Ōoka Makoto Dichtung und Poetik des alten Japan
Fünf Vorlesungen am Collège de France
Edition Akzente Hanser
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Ōoka Makoto Dichtung und Poetik des alten Japan
Fünf Vorlesungen am Collège de France
Edition Akzente Hanser
Edition Akzente Herausgegeben von Michael Krüger
Ōoka Makoto Dichtung und Poetik des alten Japan Fünf Vorlesungen am Collège de France Übersetzung des Textes aus dem Französischen von Elise Guignard Nachwort und Übersetzung der Gedichte aus dem Japanischen von Eduard Klopfenstein
Carl Hanser Verlag
Der Text dieses Buches beruht auf fünf Vorlesungen, die Ōoka Makoto am Collège de France in Paris am 6., 13., 20., 27. Oktober 1994 und am 2. Oktober 1995 gehalten hat. Die Schreibweise der japanischen Namen wurde in ihrer ursprünglichen japanischen Gestalt belassen, also erst der Familienname, dann der persönliche Name.
1 2 3 02 01 00 ISBN 3 - 4 46 - 19859 - 8 © der Originaltexte by Ōoka Makoto © 2000 Carl Hanser Verlag München Wien Umschlag nach einem Entwurf von Klaus Detjen unter Verwendung der Darstellung Der Dichter Kakinomoto Hitomaro von Kanō Tanyū (17. Jh.), aus: Yoshihara Sachiko. Hyahunin isshu. Tōkyō, Heibonsha 1982 Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany
Inhalt
I Sugawara no Michizane Dichter und Staatsmann oder Die Kluft, die japanische Dichtung von chinesischer scheidet II Ki no Tsurayuki und die kaiserlichen Gedichtsammlungen Die Richtlinien, nach denen sie angelegt sind
7
37
III Große Dichterinnen der Nara- und der Heian-Zeit
62
IV Die Landschaftspoesie Warum ist die japanische Landschaftspoesie so verhalten in ihrem subjektiven Ausdruck?
85
V Das japanische Volkslied des Mittelalters Rōyjin hishō und Kangin shū
Anmerkungen Nachwort Literaturhinweise und Quellenangaben
109
138 139 146
I Sugawara no Michizane Dichter und Staatsmann oder Die Kluft, die japanische Dichtung von chinesischer scheidet
Zu Beginn möchte ich den Herren Professoren des Collège de France meinen tiefen Dank ausdrücken für den ehrenvollen Auftrag, an dem renommierten Forschungsinstitut fünf Vorlesungen zu halten. Die Ehre gebührt, nach meinem Empfinden, weniger meiner Person als der japanischen Dichtung als Ganzem. Das Collège de France bezeugt damit ein lebendiges Interesse an einem Bereich, der zweifellos in den Augen des französischen Publikums noch größtenteils völlig unbekanntes Gebiet ist. Über japanische Dichtung zu sprechen, ist für mich eine faszinierende Herausforderung, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn es mir gelänge, Ihre Neugier zu befriedigen und wenn möglich Ihr Interesse wachzuhalten. Die Persönlichkeit, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, ist Sugawara no Michizane. Er war Staatsmann, er war ein hervorragender Dichter, und an Gelehrsamkeit kam ihm keiner gleich. In der Beamtenhierarchie erreichte er die oberste Stufe, wurde jedoch unter dramatischen Umständen aller Ämter enthoben. In der Verbannung, fern der Hauptstadt starb er eines peinvollen Todes in der Provinz. Bevor ich mich direkt Michizane zuwende, möchte ich Ihnen einen Eindruck vermitteln vom gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld, in dem Menschen seiner Art sich entfal
ten konnten. Das Skizzieren des allgemeinen Umfeldes dient auch als Basis für alle zukünftigen Vorträge. In der Geschichte bezeichnet man als Heian-Epoche die Jahrhunderte, in denen Japan schrittweise unabhängiger wird vom starken Einfluß der chinesischen Kultur und sich ganz bewußt eine eigene aufbaut. Die Heian-Zeit umfaßt ungefähr vierhundert Jahre vom Anfang des 9. bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts. Im Bereich der Literatur und der Geschichte sind die ersten zweihundert Jahre eine an entscheidenden Ereignissen besonders reiche Periode. Im Laufe dieser zwei Jahrhunderte haben einerseits Sugawara no Michizane, Ki no Tsurayuki und Izumi Shikibu in der Poesie und anderseits Murasaki Shikibu und Sei Shōnagon in der Prosa Meisterwerke geschaffen. Das Besondere der Epoche liegt darin, daß die literarische Kreativität der Frauen das Goldene Zeitalter begründet. Die berühmtesten Autorinnen sind Izumi Shikibu, Murasaki Shikibu und Sei Shōnagon. Alle haben zur gleichen Zeit, zwischen Ende des 10. bis anfangs des 11. Jahrhunderts ihre Talente entfaltet. Sie waren Hofdamen im kaiserlichen Palast; in ihrem Leben als Gesellschafterinnen und Literatinnen entwickelten sich Freundschaften oder je nach Umständen heftige Rivalitäten. In der Abgeschlossenheit der Hofgesellschaft wurden sie sich kaum bewußt, welch großartige Werke sie nach ihrem Tode der Nachwelt hinterlassen haben. Oft starben sie sogar vereinsamt. Fast tausend Jahre sind seither verflossen, und die Werke dieser Frauen haben nichts an Wert verloren, ja, um es genauer auszudrücken, der Kreis der Leser und Bewunderer wird ständig größer; zudem liegen in vielen Sprachen, das Französische eingeschlossen, Übersetzungen vor. Begreiflicherweise sind nur wenige Japaner imstande, die Texte im Original zu lesen. Die verschiedenen modernen Versionen erst ermöglichen es, sich mit dem Genji-Roman oder mit dem
Kopfkissenbuch vertraut zu machen. Zu den Gedichten oder zum Tagebuch der Izumi Shikibu gibt es Erklärungen und Kommentare, die das Verständnis und das Lesevergnügen erhöhen. Dieser Sachverhalt erklärt sich aus der radikalen Veränderung der Schriftsprache während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunders, das heißt während der Meiji-Restauration, der Periode der Auseinandersetzung mit dem Westen und der Modernisierung. Die damit zusammenhängende Wandlung im schriftsprachlichen Ausdruck verringerte die Fähigkeit, klassische Texte unmittelbar aufzunehmen, sich einigermaßen methodisch mit ihnen zu befassen. Und dennoch, trotz all dieser Schwierigkeiten, genießt beispielsweise ein Werk wie der Genji-Roman, der mehrfach in modernes Japanisch übersetzt worden ist, eine solche Popularität, daß er als Bilderbuch, als Comic, sogar als Fernsehserie seine Bewunderer hat. Würde die Autorin Murasaki Shikibu heute wiedergeboren, hätte sie wohl Mühe, in den vielen Verwandlungen, die der Roman durchgemacht hat, ihren eigenen, den ursprünglichen zu erkennen. Es gibt mehrere Gründe, die das gleichzeitige Auftreten genial begabter Frauen wie Murasaki Shikibu zwischen dem Ende des 10. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 11 .Jahrhunderts erklären können. Erstens ist zu beachten, daß sie ausnahmslos der kultivierten aristokratischen Mittelschicht entstammten und von frühester Kindheit an von ihren gebildeten Vätern unterrichtet wurden. Zweitens ist ihr Status als Hofdamen der kaiserlichen Nebenfrauen im Auge zu behalten. Der Kaiser hatte stets mehrere Nebenfrauen und pflegte bei Gelegenheit noch weitere Liebschaften. Da das Leben einer Hofdame sich im privaten höfischen Kreise abspielte, hatten die Damen ebenfalls Kontakt mit den Herren des Adels; daher rührt ihre reiche Menschenkenntnis. Manchmal ergab sich sogar eine Liaison mit einem kaiserlichen
Prinzen, was beispielsweise den Ruhm der Dichterin Izumi Shikibu noch erhöhte. Die Prosa der Schriftstellerinnen Murasaki Shikibu und Sei Shonagon erweckte nicht allein Interesse und Bewunderung bei den andern Hofdamen, auch die Gemahlinnen des Kaisers waren gespannt auf die Essays und Romane, und wißbegierig vertieften sie sich in die Lektüre. Selbst die adligen Herren schätzten die Werke der Frauen sehr hoch. Die Autorinnen wetteiferten untereinander, und so hängt die kulturelle Entwicklung am Kaiserhof aufs engste zusammen mit dem Rivalisieren auf literarischer Ebene. Unter solch idealen Bedingungen verfaßten Murasaki Shikibu den Genji-Roman und Sei Shonagon das Kopfkissenbuch, ohne zu ahnen, daß ihre Werke Jahrhunderte später zu Klassikern der Weltliteratur würden. In meiner dritten Vorlesung werde ich auf Izumi Shikibu zurückkommen, welche, das sei noch einmal festgehalten, in der Liebesdichtung Geniales geleistet hat. In der Kurzform der japanischen Lyrik, den Waka, sind von ihr Gedichte überliefert, die jene all ihrer weiblichen und männlichen Zeitgenossen übertreffen. Izumi Shikibus Werke sind von tiefer Melancholie und von philosophischen Betrachtungen über das Dasein geprägt. In Anbetracht der Vollkommenheit, die diese Frauen in der Literatur erreicht haben, darf man einen wichtigen Faktor nicht vergessen, nämlich die Schriftpraxis der Gelehrten. Die Männer, die als Beamte im Dienste des Hofes standen, das heißt die eigentlichen Repräsentanten des damaligen intellektuellen Milieus, verfaßten ihre Texte mit chinesischen Schriftzeichen, sie schrieben im sogenannten kanbun, in einem Stil, der mit dem gesprochenen Japanisch nicht den geringsten Zusammenhang hat. Die Meisterschaft im chinesischen Stil war ein entscheidendes Kriterium, um die Fähigkeiten und den Charakter eines Beamten zu beurteilen. Diejenigen, die 10
die beste Prosa schrieben, mußten bewandert sein nicht allein in Rechtsfragen, in der Wirtschaft, in der Diplomatie, der Innenpolitik, der Geschichte, sondern ebenfalls, und das ist das Erstaunliche, auch in der Literatur. Sugawara no Michizane war einer dieser in allen Sparten tüchtigen Männer, und er war zudem ein Dichter von größtem Format. Doch bevor ich mich ausschließlich Sugawara no Michizane zuwende, der ein Jahrhundert vor den oben erwähnten Frauen gelebt hat, noch ein Wort zur Schrift der Intellektuellen jener Epoche. Sei es in gebundener oder in ungebundener Sprache, die Männer gebrauchten die chinesischen Ideogramme, um im chinesichen Stil zu schreiben. Das ist ein Phänomen, das gleicherweise in der französischen Kultur zu beobachten ist. Ungefähr zur selben Zeit, als in Japan eine Wandlung begann, hat sich auch die französische Sprache herangebildet, und zwar durch Assimilation von Lehnwörtern aus dem Latein und aus verschiedenen Vulgärsprachen. Die Heldengedichte, die ersten französischen literarischen Werke, erscheinen in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, also einige Jahrzehnte später als der Genji-Roman von Murasaki Shikibu, der aus dem Anfang des Jahrhunderts stammt. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Latein die Sprache der Gelehrten. Das Latein als Schriftsprache in Frankreich und das kanbun beziehungsweise das klassische Chinesisch in Japan haben in beiden Kulturen analoge Funktion. Das Ableitungsverhältnis zwischen Französisch und Latein ist zu vergleichen mit dem Entstehen neuer Schriftzeichen. Zu jener Zeit entwickelten sich aus den den Männern vorbehaltenen Begriffszeichen die sogenannten kana, welche bald von den Frauen übernommen wurden. Die kana unterteilen sich in die zwei Silbenschriften hiragana und katakana. Die hiragana sind ein Schriftsystem, das die chinesischen Ideogramme bis aufs äußerste vereinfacht, ohne die Ausspra11
ehe zu verändern. Das System der katakana reduziert die Begriffszeichen auf ein einzelnes Element des ursprünglichen Zeichens. Jedes chinesische Ideogramm ist gleichzeitig Träger eines Lautes und einer Bedeutung. Einzelne Ideogramme sind manchmal auch mehrfache Bedeutungsträger. Hiragana und katakana sind, wie soeben erklärt, reine Silbenzeichen, keine Bedeutungsträger. Das Schriftsystem kana ist demnach grundsätzlich analog dem Alphabet westlicher Sprachen. Die Erfindung der kana ist eine der wichtigsten Erfindungen im Kontext der Weltkultur. Die standardisierten hiragana und katakana waren allgemein gebräuchlich seit dem Beginn der Heian-Zeit, gegen Anfang des 9. Jahrhunderts. Die Frauen bedienten sich vorzugsweise der elegant geschwungenen hiragana. Dieses Schriftsystem wurde denn auch in jener Epoche als onnade, das heißt »Frauenhand« bezeichnet, was je nachdem bedeutete: Text von einer Frau geschrieben oder Frauenschrift. Diese Silbenschrift, die man, graphisch gesehen, im Vergleich mit chinesischen Ideogrammen als ziemlich rudimentär hätte einstufen können, erhielt bald eine völlig neue Funktion. Zur Transkription des gesprochenen Japanisch erwiesen sich die hiragana nämlich als weit geeigneter als die der Schriftsprache zugehörigen chinesischen Ideogramme. Das Wesentliche der Gedichte im rein japanischen Stil (Waka) liegt darin, daß sie laut vorgelesen werden. Um die Waka schriftlich festzuhalten, boten die hiragana die besten Voraussetzungen, denn sie ermöglichen es, jeden Laut so zu notieren, wie er gesprochen beziehungsweise rezitiert wird. Das Waka war die Form, Gefühle und Empfindungen auszudrücken; Liebesbeziehungen konnten nur als Waka poetische Gestalt annehmen. Aus diesem Grunde waren selbst die Männer gezwungen, die hiragana zu lernen. Nach kurzer Zeit waren die hiragana den Japanern unent12
behrlich und ebenso die katakana, deren sich die Männer bedienten. Die zwei Silbenschriften führten in der Heian-Literatur zum Aufblühen eines goldenen Zeitalters. »Die Sammlung alter und neuer Waka«, das Kokin wakashū, ist ein großartiges Zeugnis der Dichtkunst vom Anfang des 10. Jahrhunderts. Im Laufe des 11. Jahrhunderts folgten Erzählungen wie das Eiga monogatari (Die Erzählung von Glanz und Pracht) und, von Frauen geschrieben, der Genji-Roman und das Kopfkissenbuch. Die Autorschaft des Eiga monogatari, das eigentlich den historischen Roman begründet, ist nicht identifiziert; es könnte sich sehr wahrscheinlich um Akazome-Emon handeln, eine Hofdame von hoher Intelligenz. Im Kokin wakashū hingegen, einer wahren Blütenlese japanischer Dichtung jener Epoche und der vorausgegangenen Jahrhunderte, sind es die Dichter, denen unsere Bewunderung gilt. In allen Texten jedoch ist der Einfluß femininer Empfindsamkeit und Kultur zu spüren. Die Erfindung der kana und das Aufblühen der Frauenliteratur charakterisieren kulturhistorisch die Heian-Epoche. * Nun zum Hauptthema dieser Vorlesung, zu Sugawara no Michizane, dem größten Dichter der Heian-Epoche. Zu seiner Lebzeit standen der Kaiserhof wie die Aristokratie noch unter dem dominanten Einfluß der chinesischen Kultur. Unmittelbar danach folgte das Goldene Zeitalter der Frauenliteratur und die zukunftweisende Erfindung der kana. Michizane war ein großer Gelehrter, bewandert im Konfuzianismus und im Buddhismus, als Staatsmann bewies er viel diplomatisches Geschick, und zum Schluß seiner Karriere erreichte er den Rang eines Ministers zur Rechten, das zweithöchste Amt in der damaligen Regierung. 13
Wenn ich ihn als Dichter vorstelle, so spreche ich nicht von Waka, die in rein japanischer Sprache (yamato kotoba) verfaßt sind, sondern von kanshi, Gedichten in chinesischem Stil und ausnahmslos die Norm der klassischen chinesischen Poetik befolgend. Michizane hat offenbar auch Waka geschrieben, aber unter denen, die überliefert sind, scheint es mir unmöglich zu entscheiden, welche von seiner Hand sind. In Anbetracht, daß er politisch in Ungnade fiel, und wenn man sich sein tragisches Ende vergegenwärtigt und die fabelhafte Rehabilitation nach seinem Tode, erstaunt es nicht, daß ihm später zahlreiche Waka fälschlicherweise zugeschrieben wurden. Michizane aber ist unbestreitbar der größte japanische kanshi-Dichter. Glücklicherweise sind seine chinesischen Gedichte sozusagen vollständig erhalten, und wir können uns heute mit ihnen beschäftigen dank hervorragend kommentierter Ausgaben. Aber wer war Michizane, dieser Mann, der mit neunundfünfzig Jahren starb, weit weg von der Hauptstadt, in Dazaifu, einer Stadt im äußersten Westen des japanischen Archipels, auf der Insel Kyūshū, wohin er verbannt worden war? Ich skizziere in kurzen Zügen sein Leben. Michizane, geboren 845, gestorben 903, war wie sein Großvater und wie sein Vater ein konfuzianischer Gelehrter, und sein Enkel, Sugawara Fumitoki, wurde ein bekannter kanshiDichter. Man erzählt, der Vater Koreyoshi sei baß erstaunt gewesen, als ihm der elfjährige Michizane ein Gedicht zeigte. In Kyōto, einige Jahre später, empfing er als junger Diplomat eine Gesandtschaft aus Bohai, einem Land, mit dem Japan damals gute Beziehungen unterhielt; bei dieser Begegnung äußerte sich der Gesandte persönlich über Michizanes poetisches Talent. Bohai, im Nordosten Chinas gelegen, hatte seine Blütezeit zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert; seine reiche Kultur kam der der Tang-Zeit nahe. Der Gesandte, selber ein Dich14
ter, vermochte auf den ersten Blick Michizanes Begabung zu erkennen. Schon mit zweiunddreißig Jahren, was zur damaligen Zeit unüblich war, errang Michizane den Meistertitel in Literatur. Als Beamter und Gelehrter hatte er eine vielversprechende Zukunft vor sich und war in der glücklichen Lage, die Annehmlichkeiten des Hoflebens zu genießen. Wie aber zeigt sich die Rückseite der Medaille? Er war die Zielscheibe endloser Eifersüchteleien. Aufgrund einer überraschenden Veränderung der politischen Szene wurde der brillante einundvierzigjährige Staatsbeamte aus seiner regulären Hofkarriere herausgerissen und zum Gouverneur der Provinz Sanuki ernannt. Sanuki, die heutige Präfektur Kagawa auf der Insel Shikoku, ist weit entfernt von der Hauptstadt. Dort verbrachte Michizane vier schwierige Jahre an der entlegenen Küste. Doch in der Abgeschiedenheit gewannen seine Lebensansichten und seine Menschenkenntnis an Tiefe. Auf Shikoku kam er zum erstenmal mit dem Volk in Kontakt; er konnte sich einen Begriff machen von dessen Alltag, vom erdrükkenden Elend. Seine poetische Schöpferkraft erfuhr eine neue Dimension. In seinen Gedichten tauchen Themen auf, die ihm in der Hauptstadt nie eingefallen wären. Eindeutig ist auch festzustellen, wie er immer klarer die Korruption innerhalb des Beamtenmilieus durchschaut. Zurück in der Kapitale, nach dem Aufenthalt in Sanuki, verstand es Michizane, mit der Lösung eines komplexen politischen Problems seine Fähigkeiten zu beweisen und so das uneingeschränkte Vertrauen des Kaisers Uda zu gewinnen. Die Begegnung mit dem Kaiser wurde entscheidend für sein weiteres Schicksal. In jener Epoche beherrschte der allmächtige Fujiwara-Clan die politische Szene. Die Kaiser, durch Heiraten mit den Fujiwara verbunden, waren in den meisten Fällen bloß Marionetten in den Händen ihrer Schwiegerfamilie. 15
Der Kaiser Uda allerdings, in dessen Diensten Michizane stand, beabsichtigte, den Einfluß der Fujiwara einzudämmen und die politischen Strukturen zu reformieren. Um seine Pläne zu verwirklichen, übertrug er Michizane wichtige Aufgaben. Sein außergewöhnlich rasches Avancieren in offiziellen Kreisen verstärkte natürlich das Mißtrauen der Fujiwara. Gleichzeitig wuchs die Eifersucht der übrigen Beamten, und der Widerstand, mit ihm zusammenzuarbeiten, erreichte den Höhepunkt. Dazu kam dann noch, daß eine seiner Töchter die Gattin des kaiserlichen Prinzen Tokiyo wurde. Michizane, der sich bewußt war, von einer ständig wachsenden Zahl von Feinden bedrängt zu werden, erlangte in dieser prekären Situation einen der allerhöchsten politischen Posten, er wurde Minister zur Rechten. Er war damals vierundfünfzig Jahre alt. Die einzige Person, die der Kaiser gleichzeitig für den um wenig höheren Rang des Ministers zur Linken bestimmen konnte, war der erst achtundzwanzigjährige Tokihira, ein Angehöriger des mächtigsten Zweiges der Fujiwara-Familie. Welch eine Demonstration der politischen Position des Fujiwara-Clans! Michizane war jetzt völlig isoliert. Allein dank der Unterstützung und des Vertrauens des Kaisers Uda besaß er am Anfang genügend Gewicht und Autorität, um auf der politischen Ebene mit der weitverzweigten Fujiwara-Familie zu rivalisieren. Sein Geschick hing, ohne zu übertreiben, wahrhaftig nur an einem Faden. In ähnlicher Lage befand sich anderthalb Jahrhunderte früher Kibi no Makibi. Wie Michizane war er in den obersten Beamtenrang aufgestiegen; er stammte nicht aus einer Familie von Staatsmännern, sondern aus dem keineswegs wohlhabenden Gelehrtenmilieu. Kaiser Uda blieb nicht bis zum Schluß Michizanes Beschützer. Mit der Unbekümmertheit der Herrschenden verzichtete er kurze Zeit darauf, sich mit den vordergründigen Geschäften der langweiligen politischen Szene zu beschäftigen, und 16
dankte zugunsten seines ältesten Sohnes ab. Mit seinem Rückzug hoffte er, politisch erfolgreicher manipulieren zu können. Der Nachfolger, Daigo, war bei der Inthronisierung erst zwölfjährig, der Vater Uda dreißigjährig. Bis zu seinem Tode, vierunddreißig Jahre später, genoß Uda die Annehmlichkeiten des verfeinerten Lebensstils, den sich zurückgezogene Kaiser leisten konnten. Und genau zu dieser Zeit strahlte die HeianAra in ihrem hellsten Glanz. In der Tat, die Herrschaft der Kaiser Uda und Daigo, das heißt die Kampyō- und Engi-Ära, markieren das Aufblühen der klassischen japanischen Kultur. Es ist die Periode, in der Michizane und dann die Autoren des Kokin wakashū die zwei Gedichtformen, das kanshi und das Waka, aufs höchste vervollkommneten. Der junge Kaiser Daigo schätzte anfangs, ganz im Sinne seines Vaters, den Staatsmann Michizane sehr. Seine Dichtkunst achtete er hoch und bewunderte sie rückhaltlos. Michizane wurde, zwei Jahre nach der Inthronisation Daigos, Minister zur Rechten. Offensichtlich vermochte der zurückgezogene Kaiser noch aus der Distanz mit Leichtigkeit seinen Sohn zu lenken. Daraus erklärt sich auch, daß es Michizane gelang, trotz der zahlreichen Schwierigkeiten die verantwortungsvollen Aufgaben zu meistern, die sein Rang mit sich brachte. Genau diese Gegebenheiten führten, anfänglich verborgen, doch unausweichlich zum Untergang Michizanes. Je einflußreicher Michizane wurde, desto gefährlicher war er in den Augen der Fujiwara. Die Mächtigsten der Familie, allen voran Tokihira, wie auch etliche neidische Gelehrte, die nichts sehnlicher wünschten als sein Verschwinden, überzeugten den Kaiser Daigo davon, der Minister zur Rechten habe sich gegen ihn verschworen; er plane, ihn zur Abdankung zu überreden und den eigenen Schwiegersohn, den Prinzen Tokiyo, auf den Thron zu erheben. Welch ein Schock muß da den jungen sechzehnjährigen 17
Kaiser getroffen haben, als ihm dieses Pseudokomplott zugeflüstert wurde. Michizane wurde unverzüglich seiner Funktion als Minister zur Rechten enthoben, auf den lächerlichen Posten eines Gouverneurs auf Kyūshū versetzt und auf unbestimmte Zeit aus der Hauptstadt verbannt. Heutzutage entspräche diese Stellung der eines Unterpräfekten; in früheren Zeiten war es in den meisten Fällen ein wertloser Titel, der den in Ungnade gefallenen hohen Funktionären verliehen wurde. Michizanes Verbannung war nichts Unübliches. Zu ergänzen ist noch, daß Dazaifu im Norden der Insel Kyūshū, das heißt, im äußersten Westen des japanischen Archipels liegt. Die Stadt diente der Regierung in Kyōto als Militärbasis gegen eventuelle chinesische oder koreanische Bedrohung. Zwei Jahre, bis zu seinem Tode, lebte Michizane eingeschlossen in dieser befestigten Stadt. Es war eine zweijährige Leidenszeit. Die Gedichte, die im Exil entstanden sind, sind unter Tränen geschrieben: Sie sind Ausdruck von Bitternis und Verzweiflung, die Klage eines zu Unrecht verurteilten Mannes. In diesen Versen offenbart sich die dichterische Größe Michizanes. Michizanes Familie wurde bei seiner Exilierung grausam auseinandergerissen und gezwungen, an sechs verschiedenen Orten zu wohnen. Allein seine Frau und die älteste Tochter konnten im Hause in Kyōto bleiben. Die Söhne hingegen wurden in weit von der Hauptstadt entfernte Provinzen geschickt; der älteste nach Tosa, der zweite nach Suruga, der dritte nach Hida, der vierte nach Harima, und Michizane selbst ging den demütigenden Weg ins Exil mit den zwei jüngsten Kindern, einem Knaben und einem Mädchen. Vermutlich sind die beiden schon bald an Unterernährung auf Kyūshū verstorben. Körperlicher Zerfall, Verbitterung, Verzweiflung beschleunigten den Tod Michizanes. Doch Michizane blieb als historische Gestalt weit über seinen Tod hinaus lebendig. Sein Geist, der im Jenseits keine 18
Ruhe fand, suchte seine Gegner heim, die sein tragisches Geschick verschuldet hatten. Fujiwara no Tokihira, der Hauptverantwortliche für die Verbannung, starb vorzeitig mit achtunddreißigjahren, und in diesem Tod sah jedermann einen Racheakt von Michizanes Geist. Das Seiryōden, das Hauptgebäude der kaiserlichen Palastanlage, wurde vom Blitz getroffen, und einige Höflinge, deren hinterhältige Intrigen zur Exilierung Michizanes beigetragen hatten, starben bei der Brandkatastrophe oder wurden verwundet. Nach dem Ableben des Kaisers Daigo verbreitete sich sogar das Gerücht, der Herrscher sei in die Hölle gestürzt. Kurz und gut, man glaubte, Michizane sei zum Donnergott geworden, um Rache zu üben. Zur Besänftigung seines ruhelosen Geistes wurde ihm zwanzig Jahre nach dem Tode sein früherer Status als Minister zur Rechten wieder zugesprochen. Und ungefähr ein Jahrhundert später wurde er gar in den Rang einer Gottheit erhoben. Auch heute noch wird er in allen Provinzen Japans als Tenjin-sama, als himmlische Gottheit verehrt. In der Zeit, da in Japan die Examen stattfinden, strömen die Mütter mit ihren Schulkindern in die Tenjin-Tempel; und selbst die Prüfungskandidaten der Gymnasien und Universitäten wenden sich an Michizane, an den großen Gelehrten, der ein unvergleichliches Werk hinterlassen hat. Die intellektuellen Fähigkeiten Michizanes überwiegen heutzutage in der Vorstellung der Menschen. Sogar die meisten Japaner wissen nicht mehr, daß er in erster Linie ein hervorragender Dichter gewesen ist. Sein poetisches Werk ist darum vergessen, weil es aus Gedichten im chinesischen Stil (kanshi) besteht, geschrieben in kanbun oder klassischem Chinesisch, das heißt in einer Sprache, die nur ein kleiner Leserkreis versteht. Schon die erste Dichtergeneration nach Michizane, allen voran Ki no Tsurayuki, begann die Waka im damals gesprochenen Japanisch (yamato kotoba) zu verfassen und bediente 19
sich außerdem der Silbenschrift der kana. Die innerhalb eines Menschenalters erarbeitete grundlegende Änderung des Schriftsystems ermöglichte es, daß das Kokin wakashū, das zur Hauptsache von Ki no Tsurayuki angelegt wurde, in den folgenden zehn Jahrhunderten als wichtigste Sammlung der alten japanischen Dichtung gilt. Michizanes Ruhm dagegen gründete in seinem Ruf als Gelehrter, als tragisch gescheiterter Politiker und nach seinem Tode als Gottheit. Das Repertoire des Kabuki ist reich an Stücken, die sein Leben zum Thema haben; es sind die Sugawara mono (Stücke über Sugawara), zum Beispiel Sugawara Denju Tenarai Kagami (Der Spiegel der geheimen Unterweisung von Sugawara). Michizane war als Dichterpersönlichkeit lange verkannt, was nicht allein bedauernswert, sondern höchst ungerecht ist. Und aus diesem Grunde habe ich vor einigen Jahren in einer Publikation mit dem Titel »Der Dichter Sugawara no Michizane« ausdrücklich auf seine große literarische Bedeutung hingewiesen. In meiner zweiten Vorlesung möchte ich Ihnen Ki no Tsurayuki vorstellen und Sie mit der charakteristischen Ästhetik vertraut machen, die den auf kaiserlichen Befehl angelegten Waka-Anthologien eigen sind, im besonderen mit dem Kokin wakashū. Aber im Hinblick auf Michizanes Werk sei noch einmal wiederholt: zwischen den kanshi und den Waka besteht ein fundamentaler Unterschied. Michizane greift, was die Sprache und die Schrift betrifft, auf ursprünglich chinesische Ausdrucksformen zurück. Sein Schaffen basiert auf der vom Festland übernommenen Poetik, sie wurde ihm gleichsam zur zweiten Natur. In Form und Gehalt haben seine Werke universalen Charakter, und bestimmt wären die großen chinesischen Dichter der Tang-Zeit, Li Bai, Du Fu oder Bai Juyi, von der Lektüre begeistert gewesen. Beachtenswert ist folgendes: In Michizanes Gedichten, 20
und im speziellen in jenen, die während des Aufenthaltes in Sanuki und später in Dazaifu auf Kyūshū entstanden, ist der Ausdruck der Gefühle – Freude oder Trauer, Zorn oder Leid – immer verbunden mit einer genauen Angabe von Ursache und Wirkung. Anderseits ist der Standpunkt des Subjekts – des Dichters – exakt bestimmt, und ebenso sachlich werden seine Reaktionen auf Geschehnisse in seiner Umwelt formuliert. Michizane befaßt sich mit den unterschiedlichsten Themen. Einmal handelt es sich um Bestechung und andere geläufige Unrechtmäßigkeiten in der Bürokratie, auch um Eifersüchteleien und Ambitionen unter den Gelehrten und ebenfalls um die Standhaftigkeit, die er persönlich in solchen Lagen zu wahren wußte; ein andermal beschreibt er die Pracht der verschiedenen öffentlichen Zeremonien, besonderes Augenmerk richtet er auf die Grazie der Tänzerinnen, auf ihre blendende Schönheit, auf ihre sehnsuchtsvollen Gebärden. Manchmal sogar schildert er im einzelnen die Misere der körperlichen und seelischen Leiden der einfachen Leute; schließlich gibt er auch ein differenziertes Bild seines täglichen Lebens. Für seine Einsamkeit, für den Tod seiner Kinder findet er bewegende dichterische Worte. Die Lektüre seiner Werke gewährt uns einen aufschlußreichen Einblick in seine Lebenswirklichkeit, die er vor einem Jahrtausend mit höchster psychologischer Finesse dargestellt hat. Die poetische Konzeption Michizanes entspricht genau dem, was die Chinesen unter Dichtkunst verstanden. In ihren Augen war es selbstverständlich, daß das Ich einen eindeutigen Standpunkt einnimmt gegenüber der Gesellschaft. Zum kanshi gehört von Anfang an die klare Unterscheidung, die Gegenüberstellung, die Opposition von Subjekt und Objekt. Beim Vergleichen japanischer und chinesischer Dichtung ergeben sich mancherlei Unterschiede; der wesentliche liegt wohl in der Kürze des Waka. Die Grundstruktur desselben, 21
das Tanka oder Kurzgedicht, besteht aus einunddreißig Silben innerhalb von fünf Versen. Im Laufe des 16. Jahrhunderts entwickelt sich eine Bereicherung des lyrischen Ausdrucks, es entsteht eine noch reduziertere Form, das siebzehnsilbige Haiku. Ein Kurzgedicht verfassen heißt, die Schwierigkeit meistern, etwas ganz Bestimmtes in einer knappen gegebenen Form auszudrücken. Das Kunstvolle dieser Dichtung beruht auf Andeutung, auf der treffenden Skizzierung des Gehalts. Im Waka gibt es keine detaillierten Beschreibungen der äußeren Realität, allein die Resonanz der Wirklichkeit im Innern des Dichters klingt in den Versen weiter. Konkretes wird so wenig wie möglich angegeben und bloß dann, wenn der Gefühlsausdruck es bedingt. Kleinliches Ausmalen gilt als gewöhnlich und prosaisch, wird gemieden, außer in den Werken von Autoren, die dafür besonders begabt sind. Aufgrund dieser Feststellungen ist es offensichtlich, daß das Subjekt und seine persönlichen Beziehungen zur Gesellschaft, zur Umwelt selten eindeutig konturiert sind; angenommen, sie existieren überhaupt. Tatsächlich fehlt üblicherweise in dieser Lyrik das Subjekt als solches. Und in den meisten Fällen werden Subjekt und Objekt nicht in ihrer Gegensätzlichkeit begriffen, sondern in ihrer Verschmelzung. Heutzutage ist es sehr verbreitet, in einer Folge zehn oder zwanzig Tanka über ein einziges Thema zu schreiben. Mit dieser sogenannten Serien-Komposition wird der erwähnte Lakonismus überwunden, der in der Natur des Waka liegt. Die Serie oder Reihe erlaubt es, Reales konkret zu schildern und die eigene Meinung zu formulieren. Auch die SerienProduktion zeigt, daß Reduktion das charkteristische Merkmal des Waka ist. Die Kurzform besteht effektiv in der Kunst, zarteste Gefühlsregungen festzuhalten, ehe sie sich verflüchtigen. Ein weiteres Vorgehen, die engen Grenzen des Waka zu überschreiten, besteht darin, in Gemeinschaft kurze Texte zu 22
verfassen und daraus ein Langgedicht zu gestalten. Diese Methode, ursprünglich als renga oder renku bezeichnet, je nachdem ob es sich um Tanka oder Haiku handelt, hat in jüngster Zeit zu einer neuen Kompositionstechnik, zur Kettendichtung geführt, zum sogenannten renshi. Das ist die ursprüngliche Form des kollektiven Dichtens, und unter dem Begriff renshi gewinnt sie, selbst in Europa, mehr und mehr Beachtung. Diese Entwicklung ist ein weiterer Beweis, daß ein einzelnes Waka bloß einen äußerst begrenzten Inhalt ausdrükken kann. Als Grundregel sei festgehalten: Hauptmerkmal des chinesischen Gedichts ist der eindeutige Standpunkt des Autors; das Charakteristikum des Waka hingegen besteht in der Tendenz, das Ich verschwinden zu lassen. Aber was bewegt den Autor dazu, sein Ich auszulöschen? Anstatt seine Individualität dichterisch festzuhalten, läßt er sie in die umgebende Natur einfließen, um ein Verschmelzen zu erreichen, das sein Ich transzendiert. Hier ist zu bedenken, daß die Gesellschaft, in der das alte Waka sich entwickelt hat, strengen Regeln unterworfen war. Der Schönheitsbegriff und der Geschmack waren kodifiziert und verhinderten die Betonung persönlicher Empfindungen. Die Heian-Epoche erstreckt sich über ungefähr vier Jahrhunderte; sie entspricht im großen gesehen der wachsenden Vormachtstellung des Fujiwara-Clans in einer Gesellschaft, die in den Adelsfamilien, die Fujiwara eingeschlossen, überspanntes Betragen nicht duldete. In diesem Sinne ist sie eine homogene Gesellschaft. Und das ist ein weiterer Grund für die Absenz des individuellen Ich in der Dichtung. Beim Überblick über die Frauenliteratur ist es interessant festzustellen, wie vor allem in der Poesie die Frauen eher als die Männer Ausdrucksmöglichkeiten außerhalb dieser ästhetischen Homogenität suchen. Das mag verschiedene Gründe haben. Die Frauen waren nicht so eng wie die Männer in ge23
seilschaftliche Verpflichtungen eingebunden, sie mußten sich nicht über Gebühr um die Standesregeln kümmern. Ihr Dasein spielte sich im privaten Kreise ab. Liebesangelegenheiten, die Heirat und alle Umstände, die damit zusammenhängen, brachten entscheidende Veränderung in ihr Leben. Es lag in ihrer Natur, ihre differenzierten Empfindungen, auch das dunkle Gefühl der Einsamkeit, spontan auszudrücken, und da war das Waka die adäquate Kunstform; sie entsprach ihnen weit mehr als den Männern. In der gefühlsbetonten Dichtung, jedenfalls in den Waka, überragen die Frauen an künstlerischem Niveau die Männer. Ich komme auf dieses Thema zurück in der dritten Vorlesung, wo ich Ihnen einige der größten Dichterinnen Altjapans vorstellen werde; hier sei bloß auf die erstrangige Stellung hingewiesen, die die Frau in der Geschichte des Waka einnimmt. Würden die Dichterinnen schweigend übergangen, so wäre das ein Reden über den Menschenkörper ohne Herz. Eine derartige Präsenz der Frauen ist etwas ganz Außergewöhnliches in der Geschichte der Poesie, sei es im Vergleich mit der chinesischen oder mit der abendländischen. Dieses Phänomen kann wohl als ein Charakteristikum der japanischen Poetiktradition bezeichnet werden. * Doch die Zeit drängt, und ich lege Ihnen nun einige Proben aus Sugawara no Michizanes Werk vor. Ich hoffe, Sie vermögen in diesem und in den folgenden Vorträgen herauszuspüren, inwiefern sich Michizanes Dichtung vom Waka unterscheidet. Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen eine Ahnung vermitteln zu können von der Vollkommenheit, die die japanische Dichtkunst vor mehr als tausend Jahren erreicht hat. 24
Tatsächlich, selbst in Japan weiß nur ein kleiner Leserkreis, zu welcher Gattung Michizanes poetisches Werk gehört. Seine Person ist ausschließlich bekannt, wenn nicht als fürchterlicher Rachegeist, so doch als Gottheit der gymnasialen und akademischen Prüfungskandidaten, was ich höchst bedauerlich finde. Als erstes zitiere ich ein Gedicht, das Ki no Haseo gewidmet ist; dieser war ein intimer Freund Michizanes, und als Literat betrachtete er sich als dessen Schüler. Michizane gibt eine kurze Einführung zum Gedicht, worin er die verdorbenen Sitten der zeitgenössischen Gelehrten aufs heftigste kritisiert: Wenn ich mir überlege, wie sich die Gelehrten in letzter Zeit gebärden, sei es in der Öffentlichkeit oder im kleinen Zirkel, erkenne ich bloß die Torheit in ihren Reden. Sie führen zwar lange Diskussionen, aber ihre Ansichten über die Grundlagen jeder Wissenschaft sind nicht stichhaltig. Andere wiederum frönen einem liederlichen Leben, ihre einzige Leidenschaft ist, sich anzupöbeln, sich gegenseitig zu demütigen und ihre Rivalen ins Verderben zu bringen. Dieses Gedicht hier habe ich geschrieben, um Dich zu eigenem dichterischen Schaffen anzuregen. Auf die Widmung an den Freund Ki no Haseo folgen die Verse: Großer Wellenschlag im Gelehrtenteich. Es fehlt an Hingabe und Fleiß! Man traut seinen Augen kaum, denn allenthalben tummeln sich die Koryphäen. Bei näherem Zusehn aber fragt man sich, ob denn im Herzen dieser Leute nur Steine rollen. Als Klassikerexegeten verehrt die Welt nur jene, deren Redeschwall niemals versiegt. 25
Erwache Du aus leichtfertigem Rausch unter dem Schein des Mondes! Verschließe den Mund, versage Dir Singen und lautes Gegröhle angesichts der Kirschblüten! Nur keine Angst, daß Deine Dichterinspiration eines Tags verkümmern könnte. Denn reich ist die Gnade des Himmelssohnes und unerschöpflich. Der letzte Vers erinnert uns daran, daß Michizane selbst ein hoher Beamter war. Als solcher animiert er seinen Freund zum Studium und dazu, Zeugnis zu geben von seinem dichterischen Talent; denn auf diese Weise werde er gewiß die Gunst des Kaisers erlangen. In der Form des Waka hätte das Thema, das Michizane in diesem Gedicht gestaltet, selbstverständlich nie ausgedrückt werden können. Leidenschaftlich äußert Michizane einerseits seine Kritik am niedrigen Gelehrtenstand und anderseits seine Entschlossenheit, sich von diesen Leuten zu distanzieren und seine persönlichen Überzeugungen zu bekräftigen. Vom Moment an, da man sich für die poetische Form des kanshi entscheidet, ergibt sich die entsprechende Darstellung des Gehalts. Es ist ganz eindeutig: das kanshi allein ist die adäquate Form, um den Gedankengang folgerichtig auszudrükken; die Knappheit des Waka ist dazu nicht geeignet. Ein weiteres Gedicht zeigt eine völlig andere Seite von Michizanes Talent: er besingt wahrhaftig die sinnbetörende, bezaubernde Schönheit der Tänzerinnen, ihr Raffinement, ihre Koketterie während des prächtigen Festmahls, das zum Frühlingsanfang am Hofe stattfand. Die Passage, die ich zum Vorlesen gewählt habe, bringt sehr treffend die berauschend wehmütige Stimmung des ausklingenden Festes zum Ausdruck:
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Warum nur scheint die seidenweiße Haut kaum das Gewicht des Kleids zu tragen? »Es ist der Glanz des Frühlings, der um unsere Hüften spielt«, werden die Lügnerinnen sagen. Schon löst sich halb die Schminke, und um eigenhändig das Perlenkästchen aufzutun, sind sie zu träge. Betrüblich ist’s, mit kleinen Schritten durch das Tor hinauszutreten und zurückzukehren. Die neckisch lockenden Blicke sind wie Wellen, erregt vom Winde, unaufhörlich sich erhebend. Die wiegenden Gestalten gleichen einem Schneegestöber, das selbst noch unter klarem Himmel weiter tanzt. Nun da inmitten von Kirschblüten der Tag sich neigt und die Klänge der Mundorgel verhallen, gehn sie, die Augen auf entfernte Wolkenschleier lenkend, zu den verborgenen Gemächern tief im Innern. Diese Zeilen verraten den jungen selbstbewußten Beamten, der voll und ganz die galanten Vergnügungen des Hoflebens genießt. Dann allerdings, nachdem Michizane Gedichte dieser Art geschrieben hatte, war er gezwungen, als Gouverneur von Sanuki vier Jahre in der Provinz zu verbringen. Unschwer sich vorzustellen, daß ein solcher Bruch in der regulären Karriere wie ein drohendes Gewitter im heiteren Himmel wirkte. Viele Gedichte entstanden während dieser Zeit, in allen drückt Michizane seine Einsamkeit, seine Melancholie aus. Doch es gibt noch einen neuen Akzent: Das erste Mal in seinem Leben kommt Michizane mit der elenden Existenz des Volkes in Berührung, und was er davon wahrnimmt, hinterläßt Spuren in seinem Schaffen. Die veränderte Situation bringt den Dichter, der die Freuden und Leiden des Studiums, die Schönheit und die Überfeinerung des Hoflebens besang, dazu, einen neuen poetischen Stoff zu be27
arbeiten, sich mit einer ihm bisher unbekannten Realität zu befassen. Zu den Hauptwerken dieser Epoche gehört eine Reihe von Texten, überschrieben mit: »Zehn Gedichte zum ersten Kälteeinbruch«. Der Titel verweist auf den Anfangsvers jedes Gedichts: »Wen trifft der erste Kälteeinbruch?« Michizane nimmt sich vor, das Schicksal von zehn Personen unterschiedlicher Berufe und Herkunft darzustellen und aufzuzeigen, welche am ärgsten unter der Strenge des Winters zu leiden haben. Wen trifft der erste Kälteeinbruch? Den zur Rückkehr gezwungenen Flüchtigen. Ich mag noch so sehr das Register durchforschen, er steht nicht mehr drin. Aufgrund seines Namens suche ich seine Herkunft zu bestimmen. Das Land seines Heimatdorfes ist unfruchtbar, der Ertrag kärglich, ausgemergelt sein Leib von unentrinnbarer Armut. Solange nicht eine menschliche Regierung Solidarität schafft, werden immer wieder viele die Flucht ergreifen. Das Gedicht besingt das Geschick eines Mannes, der unter Steuerdruck und lastenden Pflichten unfähig war, ein anständiges Leben zu führen, und seine Heimatprovinz verlassen hat. Aber auch anderswo hat er keinen Flecken Erde gefunden, wo er friedlich sein Dasein hätte fristen können; zuletzt war er gezwungen, in seinen Heimatort zurückzukehren. Da jedoch sein Name aus dem Dorfregister gestrichen war, blieb ihm nur das Landstreicherleben. Ein anderes elendes Schicksal: Da ist der Arbeiter in einer Gärtnerei, wo die teuersten Medizinalpflanzen kultiviert wer28
den. Der Taglöhner jedoch hat nicht das Recht, sogar bei ernstlicher Erkrankung, sich auch nur mit einer Heilpflanze zu kurieren, die er mit eigenen Händen gepflanzt und gepflegt hat. Wen trifft der erste Kälteeinbruch? Den Arbeiter im Heilkräutergarten. Er sortiert die Pflanzen nach ihrer Wirkung und kommt durch diesen Frondienst seiner Steuerpflicht nach. Zwar kennt er die Erntezeit aller Kräuter, doch wenn er krank wird, heilen sie ihn nicht in seiner Armut. Sollte auch nur ein Blatt oder ein Hälmchen fehlen, sind unerträglich die Peitschenhiebe. Die Serie der »Zehn Gedichte über den ersten Kälteeinbruch« vergegenwärtigt eine Reihe von Personen, die zweifellos als erste unter der Härte des Winters leiden. Da ist der Landstreicher aus einer andern Provinz, der sich heimlich in Sanuki niederläßt; da ist der alte Mann, dem die Frau gestorben ist und der ratlos sein Kind in die Arme schließt; da ist die Waise, ohne Vater und Mutter; dann der Lastträger, der selbst im Winter nur einen einfachen, ungefütterten Kimono trägt und bis zur Erschöpfung Waren von Poststation zu Poststation schleppt; und es gibt den Matrosen, welcher auf dem Meer die Güter transportiert; und es gibt den Fischer auf der Suche nach einer fabelhaften Menge an Fischen, die genügen würde, die Steuern zu bezahlen; da ist noch der Salzsieder; denn das Salz war ein bekanntes Produkt der Küste der Insel Shikoku; und dann ist natürlich noch vom Holzfäller die Rede. Bemerkenswert ist das Hauptthema des Werkes: das Geschick der von Steuerlasten erdrückten armen Leute. Nun 29
gehörte ja Michizane selber zur Obrigkeit, die Steuern verlangte, und in Sanuki wurde er sich dessen schockartig bewußt. Erst hier wurde ihm klar, was die Steuerpflicht für den Einzelnen je nach Lebenslage bedeutete. In den Gedichten formuliert er exemplarisch die gewonnene Einsicht. Die Stellung als hoher Beamter ermöglichte ihm in jeder Beziehung einen großen Überblick über die Lebensbedingungen des Volkes. Hohe Beamte allerdings waren in den meisten Fällen Männer, die weder Sympathie noch Mitleid empfanden gegenüber den unterprivilegierten Schichten. Insofern ist Sugawara no Michizane als Beamter und als Poet eine Ausnahme. In der Tat, vor ihm und nach ihm gibt es nur sehr wenige, die in dichterischer Form solche Themen behandelt haben, auch in den folgenden Jahrhunderten ist kaum einer mit ihm zu vergleichen. Gereift an Erfahrung und an Erkenntnissen in Sanuki kehrte Michizane nach Kyōto zurück. In der Hauptstadt erreichte er dank der Gunst des Kaisers Uda binnen kurzem noch einen höheren Rang. In seinem Innern aber müssen ihn zwiespältige Gefühle bewegt haben. Wie hätte der Beamte und Literat, der sich des gnadenlosen Schicksals der Landbevölkerung in Sanuki erinnerte, wieder eintauchen können in das ausschweifende, glänzende Leben der gehobenen Aristokratie? Und dennoch, ungehindert stieg er Stufe um Stufe empor. Die sich außergewöhnlich steigernden Machtbefugnisse entsprachen den Absichten der Kaiser Uda und Daigo; und Michizane durfte ihre Erwartungen nicht enttäuschen. Doppelt brutal war unter solchen Umständen die Diskriminierung, nachdem der Fujiwara-Clan Michizane beim Kaiser Daigo verleumdet hatte. Michizane suchte Unterstützung beim Exkaiser Uda; dieser bemühte sich, das Unheil abzuwenden, vermochte aber gegen die Intrigen nicht aufzukommen. Michizane wurde sämtlicher Ämter enthoben und nach 30
Dazaifu im äußersten Westen des Archipels ins Exil geschickt. Die Unterkunft dort war eher eine Hütte als eine Beamtenwohnung, und das einzige Gut, das er besaß, waren die Werke von Bai Juyi und anderer chinesischer Poeten, die er über alles schätzte. Michizane zählte siebenundfünfzig Jahre, und nur zwei waren ihm noch beschieden, und in dieser Zeit verfaßte er neununddreißig Gedichte. Das entspricht nicht einmal einem Zehntel seiner Produktion, die fünfhundertvierzehn Gedichte umfaßt. Doch die Werke, die in Dazaifu entstanden, zeugen als geschlossenes Ganzes von seiner literarischen Aktivität in der radikal veränderten existenziellen Situation. In der Sammlung kürzerer und längerer Texte finden sich welche von größter Meisterschaft, und diesen verdankt Michizane seinen unsterblichen Dichterruhm. Im Spätwerk schildert Michizane sehr genau die Misere seiner Umgebung; er empört sich über die ungerechten persönlichen Anschuldigungen, beklagt sein trauriges Geschick, liebevoll und mitleidend denkt er an seine Frau und seine Kinder. Wehmütig besingt er ohne Unterlaß das öde, trostlose Land und seine große Einsamkeit. Er betrauert tief erschüttert den Verlust eines seiner Freunde, der sich leidenschaftlich für das Recht eingesetzt hatte und so in dieselbe Lage geraten war wie er, dann aber vermutlich ermordet wurde. Untröstlich ist Michizane, daß es ihm nicht gelingt, die wahre innere Ruhe zu finden trotz seiner buddhistischen Studien. Die anschaulichen, gefühlsbetonten Gedichte vermitteln uns wahrhaftig den Eindruck, sein Leben rolle sich vor unseren Augen ab. Diese Texte, bereichert mit Zitaten von Bai Juyi und von anderen chinesischen Dichtern der Tang-Zeit, sind überdies von einer durchgehenden formalen Strenge und Eleganz: wahre Modelle klassischer Poesie. Das Zusammenwirken einer makellosen Komposition und 31
eines tragisch qualvollen Gehalts bezeugt das hohe Niveau von Sugawara no Michizanes Dichtkunst. Da es im Rahmen dieses Vortrages unmöglich ist, lange Gedichte detailliert zu besprechen, beschränke ich mich auf einzelne Passagen oder auch auf Beispiele aus Kurzgedichten. Auf diese Weise möchte ich Ihnen eine Vorstellung vermitteln von Michizanes Existenz in seinen allerletzten Jahren. Zuerst eine Momentaufnahme seines Alltags: Mit wem denn könnte ich Gespräche führen? Ich schlafe allein, das Haupt auf den Ellbogen gebettet. Unaufhörlicher, schwüler Regen verdüstert das Gemüt. Kein Rauch steigt mehr auf für das Morgenmahl. Im Kochtopf auf dem Herd schwimmen die Fischchen. Laut quaken die Frösche auf den Ziegelstufen. Bauernkinder bringen mir etwas Gemüse, und ein Küchenjunge macht eine wäßrige Grütze. Michizanes Beamtenwohnung war lange leergestanden und ist zurzeit nichts weiter als eine Hütte, wo der Poet ein derart bedrückendes Leben führt, daß ihm die Lust, regelmäßig zu essen, fehlt. Nur die Kinder des naheliegenden Dorfes bringen ihm manchmal Gemüse oder bereiten ihm seines empfindlichen Magens wegen eine leichte Mahlzeit. Welch poetische Kraft offenbart die Beschreibung dieser Situation. Schon bei der ersten Lektüre ersteht vor unseren Augen klar umrissen der Alltag des vor tausend Jahren verbannten Dichters. Mit schmerzlicher Ungeduld erwartete Michizane die Briefe seiner Frau, die in Kyōto geblieben war. Zweifellos war sie eingeschränkt in ihrer Freiheit, durfte nicht schreiben, wie es ihr beliebte. Gelegentlich schickte sie ihm ein mit »Medikament« bezeichnetes Paket frischen Ingwer. Michizane hält danach in Versen fest:
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Ohne Nachricht von zuhause und einsam während mehr als drei Monaten! Endlich weht mir ein günstiger Wind einen Brief herüber. Der Baum am Westtor sei versetzt worden und nicht mehr da. Auf dem Platz im nördlichen Garten hätten sich fremde Leute eingenistet. Dazu in Papier gewickelt ein Stück Ingwer mit der Aufschrift: Medikament. Algen in einem Bambuskörbchen mit der Bezeichnung: Fastenspeise. Kein Wort von Hunger und Kälte, unter denen Gattin und Kinder leiden. Doch gerade dies ist betrüblich und erhöht die Seelenqual. Ergreifende Gedichte wie dieses, die Kunde geben von den Existenzbedingungen der aus politischen Gründen verurteilten Familie, haben wahrhaftig noch heute nichts an Aktualität eingebüßt. Zur Zeit, als Michizane in Dazaifu lebte, verschied unerwartet, ganz im Norden der Hauptinsel, in der heutigen Provinz Tōhoku, einer seiner vertrautesten Freunde, Fujiwara no Shigezane. Shigezane, ein charaktervoller, aufrichtiger Beamter, unnachsichtig gegen jedes Unrecht, war anscheinend gerade deswegen den Untergebenen ein Dorn im Auge, und er starb unter sehr verdächtigen Umständen. Michizane war tief erschüttert über die Todesnachricht und schrieb ein langes Gedicht, in dem er den Verlust seines Freundes beklagt und gleichzeitig das Gebaren der Beamten im Osten des Landes folgendermaßen geißelt: »Sie bereichern sich mit unrechtmäßig erworbenem Gut, sie bestechen die einflußreichen Persönlichkeiten in der Hauptstadt, und nach einigen Jahren 33
kommen sie nach Kyōto zurück, um hier zu den höchsten Ehrenämtern zu gelangen.« Als Beispiel einer solchen Karriere seien einige Verse zitiert: Nach der Rückkehr setzt er sich im Palast zu den Höhergestellten und sucht mit verstohlenen Blicken seine Komplizen. Er erwartet, daß man ihm seinen früheren Aufwand vergelte. Von Gewinnsucht verblendet verliert er Recht und Sitte aus den Augen. Falls es da einen Beamten mit festen Grundsätzen gibt, wird er mit den Zähnen knirschen vor soviel Niedertracht. Ohne Zweifel bringt er die Sache ans Licht und überführt den Schamlosen seiner Taten. Doch der Übeltäter wird voller Haß gegen den Vorgesetzten agieren, und dieser erfaßt den Zusammenhang erst, wenn ihn der Tod ereilt. Die zwei letzten Verse illustrieren das tragische Schicksal des oberen Beamten, der die Rechtsgrundsätze befolgt und deswegen bei unehrlichen Leuten in Mißkredit gerät und schließlich ermordet wird. Die im obigen Passus beschriebene Person, die erst nach dem Tode begreift, was sich zugetragen hat, ist niemand anders als Fujiwara no Shigezane, Michizanes Freund. Selbstverständlich aber kann darin auch eine Projektion der persönlichen Existenzbedingungen des Dichters gesehen werden. Unter dem Vorwand, über das traurige Geschick seines in den Ostprovinzen vorzeitig verstorbenen Freundes Aufklärung zu geben, drückt Michizane die tiefe Entrüstung, die brennende Wut aus über seine Verbannung nach Westjapan aufgrund hinterlistiger Machenschaften. Allerdings, im Gesamtœuvre Michizanes sind politische 34
Gedichte selten, die in solchem Maße die Bestechlichkeit und Ungerechtigkeit der Regierenden angreifen. Nach meiner Ansicht jedoch haben gerade Gedichte dieser Art einen wichtigen Stellenwert in der Geschichte der japanischen Poesie. Bekanntlich gibt es in der Moderne recht viele Gedichte von gesellschaftskritischem und politischem Gehalt, doch sehr oft mangelt es ihnen an künstlerischem Niveau. Vor der Neuzeit hat sich kein Dichter außer Michizane mit dieser Thematik beschäftigt. Das scheint ein seltsamer, schier unverständlicher Befund zu sein, wenn man bedenkt, wie viele Politiker und Militärpersonen sich aufs Dichten verstanden. Halten wir nochmals fest: Die Geschichte der Dichtung nach Sugawara no Michizane zeigt eine erstaunliche Entwicklung, die sich in unglaublich kurzer Zeit abspielt. Das Hauptgewicht verlagert sich vom kanshi zum Waka. Zu den wichtigsten Förderern dieses Wechsels zählen die Kaiser Uda und Daigo. Gleichzeitig suchen dichtende Männer und Frauen im Bereich des Waka nach Formen, die aufs feinste jede Nuance ästhetischer Empfindung ausdrücken. Neue, andere Horizonte als jene des kanshi öffnen sich der Poesie; dem kanshi ist das Konkrete, das Politische oder Soziale eigen. Die Regierenden (die Mehrzahl stammte aus dem Fujiwara-Clan) und die Militärs (unter denen die meisten nach ihren Erfolgen in Kämpfen und Kriegen sich den von der Aristokratie gepflegten kulturellen Aktivitäten zuwandten) erkannten bald, wie treffend im raffinierten, feinstrukturierten Waka die Quintessenz des ästhetischen Ideals zum Ausdruck kommt. Es war daher unvermeidlich, daß sie in ihrem eigenen Dichten soziale und politische Themen mieden, und wenn sie sich schon damit befaßten, dann bloß gelegentlich und mit Betonung des Emotionalen. Angesichts dieses historischen Kontextes ist es leichter verständlich, warum Michizane als Dichter nie richtig einge35
schätzt worden ist. Er pflegte das ursprünglich aus China stammende kanshi; das ist einer der Gründe, warum er vergessen wurde, und doch bot ihm das kanshi die ihm gemäße Formensprache. Insofern veranschaulicht sein Lebenslauf ein zeitgeschichtliches Paradox. Michizane verkörpert die Kluft, die traditionelle chinesische und japanische Dichtung trennt. Aber nun, da tausend Jahre vergangen sind, ist es höchste Zeit, ihn aus dieser Kluft herauszuholen und seine Gestalt in seinem Werk aufleben zu lassen. Auf diese Weise tritt die eminente Bedeutung klar zutage, die Sugawara no Michizane in der japanischen Dichtung zukommt.
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II Ki no Tsurayuki und die kaiserlichen Gedichtsammlungen Die Richtlinien, nach denen sie angelegt sind
In meiner ersten Vorlesung habe ich vom Werk Sugawara no Michizanes gesprochen, des größten Dichters des Alten Japan, und Ihnen über sein wechselvolles Schicksal berichtet, über seine letzten Jahre im Exil und sein tragisches Ende. Michizane starb als Neunundfünfzigjähriger ganz am Anfang des 10. Jahrhunderts, im Jahre 903. Nur zwei Jahre später, 905, wurde das dem Kaiser Daigo gewidmete Kokin wakashū (Sammlung alter und neuer Waka) abgeschlossen. Das ist die erste auf kaiserlichen Befehl kompilierte Gedichtanthologie. Sie wird auch mit abgekürztem Titel, mit Kokinshū bezeichnet. Nach der Ansicht einiger Spezialisten ist der definitive Abschluß der Sammlung um wenig später zu datieren als oben angegeben. Wie auch immer, diese wundervolle Waka-Sammlung enthält ungefähr tausendeinhundert Gedichte; chronologisch ist sie die zweite nach dem Man’yōshū, der andern Anthologie, die viertausendfünfhundert japanische Gedichte aus alter Zeit vereinigt. Im Man’yōshū finden sich poetische Texte aus ungefähr dreihundertfünfzig Jahren. Autoren vieler Generationen sind darin vertreten. Definitiv ausgearbeitet wurde die Sammlung wahrscheinlich gegen die Mitte des 8. Jahrhunderts, sie ist also etwa hundertfünfzigjahre vor dem Kokinshū abgeschlossen worden. Warum fehlen in dieser langen Zwischenzeit bedeutende Gedichtsammlungen? Aus dem einfachen Grunde, weil Japan im 9. Jahrhundert vorwiegend von der chinesischen 37
Kultur beeinflußt war. Und genau so wie Sugawara no Michizane, der in dieser Hinsicht beispielhaft ist, war die Mehrzahl der Beamten und Gelehrten darum bemüht, poetische und prosaische Texte in chinesischem Stil zu verfassen; es lag ihnen völlig fern, die Schönheit der eigenen Sprache zu pflegen. Das japanische 9. Jahrhundert entspricht den ersten hundert Jahren der Heian-Epoche. Diese erstreckt sich ungefähr über vier Jahrhunderte und war im großen ganzen eine erstaunlich friedliche Periode. Wenn es auch im Laufe der vierhundert Jahre fortschrittliche Änderungen gab, so blieb doch das politische Milieu unter dem ständigen Einfluß der Fujiwara-Familie, die nach und nach alle andern Sippen des Alten Japan dominierte. In der Tat, dank fein kalkulierter Heiraten war es den Fujiwara gelungen, im politischen Bereich schrankenlose Macht auszuüben. Der Mitte des 7. Jahrhunderts verstorbene Vorfahre des Clans, Fujiwara no Kamatari, hatte dem kaiserlichen Prinzen Naka no Ōe, dem späteren Kaiser Tenji, geholfen, die SogaSippe auszurotten. Die Soga waren die größten Rivalen am Hofe gewesen. Kamatari in seiner Stellung als General und Politker und als Berater des Kaisers hat wesentlich dazu beigetragen, die Prinzipien eines zentralistischen Staates zu verankern. Sein Sohn Fuhito trat in seine Fußstapfen und formulierte eine ganze Serie von Gesetzen, im besonderen im Strafrecht (ritsu) und in der Verwaltung (ryō). Die so geschaffene Ordnung ist unter der Bezeichnung Ritsuryō-System bekannt. Auf den hier kodifizierten Grundsätzen basierte vom 8. bis zum 10. Jahrhundert im Alten Japan das ungefähr dreihundert Jahre dauernde zentralistische Regime. Fuhito hatte vier hochbegabte Söhne; diese sind die Stammväter der vier Zweige der Fujiwara-Familie. Zum sogenannten nördlichen Zweig, dem des Zweitältesten namens Fusasaki, gehört eine ganze Reihe tüchtiger Politiker, die in jeder Hin38
sieht maßgeblich die Entwicklung der Heian-Epoche bestimmt hat. Im Zusammenhang mit Fuhito ist auf eine wichtige Tatsache hinzuweisen: seine Tochter Kōmyōshi wurde die Hauptfrau des Kaisers Shōmu. Mit dieser Heirat war die stets strikt eingehaltene Regel übertreten, nach der allein den Töchtern der kaiserlichen Familie der erste Rang unter den Gattinnen gebührte. Es wird erzählt, Kōmyōshi habe sich von Kindheit an durch eine wache Intelligenz ausgezeichnet. Als Kaiserin war sie eine streng gläubige Buddhistin; sie veranlaßte den Bau von zwei Anstalten für Kranke und Bedürftige. Der Aufstieg der Fujiwara-Tochter in den Rang der Kaiserin ist ein historisch bedeutsames Ereignis. Da Kōmyōshi einer Vasallenfamilie entstammte, hatte ihre Verheiratung staatspolitisch eine noch nie dagewesene Veränderung zur Folge. Seit diesem Datum wetteiferten die Töchter der vier Zweige des Fujiwara-Clans um die Ehre, des Kaisers Gemahlin zu werden. Wenn ein kaiserlicher Prinz der ehelichen Verbindung entsproß, wurde der Vater der Gattin Großvater mütterlicherseits eines zukünftigen Kaisers. Und falls dieser bei seiner Inthronisation noch sehr jung war, was in jener Epoche häufig vorkam, denn die Herrscher hatten die Gewohnheit, im rüstigen Alter abzudanken und den Titel »zurückgezogener Kaiser« anzunehmen, dann trat der Großvater mütterlicherseits als Regent (sesshō) an seine Stelle; er herrschte mit absoluter Macht anstatt des Enkels. Anderseits kam es auch vor, daß, selbst wenn der Kaiser das Erwachsenenalter erreicht hatte, eine starke Persönlichkeit der Fujiwara die Macht in den Händen hielt, indem sie die Funktion eines kanpaku, das heißt des Großkanzlers ausübte. Dieses System von Regent und Großkanzler, mit dem Überbegriff sekkan-sei bezeichnet, wurde fast das Monopol der Fuji39
wara. Dank der weitreichenden Verzweigung konsolidierten sich die Machtbefugnisse dieser Familie in kaum vorstellbarer Weise. Dennoch war zu der Zeit, als sich das neue System einpendelte, die Ernennung eines Regenten oder eines Großkanzlers noch keineswegs unumgänglich. Sugawara no Michizanes glänzende politische Karriere ist dafür ein treffender Beweis. Wie ich in der ersten Vorlesung dargelegt habe, wurde Michizane auf Empfehlung des Kaisers Uda mit einem der höchsten Ämter betraut, und zwar zum gleichen Zeitpunkt wie Tokihira, der Hauptvertreter des Fujiwara-Clans. In diesem Sinne gehorchte Kaiser Daigo dem Willen seines Vaters Uda. Mit der koordinierten Ernennung beabsichtigten die beiden, der Dominanz der Fujiwara Grenzen zu setzen und ihre kaiserliche Autorität zu wahren. Bekanntlich scheiterte das Vorhaben am heftigen Widerstand der um die Macht kämpfenden Fujiwara. Und Sugawara no Michizane war das Opfer der dramatischen Zuspitzung der Lage. * Mit ihren Praktiken stärkten die Fujiwara Schritt für Schritt ihre Position, indem sie, so weit als möglich, die Institution des kaiserlichen Regimes respektierten. Auf dem politischen, dem gesellschaftlichen und sozialen Gebiet machten sie ihren Einfluß geltend und selbstverständlich auch in kulturellen Belangen. Hervorzuheben ist, daß eine Reihe von Dichtern, Malern, Erzählern und weitere Künstler aus Fujiwara-Familien stammten. Die Fujiwara widmeten sich nicht ausschließlich der Politik, sondern zeichneten sich auch durch beachtliche schöpferische Talente in Literatur und Kunst aus; und als Kunstförderer, als Mäzene genießen sie einen glänzenden Ruf. 40
Übrigens ist es interessant zu beobachten, wie zur gleichen Zeit recht viele Dichter bekanntwurden, die aus Sippen eines bescheidenen Aristokratenranges stammten. Auch sie genossen in literarischen Kreisen die einstimmige Verehrung der Kunstfreunde. Zu bemerken ist außerdem, daß bei gewissen Kaisern die Beschäftigung mit Literatur und Kunst mit dem Bestreben zusammenhängt, der Dominanz der Fujiwara Widerstand entgegenzusetzen. Aus diesem Grunde begünstigten sie die Dichter aus dem niederen Adel, und diese bekamen so unverhofft Zutritt in die gehobene kulturelle Schicht. Unter solch völlig neuen Umständen am Hofe wurde auf kaiserliche Verfügung die erste Sammlung japanischer Gedichte, das Kokin wakashū angelegt. Man kann es nicht genug betonen, daß der Kaiser Uda und später im gleichen Geiste sein Sohn Daigo die Wegbereiter waren für die Neuorientierung im Kulturellen. Uda bevorzugte Sugawara no Michizane, der nicht dem Fujiwara-Clan angehörte, er schätzte ihn als Konfuzianismusspezialisten und ebenfalls als kanshi-Dichter. Und er war außerdem noch ein großer Waka-Liebhaber. Es mag sich überraschend anhören, wenn ich behaupte, einer der Gründe für des Kaisers Freude an japanischer Poesie liege darin, daß er selbst außerordentlich empfänglich war für den Charme gebildeter Frauen. In seinem Palast verkehrten offiziell vierzehn Nebenfrauen, die abwechselnd sein Lager teilten und die alle den vornehmsten Familien entstammten, zumeist den Fujiwara. Eine unter ihnen war die Tochter von Sugawara no Michizane, eine andere war die Tochter von Fujiwara no Tokihira, dem politischen Rivalen Michizanes. Mindestens drei der Nebenfrauen waren Dichterinnen, die bekannteste war Ise, eine kluge und schöne Frau, die gleichsam den Geist ihrer Epoche verkörperte. Ise verließ den Palast des Kaisers Uda und heiratete einen kaiserlichen 41
Prinzen; die Tochter der beiden, Nakatsukasa, wurde später ebenfalls eine talentvolle Dichterin. Die große Anzahl von Udas Nebenfrauen war in jener Epoche nicht außergewöhnlich. Daigo hatte sechzehn und der Kaiser Ichijō sechs; Murasaki Shikibu, Sei Shōnagon und Izumi Shikibu waren seine Hofdamen. Die beiden zurückgezogenen Kaiser Go-Shirakawa und Go-Toba, zwei markante Figuren in der Geschichte der Poesie des Alten Japan, waren Mäzene und Dichter von Waka oder von kayō (Volksliedern), und beide waren umgeben von siebzehn beziehungsweise dreizehn Lieblingsfrauen, die in eigenen privaten Gemächern des Palastes wohnten. Unter ihnen fanden sich neben den Dichterinnen auch Sängerinnen und erstklassige Tänzerinnen. Daraus ersehen wir, daß Schönheit und Charme einer Hofdame gepaart war mit literarischem oder darstellerischem Talent. Die Gedichte, von denen ich spreche, waren selbstverständlich Waka, in hiragana geschrieben, in der von den Frauen verwendeten Silbenschrift und nicht etwa kanshi, in Ideogrammen gepinselt, in der den Männern vorbehaltenen Schrift. Wir ersehen aus dieser Tatsache die logische Folge des Regenten- und Großkanzlersystems, das, wie schon erwähnt, eine wesentliche Rolle spielte in der Einflußnahme der Fujiwara. Die kaiserlichen Gattinnen erfreuten sich nun einer wichtigen Stellung, was dazu führte, daß das von den Frauen gepflegte Waka in Bereiche aufgenommen wurde, in denen bisher das kanshi dominiert hatte. Auf dieser erweiterten Grundlage kam die erste auf imperiale Verordnung erstellte Gedichtsammlung zustande. Das auf Eheverbindungen beruhende Regenten- und Großkanzlersystem wurde kombiniert mit strikten gesetzlichen Regelungen, und daraus resultierte eine wirklich eigenständige Regierungsform. Von diesem Zeitpunkt an war bloßes Kopieren des chinesischen Vorbildes nicht mehr das Alleingültige. 42
Die Ungnade, die den Konfuzianismusspezialisten Michizane traf, erhellt beispielhaft die wichtige Veränderung. Anderseits illustriert der glänzende Aufstieg des kaum dreißig jahre jüngeren Ki no Tsurayuki die entscheidende Wende, die sich in Japan am Anfang des 10. Jahrhunderts vollzog, das heißt der Übergang von der Verehrung des tangzeitlichen China zur Würdigung des Staates Japan. Das bedeutet den Wandel einer von der hohen Aristokratie getragenen Kultur zu einer aus dem mittleren Adelsstand gewachsenen Kultur. Neben Ki no Tsurayuki beauftragte der Kaiser drei Adlige von sehr bescheidenem Rang, am Kokin wakashū mitzuwirken, und zwar einzig wegen ihrer großen Waka-Kenntnisse. Was für Gefühle müssen sie bewegt haben, als ihnen diese Ehre zuteil wurde, und wie sehr beeindruckte sie wohl der Umfang der Aufgabe. Und ihre Empfindungen beim Abschluß der Anthologie vermögen wir uns kaum vorzustellen. Bei allen offiziellen Angelegenheiten im vorausgegangenen Jahrhundert war am Hofe, sowohl in gebundener wie in ungebundener Form, das ideogrammatische Chinesisch die übliche Schriftsprache und nie das autochthone Idiom, yamato-kotoba. Allgemein war man der Meinung, die in Japanisch verfaßten Waka seien nichts weiter als ein Mittel, durch das Frauen und Männer ihre Liebesgeständnisse ausdrückten, es ginge da nur um Privates, und sie seien daher nicht würdig, öffentlich vorgelesen zu werden. Welch ein Schock, als das Kokin wakashū erschien. Die neue Dichtungsform war am Hof auf einmal anerkannt, dank der restlosen Hochschätzung, die ihr der Kaiser selbst bezeugte. Tatsächlich bedeutet das Wort chokusen in der Überschrift der Anthologie: auf kaiserliche Anordnung kompiliert, vom Kaiser selbst ausgewählt. Im Vorwort des Kokin wakashū, zweifellos von Ki no Tsurayuki in hiragana geschrieben, spüren wir den Stolz und die Freude über die offizielle Anerkennung. Dieser Text ist ein 43
eigentliches Manifest, das den Sieg des Waka über das kanshi verkündet. Von dieser Zeit an bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, das heißt während eines Jahrtausends, entwickelt sich, basierend auf der Ästhetik des Kokin wakashū, der Sinn für das Schöne in allen andern Künsten und sogar in den Sitten. Das Vorwort von Ki no Tsurayuki wurde zum Maßstab, nach dem sich künftig alles richtete, von der Poetik bis zur Kriegskunst. Die Begründer und die Meister der Teezeremonie, des ikebana, der Duftkultur, der Musik, des Tanzes, des nō und des kyōgen, sie alle haben, ausdrücklich oder stillschweigend, im Prolog des Kokin wakashū oder auch in den kompilierten Waka den moralischen Rückhalt gesucht für ihre eigenen Theorien. Auch in den anderen, späteren Anthologien, die analog dem Kokinshū aufgebaut sind und die jeweilige Epoche repräsentieren, haben sie ihre Vorbilder gefunden. In der Tat, der Name von Ki no Tsurayuki hatte eine fast übernatürliche Ausstrahlung, eine Autorität, die während zehn Jahrhunderten nicht in Frage gestellt wurde, bis dann am Ende des 19. Jahrhunderts der junge Dichter Masaoka Shiki sie aufs heftigste angriff. Er ist der Initiant einer Bewegung zur Erneuerung des Waka. Die außerordentliche Wirkung des Kokin wakashū ist zweifellos eher dem Untertitel »Gedichtauswahl des Tennō« zuzuschreiben als dem literarischen Niveau der Sammlung als Ganzem. Doch selbst bei dieser Einschränkung ist festzuhalten, daß sich im Kokin wakashū eine große Anzahl Gedichte findet, die in der Geschichte der japanischen Lyrik dank ihres poetischen Ausdrucks, ihrer klassischen Schönheit, dank ihrer künstlerischen Gestalt die Zeiten überdauert haben. *
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Ich werde Ihnen die zentrale Passage aus der Ki no Tsurayuki zugeschriebenen Einleitung vorlesen: Das japanische Gedicht nimmt das menschliche Herz zu seiner Wurzel und Zehntausende von Worten zu seinen Blättern. Das Wirken der Menschen, die in dieser Welt leben, ist vielgestaltig, und das, was sie im Herzen (kokoro) empfinden, sprechen sie unter Zuhilfenahme von Dingen aus, die sie mit den Augen und mit den Ohren wahrnehmen. Lauscht man der Stimme der in den Blüten schlagenden Nachtigall oder des in den Wassern hausenden Frosches, welches unter den Wesen, die da leben, äußerte sich nicht in einem Lied! Was, ohne Gewalt anzuwenden, Himmel und Erde bewegt, die den Augen nicht sichtbaren Geister und Gottheiten zu Mitgefühl rührt, die Beziehungen zwischen Mann und Frau noch zärtlicher macht und auch das Herz des ungestümen Kriegers besänftigt, das ist das Gedicht. (Übers. H. Hammitzsch)* Nach Ki no Tsurayuki liegt der Keim des Waka im Menschenherzen. Das Herz ist im Einklang mit der Natur, es nimmt teil an all ihren Wandlungen, faßt sie in Worte, die sich selber unablässig wandeln, in dichterische Worte. Alles Lebendige, die in den Blüten singende Nachtigall, der in den Wassern quakende Frosch, die Lebewesen allesamt sind gleicherweise Dichter. Diese Weltsicht verdient unsere Aufmerksamkeit; denn sehr früh in der Literaturgeschichte zeugt sie, theoretisch formuliert, von einem höchst raffinierten Animismus, einem Charakteristikum japanischer Lyrik. Ki no Tsurayuki führt noch ein weiteres interessantes Argument an. Nach seiner Meinung ist das Waka fähig, ohne Gewalt Himmel und Erde zu bewegen, unsichtbare Geister zu erreichen. Anders gesagt: in dieser Lyrikform, in ihrem eng limitierten Wortschatz, liegt eine Energie, mit der selbst über45
irdische Wesen zu erschüttern sind. Diese Konzeption offenbart einen Poesiebegriff, der von jenem westlicher Leser gänzlich abweicht. In japanischer Vorstellung ist Dichtung Ausdruck einer Inspiration, Ausdruck eines übernatürlichen, eines göttlichen Funkens im Herzen einiger begabter Menschen. Und denen obliegt es, den andern Menschen die Botschaft zu übermitteln. Nach Ki no Tsurayuki ist das Menschenherz Ursprung der Dichtung, es schwingt sich ein in die windbewegten Pflanzen und Bäume, es singt mit den Vögeln und den wilden Tieren, es fühlt sich ein in das Summen der Insekten, in die Stummheit der Fische. Zweifellos ist hier die Erklärung zu finden für die strenge Beschränkung der Silbenzahl. Mit einunddreißig Silben bloß ist das Waka komponiert. Eine Dichtkunst, die sich einzufügen sucht in die Naturerscheinungen, die mitklingen möchte mit der ganzen Tierwelt; eine Poetik, deren höchste Tugend die Einfachheit ist, realisiert sich am prägnantesten in der Kurzform. Gegenüber dem Langgedicht hat sie überdies den Vorteil, daß sie stets auf Andeutung beruht und so das Vorstellungsvermögen des Hörers oder Lesers weckt. Das wichtigste Element in der traditionellen japanischen Dichtung war nie, wie wir sehen, die originelle Idee oder der geniale Einfall, obschon auch diese Eigenschaften sehr geschätzt waren. Das Wesentliche war die Resonanz, die das Gedicht in den Menschen hervorrief; es ging um das Mitschwingen mit den belebten Wesen und mit den unbelebten Dingen; es ging um ein harmonisches, alles umfassendes Zusammenspiel. Das Wort Waka als solches ist aufschlußreich. Die erste Silbe wa bezeichnet einerseits den Begriff yamato, das bedeutet sowohl »Japan« wie »alles, was spezifisch japanisch ist«, anderseits bedeutet es auch Harmonie in allen Belangen; das will heißen, die eigene Stimme in Einklang bringen mit an46
dem, sich in die Gefühlswelt anderer einzuleben, auf daß eine innige Atmosphäre entstehe. Der ursprüngliche Sinn des Wortes Waka, das man mit »japanisches Gedicht« übersetzen kann, ist: »Gedicht, gesungen in Übereinstimmung«. Ki no Tsurayuki betont noch und noch den hohen Rang der Harmonie. Dem Waka schreibt er die doppelte Eigenschaft zu, nämlich der innigen Vertrautheit zwischen Mann und Frau Ausdruck zu geben und gleicherweise das Herz des unbändigen Kriegers zu besänftigen. Kurzum, das Ideal des Waka lag darin, sogar die gefürchteten übernatürlichen Mächte zu beruhigen, mit der Natur zu korrespondieren, die Geister zu erreichen. Daher rührt es, daß in der Frühzeit und im Mittelalter die Verse analog gewisser magischer Formeln gebraucht wurden. Man rezitierte Gedichte, um die Dürre zu bekämpfen, um Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen zu verhindern und auch um die Bevölkerung zu beschützen vor den schweren verheerenden Seuchenjener Epoche. Man schrieb dem Waka tatsächlich die magische Kraft zu, unheilvollen Mächten zu trotzen. Dieser Glaube herrschte im Alten Japan bis ins Mittelalter; hauptsächlich in den unteren Volksschichten war er stark verankert. Unterscheidet sich das Waka durch den Aspekt der Nützlichkeit nicht grundlegend von dem, was gleichzeitig im Westen unter einem Gedicht verstanden wurde? Es ist unbestreitbar, daß dem Waka, das tief im Herzen des Menschen wurzelt, latente Kräfte eignen, die dank des Harmonieprinzips sogar die schrecklichsten überirdischen Gewalten zu besänftigen, ja zu vermenschlichen vermögen. Der reine Glaube der Japaner an die Macht der Poesie hat ohne Zweifel besondere Voraussetzungert. Die wichtigste ist die einzigartige geographische Lage des japanischen Archipels, weswegen die Bevölkerung während Jahrhunderten keine Fremdherrschaft zu erdulden hatte und sich langer Frie47
denszeiten erfreuen konnte. Dazu kommt, daß Japan in der ostasiatischen Klimazone liegt, wo der Monsunregen heiße, feuchte Sommer bringt – die ideale Bedingung für das Gedeihen einer üppigen Vegetation. Im Frühling und im Herbst ist das Wetter sehr wechselhaft, und vielfältig sind Fauna und Flora. Ohne weiteres ist es daher verständlich, warum Ki no Tsurayuki in seinem Prolog zum Kokin wakashū spontan den Gesang der Nachtigall und das Quaken der Frösche erwähnt. Wenn wir all dies in Betracht ziehen, begreifen wir, warum die Japaner ganz natürlich zu einer animistischen Weltsicht kamen; und es leuchtet uns restlos ein, daß diese Naturanschauung die wahre Basis der japanischen Dichtung ist. * In der Vorrede zum Kokin wakashū breitet Ki no Tsurayuki eine Reihe von Themen aus, die ihm am Herzen liegen, ich beabsichtige aber nicht, im einzelnen darauf einzugehen. Das Wesentliche ist im oben zitierten Passus zusammengefaßt. Ich bin allerdings der Ansicht, daß die Merkmale, auf die ich Sie hingewiesen habe, ein hintergründiges Netzwerk bilden, auf dem nicht nur die Gesamtheit der japanischen Poesie beruht, sondern ebenso die Prosa, seien es die Tagebücher (nikki), die romanhaften Erzählungen (monogatari) oder die »Notate, wie sie aus dem Pinsel fließen« (zuihitsu). Dieses Netzgeflecht zeigt sich auch in der originalen Lebenskultur Japans, die die Ästhetisierung alltäglicher Handlungen anstrebt; als Beispiele seien das Blumenstecken oder die Teezeremonie genannt. Und genau auf diesem selben Hintergrundgewebe liegen die den Jahreslauf akzentuierenden Feiern und Feste. Dieser Kunstbegriff, diese Lebensauffassung bestimmen ebenfalls alle folgenden Gedichtsammlungen, die auf Befehl 48
des Tenno angelegt wurden. Alle Anthologien sind von der einen Idee getragen, daß die Dichtung Harmonie unter den Menschen verbreite und die ärgsten übernatürlichen Mächte beschwichtige und daß der edelste Weg zur Harmonie das Komponieren von Waka sei. In dieser Konzeption vom wahren Sinn der Dichtkunst reflektiert sich das Ideal des Kaisertums. In Wirklichkeit allerdings lag während vier Jahrhunderten die Macht in den Händen des Fujiwara-Clans, bis sie an die Kriegerkaste überging, die sechshundert Jahre lang regierte. In Tat und Wahrheit besaßen die Kaiser trotz ihrer Stellung nie die Alleinherrschaft; die Adligen oder die Samurai regierten. Diese wiederum leugneten nie offiziell die prinzipielle Autorität des Tennō. Obschon er nicht den geringsten Einfluß auf militärische Operationen hatte, stand er doch an der Spitze der politischen Hierarchie. Letzten Endes verhielt es sich wohl so, daß die Aristokraten und die Krieger das moralische Ansehen des Kaisers in ihre Machtspiele einbezogen, um ihre eigene Position zu legitimieren. Das Prestige des Tennō wurde als heilig und als absolut betrachtet. Wenn wir die gesellschaftliche und die politische Situation im Auge behalten, wird uns klar, wie sinnvoll es war, daß der Kaiser Initiant und Förderer der Anthologien war; denn die offizielle Anerkennung verlieh dem Waka eine besondere Würde. Aus diesem Grunde waren die Adligen wie die Krieger stets bereit, auch ihrerseits die kaiserlichen Sammlungen zu unterstützen. Zur näheren Erläuterung möchte ich Ihnen kurz den General Ashikaga Takauji, den ersten Shōgun der Militärregierung in der Muromachi-Epoche des 14. Jahrhunderts vorstellen. Er gilt als Verschwörer und Rebell, als wahrer Held dieser turbulenten Periode. Bis in die jüngste Zeit mißt man jedoch den dunklen Seiten seines Wesens zuviel Bedeutung bei. Dieser Mann war nämlich ein großer Liebhaber des Waka und 49
der Kettendichtung, des renga; er war selber Dichter, seine Werke zeugen von einer raffinierten Kompositionstechnik; er war sogar Mitarbeiter und Förderer der Kompilation des Shinsenzai wakashū, einer der kaiserlichen Anthologien. Das Militärregime der Muromachi-Ära, dessen erster Führer Ashika Takauji war, war eine sehr unruhige Periode, und trotzdem entwickelten sich während etwa zwei Jahrhunderten die verschiedensten Künste, das Nō-Theater, die Kettendichtung, die chinesische Tuschmalerei, die Teezeremonie, das ikebana und noch viele andere. Und in den Zen-Tempeln entstand und blühte gleichzeitig eine eigene Kultur, die Gartenkunst und die Kochkunst wurden gepflegt. In der Harmonie, dem Kernthema der Poetik in Ki no Tsurayukis Einführung ins Kokin wakashū, sahen sowohl die Aristokraten wie die Samurai ein erstrebenswertes Lebensziel. Die darin entwickelten Theorien über das Essentielle des Waka, die den üblichen Rahmen einer Poetik sprengen, wurden als die Zusammenfassung aller Prinzipien verstanden, auf denen der Friede, das Gedeihen, das vielgestaltige Leben insgesamt, ja des Universums basieren. Es sind die Prinzipien, die auch Kaiser und Generäle respektieren müssen. Hier liegt, so scheint es mir, der tiefste Grund, warum während mehr als fünfhundert Jahren unter der Regierung von einundzwanzig Kaisern offizielle Anthologien kompiliert wurden. Unbestreitbar spielten diese speziellen Gedichtsammlungen in der Politik eine Rolle; denn sie zeugten von friedlichen, prosperierenden Zeiten unter der Herrschaft des Tennō und der Regenten, die in seinem Schatten die Macht ausübten. *
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Kaum jemand wird allerdings behaupten, alle Sammlungen seien von literarisch außergewöhnlich hohem Niveau. Es ist auch leicht einzusehen weshalb: sie überborden an thematischen und motivischen Wiederholungen. Im strengen Rahmen von einunddreißig Silben ist es natürlich unmöglich, immer von neuem Imagination und Originalität zu beweisen. Man versuchte daher bald, die Kurzform des Waka inhaltlich zu bereichern. Eine der Varianten war das honkadori, das heißt der Rückgriff auf ein anderes Gedicht. Der Autor wählte beziehungsweise entlehnte ein Fragment aus einem früheren allgemein bekannten Waka und komponierte daraus ein neues Gedicht. Der Sinn des Rückbezugs auf berühmte alte Waka lag darin, dem Hörer oder dem Leser mittels Überschichtung zweier Texte den ästhetischen Genuß zu bieten, die Resonanz, die Aura des alten Gedichtes zu empfinden. Auf diese Weise konnte auch die Reichhaltigkeit und Vieldeutigkeit des neuen wahrgenommen werden. Es war ein Gebot, Fragmente nur aus alten und sehr bekannten Waka zu übernehmen, damit für den Leser das beabsichtigte honkadori-Prozedere sogleich ersichtlich sei. Wenn dies nicht deutlich zum Ausdruck kam, wirkte das Gedicht wie ein Plagiat. Das honkadori war also alles andere als ein Abklatsch markanter Werke der Vergangenheit. Es handelte sich im Gegenteil darum, mittels dieser einzigartigen Technik ein Meisterwerk zu ehren und es in neuer Gestalt wieder aufleben zu lassen. Aus diesem Grunde mußte das ursprüngliche Waka, aus dem das Fragment stammte, eindeutig identifizierbar sein. Die häufige Anwendung des honkadori ist kulturhistorisch sehr aufschlußreich. Vor tausend, vor achthundert Jahren wußten viele Höflinge und gelehrte Männer und Frauen die berühmtesten alten Waka auswendig; das ist eine höchst er51
staunliche Tatsache. Ein kurzes Gedicht von einunddreißig Silben verwies in gewissen Fällen auf zwei oder drei alte Waka, und dank seines rasch erkannten künstlerischen Niveaus genoß es bald große Verbreitung. Ungeachtet des Talents der Autoren hätte das Waka, ohne eine hervorragende Leserschaft, die fähig war, die gestalterische Virtuosität zu erfassen, nie solche Bedeutung erreicht, und die Versuche, das Waka zu bereichern, wären versandet. Der enge Kontakt zwischen dem Autor und seinem Publikum verlangte es geradezu, die Tradition der kaiserlichen Anthologien weiterzuführen. In dem auserwählten literarischen Kreis bildeten Autor und Leser eine Einheit. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die knappe lyrische Form vieler der alten Gedichte es erleichterte, sie im Gedächtnis zu behalten. Auf all diesen Faktoren beruht die sehr verbreitete honkadori-Komposition, die dem westlichen Literarurbegriff zweifellos fern liegt. Und doch bot gerade die spezielle Technik dem Dichter und dem Leser eine glänzende Gelegenheit, auf kulturellem Gebiet miteinander zu wetteifern. Das Verfassen von Gedichten einerseits und anderseits die Kenntnis dieser Gedichte ist unleugbar eines der feinsten Charakteristika des mondänen Lebensstils. Im selben belletristischen Milieu entwickelten sich gleicherweise die utaawase (Gedichtwettbewerbe) oder das renga und das renku. Auch darin zeigt sich die typisch japanische Verbindung von Produzieren und Rezipieren, die auf dem Gemeinschaftsoder Gruppenprinzip beruht. * Um Ihnen eine Vorstellung zu geben vom Inhalt der kaiserlichen Anthologien, werde ich einige Beispiele aus dem Kokin wakashū zitieren. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam 52
machen, daß das Japanische eine höchst nuancenreiche Sprache ist. Die Postpositionen und die Hilfsverben, die als solche keinen Sinn tragen, sind spezifische Merkmale des japanischen Idioms, und sie sind daher die am schwierigsten zu deutenden Partien der Rede, was natürlich das Übersetzen erheblich erschwert. Den Hilfswörtern eignet eine große Flexibilität, die eine Fülle an Nuancierungsmöglichkeiten gewährt. Überflüssig zu betonen, daß die Variabilität der Hilfswörter in der Waka-Dichtung aufs trefflichste angewendet wird. Das kommt vorzüglich zur Geltung im Kokin wakashū. Man möchte sagen, die Gedichte dieser Sammlung seien der Kammermusik verwandt; sie rühren uns an mit subtilem Wortklang, mit ihren arabeskenhaften Melodien, mit den zauberhaft verbundenen Motiven. In diesem Sinne unterscheidet sich das Kokin wakashū vom Shin kokinshū (Neue Sammlung alter und neuer Waka), welches dreihundert Jahre später angelegt wurde. Und es unterscheidet sich ebenfalls von zwei andern offiziellen Anthologien, dem Gyokukyō wakashū (Die schönsten Blumen des Waka) und dem Fuga wakashū (Sammlung von edlen und eleganten Waka), welche hundertzehn respektive hundertvierzig Jahre nach dem Shin kokinshū kompiliert wurden. Die Besonderheit dieser vier Werke liegt darin, daß zur eindeutigeren Bestimmung von Sinngehalt und Bildaussage den Substantiven, den Verben und Adjektiven große Wichtigkeit zugemessen wird. Ich lege Ihnen aus dem Kokinshū zwei Waka vor, die relativ leicht zu übertragen sind und Ihnen recht gut gewisse Eigenheiten der Sammlung illustrieren. Es sind sehr bekannte Gedichte von zwei der bedeutendsten Autoren. Als erstes ein Waka von Ōshikōchi no Mitsune; es steht am Schluß des dritten Bandes des Kokinshū, welches die Sommergedichte enthält. Über den Versen die folgende Angabe: »Verfaßt am letzten Tag des sechsten Monats«. Im Mondka53
lender war das der letzte Sommertag; gemäß unserer Zeiteinteilung verweist das Datum auf Ende Juli. Das Waka von Mitsune ist das letzte, in dem der Sommer besungen wird. Die imperialen Anthologien waren ausnahmslos nach dem gleichen Plan aufgebaut: die Jahreszeitengedichte folgten stets genau dem Entstehungsdatum. Verfaßt am letzten Tag des sechsten Monats Auf dem Wege droben am Himmel, wo Sommer und Herbst sich kreuzen da weht wohl ein frischer Wind aus der einen Richtung In angenehme Träumerei entführt uns das Gedicht. Die Verse evozieren den Tag, an dem die drückende Hitze des Sommers schwindet und der nahende Herbst die ersehnte Frische bringt. Interessant ist die Idee, die das Waka veranschaulicht: Eine Jahreszeit löst die andere ab; Herbst und Sommer kreuzen sich auf ihrem Weg hoch am Himmel, und genau in diesem Moment weht der Wind, aber nur aus der einen Richtung. Es ist ja nicht so, daß eines schönen Tages unvermittelt der Herbst anstelle des Sommers da ist und daß sich der Saisonwechsel auf einer eigens dafür vorbehaltenen Himmelspassage vollzieht. Das ist naive Phantasie. In der Imagination erstreckt sich ein Weg gleich der Brücke des Regenbogens, da gehen der weichende Sommer und der kommende Herbst grüßend aneinander vorbei. In diesem Waka spiegelt sich überdies die Neugierde der gebildeten Japaner am kürzlich geänderten Kalendersystem. Diese Neugier ist nichts anderes als das Interesse am Ablauf der Zeit. Wenn die Adligen am heianzeitlichen Hof sich Ge54
danken über das Leben machten, mündeten sie immer in die Idee des unwiederbringlich Vergehenden. »Die Glücklichen eilen dem Untergang zu.« »Was sich vereint, muß sich trennen.« »Die Ehren verblassen, der Wohlstand schwindet.« Alle die Redewendungen, die das Dasein als eine Folge von Wechselfällen begreifen, drücken eine Weltanschauung aus, die die Japaner aus der buddhistischen Lehre geschöpft haben. Leben und Tod, das Schicksal des Einzelnen in der Gesellschaft oder auch die verschiedenen Stadien in den Liebesbeziehungen erscheinen in den Augen der Japaner nie als etwas Stabiles oder Unveränderliches. Ganz im Gegenteil, sie liebten es, sich die Lebensbedingungen als Phänomene vorzustellen, die nie ihren ursprünglichen Zustand bewahren können. Das ist eine Art Pessimismus, doch diese Sicht der Welt führt auch zur Wahrnehmung des Schönen in allem, was der Vergänglichkeit geweiht ist. Die Empathie zu allem Entschwindenden, verbunden mit einem ursprünglichen Sinn fürs Dekadente, hat hier ihre Wurzeln. Es ist dies ein fundamentaler Faktor der japanischen Ästhetik. Doch es liegt nicht in meiner Absicht, das sattsam abgehandelte Thema weiter auszuführen. Es sei bloß betont, daß dem Waka von Ōshikōchi no Mitsune eine Echtheit und eine Unmittelbarkeit eignen, wie sie uns selten in dem Maße begegnen. Ein wahrer poetischer Einfall! Der Gedanke an das Gedicht ist gleich dem frischen Wind, der von Waka zu Waka weht, und dieser Spur möchte ich folgen. Nach der Lektüre des ersten Gedichtes des vierten, dem Herbste gewidmeten Buchs des Kokinshū, ist es noch einleuchtender, warum der dritte mit dem soeben zitierten Waka abschließt. Das Gedicht von Fujiwara no Toshiyuki lautet:
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Verfaßt am ersten Herbsttag Der Herbst ist da zwar nicht deutlich erkennbar den Augen doch unversehens zu spüren im Rauschen des Windes Dieses in Japan allbekannte Waka wäre mit einem Stafettenläufer im Augenblick der Stabübergabe zu vergleichen. Er nimmt das Gedicht von Ōshikōchi no Mitsune auf und rennt als erster Künder des Herbstes los. Anders gesagt, der Wind, der im letzten Sommergedicht wehte, bläst unvermindert weiter in den Versen, die den Auftakt geben zur nächsten Saison. Das feine Geräusch, dessen man sich plötzlich inne wird, entspricht tatsächlich dem ersten Hauch herbstlicher Luft. Und dennoch, wohin wir den Blick auch wenden, es findet sich nirgends eine Spur der neuen Jahreszeit. Nur eine leichte Brise ist da, das feine Ohr hört darin das Rauschen eines kühleren Windes, schließt aus dem einzigen Zeichen, daß der Herbst gekommen ist. * Das Gedicht macht auf etwas ganz Wesentliches aufmerksam, nämlich darauf, wie äußerst differenziert der Hörsinn ausgebildet ist. Auditives weckt subtilere, tiefere Emotionen als Visuelles. Im Waka überwiegt die Klangsinnlichkeit, und sie bezaubert uns weit stärker als die Bilder. Die heianzeitlichen Dichter, die Männer und die Frauen waren weniger empfänglich für das, was sich vor ihren Augen abspielte, als für das, was sie durch Hören von fernen Dingen und Geschehnissen zu erahnen vermochten. Ich meine, sol56
ches Verhalten ist nur zu erklären mit der exklusiven Lebenswirklichkeit der höheren Stände. Was die Menschen sagen hörten, bestimmte ihr Dasein viel mehr, als was sie zu sehen bekamen. Gerüchte hatten einen heute unvorstellbar gewaltigen Einfluß. In hohem Maße gilt dies natürlich für das Verhältnis zwischen Mann und Frau; überall hatte man ein waches Ohr zu haben. Viel wichtiger war es, das Gehör zu verfeinern, als den Blick zu schärfen. Diese Eigenheit hat unter anderem in Gedichten ihren Ausdruck gefunden, wie ich sie Ihnen eben vorgelesen habe. Besonders der Wirkungskreis der Frauen war äußerst begrenzt, jedenfalls im Adel und in den oberen Gesellschaftsklassen. In diesem Milieu lebten die Frauen in vollständiger Abgeschlossenheit, was selbstverständlich sehr hinderlich war für Liebesbeziehungen. Noch bevor sich zwei junge Menschen je begegnet waren, der Mann jedoch von den lobenswerten Eigenschaften einer Frau erfahren hatte, genügte es zur Kontaktaufnahme, ihr einen Liebesbrief nach dem andern zu schicken. So war es Brauch. Wenn die Angebetete aus gehobenem Kreise stammte und durch ihre Eltern eine sorgfältige Erziehung genossen hatte, wurde sie natürlich von vielen Freiern umworben. Die Gesellschaftsstruktur jener Epoche führte zu dieser Art von Kontaktnahme. Wie ich schon oft wiederholt habe, wurde während der ganzen Heianzeit ein gesetzliches bürokratisches System streng eingehalten, an dessen Spitze der Fujiwara-Clan stand. Persönliche Kompetenzen waren bis ins Kleinste reglementiert, eine steile oder außergewöhnliche Beamtenkarriere war unmöglich. Die Geburt allein bestimmte den Platz des Individuums in der Gesellschaft, und hätte jemand auch nur die geringsten Ambitionen gehabt, wäre die Wahrscheinlichkeit, sie zu realisieren, gleich null gewesen. Das Ende von Sugawara no Michizanes Laufbahn, das Geschick dieses außergewöhnlich intelligenten Menschen mußte 57
sich damals als schreckliche Lektion ins Gedächtnis der Japaner eingeprägt haben. Wer in der Welt seinen Weg machen wollte, dem blieb keine andere Möglichkeit als die Heirat. Gewiß träumten viele von einem sozialen Aufstieg durch Verbindung mit der Tochter eines Mächtigen, was keineswegs dem Moralbegriff jener Zeit widersprach. Die Heiratsabsichten führten daher oft zu den komischsten Situationen. Doch für einen jungen Adligen, der das Glück hatte, talentiert, gesund und auch noch schön zu sein, war das Freien kein aussichtsloses Unterfangen, und es lohnte sich, es zu riskieren. Wahrscheinlich bereitete die Brautwerbung dem Freier arges Kopfzerbrechen: Er war verpflichtet, ein Waka zu verfassen mit dem Thema Liebe. Die Adressatin, eine Tochter der gehobenen Stände, kannte er ja oft bloß vom Hörensagen, hatte sie nie gesehen. Ihr seine Liebesgedichte zu schicken, war die einzige Chance, Kontakt zu schaffen. Mangelte es ihm an dichterischer Begabung, konnte er der Schönen seine Gefühle nicht kundtun. Eine wahre Qual! Nun versteht man noch besser, warum die kaiserlichen Anthologien so eminente Bedeutung erlangten. Denn darin finden sich viele Waka, die einem Untalentierten als Muster dienen konnten. Das Waka war eine Art Liebeswaffe, ein Mittel, das Herz eines andern Menschen zu gewinnen, ihn zu überzeugen von der Tiefe seiner Gefühle. Mit dem Schreiben von Waka bewies man sein dichterisches Talent, und man nützte die Liebeswerbung gleichzeitig zur Veränderung persönlicher Lebensumstände. Im Gesellschaftsleben verbreitete das Dichten eine angenehme Atmosphäre; es erleichterte die Kommunikation nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern ebenfalls zwischen den verschiedenen sozialen Schichten, und zwar nicht nur am Hofe. In dieser Hinsicht eignete der Poesie eine unwiderstehliche Wirkungskraft. 58
Wenn also das Waka einen solchen Grad an Raffinesse im Ausdruck des Gefühls erreicht, ist das nicht allein durch literarisch-künstlerische, sondern ebensosehr durch praktische Gründe bedingt. Dies ist meine persönliche Meinung, die zweifellos nicht alle Japaner teilen; doch deren Argumente überzeugen mich nicht. Selbst heutzutage schätzen die Japaner das Waka über alles, und es gibt sicher Millionen von Menschen, die es pflegen. In der fast übertriebenen Vorliebe manifestiert sich ganz klar seine Brauchbarkeit. Selbstverständlich bemühen sich, genau wie in den alten Zeiten und im Mittelalter, relativ wenige wahre Dichter, das literarische Niveau zu heben und zu verfeinern. Die Spannung zwischen dem rein formalen Bestreben und dem Nützlichkeitsaspekt vermag die künstlerische Qualität zu steigern. Wie die Poesie als Handwerk verstanden wird, läßt sich in literarischen, von Dichtern redigierten Zeitschriften verfolgen, wo die Dichter selbst literarische Anleitungen geben; für Anfänger sind überdies spezielle Schreibstudios eingerichtet. Daß dichterische Sprache lehrbar und lernbar ist, mag in westlichen Kulturen eine eher unvertraute Vorstellung sein. Die beiden dominanten Formen traditioneller japanischer Poesie, das Waka und das davon abgeleitete Haiku, das später ein eigenständiges originelles Ausdrucksmittel geworden ist, haben sich jedoch nur dank des bewährten Tradierungsmodus seit tausend Jahren erhalten. Meine Erläuterungen sind ausgegangen von der Wichtigkeit der auditiven Empfindungen im Waka, um zu zeigen, wie eng diese lyrische Form mit der Heian-Epoche verknüpft ist, wie entscheidend sie die Beziehungen zwischen Männern und Frauen beeinflußte. Generell kann festgestellt werden, daß die Verflechtung des Waka mit dem Alltagsleben tief im Wesen des Japaners verwurzelt ist und zudem durch Jahrhunderte hindurch die 59
moralische Haltung und die ästhetischen Konzeptionen maßgeblich beeinflußt hat. Aus diesem Grunde neigten die Menschen früh dazu, dem Waka magische Kräfte zuzuschreiben. Das Waka als Symbol einer bestimmten Weltanschauung erreichte so eine beträchtliche Bedeutung. Die Publikation der von Kaisern angeordneten poetischen Anthologien, einundzwanzig im ganzen, demonstriert eindrücklich die Wertschätzung des Waka. Die Autorität, die seit der Heian-Epoche diesen Sammlungen zugebilligt wurde, hat bei den zeitgenössischen Autoren an Gewicht verloren. Die Lyrikform, die sich in den Erneuerungsbewegungen anfangs unseres Jahrhunderts entwickelt hat, wird heute mit Tanka, das heißt Kurzgedicht, bezeichnet. Vor hundert Jahren ist das Waka bedenkenlos modernisiert und die Tradition des Kokin wakashū grundsätzlich in Frage gestellt worden. In den sechzig oder siebzig Jahren danach hat Ki no Tsurayuki, der während eines Millenniums als Gottheit verehrt wurde, seine Aura verloren. Doch seit etwa dreißig Jahren befleißigt man sich, seinem Werk und seiner wichtigen literarhistorischen Bedeutung wieder gerecht zu werden. Die Achtung seiner Person, die Wertschätzung seiner Dichtung und seiner Poetik und die Neubewertung des Kokin wakashū balancieren das kurzfristig bedrohte Gleichgewicht wieder aus. Im übrigen wäre es ein vergebliches Bemühen, von einem modernistischen Standpunkt aus die Tradition zu negieren, die sich in Ki no Tsurayuki und im Kokin wakashū und ebenso in den andern kaiserlichen Anthologien manifestiert. Das Wertesystem und der Sittenkodex, die die Grundlage der Gedichtsammlungen bilden, sind noch heute in der Sozialstruktur zu erkennen; sie wirken als latente Kraft im technologisch hoch entwickelten Japan. Die Verbindung von einerseits ultramodernen und anderseits erstaunlich archaischen Aspekten ist für rational Den60
kende schwierig nachzuvollziehen, und jedem, der das gegenwärtige Japan aus Distanz betrachtet, erscheint vieles rätselhaft. Das Thema, das ich heute mit Ihnen behandelt habe, möge Ihnen das Verständnis dieses offensichtlichen Paradoxons erleichtern.
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III Große Dichterinnen der Nara- und der Heian-Zeit
In meiner letzten Vorlesung sprach ich über die Bedeutung des Begriffes Waka, und ich präzisierte, daß in der Silbe wa der Wortsinn liege, sich einzustimmen in den Tonfall der andern, indem man sich ganz in ihre Gefühlswelt einlebt und so eine innige Vertrauensatmosphäre schafft. Anhand von Ki no Tsurayukis Prolog zum Kokin wakashū habe ich Ihnen erklärt, daß diese Bedeutungskomponenten die Ursache sind für die Kompilation aller kaiserlichen Anthologien. Zwischen dem Harmonie-Prinzip des Waka und der essentiellen Rolle, die den Frauen in der Entwicklung dieser Lyrikform zufällt, gibt es eine feste, untrennbare Verbindung. Für die Frauen war das Waka das bevorzugte Mittel zur Verständigung ganz allgemein und im Speziellen für den so wichtigen Kontakt mit den Männern. Zieht man alle Elemente des Waka in Betracht, kommt man zum Schluß, daß diese Lyrikform ohne die Frauen gar nicht hätte existieren können. Die Männer mit ihren vielseitigen Interessen und Pflichten hatten sich eines ganz andern Sprachstils zu befleißigen. Ihre gesellschaftliche Stellung und Befürchtungen aller Art hemmten, ja, verboten den spontanen Gefühlsausdruck. Sie waren genötigt zu lavieren, zu schwindeln, alle möglichen Ausflüchte zu suchen zur Vertuschung ihrer Ränkespiele und Ambitionen. Im Gegensatz zu dieser Unaufrichtigkeit konnten die Frauen in ihrer begrenzten Lebenswelt es sich leisten, sich offener und direkter zu äußern. Auch untereinander beurteilten sie sich oft klarer und unvoreingenommener als die Männer. 62
Mit diesen gesellschaftlichen Bedingungen hängt es zusammen, daß die Liebe im Dasein der Frauen viel mehr als vitale Kraft empfunden wurde als in der Männerwelt. Liebesgedichte von Dichterinnen überragen im allgemeinen jene männlicher Autoren an Wahrhaftigkeit und poetischem Gehalt. Sowohl der eingeschränkte, oft belastende Lebensraum wie auch die amourösen Beziehungen beeinflußten und steigerten den künstlerischen Ausdruck. Das ist auch der Grund, warum bei einigen genialen Dichterinnen die Liebesgedichte zu einer Kurzbiographie oder zum Symbol ihres ganzen Lebens geworden sind. In dieser Hinsicht sind die Werke von Izumi Shikibu beispielhaft. * Ich habe Ihnen schon ausführlich Sugawara no Michizane, den größten kanshi-Poeten vom Beginn der Heian-Epoche vorgestellt. Es ist jedoch nachzutragen, daß vor der Periode, in der Michizane lebte, während ungefähr dreihundertfünzig Jahren auf dem Gebiete des Waka von einer eigentlichen Blütezeit gesprochen werden kann. Die berühmte Anthologie des Man’yōshū, definitiv abgeschlossen gegen Mitte des 8. Jahrhunderts, ist ein wahres Konzentrat an poetischem Reichtum jener frühen Zeit. Wenn wir uns den von Frauen komponierten Waka zuwenden, ist es unerläßlich, uns zuerst mit den Dichterinnen des Man’yōshū zu beschäftigen, die lange vor dem Höhepunkt im 9. und 10. Jahrhundert, dem Höhepunkt chinesischer Dichtung – kanshi – in Japan lebten, das heißt also noch vor der allgemeinen Verbreitung der chinesischen Ideogramme, die nur die Männer lesen und schreiben konnten. Während der Tempyō-Ära (729 –749) erlebte die Zivilisation des Alten Japan einen Aufschwung. Auf dichterischem Gebiet hatten 63
die Frauen eine beachtliche Stellung. Herausragende Persönlichkeiten waren Nukata no Ōkimi, tätig gegen die Mitte des 7. Jahrhunderts, und Ōtomo no Sakanoue Iratsume, bekannt seit Mitte des 8. Jahrhunderts. Doch ich beschränke mich darauf, heute nur von einer Frau aus der Tempyō-Ara zu sprechen, von Kasa no Iratsume. Neunundzwanzig Gedichte sind von ihr im Man’yōshū aufgenommen worden. Es sind tragisch endende Liebesgedichte, und diesen verdankt die Poetin ihren unvergänglichen Ruf. Warum besteht das Gesamtoeuvre von Kasa no Iratsume ausschließlich aus Liebeslyrik? Aus dem einfachen Grunde, weil sie in ihrem Leben eine einzige Leidenschaft kannte: Einem einzigen Manne widmete sie alle ihre Waka. Ōtomo no Yakamochi ist sein Name, er war der markanteste Dichter seiner Zeit und spielte überdies eine wichtige Rolle in der Zusammenstellung des Man’yōshū. Yakamochi arbeitete während der wichtigsten Phase an dieser Anthologie, er ist mitverantwortlich für den Abschluß der Sammlung. Über Jahrzehnte hinweg sind Gedichte zusammengetragen und dann in zwanzig Bänden vereinigt worden. Yakamochi war ein berühmter Vertreter der alteingesessenen Aristokratenfamilie der Ōtomo, die in der Tempyō-Ära eine hohe Position am Hofe innehatte. Unter den ungefähr viertausendfünfhundert Gedichten im Man’yōshū sind vierhundertneunundsiebzig, das heißt mehr als ein Zehntel, Texte von Yakamochi. Kasa no Iratsume liebte diesen Menschen leidenschaftlich. Aus den Gedichten, die Yakamochi mit einigen Frauen austauschte, ist zu entnehmen, daß er etwa mit zehn Frauen mehr oder weniger zärtliche, mehr oder weniger ernsthafte Beziehungen unterhielt. Aber aus unerfindlichen Gründen scheint er Kasa no Iratsume gemieden zu haben, ja, ihr aus dem Wege gegangen zu sein. Wie ich Ihnen schon dargelegt habe, bedienten sich die 64
Aristokraten des Alten Japan des Waka, um sich ihre gegenseitige Zuneigung zu bezeugen. Verliebte, die ja meistens nicht unter dem gleichen Dache lebten, waren unablässig darauf bedacht, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Sie schrieben sich Gedichte und ließen sie durch jugendliche Boten, Knaben oder Mädchen, überbringen. Kasa no Iratsume, die zweifellos ziemlich älter war als Ōtomo no Yakamochi, war gewiß eine höchst leidenschaftliche Frau. Die Lektüre ihrer Gedichte verrät eine Intelligenz und eine Empfindsamkeit, die das übliche Maß weit überragen. Es ist sehr wohl möglich, daß Ōtomo no Yakamochi diese Eigenschaften als belastend empfand. Nach einem nur kurze Zeit dauernden Liebesverhältnis zeigte er keinen großen Enthusiasmus mehr. Und in Kasa no Iratsumes Versen schwindet das Glück der ersten Zeit, und mehr und mehr ist schmerzliche Ungeduld wahrzunehmen, sind der Kummer, die Beklemmung zu spüren. Träume stören den leichten Schlaf; Zorn und Resignation nehmen Überhand. Yakamochi wandte sich rein gefühlsmäßig sehr rasch von Kasa no Iratsume ab. Auf literarischer Ebene hingegen war er immer höchst beeindruckt von den ausdrucksstarken Versen, die sie ihm weiterhin schickte, obwohl er sie verlassen hatte. Fast unbewußt mußte er für diese Frau, die sich gleich ihm der Dichtkunst widmete, große Bewunderung empfinden. So erklärt sich auch, daß er, je weiter die Kompilation des Man’yōshū fortschritt, die Waka von Kasa no Iratsume einfügte. Die Gedichte, objektiv betrachtet meisterhafte Liebesgedichte, wurden in dieser Weise »veröffentlicht«, obschon der Entstehungsgrund eigentlich Geheimhaltung geboten hätte. Von dem selbstherrlichen Umgang mit ihrem Werk hatte die Dichterin bestimmt keine Kenntnis. Heutzutage würde Yakamochi wegen Mißachtung der Autorenrechte, wegen Verletzung von Moral und Gesetz schwer getadelt. Doch im 65
Alten Japan, wo noch keine Bücher gedruckt und bloß Sutrentexte in den buddhistischen Tempeln vervielfältigt wurden, hätte selbst Yakamochi sich nie vorgestellt, daß das Man’yōshū einmal zu einem Klassiker würde. Die Anthologie bietet tatsächlich noch tausendzweihundert Jahre nach ihrem Abschluß vielen Menschen im modernen Japan ein großes Lesevergnügen. Infolge der amoralischen und verwerflichen Tat des herzlosen Liebhabers können wir uns mit Werken beschäftigen, die zum Schönsten gehören in der Liebeslyrik des Alten Japan. Es ist ja bekannt, daß die Tränen und das Klagen über den Liebesverrat bei den Lesern ein unvergleichlich stärkeres Interesse wecken als die Freude über eine glückliche Liebe. Diese seltsame Neigung ist offenbar allen Menschen gemeinsam. Der japanischen Dichtung der Frühzeit, des Mittelalters und der Neuzeit eignet in diesem Sinne ein universeller Zug. * Ich bespreche jetzt einige Waka von Kasa no Iratsume, und ich hoffe, die wenigen Beispiele ermöglichen es Ihnen, verschiedene Facetten ihres poetischen Talents zu erfassen. Hast du den Leuten etwa verraten, daß ich dich liebe? Im Traume sah ich wie du meinen Kammbehälter weit geöffnet hast Offensichtlich träumte Iratsume häufig, und im Traum, von dem hier die Rede ist, drückt sich der heftige Wunsch aus, das Geheimnis zu hüten, damit nichts von ihrer innigen Bindung an Yakamochi in die Außenwelt gelange. Die Kämme sind ein 66
Sinnbild für die Haare; das Haupthaar war der hochgeschätzte natürliche Schmuck der Frauen jener Epoche. Der Traum, in dem der Mann das Frisierkästchen öffnet, widerspiegelt die Furcht Iratsumes, der Geliebte nütze seine privilegierte Stellung, um Einzelheiten ihrer Verbindung publik zu machen. Ich meine daher, wir dürfen aus diesem Gedicht schließen, daß die Poetin zu diesem Zeitpunkt anfing, an der Ehrenhaftigkeit des geliebten Mannes zu zweifeln. Ich stieß auf ihn wie auf eine vage Gestalt im Morgendunst und doch – eine Liebe die mich das Leben kostet Eine Begegnung mit Yakamochi hat ohne Zweifel stattgefunden. Aber die Trennung danach, dem Morgennebel gleich, in dem alles verschwimmt, hat über alles den Schleier des Ungewissen gebreitet. In der stimmungsvollen Atmosphäre der Begegnung fühlt Kasa no Iratsume die wachsende Intensität ihrer Liebe in solchem Maße, daß sie daran sterben könnte. Im Kontrast zwischen dem ersten und dem zweiten Teil dieses Waka fällt uns hier das gemeinhin eher seltene Talent für Rhetorik auf. Im Traum sah ich ein großes Schwert an meiner Seite – sollte es ein Zeichen sein daß ich dich treffen werde? Noch einmal ruft sich Kasa no Iratsume den Traum zurück, läßt das Bild aufleben vom Schwert an ihrer Seite. Ohne die Vision psychoanalytisch zu interpretieren, ist es doch nahe67
liegend, sie mit sexueller Frustration in Verbindung zu bringen. »Schlafet wohl Ihr Leute« sagt die Glocke schlägt und schlägt Doch wie finde ich Schlaf solange ich an dich denke In der berühmten Stadt Nara, Japans Kapitale in jener Epoche, zeigte eine Glocke in regelmäßigen Abständen die Stunden an. In diesem Gedicht ist es die Abendglocke. Um elf Uhr tut sie den Menschen kund, es sei jetzt Zeit, sich zur Ruhe zu legen. Doch Iratsume schaut gebannt in die finstere, schwarze Nacht – denn das Lampenöl war damals viel zu rar, als daß man sich erlaubt hätte, es zu vergeuden – unaufhörlich denkt sie an den Mann, der sie so schnöde vernachlässigt. Jemanden lieben der die Liebe nicht erwidert ist dasselbe wie im großen Tempel sich vor dem Hintern eines Hungerteufels in den Staub zu werfen In diesem Gedicht nimmt der Ausdruck »Hungerteufel« bezug auf die buddhistische Vorstellung, nach der sich die Toten »auf dem Weg der ausgehungerten Phantome« befinden. Die Abgeschiedenen müssen büßen für ein Leben voll Knauserigkeit und Geiz und sind nun dazu verdammt, als nacktes Knochengerüst von Hunger geplagt zu werden. Derart verachtenswerte Wesen zu verehren, ist völlig sinnwidrig. Ihren Hintern zu verehren will heißen, ihre Gesäßbacken als Laternen zu betrachten. Über lange Zeit hinweg hat Kasa no Iratsume die Mißachtung ihrer Liebe ertragen, doch nun gießt 68
sie ihre Wut über Yakamochi aus, zeigt drastisch den Abbruch der Verbindung an. Sobald wir uns mit dem Gedicht näher befassen, wird uns bewußt, daß Kasa no Iratsume mit ihrer Komposition einen komischen Effekt erzielen wollte. Den Geliebten als Hungerdämon darzustellen, zeugt von unbändiger Spottlust. Obwohl er sie verlassen hat, betrachtet ihn Iratsume aus Distanz, behandelt ihn als verächtliches Wesen. Wie reagierte Yakamochi, als er dieses Waka las? Bestimmt hat er darüber gelacht, von Zorn keine Spur. Vielleicht fühlte er sich sogar erleichtert, endlich von dieser hochtalentierten Frau befreit zu sein. Zu dem Zeitpunkt, als Yakamochi die markantesten Dichtwerke beisammen hatte und sie zur definitiven Fassung des Man’yōshū ordnen wollte, erinnerte er sich auch der zahlreichen Waka, der Gedichte von Liebe und Abschiednehmen, die Kasa no Iratsume ihm geschickt hatte. Ohne seiner früheren Geliebten etwas zu sagen, fügte er ihre Texte an verschiedenen Stellen der Anthologie ein. Kasa no Iratsume hat wohl nie etwas davon erfahren; den tiefen Schmerz, den ihr diese Verbindung gebracht hatte, hielt sie bis ans Lebensende in ihrem Innersten verborgen. Doch heutzutage, nach mehr als zehn Jahrhunderten, lesen und bewundern wir noch immer ihre Liebesgedichte, die zu den allerbesten des Man’yōshū gehören. * Etwa zweihundertfünfzig Jahre nach Kasa no Iratsume und gut hundert Jahre nach Ki no Tsurayuki, das heißt anfangs des 11. Jahrhunderts, regierte Kaiser Ichijō. In dieser Zeit der Hochblüte der Heian-Kultur lebte eine Dichterin, der in der japanischen Lyrik eine hervorragende Stellung zukommt. Ihr Name lautet Izumi Shikibu. 69
Halten wir noch einmal fest, daß die Periode vom Ende des 10. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts in der ganzen Literaturgeschichte als Goldenes Zeitalter bezeichnet werden kann. Damals lebte eine Reihe hervorragender Autorinnen. Da ist die Mutter von Fujiwara no Mitchitsuna, Minister zur Rechten, die das Kagerō no nikki verfaßte; dann Murasaki Shikibu, die mit dem umfangreichen Genji-Roman, einer Vorstufe des modernen Ich-Romans, Weltruhm genießt. Weiter ist Sei Shōnagon zu erwähnen mit ihrem »Kopfkissenbuch«, dem brillanten Vorläufer des zuihitsu, was »aus dem Pinsel fließend« bedeutet. Und es sind Akazome Emon, die Autorin des ersten historischen Romans, des Eiga monogatari, und Izumi Shikibu, die unvergleichliche Liebesdichterin zu nennen. Diese Frauen, ausgenommen die Verfasserin des Kagerö no nikki, waren Hofdamen in der Privatresidenz des Kaisers Ichijō. Dank dieser Stellung konnten sie gesellschaftliche oder gar amouröse Verbindungen mit Männern pflegen. Alle, ohne Ausnahme, waren als geistreich bekannt. Auch ihrer Herkunft nach hatten sie vieles gemeinsam: Sie stammten aus der mittleren Aristokratie, das heißt, ihren Vätern war wegen der Hegemonie des Fujiwara-Clans eine politische Laufbahn versperrt. Wenn sie im Beamtentum Karriere machen wollten, dann mußten sie sich in den Wissenschaften, in den Künsten oder in der Literatur ausbilden. Diese Männer widmeten sich beispielhaft der Erziehung ihrer Töchter, und zwar von frühester Kindheit an, und schon als junge Frauen galten diese als außergewöhnlich kultiviert. Man möchte sagen, das Aufblühen der Frauenliteratur am Heian-Hof sei ein unerwarteter Nebeneffekt der Vorherrschaft der berühmten Fujiwara-Familie. Doch noch ein anderes wichtiges Faktum ist zu erwähnen zur Erklärung, warum in der langen Friedenszeit der Heian Epoche unter Kaiser Ichijō die Frauenliteraur florierte. 70
Der Grund liegt in den Ehesitten in der kaiserlichen Familie. Unter Ichijōs Regime entwickelte sich ein neuer Modus, genannt Ittei nikō, das heißt wörtlich »ein Kaiser, zwei Kaiserinnen«. Ichijō nahm zuerst Sadako zur Frau, die Tochter von Fujiwara no Michitaka, aber bald danach heiratete er Akiko, die Tochter von Michitakas jüngerem Bruder, namens Michinaga. Die zwei Kaiserinnen waren Kusinen, beide brillierten mit ihrer Intelligenz und ihrer Schönheit. Im Kreise der einen wie der andern trafen sich die gebildeten Frauen. Die Hauptperson am Hofe der Sadako war die lebhafte, geistreiche Sei Shōnagon. Man nimmt an, sie habe das Kopfkissenbuch nach dem Tode der Kaiserin Sadako geschrieben zum Ruhme der kurzen glanzvollen Zeit. Anschaulich, bis ins kleinste Detail, schildert Sei Shōnagon den Tagesablauf im Palast; das Werk als Ganzes ist eine interessante Chronik des Hoflebens in der Heian-Epoche. Murasaki Shikibu, Akazome Emon und Izumi Shikibu dienten am Hofe der Kaiserin Akiko. Die drei literarisch hochtalentierten Frauen im engsten Kreise der Kaiserin zeugen für die Blüte der Adelskultur. Die drei Autorinnen verkehrten freundschaftlich miteinander, und selbstverständlich wetteiferten sie auch untereinander. Doch die größte Rivalität bestand zwischen Sadakos und Akikos Hofstaat. Die Edelleute verbrachten ihre Zeit mit Hofvisiten, und plaudernd verbreiteten sie die Neuigkeiten von da nach dort; Gerüchte und Nachrichten lagen wie eine feine Puderschicht über den zwei kaiserlichen Salons. In diesem Sinne hatte die literarische Tätigkeit von Sei Shōnagon, von Murasaki Shikibu und den andern Hofdamen nicht nur Einfluß auf den Ruf der Kaiserin, der sie dienten, sondern bestimmte auch das Renommee des Vaters; dank der Tochter stieg sogar sein gesellschaftliches und politisches Ansehen. Es leuchtet daher ein, daß die schreibenden Frauen sich einerseits den An71
schein gaben, wie jedermann peinlich die Etikette des Hoflebens zu respektieren, anderseits aber eine leidenschaftliche Rivalität entwickelten und sich mit größtem Eifer ihrer literarischen Arbeit widmeten. Zeitweilig betrachteten sie das Schreiben als eine Art Mission. Diese besondere Art Engagement kommt klar zum Ausdruck im Tagebuch von Murasaki Shikibu; darin kritisiert sie scharf und unerbittlich die Texte der andern Hofdamen. Alle diese Umstände stimulierten das Entstehen einer Reihe von Meisterwerken, die noch heute nichts von ihrem Glanz verloren haben. Die Kaiserin Sadako, die der Kaiser Ichijō von Herzen liebte, starb im jugendlichen Alter. Nach ihrem Tode löste sich die Hofgesellschaft auf, und Sei Shōnagons Leben veränderte sich radikal. Wie ich oben erwähnt habe, hat sie offenbar mit der Niederschrift des Kopfkissenbuchs begonnen, kurz nachdem sie den Hof verlassen hatte. Noch einmal die herrliche Zeit in Sadakos Kreise aufleben zu lassen, das war ihre Absicht. Der Tod Sadakos hatte noch weitere Folgen: Michinaga, der Vater der Kaiserin Akiko, trat an die Stelle von Sadakos Vater Michitaka; eine Konstellation, welche für die Fujiwara-Familie höchst bedeutungsvoll und ehrenhaft war. Akiko gebar zwei Prinzen, die sich später auf dem Throne folgten. Michinaga herrschte von da an mit unbeschränkter Macht. * Genau zu dieser Zeit, unter diesen Verhältnissen, wurde Izumi Shikibu am Hofe wegen ihrer zahlreichen Liebschaften allgemein bekannt. Aufschlußreich ist die folgende der berühmten Anekdoten, die über sie erzählt wurden: Izumi hatte einem Adligen einen Fächer geschenkt, mit dem dieser dann in seiner Umgebung prahlte; zufällig war auch Michinaga, 72
der mächtige Staatsmann, zugegen; der bemächtigte sich des Fächers und schrieb darauf: »Fächer einer leichtlebigen Frau.« Die Begebenheit zeugt von dem Renommee, das sich die Dichterin erworben hatte. Schon verschiedentlich habe ich darauf hingewiesen, daß gemäß dem heianzeitlichen Sittenkodex die aristokratischen Ehepartner nicht unter demselben Dache wohnten. Die Männer wie die Frauen genossen daher in ihrem täglichen Leben eine ziemlich große Unabhängigkeit; und unter diesem Aspekt erscheinen die höfischen Sitten außerordentlich frei. Sogar in einer Umgebung, in der man sich so viel erlauben durfte, wurde Izumi Shikibu von Michinaga als leichtlebige Frau betrachtet, ihre galanten Abenteuer waren offenbar in aller Munde. Michinaga kannte Izumi, die berühmte Dichterin, natürlich persönlich, da sie im Dienste seiner Tochter Akiko stand, und zweifellos schätzte er ihr Talent. Die Formulierung »leichtlebige Frau« ist bestimmt nicht despektierlich gemeint, es ist vielmehr eine neckische, spöttische Sympathiebezeugung. Die Anekdote könnte sogar ein Zeichen dafür sein, daß auch Michinaga wie die meisten Männer vom Charme der schönen Dichterin bezaubert war und daß es ihre erotische Ausstrahlung war, die den einflußreichen Staatsmann zu solcher Offenheit im Ausdruck motivierte. Die vielen Gedichte, die von Izumi Shikibu überliefert sind, zeugen von ihren zahlreichen Liebschaften. Sie war übrigens standesgemäß verheiratet und hatte eine Tochter mit Namen Koshikibu no Naishi, die später ebenfalls als Dichterin berühmt wurde. Izumi hegte zärtliche Gefühle für ihren Gatten, ging aber gleichwohl eine Liebesaffäre ein, worauf sie von ihrem Gatten verstoßen wurde. Ihr Geliebter war der kaiserliche Prinz Tametaka, Sohn des früheren Kaisers Reizei. Diese Liaison war ein unerschöpfliches Gesprächsthema der Hofgesellschaft. 73
Ich möchte Ihnen nun einige Gedichte von Izumi Shikibu zitieren. Zur Erinnerung an diese Welt, die nicht mehr lange die meine ist möcht’ ich nur einmal noch mit dir zusammen sein Aus dem Vorspann dieses Waka lesen wir die Stimmung, in der es verfaßt wurde: »Gedicht, dem geliebten Wesen gesandt, an dem Tag, da ich schwer krank war und mich zutieftst elend fühlte.« In diesem Waka stellt sich Izumi Shikibu ihr Leben nach dem Tod vor, und da bittet sie ihren Geliebten inständig um einen Besuch, um sich eine glückliche Erinnerung an das Diesseits bewahren zu können. Unter dem Einfluß des Buddhismus glaubten die Menschen allgemein an ein Jenseits, doch Izumi Shikibu nimmt in dieser Beziehung auf elegante Weise eine ganz persönliche Stellung ein. Sie möchte in die Totenwelt die Erinnerung an körperliche Liebe mitnehmen, eine Bindung an die Lebenswelt, die eigentlich nach buddhistischer Lehre so rasch als möglich zu lösen ist. Traumverloren sah ich den Leuchtkäfer über dem Teich als meine Seele – sehnsüchtig schweifend fern meinem Leib Auch dieses Gedicht ist unter ganz bestimmten Umständen entstanden. Verlassen von ihrem Geliebten, wollte Izumi ihren Kummer besänftigen und das Herz des Treulosen wieder gewinnen. Sie zog sich für einige Tage in den Kibune-jinja 74
zurück, einen Schrein in den Nordbergen Kyōtos, und erbat dort die Hilfe der Götter in ihrer Not. Bei der Lektüre ihrer Werke stellt sich die Frage, ob Izumi Shikibu zu den Naturen gehört, die sich derart ausschließlich auf das Liebesleben konzentrieren, daß sie mehr und mehr in einer Welt der Einbildung leben. Der Glanz des Taus die Träume, die Erdenwelt die Phantasiegebilde dies alles – im Vergleich gesprochen – war von langer Dauer Der Einleitungstext, der über diesen Versen steht, weist darauf hin, daß das Gedicht einem Manne gewidmet ist, mit dem Izumi eine flüchtige Liebesaffäre hatte. Und dennoch scheint es, daß sich die Dichterin leidenschaftlich engagiert hatte und sich jetzt beklagt, daß die kurze Begegnung ihr Liebesverlangen nicht gestillt hat. Das Gedicht ist darum besonders interessant, weil der Vergleich nicht vollständig ausgeführt wird. In Wirklichkeit muß man ihn so verstehen: »Der Tau, die Träume, die Erdenwelt, die Trugbilder, all die Symbole der Vergänglichkeit erscheinen dauerhaft im Vergleich mit unserer flüchtigen Begegnung!« Der Ausdruck »im Vergleich gesprochen« signalisiert eine logische Verknüpfung. Wider Erwarten wird er hier in dem auf dem Ideal der Eleganz beruhenden Waka verwendet. Kühne Formulierungen wie diese meisterte Izumi souverän und versuchte damit, die Heftigkeit ihrer Gefühle in Worte zu fassen. In Izumis Epoche kam der raffinierten, spielerischen Liebeslyrik eine sehr wichtige Rolle zu, nämlich »Öl ins Getriebe des Gesellschaftslebens zu gießen«. Izumis Dichtung basiert ausschließlich auf ihren Liebeserfahrungen; es macht den 75
Anschein, ihr Leben hänge davon ab, und die Vermutung liegt nahe, sie habe in ihrer Umgebung so unstet gewirkt, weil sie, wie es im Waka heißt, eine herumirrende Seele sei, stets auf der Suche nach der idealen Liebe. Nach der Lektüre des eben zitierten Gedichtes (»Der Glanz des Taus / die Träume, die Erdenwelt«) kann man sich fragen, was für ein Waka der Mann verfaßte, dem es gewidmet war. Es war tatsächlich unerläßlich, und sei es aus purer Höflichkeit, der Absenderin ein Antwortgedicht zu schicken. Doch angesichts solch verzehrender Leidenschaft kann man sich leicht vorstellen, daß der Angebetete irgendeinen Vorwand gesucht hat, um sich davonzustehlen. Im Laufe der Jahrhunderte wurde Izumi Shikibu immer höher geschätzt. Das hängt damit zusammen, daß das Bändchen »Izumi Shikibu: Gesammelte Gedichte« weit herum bekannt wurde. Die darin vereinigten Waka geben in sehr direkter Weise den intimsten Empfindungen Ausdruck und paßten daher schwerlich in die kaiserlichen Anthologien, die einen viel formelleren Charakter besaßen. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen noch von einem Liebesabenteuer erzählen, das in Izumis Leben eine ganz besondere Bedeutung hat. Es handelt sich um ihre Beziehung zum kaiserlichen Prinzen Atsumichi, dem jüngeren Bruder von Tametaka, den ich oben kurz erwähnt habe. Das heißt also, daß Izumi zwei Söhne desselben Kaisers als Geliebte hatte. Schon die Liaison mit Tametaka war ein Hofskandal. Izumi wurde damals von ihrem Gatten Tachibana no Michisada verstoßen, und selbst der eigene Vater, der konfuzianische Gelehrte Ōe no Masamune, distanzierte sich von ihr. Ungefähr zwei Jahre später starb Tametaka Shinnō während einer Epidemie. Izumi versank in tiefe Trauer; Tametakas Bruder Atsumichi besuchte sie in ihrem Leid und fing bald an, ihr verschämt und ungeschickt den Hof zu machen. 76
Izumi war offenbar fast fünf Jahre älter als der Prinz Tametaka. Sie war um die dreißig, als der ungefähr dreiundzwanzigjährige Atsumichi ihr Geliebter wurde, und Izumi behandelte diesen viel jüngeren Mann anfänglich wie ein Kind. Doch binnen kurzem entwickelte sich gegenseitig eine große Leidenschaft. Atsumichi ertrug es nicht mehr, auch nur einen Augenblick ohne diese Frau zu leben, die so viel Erfolg bei den Männern hatte, und er entführte Izumi in seine Residenz. Die legitime Gattin Atsumichis erduldete die Demütigung nicht und verließ den Palast. Diese Liebesaffäre überschritt wirklich jedes Maß und wurde zum Thema unendlicher Klatschereien in der Hauptstadt. Als Reaktion darauf prahlte Atsumichi erst recht überall mit seiner Beziehung zu Izumi. Sie hingegen scheint unter der Situation gelitten zu haben, und dennoch, trotz aller Unannehmlichkeiten, liebte sie den jungen Mann immer mehr. Dann aber, vier Jahre nach ihrer ersten Begegnung, wurden die Liebenden von einem grausamen Schicksalsschlag getroffen; der schöne Prinz Atsumichi, der im Grunde ein rechtschaffener Mann war, wurde von einer Krankheit plötzlich dahingerafft. Welch tiefen Schmerz muß Izumi Shikibu empfunden haben. Sie schrieb fünfundzwanzig Gedichte, in denen sie den Tod des kaiserlichen Prinzen beweint. Diese Elegien sind ein Höhepunkt sowohl innerhalb des Gesamtwerks als auch in der Geschichte der japanischen Poesie. Wenn ich achtlos in der Wirrnis meiner schwarzen Haare niedersank streichelte er sie rasch Wie sehne ich mich nach ihm! Die adligen Damen am Heian-Hof hatten Haare von einer Länge, wie man es sich heute schwerlich vorstellen kann. Wenn 77
sie sich zum Schlafen niederlegten, ordneten sie ihre Haarpracht über der Kopf- oder Nackenstütze, um die Frisur nicht zu verderben. Im Gedicht heißt es, die schönen Haare lägen unordentlich auf dem Bett und evozieren dadurch die Momente nach dem Liebesakt. Izumi erinnert sich mit größter Intensität, wie einst der Geliebte zärtlich ihre Haare streichelte. Der trauernde Rückblick auf den Verstorbenen ist so quälend, da er mit der schmerzlichen Erinnerung an Körperfreuden verbunden ist. Mein Herz, das dich liebt ist in tausend Stücke zerbrochen Doch bleibt es erhalten in jedem einzelnen Splitter Wir sehen auch hier wieder das Charakteristische von Izumi Shikibus Dichtkunst. Du bist tot, sagt sie, und mein Herz, das sich in Sehnsucht verzehrt, ist zerrissen. Im kleinsten Splitter noch pulsiert die Liebe zu dir, und niemals wird sich die geringste Spur davon verlieren. Soll ich der Welt entsagen? Allein der Gedanke stürzt mich in Trauer wenn ich an meinen Körper denke der dir gehörte »Ich habe keinen Grund mehr zu leben«, sagt Izumi Shikibu. »Manchmal trage ich mich mit dem Gedanken, mich von der Welt zurückzuziehen, mich der Religion zu widmen; doch diese Aussicht stimmt mich noch viel trauriger. Sooft ich daran denke, meinem Körper zu entsagen, spüre ich, wie kostbar er mir doch ist, denn dir, mein Geliebter, gehörte er ja.« 78
Niemals wären andere noch so begabte Dichterinnen derselben Epoche fähig gewesen, solche Waka zu schreiben, die in der Weise um die eigene Person, um die intimsten Gefühle kreisen. Manche Gedichte stoßen beinahe in philosophische Dimensionen vor. Mit eigenen Augen sah ich wie vergänglich alles ist Bin ich wirklich ein Mensch daß ich dennoch ohne Schrecken diese Traumnacht durchschlafe? Dieses Waka gestaltet gedankliche Erlebnisse. Voller Zweifel und Fragen überdenkt die Poetin ihre menschlichen Reaktionen: Ist es normal, daß man, nachdem man schon tausendmal die Vergänglichkeit der Welt, ihre Flüchtigkeit einem Traume gleich, festgestellt hat, dennoch jede Nacht in tiefen Schlaf versinkt und überhaupt nicht über die offensichtliche Unbeständigkeit erschrickt? Der Vers, »Sagt, bin ich wirklich ein Mensch?«, ist eine bohrende Frage. Zwei Seelen wohnten in Izumi Shikibus Brust; die eine hatte Teil an der Zeitlosigkeit aller Dinge und betrachtete jene andere, die sich auslebte in unserer Welt der Erscheinungen und Trugbilder. Das führt zur Frage nach ihrem Menschsein. Gibt es in der Geschichte der Weltliteratur andere Dichterinnen, die, wie Izumi Shikibu am Anfang des 12. Jahrhunderts, Liebeslieder geschrieben haben, in welchen der Reflexion so viel Bedeutung zukommt? Mir scheint dies eine sehr interessante Frage zu sein. * 79
Zum Abschluß möchte ich noch kurz auf eine Dichterin hinweisen, die, neunundvierzigjährig, ganz zu Anfang des 13. Jahrhunderts gestorben ist. Es handelt sich um Shikishi Naishinnō, die aus einem ganz anderen Milieu stammt und deren Leben und Schaffen sich in jeder Beziehung von allem unterscheiden, was ich Ihnen über Kasa no Iratsume und Izumi Shikibu erzählt habe. Prinzessin Shikishi, die Dichterin der ausgehenden HeianEpoche, besaß eine seltene lyrische Begabung. Fein und zart zeichnet sie in ihren Waka innere, von Einsamkeit geprägte Landschaften nach, derart präzis, daß sie uns an Kupferstiche gemahnen. Shikishi war die Tochter des zurückgetretenen Kaisers GoShirakawa. Die zwei Kaiser Nijō und Takakura waren ihre Halbbrüder; von ihren zwei älteren Brüdern war der eine Shukaku-Hōshinnō, ein beachtenswerter Mönchsdichter; der andere, namens Mochihito-ō, starb im Kampf gegen den siegreichen Taira-Clan. Shikishi hatte noch drei Schwestern, kaiserliche Prinzessinnen wie sie selbst. In ihrer Familie mütterlicherseits gibt es eine Reihe berühmter Waka-Poeten, von denen etliche Werke in den offiziellen Anthologien verzeichnet sind; ihr literarisches Niveau ist jedoch weit niedriger. In jener Epoche wurde eine Sammlung angelegt, die in der Geschichte der japanischen Dichtung einen ebenso wichtigen Platz einnimmt wie das Kokin wakashū, nämlich das Shin Kokin wakashū (»Neue Sammlung alter und neuer Waka«). Prinzessin Shikishi steht an der Spitze aller darin vertretenen Waka-Dichterinnen; neunundvierzig Gedichte sind von ihr aufgenommen worden; den zweiten Rang nimmt eine Autorin mit neunundzwanzig Gedichten ein, auch dies noch eine hohe Anzahl. Shikishi folgt unmittelbar nach dem großen, speziell begünstigten Saigyō mit vierundfünfzig Waka und nach vier anderen bekannten Poeten. Daraus kann man ersehen, wie hoch geschätzt schon damals ihr Werk war. 80
Prinzessin Shikishi lebte, historisch gesehen, in einer Übergangsphase: Erloschen war der Glanz des Fujiwara-Clans, der die ganze Heian-Zeit politisch und kulturell dominiert hatte. Aus den mächtigen Familien der Provinz, der Kriegerkaste, etablierte sich eine neue soziale Klasse, die sich um Herrschaft und Nachfolge stritt undjapan in Kriegswirren stürzte. Die Kaiserfamilie konnte sich aus diesen Händeln nicht heraushalten. Der Vater von Shikishi, der Kaiser im Ruhestand, Go-Shirakawa, hatte eine fast maßlose Vorliebe für das Volkslied. Sein Name ist aufs engste verbunden mit der außerordentlich umfangreichen Anthologie Ryōjin hishō, was wörtlich heißt: »Geheime Sammlung [von Liedern, deren Schönheit wegwischt] den Staub von den Balken.« Das Ryōjin hishō vereinigt beliebte, allbekannte shintoistische und buddhistische Weisen und Volkslieder, in denen die alltägliche Lebenswirklichkeit anschaulich zum Ausdruck kommt. Aber Go-Shirakawa unterschied sich auch in seiner Aktivität als Kaiser von seinen Vorgängern; in machiavellistischer Art verstand er es, der mächtig gewordenen Kriegerklasse Widerstand zu leisten und ebenfalls den alten Führern der Fujiwara die Stirn zu bieten. Shikishi hingegen kam als Prinzessin bloß eine Zuschauerrolle zu, schweigend und machtlos mußte sie die Dramen mitansehen, die sich in ihrer Familie abspielten: Ihr Onkel, der Kaiser Sutoku, ihr älterer Bruder Mochihito-ō und dann ihr Neffe, der blutjunge Kaiser Antoku, waren Opfer von Verschwörungen oder von Bürgerkriegen und starben, einer nach dem andern, eines gewaltsamen Todes. Schon diese traurigen Umstände allein hätten die Prinzessin in die Einsamkeit und Meditation führen können, doch es gibt noch eine andere Komponente: Shikishi mußte schon ais junges Mädchen während mehr als zehn Jahren als Priesterin, als sai’in, die heiligen Handlungen im Kamo-Schrein ausüben, das heißt im kaiserlichen Familentempel. Diese Stellung war seit alters den noch jungfräulichen Prinzessinnen zugedacht. 81
Die sai’in, die sich in Vertretung des Kaisers dem Gottesdienst widmeten, waren in dieser Zeit zur Keuschheit, zu völliger Abgeschlossenheit von der Welt verpflichtet. Aus diesem Grunde wußte Shikishi seit frühester Jugend und noch Jahre danach nichts von dem üblichen Leben junger Mädchen. Und Gelegenheiten, erste Liebeserfahrungen zu machen, gab es für sie natürlich lange nicht. Wie erstaunlich ist es daher, daß sie in ihrem berühmtesten Waka ihr Los besingt, die Irrungen und Wirrungen der Liebe ertragen zu müssen. Der Inhalt dieses Textes basiert auf reiner Imagination. Er wurde an einem der großen Dichterabende jener Epoche verfaßt, an denen die Dichter mit ihren Einfällen bezüglich eines vorgegebenen Themas wetteiferten. Shikishi Naishinnō hat in ihrem Waka das Thema shinobu koi behandelt. Shinobu koi bedeutet geheime Liebe, ein ganz privates, persönliches Gefühl, und das wichtigste Gebot bestand sogar darin, daß selbst der Adressat nichts von dieser Liebe wußte. Eigentlich wäre er es doch, dem man als erstem Geständnisse machen möchte. Aber im shinobu koi müssen der Verliebte oder die Verliebte, auch wenn brennende Leidenschaft sie verzehrt, ihre Gefühle im tiefsten Innern verbergen. Das führt dazu, das man die Verehrung eines geliebten Menschen viel reiner bewahren und stets aufs Neue wiederbeleben kann. Immer wieder möchten die Gefühle sich äußern. Doch unaufhörlich muß man sie zurückdrängen. Genau in diesem Widerspruch gründet die Intensität, die Schönheit, die stärkste Leidenschaft der Liebesempfindung. Darauf beruht das Prinzip des shinobu koi. Hier nun das Waka, das Shikishi Naishinnō zu diesem Thema geschrieben hat. Seidenschnur, reiße falls du reißen willst 82
Denn wenn sich mein Leben hinzieht, schwindet die Kraft mein Geheimnis zu hüten Das Wort »Seidenschnur«, das den Faden oder die Kordel bezeichnet, worauf die kostbaren Steine aufgereiht werden, wird zur Metapher des lebenverbindenden Fadens, ja des Lebens selbst. Die junge Prinzessin drückt mit diesem Gedicht den Wunsch nach einem Abbruch ihres Lebenslaufes aus. Andernfalls riskiert sie, mit der Zeit ihre Gefühle nicht mehr verheimlichen zu können, die sie bis dahin unter Qualen gehütet hat. Vielleicht könnten sogar die Leute allmählich das Geheimnis ihrer Liebe entdecken? Zu den Anekdoten, die um Shikishi Naishinnō kreisen, gehört auch die Beziehung mit dem bekanntesten Dichter der Epoche, mit dem etwa zehn Jahre jüngeren Fujiwara no Teika. Es sei dies eine von beiden geheimgehaltene Liaison gewesen, wird erzählt. Einige Details lassen jedoch vermuten, daß alles pure Erfindung ist. In Wahrheit verehrte Shikishi als ihren Meister den großen Dichter Fujiwara no Shunzei, den Vater von Teika. Auf Wunsch der jungen Frau schrieb Shunzei seine berühmte Waka-Sammlung Korai fūteishō (»Ausgewählte Verse im alten Stil«). Da ergab es sich wohl gelegentlich, daß Teika allein oder in Begleitung des Vaters Shikishi besuchte und die beiden dann und wann ein vertrauliches Gespräch führten. Nichts zeugt von gegenseitiger Verliebtheit, aber das offensichtliche Erlahmen von Teikas Schöpferkraft nach dem Hinscheiden Shikishis läßt eine tiefe Neigung zu ihr erahnen. Vermutungen dieser Art inspirierten spätere Autoren, das Thema zu bearbeiten. Im Repertoire des Nō beispielsweise gibt es etliche Stücke über die leidenschaftliche Liebe zwischen Teika und Shikishi. Die legendäre Liaison ist keineswegs unvereinbar mit der 83
Person, die fähig war, zum Thema »geheime, brennende Liebe« die Verse zu dichten, die ich oben zitiert habe. Zum Abschluß dieser Vorlesung lege ich Ihnen ein letztes Waka von Prinzessin Shikishi vor. Alles Erschaute und alles noch Künftige Unsichtbare regt sich im leichten Schlummer als eitles Traumgebilde Ein großartiges, tieftrauriges Gedicht. In einem Waka wie diesem scheint sich Shikishi ganz auf sich selbst zurückzuziehen, sich tief im Innersten ihrer Seele einzuschließen. Kommt hier wirklich nur die Isolierung zum Ausdruck, zu der die Frauen in einer vom Verfall gezeichneten Aristokratie fatalerweise gezwungen waren? Die gewagtesten Überlegungen drängen sich auf. Nehmen wir einmal an, das Gedicht rufe die Erinnerungen eines Mannes oder einer Frau unserer Epoche wach, einer Person, die die Schrecknisse der Kriege überlebt hat, eines Menschen auch, der den Hunger, die Epidemien in den Armutsgebieten der Erde kennt. Die paar wenigen Verse – sind sie nicht zu lesen wie ein zeitgenössisches Gedicht, vor dessen Wahrheitsgehalt wir erschaudern? Das ist, nach meiner Meinung, der Beweis, daß die Waka von Shikishi Naishinnō bei weitem den Rahmen ihrer Gesellschaftsschicht und ihrer Epoche sprengen und eine universelle Vision des Menschseins vermitteln. Das Waka ist eine äußerst knappe poetische Form, doch die Werke der drei Dichterinnen, die ich Ihnen heute vorgestellt habe, zeigen, daß es möglich ist, in wenigen Silben, fast so kurz wie ein Seufzer, die wahre Menschennatur in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen. 84
IV Die Landschaftspoesie Warum ist die japanische Landschaftspoesie so verhalten in ihrem subjektiven Ausdruck?
In meiner letzten Vorlesung habe ich Prinzessin Shikishi vorgestellt, Ihnen jedoch nur zwei ihrer Gedichte rezitiert. Heute möchte ich ihre Waka unter einem andern Gesichtspunkt betrachten, um das Charakteristische der Landschaftspoesie herauszuschälen, die eine spezifische Gattung der japanischen Dichtung ist. Das ist ein Waka von Shikishi Naishinnō: Keine Menschenspur im Garten, inmitten der Binsen tönt aus der Tiefe unter tropfendem Tau hervor die Stimme einer Kieferngrille Im ersten Moment erinnert das Gedicht an eine Grille, die mit erstickter Stimme in einer verlassenen Gartenecke singt, wo sie sich in taubenetzten Herbstblättern vergraben hat. Doch das Gedicht hat natürlich einen ganz andern Hintergrund, als es den Anschein macht. Der erste Vers, »Keine Menschenspur«, der wohl bedeutet »Kein Besuch mehr«, läßt uns erahnen, daß die Heldin des Waka eine Frau ist, die von ihrem Geliebten nicht mehr besucht wird! Hinter der vordergründigen Aussage liegt der eigentliche Sinn, der Liebeskummer der verlassenen Frau. Die Grille, japanisch »matsumushi«, wörtlich: »das Insekt, das auf den Kiefern lebt«, erkennt man 85
an seinem zarten Gesang, der ununterbrochen in herbstlichen Gärten ertönt. Zur Vokabel »matsu«, die »Kiefer«, das hier in »matsumushi« erscheint, gibt es ein Homophon, das Verb »matsu«, zu deutsch »warten«. Durch das Spiel mit der Homophonie wird die Grille unseres Gedichts, »matsumushi«, zum »Insekt, das wartet«; das ist eine einleuchtende Assoziation mit der Vorstellung einer Frau, die sich nach dem Geliebten sehnt. Dazu kommt ein weiterer Aspekt; das Wort »musuboore«, das »liegender Tau« bedeutet, bezeichnet im übertragenen Sinn »ein von Schwermut bedrücktes Herz«. Und in Japan weiß man, daß in dichterischer Sprache der Ausdruck »tsuyu«, der Tau, eine Metapher ist für »Tränen«. Zusammenfassend halten wir fest: Als erstes evoziert das Gedicht den zarten, feinen Gesang einer Grille. Sie singt und singt im herbstlichen Garten, unter taubenetzten Blättern; und dies gibt uns das Bild einer im Stillen weinenden Frau, die da im Geheimen noch immer auf den Besuch des Geliebten hofft. Um die Aussagemöglichkeiten des Waka, das ja bloß aus einunddreißig Silben besteht, aufs höchste zu bereichern, haben die Dichter eine spezielle Technik entwickelt, indem sie dem einzelnen Wort eine Doppelbedeutung oder je nach dem Kontext auch eine dreifache Bedeutung gaben. Die phonetische Struktur der japanischen Sprache, die auf einfachen Vokal- und Konsonantenkombinationen basiert und infolgedessen reich an Homonymen ist, begünstigt diese Technik. Die Expressivität der Lyrik steigerte sich dank der kakekotoba (sogenannte »Türangelwörter«) oder der engo (Echowörter, Assoziationswörter). In den Waka von Shikishi Naishinnō illustrieren Wörter wie »musuboore«, »tsuyu« oder »matsumushi« diese besondere dichterische Kunstfertigkeit. Im klassischen Waka hat sich allgemein das Stereotyp entwickelt, mittels einer scheinbar einfachen Landschaftsbeschrei86
bung den Seelenzustand eines Mannes oder einer Frau auszudrücken und dadurch den verborgenen Sinn des Gedichtes zu offenbaren. Diese Kompositionstechnik hatte einen doppelten Vorteil: sie verriet einerseits in Form einer vordergründig harmlosen Landschaftsschilderung nur den Eingeweihten die geheime, die eigentliche Bedeutung, und anderseits bot sie auch einem größeren Lesepublikum literarischen Genuß. Es liegt auf der Hand, daß sich mit der Zeit mehr und mehr Konventionen und ebenso ein oberflächlicher Formalismus entwickelten; bald achtete man die ausgebreiteten Weisheiten, die von den Kennern gepriesen wurden, höher als den spontanen Gefühlsausdruck. In neuerer Zeit wurde es schwieriger, den Zwiespalt zwischen der Kompositionstechnik und dem wahren Geist der Poesie zu verwischen, und man begann, die gar so offensichtlichen Wortspiele zu vermeiden. In der Epoche von Prinzessin Shikishi waren jedoch die poetologischen Regeln noch lebendig und konnten effektvoll eingesetzt werden. Die Dichterin beherrschte sie perfekt, sie verstand es, das Bild einer verliebten Frau zu evozieren und im gleichen Waka mit dem herbstlichen Gesang eines Insektes den Liebeskummer und die Tränen der Verlassenen auszudrücken. In diesem speziellen Fall war es nicht nötig, daß Shikishi und die Frau in der halbzerfallenen Behausung identisch waren. Es genügte, entsprechend dem gegebenen Thema, sich die Umwelt einer solchen Person vorzustellen und gleichzeitig in der Kurzform des Gedichts die stille Traurigkeit der Frau und die damit korrespondierende Landschaft wachzurufen. Doch wir Leser haben natürlich die Freiheit, in der einsamen, bemitleidenswerten Gestalt das Spiegelbild der edlen, zurückhaltenden Shikishi Naishinnō zu sehen. Themen und Stoffe der japanischen klassischen Poesie waren nur in seltenen Ausnahmefällen das persönliche Geschick 87
des Dichters oder ein Zeugnis seiner Weltanschauung. Der moderne Realismus, der dahin tendiert, Autor und Protagonist zu verschmelzen, existierte eigentlich gar nicht. Der Waka-Dichter war fähig, sich dank seiner Imagination in die Lebenswirklichkeit anderer Menschen zu versetzen. Wenn sich allerdings das lyrische Werk durch eine meisterliche Vorstellungsgabe auszeichnete und darüber hinaus die Gedanken- und Gefühlswelt des Autors erahnen ließ, unabhängig davon, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, erreichten Dichter oder Dichterinnen allerhöchste Anerkennung. Shikishi Naishinnō gehörte zu diesen Dichtern. Dies gab ihr das volle Recht zu sagen: Diese traurige und verlassene Frau bin ich! Die Technik des dai’ei, das heißt, das aus der chinesischen Poetik stammende Verfassen eines Waka nach einem gegebenen Thema, wurde in Japan während Jahrhunderten praktiziert. Und sogar noch heute schreiben viele nach diesem Prinzip, insbesondere die Tanka-Dichter (formal sind Waka und Tanka identisch), vornehmlich aber die Haiku-Dichter. Der dichterische Akt besteht darin, ein inneres Bild mit Worten in eine poetische Realität zu übertragen. Dieser Prozeß ist eine Herausforderung für jeden, der seine Technik verfeinern will. Ich habe Sie jedoch schon daraufhingewiesen, daß mit dem Überhandnehmen des modernen Realismus am Ende des 19. Jahrhunderts viel von dieser Tradition verloren gegangen ist. Gegenwärtig scheint der Realismus in einem Engpaß zu sein, und da ist es naheliegend, sich ernsthaft auf die Tanka- und Haiku-Technik zu besinnen, die der Vorstellungskraft eine so große Spielfreiheit bietet. *
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Ich komme zurück auf das Gedicht von Shikishi Naishinno, wo einsam im herbstlichen Garten ein Insekt singt und gleichzeitig mit der Naturszene das Bild einer verlassenen Frau evoziert wird, die dem Geliebten nachtrauert. Zu dieser poetischen Überblendung zweier Bereiche möchte ich nun einige Überlegungen anstellen. Eine Landschaftsbeschreibung, die als solche eine innere Welt wiedergibt, ist in Japan ein wesentliches Charakteristikum der Landschaftsdichtung oder Naturlyrik. In der bekanntesten Gattung der japanischen Poesie, in der Kurzform des Haiku, finden sich die treffendsten Beispiele für Naturlyrik. Die Grundregel des Haiku verlangt innerhalb des siebzehnsilbigen Gedichtes zumindest ein kigo, das heißt wörtlich »ein Jahreszeitwort«. Die kigo nannte man in der ältesten Epoche kidai oder »Jahreszeitthema«. Die Funktion dieser Wörter besteht darin, das Haiku mit der Realität einer Jahreszeit zu verbinden. Beispielsweise mangelt dem Wort »Wind« die wesentliche Eigenschaft des kigo. Es wird erst zum kigo durch bestimmende Ergänzungen wie »Frühlingsbrise«, »duftender Wind«, »Herbstwind«, »Nordwind«. Die Jahreszeiten – Frühling, Sommer, Herbst und Winter – sind damit eindeutig bezeichnet. Doch ein »duftender« Wind ist kein eigentliches Charakteristikum des Sommeranfangs, auch eine Frühlingsbrise oder ein Herbstwind kann als »angenehm duftend« empfunden werden. Der Ausdruck »duftender Wind« gehört trotzdem zur Klasse der Sommer-kigo, denn von allen Winden, die in den vier Jahreszeiten wehen, hat japanische Sensibilität den Frühsommerwind als den am wohlriechendsten empfunden. Das hat seine Gründe natürlich in den klimatischen Verhältnissen des Insellandes. »Nordwind« gilt als kigo des Winters; denn in den winterlichen Winden konzentrieren sich alle Eigenschaften des »Nordwindes«. Kurzum, es handelt sich ganz einfach um kulturelle Konventionen. 89
Ich werde Ihnen nun anhand eines konkreten Beispiels einige Erklärungen geben zu dem kigo »Herbstwind«: Weißer als Stein auf dem »Steinberg«: der Herbstwind Dieses Haiku stammt aus dem berühmten poetischen Reisetagebuch von Matsuo Bashō, dem Oku no hosomichi (»Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland«). Der Dichter besuchte einen abgelegenen alten Tempel, umgeben von seltsam geformtem Felsgestein. Eine eher banale Landschaftsszenerie inspirierte ihn da zum Dichten. Er rühmt nicht die Gebäude und nicht die schönen Bäume, sondern beschränkt sich darauf, das Weiß des Herbstwindes zu besingen, der über die Einsamkeit des Steingartens weht. Bashō sagt bloß, der Herbstwind sei noch weißer als die farblosen Steine, weißer als die felsigen Hügel. Die lapidare Feststellung genügt als Stoff für ein Gedicht. Bashōs Vorliebe gilt jenen Landschaften, die eine Ahnung vermitteln von einer Welt des Nichts; und das ist der geheime Sinn auch dieser Verse. Das Haiku folgt dem analogen Prinzip, dem wir im Waka von Prinzessin Shikishi begegnet sind: die Evokation einer Außenlandschaft wird zum Symbol des Innenlebens des Dichters. Im Hintergrund dieses Dreizeilers findet sich überdies ein Hinweis auf die traditionelle chinesische Farbsymbolik und bereichert damit die innere Struktur des kurzen siebzehnsilbigen Gedichts. Nach chinesischer Weltanschauung, unter deren dominierendem Einfluß Japan seit alters stand, entsprachen die vier Jahreszeiten den vier Himmelsrichtungen. Frühling, Sommer, Herbst und Winter bezogen sich auf den Osten, den Süden, den Westen und den Norden; dazu korrespondierte das Farbregister, nämlich: Grün, Rot, Weiß und 90
Schwarz. Nach dieser Auffassung ist die Farbe des Herbstes weiß. Höchst wahrscheinlich spielt Bashō mit solchen Assoziationen. Wie dem auch sei, in der japanischen Lyrik, im Waka und im Haiku, verschmelzen sehr oft Beschreibungen der äußeren Welt mit dem Ausdruck einer inneren Welt. Es ist dies eine markante, jedoch nicht schematisch eingehaltene Tendenz. * Aber offen gestanden ist das gar nichts Merkwürdiges. Man vergegenwärtige sich bloß das Hauptcharakteristikum der japanischen traditionellen Poesie, nämlich ihre extreme Knappheit. Das Waka, die längste Form, besteht aus nur einunddreißig Silben, und das Haiku aus genau siebzehn. Ein Werk, das auf eine genaue Reproduktion der äußeren Wirklichkeit zielt, hätte bei der vorgegebenen Kürze nicht die geringste Möglichkeit, poetische Qualität zu entwickeln. Es liefe sogar Gefahr, prosaischer als Prosa zu sein. Weiterhin ist zu beachten, daß die japanische Sprache, wie ich schon erklärt habe, auf monotonem Wechsel von Vokalen und Konsonanten beruht und deshalb ein Begriff wie Reim keinen Sinn hat. In der westlichen und in der chinesischen Dichtung ist der Reim ein unerläßliches Kunstmittel, das noch nichts von seinem Wert verloren hat. Im Japanischen ist es nicht der Reim, woran man das Genre eines Gedichtes erkennt, sondern es ist der Rhythmus, der auf der Anzahl und der Kombination der Silben beruht. Es handelt sich um eine elementare Prosodie der richtigen Betonung innerhalb einer gegebenen Silbenzahl. Die klassische Formknappheit schloß den Reim als gestalterisches Mittel aus, welcher so klar und eindeutig mit Aug und Ohr wahrgenommen wird. 91
Auf dieser Basis entstand folgerichtig im Waka und im Haiku die originelle poetische Technik des Verwechslungsspiels von Subjekt und Objekt; das heißt, die sichtbare äußere Welt wurde zur Metapher oder zum Symbol eines erregten Innern. Die Beherrschung der Methode erlaubt, ungeachtet der offensichtlichen formalen Begrenztheit, eine unerhört bedeutungsreiche Sprache zu schaffen, in der tiefe und zarteste Gefühle sich ausdrücken lassen. Und tatsächlich, wenn man sich in die Geschichte der japanischen Dichtung versenkt, seit ihren Anfängen und durch alle Jahrhunderte hindurch, ist festzustellen, mit welch unermüdlichem Eifer die Dichter sich bemüht haben, innerhalb der elementaren metrischen Struktur, in der Kurzform Subtiles und Vieldeutiges zu fassen. Die kakekotoba oder Türangelwörter, die ich oben erwähnt habe, sind nichts anderes als eines der zahlreichen Mittel, um das künstlerische Ziel zu erreichen. Diese spezifischen Eigenschaften beeinflußten selbstverständlich die Definition des Schönen. Die Kriterien des Schönen konnten nicht ausschließlich inbezug auf das Sichtbare, auf Formen und Farben, entwickelt werden. Andere Elemente, die viel schwieriger zu bemessen sind, wie Tiefe oder Größe oder reines ästhetisches Empfinden, bedingten eine Begriffserweiterung des Schönen. * Es liegt mir sehr daran, zum Thema Ästhetik meine ganz persönliche Ansicht über die Prinzipien des Schönen zu skizzieren, die der Dichtung und der japanischen Kunst insgesamt zugrundeliegen. Schönheit und Häßlichkeit können als sichtbare Form bis zu einem gewissen Grade objektiv beurteilt werden. Innerhalb des Bereiches, von dem ich soeben gesprochen habe, ist 92
dies hingegen völlig unmöglich: es gibt keinen Maßstab, mit dem sich die tiefe, die echte Schönheit messen ließe, und auch nicht das Echo, das sie im Herzen der Menschen erweckt. Der Einzelne kann sie allein mit seiner eigenen, mit seiner subjektiven Elle messen. Was man sich traditionellerweise unter Schönheit vorstellt, läßt sich nach meiner Meinung folgendermaßen formulieren: Sie ist kein ein für alle Mal definierter Begriff; sie ist etwas Relatives, das heißt, ihre Tiefe, ihre Intensität variiert je nach der wechselnden Gemütsverfassung des Rezipienten. Das gilt nicht nur für die japanische Poesie, sondern umfaßt gleicherweise die Malerei, die Musik, das Theater und alle andern Künste. Die Ästhetik in allen Kunstgattungen aber hat ihre Quelle in der Schönheit des Waka. Wenn Sie sich die eben erwähnten Charakteristika vor Augen halten, begreifen Sie ohne weiteres, daß während des Erschaffens und der Aufnahme eines Kunstwerkes die sinnliche Wahrnehmung auf eine ganz andere Weise aktiviert wird als im westlichen Kulturraum. Nicht dem Sehsinn, nicht dem Hörsinn, aus denen sich meß- und analysierbare Werte ableiten lassen, haben die Japaner den Vorzug gegeben, sondern dem Tastsinn, dem Geschmack und dem Geruch. Das sind Wahrnehmungen, die mit tieferen, geheimeren, unfaßbaren physischen Empfindungen verbunden sind. Diese drei Sinne haben eine gemeinsame Eigenschaft: sie entwickeln eine ganz spezifische Aufnahmeschärfe in der Dunkelheit. Doch im Gegensatz zum Gesichts- und Hörsinn ist es außerordentlich schwierig, sie zu analysieren und zu klassifizieren. Sie variieren in ihrer Feinheit je nach Individuum, besonders was den Geschmack betrifft. Das Tasten, Berühren, Schmecken, Riechen sind ihrer Natur nach etwas geheimnisvoll Unfaßliches. In ihrer Verfeinerung können sie außerordentliche Schärfe erreichen, doch die Empfindungen, die sie bewirken, sind äußerlich nicht genau zu bestim93
men. Ihre Präsenz ist nicht zu leugnen, und in gewisser Hinsicht bewegen sie uns in viel tieferen Schichten als Gesehenes und Gehörtes. Und all dies ist, jedermann weiß es, im Reich der Liebe von besonderer Bedeutung. * Vielleicht ist es richtig, wenn ich noch einmal auf den Begriff des sōmon zurückkomme, das heißt auf den Austausch von Liebesgedichten zwischen Mann und Frau. In meiner früheren Vorlesung habe ich betont, daß seit den Anfängen des Waka die Liebe ein zentrales Thema ist, und ich will mich dabei nicht weiter aufhalten. Aber ich möchte Sie darauf auf merksam machen, daß im Bereich der Liebe sich das Tasten, das Schmecken und das Riechen aufs feinste und lebendigste entfalten. Die Verliebtheit und all die geheimen, tiefen Sinnesempfindungen gehen im Waka eine untrennbare Zwillingsbindung ein. Dieses Phänomen zeigt sich in unzähligen Werken. Ich zitiere Ihnen zuerst eines der berühmtesten aus dem Kokinshū; es gehört zu den Frühlingsgedichten. Gedichtet auf das Thema Pflaumenblüte in der Frühlingsnacht Das Dunkel der Frühlingsnächte ist anders: Die Pflaumen blühen Zwar sind ihre Farben verborgen doch unverkennbar sind sie als Duft Ōshikōchi no Mitsune 94
Dieses Gedicht, das den Duft des Pflaumenbaums preist, der in der dunklen Nacht noch stärker duftet, ist, wie gesagt, im Kokinshū unter die Frühlingsgedichte eingereiht. Das heißt, daß die vier Kompilatoren der Anthologie, zu denen auch Mitsune gehörte, das Waka offiziell als ein Gedicht verstanden, das die erste Jahreszeit thematisiert. Lassen wir uns nicht täuschen durch die offizielle Einteilung! Die Klassifikationen sind nichts weiter als ein Anhaltspunkt. Das Gedicht selbst ist viel bedeutungsreicher, als die Etikette verspricht. Es handelt sich nämlich um ein kunstvoll vertuschtes Liebesgedicht. Zwei Elemente kontrastieren in diesem Waka: Einerseits der betäubende Duft der Pflaumenblüten – in jener Epoche waren der Pflaumen- und der Kirschbaum die am höchsten geschätzten Blütenbäume –, anderseits das nächtliche, die Blumen verhüllende Dunkel. Die doppelsinnige Metapher verweist auf Gegenspieler: Hier ein schönes junges Mädchen, eine Geliebte, und dort die Personen, die eine Begegnung der Verliebten verhindern möchten, nämlich die Beschützerinnen der Tochter, die Mutter oder die Amme. Die eigentliche Aussage des Waka liegt demnach darin: Wenn die Farben, das heißt der erotische Charme der Geliebten von wohlmeinenden Erzieherinnen verhüllt werden soll, gibt es noch immer das Parfüm der jungen Frau, das beredt von ihrer Gegenwart kündet. Mittels solcher Anspielungen drückt der Mann aus, wie sehr es ihn schmerzt, auf ein Rendezvous zu verzichten, und gleichzeitig zeigt er seine Verehrung für das junge Mädchen. Ich lese Ihnen nun noch ein anderes berühmtes Frühlingsgedicht aus dem Kokinshū vor.
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Niedergeschrieben als Frühlingsgedicht Die Blütenfarben verhüllt im Nebel und unsichtbar Stiehl wenigstens ihren Duft Frühlingswind von den Bergen! Yoshimine no Munesada Der Autor dieses Gedichtes zog sich nach der Lebensmitte als Mönch zurück und nahm den Namen Henjō an. Vorher aber war er ein eleganter Aristokrat und am Hofe bekannt für seine wache Intelligenz. Die Herausgeber des Kokinshū haben sich bemüht, im Titel anzugeben, es sei ein Frühlingsgedicht, doch in Wirklichkeit geht es in diesem Waka um dasselbe Thema wie im ersten Beispiel, nämlich um die Liebe. Hier sind es die Kirschblüten, und der Dichter bittet den Wind, er solle ihren Duft stehlen und ihn ihm zuwehen. Das Motiv zeigt, welches Gewicht dem Symbolgehalt des Duftes beigemessen wird. Dieses Waka und jenes von Ōshikōchi no Mitsune basieren auf gleichen Gestaltungsprinzipien. Wie ich Ihnen schon erzählt habe, war es Sitte in der aristokratischen Gesellschaft der Heian-Epoche, die Töchter der guten Familien in völliger Abgeschlossenheit zu erziehen, streng überwacht von der Mutter oder der Amme. Ein verliebter junger Mann war daher gezwungen, die »Verteidigungslinien« der älteren Frauen zu durchbrechen, wenn er das Parfüm des jungen Mädchens riechen wollte, nach dem er sich sehnte. Solche Bedingungen beeinflußten natürlich die Liebesdichtung. In den allermeisten Fällen konnte ein Verliebter seine Gefühle nie offen gestehen. In den Waka verstand er sie zu maskieren; hinter Jahreszeiten- oder auch andern Themen konnte er sie diskret durchschimmern lassen. Von daher 96
rührt die Verallgemeinerung der poetischen Verschleierungstaktik. Diese Normen zeugen von den damaligen Moralbegriffen. Die Brautwerbung und die Hochzeitsbräuche unterschieden sich wesentlich von den unsrigen. In der Adelsgesellschaft lebten die Paare nicht unter dem gleichen Dach; es war üblich, daß der Mann erst nach Einbruch der Nacht seine Gattin besuchte und im frühen Morgengrauen in seine Wohnstätte zurückkehrte. Öfters sogar verheimlichten die Männer und die Frauen ihre Verbindung. In einer solchen Lebenswelt hielten es Verliebte für das Klügste, ihre Beziehung vor Dritten zu verbergen und nur der geliebten Person in verschlüsselten Worten ihre Herzenswünsche zu gestehen. Und dies sind nicht etwa Ausnahmefälle, sondern beinahe die Regel. Im Genji-Roman beispielsweise finden sich zahlreiche Schilderungen geheimgehaltener Verbindungen zwischen Mann und Frau. Man versteht es daher ohne weiteres, wie sehr der Austausch von Gedichten den Verliebten am Herzen lag. Das ist der Grund, warum die Technik des sōmon ein fundamentales Element der Waka-Poetik ist. Die Verliebten suchten natürlich ihre Ausdrucksmittel mehr und mehr zu verfeinern, um den Hindernissen Paroli zu bieten. Dazu gehört, wie ich meine, die Verschleierung oder sogar Unterdrückung des Subjekts. Dazu gehört ebenfalls die indirekte Darstellung von Tatsachen, die Geschicklichkeit, Gedanken in Bildern und Anspielungen in mannigfaltiger Schattierung auszudrücken. Die Täuschung war oft so perfekt, daß Liebesgedichte ausschließlich als Naturlyrik verstanden wurden, in der die vier Jahreszeiten gepriesen werden. Das Eigentliche dieser Waka, den tieferen Sinn, den vermochte allein die geliebte Person zu erfassen. Hier ist selbstverständlich anzumerken, daß es eine der 97
Eigenheiten des Japanischen ist, das Subjekt nicht direkt zu bezeichnen. Diese Sprachgewohnheit war in der Heian-Zeit stark verbreitet, in den meisten Sätzen fehlen die Personalpronomina. Formulierungen wie »Ich liebe dich«, wie sie uns in westlichen Idiomen vertraut sind, existierten nicht. Im klassischen Japanisch genügte das Präsens von »lieben« ohne weitere Angabe, denn die Aussage war definiert durch die Position des Verbs innerhalb des Kontextes. Mit bedeutungs- und nuancenreichen Wörtern lassen sich auf einfache Weise äußerst knappe japanische Sätze bilden. Der Sprachgebrauch entwickelte denn auch einen großen Reichtum an Andeutungen. Auf der andern Seite kann man, je nach Standpunkt, die rigorose formale Reduktion als Mangel auffassen; ich denke im Speziellen an das Fehlen oder die Verschwommenheit des Subjekts. Mir scheint, diese Besonderheit ist nicht bloß ein Merkmal der klassischen japanischen Poesie, sondern es ist ein Grundzug, der ebenfalls der modernen Dichtung und Prosa eignet. Das vage definierte Subjekt gehört offensichtlich zur Vorstellung, die sich Japaner von ihrer Sprache machen. Dieses Faktum wird mir klar bewußt beim Lesen meiner ins Französische übersetzten Gedichte. * Man weiß, daß die Regeln der Grammatik das Wesen, den Geist eines Volkes widerspiegeln, das diese Sprache spricht. Das Charakteristikum des Japanischen, die ungenaue Subjektangabe im Satz, was allerdings im Gespräch selten als Hindernis empfunden wird, führt uns zu folgender Überlegung: Der vage sprachliche Ausdruck beweist, daß das japanische Volk keine bestimmte Vorstellung hat von dem, was man gemeinhin unter Subjekt versteht. 98
Diese Eigenart verursacht uns selbst heute noch Probleme. Nach meiner Ansicht ist dies einer der Gründe, warum, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Japaner in diplomatischen Debatten sehr ungeschickt sind und jede Diskussion instinktiv zu vermeiden suchen. Es scheint, daß der Begriff des sprechenden Subjekts, die klare Unterscheidung zwischen sich und den andern, die Betonung der eigenen Individualität, kurz all das, was die Lebensart strukturiert, sich im japanischen Idiom nicht habe entwickeln können. Dies ist aber auch die Ursache des sensiblen Sprachempfindens der Japaner. Ohne Zweifel ist es die Dichtkunst, in der sich das Sprachgefühl und die Kultur eines ganzen Volkes manifestieren. Zusammenfassend kann man sagen, daß in Japan die linguistischen Besonderheiten, auf die ich Sie hingewiesen habe, sich am prägnantesten, am konzentriertesten im Waka zeigen und ganz speziell im weiten Feld der Liebeslyrik. Man muß sich immer vor Augen halten: Diese Gedichte waren gleichzeitig auch Landschafts- und Naturdichtung. Und genau in dieser Eigenheit, die sich bestimmt in keinem andern Land der Welt findet, liegt ihre Originalität. Unter einem erweiterten Aspekt hatte die Landschaftsdichtung, die die Naturschönheiten preist, im Alten Japan die gleiche Funktion wie die Liebeslyrik: Im Man’yōshū oder im Kokinshū, den ältesten, den grundlegenden Waka-Anthologien, läßt sich diese Beziehung klar feststellen. Die Verschmelzung von Schilderung und rein poetischen Elementen zeigt sich im Waka ungefähr seit dem 7. Jahrhundert und vermindert sich nicht während der ganzen HeianEpoche bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. *
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Gegen Ende des 13. oder anfangs des 14. Jahrhunderts, das heißt gut hundert Jahre nach dem Beginn der KamakuraEpoche, in der die Kriegerkaste an der Macht war, blühte eine neue Art Naturdichtung. Diese Landschaftsdichter möchte man eigentlich als Vorläufer der Impressionisten des 19. Jahrhunderts betrachten. Mit größter Sensibilität reagieren sie auf Farbe und Licht. Meisterhaft gelingt es ihnen, die feinsten Übergänge von Licht und Schatten wiederzugeben, im Wechsel atmosphärischer Stimmungen den Lauf der Jahreszeiten anzudeuten. Ihre Gedichte sind aufgehoben in den zwei kaiserlichen Sammlungen, dem Gyokuyō wakashū (Die schönsten Blüten des Waka) und dem Fūga wakashū (Sammlung eleganter und raffinierter Waka). Zu den berühmtesten Landschaftsdichtern gehören Kyōgoku Tamekane, auch unter dem Namen Fujiwara no Tamekane bekannt, und der Kaiser Fushimi und seine Gemahlin Eifuku Mon’in. So lebendig sind ihre Naturbeschreibungen, daß man während des Lesens das Licht und die Luft auf der eigenen Haut zu spüren glaubt. In der HeianEpoche waren die Naturgedichte Ausdruck der Innenwelt des Autors, sie waren stark geprägt von der Subjektivität des Künstlers. In den poetischen Schilderungen, von denen ich jetzt spreche, weht gleichsam ein Sturmwind, ein Wind aus einer neuen Epoche. Anders formuliert: Alle Werke zeugen vom Objektivismus der Autoren. Es handelt sich jetzt nicht mehr darum, in einem Naturgeschehen seine Subjektivität zu reflektieren, sondern unvoreingenommen, quasi mit dem Objektiv eines Fotoapparates, die äußere Wirklichkeit wahrzunehmen, um jeden Moment, jeden Aspekt des unablässigen Wandels in der Natur festzuhalten. Die heianzeitliche Muße war vorbei. Vorbei die Zeit, in der die Dichter, eingeschlossen in der Muschel ihrer Subjektivität, sich in einem Lyrismus wiegten, in dem Subjekt und Ob100
jekt sich kaum unterschieden. Kaiser und Adlige, hin und hergerissen von den heftigen Erschütterungen einer neuen Epoche, mußten die Augen öffnen und sich ihrer veränderten Lage bewußt werden. Diese Lebenshaltung hat einen bestimmenden Einfluß auf das künstlerische Schaffen; packend, voller Verve besingen die Dichter die Natur. Hier ein Gedicht von Kaiser Fushimi: Im Abenddämmer den Wolkenrändern entlang ein Wetterleuchten Es ist der Herbstblitz der über die Bergflanken zuckt Unablässig funkelnd, von da nach dort springt der Blitz. Wir lesen das Waka und fühlen es nach, wie fasziniert der Dichter war von den Bewegungen und Veränderungen im gewittrigen Lichtschein; dermaßen versunken ist er in das Schauspiel, daß er nicht die Muße findet, seinen subjektiven Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Geht wohl der Mond auf? Der Sternenglanz erscheint auf einmal verändert Kühl weht der Wind unter dem dunklen Abendhimmel Auch dies ist ein Gedicht von Kaiser Fushimi. Die Stimmung des Autors ist dieselbe wie im ersten Waka. Im Augenblick, da der Dichter leise vor sich hinspricht: »Geht wohl der Mond auf?«, vibriert seine hohe Empfindsamkeit und nimmt im abendlichen Himmel die feinsten Lichtvariationen des Sternenglanzes wahr. Es scheint mir sehr beachtenswert, daß die am Ende der 101
Kamakura-Epoche verfaßten Waka, im Gegensatz zur Dichtung der Heian-Zeit, keiner Umschreibung bedürfen. Jedes Wort hat nur eine einzige Bedeutung, und es ist überflüssig, einen verborgenen andern Sinn dahinter zu suchen. Das hängt selbstverständlich mit der Einstellung der Dichter selbst zusammen, für die eine Landschaft nichts anderes als eine Landschaft war. In dieser Hinsicht künden ihre Waka schon die realistische Landschaftsdichtung an, die sich in der Neuzeit entwickeln wird. Die Gedichte, die in den kaiserlichen Anthologien Gyokuyō shū und Fūga shū gesammelt sind, sind zwar vor mehr als fünfhundert Jahren geschrieben worden, doch uns Japanern erscheinen sie so nahe, so vertraut, daß wir uns kaum des Zeitabstandes bewußt werden. Die Erklärung dieser Tatsache liegt natürlich darin: Das Waka evoziert nicht dunkle und verborgene seelische Regungen des Dichters, sondern es hält objektiv, mit fotografischer Genauigkeit Landschaftsbilder und Naturerscheinungen fest. Keine Spur mehr von der verschatteten Innerlichkeit, wo Objektivität und Subjektivität verschmelzen zu einer fast körpersinnlichen Intimität. Es ist der luzide, wache Gesichtssinn, der dominiert. Ich möchte Ihnen noch zwei Waka von Eifuku Mon’in, der Gemahlin des Kaisers Fushimi vorlesen. Sie war eine große Dichterin des Mittelalters und nimmt genau wie Shikishi Naishinnō am Ende der Heian-Epoche einen unbestrittenen Platz in der Geschichte der japanischen Dichtung ein. Eifuku Mon’in, deren Vater ein großer Staatsmann des Fujiwara-Clans war, lebte wie Shikishi in einer Zeit ständiger Unruhe. Kurz nachdem ihr Gatte, der Kaiser Fushimi, abgedankt hatte, begann die sogenannte Epoche »Nördlicher Hof und Südlicher Hof«. Der Kaiserhof war gespalten in zwei rivalisierende Parteien, die während beinahe sechzigJahren sich um die Macht stritten. In ihrem Leben hatte Eifuku Mon’in den Tod mehrerer Familienmitglieder zu beklagen, und ihre Weltanschau102
ung war durchdrungen von einem tiefen Gefühl der Unbeständigkeit aller Dinge. Die Dichterin erreichte ein Alter von zweiundsiebzig Jahren, ein verehrungswürdiges Alter in jener Zeit. Von Jugend aufschrieb sie Waka, geprägt von ernster, heiterer Ruhe, die in Filigranzeichnung ein himmlisches Licht erahnen lassen. Auf den Hahnenschrei Am Fuße des Berges zeigt sich die Morgenröte und die Farbnuancen der Kirschblüten werden erkennbar In diesem Waka genau wie in jenen des Kaisers Fushimi verwandelt sich die Autorin gleichsam in ein weites Blickfeld, das die winzigsten Veränderungen in der Umwelt unmittelbar registriert. Oder anders ausgedrückt: die Individualität der Dichterin verblaßt beinahe, indem sie sich rückhaltlos auf ihren klaren Blick konzentriert. Das Verschwinden des Subjekts, wie es schon in den Liebesgedichten zu bemerken ist, ist hier sehr, sehr weit getrieben. Hier noch ein anderes Gedicht dieser Dichterin. (Beachten Sie, daß »hagi« oder »lespedeza«, zu deutsch »Buschklee«, eine der sieben Pflanzen ist, die in Japan typisch sind für den Herbst.) Vom Buschklee fallen die Blätter im Garten der Herbswind dringt unter die Haut und der Schein der Abendsonne vergeht in der Wand
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Die Formulierung »Vergeht in der Wand« ist befremdlich. Ein Naturvorgang ist hier geschildert: Die Strahlen der untergehenden Sonne werden schwächer und schwächer auf der Wand, verschwinden gänzlich. In der ungewohnten Formulierung kann aber auch die Bedeutung liegen, daß die Abendsonnenstrahlen allmählich hinein ins Innere der Wand fließen. Daß Licht auf diese Weise in einen festen Körper eindringt, ist natürlich unmöglich, doch hier, im Zeitraum eines Gedichtes, wird es möglich. Außerdem ist stets folgendes zu bedenken: Die Sinneswahrnehmung shimiiru, die je nachdem mit »sich infiltrieren«, »sich einschmiegen«, »hineinfließen« zu übersetzen ist, hatte in der japanischen Poesie seit jeher eine wichtige Bedeutung, als ob sie tatsächlich die Quintessenz aller Reflexe des Tastsinns enthalte. Für das ästhetische Empfinden der Japaner spielt der Tastsinn, wie gesagt, eine große Rolle. Diese Besonderheit zeigt sich in einem Haiku von Matsuo Bashō aus dem Oku no hosomichi (»Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland«). Es handelt sich um ein Gedicht, das allen Liebhabern dieses Poeten bekannt ist. Stille …! Tief bohrt sich in den Fels Das Sirren der Zikaden … (Übers. von G. S. Dombrady)* Hier haben Sie noch einmal ein Beispiel, das aufs beste illustriert, was ich oben dargelegt habe, nämlich einen Infiltrationsvorgang, der physikalisch unmöglich ist, in der poetischen Wirklichkeit hingegen seinen Sinn hat. Im Hochsommer, in der Umgebung des Yamadera, eines Bergtempels, verborgen in den Bäumen und eingeschlossen in seltsam geformtes Felsgestein, da zirpen ohne Unterlaß die Zikaden; stärker und stärker schwillt das Sirren an, bohrt sich 104
ins harte Gestein. Die Vorstellung des Felsens, in den das Zikadensirren eindringt, offenbart eine authentische Sensibilität, die jede Wahrnehmung, jedes, auch das außergewöhnlichste Naturphänomen in begrenzter dichterischer Form wiedergeben kann. Es herrscht eine Stille von absoluter Reinheit. Bashō konzentriert sich, nimmt die Stille in sich hinein, der Akt des Hörens und die Konzentration auf sich selbst werden eins. Der Dichter schwebt in einer Sphäre jenseits der Rationalität, dort, wo es unwichtig ist zu wissen, was man hört. Wie läßt sich dieser innere Raum definieren, der offensichtlich ein Widerspruch in sich selbst ist? Es ist eine total losgelöste, allem enthobene Konzentration, es ist die Sphäre der Meditation. Bestimmt gibt es im geistigen Bereich eine Zone, wo Konzentration und Gelöstheit, keineswegs unvereinbar, sich ineinander spiegeln, quasi in einer Doppelreflexion. Und einstmals genau wie heutzutage haben die Dichter den dichterischen Atem in ihrem eigenen Innern gefunden. Nicht anders als Bashō erlebte dreihundert Jahre früher auch Eifuku Mon’in solch innere Gelöstheit. In meditativer Gelassenheit beobachtete sie eines Tages den Widerschein des Sonnenuntergangs auf einer Mauer, und sie sah, wie die Strahlen in die Mauer eindrangen, so wie der Haiku-Meister das Sirren der Zikaden in den Fels eindringen hörte. * Mit den folgenden Bemerkungen schließe ich die Folge der vier Vorlesungen über japanische Dichtung ab. Die heutige Vorlesung steht unter dem Titel: »Die Landschaftspoesie« oder »Warum ist die japanische Landschaftspoesie so verhalten in ihrem subjektiven Ausdruck?« 105
Warum dieser Titel? Aus Gründen des Vergleichs mit der westlichen Poetik. Diese betrachtet die drei Kategorien Epik, Lyrik, Dramatik seit je als eine selbstverständliche Klassifikation. Auch die Japaner haben widerspruchslos diese Klassifikation übernommen, und die Studenten bedienen sich ihrer während des Literaturgeschichtsstudiums, ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen. Dessen ungeachtet gibt es in der älteren japanischen Literatur zahlreiche Gedichte, die sich in keine der drei Kategorien fügen, auch nicht in das Genre der »Landschaftspoesie« oder allgemeiner der »Naturlyrik«. In meiner Vorlesung ging es mir darum, Ihnen klar zu zeigen, wie von der Frühzeit bis zur Gegenwart innerhalb aller Stilrichtungen die Landschaftsdichtung oder die Naturlyrik von zentraler Bedeutung waren. Ich habe absichtlich betont, daß in den beiden Genres die vorgetäuschte Objektivität der Naturschilderung ein poetisches Gestaltungsmittel ist. Ich wollte Sie darauf hinweisen, wie in diesem Paradox die interessantesten, aber auch am schwierigsten zu erfassenden Aspekte zu entdecken sind. Als versteckte Liebeslieder sind die Landschafts- und Naturgedichte das kostbarste Erbe der alten Waka-Dichtung. Als Wege zu einem Innenraum der Meditation und der Abgehobenheit zeugen das mittelalterliche Waka und das edozeitliche Haiku vom edlen Geist der Tradition. In der einen wie in der andern Epoche erscheinen genaue Konturen in Natur und Landschaft kunstvoll verwischt. Auffällig ist, wie unter den Sinneswahrnehmungen einige besonders wichtig sind, nämlich der Tastsinn, der Geschmack und der Geruchsinn. Es sind dies die Sinne, die weit stärker an den Instinkt gebunden sind als das Sehen und das Hören. Ich möchte Ihnen noch einmal ein Beispiel zitieren, ein Waka von Ōshikōchi no Mitsune, dem heianzeitlichen Dichter: 106
Versteckt im Dunkeln durchbricht das Wasser die Felsspalte nimmt seinen Lauf Selbst seine Stimme ist von Blütenduft durchdrungen In der Dunkelheit sucht sich das Wasser einen Weg zwischen dem Gestein: Die Szene spielt mit den feinsten Tastempfindungen. Um derart subtil auf das Geräusch des Wassers, das im Fließen den Blumenduft annimmt, zu reagieren, verbinden sich Aug, Ohr und Geschmackssinn, sogar in einem unmerklichen Grade. Eine imaginative Welt entsteht, die alle Sinneswahrnehmungen vereint. Mitsune, ein japanischer Dichter des 10. Jahrhunderts, hat hier wahrhaftig längst vor Baudelaire Sinneseindrücke kombiniert, die den »Correspondances« gleichkommen. In der klassischen japanischen Dichtung ist er in dieser Beziehung keineswegs ein Sonderfall. Die klassischen Dichter Japans haben, wie aus den Beispielen ersichtlich ist, schon sehr früh eine Sprachkultur gepflegt, die zur Verfeinerung, ja zu ästhetischer Dekadenz tendiert. In anderer Hinsicht jedoch, mit seltenen Ausnahmen wie Fujiwara no Teika, waren sie unfähig, deutlich zu scheiden zwischen sich und den andern und in ihrem Anderssein die eigene Individualität zu entdecken, und daher verstanden sie es auch nicht, Rivalität und Auseinandersetzung als etwas Natürliches zu betrachten. Daß sich Fujiwara no Teika die Zeit nicht mit Diskutieren vertrieb, versteht sich von selbst. Diese allgemeinen Grundzüge japanischer Mentalität haben sich im Gang der Geschichte wohl etwas modifiziert. Wesentliche Veränderungen haben seit wenig mehr als einem Jahrhundert stattgefunden, beim Anbruch der Moderne. Im Laufe der Modernisierung haben die Japaner westliche Denk107
Vorstellungen übernommen, die Individualismus und Selbstbehauptung nicht in Frage stellen. Und trotzdem, um noch einmal auf die Poesie zurückzukommen, ist nicht zu leugnen, daß der poetische Ausdruck und Gehalt, der schon vor mehr als tausend Jahren ein so hohes Niveau erreicht hatte, noch heute unsern Sprachsinn prägt. Persönlich bin ich der Meinung, daß die Landschaftsdichtung wie die Naturlyrik, die ich ja nur gestreift habe, als Gattung nichts von ihrer Lebendigkeit verloren haben und selbst in der Gegenwart eine Verhaltenheit in der Betonung des Ichs bewirken. Und nun möchte ich dem Collège de France noch einmal danken für das große Privileg, vor Ihnen, verehrte Hörerschaft, ein Thema zu behandeln, über das im Westen noch wenig bekannt ist. Das war für mich als zeitgenössischen japanischen Dichter die Herausforderung, die bruchstückhaften Überlegungen, die ich im Laufe der Jahre gemacht habe, in einer Synthese zu verarbeiten.
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V Das japanische Volkslied des Mittelalters Ryōjin hishō und Kangin shū
Wer sich mit japanischer Dichtung beschäftigt, widmet seine größte Aufmerksamkeit gewöhnlich den waka und den haikai (oder, gemäß der Terminologie seit Ende des letzten Jahrhunderts, den Tanka und den Haiku) und ebenfalls der modernen freien Verskunst. Viele Japaner unseres Jahrhunderts halten nur diese drei Gattungen für die Grundsubstanz unserer Poesie. Jahrhundertelang, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, hätte eine derart naive, beschränkte, realitätsferne Literaturbetrachtung zweifellos bloß ein schwaches Interesse geweckt. Nach der Ansicht aller Gesellschaftsschichten, sowohl der Aristokratie wie der Kriegerkaste als auch der der buddhistischen Mönche und des Volkes, lag der Hauptakzent auf einer poetischen Form, dem kanshi, das unter dem Einfluß der chinesischen Dichtung entwickelt wurde. Das kanshi galt, selbst unter japanischen Intellektuellen, als das geeignetste lyrische Ausdrucksmittel. Als kanshi wurden nicht nur von Chinesen geschriebene Gedichte bezeichnet, sondern ganz speziell auch solche, die Japaner in chinesischem Stil verfaßten. Das eindeutige Merkmal des kanshi liegt darin, daß die Texte durchwegs in chinesischen Schriftzeichen, den kanji, geschrieben sind, und daß die Verskunst sich strikt an die Regeln der kontinentalen Dichtung hält. Anders gesagt: das kanshi ist die von Japanern verfaßte Dichtung, die sich nicht der zwei Silbenschriften bedient, die um das 8. Jahrhundert aus der chinesischen Schrift entwickelt wurden, der hiragana und der katakana. Und es sei 109
noch einmal wiederholt: die beiden Silbenschriften sind nicht nur das praktischste, sondern das eigentlich adäquate Mittel, die ganze Geschmeidigkeit der gesprochenen japanischen Sprache wiederzugeben. Und dennoch, die Lyrikform des kanshi, in einer wesentlich künstlichen Sprache, dem klassischen Sinojapanisch, ist ohne Unterbrechung während mehr als tausend Jahren gepflegt worden, bis zum Beginn der Modernisierung Japans, sogar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Eine erstaunliche Tatsache. Doch darüber will ich jetzt keine weiteren Worte mehr verlieren, sondern mich einem andern Thema zuwenden und Ihnen eine Gattung vorstellen, die sich außerhalb des kanshi, des waka und des haikai entwickelt hat. Es ist dies eine eigenständige Form, die in der Geschichte der japanischen Dichtung einen wichtigen Platz einnimmt, nämlich das kayō, die Gesangsdichtung, das heißt das traditionelle Volkslied. Rhythmus und Melodie sind gegeben, und in gewissen Fällen ist auch die instrumentale Begleitung festgelegt. Der Liedvortrag war oft verbunden mit Gestik und Tanz, und daher lag es in der Natur des kayō, daß zur Transkription des Textes eine Schrift unabdingbar war, die das gesprochene Japanisch wiedergab. Das erforderte selbstverständlich eine auf den kana basierende Notation, einen Schreibstil, der sich von jenem der chinesischen Gedichte wesentlich unterscheidet. Wenn einerseits der Akt des Singens strikt gewisse Regeln zu befolgen hat, so bietet er anderseits auch die Möglichkeit, formal und inhaltlich die gegebenen Regeln zu überschreiten und völlig frei, außerhalb des fixierten Rahmens, etwas Neues zu gestalten. Es ist also keineswegs erstaunlich, daß das japanische Volkslied im Lauf seiner langen Geschichte eine äußerst fruchtbare Entwicklung zeigt. Das kanshi kennt seit seinen Ursprüngen eine Reihe großer Dichter wie Sugawara no Michizane. Danach, während der tausendjährigen Geschichte, haben sich in jeder Epoche be110
rühmte Persönlichkeiten in dieser Gedichtform profiliert. Eine Reihe buddhistischer Mönche, Konfuzianer, Gelehrte, aber auch Maler und andere Künstler, selbst Krieger, Politiker, Revolutionäre und sogar etliche Frauen haben kanshi verfaßt. Die Dichter der meisten Volkslieder kennt man allerdings nicht. Die Anonymität des kayō ist eines der wichtigsten Kriterien, wodurch es sich vom kanshi, vom waka und vom haikai unterscheidet. Nach meiner Meinung liegt genau in dieser Anonymität die Erklärung, warum es von der neueren Literaturgeschichte ungerechterweise unterschätzt wurde. Tatsächlich hatten in der Moderne und speziell in der Literatur der Moderne in Japan Kunstwerke durch Individualität und Originalität zu glänzen. Das bedeutet, daß sich geniale Kreativität eher in der Skizze manifestiert als im vollendeten Werk, eher im Keim sich zeigt als in der Reife, eher in der Absicht als im Resultat. So lauten die Forderungen derjapanischen Romantik. Die Namenlosigkeit der Folklore war demnach veraltet; das Volkslied galt als Synonym für Tilgung der Individualität und der blühenden Phantasie; das waren lauter Eigenschaften, die die Entwicklung eines wahren Selbstbewußtseins hemmten. Unter solchen Voraussetzungen konnte das Volkslied nicht Gegenstand einer ernsthaften und methodischen Untersuchung werden. In der Überschätzung der Individualität und Originalität liegt die Grenze des neuzeitlichen japanischen Geschichtsbegriffes; denn sie verhindert, den großen Reichtum auszuschöpfen, den das namenlose Lied besitzt. Dies ist in gewissem Sinne eine unvermeidliche Verzerrung, die mit der Modernisierung unseres Landes im 19. Jahrhundert zusammenhängt. Es ging damals darum, in einer unglaublich kurzen Zeitspanne in vielen Bereichen das Niveau zu erreichen, für das der Westen Jahrhunderte gebraucht hatte. Aber es ist nicht zu 111
leugnen: Im literarischen und künstlerischen Bereich sind Brüche und Leerstellen entstanden zwischen der traditionellen Kultur und der Moderne und den daraus erwachsenen Strömungen. Die Tatsache, daß in Japan das Volkslied in der Literaturforschung ungerechterweise seit einem Jahrhundert vernachlässigt worden ist, liefert uns wertvolle Anhaltspunkte zur Beurteilung dessen, was die moderne japanische Literatur in ihrer Gesamtheit erstrebt und erreicht hat. Ich zumindest halte es gerade in dieser Beziehung für wichtig, dem Volkslied, wie es uns unter anderem in den Sammlungen Ryōjin hishū und Kangin shū entgegentritt, wieder den ihm gebührenden Platz zuzuweisen. Offenbar gibt es noch einen weiteren Grund, der das mangelnde Interesse am Volkslied in der Moderne erklären könnte: Die Autoren dieser populären Kunst entstammten mehrheitlich den unteren Gesellschaftsschichten. Einen wichtigen Platz unter den anonymen Autoren nehmen die Freudenmädchen ein, die ihren Körper dem Erstbesten feilboten; im weiteren gehören natürlich auch die Gaukler und vor allem die kairaishi oder Puppenspieler dazu – alles Leute der niedersten Klasse. Dessen ungeachtet gab es unter ihnen sehr viele erstaunlich talentierte Sänger und Musiker, was in andern Kreisen auch anerkannt wurde. Angehörige der Kriegerkaste oder des Hofadels, selbst Kaiser schätzten und bewunderten ihre Kunst, gelegentlich empfingen sie sie sogar in ihrer Residenz und betrachteten sie als ihre Meister. Kurz und gut, aus den verschiedenen Aspekten, die ich hier aufgezählt habe, ist ersichtlich, daß die vielen Komponenten der alten Volksliedkunst nicht nach dem Maßstab beurteilt werden können, der in der modernen städtischen Kultur gültig ist. Der Modernismus, der dem Individuum, dem Ich, den allerhöchsten Rang zuweist, vermag für die Folklore kein brauchbares Beurteilungskriterium zu entwickeln; denn 112
es liegt in der Natur des Volksliedes, Individualität und soziale Hierarchie außer Acht zu lassen. Sobald wir die Texte genauer betrachten, wird uns klar: Je nach dem Zeitpunkt, je nach dem Ort, wann oder wo sie vorgetragen wurden, konnten sie variiert werden. Der Sänger war frei, Verse teilweise zu verändern oder auf der ursprünglichen Basis einen neuen Text zu dichten; oft wurde der Improvisator gelobt, selten gerügt. Diese Unbekümmertheit im Umgang mit dem Text scheint sich über den modernen Standpunkt lustig zu machen, wonach ein Text in einer einzigen Version identifizierbar sein müsse und damit auch die Rechte des Autors respektiere. Diese Bedingungen kennt das Volkslied nicht, und eben darin liegt seine offensichtliche Besonderheit. * Höchstwahrscheinlich haben Sprache und Volkslied denselben Ursprung, sind also viel, viel älter als die Schrift. An vorgeschichtlichen Zeugnissen mangelt es in Japan nicht; in Ausgrabungen fanden sich unter den haniwa, den archaischen Tonfiguren, Statuetten, die zu tanzen und zu singen scheinen mit Musikbegleitung, das heißt im Rhythmus von Trommelschlägen. Wir gehen nicht fehl, wenn wir uns vorstellen, daß schon in Urzeiten das Volkslied untrennbar mit den täglichen Verrichtungen und mit religiösen Riten verbunden war. Man entdeckt immer wieder die Spur von Liedern, die gesungen wurden, lange bevor es eine Schrift gab. Auskunft darüber bieten die ältesten historischen Dokumente unseres Landes, das Kojiki (Aufzeichnungen der Begebenheiten aus alten Zeiten) und das Nihon shoki (Japan-Annalen), beide verfaßt anfangs des 8. Jahrhunderts; außerdem aus derselben Epoche die Fudoki (Topographien – Aufzeichnungen über 113
Land und Sitten), worin die Geschichte, die Geographie und die Produkte verschiedener Provinzen beschrieben werden. Im Kojiki und im Nihon shoki, beide offizielle Versionen der japanischen Geschichte, sind gegen zweihundert alte Volkslieder verzeichnet. Recht viele darunter, Liebes- und Sterbelieder, sind so ausdrucksstark, daß sie uns selbst heute noch zutieftst bewegen. Das Volkslied, gesungen und verbunden mit Tanz und Gebärdenspiel, ist in allen Gesellschaftsschichten durch die Jahre hindurch lebendig geblieben. Aber im Gegensatz zum kanshi und zum waka, die immer hoch geschätzt, schriftlich festgehalten und aufgehoben wurden, sei es in den auf Befehl des Kaisers zusammengestellten Anthologien, sei es in persönlichen Sammlungen chinesischer oder japanischer Gedichte, ist das nur mündlich tradierte Volkslied gleichsam in alle Winde verweht worden. Einzig die zufällig verzeichneten Texte in den imperialen oder gouvernementalen Chroniken, dem Kojiki, dem Nihon shoki und den Fudoki, blieben glücklicherweise bis auf den heutigen Tag bewahrt. Alle übrigen, die kayō aus früheren Epochen, sind restlos verloren gegangen. Dann aber trat eines schönen Tages eine Persönlichkeit auf, die diese Situation beklagte und beschloß, eine Sammlung anzulegen, in der dem Volkslied ein großer Platz eingeräumt werden sollte. Dieser hervorragende Mann, eine leidenschaftliche Natur, ein hochtalentierter Sänger, ist niemand anders als der Kaiser Go-Shirakawa persönlich. Er bestieg den Thron während des Übergangs vom Altertum zum Mittelalter. Es war die Epoche, da die Clans der Minamoto und der Taira mit Waffengewalt die höchste Macht im Staat erstrebten. Das heißt, die Kriegerkaste verdrängte die Adelsgesellschaft der Fujiwara, die durch vier Jahrhunderte hindurch die Politik und das kulturelle Leben beherrscht hatte. Go-Shirakawa besaß, seinem Rang gemäß, politische Autorität und verstand sie klug zu nutzen. Nach kurzen drei Jah114
ren auf dem Thron trat er zu Gunsten seines ältesten Sohnes (Kaiser Nijō) zurück und hatte danach als Exilkaiser viel mehr Machtbefugnisse als alle Kaiser der neuen Zeit; sogar nachdem er sich entschlossen hatte, Mönch zu werden, verringerte sich sein Einfluß nicht. Die »Regierung des Ex-Kaisers« oder insei, die dem Herrscher nach der Abdankung noch große politische Macht gewährte, ist ein spezifischer Regierungsmodus am Ende des japanischen Altertums. Dieses System entwickelte sich speziell unter Shirakawa, Toba und Go-Shirakawa, welche, nachdem sie auf den Thron verzichtet hatten, sich fast absoluter Autorität erfreuten. Der Fall Go-Shirakawa ist bespielhaft. Während vierunddreißig Jahren (1158 –1192), unter fünf aufeinander folgenden Kaisern, übte Go-Shirakawa im Hintergrund die Macht aus. Unruhen und Umwälzungen erschütterten die politischen Verhältnisse am Ende der Heian-Epoche, und Go-Shirakawa mußte ständig lavieren und hinter den Kulissen agieren; denn gleichzeitig bekämpften sich gnadenlos die oben erwähnten drei Parteien: auf der einen Seite die Adligen der Fujiwara-Familien, auf der andern Seite die Kriegersippen der Minamoto und der Taira. Das Konspirationstalent des Tennō entwickelte sich in solch hohem Maße, daß der Oberste General des Minamoto-Clans, Yoritomo, verächtlich äußerte, Go-Shirakawa könne nur ein übernatürliches Wesen sein. Diese Persönlichkeit aber hatte noch ganz andere Züge: Der Kaiser war ein kenntnisreicher Liebhaber des Volksliedes. Und das Erstaunlichste ist: er selbst gehörte zu den besten Interpreten dieser Kunst. Ist das nicht ein wundersames Exempel der menschlichen Komödie, die sich die Geschichte manchmal zu spielen erlaubt? Go-Shirakawa war seit seiner Kindheit von einer wahren Leidenschaft erfüllt für die, wie man sie damals nannte, imayō uta oder gemeinhin imayō. Imayō bedeutet wörtlich: »Lieder 115
nach dem Geschmack des Tages«, also zeitgenössische Volkslieder. Unablässig entstanden neue mit den verschiedensten Melodien und Interpretationsmöglichkeiten, und alle diese Lieder, eines nach dem andern, wurden vergessen aus dem einzigen Grund, weil sie von niemandem aufgeschrieben wurden. Der Exkaiser fand die Situation äußerst bedauernswert und kam auf die Idee, eine große Sammlung an imayō anzulegen. Geeignete Personen seiner Untertanen beauftragte er, in jeder Provinz Japans die gesungenen imayō zu sammeln und aufzuzeichnen. Offensichtlich befahl er, nicht nur die Worte zu notieren, sondern auch viele Details, speziell die Interpretationsweise, das Besondere jeder Melodie und ebenfalls die Aufführungstechnik der instrumentalen Begleitung. Das ganze Unternehmen nahm Gestalt an in den zwanzig Bänden des Ryōjin hishō (Geheime Sammlung von Liedern, deren Schönheit den Staub von den Balken wegwischt). Vermutlich lag folgender Plan zugrunde: Die ersten zehn Bände sollten den Wortlaut der Lieder enthalten und die zehn letzten eine Art Führer sein für alle Einzelheiten der musikalischen Interpretation. Wenn ich sage »vermutlich«, so heißt das, daß vom ersten Band nur noch ein winziger Teil existiert. Der zweite Band ist vollständig erhalten und ebenfalls der komplette Text eines weiteren interessanten Bandes, den Go-Shirakawa selbst verfaßt hat und den man als eine Art Autobiographie verstehen kann. Es manifestiert sich darin, welch große Bedeutung die Volksliedkunst in seinem Leben hatte. Alles Übrige des einst Vorhandenen ist verschwunden. Ein paar Fragmente allerdings sind zufälligerweise am Anfang unseres Jahrhunderts, 1911, in Kyōto gefunden worden. Diese Entdeckung übte damals auf einige unserer besten Dichter und Schriftsteller einen großen, nachhaltigen Einfluß aus. Vorher, während fast achthundert Jahren, war die Anthologie zum Phantom geworden. 116
Gegenwärtig verfügen wir also ungefähr über fünfhundert Texte des Ryōjin hishō, was bestimmt nur ein minimer Teil des Gesamten ist. Aber diese Werke genügen, uns eine Ahnung zu vermitteln von dem außerordentlichen quantitativen und qualitativen Reichtum der gesungenen, getanzten und dargestellten Dichtung um die Mitte des 12. Jahrhunderts in Japan, das heißt in der Zeit, da die Sammlung angelegt worden ist. Die wertvollen Dokumente lassen uns erst recht bedauern, daß unzählige Lieder auf immer verloren sind. * Aus dem Ryōjin hishō werde ich Ihnen mehrere Werke vorstellen. Vorher jedoch möchte ich noch einige Worte über den Inhalt der Sammlung verlieren. Die Übersicht über die ersten zwei Bände zeigt klar, daß die Texte grosso modo nach religiösen und profanen Liedern klassifiziert werden können. Die religiösen Lieder teilen sich in zwei Kategorien, je nachdem ob sie verbunden sind mit dem Shintō, dem autochtonen japanischen Kult, oder mit dem Buddhismus, der in Japan seit dem 6. Jahrhundert auf politischem und kulturellem Gebiet großen Einfluß hatte. Im Bereich der Religion müssen wir auf einen spezifisch japanischen Sachverhalt hinweisen: Der Shintō ist nie, außer in sehr später Zeit aus ideologisch politischen Gründen, in Opposition zum Buddhismus gestanden, sondern tendierte rasch dazu, mit dem buddhistischen Gedankengut zu harmonisieren, sich mit ihm zu vereinen. Sogar in den Volksliedern zeigt sich oft ein religiöser Synkretismus. Im ganzen gesehen sind die vom Shintō geprägten Lieder in der Minderheit gegenüber den sehr eindrücklichen buddhistischen; vermutlich darum, weil diese die exotische An117
ziehung widerspiegeln, die die fremde Religion damals ausgeübt hat. Die große Zahl religiöser Lieder in der Anthologie hängt zweifellos auch damit zusammen, daß offenbar Go-Shirakawa selbst ein tief gläubiger Mensch war. Höchst interessant ist der letzte, der autobiographisch geprägte Band des Ryōjin hishō, in dem Go-Shirakawa, diese außergewöhnliche Kaiserpersönlichkeit, darlegt, welch strenger Disziplin er sich während eines halben Jahrhunderts unterworfen hat, um sich im imayō-Gesang zu vervollkommnen, dem er sich von Jugend auf leidenschaftlich gewidmet hatte. Einige Stellen lassen die Verehrung erahnen, die der Kaiser für eine ältere Sängerin der untersten Gesellschaftsschicht empfand und die er, wie es scheint, regelmäßig besuchte; er verehrte sie noch viel tiefer als seine Mutter, die Kaiserin. Über viele Seiten hinweg kommen sehr persönliche Ansichten über die Gesangskunst zum Ausdruck: Immer wieder betont er, daß die leidenschaftliche Hingabe an den imayō-Gesang, das unablässige Weiterschreiten auf diesem Weg nichts anderes sei als ein Akt inniger Andacht vor den Göttern und vor Buddha. Eine solche Überzeugung basiert auf der Idee, daß die Lieder mit Shintō- und mit buddhistischen Themen, in der Beschränkung einiger Verse die Lehre der guten Taten enthalten. Das inbrünstige Singen dieser Lieder kommt demnach der wiederholten Sutrenrezitation, also einem Gebet gleich. Bekanntlich war in jener Zeit das Hokkekyō (Lotus-Sutra) der am höchsten geachtete buddhistische Text in Japan. Dieser an prächtigen Beschreibungen des Reinen Landes reiche Text diente als Unterlage für mehr als hundertzehn Volkslieder. Unschwer sich vorzustellen, wie die Liebhaber der Volkskunst die Lieder als solche schätzten, darüber hinaus aber noch glaubten, durch ihren Gesang im Reiche Buddhas wiedergeboren zu werden, was ja ihr innigster Wunsch war. Im großen Kreis der Liebhaber gab es eine unbekannte Anzahl 118
Ungebildeter; sie hatten aber das Talent, im Liedvortrag den wahren Gehalt zum Ausdruck zu bringen. Mit der VolksliedAnthologie beabsichtigte Go-Shirakawa, den Gedanken zu verbreiten, Gesang und Glaube seien im Grunde dasselbe. Wir können dies als merkwürdige Variante des Optimismus betrachten. Diese Anschauung – ich meine die Neigung, Kunst und Geistigkeit zu verbinden – muß sich, wer immer sich mit japanischem Kunstverstand befassen will, stets vor Augen halten. Es ist tatsächlich so: Für alle Ausübenden der szenischen Künste – Musik, Tanz, Theater – und für alle Ausübenden der bildenden Kunst – Malerei, Plastik und speziell Keramik – ist die Idee, ernsthaftes künstlerisches Bemühen und wahre Glaubenssuche seien ein und dasselbe, noch heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Und mit der gleichen Überzeugung wie die Künstler unserer Tage widmete sich Go-Shirakawa ein halbes Jahrhundert lang dem imayō-Gesang. * Nach diesen Ausführungen werden vielleicht manche unter Ihnen überrascht sein vom Vokabular der Volkslieder, die ich als erste zitiere. Ich stelle Ihnen nämlich einige Werke vor, die ich aus der heitersten, buntesten Sparte des Ryōjin hishō ausgewählt habe, aus der weltlichen Sparte. Das Hauptmerkmal dieser Texte, deren Thema zumeist die leidenschaftliche Liebe ist, ist die vorbehaltlos positive Einstellung gegenüber der Sexualität. Keine Spur von religiösem Tabu oder gesellschaftlichem Druck. In dieser Hinsicht läßt sich zweifellos sagen, daß die Verve, die diese Lieder durchpulst, mit dem buddhistischen Gedanken der Askese nicht viel gemein hat. Diese Lieder sind inspiriert vom Shintō, in dem Lebenslust und körperliche Begierde als etwas Natürliches gelten. Solche Eindeu119
tigkeit im Gehalt ist ein Merkmal des Volksliedes, und Vergleichbares findet sich ebenfalls in einer gegen Ende des Mittelalters kompilierten Anthologie, dem Kangin shū, »Sammlung von Gedichten, in Mußestunden zu singen«, ein wichtiges Werk, das direkt mit dem Ryōjin hishō zusammenhängt. Ich zitiere daraus: Erblick ich die Schöne möcht ich zur Ranke werden, möcht sie umschlingen von den Wurzeln her bis zum äußersten Zweig. Selbst zerschnitten, zerhackt, bleib ich unzertrennlich, so ist’s mir bestimmt. Diese in Japan sehr berühmten Verse besingen, ohne Umschweife, mittels eines glänzenden Vergleichs, das Verlangen nach einer Frau, in die der Dichter sterblich verliebt ist. Und hier erscheint, wie so oft, mit beispielhafter Eindeutigkeit ein Charakteristikum der japanischen Liebesdichtung: die Tendenz, in aller Offenherzigkeit, mit offensichtlichem Vergnügen den gegenseitigen Hautkontakt zu preisen. Sooft der Mann die Schöne sieht, in die er so leidenschaftlich verliebt ist, sagt er sich: »Ah, ich möchte eine Schlingpflanze werden! Um den Körper meiner Angebeteten möchte ich mich winden von meiner Wurzel bis in die äußersten Spitzen meiner Ranken. Vergeblich würde man versuchen, mich durchzuschneiden, mich kleinzuhacken; so wie man Efeu nicht von den Bäumen losreißen kann, so kann man mich von ihr nicht trennen. Denn für immer um sie gewunden bleiben, das verdanke ich dem Karma meines früheren Lebens.« Das Lob unmittelbarer körperlicher Anziehungskraft, verbunden mit der Glorifizierung weltlicher Vergnügen, ist eine typische Eigenschaft zahlreicher japanischer Volkslieder. Sie unterscheiden sich dadurch grundsätzlich vom Waka, das in der Eleganz seiner Form aufs delikateste die verfeinerte 120
Ästhetik der aristokratischen Gesellschaft widerspiegelt. Die Folklore schöpft aus der Fülle der Themen, die sich das normgerechte Waka offiziell nie hätte erlauben können. Der entscheidende Grund dieser Differenz zwischen den beiden lyrischen Gattungen liegt fraglos in dem System, nach dem die imperialen Anthologien kompiliert wurden. Diese sind verbindlich für das Idealbild des Waka. In den Sammlungen, bei denen der Kaiser selbst beteiligt war, wurden selbstverständlich nur Waka aufgenommen, die sich durch Einfallsreichtum, Eleganz und Raffinesse auszeichneten, das heißt Werke, die beim Vortrag bei einer offiziellen Feier in keiner Weise die illustren Gäste hätten schockieren können. Augenscheinlich aber hat ein und dieselbe Person ihre zwei Seiten, ein offizielles Gesicht und ein privates; das private ist entspannter, offener, es ist das Antlitz eines Menschen, dem weder Begehrlichkeit noch gemeine Lüsternheit fremd sind. Das wahre Gesicht einer Person vereint alle diese Aspekte. In diesem Sinne läßt sich das Volkslied als ein Spiegel betrachten, der jede Facette des Menschenantlitzes wiedergibt. Des weiteren ist zu beachten, daß die Autoren und die Liebhaber des Volksliedes keineswegs einer bestimmten Gesellschaftsklasse angehören wie die Waka-Dichter, sondern aus allen Volksschichten stammen, und daraus erklärt sich auch der sehr freie Ausdruck dieser Kunstgattung. Die verschiedenen Komponenten, die ich eben erwähnte, treten im folgenden Text klar zutage: Aus dem Osten angekommen bin ich gestern habe keine Frau Dieses dunkelblaue Reiseköstüm das ich trage bitte schön tausche es mir für ein Mädchen!
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In der Heian-Epoche war Kyōto die Hauptstadt Japans. Das Lied bezieht sich auf die folgende Situation: Ein rüpelhafter Landbewohner aus den Ostprovinzen, die damals als barbarisch galten, ist soeben in der Hauptstadt angekommen, von der er so lange geträumt hat. Da packt ihn die Lust nach einer Frau, er begibt sich zu einem Besitzer oder einer Besitzerin eines Bordells, um den Preis einer Liebesstunde auszuhandeln. Doch er hat leider nicht genug Geld, das Freudenmädchen zu bezahlen, also bietet er dem Zuhälter sein höchstes Gut an: das Kleid, das er trägt, ein schönes Gewand, das er sich für die Reise geleistet hat, und bittet darum, es tauschen zu dürfen gegen eine Liebesnacht. Die doch irgendwie komische Szene illustriert mit voller Lebendigkeit einen Aspekt der damaligen Sitten. Man stelle sich vor, mit welchem Vergnügen sich französische Künstler im letzten Jahrhundert, Toulouse-Lautrec oder Daumier zum Beispiel, mit diesem Motiv beschäftigt hätten. Aber es ist noch viel amüsanter, sich zu fragen, was das für ein Mensch war, der ein solches Lied verfaßt hat. Ich persönlich glaube, als Autor komme nur eine der Prostituierten in Frage, die der Mann zu kaufen versuchte. Die Dirnen schauen und hören dem Handel in aller Heimlichkeit zu und lachen unter sich über die Ernsthaftigkeit, mit der der Provinzler den Bordellbesitzer zu überreden versucht. Sie mokieren sich über die Dummheit, für die Freuden einer Nacht das kostbare, für besondere Anlässe reservierte Gewand herzugeben. Und doch sind sie gerührt ob der Leidenschaftlichkeit dieses Mannes, der zu allem bereit ist, um eine von ihnen kaufen zu können; und zweifellos sind sie sogar stolz darauf. Sobald man sich den Hintergrund der Szene ausdenkt, fesselt einen das Liedchen auf eigenartige Weise. Den nächsten, sehr bekannten Text, den ich zitiere, hat vermutlich ebenfalls eine Prostituierte verfaßt; so lautet je122
denfalls die Hypothese von Professor Konishi Jin’ichi, und ich bin der gleichen Ansicht. Sind auch sie zum Spielen auf die Welt gekommen? Sind auch sie zum Scherzen auf die Welt gekommen? Hör ich die Stimmen der spielenden Kinder packt mich heftige Bewegung Liest man den Text auf der ersten Ebene, sieht man darin ganz einfach das Lied eines Erwachsenen, der dem heiteren Spielen der Kinder zuschaut, sich von ihrer Fröhlichkeit dermaßen anstecken läßt, daß sein Körper sich wiegend zu bewegen beginnt. Dazu bemerkt nun Professor Konishi folgendes: Die zwei Verben, »spielen« und »scherzen«, konnten im Alten Japan auch geschlechtliche Beziehungen zwischen Mann und Frau bedeuten. Aus solcher Perspektive erhält das Gedicht einen viel tieferen Sinn. Er nimmt an, die erwachsene Person in diesem Gedicht sei eine Prostituierte, die, derweil sie den spielenden kleinen Mädchen zuschaut, von tiefem Mitgefühl ergriffen wird beim Gedanken an die Zukunft dieser Kinder. Werden eines Tages nicht auch diese Mädchen genau wie sie selbst zu Dirnen erniedrigt? Erfüllt von unsäglichem Mitleid, kann sie sich des Schauderns nicht erwehren. In jener Epoche war Japans Bevölkerung von vielen Plagen bedroht, von Hungersnöten, Kriegen, Naturkatastrophen und so fort. Jedesmal in diesen Notzeiten verloren zahllose Menschen ihr Heim, lösten sich Familien auf, zerstreuten sich, und viele waren von heute auf morgen gezwungen, ein Vagabundenleben zu führen. Unter solchen Umständen verkauften Eltern ihre Töchter als Dirnen – eine grausame Situation, gewiß, aber nichts Außergewöhnliches. Das traurige Schicksal, das damals vielen Frauen beschieden war, ist die Kehrseite der Medaille. Doch es soll darob 123
nicht der andere Aspekt vergessen werden, ich meine das Aufblühen der Volkskunst in diesem Milieu. Zur Unterhaltungsbranche gehörten das Volkslied, der Tanz, die Instrumentalbegleitung; und es gab viele höchst talentierte Berufskünstlerinnen. Sie verkauften ihre Kunst genau so, wie sie ihren Körper feilboten. Einige unter ihnen wurden wegen ihrer Schönheit und ihrer künstlerischen Begabung zu Geliebten von Herren der obersten Gesellschaftsschicht, und durch die Heirat wurden sie in einen höheren Rang erhoben. Die sinnliche Ausstrahlung einer Frau war natürlich das Wichtigste, daraus erklärt sich auch die Häufigkeit sexueller Themen in den Gedichten, die sie selbst verfaßten oder die sie vortrugen. * Es ist leider äußerst schwierig, in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht, über die Volkslieder des Ryōjin hishō zu sprechen. Aber ich möchte Ihnen doch noch einen letzten Text dieser Sammlung präsentieren. Wahrlich wundersam der Buddha stets anwesend, gegenwärtig dennoch unsichtbar Nur in zarter Morgendämmrung ohne Menschenlaut zeigt er huldvoll sich in seiner flücht’gen Traumgestalt Dieses Werk, das sich klar von den soeben behandelten unterscheidet, gehört zu den religiösen Liedern des Ryōjin hishō. Es ist zweifellos das bekannteste der Sammlung. Vermutlich
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ist es deshalb so berühmt, weil ihm etwas Elegantes und Raffiniertes eignet, eine bezaubernde Schönheit, die mit buddhistischer Lehre als solcher nichts gemein hat: Es evoziert eine Atmosphäre, die an die besten Waka erinnert. Daß ein buddhistisches Lied, unabhängig jeglicher erhabener Doktrin, auf einer sekundären Ebene, der ästhetisch emotionalen, geschätzt wird, ist irgendwie paradox. Man mag dies als ein typisch japanisches Phänomen betrachten. Offensichtlich gründet dieses Lied auf zwei Voraussetzungen. Einerseits ist Buddha allgegenwärtig und gewährt uns gnädig seinen Schutz; er zeigt sich uns aber nie in leiblicher Gestalt und ist eben dadurch besonders verehrungswürdig. Anderseits, im frühen Morgengrauen, wenn die Menschen im Schlafe ruhen, hat Buddha die Güte, uns durch den Schleier des Traums und des Unterbewußtseins andeutungsweise seine Züge zu enthüllen. Und wie verehrungswürdig ist auch dies! Alles bleibt in diesem Lied Verschwommen jenseits eines Schleiers von Geheimnissen. Aber gerade darauf beruht in den Augen der Japaner der unvergleichliche Wert dieses Gedichts. Hier vereinigen sich harmonisch die raffinierte Gefühlssphäre des traditionellen Waka und die Welt des Buddhismus, ein Universum sublimer Geistigkeit, fern aller Unruhe und Befangenheit der Erdenwelt. * Ich wiederhole: das Ryōjin hishō wurde zu Beginn des japanischen Mittelalters zusammengestellt, das heißt in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Ungefähr dreihundertfünfzig Jahre danach erwachte ein lebhaftes Interesse an den späten mittelalterlichen Volksliedern, und eine neue Sammlung wurde angelegt, nämlich das Kangin shū, »Sammlung von Gedichten, in Mußestunden zu singen«. 125
Über den Kompilator dieser Anthologie gibt es bloß verschiedene Hypothesen; man weiß bis heute nichts Bestimmtes. Während der Lektüre des Werkes kann man sich allerdings leicht vorstellen, daß es sich um einen älteren Mann handelt, der in seinem Leben vieles erfahren hat und in Liebesdingen recht bewandert war. Darüber hinaus war er sicher eine Person mit viel Geschmack, ein Sachverständiger auf dem Gebiet des Waka und des renga, und zweifellos war er auch ein talentierter Musiker. Das Kangin shū ist, historisch gesehen, angelegt worden am Ende der Muromachi-Epoche, einer turbulenten Periode. Das Muromachi-Militärregime war in allen Provinzen von Bürgerkriegen geschwächt, rivalisierende Landesherren, Daimyō kämpften um die Vorherrschaft. Aus diesem Grunde werden die zirka hundert Jahre vom Ende des 15. Jahrhunderts bis Ende des 16. Jahrhunderts als »Zeitalter der kämpfenden Daimiate« bezeichnet. Der Ursprung des Muromachi-Shogunats datiert von 1336: Der General Ashikaga Takauji ging als Sieger aus den Kriegswirren hervor; er errichtete im Muromachi-Quartier in Kyōto eine neue Militärregierung und wurde erster Shōgun. In den folgenden zweihundertvierzig Jahren, bis 1573, waren fünfzehn Ashikaga an der Spitze der Regierung, bis der letzte von Oda Nobunaga, dem berühmten Helden aus dem Zeitalter der kämpfenden Daimiate, gestürzt wurde. Das Militärregime in Muromachi kannte also nur in den ersten hundert Jahren politische Stabilität, darauf folgte ein schrittweiser Verfall innerhalb von etwas mehr als hundert Jahren. Unablässig war es bedroht von neuen Kriegergenerationen, die in den Provinzen an die Macht kamen; das Regime gleicht einem Flugzeug, das immer wieder zum Landen ansetzt, doch nie den Boden streift und merkwürdigerweise auch nicht total zerschellt. Während dieser Epoche übte ein denkwürdiges Ereignis starken Einfluß aus auf alle Bereiche der Gesellschaft, näm126
lich der Krieg zwischen 1467 und 1477 in und um Kyōto. Die Armeen verschiedener Daimyō kämpften gegeneinander. Der Krieg ist bekannt unter dem Namen »Unruhen der Ōnin-Ära«. * Diese »Unruhen der Ōnin-Ära« bewiesen klar und eindeutig, daß das Muromachi-Regime hinfort völlig unfähig war, die zentrale Regierungsmacht auszuüben. Das hatte selbstverständlich ernste Konsequenzen, die weit über simple Wechselfälle in der Politik hinausgingen. Den Menschen aller Gesellschaftsklassen wurde bewußt, wie illusorisch das Prestige und die Autorität waren, die bis dahin geherrscht hatten. Es kam eine Zeit, in der sich die fixe Idee in den Köpfen festsetzte, der Untertan könne bedenkenlos seinen Herrn umbringen, das Kind könne seinen Vater ermorden und es gebe keine andere Überlebenschance, als Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Diese Lebensanschauung nannten die Leute damals ohne Umschweife gekokujō, wörtlich: Überwältigung der Oberen durch die Unteren. Das will heißen, die unteren Stände können mit List oder Gewalt sich der rechtmäßigen Stellung der Oberen bemächtigen. Genau in diesen Zeiten entwickelte sich eine neue Theaterkunst, das Kyōgen in Verbindung mit dem Nō. Die wichtigste und vom Publikum am meisten geschätzte Figur im Kyōgen ist Tarōkaja; er ist gleichsam die Inkarnation der Epoche. Meistens erscheint er als Diener; sein Witz, seine Schlauheit, seine Unerschütterlichkeit, seine schnurrigen Einfälle erlauben ihm, seinen Herrn auszustechen, welcher je nachdem ein Krieger, ein wohlhabender Kaufmann oder ein reicher Bauer ist, und so erreicht der Untergebene im Handumdrehen alles, was er will. Allein durch seine Persönlichkeit 127
hat Tarōkaja viel zum Erfolg der Kyōgen-Aufführungen beigetragen. Doch nicht bloß das Nō und das Kyōgen sind Charakteristika der Muromachi-Epoche. Während all dieser Jahre, in denen das Militärregime schwächer und schwächer wurde und die Hauptstadt Kyōto ihr Prestige verlor, nahm in den Provinzen die Macht der Daimyō immer mehr zu. Aufgrund dieser Tatsachen sah sich die Zentralregierung zu radikalen Veränderungen gezwungen. Ein Teil des Kaufmannsstandes, eine im Alten Japan und im Mittelalter verachtete Gesellschaftsschicht, erreicht dank des angehäuften Kapitals allmählich wesentlichen Einfluß, der viel bedeutender ist als jener der seit alters dominierenden Klassen der Aristokraten und Krieger oder auch der Bauern und Handwerker. Die Händler treten nun auch im kulturellen Bereich in den Vordergrund und spielen bald eine Rolle als neue Kunstförderer. * Hören Sie sich nun als erstes dies Lied aus dem Kangin shū an, ein kurzes Lied zwar, aber repräsentativ für die Sammlung. Was soll’s, was schaust du so finster? Das Leben ist nur ein Traum. Flipp einfach aus! Das Wort »kuruu«, hier übersetzt mit »ausflippen«, wurde in der damaligen Zeit in den verschiedensten Bedeutungen gebraucht; in literarischem oder künstlerischem Kontext hatte es einen ganz speziellen Sinn. Normalerweise bedeutete es: »den Kopf verlieren, sich seltsam betragen«, es konnte aber 128
auch heißen: »sich mit Herz und Seele ins Vergnügen stürzen« oder »sich verrenken und tanzen wie ein Besessener«. Kurzum, das Wort »kuruu« bezeichnet den Zustand eines Menschen, der alles um sich herum total vergißt und sich ausschließlich dem widmet, was ihn fasziniert. Konsequenterweise kann auch die Hingabe an die Dichtung, an die Kunst allgemein mit »kuruu« bezeichnet werden. Die Aufforderung des letzten Verses im obigen Text: »tada kurue« (»Flipp einfach aus!«) spielt auf den Geisteszustand an, von dem ich soeben gesprochen habe. Vordergründig scheint das Lied auf einfältige Art eine negative Lebensansicht auszudrücken. Nicht vergessen werden darf jedoch, daß es anläßlich der gehobenen Stimmung der Bankette gesungen wurde. Von der Idee der Unbeständigkeit im Vers »Das Leben ist nur ein Traum« gleitet man ohne Umschweife zum unbeschwerten »Flipp einfach aus!«, ich meine zu einer materialistischen Einstellung, zu einer weltlichen Vergnügungssucht. »Unbeständigkeit« ist zwar ein sehr häufiger Ausdruck im Kangin shū, doch das Interesse und die Begeisterung für Religion, sei es Buddhismus oder Shintō, finden sich in dieser Sammlung überhaupt nicht; in dieser Hinsicht unterscheidet es sich klar vom Ryōjin hishō, das dreihundert Jahre früher angelegt worden ist. Dieses mangelnde Interesse bezüglich der Religion zeigt sich ebenfalls ganz eindeutig in der bedingungslosen Verherrlichung physischer Begierde. * Ich bin ein Mann aus Tsuruwa im Lande Sanuki Ich hab einen Jungen aus Awa liebkost Was für Beine! was für ein Bauch! An Tsuruwa denk ich schon gar nicht mehr 129
»Sanuki« und »Awa« sind die alten Namen zweier Provinzen auf Shikoku, einer Insel im Westen des japanischen Archipels; jene entspricht der Präfektur Kagawa und diese, südlich davon, Tokushima. Der Mann in dem Lied ist in der Ortschaft Tsuruwa in der Provinz Sanuki geboren. Seinen Beruf kennt man nicht. Vermutlich war er in der Handelsschiffahrt tätig, in diesem Falle fuhr er möglicherweise auf einem Schiff nach Awa. Die beiden Provinzen waren zwar nicht weit entfernt voneinander, doch die geographischen Gegebenheiten erleichterten mitnichten den Verkehr. In Awa hat er also die Bekanntschaft eines Jünglings gemacht und mit ihm geschlafen. Und seither schwelgt er in solcher Wollust, wie sie im Vers »Was für Beine! was für ein Bauch!« zum Ausdruck kommt, so daß er alles vergißt, sogar alles, was zu seinem Leben in seinem Geburtsort gehört hat. Ohne Zweifel hat er in Tsuruwa eine Frau hinterlassen, die sich nach ihm sehnt. Aber für eine Weile wenigstens ist er völlig trunken vom Sinnenrausch der Homosexualität, die er erstmals in Awa erfahren hat. Die Ästhetik der imperialen Waka-Sammlungen hätte derartig direkte, derbe Ausdrücke wie »Was für Beine! was für ein Bauch!« niemals geduldet. Diese Unverblümtheit aber macht das Volkslied so besonders reizvoll. Es manifestiert sich hier zudem eine große berufliche und soziale Vielfalt, denn Autoren und Liebhaber der Lieder gehörten nahezu allen Bevölkerungsschichten an, ganz im Gegensatz zu jenen des orthodoxen Waka. Die rückhaltlose Bejahung der weltlichen Vergnügen, die Lobpreisung der Erotik, das sind die Leitmotive, die mal unterschwellig, mal offensichtlich die dreihundertelf Texte des Kangin-shū durchziehen. Das hängt damit zusammen, daß zwei Drittel der Sammlung Liebeslieder sind. Im übrigen sind auch Texte, die auf den ersten Blick Naturdichtungen sind, in Wahrheit oft verkappte Liebeslieder. 130
Oder anders gesagt: Die ausgesprochene Vorliebe für das breite Spektrum der menschlichen Beziehungen ist das wichtigste Thema des ganzen Kangin shū. Es geht aber nicht nur darum, in den Gedichten das Positive der weltlichen Freuden auszudrücken, sondern auch ihre Schönheit zu zeigen. Die am Anfang des 16. Jahrhunderts erschienene Anthologie spielt, freilich ohne Absicht, eine historische Rolle: In gewissem Sinne markiert sie, außerhalb des Kontextes des Christentums, eine zukünftige Renaissance. * Wie ich schon gesagt habe, bin ich der Ansicht, die Neuorientierung in dieser Epoche sei größtenteils dem reichen Kaufmannsstand zu verdanken. Im 16. Jahrhundert beginnt Japan seine Handelsbeziehungen auszubauen; es unterhält nicht nur Beziehungen mit benachbarten Ländern wie China und Korea, sondern knüpft auch weitere mit Indien oder den Philippinen und ebenfalls mit Portugal, danach mit Holland. »Das ferne China und das ferne Indien«, »Barbaren des Südens und Rothaarige« weckten in der Vorstellung der Menschen die mannigfaltigsten Reflexe von Exotik, verführten zu Träumereien und gaben dem Alltagsgespräch der Japaner lebendigen, farbigen Glanz. In einer Hafenstadt wie Sakai fanden selbstverständlich innenpolitische Wechselfälle auch große Beachtung, aber mit viel lebhafterem Interesse nahm man an Vorkommnissen in der Fremde teil. Es ist sehr bezeichnend, daß der Begründer der Teezeremonie, der reiche Seefischhändler Sen no Rikyū, aus Sakai, dem kommerziellen Zentrum stammt, das mit allen umliegenden Ländern in regem Kontakt stand. Ebenfalls aus Sakai gebürtig sind noch andere Männer, die ihrer Kühnheit, ihres Spürsinns, ihrer allseitigen Geschicklichkeit wegen 131
bekannt waren und die es verstanden, auf geistreiche Art Tradition und Moderne zu vereinen. Alle diese Menschen, die im 16. Jahrhundert erfolgreich waren im Bereich der Wirtschaft, sei es in Kansai – Kyōto, Ōsaka oder Sakai – oder weiter im Süden, in Kyūshū, in den Häfen von Hakata oder Nagasaki, sie alle waren von einer überbordenden Energie. Sie waren sich ihrer Macht völlig bewußt, die sie ihrem Reichtum verdankten und restlos davon überzeugt, daß der Reichtum eine gute und gerechte Sache ist. Zwischen den Händlern im Altertum und im Mittelalter und denjenigen im 16. Jahrhundert, das heißt in der Übergangsperiode vom Mittelalter zur Neuzeit, besteht ein markanter Unterschied in der Arbeitsauffassung. Die Neuzeitlichen hatten die Meinung, ihr Beruf sei in gewissem Sinne eine gute Tat und waren überzeugt, das Glück finde sich nicht im Jenseits, sondern wahrhaftig in dieser Welt. Diese Gewißheit gab ihnen die geistige Frische und Lebendigkeit, Mensch und Natur mit neuen Augen zu betrachten und den Menschen so zu sehen, wie er ist, in seiner ganzen Blöße. Wir können feststellen, daß eine große Anzahl Liebeslieder im Kangin shū, wie ich soeben eines zitiert habe, an die Unbeständigkeit des Menschenlebens erinnern und gleichzeitig eine Aufforderung sind, die Freuden der Welt zu genießen. Dieser doppelte Aspekt kündigt eindeutig eine neue Epoche an. Die ganze Anthologie ist unübersehbar geprägt von dem Wunsch, das Leben zu preisen, eine Einstellung, die völlig abweicht von jener der Aristokraten, der Krieger und der Bauern. Offensichtlich waren die meisten Autoren und Interpreten der Volkslieder des Kangin shū genauso wie die des Ryōjin hishō Prostituierte, die sich jedem Manne hingaben. Ihre Lebensauffassung ähnelt seltsamerweise jener der Händler. Sie 132
besteht im wesentlichen darin: Sich niemals maßlos einer Sache hingeben, was immer es auch sei; sich darauf einstellen, daß unweigerlich der Tag kommt, an dem man den geliebten Gegenstand, die von Herzen geliebte Person verliert. Doch ob der Resignation über die fatale Trennung soll niemals vergessen werden, die Freuden des gegenwärtigen Augenblicks voll auszukosten, beispielsweise die Prostituierte den charmanten Mann und der Händler seine Reichtümer; und dann selber eines schönen Tages von der Bühne dieser Lustbarkeiten zu verschwinden, auf eine Art und Weise abzutreten, daß niemand etwas zu tadeln hat. * Sobald wir die Verhältnisse unter diesem Gesichtspunkt betrachten, wird uns klar, daß niemand besser als die Kaufleute – als aufsteigende Macht – die Muromachi-Epoche repräsentieren, die Periode, in der die Gesellschaftsstruktur stetigen Erschütterungen ausgesetzt war. Man begreift ohne weiteres die unnachahmliche Leichtigkeit der Liebeslieder des Kangin shū, ihre helle, strahlende Nichtigkeit, wenn man sich vorstellt, daß die Helden der Lieder einerseits die neuen Händler waren und anderseits die Prostituierten, deren Existenz ständig irgendwie gefährdet war, die nie wußten, was der morgige Tag bringt und die trotz allem leidenschaftlich, voller Energie am Leben hingen. Aber ich möchte noch einige Texte aus der Sammlung zitieren: Nur dies eine: Häng dich nie an einen solltest du an einem hängen kann das Trennen … nenenenen nur mit Ach und Weh gelingen 133
In der mehrmaligen simplen Wiederholung der Endsilbe »[n]en«, im Japanischen ist es die Silbe »ru«, manifestiert sich eindeutig der Gehalt aller Lieder, nämlich eine extreme Leichtigkeit des Tons. Aber auf der andern Seite konzentriert sich in der Repetition die ganze Traurigkeit, die Liebende, die sehr voneinander eingenommen sind, bei der Trennung empfinden. Form und Inhalt des Liedes stimmen vollkommen überein. Vom Inhalt her gesehen ist es eher eine Frau als ein Mann, die das Lied singt, indem sie sich vornimmt: »Hüte dich davor, dich zu stark an den Mann zu binden! Hast du dich einmal an ihn geklammert, kommt doch der Moment der Trennung, und du hast das Nachsehen!« Kurzum, diese Frau macht es sich zur Pflicht, sich immer bewußt zu bleiben, daß sie sich auch von dem Mann, der ihr völlig den Kopf verdreht, eines Tages trennen muß. Wer anders als ein Freudenmädchen könnte die Lebenswirklichkeit so betrachten? Die leidenschaftliche, ausschließliche Liebe ist den Prostituierten nicht gemäß. Dieser Zwang verleiht ihren Gefühlen einen traurigen Ton, eine Trauer, die manchmal viel wahrer ist als die der meisten Leute. Und geben sie sich einmal ganz ihrer Liebe hin, müssen sie doch unablässig wiederholen: »Dies vor allem: sei nicht so dumm, eines Mannes wegen den Kopf zu verlieren!« Nach der Vertrautheit einer Nacht vor lauter Abschiedsschmerz geh ich und halte Ausschau Auf hoher See was für ein schnelles Schiff! was für ein dichter Nebel! Auch das ist ein Dirnenlied. Das Mädchen wohnt in einem Hafen. Matrosen, Reisende sind seine Partner; meistens ver-
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bringt es nur eine Nacht mit ihnen zusammen, hernach verschwinden diese wieder. Bei diesen flüchtigen Begegnungen geschieht es doch dann und wann, daß die Liebedienerin einen Freier nur ungern ziehen läßt. Der lyrische Ton des Gedichts drückt das Gefühl einer Leere aus, die das Mädchen empfindet, als der Mann es früh am Morgen verlassen hat. Das Schiff, das er bestiegen hat, achtet der Traurigkeit des Mädchens nicht; unvermeidlich sticht es in See, rasch entfernt es sich und wird vom plötzlich einfallenden Nebel verschluckt. Möglich daß er nicht kommt, was tut’s bin ja doch nur Tau zwischen Träumen kommt er – ein Blitz am Abendhimmel Das muß ebenfalls das Lied einer Dirne sein, die ungeduldig auf den Mann wartet, den sie liebt. Offenbar kommt er an diesem Abend nicht, und die Frau sagt sich: »Selbst wenn er nicht kommt, was soll’s! Mein Leben ist so oder so gleich den Tautropfen, die zwischen zwei flüchtigen Träumen liegen. Und für den Fall, daß ich ihn doch sehen werde, wird auch diese Begegnung vergänglich sein wie der Blitz, der, kaum hat er mit kurzem Leuchten die Abenddämmerung gestreift, verschwindet.« Ich hatte bereits gesagt, die dominante Tonart aller Volkslieder sei ihre »helle, strahlende Nichtigkeit«. Mir scheint, der flüchtige Blitz, der dieses Gedicht beleuchtet, symbolisiere beides gleichzeitig, die Freude und die Nichtigkeit der kurzen Liebesnächte. Wie dem auch immer sei, man hört die Frau murmeln: »Selbst wenn er nicht kommt, was soll’s!« *
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Ich habe Ihnen nun recht fragmentarisch Gedichte aus dem Kangin shū vorgestellt. Sooft ich sie mir, eins nach dem andern, durch den Kopf gehen lasse, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren: Das, was uns in den japanischen Volksweisen unwiderstehlich packt, in den mittelalterlichen besonders, ist die Energie, die Zielstrebigkeit – weitaus größer als jene der Männer –, mit der die Frauen jener Epoche das Leben meisterten. Überflüssig zu betonen, daß ohne solche Energie und Hartnäckigkeit die Existenz dieser Frauen sehr prekär gewesen wäre. Aus dem Kangin shū erfahren wir, wie selten eine Frau dazu kommt, dank ihrer unterwürfigen Ergebenheit gegenüber einem Manne ein gesichertes, angenehmes Leben zu führen. Die Sammlung vermittelt ein Bild selbständiger Frauen, die es nicht nötig hatten, aus purer Schwäche vor den Männern die Koketten zu spielen. Allerdings: Um die zu sein, als die sie uns entgegentreten, war es paradoxerweise unumgänglich, daß sie sich unter den Bedingungen physischer und moralischer Bedrängnis, in der sie lebten, ihren Platz hart erkämpften. Im Ryōjin hishō wie im Kangin shū erscheinen sie als Heldinnen voller Charme, die es verstanden, mit ihrem einzigen Gut, dem eigenen Körper, sich den Weg durchs Leben zu bahnen. Falsch wäre es, sie bloß als unbedarfte Prostituierte zu betrachten; denn durch ihre Begabung, gehaltvolle Volkslieder zu dichten oder vorzutragen, erweisen sie sich als bemerkenswerte Künstlerinnen. Selbstverständlich gibt es unter den Verfassern volkstümlicher Lieder ebenfalls eine gewisse Anzahl Männer; man kann jedoch nicht genug betonen, welch wichtige Rolle die Frauen in der Geschichte der Folklore gespielt haben. Meine heutigen Ausführungen ergänzen und schließen den Zyklus der vier Vorlesungen zum Thema der klassischen japanischen Dichtung, die ich letztes Jahr im Collège de France 136
gehalten habe. Eine darunter war betitelt mit »Große Dichterinnen der Nara-Epoche und der Heian-Epoche«, und da habe ich folgendes gesagt: »Wenn man die Prinzipien dieser Dichtung in Betracht zieht, zeigt sich, daß das Waka ohne die Frauen sich nicht hätte lebendig halten können.« Diese Feststellung gilt auch für die Volksliedkunst. Noch eine weitere Bemerkung ist beizufügen: Die traditionelle Eleganz gebot dem Waka, erotische Themen zu vertuschen, die mehr oder weniger derben Motive, die das untergründige Geflecht des Lebens bilden, zu verschweigen. Seien wir also dankbar, daß das mittelalterliche Volkslied solche Themen in aller Natürlichkeit zum Ausdruck bringt. Freuen wir uns über die Einsichten ins menschliche Wesen, über den Witz und Humor dieser Anthologien, die bis heute nichts von ihrer Lebendigkeit eingebüßt haben.
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Anmerkungen
S. 45: Zitiert aus der Einführung von H. Hammitzsch zu: Shin kokinwakashū, Japanische Gedichte. Philipp Reclam jun. Stuttgart 1981 S. 104: Vgl. Bashō: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. Hrg. v. G. S. Dombrady. Dieterich’sche Verlagsbuchhand lung. Mainz 1985, S. 185
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Eduard Klopfenstein Nachwort
Eine facettenreiche Persönlichkeit Ōoka Makoto wurde am 16. Februar 1931 in Mishima, Präfektur Shizuoka, im Haus eines Pädagogen und Tanka-Dichters geboren. Er gehört also einer Generation an, die den Krieg noch im Kindesalter, ohne Schaden und relativ unbehelligt, überlebte und die ihre Ausbildung unter dem neuen Schulsystem abschließen konnte. Von Jugend an stand er im Bann der Dichtung, nach Kriegsende besonders der französischen. Seine Sprachkenntnisse führten ihn nach dem Studienabschluß an der Universität Tōkyō zunächst in die Auslandredaktion der großen Tageszeitung Yomiuri, wo er zehn Jahrelang (1953 – 1963) als Redakteur arbeitete. Dann wagte er den Schritt ins freie Literatentum, nahm aber zwei Jahre später eine Professur für japanische Literatur an der MeijiUniversität in Tōkyō an, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern. Unaufhörlich bildete er sich weiter, knüpfte Beziehungen, vor allem in Künstlerkreisen, und entwickelte sich von den siebziger Jahren an zu einem der markantesten Vertreter der japanischen Kulturszene, was ihn schließlich von 1989 bis 1993 an die Spitze des japanischen PEN-Clubs brachte. Immer zahlreicher wurden auch die internationalen Kontakte und Auslandreisen, eine Folge seiner Sprachgewandtheit und seines aktiven, extravertierten Wesens. Er wurde zu Vorträgen und Gastprofessuren in die USA und nach Paris eingeladen, nahm an Symposien und Dichtertreffen teil oder engagierte sich als Förderer und Teilnehmer internationaler Kettengedicht-Veranstaltungen. Ein Dutzend Preise konnte er bis heu139
te entgegennehmen; zum Beispiel ernannte ihn die französische Regierung 1993 zum Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres. Seine weitreichenden, grenzüberschreitenden Aktivitäten machen ihn zu einer vielschichtigen, herausragenden Erscheinung im kulturellen Leben seines Landes.
Der Dichter Trotz der Spannweite seines Wirkens bleibt die Dichtung Ōokas zentrales Anliegen. Schon als Oberschüler und Gymnasiast faszinierte ihn die moderne Lyrik, wobei ihm das Werk Paul Eluards den entscheidenden Anstoß gab. Während des Studiums und später parallel zur beruflichen Tätigkeit profilierte er sich als junger Nachkriegspoet, schloß sich 1954 der wichtigen Dichtergruppe ›Kai‹ (Das Ruder) an und veröffentlichte 1956 seinen ersten Gedichtband Kioku to genzai (Erinnerung und Gegenwart). Es handelt sich um moderne, formal ungebundene, freirhythmische Gedichte. Unter dem Einfluß des Surrealismus einerseits und in zunehmender Affinität zur japanischen Klassik andererseits entwickelte sich Ōokas Lyrik, angereichert mit spielerischen und satirischen Elementen, allmählich zu einem sehr komplexen Sprachkosmos. Inhaltlich befassen sich die Gedichte mit den unterschiedlichsten Themen: Mit autobiographischen Erinnerungen ebenso wie mit physischen Gegebenheiten dieser Erde oder gesellschaftlichen Phänomenen. Doch fallen einige von Anfang an vorhandene und oft wiederkehrende Motive auf: Wasser, Feuer, Erde, Baum, allerlei Getier. Den Dichter faszinieren die geheimnisvollen Lebensprozesse, die eruptiven Naturgewalten, die Kreisläufe und Metamorphosen des Daseins – es ist ein Naturverständnis, das sich in großen, oft erdgeschichtlichen und kosmischen Zeiträumen bewegt. Immer 140
wieder kommt er auch auf die Frage nach der Funktion des Gedichts in unserer Gegenwart zurück und versucht, der Welt ihre poetische Dimension in Erinnerung zu rufen. Ooka ist zwar ein hochgebildeter Intellektueller, doch in seiner Dichtung wird ein genuiner emotionaler, ja sensualistischer Impuls spürbar, der sich den Intellekt für seine ganzheitliche poetische Sehweise dienstbar zu machen weiß. Der deutsche Leser findet im Band Botschaft an die Wasser meiner Heimat eine Übersicht über Ōokas dichterisches Schaffen (vgl. Literaturhinweise).
Der Essayist, Kritiker und Dramatiker Als Student las Ōoka neben Gedichten nicht etwa Romane und Erzählungen, sondern vor allem französische Essays, und in seinem eigenen Schaffen nimmt dieses Genre einen wichtigen Platz ein. Seine erste Buchpublikation 1955 war denn auch eine Essay-Sammlung zur modernen Lyrik. Im Essay kann er seine verschiedenartigen Interessen und Neigungen frei entfalten. Vier Fünftel seiner bereits 1977 herausgekommenen fünfzehnbändigen Gesamtausgabe bestehen aus essayistischen und kritischen Schriften der unterschiedlichsten Art. Etwa von 1960 an erweiterte er sein Tätigkeitsfeld, indem er Radio- und Fernseh-Skripte, Hörspiele und vereinzelt auch dramatische Texte oder Adaptationen für das Theater verfaßte. Zahlreich sind im weiteren seine literaturgeschichtlichen Arbeiten, Rezensionen, Übersetzungen aus dem Französischen, Gedicht-Anthologien des In- und Auslands sowie schriftlich festgehaltene Interviews, Gespräche und Vorträge.
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Der Journalist Während seiner Anstellung bei der Yomiuri Zeitung hatte Ōoka vor allem ausländische Agenturmeldungen zu verarbeiten. Hier erwarb er sich seine ungemein präzise Arbeitsweise und Formulierfähigkeit. Sein Austritt aus der Redaktion nach zehnjähriger erfolgreicher Tätigkeit und seine Ablehnung des Pariser Korrespondentenpostens waren besonders für damalige japanische Verhältnisse höchst ungewöhnlich. Ōoka blieb aber auch danach den Druckmedien in mannigfacher Weise verbunden, als Rezensent, Kulturchronist, Dichter und Feuilletonschreiber. Sein hoher Bekanntheitsgrad in Japan hängt sicher mit seiner Medienpräsenz zusammen. Besonderes Renommee erwarb er sich durch seine Rubrik ›Oriori no uta‹ – meist ein Tanka oder Haiku mit Kurzkommentar –, die täglich auf der Frontseite der Asahi-Zeitung erscheint.
Der Kunstsachverständige Ōokas Surrealismus-Studien weckten auch sein Interesse an der modernen bildenden Kunst. Er begann Kunstkritiken zu schreiben und verkehrte vom Ende der fünfziger Jahre an mehr und mehr in Künstlerkreisen, vor allem in der Galerie Minami Garō in Tōkyō, wo er enge persönliche Kontakte zu internationalen Berühmtheiten wie Sam Francis und Jean Tinguély knüpfen konnte. Bei seinem ersten Pariser Aufenthalt 1963 begleitete er einen japanischen Firmenchef und Kunstsammler durch die Galerien von Paris und beriet ihn bei seinen Ankäufen. So kam eine bedeutende, millionenschwere Kollektion zusammen, die später teilweise dem Nationalmuseum für westliche Kunst in Tōkyō vermacht wurde. Aus diesem Grund ist Ōoka in Japan als Kunstkenner und -kritiker ebenso bekannt und angesehen wie als Literat und Dichter. 142
Der Grenzgänger und Kulturvermittler Das eben festgehaltene biographische Detail ist ein sprechendes Beispiel für Ōokas unentwegtes Hin- und Hergehen zwischen den Disziplinen. In einer so ausgeprägt zum Spezialistentum neigenden Gesellschaft wie der japanischen ist er in dieser Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Ooka scheut sich nicht, Grenzen zu überschreiten, seien es Grenzen zwischen literarischen Genres, zwischen der Literatur und anderen Künsten, zwischen unterschiedlichen Berufen oder auch Grenzen zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen. Von seinen weit verzweigten internationalen Kontakten wurde schon gesprochen. Gerade die hier übersetzten Vorträge am Collège de France sind ein eindrückliches Beispiel seiner kulturellen Vermittlertätigkeit. Besonders hervorzuheben aber sind die internationalen Kettengedicht-Veranstaltungen (Renshi), zu deren wichtigsten Förderern er seit Beginn der siebziger Jahre gehört. Dabei kommen Dichter verschiedener Sprachen für einen oder mehrere Tage zusammen und schreiben, in Anlehnung an altjapanische Verfahren, eine Kette von Gedichten, die aufeinander Bezug nehmen. Es handelt sich um ein neues literarisches Genre im Zeitalter der Globalisierung, um ein Gemeinschaftswerk über alle Grenzen hinweg, wie es sonst in der Literatur kaum praktiziert werden kann. Zwischen deutschsprachigen und japanischen Dichtern wurden breits mehrere solche Treffen mit großem Erfolg durchgeführt, wobei Ōoka jedesmal mit von der Partie war, nämlich: Berlin 1985 und 1987, Frankfurt 1990, Zürich 1993 und wiederum Berlin 1993 und 1999 (vgl. Literaturhinweise).
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Der Professor und Kenner der klassischen japanischen Dichtung Über seine Knabenzeit äußerte sich Ōoka in einem Interview wie folgt: »Mein Vater war Tanka-Dichter. Bei ihm habe ich das Tanka-Machen einfach abgeguckt. Ich konnte ohne die geringste Mühe Tanka drechseln.« Der Junge wuchs also spielerisch in die Welt der klassischen Sprache und Formen hinein. Dies setzte sich als Grundlage fest, auch wenn er sich in seiner Studienzeit zunächst einmal ganz dem Westen zuwandte. An der Universität Tōkyō studierte er zwar in der Abteilung für japanische Literatur, folgte aber in Wirklichkeit ganz andersartigen Interessen. Bemerkenswerterweise regte ihn sein ehemaliger Lehrer Terada Tōru, von Haus aus ein Romanist, zur Lektüre des mittelalterlichen Mönchs Dogen an. Eine wirkliche Zuwendung zur Klassik erfolgte aber erst in den sechziger Jahren mit der Übernahme der Professur an der Meiji-Universität. Ōoka war natürlich kein Gelehrter im üblichen Sinn. Als »Schöngeist« innerhalb der juristischen Fakultät pflegte er jeweils frisch von der Leber weg über das zu dozieren, was ihn gerade interessierte. Aber die Professur gab ihm die Muße, sich in die klassische Literatur zu vertiefen. Mit der ihm eigenen Leichtigkeit eignete er sich die wissenschaftlichen Grundlagen an, während er gleichzeitig als moderner Dichter und Literat die Dinge aus einer neuen Perspektive anzugehen vermochte. Das vielleicht wichtigste Ergebnis dieser Studien ist sein Buch über den Kompilator des Kokinshū, Ki no Tsurayuki, das 1971 erschien und einiges Aufsehen erregte. Die Beurteilung dieses Werks im »Lexikon der modernen japanischen Literatur« spricht für sich: »Es handelt sich um eine epochemachende kritische Schrift zur Wiederherstellung von Tsurayukis Reputation. Sie hinterfragt das seit Masaoka Shikis 144
Attacken allgemein verbreitete, total negative Bild Tsurayukis, indem sie auf die grundlegenden Quellen selber zurückgreift. Der Autor berücksichtigt in hinreichendem Maße die Forschungen der Spezialisten und die Ergebnisse der Literaturgeschichte und ergründet mit agilen und geschmeidigen Kritikeraugen Tsurayukis dichterische Kreativität in all ihren Verzweigungen, indem er ihn in das Umfeld seiner Epoche einbettet. Aus der Sache selbst konstituiert sich so ein Magnetfeld der Poetik.« Seither ist Ōoka allenthalben auch als Fachmann für ältere japanische Literatur und Dichtung anerkannt.
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Literaturhinweise und Quellenangaben
1. Zur vorliegenden Ausgabe Ōoka entwarf seine Vorträge zwar auf Japanisch und ließ sie von Dominique
Palme
ins
Französische
übertragen,
doch
kontrollierte
er
die
Übersetzung und trug sie auch selber auf Französisch vor. Der französische Text ist also vom Autor beglaubigt. Die französische Buchausgabe erschien übrigens einige Monate vor der japanischen. Zwischen den beiden Ausgaben gibt es vereinzelte geringfügige Abweichungen (Kürzungen). Für die deutsche Übersetzung des Vortragstextes wurde deshalb auf Anregung des Autors die französische Fassung zugrunde gelegt. Dagegen drängte sich für die schwierigen, in klassischem Japanisch oder in Kanbun abgefaßten Gedichte und Prosastücke eine Direktübersetzung aus den Quellen auf (in zwei Fällen wurden bereits vorhandene deutsche Fassungen übernommen).
Französische und japanische Ausgaben: Ōoka Makoto: Poésie et poétique du Japon ancien. Cinq leçons données au Collège de France 1994 – 95. Traduction de Dominique Palmé. Paris: Maisonneuve et Larose 1995. 128 S. Ōoka Makoto: Nihon noshiika — sono honegumi tosuhada. Tōkyō: Kōdansha 1995. 200 S.
2. Deutsche Publikationen zu Ōoka Makoto Ōoka Makoto. Botschaft an die Wasser meiner Heimat. Gedichte 1951 – 1996. Auswahl, Übersetzung aus dem Japanischen sowie Gespräch mit dem Autor von Eduard Klopfenstein. Japan-Edition. Berlin: edition q. 1997. 147 S. [Mit biographischer Chronik und Bibliographie zu Ōoka M.] Ōoka Makoto: »Gedichte.« Übers. von S. Schaarschmidt. Ein Brief aus der Wüste. (Anthologie) Literatur aus Japan 2. Berlin: Ostasien-Verlag. 1985: 93 – 101 Ōoka
Makoto:
»Gedichte.«
Übersetzung
und
Nachwort
von
Siegfried
Schaarschmidt. Akzente (Hanser Verlag) Heft 4 (Aug. 1987): 376 – 383.
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Ōoka
Makoto:
»Gedichte.«
Eingeleitet
und
übersetzt
von
S.
Schaar-
schmidt. Akzente (Sonderheft: Japanische Lyrik der Gegenwart) Heft 5 (Sept. 1990): 454 – 467. Ōoka Makoto: »Was ist Poesie?« (Gedichtzyklus aus dem gleichnamigen Gedichtband von 1985.) Übersetzt von Matthias Hoop. Atlas der neuen Poesie. Hrg. von Joachim Sartorius. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt. Ōoka Makoto: »Lyrik und Lyriker im Computerzeitalter.« Japanische Literatur der Gegenwart. S. Schaarschmidt/M. Mae (Hrg.). München: Hanser Verlag. 1990: 172 – 176. Kawasaki Hiroshi / Kiwus, Karin / Ōoka Makoto / Vesper, Guntram: Poetische Perlen. Renshi – Ein Fünf-Tage-Kettengedicht. Übersetzer: T. Matsushita / E. Klopfenstein. Mit Essays von M. Ōoka und E. Klopfenstein. Nördlingen: Franz Greno. 1986. 96 S. Artmann, H. C. / Ōoka Makoto / Pastior, Oskar / Tanikawa Shuntarō: Vier Scharniere mit Zunge. Renshi-Kettendichtung. Übersetzer: Hiroomi Fukuzawa / Eduard Klopfenstein. München: Verlag Klaus G. Renner. 1988. 95 S. Ambrosius, Mario: Japanische Schriftsteller in Deutschland – ein fotografisches Tagebuch. Berlin: Verlag Ute Schiller. 1991. 72 S. [Diverse Fotoaufnahmen von Ooka Makoto.] Klopfenstein Eduard: »Moderne Kettendichtung (renshi).« Referate des VI. deutschen Japanologentages in Köln 12. – 14. April 1984. Hamburg: Mitteilungen der Ges. für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (MOAG). Bd. 100 (1985): 116 – 131. [Mit Übersetzung einer japanischen Gedichtkette aus Kai, renshi 1979, an der Ōoka beteiligt war.] Klopfenstein, Eduard: Ōoka Makoto: Kioku to genzai (Erinnerung und Gegenwart). Kindlers neues Literaturlexikon, Bd. 12. München: Kindler Verlag. 1990: 734 – 735. Klopfenstein,
Eduard:
»Moderne
Kettendichtung
(Renshi),
japanisch
und international — eine Zwischenbilanz.« Asiatische Studien Bd. L, Nr. 4 (1996): 943 – 980 [Handelt u. a. über Ōokas Wirken als Förderer und Teilnehmer internationaler Kettengedicht-Veranstaltungen.]
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3. Quellenangaben zu den zitierten Gedichten und Texten
I Nihon koten bungaku taikei, Bd. 72. Iwanami shoten 1966. Kanke bunsō II, Nr. 94. S. 182. Kanke bunsō II, Nr. 148. S. 221-22. Kanke bunsō III, Nr. 200. S. 25g. Kanke bunsō III, Nr. 204. S. 261-62. Kanke kōshū, Nr. 484 Vs. 81 ff. S. 492. Kanke kōshū, Nr. 488. S. 506. Kanke kōshū, Nr. 486 Vs. 37 ff. S. 502.
II Nihon koten bungaku taikei, Bd. 8. Iwanami shoten 1958. Ōshikōchi no Mitsune. Kokin wakashū III, Nr. 168. S. 135. Fujiwara no Toshiyuki. Kokin wakashū TV, Nr. 169. S. 136.
III Nihon koten bungaku taikei, Bd. 4. Iwanami shoten 1957. Kasa no Iratsume. Manyōshū IV, Nr. 591, 599, 604, 607, 608. S. 274 – 277. Shin Nihon koten bungaku taikei, Bd. 8. Iwanami shoten 1994. Izumi Shikibu. Go shūi wakashū XIII, Nr. 763. S. 248.
Go shūi wakashū XX, Nr. 1162. S. 378.
Go shūi wakashū XIV, Nr. 831. S. 265.
Go shūi wakashū XIII, Nr. 755. S. 246.
Go shūi wakashū XIV, Nr. 801. S. 258.
Go shūi wakashū X, Nr. 574. S. 188.
Shinpen kokka taikan, Bd. 3. Kadokawa shoten 1985. Izumi Shikibu. Izumi Shikibu zokushū Nr. 61. S. 265. Nihon koten bungaku taikei, Bd. 80. Iwanami shoten 1964. Shikishi Naishinnō. Shikishi Naishinnō shū Nr. 318. S. 406.
Shikishi Naishinnō shū Nr. 97. S. 374.
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IV Nihon koten bungaku taikei, Bd. 80. Iwanami shoten 1964. Heian Kamakura shikashū. Shikishi Naishinnō. Shikishi Naishinnō shū Nr. 240. S. 395. Nihon koten bungaku taikei, Bd. 46. Iwanami shoten 1959. Matsuo Bashō. Oku no hosomichi (Natani). S. 94. Nihon koten bungaku taikei, Bd. 8. Iwanami shoten 1958. Ōshikōchi no Mitsune. Kokin wakashū I, Nr. 41. S. 112. Yoshimine no Munesada. Kokin wakashū II, Nr. 91. S. 121. Shinpen kokka taikan, Bd. 1. Kadokawa shoten 1983. Fushimi Tennō. Gyokuyō wakashū IV, Nr. 628. S. 433.
Fūga wakashū IV, Nr. 391/381. S. 562.
Eifuku Mon’in. Gyokuyō wakashū II, Nr. 196. S. 425.
Fūga wakashū V, Nr. 478/468. S. 564.
Nihon koten bungaku taikei, Bd. 46. Iwanami shoten 1959. Matsuo Bashō. Oku no hosomichi (Yamadera). S. 87. Gunsho ruijū, Bd. 11. Waka no bu. (Rev. Ausgabe) 1959. Ōshikōchi no Mitsune. Yayoi mika Ki no shishō gokusuien no waka, Nr. 1.
S. 459.
v Shin Nihon koten bungaku taikei, Bd. 56. Iwanami shoten 1993. Ryōjin hishō II, Nr. 342. S. 97. Ryōjin hishō II, Nr. 473. S. 131. Ryōjin hishō II, Nr. 359. S. 102. Ryōjin hishō II, Nr. 26. S. 13. Kangin shū, Nr. 55. S. 204. Kangin shū, Nr. 290. S. 258. Kangin shū, Nr. 119. S. 218. Kangin shū, Nr. 165. S. 230. Kangin shū, Nr. 139. S. 223.
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»Die Männer, die als Beamte im Dienste des kaiserlichen Hofes standen, das heißt die eigentlichen Repräsentanten des damaligen intellektuellen Milieus, verfaßten ihre Texte mit chinesischen Schriftzeichen, sie schrieben im sogenannten kanbun, in einem Stil, der mit dem gesprochenen Japanisch nicht den geringsten Zusammenhang hat. Die Meisterschaft im chinesischen Stil war ein entscheidendes Kriterium, um die Fähigkeiten und den Charakter eines Beamten zu beurteilen. Diejenigen, die die beste Prosa schrieben, mußten bewandert sein nicht allein in Rechtsfragen, in der Wirtschaft, in der Diplomatie, der Innenpolitik, der Geschichte, sondern ebenfalls, und das ist das Erstaunliche, auch in der Literatur.«