völlig grund‐ los aus und verlor die Kontrolle über sich, und nun schnitt er auch noch alberne Clownsgrimassen. Dann aber zog sein As‐ sistent aus der linken Manteltasche so vorsichtig, als entschär‐ fe er eine Sprengladung, ein gefaltetes gelbes Papier heraus und betrachtete es mit ungläubigem Blick. Claudius wurde sofort klar, daß sich Hughs seltsamer Gesichtsausdruck auf dieses Papier und nicht auf seine Worte bezogen hatte. Ebenso neugierig nahm er es ebenfalls in Augenschein. »Was ist das?« fragte er. »Keine Ahnung. Als wir eben hinein sind, hat es jedenfalls noch nicht in meiner Tasche … Moment mal, bevor Karim in die fröhliche Runde platzte, habe ich den Zettel in Aischas Hand gesehen. Sie muß ihn mir heimlich zugesteckt haben, als ihr alle versucht habt, mich von dem Kerl herunterzuholen.« Er faltete das Papier auseinander. Es war ein Werbeprospekt des Goldtaler‐Marktes, einem Discounter, der sich mit Aldi und Konsorten im Wettbewerb befand. Auf den ersten Blick waren darauf nur die üblichen knalligen Sonderangebote zu‐ meist von Lebensmitteln zu sehen, alles im marktschreieri‐ schen Layout und schwindelerregenden Durcheinander. Der gewöhnliche Werbemüll, der täglich die Briefkästen verstopft. Dann aber sprang Claudius aus dem grellen Allerlei etwas Bemerkenswertes ins Auge. Er erkannte im rechten unteren Winkel eine mit einem groben Stift gemalte Uhr. Die Zeiger 392
standen auf halb fünf. »Können Sie mir erklären, was das zu bedeuten hat?« fragte er. »Ich habe da eine Vermutung. Aischa ist Analphabetin, kann aber die Uhr lesen. Sie hat es im Bad gezeichnet, während wir mit den Kindern geredet haben. So wie es aussieht, mit einem Kajalstift. Sie will irgendwie mit mir Verbindung aufnehmen, ohne daß Karim davon erfährt, und erwartet mich um halb fünf an einem bestimmten Ort. Aber wo?« »Jetzt habe ich eine Vermutung«, sagte Claudius. »Aischa kommt bestimmt selten aus dem Haus. Doch so ein Pascha wie Karim wird sich nicht herablassen, den täglichen Fami‐ lieneinkauf zu erledigen. Die einzige Freiheit, die Aischa ge‐ nießt, ist einmal am Tag der Gang zum nächsten Goldtaler‐ Markt und wieder zurück.« »Ja, das ergibt Sinn«, sagte Hugh und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir haben jetzt nach drei. Ich erkundige mich nach einem Goldtaler‐Markt in nächster Nähe, halt dann dort die Augen offen und …« »Moment mal, ich komme natürlich mit«, unterbrach ihn Claudius. »Das halte ich für keine so tolle Idee. Aischa hat den Zettel mir in die Tasche gesteckt und nicht Ihnen. Deshalb nehme ich an, daß sie sich nur mit mir treffen möchte. Weiß der Himmel, warum. Falls wir dieses Bilderrätsel überhaupt rich‐ tig gedeutet haben. Nehmen Sie den Mercedes, fahren Sie nach Hause, und lesen Sie das Zeug, das ich Ihnen ausged‐ ruckt habe. Wir telefonieren später miteinander.« 393
Er reichte Claudius den Wagenschlüssel. Der schaute ihn lange und nachdenklich an. Urplötzlich entstand eine Stim‐ mung, die sie beide überraschte und seltsam berührte. Die Schneeflocken schienen nun wie zeitlupenlahm auf die Welt zu schweben, und auch die Bewegungen der Leute in der Gasse muteten wie gedehnt an. Alles lief langsamer, und die beiden Männer kamen dieser geheimnisvollen Stimmung de‐ sto mehr auf die Spur, je länger sie einander betrachteten. Claudius, der kantige Tresor mit den wurstigen Falten an der Stirn, den blauen Augen und einer schroffen Gebirgsland‐ schaft von Gesichtshaut. Und der schöne Hugh mit den dün‐ nen, langen Koteletten und dem spitzen Unterlippenbärtchen. Schließlich grinsten sie sich wissend an, und in Gedanken formten sie beide das Wort, das diese Stimmung am treffend‐ sten beschrieb: Abschied … »Sie geben mir einfach so den Schlüssel zu Ihrem geliebten Mercedes, Juch?« fragte Claudius. »Ich glaube, Sie brauchen wirklich Urlaub!« »Wissen Sie, Opi, ich bin der Meinung, daß Sie inzwischen reif für den Mercedes sind«, entgegnete Hugh. »Ich vertraue Ihnen. Ach, übrigens: Es heißt nicht Juch, sondern Jhuhh, H‐u‐ g‐h, englisch ausgesprochen, verstehen Sie? Nennen Sie mich doch einfach Hugo.«
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22. Die Glasschiebetüren öffneten sich, und Hugh betrat den Goldtaler‐Markt, den die üblichen Neonstangenreihen an der Decke in ein depressionsförderndes, fahles Licht tauchten. Schäbig gekleidete, wie ein Teil des billigen Warenangebots wirkende Menschen, vereinzelt aber auch schnäppchensüch‐ tige Barbour‐Jacken‐Träger, denen einer abging, wenn sie ei‐ nen vermeintlichen Bordeaux für zwei Euro achtzig ergatter‐ ten, schoben sich wie von der Lebensmittel‐ und Elektroin‐ dustrie wiedererweckte Tote zwischen den Regalreihen ent‐ lang. Während Hugh sich schnellen Schrittes in Richtung des Drehkreuzes am Eingang bewegte, fiel ihm eine Gestalt an einer der Kassen auf, die gerade ihre Einkaufssachen in zwei Plastiktüten verstaute. Der etwas klein geratene Mann hatte graumelierte Haare und sah in seinem korrekten Tweedanzug ein bißchen so aus wie Mr. Bean in der dunkelhäutigen Va‐ riante. Er kam Hugh von irgendwoher bekannt vor. Und wie zur Bestätigung erwiderte der Kerl just in diesem Moment seinen neugierigen Blick, grinste ihn freundlich an, packte schnell seine letzten Sachen in die Tüten und eilte dann auf ihn zu. Hugh machte halt und setzte ein hölzernes Lächeln auf. »Guten Tag, Herr Kommissar«, sagte der Mann, als er vor ihm stand. »Wie geht es Ihnen?« Plötzlich verwandelte sich sein Grinsen in einen erschrocke‐ 395
nen Ausdruck, er stellte die Tüten ab und starrte auf die nun‐ mehr ausgetrockneten und schon ins Bräunliche gehenden Blutflecken an Hughs Kleidung. »Sind Sie etwa verletzt?« Mit einem Mal erkannte Hugh ihn wieder. Es war Dr. Habi‐ bi, der persische Arzt, der Zeuge geworden war, wie Hugh im Franz‐von‐Assisi‐Krankenhaus an Norbert Kowalski seinen ersten Folterversuch unternommen hatte. Der hatte ihm noch gefehlt! Die ganze Sache war ihm schon peinlich genug, aber was mußte der Herr Doktor wohl jetzt über ihn denken? Daß er Folter hauptberuflich betrieb? Allerdings war dieser Ver‐ dacht gar nicht so weit hergeholt, wenn er bedachte, wie blu‐ tig sein Leben in den letzten Wochen verlaufen war. Pech nur, daß er, nachdem er Karim die Nase gebrochen hatte, ausge‐ rechnet demjenigen wieder in die Arme laufen mußte, dessen erster und einziger Eindruck von ihm der eines Folterknechts gewesen war. Doch auch der gute Doktor war nicht frei von Schuld. Er hatte während der unappetitlichen Aktion schön weggeschaut. »Keine Sorge«, sagte Hugh und bemühte sich, locker zu klingen. »Ich wurde eben zu einem Unfall gerufen, bei dem es viele Verletzte gab, und da …« »Ich dachte, Sie arbeiten an dieser Sache mit den entführten Kindern?« Dr. Habibi hob eine Augenbraue. »Wissen Sie, ich verfolge die Geschichte in den Medien, und bei uns im Kran‐ kenhaus hatten wir ja auch ein bißchen damit zu tun. Immer‐ hin habe ich selbst drei Kinder, und da ist mein Interesse na‐ türlich geweckt.« Hugh schluckte und versuchte möglichst, ihm nicht direkt in 396
die Augen zu schauen. »Ich kann Sie beruhigen, Dr. Habibi, wir haben den Täter praktisch schon in der Tasche. Aber zwi‐ schendurch müssen wir uns halt auch um andere Dinge kümmern. Sie müssen mich jetzt leider entschuldigen, weil ich noch schnell etwas fürs Abendessen besorgen muß. Ich habe gehört, hier gäbe es die beste Tiefkühlpizza.« »Natürlich, natürlich«, sagte Dr. Habibi und ergriff wieder seine Tüten. »Ich wünsche Ihnen und Ihren Kollegen viel Er‐ folg bei Ihrer Suche nach diesem schlimmen Mörder. Hoffent‐ lich werden die restlichen neun Kinder noch gerettet, bevor er ihnen etwas antun kann. Auf Wiedersehen, Herr Kommissar!« Hugh deutete einen lauwarmen Abschiedsgruß an, dann wandte er dem Arzt sofort den Rücken zu. Am liebsten hätte er sich bekreuzigt, weil die peinliche Begegnung endlich hin‐ ter ihm lag. Er tat ein paar Schritte vorwärts, doch Habibis letzte Worte echoten in seinem Kopf hartnäckig weiter. Irgen‐ detwas, eine verflixte Kleinigkeit, schien fehlerhaft. Er über‐ legte angestrengt – und nach ein paar Sekunden wußte er es. Obwohl es blanker Unsinn war, drehte er sich wieder um. »Ach, Dr. Habibi!« rief er dem Arzt nach, der inzwischen fast schon die automatischen Schiebetüren erreicht hatte. Dr. Ha‐ bibi blieb stehen und drehte sich wieder mit einem Lächeln Hugh zu. »Es sind nicht neun Kinder, die dieser Kerl gefangenhält, sondern zehn.« Dr. Habibis freundliches Lächeln verwandelte sich nun in ein unglückliches. Geradezu bedächtig kehrte er mit seinen Tüten zu Hugh zurück. 397
»Ich weiß«, sagte er. »Im Fernsehen und in den Zeitungen berichten sie noch, daß zwölf Kinder entführt wurden, und zwei von ihnen hat er bereits umgebracht. Aber ich fürchte, ein weiteres Kind ist schon längst tot.« »Wie bitte?« Hugh hatte das Gefühl, als hätte man ihm in diesem Augenblick ebenfalls die Nase gebrochen. »Ich dachte, Sie wüßten es schon.« »Was?« »Na ja, kurz bevor diese gräßliche Entführungsserie begann, habe ich in der Kinderstation gearbeitet. Wir hatten dort die‐ sen fünfjährigen Jungen, der schwer und unheilbar an Leu‐ kämie erkrankt war. Die Chemotherapie schlug nicht an, und auch die Medikamente bewirkten nichts weiter, als nur das Leiden zu verlängern. Es ging mit ihm täglich bergab, und von Tag zu Tag wurden seine traurigen Augen noch trauriger. Schließlich hatte die Mutter, die schon halb wahnsinnig vor Kummer war, beschlossen, ihn zu Hause in seiner vertrauten Umgebung sterben zu lassen. Meine Kollegen und ich waren von der Idee zunächst nicht begeistert. Die Medikation war ziemlich kompliziert, weil die vielen Präparate in bestimmter Reihenfolge und zu unterschiedlichen Zeiten verabreicht werden mußten. Die Frau erklärte sich jedoch bereit, bei uns einen Schnellkurs in dieser Sache machen, und so haben wir schließlich unser Okay gegeben. Etwa drei Monate später lese ich in der Zeitung, daß gerade dieses Kind auch entführt wurde. Mich hat es gewundert, daß der Kleine überhaupt so lange durchgehalten hat. Und noch etwas hat mich gewun‐ dert: In dem Artikel stand nichts von der Leukämie. Aber 398
dann dachte ich, daß die Polizei diese Information bewußt zurückhält, um das Ausmaß des Schreckens nicht unnötig an die Öffentlichkeit zu tragen. Wenn der Junge bis jetzt nicht an seinem Krebsleiden gestorben ist, und das ist höchst unwahr‐ scheinlich, dann mit absoluter Sicherheit an den fehlenden Medikamenten.« »Wissen Sie noch, wie der Junge hieß?« fragte Hugh. »Nein, leider nicht. Aber ich kann mir die Krankenakte gleich morgen früh heraussuchen und Ihnen alle Daten durchgeben.« »Tun Sie das«, sagte Hugh und überreichte ihm seine Visi‐ tenkarte. »Können Sie sich vielleicht erinnern, um das wieviel‐ te entführte Kind es sich bei dem Krebsjungen gehandelt hat?« Dr. Habibi zuckte bedauernd mit den Schultern und lächelte wieder freundlich. Nachdem der Doktor sich endgültig verabschiedet hatte, trieb sich Hugh noch eine halbe Stunde lang ziellos zwischen den neonbeschienenen Discounter‐Zombies herum. Doch die Zeit raffte sich in seiner Wahrnehmung, kam ihm wie ein Wimpernschlag vor. Wie in einem Kaleidoskop schwirrten in seinem Kopf unzählige Gedanken umher und suchten nach den passenden Fugen, damit es wie bei einem Kombinations‐ schloß irgendwann Klick! machte. Einiges ergab für ihn sofort einen Sinn, anderes wiederum wollte sich ihm selbst nach der zigsten Betrachtung partout nicht erschließen. Es machte ein‐ fach nicht Klick! Und doch wußte er, daß er eigentlich bereits alle erforderlichen Zahlen des Codes kannte, es jedoch bei deren richtiger Kombination haperte. 399
So sehr war er mit Grübeln beschäftigt, daß er Aischa zu‐ nächst gar nicht kommen sah. Sie schob in ihrem wallenden schwarzen Schleier den Einkaufswagen vor sich her wie eine düstere Windhose das Gerümpel. Im Vorbeigehen streifte sie Hughs Seite, und obwohl sie ihn dabei nicht beachtete, ver‐ stand er diese Geste als Aufforderung, ihr zu folgen. Sie bog um mehrere Regalreihen, legte diesen und jenen Artikel in ihren Wagen, befühlte Obst zur Überprüfung des Reifesta‐ diums und benahm sich so gelassen, als sei dies ein ganz ge‐ wöhnlicher Einkauf. Hugh aber wußte es besser: Es war jetzt genau halb fünf. Als Aischa wieder einmal hinter einer Regalreihe ent‐ schwand und er ihr in gebührendem Abstand nachging und dann ebenfalls um die Ecke bog, war sie plötzlich weg. Hugh blieb stehen und blickte sich um. Der Teil des Supermarktes, in dem er sich nun befand, war ziemlich unübersichtlich. Be‐ tonpfeiler und klobige Vitrinenschränke hatten der Regal‐ anordnung hier eine wirre Architektur aufgezwungen, so daß enge Gänge, Einbuchtungen und Sackgassen entstanden war‐ en. Manch ein verschatteter Bereich mutete wie ein ideales Versteck an, wenn man sich in dem Laden über Nacht ein‐ schließen lassen wollte. Hugh tappte eine Weile in diesem kleinen Labyrinth umher, bis ihm plötzlich aus dem schumm‐ rigsten Winkel zwei glühende Augen entgegenstarrten. Aischa, die in ihrem Schleier eine Einheit mit der Dunkelheit um sie herum bildete, stand reglos hinter einem Pfeiler. Hugh begab sich zu ihr und lächelte sie erwartungsvoll an. Er glaub‐ te, daß sie das Gespräch eröffnen würde. Doch sie sagte kein 400
Wort, sondern zauberte unter ihrem Schleier eine arg zer‐ knüllte Fotografie hervor und hielt sie ihm entgegen. Die Aufnahme zeigte Abdullah. Vermutlich war es das gleiche Bild, das Hugh auch in der Akte über den Jungen hatte. Er öffnete den Mund, um ihr eine Frage zu stellen, aber sie ging nicht darauf ein und deutete mit dem behandschuhten Zeige‐ finger erst auf das Foto und dann nach oben zu dem hinter ihnen befindlichen Deckenabschnitt. Hugh hob den Kopf und blickte nach oben. Zunächst konnte er dort außer einer Neon‐ lichtschiene nichts Besonderes ausmachen. Doch dann fiel ihm die an der Schiene befestigte Überwachungskamera auf, deren rotes Kontrollicht an der Seite kontinuierlich blinkte. Das Ob‐ jektiv zielte genau auf die verschattete Ecke, in der sie stan‐ den. Aischa steckte das Bild wieder weg, legte den Zeigefinger an die Mundpartie des Schleiers und signalisierte ihm so das internationale Zeichen für Schweigen. Er erkannte durch den Schlitz im schwarzen Stoff, daß ihre Kohleaugen nun mit ei‐ nem Tränenfilm überzogen waren. Nach diesem kurzen Intermezzo schob sie ihren Einkaufs‐ wagen wieder weiter. Hugh schaute ihr noch lange nach, wie sie so verloren wie ein Alien zwischen den supergünstigen Angeboten ihre Kreise zog, bis sie endgültig hinter einem Re‐ gal verschwand. Er versuchte, sich einen Reim auf die Panto‐ mime zu machen. Was hatte sie damit ausdrücken wollen? Einen Verdacht? Die naheliegendste Erklärung drängte sich ihm auf: Abdullah war hier an dieser Stelle entführt worden, und sie glaubte oder war sich sicher, daß die Überwachungs‐ kamera den Vorgang aufgezeichnet hatte. Aber weshalb hatte 401
sie dann die gleiche Pantomime nicht direkt nach der Entfüh‐ rung des Jungen vor den Kollegen von der Sonderkommission aufgeführt? Warum jetzt erst der Tip? Hugh wurde unruhig. Seine Augen fahndeten nach einer Tür, auf der »Personal«, »Betreten verboten« oder etwas Ähn‐ liches stand. Er rannte durch den ganzen Laden und riß jede Tür auf, an der er vorbeikam. Doch außer einer schmutzigen Toilette, einem bis zur Oberkante vollgestopften Lager und einem leeren Raum, in dem ein langer Tisch mit roten Plastik‐ stühlen und der Mief von hunderttausend gerauchten Zigaret‐ ten stand, bekam er nichts Brisantes zu sehen. Dann fand er schließlich eine unscheinbare Tür in einem halb von Pappkar‐ tons zugestellten Bereich und öffnete sie. Das aus Rigipsplat‐ ten errichtete Kabuff umfaßte höchstens acht Quadratmeter, war extrem niedrig und enthielt schon aus der Distanz er‐ kennbar ziemlich veraltete Technologie zur visuellen Überwa‐ chung. Auf einer Bank war eine Batterie von Schwarzweiß‐ bildschirmen befestigt, die jeden Winkel des Goldtaler‐ Marktes zeigten. Aufzeichnungsgeräte, eine primitive Video‐ schnittanlage, kaputte, teils ausgeweidete Kameras und sta‐ pelweise noch verpackte Videokassetten füllten den Raum. Auf einem Drehstuhl vor den Bildschirmen saß ein unglaub‐ lich fetter, hünenhafter Mann, der etwas von einem gestrande‐ ten Wal hatte. Er besaß schüttere Haare, ein Mondgesicht, Bauch und Oberschenkel vom Umfang von mindestens fünf Afrikanern aus der Sahelzone und vertilgte gerade einen Big Mac. Als Hugh in den Raum platzte, wandte er sich mit einer Mischung aus Überraschung und Verärgerung von den Bild‐ 402
schirmen zu ihm. »Kriminalpolizei!« sagte Hugh und zeigte ihm seine Marke. Der Wal tat unbeeindruckt und kaute weiter an seinem Hamburger. »Heute war es ruhig«, sagte er. »Bis jetzt habe ich keinen von denen gesehen.« »Was meinen Sie?« »Na, Ladendiebe.« Hughs Blick driftete nach unten zu den Füßen des Riesen. Unter der Bank befand sich ein grauer Metallschrank, dessen Tür einen Spaltbreit offenstand, jedoch keine ungehinderte Sicht ins Innere erlaubte. »Das ist nicht der Anlaß meines Besuches, Kumpel. Ich will wissen, ob ihr hier auch alte Überwachungsvideos, sagen wir, von den letzten acht, neun Monaten aufbewahrt.« »Sind Sie verrückt? Das ist gegen den Datenschutz. Ich muß die Aufzeichnungen nach vierundzwanzig Stunden wieder löschen. Es sei denn, es handelt sich um gerichtsverwertbares und allein diebstahlrelevantes Beweismaterial. Außerdem zeichne ich sowieso nur sporadisch auf.« »Es existieren sonst überhaupt keine alten Videos in diesem Raum?« »Nö!« Der Wal stopfte sich den Rest des Hamburgers in ei‐ nem Stück in seinen gewaltigen Mund und beförderte ihn nach einer vernachlässigbaren Kauanstrengung in den gewal‐ tigen Bauch. Hugh trat mit aller Wucht gegen den Schrank, worauf die Tür donnernd aufflog und daraus ein Schwall von Videokas‐ setten herausgefallen kam. Sie türmten sich auf dem Boden zu 403
einem kleinen Haufen auf. »Und was ist das?« Der Wal machte vor Schreck einen Rülpser, und sein Mond‐ gesicht sah von einem Moment zum anderen so aus, als sei ein Amboß daraufgefallen. »Das …«, sagte er kleinlaut. »Das ist nur privates Zeug.« »Hör zu, Moby Dick, an deiner Stelle würde ich mir zweimal überlegen, was ich jetzt von mir gebe.« Hugh nahm einige der Kassetten in die Hand. Fast alle sahen abgegriffen, einige so‐ gar beschädigt aus und trugen entweder Etiketten mit Jahres‐ zahlen oder waren mit Abziehbildchen beklebt. »Wenn du Glück hast, wirst du den Onkeln vom Datenschutz zum Fraß vorgeworfen und mußt dir dann deine Hamburger als Aushil‐ fe bei McDonald’s selber braten. Hast du aber Pech, bist du ganz schnell in eine üble Mordserie verwickelt, die deinem fetten Arsch ziemlich zu schaffen machen dürfte. Also, was sind das für Filme?« »Jetzt weiß ich, woher der Wind weht«, sagte der Dicke. Schweißperlen rannen ihm die Stirn herunter. »Sie sind von der Mordkommission, die den Kinderkiller sucht, stimmt’s? Und weil dieser Araberjunge hier in der Gegend entführt wurde, glauben Sie, daß das Ganze vielleicht hier passiert ist und ich Aufnahmen davon besitze. Da muß ich Sie aber ent‐ täuschen. Das ist wirklich nur privates Zeug, alles hier im Markt aufgenommen. Nehmen Sie es ruhig mit, und schauen Sie es sich an.« »Und was kriege ich dann zu sehen?« »Lustige Sachen. Wie eine Oma sich aus der unteren Regal‐ 404
reihe Spülmittel holen will und dabei auf die Schnauze fällt, so daß ihr das Gebiß wegfliegt. Wie ein Ladendieb eine Fla‐ sche Salatöl in die Hose steckt, und die ganze Soße läuft ihm dort aus. Wie eine Hausfrau so lange auf den Deckel eines Joghurtbechers klopft, bis das Zeug ihr plötzlich ins Gesicht explodiert. So Sachen halt. Wissen Sie, dieser Job ist scheiß‐ langweilig. Die meiste Zeit passiert rein gar nichts. Na ja, und aus den seltenen Höhepunkten schneide ich so Privatfilmchen zusammen und führe sie auf Betriebsfeiern auf oder tausche sie mit den Kollegen von anderen Märkten aus. Ich habe auch eine Best‐of‐Kassette an die Pannenshow von Super RTL ge‐ schickt, aber die wollten sie nicht haben.« »Da taucht keine einzige merkwürdige Situation mit einem kleinen Jungen auf?« »Keine einzige. Außerdem sind die meisten Aufnahmen uralt. Manche habe ich schon vor zehn Jahre gemacht.« Hugh erhob sich mit einem frustrierten Seufzer und ergriff die Türklinke. Aischas pantomimischer Hinweis würde wohl für immer ein Rätsel bleiben. Der Wal auf dem Drehstuhl machte inzwischen den Eindruck eines harpunierten Heiß‐ luftballons, aus dem die Hälfte der warmen Luft entwichen ist. Hugh wollte gerade gehen, als ihm eigentlich nur aus pu‐ rer Verzweiflung noch eine letzte Frage einfiel. »Was ist denn das absolute Highlight auf deiner Best‐of‐ Kassette?« »Schwer zu sagen. Vielleicht, wie zwei Leute hier gepoppt haben. Und das während der normalen Geschäftszeit. Ich ha‐ be den Verdacht, das war der wahre Grund, weshalb Super 405
RTL das Material abgelehnt hat. Das ist vielleicht ein ver‐ klemmter Verein!« »Zeig es mir!« Der Wal kramte eine Weile in dem Haufen von Videokasset‐ ten auf dem Boden herum, und als er das gesuchte Band end‐ lich gefunden hatte, dauerte es noch einmal so lange, bis er es in den Videorecorder hineingeschoben und zum Laufen ge‐ bracht hatte. Danach spulte er den Schwarzweißfilm im Schnelldurchlauf vorwärts. Es waren ausschließlich unsäglich schlechte, statische Aufnahmen der Regalreihen aus schräger Vogelperspektive zu sehen. Irgendwo in der Mitte schaltete der Dicke wieder auf normale Abspielgeschwindigkeit um. Das auf dem Bildschirm zu sehende Geschehen spielte sich genau in dem düsteren Teil des Marktes ab, wo Aischa und er sich noch vor ein paar Minuten begegnet waren. Es gab nicht den geringsten Zweifel darüber, daß das Bild von jener Kame‐ ra stammte, auf die sie eben hingewiesen hatte. Nur verbarg sich hinter dem Pfeiler jetzt nicht die Schleierfrau, sondern ganz offenkundig eine männliche Gestalt. Der Kerl hielt sich im Schatten des Pfeilers auf, zudem taten die erbärmlichen Aufnahmeverhältnisse und die Spuren des Bandverschleißes ihr übriges, um seine Identität unkenntlich zu machen. Alles wirkte diffus, konturlos, ohne Tiefenschärfe und wie ausgebli‐ chen. Doch was Hugh den Atem stocken ließ, war weniger der Ort, sondern das oben im rechten Winkel leuchtende Anzei‐ genfeld für Datum und Uhrzeit. 5. ]un. 1999/16:41 stand es dort wie eingebrannt. »Scheiße, geht das nicht ein bißchen schärfer!« sagte Hugh 406
ungeduldig. »Nee, das Material hat einiges auf dem Buckel.« Der Wal fummelte an den Drehknöpfen des Monitors für Helligkeit und Kontrast. »Die Magnetschicht auf dem Band baut im Lauf der Jahre ab. Aber ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Da kommt nichts mit einem Jungen vor.« »Pscht«, machte Hugh. Von rechts trat nun eine Frau ins Bild. Es war eine um Jahre jüngere Aischa, eine Aischa, die anstatt des Schleiers ein nor‐ males westliches Kleid trug. Vielleicht hatte sie das schwarze Stück vorher ausgezogen und irgendwo im Markt versteckt. Während sie der Kamera den Rücken zuwandte, nahm der Schattenmann sie in seine Arme, und sogleich begannen sie sich heftig zu küssen. Ihre fieberhafte Körpersprache signali‐ sierte, daß sie es eilig hatten. Vor allem bekam man den Ein‐ druck, daß sie sich schon seit einer Weile kannten und sich öfters an diesem geheimen Ort verabredet hatten. Wußten sie nichts von der Kamera? Unwahrscheinlich. Zumindest der Mann mußte von seinem Standpunkt aus geradewegs ins Ob‐ jektiv schauen. Vielleicht wollte er es so – er wollte es doku‐ mentiert haben. Der Mann löste sich aus der Umklammerung, ließ die Hand in seinem Schrittbereich verschwinden und machte dort et‐ was, das man nicht genau erkennen konnte. Dann hob er die junge Frau hoch. Sie klammerte ihre Oberschenkel um seine Taille und schwebte nun quasi frei, wobei sie ihre Arme um seinen Hals schlang. Offenkundig trug sie keinen Slip, denn die folgenden rhythmischen Stoßbewegungen ließen keinen 407
Zweifel daran, daß er ohne Umstände in sie eingedrungen war. Die ganze Akrobatik dauerte höchstens zwei Minuten, und doch war sie voll glühender Leidenschaft. Nachdem bei‐ de augenscheinlich gekommen waren, trennten sie sich vonei‐ nander so übereilt, wie sie zusammengetroffen waren. Sie strichen ihre Kleidung glatt, gaben sich einen letzten Kuß und gingen in die jeweils entgegengesetzte Richtung auseinander. »Stop!« rief Hugh, und der Dicke ließ die Szene per Knopf‐ druck sofort zum Standbild gefrieren. Der Mann, der nach links gehuscht war, präsentierte sich im Profil, allerdings auch in starker Unschärfe und, weil die automatische Blende der Kamera auf seine Bewegungen einen Tick zeitverzögert rea‐ giert hatte, etwas überbelichtet. Hugh konnte nur feststellen, daß die mysteriöse Gestalt blond und großgewachsen war. Und er bezweifelte, daß die Spezialisten im audiovisuellen Labor selbst unter Zuhilfenahme ausgetüftelter Computer‐ technik mehr aus diesem Gesicht herausholen würden als sein Auge. Er ließ sich die Aufnahme von dem Dicken noch ein paarmal vorführen. Doch eigentlich wußte er schon bis an die Grenze der Gewißheit, was es mit all den bunten Mustern im Kaleidoskop auf sich hatte, mit der Entführung der Kinder, mit »Die Siedler von Uris«, mit PARADIES4, mit Muschel, Fisch und Spinne, mit dem zum Schweigesignal erhobenen Zeigefinger einer arabischen Mutter, mit einem dauerzornigen Karim, der seinen kleinen Abdullah gar nicht zurückhaben wollte, insbesondere jedoch mit den vielen anderen traurigen Müttern. Nur eins wußte Hugh immer noch nicht: wie er das Kaleidoskop drehen und wenden mußte, damit die einzelnen 408
Muster sich zu einem klaren Bild zusammenfügten, und wie das eine mit dem anderen zusammenhing. »Haben Sie durch die Aufnahme irgendeine wichtige Er‐ kenntnis gewonnen?« wollte der Dicke noch wissen, als Hugh mit der Kassette in der Manteltasche das Überwachungska‐ buff verließ. »Ja«, sagte er. »Und welche?« »Daß all unser Tun auf Gottes Erden in der Pannenshow von Super RTL gezeigt werden sollte.« Draußen war es dunkel geworden, und das nachmittägliche Schneerieseln hatte sich in ein Schneegestöber verwandelt. Hugh hatte noch nichts zu Abend gegessen, ein mattes flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Doch es lag noch enorm viel Arbeit vor ihm, und eher würde er jetzt vor dem Goldtaler‐Markt einen Schneemann bauen, als sich in einen ruhigen Feierabend verabschieden. Er rief über das Handy die Zentrale an und bat um einen in der Gegend patrouillierenden Streifenwagen, der gerade keinen dringenden Einsatz hatte. Als die Kollegen ihn abholten, ließ er sich von ihnen zum Grand Hotel Luxor kutschieren. Dort betrat er die edle, mit Intarsien aus verschiedenfarbigem Marmor ausgestattete Empfangshalle und marschierte schnurstracks zu der Kamin‐ ecke. Kostbare Teppiche, hochwertige Ledersofas und Stand‐ leuchten mit warmem Licht um das knisternde Feuer machten diesen Teil der Nobelherberge zu einer Oase des Wohlbeha‐ gens. Und zu einem Ort der romantischen Erinnerung, wenn man die Aufmerksamkeit der messinggerahmten und von 409
einer Glasscheibe geschützten Tafel gleich neben dem Kamin schenkte, an der Hunderte von Fotografien befestigt waren. Es war genau so, wie PARADIES4 es beschrieben hatte, das Mo‐ tiv der Fotos war immer gleich: vor dem Kamin in die Kamera lächelnde Paare, die alle einmal im Grand Hotel Luxor zu Gast gewesen waren. Hugh vertiefte sich in die Betrachtung der einzelnen Gesich‐ ter. Ihnen allen wohnte nur eine Botschaft inne: Ich war hier, ich war jung, ich habe gelebt! Besonders an den Frisuren der Frauen und an der Kleidermode war zu erkennen, daß einige der Bilder schon seit einer Ewigkeit an der Tafel prangten. Und dann fand er sie endlich: die junge Hedwig Rinke in ih‐ rem ausgewaschenen, lindgrünen Sonntagshemd und der schäbigen Jeans, die ausgemergelte Vogelgestalt mit den auf‐ gedunsenen Lippen auf dem Zenit ihrer Begehrlichkeit vor sieben Jahren. Und mit einem Wesen namens Udo in der Ge‐ bärmutter, noch wenige Zellteilungen alt. Neben ihr lächelte der Herr der Zeugung strahlend in die Kamera. Er sah aus wie ein Surfer aus kalifornischen Gefilden, mittellange hellblonde Haare, intensiv himmelblaue Augen, muskulös und von gro‐ ßer Statur. Er schien Anfang Dreißig zu sein und besaß jenen von Schalk, Heißblütigkeit, aber auch von jeder Menge Erotik geprägten Jungencharme, den die weibliche Welt unter der Rubrik attraktiv zu verbuchen pflegt. Ein Dressman‐Typ war er nicht, das sah man sofort. Nein, er war noch besser, hatte jene Art herber Ausstrahlung, die Frauen sich danach sehnen ließ, auch einmal sein Ding anzufassen, was sie ansonsten sehr ungern taten. Es war schon ein absonderlicher Anblick: hier 410
die unsichere Hedda, das Wrack in spe, wahrscheinlich die Plastiktüte in der Hand, in der die aus dem Zimmer geklauten Handtücher und der Bademantel steckten, und dort der Gott der Fruchtbarkeit, der Welt ins Gesicht lachend und seines Sieges gewiß. Hugh wandte sich an einen Angestellten von der Rezeption, hielt ihm seine Marke vor die Nase und ließ sich das Foto ge‐ ben. Dann fuhren ihn die Kollegen von der Streife aus der Stadt hinaus. Dreißig Kilometer lang begegneten ihnen links und rechts von der Straße nur verschneite Äcker und Wäldchen und hin und wieder ein abseits liegendes Familienhaus mit zuge‐ schneiter Kinderschaukel im Garten. Sie fuhren zu Sigbert Tale, dem nobelpreisverdächtigen Schriftsteller, und seiner Frau Linda, den Eltern des fünften entführten Kindes, Sylvia. Nach einer Dreiviertelstunde tauchte in der Ferne das einsame Gehöft auf. In dem wütenden Schneefall schien es mit seinen dämmerigen Fenstern, dem rauchenden Schornstein und dem bläulichen Schimmer auf dem schneebedeckten Walmdach einer Weihnachtskarte entsprungen. Der Streifenwagen bog in den Hof ein, der von dem großen Haupthaus und an den Flanken von kleinen Schuppen eingefaßt war. Hugh klingelte an der Tür. Nach einer sich ziemlich lange hinziehenden Weile wurde ihm geöffnet, und er riskierte über die Schulter des vor ihm stehenden Mannes einen Blick ins Innere des Hauses. Er war nicht überrascht, den vom Boden zur Decke überdimensionierten Raum zu erkennen. Das ent‐ kernte Innere war gefüllt mit abstrakten Plastiken und durch‐ 411
einander verlaufenden Gitterwänden und Paravents. Weit hinten vor dem Kamin saß Linda Tale auf einem alten Lehn‐ stuhl und schaute trübsinnig ins Feuer. Sie trug ein knielan‐ ges, hochgeschlossenes schwarzes Kleid und hielt in einer Hand einen Rosenkranz, als sei ihre kleine Tochter schon ge‐ storben. Der Chronist aus dem Weblog hatte sie treffend be‐ schrieben: Alles an der extrem hellhäutigen Frau war fein‐ gliedrig, und ihre hüftlangen Haare besaßen eine magisch funkelnde Schwärze. Doch die Hölle, durch die sie in den letz‐ ten Monaten gewandert war, hatte Muschel nur noch einen traurigen Rest ihrer einstigen Schönheit gelassen. Sie war nicht weniger ein Wrack als Hedda. »Haben Sie Sylvia gefunden? Oder etwa ihre Leiche?« fragte Sigbert Tale leise. Er schaute besorgt zu seiner Frau. Es war ihm anzusehen, daß er im Falle der schrecklichen Nachricht ihren endgültigen Zusammenbruch befürchtete. Der Mann war angezogen wie ein Professor für Vergleichende Litera‐ turwissenschaften, weite Hose und Weste aus braunem Cord‐ stoff, helles Baumwollhemd und eine Nickelbrille auf der Na‐ se. In seiner Hand glühte eine Pfeife. Der markante Ziegen‐ bart, die von einem ergrauten Kranz umgebene Halbglatze und der staatstragende Blick verrieten ihn unverkennbar als den berühmten Schriftsteller von dem Porträtfoto auf den Schutzumschlägen seiner Bücher. »Weder noch«, sagte Hugh. »Die Lage ist unverändert. Aber wir sind auf einer ganz heißen Spur.« »So?« Sigbert Tale nuckelte mit einem nachdenklichen Aus‐ druck an seiner Pfeife. 412
»Damit wir unsere aktuelle Hypothese bestätigen können, benötigen wir jedoch von Ihnen den Videofilm, den Sie im Juni 1999 in diesem Haus gemacht haben.« »Was meinen Sie damit? Ich habe nicht einmal eine Video‐ kamera.« Tale nahm die Pfeife aus dem Mund, der nachdenkliche Ausdruck wich schlagartig einem echauffierten. »Doch, die haben Sie, Herr Tale. Sie haben damit bestimmt schon sehr viele Filme gemacht.« »Wer soll denn auf diesem Film zu sehen sein?« »Die zwei osteuropäischen Schwarzarbeiter, die vermutlich dieses Gehöft renoviert haben, ein Mann, den Sie von einer Landstraße aufgelesen haben, und Ihre schöne Gemahlin. Und Sie haben sie alle gefilmt.« »Ja, jetzt entsinne ich mich allmählich«, sagte Sigbert Tale und sprach langsam, ganz so, als denke er voller Wehmut an die gute alte Zeit zurück. »Es war so etwas Ähnliches wie ein Richtfest, ich glaube, jemand hatte eine Kamera dabei und …« »Aber nein, Herr Tale, Sie wissen doch genau, daß auf die‐ sem Video weder ein Richtfest noch ein anderes Fest zu sehen ist.« »Sondern?« »Wie die Herrschaften über Stunden hinweg Ihre Frau ge‐ fickt haben, Herr Tale!«
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23. Richard Claudius saß alleine in seiner Wohnung und starrte nach langer Zeit wieder einmal die Wände an. Draußen gin‐ gen Kaskaden von fetten Schneeflocken auf die Stadt nieder und überzogen alles mit einem pappigen weißen Mantel. Er mußte eine Grundsatzentscheidung treffen und überlegte, ob man in seiner Jugend eine solche wichtige Entscheidung auch Grundsatzentscheidung genannt hatte. Er kam zu keinem Schluß, und darin lag wahrscheinlich der Kern des Problems. Er schleppte schon viel zuviel Vergangenheit mit sich herum, um sich noch etwas Neues auf den Buckel zu laden. Zum Glück hatte er eine Gefährtin, die vielleicht bereit war, die Last der Vergangenheit einträchtig mit ihm zusammen zu tragen: Erika. Gleichzeitig jedoch war sie auch ein Teil dieser Vergangenheit, sie spielte eine bedeutende Rolle in dem ka‐ putten Erinnerungsfilm. Das war Claudius’ Dilemma. Das Neue lockte in Gestalt von Marlis. Eine innere Stimme riet ihm davon ab, sich auf sie einzulassen. Seit ihrer ersten Nacht war er noch achtmal bei ihr gewesen – er zählte diese Treffen wie ein Pubertierender seine ersten Sexualkontakte. Jedesmal hatte er das Liliputanerhaus mit dem überwältigen‐ den Gefühl eines frisch Verliebten betreten und voller Scham und Gewissensbisse wieder verlassen. Er sah sich plötzlich als das Klischee eines alten Sacks, der die ältere Frau an seiner Seite wegen der Aussicht auf Frischfleisch stehen läßt und mit fliegenden Fahnen zu neuen Ufern aufbricht, auch wenn er 414
dabei mit Herzrhythmusstörungen zu kämpfen hat. Die Kari‐ katur eines alten verliebten Esels machte ihm schwer zu schaf‐ fen. Er versuchte sich mit wackeligen Ausreden aus dieser Misere zu retten, zum Beispiel mit der Feststellung, daß er ja schließlich von »der Frau an seiner Seite« schon längst ge‐ schieden sei. Und doch war gerade das eine faustdicke Selbst‐ lüge. Denn wenn er so toll geschieden war, weshalb hatte er dann direkt nach seiner Entlassung Erika einen Besuch abge‐ stattet? Warum rief er immer noch jeden Tag bei ihr an und tat so, als wäre nichts passiert, führte anregende Gespräche mit ihr und machte ihr unterschwellig Hoffnungen? Zu Recht also gesellten sich zur Scham die Gewissensbisse. Marlis war eine schöne, wenn auch schrullige Frau, die in den zurückliegenden Jahren in allerlei Kurioses verwickelt gewesen war, bis Svens Geburt ihrer Karriere als heilssuchen‐ de Lebenskünstlerin ein Ende gesetzt hatte. Auch sonst waren Claudius an ihr recht merkwürdige Verhaltensweisen aufge‐ fallen. Sie kaufte stets so viel Lebensmittel, als müsse sie für ein ausgehungertes Rudel kochen. Dennoch zeigte sich ihre Figur davon völlig unbeeindruckt, und er fragte sich hinter‐ her, wie sie das ganze Zeug wohl verwertete. Von einem Mo‐ ment zum anderen konnte ihre Stimmung wechseln. Ver‐ wöhnte sie ihn eben noch mit Zärtlichkeiten und schrägem Humor, gab sie sich im nächsten Augenblick tiefster Melan‐ cholie hin. Manchmal war er in der Nacht aufgewacht und hatte sie im Bett neben sich vermißt. Auf der Suche nach ihr war er dann durch die Wohnung geirrt, um sie dann entweder mit geröteten Augen vor dem Computer vorzufinden oder 415
überhaupt nicht. Sie erzählte später, daß sie an Sven gedacht und es nicht mehr zu Hause ausgehalten habe. Es hatte schon etwas Gespenstisches, wenn eine Frau von Mitternacht bis zum Morgengrauen einsame Spaziergänge unternahm. Dann wieder verhielt sie sich so, als sei ihr Sohn gar nicht entführt worden, sondern bloß für eine Weile ins Ferienlager gefahren. Sie schien der festen Überzeugung zu sein, daß er schon am nächsten Tag vor der Tür stehen würde. Was war es aber dann, das ihn immer wieder und immer häufiger zu ihr hinzog, als sei er ein alter Hund auf dem Weg zum Hinterhof eines Metzgers? All das! Ihre Schrulligkeit, ihre Unberechenbarkeit, ihr eigenwilliger Humor. Und letzten Endes doch ihr junger Körper und der urweibliche Duft, den dieser Körper gleich einer magischen Fabrik unermüdlich produzierte. Marlis war für Claudius zu einer Droge gewor‐ den, der er sich immer weniger zu entziehen vermochte. Wenn er sich dieser Droge gänzlich ergab, würde für ihn et‐ was vollkommen Neues beginnen, das wußte er. Kehrte er dagegen zu Erika zurück, würde es für ihn nicht nur eine komfortable Heimkehr sein, sondern auch der Anfang vom endgültigen Altern. Deshalb der heutige einsame Abend in den eigenen vier Wänden und deshalb der Drang, jetzt end‐ lich eine Grundsatzentscheidung zu treffen. Nebenbei wollte er sich das Tagebuch zu Gemüte führen, das Hugh ihm gegeben hatte. Eine Art Test für in die Jahre gekommene Ermittler sollte es wohl sein. Claudius zündete sich eine Rothändle an und machte es sich mit den Seiten in seinem Ohrensessel gemütlich. Plötzlich erinnerte er sich dar‐ 416
an, daß sein Assistent ihn nach dem Treffen mit Aischa eigent‐ lich hatte anrufen wollen. Vielleicht hatten sie die Botschaft des Werbeprospekts mißverstanden, und Hugh hatte sich um‐ sonst in irgendeinem Goldtaler‐Markt die Beine in den Bauch gestanden. Natürlich hätte er Hugh von sich aus anrufen können. Daß er es nicht tat, hing mit der zweiten bevorstehenden Grundsatzentscheidung zusammen. Er mußte nämlich ent‐ scheiden, ob er mit diesem Partner, von dem er anfänglich so beeindruckt gewesen war und den er inzwischen ins Herz geschlossen hatte, ob er mit dem weiterhin schönen, doch cha‐ rakterlich bis zur Unkenntlichkeit veränderten Hugh über‐ haupt noch zusammenarbeiten wollte. Im Laufe seines Berufs‐ lebens hatte Claudius viele solcher vermeintlicher Hoffnungs‐ träger stürzen oder auf halber Strecke wieder umkehren se‐ hen. Standhafte, clevere und hochtalentierte Männer, die zu‐ nächst prädestiniert für den Job schienen. Bis sie irgendwann dahinterkamen, daß dieser Job eben kein normaler Job war, sondern ein Daueraufenthalt in den Köpfen von Irrsinnigen, Blutsäufern und lebendigen Toten. Hugh geriet immer öfter außer Kontrolle, er reagierte maßlos. Das war unübersehbar. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er vor Übereifer und Zorn einen Unschuldigen gefährden oder selber etwas abbe‐ kommen würde. Es gehörte schon ein bißchen mehr dazu, als einem frustrierten Araber eine Kanone in den Mund zu stek‐ ken, wenn man in der gleichen Liga wie ein Richard Claudius spielen wollte. Er würde gleich morgen früh Weinstein anru‐ fen und ihn bitten, ihm einen anderen Partner zur Seite zu 417
stellen. So leid es ihm auch tat. Zwei Grundsatzentscheidungen an einem Abend! Welche Überraschungen hielt das Leben für ihn noch bereit? Eigent‐ lich hatte er sich in jungen Jahren vorgestellt, daß er mit Sech‐ sundfünfzig nur damit beschäftigt wäre, in einer Strickjacke im Schaukelstuhl zu sitzen und seinen Enkeln aus Hänsel und Gretel vorzulesen. Jedenfalls wäre er zu der Zeit nie und nim‐ mer auf den Gedanken gekommen, daß er in dem Alter, frisch aus dem Irrenhaus entlassen, einer Frau hinterherrennen würde, die seine Tochter hätte sein können. Claudius steckte sich die nächste Zigarette an und vertiefte sich in die Lektüre. Er las, und je länger er las, desto stärker wurde er von neuen, heißen Gewissensbissen heimgesucht – diesmal jedoch in bezug auf Hugh. Die Grundsatzentschei‐ dung von vorhin war falsch gewesen. Er hatte seinen getreuen Assistenten unterschätzt, ihm leichtfertig den Vorwurf ge‐ macht, er sei auf dem glorreichen Weg der Ermittlungskunst ins Stolpern geraten. Welch ein Irrtum! Claudius hatte am Wegesrand nur ein paar Chinakracher aufgelesen, während Hugh hier auf echtes Dynamit gestoßen war. Der Inhalt dieser Seiten gab der ganzen Entführungsgeschichte eine völlig neue Wendung. Zumindest in zwei Episoden des Erlebnisberichtes schienen gewisse Dinge zusammenzupassen: In der ersten, Muschel, glaubte er, Sigbert Tale und seine Frau Linda und in der zweiten, Fisch, Hedwig Rinke wiedererkannt zu haben. Die Beschreibungen hinsichtlich des Hotelabenteuers stimm‐ ten mit der Aussage von Norbert Kowalski überein, der de‐ tailliert dargelegt hatte, weshalb Udo niemals hätte von ihm 418
stammen können. Das eigentlich Brisante aber war das jeweilige Datum der Einträge. Akzeptierte man dieses als den Befruchtungszeit‐ punkt und rechnete eine problemlose Schwangerschaft von neun Monaten hinzu, erhielt man den Zeitabschnitt, der Claudius so stutzig gemacht hatte: April 2000. Auf den Seiten dieses Internet‐Tagebuchs trat eine bis jetzt nicht geahnte und ungeheure Gemeinsamkeit zwischen den Kindern zutage. Allerdings konnte es sich wirklich genausogut um die schmutzigen Phantasien eines Sexfreaks handeln, wie Hugh zu bedenken gegeben hatte. Nur der Zufall wollte es, daß Fi‐ guren und Daten darin mit denen aus der Realität überein‐ stimmten. Denn was war mit den restlichen Frauen und Kin‐ dern? Und wie verhielt es sich mit der Episode Spinne, die vom Datum her zwar ebenfalls ins Schema paßte, mit der er aber überhaupt nichts anzufangen wußte? Mit einem Mal kam es Claudius so vor, als befände er sich in einem brennenden Haus. Er verspürte das dringende Bedürf‐ nis, etwas, egal was, zu unternehmen, um den Flammen zu entkommen. Er griff nach dem Handy und rief Hugh doch noch an. »… hinterlassen Sie eine Nachricht.« Mist! Es war nur die Mailbox. Hugh hatte das Handy abge‐ schaltet. Claudius stand auf, ging im Wohnzimmer auf und ab, rauchte dabei Kette und zermarterte sich das Hirn darü‐ ber, wie er schnellstens Gewißheit erlangen könnte. Vielleicht nicht gleich heute abend, doch wenigstens bis morgen früh. Wenn er es sich recht überlegte, war ihm Hugh in dieser Sache 419
eigentlich doch keine Hilfe. Vielleicht sollte man die Mütter eingehender befragen oder … Plötzlich hatte er eine Idee, die ihm als der Königsweg er‐ schien. Er drückte auf dem Handy eine andere Nummer, die Hugh ihm ebenfalls einprogrammiert hatte. Nach langer Zeit wurde am Ende der Leitung endlich abgehoben. »Hallo?« Dr. Sieglinde Vetters Stimme hörte sich an, als sei ihre Besitzerin unter Tonnen von Geröll vergraben. Claudius hätte sich dafür ohrfeigen können, daß er die Pathologin aus dem Bett geholt hatte. Er schaute auf die Wanduhr, die halb elf zeigte. Wenn jemand um diese Zeit schon tief schlief, dann war er wirklich erledigt. Er entschuldigte sich zunächst tau‐ sendmal für die Störung und brachte ihr dann so schonend wie möglich bei, daß sie schon wieder arbeiten müsse. »Das trifft sich gut«, sagte sie ein bißchen säuerlich. »Denn ich habe ja schon eine Stunde geschlafen.« »Es tut mir sehr, sehr leid, Dr. Vetter, aber ich weiß nicht, an wen ich mich in dieser Angelegenheit sonst wenden soll.« »Worum geht’s?« »In den Berichten steht, daß Sie von sämtlichen Kindern Genproben besitzen.« »Das stimmt. Wir haben sie anhand vorhandener Blutproben bei Kinderärzten oder später aufgefundener Körperspuren wie Haare und Hautpartikel sicherstellen können.« »Ist es im Bereich des Möglichen, daß Sie dadurch genetische Beziehungen zwischen den Kindern untereinander feststellen können?« »Wie meinen Sie das?« 420
»Ich würde gern wissen, ob Sylvia Tale und Udo Rinke mi‐ teinander verwandt sind.« »Wie bitte?« »Nun ja, ob sie den gleichen Vater besitzen.« Am anderen Ende der Leitung war nur lautes Atmen zu hö‐ ren. Die arme Frau versuchte wohl gerade, den ungeheuerli‐ chen Gedanken zu verdauen. Hoffentlich fragte Sieglinde Vet‐ ter nicht nach dem Grund dieses abenteuerlichen Ansinnens. Denn dann würde es ein wirklich langes Telefonat werden. »Sie meinen einen Vaterschaftstest sozusagen im umgekehr‐ ten Sinne?« sagte Dr. Vetter schließlich. »Klar ist das möglich. Wir vergleichen die Gene der beiden Kinder untereinander, und wenn der Geschwisterfaktor zirka fünfundzwanzig Pro‐ zent beträgt, müssen sie wohl ein und denselben Vater haben. Denn daß sie von verschiedenen Müttern stammen, ist ja uns‐ trittig.« »Wie lange dauert so etwas?« »Wenn wir uns schwer Mühe geben, einen Tag.« »Sie müssen es leider bis morgen früh schaffen.« »Natürlich. Habe ich Ihnen schon erzählt, daß ich Wasser in Wein verwandeln kann?« »Zutrauen würde ich es Ihnen. Normalerweise sagt man bei solch einer unerhörten Bitte ›mir zuliebe‹. Und dreimal dürfen Sie raten, was ich jetzt sage.« Claudius hörte im Hintergrund Geräusche, die sich nach Bettdecke aufschlagen und in die Puschen treten anhörten. »Okay, Ihnen zuliebe. Aber wenn das alles irgendwann ein‐ mal ausgestanden ist, verlange ich von Ihnen eine Einladung 421
zum besten Italiener in der Stadt. Ist mir egal, was Sie dann zu sich nehmen, ich jedenfalls fresse die komplette Speisekarte runter. Sie können mit meinem Anruf so um neun Uhr rech‐ nen.« »Wunderbar, Frau Vetter«, rief Claudius. »Das Essen beim Italiener haben Sie jetzt schon in der Tasche. Mir fällt aber gerade noch etwas ein, um das ich Sie bitten muß.« »Noch eine Bitte?« Sie stöhnte. »Ja. Könnten Sie das ganze Verfahren vielleicht auch noch auf Abdullah, den verschwundenen Araberjungen, auswei‐ ten?« »In diesem Fall kommt auch noch die teuerste Flasche Rot‐ wein im Laden dazu«, sagte Sieglinde Vetter und legte auf.
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24. Hugh sah sich den Amateurfilm von Sigbert Tale nur ein ein‐ ziges Mal an. Nicht, weil der Inhalt enttäuschend gewesen wäre, doch er kannte ihn schon. PARADIES4 hatte im Weblog das Erlebnis zwar recht launig und nur auf das Wesentliche reduziert beschrieben, aber stets auch so, daß dem Leser das Gesamtbild detailliert vor Augen stand. Das verwackelte, un‐ terbelichtete und dadurch, daß die Kamera zuweilen abge‐ schaltet worden war, vor Sprüngen wimmelnde Machwerk hatte nur noch schonungslosere Impressionen zu bieten. Die‐ ser Eindruck entsprang überwiegend dem Umstand, daß es sich bei dem Video um dokumentarische Aufnahmen handel‐ te, und weil Hugh nun wußte, daß die Kamera von einem Mann geführt worden war, der gern dabei zusah, wie andere Männer es mit seiner Ehefrau trieben. Natürlich gab es in dem Film noch etwas Neues zu sehen: den Auftritt von PARADIES4 in voller Aktion und aller Deut‐ lichkeit. Hugh erkannte den großgewachsenen, gutgebauten und stets ein charmantes Grinsen vor sich her tragenden Blondkopf sofort. Aber bei einem Wettbewerb um den besten Märchenprinzen hätte er es vermutlich nicht einmal unter die ersten tausend geschafft. Denn unter der braungebrannten California‐Dreaming‐Fassade taten sich immer wieder winzi‐ ge Risse auf, durch die etwas Finsteres herausschien. Eine dunkle Ahnung sickerte durch, wie es im Innern der Gruft ausschauen könnte, und ließ einen frösteln. Manchmal ver‐ 423
drehten sich die blauen Augen eigenartig, als drohe der Kerl jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Und manchmal preßten sich die Lippen wie bei einem Wutanfall fest zu einem dünnen Strich zusammen, wobei das elegante Lächeln wie klebrige Masse im Gesicht hängenblieb. Dann wieder verschwand das Lächeln mit einem Schlag und machte nur für Sekunden einer tiefen Traurigkeit Platz. Aber rasch war die Fassade des Charmeurs wiederhergestellt, der Mann wirkte entspannt und gut aufgelegt, entsprungen einer Männerphantasie. Es war kaum zu glauben, daß ein Mensch so anziehend und gleich‐ zeitig so scheißhausrattenverrückt scheinen konnte. Und wie war es nur möglich, daß so jemand die mörderische Cleverneß eines Professors besaß, um die Typisierung aus Claudius’ Defi‐ nitionskatalog für Serientäter zu verwenden. Okay, das war also ihr Mann. Bloß, wie konnten sie ihn nun finden? Der Streifenwagen hatte Hugh um halb elf zu Hause abgeliefert, und nachdem er sich hastig ein paar Brote ge‐ schmiert und sie in Rekordgeschwindigkeit verschlungen hat‐ te, war er seit Stunden mit der Begutachtung des Filmes, der Videokassette aus dem Goldtaler‐Markt, des Fotos aus dem Hotel und mit dieser einen Frage beschäftigt gewesen. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Nach Mitternacht. Obwohl er sich am frühen Abend etwas schlapp gefühlt hatte, fühlte er sich inzwischen wie ein gedoptes Rennpferd. An Schlaf war nicht zu denken, und das Handy hatte er schon vor langer Zeit abgeschaltet, damit ihn niemand bei der konzentrierten Arbeit störte. In der Wohnung brannten wieder überall die IKEA‐ 424
Teelichter und tauchten jeden Winkel in ein warmes Dämmer‐ licht, während draußen ein Schneetitan den Inhalt seines Schneemagens unaufhörlich auf die Welt entleerte. Eigentlich könnte es eine heimelige Winternacht sein, in der, wollte man der Fernsehwerbung Glauben schenken, Paare nichts anderes taten, als sich in ihren Norwegerpullovern aneinanderzuku‐ scheln, und Singles sich an ihre neuen UMTS‐Handys schmiegten, wohl aber eher an ihre eigenen Geschlechtsorga‐ ne. Nichts von all dem interessierte Hugh jetzt. Er saß vor sei‐ nem Laptop und schaute zu, wie die NASA‐Astronauten in ihren weißen Weltraumanzügen auf dem Bildschirmschoner durch das pechschwarze All schwebten. Nur kurz wurde er von dem Impuls heimgesucht, ins Inter‐ net zu gehen und sich mit jemandem ein Die‐Siedler‐von‐Uris‐ Duell zu liefern. Vielleicht mit PARADIES4, auch wenn Hugh mittlerweile ahnte, daß er nicht gegen einen Menschen antre‐ ten würde, sondern gegen ein K.O.‐Programm, das immer dann ansprang, wenn man es herausforderte. Die Aufgabe dieses Programms bestand einzig und allein darin, durch be‐ stechende Spielleistung auf sich aufmerksam zu machen und dann den Verlierer mit der Aussicht auf den Wundercheat unvermeidlich zum Online‐Tagebuch zu locken. Doch Hugh hatte jeglichen Spaß an diesem Spiel verloren. Er wußte in‐ zwischen, wie der Cheat funktionierte. Die Männlein, die sich während der Spielhandlung gar nicht erst um eine Partner‐ schaft bemühten, sondern den frisch Verliebten klammheim‐ lich in die Wälder folgten, taten nämlich virtuell das, was PA‐ RADIES4 im Juni 1999 wirklich getan hatte: Sie zeugten Kuk‐ 425
kuckskinder! Die Botschaft von Cheat und Weblog hieß, hemmungslos Frauen zu schwängern und sich im stillen darüber zu freuen, daß die eigenen Ableger überall heranwuchsen. Vielleicht hatten die Mütter ihren so lange zurückliegenden Fehltritt verdrängt, wenn nicht schon völlig vergessen, wiewohl einige von ihnen verräterische Andeutungen gemacht hatten. Selbst ein Richard Claudius hatte dieses verworrene Knäuel aus Lü‐ gen und tödlichen Geheimnissen nicht aufdröseln können, doch er war der Wahrheit verdammt nahe gewesen, als er die frappierende Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Kindern auf Anhieb erkannt hatte. Kein Wunder, denn die Kinder waren allesamt Halbgeschwister. Und Claudius’ Instinkt hatte ihn noch etwas anderes immens Wichtiges ahnen lassen: Die Tat‐ sache, daß alle entführten Kinder im gleichen Jahr und Monat geboren worden waren, beruhte nicht auf einem Zufall. Doch der Entführer hatte sich keiner elektronischen Datenbänke bedient, um an die Adressen der Kinder heranzukommen. Nein, PARADIES4 hatte den Kreuzzug für die Verbreitung seiner Gene im Juni 1999 angetreten und seinen Samen in der fraglichen Zeitspanne in den Schoß der jeweiligen Frauen ge‐ legt, so daß die Geburten logischerweise auf den April 2000 fielen. Simpler ging es kaum! Er kannte jede einzelne Frau, und das Tagebuch enthielt viele Hinweise darauf, daß er ge‐ nau wußte, wo sie wohnten. Aber wie konnte er sich seiner Sache so sicher sein? Wie konnte er wissen, wann genau eine Frau fruchtbar war und daß die Saat später auch aufgehen würde? Eine Art Antwort 426
hatte vielleicht Norbert Kowalski im Krankenhaus in einem Nebensatz fallenlassen: … Im Internet habe ich mal gelesen, daß es sogar Männer geben soll, die die fruchtbaren Tage der Frau rie‐ chen können … Aber es existierte ein noch deutlicherer Hin‐ weis. Als die mit »Spinne« titulierte Pornodarstellerin den Tagebuchschreiber erkannt zu haben glaubte, hatte sie gesagt: … Du bist dieser Parfüm‐Papst. Ich habe mal in einer Parfümerie gearbeitet, und da war so ein Prospekt mit einem kleinen Artikel und deinem Bild. Der Mann mit der goldenen Nase, so nennt man dich doch in der Branche, nicht wahr? Es hieß, du könntest zwischen fünfhundert Duftgrundstoffen unterscheiden … PARADIES4 hatte ihr daraufhin geantwortet: Ja, meine heilige Begabung … Ich rieche deinen Östrus … Und wenn er sich einmal geirrt hatte? Nicht so schlimm, denn der Mann hatte bestimmt mehr als zwölf Frauen befruchtet. Sechs Jahre später aber war er in Ge‐ stalt eines modernen Rattenfängers von Hameln nur bei den‐ jenigen aufgetaucht, von denen er hundertprozentig wußte, daß sie seine Frucht auch ausgetragen hatten. Dieser Punkt wiederum führte Hugh zu einer weiteren Fra‐ ge. Weshalb machte ein Kidnapper und Kindermörder solch ausführliche, mit Anspielungen gespickte Texte publik, ob‐ wohl er doch befürchten mußte, daß man ihm dadurch über kurz oder lang auf die Schliche kam? Sicher besaß PARA‐ DIES4 das technische Wissen, sich im chaotischen Universum des Internets Anonymität zu verschaffen. Uli Heidler hatte in bezug auf den Austausch von Kinderpornos im Netz von »wandernden Servern« gesprochen, denen man nur hinter‐ herhecheln, die man aber nie dingfest machen könne. Wenn 427
einer imstande war, knifflige Cheats in ein kommerzielles Spielprogramm einzuschmuggeln, so konnte er bestimmt auch die Verbindung von ihm zu seinem Weblog verheimli‐ chen. Aber Hugh glaubte nicht daran. Im Gegenteil, der Kerl war auf Öffentlichkeit aus, er wollte, daß man seine Identität aufspürte. Freilich war auch diese Erkenntnis nicht auf sei‐ nem, sondern auf Claudius’ Mist gewachsen. Denn als er, Hugh, am Anfang noch darauf beharrt hatte, daß der Täter weder »neunmalschlaue Zeichen« hinterließ noch den Kon‐ takt zu irgendwem suchte, hatte sich der Alte ruhig zurückge‐ lehnt und zu bedenken gegeben: Sogar der Professor hat eine Schwäche. Und die ist beachtlich. Er ist auf einer wichtigen Mission. Und wie jeder auf einer wichtigen Mission, ist auch er der festen Überzeugung, daß die übrige Menschheit davon erfahren sollte. Denn was nützt es einem, wenn man davon überzeugt ist, auf eine weltbewegende Erkenntnis gestoßen zu sein, die Welt jedoch davon nichts mitkriegt? Schön und gut. Aber die Antwort auf die wichtigste Frage blieb PARADIES4 seinem Publikum trotzdem schuldig. Wieso zeugte er erst am laufenden Band Kinder, wenn er sie Jahre später wieder einkassierte und dann schließlich eins nach dem anderen umbrachte? Gewiß, das Tagebuch las sich wie ein blutiger Entwicklungsroman und enthielt genug Belege dafür, wie der Kerl sukzessive seine mörderische Ader entdeckt hat‐ te. Aus den noch folgenden Einträgen würde vermutlich her‐ vorgehen, wie aus ihm schlußendlich ein waschechter Killer geworden war. Doch auch hier hielt Claudius eine viel glaub‐ haftere Theorie parat: PARADIES4 hatte seine Mission nicht 428
deswegen gestartet, weil er seine Gene für besonders wertvoll hielt und glaubte, daß die Welt davon nicht genug bekommen könne. Hinter seinem Tun steckte kein irrer Größenwahn, sondern schlicht eine romantische Idee. Es ging um den kind‐ lichen Glauben an Engel, wenn auch in einer abgründigen Abart. In seinem religiösen Wahn sah PARADIES4 in kleinen Kindern Engel und in sich selbst ihren omnipotenten Erschaf‐ fer. Er handelte im Dienste Gottes und zeugte in seinem Auf‐ trage reine Engel. Dann erfreute er sich ein paar Jahre lang aus der Distanz an ihrem Dasein und sammelte sie in dem Alter wieder ein, in dem aus seiner Sicht das Engelhafte von ihnen abzufallen drohte. Schließlich führte er sie auf seine Art wie‐ der Gott zu. So weit, so krank. Doch wieso ging er dann mit dem ganzen Scheiß erst jetzt an die Öffentlichkeit? Noch dazu vermittels eines Weblogs, das aus dem Jahr 1999 stammte? Da half auch die Erklärung wenig, daß es sich bei PARADIES4 um einen durchgeknallten Bastard handelte. Durch all diese Gedankenspiele war Hugh zumindest zu ei‐ ner Erkenntnis gekommen: Er wußte jetzt, wie er vorzugehen hatte, um eine Lösung aus dem Hut zu zaubern. Das Zauber‐ wort zur Erlangung dieser Lösung bestand eigentlich aus vie‐ len Wörtern. Doch das Beste an Google war, daß dabei auch die geschickte Aneinanderreihung von verschiedenen Stich‐ worten zum gewünschten Suchbegriff führte. Hugh ging ins Internet und tippte in das Suchfenster »Mann mit der goldenen Nase – Parfüm – Duftstoffe« ein. Mit leicht zitternder Hand betätigte er die Befehlstaste. Das Ergebnis war ziemlich unspektakulär. Die Suchmaschine spuckte ledig‐ 429
lich um die fünftausend Links aus. Zudem waren sie fast alle älteren Datums. Hugh klickte den erstbesten Link an und spürte in Anbetracht dessen, was sich ihm nun auftat, plötz‐ lich doch, wie ihm kalte Schauer über den Rücken liefen. Kein Geringerer als sein alter Freund aus dem vierten Paradies strahlte ihm aus einer Fotografie über einem Text mit farbi‐ gem Hintergrund entgegen. Der Mann hatte sich hier in einen schwarzchangierenden Einreiher geschmissen, er trug eine gelbe Krawatte und hielt in der Hand einen kostbaren Spa‐ zierstock mit löwenköpfigem Silberknauf. Sein zum bekann‐ ten Werbespot‐Grinsen geöffneter Mund entblößte perlweiße Zähne, welche Lichtreflexe auszusenden schienen. Die locker‐ flockigen, fast schulterlangen blonden Haare aus den Sex‐ abenteuern waren jetzt mit Gel behandelt, akkurat hinter die Ohren gekämmt und mit einem Seitenscheitel versehen. Ir‐ gendwie machte er den Eindruck, als könne er sich nicht so richtig entscheiden, ob er einen Zauberkünstler oder den jun‐ gen Donald Trump darstellen soll. PARADIES4 stand in einem parkähnlichen Gelände und hat‐ te die Arme mit triumphaler Geste über einen antiken Tisch ausgebreitet, auf dem eine Reihe unterschiedlich gestalteter Flakons stand. Anscheinend waren dies alle seine Parfüm‐ kreationen. Im Hintergrund ragte ein riesiges Renaissance‐ schloß mit vielen Türmen und Nebengebäuden in den stahl‐ blauen Sommerhimmel. Hugh vertiefte sich in den Text unter dem Foto. PARADIES4 war Deutscher, hieß mit bürgerlichem Namen Günter Kose, hatte sich jedoch für seine Aktivitäten in der Duftwasserbran‐ 430
che den Künstlernamen Serge LeBon zugelegt. Er lebte die meiste Zeit in seinem Anwesen namens Château de Rochepot an der Loire in Frankreich, das ihm sowohl als Labor als auch als Firmensitz diente. Sein beachtliches Renommee als Duft‐ gott verdankte er der Zusammenarbeit mit verschiedenen Körperpflegekonzernen wie L’Oreal oder Douglas, für die er von Parfüms über Rasierwasser bis hin zu Cremes alles Er‐ denkliche kreiert hatte, was Menschen schön und wohlrie‐ chend zu machen versprach. Er galt als eine der führenden Instanzen in der von der Klatschpresse wenig beachteten Welt des Odeurs und hatte Ende der neunziger Jahre für seine Duftwässer Eau de Ciel und Eau de Dieu den La Fleur du Paradis erhalten, das entsprechende Gegenstück des Oscars im Par‐ füm‐Metier. Jedenfalls besaß Günter Kose wirklich eine feine Nase, so viel stand fest. Die weiteren Links vervollständigten das Bild des in der Schickeria verkehrenden und sein Image als Chichi‐Ikone pflegenden Paradiesvogels. Es war kaum zu glauben, daß so ein feiner Pinkel sich von Hedda ins Gesicht hatte pissen las‐ sen. Link für Link kam Hugh der extravaganten Figur näher, bis sich die eh veralteten Informationen zu wiederholen be‐ gannen. Am Ende der Recherche stand ein Mensch vor ihm, der zwar dank der »heiligen Begabung« seiner ärmlichen Herkunft und einer Amateurprostituierten an Mutter erfolg‐ reich entflohen war, doch zeit seines Lebens beide Gespenster nicht losgeworden war. All die vielen Fotosessions vor seinem schmucken Schlößchen, die Designeranzüge, die Zweihun‐ derttausend‐Dollar‐Sportcoupés, die »Freunde« aus der Ober‐ 431
schicht, all das Geld und der Tand hatten ihn die Vergangen‐ heit nicht vergessen lassen. Hugh verstand nun, warum PA‐ RADIES4 die Welt als einen einzigen Sündenpfuhl betrachtete und Kinder als Engel. Er schaute auf die Armbanduhr, inzwischen war es schon vier Uhr morgens geworden. Sämtliche Teelichter waren längst heruntergebrannt, und bis auf den bläulichen Wider‐ schein aus dem Laptop‐Bildschirm lag die gesamte Wohnung im Dunkeln. Dennoch beschlich Hugh das Gefühl, als sei er von der Aufklärung des Falles nur noch eine Armeslänge ent‐ fernt, als stünde er vor den Toren einer schwerbelagerten Stadt, die im Begriff war, jeden Moment zu fallen. Er dachte nicht daran, wegen eines so banalen Bedürfnisses wie Schlaf jetzt auf die Bremse zu treten. »Jetzt erst recht!« hörte sich für ihn besser an als »Morgen ist auch noch ein Tag«. Er schaltete das Handy wieder ein und rief die Sonderkom‐ mission an. Selbst um diese Uhrzeit mußte dort zumindest telefonisch jemand zu erreichen sein. Es meldete sich eine Be‐ amtin mit einer sanften Hotline‐Stimme, die sich vor Freund‐ lichkeit geradezu überschlug. So aufgekratzt wäre er sicher auch, hätte er sich während der ganzen Arbeitszeit nur die Fernsehwiederholungen vom Vortag reingezogen. Er trug ihr auf, sich auf der Stelle mit irgendeinem Kommissariat an der Loire in Frankreich in Verbindung zu setzen, möglichst im Umkreis des Anwesens mit dem Namen Château de Roche‐ pot. Die französischen Kollegen möchten ihn bitte umgehend zurückrufen, da es um Kinderleben ginge. Hugh hängte noch dran, daß er fließend Französisch spreche. Das war natürlich 432
halb gelogen, aber nur halb. Immerhin hatte er einst Ambitio‐ nen für ein Kunststudium gehegt und dafür ein paar Semester Französisch studiert. Eine halbe Stunde später kam der Rückruf, und Hugh sah schon an der ungewohnten Nummernkombination auf dem Display, daß Frankreich dran war. »Bonjour, Monsieur le commissaire! Inspecteur Jean Cheva‐ lier à l’appareil«, sagte eine heisere Männerstimme am Ende der Leitung. Aus dem Hintergrund drangen laute Musik, das Klirren von Gläsern und Gelächter. »Je vous demande pardon pour le bruit, mais je me trouve à une célébration du mariage. Comment puis‐je vous être utile, Monsieur Hoffer?« »Je suis vachement désolé, qu’il faut vous déranger pendant vos loisirs, Monsieur Chevalier«, sagte Hugh, und es tat ihm wirklich leid, daß er den armen Kerl ausgerechnet mitten auf einer Hochzeitsfeier erwischt hatte. »Mais connaîssez‐vous peut‐être un homme, qui s’appelle Serge LeBon? Il est probab‐ le qu’il vit à proximité de vous.« »Sie können ruhig deutsch mit mir sprechen, Monsieur Hof‐ fer«, sagte Chevalier mit sympathisch französischem Akzent, was durch den Umstand noch verstärkt wurde, daß Monsieur l’Inspecteur in dieser Nacht offenkundig schon ein paar Gläs‐ chen Loire‐Wein probiert hatte. »Ich stamme ursprünglich aus dem Elsaß. Aber inzwischen habe ich wohl viel Deutsch weg‐ gelernt. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ja, natürlich kenne ich Serge LeBon, den falschen Franzosen. Jeder hier in der Gegend kennt ihn. Schließlich ist sein Château nicht zu übersehen, von wo auch Auge guckt. Mittlerweile ist es sogar 433
eine Touristenattraktion geworden. Was hat er denn ange‐ stellt, daß Sie um diese Uhrzeit den armen Flic auf der Gen‐ darmerie machen Herzflattern?« »Hören Sie zu, Monsieur Chevalier, LeBon ist bei uns in eine sehr üble Sache verwickelt. Es geht um die Entführung und Ermordung von Kindern, eine wirklich grausame und diffizile Geschichte, die uns seit einem Jahr die Hölle auf Erden berei‐ tet. Wenn Sie möchten, faxe ich Ihnen die Unterlagen darüber sofort zu. Nach vielen Anfangsschwierigkeiten sieht es aber so aus, daß sich der Nebel allmählich lichtet. Wir stehen kurz vor einem Ermittlungserfolg. Serge LeBon oder Günter Kose, wie er wirklich heißt, hat sich in unserem Fall inzwischen als der Hauptverdächtige herauskristallisiert. Wir brauchen dringend Ihre Hilfe.« »Ja, wir haben uns auch schon immer gedacht, daß er Dreck steck hat.« »Ach, wirklich? Na, um so besser. Sehen Sie eine Möglich‐ keit, LeBon sofort vorzuladen oder in Gewahrsam zu neh‐ men? Ich könnte mit einem Kollegen noch heute zu Ihnen fliegen, und dann bemühen wir uns gemeinsam um einen richtigen Haftbefehl. Ob um einen deutschen oder französi‐ schen, ist mir völlig egal. Hauptsache, wir können ihn schnell‐ stens verhören.« »Non, Monsieur Hoffer, diese Möglichkeit sehe ich leider nicht.« Hugh glaubte einen amüsierten Unterton in seiner Stimme zu vernehmen. »Wieso nicht?« 434
»Weil Serge LeBon schon seit sieben Jahren tot ist, Monsieur Hoffer!« »Wie bitte?« brachte Hugh hervor, doch in Wahrheit dachte er: Scheiße, er ist uns entwischt! Es war eine typische Schock‐ reaktion, die einem unabänderliche Dinge mittels bewußter Fehlschaltungen im Hirn immer noch für veränderbar vor‐ gaukelt. Irgend etwas in ihm stemmte sich so vehement gegen das eben Gesagte, daß er es einfach nicht wahrhaben wollte und das Bild vom sympathischen Inspecteur am Telefon in sein Gegenteil verkehrte. Die ganze Wohnung begann sich um Hugh herum zu drehen wie ein verdammtes Karussell. Die grinsende, geile Fratze von PARADIES4 tauchte vor seinem geistigen Auge auf, und dann noch Momentaufnahmen in rasender Folge, wie der Kerl jede einzelne der jungen Mütter in spe genüßlich bestieg. Dabei schüttelte LeBon seine blon‐ den Haare in Zeitlupe, wandte sich seinem Jäger zu und ver‐ drehte die blauen Augen wieder so sonderbar, als erleide er gleich einen epileptischen Anfall. Hugh umklammerte krampfhaft die Stuhllehne, damit er nicht umkippte, während er Mühe hatte, das Handy am Ohr zu halten. Vielleicht war jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt, um endlich ins Bett zu gehen und alles zu vergessen. Auch die Kinder. »Sie haben richtig gehört, Monsieur«, fuhr Inspecteur Cheva‐ lier fort. Er schien trotz des seltsamen Anrufs eines seltsamen Polizisten aus Deutschland glänzender Laune zu sein. »Der einzige Prominente dieses Landstrichs hat schon vor langer Zeit in Rasen gebissen.« 435
»Wie ist er gestorben?« fragte Hugh. Eine seltsame Ruhe kehrte langsam in ihm ein, aber das war nur eine Folge des Schocks. »Nun ja, ein Verbrechen war die Sache schon gewesen. Er wurde ermordet.« »Von wem?« »Das wir konnten leider nicht herausfinden, der Fall ist un‐ geklärt. Mais une femme … es war eine Frau dabei. Sie wis‐ sen, Monsieur LeBon hat Millionen verdient?« »Ja, als Parfümgenie«, sagte Hugh. »Männer in le métier de parfum sind trockene scientifiques oder homosexuell. LeBon war kein scientifique, und er war bestimmt nicht homosexuell. Er war sehr extrovertiert und hat die Frauen geliebt. Les bordels in unserer Gegend, es heißt, sie haben dank ihm ein Geschäft gemacht. Er ist oft nach Deutschland, er hatte wohl Heimweh. Von dort brachte er Damen ins Château. Er arbeitete lange nicht mehr im Geschäft de parfumes. Das Personal seines Château sagte aus, daß der Chef psychische Probleme hatte – fou im Kopf, verstehen Sie? Lag im Bett den ganzen Tag, redete wirres Zeug. Oder er schrie die ganze Nacht. Dann er war wieder für Wochen ver‐ schwunden. Im Sommer 1999 ist er nach Deutschland gefah‐ ren, das wissen wir. Er hat dort eine Frau kennengelernt, die er mit ins Château brachte. Das Personal, die meisten haben gekündigt, weil er so fou im Kopf war. Niemand hat diese Mademoiselle gesehen. Aber in Château hat von Juli bis Au‐ gust eine Frau gewohnt. Später in les pou‐belles … wie sagt man, in den Abfallkästen? Da fanden wir viele Verpackungen 436
von Artikeln für Hygiene, für Frauen. Wir fanden Reste von Henna. Was die beiden die ganze Zeit in le Château getrieben haben, darüber wir nur spekulieren. Sicher ist, LeBon hatte am Ende große Probleme mit Mademoiselle.« »Wie wurde er ermordet?« »Er wurde zu Tode gepeitscht.« Der Schock von vorhin vollzog sich in Hugh jetzt in umge‐ kehrter Richtung und in rasender Geschwindigkeit. Im Nu verschwanden die Schwindelgefühle, und er war wieder hellwach. »Was sagen Sie da?« »Oui, Monsieur Hoffer, nackt kniend und an Handgelenken an das Bett gefesselt, so haben wir Monsieur LeBon gefunden. Die Haut an seinem Rücken, an dem Po und den Beinen war alles in blutigen Fetzen. Er wurde so lange ausgepeitscht, bis Rippen und Knochen zu sehen waren. Am Ende er ist ausgeb‐ lutet. Eine affaire sado‐maso, die ist außer Kontrolle geraten. Er wurde mit einer Reitpeitsche geschlagen. Monsieur LeBon hatte früher Pferde, un haras – wie sagt man? Einen Pferde‐ hof? Daher kamen die Peitschen im Château. Die Mordpeit‐ sche haben wir aber nicht gefunden. Mademoiselle hat sie wohl mitgehen lassen und auch einige andere Sachen.« »Und was?« »Wir können nur spekulieren. Das Arbeitszimmer war de‐ moliert totalement, und alles Geld war weg. Wir denken, daß auch Papiere verschwunden sind. Aber welche Papiere genau, ich kann nicht sagen.« Die Tagebücher! LeBons Aufzeichnungen über seine sakrale Mission zur Besamung der Erde. Sie waren ursprünglich gar 437
nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen gewesen, schon gar nicht im Netz. Es handelte sich bei ihnen um die Chronik eines fortschreitenden Wahnsinns, deren Verfasser um so wahnsinniger wurde, je mehr Erlebtes er für sich aufschrieb. LeBons verpfuschte Vergangenheit und der daraus resultie‐ rende Selbsthaß hatten ihn schlußendlich zugrunde gerichtet, doch gleichzeitig auch zur Erstürmung eines hehren Ziels angefeuert. Er beschloß, reine Wesen für Gott zu zeugen, so viele wie möglich. Vielleicht spürte er schon sein Ende nahen. In einem grotesken Sinne konnte man von einer männlich‐ biologischen Torschlußpanik sprechen. Doch diese Kinder irgendwann umzubringen, wäre nicht einmal einem derart kranken Geist wie ihm eingefallen. Da war PARADIES4 schon ein Stück weiter. Die verrückten Aufzeichnungen hatten sie offensichtlich genauso gefesselt wie Hugh. Sie fand die Idee der goldenen Nase interessant, aber stark verbesserungsbe‐ dürftig. Es genügte nicht, Engel für Gott zu produzieren, man mußte auch dafür sorgen, daß sie Engel blieben. Auf der Suche nach Erlösung hatte LeBon eine Gleichgesinn‐ te gefunden, eine Seelenverwandte des Grauens und so, wie es aussah, eine ebenso vom religiösen Wahn Infizierte. Nach der Rückkehr aus Deutschland im Juli 1999 – das heilige Werk war im Juni vollbracht worden – steigerten sich die beiden Engelmacher im Château de Rochepot gegenseitig in ihren Wahn hinein; mochte sein, daß dabei sadomasochistische Sex‐ spielchen auch eine Rolle gespielt hatten. Doch einer von ih‐ nen spielte falsch. Auf dem Höhepunkt eines solchen Exzesses brachte PARADIES4 den Frauenschnüffler um, entwendete 438
die Aufzeichnungen mit den Adressen der Geschwängerten und die Tagebücher und kehrte nach Deutschland zurück. Doch wer war PARADIES4 wirklich? Warum war ihr Wahn‐ sinn danach für sechs Jahre dem Dornröschenschlaf anheim‐ gefallen, um erst letztes Jahr wieder auszubrechen? Wo ver‐ steckte sie die Kinder? Und wieso veröffentlichte sie erst jetzt LeBons Hinterlassenschaft im Netz? Hugh unterhielt sich noch eine Weile mit Chevalier, doch die Konversation förderte weder eine zündende Idee noch ein bisher übersehenes Detail zutage. »Eine letzte Frage, Monsieur Chevalier«, sagte Hugh am En‐ de des Gesprächs. »Können Sie sich irgend etwas unter dem Begriff PARADIES4 vorstellen?« »Leider nein, Monsieur Hoffer«, entgegnete Chevalier. »Aber ich bin mir sicher, daß es nicht nur ein Paradies gibt. Warum nicht auch ein viertes? Doch das schönste Paradies c’est ici, an der Loire. Kommen Sie zu Besuch, Monsieur Hof‐ fer, wenn Sie den Fall gelöst haben. Au revoir!« Hugh saß noch eine Weile in der Dunkelheit da. Es war in‐ zwischen sechs Uhr. Bald würde der Tag anbrechen, und auch dieser Tag würde mangels etwas wirklich Handgreiflichem wieder für PARADIES4 arbeiten. Immerhin hatte Hugh eine recht ordentliche Theorie zusammengezimmert, von der Claudius beeindruckt sein würde. Er überlegte, ob er den Al‐ ten anrufen und ihm mitteilen sollte, welch monströse Jauche‐ grube er seit gestern abend ausgehoben hatte. Wahrscheinlich wäre er so stolz auf ihn, daß er den Zwischenfall mit Karim glatt vergessen würde. Außerdem interessierte Hugh bren‐ 439
nend, was für Schlüsse Claudius aus dem Weblog gezogen hatte. Vielleicht hatte er einen außergewöhnlichen Einfall bei‐ zusteuern. Hugh griff nach dem Handy, um Claudius anzurufen. In diesem Moment fing das Gerät zu klingeln an. Vermutlich Chevalier, dem noch etwas zu der Sache eingefallen war. Hugh warf einen Blick auf das Display, bevor er abhob. Es war nicht Chevalier, sondern eine Verbindung, deren Num‐ mer unterdrückt wurde. »Hugo Hoffer?« »Ja.« »Sind Sie Hauptkommissar Hugo Hoffer?« »Ja. Mit wem spreche ich?« Die Männerstimme besaß einen ruhigen, angenehmen Klang, dem etwas Bedachtsames und zugleich Verheißungs‐ volles innewohnte. Hugh kam die Stimme vage bekannt vor, aber zu dieser frühen Stunde kam er nicht darauf, zu wem sie gehören könnte. »Mit jemandem, der Ihnen eine wichtige Information mitzu‐ teilen hat.« Der Anrufer sprach langsam und völlig akzentfrei. »Verstehe. Und deshalb rufen Sie mich in aller Herrgottsfrü‐ he an? Woher haben Sie überhaupt diese Nummer?« »Ich weiß, wer die Kinder umgebracht hat.« Ein ganz normaler Spinner, der nach der morgendlichen Lektüre der BILD‐Zeitung den gesuchten Millionendieb/ Bu‐ sengrapscher/Heiratsschwindler/Mörder entweder in der Per‐ son seines Nachbarn oder seines Chefs identifiziert zu haben glaubte. Damals, als Hugh die sogenannten sachdienlichen 440
Hinweise aus der Bevölkerung bearbeitet hatte, war er von Tausenden solcher Irren angerufen worden. Er holte tief Luft. »Okay, verraten Sie’s mir.« »Das geht nicht am Telefon. Ich müßte weit ausholen und Ihnen auch bestimmte Dinge zeigen.« »Dann kommen Sie heute vormittag zum Revier. Ich diktiere Ihnen die Adresse …« »Herr Hoffer, wir müssen uns persönlich sehen. An einem geheimen Ort.« »Hören Sie, das ist mir zu blöd. Wir sind hier nicht in einem Kriminalfilm. Gehen Sie ins Kino, wenn Sie auf so etwas ste‐ hen.« »Hat Ihnen Aischa im Supermarkt einigermaßen verständ‐ lich machen können, daß Abdullah nicht von Karim al Said stammt? Vielleicht haben die anderen Frauen auch wie sie gehurt, und es sind alles nur Kuckuckskinder. Es sieht so aus, als wäre das, was zur Zeit geschieht, Gottes Strafe. Ich lege jetzt auf …« »Nein, tun Sie das nicht!« schrie Hugh. Der Schockzustand von vorhin kehrte mit Wucht zurück und ließ ihn, der gerade im Aufstehen begriffen war, wieder in den Stuhl sinken. Er‐ neut begann sich alles um ihn herum zu drehen. Vielleicht sollte er wirklich erst einmal ein paar Stunden schlafen, bevor er noch mal an dieses Scheißhandy ging. Der Kerl war kein Spinner. Er wußte Dinge, die nur Hugh kannte. Nicht einmal Moby Dick in seinem Überwachungskabuff hatte sich zu‐ sammenreimen können, was der auf Video gebannte Quickie zwischen den Regalen mit dem Fall zu tun hatte. Die Neuig‐ 441
keiten im Fall des Kindesentführers überschlugen sich im stündlichen Rhythmus, und Hugh sah sich genötigt, sich in Bereiche zu wagen, die er noch nie betreten hatte. »Kennen Sie die Egon‐Kalinovski‐Straße?« Gott sei Dank, Mister X hatte nicht aufgelegt. »Nein«, sagte Hugh. »Sie liegt im Westen der Stadt. Schauen Sie in den Stadtplan. Ich erwarte Sie in zwei Stunden in dem Haus mit der Num‐ mer 54. Kommen Sie bitte allein. Sollte ich merken, daß Ihnen jemand folgt oder daß Sie ein falsches Spiel mit mir treiben, verschwinde ich auf der Stelle, und Sie hören nie mehr etwas von mir.«
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25. Die Gegend, in der Hugh nun ziemlich verloren dastand, hat‐ te etwas von einer Geisterstadt. Das Erstaunliche war, daß diese im Bauhausstil errichtete Siedlung aus den Fünfzigern verkommener aussah als jene aus dem ausklingenden neun‐ zehnten Jahrhundert, wo Marlis Adel wohnte. Sie bestand überwiegend aus dreistöckigen, mit kleinen Fenstern und je‐ weils einem schmalen Balkonaustritt ausgestatteten grauen Kästen, die man damals sichtlich nach dem Legoprinzip ruck‐ zuck nebeneinandergeklatscht hatte. Das Wirtschaftswunder und der damit einhergehende Babyboom jener Zeit hatten die Ästhetik auf der Strecke bleiben lassen. Zwischen den Stra‐ ßenschluchten sah man Schachtfördergerüste der aufgegebe‐ nen Zechenanlagen. Der Großteil der Häuser schien unbe‐ wohnt zu sein. Der Putz hatte sich großflächig von den Fassa‐ den gelöst, etliche Fensterscheiben waren zerschlagen und die Türen, wenn überhaupt vorhanden, völlig demoliert. Sogar die Armen hatten es in dieser Schäbigkeit offenbar irgend‐ wann nicht mehr ausgehalten und ihr den Rücken gekehrt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das ganze Wohngebiet zu‐ nächst der Abrißbirne und dann wie überall hier einem rekul‐ tivierten Disneyland für Start‐ups und Innovationspools, eben für clevere Subventionsbetrüger weichen würde. Er hatte sich mit dem Taxi zu der angegebenen Adresse fah‐ ren lassen. Den Mercedes hatte Claudius, und dienstwagen‐ verwöhnt, wie Hugh war, besaß er selbst kein eigenes Auto. 443
Von dem sich allmählich aufhellenden Himmel fielen immer noch ungeheure Schneemassen herab. Münzgroße Flocken wirbelten im eisigen Wind, und nicht nur die Straßen, sondern auch einige Häuserfassaden waren von einer Schneeschicht überzogen. Die wenigen Wagen, die man vorbeifahren sah, kamen bisweilen ins Schlingern. Vereinzelte eingemummte Gestalten huschten auf den bläulichweiß schimmernden Bür‐ gersteigen umher, als wären sie auf der Flucht. Er schlug den Kragen seines halblangen Mantels hoch und fixierte das von einer rostigen Metallstange baumelnde Schild über der kleinen Eckkneipe, vor der das Taxi ihn abgesetzt hatte. »Blindschacht« verhießen verblaßte Lettern auf dem zersprungenen Emaille. Bis zu seinem Rendezvous in dem heruntergekommenen Haus diagonal gegenüber war es noch eine halbe Stunde hin. Er überlegte, ob er sich in dem Laden noch schnell einen Kaffee gönnen sollte. Er hatte seit Stunden nichts gegessen und getrunken, und wenn das Innere der Kneipe so aussah, wie es das abgewirtschaftete Äußere ver‐ sprach, würde ihm der Kaffee sowieso gleich wieder hoch‐ kommen. Dennoch sagte ihm sein Körper, daß ihm vor der Begegnung mit dem anonymen Unbekannten ein Munterma‐ cher guttun würde. Kurz hatte Hugh in Erwägung gezogen, ein kleines Observa‐ tionsteam aus Kollegen von der Sonderkommission einzu‐ schalten. Aber nach einem raschen Abwägungsprozeß hatte er beschlossen, alleine zu dem Treffen zu gehen. Die letzte ähnli‐ che Aktion, die die Sonderkommission durchgezogen hatte, war gründlich in die Hose gegangen, und Hugh wollte nicht 444
riskieren, daß ihm Mister X entwischte. Im Grunde ging er als Polizist auch kein größeres Risiko ein als ein Journalist, den sein Beruf zum Umgang mit zwielichtigen Kontaktleuten zwingt. Blieb freilich immer noch die Frage, wie der Unbe‐ kannte an seine Telefonnummer gekommen war. Hugh betrat »Blindschacht« und wurde nicht enttäuscht. Es kam ihm so vor, als ob diese Kneipe gar keine Kneipe war, sondern das Heimatmuseum der Gegend. Durch dichte Rauchschwaden hindurch sah er sich mit einem Ambiente konfrontiert, um das sich auf Sozialdramen spezialisierte Filmrequisiteure gerissen hätten. Eingetretene Holzvertäfe‐ lungen an den Wänden, rissige Resopaltische und wackelige Stühle, überall weißblaue Werbung für ein Pils, das wohl nur Penner kannten, und eine alte Theke mit überquellenden Aschenbechern und Bierpfützen machten den Ort zu einer Vorhölle. Alpenländisch klingende Volksmusik schallte völlig deplaziert durch den ganzen Raum. Abgehalfterte Männer saßen schon um diese Uhrzeit bei ihrem ersten Bierchen mit Korn, rauchten um die Wette und schnatterten in einem un‐ verständlichen Dialekt aufeinander ein. Die Vorstellung, daß es hier auch Kaffee geben sollte, schien ziemlich abwegig. Hugh begab sich zur Theke, hinter dem ein überraschend junger Kerl fleißig Bier zapfte. Er machte nicht einmal einen schmierigen Eindruck. Seine weiße Schürze war sauber und schien sogar gebügelt. Mit den ordentlich nach hinten ge‐ kämmten dunklen Haaren und dem frisch rasierten Gesicht wirkte die ganze Erscheinung recht gepflegt. Vielleicht war diese elende Bude wirklich das einzige Start‐up, das in der 445
Umgebung funktionierte. »Gibt es hier auch Kaffee?« fragte Hugh. »Klar«, erwiderte der junge Wirt, »’nen Becher?« Hugh nickte und ergötzte sich noch ein wenig an den de‐ formiert aussehenden und irgendwie in gebückter Haltung harrenden Männern an den Tischen, von denen es offenkun‐ dig keiner eilig hatte, zur Arbeit zu gehen. Der junge Wirt schob ihm einen riesigen Becher dampfenden Kaffees mit Milch und Zucker in abgepackten Portiönchen zu. Als Hugh den Becher in die Hand nahm, fiel sein Blick auf eine in die Thekenplatte eingeschraubte winzige Messingplakette. »Opa Willi« war darin in schmuckloser Schrift eingraviert. Während er sich den Kaffee schmecken ließ, stellte er fest, daß die ge‐ samte Theke mit derartigen Namensplaketten gepflastert war. Die Gäste, die solch exklusive Stammplatzbevorzugung ge‐ nossen, hatten sie sich um den Preis einer Säuferleber vom Umfang eines Rochens bestimmt redlich verdient. Der Kaffee löste in Hugh augenblicklich eine Woge des Wohlbehagens aus. Schluck um Schluck sah er die Dinge wie‐ der zuversichtlicher. Sollte Mister X sich tatsächlich als wich‐ tiger Informant entpuppen, würde er mit den Faxen Schluß machen und ihn gleich mit aufs Revier schleppen. Und er war schon auf Claudius’ Gesicht gespannt, wenn er ihm von den Ergebnissen der schlaflosen Nacht berichten würde. »Tritt mal etwas zur Seite, Kumpel«, sagte der Wirt und machte mit der Hand eine auffordernde Bewegung. Hugh tat, wie ihm geheißen, und als er zum Abschnitt der Nachbarplakette rückte und sich dabei umdrehte, blickte er 446
ihm geradewegs ins Gesicht: Opa Willi! Natürlich kannte Hugh Opa Willi nicht. Doch sein Gefühl sagte ihm, daß es sich bei dem erstaunlich rüstig wirkenden Greis um ihn handeln mußte. »Glück auf, Willi!« sagte der Wirt. »Bierchen?« »Klar«, erwiderte Opa Willi. »Mach gleich ’n großes. Dreckswetter!« Willi war bestimmt über Achtzig, doch er gehörte zu der Minderheit von Senioren, die es bis zu dem Tag, an dem sie sich im Sarg langlegen, noch mit jedem Zwanzigjährigen auf‐ nehmen können, insbesondere, was Alkohol‐ und Tabakkon‐ sum betrifft. Er war von dünner, fast klappriger Gestalt und trug einen grauen Dufflecoat und eine bis zu den schlohwei‐ ßen Augenbrauen heruntergezogene Strickmütze. An einem Riemen quer über der Brust hing eine riesenhafte Verteilerta‐ sche, aus der Werbeprospekte herausquollen. Respekt, der Alte verdiente sich immer noch etwas dazu. »Die Maloche hört nie auf, was Willi?« fragte der Wirt in ei‐ ner Mischung aus Anteilnahme und Amüsement und reichte ihm sein Gezapftes. »Nee, aber ab Januar bin ich wieder für drei Monate auf den Kanaren, und dann können mich alle am Arsch lecken!« Willi verrenkte das verbrauchte Runzelgesicht zu einem listigen Grinsen und trank das Glas bis zur Hälfte leer. »Richtig so, Willi«, meinte der Wirt. »Ich wünschte, ich hätte die Rente auch schon durch. Und dann vielleicht noch ’n Stundenjob nebenher so wie bei dir, und alles ist paletti.« Wenn Hugh es sich recht überlegte, hatte er doch keine Lust 447
mehr, sich die aus ethnologischer Sicht zwar aufschlußrei‐ chen, aber über fünf Minuten hinweg kaum zu ertragenden Nichtigkeiten dieser einfachen Leute anzuhören. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war soweit, sein Date wartete auf ihn. Er tat den letzten Schluck aus dem Becher, warf zwei Eu‐ ro auf die Theke, wandte sich von den »Blindschacht«‐ Brüdern ab und ging. »Rente durch – daß ich nicht lache!« hörte er Opa Willi hin‐ ter sich protestieren, während er sich von der Theke entfernte. »Weißt du überhaupt, wieviel Beiträge ich in diese Scheißkas‐ se schon reingebuttert habe und wie wenig ich jetzt rausbe‐ komme, du Nase? Fahr du erst mal wie ich dreißig Jahre lang in Paradies vier ein, dann können wir weiterreden …« Hugh fühlte sich plötzlich wie aus der Realität herauskata‐ pultiert. Die ganze verdammte Kaschemme um ihn herum verschwand hinter Nebelschichten, bis er nur noch grobe Formen und Figuren wahrnahm. Eine Science‐fiction‐ Apparatur hatte einen Moment seines Lebens aufgezeichnet und spielte diesen Moment nun in seinem Kopf in der Endlos‐ schleife ab. Er hörte immer wieder nur diesen einen Satz: Fahr du erst mal wie ich dreißig Jahre lang in Paradies vier ein, fahr du erst mal wie ich dreißig fahre lang in Paradies vier ein, fahr du … Hugh drehte sich auf dem Absatz um, stürmte zu Opa Willi, packte ihn an der Schulter und riß ihn zu sich herum. »Was haben Sie da eben gesagt?« Der Alte schaute so erschrocken drein, als hätte die Regie‐ rung ihm das bißchen Rente auch noch gestrichen. »He, nimm die Flossen von dem Mann!« rief der Wirt hinter 448
der Theke. Hugh zog seine Polizeimarke aus der Jackeninnentasche und hielt sie für beide sichtbar in die Höhe. »Na und«, sagte der Wirt mürrisch, nachdem er einen flüch‐ tigen Blick auf den Ausweis geworfen hatte. »Geht die Krimi‐ nalpolizei jetzt Rentner verhaften, bloß weil sie ein paar Gro‐ schen schwarz nebenbei verdienen? Das ist ja echt der Ham‐ mer!« »Nun halten Sie mal den Rand!« zischte Hugh ihn an und zog Opa Willi wie eine Schaufensterpuppe sanft und doch mit eisernem Griff am Kragen des Dufflecoats ganz nah an sich heran. Die runzeligen Züge des Greises glichen inzwischen sehr unvorteilhaft hingeworfenen Mikadostäbchen. Seine von auffällig roten Äderchen durchwobenen Augen traten abnorm groß aus den Höhlen hervor, die Lider zuckten unkontrolliert. »Was haben Sie ihm da eben gesagt, Willi?« fragte Hugh noch einmal ruhig, aber mit noch mehr Nachdruck in der Stimme. »Nichts weiter«, sagte Willi und schluckte. »Nur daß ich sehr viel Rentenbeiträge einbezahlt habe, dafür aber jetzt zu wenig rausbekomme. Das ist meine Meinung. Ist das schon ein Ver‐ brechen?« »Nein, das meine ich nicht. Sie haben etwas von Paradies vier gesagt.« »Ja, da habe ich gearbeitet bis vor dreißig Jahren. Was dage‐ gen?« »Was ist Paradies vier, Willi?« Er ließ den alten Mann wieder los, worauf dieser merklich 449
entspannter wurde. »Das weiß doch jedes Kind. Es ist das Schachtfördergerüst, eins von den alten. Steht sogar ganz groß die Nummer an der Verkleidung. Auf der Zeche gibt es sechs davon. Alle stillge‐ legt mittlerweile. Die Pfaffen haben in den Gottesdiensten andauernd so ’n Zeug gequatscht damals, von wegen daß man nach dem Tod tief in die Hölle fahren müsse, wenn man im Leben nicht fromm gewesen ist und so. Wir Bergmänner waren ja den ganzen Tag da unten, aber uns kam der Ort gar nicht wie die Hölle vor. Im Gegenteil, das war das Paradies für uns, weil je tiefer der Schacht runterging, umso mehr Zu‐ lagen haben wir bekommen. Und da haben wir den Schacht halt auch so genannt, aus Spaß, verstehen Sie? Schachtförder‐ gerüst eins hat bei uns Paradies eins geheißen, Schachtförder‐ gerüst zwei Paradies zwei und so weiter. Warum wollen Sie das wissen?« »Wo führt Paradies vier hin?« »Na, erst einmal zu den Flözstrecken. Und von da zu den schon ausgebeuteten Sohlen, da sind manche schon über hun‐ dert Jahre leer. Viele Schächte sind geflutet, aber ein paar müßten noch offen sein. Zumindest die, in der die Kirche steht. Die ist nämlich ein kleines Kunstwerk, müssen Sie wis‐ sen.« »Was für eine Kirche?« »Die Kirche des Heiligen Judas. Immer wenn eine Sohle rest‐ los ausgebeutet worden war und der Schacht aufgegeben wurde, haben wir als Dank für den Herrgott, daß er unser Leben verschont hat, etwas Kleines zusammengezimmert und 450
es dann dort zurückgelassen. Ein Holzkreuz oder das Modell einer Kirche. Einmal haben wir es übertrieben. Ich glaube, es war die achte Flözstrecke, wenn man Paradies vier runterge‐ kommen ist, dort haben wir aus dem alten Stützholz eine rich‐ tige kleine Kirche gebastelt, vielleicht zwei Meter hoch. Sogar die Vorarbeiter haben mitgemacht. Keine Ahnung, warum wir uns so ’ne Mühe gegeben haben. Wahrscheinlich stand Ostern an. Meine Fresse, was müssen wir zu der Zeit Achtung vor diesem katholischen Scheiß gehabt haben!« »Wieso habt ihr sie so genannt?« »Tja, wir waren alle wilde junge Männer, und der gerissene Judas hat uns halt mehr imponiert als der mit den Sandalen. Außerdem hatte unser Bergmannspfarrer einmal gemeint, daß der Judas auch so ein Heiliger wäre, bloß daß für den keiner eine Kirche hochgezogen hätte. Als wir das Ding fertig hatten, haben wir den Pfaffen sogar nach unten geholt, und der hat es dann nach allen Regeln der Kunst gesegnet. Es gibt auch Fotos von dem Kasten.« »Wieso hattet ihr Holz da unten?« Hugh hatte schlagartig das Gespräch mit Sigi und Claudius wieder im Ohr, als die Pathologin ihnen von ihrem Fund von Holz‐ und Kohleparti‐ keln bei dem toten Udo berichtet hatte. »Damals, Ende der Fünfziger, waren die Stützpfeiler und Deckenstreben für die Schächte schon meist aus Metall. Metall war aber teuer, und deshalb mußten wir zwischendurch auch das alte Holz verwenden. Das stammte noch von den Anfän‐ gen des Bergbaus und lag da noch massenweise herum.« Steinkohle, hundert Jahre altes Holz und der Heilige Geist in 451
einem absolut schalldichten, verbunkerten Raum, in den nur ein bißchen Luft eindringt: Claudius’ schlaue Ahnungen und Sigis mikroskopische Spuren bildeten eine perfekte Fusion. Stickig und trocken war es dort unten in so einem Schacht, so daß die Schleimhäute der Kinder unter chronischer Austrocknung litten. Und sakrale Lieder wurden auch gesungen, so empha‐ tisch, daß man davon ganz heiser wurde und Sängerknötchen an den Stimmbändern bekam – in der Kirche des Heiligen Judas. Hugh konnte es kaum fassen, daß PARADIES4 ihm den Aufenthaltsort der Kinder schon von Beginn an unter die Nase gerieben hatte. »Könnte man heute immer noch zu den Schächten hinab‐ steigen, obwohl die Zeche stillgelegt ist?« Opa Willi grinste listig. »Jemand wie ich, der Ahnung davon hat, schon. Die ganze Anlage ist an die Chinesen verkauft. Die Schlitzaugen werden sie im Sommer Schraube für Schraube auseinandermontieren, in Container verpacken und dann mit nach Hause nehmen. Deshalb ist sie immer noch elektrifiziert. Und wenn Strom da ist, braucht man nur die richtigen Knöpfe zu drücken, um das Belüftungssystem einzuschalten. Das fällt keiner Sau auf, weil da eh keine Sau ist. Und die Stromrech‐ nung bezahlen sowieso irgendwelche Bürohengste in der Abwicklungsgesellschaft, ohne daß die mitkriegen, wofür. Dann steigt man ganz bequem in den Schachtaufzug, und schon ist man unten. Doch wie gesagt, das kann alles nur je‐ mand machen, der sich im Bergmannsgeschäft wirklich gut auskennt.« Mit einem Mal merkte Hugh, daß der junge Wirt seine Zapf‐ 452
arbeit längst unterbrochen hatte, sich über die Theke zu ihnen beugte und mit immer größer werdenden Augen die Unter‐ haltung verfolgte. Hugh schaute auf seine Armbanduhr. »Passen Sie auf, Willi, ich muß jetzt für zehn Minuten weg. Aber ich komme wieder. Könnten Sie solange hier warten und mich dann zu der Zechenanlage führen? Ich möchte, daß Sie mich über Paradies vier zu der achten Flözstrecke bringen. Wenn Sie mir dann dort unten die Kirche des Heiligen Judas zeigen, können Sie sich Ihr Pils im ›Blindschacht‹ bis an Ihr Lebensende auf meine Kosten schmecken lassen.« »Bist du dir da ganz sicher, Jüngelchen?« sagte Opa Willi und ließ den Blick über Hughs Boss‐Klamotten streifen. »Da unten wird man ganz schnell ganz schwarz, weißt du? Wo‐ rum geht’s denn überhaupt?« Hugh verließ die Kneipe ohne weitere Erklärungen und lief durch das Schneegestöber zur anderen Straßenseite. Er stürm‐ te in die Nummer 54 und stellte im Innern des Kastens gar nicht überrascht fest, daß er unbewohnt war. Das Treppenge‐ länder bog sich schwindelerregend schräg wie ein Gummi‐ band, das seine Elastizität schon längst eingebüßt hat, die Tü‐ ren zu den einzelnen Wohnungen standen alle weit offen, und auf Schritt und Tritt mußte er über Haufen von Müll klettern. »Hallo!«, rief er. »Hallo, ich bin da!« Hugh zog die Walther P5 aus dem Schulterholster, verbarg sie halb im Mantelaufschlag und suchte danach die einzelnen Wohnungen nach Mister Anonymus ab. In einigen Zimmern lagen noch verkohlte Reste von Lagerfeuern, die von zuge‐ dröhnten Jugendlichen oder Obdachlosen stammten. Überall 453
auf den Böden standen gefrorene Wasser‐ und Urinpfützen. Modrige Matratzen, Plastikspritzen und halbleere Verpak‐ kungen von Nahrungsmitteln deuteten darauf hin, daß Jun‐ kies das Gebäude gern als Notunterkunft benutzten. In man‐ chen Räumen war noch das ganze Inventar vorhanden, aller‐ dings völlig eingestaubt und in Auflösung begriffen, und Hugh fragte sich kurz, ob dessen Besitzer wohl inmitten ihrer alltäglichen Tätigkeiten von einer höheren Macht von der Er‐ de abberufen worden waren. Durch die ohne Ausnahme zer‐ schlagenen Fensterscheiben schneite es in die Räume hinein. In einer der Müllwohnungen vernahm er plötzlich von weit her ein Geräusch, eine Art verhaltenes Poltern. Es kam von der über ihm liegenden Etage. Hugh lief ins verdreckte Trep‐ penhaus und eilte die Stufen hinauf. Das Geräusch wurde jetzt lauter, und als er oben auf dem Flur angekommen war, gab es für ihn keinen Zweifel mehr, daß sich die Quelle des Geräuschs in der links von ihm liegenden Wohnung befand. Er ging hinein und sah sich abermals sperrangelweit offenste‐ henden Türen, von den Wänden herunterflatternden Tapeten‐ streifen und mit Unrat drapierten, ansonsten jedoch recht lee‐ ren Räumen gegenüber. »Hallo!« rief er wieder. »Tut mir leid wegen der Verspätung, aber jetzt bin ich endlich da.« Er gelangte zu einem großen Raum, der wohl einmal das Wohnzimmer gewesen war und außer einem mammuthaften Fernseher mit eingeschlagenem Bildschirm und einem altmo‐ dischen Sessel nichts weiter beherbergte. Das Gepolter war verstummt. 454
Doch dann war es auf einmal wieder ganz dicht hinter ihm. Er fuhr herum und erblickte zur Abwechslung eine verschlos‐ sene Tür, durch die das Geräusch mit doppelter Lautstärke drang. Während er die Pistole ein wenig unter dem Mantel hervorzog, sie jedoch weiterhin nach unten gerichtet hielt, bewegte er sich langsam darauf zu, streckte schon die Hand nach der Klinke aus und … Die Tür ging auf, und eine unbekannte Gestalt mit einer weißen Maske stand vor ihm. Aber nein, weder war die Ge‐ stalt unbekannt noch maskiert. Es war Karim, der sich in der Zwischenzeit die gebrochene Nase hatte behandeln lassen und deshalb nun im Mittelteil des Gesichtes einen riesigen, mit Heftpflastern befestigten Verband trug. Er hatte eine Pi‐ stole in der Hand, und bevor Hugh reagieren konnte, richtete er sie auf ihn und schoß ihm in den Bauch. Während Hugh durch die Wucht der Kugel nach hinten ge‐ schleudert wurde, ging ihm mit einem Mal auf, wer ihn in der Nacht mit akzentfreier Aussprache angerufen hatte: der deutsche Konvertit, Karims Freund und Glaubensbruder. Es sieht so aus, als wäre das, was zur Zeit geschieht, Gottes Strafe, hatte er gesagt. Das hätte Hugh zu denken geben sollen. Und noch etwas anderes wußte er im selben Moment mit Gewiß‐ heit: Einen Bauchschuß würde er, wenn überhaupt, nur über‐ leben, wenn sofort ärztliche Hilfe kam. Seine Waffe flog ihm aus der Hand, und er prallte gegen eine Wand und sank zu Boden. Karim schritt langsam auf ihn zu, kniete sich zu ihm nieder und schaute ihn lange schweigend an. Das strahlende Weiß des Verbandes bildete einen markan‐ 455
ten Kontrast zu seinen dunklen Augen. »Ich nix kommen von Mittelalter«, sagte er leise. »Ich wissen, daß Abdullah nicht mein Sohn. Aber ich liebe Aischa. Was soll ich machen? Du sterben nicht, weil du das herausgefunden. Du sterben, weil du vor Augen meiner Kinder meine Ehre verletzt. Ihr habt vergessen, was Ehre ist. Deshalb ihr seid bald Vergangenheit.« Er stand auf, drehte ihm den Rücken zu und ging davon. »Karim«, sagte Hugh und hustete ein bißchen Blutschleim aus, während er beide Hände gegen das Loch in seinem Bauch preßte. »Komm zurück. Es … es ist wichtig …« Karim blieb in der Mitte des Zimmers stehen, drehte sich um und kam tatsächlich wieder zurück. Regungslos und mit lee‐ rem Ausdruck blickte er von oben auf Hugh herab. Dann schoß er ihm ein zweites Mal in den Bauch.
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26. Unterwegs zu Erika hatte Claudius schon das x‐te Dankesge‐ bet an Hugh gesprochen, weil dieser den Mercedes bereits vor einer Weile mit Winterreifen ausgestattet hatte. Die Straßen, die er jetzt morgens um halb neun hinter der Windschutz‐ scheibe sah, hätten sich auch irgendwo in Grönland befinden können. So massiv hatte der Schneefall sie eingedeckt, daß man sie mit einer arktischen Landschaft verwechseln könnte. Im Radio meinte gerade einer dieser inflationären Experten, daß solch harte Wintereinbrüche dem Treibhauseffekt zu ver‐ danken seien. Dabei hatte Claudius sich unter einem Treib‐ haus und folgerichtig unter dessen Effekt eigentlich immer genau das Gegenteil vorgestellt. Er sah auf seinem Weg viele liegengebliebene oder infolge des Schneegestöbers zusammengestoßene Autos. Aufgebrach‐ te Leute standen um den Blechschaden und versuchten, den herbeigerufenen Polizeibeamten ihre Sicht des Unfallhergangs darzulegen – wenn die Gegenseite es zuließ. Auf den Bürger‐ steigen gingen die Passanten so, als plage sie ein körperliches Handikap. Mit vorsichtigen Schritten stapften sie durch den Schneekuchen und machten dabei komische Verrenkungen. Es schneite immer noch sehr stark, und der tiefgraue Weltun‐ tergangshimmel sah nicht so aus, als gedenke er bald damit aufzuhören. Richard Claudius war wegen einer lachhaften Idee auf dem Weg zu seiner Ex‐Frau. Er hatte allen Ernstes vor, sie zu fra‐ 457
gen, ob es in Ordnung ginge, wenn er den bisherigen Tren‐ nungszustand im theoretischen Sinne beendete und sich jetzt endgültig von ihr trennte. Sie sollte ihm, dem verliebten alten Esel, die Absolution für die in der Nacht getroffene Grund‐ satzentscheidung erteilen, die zugunsten von Marlis ausgefal‐ len war. Deren eigenartiges Verhalten würde er durch seine Anwesenheit an ihrer Seite schon in den Griff bekommen. Schließlich befand sie sich in einer Ausnahmesituation, und man sollte ihm einen Menschen zeigen, der nicht halbverrückt geworden wäre, nachdem man ihm das geliebte Kind entführt hatte. Claudius wollte Erika sagen, daß er sie zwar immer noch sehr liebe, sich durchaus auch eine traute Zukunft mit ihr vorstellen könne, sich jedoch von Marlis nun einmal mehr versprach. Nämlich, das eigene Altern noch ein paar Jährchen aufzuschieben, etwas völlig Neues zu wagen. Sein Innerstes wehrte sich, die Strickjacke schon jetzt überzuziehen und sich nur noch an lauen Vergnügen wie dem gemeinsamen Früh‐ stück oder schnarchigen Opernabenden zu erfreuen. Das wollte er ihr sagen. Natürlich stellte er dadurch Erika als eine phantasielose und blutarme Oma hin, die sie ja in Wirklichkeit gar nicht war. Aber die Aussprache auf die psychologische Tour erschien ihm schonender, als ihr direkt ins Gesicht zu sagen, daß er sich einfach in eine andere Frau verliebt hatte. Wenn er es sich recht überlegte, war die Idee zu diesem Be‐ such nicht nur lachhaft, sondern geradezu boshaft. Doch er wollte nun einmal den finalen Schnitt. Claudius parkte den Mercedes direkt vor dem Altbau, stieg aus und klingelte an der Tür. Im Nu war er von wirbelnden 458
Schneeflocken eingehüllt, und der alte Fischgrätenmuster‐ mantel bekam einen weißen Anstrich. Weder meldete sich Erika über die Gegensprechanlage, noch wurde die Tür auf‐ gedrückt. Er klingelte noch zweimal, doch vergebens. Sie schien nicht zu Hause zu sein. Vielleicht ein Omen, daß er sich mit seinen albernen Liebesproblemen schleichen und gefäl‐ ligst wieder an die Arbeit gehen sollte. Er hätte ohnehin längst in der Gerichtsmedizin bei Dr. Vetter sein müssen. Sie hatte ihm zwar zugesichert, daß sie ihn wegen des Ergebnisses der Gentests anrufen wolle, doch ein persönliches Gespräch wür‐ de bestimmt zu mehr Klarheit beitragen. Außerdem war da noch der auffällig stumme Hugh, der sich normalerweise nicht scheute, ihn mitten in der Nacht anzurufen, wenn es um so wichtige Dinge ging wie um das Treffen mit Aischa. Wo steckte der Kerl bloß? Kurzum, Claudius hatte wirklich etwas anderes zu tun, als unschuldige Frauen mit Opa‐hat‐’ne‐neue‐ Flamme‐Meldungen zu erschrecken. Er kehrte zum Mercedes zurück und öffnete die Fahrertür, als sein Blick plötzlich über das Wagendach auf die Videothek auf der anderen Straßenseite fiel. Bei seinem letzten Besuch hatte Erika erwähnt, daß sie dort halbtags arbeitete. War das auch ein Omen? Der Fingerzeig einer höheren Macht, sich vor brisanten Geständnissen nicht zu drücken, seien sie noch so lächerlich, boshaft und dazu geeignet, das Herz der geliebten Gefährtin zu brechen? Er lief über die Straße, öffnete die Tür und betrat den Laden. Am Ende eines langen Ganges, der von einem wahren Ster‐ nenzelt aus in die Decke versenkten Halogenstrahlern be‐ 459
leuchtet wurde, erblickte er sie. Erika saß am Servicetisch und packte DVDs, die sie von einem vor ihr stehenden Stapel nahm, in bunte Hüllen. Sie sah ihn sofort und sandte ihm ein herzliches Begrüßungslächeln zu. Sie trug ihre brünetten lan‐ gen Haare heute offen und hatte sie locker über die Schultern gekämmt. Das rostrote Kostüm, in dem sie steckte, und die Perlenohrringe, ein Geschenk von Claudius zum zwanzigsten Hochzeitstag, ließen sie besonders attraktiv erscheinen. Freu‐ de und die Hoffnung nach einem Happy‐End sprachen aus ihrem Gesicht, das immer noch fast faltenlos und wie aus Por‐ zellan war und nicht im entferntesten so wirkte, als würde seine Besitzerin ihm gleich die Strickjacke überreichen. Claudius setzte wohl oder übel ebenfalls ein Lächeln auf, während er ihr entgegenschritt. Würde er überhaupt den Mut besitzen, gleich grausame Wahrheiten zu sagen? Weshalb, um Himmels willen, mußte er sich bei ihr überhaupt abmelden? Sie waren doch schon getrennte Leute! Die Idee kam ihm mitt‐ lerweile noch lachhafter als zu Anfang vor. Zu beiden Seiten des Ganges befanden sich geräumige Ni‐ schen, in denen eine Unzahl von DVDs auf schmalen Regalen in Reih und Glied stand. Claudius konnte aus den Augenwin‐ keln nur ein buntes Potpourri aus dramatischen Gesichtsaus‐ drücken, Körpern in Aktion, jeder Menge Waffen und Explo‐ sionen, exotischen Landschaften und Titeln wahrnehmen, deren Bombastlettern den Betrachter anschrien. Er streifte auch an einer lebensgroßen Kunststoffigur von Batman oder irgendeinem anderen Comic‐Knaben vorbei. Dann stand er endlich vor ihr und hatte das Gefühl, daß sein 460
Lächeln jetzt endgültig zu etwas erstarrt sein mußte, was man mit einem Meißel hätte abklopfen können. Um ihr vor lauter Schuldgefühlen nicht ins Gesicht schauen zu müssen, sah er auf ihre Hände, die immer noch eine DVD nach der anderen vom Stapel nahmen und in die Hülle mit der entsprechenden Nummer steckten. Gerade war ein Pornofilm dran, auf dessen Cover Nackedeis Körpersäfte verspritzend übereinander her‐ fielen. Erika merkte, auf was sein Blick gerade ruhte, und ihr herz‐ licher Ausdruck verzog sich zu einem frivolen Lächeln. »Tja, mein Lieber, ist schon ein Weilchen her, daß wir den Küchen‐ tisch für solcherlei Spaße mißbraucht haben«, sagte sie. »Ich muß diesen ganzen alten Mist neu einsortieren. Grüß dich erst mal!« Sie erhob sich und neigte sich zu ihm, um ihm einen Kuß zu geben, während ihre Finger wie nebenbei schon die nächste DVD‐Hülle zusammenklappten. Sein Blick war immer noch gesenkt und auf ihre Hände gerichtet. »Erika, ich muß mit dir sprechen«, sagte er mit kehliger Stimme, noch bevor sie ihn küssen konnte. Expertin des Fein‐ gefühls, die sie war, spürte sie sofort, daß etwas nicht stimm‐ te, und wich zurück. Das Lächeln verschwand aus ihrem Ge‐ sicht. Ihre Hand öffnete sich und entblößte das Cover auf der nächsten DVD‐Hülle. Wieder ein Pornofilm. Der Titel lautete Spritzparade. Es war nicht nur die einsetzende Erinnerung an den Tage‐ bucheintrag mit der Überschrift Spinne, in dem über den Dreh dieses Films berichtet wurde, der Richard Claudius schlagar‐ 461
tig an den Rand eines Schwächeanfalls brachte. Es war viel‐ mehr das Cover selbst. Darauf präsentierten sich Männer und Frauen so, wie Gott sie erschaffen hatte. Sie waren eng inei‐ nander verschlungen und hielten mit lüsternen Gesichtern ihre Geschlechtsorgane dem Betrachter entgegen. Claudius’ Augen zoomten sich gewissermaßen durch die Nackten hin‐ durch, bis am Ende nur noch ein Gesicht übrigblieb. Es schau‐ te ihn hinter strubbeligen, wild schwingenden dunklen Haa‐ ren durch brillantblaue Augen an, über die sich wie schläfrig die Lider stülpten. Er kannte die Frau, der dieses Gesicht ge‐ hörte – ihretwegen war er hier. Und dann rief er sich ins Ge‐ dächtnis, was Spinne auf die Frage von PARADIES4: Glaubst du, daß wir Fränkie erst die lange Matte abschneiden müssen, bevor wir mit seinem abgehackten Kopf Fußball spielen können?, zur Antwort gegeben hatte. Fürchte schon, hatte Marlis gesagt und in diesem Moment ihr wahres Wesen offenbart. Claudius hät‐ te sich dafür ohrfeigen können, daß er nicht vorher darauf gekommen war. »Was ist los mit dir, Richard?« fragte Erika. Sie blickte ihn eher besorgt an und gar nicht so, als ob sie das Aufziehen ei‐ ner Gewitterfront an ihrem gemeinsamen Zukunftshorizont befürchtete. »Was mit mir los ist?« erwiderte Claudius. »Der Klinikauf‐ enthalt hat nichts genützt. Ich bin immer noch vollkommen irre wie zuvor. Das ist mit mir los!« Er ergriff die Hülle. »Kann ich das haben?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, steckte er die DVD ein und rannte den langen Gang entlang zum Ausgang. Draußen hüll‐ 462
ten ihn die Milliarden Schneeflocken ein wie verzweifelte Motten das einzige Licht. Er zog das Handy aus der Tasche und bewegte mit zittrigen Fingern den schwarzen Balken im Telefonbuch zu dem Namen Hugo Hoffer hinunter. Da klin‐ gelte es. Er drückte auf Empfang. »Guten Morgen, Herr Claudius, Sieglinde Vetter hier.« Die Pathologin klang sehr aufgeregt. »Meine Assistenten und ich haben in den letzten Stunden schon mit dem Gedanken ge‐ spielt, Amphetamine zu uns zu nehmen, damit wir diesen Riesenberg an Arbeit bewältigen können. Doch als Sie sagten, ich solle auch prüfen, ob nicht nur zwischen Udo Rinke und Sylvia Tale eine verwandtschaftliche Beziehung besteht, son‐ dern auch zwischen diesen beiden und dem kleinen Abdullah al Said, da ist mir das ganze Ausmaß Ihres Verdachts klarge‐ worden. Deshalb habe ich den Gentest eigenmächtig auf alle zwölf Kinder ausgedehnt. Gerade ist das Ergebnis gekommen. Und jetzt halten Sie sich fest: Alle entführten Kinder besitzen das Genmaterial desselben Elternteils, sie sind Halbgeschwi‐ ster! Das ist wohl die stärkste Gemeinsamkeit, die sie unterei‐ nander haben können, finden Sie nicht?« »Ja«, sagte Claudius. »Genau das vermute ich schon seit ei‐ ner Minute. Trotzdem vielen herzlichen Dank dafür, daß Sie sich meinetwegen die Nacht um die Ohren geschlagen haben. Der Rotwein beim Italiener wartet bereits auf Sie. Ich muß jetzt Schluß machen, weil ich gerade kapiert habe, wo der Ha‐ se langläuft. Und ich will diesen Hasen heute noch erwi‐ schen.« Er legte auf und machte sich wieder über das Handytelefon‐ 463
buch her. Es klingelte erneut. Claudius schaute auf das Disp‐ lay. Es zeigte den erlösenden Namen: Hugo Hoffer.
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27. Durch die zerschlagenen Fensterscheiben kam der Schnee hereingeweht wie Engelshaar und häufte sich auf dem Boden zu einer Dünenlandschaft. Mit dem Schnee kam aber auch die Kälte. Ihm war inzwischen so kalt geworden, als würde es ihm nie wieder warm werden. Nach allem, was er in der Poli‐ zeiführungsakademie über Schußwunden gelernt hatte, war das eine ziemlich gute Prognose. Der leere Raum um ihn he‐ rum, lediglich mit dem demolierten Riesenfernseher und dem alten Sessel möbliert, begann langsam zu verblassen. Hugh preßte die rechte Hand gegen seine beiden Bauch‐ wunden. Sie glichen Vulkanen, die, je verschwenderischer sie ihre Lava in die Welt spieen, sich desto schneller erschöpften, bis sie bald ganz ausgebrannt waren. Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung da unten. Ein kaltes, taubes Gefühl wechsel‐ te sich ab mit Schmerzattacken, die sich anfühlten, als stochere ein Sadist mit glühenden Eisen in Hughs Eingeweiden. Eine schmierige Blutspur verlief über seinem Kopf nach unten bis zu der Stelle, wo nun sein Oberkörper gegen die Wand lehnte. Aus seinen Mundwinkeln rann in Abständen Blut, das auf seinen schönen Boss‐Anzug tropfte. Ob die das bei der Reini‐ gung wohl je wieder herausbekommen würden? Mit der Lin‐ ken hielt er kraftlos das Handy am Ohr. »Juch, wo sind Sie?« hörte er einen erregten Claudius am anderen Ende. »Ich glaube, ich weiß jetzt endlich, wer der Mörder ist.« 465
»Ich auch«, sagte Hugh. »Aber ich weiß noch mehr, nämlich, wo die Kinder sind.« Er vernahm ein erleichtertes Stöhnen durch den Hörer. »Hören Sie mir jetzt genau zu, Claudius. So wie es aussieht, sterbe ich in wenigen Minuten. Karim hat mich in eine Falle gelockt und angeschossen, weil ich ihn bei der Sache gestern in seiner Ehre gekränkt habe. Zweimal Bauchschuß, das überlebt keiner.« Das Stöhnen verwandelte sich in ein verzweifeltes Japsen. »Sagen Sie mir, wo Sie sich befinden, und legen Sie dann auf. Ich rufe sofort den Notarzt.« »Das habe ich schon selber getan. Machen wir uns nichts vor, ich habe Scheiße gebaut, und dafür muß ich jetzt bezah‐ len. Ich hätte mir nur gewünscht, daß … von mir mehr üb‐ rigbleibt als ein paar erstklassige Schuhe. Aber vielleicht kön‐ nen Sie ja noch die Kinder retten, und die denken dann ir‐ gendwann mal an den guten alten Hugh.« »Juch, legen Sie verdammt noch mal auf der Stelle auf! Das ist ein Befehl! Sie verlieren durch das Sprechen nur Kraft.« »Nein, nein, hören Sie mir zu … Ich habe seit gestern abend fast alles in Erfahrung gebracht. Es ist alles wahr, was in dem Tagebuch steht. Aber dieser Sex‐Maniac ist tot. Serge LeBon hieß er. Der Mann hat einen phänomenalen Geruchssinn be‐ sessen und konnte die fruchtbaren Tage einer Frau riechen. Er hat einen selbstgeschaffenen religiösen Zeugungskult zeleb‐ riert. Die entführten Kinder sind alle von ihm.« »Das weiß ich bereits. Und ich weiß auch, daß Marlis Adel eine wichtige Rolle bei der ganzen Geschichte spielt.« »Ja, sie wurde auch von ihm geschwängert. Danach hat er 466
aber einen schweren Fehler begangen, denn er hat sie zu sich nach Frankreich mitgenommen. Was die Anfälligkeit für die‐ sen religiösen Hokuspokus angeht, war sie ihm ziemlich ebenbürtig, wenn nicht sogar weit überlegen. Da haben sich zwei Seelenverwandte gefunden, würde ich sagen. Serge Le‐ Bon hatte ein Schloß an der Loire. In dem Sommer, als er all die Kinder gezeugt hat, haben die beiden sich gegenseitig in ziemlich üble Spielchen hineingesteigert, bis Marlis Adel end‐ gültig ausgeflippt ist. Sie hat ihn umgebracht, zu Tode ge‐ peitscht. Dann ist sie wieder in die Siedlung zurück. Die Frau muß schon immer eine Form des Irrsinns in sich getragen ha‐ ben, die periodisch zutage tritt.« »Sie ist als kleines Kind von Streptokokken infiziert wor‐ den«, sagte Claudius. Seine Stimme klang offiziell, als wolle er für sie beide die Illusion eines gewöhnlichen Dienstgespräches aufrechterhalten. »Normalerweise löst die Krankheit Halsent‐ zündungen und rheumatisches Fieber aus. Doch Marlis hat leider eine bösartige Mutation erwischt, die das Hirn angreift. Seitdem war sie wohl nie mehr so ganz richtig im Kopf.« »Bis auf fünf Jahre«, sagte Hugh. »Sie hat uns erzählt, daß sich mit Svens Geburt ihr Leben grundlegend verändert hat. Ich habe mal gehört, daß durch eine starke hormonelle Um‐ stellung eine Geisteskrankheit für einige Zeit in den Hinter‐ grund treten kann. Aber Marlis hatte wieder Pech. Sven war unheilbar an Leukämie erkrankt.« »Was?« »Sie haben richtig gehört, er ist nicht entführt worden, son‐ dern zu Hause in den Armen seiner Mutter gestorben. Der 467
kleine Dr. Habibi aus dem Franz‐von‐Assisi‐Kranken‐haus wird Ihnen die Patientenakte von Sven Adel zeigen. Der Tod des Jungen war der eigentliche Auslöser für die ganze Entfüh‐ rungsgeschichte. Es würde mich nicht wundern, wenn Marlis die Leiche in dem Ödland zwischen ihrem Haus und der Ze‐ chenanlage vergraben hätte. Ich vermute, sie hatte krankhafte Schuldgefühle, und der ganze religiöse Wahnwitz ist mit doppelter Zerstörungskraft aus ihr herausgebrochen. Sie wuß‐ te durch die Tagebücher LeBons, daß außer ihrem Sohn elf andere Kinder in Sünde gezeugt worden waren. So hat sie es jedenfalls offensichtlich gesehen. Und da ist sie auf die Sache mit den Engeln gekommen. Damit die Sünde nicht fortschrei‐ tet, überantwortet sie die Kinder jetzt nach und nach Gott. Die ganze Beterei und Singerei in dem Versteck ist für die Kinder gewissermaßen die Vorbereitung auf das Himmelreich.« »Wieso hat sie Sven als entführt gemeldet?« Hugh hustete, und Blutschleim sickerte aus seinem Mund. »Um sich von vornherein aus dem Kreis der Verdächtigen auszuschließen und an Ermittlungsinterna heranzukommen. Deshalb hat sie sich auch mit Ihnen eingelassen. Sie war im‐ mer bestens über unsere Arbeit informiert. Gleichzeitig wollte sie über das Weblog Aufmerksamkeit für ihre heilige Mission bekommen. Total verrückt. So, Claudius, nun passen Sie ge‐ nau auf: PARADIES4 ist nicht irgendein Pseudonym, sondern eine feste Bezeichnung in der Bergmannssprache. Damit ist das vierte Schachtfördergerüst auf der stillgelegten Zeche ge‐ meint. Die Nummer muß irgendwo ganz groß an dem Ding stehen. Der Fahrstuhl darin führt zu den einzelnen Schächten 468
herunter. Die Kinder befinden sich in der achten Flözstrecke. Dort muß auch eine Miniaturkirche stehen.« »Die Kirche des Heiligen Judas«, murmelte Claudius wie zu sich selbst. »Das wissen Sie?« »Ja, in Marlis’ Wohnung hängt ein Foto davon. Hugh, Sie haben nun wirklich genug geredet. Wir beenden das Gespräch hier. Halten Sie durch, bis der Krankenwagen kommt, und ich kümmere mich um die Kinder.« »Ich versuch’s. Aber vorsichtshalber sage ich Ihnen kein Auf Wiedersehen.« Er stockte. Der leere Raum vor seinen Augen verlor immer mehr an Farbe und Kontur. »Ist es nicht ein Jammer, daß wir voneinander so wenig wissen, Claudius? Ich meine, wir hätten uns zumindest einmal auf ein Bier treffen können oder so.« »Das werden wir mit Sicherheit noch tun, mein Junge.« Hugh merkte, wie die Stimme des Alten brüchig wurde. »Au‐ ßerdem weiß ich über Sie inzwischen auch so gut Bescheid. Sie sind der beste Partner, den ich je hatte – und ich hatte nie einen! Ich warne Sie: Sollten Sie die Unverschämtheit besitzen, abzukratzen, schmeiße ich den Job auf der Stelle hin, und all die Killer dieser Welt können dann zusehen, wie sie ohne mich zurechtkommen.« »Scheiße, jetzt wird es doch nichts mit der bis aufs Komma genau ausgerechneten Pension, was Opi?« sagte Hugh und lachte mit blutigem Mund. »Doch, Juch, doch, bis zum Horizont und dann immer wei‐ ter, mein Junge.« 469
»Ich lege jetzt auf, Claudius. Leben Sie wohl.« »Auf Wiedersehen gleich im Krankenhaus, Juch!« Hugh drückte auf die Aus‐Taste. Er konnte seine Beine nicht mehr spüren. Alles um ihn herum war inzwischen in einem dämm‐ rigen Licht versunken. Lediglich die durch die kaputten Fen‐ ster hineinwehenden Schneeflocken leuchteten so hell, als wären sie mit phosphoreszierender Farbe besprüht. Er schaute auf sich herab. Die Hand, die er fest auf den Bauch gepreßt hatte, war schlaff zur Seite gefallen und entblößte die beiden Vulkane. Sie waren erloschen. Sein ganzer Oberkörper triefte so intensiv vor Blut, als hätte man ihn aus einem Schlauch mit roter Farbe bespritzt. Er schloß die Augen. Das Handy klingelte. Er nahm ab und führte es mühsam ans Ohr. »Ja?« »Hallo, Hugh! Erinnerst du dich noch an mich?« Eine quirli‐ ge Frauenstimme mit vorwurfsvollem, zugleich neckischem Unterton. »Klar erinnere ich mich an dich, Carla.« »Was ist denn? Du hörst dich irgendwie komisch an.« »Bin etwas außer Atem … gerade joggen gewesen …« »Warum hast du mich nicht mehr angerufen, du treulose Tomate?« »Ich … habe deine Nummer versehentlich gelöscht, aber jetzt freue ich mich um so mehr …« »Du lügst doch das Blaue vom Himmel herunter! Heute morgen hab ich die Sommersachen in die Waschmaschine getan und dabei diesen Zettel mit deiner Nummer in einer der Kleidertaschen gefunden. Weißt du noch, du hast sie mir da‐ 470
mals in der Eisdiele gegeben. Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, ob ich dich wirklich anrufen soll, das kann ich dir verraten. Es ist nämlich nicht meine Art, abgetauchten Scheißkerlen hinterherzutelefonieren, aber …« »Carla, ach, Carla …« Er lachte in den überhellen Flug der Schneeflocken hinein, die leise bis zu ihm herüberwehten. Und mit einem Mal sah er sie in diesem Wirbel stehen. Auch sie lachte. Nein, die Reise mit Claudius hatte nicht im Kern der alles verschlingenden Düsternis geendet und auch nicht an einem Ort, wo es ewig schneite und wo es kalt war in alle Ewigkeit. Es gab nämlich keine Endstation. Und wenn es sie wirklich gab, welcher Idiot wollte schon dort ankommen? Bis zum Horizont und dann immer weiter … Er legte das Handy weg, stand auf, strich den Boss‐Anzug glatt, brachte die Haare mit wenigen Handgriffen in Fasson und ging zu Carla. Dann gab er ihr einen Kuß und umarmte sie. Die Schneeflocken umtanzten sie wie Glühwürmchen. Von irgendwoher kam dieses magische Licht, dem sich nun pastellene Farben beimischten. Wie überirdisch schön sie war mit ihren langen blonden Haaren, ihren graublauen Augen und ihrem empfängnisbereiten Körper. Auf seine irrsinnige Art hatte LeBon recht gehabt: Menschen waren dazu da, um Menschen zu erzeugen. »Machst du dich über mich lustig?« fragte sie. »Im Gegenteil. Ich hätte dich auch längst angerufen, wenn dieses blöde Mißgeschick nicht passiert wäre.« »Und was wolltest du mir sagen?« »Daß ich dich heiraten möchte.« 471
»Jetzt übertreibst du aber.« »Nein, im Ernst. Ich werde den Polizeidienst quittieren und irgend etwas anderes machen. Wir werden heiraten und min‐ destens vier Kinder bekommen. Wir werden eine sehr große Familie sein, und eine sehr laute. Eine Familie, die ein Wissen hütet – das Wissen um das Glück. Habe ich dir schon erzählt, daß ich ein Michelangelo des Weihnachtsbaumschmückens bin?« Plötzlich horchte sie auf, und ein Schatten von Irritation leg‐ te sich über ihr Gesicht. »Was ist das?« fragte sie. Es hörte sich an wie die Sirene eines Krankenwagens in wei‐ ter, weiter Ferne. »Das«, sagte er und blinzelte ihr mit einem Auge zu, »das ist gar nichts. Komm, laß uns gehen.« »Ja, laß uns keine Zeit verlieren.« Sie lächelte und nahm seine Hand, und zusammen drehten sie dem leeren Raum den Rücken zu und verschwanden zwi‐ schen den leuchtenden Schneeflocken.
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28. Richard Claudius stand vor der Videothek und weinte wie ein kleines Kind, das seine Eltern verloren hat. Da war tatsächlich etwas dran, wenn auch im umgekehrten Sinne. Er hatte einen Sohn verloren. Schon wieder. Zweimal Bauchschuß, das überlebt keiner … Er würde den schönen Hugh nur noch in einem Sarg wiedersehen. Hoffent‐ lich war er dann mit einem feinen Boss‐Anzug gekleidet und trug seine teuren italienischen Schuhe. Claudius konnte darü‐ ber nicht lachen; ihm rannen unaufhörlich die Tränen über die faltige Haut. Doch die Trauer mußte einstweilen unter Ver‐ schluß gehalten werden wie ein böser Geist in der Flasche, der mit aller Kraft gegen den Stöpsel drückt. Eile war jetzt gebo‐ ten, wenn er die Kinder retten wollte … und falls wirklich stimmte, was Hugh über ihren Aufenthaltsort herausgefun‐ den hatte. Er lief über die verschneite Fahrbahn zum Mercedes auf der anderen Straßenseite, ohne auf den vorbeiströmenden Ver‐ kehr zu achten. Lautes Gehupe und wütende Gesten hinter den Frontscheiben der neben ihm scharf abbremsenden Fahr‐ zeuge waren die Reaktion auf seine Unvorsichtigkeit. Als er die Tür des Wagens öffnete, sah er mit einem Seitenblick, daß eine abgerissene Gestalt vor Erikas Tür stand und wie in einer Endlosschleife unaufhörlich ihre Klingel drückte. Dann jedoch wurde der Film unversehens abgebrochen, und der Kerl dreh‐ te sich zu ihm herum. 473
Es war Alfie, sein schon längst verstorbener Sohn, der aber irgendwie immer noch eine Art Zwischenleben führte. Er steckte in einem zerschlissenen und mit Schmutzflecken besp‐ renkelten Armeeparka und einer schmierigen Jeans, die überall Löcher aufwies. Auf dem Kopf trug er eine Bärenfell‐ mütze mit Ohrenklappen. Das Gesicht des Zweiunddreißig‐ jährigen hatte sich vom Aussehen her stark dem seines Erzeu‐ gers angenähert. Wie von Bleigewichten beschwert, hing es in Falten herunter, und die Haut hatte etwas von einem Lösch‐ papier, das schon ein paar Tintenkleckse zuviel geschluckt hat. Ungleichmäßig lange Stoppeln wuchsen ihm aus den Wangen. Als Alfie ihn erblickte, weiteten sich seine Augen wie die eines Verdurstenden in der Wüste beim Anblick der Oase. »Claudius, bleib stehen!« rief er und stürzte sogleich zum Wagen. »Nenn mich nicht andauernd Claudius«, sagte Claudius. »Ich bin dein Vater.« »Okay, liebes Papilein, wie du willst. Aber das liebe Mami‐ lein scheint gerade nicht zu Hause zu sein. Und das liebe Kindlein wird an gepanschtem Zeug verrecken, wenn es nicht gleich einen sauberen Schuß bekommt. Dann ist Schluß mit lustig im Familienidyll. Was soll ich also tun? ’ner Oma die Handtasche klauen oder im Supermarkt in die Kasse greifen? Such’s dir aus, Claudius. Hundert Euro, aber sofort!« Claudius zog sein Portemonnaie aus der hinteren Hosenta‐ sche und schaute hinein. »Tut mir leid, hier sind nur fünf drin. Du mußt später wiederkommen.« 474
Er stieg in den Wagen und startete. Alfie riß die Beifahrertür auf und sprang ebenfalls hinein. Ein garstiger Gestank wehte von seinem Sohn herüber, dessen Kleinkindgeruch er einst so gemocht hatte, daß er sich daran nicht hatte satt riechen kön‐ nen. Er preschte aus der Parklücke, so daß bei dem Mercedes die Reifen auf dem verschneiten Straßenbelag durchdrehten. Dabei kramte er das Handy aus der Manteltasche und drückte eine Nummer. »Claudius, ich bin echt am Arsch. Du mußt mir helfen …«, sagte Alfie. »Sei still!« brüllte Claudius und wartete mit dem Handy am Ohr ungeduldig darauf, daß jemand von der Sonderkommis‐ sion »Udo« dranging. Als sich endlich ein Beamter meldete, gab er hektisch die neuesten Entwicklungen durch. Er ver‐ langte, daß die Zentrale zu der Zechenanlage alles schicken solle, was sie aufbieten könne, darunter mindestens zwanzig Ambulanzen, jeden auftreibbaren Streifenwagen in der Stadt und das Sondereinsatzkommando. Zugleich ordnete er die Erstürmung von Marlis’ Haus in der Siedlung und die soforti‐ ge Fahndung nach Karim al Said an. Der Mann am anderen Ende der Leitung schien ob der Sensationsmeldung einem Infarkt nahe, merkte jedoch an, daß der ganze Apparat infolge des Schneegestöbers bestimmt lange brauchen würde, bis er zur Zeche gelangte. Das meteorologische Wüten hatte sich unterdessen gestei‐ gert. Die Scheibenwischer hatten schon eine Kehrfunktion übernommen und schaufelten den sich auf der Windschutz‐ scheibe beharrlich zu einer dicken Schicht häufenden Schnee 475
nur mit Mühe beiseite. Der Himmel verdüsterte sich zuneh‐ mend, als ob er gleich wieder zur Nachtzeit überzugehen ge‐ dachte. Obwohl Claudius wußte, daß er bei diesen katastro‐ phalen Verhältnissen ein ruhiges Tempo hätte einlegen müs‐ sen, konnte er nicht an sich halten und prügelte den Wagen durch die völlig zugeschneiten Straßen. Mehrmals rutschte dabei das Heck zur Seite, und er mußte akrobatische Verren‐ kungen am Lenkrad vollführen, um das Fahrzeug in der Spur zu halten. Und immer wieder drehten die Räder durch. Alfie neben ihm wirkte wie eine kurz vor der Explosion ste‐ hende Sprengladung. Ein starkes Zittern hatte von ihm Besitz ergriffen, und er rutschte in seinem Sitz ständig hin und her. Manisch wischte er sich den nie versiegenden Schweiß im Gesicht am Parkaärmel ab. Das Gift hatte aus ihm längst eine Marionette gemacht, die sich nun auch noch in ihren Fäden verheddert hatte. »Halt doch schnell bei irgendeinem Geldautomat an«, bettel‐ te er. »Dann gibst du mir ein paar Scheinchen und bist mich los.« »Alfie, reiß dich doch zusammen, Mann«, sagte Claudius. »Es geht hier um das Leben von vielen Kindern. Jede Minute ist kostbar. Wenn du willst, setze ich dich ab.« »Bist du verrückt? Wie soll ich bei dem Eskimowetter Kohle organisieren? Nee, Claudius, du mußt mir das Geld gleich besorgen. Ich brauche den Stoff, sonst krepier ich.« »Nein, verdammt noch mal, dafür ist keine Zeit!« »Dreh um!« kreischte Alfie plötzlich und griff in das Lenk‐ rad. Sein Gesicht hatte sich in eine irre Fratze verwandelt, und 476
die weit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen zeugten da‐ von, daß die brennende Lunte die Sprengladung erreicht hat‐ te. »Das Geld, das Geld, ich brauche es!« Claudius verpaßte seinem Sohn mit der Rechten eine schal‐ lende Ohrfeige. »Ich hasse dich!« brüllte er und schlug wie von Sinnen immer weiter auf die Elendsgestalt ein, die sich die Hände schützend über den Kopf hielt. »Ich hasse dich! Ich verfluche den Tag, an dem du geboren wurdest! Wärst du nur nie auf die Welt gekommen! Ich wünschte, du wärst schon längst tot!« Er verlor wieder die Kontrolle über den Wagen, doch zum Glück gab es auf der Straße nicht viel Verkehr. Allmählich ließen sie die Stadt hinter sich und näherten sich der Bergbau‐ siedlung. Alfie begann kläglich zu weinen. Er zitterte und heulte einen kindlichen Singsang. Tränen und Rotz überzogen das schmutzige, kaputte Gesicht. Claudius atmete schwer, als er von ihm abließ und sich wieder auf die Straße konzentrier‐ te. »Du hast mich nie geliebt«, winselte Alfie zusammengek‐ rümmt auf dem Beifahrersitz. »Du hast immer nur diese Mör‐ der geliebt, du hast den Tod geliebt.« »Irrtum, Alfie, der Tod hat mich immer geliebt. Und er tut es noch. Das ist ja mein Dilemma. Entweder ruft er mich regel‐ mäßig zu den Toten, oder er läßt geliebte Menschen um mich herum wegsterben. Ich dachte, ich könnte ihm entkommen, wenn ich den Verrückten spiele und mich in der Klapsmühle verbarrikadiere. Aber das hat nichts genützt. Schau dich an: Du bist als nächster dran. Du sieht schon aus wie der Tod.« 477
»Aber ich bin nicht tot. Wie kannst du deinem eigenen Fleisch und Blut solche Sachen sagen? In dir ist alles abgestor‐ ben. Du weißt doch gar nicht mehr, wie sich das anfühlt, wenn man jemanden liebt.« Claudius packte Alfie an der Schulter und richtete ihn auf seinem Sitz auf. Dann zog er ein sauberes Papiertaschentuch aus der Tasche und überreichte es ihm. »Alfie, kannst du mir vielleicht verraten, wie ich dich lieben soll? Indem ich dir etwa hundert Euro für einen Schuß gebe?« »Nein, behalt die Kohle für dich! Ich will dein Scheißgeld nicht mehr. Eher verrecke ich an diesem Entzug.« Er rieb sich mit dem Taschentuch über das Gesicht und ver‐ suchte es, soweit es ging, sauber zu kriegen. Danach stierte er stumm in die Schneeflocken, die wie Millionen abgeschosse‐ ner Pfeile frontal auf die Windschutzscheibe zuflogen. Er zit‐ terte jetzt nicht mehr. Eine seltsame Ruhe schien über ihn ge‐ kommen zu sein. »Was ist denn mit diesen Kindern?« fragte er nach einer Weile. Claudius atmete tief ein. »Greif in meine Manteltasche, und hol die Zigaretten heraus. Steck zwei Stengel für uns an, dann erzähle ich dir die Geschichte.« Nach einer Viertelstunde ragte ihnen die stillgelegte Zechen‐ anlage entgegen wie ein titanischer Krake, den irgendeine Infektion, eine unheilbaren Rost auslösende Krankheit, zu‐ grunde gerichtet hat. Kokskohletürme, Grubenlüfter, Förder‐ gerüste, Gasometer, Maschinenhäuser, Aufbereitungsanlagen, Schachtgebäude und andere Industrieleichen aus abgeblüh‐ 478
tem Eisen und Beton wurden von dem Schneeschauer be‐ deckt. Es war ein überdimensionaler Schrotthaufen, dessen genaue Zusammensetzung niemand mehr zu durchschauen vermochte. Schon aus der Ferne sah man eine ausgeblichene schwarze Vier oben an einem der grauen Schachtfördergerü‐ ste. »Festhalten!« sagte Claudius, bevor er den Mercedes gegen einen weitläufigen, hohen Absperrzaun aus Maschendraht zusteuerte, der die gesamte Anlage wie eine Schutzmauer einfaßte. Der Wagen brach mit lautem Getöse eine riesige Lücke in die Sperre, walzte den Maschendraht nieder, ratterte auf dem einsamen Areal quer über seit Jahrzehnten nicht mehr befahrene Eisenbahngleise und näherte sich dann dem verfallenen Fördergerüst. Claudius vergewisserte sich mit einem hastigen Blick, daß die obere Seitenverkleidung des Turms auch wirklich eine angemalte Vier schmückte. Wie befürchtet, war weit und breit keine Spur von den angeforder‐ ten Einsatzkräften zu sehen. Bei dem Fördergerüst handelte es sich um eine sich nach oben verjüngende, offene Eisenkonstruktion mit einem gewal‐ tigen, altertümlich anmutenden Antriebsmechanismus im Dachbereich. Armdicke Tragseile aus Stahl schlangen sich über Treibscheiben vom Umfang von Traktorreifen. Im Innern befand sich der Zugang zu einem Aufzugschacht mit einem eisernen Ziehharmonikaschiebegitter. Claudius stieg aus, lief in den Turm hinein und schaute durch das Gitter in einen gähnenden, finsteren Schacht, in dem die Zug‐ und Tragseile wie Saiten einer Riesenleier schwangen. Der Fahrkorb war 479
unten. An der Steuerungskonsole am Seitenpfeiler befanden sich lediglich vier gummibeschichtete Knöpfe. Ein Knopf war rot, der andere gelb, die restlichen zwei waren jeweils mit ei‐ nem auf‐ und einem abwärts zeigenden Richtungspfeil verse‐ hen. Offenkundig konnte man die Zieletage nicht von hier oben auswählen, sondern der Fahrkorb wurde von innen nach Sicht gesteuert. Deshalb auch das Schiebegitter, durch das man Einblick in die jeweiligen Schächte erhielt. Claudius drückte auf den Knopf mit dem Aufwärts‐Pfeil, und wie ein in seiner Ruhe gestörtes Ungeheuer erwachte der ganze alte Turm unter lautem, metallischen Ächzen und Stöhnen zum Leben. Die riesigen Treibscheiben im Maschi‐ nenkabuff begannen sich zu drehen, und die in deren Rillen verlaufenden Stahlseile setzten sich knurrend in Bewegung. Das Gedröhn hallte in dem nun zu einem kolossalen Reso‐ nanzkörper gewordenen Schacht nach. Claudius ging zum Kofferraum des Mercedes und nahm daraus eine der beiden überlangen schwarzen Mag‐Lite‐ Taschenlampen. Alfie ließ die Seitenscheibe herunterfahren und drehte den Kopf nach hinten. Der entgeisterte Blick ver‐ riet, daß ihm das Vorhaben seines Vaters nicht geheuer war. »He!« rief er. »Was hast du vor? Du willst doch nicht etwa da hinabsteigen, bevor die Kavallerie eingetroffen ist.« Claudius lehnte sich an die Tür. »Doch, das will ich, Söhn‐ chen. Ich bin nämlich von der Polizei – hast du das nicht ge‐ wußt?« »Aber du kennst dich doch dort unten gar nicht aus. Und es könnte doch sein, daß diese durchgedrehte Alte zufällig da 480
unten ist. Außerdem mußt du dich um mich kümmern. Was ist, wenn ich einen Anfall bekomme?« »Versuch’s mal mit Nägelkauen. Bei mir hilft es manchmal. Ansonsten hältst du hier die Augen auf, bis unsere Freunde und Helfer aufgetaucht sind. Sei einmal in deinem Leben ein Mann, Alfie!« Der Fahrkorb bestand nur aus einem zimmergroßen Metall‐ kasten mit einer fehlenden Wand vorne und hatte eine identi‐ sche Steuerungskonsole wie die draußen. Er kam mit einem donnernden Rums! oben an. Die Treibscheiben auf der Gerüst‐ spitze hörten auf, sich zu drehen. Claudius begab sich in den Turm, öffnete das erste Schiebegitter, dann das zum Fahrkorb gehörende zweite und betrat den Kasten. Er schloß die Gitter wieder und drückte dann den Knopf mit dem nach unten weisenden Pfeil. Während der Aufzug mit Gedröhne in die Eingeweide der Kohlelandschaft hinabglitt, sah er durch das Gitter Alfies furchtsames Gesicht am Autofenster, das ihn re‐ gungslos fixierte. Früher, ganz früher hatte er davon ge‐ träumt, daß er mit seinem Sohn die tollsten Sachen unterneh‐ men würde, wenn dieser einmal erwachsen wäre. Nun war sein Sohn zwar erwachsen, aber eigentlich nicht mehr wirklich existent. Und Hugh, der Ersatzsohn, der alle seine Träume in dieser Richtung hätte wahr machen können, weilte vermutlich auch nicht mehr unter den Lebenden. Was Söhne anging, hat‐ te Claudius ein schlechtes Händchen bewiesen. Dieser Aufzug war anders als die Fahrstühle, die er bislang betreten hatte. Er präsentierte dem Gast nicht alle naselang den Ausgang zu einer Etage, sondern sank schier endlos im‐ 481
mer tiefer an Erd‐ und Gesteinsschichten vorbei. Claudius hatte irgendwo aufgeschnappt, daß solche Bergwerksschächte bis zu einem Kilometer abwärts gehen konnten. Er schaltete die Taschenlampe ein und hielt sie durch das Schiebegitter, um rechtzeitig den roten Knopf zu betätigen, falls er seinen Zielort erblicken sollte. Nach einer Ewigkeit glitt tatsächlich der erste Querschacht vorüber, der sich im spitzen Licht wie der Rachen eines Monstrums grenzenlos in die Dunkelheit erstreckte. Es gab keinen Anlaß zur Klaustrophobie, denn der Schacht schien mindestens drei Meter hoch und ebenso breit zu sein. Hugh hatte etwas von der achten Flözstrecke gesagt, worin sich die Kinder befinden sollten. Claudius ging davon aus, daß es sich dabei um den achten horizontal abgehenden Schacht handeln mußte. So begann er, die Schachtausgänge zu zählen. Je weiter es abwärts ging, desto trockener und sticki‐ ger wurde die Luft. Dennoch bekam er mit dem Atmen kei‐ nerlei Probleme. Wahrscheinlich konnte man es bei dieser ungewöhnlichen Atmosphäre recht lange aushalten. Irgendein Wetterschacht mußte noch offen sein, oder das Belüftungssy‐ stem befand sich noch in Betrieb. Es dauerte noch einige Zeit, bis vor ihm endlich der achte Querschacht auftauchte. Claudius befand sich nun schätzung‐ sweise mindestens fünfhundert Meter unter der Erdoberflä‐ che. Er betätigte den roten Knopf, und der Fahrkorb kam mit dem ihm schon vertrauten Rums! zum Stehen. Nach dem Öff‐ nen der Schiebegitter stieg er aus und leuchtete sein Umfeld aus. Der stockfinstere Ort wirkte wie ein krumm und schief 482
gehauener Tunnel, der sich in einem sehr langen Bogen wand und dann in der Ferne im Nirgendwo verlor. Decke und Wände waren mit Streben und Pfeilern gestützt, die aus ver‐ rostetem Eisen und sprödem, bisweilen schon gesplittertem Holz bestanden. An einem seitlich verlaufenden Stromkabel hingen in regelmäßigen Abständen wie an einer Girlande an‐ tiquierte Lampen mit Drahtschutz, die aber samt und sonders zerschlagen waren. Vermutlich absichtlich. Claudius griff sich durch den Mantelaufschlag automatisch an die Brust, um sei‐ ne Waffe aus dem Schulterholster zu holen. Da fiel ihm ein, daß er das blöde Ding wieder einmal im Handschuhfach des Wagens liegenlassen hatte. Er überlegte kurz, ob er die Exkur‐ sion unter diesen Umständen abblasen und doch auf die Kol‐ legen warten sollte. Doch schließlich machte er sich mit dem Gedanken Mut, daß er mit Marlis auch ohne Waffengewalt fertig werden würde, falls sie wirklich auftauchte. Schließlich hatte er sie ja noch vor einer Stunde geliebt. Er hatte keinen Plan, und deshalb marschierte er einfach los, mochte der Schacht sich nun auch verzweigen und in Neben‐ schächten verlieren. Und als hätte er es mit dem letzten Ge‐ danken erst heraufbeschworen, entdeckte er nach einer kur‐ zen Strecke zu beiden Seiten tatsächlich Abgänge zu kleineren Stollen, die jedoch meistens nach ein paar Metern sackgassen‐ gleich vor einer Gesteinswand aufhörten. Es waren nur noch sein keuchender Atem und bei jedem Schritt das Knirschen der trockenen Erde unter seinen Schuhsohlen zu hören. Die Geräusche echoten manchmal, dann wieder hörten sie sich so gedämpft an, als entstünden sie in einem Vakuum. Claudius 483
hatte das Gefühl, als wandele er auf dem Grund eines ausget‐ rockneten Meeres. Je weiter er ging, um so öfter überkam ihn das Bedürfnis, stehenzubleiben und den Taschenlampenstrahl nach hinten zu richten. Er fühlte sich von Schattenwesen ver‐ folgt, obwohl er ganz genau wußte, daß diese in Wahrheit seiner immer schlimmer werdenden Paranoia entsprangen. Der Aufzug war längst nicht mehr zu sehen, hinter ihm lag nur noch undurchdringliche Finsternis. Die Schlagschatten der Gesteinsnasen und Stollenvorsprünge, welche durch den vorauseilenden Strahl verursacht wurden, schufen die Illusion von wandernden Gestalten. Er dachte an die kohlegeschwärz‐ ten Geistergesichter der Bergmänner auf den Fotografien an Marlis’ Wohnzimmerwand. Diese Männer hatten schon da‐ mals gewußt, wie es sich anfühlt, tief unten begraben zu sein. Marlis und ihr bizarres Leben im Schutz der Zeche … Sie mußte als Kind bei ihren Besuchen mit ihrem Vater in diesem düsteren Reich eine sehr gelehrige Schülerin gewesen sein. Selbst gestandene Bergmänner mochten wohl schwerlich in der Lage sein, einer stillgelegten Zeche noch ein bißchen Funktionstüchtigkeit abzugewinnen. Plötzlich ein Licht! Claudius sah es in der Ferne, flackernd und schwach, sehr, sehr schwach. Er blieb stehen. Das Licht näherte sich ihm, wurde aber dadurch weder wesentlich grö‐ ßer noch heller. Es bewegte sich in einem sehr geringen Ab‐ stand zum Boden auf ihn zu, und Claudius hatte den Ein‐ druck, als würde es nicht von einem Erwachsenen getragen. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die fragliche Richtung, doch da war das trübe kleine Licht auch schon so nah, daß es 484
sein Geheimnis von selbst lüftete. Claudius fiel vor Erstaunen glatt der Unterkiefer herunter. Vor ihm stand ein barfüßiges kleines Mädchen in einem lan‐ gen weißen Gewand mit einer brennenden Kerze in der Hand. Die Kleine hatte fast bis zu den Knien reichende blondgelock‐ te Haare und sah im Schein der Taschenlampe außergewöhn‐ lich blaß aus. Ihre Augenlider wirkten wie verschattet, ihre Lippen waren rissig und aufgesprungen. Ihr Gewand, ihre Haare, selbst ihre Haut waren durchgehend mit Kohlestaub beschmiert. Claudius kannte Kinder mit derart verwahrlostem Aussehen nur von Fotos aus der Dritten Welt. Dieses Mäd‐ chen allerdings kannte er von einem ganz anderen Foto her. Sie schaute ihm mit einem niederschmetternden Ernst in die Augen. »Bist du Gott?« Claudius kniete sich zu ihr und ergriff ihre freie Hand. »Nein«, sagte er. »Ich bin Richard. Wer bist du?« »Ich bin Sylvia. Bringst du uns den Tod, Richard?« »Nein, natürlich nicht, Sylvia. Ich möchte dich wieder nach oben mitnehmen, zusammen mit den anderen Kindern. Wo sind sie?« »Wir sind alle hier, im Grab unserer lieben Schwester. Aber wir können nicht nach oben, weil wir Engel sind. Oben ver‐ brennen wir. Wir hoffen nur, daß Gott uns bald holt.« »Das ist vollkommen falsch, Sylvia. Weder Gott noch sonst jemand will euch zu sich holen oder töten. Ich werde dich gleich zu Mama und Papa zurückbringen. Kannst du mich vorher noch schnell zu deinen Freunden bringen?« Sie nickte und zog ihn wortlos an der Hand in die Richtung, 485
aus der sie gekommen war. Zusammen wanderten sie wieder der abgrundtiefen Schwärze entgegen. Der Kleinen haftete etwas Roboterhaftes an, geradeso, als wäre sie abgerichtet worden. Obwohl sie seit knapp einem Jahr keinem Fremden mehr begegnet war, hatte sie offenbar kein Bedürfnis, mit ihm zu sprechen, wie das bei einem normalen Kind der Fall gewe‐ sen wäre. Auch wirkte ihr Gesicht vollkommen leblos, als trü‐ ge sie eine starre Maske. Die Kinder würden eine mehrjährige, wenn nicht sogar ein ganzes Leben währende Therapie brau‐ chen, um den Alptraum in Marlis’ Hölle zu verarbeiten. Der Schacht wölbte sich nun in leichten Schlangenlinien, doch wohin er sich auch schlängelte, er schien kein Ende fin‐ den zu wollen, sondern fraß sich immer tiefer in die Finsternis hinein. Allein der Taschenlampenstrahl und Sylvias leuchten‐ de Kerze sorgten für ein bißchen Helligkeit und entblößten einen Dämonenschlund aus Erde und Gestein … Mit einem Mal verspürte Claudius einen derart starken Schmerz im Gesicht, daß ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Sehen und Hören verging oder besser gesagt durcheinan‐ dergeriet. Bevor der Schmerz kam, glaubte er nur einen hellen Blitz in seinem Sichtfeld gesehen und erst danach ein Klat‐ schen gehört zu haben. Oder war es genau umgekehrt gewe‐ sen? Er ließ mit einem Schrei die Taschenlampe fallen, riß sich von dem Mädchen los und griff sich mit beiden Händen an die schmerzvoll pochende Stelle im Gesicht. Ihm kam es so vor, als wäre ihm dort eine Axt hineingefahren. Auch Sylvia schrie auf, ließ die Kerze fallen und lief weinend in die Dun‐ kelheit davon. 486
Claudius nahm die Hände vom Gesicht und merkte, daß sie voller Blut waren. Und dann, zwischen den blutigen Fingern hindurch, erblickte er die Königin des Schmerzes. Marlis stand im von unten kommenden Widerschein der auf den Boden gefallenen Taschenlampe und starrte ihn durch ihre brillantblauen, doch völlig mitleidlosen Augen an. In ihrer Hand schwang die Reitpeitsche, von der Claudius’ Blut tropf‐ te. Sylvia war ihr Lockvogel gewesen, während sie sich in ei‐ nem der Seitenstollen verborgen hatte. Sie war splitternackt, und doch strahlte das einstige Objekt der Begierde nun nichts Sinnliches mehr aus. Ihr Körper war fast überall von Kohleschmutz bedeckt, so daß er wie der einer Wilden aus einem gerade entdeckten Dschungelstamm wirkte. Das Gesicht hatte sich spektakulär verwandelt. Zwischen den verstrubbelten Haaren schien zwar immer noch die Fassade der herben Schönheit durch, wegen der Claudius nicht hatte widerstehen können. Doch sie war jetzt zerlaufen und verzerrt wie das niedliche Antlitz einer Plastikpuppe, die das Opfer einer Lötlampe geworden ist. Die so romantisch verhangenen Lider waren unförmige Klumpen geworden, die hohen Lider kantige Ledergebilde einer Echse, und der aufreizend große Mund glich dem obszön wulstigen Maul eines Aasfressers. Die Prunkvasenfigur mit den drallen Brüsten und ihren gumminoppendicken Warzen und dem lockenden behaarten Dreieck zwischen den Beinen ähnelte der einer Nachtkreatur, über dessen Geschlechtlichkeit man lieber nichts wissen wollte. Die ganze Erscheinung versprach statt Erlösung nur noch unendliches Grauen. 487
Claudius hatte schon von Anfang an gewußt, daß die Rück‐ seite der Medaille ziemlich düster aussah, aber daß sich dort das eingestanzte Porträt eines Nachtmahrs befinden würde, hatte ihn nicht einmal seine reichhaltige Erfahrung ahnen las‐ sen. Sie holte mit der Peitsche aus und drosch erneut auf ihn ein. Diesmal konnte er die Hände schützend vors Gesicht halten, was aber nicht weniger schmerzhaft war. Jeder Hieb, den er einsteckte, bewirkte in ihm einem Stromstoß gleich erst ein betäubendes Gefühl, aber sofort darauf ein nie gekanntes Brennen. Er versuchte, sich auf sie zu stürzen, doch es gelang ihm nicht. Marlis war vollkommen außer Kontrolle geraten, sie würde sich so lange verausgaben, bis sie zusammenbrach. Unablässig fuhr die Peitsche in die Höhe, durchschnitt die Luft mit einem Pfeifen und explodierte dann auf seinen Hän‐ den, den Schultern, doch meistens irgendwo auf seinem Ge‐ sicht. So wandte er ihr in gebückter Haltung den Rücken zu und ließ sich von ihr nach Strich und Faden auspeitschen. Zum Glück milderte der dicke Wintermantel die Wucht der Hiebe ein wenig ab. Schließlich fiel Claudius zu Boden. Marlis schleuderte ihm die Peitsche an den Kopf. Sie hechel‐ te, ihr Körper war naßgeschwitzt, ganz so wie nachdem sie Sex gehabt hatten. Claudius blutete aus aufklaffenden Strie‐ men im Gesicht und an den Händen und keuchte aus rasseln‐ den Lungen. Er richtete sich langsam auf und begann ver‐ zweifelt zu lachen. Dabei zog er die DVD aus der Tasche und warf sie ihr vor die Füße. Sie bedachte sie mit einem völlig stumpfen Blick. 488
»Weißt du, Marlis, ich finde es gut, daß dieser Rattenfänger das stumme und das blinde Kind zurückgelassen hat«, sagte er und fuhr sich mit der Zunge über die blutigen Lippen. »Wenigstens sind den Eltern dadurch zwei Kinder geblieben. Ihr Irren kapiert das vielleicht nicht, aber der Unterschied zwischen den Menschen ist eigentlich gar nicht so groß. Jeder ist auf seine Art in sündhafte Dinge verstrickt. Scheiß drauf, dann sind wir Zurückgelassenen eben stumm und blind. So sind die Menschen nun einmal. Der liebe Gott, den du so lan‐ ge gesucht hast, mag da anderer Meinung sein, aber bei uns auf Erden ist es die einzige Methode, die funktioniert.« »Ich sehe, du hast die Botschaft verstanden«, sagte sie. Sie war nur noch ein Schattenriß gegen das vom Boden aufstrah‐ lende Licht der Taschenlampe. »Kein Wunder, du bist doch selbst bloß ein Hurenbock im Pelz des einfühlsamen Alten und des großen Detektivs. Hattest nichts Eiligeres zu tun, als eine verzweifelte Mutter bei erstbester Gelegenheit zu besp‐ ringen. Hast du das Tagebuch von diesem Arschloch im Internet gelesen? Na, dann kennst du den Unterschied zwi‐ schen dem Schmutz und der Reinheit, die ich der Welt brin‐ ge.« »Welchen Unterschied? Schmutz gehört zum Leben, Marlis. Schau dich doch an.« »Nein«, sagte sie, und ihre Stimme klang plötzlich wieder so sanft wie bei ihren erotischen Zusammenkünften. »Nein, nein, die Kinder sind vollkommen rein. Doch die ganze Welt ist voller Schmutz, und sie geraten hinein, egal, wie sehr sie sich auch davon fernhalten wollen.« 489
»So? Was war mit deinem Sohn? Hat Gott ihn zu sich geholt, weil er schon als kleines Kind vom Schmutz der Welt befleckt war?« »Er wurde in Sünde gezeugt. Er konnte nichts dafür.« »Blödsinn! Niemand wird in Sünde gezeugt. Wenn über‐ haupt, dann ist es eine Sünde, unschuldige Kinder zu entfüh‐ ren und sie umzubringen. Warum mußtest du sie vorher auch noch auspeitschen?« »Der Schmutz war schon in sie hineingekrochen. Sie wurden ein letztes Mal gereinigt, bevor sie in den Himmel gestiegen sind. Laß uns in Ruhe, Claudius, und verschwinde aus unse‐ rem Grab. Da, wo wir hingehen, kannst du uns nicht folgen.« Sie stierte ihn mit ihren brillantblauen Augen noch eine Wei‐ le an, dann drehte sie sich ruckartig um und verschwand mit der Behendigkeit eines nachtaktiven Tieres in der Finsternis. Claudius rappelte sich unter Mühen wieder hoch, hob die Taschenlampe vom Boden auf und folgte ihr. Er wankte und fühlte sich bisweilen der Ohnmacht nahe. Blut rann ihm kon‐ tinuierlich über das Gesicht und verschleierte ihm die Sicht. Er begann allmählich seine Umgebung doppelt zu sehen. Wahr‐ scheinlich hatte Marlis ihm eine Gehirnerschütterung verpaßt. Es kam lange wieder nichts als Dunkelheit auf Dunkelheit. Der ihn umgebende Gesteinsmantel mit seinen groben Kanten und Wülsten und verwirrenden Schlagschatten erschien ihm immer mehr wie ein Grab, das Marlis beschworen hatte. Es sah aus, als hätte sie schon gewonnen, und sie alle würden in diesem schwarzen Schmutz den Tod finden. Da kroch auf einmal ein Dämmerlicht in Claudius’ Pupillen. 490
Er ging diesem warmen Licht entgegen, und je weiter er sich davon locken ließ, desto heller wurde es. Schließlich betrat er ein höhlenartiges, gänzlich aus Steinkohle bestehendes Ge‐ wölbe, das Ende des Schachtes. Und da stand sie: die Kirche des Heiligen Judas. Eigentlich sah sie aus wie ein Puppenhaus für besonders christlich erzogene Kinder. Die kleine Kapelle war aus hellen Brettern zusammengenagelt, welche jedoch inzwischen stark brüchig und morsch geworden waren. Der Kirchturm war nur wenig höher als das Dach, die kleinen Fenster besaßen keine Scheiben, und über der Tür hing ein einfaches schwarzes Kreuz. Hunderte von auf dem Boden aufgestellten Kerzen brannten in unterschiedlichen Farben, wobei rote Grableuchten die Mehrzahl ausmachten. Ihr mil‐ des Licht verwandelte die Schwärze ringsherum in einen ge‐ waltigen Schrein. In einer Nische rechter Hand stapelten sich Lebensmittelverpackungen. Deshalb hatte Marlis also immer wie für eine Kompanie eingekauft. Inmitten des Kerzenmeeres standen die Kinder, alle neun. Sie trugen weiße Gewänder, die aber durch die allgegenwär‐ tige Kohle stark verschmutzt waren. Auch ihre Köpfe, Hände und Füße starrten vor schwarzem Dreck, so daß ihre leuch‐ tenden Augen wie Sterne in einer klaren Nacht hervorstachen. Sie schienen der Realität, selbst der kindlichen, längst entglit‐ ten und machten einen wächsernen Eindruck, als hätten sie die ihnen von der lieben Schwester zugeteilte Rolle der leben‐ den Toten schon gründlich verinnerlicht. Anstatt sich über den Retter zu freuen, blickten sie ihn nur voller Angst an. Claudius erkannte inmitten von ihnen Sylvia und Abdullah, 491
an den Rest der Gesichter konnte er sich in seinem angeschla‐ genen Zustand nicht mehr erinnern. »Hallo, Kinder«, sagte er. »Ich komme, um euch nach Hause zu euren Eltern zu bringen.« Die Kinder, von denen einige stark wankten, stierten ihn immer noch stumm an. Aber dann plötzlich begannen sie zu singen: »Zum Paradies mögen Engel dich geleiten, die heili‐ gen Märtyrer dich begrüßen und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem. Die Chöre der Engel mögen dich empfangen, und durch Christus, der für dich gestorben, soll ewiges Leben dich erfreuen …« Claudius kannte das Lied. Es wurde auf Totenmessen ge‐ sungen. Marlis steckte den Kopf aus der Minikirche und zwängte sich durch die winzige Tür. Sie hatte nun ein funkelndes Mes‐ ser in der Hand, und schritt zwischen den singenden Kindern langsam auf ihn zu. Ihre kohlebesudelte Nacktheit trug sie wie ein Kostüm zum Faschingsball der Blutsäufer. »Es ist eine Krankheit, Marlis«, sagte Claudius, während der Chor der Kinderstimmen anschwoll. »Siehst du nicht, daß dein Gott kein Erbarmen kennt? Du wurdest von diesen Streptokokken infiziert, als du noch ein kleines Mädchen war‐ st. Und Sven bekam Leukämie, als er noch gar nicht in der Lage war, in Versuchung zu geraten. Die Welt ist ein Chaos, und Gott schaut nur zu. Wir müssen keine Engel werden, um ihm zu gefallen.« »Nein«, sagte sie, keinen Meter mehr von ihm entfernt. »Die Krankheit, sie kommt nicht von außen. Sie ist in uns drin seit 492
der Geburt. Wir sind die Krankheit!« Sie riß das Messer in die Höhe und ließ es auf sein blutiges Gesicht niederfahren. Claudius erwischte sie am Handgelenk, bevor sie zustechen konnte, verlor aber dabei das Gleichge‐ wicht und drohte nach hinten zu kippen. Sie verkeilten sich ineinander, zerrten mit aller Kraft am jeweils anderen, wobei Claudius angestrengt die Waffe von sich wegzudrücken ver‐ suchte. Marlis schien alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte aufzuwenden. Das gegenseitige Würgen, Reißen und Schla‐ gen ging mit ungewöhnlicher Roheit weiter, ohne daß einer von ihnen die Oberhand gewinnen konnte. Claudius zehrte schon an seinen allerletzten Reserven, und er mußte sich mit einer Furie messen, deren glühender Wahn ihr außergewöhn‐ liche Stärke verlieh. Schließlich schaffte sie es, ihn nach hinten zu drücken, obwohl er ihre Handgelenke noch fest umklam‐ mert hielt. Dann verlagerte sie ihr ganzes Gewicht auf ihn, verpaßte ihm einen heftigen Schlag auf seinen Schädel und brachte ihn so zu Fall. Er stürzte auf den Rücken und riß dabei Marlis mit sich zu Boden. Für einen Moment hatte sie die Hände frei und holte blitzschnell mit dem Messer aus. Da fiel ein Schuß, der in dem düsteren Gewölbe laut nach‐ klang. Die Kinder unterbrachen abrupt ihr Totenlied. Marlis erstarrte in der aufgebäumten Pose mit dem hochgerissenen Messer in der Hand. Ihr schmutziges Gesicht war seltsam ver‐ zerrt, als befände sich hinter der Haut eine Absaugpumpe. Die Haare klebten ihr in nassen Strähnen auf der bleichen Haut, und die blauen Augen schienen ganz langsam ihre Brillanz zu verlieren. Seitlich an ihrem Hals war ein kleines Loch entstan‐ 493
den, aus dem ein dünner Blutstrahl auf Claudius’ Brust herun‐ terfloß. »Ich sehe dich in der Hölle wieder!« sagte sie und holte mit dem Messer blitzschnell noch einmal aus. Ein zweiter Schuß fiel, der ihren Kopf wie durch einen hefti‐ gen Schlag zur Seite riß. Dann brach sie über ihm zusammen. Ein letztes Mal inhalierte Claudius ihren urweiblichen Duft und spürte ihren warmen Atem an seiner Wange. Dann schob er ihren leblosen Körper zur Seite, befreite sich von ihm, stütz‐ te sich mit den Ellenbogen auf und schaute sich um. Alfie stand mit der ausgestreckten Pistole, die er mit beiden Händen umklammert hielt, am Eingang des Gewölbes und zitterte am ganzen Leib. An seinem Gürtel steckte die andere Mag‐Lite‐Taschenlampe aus dem Wagen. Die Kinder began‐ nen zu schreien und zu weinen und flohen in die Kirche hi‐ nein. Mit unsicheren, taumelnden Schritten, geradeso, als ha‐ be er soeben das Laufen gelernt, kam sein Sohn auf ihn zu. Sein abgezehrtes Faltengesicht sah noch eingefallener aus als vorher im Wagen, und die Augenlider zuckten unkontrolliert. »Hast du immer noch diese blöde Angewohnheit, deine Waffe im Handschuhfach zu vergessen?« fragte er. »Ja«, antwortete Claudius. »Und lügst du den Leuten immer noch vor, du hättest schon zwei Menschen erschossen?« »Ja. Wie hast du mich gefunden?« »Na, du hast doch eben am Telefon deinen Leuten irgend‐ was von achter Flözstrecke durchgegeben. Scheiße, ich glaube, ich habe jetzt doch keinen Bock mehr auf einen Schuß.« 494
»Danke, Alfie«, sagte Claudius und rang sich ein gequältes Lächeln ab. »So tot, wie ich geglaubt habe, bist du anschei‐ nend doch nicht.« Sie sammelten alle Kinder ein. Sie hielten einander an den Händen, als sie sich apathisch vom Ort ihrer grausamen Ge‐ hirnwäsche wegführen ließen. Dann gingen alle zusammen den finsteren Schacht wieder zurück, bestiegen den Fahrkorb, gelangten zur Oberfläche und öffneten die Schiebegitter des Aufzugs. Eine Armada aus Streifenwagen, Ambulanzen und Zivilfahrzeugen der Kripo fuhr gerade vor das Schachtförder‐ gerüst vor. Und obwohl über der Zeche weiterhin heftige Schneeschauer niedergingen, kreiste oben ein Hubschrauber. Polizisten, Notärzte, Sanitäter und alle Mitglieder der Sonder‐ kommission »Udo« sprangen aus den Wagen und liefen auf sie zu. Sie mußten schon ein recht sonderbares Bild abgeben: Claudius mit blutigen Striemen im Gesicht, der immer noch heftig zitternde Alfie mit seiner komischen Bärenfellmütze auf dem Kopf und die kleinen Kinder in ihren schmutzigen wei‐ ßen Gewändern. Im Zentrum des ganzen Menschenauflaufs standen Hartmut Weinstein und Dr. Sieglinde Vetter. Sie lä‐ chelten dem Alten anerkennend zu und deuteten ihm einen Gruß an. »Was jetzt?« sagte Richard Claudius wie zu sich selbst. »Jetzt verfrachten wir dich erst mal ins Krankenhaus«, ant‐ wortete Alfie. »Ich glaube, ich bleib auch gleich da.« »Aber was dann?« »Frag doch nicht so blöd. Dann gehen wir endlich heim, Va‐ ter.« 495