Atlan - Die Abenteuer der Sol Nr. 515 Die Mausefalle
Die Flucht der Solaner von Wilfried Hary
Atlan und sein...
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Atlan - Die Abenteuer der Sol Nr. 515 Die Mausefalle
Die Flucht der Solaner von Wilfried Hary
Atlan und seine Gefährten zwischen den Fronten
Alles begann eigentlich im Dezember des Jahres 358S, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten die SOL verließ und zur BASIS übersiedelte, nachdem er den Solgeborenen das Generationenschiff offiziell übergeben hatte. Seit dieser Zeit, da die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Und das ist auch dringend notwendig. Doch bevor er das an Bord herrschende Chaos beseitigen kann, gilt es erst, die SOL, die in einem Traktorstrahl gefangen ist, zu befreien. Atlan und ein paar Gefährten versuchen das unmöglich Erscheinende. Vom Quader aus gelangen sie nach Mausefalle VII, wo sie den für den Traktorstrahl Verantwortlichen zu finden hoffen. Ihre hartnäckige Suche erregt unliebsames Aufsehen. Roboter heften sich an ihre Fersen – und es beginnt DIE FLUCHT DER SOLANER …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan, Joscan Hellmut, Bjo Breiskoll und Gavro Yaal ‐ Der Arkonide und die Solaner auf der Flucht. Akitar und Ceranyl ‐ Zwei wertvolle Fluchthelfer. Rtrigor ‐ Atlans und seiner Gefährten »Gastgeber« in der Stadt der Altwesen. YʹMan ‐ Ein Geheimnisvoller läßt sich blicken.
1. Sie wurden wieder gehetzt. Atlan ordnete trotzdem eine Rast an, denn er sah, in welcher Verfassung sich seine Gefährten befanden. Dankbar suchten sie sich schattige Plätze und ließen sich nieder. Die drei von der SOL litten mehr unter den Strapazen der überstürzten Flucht durch den dichten Dschungel, als sie zugaben. Selbst Bjo Breiskoll, den sie den Katzer nannten. Das gigantische Raumschiff SOL, das etwa einhunderttausend Menschen, Extras und sogenannte Monster an Bord hatte, war seine Heimat. Auf der Oberfläche eines Planeten fühlte er sich nicht wohl: Er hatte Angst vor der Weite des Himmels. Mit den anderen beiden Solanern Joscan Hellmut und Gavro Yaal verband ihn eine weitere Gemeinsamkeit: Sie gehörten zu den sogenannten Schläfern. Vor einhundertzweiundachtzig Jahren hatte der damalige Kommandant Cleton Weisel sie in Tiefschlaf versetzen lassen. Sie waren seine Feinde, und es gab für ihn keinen besseren Weg, sich seiner Widersacher zu entledigen. Erst durch das Drängen von Atlan, der in Ausübung seines Auftrags auf die SOL geriet, wurden sie geweckt. Während die Zwillinge Federspiel und Sternenfeuer in den verzweigten Korridoren und Gängen des gewaltigen Raumschiffs verschwanden, schlossen sich Gavro Yaal, Joscan Hellmut und der Katzer Atlan an. Atlans Auftrag von den geheimnisvollen Kosmokraten lautete, die
SOL zu übernehmen und zu einem bestimmten Ort zu bringen. Aber als Atlan an Bord kam, befand die SOL sich in einem Zugstrahl, der von dem Planeten Mausefalle VII ausging. Der jetzige Kommandant der SOL fürchtete die Konkurrenz Atlans mehr als den Zugstrahl und sorgte für die Verbannung des Unsterblichen und seiner Gefährten. Nach einer Reihe gefährlicher Abenteuer landeten sie auf Mausefalle VII als Gefangene des Herrn in den Kuppeln, der mit seinen Robotern den ganzen Planeten beherrschte. Jetzt waren sie auf der Flucht. Die Roboter jagten sie durch einen üppigen Tropenwald, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Ohne ihren Führer Akitar wären sie verloren gewesen. Er hatte sie auf Schleichwegen aus der Stadt der Vergessenen geführt, die anschließend den Robotern zum Opfer gefallen war. Atlan betrachtete das nichtmenschliche Wesen, von dem er noch nicht sicher wußte, aus welchem Motiv heraus es ihnen seine Hilfe angeboten hatte. Akitar schien keine Müdigkeit zu kennen. Seine weit auseinanderstehenden, rauchgrauen Augen blieben stets wachsam. Die Nase war klein und krumm wie der Schnabel eines Sittichs. Er war fast zwei Meter groß, schlank und ungewöhnlich muskulös. Ein Lichtstrahl traf seine kupferfarbene Haut und ließ einen grünlichen Reflex entstehen. Jetzt wandte er sich Atlan zu. Die Iris seiner Augen war so groß, daß man das Weiße nicht sehen konnte. »Sie kommen!« raunte er. Die Solaner hörten es ebenfalls: Hinter ihnen krachte es im Unterholz. Die Verfolger schienen genau zu wissen, wo die Flüchtlinge zu finden waren. Akitar und Atlan erhoben sich als erste. Doch da hörten sie das typische Geräusch eines fliegenden Robotgleiters. Sofort duckten sie sich wieder. Der Gleiter schwebte dicht über die niedrigen Baumwipfel hinweg und entfernte sich wieder. Gebannt lauschten sie.
»Schnell!« sagte Akitar leise, »weiter vorn befindet sich ein Bodenloch, in das wir kriechen. Dort sind wir geschützter vor den Ortungsgeräten der Gleiter.« Es tat Atlan leid, seine Gefährten antreiben zu müssen, aber es blieb ihm keine andere Wahl. Die Solaner gehorchten murrend und folgten Akitar. Atlan ging als letzter. Akitar, der Chailide, behielt recht: Schon nach wenigen Metern gelangten sie zu dem Bodenloch. Es wurde fast vollständig von dichtbelaubten Ästen bedeckt. Die Bäume ringsum erinnerten entfernt an Mammuts, mit knorriger Rinde, bis zu fünfzehn Metern Durchmesser und teilweise sogar hohl. Die meisten Bäume hatten eine Höhe von nur etwa drei bis fünf Metern. Allerlei Kleingetier hatte sich die Hohlräume der Stämme als Behausung ausgesucht, doch es war so scheu, daß Atlan bisher noch keinen dieser Waldbewohner zu Gesicht bekommen hatte. Als wären auch sie auf der Flucht vor den Robotern des Herrn in den Kuppeln – wer immer das auch sein mochte. Die breitflächigen, fleischigen Blätter bildeten nicht nur einen perfekten Sichtschutz, sondern schützten sie außerdem gegen Infrarotortung. Akitar erklärte es ihnen mit gedämpfter Stimme. Während sie auf die suchenden Gleiter warteten, betrachtete Atlan wieder den Chailiden. Ein eigenartiges Wesen, wie er fand. Bisher wußten sie nur wenig über ihren Führer. War er wirklich ein Retter oder verschlimmerte er durch seine Handlungsweise gar ihre allgemeine Situation? Akitar stand in den Diensten des geheimnisvollen YʹMan, der als Widersacher des Herrn in den Kuppeln galt. Atlan hatte herausgefunden, daß es sich bei dem Herrn in den Kuppeln offenbar um ein gigantisches Robotgehirn handelte. War YʹMan ebenfalls ein Roboter? Einer der sogenannten Mißgebauten? Für Atlans Geschmack gab es zu viele Rätsel und dadurch zu viele Unsicherheitsfaktoren. Er wußte nicht, wem sie vertrauen durften und wem nicht.
Warum beispielsweise dieser Schleier des Geheimnisses um YʹMan? Atlan hatte mit ihm nur einmal in Kontakt gestanden. Anschließend war der unerbittliche Angriff durch die Roboter erfolgt. Sie hatten fliehen müssen – geführt von Akitar. Atlan riskierte einen vorsichtigen Blick durch eine winzige Lücke im Blätterwerk. Etwas warf seinen Schatten über den dampfenden Tropenwald. Sofort zog Atlan wieder den Kopf ein. Ein Pulk von Gleitern passierte ihren Unterschlupf. Angespannt lauschten sie den Fluggeräuschen. Die Gleiter flogen weiter, ohne die Geschwindigkeit oder ihre Flugrichtung zu ändern. »Los!« sagte Akitar. Er schaffte es mit einem einzigen Sprung, das Erdloch zu verlassen. Mit seinen überlangen Beinen gelang es ihm mühelos, bis zu drei Meter und unter günstigen Bedingungen sogar höher zu springen. Atlan half seinen schwitzenden und keuchenden Begleitern. Auch er litt unter der Treibhausatmosphäre, doch der Zellaktivator half ihm, gegen die Erschöpfung anzugehen. Die Flucht ging weiter, während sie hinter sich die Verfolger hörten, die rücksichtslos durch das Dickicht brachen. Akitar fand immer wieder einen geeigneten Weg durch den Dschungel. Sie kamen dank seiner Hilfe rasch voran, doch der Abstand zu den Verfolgern vergrößerte sich nicht. »Das hat keinen Zweck!« sagte Atlan kopfschüttelnd und blieb stehen. Akitar blickte sich nach ihm um. Atlan deutete auf seine Gefährten. Menschen, die Zeit ihres Lebens auf einem Raumschiff gewesen waren, mußte der Aufenthalt auf einem Planeten wie die reinste Hölle vorkommen. Und dann auch noch die bedrohlichen Umstände und der mörderische Dschungel, von der deutlich erhöhten Schwerkraft gar nicht zu reden. Akitar schien es nicht einsehen zu wollen. Er öffnete den breiten, fast lippenlosen Mund zu einer Entgegnung; da brach Gavro Yaal zusammen. Atlan konnte den Gefährten gerade noch auffangen.
Gavro Yaal schüttelte sich wie im Fieber. »Laß nur«, lallte er, »es geht schon wieder. Diese verfluchte Schwäche.« Akitars Hand krallte sich in die Schulter des Arkoniden. »Wir müssen weiter!« drängte er. Atlan deutete mit dem Kinn auf den erschöpften Gavro Yaal. »So vielleicht?« Akitar schöpfte tief Atem. »Wir gelangen bald zu einem Taleinschnitt mit einem reißenden Wildbach. Die Roboter werden es sehr schwer haben, dieses unwegsame Gelände zu überqueren. Außerdem werden sie unsere Spur verlieren und sind gezwungen, jeden Quadratzentimeter Boden abzusuchen. Das verschafft uns einen wertvollen Vorsprung und auch die nötige Atempause, die deine Gefährten so dringend brauchen.« Atlan versuchte, in dem fremden Gesicht des Chailiden zu lesen. Es gelang ihm nicht. »Also gut!« sagte er, packte Gavro Yaal an den Handgelenken, drehte sich um und lud sich den Erschöpften auf den Rücken. Akitar folgte seinem Beispiel: Er nahm sich Joscan Hellmuts an, der sich zwar wehren wollte, aber gegen den übermenschlich starken Chailiden keine Chance hatte. Akitar schleppte Joscan Hellmut einfach mit sich, und der war erschöpft genug, bald seinen Widerstand aufzugeben. Bjo Breiskoll nannte man nicht umsonst den Katzer. Obwohl auch er total erschöpft war, folgte er. Sein Gesicht glich dabei einer starren Maske. Er beherrschte sich großartig und blieb nicht ein einziges Mal zurück, obwohl Akitar ein hohes Tempo vorlegte. * Als sie den Taleinschnitt erreichten, ging es zunächst besser, denn sie kamen einen sanften Hang hinunter. Atlan hörte das Rauschen des Wildbachs und roch das Wasser. Die Bäume standen hier zwar
dichter, aber es gab Wildpfade. Akitar führte sie mit dem wachen Instinkt eines geschulten Waldläufers. Oft überzeugte er sich davon, daß Atlan und der Katzer Schritt hielten. Der Boden wurde morastiger. Es roch nach Moder und Sumpf. Atlan schaute sich um. Akitar führte sie durch einen Seitenarm des Wildbachs, der um diese Jahreszeit nicht so viel Wasser führte. Ihre tiefen Spuren schlossen sich gluckernd. Das faulende Laub wirkte wie ein dicker Teppich, der es schwer machte, etwaige Gefahren zu erkennen. Atlan war sicher, daß sie ohne den Chailiden verloren gewesen wären. Gewiß gab es Schlammlöcher, die jeden Unvorsichtigen erbarmungslos verschlangen. Außerdem bot der Dschungel zu wenige Orientierungsmöglichkeiten, da man selten ein Stück Himmel sah. Die Baumkronen waren so miteinander verflochten, daß sie ein kaum durchdringbares Dach bildeten und darunter ewiges Dämmerlicht erzeugten. Akitar blieb abrupt stehen. Atlan, der einen Moment seinen Gedanken nachgehangen hatte, wäre beinahe gegen ihn geprallt. Der Chailide orientierte sich. »Der Wildbach wechselt sehr oft seinen Verlauf«, sagte er. »Es gibt nur wenige Stellen, wo man ihn gefahrlos durchwaten kann. Er ist allerdings immer gefährlich für den, der die Zeichen der Gefahr nicht kennt. Du mußt wissen, Atlan, daß diese Hügel, die viele Quadratkilometer weit vom Dschungel bedeckt sind, aus einem seltsamen Felsengemisch bestehen. Das Gestein läßt unterirdische Wasseradern im Flußbett entstehen. Der Wildbach wirkt wie ein Fluß mit reißender Strömung, doch ist er an den wichtigen Stellen nur wenige Zentimeter tief – bis die Hohlräume einbrechen und zu einer tödlichen Falle werden!« Akitar hatte anscheinend die richtige Stelle gefunden. Er setzte sich wieder in Bewegung. Atlan folgte ihm, und da er dabei an die Erklärungen des Chailiden dachte, entstand in ihm ein Gefühl der Unsicherheit. Es war das erste Mal seit ihrer überstürzten Flucht, daß sein
Extrasinn sich wieder meldete: Mißtrauisch? Das kann man sich nur leisten, wenn man dadurch eine Gefahr abwenden kann – und nicht, wenn man mitten drin ist. Du mußt dich damit abfinden, daß ihr Akitar ausgeliefert seid, denn ihr habt nur die Wahl zwischen ihm und den Robotern, die unbarmherzig die Stadt überfallen und dabei viele ihrer Bewohner getötet haben. Der Arkonide ging nicht darauf ein. Sein Extrasinn hatte Recht – wie fast immer. Er konzentrierte sich darauf, nicht vom Weg abzuweichen. Außerdem mußte er aufpassen, daß er in dem glitschigen Bachbett nicht ausrutschte. Das Wasser rauschte in einem breitgefächerten Aderwerk zu Tal. Atlan und seine Gefährten legten einen Weg von mindestens fünfzig Metern zurück, bis sie endlich das gegenüberliegende Ufer erreicht hatten. »Das ist mehr ein Fluß als ein Wildbach«, sagte Atlan. Akitar führte sie zu einer niedrigen Höhle. »So, hier können wir jetzt eine Weile rasten.« Die Solaner krabbelten ins Innere der Höhle und blieben dort keuchend liegen. »Ich – ich kann nicht mehr«, lallte Joscan Hellmut. »Hier kriegt mich keiner mehr heraus. Ich habe keine Lust mehr, wie ein Wahnsinniger durch diese Wildnis zu fliehen. Wohin denn? Vielleicht erwarten uns die Roboter schon auf der anderen Seite? Vielleicht ist das eine Art Treibjagd, um uns dem eigentlichen Feind in die Arme zu treiben?« Mehr sagte er nicht mehr. Er schlief ein. Den anderen beiden erging es nicht besser. Akitar sagte zu Atlan: »Du hast recht; es ist mehr ein Fluß als ein Bach. In doppelter Stärke entspringt er an der Spitze des Hügels, denn auf der anderen Seite geht ebenfalls ein Bach nieder. Ein eigenartiges Naturphänomen, das ich allerdings ergründet habe: Der Kern des Hügels ist porös und hat einen Zugang zum glutflüssigen Innern des Planeten. Die Hitze treibt das Wasser eines
unterirdischen Flusses durch die dünnen Kapillargefäße nach oben und ins Freie. Die Wärme des Wassers rührt daher. Es müßte eigentlich eiskalt sein, nicht wahr?« »Du weißt erstaunlich viel über die Natur des Planeten!« bemerkte Atlan. Sein Mißtrauen entging dem Chailiden nicht. »Ist es nicht verständlich? Ich gehöre einer Rasse an, die mit der Natur sehr verbunden ist. Unsere Kultur geht ganz andere Wege als die Kulturen anderer Völker. Ich wurde von meinem Heimatplaneten entführt – von Raumfahrern, über die ich nichts weiter weiß, als daß sie riesig waren. Wir kennen die Raumfahrt in der technischen Art überhaupt nicht. Weißt du, als junger Mann muß der Chailide seinen Körper schulen. Das gehört zu seinen ersten Aufgaben. Er muß hart und überlegen werden, denn die Chailiden sind die wahren Herren ihres Planeten.« Er redete sich in Eifer und schien zu vergessen, daß er Atlan bereits solche Einzelheiten über sich und sein Volk geschildert hatte. »Später wendet sich der Chailide der Meditation zu. Nach der Schulung des Körpers erfolgt die Schulung des Geistes. Aber wie soll ich es einem fremden Wesen erklären können, das niemals Einblick in das Leben der Chailiden hatte?« »Du hast schon einmal erwähnt, daß du den Zeitpunkt des Meditationsbeginns verpaßt hättest. Woher willst du das wissen?« fragte Atlan. »Ich fühle es, kann aber nicht sicher sein, weil ich mich auf einem fremden Planeten befinde. Hier ist alles so anders – obwohl ich mich daran gewöhnt habe. Dieser Planet ist sogar zu einer zweiten Heimat geworden.« »Und doch gibt es nichts, was dich mehr interessiert, als die Rückkehr zu deiner wahren Heimat?« Akitar antwortete ihm nicht sofort. Er blickte über die niedrigen Baumwipfel hinweg, die über ihren Köpfen eine breite Lücke bildeten. Der Himmel war wolkenlos. Akitars Blick schweifte in
weite, unerreichbare Ferne. »Die wahre Heimat!« flüsterte er andächtig. »Du hast gesagt, daß ihr keine Raumfahrt im üblichen Sinn kennt. Wie denn sonst?« Der Chailide wandte sich wieder Atlan zu. Er schien dabei aus einem Traum zu erwachen. »Es ist eine geistige Raumfahrt, Atlan. Da ich den Beginn der Meditation verpaßt habe, werde ich wohl niemals in der Lage sein, sie so durchzuführen wie meine Väter. Sie waren in der Lage, sich in die Wesen von anderen Welten hineinzuversetzen und durch sie fremde Kulturen zu erleben …« Atlan hörte nicht mehr zu, denn etwas hatte ihn abgelenkt: Brandgeruch. Beunruhigt stürmte er aus der Höhle und schnupperte. Tatsächlich, er hatte sich nicht geirrt. Auch Akitar mußte es wahrgenommen haben. Wieso reagierte er nicht? Atlan kletterte den Hang hinauf, in den die Höhle führte, bis er eine Stelle erreichte, von der aus er einen guten Überblick hatte. Er konnte über die Baumwipfel hinwegsehen. Filigranartige, zerrissene Rauchschleier wehren herüber. Sie hatten ihren Ursprung dort, wo sich die verfolgenden Roboter befinden mußten. Akitar tauchte neben Atlan auf. »Glaubst du immer noch, daß es besser wäre, sich mir und meiner Führung nicht anzuvertrauen?« Klang es spöttisch, oder bildete Atlan es sich nur ein? Die unverständliche Sprache des Chailiden wurde von dem kleinen, scheibenförmigen Translator an Atlans Handgelenk übersetzt. Es war nicht auszuschließen, daß der Mikrocomputer den Unterton in Akitars Stimme falsch deutete. Atlan ging nicht darauf ein. Er sah, daß das Feuer zunächst Mühe hatte, die Feuchtigkeit zu besiegen, aber immer wieder schossen die Roboter mit ihren Thermowaffen in das grüne Unterholz und schürten damit die Flammen, wenn sie zu erlöschen drohten. Die Roboter suchten nicht mehr nach den Flüchtlingen, sondern
räucherten sie aus! Auch beim Überfall der Stadt waren die Roboter so rücksichtslos vorgegangen. Das war ungewöhnlich. Galt es nur Atlan und seinen Gefährten? Ja, wußten die Roboter überhaupt, daß sie die Flüchtlinge waren? Von wem? Von diesem YʹMan? War es nicht Beweis genug, daß der Überfall auf die Stadt ausgerechnet nach dem ersten direkten Kontakt mit YʹMan erfolgte? Atlans Hände flogen an die Schultern des Chailiden. Er umklammerte sie. »Was hat das alles zu bedeuten? Warum diese Geheimnistuerei? Wer oder was ist YʹMan? Ein Mensch, ein Extraterrestrier oder ein Roboter? Oder ist er etwa der Herr in den Kuppeln, dem wir zu dreist geworden sind und dem das Spiel mit uns keinen Spaß mehr macht?« Akitar befreite sich aus dem stählernen Griff. »Du solltest mir vertrauen«, sagte er abweisend. »Vertrauen?« fuhr Atlan ihn an. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Feuerwand, die sie einzukreisen begann. Der Wind stand so ungünstig, daß sie keine Chance hatten zu entrinnen. Der Chailide wandte sich ab und kletterte hinunter. Unweit der Höhle blieb er stehen und schaute sich um, als müßte jeden Augenblick die wundersame Rettung erfolgen. Atlan vertraute nicht darauf. Er rannte in Richtung Wildbach davon. Da er sich den Weg gut gemerkt hatte, verlief er sich kein einziges Mal. Hier würde das Feuer es schwerer haben, sich auszubreiten. Aber es gab auch viele Bäume, die direkt aus dem Bachbett wuchsen. Ihre Kronen waren ineinander gewachsen und boten dem Feuer genügend Nahrung. Atlans Hoffnung schwand, daß sie am Ufer des Wildbachs geschützter wären. Sie hatten nur noch eine winzige Chance: Er mußte den Pflanzenbewuchs nahe der Höhle so stark durchfeuchten, daß das Feuer ihren Unterschlupf verschonte. Ein Versuch, der in der Verzweiflung geboren war und wenig
Aussichten auf Erfolg versprach. Aber Atlan unternahm ihn trotzdem, denn er wollte sich nicht in das unabwendbar erscheinende Schicksal fügen. Er bückte sich gerade, um einen Blütenkelch abzubrechen, den er als Wasserbehälter benutzen konnte, als vor ihm etwas aus dem Unterholz sprang und flach über das reißende Wasser hinwegjagte: Ein Tier, das vor dem Feuer floh und dabei seine Scheu verlor. Es war so schnell, daß man nicht erkannte, wie es eigentlich aussah. Es blieb nicht bei dem einen. Im nächsten Augenblick brach ein ganzes Rudel hervor und hetzte dicht an Atlan vorbei, ohne ihn zu beachten. Das war ein Alarmzeichen besonderer Art. Der Instinkt der Waldbewohner zwang sie zur Flucht. Knisternd und prasselnd fraß das Feuer sich in die Wildnis. Funken stoben, die vergeblich versuchten, das grüne Gehölz in einigem Abstand zur Feuerwand in Brand zu stecken. Doch bald würde die ständig steigende Hitze die Feuchtigkeit vollends besiegen. Atlan füllte den Blütenkelch bis zum Rand und trug ihn zur Höhle zurück. Akitar achtete nicht auf ihn. Er stand immer noch an derselben Stelle, hatte die Arme in die Seiten gestemmt und schien nicht begreifen zu wollen, daß sie rettungslos verloren waren. »Hilf mir!« forderte der Arkonide ihn auf, aber Akitar reagierte nicht. Ärgerlich durchtränkte Atlan die Pflanzen vor dem Höhleneingang mit dem Wasser aus dem Blütenkelch. Eine Maßnahme, die sich wahrscheinlich als unsinnig erweisen würde, denn die Hitze des brennenden Tropenwalds war zu groß. Atlan gab dennoch nicht auf und rannte mit dem leeren Blütenkelch zurück. Diesmal kam er nicht weit. Es war eingetreten, was er insgeheim befürchtet hatte: Das Pflanzengewirr, das über dem reißenden
Wildbach ein natürliches Dach bildete, brannte lichterloh. Das Feuer breitete sich weitaus schneller aus, als vermutet. Atlan wurde von der Hitze zurückgetrieben. Er kam nicht mehr an das Wasser heran und ließ den nutzlos gewordenen Blütenkelch fallen. Resignierend marschierte er zum Höhleneingang und setzte sich nieder. Jetzt blieb ihm wirklich nichts mehr anderes übrig, als auf das Ende zu warten. Muß ich auf dieser lausigen Welt enden – nach all den Jahrtausenden meines Lebens? fragte er sich sarkastisch. Der Extrasinn äußerte sich nicht dazu. Die Luft war so mit Rauch erfüllt, daß seine Augen zu tränen begannen und er Schwierigkeiten beim Atmen hatte. Akitar jedoch blieb an seinem Platz. Atlan war es egal. Das Verhalten des Chailiden kümmerte ihn nicht mehr. »He!« rief jemand fassungslos. Der Kopf von Bjo Breiskoll, dem Katzer, tauchte neben Atlan auf. »Was ist denn hier los?« »Die Hölle!« sagte Atlan trocken. 2. Endlich kam Bewegung in Akitar. Er kam zum Höhleneingang. Der Rauch und die Hitze zwangen ihn dazu. »Worauf wartest du jetzt noch?« fragte Atlan. »Die Roboter kümmern sich nicht mehr um ihre Flüchtlinge. Das Feuer nimmt ihnen die Arbeit ab.« Akitar schob sich an Atlan vorbei in die Höhle, blieb jedoch in der Nähe des Eingangs. Auch Joscan Hellmut und Gavro Yaal waren aus ihrem Erschöpfungsschlaf erwacht. Sie benahmen sich, als hätten sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Auch beteiligten sie sich nicht an
dem Gespräch zwischen Atlan und Akitar. Bjo Breiskoll zitterte. Atlan wußte, daß der Katzer vor allem psychologisch unter der Tatsache litt, auf einem Planeten zu sein. Das beeinträchtigte seine Widerstandskräfte, weil er ständig um seine Beherrschung ringen mußte. Der Chailide bequemte sich zu einer Antwort auf Atlans Frage: »Unter den Verfolgern sind nicht nur Feinde, Atlan, sondern auch Verbündete!« »Mißgebaute?« fragte Atlan ungläubig. »Ja!« »Ist das nur eine Vermutung von dir, Akitar?« Atlan zeigte wieder offen sein Mißtrauen. »YʹMan hat …« Der Chailide unterbrach sich. »Nun?« drängte Atlan. »Er ließ mir einen Hinweis zukommen.« »Wann? Vorhin oder noch in der Stadt?« Akitar wandte sich demonstrativ ab und spähte hinaus. Die Atemluft in der Höhle wurde kaum vom Rauch durchdrungen, der draußen einen dichten Nebel bildete. »Verdammt, ich lasse mich nicht ausräuchern!« brüllte Joscan Hellmut auf einmal und drängte sich zum Ausgang. »Das ist doch Irrsinn. Wenn wir hier sitzen bleiben, ist nichts gewonnen. Wir zögern unseren Tod nur unnötig hinaus.« Gavro Yaal folgte ihm auf die Lichtung. Atlan wollte es verhindern. Er hielt Gavro Yaal am Arm fest, doch der Solaner riß sich los. Plötzlich blieben sie wie angewurzelt stehen. Atlan sah, was sie so sehr erschreckte: Einer der Roboter, vor dem Feuer fliehend, rannte auf die Lichtung. Die beiden Solaner, dicht gefolgt von Bjo Breiskoll, stürzten sich auf den Roboter, als würden sie ausgerechnet ihn für alles verantwortlich machen. Sie zogen ihre Thermowaffen, um den Roboter zu vernichten. »Nein!« brüllte Akitar, »das ist einer der Mißgebauten!« Die Solaner hörten nicht auf ihn, aber Akitar war schneller. Mit
drei riesigen Sätzen überholte er sie und sprang in die Schußlinie. Der Chailide breitete schützend die Arme aus und wiederholte: »Es ist ein Mißgebauter!« Die drei Solaner blieben stehen, steckten jedoch nicht ihre Waffen weg. Sie belauerten den Roboter. »Er heißt Ceranyl«, erläuterte Akitar. »Das ist meiner Heimatsprache entliehen und bedeutet soviel wie Retter in der Not – und das wird er auch tun: Uns retten!« Atlan fragte: »Und wie will er das anstellen?« Es bedurfte der Antwort durch Akitar nicht, denn jetzt wußte er die eigenartige Starre des Roboters zu deuten: Ceranyl hatte mit anderen Mißgebauten in den Reihen der Verfolger Verbindung aufgenommen. Es mußte seine besondere Begabung sein, einen Funkverkehr durchzuführen, der nicht abgehört werden konnte, denn wenn sie gegnerischen Roboter ihn orteten, gab es keine Rettung mehr für die Flüchtlinge. Akitar war voller Vertrauen, während Atlan und seine Gefährten hofften, daß dieses Vertrauen berechtigt war. Sie behielten den Roboter im Auge. Ceranyl war so groß wie Akitar, mit einem kastenförmigen Rumpf und vier unterschiedlich langen Metallarmen, die an der Vorderseite befestigt waren. Es gab in Bauchhöhe eine deutlich sichtbare Klappe. Atlan vermutete, daß sich dahinter Werkzeuge befanden, die sich auf die Armenden aufschrauben ließen. Wie die meisten Roboter, die sich nicht auf einem Antigravkissen fortbewegten, besaß Ceranyl vier Beine, weil nach Ansicht des Herrn in den Kuppeln angeblich vier Beine eine bessere Standfestigkeit verliehen. Die Mißgebauten waren fast ausschließlich in den Reihen der sogenannten Phanos zu finden – der rechteckigen, kaum spezialisierten Roboter, denen Ceranyl ebenfalls zuzurechnen war. Aber manchmal waren unter den Mißgebauten auch andere Formen. Mißgebaute unterschieden sich von den »normalen« Robotern weniger durch ihre Form als durch ihre »geistige« Haltung. Sie dachten sehr frei und oftmals destruktiv
gegenüber ihrem Herrn in den Kuppeln. »Die Hilfe ist unterwegs!« versprach Ceranyl. Dann kehrte wieder »Leben« in ihn zurück. Ihre Geduld wurde auf keine harte Probe gestellt: Es raste etwas im Tiefflug über den brennenden Dschungel heran. Ein Sturm entstand auf der Lichtung, als es zur Landung ansetzte. Dabei entpuppte es sich als ein Gleiter. In letzter Sekunde! dachte Atlan, denn der Rauch und die Hitze waren inzwischen so schlimm geworden, daß sie kaum noch atmen konnten. Der Gleiter schwebte dicht über dem Boden. Ein breiter Einstieg öffnete sich. »Hereinspaziert und nicht geniert!« rief eine fröhliche Stimme, die aus dem Bauch des Gleiters drang und das Prasseln des Feuers übertönte. »Beeilt euch, damit die Luft an Bord sauber und rein bleibt. Ihr habt doch wohl lange genug gewartet, was? Tja, Leute, wie heißt es so schön: Was lange währt, wird endlich gut. Jedenfalls diesmal, nicht wahr?« Bevor Atlan sich über den Humor des Robotgleiters Gedanken machte, half er Akitar, die drei Solaner heil an Bord zu bringen. Hustend stolperten sie durch den Eingang. Sofort fuhren bequeme Sitzgelegenheiten aus den Wänden, und ein Ventilator saugte den eingedrungenen Rauch ab. Die fröhliche Stimme des Roboters schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen: »Jungs, macht es euch bequem. Der Wagen ist geheizt und bringt jeden sicher ans Ziel. Das ist meine Hauptdevise.« Sie nahmen Platz und schnallten sich vorsichtshalber an. Ein weiser Entschluß, denn der Gleiter schoß empor, zerschmetterte die Krone eines jungen Baumes, trudelte auf das Feuer zu und beschleunigte weiter mit wahnwitzigen Werten. »Hoppla!« rief die menschlich klingende Gleiterstimme. Dann stabilisierte sich der Flug wieder.
Ceranyl war mit an Bord gekommen und saß ebenfalls in einem der Sitze, der sich seiner besonderen Körperform angepaßt hatte. »Unser Gegner werden nicht einmal Zeit haben, Verdacht zu schöpfen!« sagte er zuversichtlich. »Sie müssen annehmen, daß die Flüchtlinge umgekommen sind.« »Hoffentlich!« Atlan blieb skeptisch. Sie waren den Robotern und dem Feuer entronnen, aber vielleicht kamen sie vom Regen in die Traufe? Der Robotgleiter schoß im halsbrecherischen Tempo über die niedrigen Baumwipfel, streifte immer wieder Äste, tauchte in Lichtungen hinab, folgte dem geschwungenen Verlauf von Tälern und beendete den wahren Höllenritt mit einem Looping, der sogar Atlan aufstöhnen ließ. »He, wißt ihr überhaupt, wie man mich nennt?« fragte der Gleiter ausgelassen. »Ich bin Rallye‐Ede – wenn ihr wißt, was ich meine.« Ceranyl sagte zu seinem Verbündeten: »Du solltest deine Gäste nicht so foppen, Ede, sondern auf ihre Gesundheit achten. Sie haben viel durchgemacht und sind nur knapp dem Tode entronnen, und jetzt wären sie für eine Pause dankbar.« Der Gleiterroboter lachte nur. Dann stimmte er ein Lied an: »Alle mir nach, Jungs: Geschwindigkeit ist keine Hexerei, was ist schon dabei? Sie macht schnell und frei!« Keiner hatte Interesse daran, mit ihm zu singen. Die Gesichter der Solaner waren grau‐grün, und sie hatten große Schwierigkeiten ihren Mageninhalt zu behalten. Atlan lehnte sich zurück. Er konnte sich über die Rettung nicht freuen. Dafür war zuviel geschehen. Außerdem gab es keine Antworten auf all die Fragen, die ihn quälten. Nur ihr Leben war gerettet. Die Probleme waren die gleichen geblieben – nach wie vor! *
Es war offensichtlich, daß Ceranyl die Führungsrolle übernommen hatte. Akitar hielt sich aus allem heraus. Er war auch nur ein Befehlsempfänger. Über allem schien die geheimnisvolle Figur des YʹMan zu stehen. Atlans altes Mißtrauen erwachte erneut. Er haßte es, wenn man aus allem Geheimnisse machte und ihn in Ungewißheit ließ. Wo lag das Motiv? Nur in der Tatsache, daß YʹMan sehr vorsichtig sein mußte? Das hier war schon keine Vorsicht mehr, sondern Böswilligkeit, fand Atlan. Er beherrschte sich mühsam, als er sich an Ceranyl wandte. »Ich glaube, es ist sinnlos, dich nach dem Ziel der Reise zu fragen, aber im Grunde genommen ist es gar nicht mal so wichtig. Mich bewegen andere Dinge. Es ist nicht einmal interessant, wer dein Auftraggeber ist. Ich denke an die SOL und an die Folgen für dieses Schiff, wenn es nicht dem Einflußbereich des Robotgehirns entrinnt. Wir sind hier und wenigstens vorübergehend frei, wenn wir auch auf dich angewiesen sind.« »Was sind deine Forderungen, Atlan?« fragte Ceranyl ruhig. Atlan war überrascht ob dieser Reaktion, die er nicht erwartet hatte. Sein Blick ging zu Akitar hinüber, doch der verhielt sich passiv und schaute scheinbar interessiert durch die halbe transparente Wand hinaus. Der Gleiterrobot hatte sie alle von den Fesselfeldern befreit. Atlan bemerkte die angespannte Haltung der Solaner. Als wären sie auf dem Sprung, um ihm beizustehen, falls es brenzlig werden würde. Aber der Arkonide mit dem silbrigen Haar hatte keineswegs vor, einen Streit vom Zaun zu brechen. Zunächst wollte er versuchen, dem Roboter klarzumachen, daß es für ihn primäre Sorgen gab, gegenüber denen die Vorstellungen des geheimnisvollen Wesens im Hintergrund zurücktreten mußten. Sein Extrasinn meldete sich prompt: Glaubst du wirklich, daß dein Vorgehen sinnvoll ist? Du solltest abwarten, denn nur der kann seine
wahren Chancen abwägen, der seine eigene Lage erkannt hat! Atlan ließ sich selbst davon nicht abhalten. Er wollte jetzt und hier die seiner Meinung nach wichtigsten Punkte klären und würde sich nicht mehr mit Allgemeinplätzen abspeisen lassen. Seine Geduld war erschöpft – zumal es den Anschein hatte, als wäre Ceranyl in Sachen Auskunft kompetenter als Akitar. Tu, was du nicht lassen kannst! resignierte sein Extrasinn. Ceranyl spielt eine Schlüsselrolle und würde auch von sich aus seinen Beitrag zur Klärung der Situation leisten. Atlan verschränkte die Arme vor der Brust und beantwortete die Frage des Roboters. Seine Überlegungen hatten nicht viel Zeit beansprucht. So kam die Antwort scheinbar ohne Zögern: »Es hat wenig Sinn, einfach nur deshalb ständig zu fliehen, weil es in das Konzept undurchsichtiger Mächte paßt. Es ist nun an der Zeit, daß wir uns auf unsere eigentlichen Aufgaben besinnen. Dazu gehört in erster Linie, ein schlimmes Schicksal von der SOL abzuwenden, Ceranyl. Während wir hier sitzen und plaudern, näherte sich das Schiff unaufhaltsam dem Planeten. Vielleicht ist es längst zu spät zur Rettung?« Er ließ die Arme sinken und beugte sich vor. »Wir dürfen nicht vor unserer Verantwortung davonlaufen, sondern müssen alles tun, um zum Herrn in den Kuppeln zu gelangen. Verstehst du das? Dieser Gleiter hier bietet uns eine Möglichkeit, die wir bisher noch nicht einmal annähernd hatten. Er gehorcht dir, Ceranyl, den man den Retter in der Not nennt. Sieh, daß nicht wir in Not sind, sondern in erster Linie das Raumschiff SOL mit all seinen Wesen an Bord! Sieh, daß es nichts nutzt, wenn wir uns in Sicherheit wiegen, während einhunderttausend Wesen einem ungewissen Schicksal entgegenfliegen und die SOL in diesem Augenblick vielleicht schon demontiert wird.« Das war ein absoluter Horrorgedanke für Atlan. Er, den die Kosmokraten von jenseits der Materiequelle hierher geschickt hatten, damit er die SOL übernahm und damit gewisse Aufgaben
erfüllte, befand sich in der entsetzlichen Situation, die SOL für immer zu verlieren und damit in unglaublicher Weise zu versagen! Kein Wunder, daß ihm kein Opfer zu klein erschien, um zu retten, was vielleicht noch zu retten war! Selbst wenn er als Bittsteller zum Herrn in den Kuppeln ging und dort um die Bewahrung der SOL flehte. Er ballte die Hände zu Fäusten und vergaß sekundenlang seine eiserne Selbstbeherrschung. »Du willst es wirklich?« fragte Ceranyl. Atlan ließ die Fäuste sinken und lehnte sich zurück. »Ja!« sagte er einfach. Akitar brach sein Schweigen. »Aber, das wäre der helle Wahnsinn!« rief er aus. »Es wäre alles umsonst gewesen, wofür wir die ganze Zeit über gekämpft haben!« Ceranyl ging nicht auf diese Worte ein. Er sagte: »Niemand kennt die wahren Motive des Herrn in den Kuppeln. Wir ahnen nur, daß er aus purer Langeweile so handelt und dabei glaubt, im Recht zu sein. Er erkennt gar nicht das ganze Ausmaß dessen, was er den Eingefangenen antut. Du kennst das Robotgehirn weniger als wir und kannst nicht ermessen, wie groß sein Haß gegenüber den sogenannten Mißgebauten ist. Zugegeben, der Herr hätte die Macht, uns gnadenlos zu verfolgen und allesamt zu zerstören; er kostet diese Macht nicht aus – nur aus einem einzigen, plausiblen Grund: Er hat vor nichts und niemandem etwas zu befürchten, weil er unangreifbar ist! Bedenke, welche Macht allein der kosmische Zugstrahl darstellt, dem bislang kein einziges Raumschiff entkommen ist, egal, welcher Technik es sich auch bediente. Es wäre der reinste Irrsinn, anzunehmen, man könnte einfach hinfliegen und den Herrn in den Kuppeln ausschalten. Er läßt alle Feinde existieren und intrigieren, weil ihr Schicksal ihn lediglich am Rand interessiert, und das Schicksal der SOL kann nicht abgewendet werden, indem man Überredungskünste anwendet.
Ich verstehe deine Beweggründe, Atlan, und akzeptiere sie voll und ganz. Jeder würde an deiner Stelle zu solchen Handlungen neigen. Ich bin mir auch durchaus bewußt, daß wir dein Vertrauen nur bedingt verdienen. Es hat sich noch nicht eindeutig genug herausgestellt – wenigstens in deinen Augen – ob wir nun positive oder negative Ziele verfolgen. Doch glaube mir, daß wir alles tun werden, um die gegenwärtige Situation zu bessern – nicht nur für euch und für die SOL.« Er machte eine Kunstpause – wie um Atlan Gelegenheit zu geben, diese Eröffnungen zu verarbeiten. Der Arkonide dachte: Mein Vorgehen zeitigt Erfolg, da Ceranyl bereit ist, mir ein weiteres Mosaik des Verständnisses aller Zusammenhänge auf dieser verrückten Welt zu liefern. Verrückt, ja, das ist hier alles: Singende Gleiter, die herumfliegen wie wildgewordene Hummeln; Roboter, die sich menschlich benehmen und sogar Gefühle zu haben scheinen; ein scheinbar planetenumspannendes strategisches Spiel, in das wir integriert sind, ohne die Regeln genügend zu kennen, und hinter dem der geheimnisvolle YʹMan steht. Atlan schüttelte den Kopf. »Und?« fragte er. Ceranyl fuhr fort: »Für die SOL besteht augenblicklich noch keine akute Gefahr, Atlan. Du weißt selber, daß die Geschwindigkeit innerhalb des Zugstrahls nicht kontinuierlich verläuft. Das hat verschiedene Gründe. Einer davon mag sein, daß die Demontagekommandos im Weltraum manchmal mit der Arbeit nicht nachkommen und man deshalb den Nachschub von außerhalb des Sonnensystems ein wenig drosselt. Mit anderen Worten: Du brauchst dir zur Zeit keine Gedanken um das Schicksal der SOL zu machen und kannst dich ganz auf dein eigenes Wohlergehen konzentrieren.« Es klang wie reine Ironie, wurde von Atlan aber kommentarlos hingenommen.
Er schaute in das Gesicht des Roboters, das lediglich aus einem System von kleinen Linsen bestand, die wie ein einziges Facettenauge die obere Hälfte des Kopfes bedeckten, der im übrigen ohne Halsansatz auf dem kubischen Rumpf befestigt war. Ceranyl schien den Kopf nicht bewegen zu können. Die Anordnung der Wahrnehmungseinrichtungen und Bewegungselementen zeigte ein grundsätzliches Handikap des Roboters: Er konnte sich nur auf Dinge konzentrieren, die sich direkt in seinem Gesichtskreis befanden. Alles, was sich hinter seinem Rücken abspielte, mußte ihm verborgen bleiben. Oder hatte er noch zusätzlich Orientierungshilfen, die man optisch nicht wahrnehmen konnte? Atlan dachte daran, daß Ceranyl mit dem Gleiterroboter und wahrscheinlich auch mit anderen sogenannten Mißgebauten in der Front der Verfolger in Verbindung getreten war. Er mußte es so bewerkstelligt haben, daß die anderen Roboter es gar nicht bemerkt hatten. Sonst wäre die Flucht nicht mit solcher Perfektion geglückt. Es lag nicht allein an den fliegerischen Fähigkeiten des Robotgleiters! Möglicherweise hatten die strategisch verteilten Mißgebauten zusätzlich für gewisse Ablenkung gesorgt. Es bewies, welche Möglichkeiten dieser Roboter besaß und daß er allein aus diesem Grund von großer Bedeutung sein mußte. Atlan beobachtete Akitar und sah im Benehmen des Chailiden nur die Bestätigung dafür. Er nahm nicht etwa an, daß Ceranyl mit diesem Y´Man identisch war, aber es mußte eine relativ enge Verbindung geben. Dabei war es nicht auszuschließen, daß Atlan die ganze Zeit über mit YʹMan persönlich referierte und Ceranyl dabei nichts anderes als ein Nachrichteninstrument darstellte! Nach allem, was Atlan auf Mausefalle VII bisher erlebt hatte, war der Gedanke gar nicht mal so abwegig. Er nickte dem Roboter zu.
»Ich entnehme deinen Worten, daß es nicht nur sinnlos wäre, zum gegenwärtigen Zeitpunkt dem Herrn in den Kuppeln – wo immer dieser auch ist – einen Besuch abzustatten, sondern darüber hinaus auch kolossal gefährlich.« »Es würde euren Tod bedeuten – und meine Vernichtung!« bestätigte Ceranyl. Er fügte hinzu: »Ich will damit nicht behaupten, daß dies für immer Gültigkeit hat, aber glaube meinen Worten, daß die SOL zur Zeit außer Gefahr bleibt und wir dabei Gelegenheit bekommen, sozusagen Gras über unsere Angelegenheit wachsen zu lassen.« »Du spielst auf unsere Aktivitäten in der Stadt an, die nichts anderes als ein riesiges Auffanglager für Gefangene aller Schattierungen und Rassen ist?« »Und auf den plötzlichen Angriff auf die Flüchtlinge in der Stadt der Vergessenen! Das Robotgehirn scheint sich bedroht zu fühlen. Solche Maßnahmen sind recht ungewöhnlich. Es kommt hin und wieder vor, daß es seine Robottruppen Exempel statuieren läßt, um die Rebellen einzuschüchtern, doch diese Maßnahmen halten sich stets in Grenzen.« »Bis jetzt?« »Der Verdacht liegt nahe, daß es mit euch zu tun hat!« »Und mit YʹMan!« entgegnete Atlan kühl. »Es geht weniger um unsere Person, sondern vielmehr um das Interesse, das Y´Man für uns hegt und das anscheinend dem Robotgehirn ein Dorn im Auge ist.« Der Verlauf des Gesprächs steigerte die Nervosität von Akitar, dem Chailiden. Sein Verhältnis zu Atlan und seinen Gefährten konnte trotz der praktizierten Verschleierungstechnik, die aus allem ein Geheimnis machte, als gut bezeichnet werden. Dennoch fand Akitar es wieder an der Zeit, seinen Beitrag zu leisten – offensichtlich, um das Gespräch auf andere, ihm genehmere Bahnen zu lenken: »Es ist kein Mißtrauen, wenn dir
gewisse Dinge verheimlicht werden, Atlan, sondern reiner Selbsterhaltungstrieb. Du bist immer noch ein Unbekannter für uns, dem wir nur soweit vertrauen können, wie wir ihn durchschauen.« »Das klingt aber doch erheblich nach Mißtrauen!« »Nein, Atlan, ich würde niemals annehmen, daß du zu einem Verräter an einer guten Sache werden könntest. Dafür bist du zu ehrlich. Aber deine Forderung, zum Herrn in den Kuppeln zu fliegen, um damit die SOL zu retten, zeigt doch recht deutlich, daß durchaus die Gefahr besteht, wichtige Dinge unbeabsichtigt zu verraten. Daß es uns gibt und daß wir immerhin soviel Einfluß haben, um dir zur Flucht zu verhelfen, obwohl eine Armee von Robotern versucht, deiner habhaft zu werden, liegt nur daran, daß wir stets noch vorsichtiger als vorsichtig blieben. Es geht nicht darum, überstürzte Entscheidungen zu fällen, Freunde rein nach Sympathien einzuteilen und demgemäß freizügig mit Informationen umzugehen!« Ohne es zu wollen, hatte Akitar mit feinen temperamentvollen Worten einen sehr wichtigen Umstand verraten: Er spielte eine bedeutende Rolle in dieser Untergrundorganisation, und daß er sich gegenüber Ceranyl dennoch sehr zurückhaltend benahm, bewies nur Atlans Theorie, daß aus dem Roboter mindestens teilweise Y´Man gesprochen hatte, der als Führer der Bewegung gelten durfte. Akitar hatte sich jetzt eingemischt, trotz dieses Umstandes: Er war mithin mehr als nur ein Mitläufer, sondern vielleicht sogar eine Art Berater oder enger Vertrauter! Atlan lächelte. Das machte Akitar bewußt, daß er einen Fehler begangen hatte. Der Chailide schwieg betroffen und lehnte sich wieder zurück. Ceranyl ließ keine Reaktionen erkennen. Er sagte ruhig: »Wir fliegen zu einem Versteck, in dem wir euch sicher wissen: Zu den Inseln der Altwesen!« Bjo Breiskoll, Joscan Hellmut und Gavro Yaal, die die ganze Zeit
über lediglich als Beobachter fungiert hatten, mischten sich nun ins Gespräch. Sie forderten Ceranyl auf, mehr über die Inseln der Altwesen zu verraten. Der Roboter zeigte sich gern dazu bereit. Ungewöhnlich, wenn man an die bisherige Geheimnistuerei dachte. Atlan beobachtete Akitar und dachte immer wieder über dessen Worte nach. Es tat ihm fast leid, daß er eine solche Reaktion provoziert hatte, aber sie war notwendig gewesen, damit die Fronten endlich geklärt wurden. Atlan spürte jetzt wieder mehr Zuversicht, wenn er an die nahe Zukunft dachte, und er hoffte im Stillen, daß diese Zuversicht nicht trügerisch war. Er durfte einen Fehler niemals begehen: Er durfte die Rolle von Y´Man nicht überbewerten! Bei allen Möglichkeiten, die das geheimnisvolle Wesen hatte, gab es auch deutliche Grenzen, sonst wäre die Zeit des Robotherrschers längst abgelaufen. 3. Der Gleiter näherte sich den äußersten Ausläufern des Kontinents, auf dem Atlan und seine Gefährten sich bislang aufgehalten hatten. Atlan konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß alles für sie einen anderen Stellenwert angenommen hatte. Das zeigte nicht allein die relative Offenheit, in der das Gespräch mit Ceranyl geführt worden war, sondern auch der Umstand, daß auch weitere Mitstreiter der Verschwörerorganisation aus der Anonymität auftauchen würden. Sie schauten durch die transparenten Gleiterwände auf das Meer hinaus. In der Ferne zeigte sich eine Gruppe von primitiv anmutenden Schiffen. Sie waren zu weit weg, um ihre Formen genauer bestimmen zu können.
Laut den Beschreibungen von Ceranyl waren die sogenannten Altwesen nichts anderes als die Nachfahren von Raumfahrern, die als erste von Mausefalle VII zum Anflug gezwungen wurden. Wie lange ging das eigentlich schon? Auf jeden Fall erwartete Atlan, daß die Bewohner der Inseln aus ihrer Situation das Beste gemacht hatten, also längst als integriert gelten konnten. Das änderte nichts an der Tatsache, daß viele von ihnen dem Planeten am liebsten den Rücken gekehrt hätten, was sich dahingehend äußerte, daß sich ausgerechnet auf den Inseln wichtige Helfer finden sollten. Die Inselgruppe wirkte aus der Ferne idyllisch und erinnerte irgendwie an vergangene Bilder auf der Erde. Atlan sprach das auch aus. Sofort war die Neugierde der drei Solaner geweckt, und sie betrachteten das malerische Bild mit anderen Augen. »Ein Paradies!« entfuhr es Bjo Breiskoll. »Es kommt immer auf die Perspektive an!« bremste Akitar seine Euphorie. »Warte, bis wir näher sind, dann wirst du verstehen, was ich meine.« Es war überhaupt nicht vorstellbar, daß die Inseln etwas anderes als ein Paradies bargen. Doch die Worte von Akitar machten die Freunde nachdenklich und bald auch mißtrauisch. Jetzt erschienen die primitiv anmutenden Schiffe nicht mehr nostalgisch, sondern wirklich als das, was sie sicherlich waren: als ein Notbehelf! Der Gleiter steuerte auf eine bestimmte Insel zu. Sie war in der Gruppe gewiß nichts Besonderes, sondern lag lediglich am nächsten. Der Roboter Ceranyl betätigte sich als Fremdenführer, was ihm eine diebische Freude zu bereiten schien. Zunächst, ganz entgegen den Bemühungen von Akitar, geriet er ins Schwärmen, doch das schwächte er sehr rasch ab, indem er von den bloßen Betrachtungen oberflächlicher Art zu den Details kam:
»Vor uns liegt Gambaneg.« Atlan schätzte die Insel auf die Größe von Neuguinea auf der Erde. »Diese Insel lebt, wie eigentlich alle in dieser großen Gruppe, von Fischfang und vom Handel. Sehr unterschiedliche Völker haben sich auf den Inseln niedergelassen und sich im Lauf der Zeit vermischt. Sie gehen ihren Geschäften nach, wobei ihre Rassenveranlagungen recht maßgeblich sind. Es gibt ein ausgewogenes, ökonomisches Verhältnis, das natürlich von den dominierenden und überlegenen, weil stärkeren Wesen bestimmt wird. Mit Stärke des Verstandes gemeint. Um vielleicht etwas deutlicher zu werden. Das Wesen steht an der Spitze, das sich aufgrund seiner natürlichen Veranlagung am besten durchsetzen kann.« Atlan konnte nicht verhindern, daß er eine Gänsehaut bekam. »Die Hauptstadt von Gambaneg ist Viorvarden«, fuhr Ceranyl ungerührt fort. »Dort wird die eben genannte Tradition am deutlichsten, denn von dieser größten Ansiedlung auf Gambaneg werden die Fäden gezogen, die über die ganze Insel gehen. In der Vergangenheit hat es manchmal zwischen den Inseln Kriege gegeben. Auch heute sind kriegerische Verwicklungen nicht auszuschließen, bei denen es stets um Machtansprüche geht. Dennoch hat sich kaum etwas geändert. Die Inseln bleiben voneinander größtenteils isoliert. Es kommt selten vor, daß ein Machthaber über mehrere Inseln gleichzeitig herrscht. Es würde ihn für die anderen zu mächtig machen, die ihn sofort angreifen würden, um jede Ausdehnung seiner Machtsphäre von vornherein zu unterbinden.« Inzwischen waren sie immerhin so nahe, daß sie die Stadt Viorvarden genauer betrachten konnten. Es war, als hätte jemand einen verklärenden Schleier weggezogen, als die ersten Zeichen von Schmutz und Elend sichtbar wurden. Neben Vierteln, in denen es den Bewohnern sichtlich gut ging, gab es Slums der übelsten Art. Was Atlan dabei am meisten zusetzte, war die Tatsache, daß der
praktizierte Rassismus von vornherein unerbittlich bestimmte, wohin ein Wesen nach seiner Geburt gehörte: In die Slums oder in die Herrschaftshäuser! Viorvarden besaß einen großen Hafen und beherrschte somit die Küste. Im Hinterland lagen zahlreiche kleinere Ansiedlungen. Die Insel war gebirgig und im Landesinneren offenbar auch ziemlich unwegsam. Die Täler und Küstengebiete, falls sie nicht zersiedelt waren, wurden von dichten Wäldern überzogen. Auch hier herrschten die seltsamen Nadelbäume vor. »Das Klima ist subtropisch«, erklärte Ceranyl. Sie waren jetzt so nahe, daß sie noch mehr Details ausmachen konnten. Viorvarden war im Grunde genommen eine wilde Ansammlung von Gebäuden aller Art. Durchgehende Straßenzüge oder irgendwelche Planung der Bauten schien es nicht zu geben. Jede Rasse wandte in der Stadt ihren eigenen Baustil an, und da die Rassen vermischt lebten, wirkte sich das entsprechend aus. Obwohl die Unterschiede nicht nur eine Folge von unterschiedlichen Rassen, sondern auch von unterschiedlichen materiellen Möglichkeiten waren – ganz einmal abgesehen von Vierteln wie den Slums, die in der Nähe des Hafens begannen und sich wie ein breites, schmutziges Band bis zum anderen Ende der Stadt zogen, wo sie sich stärker ausbreiteten. Die kleineren Ansiedlungen waren, sofern man es von hier aus beurteilen konnte, von solch krassen Unterschieden weitgehend verschont. Sie flogen relativ niedrig über die Hafenanlagen hinweg. Dort lagen die merkwürdigsten Wasserfahrzeuge vertäut. »Einige der hier lebenden sogenannten Altwesen gehen auf Fischfang aus, und jeder tut das auf die Weise, die er für richtig hält«, kommentierte Ceranyl. »Auf den ersten Blick ein heilloses Chaos, nicht wahr? Aber die Herren der Stadt haben alles schön im Griff. Politik wird mit der Faust gemacht, und wenn das nicht genügt, spricht das Schwert. Vielleicht habt ihr die landwirtschaftlich bestellten Flächen rund
um die Stadt gesehen, die in der Regel von Altwesen aus den kleineren Ansiedlungen bestellt werden? Auch sie bieten ein nahezu chaotisches Bild – bei näherer Betrachtung. Falls sie nicht von den Slumbewohnern mit Beschlag belegt werden. Immer wieder entstehen regelrechte Kleinkriege zwischen den Dörflern, die als Wesen zweiter Klasse, und den Slumbewohnern, die als Wesen dritter Klasse gelten. Statt sich auf der fremden Welt zu solidarisieren, bekämpfen sie einander.« »Und der Herr in den Kuppeln?« erkundigte Atlan sich bitter. »Was sagt er dazu? Ich denke, er langweilt sich so sehr? Warum beobachtet er nicht seine Untertanen auf den Inseln? Das würde doch für Abwechslung sorgen, nicht wahr?« Der Roboter ging überhaupt nicht darauf ein. Der Gleiter verließ das Hafenviertel und steuerte auf ein seltsames, verschachteltes Gebäude zu. Es sah aus, wie von einem unvernünftigen Kind aus allerlei Baumaterialien zusammengestopft. Buntes Glas war vorherrschend. Auf dem Gebilde, das wahrscheinlich das Dach darstellen sollte, gab es Teile wie knorrige Baumrinde, dann schornsteinartige, krumme Erhebungen, Regenrinnen, die jedoch das Wasser nicht etwa vom Dach ableiteten, sondern es vielmehr zu sammeln schienen, Schiebeöffnungen verschiedener Farbe und aus verschiedenem Material und drumherum jede Menge Teiche mit brackigem Wasser. Ein buntes, unsagbar häßliches Märchenschloß, umgeben von exotischen Pflanzen, wie Atlan sie nicht einmal auf Mausefalle VII bisher gesehen hatte. Dies schien ausgerechnet ihr Ziel zu sein. Das Gebäude hatte ungeheure Ausdehnungen. Das wurde den Passagieren des Gleiters erst klar, als sie so nahe waren, daß sie Vergleiche anstellen konnten. Es hatte an der breitesten Stelle mindestens einen Durchmesser von hundert Metern. Kein Wunder, daß sogar Teiche auf dem Dach Platz hatten. Auch um das Gebäude herum war brackiges Wasser
vorherrschend. Atlan bildete sich bereits ein, dieses Wasser riechen zu können. Er mußte sich zusammenreißen, und nicht nur deshalb, weil sie in diesem Gebäude ein Verbündeter erwartete, sondern vor allem, weil es falsch war, einem anderen Lebewesen ob seiner natürlichen Gewohnheiten mit Vorurteilen zu begegnen. Der Gleiter steuerte einen kleinen freien Platz an, der von einer hohen Mauer abgegrenzt war und somit von der Straße aus nicht eingesehen werden konnte. Überhaupt hatten sie mit dem Gleiter wenig Aufsehen erregt, obwohl er weit und breit das einzige Fluginstrument zu sein schien. Jeder schien nur mit sich selbst beschäftigt zu sein. Alles andere interessierte nicht. Atlan und seinen Gefährten konnte das nur recht sein. Im übrigen waren sie gespannt auf das Wesen, das sie hier treffen sollten. »Soll ich warten?« meldete sich die beleidigt klingende Stimme des Gleiters. »Nein«, entschied Ceranyl, »du kannst dir die Umgebung ansehen. Ich werde dich bei Bedarf rufen. Aber nur ansehen und keine Streiche spielen!« »Wie bitte? Ich und Streiche?« »Ich denke da an einen Vorfall mit den Fischern. Diejenigen, die damals baden gingen, leiden wahrscheinlich auch heute noch unter dem Schock, verursacht von einem verrückten Robotgleiter, der unbedingt seine Luftakrobatik vorführen wollte und dabei einen Sturm über dem Wasser erzeugte.« »Du bist mir vielleicht ein Freund«, brummte der Gleiter. »Mußt du mich vor all den anderen daran erinnern? Das ist wirklich nicht fair von dir. Wenn du es noch einmal tust, erinnere ich dich an deinen letzten Kurzschluß und den darauf folgenden Linksdrall. Du bist drei Tage im Kreis gelaufen, ehe du es endlich bemerkt hast. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur noch einen tiefen Krater, den du in den Boden gewühlt hast.« »Ist gar nicht wahr«, verteidigte Ceranyl sich. »Ich finde es
lächerlich, daß du hier blödsinnige Geschichten erfindest, nur um von deinen eigenen Fehler abzulenken.« Der Gleiter lachte nur schadenfroh. Inzwischen waren alle ausgestiegen. Der Gleiter erzeugte ein rhythmisches Pochen mit seinen Sprechmembranen. Dann sang er im Takt: »Vorwärts, der Sonne entgegen! Wir scheuen weder Wind, noch Regen …« Er schoß im Kavalierstart empor und erzeugte dabei einen mittleren Wirbelsturm, der die Menschen fast von den Beinen fegte. Sein Gesang verlor sich über den skurrilen Dächern der verrückten Stadt. Atlan schaute sich um. Er suchte nach dem Gastgeber, der allerdings nirgendwo zu sehen war. Ceranyl blieb abwartend stehen. Er schien auf eine Extraeinladung zu hoffen … Der kleine Landeplatz wurde auf der anderen Seite der bunten Mauer von hohen, palmenähnlichen Sträuchern begrenzt. Sie schienen frisch begossen worden zu sein, denn sie trieften vor Nässe. Überhaupt roch es in dieser Umgebung wie in einem unwegsamen Sumpfgebiet. Die Bewohner des Hauses legten offenbar großen Wert auf eine solche, für Menschen eher unangenehme Umgebung. Atlan entdeckte eine silbrige Libelle, die ihre Flügel entfaltete und geradewegs auf sie zusteuerte. Sie sah fast aus, als wäre sie ein getarnter Robotspion, aber kurz vor Atlan drehte sie erschrocken ab und schwirrte davon. Zwischen den dichten und fleischigen Bodenblättern einer Palme bewegte sich etwas. Atlan sah ein handgroßes glitschiges Ding, das sich rasch aufpumpte und die Luft wieder mit einem sehr unanständigen Laut abließ. Dann tauchte es blitzschnell unter. Sekunden später verbreitete sich ein unerträglicher Gestank. Es hatte den Anschein, als wären sie hier nicht erwünscht!
Ceranyl hatte keine Geruchsorgane, weshalb er die unerträgliche Belästigung auch nicht nachfühlen konnte. Bjo Breiskoll, der unter dem Planetenaufenthalt zumindest psychisch am meisten litt und diese Rolle nur vorübergehend an Gavro Yaal abgegeben hatte, geriet zunehmend in Panik. Schon wollte Atlan sich an den Roboter wenden, als das Blätterwerk sich teilte und ein molchähnliches Wesen zum Vorschein kam. Zunächst hatte Atlan den Verdacht, daß es sich um ein weiteres Haustier handelte, das der Besitzer sich hielt, aber der Molch begann zu sprechen: »Rtrigor der Glitschige erwartet seine Gäste in seinem Lieblingswasser. Ich soll die verehrten Gäste fragen, ob sie zu ihm hineinsteigen möchten oder ob er zu ihnen an Land kommen soll.« Atlan konnte es nicht verhindern: Er betrachtete den Molch und schluckte schwer. Ceranyl enthob sie einer Antwort, indem er rasch erklärte: »Dies hier sind Wesen, die Wasser sehr schätzen, weil es ihre Körper vom Schmutz des Alltags befreit und sie belebt, deren Aufenthalt darin jedoch nicht zu ausgedehnt ausfallen darf, sonst beginnen sie zu leiden und vermögen die Güte und Gastfreundschaft von Rtrigor dem Glitschigen nicht mehr in gebührendem Maß zu schätzen.« Der Molch war etwa einen Meter hoch, hatte vorstehende, tiefschwarze Augen, ein breites Froschmaul und rudimentäre Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen. Und jetzt erschien er betrübt. Atlan täuschte sich nicht, denn der Molch sagte: »Ich bitte die Gäste, mir zu folgen, sofern es ihnen möglich ist, ohne zu leiden. Selbstverständlich wird Rtrigor, unser aller Erzeuger und Gönner und Ernährer und Lehrer, auf die besonderen Ansprüche seiner Gäste Rücksicht nehmen.« »Wir folgen!« sagte Ceranyl. Der Molch war zufrieden und verschwand zwischen den nassen
Blättern. Der Roboter bewährte sich als Wegbereiter. Er setzte seine gelenkigen Stahlarme ein, um die üppigen Pflanzen auseinanderzuhalten und seine Begleiter hindurchzulassen. Atlan sah, daß Bjo sich vor der Umgebung ekelte, und klopfte dem Katzer aufmunternd auf die Schulter. Eigentlich litt Joscan Hellmut zur Zeit am wenigsten unter der Vorstellung, sich auf einem Planeten zu befinden. Der Katzer trat vor Atlan in die Lücke. Der Arkonide bildete mit Akitar das Schlußlicht. Der Chailide war sehr schweigsam geworden, aber jetzt fand er es anscheinend an der Zeit, zu allem einen Beitrag zu liefern. »Ich hoffe, wir sind Freunde, Atlan!« »Warum sollten wir nicht?« »Dein Mißtrauen!« »Es war nicht unbegründet, aber du siehst, ich bin freiwillig hier.« »Es blieb dir im Grunde keine andere Wahl.« »Ich fühle mich trotzdem nicht unter Zwang.« »Das ist gut, Atlan. Ich hatte es so sehr gehofft. Es ist nicht nur gut, sondern wichtig!« Nach diesen seltsamen Worten wandte er sich ab und lief vor Atlan weiter. Der Weg war nicht weit. Sie verließen den dichten Pflanzenstreifen und hatten dabei den Eindruck, einen anderen Planeten zu betreten. Rtrigor der Glitschige hatte sich hier ein Stück Heimat aufgebaut. Gewiß steckte eine unglaubliche Arbeit und noch mehr Idealismus dahinter, aber Rtrigor der Glitschige war erfolgreich geblieben. Das Ergebnis sah und fühlte man. Die feuchte Hitze trieb einem den Schweiß aus allen Poren, und alles ringsherum triefte vor Nässe. Der Molch, der sie geführt hatte, glitt in ein Schwimmbecken, das eher wie ein Teich aussah. Im Hintergrund war das Becken so ausgebildet, daß es wie ein übergroßer Thron wirkte. Auch der
Thron war überflutet. Ein Molchaalte sich in dem Wasser, der viel älter als das Wesen wirkte, das sie begrüßt hatte, und eineinhalb mal so groß war. »Das ist er«, erläuterte Ceranyl halblaut: »Rtrigor der Glitschige. Er bewohnt sein Haus mit seiner umfangreichen Nachkommenschaft. Rallye‐Ede hat ihn einmal sehr beleidigt, indem er behauptete, Rtrigor wolle mit seiner glitschigen Sippschaft den ganzen Planeten überfluten. Seitdem ist es besser, wenn Ede rasch wieder verschwindet, nachdem er Passagiere aufgenommen oder abgesetzt hat. Es ist auch ein Grund, warum wir so lange warten mußten. Im übrigen sind die Tiere, die hier hausen, halbintelligente Wesen, die von verschiedenen Raumschiffen stammen. Dort dienten sie teilweise als eine Art Talisman oder einfach nur als Maskottchen. Sie schlossen sich Rtrigor und seiner Sippe an, weil sie sich in einer solchen Umgebung wohl fühlen.« Ceranyl wandte sich an Bjo Breiskoll. Offenbar hatte er dessen Unpäßlichkeit erkannt. »Keine Sorge, Rtrigor ist ein sehr verständnisvoller und toleranter Gastgeber. Ich führte euch nicht hierher, um euch unnötig zu quälen, sondern weil er Gästezimmer unterhält, die er den mannigfaltigsten Lebensgewohnheiten anpassen kann. Sie werden überrascht sein!« Es half Bjo ungemein. Atlan sah es ihm an. Doch sie mußten sich gedulden, ehe Rtrigor sein Lieblingsbecken endlich verließ. »Hier verbringt er die meiste Zeit und steuert auch seine Geschäfte aus diesem Becken«, erklärte der Roboter. Atlan konnte nirgendwo technische Anlagen entdecken. Waren sie etwa als Pflanzen getarnt? Er traute dem Glitschigen inzwischen alles zu. Er hatte seinen Reichtum offenbar nur deshalb angehäuft, um nach seinem Geschmack leben zu können.
Wer nicht? meldete sich sein Extrasinn mit purem Sarkasmus. Jenseits des Teiches stieg Rtrigor aus dem Wasser. Eine Schar seiner Nachkommenschaft erwartete ihn bereits mit weiten Gewändern. Offenbar vertrug es seine grauschwarze, ungeschuppte und stets von einer dünnen Schleim Schicht überzogenen Haut nicht, wenn er sich länger als ein paar Minuten außerhalb des Wassers aufhielt. »Die Gewänder bestehen aus dem Bast eines bestimmten Baumes. Sie halten die feuchtigkeitsgesättigte Atmosphäre um den Körper des Glitschigen sehr lange aufrecht und sind für ihn unentbehrlich, wenn er sich in trockene Umgebung begibt. Die jüngeren Bakjaris sind weniger empfindlich. Rtrigor ist uralt.« »Wie alt?« erkundigte Joscan Hellmut sich prompt. »Das weiß wahrscheinlich nur er selber zu sagen, und er schweigt sich darüber aus. Und noch etwas: Bitte, erwähnt niemals seine Gattin! Er hat sie vor Jahren verloren und leidet sehr darunter. Die Bakjaris führen in der Regel eine monogame Ehe mit absoluter Partnerbindung. Das heißt, man wird nach der ersten Paarung niemals ein Bakjari ohne seine Frau oder umgekehrt sehen. Nach dem Tode eines Partners bleibt der Überlebende allein.« Es dauerte eine Weile, bis Rtrigor der Glitschige ausreichend in den Gewändern verstaut war. Er balancierte auf dem Rand des Beckens und bewies dabei erstaunliche Körperbeherrschung. Eineinhalb Meter groß, balancierte er herbei und klatschte dabei immer wieder in die Hände. Als Rtrigor nahe genug war, rief er flehentlich: »Ach, was soll ich vorbringen, um diese Tölpel von Nachkommen zu entschuldigen? Anstatt mir rechtzeitig Bescheid zu geben und die Gewänder bereitzuhalten, läßt man meine verehrten Gäste warten.« Atlan und seine Gefährten hatten bereits eine Kostprobe der übertriebenen Höflichkeit bekommen, die hier anscheinend an der Tagesordnung war. Daß der Hausherr selber sich sehr gern über diese Regeln hinwegsetzte, wurde bald ersichtlich, als Rtrigor sich
einfach an ihnen vorbeischob und eine einladende Geste machte. »Jetzt aber hurtig, meine Lieben. Komm, Ceranyl, ehe du in der hier herrschenden Schwüle zu rosten anfängst, und einer von denen, die du mitgebracht hast, scheint schon sehr zu leiden. Ich glaube, daß ich euch eine Freude bereite, wenn ich euch hier wegführe in angenehmere Gefilde.« Atlan zeigte sich überaus erleichtert – und nicht nur er. Die ganze Zeit über hatte er seine Gefährten im Auge behalten. Joscan Hellmut gab sich heldenhaft, genauso wie Gavro Yaal. Bei Bjo fehlte nicht viel, und er brach zusammen. Atlan hütete sich, ihn zu unterstützen. Der Katzer hätte es nicht gewollt. Es sei denn, es war völlig unumgänglich. Sie folgten Rtrigor dem Glitschigen, der elastisch vor ihnen ausschritt. Ein seltsamer Anblick: die schlappernden Gewänder, die jeden normalen Menschen binnen kurzem umgebracht hätten – allein durch ihr Gewicht –, die für einen Molch beachtliche Körperfülle und die eigentlich überhaupt nicht dazu passende Gewandtheit der Bewegungen. Atlan hatte so eine Ahnung, wie Rtrigor in dieser Welt zu seinem Reichtum gelangt war. Gewiß hatte er dabei nicht gerade zimperlich vorgehen dürfen. Ceranyl hatte den Arkoniden auserkoren, ihm Informationen zu liefern. Kein Wunder, denn Atlan hatte sich unbewußt zum Sprecher erhoben. Die drei Solaner hatten sich größtenteils zurückgehalten. »Rtrigor der Glitschige gehört zu den heimlichen Rebellen!« Es klang beschwörend aus der Sprechmembran des Roboters. »Es ist nicht gerade ungefährlich für ihn, euch zu beherbergen, obwohl normalerweise die Insel so gut wie nie von Roboteinheiten des Regenten heimgesucht werden. Der Herr in den Kuppeln kümmert sich praktisch überhaupt nicht um die Altwesen. Sie sind für ihn uninteressant geworden – wenigstens uninteressanter als die Wesen in der großen Stadt«
Sie waren gerade im Begriff, das Gebäude zu betreten, als aus großer Höhe ein Etwas herniederfiel, als wollte es alles vernichten und aus dem Gelände einen rauchenden Krater machen. Atlan spürte in sich den Impuls zur Flucht, aber er wußte, daß sie nicht die geringste Chance zum Entkommen hatten. Und dann entpuppte sich der Gegenstand als Rallye‐Ede. Hatte er sie nur erschrecken wollen? Er brachte einen Sturm mit, der die Pflanzen peitschte, in den Teichen mächtige Wellen produzierte und diejenigen, die sich noch nicht im Gebäude fanden, gegen die verschachtelten Mauern trieb. »He, hallo, Freunde, tut mir leid, euch erschreckt zu haben, aber es wird anscheinend brenzlig«, rief Ede. »Bin mit Volldampf hergeflogen, denn stellt euch vor: draußen wimmelt es von Robotern. Teilweise kommen sie mit Wassergleitern. Sieht aus wie eine von langer Hand vorbereitete Invasion!« Bevor der Glitschige sich über das Benehmen von Rallye‐Ede beschweren konnte, rauschte der Gleiter auch schon davon – in der halsbrecherischen Art, die man von ihm gewohnt war. Mit anderen Worten: Er brachte das Gebäude zum Erzittern, und es sah sekundenlang so aus, als würden hervorstehende Teile vom Luftsog mitgerissen werden. Allmählich kam Atlan dahinter, was sich hinter der schlichten Bezeichnung »mißgebaut« alles verbergen konnte! Die Nachricht des Gleiters verhinderte seine Heiterkeit. Eine Invasion der Roboter? Ja, nahmen die denn an, daß die Flüchtlinge sich hier befanden? Atlan dachte an YʹMan und an Verrat von dieser Seite. Automatisch sah er nach Akitar. Unsinn! meldete sich sein Extrasinn. Atlan mußte ihm rechtgeben. Es hatte genügend Motive gegeben, Akitar und auch Ceranyl zu mißtrauen, aber niemand rettet seinen Feind in letzter Sekunde, um ihn später doch einfangen zu lassen. Es war ihm nicht möglich, die Gefühlsregungen des Glitschigen zu
deuten, außer über die Interpretation des Translators an seinem Handgelenk, als Rtrigor hervorstieß: »Habt ihr gehört? Folgt mir! Ich werde euch besser verstecken, als es denen lieb sein wird!« Sie betraten das Gebäude. Das Innere lag im Halbdunkel. Es dauerte Sekunden, bis sich die Augen der Menschen daran gewöhnt hatten. Zwei Bakjaris öffneten eine verborgene Luke am Boden. In die Erde gearbeitete Stufen kamen zum Vorschein. Nässe rieselte an ihnen herunter, doch das durfte sie nicht stören. Ohne eine erneute Aufforderung des Glitschigen abzuwarten, stiegen sie hinab. Der spaßige Gleiter hatte vergessen, ihnen Details zu nennen. Waren die Landetruppen bereits da? Natürlich handelte es sich nicht um eine Invasion, sondern lediglich um eine Razzia. Das besondere Interesse des Herrn in den Kuppeln wurde immer offensichtlicher. Doch in ihrer Situation durften sie das keineswegs positiv werten. 4. Die Maschinen waren in Aufruhr. Für jeden in Viorvarden wurde das ersichtlich. In dieser Stadt, in der man sonst wenig vom Herrn in den Kuppeln hörte und sah, tauchten von der Meerseite aus immer mehr Roboter auf, um die Stadt und die Insel sintflutartig zu überschwemmen. Panik machte sich in der buntgemischten Bevölkerung breit. Die einzelnen Herrscher sahen sich und ihre Minireiche bedroht. Doch keiner wagte die Gegenwehr. Die Roboter waren für die Altwesen praktisch unangreifbar. Hier und da hatte sich eine primitiv anmutende Pseudotechnik entwickelt, verzweifelt geheimgehalten, damit die Roboter keine Sanktionen vornahmen oder Neider aus den eigenen Reihen Eroberungsversuche anstellten. Doch diese Primitivtechnik war ein Nichts gegenüber den
Möglichkeiten der Maschinen. Jeder Kampf war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deshalb übten die Herrschenden sich in Geduld und ließen alles über sich ergehen. Durch die mangelnde Gegenwehr erreichte man eine gewissermaßen versöhnliche Haltung der Invasoren. Es kam nicht zu dem Blutvergießen wie ehemals in der Stadt der Vergessenen. Doch die Razzia förderte manch Unangenehmes zutage. Es wurden unterirdische Kerker entdeckt, in denen Wesen schmachteten, Grausamkeiten, die sonst das Licht der Öffentlichkeit scheuten, Waffenverstecke, die jetzt ihren Inhalt preisgaben und den Robotern zeigten, daß sich auf den Inseln ein wesentliches Machtpotential gebildet hatte. Das Unglaubliche geschah: Die Roboter zeigten sich uninteressiert an den ihrer Meinung nach internen Angelegenheiten der Insel. Aber wonach suchten sie dann überhaupt? Fürchteten sie keine Widerstandsbewegung, die dem Herrn in den Kuppeln gefährlich werden könnte? Wollten sie nicht endlich Not, Elend, Ungerechtigkeit und Grausamkeit beseitigen oder zumindest lindern? Nichts dergleichen! Die Ignoranz gegenüber den Zuständen sprach Bände. Die Herrschenden mußten begreifen, daß niemand ihre Machtansprüche antastete und daß der Herr in den Kuppeln, sich nach wie vor aus allem heraushielt. Nicht sie waren ihm wichtig, sondern jemand anderes, dem schließlich die sorgfältige und rücksichtslose Suche galt. Und wer war das? Während in den Spelunken am Hafen, in den Kontoren der Reichen und auch in den stinkenden Hütten der Hungernden erste Gerüchte entstanden, suchten die Roboter auch das skurrile und nach menschlichen Maßstäben unglaublich häßliche Märchenschloß von Rtrigor dem Glitschigen auf. Er, der seine »Hörlöcher« stets am Puls der Zeit hatte und damit
Macht und Einfluß besaß, wußte bereits von den Gerüchten, als sie noch gar nicht richtig entstanden waren. Sie verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und überholten selbst die maschinellen Chargen des Herrn in den Kuppeln. Rtrigor der Glitschige wußte genau, wem die Razzia galt: Seinen Gästen! Es ist eine besondere Art von Ironie, wenn man die Zusammenhänge aus zwei Perspektiven kennt und sich selber zwischen den Fronten sieht. Laut der Aussage von Ceranyl gehörte Rtrigor zu den heimlichen Rebellen – einer Gruppe von Altwesen, die nicht resigniert haben, wie die meisten Inselbewohner. Die heimlichen Rebellen arbeiteten ebenfalls mit YʹMan zusammen. Nur deshalb kam Rtrigor in Frage, die vier Menschen und den Chailiden Akitar für einige Zeit zu verstecken, bis die Roboter sich wieder beruhigt hatten. Die Zeit der Beruhigung schien in weite Ferne gerückt, nachdem die Roboter eher verstärkte Aktivitäten zeigten – sogar um ein Vielfaches verstärkt. Das Ganze mutete an wie ein weltweiter Aufruhr, und das alles wegen der Handvoll Wesen, die Rtrigor versteckt hielt? Ja, er kannte die Zusammenhänge, doch zur Zeit war es fraglich, ob er sie auch begriff! Es war für ihn sogar fraglich, ob der Herr in den Kuppeln überhaupt wußte, was er bezweckte. Was konnte einzelne Wesen von heute auf morgen so wichtig machen, daß das Robotgehirn sämtliche Gewohnheiten und Verhaltensschema über den Haufen warf und solch drastische Maßnahmen verordnete? Rtrigor nahm sich vor, daran keine weiteren Gedanken mehr zu verschwenden und sein Sinnen und Streben zunächst nur darauf zu verwenden, die Gefährten sicher unterzubringen. Denn wenn sie für den Herrn in den Kuppeln wichtig waren, dann auch für YʹMan, der
der wichtigste Verbündete des Rebellenführers von Gambaneg war. Somit waren die Menschen auch für ihn äußerst wichtig und mußten besser gehütet werden als eine frischgeworfene Brut! Das Haus des Glitschigen war eines der größten in der Stadt Viorvarden. Deshalb kamen die Roboter auch mit wahren Heerscharen. Sieben Gleiter nahmen das Gebäude in die Zange und spuckten jede Menge mobile Einheiten aus, die in Rtrigors Dschungelpark herumtrampelten und anscheinend noch nie etwas von Ökologie oder dergleichen gehört hatten. Sie durchsuchten zunächst den Park, scheuchten dabei sämtliche Bewohner auf, zerstörten ein Drittel des Pflanzenbewuchses, trübten das Wasser der stinkenden Teiche und versetzten sämtliche Bakjaris in Furcht und Schrecken. Eine Bakjara, die älteste der Weibchen und nur deshalb unverheiratet, weil Rtrigor leider keine Möglichkeit, sah, das Inzuchtproblem so zu lösen, daß es seinen gültigen Moralbegriffen nicht widersprach, beschwerte sich lauthals, ehe Rtrigor es verhindern konnte. Krtabra, Tochter des Glitschigen, hatte ein bemerkenswertes Temperament, das sich gegenüber den Robotern als äußerst fatal erweisen konnte. Rtrigor beeilte sich sofort, dagegen einzuschreiten. Da geschah das Wunder: der leitende Roboter, ein Phano mit grellbunten Erkennungsfarben im unteren Teil des kastenförmigen Rumpfes und mit der Seriennummer 8.421, was nichts anderes bedeutete, daß er das 8.421te Exemplar des bewährten Prototyps war, entschuldigte sich in aller Form für das tollpatschige Vorgehen seiner Roboter, die seiner Meinung nach nicht die Schönheit dieser Wesen mit Namen Bakjaris und vor allem nicht die Schönheit und natürliche Anmut der weiblichen Bakjaras verstanden und auch nicht sahen, in welch vollendeter Weise die Harmonie ihres wahrhaft göttlichen Daseins verlief. Krtabra schmolz dahin wie eine Schleimschicht in der tückischen, trockenen Sonne!
Rtrigor war darüber am Ende nicht weniger bestürzt, durchschaute er doch die Taktik des Robotführers, der mit seinem Vorgehen nichts anderes erreichen wollte als eine aktive Mitarbeit der betroffenen Altwesen. Obwohl er mit keinem Wort erwähnte, wen oder was er eigentlich suchte. Auch andernorts geschah das nicht. Die Roboter durchstöberten mehr oder weniger stillschweigend die Insel und würden von Gambaneg wieder ablassen wie ein vollgefressener Heuschreckenschwarm, der weiterzog. Ein besonderer Umstand, wie Rtrigor fand, und vor allem ein Umstand, der die Wichtigkeit der Gesuchten noch unterstrich. Rtrigor wußte, daß Atlan und seine Gefährten mehrmals in Mißkredit wegen ihres Vorgehens geraten waren. Sie hatten dabei auch mehr Erfolg verbuchen können als andere vor ihnen. Eine Rechtfertigung der Maßnahmen war jedoch keinesfalls darin zu finden, sondern mußte an anderer Stelle gesucht werden. Rtrigors Bangen wegen der Empfänglichkeit seiner ältesten Tochter gegenüber Komplimenten aller Art wurde auf keine lange Zeit ausgedehnt. Krtabra erwies sich als echte Ablegerin seines Stammes, indem sie trotz der Schmeicheleien Haltung bewahrte und nichts über den Aufenthalt der Gäste verriet. Rtrigor fiel eine Schlammblase auf das Haupt (natürlich nur symbolisch, was seine Erleichterung umschrieb), und er sah der persönlichen Konfrontation mit dem Phano eher gelassen entgegen. Während die Roboteinheiten ihre Verwüstung innerhalb des weitläufigen Gebäudes fortsetzten und Rtrigor die erschrockenen Schreie seiner Bakjaris vernahm, wandte der Phano sich an den Herrn des Hauses. »Du bist Rtrigor der Glitschige?« Der Roboter bediente sich der Originalsprache der Bakjaris: ein Stakkato von Quaklauten, durch die sich ein ständig wechselndes Vibratomuster wob. Eine Sprache, die ein Mensch niemals hätte erlernen können, weil man dazu ständig Schleim schlucken, Luft pumpen, das Gemisch wieder
hervorwürgen und obendrein ständig die nasse Lappenblase in der Brust schlappern und zittern lassen mußte. Einleuchtend, daß dies nur Wesen fertig brachten, die entsprechende Körperteile besaßen. Ein Roboter hatte es da leichter, da er die entsprechenden Laute auch künstlich erzeugen konnte. Rtrigor bestätigte mit einem rasselnden Glucksen. Dann formte er ein Klangbild, in dem gewisse Vibrationen sich wie ein übertriebenes »R« anhörten. Es bedeutete: »Und was führt euch in mein kleines, bescheidenes Reich, Metallgeborene?« Es war seine Art, höflich zu bleiben, aber unmißverständlich darauf hinzuweisen, daß er ein solches Vorgehen mißbilligte. Dazu verwandte er den Ausdruck »Metallgeborene«. Der Roboter wußte, daß er Rtrigor anders behandeln mußte als dessen Tochter Krtabra. Er schlug einen höflich‐distanzierten Ton an: »Es tut uns außerordentlich leid, dein Haus heimsuchen zu müssen, aber es handelt sich um eine allgemeine Überprüfung der Insel, von der keiner verschont wird.« »Ich glaube eher, daß ihr nach jemandem sucht – mit Verlaub gesagt.« »Mag sein!« wich der Roboter aus. »Und um wen handelt es sich, wenn man fragen darf?« »Ich bin nicht befugt, irgendwelche Auskünfte zu erteilen. Es gehört lediglich zu meinen Obliegenheiten, Verständnis für notwendige Maßnahmen zu erzeugen. Für uns alle ist die Razzia mit Ungemach verbunden und ich möchte dich deshalb auch bitten, mir umgehend alle Beobachtungen mitzuteilen, die dein Alltagsbild in irgendeiner Weise störten. Wir sind für jede Mitteilung dankbar, und falls sie zum erstrebten Ziel führt, soll es nicht dein Schaden sein. Wisse, daß der Herr in den Kuppeln persönliches Interesse hat.« Rtrigor schien zu überlegen, ob er wirklich etwas Auffälliges bemerkt hatte. Doch dann bedauerte er.
»Dieser Tag war ein Tag wie jeder andere. Es waren keine Ungewöhnlichkeiten festzustellen.« Er konnte sich vorstellen, daß die Antworten überall in der Stadt gleich waren. Niemand war der Freund der Roboter, die alle mehr oder weniger gewaltsam auf diesem Planeten festhielten. Der Glitschige lauschte ins Haus. Die Roboter waren noch am Werk, aber es war offensichtlich, daß sie wenig Erfolg hatten. Das ineinander verschachtelte Gebäude bildete eine Welt für sich und führte jeden in die Irre, der sich als unkundig erwies – auch wenn es sich dabei um Roboter handelte. Rtrigor klatschte einmal in die Hände: Das bakjarische Äquivalent eines Grinsens. Der Roboter betrachtete den Hausherrn kritisch, wußte diese Reaktion jedoch nicht zu deuten. Deshalb wartete er vorerst ab und hoffte wohl auf den Erfolg seiner Untergebenen. Rtrigor überbrückte die Wartezeit mit einem belanglosen Gespräch. Jedenfalls hörte sich belanglos an, was er zu sagen hatte. In Wahrheit steckte die Absicht dahinter, mehr über die Motive des Robotgehirns zu erfahren. »Seit langem sieht man Roboter auf unserer Insel. Trotz allem dabei entstehenden Ungemach dürfen wir es uns als große Ehre anrechnen, daß man Gambaneg plötzlich soviel Aufmerksamkeit widmet.« Ein Robotertrupp machte sich gerade daran, den Boden zu untersuchen – ausgerechnet an der Stelle, an der sich die Luke befand. Die Maschinen schälten die erste Lage des nassen, halbverfaulten Materials hoch, das in ihren Stahlhänden zerkrümelte. Die zweite Lage kam an die Reihe. Rtrigor der Glitschige sah es, reagierte aber gar nicht darauf. Seine zur Schau getragene Gleichgültigkeit wurde von dem Robotführer natürlich bemerkt. »Du irrst, Glitschiger, denn nicht nur Gambaneg gehört die
Aufmerksamkeit unseres Herrn, sondern dem ganzen Planeten.« »Oh? Dann ist eine Änderung eingetreten, die niemand erwartet hat. Der Herr der Kuppeln und der ganzen Welt kümmert sich um seine unwürdigen Untertanen? Welcher Umstand dafür wohl die Verantwortung trägt?« Der Roboter antwortete nicht. Sein Linsensystem war starr auf Rtrigor gerichtet. Der Glitschige fuhr fort: »Sollte es an neuen Gästen dieser wunderschönen Welt liegen, denen es gelungen ist, unser aller Herr zu neuen Aktivitäten anzuregen? Es wäre mir ein besonderes Fest, diesen Persönlichkeiten zu begegnen, denn um Persönlichkeiten muß es sich einfach handeln. Wenn es nur um Unwürdige geht, verschwendet der Herr in den Kuppeln niemals seine kostbare Zeit.« Unterwürfigkeit bestimmte seinen Tonfall. Der Robotführer wandte sich an die Maschinen, die inzwischen an der vierten Lage der Bodenabdeckung angelangt waren. Fäulnis hatte das Material größtenteils zersetzt. Die Roboter kamen nicht auf die Idee, daß sämtliche Lagen von einer stabilen Sperrschicht getragen wurden, die man nur anzuheben brauchte, um die Luke freizulegen. »Abbrechen, mitkommen!« befahl der Robotführer knapp. Viele Roboter waren nicht nur mit einer eigenen Denkeinheit, sondern sogar mit Gefühlen ausgestattet. Diese hier schienen dazuzugehören. Sie zeigten sich jedenfalls hocherfreut, das verfaulte Material fallen lassen zu können. Per Funk rief der Robotführer den Rest zusammen. Sie polterten aus dem Gebäude, während Rtrigor zwischen Freude und Trauer schwankte. Freude empfand er, weil man seine Gäste nicht gefunden hatte, um die es offensichtlich ging, und Trauer, wenn er sich vorstellte, welches Chaos die Roboter in seinem Reich angerichtet hatten. Denn noch immer waren die Schreie seiner Nachkommenschaft zu vernehmen!
Erst als keiner der Metallenen mehr zu sehen war, wagte Rtrigor der Glitschige, seine Gäste im Versteck aufzusuchen … Über einen viel zu niedrigen Gang gelangten sie in ein Kellergewölbe. Trotz des knöchelhohen Wassers im Gang, war das Gewölbe vollkommen trocken. Atlan entdeckte Entlüftungsschlitze, durch die es einen ständigen Luftaustausch gab. Deshalb war selbst die Atmosphäre trocken. Eigentlich das ideale Klima für Menschen. Rohgezimmerte Gegenstände, deren Verwendungszweck nur mit viel Phantasie zu erraten war, bildeten die einzige Möblierung. Es ächzte und stöhnte in den Fugen, wenn man sich darauf niederließ. Die Menschen nahmen dennoch Platz. Nur Ceranyl blieb stehen. Ein Roboter bekam keine müden Beine. Atlan sagte zu ihm: »Wieso kam Rallye‐Ede, um die Nachricht persönlich zu übermitteln? Ich denke, er steht mir dir in ständiger Verbindung?« »Still, Atlan!« rief der Roboter schnell. »Wenn das jemand von den Bakjaris hört! Ede wollte sich nur wieder an Rtrigor rächen. Von den beiden ist einer so empfindlich wie der andere. Aber Rtrigor der Glitschige ist hier der Herr, also muß Ede sich unterordnen – ein Verhalten, das ihm überhaupt nicht behagt, wie ihr euch denken könnt.« Atlan und die anderen grinsten, während Akitar keine Miene verzog. Er wirkte wieder mal nervös. Kein Wunder, denn während die Solaner und auch Atlan versuchten, ihre gegenwärtige Situation zu verdrängen, beschäftigte Akitar sich offenbar sehr intensiv mit ihren Möglichkeiten. Ceranyl entging es nicht. Deshalb wandte der Roboter sich direkt an ihn. »Du brauchst nichts zu befürchten. Rtrigor ist, wie du weißt, nicht nur hundertprozentig integer, sondern auch schlau genug, die Robotkommandos von uns fernzuhalten.« »Wäre fein«, knurrte Akitar abweisend, »wenn du uns sagen würdest, was du noch über die Razzia weißt.« Ceranyl schilderte kurz die Lage, sofern Ede sie erkannt hatte,
bevor er sich in Sicherheit brachte. Es wäre nicht gut für ihn gewesen, mit seinen metallenen Artgenossen zusammenzutreffen. Die Roboteinheiten waren sehr genau eingeteilt. Jeder zusätzliche Roboter würde gewiß als Mißgebauter entlarvt werden. Ede scheute das Risiko und befand sich zur Zeit weit über dem Meer. Ceranyl gab zu, daß er jetzt den Kontakt mit ihm verloren hatte. »Hoffentlich kehrt er irgendwann wieder zurück«, sagte Akitar. Ihm schien hier einiges zu mißfallen. Atlan dachte auch an die seltsamen Worte, die er von sich gegeben hatte. »Er wird, Akitar, aber wir wissen nicht, wann das geschieht. Bedenke, daß Ede uns bisher gute Dienste geleistet hat und wir ihn möglicherweise noch länger brauchen. Er muß sehr vorsichtig sein, genauso wie wir. Ich verstehe ja, daß du dich beunruhigst. Die neuerlichen Vorgänge sind nicht dazu angetan, in uns Optimismus zu wecken. Doch darfst du es nicht so ausarten lassen, daß du deinen Freunden mißtraust.« »Ich mißtraue niemandem«, erklärte Akitar barsch, »sondern versuche zu verstehen, warum dies alles vorfällt.« Atlan erstaunte die offensichtliche Ratlosigkeit von Akitar, die mehr und mehr in Unsicherheit mündete. Er fand es an der Zeit, seinen Beitrag zu liefern: »Es ist meines Erachtens die Kombination und Konstellation gewisser Ereignisse. Erstens, die SOL nähert sich dem Planeten und bringt allein schon mit ihrer Masse gewisse Probleme, wie mir scheint. Zweitens, unser Vorgehen stiftete Verwirrung. Drittens, YʹMan ist dem Herrn in den Kuppeln gewiß kein Unbekannter. Auslöser für alle gegenwärtigen Aktionen war unsere Verhandlung mit YʹMan in der Stadt der Vergessenen!« Akitar sah ihn an – entgeistert, wie ihm schien. Aber Atlan irrte sich. Akitar sagte zu den Ausführungen des Arkoniden: »Es ist erstaunlich, wie weit deine Überlegungen bereits gediehen sind, aber ich sehe in allem ein sehr negatives Zeichen und
fühle mich im Moment wie ein unaufgeklärter Befehlsempfänger. Die Zusammenhänge, die ich kenne, haben an Bedeutung verloren. Alle unsere Ziele sind gefährdet, denn durch die Nachforschungen werden eine Menge Dinge zutage gefördert, die später von Bedeutung sein werden – dann nämlich, wenn die Suche erfolglos bleibt. Mit anderen Worten, Atlan, mein arkonidischer Freund: Selbst wenn wir alle entrinnen, wird die Gesamtsituation nur noch schlimmer. Der Herr in den Kuppeln ist rührig geworden und zerstört all unsere Pläne mit seinem Vorgehen.« Akitar wandte sich ab und war fürderhin nicht mehr gewillt, an einem Gespräch teilzunehmen. Atlan konnte es verstehen: Akitar schwankte zur Zeit zwischen Freundschaft und Abneigung. Das war auch kein Wunder. Gern hätte Atlan in Richtung Y´Man weitergebohrt, doch das versprach wenig Erfolg. Im Gegenteil: Es hätte die Atmosphäre zwischen ihnen und Akitar nur noch vergiftet. Ceranyl machte keine Anstalten, eine Schlichtung herbeizuführen. Er erklärte Atlan und seinen Gefährten immer wieder, daß sie zur Zeit nicht gefährdet waren und sie nur abzuwarten brauchten, bis die Razzia beendet wurde. Über ihren Köpfen hörten sie die empörten und manchmal auch erschrockenen Schreie der Molchwesen. Sie übertönten kaum den Lärm, den die suchenden Roboter veranstalteten. Eine schiere Ewigkeit verstrich, bis der Lärm sich endlich legte und Rtrigor auftauchte. Er berichtete, daß die Gefahr gebannt sei, und fragte nach speziellen Wünschen seiner Gäste. Atlan machte sich zum Sprecher. Er kannte die Bedürfnisse der Menschen am besten. »Hast du ein Zimmer mit Schlafgelegenheiten? Sie müßten weich, trocken und warm sein.« »Selbstverständlich, Atlan. Es ist alles vorbereitet. Und wie steht es mit Essen und Trinken? Auch dahingehend bin ich gut ausgerüstet.
Man gab mir Vorabinformationen, ehe ihr mich besuchtet. Obwohl alles schneller ging, als erwartet, wird es mir doch gelingen, meine Gäste zufriedenzustellen. Und falls wir wieder von einem Robotkommando heimgesucht werden, kennt ihr bereits unser bestes Versteck.« Damit waren alle wichtigen Punkte geklärt und die Freunde endgültig in die Gemeinschaft aufgenommen. Atlan gefiel daran nur eines nicht: Rtrigor ließ erkennen, daß es ein längerer Aufenthalt werden würde! 5. Tage hielten sie sich jetzt schon unter der Obhut von Rtrigor dem Glitschigen auf. Was erst wie eine rührende Gastfreundschaft erschienen war, wurde rasch zu einem Problem, vor allem, nachdem Ceranyl sich von ihnen verabschiedet hatte. Dies war bereits einen Tag nach ihrer Ankunft geschehen. Ceranyl hatte keine Begründung dafür gegeben, sondern hatte ihnen nur versprochen, so bald wie möglich wieder zurückzukehren. So warteten sie und wurden auf Schritt und Tritt von den Molchwesen begleitet – falls sie es wirklich einmal wagten, ihr enges Zimmer zu verlassen. Dies war keine Gastfreundschaft mehr, sondern eine strenge Beaufsichtigung! Jedenfalls waren die vier Freunde zu dieser Ansicht gelangt. Akitar befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht bei ihnen. Er war sehr wortkarg geworden und mied sie. Atlan nahm an, daß er unter dem Aufenthalt genauso litt wie sie. Nur wurde nicht ersichtlich, ob er ebenso streng bewacht wurde. Es hatte vielmehr den Anschein, als könnte er sich frei bewegen. Gavro Yaal bestand auf einer Art Krisensitzung, in der er laut seinen Unmut verkündete.
Joscan Hellmut, sein ehemaliger Widerstreiter auf der SOL, war der gleichen Meinung, während Bjo Breiskoll sich anscheinend noch nicht entschieden hatte. Er fühlte sich von allen am wohlsten, denn vier feste Wände um ihn herum vermittelten die Illusion, daß er sich an Bord eines Raumschiffs befand. Er schien regelrecht Furcht davor zu haben, irgendwann wieder das große Gebäude verlassen und unter freien Himmel treten zu müssen. Atlan enthielt sich seiner Meinung und wollte erst hören, was die anderen von der Sache hielten. Gavro behauptete: »Wir sind Gefangene, und ich kann euch auch schon sagen, warum das so ist: Dieser Akitar ist ein enger Vertrauter von YʹMan, und diese geheimnisvolle Person im Hintergrund hat es geschafft, den Herrn in den Kuppeln auf uns aufmerksam zu machen. Doch die Roboter sollen uns nicht bekommen, sondern sollen bei der Suche lediglich vom eigentlichen Geschehen abgelenkt werden.« »Von welchem Geschehen?« fragte Atlan prompt. Gavro Yaal zuckte die Schultern. »Was weiß denn ich? Liegt doch auf der Hand, daß es uns nicht möglich ist, die wahren Motive von YʹMan zu verstehen. Jedenfalls erscheint mir diese Annahme plausibel.« Joscan Hellmut nickte. »Mir auch!« sagte er tonlos. »Wir sitzen so lange hier fest, bis YʹMan Erfolg hat oder untergeht, und Akitar ist der wichtige Verbindungsmann neben Rtrigor, der gegenüber Akitar eher eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint.« »Spekulationen«, meinte Atlan ein wenig abfällig. Er sah, daß er die beiden damit kränkte, und schwächte rasch ab: »Ich mißtraue Akitar nicht. Er leidet unter dem Warten genauso wie wir, und wir können froh sein, daß wir hier in Sicherheit sitzen.« Er lehnte sich zurück und lächelte entwaffnend. »Außerdem wäre es doch kein Nachteil, wenn YʹMan Erfolg hätte, indem er das Robotgehirn mit uns auf eine falsche Fährte lockt?« Sie schauten ihn entgeistert an. Das war offenbar ein Aspekt, den
sie noch nicht ins Kalkül gezogen hatten. Ehe sie etwas sagen konnten, fügte Atlan rasch hinzu: »Es gibt eine Möglichkeit, unsere Lage zu klären.« Bjo Breiskoll meldete sich zu Wort, und er sagte etwas, was keiner von ihm vermutet hätte: »Wir befinden uns Tage in einer Stadt, die wir nicht kennen, weil wir sie nur aus der Luft gesehen haben. Alle Umstände sind ungeklärt, und ihr sitzt hier herum und stellt sinnlose Spekulationen an. Ich frage mich seit zwei Tagen, wieso niemand auf die Idee kommt, einfach das Haus zu verlassen und sich einmal gründlich umzuschauen?« »He!« rief Joscan überrascht, »das sagst ausgerechnet du?« »Ich hätte es auch schon früher gesagt, aber dann wärt ihr vielleicht auf den Gedanken gekommen, mich zu schicken.« Atlan nickte ihm zu. »Ich kam auf den gleichen Gedanken wie du, Bjo Breiskoll, aber du warst nicht so oft draußen wie wir. Das Gebäude hat anscheinend nur einen Zugang, und der führt durch den Park. Wenn man sich dort unten befindet, wähnt man sich in einem Irrgarten. Du kennst den Park nicht so, Bjo, weil du das Haus nicht verlassen hast. Und im Park beaufsichtigen uns nicht nur die Bakjaris, sondern sogar die Tiere.« Er blickte in die Runde. »Bjo hat natürlich recht: Es ist an der Zeit, daß wir uns Klärung verschaffen, wo man uns Aufklärung versagt. Wir fühlen uns wie Gefangene und du, Gavro Yaal, glaubst sogleich an schlimme Motive für eine solche Haltung unseres Gastgebers. Wir können nicht alle gleichzeitig das Gebäude verlassen und wie die Wilden durch den Park rennen, um uns den Weg nach draußen zu erkämpfen. Nein, wir müssen vorsichtig taktieren.« »Willst du etwa allein hinaus?« entfuhr es Bjo Breiskoll. »Warum nicht? Euch müßte es gelingen, die Bakjaris von mir abzulenken.« »Im Park?« »Selbstverständlich nicht. Dort kann man keinen einzigen Schritt tun, ohne beobachtet zu werden. Eine Strategie nutzt da nichts. Aber
ich glaube, eine Stelle entdeckt zu haben, durch die ich nach draußen kommen könnte.« »Mach es nicht so spannend, Atlan!« »Über das Dach!« erklärte der Arkonide lächelnd. »Das Dach?« echoten die drei wie aus einem Mund. »Du wirst dir das Genick brechen! Das Gebäude ist immerhin …« Sie brachen ab, denn es wurde ihnen klar, daß dies keine logischen Gegenargumente waren. Sie waren Solaner und dachten einfach in anderen Kategorien. Von ihnen hätte keiner ein solches Wagnis unternehmen können. Doch Atlan konnten sie es zutrauen. »Einverstanden!« sagte Bjo Breiskoll stellvertretend für alle. »Und wann?« »Jetzt!« sagte Atlan sanft. »Bei unserer Zeitrechnung gingen wir von der SOL‐Zeit aus, doch auf diesem Planeten dauert ein Tag einunddreißig Stunden. Zur Zeit herrscht in der Stadt später Abend. Da dürfte es am leichtesten sein, ungesehen unterzutauchen.« »Eine Expedition ins Unbekannte!« knurrte Joscan Hellmut und sprang tatendurstig auf. »Ich weiß auch schon, wie wir unsere Gastgeber ablenken. Hoffentlich kommt Akitar uns nicht in die Quere!« * Joscan Hellmut und Gavro Yaal kannten den Weg zum Lieblingsteich ihres Gastgebers. Natürlich verbrachte Rtrigor der Glitschige seine schönste Zeit wieder in der stinkenden Brühe. Es war eine Zeit, in der er allgemein nicht gestört werden wollte. Deshalb hatten seine Nachkommen etwas dagegen, daß Joscan und Gavro ausgerechnet jetzt den Herrn des Hauses zu sprechen wünschten. Die Bakjaris widersprachen mit ihrer übertriebenen Höflichkeit und versuchten, die beiden Solaner auf ihr Zimmer zurück zu
komplimentieren. Joscan und Gavro waren anderer Ansicht und ließen deutlich erkennen, daß sie jetzt und sofort Rtrigor den Glitschigen zu sprechen wünschten. Es gelang ihnen, bis zum Park zu gelangen. Da trat Krtabra ihnen entgegen. Die Tochter von Rtrigor hatte als älteste von allen gewisse Privilegien. Zum Beispiel vertrat sie ihren Vater, wenn dieser abwesend war oder nicht gestört werden wollte. So wie jetzt. »Ich bin untröstlich, Ihnen, meine lieben Gäste, versichern zu müssen, daß es wirklich ein denkbar ungeeigneter Zeitpunkt ist, in dem ihr …« Weiter kam sie nicht. Joscan und Gavro hatten die Erstgeborene nicht erkannt. Für sie sahen alle Bakjaris gleich aus. Sie unterschieden sich lediglich in der Größe. Zwar nicht völlig unhöflich, aber sehr bestimmt, unterbrach Joscan Krtabra, und das hatte weniger damit zu tun, daß er sie nicht erkannte, sondern mehr damit, daß er sich diesmal nicht von seinem eingeschlagenen Weg abbringen ließ. »Es tut mir selber unendlich leid, aber es ist nun einmal so, daß wir ungeduldig sind und deshalb um eine Unterredung bitten möchten. Rtrigor der Glitschige hat uns in seiner unendlichen Güte vergessen. Es ist nun schon das fünfte Mal, da wir ihn sprechen wollen. Davon hat er uns zweimal vorgelassen und dabei die Gespräche in unerhebliche Richtungen geleitet.« Krtabra war als sehr resolut bekannt. Eine Eigenschaft, die eigentlich jede Bakjara hatte, falls sie über eine gewisse Zeit hinaus ohne männlichen Partner blieb. Joscan und Gavro ahnten nichts davon. Jedenfalls vergaß Krtabra ihre ausgezeichnete Erziehung von einer Sekunde zur anderen und schnauzte die Männer an: »Jetzt hört mir mal gut zu, Jungs: Gastfreundschaft hin und Gastfreundschaft her, mein Vater ist ein alter Mann, der eine gewisse Rücksichtnahme benötigt, und wenn ich euch erkläre, daß
er euch in diesem Moment nicht empfangen kann, dann ist das auch so und nicht anders. Und ich kann euch versichern, daß ihr im nächsten Augenblick eine fürchterlich explodierende Bakjara vor euch seht, wenn ihr keine guten Jungs seid und euch trollt!« Eine Meisterleistung des winzigen Übersetzers am Handgelenk, der es geschafft hatte, die enormen Geräusche, die von Krtabra produziert wurden, so perfekt zu interpretieren. Die beiden Männer blickten sich betroffen an. Sie befürchteten schon, wesentlich zu weit gegangen zu sein. Aber Rtrigor, der den Lärm gehört hatte und jetzt herbeieilte, um die Ursache zu ergründen, war anscheinend anderer Meinung: Er klatschte erregt in die Hände und rief aus: »Krtabra, ja, bist du den von allen guten Geistern verlassen? Wie gehst du denn mit meinen Gästen um?« »Jeder wird am Ende so behandelt, wie er sich benimmt!« knurrte die Erstgeborene des Glitschigen, wandte sich brüsk ab und watschelte davon. Joscan Hellmut und Gavro Yaal sahen ihr nach. Joscan schluckte schwer. »Sie – äh – hat nicht unrecht, Rtrigor, Herr dieses Hauses. Wir waren unverschämt, dich zu dieser Stunde stören zu wollen.« Der Glitschige hatte nicht einmal die Zeit besessen, sein Schlappergewand anzuziehen. Deshalb konnte er sich nicht lange mit ihnen unterhalten, sondern entschuldigte sich und setzte sich in Richtung Lieblingsbecken in Bewegung. Joscan und Gavro folgten eilig. »Auf der anderen Seite, Rtrigor, König der Glitschigen«, warf Gavro Yaal ein, »geschah unser rüdes Vorgehen nicht ohne Motiv.« Rtrigor ließ sich in die Brühe gleiten, streckte sich mit einem wonnigen Quaken aus und war danach erst bereit, weiter Stellung zu nehmen. »Was für ein Motiv?« Auf einmal war er sehr hellhörig. »Nun, Rtrigor, einer der Unsrigen ist verschwunden!«
Der Glitschige zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. »Verschwunden?« echote er verblüfft. »Ja, Rtrigor: Atlan! Wir warteten auf ihn, und als er nicht zurückkehrte, fragten wir oben deine Nachkommen, doch sie behaupteten, niemand hätte das Zimmer verlassen. Sie hätten gut aufgepaßt.« Rtrigor war zunächst sprachlos, aber dann brüllte er nach seinem Schlappergewand. Diensteifrige Bakjaris eilten herbei und brachten es mit. Rtrigor war nahe daran, seine Würde zu verlieren. Anscheinend wußte er noch nicht so genau, ob die Menschen ihm nun einen Streich spielen wollten oder ob es Atlan gelungen war, seine Nachkommen zu überlisten. Er wollte sich an Ort und Stelle davon überzeugen. Rtrigor, einmal angetan mit seinem Schlappergewand, war nicht mehr zu bremsen. Er legte ein Tempo ein, das seine beiden menschlichen Begleiter kaum einhalten konnten. Bjo Breiskoll stand vor der Tür zu ihrem Zimmer. Er machte einen recht betretenen Eindruck. »Atlan ist nicht wieder zurückgekehrt«, berichtete er stockend. Rtrigor beachtete ihn gar nicht, sondern stieß die Tür auf und wirbelte in das Zimmer. Es war leer. »Wo befindet sich eigentlich Akitar?« fragte Joscan Hellmut scheinheilig. Rtrigor gab keine Antwort, sondern quakte nach seinen Nachkommen. Die Gerufenen kamen nacheinander. Es dauerte Minuten, bis er sie zusammen hatte. Und sie wiederholten, was Joscan schon gesagt hatte, unterstützt von Gavro Yaal: Atlan verließ das Zimmer und kehrte nicht wieder zurück, obwohl die Bakjaris niemanden auf dem Flur gesehen hatten und die Tür sich ihrer Meinung nach nicht ein einziges Mal
öffnete. Rtrigor jagte seine Gefolgschaft in jeden Teil des Gebäudes und wurde nach jeder Meldung nachdenklicher. Atlan blieb unauffindbar. 6. Atlan war im wahrsten Sinn des Wortes zu alt, um sich bei kindlichen Streichen zu erheitern, aber diesmal tat er es doch. Der Plan von Joscan Hellmut war so simpel wie genial. Atlan war sicher, daß Rtrigor eher an parapsychische Fähigkeiten bei Atlan glaubte als an die Wahrheit. Der Arkonide hatte sich zunächst hinter den primitiven Möbeln versteckt, als Joscan Hellmut auf dem Gang Alarm schlug. Die aufgeregten Bakjaris waren hereingestürmt, hatten Atlan nirgendwo entdeckt, vergaßen in ihrer Aufregung, genauer nachzusehen, weil sie den Worten Joscan Hellmuts vertrauten, rasten davon, um den Flüchtling vielleicht noch einholen zu können, und kehrten zurück, nachdem Atlan in ein anderes Zimmer übergewechselt war. Danach brauchte er nur noch ein wenig Geduld zu üben. Rtrigor schickte seine Nachkommen zunächst in den Teil des Hauses, von dem Atlan die Flucht anzutreten gedachte. Dieser Glitschige war ein Schlaufuchs! Nur war Atlan noch ein Stückchen schlauer! Er wartete, bis man an anderer Stelle nach ihm suchte, und schlich sich dann rasch hinauf. Ungesehen erreichte er das Dach. Gewiß wurden die Wasserbecken hier oben zuweilen ebenfalls benutzt, aber sie dienten in erster Linie als Auffangbecken, denn der Wasserverbrauch des Volkes der Bakjaris war enorm. Auf leisen Sohlen lief der Arkonide zum Rand des unmöglich geformten Daches. Nur wenn man die Konstruktion genauer betrachtete, erkannte man den Sinn, der dahinter stand: Neben der
unverständlichen Ästhetik der Bakjaris spielte das Wassersammeln eine erhebliche Rolle. Aber das Wasser wurde nicht etwa sofort abgeleitet, sondern sickerte von den Becken aus gleichmäßig in die porösen Wände des Gebäudes. In einem anderen Klima wäre alles dies nicht möglich gewesen, aber hier regnete es oft und war es zumindest in dieser Jahreszeit unmäßig warm. Atlan sah auch, daß das Dach nicht sehr dicht war. Das brauchte es auch gar nicht zu sein – bei den besonderen Bedürfnissen der Bakjaris. Nur die sogenannten Gästezimmer lagen trocken. Ansonsten herrschte im ganzen Gebäude ein unerträgliches Klima. Atlan warf einen vorsichtigen Blick nach unten. Die Stadt war nur dürftig beleuchtet, denn Elektrizität war hier Mangelware. Das konnten sich nur die Reichen leisten. Doch auf Mausefalle VII wurde es nie richtig dunkel. Dafür sorgten schon die vielen Monde rings um den Planeten. Atlan wunderte sich über den regen Betrieb, der trotz des Dämmerlichts auf den Straßen herrschte. Lag es dar an, weil das Haus von Rtrigor dem Glitschigen in einem Hauptgeschäftsviertel lag? Atlan sah von seinem Versteck aus die mannigfaltigen Geschöpfe. Es herrschte ein wahrer Artenwirrwarr. Wenn er jetzt versuchte, vom Dach herunterzuklettern, was ihm die Auf‐ und Anbauten, Verzierungen und Vertiefungen durchaus erlaubten, blieb das gewiß nicht unbeobachtet. Aber auf der anderen Seite durfte er nicht zu lange warten, sonst erschienen bald die Bakjaris und griffen ihn auf. Der Arkonide zögerte nicht mehr länger. Es war ihm egal, ob man ihn jetzt beobachtete oder nicht. Er trat aus seinem Versteck und betrachtete die Außenwand, bis er die richtige Stelle für den Abstieg gefunden hatte. »He!« rief unten jemand lauthals. »Sieh mal!«
Atlan achtete nicht darauf. Rtrigor hatte ihnen die Waffen nicht abgenommen. Atlan führte also einen Thermostrahler mit sich, der ihm schon ein gutes Gefühl der Sicherheit vermittelte. Zumal er mit dieser Waffe gewiß den meisten Bewohnern von Viorvarden überlegen war. Behende, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als von skurrilen Gebäuden zu klettern, stieg der Arkonide abwärts. Erst als er sich nur noch drei Meter über der Straße befand, warf er einen Blick zurück. Inzwischen hatte sich eine Gruppe von Wesen angesammelt, die allesamt seine Kletterkünste rühmten, über das Greenhorn scherzten, das so unversehens und ohne sich abzumelden, der Gastfreude der Bakjaris zu entfliehen suchte. Der am lautesten und spöttischsten redete, war ein mausgrauer, ungemein häßlich aussehender Fünfbeiner. Sein eiförmiger Rumpf zitterte auf drei seiner spindeldürren Beine, das vierte Bein hielt einen Gegenstand, der einer Axt nicht unähnlich sah, und das fünfte Bein zielte unablässig auf Atlan. Wieder ließ er eine unflätige Bemerkung fallen: »Ein Zweibeiner, ein Krüppel also! Hat man jemals ein so unappetitliches Wesen gesehen? Außerdem hat der Typ auch nur zwei Augen, oder was ist das sonst?« Die anderen lachten pflichtschuldig. Der fünfbeinige Angeber schien es gewohnt zu sein, das große Wort zu führen. Er war offenbar allen anderen überlegen, und nicht nur mit dem zahnlosen Mund. Er überragte die anderen bei weitem. Während sein eiförmiger Rumpf einen Durchmesser von schätzungsweise einem halben Meter besaß, waren die fünf Spinnenbeine immerhin mindestens zwei Meter lang. Er schaukelte leicht auf und ab und bekundete damit seine Heiterkeit, denn der Translator an Atlans Handgelenk übersetzte ein gemeines Lachen, obwohl nur ein Schwingen wie bei einer defekten Baßgeige zu hören war.
Atlan konnte nicht anders: Er überwand die restlichen drei Meter im Sprung und landete genau im Mittelpunkt des eiförmigen, mausgrauen Körpers. Im letzten Augenblick konnte das Spinnenwesen die fünf Augen schließen. Es verlor das Gleichgewicht und kippte mitsamt Atlan um. Der Arkonide hatte es auf die Axt abgesehen, die von den Klauen des Spinnenwesens gehalten wurde. Ein erschreckter Ausruf ging durch die Reihen der anderen. Damit hatten sie nicht gerechnet. Das Spinnenwesen genoß anscheinend großen Respekt, und seine Begleiter konnten nicht begreifen, daß es jemand wagte, sich dem nicht zu beugen. Nur dem Überraschungseffekt war es zu verdanken, daß Atlan dem Spinnenwesen die Axt entwinden konnte. Noch bevor der Arkonide festen Boden unter den Füßen hatte, schlug er mit dem stumpfen Teil der Waffe zu und traf genau die Stelle, oberhalb der im Fünfeck angeordneten Augen. Das Großmaul gab einen blubbernden Ton von sich, der prompt vom Translator mit »Autsch!« übersetzt wurde. Das Spinnenwesen verlor die Kontrolle über seine fünf Beine. Atlan mußte sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen, denn die Beine waren stahlhart und ungemein kräftig. Die anderen kamen dem Überwältigten nicht etwa zu Hilfe, sondern musterten Atlan respektvoll. Jetzt war er der Held der Szene – eine Ehre allerdings, auf die er gern verzichtet hätte. Aber es war wichtig gewesen, ein Exempel zu statuieren, denn in dieser Umgebung galt das Gesetz des Stärkeren, und wenn einer schwach war, dann mußte er zumindest finanzkräftig genug sein, sich eine schlagkräftige Leibwache zu halten. »Und das mit nur zwei Beinen!« murmelte jemand verblüfft. Eine andere Stimme fügte hinzu: »Und mit nur zwei Augen!« Atlan blickte in die entsprechende Richtung und sah ein zierliches Geschöpf mit einem viel zu großen Kopf, der an den Schädel eines
Flußpferdes erinnert hätte, wären da nicht im Halbkreis zwölf Augen angeordnet gewesen. Die Zierlichkeit des Körpers täuschte, denn als das Geschöpf erschrocken vor Atlan zurückwich und sich eine Lücke im Halbkreis der Gaffer bildete, sah Atlan stahlharte Muskelbündel, die fast die enganliegende und schreiend bunt gehaltene Kleidung sprengten. Doch sein Kredit war so groß, daß es niemand mehr wagte, auch nur die Hand gegen den Arkoniden zu heben. Atlan konnte ungehindert die Szene verlassen und hörte nur noch das Schimpfen der Spinne: »Mann, habe ich Kopfschmerzen! Laß mir den nur mal unter die fünf Augen kommen!« Eine leere Drohung, denn die Spinne würde noch eine Weile zur Erholung brauchen. Atlan hatte die Axt bei ihrem Besitzer gelassen. Die Spinne würde sie brauchen, ehe die anderen die Situation ausnutzen und ihr einiges heimzahlten. Mit raumgreifenden Schritten verschwand der Arkonide in einer Seitengasse. Jetzt war er zwar draußen und hatte zumindest einen kleinen Teil der ungeschriebenen Gesetze von Viorvarden erlebt, aber wo lag da der Vorteil? Es schien fast so, als hätte Rtrigor gut daran getan, seine Gäste zu bewachen, damit sie nicht ohne seine Einwilligung das Haus verließen, denn wie sollte man sich in dieser feindlichen und scheinbar chaotischen Umwelt zurechtfinden? Wenn die einmal merkten, daß sie es wirklich mit einem Neuling zu tun hatten, erging es ihm schlecht. * Es war keine gute Idee gewesen, ausgerechnet in diese Seitengasse zu gehen. Die Zeit vor der Landung des Gleiters war zu kurz
gewesen, um die gesamte Umgebung in Augenschein zu nehmen, zumal die Landung auf der anderen Seite des Gebäudes von Rtrigor erfolgt war. Jetzt entpuppte die Seitenstraße sich als direkten Zugang zu einem Zwielichtbereich. Zwielicht – ja, das herrschte hier im wahrsten Sinne des Wortes. Die Häuser rückten näher zusammen, phantasievoll und planlos gestaltet und daher mit so vielen Ecken, Vorsprüngen und Verstecken versehen, daß man sich nicht zu wundern brauchte, falls man sich allein wähnte, es aber bei weitem nicht war. Auf die Bewohner der Straße mußte Atlan wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen wirken. Es wurde ihm zu spät klar. Er hatte erst zwanzig Schritte in diese Seitenstraße getan und wunderte sich, wieso ihm niemand folgte. Ahnungsvoll blieb er stehen. Ein Geräusch hinter ihm. Atlan reagierte anders, als man von ihm erwartete: Er ignorierte das Geräusch und machte einen blitzschnellen Ausfallschritt. Etwas zischte aus dem Halbdunkel herbei und verfehlte ihn knapp. Jetzt konnte er sich immer noch umdrehen. Ein hoher Schatten, auf den ersten Blick mit den Umrissen eines humanoiden Wesens, aber als Atlan zupackte, rasselten unter seinen Fingern stahlharte Schuppen, die einen schlanken, sehr biegsamen Leib bedeckten. Atlan kannte die empfindlichen Stellen des Gegners nicht, deshalb hob er den Geschuppten aus und knallte ihn mit voller Wucht auf den Boden. Der Geschuppte ließ einen langgezogenen Klagelaut hören und blieb liegen. Doch da stürmten sie von allen Seiten herbei. Atlan hatte keine Zeit, die Gegner zu sortieren und zu entscheiden, gegen wen er sich zuerst wehrte. Er warf sich einfach gegen die Front, fand mit den Händen glücklicherweise Halt und
flankte über die Angreifer hinweg. Das mußte denen wie ein Wunder vorkommen, denn sie reagierten nicht sofort, sondern erschienen zunächst konfus. Atlan rannte davon so schnell ihn die Füße trugen. Den Strahler ließ er stecken. Rechterhand gähnte ihn ein dunkler Eingang an. Atlan huschte hinein, kam jedoch nicht weit. Ein Arm hielt ihn auf. Fauliger Atem blies ihm ins Gesicht. »Ich helfe dir!« hörte Atlan aus der Dunkelheit. Der Arm blieb bei ihm und diente als seine Orientierungshilfe. Atlan folgte seinem Retter, einen gewundenen Gang entlang, den er nur erahnte, wurde auf Stufen hingewiesen, über die er mehr stolperte als ging, und prallte am Ende gegen eine Tür. »Warte!« zischte sein Retter. Abermals der faulige Atem, der in Atlan Übelkeit erregte. Er hörte in der Dunkelheit eigenartige Geräusche, die er nicht zu deuten vermochte. Plötzlich gab die Tür nach. Atlan stolperte in das Innere eines schwacherleuchteten Raumes: In der Ecke, auf einem wackligen Tisch, stand eine abgeschirmte Kerze. Sie war die einzige Lichtquelle. Atlans Befreier schloß die Tür und blieb lauschend stehen. Der Arkonide hatte endlich Gelegenheit, seinen Retter zu betrachten, sofern das Licht dies zuließ. Es handelte sich um einen aufrechtgehenden, schlanken Lurch ohne Schwanz und mit gelbschwarzen Punkten. Kleidungsstücke waren nicht zu erkennen. Die Beine waren krumm und kurz. Die Füße besaßen keine Zehen, sondern waren nichts als längliche, sehr elastische Kissen. Die Haut des Lurches schimmerte sanft. Sie schien aus Millionen winzigen Schuppen zu bestehen. Nur die Arme blieben davon frei. Sie waren von einem dunkelgrünen Flaum bedeckt, der an den Armenden immer spärlicher wurde und allmählich in weiche, rosafarbene Haut überging. Atlan hatte diesen Arm berührt, und er hatte sich beinahe
menschlich angefühlt, obwohl die Hand keine Finger, sondern überaus bewegliche, ringförmig angeordnete Tentakel besaß. Extrem wirkte der Kopf, und wenn man diesen betrachtete, vergaß man den Vergleich mit einem Lurch: Von hinten wirkte er sehr breit – breiter als die Schultern. Da drehte das Wesen sich herum. Es hatte ein einziges Auge, doch dieses war tellergroß und wirkte eher wie ein schwarzer Radarschirm. Die Oberfläche des Auges bestand aus einem spiralförmig gewundenen Wulst, dessen äußerster Ring noch relativ dick, dessen innerster Ring jedoch haarfein war. In der Mitte erhob sich das Ende der Spirale wie eine dünne, kurze Nadel. Rechts und links dieses eigenartigen Organs befanden sich halbmondförmige Ohrmuscheln, die sich ständig bewegten. Unterhalb gab es eine breitklaffende Öffnung: ein lippenloser Mund. Ein helles Zirpen trat daraus und wurde übersetzt mit: »Bleib ruhig. Zu mir wagt sich keiner. Sie meiden den Orter!« Es klang wie ein Name, aber es war eine deutliche Übersetzung des Translators. In diesem Fall war das auch notwendig, denn das helle Zirpen, das sich größtenteils im Ultraschallbereich ausbreitete, konnte niemals einen menschlich verständlichen Namen ergeben. Atlan gehorchte und beobachtete gebannt das Wesen. Als der Orter sich abwandte, sah Atlan nur noch kurz, daß dieses nadelfeine Ende der Wulstspirale, inmitten des Auges angeordnet, zu glühen begann. Atlan blinzelte verwirrt. Hatte er sich geirrt? Da riß der Orter die Tür auf. Draußen standen vier sehr unterschiedliche Wesen, die erschrocken zurückprallten, als sie diesen glühenden Zapfen sahen. Dann ergriffen sie schreiend die Flucht. Der Orter drehte sich herum, schloß die Tür wieder und zirpte: »So, das wär´s. Jetzt sind wir wirklich unter uns.« Auf den kissenförmigen Füßen bewegte er sich sehr elastisch. Die Beine blieben dabei relativ starr. Der Orter ließ die »Kissen« sich
ausdehnen und »sprang« damit in die Luft. Es schien sich um eine sinnvolle Anordnung von starken Muskeln zu handeln. Ziel des Orters war das wannenartig anmutende Möbelstück vor dem Tisch. »Verzeih, Fremder, wenn ich die Kerze weiter abschirme. Ich hoffe, du bist mit dem wenigen Licht zufrieden? Aber ich vertrage Licht nicht besonders. Es macht mich blind, weil ich dabei meinen Schirm völlig abdunkeln muß.« Bei der Bezeichnung Schirm deutete er auf sein tellergroßes Auge. »Warum sind die vor dir geflohen und warum bist du mir gegenüber als Retter aufgetreten?« »Ich bin der Herrscher des Hauses und der halben Straße!« verkündete der Orter stolz und wand sich behaglich in seiner Wanne. »Wieso der halben Straße?« erkundigte Atlan sich mißtrauisch. Er wußte immer noch nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte, aber von dem Orter schien im Moment keine Gefahr zu drohen. »Ich meine diese Seite der Straße. Du wurdest von einem der anderen Seite angegriffen. Er wollte dir nichts tun, sondern dich lediglich gefangennehmen. Er gilt als ein mutiger Kämpfer und genießt auf seiner Seite hohes Ansehen.« Atlan blickte sich in dem kargen, schmutzigen Raum um. »Du nennst dich einen Herrscher und haust in einem solchen Loch?« Es dauerte eine Weile, bis der Orter die zirpende Übersetzung dieser Frage verdaut hatte. Er schien sich plötzlich nicht mehr so wohl in seiner Wanne zu fühlen. »Warum beleidigst du mich, Fremder?« fragte er mühsam beherrscht zurück. Auf dem Heimatplaneten des Orters wäre Atlan jetzt gewiß des Todes gewesen, aber der Orter war es hier gewöhnt, mit den unterschiedlichsten Rassengewohnheiten und ‐ansichten konfrontiert zu werden und übte daher widerwillig Toleranz.
»Ich wollte dich nicht beleidigen«, entschuldigte Atlan sich rasch. »Was dir vielleicht herrschaftlich anmutet, wird von meinen Sinnen anders verstanden.« »Ist gut!« sagte der Orter einfach und entspannte sich wieder. Atlan deutete auf den Schirm. »Ich glaube, daß du damit die anderen in die Flucht geschlagen hast und nicht etwa mit deiner Machtstellung.« »Das ist dasselbe«, behauptete der Orter. »Ich habe eine Machtstellung errungen, weil ich den Schirm habe, und beherrsche die anderen, weil ich eine Machtstellung besitze. Sie fürchten beides: Machtstellung und Schirm.« »Keine erschöpfende Auskunft«, beschwerte Atlan sich, »sondern nur ein Bestandteil deiner Hinhaltetechnik. Du willst mich beschäftigen, bis andere eintreffen, um mich gefangenzunehmen. Diese gehören jedoch nicht zu deinen Leuten. Du machst einen Alleingang, sonst hättest du deine Leute nicht verscheucht!« Bravo! meldete sich der Extrasinn, als der Orter sich versteifte. Die Spitze begann sanft zu glühen. Atlan merkte auf. Er lauschte in sich hinein. Erst war da nichts, doch dann setzte das Pulsieren des Zellaktivators ein, den er vor der Brust trug. Diesem Aktivator verdankte er ewiges Leben – vielleicht auch in diesem Moment, denn die Wesen draußen waren nicht ohne Grund geflohen: Der Schirm strahlte gefährliche Strahlen aus! »Was bezweckst du damit?« fragte Atlan ärgerlich. »Ich habe dich durchschaut. Versuchst du jetzt zum Ausgleich, mich zu töten? Mir imponierst du damit nicht. Sieh, ich bin ein Wesen, das gegen deine Ortungsstrahlen immun bleibt.« Das Glühen erlosch sofort. »Ich wollte dich nicht töten«, erklärte der Orter kleinlaut, »sondern dich nur betäuben.« »Und woher willst du wissen, was für mich schädlich ist und was nicht?« trumpfte Atlan auf. Im schulmeisterhaften Tonfall fuhr er
fort: »Du solltest inzwischen genügend Erfahrungen haben, um abwägen zu können. Dein Vorgehen ist leichtfertig und unverantwortlich. Ich sollte dich dafür töten!« Atlan übertrieb absichtlich – und lag damit vollkommen richtig! Sein Vorgehen zeigte sofortige Wirkung. Der Orter rollte sich aus der Wanne und ließ sich zu Boden fallen. Jetzt lag er flach auf dem Bauch und richtete seinen Schirm gegen den festgestampften Lehm. Eine Demutshaltung! Aber vielleicht gehörte das auch zur Hinhaltetaktik? Auf wen wartete der Orter eigentlich? Der Arkonide lauschte nach draußen. Kein Geräusch, als wäre dieses Viertel total ausgestorben. »Hör mit dem albernen Unsinn auf!« tadelte Atlan. »Erhebe dich! Ich will deinen Schirm sehen, wenn ich mit dir rede.« Der Orter gehorchte eilfertig. »Du bist für mich ein fremdes Wesen, Orter. Ich schenke dir dein Leben, und dafür mußt du mir ein paar Informationen geben: Warum nennt man dich Orter?« Das Wesen fand nichts dabei, Atlans Neugierde zu befriedigen, nachdem es sich unterworfen hatte. »Ich bin in der Lage, eine bunte Palette von elektromagnetischen Schwingungen auszustrahlen und auch wieder zu empfangen. So kann ich durch Wände sehen und so beobachtete ich auch dich, als du die Straße betreten hast. Ich eilte hinauf, um dich zu empfangen, als es dir gelang, den Häschern zu entrinnen.« »Mit dem Schirm fängst du also die abgestrahlten Wellen wieder auf – wie ein Radarschirm. Das gelingt dir auch mit Licht. Nur ist dein Schirm so empfindlich, daß er daran Schaden nehmen könnte. Und du kannst auch mit den Ohren orten?« »Ja!« antwortete der Orter einfach. »Und wie hast du deine Verbündeten verständigt, daß sie mich abholen können?«
»Ein Impuls genügte! Ich kann die elektromagnetischen Wellen zwar nicht so differenziert ausstrahlen, daß ich einen regelrechten Funkverkehr führen könnte, aber es genügt, wenn ich eine Art Morsealphabet verwende.« Atlan war noch nie zuvor auf ein solches Wesen getroffen. Kein Wunder also, daß er solche Fragen stellte, obwohl ihm die Zeit unter den Nägeln brannte. Aber hatte er es wirklich so eilig? Der Arkonide lächelte sanft und steuerte auf die Wanne zu. Gelassen legte er sich hinein – genauso wie er es bei dem Orter gesehen hatte. »Du willst denen nicht entrinnen?« fragte der Orter fassungslos. »Sollte ich?« »Auf deinen Kopf ist ein hoher Preis ausgesetzt!« »Du bist wohltuend ehrlich, Orter, aber wie kam es zu diesem Preis und wer will ihn zahlen?« »Einige wollen ihn zahlen, und es kam zu diesem Preis durch die Großrazzia.« »Das verstehe ich nicht. Die Roboter haben doch gar keine Beschreibung geliefert.« »Das brauchten sie auch nicht!« berichtete der Orter eifrig. »Und wieso?« »Die Insel Gambaneg beherbergt lediglich Altwesen. Es gibt praktisch keine Neuzugänge, und die Roboter haben jeden aufgestöbert, außer demjenigen, den sie suchten. Es mußte sich mithin um einen Neuling handeln, der illegal auf Gambaneg weilt. Dieser Neuling kannst nur du sein!« »Interessant!« kommentierte Atlan ungerührt. Orter fuhr fort: »Du bist das einzige Wesen, das so aussieht. Ich weiß das, denn ich bin schon sehr lange auf Gambaneg und habe auch schon schlimmere Zeiten erlebt. Ich war recht arm dran, denn damals war mein Schirm noch nicht voll entwickelt. Ein Orter muß über hundert Jahre alt werden, bis er den Schirm beherrscht. Vorher
ist er auf die Ortung mit Mund und Ohren angewiesen oder auf technischen Ersatz.« »Bist du mit einem Raumschiff gekommen?« »Ja, ganz allein. Erst mit hundert Jahren wird man technisch untauglich. Ich habe es am eigenen Leibe gespürt. Ein Großteil meiner Gehirnkapazität wird dazu gebraucht, um den Schirm einsetzen und die eingehenden Impulse verwerten zu können. Dabei erlöschen Fertigkeiten, die man sich früher aneignete. Ich könnte niemals wieder ein Raumschiff durch das All lenken und habe nur noch sehr vage Erinnerungen daran. Ich hätte viele Jahre als Scout im Auftrag meiner Rasse arbeiten können, wäre ich nicht hier gestrandet.« Atlan hatte eine Eingebung: »Du bist ein Feind von YʹMan?« Orter hörte diesen Namen und fuhr erschrocken zusammen. Abwehrend fuchtelte er mit den Armen. Der Zapfen in seinem Schirm begann zu glühen. Im letzten Augenblick erinnerte er sich daran, daß er damit Atlan nichts anhaben konnte. Er stellte die Ausstrahlung von Todesstrahlen rasch wieder ein. »Ja«, brachte Orter mühsam hervor, »er ist mein Feind. Er ist unser aller Feind, die wir den Planeten nicht mehr verlassen wollen. Ich – ich habe versagt und darf niemals mehr zurück. Sonst werde ich bestraft. So sind die Gesetze meines Volkes. Jetzt gehöre ich in die Reihen der Alten, die nichts im All verloren haben. Niemals zuvor blieb jemand so lange draußen, bis er zum Alten reifte. Ich hätte vor dem Erreichen des Reifestadiums den Freitod wählen müssen. Aber ich habe schändlich versagt, weil ich mich schon zu sehr an diesen Planeten hier angepaßt hatte. YʹMan will die Ordnung stören. Das wissen wir. Deshalb sind wir auf der Seite des Herrn der Kuppeln.« »Du wollest mich an einen verkaufen, der mächtiger ist als du, nicht wahr, Orter?« »Ja!« »Wie sind die Herrschaftsstrukturen in der Stadt?«
»Es – es gibt viele Herrscher. Ich bin einer davon und will gar nicht mächtiger werden als jetzt. Wer viele beherrscht, hat noch mehr Feinde. Mein Reich ist überschaubar, und ich halte mich an die richtigen Leute, um meinen Frieden für mich und meine Untertanen zu erhalten.« Es klang prosaisch und war es gewiß auch, denn der Orter gehörte zweifelsohne zu den Wesen, die rücksichtslos ihren Vorteil wahrten, jedoch selten weitergingen, als sie es sich zutrauen konnten. Atlan hatte gesehen, wie er mit seinen Untertanen umging, und er hatte auch seine Untertänigkeit gegenüber einem offensichtlich überlegenen Gegner kennengelernt. Mit anderen Worten: Orter hängte sein Fähnchen nach dem Wind. Er war ein hinterhältiger Schurke. Der Arkonide blieb in der Wanne und beobachtete den Orter, der sich offensichtlich im Gewissenskonflikt befand. »Bist – bist du ein Freund von – von YʹMan?« fragte der Orter vorsichtig. Gewissenskonflikt? Ja – das, was man beim Orter so nennen konnte! Er war schon wieder auf dem Weg, den größten Vorteil zu erkunden. »Das ist noch nicht sicher!« wich Atlan aus. Und da wußte der Orter plötzlich Bescheid. Er erkannte mit einem Mal, wieso Atlan diese Lässigkeit an den Tag legte. Der Arkonide lächelte schadenfroh, als der Orter in helle Panik geriet. »Ganz recht!« sagte er zu diesem gewalttätigen und heuchlerischen Schurken, »das bist du mir schuldig, Orter. Du hast die anderen auf mich gehetzt und jetzt sieh zu, wie du sie wieder los wirst!« »Nein!« stöhnte Orter gequält . »Ich weiß nicht, ob du ein guter Scout warst, Orter, aber dies hier wird deine erste gute Tat seit deiner Landung auf Mausefalle VII sein. Stimmtʹs?«
»Nein!« wiederholte Orter herzerweichend. Es nutzte nichts: Atlan blieb unerbittlich. Und er wartete. * Es dauerte nicht mehr so lange, da zuckte der Orter merklich zusammen. Mit wachsender Nervosität hatte er seine Aufmerksamkeit der Tür zugewandt. Er »sah« seine Gäste kommen, ehe Atlan etwas davon ahnte. Aber Atlan beobachtete seinen Gastgeber sehr genau und wußte die Reaktionen des Orters zu deuten. »Viel Glück!« wünschte er zynisch. Der Orter hatte es aufgegeben, ihn um Gnade anzuflehen. Er schlich zur Tür wie ein geprügelter Hund. »Und sieh dich vor, Orter. Auch ich verstehe mich auf Todesstrahlen, auch wenn ich keinen Schirm besitze.« Eine Drohung, die nicht notwendig war, denn der Orter hatte gewiß anderes im Sinn als Verrat zu üben. Er war einfach zu feige dazu. Als er die Tür öffnete, glitt Atlan geräuschlos aus der Liegewanne und duckte sich in eine Ecke des karg möblierten Raumes. Vorsichtshalber zog er den Thermostrahler, obwohl er wußte, daß er ihn nur im äußersten Notfall einsetzen würde. Seine Exkursion sollte nicht mit Mord und Totschlag enden. Gern hätte er den Orter noch mehr über die Verhältnisse in Viorvarden ausgefragt, aber dafür war keine Zeit mehr gewesen. Es handelte sich um mehrere Wesen deren Stimmen so leise waren, daß der Translator überhaupt nicht darauf reagierte. Nur das, was der Orter sprach, war deutlich genug. Er stand deutlich unter einem Schock und sprach von einem zweibeinigen Wesen, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Dieses Wesen sei
ihm gefolgt und habe sich als immun gegen die Todesstrahlen erwiesen. Dann wäre es plötzlich auf und davon. Er hätte keine Gelegenheit gefunden, rechtzeitig die Sache abzublasen. Der Sprecher der Gruppe wurde wütend. Jetzt konnte Atlan verstehen: »Willst du uns aufs Kreuz legen, Orter?« »Aber nein, ich war doch immer treu und …« »Wohin ist der Zweibeiner?« »Er verließ mein Zimmer und lief davon. Ich konnte ihm nicht einmal mit meinem Schirm nachspüren. Ich sage euch, das ist ein ganz gefährlicher Bursche. Kein Wunder, daß das Robotgehirn einen solchen Aufwand um ihn treibt.« »Nun gut, ziehen wir los und durchsuchen das Viertel. Vielleicht treibt er sich hier irgendwo herum? Ein Zweibeiner, sagst du?« »Ja, mit silbernem Haar und roten Augen und zwei Armen. Er steckt in einer grünen Kombination.« Die Gruppe lief davon, und Orter kehrte in den Raum zurück. »Und jetzt?« erkundigte er sich bang. »Du hast dich als wahrer Freund erwiesen, Orter. Vielleicht wirst du es eines Tages nicht zu bereuen haben – auch wenn es nur die beruhigende Erinnerung ist, einmal im Leben etwas Positives geleistet zu haben.« »Du bist ungerecht zu mir, Fremder. Ich tue doch alles, um dein Vertrauen …« »Halt, sprich lieber nicht weiter, Orter, sonst kommen mir die Tränen.« »Was – was hast du jetzt mit mir vor?« »Wir warten noch ein wenig ab. Erzähle mir mehr über die Machtverhältnisse auf Gambaneg und vor allem in Viorvarden.« »Was willst du wissen?« »Möglichst alles! Zum Beispiel: Zu wem gehören die Burschen, die vorhin hier waren?« »Zu Ushannyn!« antwortete Orter bereitwillig. »Siehst du, Viorvarden ist in zahlreiche Viertel unterteilt. Du kannst auch
Reviere dazu sagen. Es gibt welche, in denen die Angehörigen eines bestimmten Volkes hausen, aber auch solche, in denen ein kunterbuntes Gemisch zu finden ist, wie beispielsweise hier. Ausnahmslos herrscht über jedes Revier ein Herrscher – so wie ich. Mein Revier ist verhältnismäßig klein und auch nicht reich. Soll ich dir genau darlegen, wovon alle leben? Es wird sehr lange dauern, denn die Verflechtungen sind äußerst kompliziert, vor allem, wenn wir auf die Slums zu sprechen kommen, denn es gibt zwischen den Slums und allen anderen Revieren ein besonderes Verhältnis. In den Slums leben Wesen, die nicht nur unterlegen, sondern vor allem zu nichts nütze sind. Sie bilden sehr dichte Gruppierungen, die kaum zu sprengen sind, weil jeder einzelne Slumbewohner praktisch vogelfrei ist. Nur in der Masse sind sie geschützt. Ich kenne das recht gut, weil ich dort einen Teil meines Lebens auf diesem Planeten verbracht habe.« »Du brauchst nicht jedes Detail zu schildern, Orter, sondern mir nur eine Art politische Übersicht zu geben. Was ich von dir sonst höre, ist mir zu sehr gefärbt. Ein jeder wird es aus seiner Sicht anders empfinden.« Orter war sehr diensteifrig. Es schien für ihn eine besondere Ehre zu sein, Atlan über die Verhältnisse in der Hafenstadt aufzuklären. »Jeder Herrscher ist bestrebt, sein Revier auszudehnen und zu vergrößern. Dazu braucht man vor allem Untertanen. Jeder Neuling, der von außerhalb in der Stadt erscheint, was relativ selten vorkommt, weil sich in den kleineren Ansiedlungen ebenfalls feste Formen des Zusammenlebens entwickelt haben, sieht sich unversehens einer Vielzahl von Wesen gegenüber, die teils um ihn werben, teils um ihn kämpfen, mitunter auch höchst unfeine Methoden anwenden und alles tun, um die betreffende Kreatur in den Dienst ihres Herrschers zu zwingen. Das ist dir passiert, als du die Straße betreten hast. Du konntest dem entfliehen und gerietest an mich. Aber auch ich habe diesen Weg gehen müssen, nachdem ich die Slums verließ und den anderen zeigte, daß ich zu kämpfen
verstehe.« Er wollte sich jetzt offenbar mit seinen Heldentaten brüsten, aber Atlan war daran nicht interessiert und winkte deshalb mit beiden Händen ab. »Stopp, das genügt. Ich möchte noch mehr über die Herrscher wissen und vor allem über diesen ominösen Ushannyn. Was hat es mit dem auf sich?« »Zur Zeit sind die Herrscher, obwohl stets untereinander mehr oder weniger verfeindet, in zwei Hauptlager gespalten. Die einen unterstützen die Roboter und suchen ihrerseits nach dir, Fremder – natürlich mit dem Ziel, dich umgehend an den Herrn in den Kuppeln auszuliefern und sich damit die Gunst des Robotgehirns und allerlei Vorteile zu sichern.« »Aha!« »Äh, Fremder, du siehst, daß ich ehrlich zu dir bin, weil ich dein Freund sein will. Ich habe Ushannyns Schergen auch gut abgewimmelt, nicht wahr?« »Weiter!« drängte Atlan ungehalten. »Also, zu dieser Gruppe gehört dieser Ushannyn, Fremder. Er kontrolliert den oberen Teil der Stadt und hat viele Herrscher unterworfen. Ich gehöre dazu. Genau in meiner Straße verläuft die Grenze zwischen dem Machtbereich von Ushannyn und seinem Gegenspieler mit Namen Forresjor. Dieser ist nicht ganz so mächtig, aber er hat seine Freunde strategisch verteilt und auch in den feindlichen Revieren. Außer natürlich bei mir! Denn meine Leute sind mir treu ergeben.« Atlan durfte zweifeln, aber er sagte nichts in dieser Richtung, sondern wandte sich zur Tür. »He, wohin, Fremder?« »Du wirst mich zu einem neutralen Ort führen, Orter. Ich traue dir nicht und möchte mich von der Richtigkeit deiner Worte überzeugen.« »Gut, mein mißtrauischer Freund, ich werde dich führen, aber ich – äh – ich habe da noch eine winzige Bitte, die du mir … Ich meine,
ich bitte untertänigst …« »Heraus mit der Sprache, Orter, und druckse hier nicht so herum!« Atlan hatte die richtige Methode, mit diesem Wesen umzugehen. »Äh, nun, ich kann mich nicht unter große Menschengruppen begeben, weil es mir dort einfach zu hell ist. Natürlich, ich kann mich sogar in die pralle Sonne wagen, aber dann bin ich ungemein beeinträchtigt. Du mußt verstehen, daß man als Herrscher sozusagen …« »Du hast Feinde? Gewiß, das kann ich gut verstehen.« »Oh, zu gütig, lieber Freund!« »Na los, führe mich. Du brauchst keine Angst zu haben, daß ich mich mit dir in Gesellschaft begebe.« Orter war darüber hocherfreut. Er drängte sich an Atlan vorbei hinaus. Atlan mußte sich durch den stockdunklen Gang tasten und konnte sich nur nach den Geräuschen des Orters richten. Wenn der Orter ihm jetzt eine Falle stellte, war er verloren. Doch seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Atlan kam unbehelligt zur Straße. Es war eine andere Straße. Sie wirkte breiter und auch belebter. In der Nähe schien es einen allgemeinen Treffpunkt zu geben. »Eine Kneipe«, erläuterte Orter unbehaglich. »Ich muß zugeben, daß dies für mich nicht der rechte Ort ist, aber für dich, Fremder, dürfte er ideal sein: Ein absolut neutraler Ort, an dem sich sogar Mitglieder verfeindeter Reviere treffen. Auch meine Leute gehen hin, denn dort gibt es für einen Herrscher allerlei zu erfahren – falls er nicht selber hingeht und sich dabei in Gefahr begibt.« Atlan wandte sich schweigend ab und ging davon. Sein Ziel war die Kneipe. Für Orter hatte er nicht einmal mehr einen Blick übrig. Das Wesen hatte ihm weitergeholfen, aber nicht aus Freundschaft, sondern aus purer Feigheit. In Viorvarden war es nun einmal üblich, daß feige Wesen entsprechend herablassend behandelt wurden. Atlan konnte sich
gegenüber dem Orter keine Ausnahme erlauben. Er mußte größtmögliche Anpassung üben, nachdem der Orter den Leuten von Ushannyn genau erzählt hatte, wie er aussah. Damit hatte der Orter ihm eins ausgewischt, was möglicherweise noch Folgen nach sich zog … 7. Atlan erregte wider Erwarten kein Aufsehen, als er die Kneipe betrat. Zielstrebig suchte er sich ein freies Stehplätzchen, als würde er sich schon recht gut auskennen. Niemand schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung. Er hatte insgeheim doch noch mit einer Teufelei des Orters gerechnet. Vielleicht wollte ihn das Wesen nur hereinlegen? Aber jetzt sah es ganz so aus, als hätte der Orter ihn richtig beraten. Atlan blickte sich um. Er stand an einer krumm und schief errichteten Wand aus einem unbekannten Material. Es gab einen Tisch und damit einen Ausrüstungsgegenstand, der Atlan noch am vertrautesten erschien. Anstelle von üblichen Möbelstücken hatte der Boden mancherorts wannenähnliche, glitschige Vertiefungen. Dann gab es dornartige Auswüchse, die aus dem Boden ragten und nadelspitz endeten. Atlan fragte sich, ob es wirklich Wesen gab, die sich daraufsetzen wollten. Doch dann beobachtete er, wozu diese Einrichtung wirklich diente: Die meisten Wesen nahmen ihre Mahlzeiten ohne Zuhilfenahme ihrer Extremitäten ein. So beobachtete Atlan ein über und über mit Warzen in Faustgröße bedecktes Geschöpf, das einen kurzen, bezahnten Rüssel besaß, mit dem es in unregelmäßigen Abständen schwarzgelbe Fetzen von einem unansehnlichen Brocken riß, der da aufgespießt war. Atlan erinnerte sich an ein terranisches Sprichwort: Andere Länder, andere Sitten! Es traf hier wohl im ganz extremen Maß zu.
Er war längst noch nicht fertig, die mannigfaltigen Arten zu bewundern, die hier verkehrten, als ihn jemand von der Seite her anstieß. Atlan war sofort in Abwehrbereitschaft, doch das Wesen, das in sein Blickfeld rückte, erschien durchaus nicht angriffslustig. Es rülpste Atlan einen Schwall übler Luft entgegen, was vom Translator prompt übersetzt wurde: »Hicks!« Atlan verzog angewidert das Gesicht. So also sahen in Viorvarden die Besoffenen aus. Dieser hier war etwa anderthalb Meter groß, war über und über mit Stacheln bewehrt, hatte eine Farbe, die nach giftgrün tendierte, und schien ansonsten eine Kreuzung zwischen Schaf und Qualle zu sein. »Tschuldigung!« lallte der Betrunkene, griff umständlich in seinen Lendenschurz und brachte einen widerlich gelben Gelee zum Vorschein. »Auch ʹn bißchen Krip?« Was der Fremde mit Krip bezeichnete, erschien Atlan höchst suspekt, weshalb er höflich ablehnte. »Ist der beste Krip, den man in dieser gottverdammten Kneipe bekommt, hicks!« Atlan konnte gerade noch ausweichen, ehe ihn der Schwall wieder voll traf. Er hatte zwar begriffen, daß es sich bei diesem Krip um ein Rauschmittel handelte, das der Wirkung von Alkohol auf einen Menschen gleichkam, aber er hatte keine Lust, seinen Körper zu einem chemischen Versuchslabor zu degradieren. Er lehnte zum zweiten Mal ab. Der Betrunkene wackelte mit seinen Stacheln, was einem Schulterzucken entsprach, und wandte sich zum Gehen. Er verhielt in der Bewegung und wandte sich Atlan wieder zu. Die gutmütigen Schafsaugen betrachteten den Arkoniden genauer. »Dich habe ich hier noch nicht gesehen, mein Junge, stimmtʹs? He, du hast nichts zu kippen und nichts zu saufen? Bedienung!« Ehe der Arkonide es verhindern konnte, wurde das halbe Lokal auf ihn aufmerksam.
Der Betrunkene legte ihm seine siebenfingrige Hand auf die Schulter. Dabei kam Atlan in Konflikt mit den Stacheln. Erstaunlicherweise sahen sie nur gefährlich aus. In Wirklichkeit waren sie samtweich und nachgiebig. Das hätte Atlan nicht erwartet. »Bedienung!« trompetete der Stachelige unüberhörbar. Ein einäugiges Geschöpf, das nach Atlans Meinung eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem wandelnden Lebkuchenmann hatte, allerdings in Menschengröße, watschelte heran. Das Auge war kein Auge, sondern ein Sprechorgan, ähnlich einer Membrane, die kratzende Laute ausstieß: »Was wollt ihr denn, Kerls? Du kriegst jedenfalls nichts mehr, Partuk. Für dich ist kein Krip mehr da, sonst hältst du mir nachher wieder die ganze Kneipe frei und kannst am Ende nicht zahlen.« Der Lebkuchenmann wandte sich an Atlan. »Daraus lernt man. Ansonsten ist er ganz harmlos. Und was kriegst du, Fremder?« »Wasser!« »Richtiges, klares Wasser?« »Ist für meine Rasse ein wahres Labsal!« behauptete der Arkonide. Der Lebkuchenmann wandte sich ab. Während er davonwatschelte, fragte Atlan sich, womit diese Kreatur ihn gesehen hatte. Partuk kicherte. »Sieht aus wie eine Mißgeburt, was? Dabei hat der sich nur gut getarnt. Ich bin das erste Mal auch darauf hereingefallen, indem ich nach Augen und so suchte. Der hat nämlich einen Schutzanzug an, weil er so empfindlich ist. Angeblich stinken wir ihm zuviel.« Das war die Lösung. Atlan wäre wirklich nicht darauf gekommen. Es war ungemein schwer, bei dieser Artenvielfalt herauszufinden, was nun körpereigen war oder was als Kleidung gewertet werden mußte.
Der Lebkuchenmann kam erstaunlich schnell zurück. Er stellte vor Atlan einen bastähnlichen Becher hin. Eine glasklare Flüssigkeit schwappte darin. Atlan roch mißtrauisch. Es schien sich tatsächlich um klares Wasser zu handeln. Der Lebkuchenmann schien ihn genau beobachtet zu haben. »Mißtrauisch, Fremder?« Er kam mit seiner Sprechmembrane noch näher heran. »Bist zum ersten Mal hier, was? Ein Neuling sozusagen? Wäre ganz gut, wenn du ein paar Freunde finden würdest, denn ich kann mir vorstellen, daß du dich noch nicht gut auskennst.« Atlan betrachtete das teigige Gesicht, das keinerlei Konturen hatte. Was aussah wie ein trübes Auge, war keineswegs ein künstliches Ding. Atlan versuchte sich vorzustellen, wie es hinter dem angeblichen Schutzanzug aussah. »Arbeitest du hier?« »Nein, ich helfe nur aus – manchmal.« »Ich nehme an, du willst dich mir als so ein Freund anbieten?« »Schlaues Köpfchen, Fremder. Du gefällst mir immer mehr. Was hältst du von ihm, Partuk?« »Äußerst sympathisch, Solbar, wirklich äußerst sympathisch. Habe ihm deshalb sogar von meinem letzten Krip angeboten. Hat er allerdings abgelehnt. Zieht Wasser vor. Entsetzlicher Gedanke. Du weißt, daß es mich schon nach dem ersten Schluck umhauen würde.« Der Translator übersetzte ein gekünsteltes Lachen. Solbar wandte sich wieder an den Arkoniden. »Man sagt, daß dich Forresjor und Ushannyn suchen. Ein verfluchtes Wettrennen, wenn du mich fragst.« »Du bist sehr offen zu mir, Solbar!« »Sieh mal, Fremder, ich kenne tausend verschiedene Rassen, nicht nur vom bloßen Ansehen, sondern vor allem durch persönlichen Kontakt. Da kriegt man schon so einen gewissen Überblick. Ich sehe
dir an, daß ich dir nichts vormachen kann. Nur deshalb bin ich so offen. Ich möchte dich auf jeden Fall vor Forresjor nachdrücklich warnen.« »Und warum?« »Er ist ein ausgesprochenes Schlitzohr. Der hat seine Leute in allen Revieren sitzen und ist nur scheinbar so schwach und angreifbar. Dabei sieht man ihm die Raffiniertheit gar nicht an.« »Ich sehe schon, es ist ein absoluter Fehler, daß ich mich in der Öffentlichkeit bewege. Jeder scheint über mich Bescheid zu wissen.« Der Lebkuchenmann winkte ab. »Quatsch, jetzt übertreibst du aber. Ich, für meine Person, empfinde es als absoluten Glücksfall. Als dich die Roboter suchten, hast du dich versteckt. Wer hat das denn besorgt?« »Möchtest du jetzt gern wissen, nicht wahr?« »Ist ja schon gut, Fremder. Entschuldige meine Neugierde. War ja nur eine blöde Frage. Aber ganz im Ernst: Ich bin nicht für Forresjor. Nur darf man das nicht laut sagen, weil seine Spione überall lauern. Ich möchte dir ganz einfach vorschlagen, dich in unsere Obhut zu begeben – nicht wahr, Partuk? – und uns zu Ushannyn zu begleiten!« »Und der ist besser als Forresjor?« vergewisserte Atlan sich und dachte an die Ausführungen von Orter. »Was glaubst du denn? Ich sehe, du traust mir nicht?« »Ushannyn wird mich den Robotern ausliefern und erst dann fragen, wer ich bin und was ich hier will!« Atlan hatte die Umgebung die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen, aber er hatte es hier gewissermaßen mit Profis zu tun, denen vorher nichts anzumerken war. Das ganze Spiel war genau vorausberechnet. Man hatte sich auf sein Kommen genauestens vorbereitet und alles war bestens gelaufen. Atlan dachte flüchtig an Orter, der ihn letzten Endes doch hereingelegt hatte – obwohl er damit rechnen mußte, daß Atlan sich
an ihm rächen würde. Aber er schien Ushannyn soviel zuzutrauen, daß er sich nicht gefährdet fühlte. Nur eines hatte Orter anscheinend nicht gewagt: Atlan zu belügen! Alles, was er gesagt hatte, schien bis aufs I‐Tüpfelchen zu stimmen. Sämtliche Anwesenden im direkten Umkreis stürzten sich auf Atlan wie ein Mann. Es war viel zu spät, den Thermostrahler zu ziehen. Gleichzeitig wich die Wand auseinander und verschlang das ganze Bündel von Wesen, mit Atlan in der Mitte. * Der Arkonide fand seinen Thermostrahler nicht mehr. Die Übermacht war so groß, daß er sich nicht zur Wehr setzen konnte. Man schleppte ihn durch Dunkelheit. Es ging eine steile Treppe hinunter, einen weiteren Gang entlang, dann wieder eine Treppe hinauf, die gar nicht mehr enden wollte. Dazwischen waren mehrere Abzweigungen. Sie hielten Atlan die Augen zu, so daß er nur den Wechsel von hell und dunkel wahrnehmen konnte. Sie kamen auch ins Freie, aber nicht lange. In rasender Eile wurde der Arkonide entführt. Er fühlte sich dabei so hilflos wie ein Kind und wußte genau, daß er allein niemals wieder den Weg zurückfinden konnte. Es war ein unverzeihlicher Fehler gewesen, Rtrigor und seine Nachkommen zu verlassen. Aber es hatte sein müssen. Atlan hatte die Bestätigung gebraucht, ob er Rtrigor trauen konnte oder nicht. Unter normalen Umständen hätte ihm Bjo Breiskoll als Telepath helfen können, aber Bjo konnte auf diesem Planeten nicht so handeln, wie er wollte. Der Planet erschreckte und quälte ihn. Bjo konnte seine Kräfte nur dazu aufbringen, Körper und Geist die Tage auf Mausefalle VII heil überstehen zu lassen. Seine telepathischen Fähigkeiten streikten zur Zeit fast völlig.
Atlan hoffte, daß es nicht so blieb, und es wurde ihm bewußt, wie unpassend diese Gedanken im Moment waren. Plötzlich war er frei und stolperte in eine blendende Lichtfülle. Erstaunt blickte er sich um. Atlan stand in einer hohen Halle, an deren Ende breite Stufen hinaufführten. Dort stand eine Art Thron, reich verziert und prunkvoll. Links und rechts des Thrones tummelten sich affenartige Geschöpfe. Sie himmelten ihren Herrn an, der fett und träge auf seinem Thron saß. Atlan zweifelte keine Sekunde daran, daß es sich um Ushannyn handelte, und auch er wirkte affenähnlich. Jetzt bleckte er ein wahres Raubtiergebiß und sagte schläfrig: »Du bist also der Fremde. Eigentlich schade, daß du nicht freiwillig gekommen bist, nachdem es dir gelang, diesen unfähigen Orter zu überlisten. Aber, Schwamm drüber, es soll jetzt nicht mehr zählen.« Ushannyn wollte aufstehen, was er aber ohne fremde Hilfe nicht schaffte. »Gut so, Mädchen!« lobte er seine Helferinnen. »Ich werde euch nächste Nacht alle mit meinem Besuch beehren, denn wenn ich den ungehorsamen Burschen hier abgeliefert habe, bekommen wir gewiß einen guten Grund zum Feiern.« Atlan stand breitbeinig in der Halle und starrte zu dem Affengeschöpf hinauf. »Du bist also der mächtige Ushannyn? Ich sehe nur einen fetten Widerling, der zu träge geworden ist, um seine Geschäfte selber wahrzunehmen. Fürchtest du dich denn nicht, daß man dir eines Tages den Rang abläuft?« Ushannyn erstarrte. Ein solcher Frevel war ihm offenbar noch niemals untergekommen. Er richtete seine Augen auf Atlan, und da spürte der Arkonide die ungeheure Macht dieses Blickes! Darin lag das Geheimnis von Ushannyn: Er war ein Suggestor! Mit dieser Fähigkeit konnte er es sich leisten, fett und träge zu sein. Er brauchte nicht agil zu bleiben, um sich alle Neider vom Leib zu
halten. Nur bei Atlan hatte er damit nicht soviel Glück, wie er es sich wünschte. Die Kreaturen, die ihn hergebracht hatten, wollten sich auf Atlan werfen, doch der Arkonide trat rasch einen Schritt vor und rief warnend: »Rufe die Unwürdigen zurück, Ushannyn, denn die Roboter wollen mich heil zurückgewinnen. Wenn du mir ein Härchen krümmen läßt, ergeht es dir schlecht.« Ushannyn wurde sofort ruhig. Er ließ sich auf seinen Thron zurückplumpsen und knurrte: »Du beeindruckst mich, Fremder. Ich bin mir darüber im Klaren, daß du in Viorvarden Karriere machen würdest – vielleicht sogar auf dem ganzen Planeten. Ich sehe, warum der Herr in den Kuppeln so scharf auf dich ist. Es tut mir ehrlich leid, dich ihm übergeben zu müssen, aber sieh, meine Macht steht und fällt mit der Loyalität gegenüber den Robotern. Sie sind die eigentlichen Herren dieses Planeten, und ich kann ihnen mit meinem besonderen Sinn nichts anhaben.« »Und Forresjor? Er scheint anders zu denken als du. Vielleicht hat er auch nur mehr Mut?« Ushannyn fuhr aus seinem Thron hoch. Das hätte Atlan ihm nicht zugetraut, aber das Affenwesen war höchst erregt. »Du überspannst den Bogen, Fremder. Hüte dich! Forresjor ist ein Name, der in meinem Beisein nicht in den Mund genommen wird, verstanden? Er ist mein Todfeind und wird es sein, bis ich ihn vernichtet habe.« »Ich nehme an, er ist so immun gegenüber deinen Suggestivkräften wie ich?« spöttelte Atlan. »Er hat andere Stärken, die er auch gegenüber den Robotern einsetzen kann.« Es sah so aus, als würde Ushannyn Atlan auf der Stelle töten lassen, aber dann besann sich der Affenartige. Abermals ließ er sich auf seinen Thron fallen. Er keuchte mühsam beherrscht: »Wisse, Fremder, daß Forresjor und mich ein wichtiger Umstand unterscheidet: Ich bin offen gegenüber meinen Feinden
und treibe niemals falsches Spiel, während Falschheit die Stärke von Forresjor ist. Man sagt, er sympathisiere mit YʹMan.« Er riß beide Arme hoch. »Oh, dies ist ein Name, der sonst nie genannt wird, aber du bist da und hast eine Menge Staub aufgewirbelt, Fremder. Solltest auch du mit YʹMan in Verbindung stehen? Ich weiß, daß Forresjor nur heimlich sympathisiert und das nur, weil er sich von YʹMan einen Vorteil verspricht. Ich aber sage dir, daß ich mit offenen Karten spiele und daß Betrug und Lüge nicht mein Geschäft sind. Ich kenne die wahren Herren dieses Planeten und weiß mich ihnen zu beugen. Nur so kann ich selber meine Macht bewahren.« Kaum hatte Ushannyn ausgesprochen, als für Sekunden ein ungeheurer Lärm ausbrach. Atlan fuhr herum. Es war das erste Mal, daß er dem Geschehen in seinem Rücken einen Blick schenkte. Insgesamt dreizehn Kreaturen hatten ihn überwältigt und hergeschleppt. Außer diesen dreizehn, zu denen auch Partuk und Solbar gehörten, befanden sich noch mindestens zwanzig Wachen in der Halle. Sie waren strategisch verteilt, mit Schwerpunkt Eingangstor. Dieses Tor war ein besonderes Prunkstück in der steinernen Säulenhalle. Es wirkte wie der Eingang zu einem wahren Königspalast. Damit zeigte Ushannyn, daß er großen Wert auf Angabe und Theatralik legte. Wahrscheinlich war er nicht ganz so ehrlich, wie er sich eben dargestellt hatte, denn mit Ehrlichkeit allein wurde niemand in Viorvarden reich. Im nächsten Augenblick, nach einer kurzen Phase der relativen Ruhe, wurde das Tor von gewaltigen Kräften aufgesprengt. Im ersten Moment sah Atlan nur die wirbelnden Hufe eindringender Pferde. Erst als er den Blick hob, sah er, daß es sich um einen Trupp von Zentauren handelte. Diese Wesen, halb Pferd, halb Mensch, waren ein wichtiger Bestandteil in den irdischen Mythologien, vor allem der griechischen, und hier sah Atlan reale
Exemplare dieser Gattung – nur wirkten sie nicht ganz so wie in der mythologischen Vorstellung. Das imposanteste Wesen trabte gleich an der Spitze, doch die Beine endeten nicht in Hufen, sondern in geballten, vierfingrigen Händen. Also schien dieses Wesen seine Beine auch wie Arme gebrauchen zu können. Das Führungswesen richtete sich zu seiner ganzen imposanten Größe von über drei Metern auf und brüllte mit einer Stimme wie Donnergrollen: »Wo ist dieser verfluchte Ushannyn abgeblieben? Ging mir der verdammte Affenhund schon wieder durch die Lappen?« Atlan bückte zum Thron hinüber. Tatsächlich, Ushannyn und seine weibliche Affenschar war untergetaucht. Es mußte einen besonderen Mechanismus am Thron geben. Anders war das plötzliche Verschwinden nicht zu erklären. Der feurige Blick des dreiäugigen Anführers richtete sich auf Atlan. Der Arkonide erwiderte diesen Blick und erkannte, daß nur zwei der Augen ihn musterten, während das dritte wachsam hin und her ging. Die Begleiter des Zentauren blieben nicht untätig: Sie waren in einen wilden Kampf mit den Schergen von Ushannyn verwickelt. Der Zentaur ging wieder auf alle viere nieder und näherte sich Atlan. »Man nennt mich Forresjor!« Atlan betrachtete die unglaublichen Muskelberge, die bei jeder Bewegung rollten wie die mächtigen Brecher an einer Steilküste. Forresjor war wahrhaft beeindruckend. Er mußte unglaubliche Körperkräfte besitzen und galt doch als ein durchtriebener Schlaufuchs, wenn Atlan den Worten glauben konnte, die man über Forresjor verbreitete. »Freut mich«, antwortete Atlan knapp und blieb distanziert. »Ich bin hier, um dich zu befreien, Fremder, ehe dieser verruchte
Ushannyn dich an die Roboter ausliefern kann.« Da erscholl die Stimme des Affenartigen: »Du bist diesmal erheblich zu weit gegangen, Forresjor!« Es klang sehr anklagend. »Du wirst mich noch kennenlernen. Es wird eine Vergeltungsaktion geben, wie Viorvarden sie noch niemals zuvor erlebt hat.« »Spiel dich nicht so auf, Ushannyn, für die paar Lakaien, die du verlierst. Sind doch sowieso nichts wert, sonst würden sie dich besser verteidigen. Vielleicht ist es ganz gut, daß es die Rivalität zwischen uns beiden gibt, nicht wahr? Ein gewisses Gesetz der Auslese, was unsere Untertanen betrifft. Die werden wenigstens nicht faul und träge und müssen sich immer wieder bewähren. Die besten von ihnen sollen stets siegen. Außerdem bin ich nicht deinetwegen hier, sondern wegen des Fremden.« Forresjor ging mit der Vorderhand hoch und blieb eine Weile in dieser Stellung. Er hatte keinerlei Mühe damit, wie es schien. Beide Fäuste der Vorderextremitäten reckte er zur Hallendecke. »Jungs, seht euch doch mal genauer um. Seit wir das letzte Mal hier waren, hat der gute alte Ushannyn renoviert! He, es fällt mir erst jetzt auf. Donnerwetter noch eins, das gefällt mir. Dagegen ist mein Palast eine mickrige Scheune.« Mit wildem Blick schaute er sich um. Atlan registrierte, daß keiner der Schergen von Ushannyn mehr kampffähig war. Forresjor und auch Ushannyn selber schien das keineswegs zu kümmern. Sie hatten im Moment andere Sorgen. Dagegen trat sogar Atlan in seiner Bedeutung zurück. Forresjor wandte sich an seine Leute. »Was haltet ihr denn davon, meine guten Jungs? Würde dieser Prunk eurem Papa nicht besser zu Gesicht stehen?« Weitgehende Bestätigungen. Forresjor schien glücklich zu sein. »Damit«, grollte er feierlich, »nehme ich diese grandiose Halle in Besitz und werde ihrem Erbauer Ushannyn dafür ein Denkmal errichten. Ushannyn, hörst du mich? Du hast nicht nur eine schmucke Halle und einen schönen Thron, sondern auch noch
einige andere Tricks, die ich jetzt erforschen werde, damit du mir nicht mehr so schnell in die Quere kommen kannst.« Es erfolgte keine Antwort. »Hörst du mich, Ushannyn? Du hast keine Chance, außer die zur Flucht, denn ich habe ein ganzes Heer draußen stehen. Der Fremde erscheint mir äußerst wichtig.« Forresjor wandte sich an Atlan. »YʹMan wird sich gewiß persönlich bemühen, wenn er erfährt, was ich für ihn getan habe. Die verdammten Roboter werden mir nichts antun, denn ich bin viel zu schlau für die. Glaubst du das, Jungchen?« Atlan überging das Jungchen, dachte sich, daß Forresjor nicht nur stark und schlau, sondern vor allem sehr schwatzhaft war, und wandte seine Aufmerksamkeit zur Tür, denn dort tat sich etwas. Die Zentauren wurden ebenfalls aufmerksam. Draußen war es ungewöhnlich still, und Ushannyn meldete sich nicht mehr. Forresjor schien der einzige zu sein, der es nicht bemerkte, während Atlan eine gelinde Gänsehaut spürte. Er ahnte, daß es eine ungewöhnliche Wende geben würde. »Der feige Ushannyn ist auf und davon. Daran tat er gut, und ich bin jetzt der Herr in diesem Haus. Ich verkünde es noch einmal, daß dies hier ab so fort mein Hauptquartier ist!« In diesem Augenblick öffneten sich ringsum die Wände wie auf einen geheimen Befehl. Mindestens zweihundert recht abenteuerlich aussehende Wesen tauchten auf und richteten ihre primitiv, aber wirksam aussehenden Waffen auf die Zentauren. Größtenteils handelte es sich bei den Waffen um Armbrüste und dergleichen. Die Stimme von Ushannyn schien aus dem Nichts zu kommen: »Du hast dich zu früh gefreut, Forresjor. Der Fremde erweist sich jetzt für dich als tödliche Falle. Dies hier ist nun dein Hauptquartier, nicht wahr? Nun, ich habe es gewagt, dein Hauptquartier zu betreten und fordere den Fremden wieder zurück.« »Wenn mir etwas geschieht, wird das ganze Viertel dem Erdboden gleichgemacht!« drohte Forresjor.
»Das glaube ich dir aufs Wort, mein Freund, aber ich möchte dich nicht töten, sondern tausche dein Leben gegen das Leben des Fremden. Wie gefällt dir das?« Atlan achtete gar nicht auf die Krieger, sondern blickte gebannt zum Eingang. Dort draußen ging etwas vor, von dem Ushannyn offenbar gar nichts ahnte. Und in diesem Augenblick verlagerte sich die Szene in das Innere der Halle. Ein Roboter trat ein, wie Atlan noch keinen bisher auf Mausefalle VII gesehen hatte. Und Atlan, der unsterbliche Arkonide wußte im gleichen Moment, daß er diesmal niemand anderes als YʹMan persönlich vor sich hatte! Y´Man war gekommen – und das war zweifelsohne seinetwegen geschehen! 8. Atlans erster Gedanke war: Ich habe richtig gehandelt, von Anfang an und in aller Konsequenz richtig gehandelt, und der größtmögliche Erfolg, den ich dabei erzielte, gibt mir recht! Rtrigor, einige andere Altwesen und die Mißgebauten der Roboter bildeten eine Partei. Sie spielte zwar in der Küstenstadt und auch auf der ganzen Insel Gambaneg die nach außen hin unbedeutendste Rolle überhaupt, aber jetzt zeigte sich, daß sie mehr Einfluß besaß, als man ihr allgemein zugetraut hätte. Denn Y´Man war mit ihnen! Rtrigor folgte dem ungewöhnlichen Roboter auf dem Fuß. In seinem Kielwasser watschelte seine Tochter Krtabra, die zweifelsohne einmal seine Rolle übernehmen würde, falls er nicht mehr da war. Atlan konnte sich jetzt schon vorstellen, daß sich dabei einiges ändern würde. Rtrigor war gegenüber seiner jähzornigen
und verknöcherten Tochter ein gutmütiger alter Mann. Im Moment hielt Krtabra sich zurück und gab sich eher unterwürfig. Atlan hatte Gelegenheit, den Roboter genauer zu betrachten. Y´Man war ein ohne Zweifel nach humanoidem Vorbild geformter Roboter, denn er hatte zwei Arme, zwei Beine, einen Rumpf und einen Kopf. Seine äußere Hülle war stumpfgrau, sein Gesicht völlig nach menschlichem Muster modelliert; er hatte sogar eine Stirn, angedeutete Brauenwülste, Wangen, Nase, Mund und Kinn. Nicht einmal die Ohren fehlten! So erinnerte sein Kopf an die Büste eines Künstlers. Er strahlte unzweifelhaft Würde aus, obwohl er völlig starr, weil total aus Metall gefertigt war. Sogar eine Art Haartracht war angedeutet, ebenfalls aus Metall. Eine Haube von der Form einer Pagenfrisur umgab den oberen und hinteren Teil des Schädels. YʹMans Augen bestanden aus einem gelblichen, kristallinen Material. Sie lagen weit auseinander und traten ein wenig hervor. Auch sie wirkten völlig starr und schienen dennoch alles wahrzunehmen, was sich im Gesichtskreis befand. Jeder der Anwesenden fühlte sich im gleichen Maß von diesen gelben, künstlichen Augen gemustert. Der Rest des Körpers erinnerte Atlan entfernt an eine altertümliche Ritterrüstung, mit Gelenkschalen und ringförmigen Elementen um die Körpermitte. Insgesamt wirkte YʹMan zumindest von der Figur her beinahe kindlich: Er war gedrungen, Arme und Beine ein wenig zu kurz, der Kopf eine Spur zu groß für den Körper. Atlans Blick fiel auf die Metallhände: Sie waren fünffingrig, klein und sehr feingliedrig. Die Füße waren dagegen wie vorne abgerundete Schuhe gefertigt. YʹMan war nur schätzungsweise ein Meter dreißig bis ein Meter fünfunddreißig groß! Dabei bewegte er sich relativ langsam, um nicht zu sagen tapsig. Dennoch öffneten sich die Reihen und ließen ihn hindurch. Rtrigor
wirkte im Geleit von YʹMan zwar eher wie ein besserer Diener, aber dabei sehr selbstbewußt. Sein Gewand schlapperte leise als er seinen Körper straffte. Im gebührenden Abstand hinter YʹMan blieb er stehen. Auch der metallische Körper des ungewöhnlichen Roboters straffte sich. Er stand nur wenige Schritte von Atlan entfernt. Der Arkonide ließ ihn nicht aus den Augen; deshalb entging ihm auch keine Nuance. Die gelblichen, kristallinen Augen begannen deutlich zu funkeln, und dann sprach YʹMan mit einer schneidenden Stimme: »Ihr seid wie die Kinder, Ushannyn und Forresjor, mit dem Unterschied, daß eure Spiele ständig das Leben vieler Untertanen kosten, und darüber hinaus Not und Elend nur noch vergrößern. Ist die Rolle der Altwesen auf Gambaneg und den anderen Inseln des Inselreiches nicht schon trist genug?« YʹMan steigerte sich in Erregung. Dabei kletterte seine scharfe Stimme fast bis zum Diskant und erreichte jeden Winkel der Halle. Die Schergen von Ushannyn hatten längst ihre Waffen sinken lassen und die Zentauren waren auf alle viere niedergegangen. Man sah Forresjor an, daß er sich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen hätte. Er war das personifizierte schlechte Gewissen. »Könnt ihr eigentlich begreifen, daß in eurem Benehmen der Grund für die gegenwärtigen Zustände auf diesem Planeten zu finden ist? Daß die Situation nur als Folge eurer Unarten gewertet werden kann? Wann beginnt ihr zu denken und zu fühlen und euch bewußt zu werden, daß das Wichtigste im Leben eines intelligenten Wesens das Leben als solches ist? Oder ist euch das gar zu abstrakt? Schiebt einmal eure primitiven Bedürfnisse wie Fressen, Saufen und Arterhaltung beiseite und reichert sie nicht auch noch mit Machtgelüsten, Unterdrückung anderer und Vernichtung von Leben als Ausweg aus der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins an. Was dabei übrig bleibt, nennt man gemeinhin Vernunft, und die wird euch genau sagen, was ihr verkehrt macht. Und ihr werdet erkennen, was
euer Daseinszweck ist, ganz von allein!« Aus den Augenwinkeln erkannte Atlan, daß der Thron von Ushannyn sich wie eine Drehbühne bewegte und Ushannyn zum Vorschein brachte. Der Affenartige trat einen Schritt vor und verharrte dann, als wäre er vor lauter Demut gelähmt. Atlan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Roboter. Bei dessen Eintreten hatte es einen krassen Widerspruch zwischen seiner Erscheinung und der Wirkung seiner »Person« gegeben. Eigentlich machte YʹMan den Eindruck, als wäre er peinlich berührt ob des ungeheuren Respekts, den man ihm entgegenbrachte. Bis er mit seiner Standpauke begann, und damit war er keineswegs fertig! »Ushannyn, es ist gut, daß du aus deinem Mauseloch kommst und dich zeigst. Ich dachte schon, das schlechte Gewissen hätte dich in die Flucht geschlagen. Ein Schaden wäre es wohl nicht, denn du bist der Verräter der Interessen aller Altwesen. Nicht nur, daß du mit deinem Vorgehen Not, Leid, Elend und Tod verbreitest, um dich selber zu bereichern und deine primitiven Bedürfnisse zu befriedigen, neuerdings machst du mit deinem Verrat auch noch Geschäfte. Dieser Fremde hier ist das beste Beispiel. Aber auch du, Forresjor, brauchst jetzt nicht wieder zu wachsen und dich als der Größte zu dünken. Du bist um keinen Deut besser als dieser verräterische Ushannyn. Du bist ein Schmarotzer, ein Parasit. Du richtest nur Schaden an und nutzt niemandem. Glaubst du, ich weiß nicht, wieso du soviel Anstrengungen unternommen hast, um den Fremden zu befreien? Das geschah gewiß nicht aus Gutmütigkeit!« Forresjor zitterte, weil er Angst hatte, und Ushannyn machte den Eindruck, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen, so weich waren seine Knie. Dieser Gemütszustand schien sich seuchenartig ausgebreitet zu haben, denn Atlan sah kein Wesen, dem es anders erging. Außer vielleicht Rtrigor und seiner Gefolgschaft, die sich zwar
nicht gerade in der Freundschaft von YʹMan sonnte, aber doch froh zu sein schien, daß sie nicht zu den Betroffenen gehörte. »Du, Forresjor, wolltest mir mit deiner zur Schau getragenen Uneigennützigkeit Sand in die Augen streuen. Aber ich warne dich. Zwar bin ich nicht euer Kindermädchen, das euch ständig überwacht und eure Aktionen leitet, weil ihr unfähig seid zu denken und zu fühlen, aber nicht ich brauche mich für die Not zu rächen, die ihr verbreitet, sondern die Not wird eines Tages zu euch kommen und ihren Tribut fordern!« Damit drehte YʹMan sich um und schritt ungelenk zum Ausgang. Er blieb dabei an der Spitze der Gruppe, die Rtrigor und seine Gefolgschaft bildete. Atlan folgte ohne Sondereinladung. Mißtrauisch blickte er sich im Saal um. Es machte keiner Anstalten, seinen Abgang zu behindern. Sie schienen alle froh zu sein, daß sie so glimpflich davongekommen waren. Obwohl Atlan sich nicht vorstellen konnte, daß die Moralpredigt von YʹMan durchschlagenden Erfolg haben würde, war er sicher, daß es zumindest an diesem Tag keinen Kampf mehr zwischen den rivalisierenden Parteien gab. Forresjor würde seinen neuen Stützpunkt kampflos an Ushannyn übergeben und sich mit seinen Schergen zurückziehen. Der Arkonide trat vor den Palast. Erst hier draußen wurde ihm klar, welcher Prunk hier wirklich herrschte. Wenn er im Gegensatz dazu an die Slums in der Stadt dachte … An diesem Punkt stoppten seine Gedanken, den er konnte den Roboter nirgendwo mehr sehen! »Rtrigor!« knurrte er, »sage mir jetzt, wer das war! YʹMan, nicht wahr? Alle Geschichten, die ich über diese rätselhafte Figur gehört habe, stimmen. Ich brauche jetzt nur noch deine Bestätigung, Rtrigor, König der Glitschigen.« Doch der Bakjari schwieg sich aus. Er marschierte davon und zwang Atlan somit zu folgen. Es war ein weiter Marsch, doch niemand hielt sie auf dem Weg zu Rtrigors Palast auf.
Es war Tag, als sie ankamen, und man schrieb den zwanzigsten Mai des Jahres 3791 – nicht hier, auf Mausefalle VII, sondern auf dem unendlich fern und unerreichbar erscheinenden Planeten Terra, den seine Bewohner auch schlicht und einfach »Erde« nannten. 9. Kaum war Atlan in das Gästezimmer zurückgekehrt und wurde dort von Joscan Hellmut, Bjo Breiskoll und Gavro Yaal stürmisch begrüßt, als das Unfaßbare geschah: Das gesamte Gebäude wurde in den Grundfesten erschüttert, ein Grollen pflanzte sich durch den Boden fort, über dem Gebäude kochte die Atmosphäre, und dann stürmte jemand mit Brachialgewalt herein. Die zweite Invasion der Roboter hatte begonnen – nur schienen die diesmal genau zu wissen, wohin sie sich zu wenden hatten! Ihr Ziel war das skurrile Märchenschloß von Rtrigor dem Glitschigen. Sie stürmten es mit allen Mitteln und duldeten keine Gegenwehr. Akitar, der sich bei der Begrüßung eher zurückhaltend und vielleicht sogar ein wenig feindselig verhalten hatte, lief als erster zur Tür. Es war zu spät. Sie konnten ihr altes Versteck unterhalb des Gebäudes nicht mehr aufsuchen. Die Roboter waren bereits da! Mit drohenden Waffenarmen trieben sie Akitar ins Zimmer zurück. Der Anführer schnarrte knapp: »Alles mitkommen!« Das duldete keine Fragen und unterdrückte von vornherein jedes Sträuben. Die Gruppe um Atlan verließ das Zimmer und wurde den Gang entlanggetrieben. Überall rieselte das Wasser die Wände herunter. Es roch nach Feuchtigkeit, Schimmel und Sumpf. Sie gelangten in den Park. Dort stand Rtrigor mit seinem Schlappergewand. Er schien sie erwartet zu haben. Die Roboter beachteten ihn gar nicht.
Atlan entdeckte in der Rechten des Glitschigen die Thermowaffe, die ihm von den Schergen Ushannyns abgenommen worden war. Es war nicht klar, woher Rtrigor die hatte. Vielleicht hatte sie am Boden der Prunkhalle gelegen? Jetzt reichte Rtrigor sie dem rechtmäßigen Besitzer. Atlan nahm sie in Empfang und öffnete den Mund zu einer Frage, doch der Waffenarm eines Roboters ließ ihn weitertaumeln. »Weiter!« drängte die Maschine. Atlan blieb nichts anderes übrig, als dem Befehl zu folgen. Jetzt sind wir so lange geflohen und haben so viele Strapazen auf uns genommen, und nun ist alles umsonst gewesen! dachte Atlan zerknirscht. Noch etwas kam ihm in den Sinn: Woher wußten die Roboter so gut Bescheid? Und wieso ging das alles so schnell? Ich bin doch erst mit Rtrigor und seiner Gefolgschaft zurückgebracht worden. Es gab nur eine Antwort seiner Meinung nach: YʹMan! So eindrucksvoll das Auftreten des humanoiden Roboters in der Prunkhalle auch gewesen war, so groß waren jetzt wieder Atlans Zweifel. Es kann kein Zufall sein, daß die Verhaftung so unmittelbar auf das Zusammentreffen bei Forresjor erfolgte! Auf dem Gleiterparkplatz wurden sie in ein wartendes Fluggerät verfrachtet, das sofort startete. Der Roboter hatte ein ganz anderes Persönlichkeitsmuster als Rallye‐Ede. Fast wehmütig dachte Atlan an die Begegnung mit diesem verrückten Roboter, den er wohl nie mehr sehen würde. Er hätte sich vorstellen können, daß die Bekanntschaft mit dem unkonventionellen Ede noch einiges hätte bringen können. Seine Gedanken kehrten zum Ernst der Situation zurück. Es war anzunehmen, daß man sie zur Stadt, also zu diesem unwürdigen Auffanglager für Gefangene aus allen möglichen Planeten des Alls, bringen würde. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, obwohl vorstellbar war, daß es mit der erneuten Gefangennahme
keineswegs getan war. Vielleicht gab es eine Art Bestrafung? Atlan blickte aus der transparenten Scheibe an seiner Seite auf das Meer hinunter. Sie rasten mit wachsender Geschwindigkeit dem Festland zu. Dies war der gleiche Weg, den Atlan und seine Gefährten gekommen waren – nur unter anderen Voraussetzungen. Damals hatte es noch so etwas wie Hoffnung gegeben, die jetzt total zerschlagen war. Der Kurs stimmte: Raumhafen! Und unweit davon lag die riesige Stadt Atlans Ansicht schien sich zu bestätigen. Schon waren sie am Raumhafen, doch der Gleiter ging nicht mit der Geschwindigkeit herunter. Ganz im Gegenteil: Bei unverändertem Kurs ging er auf größere Höhe. Die Stadt war erreicht und – wurde überflogen! Atlan schluckte schwer. Und dann kannte er das wahre Ziel und sprach es aus: »Der Herr in den Kuppeln!« Er wandte sich an die Robotbewacher, die den Flug begleiteten. »Wer hat uns verraten? YʹMan? Und warum? Ist unser Ziel wirklich der Aufenthaltsort vom Herrn in den Kuppeln?« Die Roboter schwiegen sich aus – wie Atlan es insgeheim erwartet hatte. Er richtete seinen Blick wieder nach vorn. Weit hinter der Stadt lagen die Berge. Sie bildeten eine klotzige Skyline, die automatisch Fragen entstehen ließ wie: Was liegt dahinter? Was wird das weitere Schicksal bringen? Das Gebirge rückte sehr schnell heran, und die Beklemmung in Atlan wuchs. Ja, sie bringen uns zum Herrn in den Kuppeln, aber ist das wirklich ein Vorteil? Obwohl es von Anfang an mein Ziel war – jetzt bin ich gar nicht so sicher, ob es günstig ist, wenn ich es gerade jetzt erreiche. Ganz im Gegenteil. Atlan lehnte sich zurück, denn er konnte nichts dagegen tun. Es nutzte nichts, wenn er sich gegen den Gedanken zu wehren versuchte. Die Bewacher waren unerbittlich und in der Übermacht.
Er mußte sich in sein Schicksal fügen – genauso wie seine Gefährten. Auf dem Flug zu einem Ziel voller Rätsel und Ungewißheiten dachte Atlan wieder an die Rolle von YʹMan. Welchen Stellenwert hatte sie in dem ganzen Spiel? Sein Blick fiel auf die Berge, die vor ihnen aufragten wie eine unüberwindliche natürliche Mauer. Es war wie ein schlechtes Omen … ENDE Während Atlan und seine Gefährten einem ungewissen Schicksal entgegenfliegen, blenden wir um zur SOL, deren Situation von zunehmender Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist. Dennoch finden sich an Bord des Schiffes Wesen der verschiedenen Art zusammen, die gewillt sind, sich für die Zukunft der SOL einzusetzen. Diese Wesen sind DIE BASISKÄMPFER … DIE BASISKÄMPFER – so heißt auch der von Horst Hoffmann geschriebene Atlan‐Band der nächsten Woche.