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Die Weisen des »Rings des Lichts« sind ratlos: Der Elfenfürst Tyron hat sie verraten und sich auf die Seite von Dorini, der Königin der Finsternis, geschlagen. Alle Listen und Finten der mächtigen Zauberer Greyfax und Faragon den Kampf zu gewinnen, scheinen vergeblich, und Atianton wird für immer in Finsternis und Verderben sinken. Doch da geschieht das Unerwartete …
Niel Hancock Der Ring des Lichts Der Kreis schliesst sich
Fantasy-Roman
Aus dem Amerikanischen von Ingeborg Ebel
Knaur®
Niel Hancock, Anfang vierzig, liebt Segeln und deutsche Motorräder Er ist viel herumgekommen, fand es auf den karibischen Inseln am allerschönsten, lebt jetzt in Texas und schreibt an einem neuen Romanzyklus.
Die Tetralogie Der Ring des Lichts von Niel Hancock besteht aus den Bänden: »Greyfax Grimwald« (Band 1230) »Faragon Fairingay« (Band 1231) »Calix Stay, der große Fluß« (Band 1232) »Der Kreis schließt sich« (Band 1233)
Deutsche Erstausgabe
© Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München
1985
Titel der Originalausgabe
»Circle of Light – Squaring the Circle«
Copyright © 1977 by Niel Hancock
Umschlaggestaltung Adolf Bachmann
Umschlagillustration Wang, Sin-Ying
Satz Compusatz, München
Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany • 1 • 10 • 985
ISBN 3-426-01233-2
1. Auflage
Für alle, die mich auf dieser Reise begleitet haben.
Inhalt
Erster Teil – Schattenbilder aus der Vergangenheit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Lichter und Stimmen Dorini herrscht in Cypher Diesseits des Großen Flusses Alte Freunde Tyron der Grüne Ein edler Elfenkönig In den Wäldern von Gilden Far
20 26 31 37 43 47 52
Zweiter Teil – Dunkle Wolken verhüllen die Sonne 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Verzweiflung und Entsetzen Im Keller des Waldmurmeltiers Der Träger des Heiligen Schreins Greyfax und Thailwick Ein falscher Zauberer General Greymouses Enthüllungen Olther am Ende seiner Kräfte Ein Pakt wird besiegelt
62
69
74
78
85
91
96
101
Dritter Teil – Der Sturm braut sich zusammen 16. 17. 18. 19. 20. 21.
Abschied von Cypher Banges Warten Zeugnisse der Vergangenheit Tyron und Doraki Broko verschwindet Königreiche und Höhlen
108 114 121 125 130 135
142 150 155 161 167 174 179
186 193 202 208 215 222
Vierter Teil – Die vielen Gesichter Windameirs 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28.
Das Mysterium wird immer größer Schatten in der Dunkelheit Banis unterirdische Festung Greyfax gibt eine Erklärung ab Broko und Creddin Urien Typhon trifft Dorini Tyrons Hoffnungen zerschlagen sich
Fünfter Teil – Hinter dem Letzten Tor 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35.
In Bruinlens alter Höhle Auftakt Broko verzeiht Creddin Im Goldenen Wald Zwei Elfenheere prallen aufeinander Dorini greift ein Die Macht des Rings des Lichts bleibt
ungebrochen 36. Ein lang ersehnter Frieden 37. Der wahre Anfang
230 241
250
8
Was bisher geschah Band 1 Von einer unerklärlichen inneren Unruhe getrieben, verlassen der Zwergenfürst Broko, der Bär Bruinlen und der Otter Olther ihre Heimat, die Sonnenwiesen, wo sie lange Jahre in Frieden gelebt haben. Mit der Hilfe von Brokos Drachenstein, dem Zauberkräfte innewohnen, überqueren sie den unheimlichen Fluß Calix Stay, der die Grenze zu dem Land Atlanton bildet. Dort herrscht Krieg. Broko hofft auf die Unterstützung seines Verwandten Creddin, der ganz in der Nähe ein Schloß bewohnt. Doch ehe sie dort ankommen, treffen sie auf zwei mächtige Zauberer, Greyfax Grimwald und Faragon Fairingay, die im Auftrag des Rings des Lichts auf geflügelten Rössern durch die Lüfte eilen und versuchen, die Geschicke Windameirs, zu dem auch das Reich Atlanton gehört, zu leiten, denn eine finstere Macht bedroht Atlanton. Creddins Schloß ist zerstört, und der alte Zwerg stirbt bald darauf; er hatte sich in seiner Geldgier mit den Mächten des Bösen eingelassen. Da die drei Gefährten nun keine Bleibe haben, raten ihnen die Zauberer, sich in der Nähe in einem lieblichen Tal anzusiedeln und abzuwarten; vielfältige Aufgaben würden noch auf sie zukommen. Inzwischen eilen Greyfax und Faragon in das Königreich Cypher, wo Lorini, die Lichte Königin, herrscht, deren Macht aber von ihrer Zwillingsschwester, der Finsteren Königin Dorini, bedroht wird. Sie ist es, die die Reiche mit Tod und Verderben überzieht, weil sie sich zur einzigen Herrscherin Windameirs aufschwingen will. Mächtige Verbündete stehen ihr zur Seite, Geschöpfe, die sie selbst geschaffen hat, wie Cakgor, Doraki und ganze Armeen von Halbmenschen, die Gorgolacs und Worlughs.
Fünfzehn Jahre vergehen, und Broko, Bruinlen und Olther werden des beschaulichen Lebens überdrüssig. Sie warten auf eine Nachricht von Greyfax oder Faragon. Da wird Broko von Cakgor, dem feuerspeienden Drachen in Dorinis Diensten, entführt und in ihren eiskalten Palast gebracht, denn er ist unwissentlich Träger eines der Fünf Geheimnisse des Rings des Lichts, ohne dessen Besitz Dorini keine Macht erlangen kann. Inzwischen ist Faragon wieder in das Tal gekommen und sieht, was geschehen ist. Er schickt Bruinlen und Olther – denen er zuvor die Gabe verliehen hat, sich in Menschengestalt zu verwandeln, auf die Suche nach General Greymouse, der in Wirklichkeit auch ein Mitglied des Rings und mächtiger Zauberer ist. Broko gelingt es aus eigener Kraft, sich aus der Gefangenschaft Dorinis zu befreien. Doch bei seiner Rückkehr in das Tal findet er es verlassen und verwüstet vor. Also macht er sich auf die Suche nach seinen Freunden. Währenddessen wurden Bruinlen und Olther getrennt. Unter unsäglichen Mühen und Kämpfen erreichen sie das Lager von General Greymouse und finden dort auch unter den Menschen treue Freunde, die Soldaten Ned Thinvoice, Cranfallow und Flewingam, sowie Broko, der seinen Gefährten gefolgt ist. In der entscheidenden Schlacht bei den Sieben Hügeln gelingt es Greymouse mit der Unterstützung von Faragons Elfenheer, die angreifenden Truppen der Menschen-Bestien zu schlagen. Doch die Gefährten werden alle schwer verwundet, und Faragon läßt sie in das Lichte Königreich Cypher zu Lorini bringen, damit sie genesen, während die drei Soldaten von Faragons Elfenkriegern in ein Lazarett gebracht werden.
Band 2 Die Soldaten Thinvoice, Cranfallow und Flewingam kommen langsam wieder zu Kräften und beschließen, nach ihrer Gesundung weiterhin General Greymouse zu dienen. Unterdessen werden die drei Gefährten Broko, Bruinlen und Olther in Cypher aufopferungsvoll gepflegt, von Königin Lorini und ihrer lieblichen Tochter Cybelle, in die Faragon unsterblich verliebt ist. Wieder auf den Beinen, verbringen sie dort heitere, unbeschwerte Tage, die allerdings nicht ewig währen können. Denn nach dem Sieg bei den Sieben Hügeln rast die Finstere Königin Dorini vor Zorn über ihre Niederlage und verdoppelt ihre Anstrengungen, die Herrschaft für immer an sich zu reißen. Broko wurde in Cypher von Greyfax der kostbarste Besitz des Rings anvertraut, auf den sich seine ganze Macht gründet: der Heilige Schrein. Der Zauberer glaubte ihn in Lorinis Königreich vor dem Zugriff Dorinis nicht mehr sicher. Würde er in die Hände der Finsteren Königin fallen, wären alle Bestrebungen, über sie zu siegen, zunichte. Schon bald zeigt sich, wie recht Greyfax hatte. Denn während die drei Gefährten – wieder auf Atlanton – unter des Zauberers Führung dem General Melodias zu Hilfe gegen Dorinis mörderische Truppen eilen, entführt sie die Tochter ihrer Schwester Lorini aus Cypher. Damit ist ihr ein entscheidender Sieg gelungen, und sie bläst jetzt zum vernichtenden Schlag auf Atlanton. Erst im letzten Augenblick gelingt es Greyfax, unter Aufbietung aller seiner Zauberkraft und mit Hilfe der drei Gefährten, eine endgültige Niederlage abzuwenden. Doch die Opfer waren groß: Greyfax schwer verwundet, die Truppen versprengt und Melodias unerreichbar. Und der Heilige Schrein geht verloren. Als Broko ihn mit Faragons Hilfe wiedererlangt, kann er ihn nicht, wie vereinbart, Greyfax oder Melodias übergeben, sondern soll ihn auf Geheiß des jungen
Zauberers mit Hilfe seiner beiden Freunde, Bruinlen und Olther, jenseits des Großen Flusses Calix Stay, in Sicherheit bringen. Aber ehe sie dorthin gelangen, haben die Freunde einige Gefahren zu bestehen. Allein die Durchquerung des gefürchteten Dragur-Waldes scheint unmöglich, obwohl die drei jetzt wieder auf ihre alten Kameraden Ned Thinvoice, Cranfallow und Flewingam gestoßen sind. Von den Weisen Windameirs haben sie im Augenblick keine Unterstützung zu erwarten, denn das Reich wird von allen Seiten bedroht.
Band 3 Kaum haben die Gefährten den Dragur-Wald betreten, werden sie auch schon von einem versprengten Trupp Worlughs verfolgt. Sie entkommen mit knapper Not. Doch schon droht neues Unheil. Sie stoßen auf eine Patrouille von Garius Brosingamenes Soldaten, die Broko, Bruinlen und die drei Soldaten Thinvoice, Cranfallow und Flewingam gefangennehmen. Nur Olther bleibt unentdeckt und folgt den Freunden heimlich in Garius’ Festungsstadt. Garius ist der letzte menschliche Fürst im Dragur-Wald, doch sein Reich wird nicht nur von außen bedroht. Er hat auch Neider unter den eigenen Leuten, und man will ihn entmachten, da seine Herkunft nicht rein königlichen Blutes ist. Noch während Olther darüber nachsinnt, wie er seine Freunde befreien kann, wird ihm unerwartet Hilfe zuteil – durch Elane, Garius’ alte Mutter, die in einer alten Schloßruine in Verbannung lebt und die Gefangenen mit sich nimmt. Vor vielen Menschenaltern hatte Greyfax sie aufgesucht und ihr das Erscheinen eines Zwerges angekündigt, dem sie helfen soll. Von ihr erfahren die Gefährten, welchen Weg sie zum Calix Stay einschlagen müssen, denn jenseits des Großen Flusses sind sie – und vor allem der Heilige Schrein – in
Sicherheit. Aber da bricht unter Garius’ Männern eine Revolte aus, und die Freunde müssen wieder Hals über Kopf fliehen. Außerdem wird Garius’ Schloß von Gorgolacs überfallen und zerstört. Er und seine Mutter Elane kommen dabei ums Leben. Durch die Kriegswirren werden die Gefährten abermals getrennt. Broko flüchtet mit Cranfallow und Ned Thinvoice. Olther, Bruinlen und Flewingam bleiben zusammen. Sie haben während ihrer Flucht Bekanntschaft mit einem Trupp Bären gemacht, in deren Begleitung sie jetzt Weiterreisen wollen. Doch alles kommt anders als geplant. Broko gerät mit seinen Freunden unversehens in eine unterirdische Zwergenfestung, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Doch nach dem Bestehen vieler Abenteuer und Gefahren erreichen die drei den Urstrom, der in den Calix Stay mündet und sie geradewegs zu ihrem Ziel, den Sonnenwiesen, trägt. Bruinlen und seinen Kameraden ergeht es ähnlich; doch auch sie alle landen schließlich sicher jenseits des Großen Flusses.
Erster Teil Schattenbilder aus der Vergangenheit
15
1. Lichter und Stimmen Durch das brausende Stürmen und das grelle, blitzartige Licht, das von Donnergrollen begleitet wurde, hörte Flewingam eine Stimme, die seinen Namen rief. »Flew! Flew, alter Junge. Kannst du mich hören?« Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor, doch er war ärgerlich, weil er geweckt wurde, denn seit langer Zeit träumte er zum erstenmal wieder, er läge in einem weichen kuscheligen Bett und schliefe. »Flew! Wach auf! Wir haben den Großen Fluß überquert.« Bei diesen Worten schlug er die Augen auf und blickte in Olthers besorgtes Gesicht. »Calix Stay?« fragte Flewingam verwundert und versuchte, die Bedeutung dieser Tatsache zu erfassen. Er fühlte sich sehr sonderbar und wußte nicht warum, doch dann sah er Olthers strahlendes Lächeln. »Wir haben es geschafft, Flew. Wir sind in den Sonnenwiesen angekommen. Zwar kenne ich mich in diesem Teil nicht aus, aber es ist hier genauso, wie ich es dir geschildert habe.« Flewingam richtete sich auf, blickte in die Runde und versuchte, seine Verwirrung und aufkommende Angst niederzukämpfen. »Was ist denn überhaupt geschehen?« fragte er benommen. »Ganz genau weiß ich es auch nicht. Nur daß wir von furchtbar viel Wasser und Lärm umgeben waren. Und ich bin der letzte, der sich über zuviel Wasser beklagt, aber sogar ich hatte Angst, darin zu ertrinken, in diesem unterirdischen Strom.« »Die Wurzeln«, erinnerte Flewingam sich plötzlich. »Bruinlen wurde doch als erster von den Fluten fortgetragen. Und wo sind Thumb und die anderen?« fragte er aufgeregt. Er wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, seit sie von diesen tosenden Wassermassen weggeschwemmt worden waren, das alles schien schon so weit entfernt. 16
Olther war aufgestanden und studierte mit nachdenklich gerunzelter Stirn die Umgebung. Er schien Flewingams Frage überhört zu haben. »Ich kann mich an diese Gegend überhaupt nicht erinnern. Vielleicht hat sie sich verändert. Auch scheint die Sonne nicht so hell.« Er eilte in die Richtung, wo es heller war, und rief erstaunt: »Sie geht schon unter. Und so tief habe ich sie hier noch nie stehen sehen.« »Glaubst du, daß die Finsternis auch hier schon Einzug gehalten hat, mein Freund?« fragte Flewingam. Erschrocken sah Olther seinen Kameraden an. »Und wo sind Bruinlen, Thumb und die anderen Bären?« Vor Kummer wurden seine Augen ganz dunkel. »Und Broko? Werden wir ihn niemals Wiedersehen? Eigentlich müßte er an unserer Stelle hier sein. Dann wäre der Heilige Schrein in Sicherheit.« Auch Flewingam stand jetzt auf. »Ich weiß nicht, was hier passiert ist, aber die Sache gefällt mir nicht.« »Laß uns erst einmal nach den anderen suchen«, schlug Olther vor, um sich Mut zu machen. »Vielleicht sind sie ganz in der Nähe.« Flewingam seufzte müde. »Diese Hoffnung teile ich zwar nicht, mein Freund, aber das ist immerhin noch besser, als hier rumzusitzen. Und wenn wir Glück haben, finden wir auf unserem Erkundungsgang auch etwas zu essen und ein warmes Plätzchen zum Schlafen, das würde uns wahrhaftig nicht schaden.« Olther stapfte vor Flewingam her und sagte über die Schulter: »Mir scheint, als würden wir uns ständig im Kreis bewegen, Flew. Erst müssen wir die Sonnenwiesen verlassen, und jetzt kehre ich hierher zurück. Aber das Schlimmste ist, ich habe Bruinlen und Broko verloren.« Bei diesen Worten blieb er stehen, und eine Träne schimmerte in seinem Auge, und seine Schnurrhaare zitterten. »Doch ich habe Cypher gesehen und die Lichte Königin und ihre Tochter Cybelle kennengelernt. Und für lange Zeit hatte ich 17
Broko zum Gefährten und habe die Bekanntschaft der Herren des Rings des Lichts gemacht. Ich habe also mehr gesehen, als ein Otter nur träumen kann.« Er schwieg und unterdrückte mühsam ein Schluchzen. »Und ich bin ein gutes Stück Weg mit dir gegangen, Flew. Wir haben Schlimmes miteinander durchgemacht, und Cranny und Ned sind uns immer gute Kameraden gewesen.« Flewingam sah den kleinen grauen Kerl betroffen an. »Von der Tatsache, daß eigentlich Broko hier an unserer Stelle sein müßte, will ich gar nicht sprechen«, fuhr Olther mit gepreßter Stimme fort. »Denn nichts zählt mehr, weil die Sonnenwiesen sich vollständig verändert haben. Ich erkenne sie überhaupt nicht wieder und habe nicht einmal Lust hierzubleiben.« Flewingam gab seinem Freund einen beruhigenden Klaps auf die Schulter. Auch in seinen Augen standen Tränen, und seine Stimme zitterte, als er sprach. »Oberflächlich betrachtet, scheint das alles zu stimmen, alter Junge. Doch wir wollen zuerst einmal nach den anderen suchen. Dann sehen wir weiter.« Wieder unterdrückte Olther ein Schluchzen und sagte dann tapfer: »Ja, du hast recht. Machen wir uns auf den Weg. Irgendwie wird es schon weitergehen.« Flewingam wollte gerade den Worten seines Freundes zustimmen, als die beiden Stimmen hörten. Wie erstarrt blieben sie stehen und versuchten zu verstehen, was die Stimmen sagten. Die Luft war von einem lauten Summen erfüllt, das von fernklingenden Trommelwirbeln untermalt war. Und dann tönte neben Olther ganz deutlich eine zarte Stimme. »Wer seid ihr denn? Und aus welchem Grund habt ihr unser Reich betreten? Gebt schnell Auskunft, ehe wir euch so behandeln, wie es allen Eindringlingen gebührt.« Die Stimme hatte einen verdrießlichen Unterton, trotzdem klang sie bedrohlich, weil sie einfach aus dem Nichts zu kommen schien. Olther stand mit gesträubtem Nackenhaar da, die Fangzähne drohend entblößt. 18
»Au! Au! Du dummer Kerl. Du bist mir auf den Fuß getreten. Paß doch besser auf, sonst zertrittst du mich noch ganz.« Olther drehte sich um, konnte jedoch nichts entdecken. »Und warum siehst du mich nicht an, wenn ich mit dir rede? Das ist überhaupt nicht nett von dir«, hänselte die Stimme ihn und wirkte deshalb noch bedrohlicher. Olther, als der kleinere der beiden, spähte prüfend zu Boden, denn von irgendwo dorther war die Stimme zu hören. Er hätte schwören können, sie kam ganz aus der Nähe einer kleinen Pflanze, die Flewingam kurz zuvor mit dem Fuß gestreift hatte. Er lag jetzt auf dem Bauch und berührte fast mit der Schnauze die grüne Pflanze. »Bist du das, der spricht?« »Natürlich, du Dummkopf. Wer sonst?« »Nun, ich war mir nicht ganz sicher«, entgegnete Olther. »Aber ich habe schon seltsamere Dinge gesehen.« »Und was, wenn ich fragen darf, ist so seltsam an der Gestalt eines Elfen?« fragte die Stimme äußerst entrüstet. »Ein Elf?« fragten Olther und Flewingam wie aus einem Munde. »Natürlich, ihr Tölpel. Einer von euch ist ein Mensch, aber das hat nichts zu bedeuten. Was wollt ihr hier, und wer seid ihr? Wir haben den Befehl, niemanden, der kein Recht dazu hat, über den Großen Fluß zu lassen. Nun redet endlich. Ihr seid mir eine Erklärung schuldig.« »Dieselbe könnte ich von dir verlangen«, gab Olther barsch zurück, wobei er sich Mühe gab, die kleine grüne Pflanze direkt anzureden. »Du hast doch gute Augen. Ich bin ein Elf, wie du siehst. Ein Elf, dem zusammen mit seinen Männern die Aufgabe übertragen wurde, diese Grenzen zu schützen. Deshalb bin ich hier.« Als die Stimme verstummte, erhob sich ein lautes Gemurmel. Es mußten ein Dutzend oder mehr sein, die durcheinandersprachen. Schließlich wiederholte eine Stimme die Frage: »Was wollt ihr hier?« »Wie schade, daß wir nicht die Erlaubnis haben, sie 19
einfach niederzuschießen«, sagte eine andere. »Was habt ihr für üble Absichten?« fragte eine dritte. »Sie gehören sicher zu dieser Brut, die überall nur Verderben verbreitet«, meinte eine vierte. Da erhob sich die erste Stimme und rief laut: »Ruhe, Männer! Das hat Zeit bis später.« Der Elf wartete, bis die anderen schwiegen, und sagte dann: »Nun, heraus mit der Sprache. Was ist euer Begehr?« »Falls ihr wirklich Elfen seid, so sind mir welche von eurer Art noch nie begegnet«, meinte Olther unwirsch. »Wieso sollte denn ein Bursche wie du jemals die Ehre gehabt haben, einem Elfen begegnet zu sein? So häßlich, wie ihr seid, kann sich niemand damit brüsten, eure Bekanntschaft gemacht zu haben.« »Hört, hört!« murmelten die Stimmen, die überall aus dem Gras kamen, beifällig. Flewingam hatte einen Fuß erhoben und stand im Begriff, die kleine grüne Pflanze niederzutrampeln. »Warte, Flew«, bat Olther. Dann drehte er sich um und sprach zu der Stimme. »Hör mir gut zu, Freund Elf. Falls du wirklich ein Elf bist, was mir schwerfällt zu glauben, da du dich einer solchen ungehobelten Sprache bedienst. Ich will deine Fragen beantworten. Ich lernte Elfen am Hofe Lorinis in Cypher kennen, und sie waren außerordentlich höflich und zuvorkommend, und sie machten eine derart schöne Musik, die deine Ohren wohl noch nie vernommen haben. Wir sind Gefährten Brokos, des Zwergenfürsten, der im Auftrag des Rings des Lichts unterwegs ist, und kämpften an der Seite von Mithramuse Cairngarme. Auch Greyfax Grimwald und Faragon Fairingay zählen zu unseren Freunden. Wenn du willst, werden wir ebenfalls Freunde, wenn nicht, sind wir Feinde. Doch überlege gut, was du den Gefährten des Rings antwortest.« Auf Olthers Rede herrschte lange Schweigen, bis schließlich von der Wiese dichter Nebel aufstieg, erst grau, 20
dann erstrahlte er im Sonnenlicht silbern. Feines Glockenläuten wurde hörbar, dann ertönte wieder das Summen – es klang wie ein Wind, der durch einen alten Wald streicht –, und vor den völlig überraschten Freunden standen plötzlich zwölf Elfen. Sie waren ganz in Grün gekleidet, trugen lange Bogen, und von ihren Gürteln hingen kurze, kunstvoll gearbeitete Schwerter. Sie waren kleiner als die Elfen in Cypher, und doch ähnelten sie ihnen. Sie hatten dieselben feinen Gesichtszüge und blaugrauen Augen. Einer der Elfen trat vor, verneigte sich tief und nahm dabei seinen Hut ab. »Bitte verzeiht unser ungehobeltes Benehmen«, sagte der Elf gewandt. Seine Stimme hatte jetzt einen öligglatten Klang. »Es gibt keine Entschuldigung für unser Verhalten, außer daß wir niemals zu hoffen wagten, dem berühmten Otter, der in Cypher war, von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Wir hielten diese Geschichten immer für Ammenmärchen und glaubten den durchreisenden Elfen nicht, die uns davon erzählten. Doch da du behauptest, dieser Otter zu sein, haben wir Anweisung, dich zu unserem Lager zu geleiten. Denn deine Ankunft wird dort sehnsüchtig erwartet.« Verständnislos starrte Olther den Sprecher an, und Flewingams Augen wurden immer größer. »Doch laß mich dich noch einmal um Verzeihung bitten«, sprach der Elf gleichmütig weiter. »Ich, Belwick, bin wahrhaftig ein miserabler Gastgeber. Mein Volk und ich stehen stets zu deinen Diensten.« Olther erwiderte den Gruß des Elfen und verneigte sich ebenfalls förmlich. »Wir sind sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen, Belwick, und es ist uns eine Ehre, solche Freunde zu haben. Aber wer könnte denn auf dieser Seite vom Calix Stay auf uns warten?« »Er trägt viele Namen. Manche mögen dir bekannt sein, manche nicht. Du kennst ihn wahrscheinlich unter dem 21
Namen…« Der Elf machte eine lange Pause. »Faragon Fairingay.« Und noch ehe die verblüfften Gefährten antworten konnten, hatten die Elfen kehrtgemacht und eilten schnellen Schrittes davon, so daß die Freunde Mühe hatten, sie nicht aus den Augen zu verlieren.
2. Dorini herrscht in Cypher Über dem Schwanenturm glomm eine bleiche, tiefstehende Sonne, und ein kalter Wind blies durch die Ruinen des einst goldenen Cypher. In Lorinis ehemaligem Arbeitszimmer schritt eine andere Person rastlos über die glanzlosen Teppiche und starrte auf die aschgrauen, leblosen Wände. Unten im Hof schwiegen die Singenden Brunnen. Ihr vormals klares Wasser war brackig geworden, und Eisschollen trieben auf der Oberfläche. Dorini blieb vor dem erkalteten Kamin stehen und betrachtete das in Stein gemeißelte Wappen darüber. Es stellte die Krone Windameirs mit ihren fünf Sternen dar. Die Finstere Königin berührte ihre eigene Krone – sie war aus Eisen geschmiedet und an jedem der fünf schwarzen Zacken mit einem Ring versehen. »Jetzt werden wir sehen, wer die Macht in den Händen hält. Nun befehlige ich meine Streitkräfte von Cypher aus, geradeso, wie ich es meiner schwachen Schwester prophezeit habe. Doch dieser Sieg ist noch unvollständig. Nichts kann meine Pläne jetzt mehr aufhalten. Ich werde über diese Welten und ihre Bewohner herrschen, so wie ich es mir vorgenommen habe.« Dorini lachte leise. Es klang wie der warnende Knurrlaut eines Tieres. Als sie ihre Aufmerksamkeit auf den Schlachtplan, der vor ihr lag, konzentrierte, betrat ein Yurinine-Oberst den Raum. Er trug eine schwarze Uniform und salutierte knapp, indem er die Hacken 22
zusammenschlug. »Ein Besucher wünscht Eure Majestät zu sehen«, meldete der auf finstere Weise gutaussehende Soldat. Dorinis eisiger Blick durchbohrte den Mann. »Wer wünscht mich zu sehen?« »Er hat nur gesagt, daß Ihr ihn empfangen würdet, Euer Majestät. Es ist ein Waldelf. Er hat Neuigkeiten von großem Interesse, behauptet er.« Ein rätselhaftes Lächeln kräuselte Dorinis Lippen. »Dann bring ihn herein.« Sie faltete die Karte zusammen und legte sie in die oberste Schublade ihres Schreibtisches. Als sie sich umwandte, betrat ein schlanker Mann den Raum. Er verneigte sich tief vor ihr. »Tyron der Grüne, Euer Majestät. Euch stets zu Diensten«, sagte Tyron und verneigte sich nochmals. »Ich weiß, wer du bist. Komm zur Sache, Elf. Was sind das für Neuigkeiten, die von Interesse für mich sein könnten? Und warum hast du dein erbärmliches Leben aufs Spiel gesetzt und bist hierhergekommen?« »Weil ich glaube, daß wir uns verbünden sollten, Euer Majestät«, entgegnete Tyron. »Ich bitte Euch, hört mich an, ehe Ihr Schritte unternehmt, die Ihr bereuen könntet. Was ich zu sagen habe, könnte sich als äußerst vorteilhaft für uns beide herausstellen.« Dorini lachte kalt. »Wie könnte ein elender Elf meinem Vorhaben dienlich sein?« fragte sie verächtlich, obwohl sie Tyron bedeutete weiterzusprechen. Sein Verhalten gab ihr Rätsel auf, doch ließ sie sich nichts anmerken. »Ihr möchtet gerne wissen, wo sich ein bestimmter Gegenstand befindet. Und ich möchte mich gewisser Personen entledigen. Mit gegenseitiger Unterstützung dürfte uns das Erreichen dieser Ziele nicht schwerfallen.« »Und warum sollte ich die gewünschte Information nicht aus dir herauspressen oder sie mir auf einem anderen Weg beschaffen?« Dorinis Augen hatten die Farbe von Eis 23
angenommen, während sie sprach, und schienen von abgründiger Tiefe erfüllt. Der Elf holte aus seinem Mantel einen kleinen Gegenstand hervor, der in seiner Faust Platz hatte. Langsam öffnete er die Hand und zeigte der Finsteren Königin, was sie barg. In ihre Augen trat ein Flackern, dann wandte sie den Blick ab. »Dieses Ding da gereicht dir nur im Augenblick zum Vorteil. Immer kannst du mich damit nicht fernhalten.« Tyron steckte den fein ziselierten Elfenspiegel wieder ein, auf dem ein einziges Wort stand – das Geheimnis, dessen Träger er war. »Aber ich bin so lange vor Euch sicher, bis ich gesagt habe, was zu sagen ist.« »Dann sprich. Ich habe noch dringende Geschäfte zu erledigen«, sagte Dorini. Innerlich mußte sie über diesen Dummkopf lächeln, der glaubte, sich mit einem der Fünf Geheimnisse vor ihr schützen zu können. »Das will ich tun. Ihr müßt wissen, daß es jemanden gibt, der eben jenen Gegenstand, der Euch zum Verhängnis werden könnte, jenseits vom Calix Stay in Sicherheit gebracht hat.« »Dieses armselige Kästchen!« geiferte sie wütend. »Jetzt befindet es sich also in den Sonnenwiesen?« »Ja. Und Greymouse und Melodias mit ihren Verbündeten sind auch dort. Sie bereiten einen großangelegten Gegenschlag vor, um Euch aus Cypher zu vertreiben, damit Ihr wieder dort lebt, wo Ihr hingehört, wie sie sagen.« »Ich gehöre überall dorthin, wohin meine Macht mich führt«, entgegnete Dorini kalt. »Aber diese Reiche wurden Euch nicht unterstellt. Das wißt Ihr genausogut wie ich. Ich kenne mich in den Büchern der Weisheit aus. Ihr habt die Grenzen Eures Machtbezirks überschritten und wollt auch über die unteren Welten Windameirs herrschen. Doch das geht allein Euch etwas an. Ich bin nur an dem Goldenen Wald und Gilden Far interessiert. Diese Gebiete beanspruche ich für mein 24
Volk, so wie meine Vorväter sie seit Jahrtausenden besaßen. Sie sind Elfenland und sollen es immer bleiben. Doch in letzter Zeit hat sich einiges geändert, viele suchen in den Wäldern Zuflucht, zum Nachteil des Elfenvolkes. Deshalb möchte ich Euch einen Handel vorschlagen.« »Einen Handel?« empörte sich Dorini. »Was hättest du mir schon anzubieten?« »Ein gewisses Objekt. Als Gegenleistung garantiert Ihr mir, daß der Goldene Wald und Gilden Far einzig und allein von Elfen bewohnt wird. Euer sehnlichster Wunsch ist es, über die unteren Welten Windameirs zu herrschen, und meiner, ein sicheres Refugium für mein Volk zu schaffen, wo niemand Zutritt hat. Auch diese Dummköpfe vom Ring des Lichts nicht und – Euer Majestät.« »Dieser Forderung kann ich nicht stattgeben«, sagte Dorini wütend. Die Tatsache, daß dieser ungebildete Elf wußte, wie er sich vor ihrem tödlichen Blick schützen konnte – nämlich einfach, indem er ihr sein Geheimnis zeigte –, hatte ihr einen bösen Schock versetzt. Denn wenn einmal bekannt wurde, wie einfach es war, ihrer Macht standzuhalten, konnte sie nicht lange über diese Welten herrschen, und ihr ganzer Kampf war umsonst gewesen. »Ich glaube, doch«, sprach Tyron weiter. »Denn falls Ihr die unteren Reiche unterwerft, wird auch der Ring des Lichts dort keinen Einfluß mehr haben. Und wäret Ihr zudem noch im Besitz eines gewissen Objekts und würdet sich dessen weise bedienen, könntet Ihr mir garantieren, um was ich Euch gebeten habe.« Langsam begann in Dorini ein Plan Gestalt anzunehmen, und der Gedanke, wie verblüffend einfach er war, ließ ein Lächeln über ihr hochmütiges Gesicht gleiten. »Im Prinzip stimme ich dir zu, Tyron. Jetzt gilt es nur noch, die Einzelheiten unseres Plans auszuarbeiten.« »Es braucht ein wenig mehr als nur Zustimmung, Euer Majestät«, sagte Tyron kühn. »Wir müssen einen Vertrag 25
abschließen, der uns beide unverbrüchlich an unser gegebenes Wort bindet.« »Wie du willst, Elf. Was schlägst du vor?« »Es ist ganz einfach. Ihr spart den Goldenen Wald und Gilden Far aus Eurem Machtbereich aus. Ich allein herrsche über die genannten Gebiete, und Ihr schwört, daß Ihr niemals darauf Anspruch erheben werdet.« »Und wie wollen wir diesen Handel besiegeln, mein guter Tyron?« »Nun, ich schlage vor, Ihr gebt mir zur Verwahrung eben diesen Gegenstand, den Ihr so verachtet und gleichzeitig fürchtet. Für Euch ist nur wichtig, daß dieser Gegenstand verschwindet und niemals wieder auftaucht, weil er dann Eure Pläne gefährden könnte. Bin ich in seinem Besitz, habe ich außerdem die Garantie, daß Doraki nicht versuchen wird, Euren Platz einzunehmen, Majestät. Handelt Ihr nach meinem Rat, hat Euer Ärger mit dem Heiligen Schrein ein Ende, denn ich werde ihn für immer sicher verwahren. Dies ist die perfekte Lösung für unser beider Probleme. Mein Volk wünscht nur ein Leben in Frieden in einem eigenen Land.« Dorinis kalter Blick ruhte auf dem ihr ergebenen Elf. »Aus welchem Grund sollte ich dir vertrauen?« fragte sie schließlich. »Und warum solltest du nicht ebenso ehrgeizig wie Doraki werden, wenn du erst einmal im Besitz des Schreins bist?« Tyron lachte. »Weil ich ein Elf bin, Euer Majestät. Ihr wißt, aus welchem Holz mein Volk geschnitzt ist. Wir sind verschlossen und kümmern uns lieber um eigene Belange als die anderer. Wir wollen nur unsere alte angestammte Heimat. Weiter reicht der Ehrgeiz der Elfen nicht.« »In der Tat. Manche unter euch sind reichlich beschränkt. Sprich weiter.« »Falls Ihr den Schrein hier aufbewahrt, Majestät, wißt Ihr um die Risiken, die damit verbunden sind. Früher oder später würde Doraki den Versuch machen, ihn an sich zu 26
bringen und Euch somit zu entmachten. Der Schrein hat die Kraft, auch in der schwärzesten Seele wieder Hoffnung erwachen zu lassen. Und damit hätte Euer Reich der Finsternis in Windameir keinen Platz mehr.« »Das wird nie geschehen!« rief Dorini zornig, obwohl sie sorgfältig Tyrons Worte abwog. Im tiefsten Innern wußte sie, daß der Elf die Wahrheit sprach. Doraki konnte nur durch Drohungen und Versprechungen daran gehindert werden, die Hand gegen sie zu erheben, denn er haßte sie mit jeder Faser seines schwarzen Herzes. Der Gedanke, im Besitz des Heiligen Schreins zu sein, ließ Dorini vor Entzücken erschaudern, obwohl sie seine grenzenlose Macht auch fürchtete. Denn er konnte in ihr das Verlangen erwecken, ihn dem Ring des Lichts zurückzugeben und auf alle ihre dunklen Pläne zu verzichten. Doch das Wissen um diese Gefahr machte sie um so begehrlicher nach diesem Instrument der absoluten Macht. Sie schwelgte in der Vorstellung, welchen Demütigungen sie diese Schufte vom Ring des Lichts aussetzen würde – vor allem Greyfax Grimwald. Gelänge es ihr, der Versuchung zu widerstehen, den Heiligen Schrein seiner wahren Bestimmung wieder zuzuführen, würde sie dem Herrscher Windameirs ebenbürtig sein, denn er selbst hatte den Schrein ja geschaffen. Dorini schreckte aus ihren Gedanken auf, denn Tyron machte ihr langes Schweigen ungeduldig. Deshalb stimmte sie Tyrons Vorschlägen zu – wenn sie auch nie ernsthaft daran dachte, ihr Wort zu halten. Und so setzten sich die beiden in Lorinis ehemaligem Arbeitszimmer zusammen und legten in allen Einzelheiten fest, wie Tyron zu seinem Elfenreich käme. Doch ihr, Dorini, bot sich die einmalige Gelegenheit, des Heiligen Schreins habhaft zu werden und damit für ewig ihren Untertanen, die sie in Eiseskälte und Finsternis gefangenhielt, den Weg zum Licht in die Heimat 27
Windameirs zu verwehren.
3. Diesseits des Großen Flusses Bruinlen saß ziemlich verwirrt gegen einen Baum gelehnt da und starrte verständnislos auf den Becher mit heißem Tee in seiner Hand. Über einem Feuer brodelte ein Kessel mit dampfender Suppe. In seinem Kopf drehte sich alles, und er blickte voller Verwunderung auf das geschäftige Treiben um ihn herum. Drei großgewachsene Elfen saßen am Feuer und unterhielten sich; einer rührte von Zeit zu Zeit in dem Suppentopf. Daneben saßen zwei Soldaten, sie trugen Melodias’ Uniformen. Der reißende Strom und die finsteren unterirdischen Gänge existierten nur noch als Schemen in seiner Erinnerung; ihm schien, als säße er schon immer hier in diesem Feldlager. Die Sonne wärmte ihn angenehm, und er fühlte sich rundherum zufrieden. Da kam eine graugekleidete Gestalt auf ihn zu und setzte sich neben ihn ins Gras. »Nun, mein Freund, es ist schon eine ganze Weile her, seit wir uns zum letztenmal getroffen haben.« Bruinlen betrachtete den Fremden, der sich jetzt einen Becher des duftenden, würzigen Tees eingoß. »Wir haben einander viel zu erzählen, Bruinlen. Komm, gehen wir in mein Zelt.« Gehorsam und ohne eine Frage zu stellen, folgte Bruinlen der graugekleideten Gestalt quer durch das Lager in ein großes Zelt zu einem Schreibtisch, der mit Landkarten und Papieren übersät war. Der Mann setzte sich und bedeutete Bruinlen, dasselbe zu tun. »Du hast mich ja überhaupt nicht erkannt, alter Junge. Habe ich mich derart verändert?« Beim leicht veränderten Klang der Stimme wurde Bruinlen aufmerksam. Jetzt endlich wußte er, wer der 28
Sprecher war. »Faragon Fairingay!« platzte er heraus und stand auf. »Ja, ich bin’s«, lachte der junge Zauberer und bedeutete Bruinlen, wieder Platz zu nehmen. »Viel ist geschehen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber erzähl mir doch, was du alles erlebt hast.« »Ich weiß nicht recht«, murmelte Bruinlen noch immer verwirrt. »Olther, Flewingam und noch ein paar Freunde – Thumb mit den anderen Bären – waren bei mir, als wir in einem unterirdischen Gang landeten. Dort wohnten die Wurzeln, und es gab einen Fluß mit dem Namen Urstrom. In den Fluten dieses Flusses wurde ich fortgetragen; alles war dunkel, und ich hörte Stimmen und sah dann Lichter. Und als nächstes machte man wieder Jagd auf mich. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich bin. Mir dreht sich alles im Kopf, aber ich habe Hunger und bin müde. Olther und Broko sind nicht mehr bei mir, und auch der Schrein ist verloren. Aber ich bin froh, Euch zu sehen. Ich dachte schon, ihr Zauberer würdet euch überhaupt nicht mehr um uns kümmern«, fügte er mürrisch hinzu. »Aber, aber, alter Junge«, sagte Faragon lachend, damit Bruinlen sich nicht seinem Selbstmitleid hingeben konnte. »Ich weiß, ihr habt Schlimmes durchgemacht, aber das wird jetzt alles ein Ende haben. Ich habe mit meinen Leuten gesprochen, die dich an unserer Grenze gefunden haben. Sie sagten mir, du hättest Calix Stay dort überquert und wärst von Dorinis Helfershelfern verfolgt worden, ehe du hier in unserem Wald ankamst. Du befindest dich nicht weit von der Stelle entfernt, von wo ihr einst Calix Stay überquert habt, ehe ihr auf Greyfax und mich traft.« »Dann sind wir also in den Sonnenwiesen?« fragte Bruinlen ungläubig. »Aber alles hat sich hier irgendwie verändert. Ich meine, die Sonne steht nicht mehr so hoch am Himmel. Und warum kann man hier Jagd auf mich machen. Das hat es früher nie gegeben. Die Finsteren Mächte hatten keinen Zutritt zu den Sonnenwiesen.« »Nun, wie du siehst, haben sich die Dinge beträchtlich 29
geändert«, sagte Faragon und strich sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn. »Die Finsternis hat selbst hier Zutritt gefunden. Dorini herrscht jetzt in Cypher und erteilt von dort aus ihre Befehle. Natürlich kann sie ihre Worlughund Gorgolac-Armeen nicht hierherbringen, denn Calix Stay würde eine Überquerung verhindern. Aber sie hat andere Verbündete, die nur auf ihr Erscheinen in den Sonnenwiesen warten. Solange Lorini noch in Cypher herrschte, konnte die Finstere Königin nicht in dieses Reich eindringen, doch da Lorini dort nicht mehr weilt und Cybelle entführt wurde, hat Dorinis Einfluß hier mächtig zugenommen. Die Truppen, die du hier siehst, bestehen zur Hälfte aus General Greymouses Leuten, und die andere Hälfte gehört zu dem Elfenheer unter Urien Typhon. Melodias’ Armee ist in der Nähe von Gilden Tarn stationiert. Dort ist auch Greymouse.« »Aber ich verstehe das alles nicht«, sagte Bruinlen. »Cybelle wurde entführt? Wie konnte das nur geschehen? Und wie kommt es, daß jetzt selbst Dorini den Großen Fluß überqueren kann?« »Eins nach dem anderen, Bruinlen. Einerseits ist es schwer zu verstehen, andrerseits aber ganz einfach. Dorini entführte Cybelle aus Cypher, während wir alle abwesend waren. Und aus diesem Grund konnte sie die Macht in Cypher an sich reißen und ist jetzt auch in der Lage, Calix Stay zu überqueren. Und diese Männer, die du hier im Zeltlager siehst, sind – wenn man so will – in einer anderen Welt, jenseits des Großen Flusses, gestorben. Das entspricht zwar nicht ganz den Tatsachen, muß aber genügen. Wir befinden uns nur in einer anderen Dimension. Außer unseren äußeren Gestalten ändert sich niemals etwas. Urien und seine Elfen beherrschen schon seit langem die Kunst, nach Belieben ihre Gestalt zu verändern, so wie auch die Menschen früher oder später diese Kunst beherrschen werden. Alles dies gehört zu den Gesetzen des Einen, die wir alle befolgen, ob wir uns dessen bewußt sind 30
oder nicht. Du wirst mich verstehen, wenn du in Gedanken der Linie eines Kreises folgst. Schließlich kommst du dort wieder an, wo du begonnen hast.« Nachdenklich runzelte Bruinlen die Stirn, er wollte eine Frage stellen, doch Faragon sprach weiter. »Das Ganze ist so einfach wie der Trick, den ich vor langer Zeit dir und Olther zeigte, damit ihr euch in Menschengestalt verwandeln könnt. Und die Finstere Königin bedient sich derselben Methode, mit nur einem Unterschied: Sie verfügt über die gleichen Kräfte wie die Mitglieder des Rings des Lichts, denn auch sie ist eine Tochter des Einen. Zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Lorini sollte sie über die unteren Welten herrschen, doch sie lehnte sich gegen das Gesetz auf. Um ihre Macht jedoch absolut auszudehnen, muß sie in den Besitz der Fünf Geheimnisse und des Heiligen Schreins gelangen. Und jetzt weiß sie, daß ein Zwerg den Schrein hat – eben jener Zwerg, den sie einst entführte. Das macht sie rasend vor Wut, denn gelingt es ihr nicht, des Schreins habhaft zu werden, ist ihr Kampf verloren.« Bruinlen schüttelte langsam den Kopf. »Das bedeutet also, ich bin wirklich im Calix Stay ertrunken? Aber ich sitze doch hier, und wenn ich meine Gestalt verändere, ist das alles nur Zauberei?« »Der Urstrom ist einer von Calix Stays vielen Nebenflüssen. Und du kannst in den Großen Fluß durch einen Schwertstreich, eine Kugel, einen Herzschlag oder nur aus Altersschwäche gelangen. Alle Wege führen zum Großen Fluß.« Bruinlen überdachte das Gesagte. Dann entgegnete er: »Ich fange an, ein wenig von diesen Dingen zu verstehen. Aber es ist alles sehr verwirrend.« »Je mehr du dich entwickelst, um so tiefer wird dein Verständnis sein, mein Freund. Doch jetzt wollen wir dieses gewichtige Thema fallenlassen und uns fröhlicheren Dingen zuwenden.« Faragon lächelte und lehnte sich zurück. »Schon bald werden wir alle mit unseren Freunden 31
wieder vereint sein und zum Anfang zurückkehren, wo Lorini uns schon erwartet. Doch zuvor müssen wir unsere Streitkräfte hier versammeln, was wir auch tun.« »Ihr meint, ich sehe Olther, Broko, Flew, Cranny und Thumb mit seinen Bären alle wieder?« »Das ist richtig, bis auf Thumb und die anderen Bären. Sie müssen Calix Stay wieder überqueren und können erst wiederkommen, wenn sie ihre Aufgaben in den anderen Welten erfüllt haben.« Trauer überschattete Bruinlens Gesicht, und er spürte, wie dieses Gefühl des Verlustes ihn gleich einer Woge überschwemmte. »Er war so ein netter Kerl. Und jetzt habe ich ihn wieder verloren. Könnt nicht Ihr oder die anderen Zauberer etwas für ihn tun?« Faragon lächelte. »Nein. Er muß den Weg zu seiner Vervollkommnung selbst gehen, so wie wir alle. Sie sind jetzt auch keine Bären mehr, sondern haben Menschengestalt angenommen. Auch sie müssen alle Stadien durchschreiten, so wie es der Wille des Einen ist.« »Soll das heißen, daß sie nie wieder als Bären leben?« »Nein. Dieses Leben haben sie hinter sich. Jetzt werden ihnen andere Aufgaben zugeteilt. Wenn die Zeit reif ist, kehren sie zu dem Einen, in ihre wahre Heimat, zurück.« »Trotzdem werde ich sie vermissen«, murmelte Bruinlen. »Das ist ganz natürlich. Würdest du nicht so empfinden, hättest du dich nicht so weit entwickelt, und wir säßen jetzt nicht hier zusammen.« Der junge Zauberer schwieg. Da betrat eine Ordonnanz das Zelt und stellte ein Tablett mit Essen und Trinken vor die beiden Freunde auf den Schreibtisch. Der Soldat grüßte und ging wieder. »Komm, wir wollen unseren Hunger stillen. Dann können wir uns wieder unseren Aufgaben zuwenden.« Da merkte Bruinlen, wie hungrig er war; und während er eine Scheibe Brot dick mit Honig bestrich, dachte er über all das nach, was Faragon ihm gesagt hatte. Er wagte nicht zu fragen, welche neuen Aufgaben sie jetzt erwarteten, doch 32
aus Erfahrung wußte er, daß er sicherlich noch einen weiten Weg zu gehen hatte, so wie er in den vergangenen Jahren einen schier endlos scheinenden Weg gegangen war. Doch das Seltsamste war, daß er plötzlich verstand, was ihm früher so unbegreiflich erschienen war. »Wahrscheinlich kommt das daher, daß ich überhaupt in diese sonderbaren Geschehnisse verstrickt wurde«, murmelte Bruinlen vor sich hin. »Wäre ich nur halbwegs bei Verstand gewesen, würde ich noch immer in meiner alten Höhle sitzen und mich um meine Bienenzucht kümmern«, schnaubte er. »Wahrscheinlich werde ich genauso verschroben wie alle die anderen hier.« Er schüttelte den Kopf und versuchte sich daran zu erinnern, was er immer darüber gehört hatte, wenn man sich mit Fremden einließ, doch die Worte wollten ihm einfach nicht einfallen. Und trotz all dieser unbeantworteten Fragen fühlte er sich so wohl wie noch nie in seiner Haut.
4. Alte Freunde »Euch hätte ich hier nun ganz und gar nicht erwartet«, sagte Lorini neckend zu ihrem alten Freund. »Das ist sehr entmutigend für mich, meine Fürstin«, entgegnete Greyfax, während er sich tief vor Lorini verneigte. »Cephus und Erophin sind sehr nett zu mir gewesen. Sie gaben mir Antworten auf alle meine Fragen, die mir in letzter Zeit so viel Sorge bereiteten und mich verwirrten.« Sie schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Aber unser Zusammentreffen verwirrt mich auch.« »Das sollte es nicht, meine Fürstin. Es geschieht nur, was geschrieben steht. Wir sind hier, weil wir alle eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen haben.« »Und welche wäre diese?« fragte Lorini. »Ihr kennt sie genausogut wie ich. In Kürze werden 33
Gäste bei uns eintreffen. Ich habe Nachricht, daß sie Calix Stay überquert haben und auf dem Weg hierher sind.« Lorini blickte einen Augenblick schweigend in den jetzt erloschenen Kamin. »Und habt Ihr auch Nachrichten über die Rückkehr Cybelles?« Sie wagte es nicht, ihm ihr Gesicht zuzuwenden, da sie Angst hatte, er könne den Schmerz in ihren Zügen lesen. »Meine liebe Lorini« entgegnete Greyfax ruhig. »Wir alle wissen, daß unsere geliebte Cybelle zurückkehrt. So steht es geschrieben. Darüber braucht Ihr Euch nicht mehr zu grämen. Damit vergeudet Ihr kostbare Kraft. Im Augenblick können wir nichts zu ihrer Befreiung tun. Und wir haben noch viel zu erledigen, jetzt, wo Ihr endlich gekommen seid. Wir müssen uns um Cypher kümmern und uns auf die Ankunft Eurer Finsteren Schwester vorbereiten. Sie ist auf diesen Ebenen sehr aktiv geworden, da nach Cyphers Fall niemand mehr ihr Eindringen hier verhindern konnte.« »Habt Ihr Cypher gesehen, seit es gefallen ist?« »Das habe ich, meine Fürstin. Es ist, als ob es nie existiert hätte, und doch ist es Cypher geblieben. Doraki hält dort von Zeit zu Zeit hof, und auch Dorini wurde dort gesehen. Sie hat ihr Hauptquartier dorthin verlegt. Nur die Gorgolac- und Worlugh-Truppen haben keinen Zutritt zu diesem Reich. Sie sind außerstande, Calix Stay zu überqueren. Sie haben zum Teil Menschengestalt angenommen, doch im Innern sind sie dieselben Bestien geblieben.« Lorini starrte noch immer in das erloschene Kaminfeuer. »Und werden wir hier unser neues Cypher errichten?« fragte sie endlich mit so leiser Stimme, daß Greyfax sie kaum verstand. »Nicht Ihr oder ich, liebe Lorini. Nein. Wir beide üben hier nur die Funktion von Beratern aus. Und dieser junge Hitzkopf Fairingay wird uns dabei helfen. Es geht das Gerücht, daß er ganz in der Nähe sein soll.« »Welches sind Eure Pläne? Oder sollen wir tatenlos hier 34
herumsitzen?« »Nicht ganz tatenlos, meine Fürstin. Wie Ihr wißt, sind wir in diesen Regionen ziemlich mächtig, mächtiger als die Finstere Königin, Eure Schwester. Doch müssen wir immer mit Verrat rechnen.« Greyfax’ Züge verdüsterten sich, während er sprach. Er schwieg eine Weile, dann redete er weiter. »Eine große Gefahr liegt darin, daß Dorini jede beliebige Gestalt hier annehmen kann, und obwohl sie über keine Streitkräfte verfügt, hat sie mächtige Verbündete. Die Lebewesen hier kennen keinen körperlichen Schmerz, also haben sie auch keine Angst und können leicht mißgeleitet werden. Vielleicht finden sie an Dorinis bösem Spiel Gefallen, einfach weil sie sich daran ergötzen. Also ist sie sehr wohl in der Lage, großen Schaden anzurichten, wenn auch nicht mehr auf eine rein physische Art, indem sie ihre Bestien auf uns losläßt.« Greyfax saß an einem einfachen Schreibtisch. Er griff nach einer großen Landkarte und entfaltete sie vor sich. »Hier befinden wir uns jetzt.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle. »Dies sind die vom Calix Stay bewachten Grenzen. Dort liegt Cypher, und hinter jenem Wald, am Fuße der Hügel, hat Tyron der Grüne sein Lager aufgeschlagen. Er ist noch immer im Besitz eines der Fünf Geheimnisse, und er liefert auch einen der Gründe, warum wir hier sind.« Greyfax blickte auf und lächelte. »Natürlich ist er nur ein Grund, wie ich schon sagte, denn viele Wege laufen hier zusammen. Längst gesäte Samen beginnen jetzt zu keimen und Früchte zu tragen. Und bald wird es für uns eine Menge zu tun geben.« »Darüber bin ich froh«, entgegnete Lorini einfach. »In meinem Schmerz über Cybelle habe ich meine Pflichten vernachlässigt und die Übersicht über das Geschehen verloren. Ich fühle mich wie am Anfang, als ich zum erstenmal den Calix Stay überschritt, und alles noch neu und fremd für mich war.« »So soll es auch sein, Lorini«, sagte Greyfax ruhig. 35
»Wie könnten wir sonst jemals etwas lernen oder uns erinnern? Ich hatte dasselbe Verlangen, die Ereignisse zu kontrollieren, damit ich endlich wieder zum Ursprung zurückkehren kann. Ich habe Cephus und Erophin davon erzählt, als ich sie das letztemal sah. Sie stimmten mir zu. Ich denke, wir alle sind dieser endlos dauernden Kriege müde, und unsere Herzen sehnen sich nach Ruhe.« »Das klingt wundervoll«, seufzte Lorini. »Doch zuerst müssen wir unsere Pflicht erfüllen, denn wir sind für jene verantwortlich, die unserer Führung anvertraut wurden. Und wir müssen die Geheimnisse für alle, die in der Finsternis leben, bewahren, so wie unsere Ahnen sie für uns bewahrt haben.« Greyfax wandte langsam den Blick und sah Lorini lange an, ehe er antwortete. »Ich hatte diese Zeiten längst vergessen, bis Ihr eben wieder davon spracht.« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, warum ich mich so unbehaglich fühlte, bis Ihr es ausspracht.« »Und was wäre das?« fragte Lorini und sah ihren alten Freund besorgt an. »Ich hatte nur vergessen, wo alles angefangen hat und was ich alles in jenen unteren Sphären durchmachen mußte. Was wir alle durchmachen mußten. Und daß ich allen helfen muß, aus der Finsternis in ihre wahre Heimat zu gelangen.« »Es fällt mir schwer, das von Euch zu glauben, Greyfax. Von allen Mitgliedern des Rings des Lichts seid Ihr doch der letzte, der seine Pflichten vernachlässigen würde. Ich kenne Euch seit Urzeiten, und das sehr gut, und niemand kann behaupten, daß Ihr jemals nachlässig gehandelt hättet.« »Was Ihr sagt, stimmt. Es war nicht Nachlässigkeit, jedoch etwas, das ihr sehr nahe kam. Es waren harte Jahre, und das Ziel schien sich immer weiter zu entfernen. Jetzt gerade, als Ihr von Cybelle spracht, fing auch ich an zu glauben, daß mir das Geschehen aus den Händen glitte.« 36
Lorinis Augen umschatteten sich, und ihre Lippen zitterten. »Ich weiß, daß alles so ist, wie es sein soll, denn so steht es geschrieben. Dennoch leide ich noch immer wegen Cybelle. Bis sie wieder gesund an Leib und Seele vor mir steht. Und obwohl ich weiß, daß es eines Tages geschehen wird, ist es schwierig, den Willen des Einen zu akzeptieren. Doch wir müssen diese Prüfungen erdulden, sonst wachsen wir nicht.« »Da habt Ihr vollkommen recht, meine Fürstin. Ohne Prüfungen erreichen wir niemals jenen Grad der Vollkommenheit, der es uns erlaubt, zurückzukehren. Und ich lerne meine Lektion gleich zweimal. Einmal durch Cybelles Entführung und ein zweites Mal durch die Gefühle, die ich Euch entgegenbringe.« »Oh, sprecht nicht davon, mein lieber Grimwald. Daran wollen wir nicht rühren. Ihr wißt, daß ich Euch immer geliebt habe, selbst als ich noch mit Trianion verheiratet war, den ich auch liebte. Das sind alte Wunden, die wir nicht wieder aufreißen wollen.« »Da stimme ich Euch zu. Jetzt haben wir gelernt, uns auf eine bessere Weise zu lieben, hoffe ich. So wie wir von dem Einen geliebt werden. Diese Liebe empfinde ich jetzt für Euch.« Greyfax stand neben Lorini und nahm ihre Hand. Er wollte sprechen, doch sie schüttelte den Kopf und blickte ihn nur schweigend an – ihre klaren blaugrauen Augen waren voll der Wunder Windameirs. Sie beugte sich näher zu ihm hin und küßte ihn zärtlich auf die Wangen. »Lieber, lieber Grimwald. Die Dinge, die wir erlebt haben, lassen sich nicht aussprechen. Lange Jahre waren wir getrennt, ich in Cypher, und Ihr mußtet Euch ständig um Atlanton kümmern. Doch jetzt werden wir den letzten Weg gemeinsam gehen, wie es scheint.« »Ja. So soll es sein«, entgegnete Greyfax, ließ Lorinis Hand los und schritt zu dem Bogenfenster, das auf einen kleinen Innenhof hinausging. »Ich glaube, ich höre jemanden kommen.« 37
»Was gibt es, Galen?« rief Greyfax in den Hof hinunter. »Haben wir Neuigkeiten vom Großen Fluß?« »Mehr als das. Eine Gruppe von Tyrons Elfen ist angekommen und möchte von Euch empfangen werden.« »Dann bring die Leute zu mir. Wir können uns während des Mittagessens unterhalten.« »Sie wollen nicht hierherkommen, sondern erwarten Euch am Rande des Waldes. Wenn Ihr mit ihnen verhandeln wollt, sie bleiben dort eine Stunde. Nicht länger.« Greyfax trat vom Fenster zurück und runzelte die Stirn. »Ich frage mich, was das soll. Hat Tyron sich entschlossen, sein Geheimnis uns zu überlassen? Das kommt mir höchst unwahrscheinlich vor.« »Ich glaube, Tyron hat ganz andere Pläne«, sagte Lorini, die neben dem Schreibtisch stand und auf die Landkarte blickte. »Und ich wundere mich, daß Tyron nicht erzürnt ist, denn ich habe Urien Typhon zu ihm geschickt und ihm ausrichten lassen, daß er seine Truppen zurückhält. Sonst hätte das Geheimnis in die Hände meiner Schwester fallen können. Tyron war immer sehr ehrgeizig. Ich frage mich, was dahintersteckt.« Lorini schwieg und blickte noch immer auf die Karte. »Vielleicht hat Dorini ihn schon in ihrer Gewalt«, meinte Greyfax. »Wie es scheint, will er mit mir verhandeln. Sonst wäre er doch selbst gekommen.« »Dann müßt Ihr mit den Elfen reden, Greyfax. Nur seid vorsichtig. Falls meine Schwester die Hand im Spiel hat, ist immer Gefahr im Anzug.« »Das werde ich sofort ergründen«, entgegnete der Zauberer. Als er die Landkarte wieder zusammenrollte, fiel sein Blick auf die Stelle, wo Tyrons Lager eingezeichnet war. Die Markierung leuchtete in einem glänzenden Grün und lag nahe dem Ort, wo der Urstrom in den Calix Stay floß. »Ich frage mich«, murmelte er halblaut vor sich hin, »ob die Position seines Lagers etwas mit der Überquerung gewisser Leute zu tun hat?« »Eine Überquerung?« fragte Lorini. »Ja. Ich erwarte 38
Freunde von uns hier.« Schnell rollte er die Karte zusammen und ging aus dem Zimmer. Unten wartete Galen Isenault, und als er Greyfax sah, eilte er auf ihn zu. »Ich glaube, sie haben uns eine Falle gestellt, Grimwald. Sie haben überall die Nachricht verbreitet, daß morgen eine Ratsversammlung abgehalten wird, und jeder, der in Frieden hier leben möchte, gut daran täte, den Vorschlägen Tyron des Grünen, Herrscher von Gilden Tarn, zuzustimmen.« »Herrscher von Gilden Tarn?« fragte Greyfax ungläubig und strich sich nachdenklich über den Bart. »Das sind in der Tat interessante Neuigkeiten.« »So läßt er sich jetzt nennen«, sagte Galen. Die beiden sahen sich einen Moment schweigend an, dann ging Greyfax entschlossen zur Tür und nahm einen kräftigen Spazierstock. »Nun, vielleicht ist dieser Stock zu mehr nütze, als daß ich mich auf ihn stützen kann.« »Er scheint größenwahnsinnig geworden zu sein.« Greyfax legte Galen die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, mein Freund. Aber die Dinge verzögern sich jetzt schon allzulange. Jetzt geschieht wenigstens etwas. Ich kann den Umschwung geradezu riechen.« Greyfax lächelte und wiederholte: »Ja, mein Freund, ich kann es geradezu riechen.« Dann erteilte er Galen Anweisungen, und da er wußte, daß der Elf alle Geschäfte während seiner Abwesenheit zu seiner Zufriedenheit erledigen würde, machte er sich sofort auf den Weg. Und während er eilig ausschritt, pfiff er ein fröhliches Liedchen vor sich hin. Die sanfte Brise, die den Mantel des Zauberers bauschte, als er zum Treffen mit den Elfen eilte, kühlte Brokos heißes Gesicht, der in den grünen Sonnenwiesen aus wirren Träumen erwachte. Er riß ungläubig die Augen auf und brauchte eine ganze Weile, bis er begriff, daß er die Schrecken in den unterirdischen Bauten seiner Vorfahren endgültig hinter sich gelassen hatte. Die warme Sonne 39
tröstete ihn und verscheuchte die düsteren Alpträume, die noch auf seinem Herzen lasteten. Es war einfach wieder ein neuer Anfang, dachte er, ein neuer Anfang dieser schier endlos währenden Reise, die er vor so langer Zeit angetreten hatte.
5. Tyron der Grüne »Willkommen, Tyron. Wir hatten lange nicht die Ehre, einen solch geschätzten Verbündeten begrüßen zu dürfen«, sagte Faragon Fairingay zu dem Elf, der sich vor ihm verneigte. »Mein verehrter Meister Fairingay«, entgegnete der hochgewachsene Mann höflich. »Ich bin gekommen, Euch meine Dienste und die meiner Gefolgsleute anzubieten. Wir leben in schweren Zeiten, jetzt, wo es dem Feind sogar gelungen ist, uns diesseits des Großen Flusses zu bedrängen.« Faragon nickte. »Da hast du recht, Tyron. Doch alle diese Geschehnisse gehören nur zu einem großangelegten Plan, den wir erst verstehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.« Auf den Zügen des Elfen breitete sich ein kurzes Erschrecken aus, doch falls der junge Zauberer es bemerkte, so ließ er sich nichts davon anmerken. »Ich habe zuverlässige Kunde erhalten, daß sich nicht weit von Gilden Far ein feindliches Heerlager befindet, Herr«, sagte Tyron. Seine Stimme klang jetzt ungezwungen. »Ich dachte, es wäre vielleicht klug, wenn ich meine Leute im Goldenen Wald stationieren würde, um so jeden Angriff aus dieser Richtung abzublocken. Zur Zeit sind meine Truppen überall an der Grenze verstreut, und wir könnten nicht effektvoll zurückschlagen, sollte es zum Kampf kommen.« »Und ich dachte, du hättest dort nur Vorposten, Tyron. Es war nicht geplant, daß ihr euch an einer bestimmten Stelle zusammenziehen solltet, denn meine Streitkräfte 40
lagern ganz in der Nähe und würden euch im Falle eines Angriffs sofort zu Hilfe eilen.« »Das ist richtig, Herr. Doch ich habe ein Gefühl, daß uns unmittelbar Gefahr droht. Wir beobachten den Feind seit einigen Tagen. Immer mehr Truppen rotten sich zusammen, ohne zuzuschlagen. Und das ergibt keinen Sinn, niemand tut etwas Derartiges aus reinem Vergnügen, nur um die Schönheit der Landschaft zu betrachten.« Faragon schwieg einen Augenblick und dachte über das Gesagte nach. »Was du sagst, ist wahr«, entgegnete er schließlich. »Ich weiß nicht, warum die Truppen der Finsternis nicht angreifen. Wahrscheinlich warten sie auf irgend etwas, ein Zeichen oder einen Befehl. Und der Goldene Wald muß unseren Feinden unzugänglich gemacht werden. Ich halte deinen Plan für ausgezeichnet. Rufe also deine Männer von der Grenze zurück und versammelt euch im Wald.« Tyron lächelte breit und hob die Hand zum Gruß. »Wir werden den Wald unpassierbar machen«, sagte er. »Doch während ich meine Truppen verlege, werde ich die Patrouillen noch nicht zurückziehen.« Bruinlen, der im Nebenzelt geschlafen hatte, war durch die Stimmen geweckt worden und Zeuge der Unterhaltung geworden. Jetzt erhob er sich von dem Feldbett und betrat das Zelt leise. »Da bist du ja«, begrüßte ihn Faragon. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange du noch schlafen würdest.« »Seid gegrüßt, Faragon«, sagte der Bär. »Es gibt gute Neuigkeiten, Bruinlen«, sagte Tyron. »Und wie geht es unserem guten Zwerg Broko heute?« »Gut. Vielen Dank der Nachfrage«, brummte Bruinlen, und er spürte, wie sich sein Fell im Nacken sträubte, wußte aber nicht, warum. »Wir haben uns beraten und festgestellt, daß der Goldene Wald einen Schwachpunkt in unseren Verteidigungsplänen darstellt«, erklärte Faragon und ging zu einem Tisch, auf dem viele Karten ausgebreitet lagen. 41
Bruinlen stellte die Ohren auf. »Der Goldene Wald? Dort hatte ich einen meiner alten Unterschlüpfe, damals, ehe wir Calix Stay überquerten.« Er ging jetzt zu Faragon hinüber und blickte dem Zauberer über die Schulter auf die Landkarte. »Ich glaube nicht, daß diese Karte den Wald exakt wiedergibt«, sagte Bruinlen schließlich. »Da gibt es keinen Fluß, jedenfalls meines Wissens nicht. Oder alles hat sich dort, seit ich zum letztenmal da war, beträchtlich verändert.« Faragon beugte sich tiefer und prüfte eingehend die Stelle, auf die Bruinlen deutete. »Außerdem gibt es dort einen Gürtel mit derart dichtem Unterholz, daß niemand durchkommt. Jedenfalls niemand, der größer als ein Eichhörnchen ist. Es wirkt wie ein Zaun im Wald. Ich kannte einmal einen Igel, der das Dickicht durchquerte, und er sagte, es würde bis in die Mitte des Waldes reichen.« Faragon nickte und machte mit einer Feder am Rand der Landkarte Notizen. »Und dort, wo diese Linien sind, gibt es Ruinen. Sie stammen wohl aus uralten Zeiten und bestehen jetzt nur mehr aus Kellergewölben. Dort hatte ich auch meinen Unterschlupf. Es waren zwar keine Bärenhöhlen, aber es war gemütlich dort. Außerdem waren sie durch zahllose unterirdische Gänge miteinander verbunden.« Nach einer Weile richtete sich Faragon wieder auf. »Diese Karte scheint mir äußerst ungenau zu sein«, sagte er an Tyron gerichtet. »Ich dachte, du hättest sie korrigiert, ehe du sie mir gabst?« »Das habe ich auch getan, Herr«, beeilte sich Tyron zu erklären. »Nur wußte ich nicht, daß dieser Fluß oder diese Ruinen eine Rolle spielten. Ich habe nur die Hauptverkehrswege einzeichnen lassen und hatte keine Ahnung, daß Ihr jede Einzelheit verzeichnet haben wolltet. Ich glaubte, die Karte sollte als Unterlage für einen Schlachtplan dienen.« 42
»Haargenau diese Anforderungen soll sie erfüllen«, entgegnete Faragon mit eisiger Stimme. »Und jetzt stoße ich auf Dinge, mit denen ich nicht gerechnet habe. Ruinen, in denen sich Soldaten verstecken können. Wer weiß, was sonst noch alles auf dieser flüchtigen Zeichnung vergessen wurde.« Faragons Stimme klang jetzt schneidend. »Mir wird bewußt, daß du überhaupt nicht begriffen hast, was ich wünschte, Tyron. Ich brauche eine präzise Karte, um effektvolle Schlachtpläne aufzustellen. Diese nachlässige Arbeit kann uns den Sieg kosten, nämlich wenn der Feind besser als wir mit den Örtlichkeiten des Goldenen Waldes vertraut sein sollte. Meine Leute kennen sich dort nicht aus. Und ich weiß selbst nicht einmal genau, wo wir uns befinden, ehe ich nicht mit Melodias oder Greymouse gesprochen habe.« Dann wandte sich Faragon an Bruinlen. »Ich möchte gerne, daß du, Bruinlen, da du ja mit der Gegend dort vertraut bist, Tyron begleitest und die Karte vervollständigst. Zeichne alles ein, was mir bei der Ausarbeitung eines Schlachtplans dienlich sein kann. Da uns jetzt keine unmittelbare Bedrohung bevorsteht, wird dir genug Zeit für diese Aufgabe bleiben.« Bruinlen stöhnte innerlich auf, doch er schwieg und nickte nur und versuchte, etwas Begeisterung für diese neue Arbeit, die Faragon ihm gerade übertragen hatte, aufzubringen. Währenddessen stand Tyron schweigend vor dem Schreibtisch und starrte auf seine Stiefelspitzen. Schließlich sagte er: »Ich glaube, Ihr könntet den kräftigen Bären mit weitaus wichtigeren Aufgaben betrauen, Herr. Ich selbst werde mich um die Vervollständigung der Landkarte kümmern. Jetzt weiß ich ja, um was es Euch geht. Ihr braucht Euren Freund nicht mit mir zu schicken; er hat sich sicher noch nicht von der gefahrvollen Überquerung des Großen Flusses erholt.« Das war Musik in Bruinlens Ohren, obwohl ihm irgend etwas an der Rede des Elfen überhaupt nicht gefiel. Doch 43
Faragon machte sofort alle seine Hoffnungen zunichte. »Es tut mir leid. Aber ich glaube, du wirst mehr als genug zu tun haben, Tyron. Und außerdem kann Bruinlen auf dem Rückweg Greymouse eine Nachricht von mir überbringen. Auf diese Weise kannst du dich ganz der Aufgabe widmen, dein Elfen-Heer im Goldenen Wald zu versammeln.« »Es sei, wie Ihr befehlt«, gab Tyron knapp zurück. »In einer Stunde werde ich Euer Lager verlassen, Bruinlen möge sich dann bereithalten.« Der Elf verbeugte sich flüchtig und stapfte aus dem Zelt. Bruinlen beobachtete ihn voller Verblüffung. Es wollte nicht in seinen Kopf, daß jemand einem Meister des Rings des Lichts derart unhöflich begegnete. »Nun, mein guter Bruinlen, zu dir«, sagte der Zauberer lächelnd. »Ich möchte dich mit einer sehr wichtigen Aufgabe betrauen, von der unser guter Elf nichts wissen darf.« Und Bruinlen spürte wieder dieses wohlvertraute Gefühl der Angst im Magen, als Faragon ihm seinen Plan darlegte.
6. Ein edler Elfenkönig Während Bruinlen hinter dem verräterischen Tyron hermarschierte, sträubte sich sein Nackenfell, und er wurde das Gefühl nicht los, daß er sich in Gefahr befand. Wiederholt sog er prüfend die Luft ein und drehte den Kopf in alle Richtungen, doch er konnte keine Zeichen einer Bedrohung entdecken. Tyron war von einigen seiner Elfen umgeben, und Bruinlen konnte auch die meisten sehen. Und obwohl er wußte, daß der größere Teil schon vorausgegangen und im Dickicht des Waldes verschwunden war, hatte er den Eindruck, daß sich ihre Zahl ständig vermehrte. Er rief sich die Instruktionen, die Faragon ihm gegeben hatte, noch einmal ins Gedächtnis zurück und versuchte zu 44
verstehen, was den jungen Zauberer so erheitert hatte. »Du wirst unseren ehrgeizigen Elf begleiten und seine Anordnungen befolgen. Wenn er dir sagt, daß die Karte vollständig ist, machst du dich auf den Weg zu General Greymouse. Er hat sein Lager nicht weit vom East Ring Dell, in der Nähe vom Cheer Weir, aufgeschlagen. Du kennst diese Gegend ja.« Bruinlen erinnerte sich gut an diesen Teil der Sonnenwiesen und erklärte Faragon, er würde dorthin finden. »Tyron hat seine eigenen Pläne, doch wir haben die unseren, die ihm kaum schmecken dürften. Kleine Ursache, große Wirkung. Darauf wird schließlich alles hinauslaufen.« Darauf hatte Faragon geschwiegen, den Kopf zurückgeworfen und laut gelacht. »Dabei ist es ganz einfach«, sprach er weiter. »Und ich wäre niemals auf den Gedanken gekommen, daß gerade die verräterischen Pläne des Elfen uns weiterhelfen würden.« Bruinlen wälzte Faragons Worte wieder und wieder in seinem Kopf herum, konnte ihre Bedeutung aber nicht ergründen, von welchem Gesichtswinkel aus er sie auch betrachtete. Und die Erheiterung des jungen Zauberers teilte er keineswegs, während er hinter Tyron hertrottete, der ihm von Zeit zu Zeit über die Schulter einen bösen Blick zuwarf. »Das geht über meinen Verstand«, murmelte Bruinlen. Er versuchte, das Beste aus der Situation zu machen, und freute sich, wenn er hie und da alte vertraute Zeichen im Wald erkannte. Doch der Goldene Wald hatte sich beträchtlich verändert und seine ursprüngliche Dichte verloren. Streckenweise waren ganze Baumgruppen verbrannt. Schwarz verkohlte Stümpfe ragten wie schwerfällige Riesen empor. Bruinlen erinnerte sich, daß in dieser Gegend einst Menschen gehaust hatten, doch jetzt sah alles tot und verwüstet aus. Und ganz plötzlich – so als hätte ein Zauberer die verbrannten Baumstümpfe verwandelt – sah er vor sich eine dichte, grüne Wand belaubter Bäume. Sie standen so nahe 45
beieinander, daß ein Durchkommen schier unmöglich schien. Und Tyron hielt direkt auf diese grüne Wand zu. Erst jetzt bemerkte Bruinlen, wie zahlreich die sie begleitenden Elfen geworden waren. Er war überall von diesen kleinen Waldelfen umgeben, die in keiner Weise jenen ähnelten, die er in Cypher kennengelernt hatte. Sie schienen förmlich aus der Erde hervorzuquellen. Als Bruinlen näher hinschaute, sah er, daß sie tatsächlich aus verborgenen Gängen, die unter die Erde führten und geschickt hinter dichtem Buschwerk verborgen waren, kamen. Dann eilten sie sofort in die Nähe ihres Anführers Tyron. Der Elfenkönig trug jetzt eine sehr selbstsichere Miene zur Schau, so wie jemand, der sich seiner Sache völlig sicher ist. Als Bruinlen sich umdrehte, bemerkte er zu seinem größten Erstaunen, daß diese geheimen Eingänge wieder verschwunden waren. Die Elfen in Tyrons Nähe machten jetzt einen ziemlichen Lärm, und Bruinlen wandte schnell den Kopf in ihre Richtung. Das Gebaren dieser seltsamen Wesen gefiel ihm überhaupt nicht, und er fühlte, wie sich vor Angst sein Magen zusammenzog. Faragons Heiterkeit wurde ihm immer unverständlicher, und trotzdem wünschte er sich sehnlichst, er säße jetzt an der Seite des jungen Zauberers gemütlich vor einem Feuer und würde honigsüßen Tee trinken, anstatt hier inmitten dieser unzähligen Elfen zu sein, die jetzt Tyron auf den Schultern trugen. Plötzlich erhob sich von allen Seiten lautes Geschrei, das allmählich abebbte und in einem Lied endete, das alle gemeinsam sangen. »Tyron der Grüne, Herrscher des Goldenen Waldes, Hüter des Geheimnisses, Vernichter des Rings des Lichts Und Licht der Finsternis, Tyron der Grüne, 46
Unser edler Elfenkönig, Tyron, Tyron, Tyron«, sangen die hellen Stimmen, und die Erde erzitterte, als die Elfen im Rhythmus zu der Melodie mit den Füßen auf den Boden stampften, und Bruinlens Ohren dröhnten von dem Gesang. Zuerst war er derart verwirrt, daß er die wachsende Gefahr gar nicht bemerkte, doch dann griff die Angst mit eisigen Fingern nach seinem Herzen. Er blickte sich um, aber wohin er auch sah, standen Elfen dicht an dicht; ringförmig umgaben sie Tyron, so als wollten sie ihren Herrscher krönen. Eine Möglichkeit zur Flucht gab es nicht. Beklommen ging Bruinlen langsam auf eine Baumgruppe zu. Sein Nackenhaar sträubte sich, und am liebsten wäre er gelaufen, doch er bezwang diesen Impuls und blieb dann unter den mächtigen Bäumen stehen – dem einzigen Ort, wo die Elfen nicht dichtgedrängt standen. Nachdem der Lärm verebbt war, erhob Tyron seine mächtige Stimme. »Du brauchst keine Angst zu haben, mein hasenherziger Freund«, rief er. »Wir tun dir nichts. Wir lassen dich gehen, damit du diesem Dummkopf Fairingay und den anderen Mitgliedern dieses erbärmlichen Rings des Lichts berichten kannst, daß Tyron der Grüne von nun an für immer den Goldenen Wald in Besitz nimmt. Kein Reisender wird je dessen Grenzen überschreiten. Und meine Herrschaft beginnt in diesem Augenblick, außerdem habe ich dafür Sorge getragen, daß diese räuberischen Diebe des Rings mir niemals wieder nehmen können, was mir rechtmäßig gehört.« Tyron schöpfte Atem und fuhr dann in seiner Tirade fort. »Ich trete nur das Erbe meiner Väter an, und auf der Macht des Geheimnisses gründe ich meinen Thron. Niemand außer mir wird sich dessen bedienen können, und ich werde es zum Wohle meines Volkes benützen und niemals wieder zurückgeben.« Laute Beifallsrufe folgten diesen Worten, und dann 47
sangen die Elfen noch einmal das Preislied auf ihren Herrscher. Schließlich erhob Tyron wieder die Stimme. »Greyfax hat eine letzte Chance, mit mir zu verhandeln. Meine Abordnung trifft sich in diesem Augenblick mit ihm, und sollte er nicht auf meine Bedingungen eingehen, hat der Ring des Lichts ausgespielt. Selbst die gefürchtete Finstere Königin akzeptiert meine Ansprüche auf dieses Reich.« Wieder brach Jubel aus, und Bruinlen wurde von den Elfen geknufft und gestoßen. Nur unter großer Selbstbeherrschung gelang es ihm, nicht mit seinen Tatzen auf die kleinen Waldbewohner einzuschlagen und sich so einen Weg freizumachen. Rüde Hände stießen ihn fort, und Tyrons Stimme ging jetzt in dem Schreien und Singen unter. »Gib ihm einen Tritt, dann nichts wie weg mit ihm!« rief einer der kleinen Elfen. »So einer wie er verdient die Freiheit überhaupt nicht«, meinte ein anderer. »Tiere sind doch überall gleich. Wenn man sie nicht fest unter der Knute hat, werden sie wild, und dann muß man sie jagen und töten.« »Tyron hat aber befohlen, ihn freizulassen. Also werden wir das auch tun«, ordnete ein dritter an und schlug seinem Kameraden, der Bruinlen mit schmerzhaftem Griff gepackt hielt, auf die Finger. »Dann werft ihn raus!« schimpfte der gezüchtigte Elf. »Er wird unseren Wald nie wieder betreten. Tyron hat es gesagt. Und die Finstere Königin erlaubt, daß er das Geheimnis behält. Wie es scheint, möchte sie mit dem Heiligen Schrein nicht in Berührung kommen, dann wird Tyron noch Hüter aller Fünf Geheimnisse.« »Was du nicht sagst«, entgegnete ein anderer Elf. Und bald nahm das Interesse der Waldbewohner an Bruinlen ab; alle beteiligten sich an der allgemeinen Unterhaltung. Der Bär ergriff die Gelegenheit und stahl sich davon. Schon bald fiel er in einen leichten Trott und eilte in die Richtung, 48
wo General Greymouse sich befinden mußte. Er mußte seinen Freunden so schnell wie möglich diese schrecklichen Nachrichten überbringen. Selbst Dorinis Name war ganz offen ausgesprochen worden, und alle Elfen Tyrons schienen zu wissen, welche Bedeutung der Heilige Schrein hatte und daß Dorini ihn in ihren Besitz bringen wollte, um ihn dann dem verräterischen Tyron zu übereignen, dessen Vater sich schon geweigert hatte, das Geheimnis dem Ring des Lichts zurückzugeben. Bruinlen eilte weiter, sein Herz klopfte und war schwer von düsteren Ahnungen; er sah den Ring in ernsthafter Gefahr und wähnte ihre endlose und gefahrvolle Reise vergebens: Broko und Olther waren verschwunden, und ihrer aller Ende mußte nahe sein, da ja jetzt auch die Sonnenwiesen – seine alte Heimat – von Feinden überschwemmt waren. Er war derart in Gedanken, daß er das Rufen des Wachpostens völlig überhört hatte, und noch ehe er dem verdutzten Soldaten eine Erklärung abgeben konnte, stand er plötzlich vor General Greymouse. Hastig berichtete Bruinlen das Schreckliche, das er erfahren hatte, doch General Greymouse schien über diese Neuigkeiten nur zu lächeln. Und als der Bär schließlich verwirrt schwieg, warf sein alter Freund den Kopf in den Nacken, schlug sich auf den Schenkel und lachte lauthals.
7. In den Wäldern von Gilden Far »Jetzt haben wir es geschafft«, stöhnte Ned und tastete seinen zerschundenen Körper ab. Cranfallow saß benommen neben seinem Freund und starrte ihn verständnislos an. »Wo sind wir denn eigentlich?« fragte er schließlich. »Ich will verflucht sein, wenn ich das weiß«, entgegnete Ned und versuchte, vorsichtig auf die Beine zu kommen. 49
Cranfallow blickte sich um und stieß einen leisen Pfiff aus. »An einem solchen Ort bin ich noch nie gewesen. Schau dir nur einmal die Bäume an. Und wie frisch der Wind ist, und wie er duftet.« Neds Augen wurden immer größer, bis er mit der geballten Faust in die geöffnete Linke schlug. »Das haben wir wieder unserem Zwerg mit seinen Zauberkräften zu verdanken. Er hat uns einen Streich gespielt. Und außerdem ist er nicht hier. Wir befanden uns doch vorher in dieser schrecklichen Schlangengrube.« Er schwieg und runzelte die Stirn. »So war es doch, oder nicht?« Cranfallow stülpte die Lippen vor und dachte angestrengt nach. »Du hast recht, Ned. Aber welchen Bock haben wir jetzt wieder geschossen? Und wo ist Broko?« Ned Thinvoice ließ sich wieder schwer ins Gras fallen und stützte den Kopf in beide Hände. »Ich weiß es nicht, Cranny. Und ich weiß auch nicht, ob ich ihm so schnell wieder begegnen möchte. Wenn er bei uns ist, geraten wir immer in Schwierigkeiten. Ich mag den kleinen Kerl zwar sehr gern, aber für derlei Abenteuer bin ich einfach nicht geschaffen. Diese endlosen Reisen, die uns nirgendwohin führen.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Vielleicht schmeiße ich diesen ganzen Kram hin und suche mir eine schöne ruhige Arbeit in der Schreibstube.« »Da magst du schon recht haben, Ned. Aber ich glaube nicht, daß wir so bald ein geruhsames Leben führen können, denn da hinten kommt unser Zwerg. Anscheinend hat er Hilfe mitgebracht.« Cranfallow deutete in Richtung der großen Bäume, die die Wiese begrenzten, auf der sie saßen. Ungefähr ein Dutzend hochgewachsener Elfen schritten hinter Broko her. Neben dem Zwerg ging ein noch größerer Elf, der der Anführer zu sein schien. Er redete, mit den Händen gestikulierend, auf Broko ein, der ihm aufmerksam zuhörte. Da erblickte der Zwerg seine beiden Gefährten und kam auf sie zugeeilt. 50
»Lieber Cranny, lieber Ned!« rief er und klopfte ihnen geräuschvoll auf die Schultern. Fast wäre er über den verblüfften Cranfallow gestolpert. »Jetzt haben wir Calix Stay also endlich überquert. Ich vermute, der Urstrom brachte uns zum Großen Fluß. Jedenfalls behauptet mein Freund Galen das.« »Nun, das mag ja alles gut und schön sein, Herr. Aber müssen wir denn nicht wieder zurück? Ich meine, über diesen Fluß, von dem Ihr spracht?« »Nein. Ich glaube, wir dürfen zufrieden sein, daß wir endlich hier angekommen sind.« Broko wandte sich an den Elf, der neben ihm stand. »Galen Isenault«, stellte er vor und deutete dann mit der Hand auf Ned und Cranny. »Ned Thinvoice und Unteroffizier Cranfallow, treue Gefährten von mir. Seit einer geraumen Zeit schon.« Ein Lächeln erhellte das Gesicht des Elfen. »Wie ich höre, wart ihr in der alten Festung Brosingamene und habt Alane kennengelernt? Und seid dann durch die unterirdische Zwergenburg geflohen? Das ist wahrhaftig ein Abenteuer des Erzählens wert, und ich bin schon gespannt, alle Einzelheiten darüber zu hören. Doch jetzt müssen wir zu unserem Lager zurückkehren. Die Zeiten sind schwer geworden, selbst diesseits vom Calix Stay. Seit Dorini Cybelle entführt hat, steht die Sache gar nicht mehr gut für uns. Und in Cypher regiert der niederträchtige Doraki, und sogar die Sonnenwiesen sind für ihre Bewohner nicht mehr sicher.« »Cybelle entführt?« fragte Broko entsetzt. Seine Stimme zitterte, und nur mühsam konnte er die Tränen zurückhalten, und die eisige Furcht, die er seit seiner eigenen Entführung durch den schrecklichen Cakgor im Herzen trug, wo er im Kerker der Finsteren Königin gefangensaß, durchschnitt seine Brust mit stechendem Schmerz. »Ja, mein Freund. Direkt aus Cypher. Diese Tat Dorinis hatte niemand vorausgesehen. Kein Mitglied des Rings 51
hielt sich zu diesem Zeitpunkt dort auf. Faragon mußte Tyron davon abbringen, auf eigene Faust zu handeln, da der Elfenfürst plante, Cypher in seine Gewalt zu bringen. Er hat den alten Groll, den schon sein Vater gegen den Ring des Lichts hegte, niemals vergessen, und macht vor nichts halt, um sich wieder in den Besitz seiner alten Rechte zu setzen. Vor kurzem erst hat er sich zum König von Gilden Tarn ausrufen lassen, wie ich erfuhr, ehe ich Euch hier abholte.« Während Galen sprach, hatte Broko sich schwer ins Gras sinken lassen. Jetzt blickte er auf, die Augen voller Tränen. »Dann ist alles umsonst gewesen«, stöhnte er. »Denn hier, auf den Sonnenwiesen, ist der Schrein ja auch nicht mehr sicher. Und da Dorini Cybelle gefangenhält, kann der Ring nichts gegen die Finstere Königin unternehmen.« »Dorini weiß nur, wer den Schrein hat, aber nicht, wo er ist. Und nur wenn sie im Besitz des Schreins ist, wird sie siegen. Und so bitter es auch klingen mag, der Schrein würde niemals gegen Cybelle eingetauscht werden.« »Aber wie geht es Faragon, Greyfax und Lorini? Sind sie wenigstens in Sicherheit?« »Faragon ist ganz in der Nähe. Er hat zu tun«, entgegnete Galen lächelnd. »Und Greyfax spricht mit Tyrons Unterhändlern, soviel ich weiß. Lorini ist hier in den Wäldern, dort, wo auch wir hingehen, in Sicherheit.« Broko schöpfte neuen Mut. »Heißt das, wir sehen sie bald?« »Sobald wir dort angekommen sind«, versicherte der Elf. Er beugte sich nieder und berührte Broko sanft an der Schulter. »Kommt. Ihr alle müßt doch erschöpft und hungrig sein. Kommt. Am Lagerfeuer könnt ihr eure Kleider trocknen, und eine gute Mahlzeit wird euch die Mühen dieser Reise über den Großen Fluß vergessen lassen.« »Könnten wir hinterher vielleicht ein Schläfchen machen?« fragte Ned schüchtern. »Ich könnte einen ganzen 52
Monat schlafen, so müde bin ich.« »Natürlich«, versicherte Galen ihm. Dann drehte er sich um und führte die kleine Gruppe fort vom Calix Stay, dessen Brausen noch in der Ferne zu hören war. Sie gingen direkt auf die schneebedeckten Berge am Horizont zu, deren Gipfel in der sinkenden Sonne golden aufleuchteten. Broko hatte sich zu Ned und Cranfallow gesellt, und während sie nebeneinanderher marschierten, deutete er auf landwirtschaftliche Besonderheiten, deren er sich erinnerte oder von denen er gelesen hatte. »Natürlich hat sich jetzt alles verändert, aber diese Wälder reichen bis Gilden Tarn und darüber hinaus, nach Gilden Far. Ganz in der Nähe hatte Bruinlen seine alte Höhle, als ich ihn kennenlernte. Und als ich Olther zum erstenmal traf, lebte er am Cheer Weir, südlich von Gilden Tarn.« Ned Thinvoice gähnte. »Das ist ja alles sehr interessant, Herr, aber ich bin todmüde und kann kaum noch die Augen aufhalten. Kommen wir denn nicht bald dort an, wo wir unser wohlverdientes Nickerchen machen können?« »Ned spricht mir aus dem Herzen«, stimmte Cranfallow zu. Mühsam setzte er Fuß vor Fuß, seine Augen lagen tief in den Höhlen und waren dunkel vor Müdigkeit. Broko wollte schon aufbrausen, doch dann sah er die Erschöpfung in den Gesichtern seiner Freunde. Sie alle hatten ja seit Tagen nicht geschlafen, wenigstens schien es ihm so. »Es ist nicht mehr weit. Dann können wir essen und ruhen. Galen hat am Großen Fluß Wachposten aufstellen lassen, die berichteten, das Bruinlen bereits vor uns Calix Stay überquert hat. Er ist schon auf dem Weg zu Lorini. Wo Bruinlen auch ist, Olther muß dann ganz in der Nähe sein. Wahrscheinlich sind wir alle durch Zufall in das unterirdische Schloß meiner Vorfahren gelangt und wurden dann vom Urstrom hierhergetragen.« »Ja, das stimmt. Aber wenn ich nicht bald etwas zu essen bekomme, kann ich nicht mehr weitermarschieren.« In diesem Augenblick gesellte sich Galen zu den dreien und 53
deutete auf eine Lichtung vor ihnen. »Dort haben wir unser Lager aufgeschlagen, und dort gibt es alles, was ihr zu eurem Wohlbefinden braucht.« »Hauptsache etwas zu futtern«, stöhnte Ned. »Und ein Bett«, fiel Cranfallow ein. »Meine Freunde und ich haben eine lange Reise hinter uns«, sagte Broko an Galen gewandt. Seine Stimme klang schwer vor Erschöpfung. »Wie es scheint, haben wir nicht nur Meilen, sondern auch Welten hinter uns gebracht, und ich sehne mich nach nichts mehr als ein wenig Ruhe und Zeit zum Überlegen, was als nächstes geschehen soll.« »Wir haben es bald geschafft und werden erst weitergehen, wenn ihr wieder zu Kräften gekommen seid.« »Das will ich auch hoffen«, gähnte Ned, »nach allem, was wir durchgemacht haben.« »Ach, Ned. Du siehst immer nur schwarz. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit warst du froh, einfach in der Sonne zu sitzen, ganz zu schweigen von dem freundlichen Empfang, den man uns bereitet hat.« Ned, der jetzt neben Broko ging, drehte den Kopf. »Ich möchte zu gern wissen, wo wir hier sind? Ich kann mich an die Dunkelheit, den Lärm und das Fortgeschwemmtwerden erinnern. Aber wo sind wir hier? Das paßt doch alles nicht zusammen.« Broko streifte seinen Freund mit einem kurzen Blick. »Nun, Ned«, fing er an und schüttelte dann den Kopf. »Das ist schwer zu erklären, obwohl es alles so einfach ist. Wir haben uns irgendwie verwandelt. Beim Überqueren von Calix Stay haben wir eine andere Welt betreten. Sie gehört zwar zu der, in der wir waren, liegt aber auf einer höheren Ebene.« »So als würde man von einem Land in ein anderes reisen?« »Genauso, alter Junge. Wir sind von einem Land in ein anderes gereist, das ist alles. Und ich glaube nicht, daß wir dorthin zurückkehren, woher wir kamen.« 54
»Ihr meint, wir werden unser altes Zuhause nie Wiedersehen?« fragte Ned. »Dort lebt doch niemand von unseren Familien mehr, Ned. Alles ist zerstört«, sagte Cranfallow. »Wir leben weiter, Ned. Du wirst das besser verstehen, wenn du eine Weile hier gewesen bist.« »Ich glaube, Broko will damit sagen, daß wir tot sind«, sagte Cranfallow und sah den Zwerg eindringlich an. »Oder etwas Ähnliches jedenfalls.« Broko blieb stehen und sagte dann: »Ja und nein. Denn ihr merkt doch, daß ihr nicht tot seid.« »Es sei denn, Geister bestünden aus Fleisch und Knochen«, stimmte Ned verwirrt zu. »Aber als wir das Schloß meiner Vorfahren tief unter der Erde verließen, verwandelten wir uns. Man könnte sagen, daß wir in diesem Moment gestorben sind. Oder jedenfalls ein Teil von uns starb.« »Aber ich fühle mich äußerst lebendig«, meinte Ned und kniff sich in den Arm. »Natürlich bist du das, du Dummkopf. Du bist genau derselbe, wie immer.« »Dann bin ich also immer noch Ned Thinvoice?« fragte er ungläubig. »Ja. Und das wirst du immer bleiben.« »Das alles ist zuviel für meinen armen Kopf«, stöhnte Cranfallow. »Sollte ich ein Geist sein, dann jedenfalls ein hungriger, das kann ich mit Gewißheit sagen.« »Dasselbe kann ich von mir behaupten«, sagte Broko abschließend, und dann gingen sie weiter. Sie waren jetzt schon tief in den duftenden, grünen Wald eingedrungen und mußten langsamer gehen, denn die Bäume standen so dicht, daß es immer unwegsamer wurde. Da öffnete sich plötzlich eine kreisförmige Lichtung vor ihnen, und Broko konnte in zwei großen Bäumen Elfen sitzen sehen, die anscheinend als Wachposten fungierten. Nach ein paar weiteren Schritten hörte er leises Flüstern. 55
»Sei gegrüßt, Galen. So früh haben wir euch nicht zurückerwartet.« Der Mann, der diese Worte gesprochen hatte, ergriff Brokos Rechte. »Und dich, Broko, Zwergenfürst, haben wir schon lange erwartet.« »Stets zu Euren Diensten«, entgegnete Broko höflich, auch wenn ihn diese Begrüßung ein wenig verwirrte. »Und dies hier sind meine Kameraden Ned und Cranny.« Der Mann schüttelte Ned die Hand. »Keine leichte Aufgabe, mit einem so dickköpfigen Zwerg zu reisen.« Noch ehe Ned antworten konnte, hatte der Unbekannte Cranfallows Hand ergriffen. »Und du, mein guter Cranny, hast du nicht das ewige Nörgeln deines Reisegefährten endgültig satt?« Brokos Gesicht wurde zu einer wütenden Grimasse, und er richtete sich drohend auf. Doch da schlug der Mann die Kapuze zurück, die sein Gesicht bisher verhüllt hatte. Da merkte der Zwerg, daß ihm die Stimme irgendwie bekannt vorgekommen war, doch vor lauter Erschöpfung hatte er bisher nicht darauf geachtet. »Seid Ihr es, Faragon?« platzte er erleichtert heraus. Er stolperte auf den jungen Zauberer zu und barg sein Gesicht in dessen Mantel. Cranfallow und Ned blieben wie angewurzelt stehen. »Nun, wenn das keine Überraschung ist«, stammelte Cranfallow. Er schwieg und kratzte sich verlegen am Kopf. Nachdem sich die erste Aufregung über dieses unverhoffte Wiedersehen gelegt hatte, folgten die Gefährten Galen Isenault in das Zeltlager der Elfen, das tief in den Wäldern von Gilden Far versteckt lag.
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Zweiter Teil Dunkle Wolken verhüllen die Sonne
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8. Verzweiflung und Entsetzen Faragon Fairingay stand mit ausgestreckten Armen vor den beiden Freunden, doch sie erkannten ihn kaum wieder, so sehr hatte er sich verändert. »Willkommen, meine alten Freunde. Wie schön, daß wir uns so bald nach eurer Überquerung des Großen Flusses treffen.« Flewingam warf Olther einen beunruhigten Blick zu, der wiederum starrte den jungen Zauberer unverhohlen an. Faragon wirkte beträchtlich gealtert, sein Haar war länger, und seine Züge trugen den Ausdruck bitterer Resignation. Das kommt sicher von der Müdigkeit und den Sorgen, versuchte sich Olther schnell zu beruhigen, doch er konnte sich nicht erklären, warum Faragons Lachen so ganz ohne Wärme und sein Händedruck so kalt gewesen waren. Faragon sagte gerade etwas zu Flewingam über die Strapazen der Reise, aber Olther nahm die Worte gar nicht auf. Er beobachtete Faragon, während dieser sprach und mit Gesten seine Rede unterstrich. Mit seiner Reitgerte schlug er gegen den Stiefelschaft, eine Angewohnheit, die Olther wohlbekannt war; trotzdem hatte sich Faragon außerordentlich verändert. Auch Flewingam spürte die Veränderung. Kein inneres Feuer schien ihn mehr zu beseelen; er wirkte grenzenlos müde. Seine sonst frische Gesichtsfarbe war einem fahlen Grau gewichen, und seine Augen lagen tief in den Höhlen, wie leblos. »Und so, mein guter Olther, haben sich unsere Wege glücklicherweise wieder gekreuzt«, schloß Faragon und wandte sich an Belwick: »Laß uns Erfrischungen bringen, mein guter Elf, und dann achte bitte darauf, daß wir nicht gestört werden, denn meine Freunde und ich haben uns eine Menge zu erzählen.« »Ich werde mich darum kümmern, Euer Exzellenz«, entgegnete Belwick und machte eine steife Verbeugung. Olther und Flewingam folgten Faragon in eine geräumige Unterkunft, die aus unbehauenen Stämmen 58
errichtet war. Auf dem Dach wuchs Moos. Olther blieb plötzlich stehen und beschnupperte die Wand. »Hier bin ich schon einmal gewesen«, zwitscherte er. »Ich glaube, einer der Burschen von Gilden Tarn hat diese Behausung gebaut. Wie war doch nur sein Name?« Olther zwirbelte die Schnurrhaare und runzelte, angestrengt nachdenkend, die Stirn. »Es war ein Waldmurmeltier«, sagte Faragon über die Schulter und setzte sich an einen rohen Holztisch, der viel zu klein für ihn war. Ein grob gezimmerter Stuhl aus jungem Holz bildete einen scharfen Kontrast zu den übrigen altersdunklen Möbeln. »Ja, das ist richtig«, stimmte Olther zu. Er stand noch immer da und pfiff versonnen vor sich hin. »Er war ein sehr lustiger Bursche, immer voller Späße und Geschichten.« Er setzte sich und sprach dann weiter. »Lebt er noch hier? Ich hätte gern mit jemandem geredet, der die Zeit während unserer Abwesenheit in den Sonnenwiesen verbracht hat.« »Das weiß ich nicht«, antwortete Faragon und schwieg dann, als Belwick mit zwei Elfen die Unterkunft betrat. Sie brachten Kräutertee, frisches Brot und Honig und für Faragon eine zugedeckte Pfanne, die sie vor ihn hinstellten. »Nun, meine lieben Freunde. Was gibt es Neues zu berichten? Von meinen Erlebnissen habe ich euch ja schon erzählt, doch nun laßt hören, wie es euch ergangen ist. Wie kommt es, daß ihr hier seid, und wo sind die anderen?« »Also«, fing Olther leicht verwirrt an – denn Faragon hatte ihnen überhaupt nichts erzählt, »wie wir hierhergekommen sind, kann ich nicht sagen. Doch davor war alles recht einfach oder doch nicht so einfach. Jedenfalls schwer zu erklären.« »Er will damit sagen«, platzte Flewingam dazwischen, »daß eine ganze Menge passiert ist, seit wir Euch zum letztenmal sahen. Wir haben uns mehr als einmal verirrt und wurden von Broko und unseren anderen Freunden getrennt. Wir haben versucht, Euch, Greyfax oder Melodias 59
zu erreichen, um einem von Euch den Heiligen Schrein anzuvertrauen, aber durch mißliche Umstände verloren wir Broko und landeten in irgendeiner Schlangengrube, und dann kamen die Wurzeln und führten uns zu diesem Fluß, und dann war da alles voller Lärm und Licht, und hier sind wir.« Während Flewingams konfusem Bericht war ein Leuchten in Faragons erloschene Augen getreten. »Dann hat Broko den Heiligen Schrein also noch?« fragte er begierig. »Als wir getrennt wurden, hatte er ihn noch«, entgegnete Olther zwischen zwei Bissen Elfenbrot, dick mit Honig bestrichen. »Doch das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn wir sind hier und wissen nicht, was aus den anderen geworden ist.« »Aber wenigstens haben wir Euch getroffen«, sagte Flewingam, der sich mit dieser Feststellung Mut machen wollte. »Und so ist doch wenigstens nicht alles umsonst gewesen.« »Wie recht du hast, mein Freund. Daß wir uns gefunden haben, war in der Tat ein großes Glück.« Faragon wandte den Kopf und rief nach dem Elfen, der draußen vor der Tür stand. »Belwick! Ich denke, du solltest ein paar deiner Männer zum Calix Stay entsenden, damit sie Broko mit seinen Gefährten dort erwarten, falls sie nicht schon angekommen sind. Treffen sie den Zwerg dort, wünsche ich, daß man ihn unverzüglich hierherbringt.« Faragon lächelte Olther gezwungen an. »Wir alle möchten doch so schnell wie möglich wieder unseren guten Broko sehen. Und schließlich hat er lange genug an dieser schweren Last getragen.« Olther nickte nur zustimmend, denn er war noch immer mit essen beschäftigt. Das Brot und der Honig waren zwar nicht so wohlschmeckend, wie er sie aus seiner alten Heimat in Erinnerung hatte, aber trotzdem bei weitem das Beste, was er seit langer Zeit gegessen hatte. Flewingam hatte sich schon die dritte Tasse Tee 60
eingeschenkt und lehnte sich jetzt gesättigt und zufrieden in seinem Stuhl zurück. »Glaubt Ihr, Broko findet hierher?« fragte er Faragon, der schließlich auch zu essen begonnen hatte. »Wenn er hier ist, finden die Elfen ihn auch«, antwortete der junge Zauberer. »Und falls es stimmt, was du berichtet hast, dürften wir schon in Kürze mit ihm rechnen.« In Olthers Nase machte sich ein sonderbares Prickeln bemerkbar, und aus irgendeinem seltsamen Grund richtete sich sein Nackenhaar auf. Ein unerklärliches Schwindelgefühl überkam ihn. »Ich bin plötzlich so müde«, sagte er und blickte seinen Freund mit verschleierten Augen an. »Gibt es hier nicht ein Plätzchen, wo wir ein bißchen schlafen können? Wir sind schon so lange unterwegs, ich weiß gar nicht mehr, was Schlaf ist.« Er gähnte und tätschelte sein Bäuchlein. »Das Wiedersehen mit Euch und die gute Mahlzeit haben mich erschöpft.« »Natürlich, mein Freund. Belwick wird euch euer Lager zeigen. Wenn wir Nachricht von euren Gefährten haben, wecken wir euch sofort.« Faragon reichte den beiden zum Abschied eine kühle Hand und gab dann Belwick, der draußen gewartet hatte, Anweisung, die Freunde zu den Schlafquartieren zu geleiten. Sie mußten nicht weit gehen und kamen bald in einen ausgedehnten unterirdischen Raum, der einst der Vorratskeller des Waldmurmeltiers gewesen war, wie Olther zu Recht vermutete. An den Wänden hingen verschrumpelte getrocknete Wurzeln und Kräuter, und in einer Ecke dieser dämmrigen Höhle standen Feldbetten. »Der alte Junge muß ja viel Besuch bekommen haben, wenn er über so viele Betten verfügte«, sagte Flewingam und entrollte eine große Hängematte, die er an den dafür bestimmten Haken an den Wänden befestigte. Flewingams Übelkeit hatte sich schnell gelegt. Er vergewisserte sich, daß der Elf, der ihnen das Quartier gezeigt hatte, gegangen war, dann beugte er sich nieder und 61
flüsterte in Olthers Ohr: »Hast du gesehen, was Faragon aus der Pfanne gegessen hat? Oder kann ich meinen Augen diesseits des Großen Flusses nicht mehr trauen?« Olther zwitscherte und sagte dann laut: »Oh, dieses Bett sieht aber wirklich gut aus. Ich könnte eine ganze Woche schlafen.« Daraufhin nickte er und flüsterte kaum hörbar: »Nein, du hast dich nicht getäuscht. Ich habe dasselbe gesehen.« »Aber was ist nur mit Faragon geschehen, daß er so etwas tut?« fragte Flewingam völlig verstört. »Psst!« warnte Olther. »Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich Faragon ist.« Vor Erstaunen wurden Flewingams Augen ganz groß und glänzten im goldenen Licht der Lampe. »Er benahm sich sehr sonderbar. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll… aber hast du den Ausdruck in seinen Augen gesehen? Und wie kalt sich seine Hände anfühlten! Mir schauderte.« »Warum hast du mir nichts gesagt oder ein Zeichen gemacht?« »Weil ich mich nicht verraten wollte. Falls er wirklich nicht Faragon ist, und darauf verwette ich mein letztes Schnurrhaar, wer ist er dann? Und warum diese Maskerade?« »Und dieser Belwick und seine Kumpane. Sie mögen zwar Elfen sein, aber irgendwie kommen sie mir komisch vor.« »Das müssen Waldelfen sein«, überlegte Olther laut. »Ich habe einmal gehört, daß die Elfen hier sich in zwei Gruppen teilen: die Wald- und die Wasserelfen. Und diese hier haben nie gelacht. Die Elfen, die ich in Cypher kennenlernte, lachten und sangen immer. Ich glaube, sie gehören zu den Wasserelfen.« »Und diese Elfen ähneln den Menschen sehr, wenn sie auch viel kleiner sind. Sie wirken überhaupt nicht wie richtige Elfen.« Olther legte sich auf das kleine Feldbett, 62
das er hergerichtet hatte. »Und ich wette, einer von diesen Burschen steht vor der Tür und bewacht uns.« Flewingam kroch zur Lampe und blies sie aus. Dann tastete er sich die Wand entlang zu der Treppe aus festgestampftem Lehm. In der plötzlichen Dunkelheit konnte Olther kaum die Umrisse seines Kameraden erkennen. Nach einer ganzen Weile hörte Olther Flewingam in sein Ohr flüstern. »Es sind zwei. Und sie stehen sicher nicht da, um über unseren Schlaf zu wachen.« Olther pfiff leise und aufgeregt. »Ich weiß nicht, was ich von alledem halten soll, Flew. Weder wer dieser Faragon in Wirklichkeit ist noch was diese Elfen im Schilde führen. Aber eins weiß ich genau: Wir sitzen bis zum Hals in der Tinte.« Ein Schauder überlief ihn. »Das arme Murmeltier, das hier lebte, hatte nicht die geringste Chance. Es ist wohl in seinem eigenen Kochtopf gelandet wie das arme Wesen heute. Ich habe mich schon gefragt, warum wir in diesen Wäldern nicht anderen Tieren begegnet sind. Aber wenn man Jagd auf sie macht, verstecken sie sich. Das ist ganz natürlich.« »Mir schwant nichts Gutes«, flüsterte Flewingam. »Unser Faragon hätte sich mehr gefreut, uns zu sehen.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Olther laut und senkte dann die Stimme. »Sind die Mitglieder des Rings des Lichts überhaupt noch froh, wenn sie uns begegnen? Wir bringen doch nur immer schlechte Nachrichten und Unglück. Armer alter Thumb. Und was ist nur aus Broko, Bruinlen, Ned und Cranny geworden? Falls sie überhaupt noch am Leben sind.« Flewingam streichelte seinen kleinen grauen Freund beruhigend und fühlte, wie dessen ganzer Körper zitterte. »Nur Mut, alter Junge. Laß den Kopf nicht hängen. Wir sitzen in der Tinte, da gibt’s gar keinen Zweifel, aber wir finden schon wieder raus. Ich glaube nicht, daß unsere Reise hier zu Ende ist.« »Das glaube ich auch nicht. Aber Flew, das alles hat doch keinen Sinn mehr. Was wollen wir beide denn alleine? 63
Wir haben den Schrein nicht, und wenn wir ihn hätten, würde dieser falsche Faragon ihn uns abnehmen. Und wahrscheinlich landen wir früher oder später in seinem Suppentopf, etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.« »Wer kann das nur sein?« überlegte Flewingam. »Ich habe noch nie gehört, daß ein Mitglied des Rings des Lichts sich dem Bösen zugewandt hätte. Oder ist so etwas schon einmal geschehen?« »Nicht, daß ich wüßte.« Olther schwieg einen Augenblick und griff dann nach Flewingams Hand. »Das, was du gerade gesagt hast, Flew, bringt mich auf eine Idee. Als wir in Cypher weilten, las mir Broko eines Tages eine Geschichte vor. Und in dem Buch stand haargenau das, wovon du gesprochen hast. So muß es sein.« »Worüber redest du eigentlich, Olther? Was für eine Geschichte?« »In Lorinis Bibliothek gibt es ein Buch, worin steht, wie alles angefangen hat. Zu Urzeiten wurden Lorini und ihre Zwillingsschwester Dorini vom Hohen König Windameirs beauftragt, die niederen drei Welten gemeinsam zu regieren. Doch Dorini war machtgierig und wollte allein herrschen. Das war der Beginn der Drachenkriege, über die Broko immer spricht. Und deshalb gibt es auch die Worlughs und Gorgolacs. Weil sie nicht mehr nach Windameir zurückkehren können, sind sie so komisch geworden.« »An diesen Bestien kann ich nichts Komisches finden«, sagte Flewingam brüsk. Doch Olther beachtete den Einwand seines Freundes nicht und redete schnell weiter. »Nun, jedenfalls hat sie einen Verbündeten, der einst Mitglied des Rings des Lichts war – ebenso wie sie –, und die beiden kämpfen seitdem gegen das Licht.« Flewingam schwieg, und Olther fuhr halblaut fort: »Könnte es sich etwa um den handeln, mit dem Greyfax in jener Nacht auf Havamal kämpfte?« 64
»Das muß er sein! Denn Gorgolacs und Worlughs verfügen über solche Kräfte nicht.« »Dann ist es Doraki!« flüsterte Olther entsetzt. Angst griff mit eisigen Fingern nach den Herzen der Freunde und ließ sie verstummen. Sie glaubten schon gelblich-grüne Flammen in der kalten Dunkelheit ihres Gefängnisses aufzüngeln zu sehen. Denn in der Tat – jetzt waren sie Gefangene des Finsteren Fürsten, dem es irgendwie gelungen war, die Gestalt des jungen Zauberers anzunehmen. Eine nie gekannte Finsternis senkte sich einer dunklen Wolke gleich über ihre Seelen und erfüllte sie mit Verzweiflung und Entsetzen.
9. Im Keller des Waldmurmeltiers Flewingam erwachte durch andauerndes Pfeifen. Er setzte sich auf und zwinkerte in die Dunkelheit, wobei er angestrengt versuchte, sich zu erinnern, wo er war. Einen Moment glaubte er noch in den unterirdischen Gängen in der Nähe des Großen Flusses zu sein, doch Olthers aufgeregtes Zwitschern machte ihn hellwach. »Ich habe den Hinterausgang aus dem Vorratsraum des armen Murmeltiers gefunden. Murmeltiere sind in der Regel sehr vorsichtig und legen immer einen Fluchtweg an, also mußte es auch hier einen geben.« Olther fügte noch einen Ton leiser hinzu: »Außer daß es diesem armen Kerl hier nichts mehr genützt hat. Wahrscheinlich hat er den Elfen eine solche Handlungsweise niemals zugetraut. Und ich auch nicht.« »Ich hatte nie etwas mit ihnen zu tun, bis auf das eine Mal, als Faragons Elfen mich nach der Schlacht bei den Sieben Hügeln ins Hospital brachten. Diese Elfen sind sicher loyal, sonst wäre Faragon nicht ihr Anführer gewesen.« »Das sind sie. Doch ich hörte einmal, wie Lorini und 65
Greyfax darüber sprachen, daß die Mitglieder des Rings des Lichts mit einem Elfenfürsten Meinungsverschiedenheiten hatten. Er hieß Eiorn, glaube ich, und hatte einen Sohn namens Tyron. Das alles muß vor sehr langer Zeit geschehen sein, zu Beginn der Drachenkriege. Und dieser Sohn pflegt weiter seinen Groll gegen den Ring, er mißtraut jedem, außer den Mitgliedern seines Clans.« »Er scheint ja ein schönes Früchtchen zu sein«, murmelte Flewingam. »Ich glaube, es sind seine Leute, mit denen wir hier zu tun haben. Belwick würde niemals seinen Fuß nach Cypher setzen.« Da hörten die beiden Freunde sich nähernde Schritte, und sie schwiegen sofort und lauschten angestrengt. »Das ist wahrscheinlich die Wachablösung«, flüsterte Flewingam. »Schnell! Laß uns durch die Hintertür fliehen. Ich habe keine Lust, diesem falschen Faragon noch einmal zu begegnen. Es riecht hier förmlich nach den Mächten der Finsternis, und das Blut gefriert mir in den Adern.« »Dann komm. Es wird ein bißchen eng für dich werden, Flew. Aber du mußt dich eben schmal machen. Ich wünschte, auch du könntest dich in ein kleines Tier verwandeln.« Olther ging, gefolgt von Flewingam, bis ans hintere Ende des Vorratsraums. Dort reichte die Decke fast bis auf den Boden, und Flewingam mußte sich auf Händen und Knien vorwärtsbewegen. Ein Geruch von frischer Erde stieg ihnen in die Nase. »Ich habe es satt, ständig in Gängen herumzukriechen«, beklagte sich Flewingam, der jetzt auf dem Bauch weiterrobbte. »Der Gang ist nur kurz und endet mitten in einem Beerengesträuch. Schlaues, altes Murmeltier! Wir können uns dann gleich den Magen voller Brombeeren schlagen.« Flewingam stieß nur ein Knurren aus, denn es wurde immer schwieriger für ihn vorwärtszukommen. Seine Ellbogen und Knie schmerzten, dabei hatte er erst ein kleines Stück zurückgelegt. Keuchend sagte er: »Ich 66
komme nicht mehr weiter, Olther. Du mußt alleine fliehen. Der Gang ist für mich zu eng. Ich bleibe hier und decke dich.« Olther krabbelte zu seinem steckengebliebenen Freund zurück. Dann machte er sich ans Graben, und mit erstaunlicher Geschwindigkeit hatte er soviel von der weichen Erde weggeschaufelt, daß Flewingam weiterkriechen konnte, bis zu einer Stelle, wo der Gang ein wenig breiter wurde. »Ich muß sagen, sogar als Maulwurf besitze ich gewisse Talente«, sagte Olther niesend. Die Erde kitzelte seine Schnurrhaare, und wieder überfiel ihn ein Niesreiz. »Psst!« warnte Flewingam. Er glaubte, direkt über ihnen Schritte gehört zu haben. Olther legte eine Pfote über sein Schnäuzchen und erstickte das Niesen. Die Schritte hielten inne, und in dieser absoluten Stille und Dunkelheit kroch langsam Angst in die Herzen der beiden. Flewingam schauderte. »Glaubst du, daß sie diesen Fluchtweg kennen, Olther? Vielleicht haben sie uns eine Falle gestellt und warten nur darauf, daß wir ihn benutzen.« Olther hielt noch immer mit der Pfote sein Schnäuzchen bedeckt, um das Niesen zu unterdrücken. Dann wisperte er: »Ich weiß es nicht. Aber umkehren können wir auf keinen Fall, sonst landen wir mit Sicherheit in ihren Kochtöpfen, so wie das arme Murmeltier. Und selbst wenn sie wissen, daß wir fliehen, müssen wir es probieren. Draußen haben wir wenigstens eine Chance zu entkommen. Ich kenne mich gut in dieser Gegend aus, vielleicht besser als unsere Feinde, und mit ein bißchen Glück finde ich ein Versteck für uns.« »Und dieser Betrüger, der sich als Faragon ausgibt, wie wird der reagieren?« »Sicher nimmt er an, daß wir geradewegs Broko aufsuchen, um ihn zu warnen. Dann braucht er seine Leute nicht nach dem Zwerg suchen zu lassen. Wir tun einfach so, als würden wir auf ein ganz bestimmtes Ziel zustreben. Es 67
wäre doch gelacht, wenn wir diese Burschen nicht abhängen würden.« Flewingam schwieg einen Moment, ehe er antwortete: »Das könnte uns schon gelingen, Olther. Doch mir scheint das alles zu einfach. Wer immer auch dieser Bursche ist, eines weiß ich: Mit Broko hat er nichts Gutes im Sinn. Er will den Heiligen Schrein in seinen Besitz bringen, soviel ist sicher.« »Ja. Einen anderen Grund hat er wohl nicht«, gab Olther nach reiflicher Überlegung zurück. »Sicher hat sich hier einiges verändert, seit ich zum letztenmal da war. Hoffentlich finde ich mich noch zurecht.« »Der Weg, den wir einschlagen, spielt keine Rolle, mein Freund. Hauptsache, die anderen glauben, daß wir ein festes Ziel haben.« Olther runzelte die Stirn. »Ich wünschte nur, ich wüßte, wo diese Dummköpfe stecken«, sagte er langsam, und plötzlich fühlte er sich sehr einsam, und das Fünkchen Hoffnung, das beim Auffinden der Hintertür in ihm aufgekeimt war, erlosch jetzt wieder. Er fühlte sich unendlich erschöpft. »Bruinlen, Broko und Thumbs Bären, alle sind sie nicht mehr da«, sagte er fast weinend. »Ned und Cranny auch nicht mehr. Und wir sind hier in diesem Rattenloch gefangen, wissen weder was wir tun, noch wohin wir gehen sollen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als wie die Hasen Fersengeld zu geben, bis man uns doch wieder einfängt.« Flewingam wartete, bis Olther seinem Herzen Luft gemacht hatte. »Ich weiß, wie dir zumute ist, alter Freund. Unsere Lage ist nicht gerade rosig zu nennen. Doch halte ich es für besser, darüber in frischer Luft zu diskutieren, weit weg von hier.« Ohne weitere Antwort kroch Olther wieder vorwärts. Das leise Scharren von Schritten war erneut über ihren Köpfen zu hören, und Flewingam war sicher, daß die Elfen ihre Flucht bemerkt hatten. Er sagte Olther nichts davon 68
und zwang sich, seine ganze Aufmerksamkeit dem mühsamen Kriechen zuzuwenden. Da hörte er ein anderes Geräusch über sich und schloß instinktiv die Augen, als der Gang von strahlendem Licht erfüllt war. Olther, der nur ein kurzes Stück vor ihm war, hatte die Hintertür geöffnet. Als der kleine graue Kerl vorsichtig den Kopf hinausstreckte, geschah überhaupt nichts. Gierig sog er die frische Luft ein; die Sonne stand schon ziemlich tief am Himmel, wie er an den Schatten sah. Es war später Nachmittag. Dichter Wald umgab das geheime Schlupfloch, und falls sie beobachtet wurden, so konnte er niemanden entdecken. Doch dann erinnerte sich Olther an Belwicks außerordentlich geschickte Verkleidungskünste, seine Fähigkeit, die Gestalt einer Pflanze anzunehmen, und wieder überkam ihn Angst. »Jedenfalls rührt sich nichts«, murmelte er halblaut und kroch an die Oberfläche. Flewingam folgte ihm, wenn auch mit Mühe, und betrachtete dann mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung. »Sieht aus, als ob wir allein wären«, sagte er flüsternd. Olther erinnerte seinen Freund nicht an Belwicks Fähigkeit, mit dem Wald zu verschmelzen. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß sie beobachtet wurden, und in der Hoffnung, den unsichtbaren Feind zu verwirren, drehte er sich schnell um und tat so, als würde er einem entfernter stehenden Freund winken. Welchen Effekt diese Geste auf die Elfen haben würde, wußte Olther nicht, aber Flewingam geriet darüber völlig aus der Fassung. »Du meine Güte, hast du mich erschreckt. Ich glaubte schon, du hättest Broko oder die anderen gesehen.« »Ist schon gut«, zischte Olther. »Tu dasselbe wie ich. Wenn sich daraufhin nichts rührt, verschwinden wir schnell 69
von hier.« »Bist du sicher, daß du das Richtige tust?« fragte Flewingam und winkte mit einem Arm. »Glaubst du, sie fallen darauf herein?« »Wenn sie es tun, um so besser«, gab Olther knapp zurück. »Na ja. Jetzt läßt sich sowieso nichts mehr ändern. Dann tun wir eben so, als wüßten wir genau, wohin wir gehen«, sagte Flewingam resigniert. »Jedenfalls kann ich nicht behaupten, daß mein Leben langweilig gewesen ist. Seit dem Tag, als ich dich kennenlernte und du mir diese abenteuerlichen Geschichten erzähltest, hat es wahrhaftig genug Aufregung gegeben. Und selbst wenn ich alt und grau sein werde, wird mir das alles immer noch wie ein Traum vorkommen.« Olther deutete mit der Pfote in Richtung des Lagers. Dort hatte er eine flüchtige Bewegung wahrgenommen und glaubte, das Gesicht des falschen Faragon gesehen zu haben. Trotz ihrer Grausamkeit ähnelten die Züge des anderen auf verblüffende Weise dem jungen Zauberer. Und wenn der Betrüger sich so offen in dieser Maske zeigte, war sicher kein Mitglied des Rings des Lichts in der Nähe, dachte Olther. »Schnell, laß uns gehen«, sagte er zu Flewingam. »Ich kann es hier nicht mehr aushalten.« Flewingam gab seinem Freund einen beruhigenden Klaps auf die Schulter, und die beiden eilten schnell dahin und taten so, als würden sie einem ganz bestimmten Ziel zustreben. Doch sie fühlten sich überhaupt nicht sicher, und Olther wurde das Gefühl nicht los, daß verborgene Augen sie beobachteten. Er biß die Zähne zusammen und ging noch schneller. Er stellte sich vor, er hätte eine Verabredung mit Greyfax Grimwald. Und dieser Gedanke gab ihm Kraft und neuen Mut.
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10. Der Träger des Heiligen Schreins Während Olther und Flewingam am Rand des Goldenen Waldes entlangeilten, war Broko mit Faragon Fairingay in ein Gespräch vertieft. »Erzählt es mir noch einmal, ich bitte Euch«, sagte Broko. »Ich muß es nochmals hören. In meinem Kopf ist alles so wirr. Ich weiß nur, daß ich hier sitze und mit Euch rede, aber selbst dessen bin ich mir nicht gewiß. Dieses Gefühl hatte ich schon öfter, doch dann wachte ich jedesmal auf und merkte, ich hatte geträumt.« »Du träumtest nicht nur, mein Freund«, sagte Faragon lachend. »Es gibt manchmal Wege, jene zu erreichen, die ihre Gedanken auf uns richten.« »Heißt das, ich habe Euch wirklich gesehen oder gesprochen?« »Ja. So ist es, alter Junge. Greyfax sagte dir doch, du solltest bei Fair Crossing den Calix Stay überqueren. War es nicht so?« »Nun, das stimmt. Doch schlugen wir nicht die Route ein, die er uns empfohlen hatte.« Broko schwieg und biß wieder von dem köstlichen Kuchen ab, der dick mit Honig bestrichen war. »Nein?« fragte Faragon und blickte vom Feuer auf. Lange sah er Broko in die Augen. »Greyfax wußte also, daß wir den Großen Fluß auf diese Weise überqueren würden? Und im unterirdischen Schloß meiner Vorfahren in der Falle saßen?« »Darüber würde ich ihn nicht befragen. Das Wichtigste ist doch, ihr seid heil hier angekommen. Die Dinge sind so, wie sie sind. Doch wir haben nicht mehr viel Zeit, denn wir müssen uns auf eine beschwerliche Reise vorbereiten.« Broko war aufgestanden und griff nun ganz behutsam in seinen Mantel. »Doch ehe wir aufbrechen, müßt Ihr den Schrein an Euch nehmen. Ich kann ihn nicht länger bei mir behalten. Auch hatte ich nie die Absicht, ihn so lange zu 71
verwahren, doch die Umstände – Greyfax und Melodias verschwanden ja plötzlich in Havamal, und wir verirrten uns im Dragur-Wald und wurden von Garius gefangengenommen – waren wohl gegen mich.« Faragons Blick schien verloren, als er lange das kleine Kästchen, das in Brokos ausgestreckter Hand ruhte, betrachtete. »Nicht mir ist es bestimmt, den Schrein in meine Obhut zu nehmen, alter Freund. Diese Pflicht habe ich schon vor langem erfüllt. Du allein bist dazu ausersehen, bis die Zeit gekommen ist, ihn zurückzugeben. Ich kann dir nicht helfen, diese Bürde zu tragen. Aber diesmal kann ich dich wenigstens begleiten.« Broko drückte den Schrein in Faragons Hand, doch der junge Zauberer lächelte nur traurig und schüttelte den Kopf. »Ich darf es nicht, Broko. Du bist der Träger des Heiligen Schreins. So lange, bis die Zeit gekommen ist. Ich kann ihn nicht nehmen. Es gibt Dinge, die nur du tun kannst. Und deine Rolle ist noch nicht zu Ende.« »Aber ich bin müde, verdammt noch mal! Ich habe den Schrein schon lange, und diese Last hat mich unendlich ermüdet. Ich kann es einfach nicht mehr aushalten.« Broko versuchte, Faragons geschlossene Hand zu öffnen und ihm das Kästchen zu geben. »Merkt Ihr denn nicht, daß Ihr ihn jetzt nehmen müßt? Ich hätte ihn fast verloren. Einmal kam er mir abhanden, und ich kann den Gedanken, ihn zu verlieren, einfach nicht mehr ertragen. Es ist zuviel für mich.« Broko sprach mit weit aufgerissenen Augen, und er versuchte, mit Gewalt Faragons Finger zu öffnen, damit sie sich um das Kästchen schlossen. »Ich kann ihn nicht länger behalten. Man befahl mir, ihn hierher, diesseits vom Calix Stay zu bringen und zu übergeben. Hier bin ich, und jetzt müßt Ihr ihn nehmen. Nur bei einem Mitglied des Rings des Lichts ist er in Sicherheit, nicht bei einem unbedeutenden Zwerg.« Ohne es zu merken, hatte Broko zu schluchzen angefangen, und er versuchte immer noch verzweifelt, 72
Faragon das Kästchen in die Hand zu drücken. Nach einer Weile gab er den Versuch auf und ließ sich schwer zu Boden sinken. Das Kästchen entglitt seinen Fingern und fiel auf die Erde. Sein ganzer Körper wurde vom Weinen geschüttelt. Dann schluchzte er tief auf. »Es tut mir leid, Faragon. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich bin nur so müde, und Bruinlen und Olther sind nicht mehr bei mir, und dieser Schrein hat mir mehr Sorgen bereitet, als ich mir in meinen Träumen vorstellen könnte. Ehe wir vom Urstrom fortgerissen wurden, glaubte ich, den Ring des Lichts enttäuscht zu haben, weil ich den Schrein verloren glaubte. Und dieser Gedanke war mir unerträglich. Bitte, nehmt ihn, wenn Ihr mich liebt. Ich kann diese Bürde nicht länger tragen.« Weinend hatte Broko diese Worte hervorgestoßen und war zu Faragons Füßen niedergesunken. Faragon kniete sich neben seinen in Tränen aufgelösten Freund und legte ihm einen Arm um die Schulter. Er hatte den Schrein genommen und legte ihn nun in Brokos Hände. »Ich verstehe dich so gut. Auch ich habe diese Last getragen und kenne den schrecklichen Preis, den man dafür bezahlen muß. Aber du mußt den Schrein noch ein wenig länger bei dir behalten. Das Schicksal Cybelles hängt davon ab und auch der Erfolg unserer Mission, die wir an den Grenzen des alten Cypher zu erledigen haben. So steht es geschrieben.« Broko hatte zu weinen aufgehört und betrachtete jetzt das Kästchen, das er an seine Brust gepreßt hielt. »Was hat ein Zwerg nur damit zu tun?« fragte er und unterdrückte ein erneutes Aufschluchzen. Faragon ergriff ihn bei den Schultern und sah ihm tief in die Augen. Die klaren Züge des jungen Zauberers veränderten sich; eine dunkle Wolke schien über sie hinwegzuschweben, und der Waldsaum wurde in bedrohliche Schatten getaucht. Ein eisiger Wind erhob sich, und Brokos Blick trübte sich. Wie in einem schattenhaften, nebeldurchwobenen Traum sah Broko Cybelle. Sie lag 73
totengleich auf einem Hauch Eis. Und dann sah er einen Elf, dessen Gesichtszüge verzerrt und gequält wirkten. Hinter seinem unsteten Blick schien er ein Geheimnis zu verbergen. Danach folgte Lorini, doch nicht die Lorini, die er kannte. Sie war gebeugt und trug einen grauen Umhang und erschien ihm vor einem dunklen, sternenübersäten Himmel. Die Vision verblaßte, und Greyfax erschien, dann Melodias und Greymouse inmitten von Schlachtgetümmel. Broko sah, wie selbst der Goldene Wald verbrannte und eine finstere Macht den zerstörten Schwanenturm Cyphers umhüllte. Da griff eine eisige Hand nach dem Herzen des Zwerges, und er schrie laut voller Entsetzen auf, als er die todbringende Berührung spürte. Als die erstickende Finsternis ihn in ihrem Strudel mitzureißen drohte, leuchtete in der Ferne ein goldener Lichtstrahl auf, der immer stärker wurde, bis die Schreckliche Finsternis besiegt war. Und vor seinen Augen erstrahlte ein Himmel in einem solchen Blau, daß er sie schließen mußte, weil er das Licht nicht ertragen konnte. »Aus diesem Grund mußt du die Last des Heiligen Schreins tragen«, sagte Faragon. Seine Stimme klang weit entfernt, und Broko konnte ihn nur verschwommen sehen. »Aber was hat das alles zu bedeuten?« stammelte er. »Wenn die Zeit gekommen ist, werden alle deine Fragen beantwortet, mein Freund. Jetzt ist nur wichtig, daß du den Schrein behältst, damit Cybelle gerettet wird.« »Wenn es so ist, will ich ihn weiter tragen«, entgegnete Broko, »und noch mehr tun, falls nötig.« Ein neues, mächtiges Gefühl der Verantwortung wuchs in seinem Herzen und wurde mit jedem Atemzug stärker. »Mehr ist nicht nötig, Broko. Du hast deine Aufgabe bisher gut gemacht. Die Ältesten des Rings des Lichts hätten sie nicht besser lösen können.« »Doch was ist aus den anderen geworden? Setzen wir unsere Reise ohne sie fort? Ihre Abwesenheit macht mich traurig. Es ist nicht richtig, ohne sie weiterzugehen, 74
nachdem wir soviel gemeinsam durchgemacht haben.« Faragon gab Broko einen leichten Klaps auf den Rücken und blickte zum Wald hin. »Wir wollen warten, bis Ned und Cranny aufgewacht sind. Ich glaube, dann werden wir eine angenehme Überraschung erleben.« Nach diesen Worten lächelte der junge Zauberer geheimnisvoll und machte rätselhafte Andeutungen. Und so viele Fragen Broko auch stellte, eine klare Antwort bekam er nicht.
11. Greyfax und Thailwick »Seid gegrüßt im Namen des Lichts«, sagte Greyfax Grimwald, als er auf die schweigenden Elfen, die um ein Feuer versammelt dasaßen, zuschritt. Der Zauberer blieb vor der Gruppe stehen, und da erhob sich schließlich ein Elf mit scharfgeschnittenen Zügen und erwiderte Greyfax’ Gruß mit einer knappen Handbewegung. »Im Namen des edlen Elfenkönigs Tyron bin ich gekommen, Euch diese Botschaft auszurichten. Tyron gewährt allen Fremden, die in seinem Königreich – das die Ländereien Gilden Tarn, Gilden Far und Goldener Wald umfaßt – leben, freies Geleit nach einem Ort ihrer Wahl, denn fürderhin werden die Grenzen dieses Königreichs geschlossen, und es bleibt allein den Elfen vorbehalten.« Während der kurzen Rede hatten sich die Gesichtszüge des Elfen verhärtet, und als er, um Atem zu schöpfen, eine Pause machte, warf er Greyfax einen finsteren Blick zu. »Weiterhin wird den Mitgliedern des sogenannten Rings des Lichts für immer der Zutritt zu diesem Königreich verwehrt, auch denen, die mit dieser Vereinigung in irgendeiner Verbindung stehen. Kurzum: jeder, der sich auf irgendeine Weise unbefugt Einlaß in dieses Reich verschafft, wird sofort hingerichtet.« Wie um den letzten Worten ihres Sprechers mehr 75
Nachdruck zu verleihen, hatten die versammelten Elfen jetzt einen Halbkreis gebildet und legten die Hände an ihre Kurzschwerter. Greyfax blickte den sichtlich nervösen Anführer ruhig an. »Ist das alles, was du mir zu sagen hast, mein guter Thailwick? Ich denke nicht, daß du dich noch daran erinnern kannst, aber ich war einmal Gast im Hause deines Großvaters. Das war kurz nachdem Eiorn sein Volk wieder hierher zurückführte, nach Beendigung der Drachenkriege.« Thailwick – denn eben um diesen Elfen handelte es sich wirklich – wurde rot bis über beide Ohren und fing an, großmäulig daherzureden, denn er mußte sein Gesicht vor den anderen Elfen wahren. »Es stimmt. Ich bin Thailwick, den Ihr auf derart unhöfliche Weise anredet, und es ist lange her, seit der Ring des Lichts uns auf schamlose Weise um unsere angestammte Heimat betrog. Es hat keinen Zweck, die Rechtmäßigkeit unserer Ansprüche bestreiten zu wollen. Urien Typhon hat lange genug versucht uns zu beschwatzen, damit wir auf unser Königreich verzichten. Er ist ein Verräter und hintergeht sein eigenes Volk, denn er hat auf die Königswürde verzichtet und sich mit unseren Feinden verbündet.« »Du überraschst mich in dieser neuen Rolle, mein guter Thailwick. Diese Unverschämtheit paßt überhaupt nicht zu dir. Laß uns in aller Ruhe über diesen Betrug – wie du es nennst – reden, damit wir eine Lösung finden, die beide Teile befriedigt.« Langsam und anscheinend müde ging Greyfax zum Feuer und setzte sich neben die Elfen, die dort wieder Platz genommen hatten. Er griff nach dem Teekessel, der über den Flammen hing, und goß sich einen Becher ein, während er unbemerkt einen kleinen Gegenstand aus seinem Mantel nahm. Thailwick verwirrte und entrüstete das gleichmütige Gebaren des Zauberers. Er trat näher und sagte mit Wut in der Stimme: »Bedient Euch nur von unserem Tee, Herr. Das ist das letztemal, daß Ihr diese Köstlichkeit trinken werdet. Genießt es.« 76
»Ich danke dir, Thailwick. Das werde ich«, entgegnete Greyfax gutgelaunt, und während er sprach, züngelte vor seiner Zeigefingerspitze eine leuchtende blauweiße Flamme ins Feuer, worauf sofort ein heißer Wind zu blasen begann, der den Elfen Staub ins Gesicht blies. Thailwick hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Er mußte sich vorbeugen, sonst wäre er umgeweht worden. Wütend beschimpfte er Greyfax, der ganz ruhig dasaß und seinen Tee schlürfte. »Tyron warnte uns vor Euren üblen Angewohnheiten!« rief der Elf laut über den brausenden Wind. In diesem Augenblick wurde ihm der Hut vom Kopf geweht, und er stolperte rückwärts gegen einen Elfen, der hinter ihm stand. Rüde stieß er den Mann zur Seite, gewann sein Gleichgewicht wieder und hub von neuem an, Greyfax zu beschimpfen. »Diese Zaubertricks werden Euch auch nicht weiterhelfen. Von Tyron wissen wir, daß Ihr uns nichts antut. Wir haben keine Angst. Und Ihr gewinnt mit diesem Firlefanz nichts. Aber rein gar nichts.« Greyfax kicherte vergnügt vor sich hin, und so schnell wie der Wind gekommen war, war er wieder vorbei. Thailwick verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Nase. Greyfax half dem völlig aus der Fassung geratenen Elfen wieder auf die Beine und wollte ihm seinen Hut reichen. »Nun laß dir doch helfen«, beharrte der Zauberer und stülpte ihm trotz Thailwicks heftigem Widerstreben den Hut bis über beide Ohren, so daß der – momentan blind – umhertaumelte und Greyfax verfluchte. »Dafür werdet Ihr bezahlen, Ihr Hampelmann. Tyron ist ein sehr nachsichtiger Herrscher, doch nach dieser Beleidigung wird er hart durchgreifen. Er ist Hüter eines der Fünf Geheimnisse und besitzt genausoviel Macht wie Ihr. Das ist uns allen bekannt. Denn so hat der Ring des Lichts es einst bestimmt.« »Du hast deine Lektionen in Geschichte gut gelernt, 77
mein guter Thailwick. Aber sprich doch weiter. Hat Tyron dir auch erzählt, daß er allein sich des Geheimnisses bedienen kann? Und daß der Ring nichts gegen ihn unternehmen kann?« »Natürlich hat er das«, entgegnete Thailwick barsch. »Hat er erklärt, wie er den Goldenen Wald in seine Gewalt bringen will und wie er die Grenzen seines Königreichs zu schützen gedenkt? Oder warum er das tut? Hat er euch gesagt, daß er in diesem Fall Dorinis Zustimmung und die ihres Finsteren Fürsten braucht?« »Tyron ist niemandem Rechenschaft schuldig. Wir alle wissen, daß Tyron der rechtmäßige Herrscher dieser Gebiete ist, und wir alle haben gesehen, mit welcher Unverschämtheit dieser verfluchte Ring die Elfen behandelt hat.« »Wie schön, daß du so gut informiert bist, Thailwick. Nun sage mir einmal, aus welchem Grund hat Tyron dich zu mir geschickt? Warum ist er nicht selbst gekommen? Hat er Angst, ich könnte ihm wieder nehmen, was er sich mit Gewalt genommen hat? Oder hat er mich mit einer List hierhergelockt, damit ich ihm aus dem Weg bin?« »Tyron hat keine Angst. Weder vor Euch noch einem anderen erbärmlichen Zauberer. Und er schickte mich, weil er in diesem Augenblick die Grenzen seines Reiches am Calix Stay schließt, und um Euch zu warnen, weil jede Grenzüberschreitung als Kriegshandlung betrachtet und mit dem Tod geahndet wird.« Greyfax hatte sich erhoben. Er stand drohend gebeugt über Thailwick da, der trotz seiner kühnen Worte ein paar Schritte vor dem Zauberer zurückwich. »Diesen unglücklichen Tag werde ich noch lange beklagen, Thailwick, falls das, was du sagst, wahr ist, und falls Tyron wirklich den Verstand verloren hat, wie deinen Worten zu entnehmen ist. Wenn er nur eine dieser Drohungen wahr machen will, braucht er dazu Dorinis Hilfe. Nur sein Ehrgeiz könnte ihn dazu verleitet haben, 78
sich mit der Finsternis einzulassen. Und falls das geschehen ist, haben wir allen Grund, uns große Sorgen zu machen. Also wirst du ihm folgendes ausrichten: Greyfax Grimwald ist bereit, mit ihm zu verhandeln, zum Wohle der Elfen und der anderen Verbündeten des Rings des Lichts. Wir überlassen Tyron nicht hilflos seinem Schicksal. Wenn er wieder zur Vernunft gekommen ist, empfängt der Ring ihn jederzeit.« Greyfax schwieg und legte dem verlegenen Elfen, der vor ihm stand, leicht eine Hand auf die Schulter. »Weiterhin sage ihm, daß er mit Mitteilungen über das Geheimnis in Zukunft vorsichtiger sein soll. Und sollte er schon mit Dorini verhandelt haben, so kennt sie dessen Macht, und er schwebt in großer Gefahr. Sie wird vor nichts haltmachen, um sich in den Besitz der Fünf Geheimnisse und des Heiligen Schreins zu setzen. Und sie weiß genau, daß sie, wenn sie erst eins hat, auch die anderen bekommen kann. Außerdem scheint mir die Aufgabe, die Tyron sich vorgenommen hat, schier unlösbar zu sein. Es wird ihm kaum gelingen, seine Grenzen geschlossen zu halten, denn in Zukunft wird es – gerade vom Calix Stay aus – viele Reisende geben.« »In dieser Hinsicht wollen sie zusammenarbeiten«, platzte Thailwick heraus und klappte dann schnell den Mund zu. »Dann hat er also schon mit dem Feuer gespielt«, seufzte Greyfax. »Ich hatte gehofft, der Besitz des Geheimnisses würde seinen Ehrgeiz nicht ins Maßlose wachsen lassen. Doch wie ich sehe, habe ich mich getäuscht. Nun, das ist kein Wunder, so wie sein Vater ihm die Dinge geschildert haben muß. Und trotzdem war es ein weiser Entschluß, Eiorn das Geheimnis anzuvertrauen. Ich fange an, das alles jetzt zu verstehen. Doch gefällt mir der Gedanke nicht, daß Tyron sich in Dinge mischt, denen er nicht gewachsen ist.« Greyfax hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schritt am Feuer auf und ab. Er nahm von den Elfen 79
kaum Notiz, die sich gegenseitig und Thailwick erstaunt über das seltsame Gebaren des Zauberers ansahen. »Der Plan wirkt sonderbar und gar nicht logisch«, sagte er laut. Doch er sprach zu niemand Bestimmtem. »Und wie paßt Brokos Ankunft hier herein? Oder Cybelles Rückkehr?« Plötzlich drehte er sich um und sagte zu den überraschten Elfen: »Natürlich. So muß es sein. Jetzt erkenne ich den Sinn dahinter.« Er lächelte erleichtert nach diesen Worten. Dann richtete er seine klaren blaugrünen Augen wieder auf Thailwick. »Sage Tyron, daß ich dich angehört habe und seine Entscheidung im Augenblick billige. Wir werden die Grenzen seines Reichs jetzt respektieren und auch die Nachricht verbreiten, daß Zuwiderhandelnde bestraft werden. Als Gegenleistung fordere ich nur Tyrons Anwesenheit in unserem Kreis, denn wir erwarten in Kürze den Träger des Heiligen Schreins, und als einer der Hüter der Fünf Geheimnisse kann Tyron sein Kommen nicht ablehnen, wenn der Träger des Schreins ihn zu sehen wünscht. Sollte Tyron dieser Aufforderung nicht nachkommen, verliert das Geheimnis für ihn jegliche Macht, und der Ring des Lichts wird wieder darüber verfügen.« Thailwick starrte den Zauberer auf diese Rede hin nur böse an und ging mit den ihn begleitenden Elfen ohne Abschiedsgruß. Greyfax wartete, bis alle außer Sicht waren, dann setzte er sich vor das sterbende Feuer und blickte angestrengt in die Glut. Ein lächelndes, abgeklärtes Gesicht tauchte darin auf. »Es ist also geschehen, mein Freund?« fragte das Gesicht im Feuer. »Ja, Erophin. Es ist geschehen«, entgegnete Greyfax lächelnd. »Tyron wird unsere Geschichte hören, und falls er sie glaubt, können wir die Ereignisse ein wenig beschleunigen. Nichts ist so explosiv, als Schießpulver in offene Flammen zu schütten. Allein der Gedanke, er könnte sein kostbares Geheimnis, auf das er seinen Thron gründet, verlieren, wird ihn schnell zum Handeln zwingen. Und ich 80
bin sicher, daß unsere Finstere Königin sofort davon hört und dann ebenfalls ihre Pläne schmiedet. Diesem Köder kann sie nicht widerstehen.« Erophins Züge verwischten sich kurz, dann erschienen sie in den Flammen um so klarer. »Wir haben den ersten Stein in den See geworfen. Nun wollen wir abwarten, welche Wellen er hervorruft. Trotzdem ist dieses Vorgehen gefährlich.« Greyfax sah den Ältesten des Rings des Lichts lange an, dann lächelte er wieder. »Ich habe diese eingebildeten Elfen ziemlich unverschämt behandelt. Etwas, das ich seit sehr langer Zeit nicht mehr getan habe. Es war sehr lustig, als Thailwick seinen Hut verlor und auf die Nase fiel. Ihr habt schon recht, Erophin, es ist gefährlich. Doch wenn wir unsere Karten richtig ausspielen, riskieren wir nichts. Die einzige Gefahr liegt darin, daß Tyron aus rein selbstsüchtigen Gründen nach der Macht strebt, die in den Fünf Geheimnissen liegt. Das könnte natürlich geschehen. Aber diesem Umstand müssen wir ins Auge sehen. Ich glaube, ich fange jetzt auch an, die Hintergründe allen Geschehens zu verstehen.« »Nun, wir haben die Weichen gestellt. Warten wir es ab«, entgegnete Erophin. »Die Weichen wurden schon vor langer Zeit gestellt. Und Tyron der Grüne hat sich auf ein weit gefährlicheres Abenteuer eingelassen, als ihm jemals träumen würde, worin er eine große Rolle spielt.« »Wenn auch keine beneidenswerte, trotz ihrer Bedeutsamkeit.« »Haben wir diese Rolle nicht alle in jungen Jahren gespielt, Erophin?« fragte Greyfax traurig lächelnd. Und seine Augen trübten sich für einen Moment, so als wäre die Erinnerung daran schmerzlich. Doch dann strahlten sie wie zuvor. Das Feuer flammte noch einmal auf und verlosch dann ganz. Greyfax war von einer inneren Heiterkeit und Freude erfüllt, die daher rührte, daß er nun endlich wußte: Sie alle – ob Freund oder Feind – gingen eigentlich 81
denselben Weg; dorthin zurück, wo alles begonnen hatte. Und es hatte sehr lange gedauert, dachte er, doch auf der anderen Seite überhaupt nicht lange. Dann erhob er sich und ging eilig auf das Lager zu, wo Lorini schon sehnsüchtig und ungeduldig auf ihn wartete.
12. Ein falscher Zauberer Flewingam kletterte leise in die Krone eines großen Baums und gab Olther mit der Hand ein Zeichen. Von seinem Aussichtspunkt ließ er den Blick sorgfältig über den ihn umgebenden Wald schweifen und weiter, bis zum Rande des Waldes, wo saftiggrüne Wiesen sich bis zu einem Flußufer erstreckten. Über dem Fluß wallten Nebel und stiegen brodelnd in den blauen Himmel empor. Obwohl das Brausen des Flusses hier nur noch schwach zu hören war, wußte Flewingam, daß sich seine Wassermassen mit ohrenbetäubendem Lärm zu Tal stürzten. Gerade als er den Blick vom Großen Fluß wieder abwandte, bemerkte er eine flüchtige Bewegung. Er starrte in die Richtung, wo er die Bewegung wahrgenommen hatte, konnte jedoch nichts entdecken. Schon glaubte er, seine Augen hätten ihm einen Streich gespielt, da sah er wieder, daß sich etwas rührte. Er kniff die Augen zusammen und legte die Hand abschirmend über die Brauen, um besser sehen zu können. Da bewegten sich die Äste auf der kleinen Lichtung, nur einen Steinwurf entfernt, zum dritten Mal, und Flewingam erkannte einen der Elfen, die im Dienst des falschen Faragon standen. Der Elf versuchte, sich möglichst unsichtbar zu machen, doch er war offensichtlich verletzt, denn er hinkte und bewegte sich nur schwerfällig vorwärts. Gerade als Flewingam sich an den Abstieg machte, sah er mehrere Männer, die aus den dunkelgrünen Schatten des Waldes auftauchten und ebenso schnell wieder verschwunden waren. Er glaubte schon wieder, sich 82
getäuscht zu haben, so schnell waren die Männer untergetaucht, doch da hörte er einen Ruf, gleich dem eines Vogels, der durch einen zweiten Vogelruf beantwortet wurde. Dann herrschte wieder Stille. Olther wartete ängstlich auf Flewingams Abstieg. »Wo sind wir? Hast du etwas herausfinden können?« zwitscherte er. »Psst!« warnte ihn Flewingam, während er auf die Erde sprang. »Wir werden noch immer verfolgt. Ich sah einen Elf, der sich sehr merkwürdig benahm. Er hinkte über die Lichtung und suchte offensichtlich nach einem Versteck. Dann kamen Männer, die ihn forttrugen.« »Was für Männer?« fragte Olther, der die ungehobelten Krieger von Garius Brosingamene noch längst nicht vergessen hatte. »Das kann ich nicht sagen. Sie waren sehr schnell wieder verschwunden. In diese Richtung«, sagte Flewingam und deutete dorthin, wo er den Elfen und die Männer gesehen hatte. »Und in der Ferne konnte ich einen großen, nebelverhüllten Fluß entdecken.« »Das ist Calix Stay«, meinte Olther. »Er wirkte ziemlich furchterregend, selbst so weit weg. Ich möchte ihn nicht noch einmal überqueren.« »Ja. Das war schlimm genug«, stimmte Olther zu, und seine Augen trübten sich und nahmen die Farbe des Flusses an. »Aber damals gingen wir in die andere Richtung. Wie wir wieder hierhergekommen sind, daran kann ich mich kaum noch erinnern.« Er zwirbelte seine Schnurrhaare und blickte zu seinem Freund auf. »Was waren das nur für Männer? Und auf welcher Seite stehen sie? Man weiß nicht mehr, wem man heutzutage noch trauen soll. Wenn dieser Betrüger selbst die Gestalt Faragons annehmen kann, wie kann man da wissen, mit wem man es zu tun hat?« »Und ich möchte immer noch gern wissen, warum man uns hat entkommen lassen. Das gibt doch überhaupt keinen Sinn, es sei denn, diese Bastarde hofften, wir würden sie 83
direkt zu Broko führen.« »Ich glaube, das war der einzige Grund. Und deswegen hat man uns auch am Leben gelassen. Ich fürchte nur, wenn wir jetzt nicht bald zu einem bestimmten Ziel aufbrechen, werden sie ernsthaft Jagd auf uns machen.« »Wir könnten versuchen, uns zum Großen Fluß durchzuschlagen«, murmelte Flewingam. »Der Gedanke gefällt mir zwar nicht besonders, aber vielleicht ist das die einfachste Lösung. Wir haben weder Waffen noch Proviant und kennen uns hier nicht aus. Auf diese Weise lenken wir wenigstens unsere Schritte an einen uns bekannten Ort.« Olther schüttelte den Kopf. »Nein. Wir kennen die Zauberformel nicht, damit uns der Fluß Schutz gewährt, geschweige, daß wir ihn überqueren können. Außerdem würden unsere Verfolger den Braten riechen, noch lange bevor wir ihn erreicht haben.« Flewingam lehnte sich mutlos gegen den Baum. »Was sollen wir dann tun, mein Freund? Hast du irgendeine Idee?« Olther schloß die Augen und lauschte angestrengt. Da gab es irgend etwas, das er hörte, seit sie in den Wald eingedrungen waren. Nicht Vogelgesang oder Tierstimmen, die jetzt nur spärlich ertönten. Nun, da jetzt ein falscher Zauberer schon Waldmurmeltiere hier aß, konnte er auch verstehen, warum fast alle Bewohner der Sonnenwiesen geflüchtet waren. Und wieder hörte er diesen feinen lockenden Ton, wie murmelndes Wasser eines klaren Gebirgsquells klang er. Flewingam wollte gerade etwas sagen, doch Olther hob Schweigen gebietend die Pfote. Nun war die Musik deutlicher zu hören, sie erfüllte Olther ganz und gar. Seine Augen öffneten sich, und sein Körper bewegte sich im Takt zu der Melodie. Da hörte die Musik plötzlich wieder auf, und er stand immer noch unter dem Baum, auf den Flewingam geklettert war, und sein Freund sah ihn besorgt an. »Ich glaubte, etwas gehört zu haben«, erklärte Olther, Enttäuschung in der Stimme. »Was denn, Olther?« 84
»Ich weiß es nicht. Etwas, das ich schon fast vergessen habe. Vielleicht erinnere ich mich wieder daran.« »Das wünsche ich dir. Wir können nicht mehr länger hierbleiben. Wir werden beobachtet. Wahrscheinlich fragen sich unsere Freunde schon, warum wir nicht weitergehen.« »Dann laß uns gehen, Flew. Vielleicht sollten wir die Richtung einschlagen, wo du den Elfen und die Männer gesehen hast. Wir haben nichts mehr zu verlieren, und sollten sie wirklich zur Finsteren Königin gehören, würde das unsere Probleme auf der Stelle lösen.« Flewingam sah seinen kleinen grauen Freund streng an. Olther hatte die Pfoten zu winzigen Fäusten geballt, und in seine sonst so sanft blickenden Augen war ein harter Ausdruck getreten. »Ich hätte mir niemals träumen lassen, daß wir auf diese Weise enden, aber wenn es so sein soll, gehen wir diesen Weg gemeinsam«, sagte Flewingam und streckte die Hand aus. Olther schüttelte die dargebotene Rechte, dann eilte er in die Richtung, wo Flewingam die Männer und den Elf gesehen hatte. Er war erst ein paar Schritte gegangen, als er diese süße Musik wieder hörte. Sie machte sein Herz leicht, und er fühlte weder Sorgen noch Angst. Diesmal waren die Klänge lauter und unverkennbar. Er wollte schon seinen Otter-Freudentanz tanzen, als ihm die volle Bedeutung des Gehörten klar wurde. Nur mit Mühe konnte er sein lautes Schluchzen unterdrücken. »Was ist los?« fragte Flewingam, der jetzt neben ihm stand. »Oh, Flew. Er ist ganz in der Nähe. Und wir können nicht zu ihm gehen. Darauf warten sie doch nur.« »Auf was warten sie?« »Daß wir sie zu Broko führen.« Flewingam strahlte, doch sofort wurde er wieder ernst. »Broko ist hier? Woher weißt du das?« »Ich habe den Heiligen Schrein gehört. Zumindest glaube ich das. Hier auf den Sonnenwiesen kann man die Dinge viel deutlicher spüren.« 85
»Ja, du hast recht. Wir dürfen nicht weiter in diese Richtung gehen, sonst bringen wir Broko in Gefahr.« Flewingam schwieg und dachte angestrengt nach. Als er wieder sprach, flüsterte er nur. »Wenn du ihre Gegenwart fühlen kannst, glaubst du, daß sie dann auch uns spüren?« »Das weiß ich nicht, Flew. Ich habe nur die Melodie wiedererkannt, die Broko damals gesungen hat, als wir von hier aus zu unserer großen Reise aufbrachen. Sie ist eines der Fünf Geheimnisse und gehört zum Heiligen Schrein.« »Also glaubst du nicht, daß die anderen uns spüren?« »Nein. Ich weiß nur, daß Broko den Schrein noch haben muß.« Olther wandte sein Gesicht Flewingam zu; er lächelte voller Hoffnung. »Und wenn das stimmt, ist er ja hier.« Die beiden Freunde sahen sich gerührt an, sie konnten kaum die Tränen zurückhalten. »Jetzt weiß ich auch, was wir tun müssen«, sagte Olther schließlich. »Damit Broko in Sicherheit ist, locken wir die Elfen hinter uns her und führen sie auf eine falsche Fährte.« »Und eine andere Möglichkeit gibt es nicht, Olther?« fragte Flewingam. Er suchte nach einem Ausweg, obwohl er wußte, daß es keinen gab. »Ich wünschte, es gäbe einen, Flew. Doch wir dürfen es auf keinen Fall riskieren, zu Broko zu gelangen. Ich wußte nicht, daß wir mit diesem Problem konfrontiert werden würden, als wir flohen. Da ahnte ich nicht, daß Broko hier ist. Ich glaubte ihn immer noch jenseits vom Calix Stay.« »Dann komm«, sagte Flewingam. »Es nützt nichts, wenn wir hier noch länger herumsitzen. In welche Richtung wollen wir gehen?« »In die entgegengesetzte«, antwortete Olther, der mühsam seine Tränen niederkämpfte. Die beiden gingen, so schnell sie konnten, und nach einer Weile sagte Olther: »Vielleicht können wir unsere Verfolger abschütteln, einen Bogen schlagen und dahin zurückkehren, wo wir Broko vermuten.« 86
»Versuchen können wir es ja«, meinte Flewingam, obwohl er zweifelte, daß dieser Plan gelingen könnte. Ihre Feinde beherrschten die Kunst der Tarnung aufs meisterhafte, und ein seltsames Gefühl in seinem Rücken sagte ihm, daß sie noch immer da waren. »Ja. Versuchen wir es«, sagte Olther bekräftigend, wenngleich ihm schier das Herz brach, denn die Musik wurde mit jedem Schritt, den sie sich entfernten, leiser. Und ohne vorherige Ankündigung sagte er plötzlich die Zauberworte, die Faragon Fairingay ihn vor so langer Zeit in ihrem alten Tal gelehrt hatte, und stand in Menschengestalt neben Flewingam. »Jetzt, Flew!« rief er. »Auf geht’s!« Und die beiden Freunde stürzten sich kopfüber in das dichte Unterholz, das den schmalen Pfad, dem sie gefolgt waren, säumte. Sie hörten einen überraschten Ausruf, der von mehreren Stimmen beantwortet wurde, und sie wußten, daß sie nur sehr wenig Zeit hatten, wenn ihnen die Flucht gelingen sollte. Flewingam lief, so schnell er konnte, Olther in Menschengestalt war ihm dicht auf den Fersen, und beide bemerkten die in den Bäumen versteckten Gestalten nicht. Nachdem die Freunde eine kleine Lichtung überquert hatten, glitten die Gestalten von den Bäumen und formten eine geschlossene Linie hinter den Fliehenden. Ein paar Augenblicke später erreichte Flewingam eine schmale Schneise und blieb abrupt stehen. Olther taumelte gegen seinen Gefährten, und das Herz blieb ihm, bei dem, was er sah, stehen. »Du!« stieß er dann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du sollst nicht mehr leben, damit du nie wieder Faragons Namen besudelst.« Mit einem wilden Kriegsschrei sprang er vorwärts und schwang drohend sein Schwert. Obwohl Flewingam sah, daß sie verloren waren, zog er seinen kleinen Dolch und wollte in den Kampf eingreifen. Er sah nicht mehr, wie Olther fiel, und spürte auch die 87
starken Arme, die ihn umfaßten, nicht mehr, denn plötzlich explodierten in seinem Kopf tausend goldene Lichter, und dann wurde er von einer warmen Dunkelheit umfangen, durch die Stimmen drangen wie das Auf und Ab einer fernen Brandung.
13. General Greymouses Enthüllungen Bruinlen starrte den lachenden Zauberer völlig entgeistert an, und dieser Blick brachte Greymouse nur noch mehr zum Lachen: Tränen der Heiterkeit liefen ihm über die Wangen, und vor Vergnügen schlug er sich immer wieder aufs Knie, bis er sich schließlich wieder soweit beruhigt hatte, daß er sprechen konnte. »Du mußt mir verzeihen, mein guter Bruinlen. Mein Verhalten ist dir sicher unbegreiflich. Doch es geschah nicht oft, daß einer der Ältesten des Rings des Lichts eine derart erheiternde Nachricht bekam. Und diese Nachricht wärmt einem müden alten Mann das Herz. Wie es scheint, rücken jetzt die fehlenden Steinchen des Puzzles an ihren rechten Platz, und bald wird der Tag kommen, wo dieser leidige Kampf zu Ende ist. Ich bin seiner wirklich überdrüssig, und manchmal kann ich mich nicht einmal mehr erinnern, wie alles begonnen hat, so lange zieht sich diese Geschichte schon in die Länge. Und jeder, außer Dorini, hat genug davon. Sie scheint diese Kriege und das Chaos zu genießen, doch manchmal habe ich auch diesbezüglich meine Zweifel.« Greymouse geleitete Bruinlen aus dem Zelt nach draußen, wo auf dem Rasen auf einem ausgebreiteten Tischtuch ein Imbiß bereitstand: Tee, frisch gebackener Kuchen, Honig und Äpfel. »Ich verstehe nicht ganz, was Ihr mit Euren Worten sagen wollt«, entschuldigte sich Bruinlen. »Es klingt alles so verwirrend. Meint Ihr, die Finstere Königin ist zur Aufgabe bereit und würde sich dem 88
Ring des Lichts ergeben? Das wäre ja großartig. Dann hätte Broko nicht mehr die Last des Schreins zu tragen, und wir könnten alle Mühen vergessen und wieder unser gewohntes Leben leben.« Bruinlen lächelte kurz, doch dann runzelte er nachdenklich die Stirn. »Ich meine, jedermann liebt doch das einfache Leben, ein wenig Bienenzucht oder Gartenarbeit, ganz nach Belieben.« Bruinlen schwieg und betrachtete versonnen die Berggipfel am Horizont, die in der späten Nachmittagssonne golden aufleuchteten. Weiße Wölkchen schwebten darüber hin, und die tiefer gelegenen Hügel waren schon in blaue Schatten getaucht. Auch Greymouse schwieg, denn Bruinlens Augen schienen nicht nur in Betrachtung der Landschaft versunken, sondern noch etwas anderes zu sehen. »Es ist gewiß sehr schön, wenn man sich in einem geruhsamen Leben eingerichtet hat«, sagte er schließlich nach geraumer Zeit. »Ich habe es immer sehr geschätzt, mich zwischen zwei Reisen ausruhen zu können und einer erholsamen Tätigkeit nachzugehen. Damals beschäftigte ich mich mit den Alten Büchern der Weisheit, speziell mit den Schriften eines entfernten Cousins über die Drachenkriege, dessen Darlegungen und Erkenntnisse höchst bemerkenswert waren. Das füllte meine Zeit aus, und ich war es zufrieden. Damals lebte ich an einem sehr ruhigen Ort – so wie es früher hier einmal war – und kümmerte mich außerdem um meinen Garten. Ich führte ein zufriedenes Leben und liebte es.« Greymouse goß sich noch eine Tasse des köstlichen Beerentees ein und schnitt sich ein neues Stück Kuchen ab. »Und dann wurde ich eines Tages benachrichtigt, daß ich das alles aufzugeben und mich in den Dienst des Rings des Lichts zu stellen hätte. Die Order erfolgte vom König Windameirs selbst, und ich mußte diesem Ruf folgen. Doch dann entdeckte ich, daß ich eigentlich darauf gewartet hatte. Ich war niemals das, was man einen unruhigen Geist nennt, aber irgendwie fühlte ich, daß im Leben noch eine 89
Aufgabe auf mich wartete. Und nun war die Zeit dafür gekommen.« »Ich weiß, wovon Ihr sprecht, General Greymouse«, sagte Bruinlen schüchtern. »Genauso erging es mir, als ich vor langer Zeit Broko zum erstenmal traf. Ohne große Vorbereitungen bin ich ihm gefolgt, obwohl ich nicht einmal wußte, wohin die Reise ging und wie lange sie dauern würde. Ich wußte nur, daß ich gehen mußte. Und dieses Gefühl beherrscht mich noch heute. Ich wüßte nicht einmal, was ich tun sollte, wenn die Finstere Königin ihre Kampfhandlungen einstellen würde. Denn hier möchte ich nicht mehr leben, und ich kann mich auch nicht mehr an das Zauberwort erinnern, das die Überquerung vom Calix Stay in die Welt vor den Zeiten erlaubt. Außerdem möchte ich auch dorthin nicht zurückkehren. Diese Leben habe ich gelebt und mein jetziges auch, wenn ich es richtig betrachte. Also befinde ich mich in einer Zwickmühle, ich weiß nicht, was ich wirklich will. Natürlich wäre es schön, wenn Dorini Frieden schlösse und Cybelle freilassen würde. Dann wären diese Kriege endlich vorüber, und jeder könnte in Frieden leben. Dann hätte dieses ganze Elend ein Ende.« Bruinlen verstummte. »Es stimmt, was du sagst, Bruinlen. Dann könnte jeder wieder sein gewohntes Leben aufnehmen. Und trotzdem wäre es nicht mehr dasselbe. Es wäre fad und ereignislos und ließe etwas zu wünschen übrig.« »Nun, mehr oder weniger, das ist gewiß. Doch auf Worlughs oder Gorgolacs, die nichts anderes im Sinn haben, als mir ein Loch in den Pelz zu brennen, könnte ich sicher verzichten. Auch die Schlacht bei den Sieben Hügeln werde ich nicht vermissen.« Greymouse lachte leise und nickte dann. »Nein, niemand wünscht sich, daß solche Ereignisse zu seinem täglichen Leben zählen.« »Und trotzdem habe ich das Gefühl, dieses alles mußte 90
einfach geschehen. Brokos Reise und all die anderen Abenteuer. Und ich spüre, daß das alles noch nicht zu Ende ist.« »Nein, alter Junge, es ist noch nicht vorüber. Selbst wenn Dorini und Doraki sich ergeben und den Gesetzen Windameirs wieder fügen würden. Große Ereignisse brauchen lange, bis sie einmal in Gang geraten, doch sind sie es erst einmal, sind sie auch nicht leicht wieder zu bremsen. Wie ein Schneeball, der sich zu einer Lawine auswachsen kann. Und so sieht unsere Lage heute aus. Wir wurden von den reißenden Wassern eines Stroms in eine stille Bucht geschwemmt. Der Strom ist noch derselbe, aber im Augenblick gewährt er uns Ruhe.« Bruinlen hatte den letzten Kuchen vertilgt und machte sich jetzt über den Honigtopf her. »Dann hat Tyron der Grüne also etwas getan, was uns nützt? Ich begreife nicht, was das sein könnte, so wie er und seine unverschämten Elfen sich aufgeführt haben.« »In gewisser Weise hat er uns schon genützt, auch wenn seine Handlungsweise nicht ganz unproblematisch ist. Doch das alles gehört zu dem einen großen Plan. Und bis ich deinen Bericht hörte, wußte ich nicht genau, welche Wendung die Dinge nehmen würden, ich hatte nur eine vage Idee, doch Gewißheit hatte ich keine.« »Wie kann denn nur dieser halbverrückte Elf mit seiner Armee im Goldenen Wald derart hausen?« fragte Bruinlen erbittert. »Sie waren nicht gerade freundlich, und ich bin überzeugt, daß sie mit Vergnügen jeden, der ihren kostbaren Wald betritt, einen Kopf kürzer machen.« »Das tun sie, ohne Zweifel«, stimmte Greymouse zu. »Und wir werden mit ihnen noch viel Ärger bekommen, ehe alles vorüber ist. Auch wird nicht alles damit zu Ende sein, weil Tyron den Goldenen Wald besetzt hat. Mit diesem kleinen Territorium wird er sich nicht zufriedengeben, wenn er erst einmal die Unterstützung der Finsteren Königin hat. Und ich bin ganz sicher, daß Tyron schon ein 91
oder zwei Reisen nach Cypher gemacht hat, um mit der jetzigen Herrscherin dort zu konferieren. Und sie weiß sicher, was unser geschätzter Elf so eifersüchtig hütet, und hat gewiß ihre eigenen Pläne damit.« »Das hört sich aber gar nicht so an, als könnten wir in nächster Zukunft mit einem friedlichen Leben beginnen. Die Bienenzucht kann ich mir wohl fürs erste aus dem Kopf schlagen.« »Im Augenblick schon. Tyron wird uns ganz schön in Atem halten, und wir müssen uns wieder auf die Reise begeben.« Bruinlen stöhnte laut. »Wir müssen unseren guten Faragon treffen, damit du wieder mit deinen Kameraden vereint bist«, sprach Greymouse weiter. »Es scheint mein Schicksal zu sein, daß ich mir die Fußsohlen auf dieser Reise duchlaufen soll«, brummte Bruinlen. »Außerdem bin ich unendlich müde, und jetzt bleibt nicht einmal hier Zeit für ein kleines Nickerchen. Mir scheint, das letzte Mal, wo ich richtig geschlafen habe, war bei Lorini in Cypher.« »Lorini wirst du schon bald Wiedersehen, alter Junge. Sie erwartet uns, und Greyfax ist auch dort. Das wird eine schöne Zeit, wenn wir alle wieder zusammen sind. Melodias ist jetzt schon auf dem Weg, und wir brechen innerhalb einer Stunde auf.« Bruinlens Hoffnungen auf eine andere Mahlzeit und ein Schläfchen waren durch Greymouses Worte nun endgültig zunichte gemacht, aber seltsamerweise fühlte er sich außerordentlich wohl, obgleich sein Magen schon wieder zu knurren anfing. Er ließ den Blick wieder zu dem weit entfernten Gebirge schweifen, und er betrachtete die wechselnden Schatten, die die dahinjagenden Wolken verursachten, wenn sie für kurze Zeit die Sonne verdeckten. Selbst wenn die Reise – wie bisher – voller Gefahren und Abenteuer sein sollte, so war das ein Leben, das ihm gefiel, stellte Bruinlen überrascht fest. Ein Leben, das er sich aus tiefstem Herzen wünschte. In seine alte Höhle würde er nie 92
wieder zurückkehren und auch kein Nickerchen unter einem der alten schattenspendenden Bäume machen. Dann mußte er an Cheer Weir und Olther denken und was alles seit ihrer ersten Begegnung geschehen war. Und dieser Gedanke an seinen alten Freund erfüllte ihn mit tiefer Freude. Sie hatten mehr als ein Abenteuer gemeinsam bestanden, und oft waren sie nur mit knapper Not davongekommen, doch sie hatten immer das Richtige getan. Und in seinem tiefsten Inneren fühlte Bruinlen, daß diese letzte Reise sie diesmal endgültig in ihre Heimat führen würde. Bruinlen verharrte voller Freude bei diesem letzten Gedanken, als Greymouse eiligen Schrittes auf ihn zukam und dem Bären bedeutete, ihm zu folgen. Da erst merkte Bruinlen, daß das Lager in hastigem Aufbrach begriffen war. Alle Soldaten eilten in Richtung von Melodias’ Zeltlager. »Was ist denn los?« rief Bruinlen hinter dem forsch ausschreitenden Zauberer her, dessen langer grauer Mantel ihn umflatterte. »Ich habe gerade erfahren, daß Tyron gehandelt hat«, gab Greymouse knapp zurück. »Er hat einen Trupp Elfen zu uns geschickt, und außerdem behauptet er, Faragon Fairingay und Cybelle wären mit der Errichtung seines Königreichs einverstanden.« Noch ehe Bruinlen eine weitere Frage stellen konnte, waren sie im tiefen Wald untergetaucht, und der Lärm der vielen Schritte machte eine weitere Unterhaltung unmöglich. Immer wenn Bruinlen den Mund öffnete, gebot ihm Greymouse Schweigen oder änderte abrupt die Richtung, bis der Bär es schließlich aufgab, mit Greymouse reden zu wollen. Die Wälder wurden immer dichter und unwegsamer, zum Schluß krochen die Männer auf allen vieren vorwärts, und da erst merkte Bruinlen, daß der General sie immer tiefer in den Goldenen Wald führte, den sie ja gar nicht mehr betreten durften.
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14. Olther am Ende seiner Kräfte Olther tauchte durch einen langen, schmalen Tunnel, in dem weiße und blaue Lichter aufblitzten, dann hörte er nur noch wie dumpfes, dröhnendes Pochen seinen Namen. Wieder und wieder. »Olther! Olther!« rief die Stimme, und er antwortete laut: »Was ist denn los?« Ohne zu wissen, daß er nicht mehr träumte, starrte er in das besorgte Gesicht seines Freundes Flewingam. Dann versuchte er wieder auf die Füße zu kommen und merkte, daß er wieder seine alte vertraute Ottergestalt besaß. »Wir müssen fliehen, Flew. Er ist hier.« Olther richtete sich mühsam auf und betastete mit der Pfote seinen Kopf. »Haben wir ihn nicht angegriffen? Was ist denn nur geschehen?« Flewingam half seinem kleinen Freund auf. »Ja. Wir waren in einen Kampf verwickelt, und es ging ziemlich hitzig her«, antwortete Flewingam, der Olther beim Gehen stützte. »Sind wir frei?« fragte Olther plötzlich und blieb abrupt stehen. »Ich meine, hat er keine Gewalt mehr über uns?« Den Namen wagte er nicht auszusprechen. »Nun, wie ich die Sache sehe, sind wir frei. Doch nicht von dem einen, den du meinst. Noch sind wir den Zauberer oder einen ziemlich aufgeblasenen Zwerg oder zwei nette Burschen namens Cranfallow und Thinvoice los.« Olther bekam kugelrunde Augen vor Erstaunen, und er sah seinen Freund prüfend an. »Nimm mich nicht auf den Arm, Flew. Ich bin nicht in der Stimmung, an meine verlorengegangenen Kameraden erinnert zu werden.« »Verloren, in der Tat!« ließ sich da eine beleidigt klingende Stimme vernehmen. »Dasselbe könnte man von euch behaupten.« »Da hast du verdammt recht«, sagte eine zweite Stimme. »Na ja, diese faulen Wasserhunde machen immer gerade dann ein Nickerchen, wenn es darauf ankommt«, polterte 94
eine dritte Stimme, fast an Olthers Ohr. Olther drehte sich um und stolperte direkt in Brokos Arme. »Nein!« rief er zitternd und den Tränen nahe. »Das ist zuviel für mich. Wenn wir schon mit unserem Leben dafür bezahlen müssen, um die Finsternis zu bekämpfen, ich bin bereit. Bis zu meinem letzten Atemzug verteidige ich den Ring des Lichts. Aber diese Betrügereien dulde ich nicht länger. Ihr seid nicht meine Freunde, weder du noch du«, sagte er und deutete auf Cranfallow und Broko. »Ihr seid Betrüger!« rief er grimmig, beugte sich wie der Blitz zur Erde und stolperte dann auf Broko zu, einen großen Stein in seinen kleinen Pfoten. Noch ehe die anderen eingreifen konnten, trat zwischen Olther und den Zwerg eine graugekleidete Gestalt. Da erschien in den Augen des kleinen grauen Kerls ein irrer Ausdruck, er stieß seinen Otter-Kriegsruf aus und bleckte die Zähne, bereit zum Angriff. »Gebietet ihm Einhalt!« rief Cranfallow und versuchte vergeblich, Olther den Stein zu entwinden. »Der Himmel behüte uns!« stöhnte Ned, der schnell zur Seite gesprungen war, um nicht von Olther überrannt zu werden. »Der arme Kerl hat den Verstand verloren. Halt ihn fest, Cranny, ehe er sich oder uns verletzt. Der Stein ist ja riesengroß. Ich hätte niemals geglaubt, daß er ein Ding dieser Größe handhaben könnte.« Cranfallow hatte Olther abgefangen und kämpfte jetzt mit ihm um den Stein. Olther rollte wild mit den Augen, und mit einem Schrei stürzte er sich wieder auf Broko. »Langsam, Junge«, warnte ihn Cranfallow, doch Olther hörte ihn überhaupt nicht und stieß wieder seinen Kriegsruf aus. Da war der Stein schon in der Luft und flog direkt auf Brokos Kopf zu. Der stand wie versteinert und fassungslos über das Benehmen seines Freundes da. »Plub«, machte es, dann folgte das Geräusch einer kleinen Explosion, und über die gesenkten Köpfe der Freunde regnete es winzige Steinsplitter. Faragon hatte in letzter Sekunde das 95
Wurfgeschoß mit der ausgestreckten Hand berührt und zum Explodieren gebracht. Mit knapper Stimme gab er einen Befehl. Er redete in Olthers alter Sprache, der Sprache, die einst alle Lebewesen verstanden. Und sofort beruhigte sich der kleine Kerl. Verwirrt blickte er um sich, brach dann in Tränen aus und fiel schluchzend in Brokos Arme. Die Freunde waren derart gerührt, daß sie ihm alle besänftigend auf den Rücken klopften. Vor lauter Weinen konnte Olther kein Wort hervorbringen, und schließlich trug ihn Flewingam auf das weiche Nadelbett unter einer großen Fichte. Broko, dem selbst Tränen über die Wangen strömten, tätschelte Olthers Pfote; und dann kniete sich Faragon neben ihn, entnahm einer Tasche seines Mantels einen kleinen Flakon, dessen Inhalt er in einen fein ziselierten Becher goß und an Olthers Schnäuzchen hielt. Der verschüttete vor lauter Schluchzen die Hälfte des kostbaren Getränks, doch als er den Rest hinunterschluckte, breitete sich in ihm eine wunderbare Stille aus. Er hörte auf zu zittern und zu weinen, und seine Augen wurden wieder klar. Schließlich redete er, wenn auch mit schwacher Stimme. »Es tut mir leid, meine Freunde. Ich konnte es einfach nicht ertragen, ihn noch einmal zu sehen. Ich meine den, der genauso wie Ihr aussah, Faragon, und der das arme Waldmurmeltier gegessen hat. Er sucht dich, Broko. Er weiß, daß du den Schrein hast. Und ich glaubte, daß wir ihm geradewegs wieder in die Arme gelaufen wären und daß ihr alle Betrüger wärt. Ich war völlig verwirrt, bis Faragon in der alten Sprache zu mir redete. Das hat auch den anderen verraten. Als er mit Flewingam und mir sprach, benutzte er nie die alte Sprache. Doch Zauberer sind immer höflich und reden dich in deiner eigenen Sprache an. Das tat er nicht. Und er teilte uns auch keine Neuigkeiten mit, sondern stellte uns nur Fragen über Broko. Und als die Elfen dann diese fürchterliche Speise brachten, wußte ich, daß etwas nicht stimmte.« Olther atmete zitternd 96
tief ein. »Brrr«, stöhnte er. »Mir wird noch ganz schlecht, wenn ich daran denke.« Faragon stand auf und steckte den Flakon wieder ein. »Wir kennen deinen Freund, Olther. Und wir wissen, daß er jetzt in Cypher im Auftrag von Lorinis Schwester herrscht. Zwar können sie ihre Armeen nicht hierherbringen, aber das brauchen sie auch nicht. Ihre Waffen in diesem Land sind List und Täuschung, deshalb spielt sich der Krieg hier auf eine ganz andere Weise ab.« »Heißt das, wir müssen gegen jemanden kämpfen, der jede beliebige Gestalt annehmen kann?« fragte Ned Thinvoice. Er nahm seinen Hut ab und kratzte sich den Kopf. »Das bist du doch gewöhnt, Ned«, meinte Cranfallow. »Du bist doch jetzt schon lange genug mit diesen Burschen unterwegs. Schau sie dir doch mal genau an, unsere Freunde.« »Ich schätze, das bin ich«, sagte Ned, schüttelte verwundert den Kopf und pfiff durch die Zähne. »Allmählich werden wir uns schon an diese Sonderlichkeiten gewöhnen«, erklärte Cranfallow. »Du könntest mir genausogut erzählen, daß mein alter Kumpel, der schon seit zehn Jahren tot ist, heute zum Abendessen kommt. Mich würde nichts mehr wundern. Ich würde einfach noch einen Teller hinstellen. Wir sind jetzt an derlei Dinge gewöhnt, kein Wunder bei dem Umgang. Eines Tages sind wir wahrscheinlich selbst in der Lage, einfach die Brauen zu runzeln, und schon haben wir einer Kröte die Warzen weggezaubert.« Ned Thinvoice starrte seinen Freund nur ungläubig an. »Du nimmst den Mund zwar ziemlich voll, Cranny. Aber in dem, was du sagst, steckt schon ein Körnchen Wahrheit«, stimmte Faragon lächelnd zu. »Unsere Feinde sind uns hier in den Sonnenwiesen in gewisser Weise überlegen, denn durch ihre Verkleidungen können sie uns in die Irre führen. Doch gegen die Macht des Heiligen Schreins können sie nichts ausrichten, und 97
solange der in unserem Besitz ist, kann uns auf unserer Reise zu Greyfax und Lorini nichts passieren.« Faragon schwieg und sagte dann wie obenhin: »Übrigens habe ich das Gefühl, wir könnten unterwegs Greymouse und Melodias begegnen. Mit ihnen reist ein Freund, der außer sich vor Freude sein wird, euch wieder zu begegnen.« »Und wer ist das?« fragte Flewingam neugierig. »Ein ziemlich kräftiger Bursche namens Bruinlen«, antwortete Faragon mit breitem Lächeln. »Bruinlen ist hier?« platzte Olther heraus. »Wie hat er das nur geschafft?« »Das werdet ihr schon bald erfahren. Doch jetzt müssen wir uns auf den Weg machen. Greymouse erwartet uns schon ungeduldig.« Faragon beantwortete keine der auf ihn einstürmenden Fragen mehr, sondern führte die Gefährten in Richtung der untergehenden Sonne, die die Gipfel der Bäume des Goldenen Waldes in glühendes Licht tauchte.
15. Ein Pakt wird besiegelt Durch das graue Schweigen, das wie eine drohende Wolke Cypher einhüllte, klang schrilles, freudloses Gelächter. »Das habt Ihr vortrefflich gesagt, Doraki«, entgegnete Tyron nervös. »So gut wurde es bisher noch nie formuliert.« Der Finstere Fürst starrte Tyron mit seinen hohlen, schwarzen Augen an, und dem Elfen wurde schwach vor Angst. Das Furchterregendste an Doraki waren seine Augen – bar jeder Gefühlsregung –, im Gegensatz zu denen seiner Gebieterin, worin eine tödliche Drohung stand. »Deine Rede ist ziemlich unbesonnen, Tyron. Ich habe dich betreffend noch keine Entscheidung getroffen, doch spiele ich mit dem Gedanken, dich in ewige Finsternis zu verbannen. Aber du amüsierst mich mit deiner dummen 98
Intrige.« Dorini saß in einem hohen, geschnitzten Stuhl, der die Form eines Drachenkopfes hatte. »Ja, in der Tat, dein Plan, wie du zur Königswürde gelangen willst, interessiert mich, obwohl ich mächtigere Könige, als du es jemals sein wirst, gestürzt habe«, sagte sie verächtlich. »Aber gerade der Gedanke, daß du es wagst, meine Pfade zu kreuzen, ist nicht ohne einen gewissen Reiz für mich.« Und wieder ließ die Finstere Königin ihr eisiges, dunkles Gelächter erklingen. Tyrons Knie zitterten, doch glücklicherweise saß er, und jetzt richtete er sich etwas auf und sprach. »Mir ist wohl bewußt, daß Euer Finsternis allmächtig ist und weit über einem so geringen Elfen, wie ich es bin, steht. Trotzdem halte ich an meinen Ausführungen fest, denn die Tatsache bleibt unbestritten, daß ich mich in der Position befinde, die den Zielen Euer Finternis am dienlichsten ist. Wir wissen beide, daß Ihr mir einen gewissen Gegenstand auch mit Gewalt nehmen könnt, doch wir wissen auch beide, daß dieser Gegenstand dann seine Macht verliert. Nur der rechtmäßige Besitzer kann sich seiner bedienen und mit seiner Hilfe auch die anderen Geheimnisse an sich bringen und Euch von dem befreien, was Ihr am meisten fürchtet. Und mir wird dadurch das gewährt, was ich mir vor allem wünsche: ein Reich, wo ich mit meinem Volk in Frieden ungestört leben kann.« »Setz dich näher zu mir«, sagte Dorini plötzlich schmeichelnd. Tyron blickte mißtrauisch auf und sah, daß sie sich zu einem kleinen Tisch begeben hatte und auf einen Stuhl neben dem ihren deutete. Er zögerte einen Moment, doch dann gehorchte er und umklammerte fest den kleinen Spiegel in seiner Manteltasche. »Was sagst du dazu, mein Liebster? Findest du Gefallen an Tyrons Plan?« fragte Dorini Doraki, der am erloschenen Kamin stand. Ein eisiger Windhauch fuhr durch den Raum, als er sprach. »Ich werde den Schrein bald in meinen Besitz gebracht haben. Von den Reisegefährten des Gnoms habe 99
ich erfahren, daß er den Großen Fluß überquert hat. Und ich weiß, wo sie sich zur Zeit aufhalten. Doch dieser stinkende Faragon beschützt sie, und die anderen sind auch da. Das gefällt mir überhaupt nicht. Ich bin der Oberbefehlshaber unserer Armeen. Da gehöre ich hin. Von diesem Geschäft verstehe ich zuwenig.« »Dir gefällt es nicht, als Fairingay aufzutreten, mein Schatz? Macht es dir keinen Spaß, in die Rolle dieser stinkenden Hunde zu schlüpfen, die uns vernichten wollen, uns ins Nichts zurückschicken wollen?« »Diese Spielchen werden Euch noch zum Verhängnis werden, Euer Finsternis. Ich verabscheue es, mich jenseits des Großen Flusses, mitten unter diesen sogenannten Lebewesen, aufhalten zu müssen. Dort können wir nichts gewinnen. Unsere Macht ist auf diese Ebenen beschränkt. Ich sehne mich danach, wieder einmal mit Cakgor oder der Großen Vernichterin des Feuers Terror und Schrecken zu verbreiten.« »Du bist mir zu ehrgeizig geworden, mein Liebster. Deshalb wirst du noch ein wenig hierbleiben. Und deine Versprechen sind leer und hohl. Wie oft hast du mir schon dieses verdammte Kästchen versprochen? Doch aus irgendeinem fadenscheinigen Grund hast du dein Ziel nie erreicht. Aber ich muß dieses Ding haben. Wir beide müssen es haben. Falls diese Wanderratte von einem Zwerg uns noch einmal entkommt, haben wir keine Chance mehr und können die Sonnenwiesen nicht in unsere Gewalt bringen. Dann können wir alle unsere Pläne begraben. Deshalb müssen wir diesmal Erfolg haben, und unser ehrgeiziger Elf wird uns dabei helfen.« Dorini blickte Tyron an, und ihre furchterregende Schönheit hielt ihn gefangen. Sie streckte eine weiche, blasse Hand aus und berührte ihn. Ihre Augen waren wie tiefe, unergründliche Wasser. Tyron konnte ihr nicht widerstehen, noch hatte er die Kraft, sein Kleinod zu berühren, und so glitt er in den Abgrund eines traumlosen 100
tiefen Schlafs. Langsam vor- und zurückschwankend saß er auf dem Stuhl. »Werdet Ihr diesen verfluchten Elfen töten?« fragte Doraki und lächelte grausam. »Nein, mein zärtlicher Geliebter. Noch nehme ich ihm nicht, was ihm gehört, denn was er sagt, ist richtig. Ich könnte sein Geheimnis in meinen Besitz bringen, doch ohne den Schrein ist es wertlos. Und die anderen Geheimnisse wären eine ständige Bedrohung für uns.« »Da Ihr vermutet, der elende Zwerg könnte uns entkommen, was wäre das schon für ein Schaden? Dann wäre der Schrein verloren, und wir brauchten wenigstens nicht in dieses elende Gefängnis zu gehen, das der verdammte Ring des Lichts Heimat nennt.« »Du übertriffst dich heute abend, mein Liebster. Ja, warum denn eigentlich nicht? Lassen wir doch alles fahren. Den Schrein und alles andere auch.« Dorini warf den Kopf in den Nacken und lachte höhnisch. »Glaubst du denn allen Ernstes, sie würden es dabei bewenden lassen? Nein, mein begriffsstutziger Liebling. Sollte uns der Zwerg mit dem Schrein diesmal entkommen, wird die Macht des Rings des Lichts immer größer werden. Solange Greyfax, Fairingay und die anderen nicht ausgeschaltet sind, werden wir niemals Frieden finden. Uns bleibt nur ein Weg: den verdammten Schrein ein für allemal an uns zu bringen und diese Knechte, die sich selbst Diener des Hohen Königs von Windameir nennen, zu besiegen. Sie lügen und sind nichts als schwachköpfige Idioten, die immer nur die Worte ›Frieden‹ und ›Freunde‹ in ihren Bart murmeln und vom Einssein mit dem Herrn schwafeln. Mir ekelt davor!« giftete Dorini. »Wir haben unsere eigene Welt geschaffen, sie ist voller Leben, und wir üben die Macht aus, die uns der Hohe König urprünglich zugedacht hatte.« Während Dorini sprach, war sie aufgestanden und schritt nun rastlos auf und ab. 101
»Und er wird unser williges Werkzeug sein«, sagte sie und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Tyron. »Das, was uns durch alle unsere Feldzüge nicht gelungen ist, werden wir jetzt mittels unseres Verstandes erreichen. Still wie die Mäuschen werden wir hier abwarten, während unser guter Elf die Falle aufstellt. Eine Falle, deren Beute zu unserem größten Triumph werden wird. Dann gehört uns nicht nur das Balg meiner Schwester, sondern alles. Diese unteren Welten werden für immer in Finsternis versinken.« »Dann machen wir also Gebrauch davon?« fragte Doraki, der neben Dorini einherschritt und mit seinen schrecklichen leeren Augen den schlafenden Tyron betrachtete. »Ja. Und jetzt wirst du wieder die Gestalt dieses elendigen Zauberers annehmen. Auch ich werde mich verwandeln.« Die Grausamkeit verschwand aus Dorakis Gesichtszügen, und ein paar Sekunden lang umgab ihn ein grünliches flackerndes Licht, dann stand er als Faragon Fairingay da. Nur seine Augen strahlten dieselbe Leblosigkeit aus, und der Humor des Zauberers fehlte ihm ganz. Dorini betrachtete das ihr verhaßte und doch so vertraute Gesicht und lächelte böse. »Das machst du sehr gut, mein Liebster. Du siehst ihm derart ähnlich, daß ich in Versuchung gerate, meine Rachegelüste, die ich ihm vorbehalten habe, an dir auszuleben.« »Dieser Gedanke gefällt mir überhaupt nicht. Warum können wir diesen verhaßten Zauberer nicht einfach umbringen und unsere Armeen hier versammeln. Ich dürste nach Taten.« »Bald wirst du wieder kämpfen, mein Liebster. Geduld. Und bald wirst du mit diesen Hampelmännern nach Belieben verfahren können. Außerdem habe ich für dich ein neues Spielzeug, ganz für dich allein.« Als Dorini zu Ende gesprochen hatte, drehte sie sich um und blickte den Finsteren Fürsten an. »Und das wird dir gefallen, nicht 102
wahr?« Vor Doraki stand eine lächelnde Cybelle – jedenfalls eine Gestalt, die ihr sehr ähnlich sah. Nur an dem harten Ausdruck der Augen konnte ein geübter Beobachter erkennen, daß es sich nicht um Lorinis Tochter handelte. Und Tyron der Grüne, der in diesem Augenblick von der Finsteren Königin aus seinem totenähnlichen Schlaf geweckt wurde, merkte nicht, daß die schöne junge Frau neben ihm nicht Cybelle war. Er fand es nur sonderbar, Faragon Fairingay hier zu begegnen, dessen Pläne offensichtlich mit seinen eigenen übereinstimmten. Doch über Dorinis und Dorakis Abwesenheit wunderte er sich nicht. Bald waren die drei in ein angeregtes Gespräch vertieft und schmiedeten ein Komplott, das den Ring des Lichts für immer besiegen und die unteren Welten der ewigen Finsternis preiszugeben zum Ziel hatte.
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Dritter Teil Der Sturm braut sich zusammen
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16. Abschied von Cypher In dem grauen Licht, das wie eine Rauchwolke über Cypher hing, wandte Lorini Greyfax ihr Gesicht zu. Ihre Augen brannten von ungeweinten Tränen. Er zog ihren Kopf an seine Schulter und streichelte sie sanft. »Ich sagte Euch doch schon, wie es hier aussieht. Aber für uns – in unseren Herzen – wird es immer Cypher bleiben. Daran wird sich nichts ändern. Und selbst in Ruinen, es ist immer noch Cypher. So steht es geschrieben. Selbst der Eiseshauch, den die Finstere Königin verbreitet, kann nicht ganz die Wärme und Heiterkeit dieses Ortes tilgen.« »Ich bin froh, daß Ihr mich hierhergebracht habt, Greyfax. Ich mußte mein altes Reich noch einmal sehen, damit ich nun endgültig keine Hoffnung mehr auf eine Rückkehr nähre. Doch Erophin und Cephus haben mir das schon vor langer Zeit klarzumachen versucht. Wenn man nur das kennt, was man sein eigen nennt, sucht man nicht nach anderen Dingen, mögen sie auch erstrebenswerter sein. Mein Herz war schon seit Urgedenken so voll von Cypher, daß ich den Rest der Welt ganz vergessen habe. Das war zwar eine bittere Lektion, doch ich habe sie verdient. Und der Verlust Cybelles hat mich gelehrt, daß sie nicht mir gehört. Ich habe mich, was sie betrifft, sehr töricht verhalten und eigennützig gehandelt. Doch seit ich mit Erophin sprach, habe ich mich gewandelt. Ich hatte meinen Glauben verloren und wollte mich auf eine Stufe mit dem Einen stellen.« »Ein sehr weit verbreiteter Fehler, meine Fürstin«, sagte Greyfax und lächelte. »Doch kommt. Wir müssen gehen, ehe unsere Gastgeberin zurückkehrt. Zweifellos bedeutet ihre Abwesenheit und die ihres Dieners nichts Gutes. In letzter Zeit ist es ungewöhnlich ruhig gewesen, und das macht mir Sorgen. Meiner Meinung nach ist es zu ruhig. Sicher wißt Ihr, 105
was ich damit sagen will.« »Ja. Und ich stimme Euch zu. Auch mich beängstigt die Tatsache, daß sie nicht mehr offen angreift. Die Worlughs und Gorgolacs haben sich an allen Fronten zurückgezogen, seit wir in den Sonnenwiesen sind.« Greyfax schwieg und betrachtete das in Ruinen liegende Cypher. Doch seine Gedanken waren weit weg. Schließlich entgegnete er: »Ein unsichtbarer Feind ist immer gefährlicher als einer, der vor der Haustür wartet.« »Wir wissen aber, daß sie Calix Stay überquert hat«, sprach Lorini weiter. »Sie und Doraki sind hier gesehen worden.« »Das stimmt. Doch wissen wir nicht, wo sie sich jetzt aufhalten und welche neue Teufelei sie planen.« Die beiden verfielen wieder in Schweigen und ließen ihre Blicke über das zerstörte Schloß und die verwüsteten Gärten schweifen. Da bahnte sich plötzlich eine Wandlung an: Einen Herzschlag lang schien hell die Sonne, wie an einem strahlenden Frühlingstag, und das grimmige Schweigen wich fröhlichem Gelächter und sanft klingender Musik, die Brunnen sprudelten ihre Fontänen hoch in die Luft und wurden von schillernden Regenbogen gekrönt. Lorini, die kaum ihre Tränen zurückhalten konnte, wandte sich an Greyfax. »Es war nicht nötig, mir dieses Spektakel vorzuführen«, brachte sie mühsam hervor. »Das tat ich nicht, meine Fürstin«, entgegnete Greyfax. »Cypher lebt allein durch sich selbst. Es hat die Zauberkünste eines Dummkopfes wie mich nicht nötig, um zu seiner einmaligen Schönheit zu erwachen.« Da hob Lorini ihr tränenüberströmtes Antlitz zu Greyfax empor. »Selbst nach dem, was es erlitten hat?« »Cypher hat nicht gelitten, meine Fürstin. Ich fürchte, wir alle, die es gekannt haben, konnten seinen Verlust nicht verwinden. Cypher wird immer das bleiben, was es einmal gewesen ist. Nur jene, die kommen und gehen, ändern 106
sich.« »Eure Art, die Dinge zu sehen, gefällt mir«, entgegnete Lorini leise. »Und selbst die Anwesenheit meiner Finsteren Schwester ändert nichts daran. Vielleicht übt sogar die magische Kraft Cyphers einen gewissen Einfluß auf sie aus.« »Das könnte bereits geschehen sein. Und ihre Anwesenheit hier macht uns diesen Ort noch teurer.« »Ich verstehe Euch. Aber wollen wir jetzt nicht aufbrechen? Wir haben noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen.« »Ja, meine Fürstin. Ich habe gehört, daß unser guter Faragon Tyrons Pläne bezüglich des Goldenen Waldes ziemlich durcheinanderbringt. Er wird eine dieser alten Kreuzungen blockieren, die noch aus der Zeit der Drachenkriege existieren. Es paßt uns sehr gut, daß Tyron so verschwiegen ist; nicht einmal sein nächster Vertrauter kennt jenen Ort und weiß, daß man an dieser Stelle – ebenso wie über Calix Stay – von einer Welt in die andere gelangen kann. Seltsamerweise hat genau der Elf davon Kenntnis, der auch im Besitz eines der Fünf Geheimnisse ist.« »Eiorn muß seinem Sohn davon erzählt haben, als er ihm das Geheimnis übereignete. Damit ist er mit einem zusätzlichen Machtfaktor ausgerüstet.« »Der für ihn zu groß ist, wenn Ihr mich fragt. Genau wie das Geheimnis. Diese beiden Komponenten haben ihn wahrscheinlich veranlaßt, sich selbst zu überschätzen. Er glaubt, durch diesen geheimen Weg Dorini und Doraki entfliehen zu können, obwohl er, selbst wenn ihm die Flucht gelingt, ihnen nicht für immer entkommen kann. Irgendwie scheint sich sein ganzer Plan auf diese beiden Machtfaktoren zu stützen.« Greyfax verstummte. Während er redete, hatten die beiden sich immer weiter von Cypher entfernt. Jetzt warfen sie einen letzten Blick auf die Ruinen, die sich schwach vor einem fahlen Himmel 107
abzeichneten. »Und aus diesem Grund war es immer gefährlich, wenn einer von uns zu lange im Besitz des Schreins war«, fuhr er fort, als sie weitergingen. »Selbst eines der Geheimnisse zu hüten, barg eine gewisse Gefahr. Solange der Schrein alle Fünf Geheimnisse enthielt, hatte alles seine Ordnung, doch nachdem sie auf die verschiedenen Träger verteilt wurden, stellten sie eine Versuchung zum Machtmißbrauch dar. Eiorn besaß sein Geheimnis viel zu lange, und er erlag der Versuchung. Ja, er vermachte es sogar seinem Sohn, was niemals hätte geschehen dürfen.« »Soviel ich weiß, wäre es Urien Typhon fast gelungen, Tyron zu überreden, sein Geheimnis aufzugeben. Angeblich hat er beträchtlichen Einfluß auf die Waldelfen. Sie betrachten ihn als einen ihrer Führer.« »Das mag schon stimmen. Doch die Waldelfen haben den Wasserelfen nie ganz vertraut, zu denen Urien ja gehört. Außerdem glaube ich, daß Tyron auf Urien eifersüchtig ist. Doch Urien hat schon das letzte Stadium seines Aufenthalts in diesen Welten erreicht und eine ungeheuer positive Ausstrahlung. Solche Geschöpfe werden stets beneidet. Und diese Dinge geschehen ständig wieder. Aus irgendeinem Grund haben die Waldelfen sich immer unterlegen gefühlt.« »Aber sie stammen doch von denselben Vorfahren ab. Ich kann mich noch an unsere Feste erinnern. Das Schloß war voll von ihnen.« Lorini schüttelte den Kopf. »Ist das alles denn schon so lange her?« »Nicht so lange, daß ich es vergessen hätte«, entgegnete Greyfax. »Aber wie Ihr Euch sicherlich erinnert, war uns Uriens Volk ein unentbehrlicher Helfer in den letzten Jahren der Drachenkriege. Seine Elfen waren immer da zur Stelle, wo Gefahr drohte. Sie dienten uns treu und wurden dafür mit der freien Wahl ihrer Heimat belohnt. Die Waldelfen hingegen mischten sich nie gern in die Belange anderer ein, obwohl Eiorn – als einer der Ältesten – immer 108
gewissenhaft seinen Pflichten nachkam und uns manch wertvollen Rat gab. Doch irgendwie schlugen die Waldelfen einen anderen Weg ein und wollten mit den anderen Elfen und dem Ring des Lichts nichts mehr zu tun haben. Zum endgültigen Bruch kam es dann, als Eiorn beschloß, das Geheimnis nicht mehr zurückzugeben. Vielleicht wollte er auf diese Weise die Wasserelfen überflügeln, die ja nicht im Besitz eines der Geheimnisse waren. Sehr weise hatten sie sich geweigert, eines zu hüten.« Greyfax lächelte. »Die Wasserelfen wollten nach den Drachenkriegen ihre Ruhe haben und siedelten sich außerhalb der niederen Welten an. Nun leben dort fast ausschließlich Waldelfen und wollen ein geschütztes Reich haben, wo doch die einzige Zufluchtsstätte unser aller Heimat bei dem Einen ist. So kommt alles, wie es kommen muß.« Die Schloßruine lag jetzt weit hinter ihnen. Ohne ersichtlichen Grund blieb Greyfax plötzlich stehen und stieß einen langgezogenen Pfiff aus, der fast wie Taubengurren klang. Vor ihnen, auf einer kleinen Lichtung der alten Wälder Cyphers, trabten die großen silbergrauen Zauberrösser Anyim und Pelon auf sie zu. Beide Tiere verneigten sich vor Greyfax und Lorini, und Anyim barg schnaubend sein weiches Maul in der Armbeuge des Zauberers. Greyfax mußte lachen. »Mein guter Freund. Wie sehr habe ich dich vermißt. Das letzte Mal mußten wir uns so unerwartet trennen, und ich glaubte, dich viel eher wiederzusehen.« Anyim nickte und gab Greyfax einen freundschaftlichen Stups. »Aber komm. Wir müssen zu den Beginning Mountains aufbrechen. Dort gibt es viel zu tun.« Dann half Greyfax Lorini in Anyims Sattel. »Glaubt Ihr, meine Schwester wird sich bald zeigen?« fragte die Lichte Königin und umklammerte fest den Sattelknauf, obwohl Anyim wie aus Erz gegossen dastand. 109
»Das hoffe ich«, antwortete Greyfax. »Das unerwartete Erscheinen dieser beiden edlen Rösser läßt darauf schließen, daß etwas im Gange ist. Lange haben wir sie nicht benötigt, und ich nehme an, irgend jemand schickte sie zu uns, damit wir unverzüglich mit unserer Arbeit beginnen.« Lorini streichelte Anyims seidige Mähne. Sie war von den Pferden entzückt. »Schon oft habe ich mich mit diesem edlen Tier unterhalten, wenn es mit seinem Herrn nach Cypher kam«, sagte sie. »Doch ich hätte mir niemals träumen lassen, einmal auf seinem Rücken zu sitzen.« »Zum Glück haben wir diese hurtigen Verbündeten«, meinte Greyfax. Den Kopf hielt er lauschend zur Seite geneigt. »Diese Stille ist ebenso beklemmend wie Kanonendonner. Sie will mir nicht gefallen. Eure Finstere Schwester ist am Werk, da gibt es keinen Zweifel. Deshalb halte ich es für klüger, wenn wir uns nur eines Pferdes bedienen und Pelon ausschicken, Faragon zu suchen. Wenn jemand unseren jungen Hitzkopf finden kann, dann ist er es. Er kennt seinen Herrn und weiß, wo er sich aufhält.« »Treffen wir denn Fairingay?« fragte Lorini und blickte in Greyfax’ besorgtes Gesicht. »Nicht jetzt. Das würde unseren Plan stören. Und wir müssen aufbrechen, die Zeit drängt. Vielleicht hätten wir überhaupt nicht nach Cypher kommen dürfen, doch ich wollte, daß Ihr es noch einmal seht. Auch ich war von demselben Wunsch beseelt.« Lorini lachte. »Ihr seid ganz schön durchtrieben«, neckte sie ihn. »Davon habt Ihr nie gesprochen.« »Nun, es stimmt aber. Ich habe so viele fröhliche Stunden in diesem Schloß verbracht. Allein die Erinnerung daran stimmt mich glücklich und läßt mich den Verfall vergessen.« Dankbar drückte Lorini Greyfax’ Hand und sagte lächelnd: »Dann seid bedankt, daß Ihr mich hierhergebracht habt. Es hat mir neuen Mut gegeben, und jetzt geht es mir viel besser.« 110
»Wir sollten Pelon wegschicken. Er scheint es kaum noch erwarten zu können.« Der große Hengst stampfte ungeduldig mit den Hufen und wieherte leise. »Dann geh, alter Junge. Finde deinen Meister Faragon. Wir werden euch alle erwarten, wenn die Zeit gekommen ist.« Pelon verneigte sich, und schon war er wie der Wind verschwunden. »Er hatte es wirklich sehr eilig«, sagte Lorini lachend. »Ich glaube, er weiß genau, wo sich Faragon aufhält.« Greyfax, der hinter Lorini Anyim bestieg, nickte. »Selbst Pelon hat seine Rolle zu spielen.« »Ihr sprecht wieder einmal in Rätseln, mein lieber Greyfax. Wollt Ihr damit zum Ausdruck bringen, daß Ihr mehr wißt, als Ihr mir sagt?« Doch Greyfax wurde einer Antwort enthoben, denn schon hatte Anyim die Sonnenwiesen überquert und flog, sanft wie ein lauer Wind, durch die Lüfte, der sinkenden Sonne entgegen, zu den Beginning Mountains, wo sie ihr letztes Lager aufgeschlagen hatten. So hörten sie die Schreie und das Wehklagen nicht, als die Gefährten im Goldenen Wald nach einem ihrer Kameraden suchten, der plötzlich auf mysteriöse Weise verschwunden war.
17. Banges Warten Broko, Cranfallow und Ned waren als Nachhut zurückgeblieben, während die anderen mit Faragon gegangen waren, um Tyrons wohlgehütetes Geheimnis, eben jene Alte Kreuzung, unpassierbar zu machen. Sie warteten voller Unbehagen. Aus Minuten wurden Stunden, und noch immer waren ihre Kameraden nicht wieder da. Faragon hatte Broko instruiert, ein wachsames Auge auf Tyrons Elfen zu haben. Sollten welche auftauchen, so mußte er einen geschnitzten Elfenbeinring, der am 111
Ringfinger der linken Hand zu tragen war, drehen. Außerdem sollte er aufpassen, ob nicht andere Mitglieder des Rings des Lichts ihren Weg kreuzten. Broko, dem diese Aufgabe überhaupt nicht gefiel, hatte sich bitter beklagt. »Warum kann mich nicht jemand begleiten, wenn das alles so wichtig ist. Wie heißt es doch so schön: ›Vier Augen sehen mehr als zwei.‹« »Du bist sehr wohl in der Lage, allein damit fertig zu werden, alter Junge. Und ich brauche Olther und Flewingam. Was wir zu erledigen haben, ist sehr wichtig. Sonst wird dieser Krieg niemals ein Ende haben und noch dauern, wenn wir alle alt und grau sind. Aber Cranny und Ned werden dich begleiten.« »Warum kann ich nicht mit Euch gehen und Olther hierbleiben? Oder Flewingam?« beharrte Broko aufsässig, der sich einbildete, Faragon wolle ihn auf irgendeine Weise bestrafen. Denn schließlich hatte der junge Zauberer es unter einem Vorwand abgelehnt, den Schrein wieder an sich zu nehmen, und jetzt ließ er ihn auch noch schutzlos in einem vor Feinden wimmelnden Wald zurück, so dachte Broko. »Du könntest mich schon begleiten, alter Junge. Aber hier ist der Schrein in Sicherheit, sollte irgend etwas an der Alten Kreuzung schiefgehen. Mit alten Zaubersprüchen ist nicht zu spaßen. Manchmal kehren sie sich gegen den, der sie einst ausgesprochen hat. Und wir wissen nicht, was Tyron unternommen hat, um diesen Ausgang zu schützen.« Faragons Stimme bekam einen entschlossenen Ton. »Und deshalb, du Dickkopf, bleibst du hier auf deinem Wachposten. Erstens, weil ich unsere Freunde erwarte und sie wissen sollen, wohin ich gegangen bin und was ich dort tue. Und zweitens, weil ich den Schrein nicht unnötiger Gefahr aussetzen will.« »Ich glaube nicht, daß wir der Aufgabe gewachsen sind, aber wir tun unser Bestes«, ließ Ned Thinvoice ziemlich unwirsch verlauten. Er war gereizt und traurig, weil Broko sich seit kurzem 112
auf merkwürdige Weise verändert hatte. Er behandelte ihn und Cranfallow nicht mehr als Freunde, sondern wie Fremde. Er schien völlig die gemeinsam ausgestandenen Gefahren vergessen zu haben. »Ich weiß, daß du und Cranny hierbleiben müßt«, gab Broko giftig zurück. »Aber ich möchte wissen, warum ich hierbleiben soll. Es ist ungerecht, die größte Bürde lastet immer auf meinen Schultern.« Flewingam und Olther sahen Broko an, weil sie wissen wollten, ob er scherzte, doch er sprach mit großem Ernst. Da redete Faragon begütigend auf den Zwerg ein. »Ich weiß, es kommt dich hart an, deine Freunde in Gefahr zu wissen, aber ich habe einen guten Grund, dich um dieses Opfer zu bitten. Du würdest mir damit einen großen Gefallen tun.« Broko blähte sich wichtigtuerisch auf und räusperte sich. »Wenn das so ist, will ich natürlich Eurem Wunsch entsprechen, Faragon. Auch muß ich zugeben, der Gedanke, meine Freunde allein zu lassen, behagt mir nicht. Aber ich kann Eure Bitte guten Gewissens nicht ablehnen.« »Das verstehen sie sicher«, entgegnete Faragon. Er sah die Gefährten einen nach dem anderen an und fragte: »Das versteht ihr doch, nicht wahr?« Die Freunde nickten, obwohl sie weder wußten, was Faragon von ihnen erwartete, noch welch seltsame Laune über Broko gekommen war. »Gut. Cranny und Ned, ihr bleibt immer in der Nähe unseres Schrein-Trägers, so wie ihr es auch in der Vergangenheit gehalten habt.« Cranfallow nickte nur müde – dabei hob er den Blick nicht einmal von seinen Stiefelspitzen –, doch Ned Thinvoice machte seinem Herzen Luft. »Na, dafür werden wir wohl nicht viel Dank ernten«, sagte er schmollend. »Dieser eigensinnige Zwerg setzt doch immer seinen Kopf durch, wir werden dabei nie gefragt. Sollten wir jemals mit heiler Haut aus dieser Geschichte herauskommen, möchte ich niemals mehr etwas mit 113
Zwergen und ihren seltsamen Geschäften zu tun haben.« Als er die Bitterkeit in Neds Stimme hörte, blickte Cranfallow auf und sagte schnell zu Broko, der schon eine zornige Entgegnung machen wollte und dessen Gesicht puterrot angelaufen war: »Das meint er nicht so. Er hat nur ein bißchen Dampf abgelassen, weil er sich in diesem Land hier schlecht zurechtfindet.« »Du brauchst nicht für diesen ungebildeten faulen Affen zu sprechen«, erwiderte Broko gefährlich ruhig. »Er will doch nur das haben, was ich bei mir trage. Schon seit geraumer Zeit ist er dahinter her. Ein- oder zweimal wäre es ihm fast geglückt, da war ich verwundet und konnte mich nicht verteidigen. Jedenfalls verdanke ich es dir, Cranny, daß er sein Ziel nicht erreicht hat, obwohl ich auch dir nicht mehr vertraue. Ihr seid ja geradezu Busenfreunde.« Noch lange hätte der Zwerg so weitergeredet, doch Faragon unterbrach ihn zornig. »Jetzt ist es aber genug, du Blödian! Was für einen Unsinn du daherredest! Du wirst hierbleiben und nach Freund oder Feind Ausschau halten, so wie ich es dir befohlen habe. Und falls dir die Gesellschaft der beiden anderen nicht paßt, kannst du auf dieser Seite des Pfades Wache halten, während Cranfallow und Ned auf der anderen Seite Posten beziehen.« »Das ist nur gerecht«, murmelte Thinvoice wütend. »Und mir gefällt die Idee sehr gut«, brauste Broko auf. Dann erteilte Faragon noch letzte Instruktionen und war alsbald im dichten Wald verschwunden. Olther, dessen Herz vor Aufregung über den vorangegangenen Disput noch immer heftig klopfte, war an die Seite des schnell ausschreitenden jungen Zauberers geeilt. »Was ist denn nur los, Faragon? Ned und Broko waren doch immer Freunde, und jetzt sieht es aus, als würden sie sich gegenseitig die Ohren abreißen.« Faragon antwortete, ohne den Schritt zu verlangsamen 114
oder die geheimen Zeichen, mittels deren Hilfe er sich im Wald orientierte, aus den Augen zu lassen. »Wenn jemand im Besitz von etwas sehr Wertvollem ist, hat dieser Besitz früher oder später Einfluß auf seinen Charakter, und er glaubt, daß jeder ihm sein Kleinod stehlen möchte. Ob das der Wahrheit entspricht, spielt dabei keine Rolle. Und eben diese Erfahrung macht Broko durch, Olther. Der Heilige Schrein lastet mit seinem ganzen Gewicht auf ihm.« Faragon blickte nieder auf den verwirrten kleinen Otter, der nachdenklich die Stirn runzelte und nicht ganz zu verstehen schien. »Ich will es einmal so ausdrücken«, sprach er weiter. »Der Heilige Schrein ist die ganze Hoffnung der unteren Welten Windameirs. Mittels der Fünf Geheimnisse können wir uns von Dorini befreien und in unsere alte Heimat zurückkehren. Doch da die Geheimnisse nicht mehr im Schrein vereint sind, droht uns Gefahr. Zuviel Wissen ist oft gefährlich, mein kleiner Freund. Genauso wie zuwenig.« Olther sträubte die Schnurrhaare und wackelte mit den Ohren, zum Zeichen, daß er verstanden hatte. »Aber was hat das alles mit Broko zu tun? Und warum ist Ned so gereizt gewesen?« »Da sind Dinge am Werk, alter Freund, die nicht leicht zu erklären sind. Nur soviel sei gesagt: In diesem Wald beginnen schon gewisse Kräfte zu wirken, zum Beispiel Tyrons Pakt mit Dorini. Wir spüren alle den negativen Einfluß der Finsteren Königin, er ist förmlich in der Luft zu riechen. Ned und Broko haben sich gestritten, weil sie von Dorini finstere Gedanken empfingen. Sie nährt den Zwist. Außerdem dürfen wir nie vergessen, daß der arme Kerl ihr Gefangener war.« Olthers Augen wurden vor Erstaunen kugelrund. »Heißt das, sie kann das alles tun, selbst wenn sie nicht da ist?« »Oh, das ist eine ihrer wirksamsten Waffen, in manchen Welten jedenfalls. Sie sät Neid, Angst und Mißtrauen in die Herzen, und bald meint auch der Gutgläubigste, daß sein 115
Nachbar ihn berauben will, und ersinnt die häßlichsten Waffen zu seiner Verteidigung.« »Ich verstehe immer noch nicht, warum Broko derart unhöflich zu Ned war«, beharrte Olther. »Diese kleine Szene mußte stattfinden, Olther. Ich würde mir an deiner Stelle nicht mehr allzu viele Gedanken darüber machen.« Flewingam, der bis jetzt geschwiegen hatte, meinte: »Mir ist noch etwas an Broko aufgefallen. Er ist noch aufgeblasener als gewöhnlich. So als müßte er sich um jeden Preis verteidigen.« »Ja, das stimmt«, sagte Faragon und nickte. »Und in letzter Zeit behält er fast ständig die Hand in seinem Mantel. Zuerst dachte ich, er hätte sich verletzt, doch als ich ihn danach fragte, murmelte er nur etwas davon, daß er sich von mir nicht reinlegen lassen würde. Er würde mir nichts zeigen.« »Was wollte er dir denn nicht zeigen?« »Den Schrein«, beantwortete Faragon die Frage. »Er spürt das Gewicht des Schreins, wie ich schon sagte.« »Der Schrein?« fragte Olther. »Was, zum Himmel, hat der Schrein damit zu tun?« »Unser guter Broko steht unter großem Druck«, entgegnete Faragon. »Das würde uns allen passieren. Und das muß so sein, sonst gelangen wir nicht zu innerlicher Reife. Wir müssen uns selbst bezwingen.« »Und während wir uns selbst bezwingen, was ist das für eine Kreuzung, wo wir hingehen?« fragte Olther, der die günstige Gelegenheit wahrnahm und dem ungewöhnlich gesprächigen Faragon eine weitere Frage stellte. »Früher war sie unter dem Namen ›Alte Kreuzung‹ bekannt und geriet lange Zeit in Vergessenheit. Sie existierte schon vor den Drachenkriegen, doch bis vor kurzem wußte niemand genau, wo sie sich befand.« »Wäre es denn für Broko wirklich gefährlich, dort zu sein? Oder habt Ihr ihn aus einem anderen Grund 116
zurückgelassen?« fragte Olther. Faragon warf dem kleinen Kerl einen Seitenblick zu. »Was glaubst du denn?« fragte er amüsiert. Olther wurde sehr verlegen. »Ich weiß es nicht.« »Weißt du es wirklich nicht?« »Nun, Broko erzählte mir, daß Ihr ihn bestrafen und den Schrein wiederhaben wolltet.« »Das hat er gesagt? Sehr interessant.« »Und er sagte noch, wenn wir alle nicht äußerst vorsichtig wären, würden wir wie Fische in einer Reuse gefangen und zum Trocknen aufgehängt, und daß wir aus diesen Wäldern verschwinden müßten.« Da meldete sich Flewingam wieder zu Wort. »Und er will auch nicht zu den Beginning Mountains, sondern in seine alte Behausung, unterhalb des Berges, zurückkehren. Das wäre der einzige sichere Ort, so sagte er, wo die Finsternis nicht nach dem Schrein suchen würde.« Faragons Gesicht war zu einer Maske erstarrt, und weder Olther noch Flewingam konnten erkennen, was der junge Zauberer dachte. Schweigend ging er weiter, und alle Versuche, ihn zum Reden zu bringen, blieben erfolglos. Der Pfad durch den dichten Wald wurde immer unwegsamer, und die beiden stellten keine Fragen mehr, denn sie mußten aufpassen, wohin sie ihre Füße auf dem schlüpfrigen Boden setzten. Auch schwiegen sie jetzt, weil der Wald bedrohlich wirkte. Das helle Sonnenlicht war einem grünen Dämmerlicht gewichen, so als marschierten sie unter Wasser dahin. Nach einer Weile gab Faragon mit der Hand ein Zeichen, und alle drei verharrten und ließen sich leise zu Boden gleiten. Dort warteten sie mit angehaltenem Atem. Olther und Flewingam hatten nichts gesehen, doch sie fühlten die Anwesenheit von irgend etwas Fremdem, das ihnen sicherlich nicht wohlgesonnen war. Dann gingen sie weiter, doch schon kurz darauf gebot 117
Faragon ihnen, wieder stehenzubleiben. Voller Erstaunen blickten die drei auf eine Lichtung mitten im Herzen des Goldenen Waldes. Auf ihr standen große gemeißelte Steine. Auch andere Steine lagen dort, die eine Art Brücke bildeten, die jedoch nirgendwohin führte und nichts überquerte. Und dann war eine leise Musik zu hören. Hastig führte Faragon einen Zeigefinger an die Lippen, und die beiden verschluckten die Fragen, die sie stellen wollten. Dann setzten sie sich hinter den jungen Zauberer und warteten, Angst im Herzen.
18. Zeugnisse der Vergangenheit So saßen Olther und Flewingam da und spähten durch das dichte grüne Blattwerk auf die Lichtung. Als Olther noch auf den Sonnenwiesen lebte, hatte er Gerüchte über diese Lichtung gehört, jedoch eigentlich nie an ihre Existenz geglaubt. Jetzt sah er, daß es diesen geheimen Ort wirklich gab. Kreisförmig angeordnete, große Steine säumten den Rand der Lichtung, und jeder Stein war auf das kunstvollste behauen. So gab es dort Menschen, Elfen, Zwerge, Tiere und Drachen. Eine leise Flötenmusik erklang, die einschläfernd wirkte. Olther träumte von einem warmen Sommernachmittag am Fluß, wo die dicken Honigbienen von Blüte zu Blüte taumelten. Wie in Trance bewegte sich sein kleiner Körper hin und her, bis Faragon ihm einen rüden Stoß versetzte und ihm bedeutete, stillzusitzen. Flewingam, der neben Olther saß, blickte bleich und mit weit aufgerissenen Augen auf die Lichtung. Schweißtropfen perlten von seiner Stirn. Die Luft war schwer von den Düften des Waldes: Pinien , Fichten-, Tannen- und Harzgeruch und dem nach Moder. Olthers Nasenflügel bebten, und er mußte seine ganze Kraft aufwenden, um nicht in einen tranceähnlichen Schlaf zu versinken. 118
Faragon schien von der Verwirrung seiner Gefährten nichts zu bemerken, angestrengt starrte er auf die Lichtung und den sie umgebenden Wald. Einmal richtete er sich wachsam auf, und seine Augen schienen blaue Blitze auszusenden, den Mund hatte er fest zusammengepreßt; doch was immer seine Aufmerksamkeit erregt hatte, ging vorüber, und seine Züge nahmen wieder diesen wachsam gespannten Ausdruck an. Faragon hatte bisher keine Erklärung abgegeben, aber Olther wußte aus Erfahrung, daß die Ältesten des Rings des Lichts gewöhnlich sehr verschwiegen waren und erst dann redeten, wenn sie die Zeit dafür als gekommen erachteten. Zwar ärgerte er sich immer wieder darüber, aber weil er nichts ändern konnte, begnügte er sich damit, wachsam seine Umgebung zu beobachten. Er drehte sich zur Seite, um Flewingam einen beruhigenden Klaps zu geben, und als er das tat, sah er im dichten, grünen Unterholz eine schattenhafte Bewegung. Als er näher hinblickte, schienen die Büsche sich alle zu bewegen. Er zwinkerte mit den Augen. Nein, er hatte sich nicht getäuscht: Die Büsche bewegten sich. Und dazwischen tauchten kleine graublaue Nebelwölkchen auf. Aufgeregt wollte Olther Faragon darauf aufmerksam machen, doch der junge Zauberer schüttelte nur unwillig den Kopf und gebot wieder Schweigen. Da gab Flewingam Olther einen Stups und deutete mit der Hand auf eine gräuliche Masse, die sich auf sie zubewegte. Sie schien aus einer Art zähem Schleim zu bestehen, und ihre unförmigen Glieder wirkten wie von einem Sturm entwurzelte Bäume. Olther nickte und versuchte wieder, Faragons Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als er die Schulter des Zauberers berühren wollte, hörte er ein dumpfes Grollen, so, als würden tausend Trommeln auf einmal geschlagen, und das schon trübe Licht begann zu flackern. Erst wurde es noch dunkler, dann heller, und schließlich erglühte die Lichtung in einem rötlichen Schein, der einem fahlen 119
goldenen Nebel Platz machte. Olther hatte den Eindruck, der Nebel bestünde nicht nur aus dieser goldenen Farbe, sondern er könnte ihn auch hören. Und er hätte geschworen, ihn auch zu schmecken. Das Trommeln hatte aufgehört; nun ertönten zwei Instrumente – eine Violine, die von einer Flöte begleitet wurde. Flewingam und Olther hatten sich voller Angst aneinander geklammert. Das Gesicht des jungen Zauberers wirkte völlig entrückt, und in seinen Augen brannte ein goldenes Feuer. Er schien zu sprechen, obwohl kein Wort über seine Lippen kam. Dann lauschte er angestrengt. Mit einem Male und wie aus dem Nichts gekommen, stand General Greymouse neben Olther, und Bruinlens mächtige Gestalt trottete auf ihn zu. Unendliche Erleichterung erfüllte sein Herz, und die beiden Freunde umarmten sich glücklich. Doch sie hatten kaum Zeit, ihrer Wiedersehensfreude genügend Ausdruck zu verleihen, denn schon bahnte sich auf der Lichtung ein erneuter Wandel an. Die Bäume waren verschwunden, nur dichter, silbergrauer Nebel wallte über die Erde. Wirre Bilder tauchten in dem brodelnden Gewölk auf: Armeen zogen vorüber, begleitet von dumpfem Kampfeslärm. Ein heulender Sturm erhob sich und warf die Freunde zu Boden. Trotzdem starrten sie weiter gebannt auf die Visionen, die in schneller Reihenfolge wechselten: Menschen, Elfen, Zwerge und Tiere tauchten auf, verschiedene Landschaften aller Zeiten und Welten. Die Luft wurde noch drückender, der Wind blies heftiger, und das wallende Brodeln schien förmlich zu kochen. Olther sah Faragon und Greymouse voller Entsetzen an. Auch die beiden Zauberer waren beunruhigt. Da machte Faragon mit der Hand ein Zeichen gen Himmel, und sofort fing die Erde an zu beben, und Trommeln wurden geschlagen, Hörner geblasen. 120
»Schnell!« rief da Greymouse. »Haltet euch alle bei den Händen und wiederholt die Worte, die wir euch vorsprechen.« Die drei Gefährten taten, wie ihnen geheißen. Immer und immer wieder sagten sie die heiligen Worte, die die Ältesten vorsprachen. Die schreckliche Kriegsmusik dauerte an, und das Licht hatte einen schmutzigroten Ton angenommen. In diesem Chaos aus Visionen, Stimmen und wechselndem Licht hatte niemand bemerkt, daß Melodias zu ihnen getreten war. Er fügte sich in den Kreis der anderen ein, und gemeinsam kämpften die sechs gegen die Mächte der Finsternis. Geflügelte Ungeheuer umkreisten drohend ihre Köpfe und schlugen mit klauenbewehrten Tatzen nach ihnen. Da ertönte ein ohrenbetäubender Donnerschlag, und der ganze Spuk hatte ein Ende. Die leise Flötenmusik war wieder zu hören, und auch die Lichtung erstrahlte wieder in sanftem, goldenem Glanz. Zum ersten Mal, seit sie auf der Lichtung angekommen waren, schien Faragon erleichtert, und er warf einen lächelnden Blick in die Runde. »Ich glaube, wir haben es geschafft«, sagte er schließlich tief aufseufzend. Seine Stimme klang müde. »Ja, das haben wir«, bestätigte Melodias. »Das wird unserem frischgekrönten Elfenkönig überhaupt nicht schmecken, fürchte ich. Jetzt kann er durch dieses Tor weder Verstärkung heranholen noch fliehen. Der Ring des Lichts wußte schon lange von diesem Tor. Eiorn benutzte es einst, wenn auch nur geheim, und weihte Tyron in dieses Geheimnis ein. Doch jetzt wird Tyron das nichts mehr nützen, denn wir haben das Tor versiegelt.« »Was war denn nur los?« fragte Olther ganz benommen. »Mir dröhnt immer noch der Kopf.« »Da Eiorn im Besitz eines der Geheimnisse ist, verfügt er auch über eine gewisse Macht, die allein das Geheimnis verleiht, wie zum Beispiel sich unsichtbar zu machen oder auch den Wind zu kontrollieren«, entgegnete Melodias. »Die Gefahr dabei ist nur, daß man sich eines Tages ebenso 121
mächtig wie der Herrscher Windameirs selbst fühlt.« »Habt Ihr das gemeint, Faragon? Daß Broko dem Zauber des Heiligen Schreins verfallen könnte?« fragte Olther. Faragon blickte lächelnd seinen kleinen, grauen Freund an, ehe er antwortete. »Wir alle könnten dieser Versuchung nicht widerstehen«, sagte er dann. »Das hängt nicht von unserem Willen ab. Doch wir müssen sie durchmachen, damit wir eine höhere Stufe in unserer Existenz erreichen.« Kaum hatte Faragon zu Ende gesprochen, ertönte ein hoher, schriller Angstschrei. Er schien ganz aus der Nähe zu kommen. »Schnell!« befahl Melodias. »Das können nur unsere Gefährten sein, die auf uns warten. Geht ihr zu ihnen, und wir setzen unsere Reise zu Greyfax und Lorini fort.« »Ja. Es ist am besten, wenn wir uns trennen«, stimmte Greymouse zu. »Das wird Tyron verwirren. So muß er auf mehr als einen Hasen Jagd machen. Und unser guter Faragon kann Broko und dessen Kameraden begleiten.« Da tauchte hinter den Bäumen der Lichtung ein silbergrauer Schatten auf und erschreckte Olther, Bruinlen und Flewingam. Doch Faragon trat schnell vor und stieß einen melodischen Pfiff aus. Sofort kam Pelon hinter den Bäumen hervor und verneigte sich höflich vor seinem Herrn und den anderen. »Dieser Verbündete ist mir mehr als willkommen«, sagte Faragon. »Er wird uns gute Dienste leisten. Ich werde ihn schon vorausschicken, zu Broko und den anderen. Wahrscheinlich haben sie um Hilfe gerufen, doch Pelon wird mit jedem Feind fertig.« Da war ein zweiter Hilferuf zu hören, und Pelon entschwand so schnell, wie er gekommen war. Auch Melodias und Greymouse waren von einem Augenblick auf den anderen nicht mehr zu sehen, und Faragon eilte an der Spitze des kleinen Trupps den Weg zurück, den sie vor nicht allzu langer Zeit gekommen waren. Hinter ihnen ertönte der zornige Ruf eines Signalhorns, 122
der deutlich machte, daß die Gefährten im Goldenen Wald keineswegs willkommen waren. Doch Broko hatte zu dieser Stunde schon seinen eigenen Weg eingeschlagen, zu dem einzigen Ort, wo er sich in Sicherheit wähnte: seiner alten Behausung, tief unten im Berg. Und so ging er allein der sinkenden Sonne entgegen, die die Gipfel der Bergkette vor ihm vergoldete.
19. Tyron und Doraki »Für diesen Verrat werden sie mir bitter bezahlen! Ich werde sie alle an den höchsten Bäumen des Goldenen Waldes zum Lohn für diese Unverschämtheit aufhängen!« rief Tyron, während er wütend in der langen, dunklen Halle auf und ab schritt. Schon hatte er den Bau eines neuen Schlosses in Angriff genommen und befohlen, alle noch verwendbaren Bauelemente aus Cypher in den Goldenen Wald zu transportieren, weil seine neue Residenz so weit wie möglich Lorinis altem Schloß gleichen sollte. Doch im Augenblick ruhten die Arbeiten, denn die Elfen hatten alle Hände voll zu tun, nach umherstreifenden Fremden – und vor allem den Mitgliedern des Rings des Lichts Ausschau zu halten, die verbotenerweise sein Königreich betreten hatten und noch die immense Kühnheit besaßen, das alte Tor zu den unteren Welten Windameirs zu zerstören. Eine Tatsache, die Tyron empfindlich getroffen hatte. Denn bei Bedarf hätte er zusätzliche Truppen einschleusen oder unerwünschte Elfen aus seinem Reich entfernen können. Wieder stieg Zorn in ihm auf, und er ergötzte sich schon an Rachegedanken, als ein Page die Ankunft des Finsteren Fürsten meldete. Tyron erstarrte, denn er konnte kaum die Anwesenheit dieses eiskalten Mannes ertragen, dessen tote Augen jedes Lebewesen mit Horror erfüllten. Jedoch war die Angst des Elfenkönigs nicht allzu groß vor Doraki, 123
denn Tyron gebrauchte sein Geheimnis immer als eine Art Schutzschild gegen die Finsternis. Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen, denn Doraki hatte die Halle betreten. Falls Tyron überrascht war, so ließ er es sich nicht anmerken. »Was wünscht Ihr von mir?« fragte er kurz angebunden. In Dorakis toten Augen glomm ein grausames Licht auf, und ein häßliches Lächeln verzerrte seine Lippen. »Welch kühner Sprache du dich heute bedienst«, sagte Doraki mit tiefer, angenehmer Stimme. »Vielleicht soll sie dir helfen, uns zu erklären, warum du uns die Existenz jener geheimen Pforte verschwiegen hast? Und wie es dazu kommen konnte, daß diese elenden Bastarde vom Ring des Lichts sie zerstören konnten? Wie du genau weißt, ist es uns unmöglich, unsere Truppen auf die Sonnenwiesen zu transferieren ohne eine solche Pforte, denn Calix Stay verwehrt ihnen die Überquerung. Und du hast uns dieser Möglichkeit beraubt. Ihre Finsternis ist über diesen mangelnden Vertrauensbeweis außerordentlich betroffen. Um diesen Fehler wieder gutzumachen, wirst du ihr eine Eskorte schicken. Dorini plant eine Reise in die Regionen südlich deines Waldes und in die Berge. Es wird sich sehr positiv auswirken, wenn deine loyalen Elfen in unserer Begleitung gesehen werden.« »Wie können meine Untertanen Dorini schon nützlich sein? Ich wünsche keine Kontakte zu anderen außerhalb meines Königreichs. Und mein Volk hat seit Beendigung der Drachenkriege auch keine Verbindungen zu anderen Völkern gehabt. Ihr könnt ihr ausrichten, sie soll sich jemand anders zu ihrer Begleitung aussuchen«, gab Tyron so ruhig wie möglich zurück. Doraki warf den Kopf in den Nacken und lachte bösartig. »Ihre Finsternis wünscht, daß du die Kunde verbreitest, sie sei auf der Reise diesseits vom Calix Stay«, sagte der Finstere Fürst drohend. »Glaube nur nicht, der Anblick von ein paar hochmütigen Elfen ist der wahre Grund unseres 124
Ansinnens. Nein, was uns allein am Herzen liegt, ist Rache zu nehmen, weil man uns die Pforte zu den Sonnenwiesen verschlossen hat.« Tyron kämpfte seinen Zorn über Dorakis beleidigenden Ton nieder. Er brauchte Dorini und den Finsteren Fürsten, sonst blieb das Reich für sein Volk ein Traum. Obwohl er um das Risiko wußte, wenn er sich mit ihnen einließ, wagte er dieses gefährliche Spiel. Ja, er würde nicht einmal zögern, Lorini für seine Ziele zu gebrauchen, wenn er nur wüßte, wie er sie erreichen könnte. Doch er hielt Lorini für die schwächere der Zwillingsschwestern und hatte deshalb lieber mit der stärkeren verhandelt. Doraki war ein unerbittlicher Gegner, dachte Tyron, Herr über die letzten Nachfahren der Drachen, die Große Vernichterin des Feuers und den Schrecklichen Verschlinger der Sonne. Er war so tückisch wie eine Viper, das wußte Tyron, er wußte aber auch, daß er eine höchst wirksame Waffe gegen ihn in der Hand hatte: sein Geheimnis. Und eben dieses Geheimnis gab ihm auch Macht über Dorini, denn nur mit dessen Hilfe konnte sie jemals in den Besitz des Heiligen Schreins gelangen und damit die unteren Welten beherrschen. »Ich bin noch immer nicht von der Notwendigkeit, daß meine Elfen Ihre Finsternis begleiten, überzeugt«, sagte Tyron. »Ihr Ansinnen wird meinen Untertanen überhaupt nicht gefallen, da ich ihnen versprochen habe, sie bräuchten den Goldenen Wald nie wieder zu verlassen.« »Ich sehe, ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt«, entgegnete Doraki und spielte mit einer silbernen Kugel, die er von Tyrons Schreibtisch genommen hatte. »Ihre Finsternis erwartet deine volle Unterstützung. Das ist das wenigste, was du tun kannst, um den angerichteten Schaden wieder gutzumachen. Außerdem wünscht sie, daß du ihr persönlich eine Erklärung abgibst.« 125
Noch ehe Tyron Einwände machen konnte, sprach Doraki weiter. »Sonst würde sie sich gezwungen sehen, dein kleines Königreich hier zu zerstören.« Tyron wurde blutrot und schwieg. »Und was wünscht sie sonst noch?« fragte er schließlich. »Nichts weiter. Und der Preis für das, was du bekommst, ist wahrhaftig gering. Sie behandelt dich sehr gnädig. Ihre Forderung ist bescheiden. Du sollst ihr nur für kurze Zeit ein paar deiner Männer zur Verfügung stellen. Wie du deine Leute von dieser Notwendigkeit überzeugst, bleibt dir überlassen. Ihrer Finsternis würdest du mit dieser Geste eine große Freude bereiten. Und man tut immer gut daran, ihr eine Freude zu machen. Sie zum Feind zu haben, ist bisher noch niemandem bekommen.« »Wie kann ich sicher sein, daß sie nicht noch mehr von mir fordert?« fragte Tyron argwöhnisch. »Ich kann meinen Leuten nicht befehlen, sich jenseits des Goldenen Waldes aufzuhalten. Nicht, nachdem ich ihnen mein Versprechen gegeben habe, sie könnten hier in Ruhe und Frieden leben.« »Ich gebe dir mein Wort, mehr verlangt sie nicht von dir. Ihre Finsternis unterstützt nur deine ehrgeizigen Pläne. Und wir müssen schnell handeln, um diesen infernalischen Ring des Lichts in seine Schranken zu verweisen. Er darf auf keinen Fall glauben, daß wir diesen Affront nicht mit gleicher Münze heimzahlen.« Tyron schritt nachdenklich zu einem niedrigen Fenster, das auf den Innenhof hinausblickte. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Nun gut. Ich werde ihr die Eskorte schicken.« »Ihre Finsternis wird entzückt sein zu hören, daß du ihren Wünschen so großzügig entgegenkommst«, entgegnete Doraki höhnisch. Mit großartiger Gebärde schlug er sein Cape zurück und nahm aus seiner Westentasche einen kleinen Gegenstand, den er auf Tyrons Schreibtisch legte. Dann verließ er die Halle ohne ein weiteres Wort. 126
»Den wäre ich los!« seufzte Tyron. Sein Herz war schwer, weil er wußte, daß er das seinen Untertanen gegebene Versprechen brechen mußte. Dann ging er zu seinem Schreibtisch, um zu sehen, was Doraki dort hingelegt hatte. Als er das kleine schwarze Ding erkannte, entfuhr ihm ein Schreckenslaut. Dort lag der Ring der Heiligen Eiche, den sein Vater immer getragen hatte und mit dem er bestattet worden war. Das ganze Leben hatte sein Vater diesen Ring getragen; niemandem war gestattet worden, ihn auch nur zu berühren, und am Tag seiner Reise in die Oberen Sphären hatte er noch lächelnd auf den Ring gedeutet und gesagt, daß der Ring ihn nun zur Belohnung in die Heimat bringen würde. Doch irgendwie mußte Dorini das geheime Grabgewölbe, wo Tyron seinen Vater bestattet hatte, entdeckt haben. Und da sie jetzt sogar Zutritt zu dieser Grabstätte hatte, konnte nicht stimmen, was sein Vater ihm als alleinige Wahrheit verkündet hatte. Verzweifelt erkannte Tyron, daß die Zufluchtsstätte, die er seinem Volk geben wollte, ebenso unsicher war wie die geheime Pforte, durch die sein Vater die Sonnenwiesen verlassen hatte. Tyron betrachtete den Ring in seiner Hand nachdenklich, und zum ersten Mal stiegen leise Zweifel in ihm auf. Er fürchtete sich vor der Finsteren Königin, die mit Leichtigkeit jede seiner Verteidigungsmaßnahmen zunichte machen konnte, und eine eisige Hand griff nach seinem Herzen. Doch gleichzeitig keimte eine schwache Hoffung in ihm auf, und er war sicher, daß er in Faragon Fairingay und Cybelle neue Verbündete finden würde. Auch sie waren mächtig und Dorini und Doraki ebenbürtig. Dieser Gedanke milderte die unbändige Angst, die Tyron vor dem Treffen mit der Finsteren Königin hatte.
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20. Broko verschwindet Ned Thinvoice betrachtete die tiefstehende Sonne, die nicht untergehen wollte. Er saß unter dem Blätterdach eines großen Baumes, tief in Gedanken versunken, und nahm kaum noch die Anwesenheit Brokos und Cranfallows wahr. Er erinnerte sich dunkel an etwas, das irgend jemand einmal zu Beginn seiner Bekanntschaft mit diesem aufgeblasenen Zwerg gesagt hatte. Das war jetzt schon lange her, und seitdem war er von einer gefährlichen Situation in die nächste geraten. Broko war damals vor dem Tor der befestigten Stadt erschienen und hatte nach seinen beiden Freunden Olther und Bruinlen gesucht. »Du läßt dich am besten nicht mit Zwergen und ähnlichem Gesindel ein«, hatte ein Kamerad, der später von den Worlughs erschlagen wurde, ihm geraten. »Sie bringen nur Unglück und dich in ein frühes Grab.« Und genau das war geschehen, denn irgendwie war er »tot« und jetzt in einem Land, das er trotz aller seiner Vorstellungskraft noch immer nicht begreifen konnte, obwohl es ihm nicht mehr seltsam vorkam, daß die Sonne weder auf- noch unterging und es somit auch keine Nacht gab. Seltsam war nur, daß er so wenig Schlaf brauchte. Kaum hatte er sich hingelegt, erwachte er schon wieder, erfrischt und ausgeruht. Ja, das ist sonderbar, dachte er, doch nicht im entferntesten so sonderbar, wie sich Broko seit ihrer Ankunft hier auf den Sonnenwiesen benommen hatte. Selbst Cranny, der die Langmut in Person war, beklagte sich über Brokos hochmütige Art, ganz zu schweigen von der Weise, wie der Zwerg alle anderen behandelte. Und diese Beleidigungen waren immer häufiger und unverschämter geworden. Zuerst hatte Ned dieses Verhalten einer großen Übermüdung Brokos zugeschrieben, nachdem er so lange die schwere Bürde des Heiligen Schreins getragen hatte, doch dann merkte er, daß etwas anderes 128
dahinterstecken mußte. Selbst dem Zauberer Faragon, einer der Ältesten des Rings des Lichts, waren die Beleidigungen des Zwerges nicht erspart worden. Während die drei jetzt auf die Rückkehr ihrer Gefährten warteten, überdachte Ned noch einmal, welch verletzende Bemerkungen Broko gemacht hatte. »Er merkt überhaupt nicht, daß wir empfindsame Menschen aus Fleisch und Blut sind«, murmelte Ned vor sich hin. »Das interessiert ihn einen Pfifferling.« Doch irgendwo tief in seinem Herzen fühlte Ned: Dies war nicht der richtige Broko. Aber er war verärgert und verwirrt über dieses Gebaren seines Zwergenfreundes. Cranfallow stand auf, reckte sich und schlenderte zu Ned hinüber. »Ich kann nirgendwo etwas entdecken. Du etwa, Ned?« fragte er und drehte den Kopf in alle Richtungen. »Ich habe nicht mal das Schnurrhaar einer Haselmaus gesehen, seit die anderen gegangen sind. Irgendwie gefällt mir das nicht, Cranny.« »Ich bin ja bei dir, Ned.« »Wenn ihr endlich aufhören würdet zu schwätzen, könntet ihr eure Augen besser gebrauchen«, sagte Broko da sarkastisch. Auch er hatte sich erhoben und stand jetzt neben den beiden Freunden. Ohne ihnen einen Blick zu gönnen, redete er weiter. »Ich weiß, es ist fast zuviel verlangt, euch dieses sinnlose Geschwätz zu verbieten, aber ich hätte gern, daß einer von euch auf einen Baum klettert und mal Ausschau hält.« »Nun, das Klettern gehört nicht gerade zu den Künsten, die ich liebe. Außerdem hab ich mich verletzt«, sagte Cranny und klopfte gegen sein Knie. »Ich gehe auch nicht da rauf, Cranny«, stimmte Ned zu. »So hoch oben wird mir immer schwindelig.« 129
»Ach, geht doch zum Teufel, ihr beiden!« schnaubte Broko wütend. »Ich wußte doch, daß ihr meine Bitte ablehnen würdet. Ihr habt eben keinen Respekt vor mir. Wenn ich nicht so gutmütig wäre, würde ich euch windelweich prügeln, um euch Manieren beizubringen.« »Nun, Herr Gernegroß, genau dasselbe hättet Ihr eigentlich verdient«, sagte Ned bissig. »Laß ihn in Ruhe!« warnte Cranny seinen Freund. »Wir sind nicht hier, um zu streiten. Mir schwant, Faragon hat uns aus einem ganz bestimmten Grund hiergelassen, den er uns aber nicht auf die Nase gebunden hat.« »Gerade das wollte ich euch eben sagen«, keifte Broko wütend. »Und deshalb wäre es gut, einer von euch würde auf einen Baum klettern, um zu sehen, ob er irgendwas entdecken kann.« Cranfallow sah erst Ned an, dann Broko. »Damit wir nicht ausknobeln müssen, wer von uns auf den Baum klettert, schlage ich vor, wir tun es alle beide.« Ned wollte schon protestieren, da merkte er, daß Cranfallows Vorschlag Broko ärgerte. »Ganz recht, Cranny, mein Junge. Du steigst auf den hier, und ich nehme diesen.« »Und wenn ihr etwas seht, berichtet ihr es mir sofort!« befahl Broko wichtigtuerisch und betastete irgend etwas in seinem Mantel. »Falls Gefahr droht, muß ich Faragon warnen.« »Macht Euch keine Sorgen, wir kümmern uns schon darum«, entgegnete Ned, und die beiden machten sich ans Klettern. Unter vielem Ächzen und Stöhnen waren sie bald hoch oben in den Bäumen und konnten sich einen guten Überblick verschaffen. Rechts und links von ihnen erstreckte sich meilenweit das Grün des dichten Waldes, hie und da von kleinen Lichtungen unterbrochen. Doch direkt vor ihnen sahen sie weites, offenes Land, das vom Band eines silbernen Flusses durchzogen war. Dahinter erhob sich in der Ferne die dunstigblaue Silhouette eines Gebirges. 130
Ned konnte Cranfallow, der im dichten Geäst saß, kaum sehen. Die beiden machten es sich bequem, und obwohl Ned es kaum zugegeben hätte, freute er sich, Broko verärgert zu haben. Der Zwerg aber schäumte innerlich vor Rage, weil die beiden nichts von sich hören ließen, und er schwor diesen undankbaren Kerlen, die es wagten, sich als seine Freunde zu bezeichnen, Rache. Jetzt wußte er endlich, daß sie sich nur bei ihm eingeschmeichelt hatten, um seine Gunst zu gewinnen. »Ich weiß nicht, warum ich sie nicht schon längst durchschaut habe«, sagte Broko laut. »Ständig hingen sie an meinem Rockzipfel und haben mich ausgenützt, und nie habe ich ein Dankeschön von ihnen bekommen.« Er schnaubte verächtlich und dachte, daß sogar Faragon ihn für seine Zwecke mißbrauchte. Ihm, Broko, hatte der Zauberer die Bürde des Heiligen Schreins auferlegt und sich geweigert, das Kleinod wieder an sich zu nehmen, weil neue Gefahren drohten. Faragon würde den Schrein erst wieder fordern, wenn es ihm opportun erschien, und alle damit verbundene Ehre allein für sich beanspruchen. Was zählte schon in den Augen der Ältesten des Rings des Lichts so ein lächerlicher kleiner Gnom, der nur dazu taugte, Geschichten zu erzählen oder köstliche Zwergenkuchen zu backen? Broko verzog das Gesicht zu einer häßlichen Grimasse. »Aber diese Suppe werde ich ihnen versalzen«, sagte er wieder laut, während seine Hand nochmals in seinen Mantel fuhr und den Heiligen Schrein umklammerte. »Es ist überhaupt nicht schwierig, Greyfax und Lorini von hier aus zu erreichen. Gut zu Fuß bin ich ja. Außerdem kenne ich mich besser als die anderen in dieser Gegend aus. Mich benutzen sie doch nur als Führer, und hinterher geben sie mir einen Fußtritt. Wenn jemand Cybelle retten und den Schrein sicher zu Greyfax bringen kann, bin ich das.« Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Warum soll 131
ich den Schrein überhaupt abgeben? Tyron der Grüne hat sein Geheimnis auch die ganze Zeit behalten und wurde dafür nicht bestraft. Und mir wurde eines der Geheimnisse von meinem Vater übergeben, der es von Greyfax selbst hatte. Ich habe dieselben Rechte wie Tyron.« Eine vage Idee nahm Gestalt in seinem Kopf an, und während er diese neue Möglichkeit von allen Seiten betrachtete, mußte er lächeln. »Dann gründe ich mein eigenes Cypher«, murmelte er. »Und Cybelle wird mich dann in einem ganz anderen Licht sehen, als Träger des Heiligen Schreins und Hüter eines der Fünf Geheimnisse.« Broko kicherte und rieb sich die Hände. »Natürlich werden jene, die mir treu gedient haben, belohnt«, sprach er weiter und strich sich nachdenklich übers Kinn. »Bruinlen und Olther waren von Anfang an mit mir zusammen, sicher findet sich für sie ein Platz als Minister oder Ratgeber.« Da verdunkelte sich sein Gesicht vor Wut. »Aber sicherlich habe ich keinen Platz für jene, die mir nicht gehorcht haben«, rief er laut und spähte in die Baumkronen über ihm. Doch er konnte Ned und Cranfallow nirgends entdecken, obwohl er ihren Aufstieg beobachtet hatte und wußte, in welchen Bäumen sie saßen. Erst nach sorgfältiger Beobachtung konnte er sie entdecken. Broko spann gerade seine Träumereien über sein Königreich, wo er es errichten würde und wie er es nennen sollte, als Cranfallow einen fast unhörbaren Pfiff ausstieß, den Ned ebenso beantwortete. Dann herrschte wieder Stille. Broko wollte sich gerade laut beschweren, warum man ihn nicht informierte, als ihm der Gedanke kam, daß die beiden sicher laut geredet haben würden, hätten sie irgend etwas Harmloses entdeckt. Da er nicht sehen konnte, welche Gefahr sich näherte, und die beiden ihm durch das dichte Blattwerk der Bäume kein Zeichen geben konnten, raffte der Zwerg seinen Mantel zusammen, preßte den Schrein 132
fest gegen sein wild klopfendes Herz und eilte in die Richtung der Beginning Mountains. Es war ihm völlig gleichgültig, was aus Cranfallow, Ned und den anderen wurde, und er beschloß, in die Geborgenheit seiner alten Behausung, tief unten im Berg, zurückzukehren. Die anderen würden auch ohne ihn zurechtkommen, denn er, nicht sie, war der größten Gefahr ausgesetzt, weil die Finstere Königin unbedingt den Schrein in ihren Besitz bringen wollte. Und in seiner Eile, das schützende Unterholz im Herzen des Waldes zu erreichen, sah er nur einen Schatten des großen Pferdes, das freudig auf ihn zugaloppierte. Der Anblick dieses Wesens hatte ihn zu Tode erschreckt, und er eilte, so schnell er konnte, weiter und war schon außer Hörweite, als Ned rief, daß ihre Kameraden zurückkämen. Weder Cranfallow noch Ned vermuteten, daß Broko ihr Pfeifsignal falsch verstanden haben könnte. Doch als sie die Bäume hinabkletterten, wurden sie nur von Pelon begrüßt. Sie fanden keine Spur von dem Zwerg. Sie riefen laut nach ihrem Gefährten, und daraufhin kamen Faragon und die anderen angerannt. Doch Broko war und blieb verschwunden, so als hätte die Erde sich aufgetan und ihn verschluckt. Mitten im Goldenen Wald.
21. Königreiche und Höhlen Broko, in der Ferne die blaue Silhouette der Bergkette vor sich, marschierte drauflos – sein Herz klopfte, und den Kopf hatte er voller Träume von Großartigkeit, wie sie noch kein Zwerg vor ihm geträumt hatte. In seiner Verwirrtheit dachte er, wie klein und bescheiden doch alle unterirdischen Zwergenbauten gewesen waren, die Coin und Eoin jenseits des Großen Flusses geschaffen hatten. Die Werke seiner Vorfahren würden ein Nichts gegen das Königreich sein, das er in seiner Phantasie errichtete. Und 133
alle diese Träume waren zu verwirklichen, denn er hielt den Schlüssel zur Macht Windameirs in den Händen. Er verlangsamte den Schritt und dachte einen Augenblick lang an seine Freunde: Bruinlen, Olther, Faragon, Greyfax, Cybelle und Lorini, doch dann ging er schnell weiter. »Ich werde sie einladen«, murmelte er fest entschlossen, um diese bohrende Stimme tief in ihm zu beschwichtigen. »Und vielleicht wird Cybelle dann meine Königin. Das ist eine gute Idee, denn dann kann der Ring des Lichts mir nichts mehr nachtragen. Die Ältesten werden sich bald keine Sorgen mehr zu machen brauchen, daß der Schrein in Dorinis Hände fallen könnte. Bei mir ist er sicher aufgehoben, und wenn ich erst einmal meinen Bestimmungsort erreicht habe, setze ich ihn nie wieder einer Gefahr aus.« Ein kalter Wind schien sich erhoben zu haben, obwohl sich weder Blätter noch Äste bewegten. Broko schlug den Mantelkragen hoch und eilte weiter. »Ich werde meinen Freunden Gästezimmer einrichten«, fuhr er fort, um die Kälte, die er plötzlich spürte, zu verjagen. »Und immer für Bruinlen seinen Lieblingshonig und für Olther frische Beeren bereithalten«, schloß er und warf seinen Blick über die Schulter. Spielten seine Augen ihm einen Streich, oder hatte er wirklich ein großes Pferd gesehen? Der Anblick hatte ihm Furcht eingejagt, und er ging noch schneller. Plötzlich machte ihm der Gedanke, Faragon oder einem Mitglied des Rings des Lichts zu begegnen, ebensolche Angst. Und aus Gründen, die ihm gar nicht bewußt wurden, verließ er den schmalen Waldpfad und hielt sich dicht im Schatten der großen Bäume. »Es ist wichtig, daß mich niemand findet«, sagte er zu sich, »sonst könnte meine Anwesenheit hier noch von jemand Unerwünschtem entdeckt werden. Man kann in diesen Zeiten niemals vorsichtig genug sein.« Und während er so dahinging, schien ihn irgend etwas zu 134
belasten, denn seine Schultern beugten sich immer mehr, bis er sich schließlich wie ein Krebs vorwärtsbewegte, die Augen angstvoll aufgerissen. »Olther erzählte mir, er und Flewingam wären auf einen falschen Zauberer getroffen, der Faragons Identität angenommen hatte. Wie kann ich wissen, ob der Faragon, mit dem ich gesprochen habe, echt ist? Oder Olther. Hier ist es leicht, jede beliebige Gestalt anzunehmen. Wie kann ich sicher sein, ob es sich auch wirklich um die betreffende Person handelt?« Die Furcht hatte wie klebrige Spinnweben nach ihm gegriffen, und er verstrickte sich immer mehr in diesem tödlichen Netz. »Nur in den Bergen bin ich sicher«, murmelte er vor sich hin. »Es wird nicht schwer sein, meine alte Behausung wiederzufinden. Dort bin ich in Sicherheit und kann mich ausruhen und entscheiden, was zu tun ist.« Fest umklammerte Broko mit einer Hand den Schrein in seinem Mantel, und ohne daß es ihm bewußt wurde, wanderten seine Gedanken wieder zu seinen Freunden Greyfax und Faragon. Ein nie gekannter Kummer übermannte ihn, und er blieb stehen und starrte blicklos vor sich hin. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und schloß die Augen. Ein Schluchzen schüttelte ihn. Er fühlte sich, als hätte er hohes Fieber, und wischte sich noch einmal die Stirn ab. »Im Namen des großen Coin, was tue ich nur?« brach es aus ihm heraus. »Ich muß zu Ned, Cranny und Faragon zurückkehren, ehe sie mich vermissen.« Doch dieser Entschluß währte nicht lange, denn diese unbegreifliche Angst in ihm gewann wieder die Oberhand. Er wußte nur, daß er Faragon oder einem anderen Mitglied des Rings des Lichts auf keinen Fall begegnen wollte. Und er machte sich wieder auf den Weg, in Richtung der Berge. Seine Gedanken verwirrten sich, und er konnte nur noch an Cybelle denken und ihre Gefangenschaft in den eisigen Kerkern der Finsteren Königin. Ja, er, Broko, würde sie befreien. War er nicht einst aus demselben Kerker 135
geflohen? Ihm, einem einfachen Zwerg, war diese Flucht gelungen, außer natürlich den mächtigen Zauberern Greyfax Grimwald und Faragon Fairingay. Und zu jener Zeit war er nur im Besitz eines der Fünf Geheimnisse gewesen. Seine Hand umfaßte den Heiligen Schrein noch fester. »Und nun«, frohlockte er, »bin ich im Besitz von vier Geheimnissen und unbesiegbar. Dorini kann Cybelles Befreiung nicht verhindern.« Ein bleiches Feuer glomm in Brokos Augen, und er träumte von dem Ruhm, der ihm durch Cybelles Befreiung zuteil werden würde, und der Dankbarkeit, die sie ihm entgegenbrächte. Dann könnte er sie zu seiner Königin machen, das wäre nur natürlich. »Aber da ist immer noch dieser verfluchte Fairingay!« sagte er plötzlich laut. »Ich hatte ganz vergessen, daß sich Cybelle in seiner Gesellschaft so wohl fühlt. Aber vielleicht schätzt sie ihn nur als amüsanten Unterhalter und ist gar nicht in ihn verliebt.« Er hatte sich derart in seine Zuneigung zu Cybelle hineingesteigert, daß er beschloß, sein neues Königreich Cypher zu nennen. Und natürlich würde er Lorini dort auch eine neue Heimat geben, in der Nähe ihrer Tochter. Während Broko diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte er seinen Schritt beschleunigt, so, als würde ihn die Ankunft an seinem Bestimmungsort seinem Ziel näher bringen. Er ging immer schneller und rannte fast. Stolpernd kämpfte er sich seinen Weg durch das dichte Gestrüpp des Goldenen Waldes, und bald waren seine Hände und sein Gesicht von Dornen zerkratzt. Er war schon ein gutes Stück vorangekommen, als er müde wurde und sich schwer auf einen moosbewachsenen, umgestürzten Baumstamm fallen ließ, um wieder zu Atem zu kommen. Er wußte nicht, wie lange er schon lief oder aus welchem Grund; jedes Zeitgefühl in diesem dichten Wald war ihm 136
abhanden gekommen. Doch kam Broko die Gegend jetzt irgendwie bekannt vor. Seine Augen tränten, und auf seiner Stirn standen feine Schweißtröpfchen. Ja, hier bin ich schon gewesen, dachte er, und diese Gewißheit brachte ihn wieder auf die Beine. Sein Atem hatte sich wieder beruhigt, und langsam, um seine Kräfte zu sparen, ging er weiter. Vor ihm, nicht mehr als zwölf Schritte entfernt, entdeckte er ein dunkles Loch, das mit Stechginster zugewachsen war, dennoch konnte er die Öffnung deutlich erkennen. Überrascht blieb er stehen und starrte auf den Höhleneingang mitten im tiefen Wald. Davor standen roh zubehauene Baumstämme, die als Stühle benutzt worden waren, und auch ein alter, verwitterter Tisch. Broko ging näher hin, fast ängstlich, irgend etwas könnte ihn aus diesem Tagtraum wecken. Da fand er auf der Erde einen kleinen Gegenstand, den irgend jemand hier verloren haben mußte. Er hob ihn auf, hielt ihn ins Licht und betrachtete ihn genau. Obwohl er voller Schmutz war, konnte Broko erkennen, daß ihn einst kunstvolle Hände gefertigt hatten. Mit weit aufgerissenen Augen ging er weiter und setzte sich schließlich müde auf einen der verwitterten Stühle, nachdem er ihn oberflächlich von Erde und toten Blättern gesäubert hatte. Er legte den Gegenstand auf den zerborstenen Tisch und starrte verwundert und ungläubig darauf. »Ich kann mich einfach nicht irren«, murmelte er schließlich. »Und ich sehe immer noch diesen großen braunen Trottel nicht weit von hier vor mir mit diesem albernen Hut auf dem Kopf und dem Cape. Und er schnarchte wie ein Murmeltier.« Ein leises Lächeln umspielte Brokos Mund, als er sich entsann, wie er und Olther den schlafenden Bruinlen damals gefunden hatten. Bruchstückartig tauchten Erinnerungen in ihm auf, die sich nach und nach zu einem Bild zusammenfügten. Schließlich seufzte er. Irgendwie hatten sie das Fieber verdrängt, das ihn nun schon seit geraumer Zeit beherrschte. Er sah sich 137
ängstlich um, weil er immer noch nicht genau wußte, warum er hier war und wie er überhaupt hierhergekommen war. Schattenhafte Gedanken quälten ihn wie nächtliche Gespenster, und er merkte, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte. Er fühlte sich, als würde irgend jemand seinen Geist beherrschen und damit seine Handlungen, und kam sich hilflos und ausgeliefert vor. Vielleicht war ihm das während der Überquerung von Calix Stay passiert, dachte er und wußte zugleich in seinem tiefsten Inneren, daß es nicht so war, sondern etwas mit der Finsteren Königin zu tun haben mußte. Dorini war es, die seine Gedanken beeinflußte und die Wärme aus seinem Herzen stahl, ihn in eisiger Umarmung gefangenhielt. Und in einem kurzen Augenblick der Selbsterkenntnis wußte er auch, daß nicht Cybelle die Braut in seinen Träumen war, sondern Dorini. Und sie würde den Heiligen Schrein rauben und mit dessen Hilfe die drei unteren Welten Windameirs beherrschen und sie in Hoffnungslosigkeit und Finsternis versinken lassen. Mit letzter Kraft gelang es Broko, wieder auf die Füße zu kommen, und er schleppte sich den Weg zurück, den er gekommen war, während er schwach Faragons Namen rief und die Versuchung niederkämpfte, zu Bruinlens alter Höhle zurückzukehren. Doch die Versuchung wurde immer stärker, und er rief laut nach den Ältesten des Rings des Lichts, weil er fühlte, daß seine Gedanken wieder in diesen schwarzen Abgrund zu gleiten drohten. Er öffnete die Augen, und ein neuer Gedanke erfüllte ihn: Falls Faragon käme, würde er ihn sicher bestrafen. Da drehte Broko sich um und eilte, so schnell er konnte, zum Höhleneingang. Ohne Zögern verschwand er in dem modrig riechenden dunklen Bau, wo eine bedrückende, schweigende Dunkelheit herrschte.
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Vierter Teil Die vielen Gesichter Windameirs
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22. Das Mysterium wird immer größer Die Gefährten saßen schweigend im Kreis um Faragon Fairingay, der dastand und Pelon zärtlich streichelte. Niemand sprach, niemand wagte zu sagen, was sie alle am meisten fürchteten. Es gab keine Erklärung für Brokos Verschwinden, es sei denn, er hatte es aus freien Stücken und Gründen getan, die nur er kannte. Bruinlen, der neben Olther saß, wandte sich an seinen kleinen Freund. »Ich kann es einfach nicht begreifen, Olther. Und ich reise jetzt mit diesem Lumpenkerl von einem Zwerg, seit wir von den Sonnenwiesen aufgebrochen sind. Warum ist er nur allein losgezogen? Es sei denn, er wußte von irgendeiner Gefahr, in die er uns nicht bringen wollte.« Olther blickte Faragon hoffnungsvoll an. »So muß es sein«, zwitscherte er aufgeregt und spielte nervös mit einem Stöckchen, das er gefunden hatte. »Er ist immer der erste, wenn es gilt, einer Gefahr die Stirn zu bieten und seine Freunde zu schützen.« »Ja«, stimmte Ned Thinvoice zu. »Wenn die Lage schier aussichtslos schien, hatte er immer ein paar Zaubertricks parat und trug zu unserer Rettung bei.« Er schämte sich, weil er vor Brokos Verschwinden so häßliche Dinge zu ihm gesagt hatte. »Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Faragon, »und könnte gewisse Dinge erklären, die sonst rätselhaft erscheinen. Trotzdem, ich spüre hier keine unmittelbare Gefahr. Auch Pelon nicht, und er hat eine sehr feine Nase für dergleichen Dinge.« Das große Pferd warf den Kopf zurück und scharrte mit den Hufen. »Aus welchem Grund auch immer, jedenfalls ist er verschwunden«, schloß Flewingam. »Vielleicht war die Gefahr nur momentan da, ohne daß wir es wissen. Doch jetzt sollten wir eine Entscheidung treffen. Sollen wir nach Broko suchen oder zu diesen Bergen gehen, von denen Faragon sprach?« 140
»Wir ändern unsere Pläne nicht und gehen in diese Richtung«, antwortete Faragon. »Ich nehme an, auch Broko ist dorthin gegangen. Alle Pfade scheinen sich bei den Beginning Mountains wieder zu vereinen. Ich nehme an, der Vorhang zum letzten Akt dieses Schauspiels ist schon aufgegangen.« »Mit dem Theater kenne ich mich nicht aus. Ich weiß nur, daß mich alles hier mächtig verwirrt. Seit wir auf den Sonnenwiesen angekommen sind, habe ich um Broko Angst und will damit nichts mehr zu tun haben.« Cranfallow war aufgestanden, während er redete, und lief jetzt aufgebracht hin und her. »Ich habe immer getan, was ich konnte, doch jetzt reicht es mir. Meiner Meinung nach hat unser Zwerg einfach den Verstand verloren und glaubt, er könnte ohne uns besser vorwärtskommen.« Cranfallow schwieg und blickte auf die Gefährten, die ihn alle schweigend anstarrten. »Was seht ihr mich so an? Sagt mir doch, was eurer Ansicht nach los ist? Broko war schon immer halsstarrig wie ein Maulesel, aber seit wir hier sind, hat er sich verändert. Nach außen hin war er noch der alte Broko, doch innerlich hatte er sich verändert. Nie zuvor behandelte er Ned und mich auf derart unverschämte Weise.« »Nun, Cranny, so weit würde ich aber nicht gehen«, protestierte Ned Thinvoice. »Nein, laß ihn nur ausreden«, sagte Faragon. »Ich finde es sehr interessant, was er sagt.« »Was ich einmal aussprechen muß«, fuhr Cranfallow fort und beugte sich zu dem jungen Zauberer vor, »ist folgendes: Irgend etwas muß geschehen sein, das Broko verändert hat. Er ist einfach nicht mehr derselbe.« »Ich glaube, das sind wir alle nicht mehr«, unterbrach ihn Flewingam. »Jedenfalls fühle ich mich, wie ich mich noch nie gefühlt habe. Und ich glaube, wenn Broko so handelt, wie er es getan hat, muß es zwingende Gründe dafür geben.« 141
»Gut gesprochen«, sagte Faragon. »Broko ist nicht mehr derselbe, so wie wir alle, wie du so treffend bemerkt hast, Flew. Außerdem dürfen wir nie vergessen, daß er einmal Gefangener der Finsteren Königin gewesen ist und lange Zeit eine schier unerträgliche Last zu tragen hatte. Und das fordert seinen Tribut. Wenn der Geist bis zum Unerträglichen strapaziert wird, können seltsame Dinge geschehen.« »Wollt Ihr damit sagen, er hat den Verstand verloren?« fragte Ned. Faragon lächelte. »Nein, nicht ganz, Ned. Aber er ist in einer Geistesverfassung, die dem Wahnsinn sehr nahe kommt. Wenn der Geist überfordert wird, regiert das Gefühl. Das ist immer schon so gewesen, es liegt einfach in der Natur der Dinge. Wenn Broko hart auf die Probe gestellt wird, wird er wieder zu sich kommen, oder ich habe mich in ihm getäuscht.« »Denkt Ihr das wirklich, Faragon?« fragte Bruinlen, die Stirn nachdenklich gerunzelt. »Ich meine, hat ihn die Last des Heiligen Schreins und der Geheimnisse so sonderbar gemacht? Ihm vielleicht merkwürdige Gedanken eingegeben?« »Ja. So in etwa, Bruinlen. Ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, wir alle tragen den Schrein und die Geheimnisse in uns. Manchmal, wenn wir in Schwierigkeiten geraten, werden wir uns dessen bewußt. Macht hat für uns etwas sehr Verführerisches. Wir benehmen uns dann wie Kinder, die mit dem Feuer spielen. Und ohne schmerzliche Erfahrungen lernen wir nie, daß die Flammen, die so schön aussehen, uns auch verbrennen können, wenn wir sie nicht unter Konrolle halten.« »Ich habe den Schrein niemals getragen«, zwitscherte Olther. »Und ich möchte ihn auch nicht haben, da er nichts als Ärger macht.« »Auch du hast ihn getragen, mein kleiner Freund. Doch weder hier noch dort. Doch jetzt müssen wir uns überlegen, 142
wohin wir unsere Schritte lenken wollen.« »Gehen wir denn nicht in die Berge?« fragte Ned. »Vielleicht«, antwortete Faragon und setzte sich neben Pelon. »Hier befinden wir uns jetzt«, sagte er und zeichnete eine grobe Karte in den Sand. »Und hier ist der Goldene Wald zu Ende, und dort beginnt Gilden Far. Dahinter liegen Gilden Tarn und der Cheer Weir. In diese Richtung sollten wir gehen. Ich bin sicher, daß wir dort Neuigkeiten erfahren.« »In der Nähe habe ich einmal eine Höhle bewohnt«, platzte Bruinlen heraus. »Dort traf ich auch Broko und Olther.« »Ja, das stimmt«, zwitscherte Olther. »Ich kam gerade vom Cheer Weir.« »Es ist mir völlig gleichgültig, wo ihr vorher gewohnt habt«, sagte Cranfallow da bissig, »oder wo wir jetzt hingehen, denn einzig und allein Broko macht mir Sorgen. Wie wir schon sagten, er ist nicht mehr er selbst. Und was soll aus ihm werden, wenn er nicht mehr seine fünf Sinne beisammen hat?« »Was meinst du zu Crannys Worten, Bruinlen?« fragte Faragon. »Ich weiß nicht recht. Eigentlich stimme ich Cranny zu. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Broko den Verstand verloren hat. Wir wissen ja nicht, was mit ihm passiert ist. Ich kenne ihn jetzt schon lange, und er war uns immer ein treuer und aufrichtiger Kamerad, und so über ihn zu reden, bringt ihn sicher nicht zurück. Wir sollten nach ihm suchen, ehe er in Schwierigkeiten gerät.« »Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Faragon. »Noch ist nichts verloren, es sei denn, wir glauben uns verloren.« Mit diesen Worten stand der junge Zauberer plötzlich auf und schwang sich in den Sattel. Bruinlen stöhnte. »Ich wußte es«, murmelte er. »Die Dinge stehen schlechter, als ich annahm. Broko ist wieder einmal verschwunden, und nun verlaßt Ihr uns auch. So 143
haben immer unsere schlimmsten Abenteuer angefangen.« Faragon mußte lachen. »Mein guter Bruinlen, was wäre mein Leben, ohne daß du mich aufheitern würdest? Doch ich verspreche euch, diesmal nicht lange fortzubleiben. Ihr braucht mich nicht, denn der Weg durch den Goldenen Wald ist markiert. Ihr müßt nur aufpassen, daß ihr nicht von Tyrons Elfen erwischt werdet.« »Ihr habt leicht reden«, entgegnete Bruinlen beleidigt. »Ihr seid ja in Sicherheit irgendwo bei Greyfax, Greymouse oder Melodias. Wir riskieren, daß man uns das Fell über die Ohren zieht, während Ihr gemütlich am Feuer sitzt und Tee trinkt.« »Ja, gewöhnlich trinken wir Tee«, neckte ihn Faragon. »Doch da du so abgeneigt bist, einen kleinen Waldspaziergang zu unternehmen, will ich dich mitnehmen. Komm, alter Junge, gebrauch den Zauberspruch und schwing dich hinter mir in den Sattel.« Bruinlen ließ sich völlig perplex ins Gras plumpsen und starrte Faragon verwundert an. »Ich soll Euch begleiten?« Faragon nickte. Das hatte Bruinlen nicht erwartet, und er war sprachlos. »Kann Olther mitkommen?« fragte er schließlich. »Eigentlich kann Pelon nur zwei Männer tragen, da Olther aber klein ist, darf er auch aufsitzen. Er muß sich nur gut festhalten.« »Nun, ich bin mir gar nicht sicher, ob ich mitkommen möchte«, sagte Olther. Er stand auf den Hinterpfoten und zwirbelte nervös seine Schnurrhaare. »Ich bleibe lieber bei Flew, Ned und Cranny. Ein kleiner Fußmarsch macht mir nichts aus.« »Aber ich möchte nicht mit Faragon allein reisen, Olther. Außerdem hat er uns noch nie ein solches Angebot gemacht, sonst läßt er uns doch immer irgendwo in der Wildnis allein mit einer dürftigen Ration alten Reiseproviants, die hinten und vorne nicht reicht. Und zu allem anderen hatten wir noch gegen Worlughs und 144
Gorgolacs zu kämpfen.« Faragon schien Bruinlens Tirade amüsant zu finden. »Worlughs und Gorgolacs wirst du hier nicht begegnen«, sagte der junge Zauberer lachend. »Nur ein paar aufsässigen Elfen und einem Zwerg, der von allen guten Geistern verlassen ist. Aber das sind doch Kleinigkeiten gegenüber dem, was ihr sonst gewohnt seid.« »Olther, steig auf. Wir wollen doch mal sehen, wo er uns hinbringt«, bat Bruinlen. »Na, wenn das nicht dem Faß den Boden ausschlägt«, beklagte sich Ned Thinvoice. »Erst macht sich unser Zwerg aus dem Staub, und wir können vor Sorgen überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen, und jetzt wollen diese beiden uns auch noch allein lassen.« Ned verzog angewidert das Gesicht. »Geht nur, uns ist es egal. Flew und Cranny sind wenigstens treue Kameraden. Wir werden schon zurechtkommen, wenn ihr uns etwas zu essen hierlaßt.« »Ned hat recht«, beharrte Olther. »Wir dürfen sie nicht allein lassen. Ich kenne mich hier aus, wenn wir erst in der Nähe vom Cheer Weir angekommen sind.« Bruinlen sah betreten aus. »Du wolltest damit doch nur sagen, daß ich den Weg durch diese Wälder weiß. Es ist auch gar nicht nötig hinzuzufügen, daß es meine Aufgabe ist, bei ihnen zu bleiben und sie sicher durch die Wälder zu geleiten.« Olther wollte gerade protestieren, doch Faragon unterbrach die beiden Freunde. »Genug, genug. Wir sind doch mit unserem verlorengegangenen Broko vollauf beschäftigt. Und Bruinlen und Olther kennen den Weg. Doch ehe ihr Gilden Far oder Gilden Tarn erreicht habt, bin ich längst wieder zurück. Oder Greymouse oder Melodias.« »Und was sollen wir tun, wenn wir Broko finden?« fragte Olther. »Über dieses Problem braucht ihr euch jetzt keine Gedanken zu machen. Wenn mich nicht alles täuscht, legt es Broko nicht darauf an, von seinen Freunden überhaupt 145
gefunden zu werden.« Bruinlen runzelte überrascht die Stirn. »Das hört sich an, als wüßtet Ihr, wo Broko ist«, sagte er. »Vielleicht. Vielleicht irre ich mich auch«, antwortete Faragon einfach, »doch ich weiß, daß die Pflicht uns ruft und wir jetzt aufbrechen müssen, denn bald geht der Vorhang zum letzten Akt dieses Schauspiels auf.« »Warum sagt Ihr uns nicht mehr darüber?« platzte Olther heraus. Er fürchtete, wie so oft schon, von Faragon ohne Erklärungen oder Instruktionen allein gelassen zu werden. »Ich kann dir nichts weiter sagen, mein kleiner Freund, als daß wir alle dorthin gehen müssen, wo man uns erwartet. Wir müssen dem vorgezeichneten Pfad folgen. Und mein Weg führt mich woanders hin. Doch bald bin ich wieder bei euch.« Bruinlen wollte sich über das Fortgehen des jungen Zauberers schon bitter beklagen, doch da hatte Faragon schon grüßend eine Hand erhoben und war wie der Blitz verschwunden. Trübsinnig starrte Olther auf die Erde, doch da entdeckte er zu seinem Entzücken einen Proviantsack, den Faragon für sie zurückgelassen hatte. Bruinlen schwang sich den Rucksack über die Schulter, und die drei Männer wickelten sich fester in ihre Mäntel ein. So machten sie sich auf den Weg. Olther bildete den Schluß der kleinen Gruppe. Nachdem sie zwei Stunden marschiert waren, rasteten sie und taten sich an den Vorräten gütlich. Das köstliche Wasser aus Faragons Flasche erfrischte sie auf wunderbare Weise, und selbst Bruinlen, mit seinem schier unstillbaren Appetit, war gesättigt. Von Tyrons Elfenkriegern sahen und hörten sie zu ihrer großen Freude nichts. Als Ned den letzten Bissen mit einem Schluck Wasser hinunterspülte, blickte er plötzlich auf die Erde, und ihm entfuhr ein überraschter Ausruf. »Was soll ich denn davon halten?« fragte er und deutete mit der Stiefelspitze auf einen flachen Stein, in den 146
Buchstaben geritzt waren. Die Buchstaben waren sehr kunstvoll auf alte Zwergenmanier geschrieben, und die Gefährten brauchten eine Weile, bis sie die verschnörkelte Schrift entziffern konnten. Auf dem Stein stand zu lesen: Hiermit wird die Rückkehr des Zwergenfürsten Broko kundgetan, des Hüters der Geheimnisse und Trägers des Heiligen Schreins. Und es wird verkündet, daß diese Wälder mit allem, was darin lebt, ihm Untertan sind. »Was ist denn das für ein Unsinn?« fragte Cranfallow. Flewingam, der niedergekniet war und den Text laut vorgelesen hatte, entgegnete: »Dieser Unsinn, Cranny, wie du ihn nennst, ist genau das, was wir befürchtet haben. Unser Zwerg ist für unseresgleichen jetzt eine viel zu bedeutende Persönlichkeit geworden.« »Wäre er doch bei seiner Hausarbeit geblieben«, meinte Bruinlen verzagt. »Diese ganze Geschichte hat uns alle ziemlich mitgenommen, doch der arme Broko mußte am meisten darunter leiden.« »Ich frage mich«, murmelte Olther, »was aus uns geworden wäre, hätten wir den Schrein getragen. Wären wir dann noch dieselben?« »Ich glaube nicht, daß wir diese Frage beantworten können«, erwiderte Bruinlen, »es sei denn, wir versetzen uns in seine Lage.« »Nein, danke«, sagte Olther. »Ich bin froh, daß dieses Los nicht auf mich gefallen ist.« »Und ich auch«, stimmte Ned zu. »Diese Dinge überläßt man besser Zauberern. Der arme Broko steckt bis zum Hals in der Tinte, das ist sicher, weil er immer seine Nase in Dinge gesteckt hat, die ihn nichts angehen.« »Das kann man manchmal nicht beurteilen«, sagte 147
Flewingam und betrachtete noch einmal den Stein. »Wahrscheinlich ging das alles über seine Kräfte.« Und noch ehe er den Satz beendet hatte, erklang im Wald der hohe Ton eines Elfenhorns. Sofort brachen die Gefährten auf und eilten durch die jetzt nur noch vereinzelt stehenden Bäume auf Gilden Far zu. Und weit vor ihnen hielt Faragon Fairingay Wache, die blaugrauen Augen angestrengt in die Ferne gerichtet.
23. Schatten in der Dunkelheit Broko tastete sich langsam in die dunkle Höhle vor, die Bruinlen seinerzeit als Unterschlupf gedient hatte, ehe er wieder Calix Stay überquerte und noch einmal in die Welt vor den Zeiten zurückkehrte. Innen, neben der Tür, steckte noch ein Kerzenstumpf in einem Halter, und daneben lag eine Zündholzschachtel. Mit zitternden Händen entzündete Broko die Kerze, und sofort erstrahlte das Innere der Höhle in warmem, goldenem Glanz, mit Schatten, die in den Ecken gespenstisch dunkel tanzten. Und dort standen auch die Bücher in den Regalen, noch genauso wie er sie bei seinem ersten Besuch mit Olther in Erinnerung hatte. Auf Zehenspitzen ging Broko zu den Bücherregalen, als hätte er Angst, seinen abwesenden Freund zu stören, und studierte die Titel. Seltsame Namen und Schriftzeichen gab es da, fast alle in der Bärensprache, doch andere Sprachen waren auch vertreten. Manche erkannte Broko als die alten Menschensprachen, die hier vor Jahrhunderten auf den Sonnenwiesen gesprochen worden waren. Er lächelte erfreut, denn gleich neben diesen Büchern standen welche, die in Hochzwergisch geschrieben waren. Es waren mächtige Folianten, und Broko hatte Mühe, einen davon aus dem Regal zu nehmen. Er legte den Band auf einen Stuhl und blätterte ihn langsam durch. Staub quoll 148
ihm entgegen, als er den schweren Ledereinband öffnete, und er mußte mehrmals niesen, ehe er den Titel in dem flackernden Licht lesen konnte. Es handelte sich um die Lebensgeschichte Eoins, des ersten Zwergenfürsten, der viele berühmte unterirdische Zwergenbauten diesseits und jenseits vom Calix Stay errichtet hatte. Auch gab es in diesem Buch Zeichnungen und Baupläne von unterirdischen Kanälen, wie jener, der vom Coda Pool nach Havamal verläuft und in den Rosenbrunnen mündete. Schon bald war Broko in das Buch vertieft und las über die Geschichte des Coda Pools und die Taten des Zwergenvolkes unter Eoin und welche Leistungen sie für den Ring des Lichts erbracht hatten. Da merkte er, daß sein Herz klopfte und seine schweißnassen Hände Spuren auf den Seiten aus Pergament hinterließen. Ärgerlich klappte Broko das Buch zu und trat voller Wut danach, doch er tat sich nur am großen Zeh weh, und er hüpfte wütend auf einem Bein umher und fluchte ganz unflätig. »Bin ich erst einmal König, werden diese Dummköpfe in der Geschichte nur noch als Emporkömmlinge gelten«, schimpfte er laut und war überrascht, welchen Lärm seine Stimme in der Höhle machte. Hohl und dumpf wurde sie von den Wänden zurückgeworfen; es schien, als käme sie aus der Erde selbst. Da breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. »Nun, vielleicht mache ich diesen Ort zur Residenz für mein Königreich«, sagte er grinsend. »Schließlich gibt es hier alle diese Bücher, und es wäre nicht richtig, wenn sie in die falschen Hände gerieten. Doch wenn ich erst einmal hier hofhalte und das Erste Jahr der Regentschaft des Trägers des Heiligen Schreins ausrufe, könnte niemand anderer in diesen Büchern blättern, und nie würde jemand wissen, daß es hier Zwergenfürsten namens Eoin und Coin gegeben hat, die vor mir schon Königreiche errichteten.« Seine Augen glänzten vor Aufregung im flackernden Licht der Kerze. 149
»Denn die Geschichte beginnt erst mit Broko, dem Zwergenfürsten, der ein Reich gründete, das sich selbst jenseits vom Calix Stay erstreckte. Jenem Broko, der Träger des Heiligen Schreins und Hüter der Geheimnisse war und sie erfolgreich gegen die Finstere Königin verteidigte, obwohl er in ihrem Eispalast, dem gefürchtetsten aller Gefängnisse, gefangengehalten wurde.« Erregt schritt Broko vor den Bücherregalen auf und ab. Sein Gesicht spiegelte jetzt eine schier unerträgliche Freude wider. Natürlich wußte er, daß er an seinem neuen Königssitz gewisse Umbauten vornehmen mußte, denn mit so einer finsteren Höhle würde sich seine Königin nicht zufriedengeben. Außerdem roch es hier nach Moder, und es war staubig. Er mußte eine Festhalle errichten lassen und ein großes Arbeitszimmer und geräumige Unterkünfte für seine Gäste. In Gedanken versunken war Broko vor dem niedrigen großen Tisch stehengeblieben. Und da stand immer noch, vergessen in all den langen Jahren, ein halbgefülltes Honigfäßchen, und daneben lag ein Zauberbuch, in dem Bruinlen gelesen hatte, als Broko und Olther ihn kennenlernten. Da übermannten den kleinen Kerl seltsame Gefühle. Beim Gedanken an Olther und Bruinlen begann sein Herz wild zu klopfen, und er dachte, daß selbst sie – seine engsten Freunde – nur darauf aus waren, ihn zu hintergehen. »Ich hätte nie geglaubt, meine besten Kameraden würden mich verraten«, sagte er laut. »Aber schließlich gehören sie nicht zu meinem Volk, und Fremden kann man niemals trauen.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Beim heiligen Barte! Ich habe gut daran getan, sie zu verlassen. Es ist gar nicht auszudenken, was sie mir alles antun könnten, befände ich mich noch in ihrer Gesellschaft.« Doch dann runzelte er nachdenklich die Brauen. »Und trotzdem… immer haben sie mich und den Schrein beschützt, wenn ich nicht dazu in der Lage war«, sagte er, und seine Stimme klang wieder so sanft und 150
freundlich wie früher. »Und warum bin ich hier allein?« schrie er plötzlich. Er blickte sich um, doch nur das Kerzenlicht warf goldene und rötlichbraune Schatten auf die Rücken der Bucheinbände und Wände. Im Innersten wußte er, daß er seinen Kameraden Unrecht getan hatte, und beschloß tapfer, zu ihnen zurückzukehren. Er machte ein paar Schritte auf den Ausgang zu und blieb dann stehen. »Aber vielleicht haben sie mir eine Falle gestellt, und ich tappe ahnungslos hinein«, sagte er. »Vielleicht haben sie sich gegen mich verschworen und wollen mir den Schrein stehlen, weil sie ihr eigenes Königreich zu errichten gedenken.« Und der Gedanke, in einem Reich leben zu müssen, das von Olther und Bruinlen regiert wurde, erregte Entrüstung in ihm. »Diese Hohlköpfe sind doch nicht einmal in der Lage, auf sich selbst aufzupassen, geschweige denn, sich um Dinge zu kümmern, die ein König eben zu erledigen hat. Pläne müssen gemacht, Reden gehalten werden.« Broko schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, diese Dummköpfe wären niemals dazu in der Lage«, sagte er noch einmal, und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Und außerdem müssen sie für diesen Verrat bestraft werden. Niemand darf sich gegen seinen rechtmäßigen Herrscher auflehnen. Selbst wenn es sich um meine Freunde handelt, gelten für sie dieselben Gesetze wie für alle anderen Untertanen.« Broko schwieg überlegend und sprach dann laut weiter. »Außerdem müssen sie auf die Fähigkeit verzichten, sich in Menschen verwandeln zu können. Solche Tiere kann ich in meinem Königreich nicht gebrauchen. Sie können manchmal bösartig werden.« Broko hatte den schweren Folianten wieder an seinen Platz gestellt, und liebevoll strich er jetzt über die dicken Buchrücken, wo alle die Geschichten und Legenden aufgezeichnet waren, die er schon seit seiner Kindheit kannte. Wieder öffnete er eines der Bücher und las über die 151
Anfänge des Zwergenvolks, über alle diese unterirdischen Königreiche, die damals mächtig waren. Das waren die Zeiten, in denen Coin und Eoin lebten. Beide Zwergenfürsten führten ihr Volk zu nie gekannter Größe, und alle hegten die größte Bewunderung für diese weisen Führer. Erst die langen Jahre der Drachenkriege besiegelten den Untergang dieser mächtigen Königreiche, und wie Broko glaubte, trug auch der Umgang der Zwerge mit Menschen und Elfen zum Untergang bei. Er selbst war Zeuge dieser Geschehnisse gewesen, und deswegen war er jetzt auch der festen Überzeugung, er sei dazu auserwählt, dieses neue Königreich zu gründen. Broko plusterte sich wichtigtuerisch auf und genoß den Gedanken, daß sein Vater mehr als stolz auf ihn wäre. Als Kind war er sehr einsam gewesen und hatte nur wenig Spielgefährten gehabt, die, wie er auch, Söhne von Gelehrten waren. Sein Leben lang hatte er die alten Bücher der Zwergenweisheit studiert, und nun war er, Broko, dazu ausersehen, die alte Zwergenkultur wieder in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Jedoch lebte in diesen Sphären keiner von Brokos alten Kameraden mehr, auch die Wächter waren in ihre eigenen Gefilde zurückgekehrt, und der Drachenstein war verloren. Und als er sich daran erinnerte, fühlte er sich auf einmal sehr verlassen. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß ihm ja niemand bei der Errichtung seines neuen Königreichs helfen würde. Auch gab es keine Untertanen, über die er herrschen könnte. Sein Herz wurde schwer, und seine großartigen Visionen zerplatzten wie Seifenblasen. Dann übermannte ihn ein neues Gefühl der Angst. Einer Angst, die schrecklich war und die er allein im Kerker der Finsteren Königin kennengelernt hatte. Vor seinem inneren Auge sah er wieder dieses kalte grüngelbe Licht, und er stand wieder vor Dorinis Thron. Eine eiskalte Hand umklammerte sein Herz, und sein Geist war erfüllt von Dorinis Geist. Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn. 152
Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und wollte gerade zum Höhleneingang, ins helle Tageslicht, zurückgehen, als er in einer Ecke einen dunklen Schatten gewahrte. Der Schatten rührte sich nicht, und mit einem Schrei eilte Broko auf den Ausgang zu. Doch da stand der Schatten in der Tür und machte jede Flucht unmöglich. Verzweifelt umklammerte Broko den Schrein und zog mit der anderen Hand seinen kurzen Dolch. In seiner Hoffnungslosigkeit fürchtete er nicht einmal den Eindringling, sondern war froh, es endlich wieder mit einem lebendigen Wesen zu tun zu haben. Eine Welle unsagbarer Freude überschwemmte ihn, denn jetzt war er wenigstens nicht mehr allein.
24. Banis unterirdische Festung Fest hielt Broko den Dolch in einer Hand, die andere umklammerte den Heiligen Schrein, und so ging er drohend auf den Schatten zu, der die Sonne aussperrte. Sein Blut kochte vor Angst und Zorn, und ihn überkam ein seltsames neues Gefühl, als er den Schrein schützend vor sich hielt, ein Gefühl der Unbesiegbarkeit. Er wollte gerade seinen alten Zwergenkriegsruf ausstoßen und Brion Brandagore um Hilfe bitten, doch statt dessen rief er seinen eigenen Namen, der ihm viel besser in den Ohren klang als der Name des alten, fast vergessenen Königs. »Hier ist Broko, der Zwergenfürst und Träger des Heiligen Schreins!« schrie er immer wieder und schwang seinen kurzen Dolch. Seine Augen waren nur noch schmale Schlitze, und von seinen Lippen troff Schaum. Tödlich blitzte der kalte, blaue Stahl in den Strahlen der Sonne, die in den Höhleneingang eindrangen, auf. »Broko ist hier!« schrie er wieder und sprang auf die fledermausartige Gestalt im Eingang zu. Doch die Gestalt wich im letzten Moment zur Seite, und 153
sein Messer traf nicht. Da wirbelte Broko herum und konnte zum ersten Mal die in einen dunklen Mantel gehüllte Gestalt sehen. Angst erfüllte ihn, und er trat einen Schritt zurück, unfähig, ein Wort über seine zitternden Lippen zu bringen. »Ja, mein lieber Cousin. Ich bin es, Creddin«, krächzte der alte Zwerg, der sich seit dem Zusammenbruch von Tubal Hall nicht verändert hatte. »Aber du wurdest doch von den Trümmern damals erschlagen«, stammelte Broko mit weit aufgerissenen Augen. »Ich habe nur eine kleine Reise angetreten, Cousin. Mir scheint, du traust deinen Augen nicht.« Broko senkte den Dolch und verbarg den Schrein in seinem Mantel. »Und wie bist du hierhergekommen?« fragte er argwöhnisch. »Dieselbe Frage könnte ich dir stellen, Cousin. Und da ich hier schon länger lebe und der ältere von uns beiden bin, wirst du wohl die Höflichkeit besitzen, mir auch zuerst zu antworten.« Broko runzelte die Stirn, und ein nie gekannter Haß stieg auf einmal in ihm empor. »Niemand redet in diesem Ton mit dem Träger des Heiligen Schreins und Hüter der Geheimnisse.« Seine Augen schossen gefährliche Blitze. Creddin jedoch krächzte fröhlich mit seiner alten Stimme: »So ist das jetzt also, Cousin? Na, da hat der alte Creddin aber Glück gehabt, dich hier zu treffen, Träger des Heiligen Schreins.« Und nach diesen Worten mußte der alte Zwerg derart lachen, daß ihm die Tränen in die Augen traten und er kaum noch Luft schöpfen konnte. »Träger des Heiligen Schreins«, keuchte er wieder und deutete mit seiner alten verwitterten Hand auf Broko. »Siehst du meine Hand?« fragte er. »Diese alte Klaue hat einst mehr Gold gezählt, als selbst der mächtigste Drache bewachte. Ich hatte einen solchen Reichtum angehäuft, daß sogar Coin und Eoin nur davon träumen konnten. Und das alles in einem einzigen Grabgewölbe von Tubal Hall.« Creddin kicherte und betrachtete seine Hand. »Und schau dir diese Klaue einmal gut an. Ist ihr anzusehen, daß sie 154
alle diese unermeßlichen Reichtümer berührt hat?« »Du bist ein Narr, Creddin«, sagte Broko wütend, denn er fühlte sich sehr unwohl unter dem Blick des alten Zwerges. »Du warst und bist ein Narr und hast immer sehr töricht gehandelt. Du wolltest nur Gold und hast den verdienten Lohn für deinen Verrat bekommen.« Brokos Worte brachten Creddin erneut zum Lachen. »Ganz recht, Verrat und die Gier nach Preziosen. Doch als es Zeit war, jenes Leben zu verlassen, konnte ich nichts mit mir nehmen. Mit leeren Händen und leerem Herzen bin ich hier angekommen.« »Und einem leeren Kopf«, unterbrach Broko ihn. »Wenn du deine Gier im Zaum gehalten hättest, wäre dir beides geblieben, das Gold und dein Königreich. Doch wie hast du elendig gelebt, als wir dich besuchten: in der Ruine eines einst stolzen Hauses.« »Elend, ja«, erwiderte Creddin, »aber nicht ganz allein. Und auch nicht elend für sehr lange Zeit. Ich war sehr glücklich mit meinem Reichtum. Meine ganze Zeit verbrachte ich damit, mich an meinen Schätzen zu ergötzen. Erst viel später fand ich keinen Gefallen mehr an ihnen. Und dann stellte sich auch mein Besucher häufiger ein. Er kam und bot mir neue Schätze an, wohl wissend, daß ich nicht widerstehen konnte. Ich brauchte einfach neue Kleinodien, denn die alten kannte ich ja alle schon. Und das wußte er.« »Wer wußte es?« fragte Broko und unterbrach Creddin mitten in seiner Erzählung. Ein seltsames Lächeln huschte über das Gesicht des alten zahnlosen Zwerges. »Der, mit dem ich den Pakt geschlossen hatte«, sagte er. »Und wer war das?« fragte Broko ungeduldig. »Doraki«, entgegnete Creddin, und in seinen Augen brannte ein leidenschaftliches Feuer, selbst seine Gesichtszüge wurden strenger. Broko trat einen Schritt zurück. Das Herz klopfte ihm in 155
der Kehle, und der Dolch, den er immer noch in der Hand hielt, fiel klirrend zu Boden. »Aber dann kamst du, Cousin«, sagte Creddin. Der wilde Ausdruck in seinen Augen verschwand, und sein Gesicht sah wieder wie das eines müden, uralten Zwerges aus. »Und du warst in Begleitung deiner Freunde, und aus irgendeinem Grund verbrachtest du die Nacht mit dem Finsteren Fürsten unter einem Dach. Und aus irgendeinem anderen Grund lieferte ich dich ihm nicht aus, denn wenn ich mit dir Erbarmen haben würde, könnte auch ich auf Erbarmen hoffen, sollte ich einmal Calix Stay überqueren.« »Was willst du damit sagen?« murmelte Broko völlig verwirrt und gleichzeitig argwöhnisch. Er steckte den kleinen Dolch wieder in die Scheide zurück. »Wie du dich doch wohl noch erinnerst, erwartete ich an jenem Abend, als ihr kamt, jemand anders. Und das war der Finstere Fürst. Ich hätte euch ihm ohne weiteres ausliefern können, denn er kam erst nachts, als ich mir meine Schätze im Grabgewölbe betrachtete. Er war nur gekommen, um mich zu quälen, indem er mir vorhielt, wie viele Leben ich auf dem Gewissen hätte, um diesen Reichtum zu erlangen, und daß ich jetzt älter würde, und in meinem Leben nur noch Angst und Schrecken fühlen würde. Doch das wußte ich schon längst. Sie hatten mir alles gegeben, wonach ich verlangte, und doch war der Preis für mich weitaus höher, als ich zuzugeben wagte. Ich hatte keine Wahl mehr, sondern mußte tun, was sie mir befahlen, trotzdem konnte ich mich nicht mehr ertragen. Ich konnte mir nicht mehr ins Gesicht sehen.« Während Creddin sich alles von der Seele sprach, war seine Stimme kräftiger geworden. »Und dann kamst du, wie ich schon sagte. Ich wollte nicht, daß Doraki dich und deine Freunde gefangennimmt, weil du zu meiner Sippe gehörst, vermute ich. Ich wollte dich retten und dir die Flucht ermöglichen. Wenn mir das gelänge, hätte ich wenigstens eine gute Tat vollbracht.« 156
Brokos Augen waren, während er zuhörte, immer größer geworden. »Dann war Doraki also in jener Nacht in Tubal Hall?« »Ja. Und er war äußerst wütend«, sagte Creddin. »Denn er interessierte sich mehr für zwei Zauberer als für dich, und aus diesem Grund forschte er wohl auch nicht näher nach. Diese beiden Zauberer hatten das Mißfallen der Finsteren Königin erregt, und mit einem Zwerg und zwei Tieren konnte er im Moment nichts anfangen.« Broko schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, was geschehen wäre, hätte er uns in jener Nacht gefangengenommen.« »Jedenfalls tat er das nicht, Cousin. Und ich überquerte Calix Stay und lebe seitdem hier. Im Laufe der Zeit habe ich herausgefunden, daß der Bär, der mit dir reiste, in dieser Höhle wohnte, und daß auch der Otter in der Nähe lebte. Da ihre Herzen sich mir während der Überquerung öffneten, wurde ich hierhergeführt. Und hier bin ich geblieben.« Broko sah sich erstaunt um. »Du lebst hier?« »Nein. Ich halte mich hier manchmal auf«, entgegnete Creddin, »doch die meiste Zeit verbringe ich tiefer unten, in den Zwergenbauten. Noch lange, ehe die Drachenkriege zu Ende waren, haben sich Zwerge aus Eoins Volk hierher geflüchtet und eine ganz stattliche Festung gegraben.« »Dann hat Bruinlen also in einer Höhle unserer Vorfahren gehaust?« »So ist es. Das erklärt auch, woher er die Bücher hatte. Während seiner Streifzüge durch die unterirdischen Gänge muß er auf die Bibliothek gestoßen sein und hat die Bücher, die ihm gefielen, hierhergebracht. Ich wollte sie wieder an ihren alten Platz stellen, doch dann gefiel es mir hier oben besser, wenn ich lesen wollte.« Broko schüttelte verwundert den Kopf. »Ich kann gar nicht glauben, daß ich das nicht sofort gemerkt habe. Als ich diese Höhle zum ersten Mal betrat, fühlte ich mich sofort wohl. Doch der Gedanke, sie könnte 157
von Zwergen gebaut worden sein, ist mir nie gekommen.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Und kurz bevor du hier auftauchtest, las ich gerade in einem unserer alten Bücher der Weisheit. Doch jetzt weiß ich, daß mich mein Gefühl nicht getrogen hat. Es gab einen Grund, warum ich meine Schritte hierher lenkte und dich hier wiedergetroffen habe.« »Das stimmt, Cousin«, entgegnete Creddin. »Und es muß mehr als ein Zufall dahinterstecken.« »Viel mehr«, erklärte Broko würdevoll, »denn das Schicksal hat mich hierhergeführt. Ich schmiedete Pläne von einer neuen Zwergenfestung und dem Neubeginn eines Zwergenreiches. Doch mehr noch, denn ich wurde dazu auserwählt, der Gründer dieses Reiches zu sein.« Der gebeugte, alte Creddin trat einen Schritt auf Broko zu. »Und das wollen wir alles allein vollbringen, Cousin?« fragte er. »Eine ziemlich große Aufgabe für zwei kleine Zwerge, wenn du mich fragst.« »Du Narr vergißt dabei nur eins. Daß ich der Träger des Heiligen Schreins und Hüter der Geheimnisse bin.« Creddins wässerige Augen verengten sich, und er legte nachdenklich einen gichtigen Finger an seine Lippen. »Ich würde diese Tatsache nicht so hinausposaunen, Cousin. Die Lage hat sich während meines Lebens hier beträchtlich geändert. Es geht auf den Sonnenwiesen schon fast so zu wie jenseits des Großen Flusses.« »Was meinst du damit?« fragte Broko. »War vor mir schon jemand hier?« Wieder überkam Angst den Zwerg, und er beobachtete Creddin aufmerksam. »Nein, Cousin. Aber ich habe Gerüchte gehört, daß dieser törichte Elf, Tyron, sich zum König vom Goldenen Wald hat ausrufen lassen. Das wird eine ganz schön kitzlige Situation werden, wenn ihr beide die Krone beansprucht«, kicherte Creddin. »Tyron ist nur im Besitz eines Geheimnisses«, gab Broko barsch zurück. »Ich werde keine Schwierigkeiten 158
haben, mein Reich zu errichten.« »Nun, trotzdem bin ich gespannt, wie die Sache ausgeht, Cousin«, sagte Creddin. »Ich habe meine Lektionen jenseits vom Calix Stay gelernt, und die schlimmste hast du ja miterlebt.« »Genug geredet, du alter Knochen«, entgegnete Broko unfreundlich. »Du könntest dich nützlich machen und mir diese unterirdischen Zwergenbauten zeigen, von denen du sprachst.« »Mit Vergnügen, Cousin«, sagte Creddin. »Das wird dir die Flausen aus deinem Kopf treiben, und außerdem bist du dann außer Sichtweite, falls dieser Pöbel sich wieder hier herumtreibt. Er scheint, genau wie du, hinter derselben Sache her zu sein.« Creddin schwieg nachdenklich. »Irgend etwas geht vor«, murmelte er und ging langsam vom Eingang in die Höhle. »Komm, Cousin. Ich zeige dir Banis Festung.« »Von heute an wird sie als Brokos Festung bekannt sein«, sagte der Zwerg gereizt. »Der Name gefällt mir, er klingt gut. Brokos Festung. Die Festung des Gründers des neuen Zwergenreiches«, sagte er, und seine Augen verschleierten sich, während er das Kästchen fest umklammerte. Es würde ein großartiges Unternehmen werden, dachte er. Und jetzt war ihm Creddin gesandt worden, um ihm bei der Gründung des neuen Reiches zu helfen, damit die Zwerge wieder den ihnen gebührenden Platz an der Spitze der Schöpfung einnehmen konnten, den sie so lange innegehabt hatten. Bald würde die Zeit kommen, wo alle Bewohner der Sonnenwiesen seinen Namen nur noch mit Respekt und Ehrfurcht aussprechen würden. Und während Creddin Broko immer tiefer die Gänge hinunterführte, die zu Banis Festung führten, drang ein verwirrender und aufregender Geruch in Bruinlens Nase. Ein Geruch, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Es roch 159
nach seiner alten Behausung. Und ohne die geringste vorherige Ankündigung rannte Bruinlen los. Den Kopf hoch erhoben und die Ohren flach angelegt, stieß er kleine bellende Begrüßungslaute aus, so glücklich war er, seine alte Höhle wiederzusehen. Sicher stand da auch noch ein alter Honigtopf. »Hoffentlich habe ich ihn auch richtig verschlossen«, murmelte er, und in diesem Augenblick eilte er durch die Tür, von wo aus er seine Reise mit Broko und Olther begonnen hatte. Jetzt war er wieder hier: Der Kreis hatte sich geschlossen.
25. Greyfax gibt eine Erklärung ab »Wie sieht die Lage aus, mein guter Galen? So, wie alles sein soll?« fragte Greyfax. »Die Lage ist so, wie Ihr sie vorhergesagt habt, Herr«, antwortete Galen Isenault, noch immer etwas atemlos von der langen Reise. »Faragon traf die Gefährten, und wir trennten uns wieder. Broko war sehr aufgebracht, obwohl ihm das niemand übelnahm, nach dem, was er durchgemacht hat. Auch Olther schien ziemlich verwirrt. Er versuchte sogar, Faragon anzugreifen. Wenn ich mich nicht irre, glaubte er, Faragon sei ein anderer und nicht der wahre Faragon. Wir hatten Mühe, den kleinen Kerl zu beruhigen. Er ist so stark wie ein Worlugh, wenn er in Zorn gerät.« Greyfax lachte und wandte sich dann an Lorini. »Seht Ihr? Er ist gar nicht so klein und hilflos, wie Ihr immer von ihm behauptet. Er kann sehr kriegerisch sein.« Lorini lächelte. »Das kann man ebensogut von Euch behaupten, lieber Grimwald.« »Dem kann ich nicht widersprechen, meine Fürstin. Es gibt sicher welche, die Eure gute Meinung über mich nicht teilen.« »Und dazu gehört sicher meine Schwester«, sprach 160
Lorini weiter. »Obwohl sie gerne anders über Euch dächte, denn wenn ich nicht irre, hätte sie Euch einmal gern zum Verbündeten gehabt und war über Eure Ablehnung sehr enttäuscht.« »Das ist schon möglich. Doch ich weiß immer noch nicht, was sie in mir gesehen hat, oder von welchem Nutzen ich ihr gewesen wäre.« Lorini lachte laut und strich sich ihr goldenes Haar aus dem Gesicht. »Das, mein lieber Grimwald, ist genau das, was Euch so anziehend macht. Euer jungenhafter Charme.« Greyfax errötete und stellte Galen dann eine weitere Frage. »Hält sich Faragon bei den Gefährten auf?« »Ich glaube, nach der Blockierung der Pforte nicht mehr.« »Das hoffe ich«, murmelte Greyfax. »Denn jeder muß seine Aufgabe an dem ihm angestammten Platz erfüllen. Hoffentlich ist es nicht nötig, weitere Truppen jenseits vom Calix Stay zusammenzuziehen und sie hierherzubringen.« »Ist das denn nötig?« fragte Lorini ernst. »Es könnte notwendig werden. Denn wie ich höre, rotten sich die Gorgolac-Horden wieder zusammen.« »Und Ihr, lieber Grimwald? Werdet Ihr dort auch gebraucht? Und werdet Ihr mich hier wieder allein lassen, geradeso wie in Cypher?« »Ich glaube, daß dieser Fall nicht eintreten wird. Für uns gibt es hier noch zu vieles andere zu tun.« Greyfax schwieg und schritt in dem langen, holzverkleideten Raum auf und ab. »Aber sprich doch weiter, Galen«, sagte er zu dem Elfen. »Als ich die Gefährten verließ, brach ein Teil von ihnen gerade auf, um Tyron den Weg durch das Tor zu versperren.« »Und ging Faragon dann, so wie wir es geplant hatten?« »Das weiß ich nicht, Herr. Er sagte mir nur, daß er Broko in eine Lage bringen würde, damit er der Versuchung ausgesetzt wird, und dann unter einem 161
Vorwand die Gefährten verlassen würde.« »Dann ist alles nach Plan verlaufen«, nickte Greyfax zustimmend. »Bald ist die Zeit gekommen, wo wir handeln können.« Kaum hatte der Zauberer ausgesprochen, als draußen lautes Hufgetrappel zu hören war, und kurz darauf betrat Faragon Fairingay mit weit ausholenden Schritten den Raum. Er verneigte sich vor Lorini und reichte Galen und Greyfax zur Begrüßung die Hand. »Die Falle ist aufgestellt«, sagte der junge Zauberer, »obwohl mir der Köder nicht gefällt. Es könnte jedoch mißlingen, und dann müssen wir alle einen sehr hohen Preis zahlen.« »Mit einem geringeren Einsatz hätten wir kaum Aussicht auf Erfolg«, entgegnete Greyfax, »und das weiß Dorini. Und nicht wir handeln, es ist der Wille des Einen.« »Ich möchte keine Einwände machen, ich fühle mich nur unwohl bei dem Gedanken, daß wir alles verlieren, sollte unser Plan nicht gelingen: nicht nur den Schrein und Cybelle, sondern auch alle Lebewesen in den unteren Welten.« »Falls wir verlieren, werden wir alle ohne Hoffnung sein, alter Junge«, sagte Greyfax leise. »Doch solange wir wissen, daß es Sein Wille ist, was können wir anderes tun? Wenn Er unseren Untergang beschlossen hat, werde ich versuchen, mich frohen Herzens dareinzuschicken.« »Der Gedanke mißfällt mir!« entgegnete Faragon scharf. »Und ich glaube nicht, daß Er uns zu Dorinis Sklaven machen will.« »Nein, das nicht«, sagte Greyfax lächelnd. »Obwohl wir beide einst unter dieser Sklaverei gelitten haben, so wie unzählige unter ihrer Herrschaft leiden.« »Von welchem Plan spricht Fairingay überhaupt?« fragte da Lorini und sah Greyfax prüfend an. »Oder habe ich daran keinen Anteil?« Faragon errötete und warf Greyfax einen Blick zu, der sich gedankenvoll den Bart strich, ehe er antwortete. »Es 162
liegt keineswegs in unserer Absicht, Euch über unsere Strategie nicht zu informieren, meine Fürstin. Der Plan wurde von uns allen, Erophin eingeschlossen, ausgearbeitet. Und wir sagten uns, es wäre besser, Euch nicht mit allen Einzelheiten vertraut zu machen, damit Ihr Euch nicht unnötig sorgt. Doch da dieser Heißsporn nun einmal geredet hat, können wir Euch ebensogut einweihen. Erophin hat sicher nichts dagegen einzuwenden.« »Ich wollte wirklich nichts verraten«, sagte Faragon entschuldigend, »aber ich mache mir wirklich Sorgen, weil ich Bruinlen, Olther und die anderen allein da draußen zurückgelassen habe. Und der Gedanke, Broko ganz ohne Schutz zu wissen, gefällt mir ebenfalls nicht.« »Und eben in diesem Punkt irrst du dich, alter Junge«, entgegnete Greyfax heiter. »Er wird beschützt. Und zwar vom Schrein.« »Aber gerade das bringt ihn doch in Versuchung, wie du sagtest«, meinte Faragon. »Und hat es schon getan, seinem Verhalten nach zu schließen.« »Genauso ist es. Denn der Schrein ist gefährlich für jeden, der nicht dem Ring des Lichts angehört, wenn die Fünf Geheimnisse in ihm nicht vollständig sind. Und Broko ist jetzt von der Idee besessen, mittels des Schreins und der Geheimnisse große Macht zu erlangen, das wissen wir doch noch aus der Zeit, als uns der Schrein anvertraut wurde.« »Weiß Broko, was geschieht?« fragte Lorini. »Nein. Er weiß nichts davon.« Greyfax schwieg und lächelte versonnen. »Erophin sagte mir auch damals nicht, daß die Kette der Ereignisse, die vor so langer Zeit in Gang gesetzt wurden, einem ganz bestimmten Plan dienten. Wie Ihr seht, wurde auch ich nicht immer informiert. Doch jetzt erkennen wir, wieviel Weisheit in diesen geheimen Beschlüssen liegt. Hätte ich schon früher alles gewußt, hätte ich niemals frei handeln und meine Aufgabe zur Zufriedenheit lösen können. Und wieviel Kummer und Sorgen sind mir durch dieses Nichtwissen erspart geblieben! Die Weisheit des 163
Einen ist doch nur ein weiterer Beweis seiner Liebe für uns alle.« »Niemand stellt Seine Liebe in Frage«, sagte Lorini. »Doch jetzt wollen wir darüber reden, was wir gegen die Finstere Schwester unserer Königin unternehmen wollen. Wie gesagt, wir haben unser Netz gesponnen und warten nur noch darauf, daß sich Dorini mit ihrer Gefolgschaft darin verfängt.« »Aber das Risiko ist zu groß!« protestierte Faragon noch einmal. »Ja, es ist groß. Sogar größer, als wir je eines eingegangen sind. Der Verlust des Heiligen Schreins könnte die unteren Welten in ewiger Finsternis versinken lassen, nicht zu reden von Cybelle, die selbst Trägerin des Lichts und Tochter unserer Königin ist.« »Und was geschieht mit uns, sollte dieser Plan, von dem Ihr sprecht, fehlschlagen?« fragte Lorini ruhig. »Wir hätten die Möglichkeit, in die Heimat zurückzukehren und somit alle anderen zu verraten, oder jenseits des Großen Flusses zurückzukehren, um das Unvermeidbare zu verhindern.« »Die Auswahl ist nicht groß«, unterbrach Faragon den älteren Zauberer. »Und ich bin nicht sicher, ob das dann wirklich das Ende wäre.« »Es ist müßig, Vermutungen anzustellen, was geschieht, wenn wir verlieren«, sagte Lorini mit erhobener Stimme, denn sie stand jetzt vor einem Fenster, das eine grandiose Aussicht auf die in der Ferne liegende Gebirgskette bot. »Ich möchte nur gerne wissen, wie diese Pläne denn nun aussehen, und was wir tun müssen, um ihnen zum Erfolg zu verhelfen.« »Dies, meine Fürstin, wollten wir Euch gerade erklären«, sagte Greyfax und verneigte sich vor Lorini. »Meine Herren, bitte setzt euch und helft mir, Lorini unsere Ideen zu verdeutlichen.« »Das wird nicht einfach sein«, murmelte Galen. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie selbst verstehe.« 164
»Dann werden wir alle von dieser Besprechung profitieren«, sagte Greyfax lachend. »Ich kann daran nichts Lustiges finden, Greyfax«, sagte Faragon beleidigt. »Du mißverstehst mich, alter Freund. Ich lache nur über mich selbst. Ich mußte eben daran denken, daß es mir jetzt lieber wäre, noch einmal Doraki auf Havamal gegenüberzustehen, als unserer schönen Lorini dies alles zu erklären.« »Schmeicheleien bringen Euch nicht weiter, Ihr Geheimniskrämer. Heraus damit. Laßt uns hören, was Ihr vorhabt.« Greyfax lehnte sich bequem in seinem Stuhl zurück und hob zu sprechen an. In diesem Augenblick war vor der Tür ein großer Lärm zu hören, und einer von Galens Leuten betrat den Raum und grüßte knapp. »Ja. Was gibt’s?« »Die Gefährten sind entdeckt worden, Herr«, antwortete der Bote. »Wo?« fragte Galen. »In der Nähe des Letzten Tores, am Rand von Gilden Far.« »Und wer befindet sich am Letzten Tor?« fragte Lorini Greyfax. »Tyrons Männer und deren Verbündete.« »Aber warum halten sie sich dort auf?« beharrte Lorini. »Ich fürchte, irgend jemand hat ihnen gesagt, daß ein gewisser Zwerg aus ihren Wäldern entkommen ist, die von dem weisen Tyron doch so streng bewacht werden.« »Und wer war der Verräter?« fragte sie erstaunt. »Wie es scheint, Greyfax Grimwald«, sagte der Zauberer mit blitzenden Augen. Und in der Nähe des Letzten Tores wimmelte Gilden Far von Tyrons Waldelfen. Tyron selbst schritt auf einer kleinen Lichtung gereizt auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt und die Stirn in ärgerliche Falten 165
gelegt. Nach einer Weile kündigte ein seltsam sirrender Ton einen Besucher an, und Tyron eilte zum Rande der Lichtung, um die schwarzgekleidete Gestalt zu begrüßen.
26. Broko und Creddin Tief unter Bruinlens alter Höhle saßen Broko und Creddin an einem Tisch mit Elfenbeinintarsien, der einst von einem der Kunsttischler Banis – der in den letzten Kämpfen der Drachenkriege umgekommen war – geschreinert wurde. Der Raum, in dem sie saßen, war vollständig rund. Eine hohe Kuppel wölbte sich über ihnen, und in dem gedämpften goldenen Licht, das dort herrschte, konnte man einen von der Decke hängenden Stern erkennen, der mit bunten Edelsteinen besetzt war, deren Licht sich vielfältig an den runden Wänden brach. Die Becher, aus denen die beiden Zwerge tranken, waren aus feinstem ziseliertem Silber und wie Löwenköpfe geformt. Vor Broko stand ein goldener Teller mit frisch gebackenen Zwergenkuchen. Creddin bedeutete ihm, sich noch einmal zu bedienen, doch Broko winkte müde ab. »Nein, danke. Ich bin gesättigt.« »Du mußt zugeben, daß meine Bewirtung hier bei weitem besser ist als das letzte Mal, Cousin. Kaum genug zu essen gab es. Von diesen Köstlichkeiten hier gar nicht zu reden.« »Statt dessen hattest du etwas ganz anderes für uns vorbereitet, wie es scheint«, entgegnete Broko grob. »Ich kenne viele Geschichten, die von Verrat und gestohlenen Schätzen handeln. Und immer, wenn ich sie las, gefror mir das Blut in den Adern. Doch diese Geschichten handelten stets von Menschen, nie war von Zwergen da die Rede. Zwerge, die Zwerge bestehlen oder sie von der Finsternis niedermetzeln lassen.« Broko schnaubte verächtlich. 166
»Außerdem wünsche ich, daß du mich auf respektvollere Weise anredest und nicht immer dieses ›Cousin‹ gebrauchst. Es gefällt mir nicht und ist viel zu vertraulich für einen Verräter und Gesetzlosen.« Creddin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schlug sich mit einer knochigen Hand auf das Knie. »Nun, das ist einmalig«, lachte er. »So etwas ist mir noch nie passiert. Hier sitzen wir, wahrscheinlich die letzten Überlebenden eines uralten Geschlechts, gemütlich beieinander, und du machst mir Vorhaltungen. Außerdem nenne ich dich, wie ich will. Schließlich war ich nicht für den Tod der anderen Zwerge verantwortlich. Wenigstens diese Genugtuung habe ich. Doch da sitzt du und erzählst mir von deinen großartigen Plänen, das Zwergenreich neu zu errichten.« Creddin lächelte freundlich. »Aber sage mir, was ist eigentlich aus den beiden Tieren geworden, mit denen du mich damals in Tubal Hall besucht hast? Diesen guten Freunden, die dir bei der gefährlichen Überquerung vom Calix Stay geholfen haben? Habt ihr euch getrennt, oder bist du ihnen etwa davongelaufen, weil du diesen Phantomen nachjagst?« Wütend sprang Broko auf und stieß den Becher um, dessen Inhalt sich über die Zwergenkuchen ergoß. Dann rollte er vom Tisch und fiel laut klirrend zu Boden. »Steck deine Nase in deine Angelegenheiten, du verfluchter alter Kerl! Es geht dich nichts an, wo sie sind.« »Na ja, so wie du dich im Moment aufführst, kann dich ja niemand gern haben«, sprach Creddin ruhig weiter. »Zwerge haben nun einmal ein sonderbares Temperament, das kommt sicher daher, weil wir so viel Zeit allein unter der Erde verbringen, um unsere Träume hier zu verwirklichen.« Creddin schnalzte mit der Zunge. »Obwohl das manchmal schade ist. Denn wir sind aufrichtig und vertrauenswürdig, aber eben diese seltene Gabe, den Dingen eine besondere Gestalt zu verleihen. Allein unsere Werkzeuge sind ohnegleichen.« 167
Broko klappte den Mund auf und wollte etwas sagen, doch der alte Zwerg redete einfach weiter. »Aber wir geraten immer in Gefahr, wenn wir es mit Drachen oder Schätzen zu tun bekommen. Wo es Gold, Silber oder Edelsteine gibt, sind auch die Zwerge nicht weit. Schon lange, ehe Drachen Gefallen an diesen Dingen fanden, horteten Zwerge Schätze und ergötzten sich an deren Anblick. Manchmal verloren sie sogar den Verstand darüber.« »Dein Geschwätz klingt hohl und leer, mein guter Creddin. Und du redest von den Drachen, als hättest du sie persönlich gekannt. Nichts als Unsinn! Wie kannst du schon etwas über sie wissen, da du doch nie gegen sie gekämpft hast? Du bist diesen schrecklichen Ungeheuern nie begegnet, noch wurden deine Verwandten von ihnen getötet.« Während seines Ausbruchs klopfte Broko wütend mit der Faust auf die Armlehne des Stuhls. Seine Stimme klang schrill und drohte sich zu überschlagen, und in seinen Augen brannte ein gefährliches Feuer. »Wie kannst du es wagen, jemanden mit Anstand mit diesen schrecklichen Wesen zu vergleichen, die nur von der Finsternis ausgesandt wurden, um Terror zu verbreiten? Du hast deine Mutter nicht ihretwegen verloren, noch sehen müssen, wie sie einen Freund mit ihren Klauen zerfleischten.« Jetzt hämmerte Broko mit der Faust auf den schönen Tisch, und seine Stimme hatte sich zu schrillem Kreischen gesteigert. Creddin saß ganz ruhig da; er beobachtete Broko aufmerksam, und seine Augen waren voller Mitleid. Er streckte die Hand aus und wollte seinem Vetter beruhigend über den Arm streichen, doch Broko fegte die Hand beiseite und trat aufgebracht vom Tisch zurück. »Ja, unsere Leute haben Tausende von Stunden mit Graben verbracht. Schwitzend haben sie den Stein behauen, um die Träume zu verwirklichen, die in unseren Herzen 168
wohnen. Und diese Kostbarkeiten wollten sie ihren Kindern hinterlassen. Und es stimmt, daß die Finsternis Gefallen an unseren Arbeiten fand und sie gierig danach wurde, geradeso wie dich die Gier nach Gold überkam. Mehr wollten sie, immer mehr, bis die ganze Schöpfung ihnen gehörte. Und wenn sie ihres Spielzeugs überdrüssig wurden, vergnügten sie sich mit Töten.« Während Broko sprach, hatte er seinen Mantel zurückgeschlagen. Jetzt trat er auf Creddin zu und hielt ihm in der ausgestreckten Hand den Heiligen Schrein entgegen. Seine Augen sprühten Funken, und ein groteskes Lächeln verzerrte seine Lippen. »Aber dies hier ist die Antwort. Siehst du das nicht, du alter Narr! Immer schon war es die Antwort, nur niemand von uns wußte es.« Broko versagte die Stimme, und zitternd schöpfte er Atem. »Aber hiermit, du alter Dummkopf, hätten auch Eoin und Coin Erfolg gehabt. Ihre Reiche wären nicht untergegangen. Sie sind gescheitert, weil sie nicht den Schlüssel der wahren Macht in Händen hielten. Und ich, der Zwergenfürst Broko, habe bis auf eines alle Geheimnisse in dem Schrein hier versammelt. Und noch ehe alles vorüber ist, werde ich auch das fünfte Geheimnis mein eigen nennen und damit eine Dynastie gründen, deren Herrlichkeit alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt.« Wie von Sinnen schwenkte Broko den Schrein hin und her und starrte mit fiebrigen Augen Creddin an. »Und du, du übler alter Verräter, der du die tapfersten von uns in den Tod geschickt hast, wagst es, hier zu sitzen und mich einen Verräter zu nennen? Du solltest dich glücklich schätzen, daß du in meiner Nähe bleiben darfst und ich dir nicht dein miserables Leben nehme. Denn dann würdest du nicht in diesem sicheren Hafen hier landen, sondern geradewegs von der Finsternis verschlungen werden. Wo du auch hingehörst.« 169
Drohend über Creddin gebeugt, stand Broko da. Eine Hand hielt noch immer den Schrein umklammert, die andere tastete nach dem Dolchgriff. Der alte Zwerg blickte Broko in die Augen. »Würdest du mir diese große Ehre erweisen, Broko? Wirst du es sein, der mich von diesem Dasein befreit? Es geschehe, was geschehen soll.« Broko ließ die Hand sinken. »Nicht ich habe über dich zu richten, Creddin. Das steht mir nicht zu.« »Und du, Cousin? Wer wird eines Tages über dich richten?« fragte die verschrumpelte alte Gestalt. Der Zwerg griff nach seinem Becher und nahm einen tiefen Schluck. Seine Augen blickten Broko über den Becherrand ruhig an. »Wir alle müssen vor unseren Richter treten, du Bösewicht, das weißt du genau.« »Und wie wirst du dann vor ihm stehen? Immer noch leichten Herzens, voller Unschuld? Oder wird es dann Dinge geben, die du lieber verbergen möchtest?« Rasend vor Wut schnaubte Broko: »Wessen klagst du mich an, du Mörder? Ich habe dir schon vergolten, daß du mich Doraki in jener Nacht nicht ausgeliefert hast.« »Ruhig Blut, Cousin. Ich beschuldige dich nicht. Ich habe dich nur gefragt, wo deine beiden Gefährten geblieben sind. Auch sie wären in die Hände des Finsteren Fürsten gefallen, genau wie du.« »Sie haben es vorgezogen, eigene Wege zu gehen. Und sie haben mir bewiesen, daß sie nur selbstsüchtig sind, wie der ganze Rest, der sich immer an mich klammerte. Immer habe ich ihnen vertraut und sie als Kameraden behandelt, doch sie schmiedeten ein Komplott gegen mich, um mir den Schrein abzujagen.« Brokos Augen umschatteten sich. »Und selbst meine feinen Freunde vom Ring des Lichts bedienten sich nur meiner, weil es ihnen zu gefährlich war, den Schrein zu tragen. Ich war nichts als ein Botenjunge für sie.« Creddin nahm wieder einen Schluck von seinem 170
Getränk. »Dann hast du also auch mit dem Ring des Lichts gebrochen, Cousin? Das sieht nicht gut aus.« »Was gut aussieht, ist folgendes: Ich habe sie alle überlistet, die mich betrügen wollten. Der Zwerg konnte ja die Schmutzarbeit machen, dann würde man ihm einen Tritt in den Hintern geben. Doch jetzt werde ich Cybelle mein Königreich zu Füßen legen. Sie wird mich erhören. Ihr bleibt gar nichts anderes übrig, so wie die Dinge jetzt stehen.« »Und wie stehen sie, Cousin?« »Nun, ganz einfach. Ich werde derjenige sein, der sie befreit«, prahlte Broko. »Nur ich kann sie befreien, denn ich habe ja den Heiligen Schrein.« »Und wie willst du das alles in die Wege leiten, Cousin? Eben mal bei Dorini vorbeischauen und ihr sagen, daß sie Cybelle freilassen soll? Oder mit Doraki verhandeln? Ach, und weil ich gerade dabei bin, sie werden sicher nicht nur Cybelle freilassen, sondern auch auf alle ihre übrigen Pläne verzichten und für immer verschwinden oder so etwas Ähnliches.« Broko lief puterrot an. »Einen exakten Plan habe ich noch nicht gefaßt«, sagte er wütend. »Aber wenn die Zeit gekommen ist, werde ich schon das Richtige tun. Es ist eine gefährliche Aufgabe, die viel Vorsicht erfordert.« »Das glaube ich auch, Cousin. Nach meiner Lektüre in den Büchern der Weisheit hier hat bislang selbst der Ring des Lichts sie nicht gelöst. Und ich wußte auch nicht, daß die Finsternis Cybelle gefangenhält. Dann ist die Lage noch ernster, als ich annahm.« »Ja, die Lage ist ernst. Aber nicht für den Träger des Heiligen Schreins. Ich werde sie befreien.« »Nun, zu irgend etwas wird das alles ja gut sein«, sagte Creddin und nickte. »Aber genug geredet. Du solltest etwas zur Gründung deines Königreichs unternehmen. Was schlägst du also vor? Wir können hier schließlich nicht 171
ewig sitzen.« Broko stapfte zum anderen Ende des langen Tisches und legte dort beide Hände auf die Lehne eines fein geschnitzten Stuhls. »Zuerst schmieden wir Pläne, wie Cybelle befreit werden kann«, sagte er großartig. »Und um Ausbauarbeiten hier brauchen wir uns vorerst nicht zu kümmern. Das ist alles noch in sehr gutem Zustand.« »Sehr gut, Cousin. Dann wollen wir uns ans Werk machen.« Broko hob Schweigen gebietend die Hand. »Warte, du alter Dummkopf. Zuerst der Plan. Mit wem, glaubst du, daß du es zu tun hast?« »Nun, mit Dorini«, antwortete Creddin einfach. »Sie ist hier nicht schwer zu finden. Ich habe sie und Doraki schon gesehen, aber sie haben mich nicht bemerkt.« Broko erbleichte. »Du hast sie hier gesehen? Dann wollen wir aufbrechen. Zuerst können wir die übrige Festung besichtigen und dann zu dem Ort gehen, wo du die Finstere Königin und Doraki gesehen hast.« »Das ist ziemlich weit, Cousin.« »Gehen wir also.« Als die beiden Zwerge Banis Speisezimmer verließen, huschte ein schwarzer Schatten durch den Raum, und das Licht flackerte einen Moment. Brokos Herz schlug heftig, dann beruhigte es sich wieder. Er warf einen scheuen Blick zurück, konnte jedoch nichts entdecken. Creddin warf seinem Vetter einen sonderbaren Blick zu und ging dann voran, mit erstaunlicher Geschwindigkeit für sein hohes Alter. Und weit über ihnen, in Bruinlens alter Höhle, machte sich ein hungriger Bär schmatzend über den halbvollen Honigtopf her. Dann folgte ein überraschter Ausruf, als er die Abdrücke von zwei verschiedenen Paaren Zwergenstiefeln fand. Diese Tatsache war einfach unerklärlich, ebenso wie Brokos Verschwinden. Die Ereignisse wurden immer verwirrender.
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27. Urien Typhon trifft Dorini Ein bleicher Tyron hob die Hand, Einhalt gebietend. »Wer hat Euch gerufen? Ich kann mich nicht erinnern, Euch eine Einladung geschickt zu haben.« »Nein, mein guter Tyron. Das habt Ihr auch nicht. Ich bin gekommen, weil ich glaube, daß Ihr vielleicht einen Freund gebrauchen könntet.« Während er sprach, war Urien Typhon einen Schritt nähergetreten. »Auf Eure Freundschaft kann ich verzichten, Urien. Wir haben uns nichts zu sagen. Und ich habe kundgetan, daß jeder, der ohne Erlaubnis mein Reich betritt, bestraft wird.« Tyron hob die Stimme und rief: »Wache!« »Niemand wird die Hand gegen mich erheben. Was zu sagen war, habe ich gesagt.« »Euer Preis ist zu hoch, Urien. Ihr würdet mehr verlangen, als Ihr zu geben bereit seid. Ihr und Eure rückgratlosen Freunde. Begreift Ihr denn nicht, daß sie alle nur das Kleinod haben wollen, das ich besitze? Ich und mein Volk kümmern sie überhaupt nicht. In ihrem Ring des Lichts ist für Elfen kein Platz. Seht nur, was sie meinem Vater angetan haben. Sie benutzten ihn für ihre Zwecke und forderten dann zurück, was rechtmäßig ihm gehörte.« »Das Geheimnis war nicht als Bezahlung gedacht, Tyron. Das wißt Ihr sehr gut. Es gehört allen.« »Das soll ich glauben?« sagte Tyron höhnisch. »Ihr habt ihnen ja bereits diese Lügen abgekauft. Dasselbe versuchten sie bereits mit meinem Vater.« »Der Ring des Lichts vertraute Eiorn das Geheimnis an, als der Heilige Schrein in Gefahr war, in Feindeshand zu fallen. Nur so lange sollte er es behüten, bis alles wieder seine Ordnung hatte.« »Und warum hat dieser elende Zwerg den Schrein? Wie will der Ring des Lichts das erklären? Welcher Schwachkopf hat sich diese Dummheit zum Schutz des 173
Schreins ausgedacht?« »Wie es scheint, seid Ihr gut informiert, Tyron.« »Ich halte Augen und Ohren offen«, entgegnete Tyron steif. »Und wie mir scheint, ist die einzige, die vernünftig redet, Dorini.« »Ihr mögt Euch in diesem Gedanken wiegen. Doch ich kenne Eure Hintergedanken und weiß, daß Ihr diese Wälder allein für Euch beansprucht, so wie es der Wille Eures Vaters war. Damals wurde ich an Eiorns Hof immer gern gesehen und bin auch heute noch ein Freund seines Sohnes, ob er es nun will oder nicht.« Tyron stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Ihr nennt Euch meines Vaters und mein Freund?« Er lachte hart auf. »Schöne Worte, Urien. Aber sie kommen zu spät. Ihr, mit Eurer Überheblichkeit und Weisheit, immer fühltet Ihr Euch den Waldelfen überlegen. Mit diesem Fluch habe ich mein ganzes Leben verbracht, ebenso wie mein Vater. Der Waldelf war nie so groß oder schön wie der Wasserelf und wurde nie gern im Ring des Lichts gesehen. Wir haben immer hart gearbeitet und hatten keine Zeit an Lorinis Hof in Cypher herumzuscharwenzeln. Hingegen seid Ihr und Euer Volk die geborenen Höflinge, schnellzüngig und mit feinen Manieren. Das war so recht nach Greyfax’, Melodias’ und Cephus’ Herzen. Sie sind alt und Schmeicheleien nicht abgeneigt.« Dann lächelte Tyron seltsam. »Doch jetzt haben auch Jüngere das Sagen, zum Glück für uns.« »Ihr glaubt also, daß der Ring des Lichts auseinanderbricht, vermute ich?« Tyron verzog höhnisch das Gesicht. »Ich weiß doch, was ich mit eigenen Augen gesehen und Ohren gehört habe.« »Die Finstere Königin ist durchtriebener, als Ihr Euch vorstellt, selbst den Ältesten des Rings eine adäquate Gegnerin. Glaubt Ihr allen Ernstes, daß Ihr ihr gewachsen seid?« »Meine Gesellschaft mißfällt ihr nicht«, sagte Tyron und 174
wurde rot. »Außerdem gesteht sie mir den Besitz dessen zu, was mein ist.« Urien lachte grimmig. »Solange es in ihre Pläne paßt. Und sie ist viel zu klug, es Euch mit Gewalt zu nehmen, denn dann hätte sie keine Möglichkeit mehr, die anderen Geheimnisse und den Schrein an sich zu bringen.« »Das stimmt nicht!« knurrte Tyron wütend und ging drohend auf Urien zu. »Dorini hat mich überzeugt, daß sie, genau wie ich, aufs schändlichste vom Ring des Lichts übervorteilt wurde.« »Gut gesprochen, Tyron. Und hat Dorini Euch auch gesagt, daß sie es war, die die Drachenhorden in die unteren Welten schickte?« fragte Urien. Wieder errötete Tyron. »Das sind doch alles nur Ammenmärchen, die nur jemand glaubt, der nichts zu verlieren hat. Ihr seid ein Narr, Urien. Wahrscheinlich wird kein Waldelf die Hand gegen Euch erheben, aber ich wäre sofort dazu bereit. Ich fürchte Euch nicht, obwohl alle Bücher der Weisheit voll von Euren Heldentaten und denen Eures Volkes sind. Das ist mehr, als ein einfacher Waldelf ertragen kann. Man könnte glauben, daß es die Waldelfen überhaupt nicht gibt. Als hätten wir nie existiert.« Während Tyron redete, hatten sich mehrere Elfen um die beiden Männer versammelt. Zustimmend nickten sie mit den Köpfen. Tyron warf den Kopf in den Nacken und lachte höhnisch. »Doch ich, Tyron, König vom Goldenen Wald, habe immer noch eines der Geheimnisse, allen meinen Feinden zum Trotz. Und ich rechne den Ring des Lichts und ebenso die Wasserelfen zu meinen Feinden, Urien. Ihr seid kein Elf, sondern nur eine Puppe in den Händen von Zauberern, und mein Feind.« Auf diese Worte hin stimmten die Waldelfen ein bedrohliches Gemurmel an. Tyrons Gesicht war nunmehr eine haßverzerrte Maske. Nur Urien schien von den feindseligen Reaktionen unberührt. »Merkt Ihr denn nicht, was geschieht, mein Freund? Erkennt Ihr nicht die Lügen, mit denen die Finstere Königin 175
Euer Hirn vernebelt? Ihr wißt doch genau, daß Euer Vater von jedem Mitglied des Rings hochgeachtet wurde und daß die Waldelfen und Wasserelfen immer Seite an Seite gekämpft und gearbeitet haben. Euer Volk wurde nicht benachteiligt. Diese Lügen hat allein Dorini in Euer Herz gepflanzt.« »Ich bin mein eigener Herr«, zischte Tyron. »Und wenn ich Probleme habe, wende ich mich damit an die eigentliche Königin. Und das ist Dorini. Ich bin es leid, vom Ring des Lichts verraten zu werden. Er hat nie etwas für mich und mein Volk getan. Dorini allein ist die Herrscherin dieser Welten.« Eine Abordnung aus Tyrons Elfen sprang vor und ergriff Urien, der keinen Widerstand leistete. Da erschien urplötzlich mitten in diesem Kreis eine Gestalt, die bisher noch niemand bemerkt hatte, und hob Schweigen gebietend eine Hand. »Du wirst schon deine Belohnung für deine Unverschämtheit bekommen, Elf. Dafür werde ich sorgen«, sagte die kalte, aalglatte Stimme. »Ich weiß, daß du nicht aus eigenem Antrieb hierhergekommen bist. Diese Ältesten des Rings haben dich geschickt, um Zwietracht und Verrat zu säen, doch auch sie werden bald vor mir auf den Knien liegen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich diese Welten für immer beherrsche.« »Euer Finsternis!« rief Tyron und verneigte sich tief vor Dorini. »Ich hatte nicht Euch, sondern Doraki oder Faragon erwartet.« »Sie werden kommen. Bist du bereit?« »Ja, Euer Finsternis.« »Gut. Dann wird unser Plan gelingen. Aber gib mir den Elfen. Er amüsiert mich, er und seine Geschichten.« »Gib ihr den Verräter!« befahl Tyron seinem Untergebenen, und sofort wurde Urien zu der Finsteren Königin gebracht. »Sind die anderen schon aufgetaucht, denen wir so eine hübsche kleine Falle gestellt haben?« »Nein, Euer Finsternis.« »Dann werde ich diesen erbärmlichen Elfen jetzt 176
mitnehmen und auf meinen Beobachtungsposten zurückkehren.« Dorini schnickte mit den Fingern und ging. Urien folgte ihr taumelnd. So verließen sie Tyrons Waldelfen. Als sie außer Hörweite waren, drehte Dorini sich zu Urien um und lächelte. Ihre grünen kalten Augen erstrahlten auf einmal in tiefstem Blau. »Du bist ein guter Schauspieler, Urien. Aber du warst schon immer ein erstaunlicher Bursche.« »Vielen Dank, meine Königin«, erwiderte der Elf. »Ich hoffe nur, wir haben den dickschädeligen Tyron täuschen können. Glaubst du, er hat gemerkt, daß ich gar nicht Dorini bin?« Urien lachte leise. »Ihr habt eine Vorstellung gegeben, Lorini, bei der mir das Blut in den Adern gefror. Ich weiß nicht, was er empfunden hat, aber sein Herz ist verschlossen.« »Er scheint von meiner Schwester sehr angetan, nicht wahr?« fragte Lorini und streifte die Kapuze ab, die ihr langes, goldenes Haar verbarg. »Er steht unter ihrem Bann. In diesem Zustand habe ich ihn noch nie gesehen. Als ob ein Fieber ihn verzehren würde.« »Dorini ist ein Fieber, lieber Urien. Sie brennt aus jedem Herzen die Liebe und läßt in jeder Seele das Krebsgeschwür des Hasses wachsen. Und sie kann gar nicht anders handeln. Diese Rolle wurde ihr zugedacht, und trotzdem fürchte ich mich manchmal vor ihr.« »Genauso ergeht es mir, meine Königin.« »Ich bin erstaunt, daß Greyfax mir diesen Rollentausch vorschlug. Er weiß doch, welche Gefühle ich meiner Schwester gegenüber hege«, sprach Lorini weiter, »denn ich glaubte, man würde mir keine Aufgabe mehr übertragen.« »Und doch war er sehr erleichtert, als Ihr zustimmtet.« »Ich mußte es einfach tun«, entgegnete Lorini leise. »Ich möchte auch einen Anteil am Geschehen haben und nicht 177
tatenlos zusehen oder einfach fortgehen wie in Cypher, an das ich mich lange – obwohl verloren – aus selbstsüchtigen Gründen klammerte.« »Greyfax wußte wohl, daß Ihr eine ausgezeichnete Finstere Königin abgeben würdet«, sagte Urien. »Ja. Und ich glaube, ich habe meine Sache gut gemacht. Es war eine wichtige Erfahrung, mich in meine arme Schwester hineinzuversetzen.« »Und Greyfax? Wird er bald kommen?« »Sobald er bereit ist. Und sobald wir zum letzten Schlag ausholen, wird er mit den anderen kommen.« »Glaubt Ihr, daß auch Broko den richtigen Weg finden wird?« »Alles wurde bis ins Letzte geplant«, antwortete Lorini. »Dann kehre ich jetzt am besten zu meinen Männern zurück.« »Und ich muß meine Rolle zu Ende spielen«, sagte Lorini lächelnd. Mit einer schnellen Gebärde setzte Lorini wieder die Kapuze auf und verwandelte sich in ihre Finstere Schwester. Nur zögernd verneigte Urien sich. Dann eilte er in den dämmrigen Wald. Und hinter dem Waldsaum, wo Tyron mit seinem Volk versammelt war, machte sich Faragon Fairingay zum Letzten Tor auf.
28. Tyrons Hoffnungen zerschlagen sich Während Lorini mit Urien fortging, schwebte noch ein finsterer Schatten über der Lichtung und senkte sich dann nieder, bis er neben Tyron dem Grünen stand. Das Gesicht des Elfen erbleichte. Kein Wort wurde zwischen den beiden gewechselt, denn Tyron spürte den Zorn des Finsteren Fürsten. Seine hohlen Augen verzehrten Tyron und erfüllten ihn mit nicht enden wollender Verzweiflung, und 178
sein Herz erstarrte zu Eis. Ein Entsetzensschrei entschlüpfte Tyrons Lippen, und er sank vor der Horrorgestalt Dorakis in die Knie. »Was wünscht Ihr?« fragte Tyron mit lauter Stimme, weil er den eisigen, pfeifenden Wind, der ihn plötzlich umgab, übertönen wollte. »Ich wünsche mit einem Elfen zu sprechen, der zum letzten Mal Dorinis Güte und Langmut mißbraucht hat. Diese Dummheit wird er bitter büßen.« »Ich habe gerade mit Ihrer Finsternis gesprochen«, krächzte Tyron, der nur unter größter Anstrengung diese Worte über die Lippen brachte. »Du elender blinder Elf! Du hast nicht mit Dorini gesprochen. Du sprachst mit ihrer Schwester. Irgendwie ist es ihr gelungen, ihre Nase in unsere Angelegenheiten zu stecken. Aber wir werden uns um sie schon noch kümmern. Wir halten ihr Balg gefangen, das wird sie zur Vernunft bringen.« Tyron brachte nur ein gurgelndes Krächzen hervor. »Rede, du Idiot! Gefällt dir unser Plan nicht mehr? Oder fühlst du dich hintergangen. Vielleicht kann ich es einrichten, dich an den Spielchen Ihrer Finsternis teilhaben zu lassen. Würde dir das gefallen? Wie schon diesem Narren von deinem Vater geschehen.« Tyrons Augen wurden groß vor maßlosem Entsetzen. »Das ist eine Lüge. Mein Vater ist in die Heimat zurückgekehrt, jenseits Eures Machtbereichs.« »Ich habe dir doch diesen Ring deines Vaters gebracht, an dem er so hing. Auch er glaubte schon, Ihre Finsternis übervorteilen zu können. Doch bald mußte er merken, daß man nur bekommt, was man verdient. Ihre Finsternis war schnell seines blöden Geschwätzes müde. Sie konnte ihn nicht mehr brauchen, er hatte aufgehört, sie zu amüsieren. Jetzt erledigt er mit dem übrigen Pack die niederen Arbeiten in ihren Reichen.« Dorakis Blick sog Tyron in die furchtbare Finsternis. »Jetzt kannst du einmal sehen, wie dein eigenes Schicksal 179
aussehen wird.« Unfähig, den Blick abzuwenden, fühlte Tyron, wie er tiefer und tiefer in einer bodenlosen Verzweiflung versank. Visionen bedrängten ihn von allen Seiten – große Drachenköpfe, die mißgestalteten Gorgolac-Krieger. Tyron schrie laut auf und versuchte, die Augen zu schließen und das Gesicht mit den Händen zu bedecken, doch er konnte sich Dorakis Geist nicht entziehen. Häßliche Flammen züngelten an ihm empor, und der Elf wußte, daß er nun ein Gefangener von Dorakis Gedanken war, ihnen hilflos ausgeliefert. Schlachtengetümmel umgab ihn; geifernde Worlughs bleckten ihre gelben Zähne, und klauenbewehrte Hände griffen nach ihm und versuchten, ihn zu erwürgen. Wahnsinnig vor Angst brach der Elf in ein schreckliches Gelächter aus und versuchte, aus diesem Inferno zu entkommen. Körper brannten auf Scheiterhaufen, und diese Körper waren alle Elfen, Elfen seines Volkes. Tyron schrie vor Todesangst auf. Er schrie und bettelte Doraki um Gnade an. Da entblößte Doraki die Zähne zu einem häßlichen Lächeln. »Aber du hast deinen edlen Vater noch nicht gesehen«, sagte Doraki höhnisch. Da erschien eine alte, zerlumpte Gestalt, von körperlichen und seelischen Schmerzen gebrochen. Lange starrte Tyron die erbärmliche Gestalt an, bis er schließlich Eiorn, seinen Vater, erkannte. Eiorn versuchte etwas zu sagen, doch kein Laut kam über seine aufgesprungenen Lippen. Tyron schrie auf, konnte jedoch den Blick von seinem Vater nicht abwenden. Er trat einen Schritt näher, um zu verstehen, was die alten welken Lippen sagen wollten. »Gib das Geheimnis auf«, kamen endlich die kaum verständlichen Worte. »Geh fort!« schrie Tyron. »Du bist nur ein Schattenbild. Geh fort!« Verzweifelt versuchte Tyron zu fliehen. »Das ist die einzige Lösung, mein Sohn«, krächzte die dünne Stimme da 180
wieder. »Du mußt das Geheimnis zurückgeben. Dann werden wir beide frei sein. Ich bin nur hier, weil du das Geheimnis behältst.« »Du bist nicht mein Vater. Geh fort! Hörst du?« »Du wirst es ihnen geben, Tyron. Sie haben mich in ihr fürchterliches Reich geholt, und ich werde nicht eher frei sein, bis du ihnen das verdammte Geheimnis gibst. Das ist es nicht wert, mein Sohn. Mich hat es ins Verderben geführt, und du wirst auch dort enden. Gib es ihnen, dann wirst du Ruhe und Frieden haben, ohne diese Qualen. Denk daran, Tyron.« Tyron rollte wild mit den Augen und schlug wie von Sinnen um sich. »Geh weg, du alter Narr. Ich weiß, du bist nur eine Schattengestalt, eine Vision, um mir das Geheimnis zu entlocken. Freiwillig muß ich es ihnen geben, sonst nützt es ihnen nichts. Nun wollen sie mich auf diese Weise erpressen. Aber ich weiß, du bist nur eine Vision Dorakis. Ich höre dir nicht mehr zu.« Tyron bedeckte die Ohren mit den Händen und sagte sich immer wieder vor, daß dieses grauenhafte Bild nur eine Horrorvision Dorakis wäre. »Möchtest du dir nicht diese Todesqualen ersparen?« gurrte da der Finstere Fürst mit samtweicher Stimme. Er hatte eine andere Taktik eingeschlagen. »Dann wäre dein Vater frei, und du könntest auch deine lächerlichen Träume vergessen und Ruhe finden.« »Ich brauche dieses Land für mein Volk!« rief Tyron, der froh war, wieder Dorakis Stimme zu hören. »Dein Volk ist das gar nicht wert. Sie konnten nicht einmal Urien Typhon gefangennehmen, der die Kühnheit besaß, hierherzukommen. Diese Waldelfen sind einfach dumm. Uriens Elfen waren immer gefährliche Gegner.« Doraki brach in ein grausames Lachen aus. »Dorini hat sich wirklich königlich amüsiert, als sie diesem Gnom von einem Elfen ihr Ohr lieh, der behauptete, er habe etwas, das für sie von Interesse wäre.« 181
Bei diesen Worten kehrte Tyrons alter Stolz zurück und besiegte die Furcht, die er vor Doraki hatte. »Nein. Ich werde das Geheimnis behalten«, keuchte er. »Solange ich es habe, bin ich in Sicherheit vor Euch und Eurer Finsteren Königin.« Doraki knurrte wütend und deutete auf die erschreckten Elfen, die sie umstanden. »Sieh dir nur diese elenden Gnome an. Wie nasse Kartoffelsäcke hängen sie herum. Sie sind als Verbündete wertlos. Genau wie du, du aufgeblasener Hampelmann. Wie konnten sie nur dich zum König machen!« »Ich kann Euch nicht besiegen, Doraki, noch Euch befehlen zu gehen«, rief Tyron, »aber ich kann Euch die Herausgabe des Geheimnisses verweigern. Und das werde ich mein Leben lang tun und Euch und die Finstere Königin bekämpfen. Vielleicht haltet Ihr meinen Vater gefangen, vielleicht auch nicht. Denn Ihr und Dorini schreckt vor nichts zurück, und ich glaube Euch nichts mehr.« »Du tätest gut daran, uns zu glauben«, erwiderte Doraki mit eiskalter Stimme. »Dorini wird nicht erfreut sein, wenn sie hört, was hier geschehen ist. Sie haßt es, mit Stümpern zu tun zu haben.« »Ich mache mir nichts aus ihrem Zorn«, gab Tyron zurück. »Mein Geheimnis behalte ich.« »Selbst auf das Risiko hin, daß wir deinen Vater haben?« fragte Doraki. »Ich glaube nicht, daß Ihr ihn habt, selbst wenn Ihr mir seinen Ring gegeben habt«, erwiderte Tyron. »Jeder hätte zufällig auf seine Gruft stoßen können.« »Wir werden weitersehen, mein Freund«, sagte Doraki. »Ich habe meine Befehle dich betreffend. Jederzeit kann ich dich erreichen, und dann werde ich mich auf meine Weise mit dir vergnügen. Ich bin berühmt dafür, mich schon seit Jahrhunderten mit Elfen zu vergnügen.« Doch ehe Tyron antworten konnte, hatte sich Doraki in die Lüfte erhoben und war fort. Tyron schüttelte nur 182
ohnmächtig die Fäuste nach der entschwundenen Gestalt.
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Fünfter Teil Hinter dem Letzten Tor
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29. In Bruinlens alter Höhle Ganz starr vor Entzücken stand Olther auf dem staubigen Tisch; seine Augen spiegelten lang vergessene Erinnerungen, die ihn überfluteten, so wie einst die sanften Wogen des Cheer Weir, dessen leises Plätschern und Murmeln ihn in den Schlaf wiegte, während er auf der glasklaren Wasseroberfläche dahintrieb. Hinter ihm schmatzte und rülpste es. Geräuschvoll taten sich die Freunde an den Speisen und Getränken gütlich. Ned steckte hastig einen Finger in den Honigtopf, ehe er ihn an Flewingam weiterreichte, der ihn auf den Tisch zurückstellte, wo Bruinlen ihn gefunden hatte. »Was, in aller Welt, glaubst du, hat Broko jetzt im Sinn?« brummte Bruinlen und schüttelte ratlos den riesigen Kopf. »Ich hatte doch gehofft, daß Greyfax recht behalten würde mit seiner Vorhersage, daß wir uns allmählich dem Ende unserer Reise nähern. Aber wie soll denn alles in Ordnung kommen, wenn wir Broko nicht wiederfinden und dafür sorgen, daß der Heilige Schrein sicher zu Greyfax und Lorini gelangt oder zu irgend jemandem, der ihm den Ring des Lichts zurück gibt.« »Kannst du dich noch daran erinnern, Bruinlen?« zwitscherte Olther und überging völlig die bekümmerten Worte seines großen Freundes. »Woran erinnern?« fragte Bruinlen kurz angebunden. »Als wir dich trafen, hattest du so einen albernen Umhang um, und der Hut auf deinem Kopf war so winzig, daß er zwischen deinen Ohren saß.« »Es war ein sehr ungewöhnlicher Hut«, grollte Bruinlen beleidigt, »und ich kann mich sehr wohl an den Augenblick erinnern, auf den du anspielst. Ich habe mich in der Kunst der alten Bärenweisheit geübt und einen Zauber ausprobiert.« Olther kicherte, sprang vom Tisch und ging zum rückwärtigen Teil der Höhle. Vor dem großen leeren 185
Bierfaß blieb er stehen. »Bärenweisheit, in der Tat«, spottete Olther. »Du warst bis zu den Ohren voller Bärenweisheit.« »Na, und dir ist es wohl auch nicht bekommen, deine Nase zu tief in dieses Bärengebräu zu stecken. Wenn ich mich recht entsinne, mußte ich dich und Broko ins Bett tragen, damit ihr euren Rausch ausschlafen konntet.« »Es hat mich so in der Nase gekitzelt und gebitzelt«, zwitscherte Olther. »Aber es war nicht mehr lustig, als ich aus meinem Nickerchen erwachte. Ich hatte das Gefühl, als wäre mir ein Baum auf den Kopf gefallen. Ich bin froh, daß ich diese Erfahrung hinter mir habe, sie wird mir eine Lehre sein.« »Vermute ich richtig, daß Bärengebräu eine Art Bier ist?« fragte Ned Thinvoice, der aus dem trüben Licht des Eingangs zu Olther hinüberging. »Ja, man könnte es damit vergleichen, Ned«, prahlte Bruinlen, »obwohl ein gutes Bärengebräu aus Baumrinde eher als Gesundheitstee zu betrachten ist. Jedenfalls habe ich es nach einem alten Rezept meiner Mutter angesetzt.« Ned hatte den Zapfhahn herausgedreht und versuchte, in das Innere des leeren Fasses zu spähen. »Kein Tropfen mehr drin, verdammtes Pech«, schimpfte er und drehte so heftig am Spund, daß er abbrach. »Was ein Glück für uns«, warf Cranfallow ein, »dir bekommt Bier auch nicht besonders gut. Wenn du es nicht wieder ausspuckst, steigt es dir so zu Kopf, daß du immer irgendeinen Blödsinn angezettelt hast und prompt in eine Schlägerei verwickelt wurdest.« »Gib nicht so an, Cranny. Ich habe dich schon voll wie eine Strandhaubitze beim Wacheschieben erwischt. Du hast so geschielt, daß dir fast die Augen aus dem Kopf gefallen wären.« Während sich die Freunde gegenseitig neckten, hatte sich Flewingam neben Brokos Fußabdruck auf den Boden gekniet und untersuchte ihn eingehend. »Wie wär’s, wenn ihr beide mal an etwas anderes als eure trunkenen 186
Abenteuer denken würdet«, rügte er. »Mir scheint, die fröhlichen Zeiten sind vorbei. Was ist hier passiert? Wem ist Broko begegnet? Und wohin sind die beiden dann verschwunden?« »Nicht einmal ein kleiner Rausch wird einem vergönnt«, klagte Ned. »Was haben wir doch für lustige Sachen erlebt, wenn der Krug die Runde machte. Es ist schon so lange her, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Seit Broko uns auf diese Seite des verdammten Flusses gebracht hat, scheint jeder Spaß aufzuhören.« »Wir können deinen Ärger ja verstehen, Ned. Aber wir müssen Broko finden, ehe er in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Oder ihn zumindest finden, damit Fairingay oder Greyfax ihm beistehen können. Es hat keinen Zweck, sich etwas vorzumachen: Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns wieder auf die Suche nach ihm zu machen, so wie auf der anderen Seite vom Calix Stay. Ich weiß, das ist nicht sehr ermutigend, und ich verstehe auch nicht, wie es passieren konnte, aber das ist nun mal unsere Aufgabe. Vielleicht hat Faragon so etwas vorhergesehen und ist schon auf dem Weg hierher.« Bruinlen brummte nur. »Wann ist schon je ein Zauberer aufgetaucht, wenn wir ihn gebraucht hätten?« »Früher oder später haben sie uns immer geholfen«, widerspach Olther. »O ja, natürlich, wenn die Schmutzarbeit erledigt war und der Staub sich verzogen hatte. Dann tauchten der gute Greyfax oder unser schlauer Faragon plötzlich auf. Erst, wenn es nichts mehr für sie zu tun gab, zeigten sie sich gnädigerweise in unserer Mitte.« »Es ist schon sehr merkwürdig, daß Faragon wieder so spurlos verschwunden ist«, stimmte Ned zu. »Ebenso seltsam wie sein Auftrag, diesen komischen Kauz, Broko, zu bewachen, der plötzlich, wie von allen bösen Geistern gejagt, mitten im feindlichen Wald verschwindet und dann wieder mit einem zweiten sonderlichen Wesen seiner Art 187
auftaucht.« »Sieh doch nur, Bruinlen«, zwitscherte da Olther aufgeregt. »Broko oder sein Freund oder auch beide haben in deinen alten Büchern gelesen.« »Das ist wohl ein unwahrscheinlicher Zeitvertreib für jemanden, der auf der Flucht ist«, wandte Flewingam ein und betrachtete die Bücherreihen. Jemand schien sich tatsächlich daran zu schaffen gemacht zu haben. Flewingams Blick glitt prüfend über die schweren Folianten, und er wandte sich dann an Bruinlen. »Wo hast du alle diese Bücher gefunden? Und wie hast du sie hierhergebracht?« »Lange, ehe ich Broko überhaupt begegnete oder von ihm gehört hatte, entdeckte ich diese Höhle und beschloß, hier einzuziehen. Sie ist geräumig, trocken und erschien mir sehr zweckdienlich. Also ließ ich mich hier nieder, säuberte sie und richtete mich gemütlich ein. Sie ist ein großartiger Unterschlupf.« Bruinlen deutete auf die tiefen Schatten im hintersten Teil der Höhle. »Dort entdeckte ich dann, daß diese Höhle nur der oberste Teil eines weitverzweigten Systems von Schächten und Tunneln ist, das diesen Abschnitt des Waldes durchzieht. Ich fand drei oder vier Fluchtwege für den Fall, daß es hier drin gefährlich werden sollte. Und es gibt außerdem drei oder vier geheime Gänge, die zu verschiedenen Plätzen im Goldenen Wald führen. Damals ergab sich die Notwendigkeit nicht, einen dieser Ausgänge zu benutzen, und ich hatte sie ganz vergessen. Nur von Zeit zu Zeit trieb mich die Neugier in einen der Gänge, und bei einem dieser Ausflüge entdeckte ich diese Bücher, tief unterhalb der Höhle, wo wir jetzt sind. Tagelang habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie sie wohl in dieses Versteck gekommen sind und wem sie gehören mochten. Da sie in verschiedenen Sprachen geschrieben sind, nahm ich schließlich an, daß Menschen sie verfaßt haben und es 188
irgendeinen unerklärlichen Grund gibt, warum sie die Bücher hier so tief in der Erde, mitten im Goldenen Wald, versteckt haben.« »Und haben Menschen sie hierhergebracht?« fragte Cranny. »Das ist nur eine Vermutung von mir, und der Gedanke erschreckte mich, denn ich befürchtete, sie würden eines Tages hier auftauchen und die Bücher holen. Daraufhin habe ich mir noch ein, zwei sichere Verstecke gesucht, aber natürlich erschien nie jemand hier. Nur meine lebhafte Phantasie gaukelte mir alle möglichen Schreckensbilder vor, und ich sah den Goldenen Wald von Eindringlingen überschwemmt. In jenen Zeiten waren wir hier sicher. Niemand konnte den Calix Stay überqueren. Ich weiß nicht, was seither geschehen ist, alles scheint sich geändert zu haben.« »Also hast du die Bücher irgendwo da unten gefunden?« erkundigte sich Flewingam erneut und näherte sich zögernd der Mauer aus Dunkelheit, die sich hinter dem flackernden Licht der Kerze erstreckte. Bruinlen nickte. »Ich ließ einige Zeit verstreichen, und als sich keine Fremden im Wald herumtrieben oder nach den Büchern suchten, dehnte ich meine Erkundungsgänge aus und drang weiter und tiefer in die Tunnel vor, bis ich das Gefühl hatte, im Zentrum der Erde zu sein.« Bruinlen lächelte wissend. »Später sind wir dann ja viel tiefer vorgestoßen und sogar den Wurzeln begegnet, doch damals hatte ich noch keine Ahnung von all diesen Dingen und Angst, mich zu weit vom Licht der oberen Höhlen zu entfernen.« »Diese Fußabdrücke führen dort hinunter«, stellte Flewingam fest. »Wohin Broko auch verschwunden sein mag, er ist nicht nach draußen geflohen.« »Was willst du damit sagen, Flewingam?« zwitscherte Olther. »Schau. Diese Spuren führen alle in eine Richtung – tiefer hinein in die Höhle. Und es ist nicht anzunehmen, daß Broko rückwärts gegangen ist, nur um uns in die Irre zu 189
führen.« Olther und Bruinlen studierten nun ebenfalls eingehend die Fußabdrücke, und auch Ned und Cranfallow gesellten sich dazu. »Und wenn mich nicht alles täuscht«, meinte Ned, »ist das wieder so ein Pfad, der direkt in eine dieser Schlangengruben führt.« Er schnaubte verächtlich. »Aber unser lieber alter Ned Thinvoice setzt da keinen Fuß mehr hinein. Ich habe meine Lektion gelernt. Keine zehn Pferde bringen mich dazu, noch einmal in diese finsteren Grüften hinabzusteigen, wo kein Sonnenstrahl mehr eindringt.« Cranfallow nickte bekräftigend. »Wir wären in dieser Überschwemmung ja fast ertrunken. Ich zittere jetzt noch am ganzen Leib«, sagte er abwehrend. »Diese dunklen Löcher können mir gestohlen bleiben.« »Das kann ich gut verstehen«, sagte Flewingam ruhig. »Mir graut auch davor, dort hinunterzukriechen. Aber wir müssen Broko suchen und die Hügel erreichen, die Faragon uns gezeigt hat.« »Diese Idee gefällt mir ganz und gar nicht«, entgegnete Cranfallow. »Ich glaube, daß wir so schnell wie möglich aus diesem verfluchten Wald verschwinden und bei Faragon oder Greyfax Schutz suchen sollten. Dann kann keiner verlorengehen, und wir müssen uns nicht in unheimlichen Höhlen herumtreiben.« »Er hat recht«, stimmte Ned zu. »Aber wenn Broko dort unten verschwunden ist, müssen wir ihm folgen«, protestierte Bruinlen. Er schluckte schwer und fügte mit weit aufgerissenen Augen hinzu: »Ich wage nicht daran zu denken, was uns dort erwartet, aber wir haben keine Wahl.« In Gedanken erlebte er noch einmal das Grauen, als er in die tosenden Fluten des Urstroms gefallen war und undurchdringliche Dunkelheit ihn verschlang, so daß er jede Hoffnung begrub, jemals wieder die Heiterkeit eines sonnigen Sommertages zu erleben. »Wir können Broko und wer immer bei ihm ist, nicht im 190
Stich lassen«, drängte nun auch Olther. »Wie sollten wir das Faragon erklären?« »Ganz einfach. Wir erzählen ihm, wie gräßlich es in diesen elenden Drecklöchern ist, und bringen ihn dann hierher, damit er selbst seine Nase hineinsteckt.« »Ned hat gar nicht so unrecht«, überlegte Flewingam laut. »Ich sehne mich keineswegs danach, ohne Faragon in diese düsteren Gänge vorzustoßen. Vielleicht sollten wir hier warten, bis er zurückkommt und dann gemeinsam losziehen.« »Woher willst du wissen, ob er uns hier findet?« fragte Bruinlen. Olther war wieder auf den grob behauenen Tisch gesprungen, pfiff durchdringend und hob eine Pfote. »Jedenfalls sollten wir unsere Pläne nicht so laut hinausposaunen. Dieser Wald hat tausend Ohren. Dort draußen liegen so viele Elfen im Hinterhalt, und wie Bruinlen berichtete, warten sie nur darauf, uns das Fell über die Ohren zu ziehen. Die Frage lautet: Wo ist Dorini? Und wo ist Doraki? Die Lage hat sich wesentlich verschlechtert, da wir ja wissen, daß die finsteren Mächte jetzt jede Gestalt annehmen und uns dazu verleiten können, ihnen das zu verraten, was sie wissen wollen.« »Wozu wir uns auch entschließen, hier sind wir nicht sicher«, entschied Flewingam. »Vielleicht sollten wir in einem der Bücher nachlesen und nach einem Hinweis suchen, wie es weitergehen soll.« »Und damit wären wir wieder dort, wo unsere ganze Diskussion begonnen hat«, bemerkte Ned. »Dauernd reden wir über diese Bücher und was mit unserem lieben Broko geschehen sein mag.« »Und zuerst sah alles nach einer friedlichen Heimkehr aus«, brummte Bruinlen düster und ließ den Kopf hängen. »Doch jetzt stelle ich fest, daß alles nur noch schlimmer geworden ist. Ich glaube, daß der Zwerg, den Broko getroffen hat, einer seiner längst verschollenen Cousins sein muß, der am Bau der unterirdischen Festung beteiligt 191
war. Einige dieser Tunnel erinnern mich sehr an die Zwergenbauten, die wir schon einmal gesehen haben, Olther.« »Glaubst du etwa, das ist eine Zwergenfestung dort unten?« fragte Olther, und seine grauen Schnurrhaare kräuselten sich erstaunt. »Damals wußte ich das nicht«, fuhr Bruinlen fort, »denn ich hatte ja noch nie einen Zwergenbau gesehen und nahm natürlich an, daß Menschen ihn geschaffen hätten.« »Wie tief führen diese Gänge denn hinunter?« fragte Flewingam. »Sie erreichen bei weitem nicht die Tiefe, die wir kennengelernt haben«, antwortete Bruinlen. »Auf dieser Seite vom Calix Stay hat Tiefe eine andere Bedeutung.« »Dann könnten wir es also wagen, ihm zu folgen? Ohne auch nur in die Nähe der bedrohlichen Untiefen der Erde zu kommen?« fragte Olther und richtete sich auf den Hinterpfoten auf. »Da mache ich nicht mit!« wehrte Ned Thinvoice wütend ab. »Ich will nichts mehr mit Höhlen oder Elfen oder Freunden, die dauernd in Schlangengruben herumschnüffeln, zu tun haben.« Er warf den Kopf in den Nacken. »Und laßt mich mit Zwergen in Ruhe. Ich habe die Nase voll von ihnen.« »Das ist aber eine feine Rede, Ned«, spottete Cranfallow. »Und was willst du tun, wenn du hungrig wirst und unsere Freunde hier den Proviant mitnehmen, weil sie sich auf die Suche nach Broko machen? Da bleibt für zwei Drückeberger nichts übrig, außer sie entschließen sich dazu, doch mitzugehen.« »Ich habe überhaupt keine Lust dazu«, klagte Ned weiter. »Psst!« befahl Olther. »Ich habe da unten ein Geräusch gehört!« Die Gefährten erstarrten und lauschten angestrengt. Doch nichts drang durch das unheimliche Schweigen, und ein dunkler Schatten böser Vorahnungen senkte sich in ihre 192
Herzen.
30. Auftakt Greyfax Grimwald sah Faragon Fairingay ernst an, der am anderen Ende des langen Tisches saß, den Kopf in die Hände gestützt. Lorini stand hinter ihm. Ihre schmale, zarte Hand ruhte auf seiner Schulter. »Ihr habt Eure Rolle sehr überzeugend gespielt, lieber Fairingay. Es hätte nicht besser ablaufen können«, sagte Lorini sanft. »Mir ist, als hätte ich den Ring des Lichts verraten«, flüsterte Faragon kaum verständlich. »Ich weiß, wie dir zumute ist, junger Freund«, tröstete ihn Greyfax. »Ich war des öfteren in einer ähnlichen Lage und kann deine Gefühle sehr gut verstehen. Diese Art von Spiel widerstrebt einem zutiefst.« »Und Ihr, meine Fürstin?« fragte Faragon. »Verspürt Ihr nicht ein Gefühl des Unbehagens, weil Ihr eine Weile Eure Finstere Schwester verkörpert habt?« »Ich weiß nicht, ob es Unbehagen ist, das ich in mir fühle. Dieser Rollentausch hat mir völlig neue Einblicke in ihr Wesen gegeben. Ich kann sie nun mit ihren eigenen Augen sehen und verstehe das Elend und Leid, das sie zu ertragen hat. Vielleicht bedrückt Euch ebenfalls dieses Wissen um Dorakis wahres Wesen, da Ihr ja an seiner Stelle mit Tyron verhandelt habt. Es ist erschreckend, in die Abgründe einer anderen Seele zu blicken.« »Ich kann Euren Ausführungen nicht ganz folgen«, erwiderte Faragon mit gerunzelter Stirn und streifte Lorini mit einem flüchtigen Blick. »Ich will es Euch erklären. Der Hohe König Windameirs hat mir die Aufgabe übertragen, die Identität meiner Schwester anzunehmen. Und es erschreckt mich im nachhinein zutiefst und stimmt mich gleichzeitig sehr 193
traurig, daß ich in diesem Moment wie sie dachte und fühlte.« »Ich glaube, Lorini hat die richtige Erklärung für dein Unbehagen gefunden, alter Freund. Du fühlst dich schuldig, weil du Tyron zu grob behandelt hast, und schreckst vor dem Bösen zurück, das dieser Rollentausch in dir geweckt hat.« »Ja, das mag zutreffen«, gestand der junge Zauberer widerstrebend. »Es war sehr unerfreulich, diesen starrsinnigen Elfen so zu behandeln, obwohl er einem wirklich den Nerv töten kann mit seiner ewigen Forderung nach einem eigenen Reich für sein Volk. Aber so wollte ich den Burschen wirklich nicht quälen.« »Um unserem Plan zum Erfolg zu verhelfen, mußtest du Tyron hart anfassen. Die Weichen sind nun gestellt.« »Ihr könnt Greyfax vertrauen, mein junger Freund. Wir stehen kurz vor der endgültigen Entscheidung. Ihr kennt Erophins Anordnungen.« »Ja, aber es fällt mir schwer zu glauben, daß die Lage so ernst ist.« »Mehr als das, Faragon. Wir waren bereits in früheren Zeiten in ähnlichen verzweifelten Situationen, von Zerfall und Vernichtung bedroht. Ihr zähltet damals noch nicht zum Ältestenrat. Die Ordnung diesseits des Letzten Tores zerbrach, und wir zogen uns hinter die Grenzen zurück, um zu beraten, und beschlossen dann einen Neubeginn für die unteren Welten.« »Ja, und damals wurdet Ihr, meine Fürstin, und Eure Schwester als Regentinnen eingesetzt«, sagte Faragon. »Das ist mir bekannt.« »Und nun steht uns wieder ein Umbruch bevor. Nur werden diesmal die unteren Welten nicht zerstört werden. Die Welt vor den Zeiten wird weiterbestehen, doch im Unterschied zu damals bleiben der Heilige Schrein und die Fünf Geheimnisse in diesen Regionen, um den Überlebenden den Weg in die Heimat zu weisen.« 194
»Und wir werden hier mit unseren Gefährten vereint sein«, fügte Lorini hinzu. »Ich wagte bereits nicht mehr daran zu glauben, doch meine kühnsten Erwartungen wurden übertroffen.« »Wann werden wir Greymouse und Melodias Wiedersehen?« fragte Faragon wieder etwas ermutigt. »Sie versammeln eben jetzt ihre Armeen und marschieren zum Letzten Tor. Ich denke, wir werden dort auch Cephus, den Hüter der Sterne, und vielleicht sogar Erophin antreffen.« Greyfax lächelte und sprach dann weiter. »Du siehst also, dein Rollentausch war absolut erforderlich, sonst hättest du deine Freunde im Stich gelassen.« »Und doch bin ich nicht glücklich darüber«, wandte Faragon niedergeschlagen ein. »Es war eine Erfahrung, alter Freund. Und du wirst wohl nie wieder in eine ähnliche Zwickmühle geraten. Ich fürchte nur, wir werden es in Zukunft ausschließlich mit dem echten Doraki zu tun bekommen.« »Und beide, er und seine Königin, werden höchst erstaunt über Tyrons neue und für sie gefährliche Einstellung ihnen gegenüber sein. Der Elfenkönig wird Dorini und Doraki wohl keinen sehr freundlichen Empfang bereiten.« »Aber Tyron hat keine Macht über sie. Hoffentlich habe ich ihn nicht so gereizt, daß er sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen läßt und Dorini zwingt, ihn zu töten, oder noch Schlimmeres.« Greyfax stand auf, schob den Stuhl zurück und wandte sich wieder an seinen jungen Freund. »Dorini hat bereits von Tyrons Geist Besitz ergriffen und die Saat der Finsternis in sein Herz gesenkt. Er ist bis zu einem gewissen Grad nur ein willenloses Werkzeug in ihren Händen. Und Broko, der in ihrem Eispalast gefangen war, ist in dieser Hinsicht ebenso gefährdet. Sie übt eine starke Macht über ihre Anhänger und jene, die sie fürchten, 195
aus. Ihr Haß wirkt auf eine gewisse Weise faszinierend.« Als Greyfax schwieg, ergriff Lorini das Wort. »Doch es ist nicht nur Haß, der sie antreibt. In meiner Rolle als Dorini habe ich auch ihre furchtbare Angst erlebt. Sie zittert vor ihrem eigenen Wagemut, Windameir herausgefordert zu haben. Angst ist ihre eigentliche Antriebsfeder.« »Gewalt und Gier nach Macht würde ich nicht als Angst bezeichnen. Diese Triebe haben sich erst allmählich in ihr entwickelt. Zunächst war sie ja ganz zufrieden als Herrscherin der unteren Welten, die ihr und Lorini anvertraut worden waren. Doch dann fand sie Geschmack an der Macht und strebte danach, uneingeschränkt über diese Regionen zu herrschen, und vertrieb schließlich ihre Mitregentin aus diesen Welten. Lorini floh nach Cypher, um von dort aus die finsteren Mächte in Schach zu halten. Doch nun holt Dorini zum letzten, endgültigen Schlag aus und setzt alles auf eine Karte. Sie muß den Heiligen Schrein in ihren Besitz bekommen, denn solange er existiert, stellt er eine Bedrohung für ihre Herrschaft, die nur aus Lügen und Betrug besteht, dar.« »Ja, denn der Schrein birgt die Wahrheit. Und alle, die sie mit falschen Versprechungen geblendet hat, werden sich an die wahren Worte erinnern und ihre wirkliche Heimat suchen«, schloß Lorini. »Dorini ist also im Zugzwang. Sie muß jetzt eine Entscheidung herbeiführen und wird dafür alles riskieren. Sie muß den Träger des Heiligen Schreins und seine Fünf Geheimnisse unbedingt in ihre Gewalt bekommen. Dieser Schrein ist gleichzeitig eine tödliche Bedrohung und Ziel ihrer sehnlichsten Wünsche. Sie hat keine Wahl – entweder sie entmachtet dieses Symbol des Lichts, oder sie verliert alles, wofür sie gekämpft hat.« Faragon strich sich erschöpft mit der Hand über die Stirn. »Hat sie denn die Kraft, den Schrein zu überwältigen?« Greyfax seufzte und blickte nachdenklich in das goldene Licht der Sonne hinaus. 196
»Darum geht es im Grunde genommen nicht. Sie muß nicht den Kampf um den Schrein oder die Fünf Geheimnisse gewinnen. Sondern ihre Herausforderung, der sie nicht widerstehen kann, ist, ihre Kraft mit der Macht Windameirs zu messen. Dieses ehrgeizige Ziel verfolgt sie. Über diese wahren Beweggründe ihres Handelns hat sie die unteren Welten im unklaren gelassen und sie in Finsternis und Unwissenheit geführt.« Greyfax wandte sich vom Fenster ab und sprach langsam weiter. »Du weißt selbst, wie unermüdlich wir über unendliche Zeiträume hinweg darum gekämpft haben, daß die Geheimnisse auch jenseits vom Calix Stay nicht in Vergessenheit geraten. Den Suchenden muß die Hoffnung erhalten bleiben, daß Windameir auf sie wartet und ihre wahre Heimat ist, in die sie eines Tages zurückkehren können.« Der ältere Zauberer lächelte flüchtig. »Ja, ich glaube, Dorini hat die Kraft, die Geheimnisse zu überwältigen.« Faragon schnappte entgeistert nach Luft. »Aber ich weiß nicht, für wie lange«, fügte Greyfax hinzu. »Und das werden wir am Letzten Tor in Erfahrung bringen«, sagte Lorini. »Von Anfang an haben alle Wege dorthin geführt«, fuhr Greyfax fort. »Seltsame Irrungen und Wirrungen haben die Welten seit ihrer Erschaffung erlebt, und nun liegt das Schicksal der gesamten Schöpfung in den Händen eines machtgierigen Elfen und eines verwirrten Zwerges, der ebenfalls nach Macht strebt. Und diese beiden werden im Kampf aufeinanderprallen, nicht nur um die Herrschaft im Goldenen Wald oder Gilden Tarn, sondern im Kampf um die grundsätzliche Entscheidung, wer fürderhin die unteren Regionen Windameirs regieren wird – die Finsternis oder das Licht.« »Ohne ihre Armeen kann Dorini nicht viel ausrichten«, wandte Faragon hoffnungsvoll ein, mehr um seine eigenen Zweifel zu beschwichtigen, als Greyfax und Lorini Mut zu 197
machen. »Unsere Streitkräfte hier sind auch nicht gerade gewaltig«, sagte Greyfax. »Abgesehen von den Grenzposten und jenen, die den Großen Fluß überquert haben, werden nicht viele unter unserem Banner marschieren. Wir verfügen in diesem Sinne über keine eigentlichen Armeen.« »Doch selbst Erophin wird uns wahrscheinlich zu Hilfe kommen. Und natürlich Melodias, Greymouse und Cephus. Nicht zu vergessen Galen und Urien Typhon mit seinem Heer, und wir sind ja auch noch da«, ermutigte Lorini Greyfax. »Ganz recht«, stimmte der Zauberer ihr zu. »Und alle diese Kräfte mitsamt dem Ring des Lichts kämpften vereint seit Neubeginn der Schöpfung gegen Eure Schwester und konnten sie nicht aufhalten. Dorini ist wie wir ein Wesen Windameirs und verfügt trotz ihrer abtrünnigen Bestrebungen über dieselben Kräfte wie wir. Alle unsere Anstrengungen konnten Dorinis ehrgeizige Pläne nie verhindern. Und ich vermute, es liegt daran, daß die Dame ihre Sache sehr gut macht und unbeirrbar ihren vorherbestimmten Weg geht. So wie wir wahrscheinlich auch.« »Was soll das nun wieder heißen?« fragte Faragon, den die Worte seines alten Freundes sichtlich erschüttert hatten. »Ich habe diesen Gedanken noch nie zuvor ausgesprochen«, antwortete Greyfax. »Denn niemand hat mich je danach gefragt.« Lorini beobachtete Greyfax schweigend. »Ihr wißt, meine Fürstin«, sprach er an sie gewandt weiter, »daß wir schon immer, soweit unsere Erinnerung reicht, in diesen Kampf verwickelt waren. Seit Ewigkeiten streiten Finsternis und Licht um die Herrschaft in den unteren Reichen. Oft standen wir am Rande des Abgrunds, doch im letzten Moment wendete sich das Blatt immer zu unseren Gunsten und verhinderte, daß Dorini siegte.« »Worauf willst du hinaus, Greyfax?« fragte Faragon. 198
»Ich verfolge kein bestimmtes Ziel. Mir ist nur eben eine Erkenntnis gekommen, und ich denke laut darüber nach.« Der Zauberer kehrte zu seinem Stuhl zurück und setzte sich, ehe er weitersprach. »Ich kann gar nicht verstehen, daß ich nicht schon früher darauf gekommen bin. Es ist so einfach, eine ganz simple Erklärung. Und sie lag die ganze Zeit unmittelbar vor meiner Nase.« »Was, zum Teufel, lag vor deiner Nase?« fragte Faragon und schlug zornig mit der Faust auf den Tisch. »Mein lieber Junge, du hast es schon immer verstanden, deine Fragen sehr geschickt zu stellen«, lachte Greyfax. »Sie liegt auch direkt vor deiner Nase. Öffne die Augen, und du wirst sie sehen.« Nachdenklich streichelte er seinen Bart. »Anders ausgedrückt – wir betrachten die Dinge immer nur von einem Blickwinkel aus und weigern uns, einen anderen Standpunkt einzunehmen, bis wir buchstäblich mit der Nase darauf gestoßen werden. Wenn du mir Karotten zeigst und sagst, dies sind Karotten, dann glaube ich dir das. Tauschst du aber diese Karotten gegen andere aus, sind es wiederum Karotten, aber nicht dieselben.« »Foppt uns nicht«, tadelte Lorini. »Das liegt mir fern, meine Fürstin. Ich versuche nur, diesem jungen Heißsporn hier etwas verständlich zu machen, doch es scheint mir nicht zu gelingen.« »In diesem Punkt kann ich dir wenigstens zustimmen«, beschwerte sich Faragon. »Alles läuft auf folgendes hinaus«, faßte Greyfax zusammen. »Wir alle erfüllen nur unsere Bestimmung, gehen den Weg, der uns vorgezeichnet ist. Jenen, die ihre Aufgabe erfüllt haben und bereit für die Heimkehr waren, wurden die Fünf Geheimnisse offenbart, und sie fanden den Frieden in der Heimat oder befinden sich auf dem Weg dorthin. Licht und Dunkel haben sich über all die Jahre hinweg ständig abgelöst. Nie hat eines von beiden die 199
absolute Vorherrschaft erlangt. Dorini hat zwar große Teile der unteren Welten in Finsternis gestürzt, doch immer wieder erhellte das Licht Windameirs auch jene Regionen, und der Ring des Lichts konnte nie ganz daraus verbannt werden.« »Und wie erklärst du dir den Verlust von Origin und Maldan? Auch die Hälfte von Atlanton liegt in absoluter Dunkelheit«, begehrte Faragon auf. »Nein, auch dort herrscht nicht absolute Finsternis, mein junger Freund. Noch wird jemals ausschließlich das Licht diese Welten erhellen. Doch der Zeitpunkt der Entscheidung über das Schicksal dieser Regionen nähert sich unaufhaltsam. Dorini bereitet sich auf die letzte Kraftprobe vor, und Lorini vertritt den Ring des Lichts. Und Austragungsort dieses großen Kampfes werden die Sonnenwiesen sein.« »Und was wird aus Cybelle?« fragte Lorini, ein leises Zittern in der Stimme. »Ich nehme an, das werden wir bald erfahren. Alle Rollen in diesem letzten Akt sind besetzt, und bald wird der Vorhang aufgehen.« »Lorinis Frage hast du nicht beantwortet, Greyfax. Was wird aus Cybelle?« Der junge Zauberer bot Greyfax entschlossen die Stirn. »Ich beharre auf einer klaren Antwort. Nachdem Cybelle entführt wurde, fiel Cypher in Dorinis Hände, und wir eilten durchs Universum, um alle verfügbaren Streitkräfte zu mobilisieren, um Dorini zu zwingen, Cybelle freizulassen.« »Und genau das wird auch eintreten, mein lieber Faragon. Alle unsere Mühen trugen dazu bei, einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen; wir nähern uns der Stunde der Entscheidung. Die Rettung deiner Cybelle steht unmittelbar bevor. Unsere Aufgabe besteht nur darin, demjenigen zur Seite zu stehen, der die Tür zu ihrem Gefängnis öffnen und 200
sie aus Dorinis eisiger Umklammerung befreien wird.« »Du weißt, wer ihr Befreier sein wird?« fragte Faragon barsch. »Nur, daß es keiner von uns ist«, erwiderte Greyfax. Faragon und Lorini stockte der Atem. »Doch es wird Zeit, daß wir alle die Plätze einnehmen, die uns zugewiesen wurden. Unsere Widersacher sind bereit, das Spiel zu eröffnen, das wir für sie vorbereitet haben.« Faragon wollte protestieren und weitere Fragen stellen, doch Greyfax gebot ihm Schweigen und erteilte dem ungestümen jungen Zauberer weitere Anweisungen, worauf dieser eiligen Schrittes aus dem Raum stürmte. Auch Greyfax und Lorini brachen bald auf und eilten zu den dunklen Sturmwolken, die tief über den Wipfeln des Goldenen Waldes hingen. Und an der Kreuzung, genannt das Letzte Tor, war alles bereit für das große Finale.
31. Broko verzeiht Creddin In einem leeren Gang, weit unterhalb von Bruinlens alter Behausung, zeigte Creddin Broko die unzähligen Gänge, die zu verschiedenen Teilen der alten Höhle führten. Viele davon waren seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden. »Wohin führt diese?« fragte Broko und deutete auf eine Tunnelöffnung, die in einen weiteren Schacht mündete und sich dann in der Dunkelheit, die das flackernde Licht der Fackel nicht erhellen konnte, verlor. »Ich habe keine Ahnung, Cousin. Bis jetzt konnte ich erst ein paar der Gänge näher erforschen. Einzelne führen in die Tiefe, und ich wagte es nicht, weiter vorzudringen. Ich ziehe es vor, hier oben, näher beim Tageslicht zu bleiben, das Leben in diesen düsteren unterirdischen Behausungen behagt mir nicht allzusehr.« »Hier scheint es ja Hunderte von unerforschten, geheimen Wegen zu geben«, stellte Broko fest und drängte 201
den alten Zwerg ungeduldig beiseite und nahm ihm die tropfende Fackel aus der zittrigen Hand. »Ja, das vermute ich auch. Einige scheinen zu den alten Schlafgemächern zu führen und andere enden an den Quellen. Mehrere dieser Schächte stellen eine direkte Verbindung zum Großen Fluß her.« »Dort zieht es mich nun wirklich nicht hin!« fuhr Broko Creddin gereizt an. »Mich auch nicht, Cousin«, erwiderte Creddin gelassen. »Jedenfalls nicht im Moment.« »Hast du irgendwelche Tunnel entdeckt, die nach draußen führen?« »Ja, mehrere. Jemand scheint einige davon zugeschüttet und andere aufgegraben zu haben. In manchen Gängen fand ich sogar Honigfäßchen.« »Bruinlen, dieser dumme Kerl! In jedem Winkel legt er seine Vorratskammern an. Er hatte wohl einige dieser Schächte als Fluchtwege für den Notfall geplant. In jeder Höhle, in der er haust, gräbt er mehrere Ausgänge. Auch Olther hat diese seltsame Angewohnheit. Alberne Tiere, immer nur darauf bedacht, mehrere Wege nach draußen anzulegen. Dadurch zieht es ständig in ihren Höhlen und wird nie richtig warm.« »Ich finde diese Lösung ganz vernünftig«, widersprach Creddin. »Ich schlafe viel ruhiger, wenn ich weiß, da gibt es eine Hintertür, durch die ich notfalls entkommen kann.« »Also, ich halte das für Unsinn. Gegen eine wirkliche Bedrohung hilft das auch nicht. Im Gegenteil, je mehr Gänge zu einer Höhle führen, um so leichter kann jemand eindringen. Sicher ist man nur in einer befestigten Zwergenkammer.« »Immer getreu den alten Überlieferungen, wie, Cousin? Genau das hat soviel Unheil über uns gebracht, dieser Zwang, sich hinter dicken Mauern zu verkriechen. Nie haben wir uns einer Gefahr gestellt – ob es nun die Drachenhorden oder die Gier nach Schätzen war –, allem 202
sind wir ausgewichen und haben uns immer tiefer in die Erde eingegraben.« Broko schwang die Fackel vor sich und verbrannte ein dichtes Netz von Spinnweben, das ihm den Zugang zu einer Öffnung versperrte, die höher und etwas heller zu sein schien als die anderen Gänge. »Wo führt dieser Schacht hin?« fragte er, ohne auf Creddins Worte einzugehen. Creddin beugte sich vor und spähte in den dunklen Gang. Das flackernde Licht der Fackel tanzte über schimmernde goldfarbene Tunnelwände. »Er führt nach draußen«, erwiderte er, »und mündet auf einer Lichtung. Ich war nur ein einziges Mal dort. Das ist ein sehr eigenartiger Ort. Ich hatte das seltsame Gefühl, diesen Platz zu kennen, so als wäre ich früher schon dort gewesen. Auf dieser Lichtung herrscht irgendwie eine schicksalsträchtige Atmosphäre, so, als wäre dort etwas Bedeutendes geschehen oder würde dort stattfinden.« »Papperlapapp. Du hattest doch nur Angst, hier durchzukriechen, weil du herausfinden wolltest, wo der Gang wirklich endet.« Während Broko sprach, hielt er die Fackel an die klebrigen Spinnweben, die den Zugang versperrten. Nach einer Weile hatte er auf diese Weise eine Öffnung geschaffen, die es ihm ermöglichte, in den Gang hineinzugehen. »Willst du da wirklich hinein, Cousin?« fragte Creddin ängstlich. »Was sollte mich daran hindern? Wir müssen schließlich feststellen, was sich dahinter verbirgt. Und wenn dieser Gang wirklich nach draußen führt, sollten wir ihn so absichern, daß niemand hier eindringen kann. Spinnweben sind dafür jawohl nicht geeignet.« »Ich würde es mir gut überlegen, ob ich da hinausgehen würde«, gab Creddin zu bedenken. Broko warf Creddin einen mißtrauischen Blick zu. »Warum willst du mich unbedingt davon abhalten, du alter Kauz? Hast du da drin vielleicht etwas versteckt, was ich nicht finden soll?« 203
Brokos Augen reflektierten den Schein der Fackel, rote Lichter funkelten darin. »Nein, Cousin, ich habe nichts mehr zu verbergen. Das alles ist längst vorbei.« »Dann erklär mir, warum du nicht willst, daß ich gerade diesen Tunnel hier erforsche?« Creddins Gesichtszüge wurden weich, und er sah plötzlich jünger aus. »Weil ich Angst habe um dich, Cousin.« Broko starrte Creddin ungläubig an und lachte dann bitter auf. »Du? Du hast Angst um mich? Und diese Fürsorge hat dich wohl auch veranlaßt, alle die anderen in den Tod zu schicken oder der Finsternis anheimzugeben, wie? Vielen Dank. Auf diese Art Fürsorge kann ich verzichten.« »Ich kann deine Verbitterung verstehen, Cousin. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, wozu mich meine Unwissenheit verleitet hat. Ich habe mein Unrecht eingesehen, und diese Lektion war auch für mich sehr schmerzlich. Wenn du mir weiterhin mißtraust, kann ich nichts daran ändern.« »Ganz recht, du alter Knochen. Ich dulde deine Anwesenheit nur, weil du mir vielleicht nützlich sein kannst und etwas von dem Unrecht wieder gutmachen kannst. Doch du bist und bleibst Creddin, ein Verräter und Mörder, und du lebst nur noch, weil ich mir die Hände nicht mit deinem Blut besudeln will.« »Du nimmst wahrlich kein Blatt vor den Mund, Cousin. Ich habe verstanden und werde mich bemühen, dich nicht weiter zu stören.« »Du bist auch nicht gerade ein geselliger Bursche«, murrte Broko, wandte sich ab und kroch in den Tunnel hinein. »Komm jetzt! Ich will mich nicht länger mit dir streiten. Wir haben Wichtigeres zu tun, als hier unsere Zeit zu vergeuden. Diese Fackel wird bald verlöschen. Komm, wir wollen versuchen, diese seltsame Lichtung, von der du gesprochen hast, zu erreichen.« 204
»Wäre es nicht besser, wir würden zuerst in den alten Lagerraum zurückkehren? Dort gibt es noch genügend Fackeln und Kerzen.« »Laß mich mit deinen Kerzen in Ruhe! Entweder du kommst jetzt mit, oder du bleibst allein hier im Dunkeln zurück.« »Ich komme ja schon, Cousin, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache.« Broko warf dem alten Zwerg einen forschenden Blick zu. »Verheimlichst du mir etwas, du räudiger Ziegenbock? Ist etwas mit diesem Gang, was du mir nicht erzählen willst?« Creddins faltiges Gesicht wirkte bedrückt. »Es liegt mir fern, dich in Schwierigkeiten zu bringen, Cousin. Ich kenne diesen Tunnel nicht und weiß nur, daß er auf diese unheimliche Lichtung führt. Vielleicht rührt mein Unbehagen auch daher, daß ich mir so sehr wünsche, du könntest mir vergeben. Ich glaube, die Gewißheit, daß du mir all die Fehler, die ich in früheren Zeiten jenseits des Großen Flusses begangen habe, verzeihen kannst, würde mich sehr erleichtern und mir den langersehnten Frieden gewähren.« Creddin war ganz nahe an Broko herangetreten, und im unsteten Licht der Fackel sah sein Gesicht sehr alt und verfallen aus. »Du hast Nerven«, zischte Broko mit frostiger Stimme. »Wie kannst zu Vergebung erwarten, nachdem du meine Vorfahren und Angehörigen verraten und ermordet hast. Deine Zerknirschung und Reue sind nur geheuchelt. Ich kann dein vor Selbstmitleid triefendes Gejammer nicht mehr hören. Recht geschieht dir, daß dein Gewissen dich jetzt quält, du doppelzüngige Schlange. Und selbst wenn es in meiner Macht stünde, dir zu vergeben, ich würde es nicht tun.« Creddin mußte sich mehrere Male räuspern und krächzte dann mit dünner Stimme: »Dann ist dieses Ding da, das du verwahrst, also nur eine Farce? Nur ein leerer Traum, der im ersten Licht des Tages 205
dahinwelkt?« Broko kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und zischte empört: »Wie kannst du dir das Recht anmaßen, über den Gegenstand zu sprechen, den ich bei mir trage? Das steht nur jenen zu, die sich einen Anspruch auf Gnade verdient haben.« Broko schnaubte wütend und sprach dann weiter. »Alles Böse sollte sich vor seiner Macht fürchten, denn es wird jene vernichten, die Schatten auf seine Herrlichkeit werfen.« Broko schwieg, seine Augen glühten, und Creddin wich erschrocken einige Schritte zurück. »Im Herzen des Trägers des Heiligen Schreins gibt es keine Vergebung für die Abtrünnigen des Lichts. Ewige Verdammnis gebührt den Mördern, an deren Finger das Blut Unschuldiger klebt.« Broko schimpfte weiter, schwang die Fackel bedrohlich, und in dem flackernden Schein sah er zunächst nicht, daß die gebeugte Gestalt Creddins verschwunden war. Als die Flamme stetig brannte, nachdem er die Fackel wieder ruhig hielt, spähte Broko in die Dunkelheit des Tunnels. Doch nur die glatten goldenen Wände reflektierten den rötlichen Schein der Flamme, von Creddin war nichts zu sehen. »Wo bist du?« fragte Broko mit betont forscher Stimme. Mühsam unterdrückte er den Impuls, laut zu schreien. Wieder rief er, jetzt etwas kläglicher: »Creddin? Ich weiß, daß du hier bist! Das ist wieder nur einer deiner üblen Tricks. Komm sofort raus aus deinem Versteck! Dann verspreche ich dir auch, dir nicht böse zu sein.« Das Echo seiner Worte verhallte in dem schweigenden Tunnel, und nur das Zischen der verlöschenden Fackel war zu hören. »Du verdammter alter Idiot!« schrie Broko. »Komm sofort hierher! Ich verbiete dir zu verschwinden. Niemand verläßt den Träger des Schreins gegen seinen Willen. Ich befehle dir zurückzukommen.« Das Echo seines Geschreis dröhnte ihm in den Ohren, Broko wirbelte herum und versuchte, mit seinen Blicken 206
die Dunkelheit zu durchbohren. Nirgends ein Zeichen von dem alten Zwerg. »Du schadest dir nur selbst mit diesem blöden Versteckspiel«, schrie Broko. »Ich weiß, du bist hier. Du willst mich nur an der Nase herumführen. Aber darauf falle ich nicht herein. Niemand kann den Träger des Schreins hinters Licht führen. Niemand, hörst du mich! Komm jetzt sofort hierher, das ist ein Befehl!« Und wieder hörte der Zwerg nur das Echo seiner Stimme. Hektisch fuchtelte er mit der Fackel umher, dessen Licht den Tunnel mit geisterhaften Schatten füllte. Unvermittelt sprang Broko vor, auf eine schimmernde Bewegung zu. »Jetzt habe ich dich, du elender Verräter. Du wirst der Strafe des Schreins nicht entgehen.« Mit durchdringendem Geschrei stürmte Broko vorwärts und rannte hinter dem flüchtigen Schatten her. Immer wieder stieß er seinen Kriegsruf aus, den eigenen Namen, und stürmte kopfüber in den düsteren Tunnel, während er die flackernde Fackel zornig durch die Luft schwang, bis sie, letzte Funken versprühend, erlosch und eine unheimlich lastende Stille ihn umgab. Die Dunkelheit drohte ihn zu ersticken. Brokos Stimme war nur mehr ein Flüstern, fast ein Flehen. »Creddin? Bist du es? Zünde eine Fackel an, bitte. Wir müssen hier heraus.« In der Stille konnte Broko nur das wilde Pochen seines eigenen Herzens hören, doch als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er vor sich einen trüben Lichtschimmer. Er warf die erloschene Fackel auf den Boden und stolperte auf das blauschwarze Loch zu. Dabei schlug er wild mit den Armen um sich, so, als wolle er dadurch die pechschwarze Nacht vertreiben. »Creddin! Ich verzeihe dir!« rief Broko schließlich verzweifelt. 207
»Ich vergebe dir! Komm zurück. Hörst du mich?« Und im selben Augenblick prallte Broko mit aller Wucht gegen eine Wand und fiel auf die Knie. Die Silhouette des alten Zwerges hob sich am Höhlenausgang vom grellen Sonnenlicht ab. Broko schluchzte laut und kroch auf allen vieren hinaus in die befreiende frische Luft.
32. Im Goldenen Wald Auf der stillen Lichtung des Letzten Tors, das die Grenzen zu den südlichen Regionen der Sonnenwiesen sicherte, wartete Tyron der Grüne mit seinem gewaltigen ElfenHeer. Tyron war blaß und hager; unruhig schritt er auf und ab, und seine Hauptleute beobachteten ihn besorgt. Bis auf das Geräusch seiner Schritte herrschte absolute Stille. Kein Lufthauch regte sich, und die Blätter der Bäume im tiefen Wald schienen wie erstarrt. Von Zeit zu Zeit unterbrach Tyron sein rastloses Auf-und-ab-schreiten und starrte geistesabwesend in unergründliche Weiten. Endlich wurde das angespannte Warten durch die Ankunft eines Boten unterbrochen. Er eilte durch die Reihen der Elfen, die auf dem Boden lagerten, auf Tyron zu. »Sprich, Thailwick. Welche Neuigkeiten überbringst du mir?« »Wir haben Greyfax getroffen, so wie Ihr es befohlen habt. Und die Verhandlungen verliefen wie vermutet: Er wird uns Schwierigkeiten machen.« »Das war zu erwarten. Was hat er gesagt?« »Daß er für den Moment Eure Bedingungen akzeptiert.« »Diese verdammte Bande von Heuchlern«, schimpfte Tyron. »Ihren Worten kann man nicht trauen. Sie widerrufen im nächsten Augenblick ihre Versprechen.« »Und den Zwerg hat er mit keiner Silbe erwähnt.« »Ich werde das Gefühl nicht los, daß er ein falsches 208
Spiel mit uns treibt, Thailwick«, sagte Tyron grimmig, und seine ebenmäßigen Züge verdüsterten sich. »Warum ließ er uns die Nachricht zukommen, daß der Träger des Heiligen Schreins am Letzten Tor die Grenzen zu den höheren Regionen überschreiten wird? Wie hat Greyfax meine Bedingungen aufgenommen?« »Er hat so reagiert, wie Ihr es vorhergesagt habt«, erwiderte Thailwick. »Er attackierte uns mit einem seiner üblen Zaubertricks und behandelte uns eher unhöflich. Dann jedoch erklärte er, daß er für den Moment Euer Königreich, den Goldenen Wald, anerkennen würde. Er hat nicht ausdrücklich gesagt, daß er oder die Mitglieder des Rings des Lichts fernbleiben würden, drohte aber auch nicht, dort gegen unseren Willen einzudringen.« »Der Umgang mit Zwergen ist ebenso problematisch«, murmelte Tyron. »Es bringt nichts als Ärger und Verdruß, wenn man sich mit anderen Völkern einläßt. Weder dieser verdammte Zauberer mitsamt dem Ring des Lichts noch Dorini und ihre Sippe haben je etwas vom wahren Wesen der Waldelfen und ihren Träumen begriffen.« »Wie recht Ihr habt«, stimmte Thailwick zu. »Greyfax versuchte, mich durch Kindheitserinnerungen nachgiebig zu stimmen, aber ich bin auf sein Spiel nicht eingegangen. Er wollte damit nur einen Vorteil für sich herausschlagen.« »Eins muß man Greyfax zugute halten«, sagte Tyron einlenkend. »Er war stets ein fairer Verhandlungspartner. Schließlich wagt niemand, mich ernsthaft herauszufordern, bin ich doch im Besitz eines ihrer kostbaren Geheimnisse, das nun allein mir gehört. Tyron wird dem Ring des Lichts noch mächtiges Kopfzerbrechen bereiten.« Der kleine Elf lachte bitter. »Urien spielt bei dieser Geschichte eine sehr seltsame Rolle. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich glauben soll. Er ist doch im Moment in der Gewalt Dorinis, obwohl Doraki mir weismachen wollte, daß ich gar nicht mit der Finsteren Königin verhandelt hätte. Er verfolgt 209
ausschließlich seine eigenen Ziele. Ihm gefällt es, seine Opfer zu quälen. Er hat mir eingeredet, daß mein Vater in seiner Gewalt wäre, und nun soll ich glauben, daß Dorini in der Gestalt ihrer Schwester auftrat.« Thailwick blickte Tyron forschend an. »War es wirklich nötig, ihr Urien auszuliefern?« »Sie verlangte die Herausgabe des unverschämten Kerls, wer immer sie gewesen sein mag. Und Urien Typhon hat seit langem eine Lektion verdient. Wie er sich immer zum Herrn über uns alle aufgespielt hat und sich mit großsprecherischen Lügen über die Heldentaten der Wasserelfen ausließ! Er soll ruhig eine Weile schmoren, das wird ihm Manieren beibringen. Dann können wir ja versuchen, ihn frei zu bekommen, obwohl ich ihn nicht in unserem Reich aufnehmen werde.« »Nein«, stimmte Thailwick zu. »Das würde mir auch nicht gefallen. Ich fühle mich in seiner Gegenwart überhaupt nicht wohl. Aber die Freiheit soll er wieder haben. Kein Elf, nicht einmal ein Wasserelf, hat es verdient, in Gefangenschaft zu leben.« Tyron unterbrach einen Moment sein unstetes Auf-und ab-schreiten. »Du nimmst mir das Wort aus dem Mund, Thailwick. Ich werde verlangen, daß Urien mir übergeben wird. Es wird mir ein besonderes Vergnügen bereiten, ihn aus dem Goldenen Wald mittels eines Fußtritts hinauszubefördern. Das wird ihn lehren, die Waldelfen als ein mächtiges Volk zu akzeptieren, die ihren eingebildeten Cousins weder an Weisheit noch Macht unterlegen sind.« »Das wird nicht einfach sein«, gab Thailwick leise zu bedenken. »Mach dir darüber keine Gedanken. Wir werden nicht mit leeren Händen dastehen«, antwortete Tyron. »Ich weiß, daß Greyfax nicht lügt. Ich kenne ihn gut, und wenn er ein Ereignis ankündigt, dann wird es auch eintreffen. Ich glaube, er hat inzwischen eingesehen, daß der Ältestenrat des Rings einen törichten Fehler beging, als er den Heiligen 210
Schrein einem unbedeutenden Zwerg anvertraute. Es will mir nicht in den Kopf, wie er diese Dummheit begehen konnte. Greyfax scheint mittlerweile eingesehen zu haben, daß der Schrein besser bei uns im Goldenen Wald aufgehoben sein wird. Dort ist er sicher vor Dorini, sicherer als in den Händen dieses erbärmlichen Zwerges, der allem Anschein nach nicht mehr ganz bei Sinnen ist.« »Ich bin ganz Eurer Meinung«, entgegnete Thailwick, »aber darüber hinaus würde ich Greyfax nicht vertrauen. Ich bin mir sicher, er führt irgend etwas im Schilde.« »Davon bin ich auch überzeugt«, erwiderte Tyron. »Der Ring gibt nicht so leicht auf, und mit Meister Grimwald habe ich schon manchen Streich ausgefochten.« Der Elf schwieg in Gedanken versunken. »Nein, der glorreiche Greyfax wird nicht freiwillig auf einen Vorteil verzichten. Bei diesem Handel wird er schlecht abschneiden. Er kann nur hoffen, daß ich den Schrein behalte und nicht Dorini übergebe. Das ist der einzige Vorteil, den der Ring des Lichts dabei erlangen kann. Doch mit dieser Lösung wird er nicht einverstanden sein.« »Ich glaube, Greyfax will die Gunst Lorinis erringen«, schnaubte Thailwick. »Unterschätze ihn nicht«, warnte Tyron. »Er hält sich zwar für außerordentlich gescheit und kann auch verschlagen sein, aber er strebt nicht nach Macht. Er ist einem Irrglauben verfallen und nur eine Marionette in den Händen dieser Toren, die sich Ring des Lichts nennen. Doch das alles scheint sich dem Ende zu nähern. Ich hatte mehrere interessante Unterhaltungen über dieses Thema mit Faragon Fairingay. Der harte Kern des Rings ist durch und durch verrottet, und der Ältestenrat besteht vornehmlich aus hinfälligen Greisen, die bereits zu lange an der Macht sind. Und irgendwie gefällt mir die Vorstellung besser, Faragon anstelle von Doraki zum Verbündeten zu haben.« »Wollt Ihr damit andeuten, daß ein Mitglied des Rings die sogenannten wahren Lehren anzweifelt?« 211
»Nicht nur ein Mitglied, mein lieber Freund. Ich habe auch mit Cybelle, Lorinis Tochter, gesprochen, und sie steht voll hinter Fairingay. Sie haben mir beide zugesichert, daß sie als Herrscher über ein zurückerobertes Cypher – und das wird geschehen, sobald der Schrein sicher in meinen Händen ist – mein Wohlwollen dadurch vergelten würden, daß sie uneingeschänkt den Anspruch der Elfen auf das Reich diesseits der unteren Grenzen anerkennen würden.« Thailwick blies die Backen auf und stieß einen überraschten Pfiff aus. »Das sind wahrlich Neuigkeiten. Dann stimmen die Gerüchte also doch, die im Umlauf sind.« »Welche Gerüchte?« fragte Tyron. »Daß nach dem Verlust von Cypher der Ring des Lichts sich auflösen und seine Mitglieder die Flucht ergreifen würden. Der Untergang des Ältestenrats scheint ja bereits begonnen zu haben, und in diesem Zusammenhang ist es doch höchst interessant, daß zwei der vertrauenswürdigsten und ergebensten Untertanen des Rings Verrat an der eigenen Sache begehen wollen.« »Nicht Verrat, lieber Thailwick, eher vernünftige Einsicht. Es ist doch offenkundig, daß diese uralten Lügen das Netz aus Betrug und Täuschung, das sie gesponnen haben, nicht länger zusammenhalten können. Die Wahrheit kommt immer ans Licht, ganz gleich, wie lange es dauert.« Bei Tyrons letzten Worten stürmte über ein Dutzend Elfen, die Bogen und Feuerwaffen im Anschlag, auf die Lichtung. »Eine Truppe von Urien Typhons Heer nähert sich uns aus der Richtung von Gilden Far, Herr. Und vom East Ring Dell marschiert eine Abteilung, bestehend aus Menschen und Elfen, auf unser Lager zu. Sie wird von zwei Mitgliedern des Rings angeführt und hat es sehr eilig, hierherzukommen.« Tyrons Gesicht verlor jegliche Farbe, wie erstarrt stand er da. »Dieser elendige Lügner!« fluchte er dann. »Er hat sein Wort gebrochen.« Das Signalhorn blies Alarm über die Lichtung des 212
Letzten Tors, und die Elfen sprangen auf die Beine. Im nächsten Augenblick war Tyrons Heer wie vom Erdboden verschluckt und im grünen Dickicht des dichten Waldes untergetaucht. Nur noch Tyron und Thailwick waren zu sehen. »Wie erklärst du dir das?« fragte Tyron. »Hat Greyfax irgendwie angedeutet, daß der Ring einen Angriff auf uns plant?« Thailwick schüttelte heftig den Kopf. »Nein, mit keiner Silbe. Nichts deutete darauf hin, daß ein Heer im Anmarsch wäre. Es gab keine ungewöhnlichen Truppenbewegungen.« Wütend schritt Tyron auf und ab. »Ich wußte doch, daß sie etwas im Schilde führen. Sie wollen uns reinlegen.« »Hier in unserem eigenen Reich können wir leicht jedes Heer überwältigen«, entgegnete Thailwick. »Ich kann nicht glauben, daß sie das Risiko eingehen würden, einen Großteil ihrer Truppen zu verlieren, wenn sie uns hier angreifen.« »Ich bin mir gar nicht so sicher, daß sie das vorhaben, mein lieber Thailwick. Es wäre ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt für einen Angriff, denn Faragon sagte mir, daß er den Großteil seines Heeres am diesseitigen Ufer vom Calix Stay entlang als Wachposten stationieren würde. Seine Streitkräfte würden also fehlen. Ich weiß nicht, was sie mit diesem Aufmarsch bezwecken.« »Das könnten wir auskundschaften«, schlug Thailwick vor. »Vielleicht sollten wir einen Gegenangriff starten. Wir könnten ihnen erhebliche Verluste beibringen, und es würde ihnen die Lust daran vergehen, uns hier in unserem Wald anzugreifen.« Tyron hob die Hand und gebot Thailwick Schweigen. »Nein, nein, das ist nicht nötig. Dorini hat da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Ich überlasse ihr gern das Risiko schwerer Verluste in den Reihen ihrer Streitkräfte. Wir wollen unsere Kräfte sparen. Schließlich geht uns diese Auseinandersetzung hier nichts an. Wir wollen nur die 213
Grenzen unseres Reichs und das mir anvertraute Geheimnis verteidigen.« »Und wenn Dorini den Einsatz unseres Heeres verlangt?« »Werden wir ihr die Gefolgschaft verweigern. Ich werde nicht einen Tropfen Elfenblutes in einem sinnlosen Kampf vergeuden. Laß uns abwarten. Ich glaube nicht, daß Greyfax uns hier angreifen will. Für ihn wäre es ein leichtes gewesen, uns am Letzten Tor, dort, wo der Träger des Schreins die oberen Grenzen überschreiten wird, in einen Hinterhalt zu locken.« Tyron runzelte finster die Stirn und schritt wieder ungestüm auf und ab. Er wandte sich um und wollte weiter mit Thailwick sprechen, da stand plötzlich Dorini vor ihm. Der Blick ihrer eiskalten Augen glitt über ihn und drang wie schneidend in sein Herz. Ihm stockte der Atem, und Dunkelheit breitete sich in ihm aus. Er versuchte zu sprechen, da stolperte eine weitere Gestalt, kleiner als ein Elf, aus dem Nichts und sank zu Dorinis Füßen nieder. Als Tyron von diesem Häuflein Elend die Augen hob, das aus einem Brombeergesträuch zu seiner Rechten hervorgestolpert war, stand vor ihm Cybelle, die Tochter Lorinis. Die Finstere Königin, deren fürchterlicher Blick ihn noch eine Sekunde zuvor gelähmt hatte, war verschwunden. »Meine Fürstin«, murmelte Tyron verwirrt. Cybelle kniete nieder und legte ihre kühle Hand auf die glühend heiße Stirn des halb ohnmächtigen Broko, der wirre Worte von Verzeihung und Vergebung rief. Wild bäumte er sich auf, um sich aus den Armen zu befreien, die ihn hielten, und da blickte er in Cybelles wunderschönes Antlitz. Brokos Hand umklammerte fest ihre Finger, er versuchte ihr etwas zu sagen, doch in seinem Kopf herrschte ein Chaos, und sein Herz pochte wild, und ein weicher, matter Himmel aus blauen Sternen und silbernen Monden schob sich wie ein schwerer Vorhang vor seine Augen, und er glitt hinüber in das Land der Träume. Doch 214
ehe er in tiefen Schlaf sank, spürte er noch, wie eisige Nacht ihn umfing und die kalte Hand der Finsteren Königin sein Herz berührte.
33. Zwei Elfenheere prallen aufeinander »Und wer ist dieser andere erbärmliche Kerl?« fragte Tyron ärgerlich und deutete mit der Hand auf Creddin, der wie versteinert neben dem Strauch stand, der den Tunneleingang verdeckte, aus dem Broko eben herausgetaumelt war. Ein Dutzend Elfen sprangen auf den alten Zwerg zu und stießen ihn grob vor Tyrons Füße. »Den kenne ich doch«, sagte Dorinis Stimme aus Cybelles Gestalt. »Ja, ich hatte ebenfalls schon das Vergnügen seiner Bekanntschaft«, fügte Doraki hinzu, der kurz nach Dorinis Erscheinen aufgetaucht war. Seine grausamen Gesichtszüge verbarg er hinter der Maske Faragon Fairingays. »Es ist dieser elende Gnom, der Tubal Hall in unserem Auftrag bewachte«, fuhr er fort. »Anscheinend ist seine Gier nach Schätzen noch immer nicht gestillt.« »Ist es tatsächlich Creddin?« gurrte Dorini. »Ich denke, wir werden noch allerhand Kurzweil mit ihm treiben, ehe alles zu Ende geht.« Creddin, der noch immer von den kräftigen Händen der Waldelfen festgehalten wurde, blickte ängstlich auf Cybelle und dann auf Faragon. »Bitte verzeiht, Euer Hoheit«, warf Tyron ein, »aber im Moment fehlt uns die Zeit für solche vergnüglichen Spielchen. Mir wurde eben mitgeteilt, daß ein Trupp von Urien Typhons Heer sich uns nähert. Und vom East Ring Dell marschiert eine weitere Abteilung, die von zwei Tölpeln des Rings angeführt wird, auf uns zu. Ich weiß nicht, was diese Halunken vorhaben, aber wir müssen Vorkehrungen zu unserer Verteidigung treffen.« 215
Cybelles helles Gesicht verdunkelte sich, und über ihre wohlgeformten Lippen drang ein rauhes, kaltes Lachen. »Hört, er spricht von Verteidigung! Es ist höchste Zeit, Tyron, daß du erfährst, was es heißt, Angst zu haben, und was es bedeutet, wahre Macht auszuüben.« Ein scheußlicher, eisiger Wind pfiff plötzlich um Tyrons Füße, die Kälte drang ihm bis auf die Knochen und ließ sein Haar und seine Brauen zu Eiskristallen gefrieren. Rasselnd strömte der Atem aus seinen Lungen, und der Hauch vor seinen Lippen gefror zu hauchzarten Wolken. »Endlich ist die tödlichste Waffe unser«, fuhr Dorini, noch immer in der Gestalt Cybelles, fort. »Dieser verfluchte Zwerg hat mich lange genug geärgert und ist mir immer wieder entwischt. Unsägliches Leid und Elend hat er heraufbeschworen, sinnloses Blutvergießen verursacht. Schuld daran ist nur meine stümperhafte Schwester. Hätten diese Idioten mir den Gegenstand ausgehändigt, den dieser jämmerliche Zwerg hier verwahrt, wäre bereits auf Atlanton die Entscheidung gefallen. All das Chaos, das sie und ihre unfähigen Freunde vom Ring schufen, wäre längst in Ordnung gebracht worden und Friede würde herrschen.« »Und mir werden diese gemeinen Teufel endlich nicht mehr dazwischenfunken«, fügte Doraki hinzu. »Man verliert jeglichen Spaß am sportlichen Wettkampf, wenn diese neugierigen, zudringlichen Zauberer sich rücksichtslos und ohne Sinn für Fairneß überall einmischen. Ich vermisse die Kriege und die vor Angst und Schrecken gefügigen Wesen der unteren Welten. Sie konnte ich nach Herzenslust jagen und terrorisieren. Und, wie es scheint, gewinnen wir jetzt einmal zur Abwechslung.« »Wir müssen warten, bis er aufwacht«, sagte Dorini. »Er soll bei vollem Bewußtsein die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung seiner Niederlage verspüren.« »Aber Uriens Heer und die anderen rücken bedrohlich näher. Wir müssen etwas gegen sie unternehmen. Was schlagt Ihr vor? Hört Ihr die Signalhörner? Der Feind hat 216
schon unsere Verteidigungslinie erreicht.« Tyron warf einen verzweifelten Blick auf die wunderschöne Gestalt Cybelles. »Soll ich den Befehl zum Rückzug geben?« »Nein!« widersprach Dorini.»Laß zum Angriff blasen.« Tyron schnappte nach Luft und prallte erschrocken einen Schritt zurück. »Das ist unmöglich, Euer Hoheit. Ich würde meine Männer sinnlos opfern.« »Befiehl sofort den Angriff«, wiederholte sie mit eiserner Stimme, und der Klang hallte in den kalten Winden, die sie umwehten, wider. Thailwick, der die ganze Zeit schweigend neben Tyron gestanden war, bewegte sich nun wie in Trance und setzte ein fein geschwungenes Horn an die Lippen. Ein schriller, langgezogener Ton, mit wechselnden Höhen und Tiefen, gellte durch die Luft. Tyron schlug das Horn aus Thailwicks Hand, doch zu spät. Mündungsfeuer blitzten auf, Gewehrsalven dröhnten aus dem Unterholz, und der Kriegsruf der Elfen ertönte, als das Heer zum Angriff überging. Ein Chaos brach um sie her aus. In Gruppen schwärmten die Elfen aus, feuerten in die Luft und schrien immer wieder mit schrillen Stimmen den Kriegsruf der Waldelfen. Tyron raste durch das Lager, rief Befehle und versuchte seine Männer aufzuhalten. Doch die warfen ihm nur verständnislose Blicke zu und stürmten weiter in den dichten Wald, der Lichtung vom Letzten Tor entgegen. Doraki, noch immer in der Gestalt Faragon Fairingays, führte einen Veitstanz auf und brach in gellendes Hohngelächter aus. Seine Hand fuhr unter den Mantel und zog eine häßliche schwarze Peitsche hervor. Langsam entrollte er den schmalen Lederriemen und ließ dann die Peitsche spielerisch durch die Luft sausen. Ein Elf stolperte mit glasigen Augen an ihm vorüber, feuerte blindlings in die Luft, überschlug sich plötzlich und wand sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden. Dorakis 217
Peitschenhieb hatte ihn niedergestreckt. Als Tyron erkannte, daß alle seine Pläne fehlschlugen, hob er das Horn auf, das er Thailwick aus der Hand geschlagen hatte, und blies mit aller Macht zum Rückzug. Doch der Ruf des Horns wurde vom Schlachtenlärm übertönt. In ohrenbetäubendem Krach knallten die Schüsse, schrillten die Kriegsschreie, und die heulenden Truppen von Tyrons Armee stürmten durch die Lichtung des Letzten Tores, hinein in die Tiefen des Waldes. Wie tosende Wogen brandeten sie gegen den Wald an. Da erklang ein anderes Signalhorn, und Tyron wußte, daß nun die Waldelfen und Urien Typhons Wasserelfen in tödlichem Zweikampf aufeinandergeprallt waren. Der lang aufgestaute Haß hatte sich Bahn gebrochen, und die beiden Elfenvölker zerstörten nun das letzte Band, das sie noch zusammengehalten hatte. Und Tyron spürte unendliche Trauer in sich aufsteigen. Die Träume seiner frühesten Kindheit sah er in diesem Wahnsinn und Schlachtengetümmel dahinschwinden. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken, und ein wehes Schluchzen schüttelte seinen schmalen, hageren Körper. Dorini neben ihm lachte hart und grausam. Dieses Gelächter riß jegliches Mitleid und allen Kummer aus seinem Herzen und erfüllte ihn mit dunkler Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Die helle Flamme des Lebens, die in seiner Brust gebrannt hatte, erlosch, und der schwarze Mantel von Dorinis finsterer Macht senkte sich darüber. Wie versteinert stand Tyron da und starrte blicklos vor sich hin. Die Tränen waren getrocknet, und über seinen Augen hing der dumpfe, mattgraue Schleier des unendlichen Todes. Da erwachte Broko mitten in diesem Höllenspektakel, richtete sich mühsam auf und blickte verständnislos und entgeistert um sich. »Was ist hier los?« rief er entsetzt gegen den schrecklichen Lärm an. 218
Dorini, in der Gestalt Cybelles, streckte die Hand nach ihm aus. »Komm! Wir müssen fliehen. Tyrons Heer hat uns angegriffen und gefangengenommen. Wir müssen Faragon erreichen.« »Tyron?« fragte der völlig verwirrte Broko. »Tyron der Grüne? Aber er ist doch ein Elf!« »Wir haben jetzt keine Zeit für Erklärungen. Wir müssen fliehen. Schnell, dort ist Faragon.« Ein gutaussehender Mann in einem Mantel erschien neben dem Zwerg, und Brokos Herz tat vor Erleichterung einen Sprung, doch sofort verlor er wieder jegliche Hoffnung. Er erinnerte sich an die Flucht vor seinen Freunden, und Angst, daß alle den Schrein rauben wollten, den er bei sich trug, überschwemmte ihn wie eine Woge. Seine Hand fuhr in den Mantel und wollte den Schrein umklammern, suchte die Sicherheit, die er versprach, die Erfüllung seiner Träume von einem neuen Zwergenreich mit König Broko an der Spitze. Sein Ruhm und seine Macht würden sogar die königlichen Würden von Eoin und Coin übertreffen, die die größten und weisesten Herrscher der Zwerge gewesen waren. Sein Herz setzte aus, und ein eisiger Griff umklammerte es. In panischer Angst durch suchte Broko alle Taschen seines Wamses, seines Mantels, vergeblich. Keine Spur des wohlvertrauten Kästchens, das er so lange an seinem Körper getragen hatte. Seine Augen weiteten sich vor Zorn und Angst; strampelnd und keuchend warf er sich zu Boden. »Er gehört mir, mir allein, hört ihr? Nur ich habe einen Anspruch darauf!« schrie er und kroch blindlings umher, riß sich die Kleider vom Leib, und Blut strömte aus den Kratzwunden. Dorini hatte ihm eine Weile bewegungslos zugesehen und nickte nun Doraki zu, der vorwärts sprang und Broko niederdrückte. »Er gehört mir, mir allein, hört ihr? Niemand darf ihn mir nehmen!« schrie er weiter und wehrte sich mit aller Kraft gegen Dorakis Umklammerung. »Durchsuch ihn!« 219
befahl Dorini mit spröder Stimme. Doraki berührte Broko mit dem Stiel der schwarzen Peitsche, und ein Vorhang tiefsten Entsetzens senkte sich über das Herz des Zwerges und raubte ihm das Bewußtsein. Er fiel ins weiche Gras der Lichtung, wie leblos. Hilflos, völlig der Gnade Dorakis ausgeliefert, wurde Broko auf den Rücken gerollt und von krallenartigen Händen durchsucht. Sein Mantel wurde zerfetzt, die Mütze vom Kopf gerissen und sogar die Stiefel von den Füßen gezerrt und zur Seite geworfen. Auch sein Wams wurde zerrissen, doch nirgends war der Gegenstand zu finden, den Doraki suchte. In einem letzten Anfall ohnmächtiger Wut riß er alle Taschen aus Brokos Hose, doch der Heilige Schrein blieb unauffindbar. Dorini, jetzt wieder in ihrer wahren Gestalt, entfachte einen heulenden Schneesturm, der über die Wipfel des Goldenen Waldes hinwegfegte. Ihr Zorn explodierte in donnernden grünen und gelben Blitzen, und selbst Doraki duckte sich vor ihr. Elfen, die in ihrer Umgebung gekämpft hatten, sanken leblos zu Boden, und in der Ferne dröhnte und röhrte der Gefechtslärm mit gesteigerter Macht. Das goldene Licht der Sonne verblaßte; Dunkelheit senkte sich über die Lichtung. »Gib mir den Schrein!« schrie Dorini. Hoch über ihr wirbelten grüne Funken, und der Luftsog riß Bäume und Elfen mit sich fort, hob sie hoch und schleuderte sie durch die unendliche Weite. Gezackte, blaugrüne Flammenblitze schossen aus ihren Augen, und ihre schreckliche Stimme schrillte erneut. »Gib mir den Schrein! Ich befehle es dir! Ich bin die Herrscherin der unteren Sphären. Ich verlange den Schrein! Niemand kann sich meinem Befehl widersetzen.« Zu Dorinis Füßen krallte sich Creddin krampfhaft fest, um von den Zyklonen ihres fürchterlichen Zorns nicht hinweggefegt zu werden. Zitternd und totenblaß, die altersschwachen Augen fest zugekniffen und gegen den beißenden Wind, kroch er auf Brokos reglose Gestalt zu. Er umklammerte einen nackten 220
Fuß, und der knorrige alte Zwerg zerrte Broko über den Boden zu dem verborgenen Tunneleingang hinter den Sträuchern, aus dem sie kurz zuvor getaumelt waren. Creddin konzentrierte sich ganz auf seine Aufgabe. Mit letzter Kraft schleifte er Broko hinter sich her, dessen Fuß mit eisernem Griff umklammernd. Im Schneckentempo kroch er mit fest zusammengepreßten Augen vorwärts. Als er einen kurzen Blick auf die Büsche vor dem Tunnel warf, glaubte er dort eine Bewegung gesehen zu haben. Tränen und Schweiß trübten seine Sicht, und Creddin blinzelte, um klarer sehen zu können. Hinter ihm erhob sich über dem Heulen der Elfen und dem Donnern der Gewehrsalven wieder die schrille, böse Stimme Dorinis, und Creddin verdoppelte seine Anstrengungen, den einzigen Zufluchts ort zu erreichen, den er kannte. »Du elender, erbärmlicher Narr! Das wird dich teuer zu stehen kommen! Dich wird meine Rache als ersten zerstören! Ich schicke dich zurück in die Verdammnis des Lichts!« Dorini hob die Hand, und eine formlose schwarze Wolke, aus der ein krallenartiges Gebilde herausragte, sprang auf Doraki zu. »Es war nicht meine Schuld!« schrie der Finstere Fürst mit dünner, wimmernder Stimme. Ein Schrei, dunkel und entsetzlich, zerriß die Luft, und es krachte, so als würden zwei eiserne Schilde aufeinander prallen. Creddin wagte nicht zurückzublicken, schloß die Augen und zerrte mit einem letzten Aufbäumen seiner schwindenden Kräfte Brokos schlaffe Gestalt in den Schutz der alten Zwergenfestung von Bani. Er merkte nicht einmal, daß hilfreiche Hände ihm seine Last abnahmen, er kroch unbeirrt weiter, bis Olther ihm auf die Schulter klopfte und Bruinlen ihn wieder auf die Füße stellte. Da öffnete er die Augen und sah Cranfallow, der ihm einen Wassersack hinhielt, und Ned Thinvoices Gesicht, der sich ein zuversichtliches Lächeln abquälte. Der alte Zwerg schluchzte erstickt auf. »Sie hat ihn nicht gefunden«, sprudelte er hervor. »Broko hat ihn verloren, als er hier im 221
Tunnel gegen eine Mauer rannte. Er fiel aus seinem Mantel, und ich habe ihn aufgehoben.« Er verstummte und wurde wieder von Schluchzen geschüttelt. In seinen knochigen, alten Händen, die jetzt zerkratzt und blutig waren, hielt er den strahlenden, weißen Schrein, der lebensspendende Hoffnung verströmte und mit seinem Licht die Herzen derjenigen erhellte, die in ehrfurchtsvollem Schweigen darauf niederblickten.
34. Dorini greift ein Graues Zwielicht senkte sich über die Lichtung des Letzten Tores, und der Gefechtslärm der erbitterten Schlacht, die im Goldenen Wald tobte, wurde allmählich schwächer, und nur noch vereinzelt waren Gewehrsalven zu hören. Dann trat Stille ein, die nur von Schreien und letzten Schüssen unterbrochen wurde. Hochaufgerichtet und wie zu Stein erstarrt, stand Dorini mitten auf der Lichtung, ihr schönes strenges Gesicht eine eisige Maske. Über ihren Augen hingen dunkle Schleier, die wie vom Sturm gepeitscht dahinwogten. Vor ihr stand die reglose Gestalt Tyron des Grünen, neben ihm Thailwick. Tyrons Gesichtszüge waren ausdruckslos, das nutzlose Signalhorn baumelte lose in seiner Hand. Eine Locke dunklen Haars war ihm in die Stirn gefallen und bedeckte ein Auge, doch er strich sie nicht zurück. Mündungsfeuer blitzte in einem nahe stehenden Dickicht auf, und drei Waldelfen brachen daraus hervor und verhielten atemlos vor ihrem Anführer. »Herr, wir müssen einen Ausfall machen und uns neu formieren. Uriens Armee der Wasserelfen ist größer, als wir annahmen, und diese Teufel vom Ring des Lichts werden von Melodias und Greymouse angeführt. Sie sind in der Überzahl, und wir sind rettungslos verloren, wenn wir nicht 222
sofort etwas unternehmen.« An Tyron prallte dieser dringende Appell ungehört ab, die Worte des Elfen drangen nicht zu ihm durch. »Schnell, Tyron, erteilt den Befehl! Blast zum Rückzug!« »Blast doch endlich, Herr!« flehte ein zweiter Elf, der am Arm verwundet war. »Tut etwas, sonst sind wir alle verloren! Steht nicht da wie versteinert und starrt uns an!« schrie der erste Elf, riß das Signalhorn aus Tyrons lebloser Hand und blies einen hohen Triller, den der Wind über den Gefechtslärm hinwegtrug. Er wiederholte das Signal und wandte sich dann an die beiden anderen Elfen. »Rasch, fort von hier! Fen, du stützt Aoel, und ich versuche Seine Hoheit in Sicherheit zu bringen.« Als die beiden Elfen an Tyron vorbeieilten, flackerte es in dessen Augen einen Moment auf, und er versuchte zu sprechen. Doch kein Wort drang über seine Lippen, und er blickte nur flehend in die beiden ratlosen Gesichter. Die Elfen senkten betreten die Köpfe und hasteten weiter. Als der erste Elf Tyron fürsorglich hinwegführen wollte, erwachte Thailwick aus seiner Bewegungslosigkeit, schüttelte sich und sagte wutentbrannt: »Nein, das lasse ich nicht zu, Tyron! Ihr habt dies alles hier angezettelt! Und beim heiligen Namen Eiorns, Ihr werdet es auch zu Ende führen, ganz gleich ob zum Guten oder Bösen.« »Hör auf, Thailwick«, warnte der Elf. »Unser König ist nicht bei Sinnen.« »Wir haben alle den Verstand verloren!« schrie Thailwick. »Ich habe Tyron lange und treu gedient, doch ich hätte nie gedacht, daß es einmal so enden würde.« Thailwick deutete mit der Hand über die Lichtung. »Sieh dir das an, Cremm. So weit sind wir gesunken. Wir haben unsere eigenen Brüder getötet, und nun kämpft auch der Ring des Lichts gegen uns. Tyron hat dem Ring immer mißtraut, doch ich hätte nie gedacht, daß er uns tatsächlich angreifen würde. Wir wollen doch nichts weiter als eine 223
Heimat für unser Volk.« Cremm schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Tyron ist am Ende seiner Träume angelangt. Laß ihn in Ruhe, Thailwick. Ich teile deine Gefühle, aber es hat keinen Sinn, Geschehenes zu beklagen. Jetzt müssen wir versuchen, zu retten, was noch zu retten ist, und dann sehen wir weiter.« »Ich komme mit dir.« »Du solltest die restlichen Truppen um dich scharen«, sagte Cremm. »Sie brauchen jetzt dringend jemanden, dem sie vertrauen und folgen, nachdem ihr Kampffieber abgekühlt ist.« Thailwick drehte sich um und machte sich in Richtung East Ring Dell auf den Weg, wo die Schlacht noch unvermindert weitertobte, als Dorini plötzlich die Hand hob und Cremm bedeutete, Tyron loszulassen. Der Elf nahm Tyrons Arm von seiner Schulter, und die wankende Gestalt stand schwankend auf unsicheren Beinen da. »Komm her, mein Lieber«, schmeichelte Dorini. »Deine Aufgabe hier ist noch nicht beendet, und ich fürchte, deine jämmerlichen Soldaten können wir nicht so ungeschoren davonkommen lassen.« Wirbelnde eisige Windböen heulten um Dorinis Gestalt, und sie verwandelte sich wieder in Cybelle. »Zurück in den Kampf, Cremm! Deine Heimat findest du in der Hölle der Verdammnis jenseits vom Calix Stay.« Cremm zuckte zusammen und versuchte vor dieser schrecklichen Gestalt zu fliehen, doch noch ehe er einen einzigen Schritt getan hatte, schoß eine hellglühende gelbgrüne Flammengarbe aus Dorinis Hand, zischte durch die Luft und traf den Elfen. Fassungslos starrte dieser auf Dorini, sein Mund öffnete sich, seine Augen liefen blutrot an, und mit einem entsetzlich schrillem Angstschrei rannte er zurück in den Wald und schwang dabei sein Gewehr wild über den Kopf. Tyron, der dieser brutalen Szene hilflos zugesehen hatte, raffte seinen ganzen Mut zusammen und stach mit seinem 224
kurzen Elfenschwert nach dieser grausamen Finsteren Königin, die in der Gestalt von Cybelle vor ihm stand. Doch seine Finger gefroren um den Knauf des Schwertes, noch ehe er den Hieb ausführen konnte, und mit einem Schmerzensschrei schleuderte er die Waffe zu Boden. »Ihr habt das alles geplant!« schrie Tyron nun. »Dem Ring habe ich ein falsches Spiel zugetraut, aber nicht Euch.« »Schweig, Elf! Ich weiß, was du erwartet hast. Alberne Träume eines törichten Narren. Für deinen Hochmut wirst du jetzt bezahlen.« Dorini brach in schrilles Gelächter aus, ihr eiskalter Atem traf Tyron im Gesicht und zwang ihn, die Augen zu schließen. Schützend hielt er die Hände davor. »Dein ehrgeiziger Plan hat mich um den Sieg gebracht, das wirst du mir büßen, du elender Halunke.« Dorini, noch immer in der wunderschönen Gestalt Cybelles, packte Tyrons Hand und riß ihn zu sich heran. Als sie den Elf hochhob, sang sie mit lauter Stimme eine alte Weise, die zu dem bewölkten Himmel aufstieg und einen derart heftigen Hagelsturm auslöste, daß die Blätter von den Bäumen gerissen wurden, und ein brausender Wind aus Eis und gefrorenem Feuer erhob sich in der Ferne und tobte durch den dichten Wald, bis er sich Dorini näherte. »Ich will den Schrein, Elf! Du gibst mir jetzt dein Geheimnis, und du wirst den Schrein zu dir rufen! Diese dreckige Tunnelratte hatte ihn nicht mehr, verflucht sei sie. Aber ich weiß, der Schrein ist hier in der Nähe. Und niemand, nicht einmal der Eine, kann dich davon abhalten, mit deinem Geheimnis die anderen herbeizurufen. Das ist das Gesetz.« Tyrons Kopf sank zur Seite, er verdrehte die Augen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Thailwick, der unter dem Hagelsturm, den Dorini über der Lichtung des Letzten Tores entfesselt hatte, bewußtlos zusammengebrochen war, richtete sich nun auf einem Ellbogen auf. »Gebt ihn ihr nicht, Tyron. Gebt der Hexe 225
nicht diese Macht.« Dorini richtete einen Finger auf den verwundeten Elf, und eine grüne Wolke aus Eis und Wind brachte Thailwick zum Schweigen. Dorini wandte sich wieder Tyron zu, dessen Augen klarer geworden waren. »Sprich, du Schuft! Zu lange schon warte ich auf diese Siegestrophäe. Ruf den Schrein! Benutze die Macht des Geheimnisses!« »Ich kann nicht«, stammelte Tyron. »Du kannst und wirst es tun, du erbärmlicher Elf. Du und deine verdammte Sippe, ihr habt mir Kummer genug bereitet. Es ist höchste Zeit, daß die unteren Welten von euch neunmalklugem Gewürm befreit werden.« Dorini verzog verächtlich das Gesicht. »Ihr habt genug Unheil in meinem Reich angerichtet, ihr und diese erbärmlichen Wasserelfen. In den Drachenkriegen habt ihr meine herrlichen Kampftiere erschlagen, als der Ring mir den rechtmäßigen Anspruch auf den Thron streitig machte. Aber er hat mich nicht besiegt, und auch ihr könnt mich nicht aufhalten. Ich werde mein Geburtsrecht einlösen. Diese Welten gehören mir, und ich muß den Schrein in meine Gewalt bringen, um meine Herrschaft ein für allemal zu besiegeln. So steht es geschrieben.« Dorinis Stimme hatte sich zu schrillem Schreien gesteigert, und das frostige Echo ihrer Worte hallte über den Gefechtslärm hinweg, der allmählich abflaute und sich entfernte. Sie verstummte und blickte auf die geduckte, gebrochene Gestalt des Elfen hinab. Dann sprach sie mit sanfter, lieblicher Stimme weiter, einer Stimme, die Cybelle zu gehören schien. »Mein lieber Tyron, wir wollen uns nicht weiter gegenseitig quälen. Sobald du mit deinem Geheimnis den Schrein gerufen hast, hast du alle meine Wünsche erfüllt, und ich werde dich in Ruhe lassen. Du wirst frei sein von dieser schweren Bürde, die dein Vater dir anvertraut hat. Das Geheimnis wird sicher verwahrt und nie wieder in die Hände des Rings 226
fallen, so wie dein Vater es gewollt hat.« Tyrons Augen schimmerten glasig, und er nickte. »Vater wollte verhindern, daß Greyfax das Geheimnis wieder zurückbekommt. Er dachte, daß es hier bei uns im Goldenen Wald vor jedem Zugriff sicher wäre.« »Dies hast du erreicht. Du kannst dich jetzt der wohlverdienten Ruhe hingeben und zu deinem Vater heimkehren. Er ruft dich. Du bist sehr müde, und die Zeit ist gekommen, daß du dich in das sichere Reich begibst, in dem dein Vater auf dich wartet.« Für einen flüchtigen Augenblick belebten sich Tyrons Gesichtszüge. »Heimkehren? Ihr meint zurück in den Goldenen Wald?« »Nein, Tyron, in die Heimat deines Vaters, jenseits dieser unteren Grenzen, die du vor so langer Zeit verlassen hast.« Ein schwacher Erinnerungsschimmer erhellte Tyrons verwirrten Geist. »Deine Zeit ist gekommen, Tyron. Dort findest du endlich Ruhe und Sicherheit, und du wirst nie wieder die Grenzen überschreiten müssen. Dort hast du keine Verwendung mehr für das Geheimnis. Solange es in deinem Besitz ist, wird es dich daran hindern, in deine wahre Heimat zurückzukehren.« »Doch mein Vater sprach vom Goldenen Wald als unserer rechtmäßigen Heimat.« »Das stimmt nicht. Dort, wo dein Vater ist, gehörst auch du hin. Gib mir das Geheimnis und rufe den Schrein, dann kannst du endlich zu deinem Elfenvolk heimkehren, das bereits vor dir diese Reise angetreten hat.« Über Tyrons Gesicht huschten besorgte Zweifel. »Ich glaube nicht, daß ich Eurem Wunsch nachgeben kann«, murmelte er schließlich leise. »Warum nicht, Tyron? Willst du dir nicht endlich Ruhe und Frieden an der Seite deines Vaters gönnen?« »Er kann es Euch nicht geben. Er hat das Geheimnis nicht mehr«, ertönte da eine kräftige, klare Stimme hinter 227
Dorini. Sie fuhr herum; die ebenmäßigen Gesichtszüge Cybelles lösten sich auf, und sie nahm wieder ihre wahre Gestalt an. Ihr Blick fiel auf den Störenfried, sie warf ihren dunklen, wunderschönen Kopf in den Nacken und lachte laut und höhnisch. »Ah, da seid Ihr ja endlich. Ich habe mich oft gefragt, wie dieses Spiel zwischen uns beiden enden würde.« »Viel Zeit ist inzwischen verstrichen, Dorini. Und wie ich sehe, seid Ihr Eurer Rolle treu geblieben«, erwiderte Greyfax ruhig. »Auch Ihr habt nichts von Eurer Halsstarrigkeit eingebüßt«, lachte Dorini kalt. »Ihr habt damals mein Angebot ausgeschlagen, an meiner Seite zu herrschen.« »Und damit bin ich dem Schicksal entkommen, das dem armen Doraki widerfahren ist.« »Sein Ehrgeiz wurde ihm zum Verhängnis. Es war mir zu gefährlich, ihn mit dem Schrein in Berührung kommen zu lassen. Dieser geschwätzige Tor von einem Elf hat mich daran erinnert, daß der Schrein die Macht besitzt, selbst in verlorenen Wesen wie Doraki neue Hoffnung zu wecken. Auch wenn diese Hoffnung darin besteht, an meiner Stelle zu herrschen.« »Und deshalb habt Ihr beschlossen, ihn zu den Feldern des Lichts zurückzuschicken?« fragte Greyfax und ließ Dorini keinen Moment aus den Augen. Ihre Blicke trafen sich nur flüchtig, doch sie senkte die Augen, als sie den strahlenden Glanz sah, der in seinen Augen leuchtete. »Dort kann dieser Narr mir nichts mehr anhaben. Er bedeutete für mich eine ernsthafte Bedrohung. Ich konnte es nicht riskieren, daß er Gewalt über mich bekam.« »Und so habt Ihr ihn an den Ort verbannt, den er am meisten haßte – die Felder des Lichts.« »Richtig! Armer Greyfax, allmählich begreift Ihr.« »Euren Sinn für Gerechtigkeit habe ich schon immer bewundert, meine liebe Fürstin.« 228
»Dann versteht Ihr auch, daß mein Handeln gerechtfertigt ist und ich mein Ziel erreichen werde.« Greyfax blickte über die Lichtung und deutete auf das Schlachtengetümmel, das im Wald um sie herum unvermindert weitertobte. Überall lagen leblose Gestalten auf der Erde. »Ihr handelt sehr eindrucksvoll, liebe Fürstin. Ihr habt Großes im Sinn, doch leider wird Euer Plan, die unteren Welten in ewige Finsternis zu stürzen, nicht in Erfüllung gehen.« »Ihr könnt mich nicht aufhalten! Niemand von diesem verdammten Ring kann mich daran hindern. Ich habe Cybelle in meiner Gewalt, und ich allein werde in diesen unteren Welten herrschen.« »Ja, es stimmt. Ihr habt Cybelle. Aber wir haben etwas, wofür Ihr sie eintauschen werdet. Das dürfte Euch mehr wert sein als diese Geisel.« Dorinis Augen wurden zu schmalen, eisigen Schlitzen, und sie fragte ganz ruhig: »Ist das ein Vorschlag oder stellt Ihr nur die Fakten dar?« »Ich weiß, wo ein bestimmter Gegenstand ist, den Ihr begehrt. Und ich könnte Euch diesen Gegenstand im Austausch für Cybelles Leben und Freiheit zukommen lassen.« »Den Schrein?« fragte Dorini atemlos. »Ja, den Schrein.« Sie überlegte einen Moment. »Ich bin nicht bereit, den Austausch mit Euch vorzunehmen, Greyfax. Euch ist nicht zu trauen.« »Mit wem dann? Mit Faragon?« »Mit keinem von euch ehrenwerten Zauberern noch mit meiner einfältigen Schwester. Ich werde nur mit jemandem verhandeln, der mich nicht mit einem eurer üblen Tricks hereinlegen kann.« »Einverstanden.« »Schickt mir den Zwerg!« verlangte sie dann mit einem boshaften Lächeln 229
»Wann übergebt Ihr uns Cybelle? Und wie sollen wir wissen, ob Ihr Euren Teil der Abmachung einhalten werdet?« »Das werdet Ihr erfahren, wenn es soweit ist.« »Werdet Ihr Cybelle dem Zwerg übergeben, sobald Ihr den Schrein bekommen habt?« »Ja, so soll es sein.« »Dann werde ich den Zwerg zu Euch schicken, Dorini. Er steht unter unserem Schutz und ist gegen Eure Listen gefeit.« »Das mag schon stimmen«, gurrte Dorini. Grußlos wandte sich Greyfax daraufhin ab und kehrte zu seinem mächtigen silbergrauen Roß Anyim zurück und stieg auf. Roß und Reiter wirbelten herum, und die Finsternis erhellte sich für einen Moment, als beide darüber hinflogen, doch Dorinis lange Schatten senkten sich sofort wieder über die Lichtung des Letzten Tores. Und der Kampf tobte mit unverminderter Stärke weiter – Elf gegen Elf. Dorini betrachtete mit Ergötzen dieses blutige Gemetzel; in Zwietracht und Haß, die sie gesät hatte und die jetzt auch den Goldenen Wald zerstörten, wuchsen ihre Kräfte ins Unendliche. Ihr Werk der Verwüstung reichte weit über die unteren Grenzen vom Calix Stay, erstreckte sich über das jenseitige Ufer weit über den dunklen Horizont von Atlanton. Bald, so triumphierte sie, würde sie mittels des verhaßten Schreins die Alleinherrschaft über die drei unteren Welten Windameirs antreten, und damit hätte sie ihr Ziel, ihre Bestimmung, erreicht.
35. Die Macht des Rings des Lichts bleibt ungebrochen Mit zerschundenem Körper und zerfetzten Kleidern saß Broko auf der Erde. Er starrte mit leerem Blick vor sich hin, und seine Finger zupften nervös an den Knöpfen seines 230
zerrissenen Wamses. Greyfax schwieg und musterte die kleine Gestalt eingehend. Dann sprach er wieder, lauter diesmal, um den Gefechtslärm der erneut aufflammenden Kämpfe vor dem Tunneleingang zur alten Festung Banis zu übertönen. »Du wurdest auserwählt, Broko. Dorini besteht darauf, daß du ihr den Heiligen Schrein aushändigst.« Broko blickte kurz zu dem Zauberer hoch und schlug dann wieder die Augen nieder. Mit gesenktem Kopf betrachtete er dann das winzige Kästchen, das leise vibrierend in einem perlmuttfarbenen Lichtkreis lag. Lange starrte er darauf, ehe er antwortete. »Gibt es keinen anderen Weg, Cybelle zu retten?« fragte er schließlich mit gepreßter, heiserer Stimme. »Nein. Aus den Büchern erhielt ich diesen Befehl, und der Eine selbst hat es verfügt. So soll es geschehen, und du wirst es ausführen.« »Ich will nicht«, widersprach Broko gereizt. »Warum soll ich derjenige sein, der die letzte Hoffnung des Lichts der Finsternis übereignet. Dieser Makel würde immer auf mir lasten. Übernehmt Ihr diese Aufgabe oder Faragon oder Lorini. Sie ist schließlich ihre Schwester.« »Müssen wir ihr den Schrein denn aushändigen?« fragte Lorini und hob den Blick von dem winzigen, schimmernden Kästchen. »So steht es geschrieben«, entgegnete Greyfax einfach. »Er wird unter anderem Cybelle aus dem Kerker Eurer Schwester befreien.« »Aber ist dies wirklich der einzige Weg? Welches Schicksal erwartet dann die anderen? Wenn der Schrein und die Geheimnisse der Finsternis übergeben werden, bleibt für niemanden mehr Hoffnung.« Greyfax lächelte leise und ergriff Lorinis Hand, ehe er antwortete. »Die Dinge haben sich entscheidend gewandelt, meine Fürstin. Was bis vor kurzem unmöglich schien, wird nun eintreten. Uns wird die Erlaubnis zuteil, in die Heimat 231
zurückzukehren. Versteht Ihr mich?« »Oh«, hauchte Lorini nur, dann versagte ihre Stimme. »Ja. Erophin hat mir diese Neuigkeit mitgeteilt, und Cephus bestätigte, daß sie den Weg in die Heimat für uns vorbereiten. Bald werden wir alle an einem gemeinsamen Tisch sitzen.« Lorinis graublaue Augen füllten sich mit Tränen, und sie hatte Mühe, mit zitternder Stimme zu fragen: »Sprecht Ihr die Wahrheit? Haben wir endlich das Ende aller Leiden und Kämpfe erreicht?« »Ja. Es ist wahr, meine Fürstin. Faragon und Cybelle gehen nach Cypher, um jenen den Weg zu zeigen, die noch in den unteren Welten weilen. Und bald werden wir erfahren, ob das Licht sie weiterhin leiten und die Hoffnung sie unterstützen wird.« »Aber, Herr«, platzte da Bruinlen heraus, der nicht länger stillschweigend zuhören konnte. »Wenn Ihr uns alle verlaßt, was wird dann aus uns? Was geschieht mit all jenen, die Euch gefolgt sind?« Greyfax lachte. »Folge mir nur weiterhin, alter Freund. Andere werden unseren Platz einnehmen und den Suchenden dabei helfen, den richtigen Weg zu finden.« »Also, das schlägt dem Faß den Boden aus«, murmelte Ned Thinvoice. »Ich habe sowieso nie einen Sinn in all dem gesehen, und jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Es will mir nicht in den Kopf, daß wir diesen verdammten Schrein jetzt freiwillig der Person ausliefern, vor der wir ihn die ganze Zeit versteckt haben. Warum habe ich mir dann die Füße wundgelaufen, Kopf und Kragen riskiert und diesem halsstarrigen Zwerg geholfen, ihn zu behalten?« »Ich gebe dir recht, Ned«, beruhigte ihn Greyfax. »Doch was du getan hast, war unbedingt nötig und unerläßlich. Du und Cranny, ihr habt uns treu und tapfer gedient und euch damit einen Platz im Ring des Lichts erworben.« »Im Ring?« riefen Ned und Cranny wie aus einem Munde. »Ja, meine lieben Freunde, für eure Verdienste wird euch der Mantel des Rings verliehen, als Belohnung 232
für die unverbrüchliche Loyalität dem Hohen König von Windameir gegenüber.« Ned Thinvoice lief puterrot an und stammelte: »Das ist zuviel Ehre für mich. Als mein kleiner Freund hier wirr im Kopf war, habe ich schlecht über ihn gesprochen. Eure lobenden Worte beschämen mich, ich bin diese Auszeichnung nicht wert. Cranny hier, ja, er war immer der Beste von uns allen. Gebt ihm den Mantel, und ich bleibe bei ihm, wenn’s recht ist.« Cranfallow richtete sich jetzt zu voller Größe auf und deutete mit dem Finger auf Ned. »Jetzt hör mir mal zu, Ned. Halt gefälligst deine Zunge im Zaum. Was sollte ich mit so einem Mangel anfangen? Ich sage, daß du ihn bekommen sollst, und ich hänge mich an deine Fersen.« Greyfax kicherte leise, hob eine Hand und gebot Schweigen. »Das soll Faragon für euch entscheiden. Jetzt müssen wir schleunigst unseren Zwerg hier mit seinem Auftrag losschicken.« »Ich habe keine Eile«, murrte Broko ärgerlich. »Es gefällt mir nicht, daß ich Dorini den Schrein übergeben soll. Wenn irgend etwas schiefgeht, ist es meine Schuld. Jeder denkt nur an sich selbst. Und außerdem glaube ich Dorini nicht, daß sie Cybelle freilassen wird. Was geschieht, wenn sie den Schrein nimmt und sich weigert, Cybelle auszuliefern? Wo stehen wir dann? Ihr gehört dann beides, und wem schiebt man die Schuld dafür in die Schuhe? Mir! Broko, dem Ehrlosen; Broko, dem abtrünnigen Verräter.« Lorini trat auf den Zwerg zu und kniete neben ihm nieder. »Verstehst du denn nicht, daß du der einzige bist, dem meine Schwester vertraut? Sie weiß, daß du ihr keinen Schaden zufügen kannst. Vor Greyfax und mir hat sie Angst, und sie mißtraut uns. Ich würde an deiner Stelle gehen, Broko, aber ich kann es nicht.« »Ich ebenfalls«, fügte Greyfax hinzu. »Na großartig!« rief Broko. »Dann tut es doch. Wenn es 233
nach mir ginge, würde ich den Schrein nehmen und damit über die Grenzen der oberen Regionen verschwinden und ihn dort in Sicherheit bringen.« Lorini lächelte traurig auf die kleine, empörte Gestalt hinab. »Damit würdest du weder Cybelle noch die anderen retten.« »Es zählt nur, was für die meisten von Vorteil ist«, widersprach Broko beharrlich. »Und ich halte es für das Beste, den Schrein aus Dorinis Machtbereich zu entfernen.« »Auch uns liegt ausschließlich das Wohl aller am Herzen«, sagte Greyfax und stellte sich ebenfalls neben Broko. »Und wem hilft die Rettung Cybelles, außer Euch?« fragte Broko und blickte Lorini an. »Ist dein Gedächtnis so kurz, lieber Broko? Bedeutet dir Cybelle so wenig?« Da erinnerte sich Broko wieder an seine großartigen Pläne und errötete bis unter die Haarwurzeln. »Sie bedeutet mir nichts«, giftete er. »Sie ist ein wunderschönes Mädchen und hat ein feines Gehör für Musik.« »Mir klingen da noch ganz andere Worte im Ohr, Cousin«, warf Creddin ein und hob den Kopf. »Was weißt du schon darüber, du verräterischer alter Tropf?« »Nur so viel, daß er es wagte, dich aus Dorinis tödlicher Bedrohung zu zerren«, verteidigte Bruinlen den alten Zwerg. Brokos Gesicht verfiel, und er blickte in Creddins zerfurchtes Antlitz. Er bewegte die Lippen, doch brachte kein Wort heraus. »Überall wurde geschossen, und wir haben uns nicht getraut, unsere Deckung zu verlassen, um dir zu helfen. Doraki hat dir die Kleider vom Leib gerissen auf der Suche nach dem Schrein. Dann schoß plötzlich eine grüne Flamme empor, und wir dachten schon, die ganze Lichtung hätte sich in Feuer und Rauch aufgelöst. Als der Qualm sich verzogen hatte, war Doraki verschwunden, und Creddin zerrte dich an deinem Fuß in die Höhle.« 234
»Und er hat den Schrein hier im Tunnel gefunden. Er hat ihn die ganze Zeit verwahrt. Deswegen hattest du ihn nicht mehr bei dir«, zwitscherte Olther. »Und dann wollte Dorini Tyron zwingen, mit seinem Geheimnis den Schrein zu rufen, doch er weigerte sich.« »Und von mir erwartet ihr, daß ich ihr alle Geheimnisse aushändige?« fragte Broko atemlos und war froh, sich von seinem Retter abwenden zu können. »Ja, genau das sollst du tun, Broko. Das versuche ich dir doch die ganze Zeit klarzumachen.« »Ich verstehe Brokos Bedenken, Herr«, sagte nun Flewingam, der die ganze Zeit schweigend am Höhleneingang gestanden und dem Kampfgetümmel draußen zugesehen hatte. »Wenn Tyron sich so standhaft geweigert hat, sein Geheimnis preiszugeben, warum soll Broko sich jetzt davon trennen? Warum soll ausgerechnet er dem Licht diesen vernichtenden Schlag versetzen?« »Wohl gesprochen, Flewingam. Eine logische Schlußfolgerung. Unser Zwerg befürchtet, zum Sündenbock des Rings gemacht zu werden, und daß sein Name in den Büchern der Weisheit stehen wird – als Verräter, der den Untergang des Lichts verschuldet hat.« »Ja, dieser Eindruck wird entstehen«, gab Broko zu. »Aber ich kann dir versichern, das wird nicht geschehen«, betonte Greyfax. »Und du mußt mir glauben, daß es unerläßlich ist, Cybelle aus Dorinis finsterem Gefängnis zu befreien.« »Ihr könnt doch in jede Gestalt schlüpfen. Dann verwandelt Euch in mich und übergebt ihr den Schrein.« »Ja, das könnte ich«, stimmte Greyfax zu. »Aber das ändert nichts daran, daß trotzdem ein Zwerg die Übergabe vornahm, und nur daran wird man sich erinnern. Also bleibt es an dir hängen. Jetzt entscheide dich, notfalls müssen wir eben auf deine Hilfe verzichten.« Broko wandte sein bestürztes Gesicht dem Zauberer zu, der ihn nun hart und unnachgiebig ansah. 235
»Das würdet Ihr fertigbringen, Greyfax? Nach all dem, was wir miteinander durchgestanden haben? Ich dachte, Ihr liebt mich ein wenig. Doch nun muß ich feststellen, daß ich mich in Euch getäuscht habe.« »Hast du bereits vergessen, Cousin, wie du deine Freunde beschuldigt hast, sie würden dich nur ausnützen und deinen Schatz rauben wollen? Wie hast du ihnen mißtraut und ihre Treue schlecht belohnt. Daran denkst du jetzt wohl nicht mehr, wie?« fragte Creddin. Broko kam schwankend auf die Füße und stolperte wütend auf Creddin zu. »Halt du doch den Mund!« fauchte er. »Es stimmt, ich hatte gewisse Zweifel und bin mir immer noch nicht sicher, ob sie nicht berechtigt waren. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du dich nicht in Dinge einmischen würdest, von denen du nichts verstehst.« »Laßt mich den Schrein überbringen, Herr«, zwitscherte Olther. »Wenn es möglich ist.« »Ich gehe mit«, bot Bruinlen an. »Olther gerät nur in Schwierigkeiten, also schickt mich mit. Er würde glatt über seinen eigenen Schwanz stolpern, und dann flöge das Kästchen in hohem Bogen über den Fluß. Das will ich verhindern.« Olther kniff seinen Freund boshaft ins Bein, doch Bruinlens Schmerzensschrei verhallte ungehört in einer donnernden Gewehrsalve, die direkt vor dem Eingang zur alten Zwergenfestung abgefeuert wurde. »Ich werde den Schrein überbringen«, entschied Broko gereizt, nachdem der Lärm verklungen war. »Ich habe diese Last so lange getragen, also will ich die Aufgabe auch zu Ende führen.« »Hast du dich endgültig entschieden?« fragte Greyfax drängend. »Wir können nicht länger darüber diskutieren.« »Aber ich begleite ihn«, beharrte Olther. »Ich habe seine üble Laune die ganze Zeit über ertragen, also kommt es darauf auch nicht mehr an.« »Ich komme auch mit«, beschloß Bruinlen. »Mich könnt 236
ihr nicht ausschließen«, entschied Flewingam. Ned Thinvoice klatschte sich laut aufs Knie. »Den alten Neddy könnt ihr nicht einfach hier zurücklassen. Ich will alles so schnell wie möglich hinter mich bringen. An diesem Ort hier hält mich nichts. Die Schießerei rückt immer näher, und ich habe keine Waffe, um meine alte Haut zu verteidigen.« »Dann laßt uns sofort aufbrechen«, drängte Cranfallow. »Und was ist mit dir, Creddin?« fragte Greyfax. Der alte Zwerg warf dem Zauberer einen flüchtigen Blick zu. »Ich bin am Ende meines Weges angelangt. Ich gehe mit den anderen.« Ein eigenartiges Lächeln erhellte Greyfax’ Gesicht. »Bald wird dir Erleichterung verschafft werden, mein Freund. Auch du hast dir den Mantel redlich verdient.« Und noch ehe die rätselhaften Worte des Zauberers verklungen waren, verdunkelte ein fahler, unheimlicher Schatten den Höhleneingang, und ein hohes, durchdringendes Summen schrillte durch die Luft. »Das ist Dorini«, warnte Greyfax. »Sie wird ungeduldig und fordert nun ihren Preis.« Die Gefährten scharten sich hastig um Greyfax und Lorini und versuchten zu erkennen, was draußen vor sich ging. Die fahle Nachmittagssonne auf der Lichtung des Letzten Tores verwandelte sich in düsteres, grünlich schimmerndes Glühen, und dichter Nebel umwallte Dorinis Gestalt. Vor ihr stand wie versteinert Tyron. Leblose Körper gefallener Elfen bedeckten den dunklen Boden des Waldes. »Das darf nicht sein, Greyfax«, flüsterte Lorini bedrückt. »Meine Schwester darf diesseits vom Calix Stay keine Leben auslöschen. Der Hohe König Windameirs kann das nicht zulassen.« »Nur sein Wille geschieht«, entgegnete Greyfax. »Doch ich muß Euch recht geben. Dagegen müssen wir etwas unternehmen.« 237
Der Zauberer wandte sich nun an die Gefährten, die ihn dichtgedrängt umstanden. »Hört meine letzten Anweisungen. Ich werde mich kurz fassen.« Er nickte Broko zu. »Broko, du wirst den Schrein tragen. Er war dir immer eine schwere Last, doch bald wirst du von ihm erlöst werden. Du hast deine Aufgabe vortrefflich gelöst. Nun folge nur deinem Herzen, und alles wird sich zum Guten wenden.« Er legte eine Hand auf Brokos Schulter. Tränen stiegen in Brokos Augen. »Ihr sprecht, als wolltet Ihr uns wieder verlassen, Greyfax.« Die Züge des Zauberers erhellten sich, und er lächelte. »Nur für einen Augenblick, nicht länger. Bald wirst du alles verstehen.« Ermutigend klopfte er Broko auf die Schulter. »Und ihr zwei tapferen Gesellen werdet in Zukunft etwas häufiger die Gestalt wechseln«, sagte er zu Bruinlen und Olther. »Das gilt auch für alle anderen.« Rasch schüttelte er noch Ned, Cranny, Flewingam und Creddin die Hände. Lorini hauchte jedem einen sanften Kuß auf die Wange; ihre graublauen Augen schimmerten dunkler als der Nachthimmel. »Das verstehe ich nicht«, stotterte Broko. »Ihr beide verlaßt uns, und Dorini bekommt letztendlich doch, was sie will?« »Geh jetzt, Broko. Gehe deinen Weg zu Ende. Wir werden euch alle beschützen.« »Befreie unsere Cybelle, Broko«, bat Lorini leise. Ihre Worte waren in dem Gefechtslärm, der aus dem Wald dröhnte, kaum zu verstehen. Broko drückte den Heiligen Schrein an sein Herz und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er brachte kein Wort heraus. Dann trübten sich seine Augen, und die entsetzliche Finsternis, die Stimme Dorinis, rief ihn zu sich. Der eiskalte Splitter der Angst, den die Finstere 238
Königin tief in seine Seele gesenkt hatte, regte sich, brannte wie Feuer, und sein Geist wurde durch den unheimlichen Ruf der dunklen Schattenwelt gelähmt. Er taumelte einige Schritte voran, verharrte und ging schwankend weiter. Bruinlen und Olther stützten ihn nun rechts und links, und die anderen – Ned, Cranny, Flewingam und Creddin – folgten ihm mit weit aufgerissenen Augen, während grünliche Nebelschwaden um ihre Beine wirbelten. Als sie sich der hochaufgerichteten Gestalt Dorinis näherten, senkte sich plötzlich absolutes Schweigen über den Wald. Kein Laut war zu hören, nur das ängstliche Pochen ihrer Herzen. Die Gefährten hielten sich an den Händen gefaßt und traten so auf die unheimliche Lichtung hinaus. Und so plötzlich, wie die Stille eingetreten war, erhob sich nun ein fürchterlicher eisiger Wind, heulte und brauste durch den Wald, brannte in ihren Augen und dröhnte in ihren Ohren, bis ihre Herzen stillzustehen drohten. »Er gehört mir!« gellte Dorinis triumphierender Siegesschrei. »Dies hier ist mein Reich, es gehört nicht mehr zu Windameir. Jetzt bin ich ebenso mächtig wie der Eine! Niemand kann mich mehr aufhalten!« Aus Dorinis Mund züngelten gelbgrüne Flammen, die die Blätter an den Bäumen versengten, und beißender Rauch erstickte die Luft. »Gib ihn mir, du elende Wühlmaus! Gib mir meinen Schatz!« Bei diesen Worten erbebte der Schrein in Brokos Händen. Wohltuende Wärme durchströmte ihn und kräftigte seine Stimme, so daß die Finstere Königin ihn trotz des brausenden Windes hören konnte. »Wo ist Cybelle? Ihr bekommt den Schrein, sobald Cybelle frei ist.« »Ich lasse nicht mehr mit mir handeln, du erbärmlicher Erdwurm. Ich bin die Größte. Ich bin so mächtig wie der Hohe König Windameirs!« Dorini warf die Arme hoch, und ein schneidender, 239
blendender Sturm aus grünlichgelbem Hagel und Schnee riß den Schrein aus Brokos Händen. »Er gehört mir!« schrie Dorini. »Ich bin mächtiger als Windameir!« schrie sie wieder. Und als sie ihre Hände nach diesem winzigen Kästchen ausstreckte, um dessen Besitz sie so lange und unerbittlich gekämpft hatte, warf sie den dunklen, schönen Kopf in den Nacken und lachte gellend. Ihre kalten Finger berührten den Schrein, und die Erde, der Himmel, der Wind und das Reich Windameirs erzitterten und wurden in den Grundfesten erschüttert. Aus dem kleinen Schrein jedoch schoß eine mächtige grelle Flammensäule, und das Weiße Licht des Herrschers Windameirs explodierte in solch strahlender Helligkeit, daß sich glitzernde, in allen Regenbogenfarben funkelnde Blitze über alle Planeten ergossen, die Er erschaffen hatte. In diesem weißgoldenen Licht wirbelten die Geheimnisse, eins nach dem anderen, aus dem Heiligen Schrein, wehten befreit hoch in die Lüfte, von einem strahlenden Schein goldenen Lichts umgeben, und senkten sich in die Herzen all jener, die dort am Letzten Tor standen, und entfachten neue Hoffnung in den Herzen aller Lebewesen. Dorini, totenbleich und kalt wie Eis, wand sich in Schmerz und Qual, als die goldenen Pfeile der Geheimnisse ihre kalte Seele durchbohrten. Doch die Freunde wurden von dem Wissen erleuchtet und erinnerten sich plötzlich wieder an die wahre Bedeutung der Geheimnisse. Tief verborgen in ihrem Inneren hatten sie die ganze Zeit geruht und waren dort in Vergessenheit geraten. Eisiges Wutgeschrei gellte aus Dorinis Kehle, sie drehte sich um und verwandelte das weißgoldene Licht in einen Wirbelsturm aus Eis und Schnee. »Ihr Teufel, glaubt nur nicht, daß ihr gewonnen habt! Mich kriegt ihr nie! Ich verfluche diesen verdammten Schrein, da habt ihr ihn wieder. Ich behalte eure geliebte Cybelle und werde sie an einen Ort bringen, wo ihr sie niemals findet.« Bruinlen und Olther und die anderen 240
wichen einen Schritt zurück, doch Broko, die Augen verschleiert in nebligem Grau der Königreiche Dorinis, schleppte sich langsam vorwärts, näher zu den lockenden Armen der Finsteren Königin. »Und ihr, meine reizenden Kerlchen, ihr kommt mit mir. Greyfax wird diesen üblen Trick bitter bereuen.« Dorini warf die Arme hoch, bereit, die kleine Gruppe mit einem vernichtenden Schlag zu zerstören. Es erklang das schreckliche Läuten einer eisernen Glocke, der Himmel verdüsterte sich, und die gelbgrünen Flammen aus Dorinis Händen ergossen sich über die entsetzten Freunde. Sie fühlten bereits, wie die eisigen Klauen von Dorinis zerstörerischem Geist aus der giftigen Wolke herabschossen, um sie zu zermalmen, als sich plötzlich das Gesicht der Finsteren Königin erhellte, die frostige Dunkelheit wich, und die Gefährten sahen vor sich die beiden Schwestern stehen, die so lange erbitterte Feindinnen gewesen waren. Von Angesicht zu Angesicht standen sie sich gegenüber und verschmolzen dann miteinander und wurden eins. Fassungslos beobachteten die Freunde, wie vor ihnen dieses Wunder geschah, und dann die schöne, sanfte Lorini, Fürstin von Cypher, auf sie herablächelte. Vor ihren Augen hatte sich Dorinis grausames Gesicht gewandelt. Broko, zitternd und stotternd vor Angst, rief kläglich: »Seid Ihr das, Lorini?« Ein freundliches, warmes Lachen erklang von ihren weichen Lippen. »Weder Lorini noch Dorini bin ich. Ich bin die Verkörperung der Fünf Geheimnisse, die fünf Mächte der Liebe. Meine Namen sind Glaube, Hoffnung, Vergebung, Nächstenliebe und Demut. Nennt mich, wie ihr wollt, meine lieben Freunde, denn nun wird alles gut werden und die Vergebung auch die tiefsten Wunden heilen. Ich werde nun zum Licht zurückkehren, denn die Finsternis, die Er ausgesandt hat, um die Welten zu läutern, hat den Willen 241
des Einen erfüllt; und die Schatten, die die unteren Welten verhüllten, sind gewichen; und das Licht, das Leben und die Liebe können sich wieder frei entfalten, so wie in den ersten Stunden der Schöpfung.« »Ihr meint, es ist alles vorbei?« zwitscherte Olther und traute seinen Ohren nicht. »Alles findet ein Ende, wenn die Zeit reif dafür ist«, erklärte die Fürstin. »Und wo ist Cybelle?« flüsterte Broko. »Sie wird bald bei euch sein.« »Was ist geschehen?« fragten nun alle durcheinander. Doch die Fürstin lächelte nur, und die Herzen der Gefährten füllten sich mit Wärme und Freude. Ein weißes Licht stieg aus dem Boden empor, dort wo die Fürstin stand, der zarte Ton einer Flöte erklang, und dann war es wieder still. Als die Freunde aus ihrer Verwunderung erwachten und staunend um sich blickten, erinnerte nichts mehr an die überwältigende Erscheinung der Fürstin. Der einzige Beweis für die Geheimnisse war der winzige weiße Schrein, der zu ihren Füßen im Gras lag. Und ein nie gekanntes Gefühl der Vollkommenheit erfüllte ihre Herzen. Denn die Schatten der Finsternis waren für immer gebannt.
36. Ein lang ersehnter Frieden Ein Wandel bahnte sich über der Lichtung des Letzten Tores an. Die Sonne, die ihren tiefsten Stand über den dunstigblauen Bergen mit ihren schneebedeckten Gipfeln erreicht hatte, erstrahlte plötzlich hoch im Zenit wie zur Mittagsstunde, und ein sanfter lauer Wind säuselte durch die noch schlafenden Bäume des Waldes und untermalte eine tiefe melodische Musik. Ein Wirbelsturm aus Klang und Licht hatte den Kampfeslärm von der Lichtung gefegt, und die Waldelfen Tyron des Grünen standen stillschweigend den Wasserelfen Urien Typhons gegenüber. 242
Verlegen blickten sie auf ihre Waffen, und dann warfen sie sie wie auf Kommando zu Boden, und heller Jubel brach aus. Und wie Greyfax vermutet hatte, ließ der liebende König Windameirs es nicht zu, daß Dorinis Werk Tote forderte. Alle Elfen und Männer, die in Dorinis Schattenreich eingegangen waren, erhoben sich im Glanz des Lichts Windameirs. Thailwick blickte erleichtert auf Tyron, und Cremm neben ihm weinte Tränen der Freude. »Die Heimat hat uns wieder«, sagte Tyron und sah erwartungsvoll Urien Typhon entgegen, der über das grüne Gras der Lichtung auf ihn zugeritten kam, wo noch einen Augenblick zuvor die mörderische Schlacht getobt hatte. »Sei gegrüßt, Tyron, mein Bruder. Nun sind wir endlich wieder vereint.« Tyron umarmte Urien herzlich. »Wir müssen große Lager errichten, denn ein Strom von Wald- und Wasserelfen wird nun über die Grenzen in die oberen Regionen ziehen, nachdem der Große Fluß jetzt wieder überquert werden kann.« »Du hast recht, Tyron. Calix Stay braucht nun nicht mehr bewacht zu werden. Es droht keine Gefahr mehr. Jeder kann beliebig von einem Ufer zum anderen wechseln.« Urien Typhon lächelte glücklich. »Ihre Finsternis ist ebenfalls in die Heimat zurückgekehrt. Sie hat ihre Bestimmung erreicht und ihre Aufgabe in den unteren Welten erfüllt. Von den Lebewesen dort wurden alle Schatten ihrer Herrschaft genommen, und bald wird nichts mehr an ihre Regentschaft erinnern.« Den beiden Elfen näherte sich eine Gestalt auf einem silbergrauen Roß und stieg ab. Faragon Fairingay streckte die Hände aus und hob Cybelle aus Pelons Sattel. Sie war noch schöner geworden, und die Schatten der Finsternis, die ihr Herz getrübt hatten, waren den strahlenden Farben des neuen Tages gewichen, und ihr langes blondes Haar ergoß sich wie flüssiges Gold 243
über ihre Schultern. Urien Typhon und Tyron verneigten sich tief vor ihr und küßten ihr dann die Hand. Faragon lächelte die beiden Elfen freundlich an. »Alles ist zu einem guten Ende gekommen. Der Ring des Lichts hat sich wieder einmal geschlossen. Dorini und Lorini haben ihre Bestimmungen erfüllt, und die Geheimnisse liegen wieder wohlverwahrt im Heiligen Schrein.« Tyron blickte Faragon fragend an, doch dann leuchtete freudige Erleichterung in seinen Augen auf. »Ich habe es nicht mehr«, murmelte er. »Oder vielmehr doch, nur auf andere Weise.« »Du kennst nun alle die Geheimnisse, mein Freund. Sie sind nicht länger getrennt. Es gab immer Probleme, sobald sie auseinandergerissen wurden. Damals, auf Atlanton, als wir von allen Seiten angegriffen wurden, haben wir das noch nicht erkannt. Die Trennung der Geheimnisse hat den ganzen Aufruhr verursacht. Obwohl auch das nach dem Willen des Einen geschah, denn die unteren Welten mußten die Prüfung bestehen und sich wieder darauf besinnen, welches der rechte Weg ist. Der Besitz nur eines Geheimnisses brachte dich in ernsthafte Gefahr, denn er gab dir eine Ahnung von der Macht der Fünf Geheimnisse. Da sie aufgeteilt wurden, geriet das Gleichgewicht ins Wanken. Broko hat das auch gespürt, denn er trug den Schrein mit den drei Geheimnissen und zusätzlich das eine, das ihm bereits in jungen Jahren anvertraut wurde und dessen er sich nicht bewußt war.« »Dann bin ich jetzt frei«, sagte Tyron. Seine hellblauen Augen leuchteten klar und strahlend. »Ich kann Eurem Blick wieder frei und offen begegnen. Alles ist anders.« Urien Typhon klopfte dem kleineren Elfen auf die Schulter. »Ehe du dich ganz in deinen Betrachtungen verlierst, wollen wir für unser Elfen-Heer ein Lager errichten«, schlug er lächelnd vor und wies mit der Hand auf die vielen 244
Elfen, die glücklich auf der Lichtung umhertollten und in überschwenglicher Freude lachten und tanzten. »Du kannst mit deinem Volk durch das Letzte Tor ziehen und dich dort niederlassen, Tyron«, sagte Faragon. »Das heißt, wenn ihr wollt. Sonst steht es euch frei, hier in den Sonnenwiesen zu bleiben, bis ihr euch entschließt, das Tor zu durchschreiten. Cybelle und ich werden nach Cypher zurückkehren und jenen helfen, die die beschwerliche Reise in die Heimat antreten wollen.« Nach diesen Worten drehte sich Faragon um und blickte Broko direkt ins Gesicht. »Und du, mein lieber alter Gefährte, was wird aus dir? Wir benötigen dringend jemanden, der jenseits vom Calix Stay Augen und Ohren offen hält und jenen als Führer dient, die noch dort weilen.« Brokos Stimme schwankte, als er antwortete. »Diese Ehre habe ich nicht verdient.« Cybelle, die schweigend neben den beiden gestanden hatte, bückte sich nun und küßte Broko auf die Wange. »Lieber alter Zwerg, auch du warst einst ein Gefangener der Finsteren Königin, so wie ich. Vor langer Zeit, noch jenseits des Großen Flusses, hat sie dich in ihren Eispalast entführen lassen. Damals senkte sie einen Splitter in dein Herz, der sich an deiner Angst und deinen Zweifeln nährte und wuchs.« Cybelle verstummte und ließ nun Faragon weiterreden. »Ich ahnte nicht, daß dies Teil des Plans sein würde«, sagte er. »Und ich bin froh darüber. Es hat mir einen Schock versetzt, als ich erfuhr, daß Dorini dich an einen Ort verschleppt hatte, den kein Mitglied des Rings betreten darf. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß du dein Geheimnis benützen würdest, um dich zu befreien. Und auch Dorini hast du damit eine böse Überraschung bereitet. Ich glaube nicht, daß sie jemals verstanden hat, daß auch sie nur ein Teil der Geheimnisse war, so wie Lorini. Das Licht und die Finsternis. Das Positive und das Negative. Als Dorini ihre Hand auf den 245
Schrein legte, erfüllte sich das Gesetz und sie wurde wieder eins mit Lorini, und das bedeutet, wie wir wissen, die Rückkehr in die Heimat.« »Und Greyfax?« fragte Olther und stellte sich neben Broko und die anderen. »Unser verschwiegener Freund hat sich oft beklagt, daß er es längst müde ist, als Ruhestifter zwischen den Welten umherzueilen. Er sehnt sich nach Ruhe und will seine Tage mit dem Studium der alten Karten und die Nächte als Astronom verbringen. Ich glaube, er und Erophin planen ein neues Projekt jenseits der Golden Tide in Angriff zu nehmen. Er, Greymouse und Melodias weilen schon jetzt in der Heimat und sind wahrscheinlich sehr glücklich. Schließlich sind sie seit Anbeginn mit dabei, und da Lorini und Dorini nun auch heimgekehrt sind, werden sie nicht länger gebraucht.« »Werden wir Greyfax je Wiedersehen?« fragte Bruinlen traurig. »Und die anderen.« »Oh, es würde mich nicht im geringsten überraschen, wenn wir ihnen noch des öfteren über den Weg laufen sollten, falls wir erst hier mit allem fertig sind.« »Schaut her!« unterbrach da Creddin die Unterhaltung und stellte sich in die Mitte des Kreises. »Schaut nur!« Anstelle des alten knöchrigen Gnoms stand vor ihnen ein gutaussehender kräftiger Zwerg, nicht viel älter als Broko. »Bist du das?« platzte Broko heraus und starrte Creddin mit großen Augen an. »Mit Leib und Seele, Cousin. Ich weiß nur nicht, was mit mir geschehen ist. Ich fühle mich, als wäre ich nicht älter als fünfhundert Jahre.« Er sprang in die Luft und knallte die Hacken zusammen, um damit seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Dann drehte er eine Anzahl von Saltos in der Luft – seinen Freunden verschlug es den Atem. »Genug, genug, du Hitzkopf!« rief Faragon lachend und hob Schweigen gebietend die Hand. »Wir müssen unsere Reisen planen. Einige unter euch wollen wohl durch 246
das Letzte Tor zurückgehen, und andere leisten uns vielleicht eine Weile Gesellschaft in Cypher. Vielfältige Aufgaben warten noch auf uns, und wir freuen uns über jede helfende Hand. Die Singenden Brunnen müssen restauriert werden, die Ställe wieder aufgebaut, und eine Menge Steinmetz- und Maurerarbeiten warten auf uns. Jede Hilfe ist willkommen, aber wir verstehen auch, wenn der eine oder andere unter euch lieber durch das Letzte Tor geht.« »Es wäre mir eine Ehre, wenn ich die Steinmetzarbeiten übernehmen dürfte«, erbot sich Creddin. »Es ist lange her, daß ich mich darin geübt habe, aber ich war einmal recht geschickt in diesem Handwerk.« »Ich kümmere mich um eure Brunnen«, bot Urien an. »Und jedes Mitglied des Wasservolkes, das mich begleiten will, ist herzlich willkommen.« Freudiges Rufen zeigte an, daß die Mehrheit von Uriens Volk bereit war, mit der Arbeit zu beginnen. Jene, die sich für die Reise durch das Letzte Tor entschieden hatten, gingen auf die strahlend weiße Lichtsäule zu, die in der Mitte der Lichtung ihr helles Licht verströmte. Sie traten hinein und verschwanden lautlos. Und keiner der Zurückgebliebenen verspürte ein Gefühl der Trauer oder Einsamkeit. Tyrons Heer hatte fast vollständig diesen Weg gewählt, einschließlich ihrem Führer. Jene, die auf der Lichtung geblieben waren, boten sich an, die Gärten und Wälder in Cypher zu pflegen. »Und ihr, mein guter Cranny und lieber Ned?« fragte Faragon. »Und was wird aus dir, Flewingam? Wollt ihr gehen oder bleiben? Wie denkt ihr darüber?« »Mir ist noch ganz schwindlig von all diesen Zaubereien«, murmelte Ned Thinvoice. »Hier geht’s ja zu wie auf dem Rummelplatz mit Feuerwerk und Schießbuden. Wenn Ihr eine einfache Aufgabe für mich habt, bin ich für eine anständige Tagesverpflegung und einem Dach über dem Kopf Euer Mann und flicke jedes alte Ding wieder 247
zusammen.« »Guter Kerl, Ned«, sagte Faragon. »Und du Cranny?« »Ohne meinen griesgrämigen alten Kumpel hier komme ich mir so einsam vor. Seine Schwarzseherei würde mir zu sehr fehlen.« Flewingam gab mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß er ebenfalls mit von der Partie sein wollte. »Dann will ich euch in Cypher willkommen heißen. Es wird viel Zeit und harte Arbeit kosten, es wieder in seiner alten Schönheit zu errichten. Aber Zeit haben wir im Überfluß, und viele Hände vollbringen Wunder.« »Ich könnte Eure Bibliothek in Ordnung bringen und die Bücher der Weisheit«, ließ sich da Broko zaghaft vernehmen. »Manche Bände mögen unter Dorinis Herrschaft dort zu Schaden gekommen sein.« Fairingay blickte Broko ruhig in die Augen. »Das ist ein freundliches Angebot, Broko.« Brokos Herz sank, und an dem Kloß in seinem Hals drohte er zu ersticken. »Ich könnte auch andere Zwergenarbeiten verrichten«, sagte er noch leiser. »Das können wir ruhig Creddins fähigen Händen überlassen, nicht wahr?« »Ja, überlaß das mir, Cousin«, bestätigte Creddin. Broko zitterte am ganzen Körper und brach dann in herzzerreißendes Schluchzen aus. Niemand wagte sich zu bewegen, bis Cybelle auf die verlorene kleine Gestalt zutrat und die Hand nach ihm ausstreckte. Doch er beachtete sie nicht, drehte sich um und wollte gehen. »Wird man mich denn durch das Tor lassen?« kamen mühsam die Worte über seine Lippen, die an Fairingay gerichtet waren. »Nein, Broko. Du kannst das Letzte Tor nicht durchschreiten«, entgegnete der Zauberer. »Noch nicht. Auf dich wartet Arbeit in den unteren Regionen, den Reichen der Welt vor den Zeiten. Du hast allen Kummer und alles Leid erlitten, das dort herrscht, und es gibt keinen Besseren für diese Aufgabe. Du, Bruinlen und Olther, euch 248
wird die Aufgabe zuteil, den Heiligen Schrein wieder in die Welten jenseits vom Calix Stay zu bringen.« »Calix Stay!« riefen die drei Freunde wie aus einem Munde. »Ja, meine guten Kameraden. Ihr habt die Geheimnisse lange und gut gehütet, und unser Zwerg hat alles Leid erduldet, das der Mißbrauch des Schreins mit sich bringt. Nur ihr besitzt die Kenntnisse, die diese Aufgabe erfordert. Ich denke, Greyfax hat euch bereits gesagt, daß, nachdem er und die anderen abgetreten sind, jüngere in deren Fußstapfen treten müssen. Und damit hat er euch alle gemeint. Broko, Olther, Bruinlen und Ned, Cranny und Flewingam. Sie wollen eine Weile in Cypher verbringen und beim Wiederaufbau helfen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Sie werden Gelegenheit haben, sich mehr mit unseren Gepflogenheiten vertraut zu machen, und ich kann sie während dieser Zeit unterrichten.« »Ich bin mir da nicht so sicher, daß wir an all diesen sonderbaren Dingen Interesse haben, über die Ihr da sprecht, Herr. Können wir nicht einfach mit unseren Freunden gehen?« »Nein, Ned. Du wirst dich schnell genug an deine neue Aufgabe gewöhnen. Ich benötige dich mehr als die drei dort unten. Unsere tapferen Freunde haben inzwischen soviel gelernt, daß sie mit jedem Problem, das ihnen auf Atlanton begegnen mag, leicht allein fertigwerden. Die Finstere Königin herrscht dort ja nicht mehr. Nur ihre Schatten hängen noch über jenen Welten und können mit der Macht der Fünf Geheimnisse vertrieben werden. Dorinis böser Geist ist gebrochen, und alle jene, die darin gefangen waren, sind jetzt davon befreit. Sie werden noch einige Zeit brauchen, ehe sie bereit für die Rückkehr zum Licht Windameirs sind. Doch der erste Schritt auf diesem beschwerlichen Weg ist bereits durch die Befreiung aus der Finsternis getan.« »Und was ist mit diesen stinkenden Bestien, den Worlughs und den Gorgolacs?« fragte Bruinlen ängstlich. 249
Er war gar nicht begierig darauf, Calix Stay noch einmal zu überqueren. »Und falls es wirklich unumgänglich ist, wie sollen wir denn hinüberkommen? Und welchen Proviant gibt man uns mit auf den Weg?« »Ich kenne den Zauberspruch, um Calix Stay zu überqueren«, sagte Broko leicht gereizt. Dann fuhr er in sanfterem Ton fort: »Ich kann den Fluß anhalten, bis wir sicher am anderen Ufer sind.« »Und sicherlich gibt uns Faragon einen Sack voll Reisekuchen und Wasser, damit wir nicht verhungern«, kicherte Olther und betrachtete seinen großen Freund, der die Augen bei dem Gedanken, noch einmal Calix Stay zu überqueren, verdrehte. Der kleine graue Kerl grübelte nicht lange über den Sinn einer erneuten Überquerung nach, sondern eilte der Zeit voraus und erinnerte sich an die dicken Brombeeren, die am diesseitigen Flußufer gewachsen waren. Und in dem Augenblick, als er an sie dachte, saß er auch schon vor dem mächtigen Busch und starrte ungläubig über den unendlich breiten, sanft dahinplätschernden Calix Stay, dessen Weite weder Zeit noch Raum kannte. Olther zwinkerte einmal, und da saßen Broko und Bruinlen neben ihm und blickten sich verblüfft um. »Also, da wären wir wieder«, stellte Bruinlen resigniert fest. »Ich hab’s doch gewußt. Ich wußte, daß sich Faragon nicht die Zeit nehmen würde, uns irgendwelche Erklärungen oder Ratschläge zu geben. Immer getreu der unangenehmsten Zauberereigenschaft: zu verschwinden, wenn man ihn am dringendsten brauchte.« »Jetzt bin ich aber neugierig«, zwitscherte Olther spitzbübisch und hob einen Sack mit Reisekuchen und Wasser, den er zu seinen Füßen gefunden hatte, auf. Und im nächsten Augenblick explodierte ein Feuerwerk aus grünen, blauen und roten Blitzen, es krachte und donnerte, und die drei Freunde standen auf den Wiesen Atlantons, und vor ihnen, neben einem lustig flackernden 250
Feuer, saß ein lächelnder Faragon Fairingay.
37. Der wahre Anfang Nicht weit von Faragon entfernt stand Pelon und graste friedlich im kniehohen Klee, der sich bis an die Ufer des Großen Flusses erstreckte. Soweit die drei Freunde auch blickten, wölbte sich ein klarer blauer Himmel, in dem eine goldene Sonne hoch im Zenit stand, die ihre wärmenden Strahlen auf sie herabsandte. Faragons Mantel war nun aus feinem perlgrauen Tuch, und seine Augen funkelten vergnügt, als er lachend sprach. »Willkommen, meine Freunde. Ich denke, es hat sich einiges geändert, seitdem wir das letzte Mal hier, jenseits vom Calix Stay, Reisepläne schmiedeten.« Bruinlen folgte mit den Augen dem Band einer breiten Straße, die sich quer durch einen fernen Wald zog und die sich am Horizont verlor. »Wohin führt diese Straße?« fragte er schließlich und drehte sich zu dem lächelnden Faragon um, der nun älter war und irgendwie Greyfax sehr ähnlich schien. »Zu all jenen Orten, die hier sehnlichst auf die Fünf Geheimnisse warten, meine Freunde. Die Städte und Dörfer, die Wälder und Wiesen, die Berge und Seen von Atlanton. Alle Lebewesen warten auf die Ankunft des Lichts.« »Aber wie sollen wir sie alle erreichen?« gab Olther zu bedenken. »Es sind zu viele.« »Du vergißt, mein Freund, daß du nun den Mantel des Rings trägst.« »Der wird mir auch nicht sehr helfen«, brummte Bruinlen. »Essen kann ich ihn nicht, gehen muß ich auf meinen eigenen müden Tatzen, und darin wohnen kann ich auch nicht.« Faragon kicherte amüsiert. »Bist du dir da so sicher, Bruinlen? Erinnerst du dich 251
noch daran, was geschah, als du damals hier Greyfax und mir begegnet bist? Hast du dich da nicht an köstlichem Honig gelabt?« »Ja, das weiß ich noch ganz genau«, gab Bruinlen zu und blickte sich hoffnungsvoll um. »Und der Mantel deckt den Tisch für euch«, erklärte Fairingay und deutete auf ein Honigfäßchen, das nun direkt vor Bruinlens Füßen stand. »Habe ich das hergezaubert?« fragte Bruinlen verwundert. »Ja, du hast das vollbracht. Und du wirst noch herausfinden, daß dir das Gehen sehr leicht fällt und es dir auch an einem Unterschlupf nicht fehlen wird.« Bruinlen runzelte verwirrt die Stirn. »Aber wie ist das möglich? Ich meine, warum geschieht es?« »Diese Fähigkeiten ruhten immer in dir, Bruinlen. Und noch mehr. Ebenso in allen anderen Lebewesen. Man muß sich nur den Geheimnissen völlig hingeben und sich immer vor Augen halten, daß alle Macht beim Hohen König Windameirs liegt und nicht in einem selber.« Olther hatte die Brauen gerunzelt und die Augen zusammengekniffen, so daß seine Freunde schon befürchteten, er litte unter Schmerzen. »Was ist mit dir, Olther? Fehlt dir etwas?« fragte Broko und berührte mit einer Hand zart das kleine Tier. »Ich probiere nur aus, ob ich damit einen See zum Schwimmen herbeizaubern kann«, erwiderte Olther mit konzentrierter Stimme. Dann öffnete er die Augen und blickte sich neugierig um. »Könnt ihr hier irgendwo meinen Weiher sehen?« fragte er dann ganz außer Atem. »Diese Kräfte kann man nur anderen zugute kommen lassen, Olther«, sagte Faragon. »Bruinlen hat seinen Honig bekommen, weil wir alle hungrig sind. Und ihr dürft die Kräfte auch nur anwenden, um anderen den rechten Weg nach Cypher zu zeigen. Von dort helfen wir ihnen dann weiter, wenn sie dafür bereit sind.« 252
Broko räusperte sich und sprach dann mit ruhiger, gelassener Stimme. »Werdet Ihr uns diesmal erklären, was wir zu tun haben? Ich möchte nur gern wissen, ob es irgendeinen Plan gibt, dem wir folgen sollen?« Faragons Gesicht wurde weich, und er blickte Broko in die Augen. »Ja, mein lieber Freund. Der Plan ist einfach. Folge deinem Herzen. Es wird dich bei dieser Mission hier leiten und dich sicher wieder nach Cypher zurückführen.« Er schwieg einen Augenblick und lachte dann. »Und die Bibliothek muß bestimmt in Ordnung gebracht werden. Bei deinem ersten Besuch in Cypher kannst du dich darum kümmern. Doch zuvor werden wir Cypher in seiner alten Schönheit wieder aufbauen.« Tränen schimmerten in Brokos Augen »Ihr werdet mir diese Aufgabe also anvertrauen, nach allem, was geschehen ist?« »Natürlich, du törichter Narr«, hänselte ihn Faragon. »Niemand außer dir weiß soviel über die Alten Lehren und die Geschichte Windameirs.« »Und du liest mir dann immer vor, ja, Broko? Wenn wir in Cypher sind. Vor lauter Aufregung bin ich überhaupt nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken, was alles geschehen ist. Hoffentlich hat jemand alle unsere Erlebnisse aufgeschrieben. Es ist bestimmt eine interessante Geschichte«, sagte Olther. »Ja, viel interessanter zu lesen, als mitten drin zu stecken«, grollte Bruinlen. »Da röste ich doch lieber Eicheln und zähle Schneeflocken.« »Über dich steht sicher sehr viel Lustiges drin«, zwitscherte Olther. »Ich bin schon so gespannt, es zu hören.« »Ach, laß mich in Ruhe«, murmelte Bruinlen. »Ja, es ist sicher eine sehr aufregende Geschichte«, sagte Broko versonnen. »Und sie wird niedergeschrieben und aufbewahrt werden«, versprach Faragon. »Bei eurer Ankunft in Cypher 253
könnt ihr sie dann lesen.« »Oh, das wird ein Spaß«, kicherte Olther. »Das bleibt abzuwarten«, brummte Bruinlen. »Eigentlich kann sie doch nur einer von uns, eben jemand, der dabei war, exakt aufzeichnen.« »Stimmt«, pflichtete Faragon ihm bei. »Die einzelnen Erlebnisse eurer Reise werden genau aufgeschrieben werden. Unter den verschiedenen Perspektiven: aus der Sicht der Bären, der Otter und der Zwerge. So widerfährt jedem in den Büchern der Weisheit Gerechtigkeit.« Schweigend blickten die Freunde in das Flackern des Feuers. »Eigentlich ist das ja gar nicht so wichtig. Hauptsache, wir bringen dies hier schnell hinter uns und können auch heimkehren. Ich bin nicht sehr begierig darauf, weitere Aufgaben hier zu erfüllen«, sagte Broko und blickte sich um. »Eben habe ich dasselbe gedacht«, stimmte ihm Bruinlen zu. »Selbst mit einem Zauberermantel wird es kein Honiglecken werden.« »Ich vermisse schon jetzt Flewingam«, meinte Olther wehmütig. »Eigentlich sollte sich jetzt mal jemand anderes um diese Dinge kümmern«, beklagte sich Bruinlen. »Plötzlich sollen mir die Stiefel eines Zauberers passen, nur weil es dem Ring des Lichts einfällt, mir einen Mantel umzuhängen.« »Du sprichst mir aus der Seele, Bruinlen«, pfiff Olther. »Schließlich bin ich ein Otter und kein Zauberer. Mir genügen zum Leben ein wenig Wasser und ein oder zwei Schlammrutschen. Einem der Ältesten des Rings würde es ja auch nicht gefallen, in meine Rolle zu schlüpfen. Ich würde meine Schnurrhaare dafür hergeben, um einmal Greyfax Grimwald, Melodias oder Greymouse über Wiesen tanzen oder mit der Nase voran einen Wasserfall hinuntergleiten zu sehen.« »Und wer hat schon je einen Zauberer in dieser Gestalt gesehen?« fiel Bruinlen ein und deutete mit einer Tatze auf 254
sich. »Ihr könnt euch doch verwandeln«, erinnerte ihn Faragon. »Ich fühle mich nicht in einer anderen Haut wohl«, beharrte Bruinlen. »Diese Verwandlung mag ja sehr zweckdienlich gewesen sein, damit wir Broko helfen konnten. Aber jetzt passe ich nicht so recht in diese Haut. Dieser ganze Mummenschanz gefällt mir nicht.« »Mir auch nicht«, zwitscherte Olther. »Doch wenn wir mit all diesen Leuten in diesen vielen Orten zu tun haben, müssen wir wieder diese komischen Menschengestalten annehmen.« »Und ich würde mich vielleicht lieber sofort an die Arbeit in der Bibliothek machen«, sagte nun Broko. »Damit bin ich von klein auf vertraut. Schließlich bin ich nur ein Bewahrer der Alten Lehre und ein Sammler und Erzähler von Geschichten. Ich könnte sehr gut einen Bericht über alle die Ereignisse, die uns widerfahren sind, schreiben.« »Und wir könnten dir dabei helfen«, fügte Olther begeistert hinzu. »Damit auch alles seine Richtigkeit hat«, warf Bruinlen ein. »Bei der Schilderung meiner Rolle habe ich schließlich ein Wörtchen mitzureden.« Zustimmung heischend blickte er sich um und sah dann Faragon an. »Und außerdem hängen mir diese Reisekuchen zum Hals heraus, von diesen winzigen Portionen kann ja nicht einmal ein Vogel überleben. Ich mag auch nicht dauernd durch die Gegend wandern.« Faragon musterte die drei Freunde lange, seine klaren graublauen Augen leuchteten intensiv. »Ihr habt die Aufgabe erfüllt, die euch übertragen wurde«, sagte er dann nach langem Schweigen. »Es steht geschrieben, daß ihr den Heiligen Schrein und seine Fünf Geheimnisse in die Welt vor den Zeiten zurückbringen sollt, und das habt ihr getan. Und Greyfax hat euch mit dem Mantel des Rings ausgestattet, der euch Macht verleiht und euch befähigt, jedes Reich zu regieren. Und trotzdem 255
wünscht ihr euch nichts sehnlicher, als mit mir nach Cypher zurückzukehren.« Er lächelte, und sein Gesicht schien von innen her zu leuchten. »Und damit habt ihr die letzte Prüfung bestanden, die euch durch die Verleihung der Mäntel des Rings des Lichts auferlegt wurde. Es stand nicht in unserer Macht, eure Entscheidung in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Ned, Cranny und Flewingam haben ihr Leben in diesen unteren Welten zu Ende gelebt. Doch in eurem Fall hegten wir noch gewisse Zweifel, und die mußten ausgeräumt werden. Wir wollten ganz sicher gehen.« Mit einer weit ausholenden Geste deutete Fairingay über die Landschaft, die sich bis an die Unendlichkeit des Horizonts erstreckte. »Durch das Tragen des Mantels des Rings des Lichts wollten wir euch Gelegenheit geben, weitere Erfahrungen zu sammeln. Ihr habt abgelehnt, weil ihr sie nicht braucht. Nun, dann gibt es auch keinen Grund, hier noch länger zu verweilen. In Cypher wird sicher schon ein großes Wiedersehensfest gefeiert, das wollen wir nicht versäumen.« Und genauso plötzlich, wie die drei Freunde sich am jenseitigen Ufer vom Calix Stay wiedergefunden hatten, saßen sie innerhalb eines Augenzwinkerns auf dunkelblauen Samtkissen in Cypher, und alle Mühsal und Pein der langen Reise fielen von ihnen ab. Cybelles Harfe tönte wohlklingend und erzählte in farbenprächtigen Bildern die Erlebnisse ihrer Reise, die vor ewiger Zeit begonnen hatte. Ned, Cranfallow und Flewingam saßen nebeneinander an der festlich gedeckten Tafel im Bankettsaal des Schlosses, ihnen gegenüber saß Creddin neben Urien Typhon und anderen Elfen des Wald- und Wasservolkes. Broko wurde von Creddin herzlich umarmt, dann nahm er neben ihm Platz, und bald waren die beiden in eine Fachsimpelei vertieft, wie die Wände der Bibliothek 256
restauriert werden sollten und wie hoch hinauf die Regale reichen mußten. Bruinlen summte träumerisch vor sich hin und trottete in Gedanken im etwas schwerfälligen Bärentrott durch seine Erinnerungen, und Olther, nur seine beiden winzigen grauen Ohrenspitzen lugten über die Tischkante, vergnügte sich damit, seine Gabel auf dem langen weißen Tischtuch hin und her zu rollen und die Darstellung ihrer Erlebnisse auf den riesigen Wandgobelins zu betrachten. Und während die goldene Musik in Cypher weiterspielte, horchten die unteren Welten Windameirs auf, und allmählich verstanden alle Lebewesen wieder die Botschaft des Hohen Königs Windameirs, die sie aus ihrer Einsamkeit erlösen und zum Leben zurückführen würde, geborgen im Licht und der Liebe ihres Schöpfers. Und dies war, so wie es geschrieben steht, und immer wieder gesagt wurde, der wahre Anfang. Denn die Reise in die Heimat bedeutet nur, daß der Ring des Lichts sich wieder schließt.
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