Klappentext Clark braucht Geld – und so nimmt er einen Job in einer Pizzeria an. Dort trifft er auf Tia, ein schüchtern...
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Klappentext Clark braucht Geld – und so nimmt er einen Job in einer Pizzeria an. Dort trifft er auf Tia, ein schüchternes junges Mädchen, das immer auf der Flucht zu sein scheint. Nach und nach erfährt er etwas über ihre familiären Probleme. Ihr Vater behandelt sie sehr schlecht; ihre Mutter hat die Familie vor Jahren verlassen. Doch Clark ahnt, dass Tia etwas verschweigt. Etwas, das vielleicht ebenso bedeutend und ungewöhnlich ist wie sein Geheimnis. Und in der Tat – schon bald entdeckt er Tias Besonderheit und erkennt, dass sie Hilfe braucht... In Smallville werden unterdessen immer wieder Menschen brutal niedergeschlagen und ausgeraubt – und das alles geht so schnell, dass niemand den oder die Täter auch nur sehen kann. Es gibt keinerlei Hinweise, nur eine seltsame grüne Feder, die an einem Tatort gefunden wird. Clark und seine Freunde nehmen die Fährte auf...
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Cherie Bennett und Jeff Gottesfeld
Die Flucht Aus dem Amerikanischen von Antje Görnig
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Erstveröffentlichung bei DC Comics 2002 Titel der amerikanischen Originalausgabe: Smallville – Flight Smallville and all related characters, names and indicia are trademarks of DC Comics © 2003 Das Buch »Smallville – Die Flucht« entstand parallel zur TV-Serie Smallville, ausgestrahlt bei RTL 2003 Warner Bros. Television © RTL Television 2003. Vermarktet durch RTL Enterprises
© der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH, Köln 2003 Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Sonja Erdmann Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-3242-2
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1. CLARK KENT RUNZELTE DIE STIRN, als Chloe Sullivan ungeniert an dem »Besetzt«-Schild vorbeifuhr, das die Parkplatzeinfahrt hinter Fordmans Kaufhaus zur Hälfte versperrte. »Entschuldige, falls ich etwas Überflüssiges sage«, bemerkte er, »aber ›besetzt‹ bedeutet, es gibt keine freien Plätze mehr.« »Chloe hat einen«, sagte Pete Ross, der auf der Rückbank saß. »Da kannst du dich drauf verlassen!« »Stimmt!«, bestätigte Chloe und steuerte auch schon den einzigen freien Parkplatz auf dem ganzen Gelände an. Darauf stand ein Klappstuhl, an dessen Rückenlehne ein handgeschriebenes Schild klebte: »RESERVIERT – PRESSE«. Pete kletterte aus dem Wagen und räumte den Stuhl zur Seite, damit Chloe einparken konnte. Clark musste lachen. »Wie hast du das denn wieder geschafft, Chloe?« »Man sollte die Macht der Presse nicht unterschätzen, Clark – selbst wenn es sich in diesem Fall nur um die Schülerzeitung eines kleinen Ortes wie Smallville handelt. Nach Lex Luthors Überzeugung steht mir eine glänzende journalistische Karriere bevor. Ich habe ihm gesagt, ich wolle für den Torch einen Artikel über sein Wohltätigkeitsfest für bäuerliche Kleinbetriebe schreiben. Da hat er angeboten, mir einen Parkplatz freizuhalten. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Gehen wir!« Chloe und Clark stiegen aus und gingen mit ihrem Freund Pete Richtung Main Street, wo das Straßenfest stattfand. »Dann ist Luthor immerhin für etwas zu gebrauchen«, knurrte Pete. Clark seufzte. Er wusste nur zu gut, wie wenig Pete für Lex übrig hatte, und es war ihm unangenehm, denn Pete war schon 5
seit Kindertagen sein bester Freund. Und Lex, nun, Lex war ein neuerer Freund. In gewisser Hinsicht stellte er eher so etwas wie einen großen Bruder für Clark dar, denn er war ein paar Jahre älter als er. Lex war aus Metropolis nach Smallville gekommen, nachdem ihm sein Vater Lionel Luthor die Verantwortung für die Luthorcorp-Düngemittelfabrik übertragen hatte. Die Einheimischen waren geteilter Meinung darüber, ob das Unternehmen der Landbevölkerung nutzte oder schadete: Es hatte zwar zahlreiche, dringend benötigte Arbeitsplätze geschaffen, aber viele Leute glaubten, es sei nur eine Frage der Zeit, bis aus Smallville Luthorville wurde. Lionel Luthor hatte sich mit seinen unbarmherzigen Geschäftspraktiken und seinem grenzenlosen Egoismus einen Namen gemacht und sein Ruf eilte ihm überallhin voraus. Clark hatte Lex nach seiner Ankunft in Smallville das Leben gerettet. Die beiden freundeten sich miteinander an und Clark gewann mit Lex einen großartigen, weltoffenen und loyalen Freund. Nur weil er Lionels Sohn war, musste er ja nicht sein wie er. Das hatte Lex Clark immer wieder klargemacht. Die Wohltätigkeitsveranstaltung sprach für sich, fand Clark. Jemand, der tatsächlich die Stadt übernehmen wollte, würde nicht so ein Fest organisieren, sondern die Farmen einfach aufkaufen, wenn sie eine nach der anderen unter den Hammer kamen. Das Straßenfest war in vollem Gange, als Clark mit seinen Freunden auf der Main Street ankam. Eine ortsansässige Band spielte auf der Holzbühne, die man vor der Bank errichtet hatte. Zu beiden Seiten der Straße reihten sich auf dem Gehweg Buden aneinander, die Backwaren, Handlesen, Pfeilewerfen und vieles mehr im Angebot hatten. Die für die Tombola gespendeten Gewinne wurden auf einem langen Tisch zur Schau gestellt und es waren mehrere Teenager im Einsatz, bei denen die Besucher des Festes Lose 6
kaufen konnten. Pete stieß Clark den Ellbogen in die Seite. »Hey, guck mal da!« Er deutete mit dem Kinn auf die Kuss-Bude, in der gerade Lana Lang saß. Viele Jungen standen vor der Bude Schlange und warteten darauf, Lana für fünf Dollar einen kleinen Augenblick lang näher kommen zu dürfen. Chloe seufzte. »Wenn ich in der Kuss-Bude säße, müsste ich den Jungs bestimmt Geld geben, damit sie mich küssen.« Clark schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das nicht wahr ist!« Chloe stemmte die Hände in die Hüften. »Soll das etwa heißen, du würdest Schlange stehen und den Gegenwert eines Muffins mit Cappuccino bezahlen, um mich küssen zu dürfen?« »Ja, natürlich«, antwortete Clark galant. Pete fing an zu lachen. »Was ist denn daran so witzig?«, fragte Clark. »Ich glaube, ich habe Pete erzählt, dass ich als Nächste in der Kuss-Bude sitze«, entgegnete Chloe zuckersüß. »Ich erwarte dich dann in einer Stunde da drüben, Clark, und vergiss dein Portemonnaie nicht! Ich hoffe, du hast ein Extra-Taschengeld von deinem Vater bekommen. Aber jetzt muss ich mich erst mal nach einem tollen journalistischen Aufhänger für meinen Artikel über dieses Fest umsehen. Bis später dann!« Und schon war Chloe in der Menge verschwunden. »Die hat es echt auf dich abgesehen!«, neckte Pete seinen Freund und setzte sich die Sonnenbrille auf. »Aber du willst jetzt bestimmt jede Menge Bons kaufen und dich bei Lana in die Schlange stellen.« »Diese Kuss-Buden sind nicht so ganz mein Stil«, entgegnete Clark und beobachtete, wie ein Verkäufer aus dem Futterladen Lana ein Küsschen auf die Wange schmatzte. Eigentlich hätte Clark Lana gern einmal geküsst. Sehr gern 7
sogar. Allerdings nicht aus karitativen Gründen. Und nicht mitten auf der Main Street. Und ganz bestimmt nicht auf die Wange. Wenn er an Lana dachte, wurde Clark von Gefühlen erfüllt, wie er sie noch nie für jemanden empfunden hatte. Und das hatte nichts damit zu tun, dass Lanas Eltern zwölf Jahre zuvor bei einem Meteoritenschauer ums Leben gekommen waren. Nun, ein kleines bisschen vielleicht schon. Vor zwölf Jahren war ein mysteriöser Meteoritenschauer über Smallville niedergegangen und hatte die ganze Stadt verwüstet. Einer der Meteoriten war direkt in die Main Street eingeschlagen und hatte Lanas Eltern in den Tod gerissen. Jener schreckliche Tag der Meteoriten war jedem in Smallville – und eigentlich in ganz Amerika – ein Begriff. Eines wussten die Leute allerdings nicht: An diesem Tag war auch ein kleines Raumschiff in Smallville abgestürzt... und an Bord dieses Raumschiffs war ein kleiner Junge gefunden worden. Jonathan und Martha Kent, die in Smallville eine kleine Farm hatten, entdeckten dieses Raumschiff, nahmen den Jungen auf, gaben ihm den Namen Clark und adoptierten ihn schließlich. Dass Clark alles andere als ein »normaler« Mensch war, erfuhr außer seinen Eltern niemand. Und auch seine übermenschlichen Kräfte blieben den anderen verborgen. Was für eine Adoptionsgeschichte!, dachte Clark trocken. Die Familie, aus der ich stamme, kommt von ziemlich weit her, könnte man sagen! Wegen dieses Meteoritenschauers waren viele schlimme Dinge in Smallville geschehen. Und irgendwie gelang es Clark nicht, das ungute Gefühl abzuschütteln, es sei alles seine Schuld. Aber seine Zuneigung zu Lana beruhte nicht auf diesen Schuldgefühlen. Sie hatte auch nichts mit Lanas überirdischer Schönheit zu tun – mit ihrem dunklen glänzenden Haar oder 8
ihren Augen, die viel mehr zu sehen schienen als das, was andere sahen. Nein, Clarks Gefühle für Lana gründeten viel tiefer; sie entsprangen einem Ort in seinem Inneren, den er selbst gerade erst kennen lernte. Merkwürdigerweise hatte er manchmal den Eindruck, Lana ginge es umgekehrt genauso, obwohl sie einen festen Freund hatte. Whitney Fordman hieß er. In diesem Moment sah Lana auf, als könne sie Clarks Gedanken lesen, und winkte ihm zu. Er erwiderte den Gruß und sie winkte ihn zu sich herüber. »Komm mit!«, sagte Clark zu Pete und schlenderte mit ihm zu Lanas Bude. »Wie geht’s?«, fragte Clark. Zur Begrüßung bekam er ein Küsschen auf die Wange. »Das ist der helle Wahnsinn!«, raunte Lana ihm verstohlen zu. »In den vergangenen fünfundvierzig Minuten wurde ich von Typen aller Altersstufen zwischen zehn und tot vollgesabbert.« Sie sah auf die Uhr. »Ich muss nur noch eine Viertelstunde durchhalten. Hört mal, ich habe bisher noch gar nichts von dem Fest gesehen. Wollt ihr später mit mir zusammen losziehen oder habt ihr schon andere Pläne?« »Wo ist Whitney denn?«, fragte Pete ganz unverblümt. »Der ist noch im Geschäft«, entgegnete Lana. »Aber davon mal abgesehen – soweit ich weiß, sind wir nicht mit Fußfesseln aneinandergekettet.« »Hey, ich warte schon seit Ewigkeiten auf einen einzigen, lausigen Kuss!«, beschwerte sich ein sommersprossiger Junge aus der Mittelschule. »Macht mal ein bisschen voran!« »Sieht nicht unbedingt nach einem Herzensbrecher aus«, bemerkte Lana leise. »Wir treffen uns in zwanzig Minuten an der Bühne«, sagte Clark rasch zu ihr und machte sich mit Pete davon. »Viel Glück noch!« Sie beschlossen, einen kleinen Spaziergang bis ans Ende der 9
Straße und zurück zu machen. »Ich begreife das mit dir und Lana einfach nicht!«, ereiferte sich Pete. »Was soll das denn heißen?«, fragte Clark. »Das soll Folgendes heißen: Du bist in sie verknallt und sie in dich, aber sie ist immer noch mit Whitney zusammen. Das macht doch alles gar keinen Sinn. Warum bist du nicht mit ihr zusammen?« In diesem Augenblick rutschte einem kleinen Mädchen, das ihnen mit seiner Mutter entgegenkam, die Schnur des Ballons aus den Fingern, zu dem es gerade noch strahlend aufgeschaut hatte. Als der mit Helium gefüllte Ballon rasch in den Himmel stieg, fing das kleine Mädchen an zu weinen. Clark zögerte nicht. Er sprang ab und schoss mit einem Riesensatz kerzengerade in die Höhe, um nach der Schnur des knallroten Ballons zu greifen. »Hier hast du ihn wieder«, sagte er zu dem kleinen Mädchen, das ihn mit großen Augen bewundernd anstarrte, und gab ihm den Ballon zurück. »Was sagt man da, Maureen?«, flötete die Mutter. »Danke!« Pete schüttelte den Kopf, als sie weitergingen. »Mann, mit deiner Sprungkraft gehörst du wirklich in die Basketballmannschaft!« Clark schüttelte den Kopf. »Ich bin ein furchtbar schlechter Werfer«, flunkerte er. In Wahrheit konnte er natürlich noch vom obersten Rang der Zuschauertribüne aus einen Korb nach dem anderen treffen, wenn er wollte. Manchmal frustrierte es ihn im Sportunterricht sehr, es nicht einfach mal tun zu können. »An der Treffsicherheit könnte ich mit dir arbeiten«, bot Pete an und tat so, als würde er mit einem unsichtbaren Ball einen Korb werfen, »jedenfalls, um zurück zum Thema zu kommen: Lana und Whitney sind offiziell zusammen. Aber du hast da irgendein Ding mit ihr am Laufen. Warum willst du das abstreiten?« 10
»Will ich ja gar nicht. Es ist nur... nicht so einfach.« Clark hatte keine Ahnung, was er sonst noch dazu sagen sollte. Es war wirklich nicht einfach. Er selbst verstand die ganze Geschichte ja auch nicht. »Hey, cool, sieh dir das an!«, rief Pete und zeigte nach oben. Etwas Blaues mit roten Fledermausflügeln tobte am Himmel. »Ist es ein Vogel oder ein Flugzeug? Nein, es ist ein Superdrachen!«, brüllte ein Mann ins Megafon, der hinter einer Bude voller bunter Drachen stand. »Superdrachen fliegen höher und schneller als jeder andere Drachen. Holt euch hier euren Superdrachen, Leute!« »Möchtest du einen Drachen haben, mein Schatz?«, fragte neckend jemand von hinten. Als Clark sich umdrehte, grinste ihn seine Mutter an. »Du hast Drachen immer so gern gehabt, als du klein warst, Clark.« »Oh, oh! Großer Nostalgie-Alarm!«, scherzte Pete. »Sagt der beste Freund, der sich beim Drachen-steigenLassen schon mal den Arm gebrochen hat«, gab Martha Kent schlagfertig zurück. Pete fasste sich mit dramatischer Geste ans Herz. »Sie haben meinen Stolz verletzt, Mrs. Kent!« Martha lachte. »Na, hier ist richtig was los, nicht wahr?« Sie sah sich um. »Bei so vielen Leuten kommt bestimmt eine beachtliche Menge Geld zusammen. Stellt euch vor, ich habe schon drei Dutzend selbst gemachte Pasteten verkauft!« Clarks Mutter lag dieses Wohltätigkeitsfest ganz besonders am Herzen. In ganz Amerika hatten die kleinen Familienbetriebe in der Landwirtschaft mit argen Schwierigkeiten zu kämpfen und Smallville war da keine Ausnahme. Clark kannte mehrere Farmer, deren Land kürzlich versteigert worden war. Auch die Farm der Kents hatte ernste finanzielle Probleme, aber Clarks Eltern hätten niemals etwas von dem Geld angenommen, das auf dem Fest eingenommen wurde. Dazu war sein Vater viel zu stolz. 11
Mal ganz abgesehen davon, dass mein Dad niemals Almosen von den Luthors annehmen würde, dachte Clark. »Nun denn, ich verschwinde wieder hinter meinem Tisch mit den Backwaren«, sagte Martha und entfernte sich. »Amüsiert euch gut, ihr beiden!« Clark sah noch seiner Mutter hinterher, als eine ihm wohl bekannte Stimme an sein Ohr drang. »Clark! Wie schön, dass du gekommen bist!« Clark drehte sich um und da kam Lex Luthor auch schon auf ihn zu. Er war ganz in Schwarz gekleidet und seine Glatze glänzte im hellen Sonnenlicht – eine unübersehbare Erscheinung. Pete warf einen finsteren Blick in seine Richtung. »Ist ja jede Menge los hier, Lex!«, sagte Clark und bemühte sich, Petes böse Miene einfach zu ignorieren. Lex nickte. »Ich bin wirklich sehr zufrieden. Hoffentlich bekommen wir viel Geld zusammen.« »Darauf wette ich«, schnaubte Pete sarkastisch. »Pete Ross, mit deiner aufrichtigen Herzenswärme bist du immer wieder eine Bereicherung für jedes Gespräch«, entgegnete Lex. Er ließ sich weder von Pete etwas anhaben noch von sonst irgendjemandem. »Wie geht’s der Familie?« »Du meinst meinen Vater? Den Typen, dessen geschäftliche Existenz du zerstört hast?« »Wenn tatsächlich so etwas geschehen ist«, entgegnete Lex sanft, »dann ist mein Vater der Schuldige, nicht ich. Pete, ich glaube wirklich nicht, dass ich dir oder deiner Familie je Schaden zugefügt habe. Oder willst du etwa die Geschichte neu schreiben?« Pete gab keine Antwort. »Lose!«, rief ein Junge, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte. »Gewinnen Sie einen Computer oder einen Farbfernseher! Ein Los für einen Dollar! Dreißig Lose für zwanzig Dollar!« Lex winkte ihn heran. »Ich nehme ein ganzes Blöckchen«, 12
sagte er und zog einen Zwanziger aus der Tasche. »Warum kaufen Sie denn Lose? Sie haben die Gewinne doch gestiftet, Mister Luthor«, entgegnete der Junge. »Weil es für einen wohltätigen Zweck ist«, erwiderte Lex. »Und nun lauf und verkauf noch viele Lose!« Als der Junge verschwand, teilte Lex das Blöckchen in der Mitte und gab Clark und Pete je fünfzehn Lose. »Aber das ist doch nicht nötig!«, protestierte Clark. »Nehmt nur! Es ist ja für eine gute Sache.« »Lass mal stecken! Ich will deine blöden Lose nicht.« Pete versuchte, Lex die Lose zurückzugeben, aber der winkte ab. »Sie gehören mir nicht mehr, Pete. Das sind jetzt deine. Wir sehen uns dann bei der Ziehung vorn an der Bühne!« Mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen drehte sich Lex um und verschwand in der Menge. »Das war doch sehr nett von ihm«, bemerkte Clark. »Er bildet sich ein, er könne Leute kaufen«, entgegnete Pete mit finsterer Miene. »Weißt du, Pete, versteh es bitte nicht falsch, aber ich gebe auf«, erklärte Clark. »Selbst wenn Lex Luthor Krebs heilen könnte, würdest du ihn noch hassen. Komm, wir gehen Lana suchen!« Pete drehte sich wütend um und stieß dabei heftig mit einem jungen blonden Mädchen zusammen. Es geriet ins Stolpern und wenn Clark es nicht rasch am Arm festgehalten hätte, wäre es gestürzt. »Sorry«, entschuldigte sich Pete. »Ich habe dich nicht gesehen.« »Alles in Ordnung?«, fragte Clark. Die Kleine stand mit blassem Gesicht vor ihnen und sah sich panisch nach allen Seiten um. Was Clark in ihren grauen Augen sah, als sich ihre Blicke kreuzten, erschreckte ihn. »Alles in Ordnung?«, fragte er noch einmal. Das Mädchen nickte kaum merklich und schien in seinem 13
übergroßen Sweatshirt immer mehr zusammenzuschrumpfen, während es langsam vor den beiden Jungen zurückwich. Dann drehte es sich um und flitzte davon. Pete sah Clark an. »Was war das nun wieder? Echt seltsam, oder? Wo steckt nur Chloe? Wenn man die Expertin für Smallville-Merkwürdigkeiten mal braucht, ist sie nicht da!« Clark sah dem Mädchen hinterher. »Ich glaube, ich habe sie schon mal gesehen. In der Schule.« Fünfzig Meter weiter drehte sich die Unbekannte noch einmal verstohlen nach ihm um. Clark wusste zwar nicht, wer sie war und was mit ihr nicht stimmte, aber eines war klar: Dieses Mädchen fürchtete sich ganz offensichtlich zu Tode.
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2. »WAS HABE ICH DIR VORHIN GESAGT? Du solltest doch nicht allein losziehen!«, bellte Al Haines seine Tochter Tia an. »Tut mir Leid«, murmelte Tia. »Was hast du da drüben gemacht?« Tia hatte dem Mann zugeschaut, der die Superdrachen vorführte. Die Vorstellung, wie diese fantastischen Drachen an der langen Schnur im strahlend blauen Himmel tanzten, hatte in Tia sehnsüchtiges Verlangen geweckt. Aber ihrem Vater so etwas zu sagen, war zu riskant. »Nichts.« »Habe ich dir nicht immer wieder eingeschärft, du sollst nicht allein rumlaufen?« »Ich bin sechzehn, Dad«, entgegnete Tia. »Alt genug, um allein über ein Straßenfest zu gehen.« »Es ist gefährlich«, erwiderte ihr Vater und ihr großer Bruder Kyle nickte energisch. »Du musst dicht bei uns bleiben«, sagte er. Tia hätte ihre Verzweiflung am liebsten laut herausgeschrien. Sie hatte sich sehr auf das Fest gefreut, auch wenn sie mit ihrem Vater und ihrem Bruder hingehen musste. Immerhin war es eine Abwechslung. Ansonsten drehte sich ihr Leben nur um die Schule, ihren Job und die Hausarbeit. Tia war höchst unzufrieden mit ihrer Situation. Sie war nicht hässlich. Manchmal fand sie sich sogar regelrecht hübsch. Aber sie war neu an der Highschool und hatte weder Freunde noch so etwas wie ein Privatleben. Und das nur wegen des Familiengeheimnisses. Seit ihrer Kindheit lebte sie nun schon mit diesem Geheimnis. Man hatte es ihr immer wieder eingebläut: Wenn es jemand herausfindet, kommen sie dich holen. 15
Aber die beiden Jungen, denen sie zuvor begegnet war, ließen ihr keine Ruhe. Rasch warf sie einen verstohlenen Blick in ihre Richtung. Der größere mit dem dunklen Haar sah sehr gut aus. Und der kleinere hatte ein umwerfendes, süßes Lächeln. Sie kannte die beiden zwar aus der Schule, wusste aber nicht, wie sie hießen. Einen Augenblick lang stellte sich Tia vor, sie wären ihre Freunde. Vor ihnen würde sie ihr Geheimnis bestimmt verbergen können, da war sie sicher. »Hör mal, Tia, es ist doch nur zum Schutz unserer Familie«, sagte ihr Vater. Seine Stimme klang nun wieder freundlicher. »Willst du wie ein Tier im Zoo von allen angegafft werden?« »Nein.« »Willst du, dass man dich ausgerechnet jetzt von uns wegholt, wo wir Gewinne beim Aktienhandel machen? Wir sind doch in ein sehr schönes Haus eingezogen, oder?« Tia nickte. So lange sie sich zurückerinnern konnte, hatte ihr Vater ihr dieses Schreckensszenario immer wieder in sehr plastischen, alptraumhaften Bildern geschildert. Die Vorstellung, jemand könne von dem Geheimnis erfahren, erfüllte sie mit panischer Angst. Es stimmte – die Familie schien in letzter Zeit viel mehr Geld zu haben als früher. Und in der Tat waren sie ruiniert, wenn das Geheimnis je herauskam. »Komm, wir müssen jetzt gehen!«, sagte Mr. Haines und zog seine Tochter neckend an ihrem Zopf. Gehorsam folgte Tia ihm zum Wagen. Was blieb ihr auch anderes übrig? Aber es war alles so ungerecht! »Bin ich froh, dass ich es hinter mir habe!«, rief Lana, als sie zu Clark und Pete kam, und wischte sich mit dem Ärmel über die Wange. »Der Junge mit den Sommersprossen hat mir fast die Haut weggelutscht. Igitt!« »Dafür siehst du aber immer noch ziemlich gut aus«, bemerkte Clark. »In welche Richtung wollen wir losziehen?« 16
Lana holte ein Bündel Lose aus der Tasche. »Seht mal! Die hat Lex mir vorhin geschenkt. Finde ich total nett von ihm.« »Wir haben auch welche bekommen«, entgegnete Clark. »Jedenfalls beginnt die Tombola schon in fünf Minuten«, sagte Lana. »Lasst uns doch hingehen. Vielleicht gewinnen wir ja was!« Als sie ankamen, hatte sich bereits eine große Menschenmenge versammelt. Janet Barkley, die amtierende Miss Smallville, stand mit Lex auf der Bühne. Jeder kannte Janet. Sie war zwei Jahre hintereinander Schulkönigin gewesen, bevor sie an die Universität von Metropolis gegangen war. Mittlerweile hatte sie ihren Pilotenschein für Mehrpersonenflugzeuge gemacht und wollte Pilotin bei einer Fluggesellschaft werden. Bei der Wahl zur Miss Kansas, die einen Monat zuvor in Topeka stattgefunden hatte, war Janet Fünfte geworden. Sie trat mit ihrer raschelnden Miss-Smallville-Schärpe ans Mikrofon. »Wir beginnen jetzt mit der Ziehung«, verkündete sie. »Melden Sie sich bitte sofort, wenn Ihre Losnummer aufgerufen wird!« Sie machte eine kurze Pause, bis die Leute ihre Lose zur Hand genommen hatten, und dann zog sie mit Lex die Gewinnnummern aus einer riesigen Glasschüssel. Abwechselnd verkündeten sie die Gewinner von Geschenkgutscheinen für diverse Kaufhäuser, für Computer und Fernseher, für ein Essen zu zweit in einem schicken Restaurant in Metropolis und für einen Monat Kaffeetrinken im Talon. »Und jetzt kommt ein ganz ungewöhnlicher Preis«, fuhr Janet fort. »Die nächsten beiden Gewinner bekommen einen Tag Gratisunterricht im Fallschirmspringen mit einem Sprung aus dem Flugzeug. Ich werde es selbst fliegen und mein Partner ist der Trainer. Er hat versprochen, es ganz behutsam angehen zu lassen.« Viele Leute fingen an zu lachen. 17
Janet griff in die Schüssel und zog den ersten Gewinner. »Losnummer 372!«, rief sie. »Ich!«, schrie Pete und wedelte mit seinem Los. »Ich habe gewonnen! Ich habe die 372!« Er arbeitete sich nach vorn zur Bühne durch, wo er von Janet den Gewinngutschein überreicht bekam. »Das ist total cool, ich habe noch nie etwas gewonnen!«, sagte Pete strahlend. Janet griff wieder in die Schüssel und rief: »Los Nummer 281!« Lana machte ein langes Gesicht. »Meine Lose gehen von 270 bis 280. So ein Pech! Ich würde so gern mal mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug springen, du auch?« »Oh ja, unbedingt!«, pflichtete ihr Clark begeistert bei. Das war natürlich eine dicke, fette Lüge. In Wahrheit hätte Clark lieber auf diesen grünen Meteoritensplittern getanzt, die ihm so zu schaffen machten, als freiwillig aus einem Flugzeug zu springen. Er hatte schon immer an Höhenangst gelitten; eigentlich so lange er zurückdenken konnte. Ihm war bewusst, wie lächerlich das war, wenn man bedachte, dass er ganz andere Sachen drauf hatte: sich einem heranrasenden Bus in den Weg zu stellen oder einer Pistolenkugel auszuweichen zum Beispiel. Es war eine völlig irrationale Angst, das wusste er. Einfach verrückt. Aber das änderte nichts an seinem Problem. »Ich wiederhole: Nummer 281!«, rief Janet. »Wenn sich niemand meldet, ziehe ich eine neue Nummer!« Als Clark zufällig zu Boden sah, erblickte er ein, zwei Schritte vor sich ein Los. Es lag mit der beschrifteten Seite nach unten im Schmutz. Rasch schaltete er seinen Röntgenblick ein, um die Nummer durch das Papier hindurch lesen zu können. Es war das Los Nummer 281! Jemand musste es verloren haben. Vielleicht sogar Lana selbst, als sie ihre Lose aus der 18
Tasche gezogen hatte. Mit einem schnellen Blick in die Runde prüfte Clark, ob jemand ein Los vermisste, aber das war anscheinend nicht der Fall. Er tat so, als müsse er sich den Schnürsenkel binden, und schob dabei das Los unauffällig ein Stückchen unter Lanas linken Schuh. »Lana, ich glaube, du stehst da auf einem Los«, sagte er ganz unschuldig, als er sich wieder aufrichtete. Lana blickte zu Boden und trat einen Schritt zur Seite. Da lag das Los Nummer 281! »Ich bin das!«, rief Lana überrascht. »Es ist mir runtergefallen. Hey! Ich habe die 281!« »Wir haben doch eine Gewinnerin!«, verkündete Lex. »Miss Lana Lang!« Lex half ihr auf die Bühne, wo sie von Janet den Gewinngutschein überreicht bekam. Clark beobachtete Lana und musste grinsen. Sie glühte vor Aufregung. Nachdem auch die anderen großen Gewinne verteilt worden waren, kehrten Pete und Lana wieder zu Clark zurück. Pete öffnete seinen Umschlag und holte ein ganzes Paket Anleitungen zum Fallschirmspringen heraus. »Hier steht, wir machen den Lehrgang beim nächsten Flugtag«, sagte er. »Mal sehen... Einen Tag Unterricht und dann der Sprung. Dieser Gewinn hat einen Gegenwert von dreihundert Dollar! Echt cool. Du und ich, Lana!« Lana blickte nachdenklich drein. »Ich überlege gerade. Clark würde das doch auch gern mal ausprobieren. Vielleicht können wir es irgendwie zusammen machen.« »Ach, ist schon okay«, sagte Clark rasch. »Aber es war doch ganz deutlich zu hören, wie gern du mal einen Fallschirmsprung machen würdest«, entgegnete Lana. »Und wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich nicht einmal gemerkt, dass ich das Gewinnerlos habe.« »Lana hat Recht«, pflichtete ihr Pete bei. »Wir wollen dich wirklich nicht von diesem Vergnügen ausschließen, Clark. Von ganz weit oben aus einem Flugzeug springen...« 19
In diesem Augenblick hätte Clark seinen Freund umbringen können. Schließlich wusste Pete über seine Höhenangst Bescheid. »Was hältst du davon, Pete, wenn wir uns zu dritt die Kosten für Clark teilen«, schlug Lana vor. »Es sind dreihundert Dollar, also hundert für jeden. Ich würde sagen, das ist ein fairer Handel.« »Das kann ich nicht zulassen!«, protestierte Clark. »Ist schon beschlossen. Nicht wahr, Pete?«, meinte Lana. »Genau!« Pete schlug Clark auf die Schulter, um den Deal zu besiegeln. »Aber... ähm... ich habe nicht so viel Geld«, stammelte Clark. »Wir denken uns was aus«, entgegnete Lana. »Ja«, pflichtete Pete ihr bei. »Janet lässt sich bestimmt auf Ratenzahlung ein.« »Ähm, aber...«, stotterte Clark. »Vielleicht erlauben es deine Eltern gar nicht, Pete.« »Du machst wohl Witze! Zwei meiner Onkel waren Fallschirmjäger.« Clarks Verzweiflung wuchs. Er wandte sich an Lana. »Und was wird Nell dazu sagen? Es ist schon eine gefährliche Sache, findest du nicht?« »Wäre Janet nicht die Pilotin, bekäme ich wahrscheinlich Probleme«, räumte Lana ein. »Aber Nell hätte es am liebsten, wenn ich genau wie Janet wäre. Sie wird es mir ganz bestimmt erlauben.« »Oh«, machte Clark. »Na dann...« »Super! Also ist die Sache unter Dach und Fach!« Lanas dunkle Augen leuchteten vor Begeisterung. »Stell dir mal vor, Clark: Wir drei, da oben bei den Vögeln! Mit dem Fallschirm kriegt man wenigstens mal eine Ahnung davon, wie es sein muss, wenn man wirklich fliegen kann!«
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3. CLARK HALF SEINEM VATER IN DER SCHEUNE. Er hatte den Trecker auf die Seite gekippt und hielt ihn fest, während Mr. Kent eine der Achsen reparierte. Das Getreide draußen auf dem Feld musste geschnitten und das Heu eingefahren werden und ohne den Trecker war dies ein Ding der Unmöglichkeit. Jonathan Kent brummelte bei der Arbeit vor sich hin, und das hieß, dass es nicht besonders gut aussah – was wiederum für Clark bedeutete, dass es wohl kaum der richtige Zeitpunkt war, seinen Vater zu fragen, ob er sich einen Job suchen durfte. Aber da die Zeit drängte, konnte Clark das Thema nicht auf die lange Bank schieben. Martha hatte bereits ihr Einverständnis gegeben. Allerdings nur unter der Bedingung, dass auch ihr Mann nichts dagegen hatte. »Okay, lass ihn runter«, sagte Jonathan und ging ein paar Schritte zur Seite. »Kannst du mir den Schraubenschlüssel rüberreichen, mein Sohn? Und woher kommt eigentlich so plötzlich dein Wunsch, dich unter die arbeitende Bevölkerung zu mischen?« Clark schluckte. Offenbar war sein Vater schon über seine Pläne informiert und wollte ihm nun kräftig auf den Zahn fühlen. »Ich würde mir einfach gern ein bisschen was dazuverdienen, Dad. Ich bin kein Kind mehr. Und der Wunsch kommt auch nicht plötzlich. Ich habe lange darüber nachgedacht.« Er nahm den Schraubenschlüssel und gab ihn seinem Vater. Das war nicht gelogen, denn jedes Mal, wenn er sein Taschengeld bekam, plagte ihn das schlechte Gewissen, weil er Geld annahm, das dringend für den Hof gebraucht wurde. Sein Vater zog schweigend einige Schrauben nach und suchte einen Lappen, um sich die Hände abzuwischen. »Und 21
an was für einen Job hast du dabei gedacht?« Clark zuckte mit den Schultern. »Ganz egal, was immer ich bekomme. In der Pizzeria habe ich ein Schild im Fenster gesehen. Die suchen eine Aushilfe.« Jonathan blickte nachdenklich drein. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Du musst doch deine übermenschlichen Kräfte verbergen. Vielleicht denkst du, das ist einfach, aber du wirst versucht sein, sie einzusetzen, um dir die Arbeit zu erleichtern. Das würde jedem so gehen!« »Daran ist nun mal nichts zu ändern«, bemerkte Clark. »Dieses Problem wird mich mein Leben lang begleiten – jedenfalls, soviel wir wissen. Ich werde erwachsen, Dad! Ich muss meine Flügel ausbreiten und losfliegen wie jeder andere Jugendliche auch.« »Nur bist du leider nicht wie jeder andere Jugendliche«, wandte sein Vater leise ein. »Doch, das ist er«, widersprach Martha energisch, die in diesem Augenblick dazukam. »Dann hast du gehört, was ich gesagt habe?«, fragte Jonathan. Martha nickte. »Und natürlich hast du Recht mit dem, was du sagtest. Aber Clark hat auch Recht. Was das Arbeiten angeht, das muss er wie jeder andere Jugendliche auch bewältigen – ohne geheimnisvolle Kräfte.« Sie sah ihren Sohn an. »Das wird dir nicht gefallen.« »Ihr beiden unterschätzt mich«, erwiderte Clark. »Ich glaube, es wird mir sogar sehr gut gefallen. Und abgesehen davon bin ich hoch motiviert.« »Aha, jetzt kommt allmählich Licht in die Sache. Du brauchst das Geld für etwas Bestimmtes«, sagte sein Vater grinsend. »Nein, nein und nochmals nein! Du darfst nicht zum Reggae-Sunsplash nach Jamaika. Nicht vor dem College. Mach erst mal einen guten Highschool-Abschluss. Das ist wichtig für die Zukunft. Auch als junger Mensch muss man an 22
Krankenversicherung und Rente denken.« »Eine Krankenversicherung braucht er nicht«, rief Martha ihrem Mann in Erinnerung. »Stimmt! Aber du verstehst, was ich meine, Clark«, sagte Jonathan. Clark grinste. »Es ist nicht für Jamaika.« Dann erzählte er seinen Eltern davon, wie Lana und Pete ihn überredet hatten, beim Fallschirmspringen mitzumachen. »Habe ich richtig gehört?«, wunderte sich Martha. »Mit deiner Höhenangst willst du aus einem Flugzeug springen?« »Das ist doch genau die richtige Methode, um meine Angst zu überwinden, findest du nicht?«, bluffte Clark. »Jonathan? Was hältst du von dieser Idee?«, fragte Martha. »Nun, wenn Fallschirmspringen für irgendjemanden in diesem Universum ungefährlich ist, dann ja wohl für Clark«, überlegte Jonathan laut. »Also darf ich es machen?«, drängte Clark. »Und ich darf mir einen Job suchen?« Jonathan kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn. »Aber du arbeitest höchstens drei Abende pro Woche. Und wenn deine Noten sich verschlechtern oder du deine Pflichten vernachlässigst, oder wenn wir merken, dass wir dich hier auf dem Hof brauchen, dann ist Schluss damit.« »Abgemacht!«, freute sich Clark und reichte seinem Vater die Hand. Dann sauste er wie der Blitz zum Haus und verschwand im Badezimmer. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Er musste schnell noch unter die Dusche, bevor er in die Stadt gehen konnte, um sich einen Job zu suchen. Das wird bestimmt eine tolle Sache!, dachte er. Das Arbeiten jedenfalls... »Nimm dir eine von den Schürzen hier und dann musst du bei Arbeitsbeginn da hinten die Stechuhr drücken«, bekam 23
Clark von Max McSorley erklärt, der ihm die Küche der Pizzeria zeigte. Clark band sich gehorsam die Schürze um, die Max ihm reichte, und folgte seinem neuen Boss zur Stechuhr. Max gab ihm eine Karte, auf die er seinen Namen schreiben musste, und zeigte ihm, wie man sie in die Stechuhr einlegte. Clark wusste ein paar Dinge über Max, der eher zu den schillernden Persönlichkeiten von Smallville zählte. In seiner Heimat Schottland war er der beste Boxer im Weltergewicht gewesen und nach einer kurzen Boxkarriere war er schließlich nach Smallville gekommen, um sich mit einigen Cousins und seinem Vater zusammenzutun. Zuerst hatten sie es mit einem schottischen Restaurant versucht, aber ganz offensichtlich stand niemandem der Sinn nach Schafsgedärm und warmem Bier. Als dann die Pizzeria zum Verkauf angeboten wurde, hatten Max und seine Cousins sie erworben. Sie erlernten das Pizzabäckergeschäft und erzielten im Laufe der Zeit bescheidene Erfolge. Wie Clark wusste, machte der Pizzeria allerdings seit neuestem das Talon kräftig Konkurrenz. Als Clark sich um den Job beworben hatte, war er gar nicht darauf gefasst gewesen, schon fünf Minuten später mit der Arbeit zu beginnen. Aber Samstagabends herrschte bei Max immer der größte Betrieb und einer seiner Kellner hatte gerade gekündigt. »Wahrscheinlich hast du keine Ahnung davon, wie man Pizza macht, oder vielleicht doch?«, fragte Max hoffnungsvoll, als er Clark an dem riesigen Backofen vorbeiführte. »Nein, Sir, Mr. McSorley.« »Sag Elem zu mir, wie alle anderen auch«, bot Max ihm an. »L steht für Little, M für Max. Mein Vater da hinten, das ist Big Max.« Er nickte in Richtung eines stämmigen Mannes, der gerade Peperoni auf einer noch nicht gebackenen Pizza verteilte. »Das ist also dein erster Job. Dann hast du natürlich noch keine Erfahrung als Kellner«, fuhr Elem fort und machte 24
nicht gerade ein begeistertes Gesicht. »Aber ist ja auch egal. Als ich damals angefangen habe, hatte ich auch von Tuten und Blasen keine Ahnung.« »Ich lerne sehr schnell«, versicherte ihm Clark. »Gut, dann wollen wir mal sehen!« Elem klatschte Clark einen Bestellblock in die Hand. »Du nimmst also die Bestellungen auf und legst sie hier ab.« Max zeigte mit seiner fleischigen Hand auf die Theke, die das Restaurant von der Küche trennte. »Du darfst auf gar keinen Fall die Bestellung irgendwo dazwischenmogeln, um schneller an die Pizza zu kommen. Man legt die Zettel immer hinten an.« Clark nickte. Das klang doch alles ganz einfach. Elem ging mit ihm an die Kasse, über der eine Speisekarte hing. »Schon mal an der Kasse gearbeitet?«, fragte er. »Natürlich nicht«, beantwortete er sich sogleich seine Frage. »Warum um Himmels willen bringen sie euch Kids in der Schule nicht mal was Nützliches bei!« »Pizza fertig!«, brüllte Big Max und stellte eine Pizza auf die Theke, wo bereits zwei andere standen. »Jesus, Maria und Josef, du bist schon zwei Pizzen im Verzug, Marie!« »Glaubst du, das sehe ich nicht?« Eine attraktive Frau um die dreißig mit karamelfarbener Haut und einem dunklen Lockenschopf kam herbeigesaust. »Ich habe zwei Hände und zehn Finger und mehr als arbeiten kann ich auch nicht!« Sie stellte den Pizzateller auf ein Tablett, schob die Hand darunter und hob es über ihren Kopf. »Es ist nicht meine Schuld, wenn die Gäste wieder weglaufen, Elem«, rief sie ihrem Boss noch über die Schulter zu. »Keine Sorge, Marie, dieser junge Mann hier ist gekommen, um uns zu retten«, entgegnete Elem und schlug Clark auf die Schulter. »Also dann, was du heute kannst besorgen... Nimm schnell die Bestellungen auf!« Clark kam hinter der Theke hervor und betrat das Restaurant. Fast alle Tische waren voll besetzt, aber nur die Hälfte der 25
Leute hatte etwas zu essen vor sich. Er suchte nach den Gästen, die den hungrigsten Eindruck machten, und ging rasch auf ihren Tisch zu. »Hallo, ich bin Clark, ich werde Sie heute...« »Endlich!«, unterbrach der Vater. »Wir warten schon eine Viertelstunde! Was wollt ihr, Kinder?« Vier kleine Jungen saßen mit ihm am Tisch und sie fingen an, wild durcheinander zu schreien. Plötzlich spürte Clark, wie ihn jemand am Ärmel zupfte, und drehte sich um. »Hören Sie!«, sagte ein Mann mittleren Alters, der mit seiner Frau und zwei Kindern am Tisch saß. »Wo bleibt unsere Pizza? Wenn ich Lust gehabt hätte, auf mein Essen zu warten, wäre ich nach Metropolis gefahren.« »Ich werde sofort nachsehen.« Clark drehte sich wieder zu dem Vater mit den kleinen Jungen um. »Komme gleich wieder!« Der Mann sah ihm wie ein Ertrinkender hinterher, dem gerade die rettende Holzplanke entrissen worden war. Clark lief in die Küche, aber weder Big Max noch Elem war irgendwo zu sehen. Nur eine Küchenhilfe mit langem blonden Zopf war da. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und holte gerade eine Pizza aus dem Ofen. »Ähm, Entschuldigung!«, rief Clark. »Sind das die beiden Peperoni-Pizzen für Tisch acht?« »Das steht auf den Bestellzetteln«, antwortete das Mädchen und drehte sich um. Seine Wangen glühten von der Hitze des Backofens, aber Clark erkannte es sofort. Es war das Mädchen vom Straßenfest. Und es machte keinen fröhlichen Eindruck. »Hi, wir haben uns auf dem Straßenfest getroffen«, sagte Clark. »Ich bin...« »Wir dürfen uns auf der Arbeit nicht privat unterhalten«, unterbrach sie ihn und ging wieder an den Ofen. Das ist doch keine Unterhaltung, wenn man sich miteinander bekannt macht!, dachte Clark verwundert. 26
An die nächsten Stunden erinnerte er sich später nur noch sehr verschwommen. Elem und Big Max brüllten im Prinzip den ganzen Abend herum und Marie keifte zurück. Das Mädchen mit dem blonden Zopf machte kaum einmal den Mund auf. Ein paar Gäste verließen beleidigt das Lokal, weil sie zu lange auf ihre Pizza warten mussten. Es war eine frustrierende Angelegenheit für Clark. Hätte ihm jemand die Zubereitung erklärt, hätte er hundert Pizzen in einer Stunde backen und alle Gäste gleichzeitig bedienen können. Aber nein, er musste sich genauso langsam bewegen wie die anderen, was ihm vorkam, wie eine einzige Superzeitlupe. Die Pizzeria machte um Mitternacht zu. Marie zeigte Clark, was nach Ladenschluss noch alles erledigt wurde. Das Restaurant musste gefegt und geputzt, die Arbeitsflächen in der Küche gewischt und die Streuer für Parmesan, Salz, Knoblauch und Pfeffer auf jedem Tisch nachgefüllt werden. Die Liste der Aufgaben war endlos und Clark arbeitete sie pflichtbewusst Punkt für Punkt ab. »Ich könnte das ganze Lokal innerhalb von Sekunden blitzblank haben, wenn ich meine Kräfte einsetzen würde«, dachte er missmutig. In der Zwischenzeit schnibbelte das blonde Mädchen Gemüse und füllte damit die Fächer in dem großen Kühlschrank auf. Elem und Big Max waren bereits vor einer Weile in ihrem kleinen Büro verschwunden. Clark schraubte einen Parmesan-Streuer auf und füllte geriebenen Käse nach. »Wie heißt das Mädchen, das in der Küche arbeitet?«, fragte er Marie. »Tia.« Marie wischte gerade einen Tisch ab. »Sie ist eine komische Nudel.« »Warum?« »Warte mal ab! Ihr Vater oder ihr großer Bruder wird jede Minute hier auftauchen. Da packt mich immer das kalte Grausen«, erklärte Marie. »Ach, kannst du mir bitte neue 27
Papiertücher holen?« »Natürlich.« Clark ging durch die Küche in den Abstellraum, wo Papiertücher, Reinigungsmittel und dergleichen aufbewahrt wurden. Zu seiner großen Überraschung stieß er dort auf Tia. Sie las in einem Buch. Tia sprang sofort auf, versteckte das Buch hinter ihrem Rücken und wich in die hinterste Ecke zurück. »Tut mir Leid«, sagte Clark, »ich wollte dich nicht erschrecken. Ich brauche...« Er stutzte. Das Mädchen sah so schrecklich verängstigt aus. Er fing noch mal neu an, mit freundlicher, sanfter Stimme. »Ich muss mich ja erst mal vorstellen. Ich bin Clark Kent. Marie hat mir gesagt, du heißt Tia. Aber deinen Nachnamen hat sie mir nicht verraten.« »Haines.« Vor lauter Verlegenheit bekam Tia rote Flecken auf den Wangen. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Tia Haines. Wie ich gehört habe, machst du eine wahnsinnig gute Pizza. Und ich glaube, ich habe dich schon an der Highschool gesehen, kann das sein?« Tia nickte zögernd. »Und... wie lange arbeitest du schon hier?« »Ein paar Monate.« Sie räusperte sich. »Ich muss jetzt gehen.« Sie spähte zur Tür, aber Clark versperrte ihr den Weg aus dem Lagerraum. »Ich brauche neue Papiertücher«, erklärte Clark und trat zur Seite, um Tia vorbeizulassen. Als sie den Raum verließ, schob sie sich hastig das Buch hinten in den Hosenbund. Also, das ist doch nicht normal!, dachte Clark. Warum versteckt sie es? Was ist das bloß für ein Buch? »Tia!«, bellte da eine tiefe männliche Stimme. Clark beobachtete argwöhnisch, wie ein Mann mittleren Alters mit rot geränderten Augen in die Küche kam. Er sah zur Tür des Abstellraums, dann musterte er Tia und Clark. »Was 28
macht ihr beiden hier?« »Nichts, Dad«, antwortete Tia. Mr. Haines sah Clark durchdringend an. »Dich habe ich doch schon auf dem Straßenfest gesehen. Was willst du von meiner Tochter?« »Sie arbeitet hier und ich auch, das ist alles.« Clark hatte größte Mühe, ruhig zu bleiben und sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Mr. Haines’ Art ging ihm ziemlich auf die Nerven. »Clark hat heute erst hier angefangen«, erklärte Tia. »Der Sohn von Martha und Jonathan?«, fragte ihr Vater. Clark nickte. Dann schluckte er, denn er stand hinter Tia und sah, wie das Buch anfing sich selbstständig zu machen und aus ihrem Hosenbund herauszurutschen drohte. Clark merkte, wie Tia vor Panik erstarrte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sie furchtbare Angst davor, von ihrem Vater mit diesem Buch erwischt zu werden. »Achtung, Sir! Hinter Ihnen!«, rief Clark in diesem Augenblick. Mr. Haines wirbelte um die eigene Achse. Blitzschnell fing Clark das Buch auf, bevor es zu Boden fiel, und versteckte es unter einem Haufen schmutziger Tischdecken. Als Mr. Haines sich wieder umdrehte, stand Clark genauso da wie vor seiner kleinen Rettungsaktion. »Was war denn?«, fragte Mr. Haines. »Da ist doch gar nichts.« »Tut mir Leid, Sir«, entschuldigte sich Clark. »Ich dachte, da käme...« Seine Stimme erstarb, denn ihm fiel absolut nichts ein. »Marie mit dem Wischeimer!«, warf Tia geistesgegenwärtig ein. Mr. Haines runzelte die Stirn. »Geh an die Stechuhr und hol deine Klamotten, Tia. Kyle wartet auf uns.« Tia tat folgsam, was der Vater ihr befohlen hatte, und Clark 29
verschwand mit den Papiertüchern im Restaurant. Als Tia zur Tür hinausging, warf sie Clark noch einen unendlich dankbaren Blick zu. Clark zögerte nicht lange. Sobald Tia und ihr Vater verschwunden waren, ging er zurück in die Küche und holte das Buch unter den Tischdecken hervor. Auf dem Cover war ein Vogel abgebildet, der mit weit ausgebreiteten Flügeln über einen wunderschönen Strand flog. Der Titel des Buchs kam Clark merkwürdig vor; er hatte noch nie etwas davon gehört. Die Möwe Jonathan.
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4. WHITNEY FORDMAN SAß AN DER ABRECHNUNG und rieb sich müde die Augen. Als Kind hatte er sich seine Zukunft immer ganz anders vorgestellt. An der Highschool war er die absolute Sportskanone gewesen. Football-Talentsucher von sehr guten Colleges hatten ihr Interesse an ihm bekundet; er war absolut obenauf gewesen, unbesiegbar. Und dann hatte sich mit einem Schlag alles verändert. Sein Vater wurde krank. Sehr krank. Seine Mutter musste das familieneigene Kaufhaus allein führen. Und Whitney ging nicht aufs College, sondern zum Militär. Nun war er zu einem Kurzurlaub nach Hause gekommen, aber was tat er? Er hockte am Samstagabend im Büro und rechnete die Einnahmen der Woche zusammen. Männerunterwäsche hatte sich rasend gut verkauft, aber Kinderschuhe gingen momentan eher schlecht. Eigentlich hätte Whitney über so etwas gelacht, aber ihm war eher zum Heulen zumute. Hey, was soll’s!, dachte er schließlich. Wenn es um die Familie geht, tut man eben, was man tun muss. Lana versicherte ihm immer wieder, wie sehr sie ihn dafür bewunderte, dass er sogar in seinem Urlaub so viel im Geschäft arbeitete. Aber was würde sie denken, wenn er schließlich enden würde wie die Loser, die immer in der Autowerkstatt herumhingen? Sie schwelgten nur noch in der Erinnerung an alte, glorreiche Zeiten, als sie bei den Crows Touchdowns gesammelt hatten, denn das war der absolute Höhepunkt ihres Lebens gewesen. Nein, so jemand war wirklich nichts für Lana. Whitney sah auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht. Vor ihm auf dem Tisch türmten sich Bargeld, Schecks und Kreditkartenbelege. Jeden Samstagabend rechnete er alles zusammen, füllte einen Einzahlungsschein aus und brachte das ganze Paket zum Nachttresor der Bank. 31
Nun stand nur noch eine letzte Rechnung aus: Whitney musste die Gesamtsumme der Wocheneinnahmen ermitteln. Er tippte die Zahlen in den Taschenrechner ein. Dann wiederholte er die Prozedur zur Kontrolle und es kam wieder dieselbe Summe heraus. Das Ergebnis stimmte! Rasch notierte er den Betrag, unterschrieb den Einzahlungsschein und bündelte die Geldscheine, Schecks und anderen Belege mit Gummibändern. Dann packte er alles zusammen in den strapazierfähigen Geldsack aus Leinen. Die Bank war gleich auf der anderen Straßenseite. Nachdem Whitney die Alarmanlage eingeschaltet und alles abgeschlossen hatte, schwang er sich den Geldsack über die Schulter und überquerte die Main Street. Irgendwie gefiel es ihm, so spät noch in der Stadt unterwegs zu sein. Niemand war weit und breit zu sehen. Um diese Uhrzeit wirkte Smallville wie eine verlassene Filmkulisse. Ein Windstoß erfasste ihn von hinten und zerzauste ihm das Haar. Er dachte sich nichts dabei, denn in Kansas war es eigentlich die meiste Zeit über recht windig. Aber einen Augenblick später warf ihn ein neuerlicher Windstoß mit der Nase voran zu Boden und das überstieg eindeutig das Maß des Normalen. Ebenso der unsichtbare Angreifer, von dem er auf den Gehsteig gedrückt wurde. Whitney schlug mit Händen und Füßen um sich und versuchte, ihn abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Als gerade losschreien wollte, wurde ihm ein Lappen in den geöffneten Mund gestopft. Weil er immer noch mit dem Gesicht nach unten auf der Straße lag, konnte er seinen Widersacher nicht sehen. Und dann, nach einer kräftigen Windböe, war der geheimnisvolle Angreifer wieder verschwunden. Whitney rang keuchend nach Atem. Als er sich aufsetzte, zitterte er vor Panik. Er riss sich den Knebel aus dem Mund: Es war ein altes T-Shirt. Rasch stand er auf und sah sich um, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Keine Spur von dem 32
Angreifer – oder den Angreifern. Whitney nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie sich etwas auf dem Boden bewegte, und er bückte sich, um es aufzuheben. Es war eine grüne Feder, aber damit konnte er nicht viel anfangen. Keine heiße Spur. Plötzlich wurde Whitney ganz flau im Magen, als ihm dämmerte, dass mit dem geheimnisvollen Angreifer auch die Wocheneinnahmen verschwunden waren. Tausende Dollar! Er rappelte sich auf, ging zu seinem Pick-up, den er vor dem Kaufhaus abgestellt hatte, und fuhr zu der nur wenige Blocks entfernten Polizeiwache. Aber als er auf den Parkplatz bog, fragte er sich, was er den Beamten eigentlich erzählen wollte. »Ich bin überfallen und ausgeraubt worden, aber ich habe keinen Kratzer abbekommen und den Täter leider nicht gesehen.« – Wer würde ihm so etwas abkaufen? Zum Kuckuck, er konnte es ja selbst kaum glauben!
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5. »UND WIR SOLLEN WIRKLICH NICHT AUF DICH WAREN, CLARK?«, fragte Pete und nahm einen Bissen von seiner Pizza. Er war mit Chloe und Lana auf einen späten Snack in die Pizzeria gekommen. Clark schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich habe heute Schlussdienst und das kann wirklich sehr spät werden. Es ist das erste Mal. Da will ich mir Zeit lassen und alles ganz richtig machen.« »Du arbeitest erst seit einer Woche hier und schon bist du der Liebling aller«, bemerkte Chloe und wischte sich Tomatensoße vom Mundwinkel. »Du hast wirklich einen Schutzengel, Clark.« »Wenn ich einen hätte, dann würde ich im Lotto gewinnen und müsste meine Abende nicht damit verbringen, Essensreste wegzuwischen.« »Auch wieder wahr«, pflichtete ihm Chloe bei. »Aber es ist ja für eine gute Sache – für den Kick des freien Falls, bei dem uns nur ein paar Seile und ein bisschen Fallschirmseide vom Tod trennen. Wie ungemein poetisch!« Clarks Magen schlug einen Purzelbaum. »Du übertreibst! So gefährlich ist es nun auch wieder nicht«, bemerkte Lana. »Willst du dich nicht zu uns setzen, Clark?«, fragte Chloe und rutschte zur Seite. »Aber nur ganz kurz«, entgegnete Clark und setzte sich neben Chloe. Es gab nicht viel zu tun – und das war außer samstags an den meisten Abenden der Fall, wie sich in der vergangenen Woche gezeigt hatte. Zudem war Elem ein ziemlich angenehmer Chef. »Lana, wie geht es Whitney?«, fragte Clark. Natürlich hatte er von dem Überfall gehört, schließlich wusste die ganze Stadt 34
davon. Leider hatte er auch gehört, dass die Polizei Whitneys Aussage äußerst skeptisch gegenüberstand – er wurde sogar selbst als Tatverdächtiger gehandelt. Lana legte das Stück Pizza ab, von dem sie gerade abgebissen hatte. »Nicht besonders gut. Es ist schon eine Woche her. Da sollte man doch meinen, die Polizei hätte in der Zwischenzeit irgendetwas herausgefunden!« »Ganz schön übel von den Cops, ihn einfach so zu verdächtigen«, bemerkte Pete. Lana nahm einen Schluck von ihrer Diätcola. »Und ich dachte immer, man sei so lange unschuldig, bis die Schuld tatsächlich bewiesen ist. Bei Whitney ist es anscheinend umgekehrt. Die Polizei hält ihn so lange für schuldig, bis seine Unschuld bewiesen ist. Es ist nicht zu fassen! Die glauben wirklich, er würde seiner eigenen Familie Geld stehlen.« »Es ist einfach merkwürdig, dass Whitney den Täter nicht gesehen hat«, meinte Chloe. Dann fuhr sie auf. »Hey, vielleicht ist es dieser unsichtbare...« Alle stöhnten. »Hör bloß auf!«, rief Pete. »Von Unsichtbarkeit habe ich die Nase gestrichen voll.« Chloe verschränkte die Arme vor der Brust. »Darf ich euch daran erinnern, dass in Smallville praktisch regelmäßig merkwürdige Dinge vor sich gehen?«, sagte sie. »Und wir werden leider nicht danach gefragt, ob uns das passt oder nicht.« Pete pustete Chloe die Hülle seines Trinkhalms ins Gesicht. »Hat vielleicht jemand eine bessere Theorie?«, fragte sie in die Runde. »Das Beste für Whitney sind dabei noch die Parallelen zu dem Raubüberfall in Middletown, fünfzehn Kilometer von hier. Beide Überfälle fanden nachts statt und beide Opfer haben den oder die Täter nicht gesehen. Ich bin offen für jede Theorie des hohen Olymps!« »Du hast Recht. Der andere Überfall entlastet Whitney natürlich«, pflichtete Clark ihr bei. 35
Lana machte ein langes Gesicht. »Leider haben die Cops nur ein einziges Beweisstück. Es ist das T-Shirt, das als Knebel verwendet wurde, und es stammt aus Fordmans Laden.« »Autsch!«, machte Clark und verzog das Gesicht. »Das kannst du laut sagen!«, meinte Lana. »Pizza fertig!«, rief Tia aus der Küche und stellte eine frisch gebackene Pizza auf die Theke. Pete griff zu dem letzten Stück, das noch auf dem Teller lag, und sah zu Tia hinüber. »Verhält sie sich immer noch so eigenartig?« »Vielleicht ist sie ja nur schüchtern«, warf Lana ein. »Ach, das habe ich ja ganz vergessen!«, fuhr Chloe auf. Sie wühlte in ihrem Rucksack und holte ein Buch hervor. Es war Die Möwe Jonathan. »Tätärätä! Das Buch, nach dem du gefragt hast! Ich habe es aus der Bibliothek geholt.« Clark warf einen besorgten Blick in Tias Richtung, aber sie stand mit dem Rücken zum Restaurant. Er hatte seinen Freunden von dem Buch erzählt, das Tia vor ihrem Vater versteckt hatte. Als Chloe nun jedoch mit der Möwe Jonathan herumfuchtelte, beschlich ihn irgendwie das Gefühl, einen Vertrauensbruch begangen zu haben. »Hast du es gelesen?« Chloe nickte. »Von der ersten bis zur letzten Seite, was ungefähr eine Stunde gedauert hat. Das ist mal wieder eins von diesen Psycho-Laberbüchern. Da ist eine Möwe, die ist anders als die anderen Möwen und hat Probleme mit dem Fliegen. Und als sie schließlich lernt, ihr Anderssein zu akzeptieren, und an sich selbst glaubt, kann sie plötzlich fliegen.« Chloe verdrehte die Augen. »Total Oprah-mäßig, findet ihr nicht?« Pete nahm Chloe das Buch aus der Hand. »Hey, das kenne ich doch! Mein Vater hat mir erzählt, als er auf der Highschool war, hat das jeder gelesen. Ich glaube, er hat das erste Date mit meiner Mutter mit Hilfe eines Zitats aus diesem Buch bekommen... Ach, Moment, das kann auch Love Story gewesen 36
sein.« Chloe ließ sich das Buch wiedergeben. »Die Frage ist nur, warum sollte Tia so etwas vor ihrem lieben, alten Dad verstecken?« »Keine Ahnung«, meinte Clark. »Aber als ich es ihr am nächsten Tag zurückgegeben habe, war es, als hätte ich ihr verloren geglaubtes Tagebuch wieder gefunden oder so.« »Clark, wie steht’s mit der Arbeit?«, fragte Marie, die in diesem Augenblick mit einer extragroßen vegetarischen Pizza auf dem Tablett vorbeiflitzte. Clark erhob sich. »Ich muss wieder was tun, Leute. War nett, dass ihr reingeschaut habt. Und bitte, lasst um Himmels willen kein Trinkgeld da!« »Ihr kommt ganz bestimmt allein zurecht?«, fragte Elem Clark und Tia. »Wenn euch irgendwie unwohl dabei ist, kann ich das Kartenspiel auch absagen und...« »Es ist alles in Ordnung, Elem«, versicherte ihm Tia. »Der Mitternachtspoker ruft schon nach Ihnen!« »Genau«, pflichtete Clark ihr bei. Es wunderte ihn, wie normal sich Tia im Gespräch mit Elem oder Big Max verhielt, während sie im Umgang mit Leuten ihrer Altersstufe so furchtbar befangen war. Seit er ihr das Buch wiedergegeben hatte, war sie ein wenig aufgetaut. Wie sie Clark erzählte, war ihre Familie erst kürzlich aus einer bescheidenen Bleibe draußen vor der Stadt in ein neues Haus in der Luthorcorp-Wohnsiedlung gezogen, wo sie zum ersten Mal im Leben ein eigenes Zimmer hatte. Als Clark sie fragte, warum sie das Buch vor ihrem Vater versteckte, hatte sie etwas davon gestammelt, dass er einer von den Vätern sei, der seinen Kindern alles vorschreiben wollte, was sie lasen oder im Fernsehen anschauten. Aber das ist es nicht, dachte Clark. Sie lügt. Ich weiß nur nicht warum. 37
Zudem war ihm aufgefallen, dass Tia nie von ihrer Mutter sprach. »Na gut, also dann«, meinte Elem. »Ihr seid gute Leute, ich vertraue euch. Ich nehme die Einnahmen schon mit, dann müsst ihr euch keine Gedanken über den Mitternachtsräuber machen«, erklärte er mit einem Augenzwinkern. »Gute Nacht zusammen!« Als Elem gegangen war, machte Clark im Restaurant Ordnung. Wieder überkam ihn eine große Langeweile. Salzstreuer aufschrauben. Salz aus dem großen Behälter einfüllen. Deckel wieder zuschrauben. Immer und immer wieder. Dasselbe mit dem schwarzen Pfeffer. Und mit dem Knoblauchpulver. Servietten nachfüllen... Clark sah auf den Serviettenspender, den er gerade aufgefüllt hatte, und bemerkte, dass er die Servietten genau verkehrt herum eingelegt hatte. Er warf einen prüfenden Blick auf die anderen Tische. Oh nein! Aus lauter Langeweile hatte er sämtliche Spender falsch bestückt. Er sah rasch zur Küche hinüber. Tia war nicht da. Großartig! Wenn er sich beeilte... Wusch! Schon flitzte Clark mit Supergeschwindigkeit von einem Tisch zum anderen und hatte innerhalb eines Sekundenbruchteils sämtliche Serviettenspender wieder neu aufgefüllt. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und zischte noch einmal los, um in Windeseile die Glasplatten von den Tischen abzunehmen, die verschmutzten Tischdecken durch schneeweiße frische zu ersetzen, die Glasplatten wieder an ihren Platz zu legen und sie mit Sprühreiniger und Papiertüchern zu reinigen. Wow! Es tat gut, sich zu bewegen! Als sich Clark auch noch den Boden vorknöpfen wollte, hielt er plötzlich inne und stutzte. Es roch nach Rauch. Nach Rauch! In null Komma nichts war er in der Küche, wo die Flammen aus dem großen achtflammigen Gasofen bis unter die Decke 38
loderten. Tia kämpfte mit dem Feuerlöscher und versuchte, ihn auf die Flammen zu richten. »Tia!« »Ich hab alles im Griff!« Clark wollte ihr den Feuerlöscher aus der Hand nehmen, aber sie riss ihn an sich. Dabei geriet sie aus dem Gleichgewicht und stolperte direkt in die hoch auflodernden Flammen. Sofort fingen ihr T-Shirt, das ihr viel zu weit war, und die Küchenschürze Feuer. Als Tia voller Panik aufschrie, richtete Clark den Feuerlöscher auf sie und löschte die Flammen. Mittlerweile stand dicker Rauch in der Küche und Clark quetschte rasch das Gasrohr zusammen, das zum Ofen führte. Er drückte es so fest zu, dass die Gaszufuhr versiegte. Dann ging er rasch zu Tia. Sie lag auf dem Boden und blickte benommen drein. »Bist du in Ordnung?«, fragte er besorgt. »Nicht gucken!«, schrie Tia und krabbelte plötzlich rückwärts in die Ecke wie ein seltsamer vierbeiniger Käfer. Vielleicht ist das Rückenteil ihres T-Shirts verbrannt und es ist ihr peinlich, überlegte Clark. Er zog sein Flanellhemd aus und reichte es Tia. »Ist schon okay. Hier! Zieh das an!« Tia bewegte sich nicht. Clark kam näher und hielt ihr das Hemd hin. »Und du hast ganz sicher keine Verbrennungen abgekriegt?«, fragte er. »Ganz sicher.« Clark kam noch näher und sprach ganz langsam. »Ich weiß, das war ein Riesenschreck für dich, aber...« »Geh weg!«, krächzte Tia heiser. »Bleib von mir weg!« Sie hatte panische Angst, das war eindeutig. Und plötzlich dämmerte es Clark. Sie wird von ihrem Vater geprügelt! Tia hat bestimmt blaue Flecken auf dem Rücken und ich soll sie nicht sehen, dachte er 39
entsetzt. Bei dieser Vorstellung zog sich ihm der Magen zusammen. Aber da er Mr. Haines bereits kennen gelernt hatte, konnte er sich gut vorstellen, dass seine Theorie zutraf. Langsam näherte er sich Tia und sprach ganz sanft mit ihr. »Tia, es ist alles in Ordnung. Ich werde dir nichts tun. Ich weiß, was los ist.« Sie ließ sich gegen die Wand sinken, machte sich ganz klein und zog die Knie bis ans Kinn hoch. »Bitte«, wimmerte sie. »Bitte, nicht!« »Schschscht! Es ist alles in Ordnung. Ich tue dir nichts. Das verspreche ich dir.« Nun war Clark ganz dicht bei ihr. Er hätte sie anfassen können, aber das tat er nicht. Er hielt ihr nur weiter sein Hemd hin. Schließlich griff Tia danach und zog es sich rasch über, bevor sie aufstand. »Danke«, brachte sie mühsam hervor. »Keine Ursache! Wie ist es überhaupt zu dem Feuer gekommen?« »Ich habe keine Ahnung. Da stimmt was mit dem Gas nicht. Der Ofen war ausgeschaltet.« »Vielleicht sollte ich dich doch ins Krankenhaus bringen, nur um sicherzugehen...« Tia warf einen prüfenden Blick auf das Ende ihres Zopfs. Zum Glück war er nicht versengt. »Nein, nein, mit mir ist alles in Ordnung.« Clark wusste nicht, ob das tatsächlich stimmte. Aber ohne einen handfesten Beweis konnte er Tias Vater nun wirklich nicht verdächtigen, gewalttätig gegen Kinder zu sein. »Du hast das Feuer ja Gott sei Dank gelöscht, bevor größerer Schaden entstehen konnte«, fuhr Tia fort. Sie klang nun wieder besser. »Elem ist bestimmt versichert. Das hoffe ich jedenfalls.« »Es war mein Fehler«, sagte Clark rasch. »Ich hätte in der 40
Küche sein sollen.« »Nein. Das ist sehr nett von dir, aber ich kann nicht zulassen, dass du die Schuld auf dich nimmst.« »Nun, wir können uns die Schuld ja teilen, wie wäre das?«, meinte Clark. »Ich weiß nicht, wo Elem Karten spielt, also rufen wir wohl besser Big Max zu Hause an. Ich meine, wir können ja schlecht einfach so abhauen.« Tia nickte. »Ich habe seine Nummer. Ich rufe ihn an. Glaubst du, er schmeißt mich raus?« »Mach dir keine Sorgen, ich werde für dich bürgen.« Tia dankte ihm mit einem strahlenden Lächeln. »Danke. Danke für alles.« Sie zögerte. »Du bist wirklich sehr nett zu mir. Ich weiß zwar nicht warum, aber...« »Ich finde, du verdienst eine bessere Behandlung als die, die dir normalerweise widerfährt«, entgegnete Clark. Er hoffte, Tia damit die Gelegenheit zu geben, das Gespräch auf ihren Vater zu bringen. Aber sie ging nicht auf seine Äußerung ein, sondern nickte nur. Clark versuchte es ein letztes Mal. »Also, wenn du dich mal aussprechen willst...« »Es ist alles in bester Ordnung«, versicherte ihm Tia zugeknöpft und wandte sich von ihm ab. »Ich rufe Big Max jetzt mal an.« Mit diesen Worten verschwand sie im Büro der Geschäftsführer und machte die Tür hinter sich zu. Clark rang mit seinem Gewissen. Tia war ganz offensichtlich ein sehr verschlossener, reservierter Mensch. Aber da er so überzeugt von seiner Theorie über ihren Vater war, wollte er unbedingt Beweise dafür finden. Nur so konnte er Tia wirklich helfen. Also konzentrierte er sich, richtete seinen Blick auf die Tür zum Büro und durchdrang sie mit seinem Röntgenblick. Tia stand an Elems Schreibtisch. Ein trüber Spiegel hing schief an der Wand. Clark beobachtete, wie Tia sich umdrehte. Nun war 41
ihr Rücken im Spiegel zu sehen. Tia schob Clarks Flanellhemd von ihren schlanken Schultern und reckte den Hals, um ihre Kehrseite im Spiegel betrachten zu können. Clark schnappte nach Luft. Auf Tias Rücken waren keine blauen Flecken. Aber da war etwas ganz anderes. Und das gleich in zweifacher Ausfertigung: Sie waren klein und leuchtend grün, durchzogen von einem Geflecht aus pulsierenden dunkelgrünen Adern, und sie bewegten sich im Rhythmus von Tias Herzschlag auf und ab. Tia Haines hatte Flügel!
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6. CLARK TRAF ALS ERSTER IM TALON EIN. Wie sie verabredet hatten wählte er einen Tisch weiter hinten im Café und wartete dort auf Tia. Lana war offenbar nicht da und darüber war Clark ausnahmsweise froh. Er musste sich auf das konzentrieren, was er sagen wollte. Am Vorabend hatte er zusammen mit Tia auf Big Max gewartet. Zunächst war Big Max ziemlich wütend gewesen. Aber wie er rasch erkannte, war kein großer Schaden entstanden, und da es sich bei der Brandursache um ein kaputtes Ventil handelte, hatte er sich rasch wieder beruhigt. Während des Gesprächs mit Big Max hatte Clark die ganze Zeit über Tia nachgedacht. Aber was hätte er ihr sagen sollen? – »Hör mal, Tia, ich habe einen Röntgenblick und als ich dich damit bespitzelt habe, sind mir die grünen Flügel auf deinem Rücken aufgefallen. Wo hast du die denn her?« Stattdessen hatte Clark Tia gebeten, sich mittags mit ihm im Talon zu treffen. Nun wartete er auf sie und trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch. Er wusste immer noch nicht, was er sagen sollte, wenn Tia kam. Immerhin verstehe ich jetzt, warum sie das Buch von der Möwe liest, dachte er. »Hallo Clark!«, rief Tia und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Ich hoffe, ich bin nicht zu spät. Ich musste mit dem Bus fahren.« »Ich bin gerade erst gekommen«, beruhigte er sie. »Oh. Okay.« Tia lächelte schüchtern. »Ich freue mich über deine Einladung.« Ihre Augen leuchteten und auf ihren Lippen glänzte, wie Clark bemerkte, hellrosa Lippenstift. Er hatte Tia noch nie geschminkt gesehen. Da traf ihn blitzartig die Erkenntnis. Tia nahm an, er hätte sie 43
um ein Date gebeten! Okay, ich bin der größte Idiot in ganz Kansas!, dachte er. Wie sollte er nun mit der Situation umgehen? Nicht, dass sie nicht hübsch wäre... Nein, nein, sie war durchaus hübsch. Und nett. Und wegen ihrer kleinen körperlichen... Andersartigkeit kleinlich zu sein, stand ihm nun wirklich nicht zu. »Wow, ist das voll hier! Aber sehr schön«, sagte Tia und sah sich um. »Ich war noch nie hier. Deine Freundin Lana führt den Laden, nicht wahr?« Clark nickte. »Also, mir gefällt es hier. Aber um die Wahrheit zu sagen, würde es mir auch gefallen, wenn wir in einer Höhle säßen. Ich komme eigentlich gar nicht raus. Mein Vater... nun, er ist ziemlich streng.« Tia biss sich auf die Unterlippe. »Ich rede zu viel, nicht wahr?« »Nein, das ist ganz in Ordnung«, versicherte ihr Clark. »Ich bin irgendwie ziemlich nervös.« »Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Clark, um Zeit zu gewinnen, und überlegte fieberhaft weiter, wie er das Gespräch auf das bringen konnte, was er zu sagen hatte. Tia rümpfte die Nase. »Mag ich nicht.« »Wie wäre es mit einem Spaziergang? Es ist total warm draußen.« Sie standen auf und verließen das Café. Als sie auf der Straße standen, jubelte Tia: »Hmmm, die Luft riecht so schön frisch, findest du nicht?« Sie breitete die Arme aus und wirbelte um die eigene Achse. »Das ist suuuper!« Ich muss es ihr sagen, dachte Clark. Ich muss es einfach direkt ansprechen und... Tia hüpfte beinahe die Main Street hinunter, so vergnügt war sie. »Weißt du, Clark«, vertraute sie ihm an, »ich habe meinem Vater nichts von unserer Verabredung erzählt.« Sie blieben an einer roten Ampel stehen. »Warum nicht?« 44
Tia zuckte mit den Schultern. »Er macht sich ständig Sorgen.« Clark gab sich Mühe, seine Worte sorgfältig zu wählen. »Er macht einen ziemlich strengen Eindruck«, bemerkte er. »Das kannst du aber laut sagen!«, pflichtete ihm Tia bei und sie überquerten die Straße. »Er hat vorhin noch geschlafen und ich habe ihm einen Zettel geschrieben. So etwas habe ich noch nie gemacht.« »Ich würde sagen, in meiner Begleitung bist du sicher. Es ist Sonntag und du bist mitten in der Stadt. Nichts, worüber er sich sonderlich aufregen könnte.« »Stimmt.« Tia nickte energisch. Schweigend schlenderten sie weiter die Main Street hinunter, bis sie vor der Highschool ankamen. Clark konnte es nicht mehr aushalten. »Ich muss dir etwas sagen, Tia.« »Okay.« »Ich...« Clark atmete tief durch. »Ich weiß über deine Flügel Bescheid.« Tia erstarrte und wurde leichenblass. »Das ist kein Problem«, fügte er rasch hinzu. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich es weiß.« »Du wirst es verraten, nicht wahr?«, flüsterte Tia. »Ich bin ein Freak.« »Nein, Tia...« »Doch, das bin ich«, fiel sie ihm ins Wort. »Das muss dir ziemlich ekelig vorkommen.« »Nein«, sagte Clark bestimmt. »Weiß es dein Vater?« Tia schüttelte den Kopf. »Deshalb hast du so viel Angst vor ihm, nicht wahr?« Tia umklammerte voller Panik Clarks Arm. »Du darfst es ihm nicht verraten!« »Das werde ich auch nicht.« »Du darfst es niemandem verraten! Niemals!« Clark sah ihr tief in die Augen. Einerseits hätte er ihr so gern 45
erzählt, dass er auch seine Geheimnisse hatte; Geheimnisse, die vielleicht ebenso schädlich für sein Leben waren wie Tias Geheimnisse für ihres – vielleicht sogar noch schädlicher. Aber andererseits war es der reinste Wahnsinn, mit jemandem darüber zu sprechen. Schließlich fand er einen Kompromiss. »Tia, hör mir zu. Mir ist bewusst, dass es Dinge gibt, von denen niemand erfahren muss. Vertrau mir. Ich werde es niemandem verraten.« Etwas in seiner Stimme schien Tia zu beruhigen. Sie ging ein paar Schritte zu einer Parkbank und setzte sich. »Es ist furchtbar schwer, ein wirklich großes Geheimnis für sich zu behalten«, sagte sie und ließ die Schultern hängen. Eine Träne kullerte ihr über die Wange und sie wischte sie fort. »Es ist so anstrengend!« Das verstehe ich besser, als du dir vorstellen kannst, dachte Clark und setzte sich neben sie. »Deshalb fühle ich mich manchmal sehr einsam. Kennst du dieses Gefühl?«, fragte sie. »Ja, das kenne ich. Ich habe einen Speicherraum oben in unserer Scheune – das ist mein ganz privates Versteck«, begann Clark zu erzählen. »Da oben steht mein Teleskop. Und manchmal, wenn ich mich einsam fühle, klettere ich rauf und denke darüber nach, wie unendlich groß das Universum ist... Und wenn ich mir dann die Sterne angucke, fühle ich mich meist nicht mehr so einsam.« Tia nickte und schwieg eine Weile. »Es ist erst ein paar Monate her, da haben die Flügel plötzlich angefangen zu wachsen«, erklärte sie und schlug die Augen nieder. »Hat dir das Angst gemacht?« »Ja, aber ich habe mich auch gefreut.« Clark machte ein überraschtes Gesicht. Tia sah auf und lächelte ihn schüchtern an. »Meine Mutter hatte auch Flügel, weißt du.« 46
»Deine Mutter...?«, staunte Clark. »Direkt nach dem Meteoritenschauer wuchsen meiner Mutter Flügel. Ich erinnere mich daran, obwohl ich damals noch sehr klein war. Es begann mit einem merkwürdigen kleinen gefiederten Höcker auf ihrem Rücken. Und dann wuchs mir auch so ein komischer Federkamm. Aber wie gesagt, erst vor kurzem fingen meine Flügel an, sich richtig zu entwickeln und so groß zu werden wie ihre.« Clark nickte und sah Tia fragend an, um sie zum Weitererzählen zu ermuntern. »Ich dachte, mit den Flügeln würde ich ihr ähnlicher. Sie war so wunderschön! Ich kann mich noch sehr gut an sie erinnern. An ihr Gesicht. An ihr Lachen. Sie duftete immer nach Frühling. Wenn sie ihre Flügel ausbreitete, sah sie aus wie ein Engel.« »Und wo ist sie jetzt?« Tia blickte traurig drein. »Mein Vater hat ihre Flügel gehasst. Er fand das widerlich. ›Welcher Mann will schon eine Frau mit Flügeln!‹, hat er immer gesagt. Und es wurde noch viel schlimmer, als sie fliegen lernte.« Clark fiel die Kinnlade runter. »Deine Mutter konnte fliegen?« Tia stand von der Bank auf. »Lass uns zurückgehen. Ich erzähle es dir unterwegs.« Sie beugte sich vor und pflückte eine Löwenzahnblüte von dem schmalen Grünstreifen. »Als ich fünf war, habe ich sie zum letzten Mal gesehen, aber ich erinnere mich noch sehr gut daran. Es ist wie ein Video, das ich mir schon tausendmal angesehen habe.« »Was ist passiert?«, fragte Clark, als sie sich auf den Rückweg machten. »Mein Vater hat ihr verboten zu fliegen. Er hat sogar damit gedroht, ihr die Flügel abzuschneiden. Aber sie ist trotzdem geflogen, wenn er nicht zu Hause war. Damals wohnten wir noch auf dem Land, und da konnte sie fliegen, ohne gesehen zu 47
werden, wenn sie nicht zu große Runden drehte. Eines Tages ist mein Vater früher als sonst nach Hause gekommen und hat sie erwischt. Später am Abend wurde ich wach, weil sie sich laut stritten. Vielleicht ist er sogar handgreiflich geworden. Dann hörte ich Glas splittern und bemerkte, wie etwas vor meinem Fenster flatterte.« »Das war sie?«, fragte Clark. Tia nickte. »Das Letzte, was ich von ihr sah, war die Silhouette ihrer schönen großen Flügel vor dem Mond, als sie davonflog. Danach habe ich sie nie wieder gesehen.« »Das tut mir Leid.« Clark schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. »Du musst sie schrecklich vermissen.« »Jeden Tag.« Tia blieb stehen und zwirbelte den Löwenzahnstiel zwischen ihren Fingern. »Findest du diese Blume hässlich?« »Nein.« »Ich auch nicht. Ich finde sie wunderschön. Aber ziemlich viele Leute halten Löwenzahn wohl eher für ein hässliches Unkraut.« Sie steckte ihm die Blüte in ein Knopfloch an seinem Hemd und lächelte ihn an. »Sieht hübsch aus.« Sie gingen weiter. »Warum ist deine Mutter eigentlich nicht zum Arzt gegangen, als die Flügel anfingen zu wachsen?«, fragte Clark. »Wir hatten weder eine Krankenversicherung noch das nötige Geld dafür. Ich selbst bin zum ersten Mal beim Arzt gewesen, als ich in den Kindergarten kam. Abgesehen davon waren ihre Flügel ja das düstere Geheimnis der Familie. Du weißt schon, eine schändliche Sache. Zumindest in den Augen meines Vaters.« Clark versuchte, sich Tias Flügel vorzustellen. Ob sie ebenso grün waren wie die ihrer Mutter? Er musste an die Farbe der Meteoriten denken. »Ich war damals drei Jahre alt«, fuhr Tia fort. »Meine Mutter war gerade draußen und hängte die Wäsche auf, als ein 48
Meteorit in unsere Garage einschlug. Direkt danach bekamen wir alle dieses grüne Zeug ab. Meine Mutter war der Explosion am nächsten und wurde von Kopf bis Fuß mit Staub eingehüllt. Einige Monate später fingen ihre Flügel an zu wachsen, wie eine Art... Mutation, oder so.« Clark fühlte sich, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. Wenn die Meteoriten an dieser Sache schuld waren, dann war er im Grunde daran schuld. »Tia, wo warst du, als es passiert ist?« »Mein Vater hat gesagt, ich hätte draußen gespielt. Ich weiß es leider nicht mehr«, erklärte Tia. »Und du findest das ganz bestimmt nicht ekelig?«, setzte sie nach. Clark suchte fieberhaft nach den richtigen Worten. »Die Flügel sind ein Teil von dir«, sagte er schließlich. »Und sie sind wunderschön.« In Tias Augen glitzerten Tränen. »So etwas Nettes hat noch nie jemand zu mir gesagt! Wenn mein Dad meiner Mutter mal so etwas gesagt hätte – wer weiß, vielleicht wäre sie dann noch bei uns.« »Es tut mir wirklich sehr Leid.« »Mir auch. Ich glaube, mein Vater ist so streng mit mir, weil ich meiner Mutter sehr ähnlich sehe. Er befürchtet vermutlich, wenn mir Flügel wachsen, könnte ich auch davonfliegen und ihn verlassen.« Tia biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Man muss jemanden wirklich sehr lieben, wenn man sich ständig solche Sorgen macht, findest du nicht, Clark?« »Ich weiß nicht«, entgegnete Clark zögernd. »Mir kommt das eher so vor, als sperre er einen Vogel im Käfig ein, der eigentlich frei sein möchte. Das ist nicht wirklich Liebe, oder?« »So habe ich das noch nie gesehen.« Tia seufzte. »Aber selbst wenn ich wegfliegen wollte, wo sollte ich denn hin?« »Ich weiß nicht.« Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Tia 49
sah Clark kurz von der Seite an. »Mein Vater ist kein schlechter Mensch. Aber wenn er das mit den Flügeln herausfindet...« Sie schauderte. »Dann sperrt er mich ein oder tut vielleicht sogar noch etwas viel Schlimmeres. Er würde alles tun, um mich am Fliegen zu hindern.« »Ich lasse nicht zu, dass er dir wehtut«, versicherte Clark ihr. »Du kannst nichts gegen ihn unternehmen. Nicht, ohne anderen mein Geheimnis zu verraten. Und ich könnte nicht mit dem Wissen leben, dass mich alle für eine Missgeburt halten. Dann wäre ich lieber tot.« »Ich habe es dir doch gesagt, Tia. Bei mir ist dein Geheimnis sicher.« Tia blieb stehen und fasste Clark am Arm. »Du musst es schwören. Beim Leben von einem Menschen, den du sehr liebst.« Sie überlegte kurz. »Beim Leben deiner Mutter!« »Das kann ich nicht...«, zögerte Clark. »Ich wusste es!« Tias Miene verfinsterte sich. »Ich hätte dir nicht vertrauen sollen!« »Aber nicht doch! Du kannst mir vertrauen!« Tia rückte von ihm ab. »Nein, ich kann einfach niemandem vertrauen...« »Tia!« Clark fasste sie an den Oberarmen und hielt sie fest. »Du musst keine Angst haben. Ich mache es. Ich schwöre.« Tia wartete regungslos ab. Ich muss es einfach tun, dachte Clark, das bin ich ihr schuldig. Er öffnete den Mund. »Ich schwöre beim Leben meiner Mutter, dass ich niemandem dein Geheimnis verrate.« »Ich danke dir!« Tia umarmte ihn und als sie ihn loslieft, glitzerten wieder Tränen in ihren Augen. »Eigentlich steht es mir gar nicht zu, aber ich würde dich sehr gern um etwas bitten.« »Um was denn?« »Nun, ich glaube nicht an den Zufall. Alles geschieht aus 50
einem bestimmten Grund«, antwortete Tia. »Nach so langer Zeit wachsen mir plötzlich Flügel, genau wie meiner Mutter! Und du bist der Einzige auf der ganzen Welt, der mein Geheimnis kennt. Also muss ich dich einfach fragen...« »Ist schon okay. Schieß los!« Tia nickte. »Also gut. Clark, würdest du mir helfen, fliegen zu lernen?«
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7. »WIE GEFÄLLT DIR DENN DEIN NEUER JOB?«, fragte Martha. Clark suchte gerade im Kühlschrank nach der Pizza, die er mitgebracht hatte. Es war die letzte telefonische Bestellung des Abends gewesen und niemand hatte sie abgeholt. In diesen Tagen gab es bei den Kents des Öfteren eine Gratis-Pizza zu essen. »Gut«, antwortete Clark, klappte die Schachtel auf und nahm sich ein Stück von der vegetarischen Pizza. In der Zwischenzeit hatte seine Mutter sämtliche Gewürzgläser vom Regal geräumt und stellte sie auf die Küchentheke. »Was machst du da eigentlich?«, fragte Clark. »Ich mache Ordnung. Hier sind zum Beispiel vier halbvolle Oregano-Gläschen. Hättest du vielleicht Lust, ›gut‹ ein bisschen näher auszuführen?« Clark holte sich einen Teller für sein kaltes Stück Pizza und setzte sich. »Also, sagen wir mal so: Seit ich diesen Job mache, weiß ich, wie wichtig eine gute Ausbildung ist. Ich will mich nämlich nie wieder so langweilen.« Martha lachte. »Das höre ich als Mutter natürlich gern. Aber du kannst darauf wetten, dass du noch einige langweilige Jobs haben wirst, wenn du aufs College gehst.« Clark biss nachdenklich in seine Pizza. »Ich muss arbeiten, wenn ich aufs College gehe?« »Wahrscheinlich schon. Bei mir war das auch so. Und bei deinem Dad auch«, sagte Martha, die in diesem Augenblick zwei weitere Gewürzgläser auf dem obersten Regal entdeckte. »Großartig! Die haben nicht mal ein Etikett. Da können wir Gewürze-Raten spielen.« Sie schraubte eins der Gläser auf und hielt es Clark unter die Nase. »Majoran.« 52
»Ich bin beeindruckt. Vielen Dank!« »Mom?« »Ja, Clark?« »Ich weiß nicht mal, was Majoran ist«, gestand Clark mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Martha schüttelte lachend den Kopf. »Ach ja, der berühmte Kent-Humor! Okay, dann nennen wir es eben ›geheimnisvolle Mischung‹.« Sie beschriftete ein weißes Etikett und klebte es auf das Glas. »Wie war’s gestern? Hast du dich gut mit Tia amüsiert?« »Das war kein Date!« »Das habe ich ja auch nicht gesagt. Ich habe nur gefragt, ob ihr euch gut amüsiert habt.« Tja, Mom, die Sache sieht folgendermaßen aus, dachte Clark. Tia hat Flügel und ich habe versprochen, ihr das Fliegen beizubringen. Ich! Der Junge mit der Höhenangst. Der Junge, der so tun muss, als freue er sich unheimlich darauf, mit Pete und Lana Fallschirmspringen zu gehen... »Es war ganz okay. Kennst du vielleicht jemanden, der Fallschirmspringen schon mal ausprobiert hat, Mom?« »Eine Freundin vom College. Sie ist jetzt bei der Luftwaffe.« »Nicht unbedingt meine erste Wahl, was die Karriere angeht«, bemerkte Clark. Er nahm sich einen Apfel aus der Obstschüssel und rieb ihn nachdenklich mit einem Tuch ab. »Vielleicht ist Fallschirmspringen nicht ganz das Richtige für jemanden, der Probleme mit großen Höhen hat.« »Es macht bestimmt viel Spaß«, entgegnete Clark. Er konnte doch vor seiner Mutter nicht zugeben, was für ein Waschlappen er war! Pete hat keine Angst, dachte er. Lana auch nicht. Meine Angst ist völlig irrational. Wie kann ich nur so eine Panik wegen... »Hallo, Leute!«, rief Lex, der plötzlich vor der Hintertür zur Küche auftauchte. »Kann mir mal jemand helfen? Ich habe die 53
Hände voll!« Clark stand rasch auf und öffnete Lex die Tür. »Lex! Ich wusste nicht, dass du kommst.« »Ich habe Geschenke mitgebracht!« Lex hielt eine Palette mit kleinen Pflänzchen hoch. »Das sind Tomaten.« In der anderen Hand hatte er einen braunen Leinensack. »Das ist sehr nett, Lex«, sagte Martha, »aber wir haben schon jede Menge Tomatenpflänzchen gesetzt.« Lex stellte das Tablett auf der Küchentheke ab. »Wir haben einige Versuche in der Fabrik durchgeführt. Diese Pflanzen hier sind aus Samen gezogen, die aus Griechenland kommen. Und das hier...« – er zeigte auf den Leinensack – »ist ein neuer organischer Dünger, den wir gerade entwickelt haben. Jetzt muss er natürlich noch getestet werden und dabei habe ich sofort an Sie gedacht.« Martha hielt die Hände unter den Wasserhahn und trocknete sie sich rasch ab. »Ich helfe gern, Lex. Falls dieser Dünger wirklich organisch ist.« »Es ist eine ganz neue Rezeptur. Der Dünger ist besonders für den Boden hier bei uns geeignet. Und er ist vollkommen natürlich. Absolut nichts Künstliches dran«, versicherte ihr Lex. »Da ich überzeugt war, dass Sie ihn gern ausprobieren würden, habe ich schon mal ein Dutzend von diesen Säcken draußen an der Scheune abgestellt.« »Angriff der Killertomaten«, ulkte Clark. »Mann, die fressen uns das Vieh auf!« »Sehr witzig, Clark!«, bemerkte Martha mit einem gutmütigen Augenzwinkern. »Dann gehe ich schnell mal diese Setzlinge einpflanzen. Ich habe letztes Wochenende gerade erst welche in die Erde gebracht. Wir werden im direkten Vergleich prüfen, welche sich besser entwickeln.« »Soll ich dir helfen, Mom?«, fragte Clark. Martha schüttelte den Kopf. »Das dauert nicht lange. Willst du Lex nicht inzwischen einen Eistee anbieten? Ich bin gleich 54
wieder da.« Nachdem Clark ihr die Tür aufgehalten hatte, widmete er sich seinem Freund. »Willst du ein Stück Pizza?« »Kalt?« Lex verzog das Gesicht. »Ich bin mittlerweile auf den Geschmack gekommen. GratisPizza ist die einzige Bonusleistung, die ich bekomme.« Lex lehnte sich an die Küchentheke. »Clark, du hättest mich nach einem Job fragen sollen. Wie viel zahlen sie dir in der Pizzeria?« »Nicht besonders viel«, räumte Clark ein. »Aber es gibt ja auch Trinkgeld, das macht schon was aus.« »Wenn du einen ordentlichen Job willst – bei uns gibt es immer etwas ums Haus zu tun«, erklärte Lex. »Oder ich könnte dir einen Job in der Fabrik beschaffen. Egal, wie viel dir Elem zahlt, von mir kriegst du das Doppelte!« »Warum?« Lex lachte. »Wozu sind wir denn Freunde?« »Nicht, um uns gegenseitig einzustellen«, entgegnete Clark. »Dann sind wir nämlich keine Freunde mehr, sondern Arbeitgeber und Arbeitnehmer.« »Meinst du nicht, es ist möglich, beides zu vereinen?« »Klingt jedenfalls riskant. Aber trotzdem danke.« Lex zeigte auf Clark. »Deine Integrität ist wirklich eine bewundernswerte Eigenschaft. Wer weiß? Vielleicht leiten wir beide Luthorcorp eines Tages gemeinsam. Da hat es schon Merkwürdigeres auf der Welt gegeben.« Viel aber nicht, dachte Clark bei sich. »Darf ich?«, fragte Lex und zeigte auf die Obstschüssel. »Natürlich!« Lex nahm sich eine Birne. »Es wird dich freuen zu hören, dass wir bei dem Wohltätigkeitsfest zwanzigtausend Dollar eingenommen haben«, sagte er und biss in die gelbe Frucht. Clark stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »So viel Geld kann man mit einer Tombola und ein paar Verkaufsbuden 55
machen?« »Nun, ein klein wenig habe ich den Betrag vielleicht aufgerundet«, gab Lex zu und biss noch einmal in seine Birne. »Aber es ist für eine gute Sache. Hör mal, apropos Tombola. Sieht so aus, als stünde bald dein Fallschirmspringer-Debüt ins Haus, oder?« »Woher weißt du das denn?« »Wie ich dir bereits mehrfach erklärt habe, geschieht in Smallville nicht viel, von dem ich nichts weiß. Ich war im Talon und Lana hat es mir erzählt.« »Was hat sie genau gesagt?« »Dass sie es gar nicht abwarten kann, mit dir aus einem Flugzeug zu springen.« Na super!, dachte Clark. Sie schlägt bestimmt Purzelbäume in der Luft, während ich winsele wie ein kleines Baby. Lex grinste. »Ich glaube, es wird dir gefallen. Mir hat es jedenfalls Spaß gemacht.« »Moment! Soll das heißen, du hast dich schon mal als Fallschirmspringer versucht?« »Sicher, mehr als einmal.« Vielleicht lässt meine Angst nach, je mehr ich darüber erfahre, überlegte Clark. »Erzähl mir davon!«, bat er. »Also, wenn man sich überwindet, aus dem Flugzeug zu springen, das ist schon der echte Wahnsinn, besonders beim ersten Mal. Es ist wie... eine Geburt oder so. Man ist tausende Meter in der Höhe und muss einfach darauf vertrauen, dass man nicht auf die Erde knallt. Die Sekunden, bevor der Fallschirm sich öffnet, sind eine irre Erfahrung, da pumpt einem ganz schön das Adrenalin durch den Körper.« Clark spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Was Lex gesagt hatte trug nicht wirklich zu seiner Beruhigung bei. »Clark? Alles in Ordnung mit dir?« Clark schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Was 56
stimmt mit mir eigentlich nicht? Warum kriege ich davon nur solche Zustände?« »Clark?« Lex wartete auf eine Erklärung. »Okay, ich habe ein Geständnis abzulegen.« Clark sprach ganz leise, obwohl außer Lex niemand im Raum war, der hätte mithören können. »Ich habe da dieses Ding. Mit der Höhe.« »Dieses Ding?« »Angst nennt man das wohl«, gab Clark zu. »Vor Höhe. Ehrlich gesagt macht mir das furchtbare Angst. Regelrechte Panik. Ich könnte kübeln, wenn ich nur daran denke.« »So schlimm?« »Schlimmer«, stöhnte Clark. Lex warf den Birnenbutzen in den Mülleimer. »Ich kann dir helfen.« »Glaube ich kaum.« »Clark, Clark, Clark«, rügte ihn Lex. »Bin ich es nicht gewesen, der dir geholfen hat, die Rolle des Cyrano in den Griff zu kriegen, als du die Krise hattest und davon überzeugt warst, du könntest nicht schauspielern?« »Das ist wahr«, gab Clark zu. »Na also!« Lex breitete die Arme aus. »Dazu sind Freunde schließlich da.« Auf was habe ich mich da bloß eingelassen!, dachte Clark. »Ist das nicht ein tolles Transportmittel, mein Junge?«, brüllte Lionel Luthor über das laute Knattern der Rotorblätter seines Hubschraubers hinweg. Clark nickte nur, denn er befürchtete, er würde wie ein Baby darum betteln, wieder aussteigen zu dürfen, wenn er den Mund aufmachte. »Okay, Clark«, rief Lionel Luthor, »dann schnall dich an, setz den Kopfhörer auf und mach dich bereit für eine Besichtigung deiner Heimatstadt aus der Vogelperspektive!« Clark warf Lex einen panischen Blick zu. 57
»Ich würde tun, was er sagt«, bemerkte Lex. »Es bringt dir nicht viel, wenn du ihm nicht gehorchst. Du kannst ganz beruhigt sein, es wird nichts Schlimmes passieren. Wirklich nicht!« Mit einem grimmigen Grinsen auf den Lippen schnallte sich Clark an und dachte daran, wie rasch sich die Dinge entwickelt hatten. Zufällig war Lex’ Vater mit dem firmeneigenen VierPersonen-Hubschrauber nach Smallville gekommen, um in der Luthorcorp-Fabrik nach dem Rechten zu sehen, wie er es regelmäßig tat. Und so war es ein Leichtes für Lex gewesen, seinen Vater darum zu bitten, mit ihm und Clark einen kleinen Rundflug zu unternehmen. Clarks Angst vor dem Fliegen hatte er dabei mit keiner Silbe erwähnt. Wie Lex seinem Freund auf der Fahrt zur Fabrik erklärt hatte, war das Gute an einem Hubschrauber, dass er ganz, ganz langsam aufsteigen konnte und schnell wieder auf der Erde war, falls Clark sich unwohl fühlte. So bekam er die Möglichkeit, seine Ängste Schritt für Schritt zu überwinden. Lex hatte Clark sogar angeboten, ihm ein Zeichen zu geben, wenn er wirklich Panik bekam. Dann wollte er seinem Vater sagen, dass ihm – Lex – nicht ganz wohl war. »Damit rechnet er bei mir sowieso immer«, hatte Lex erklärt. »Obwohl ich seit dem sechsten Schuljahr nicht mehr luftkrank geworden bin. Ist schon komisch: Wir werden zwar älter, aber unsere Eltern sehen uns immer noch so, wie wir als Kinder waren.« Clark wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Rotorblätter des Hubschraubers sich schneller zu drehen begannen. Nervös sah er Lex an, der ihm ein beruhigendes Lächeln zuwarf. »Es ist mir ein echtes Vergnügen«, sagte Lionel und Clark hörte seine kratzende Stimme im Kopfhörer. »Ich nehme den Sohn von Jonathan Kent im Hubschrauber von Luthorcorp mit. Es gibt noch Hoffnung für diese Welt!« 58
Clark zwang sich zu einem Lächeln. Sein Vater – der zu den Bürgern von Smallville gehörte, die Lionel Luthor großes Misstrauen entgegenbrachten – und der Vater von Lex konnten sich nicht ausstehen. »Geh ganz langsam hoch, Dad«, schlug Lex vor. »Zeig Clark, was dieses Baby hier alles drauf hat!« Lionel zog den Steuerhebel mit der einen Hand zurück und mit der anderen schob er den Gashebel vor. Der Hubschrauber hob ruckelnd vom Boden ab. »Hier, Clark, sieh dir das an!« Lionel zeigte auf den Höhenmesser, als sie aufstiegen. »Da kann man ablesen, wie hoch wir sind. Wir können bis auf tausendfünfhundert Meter raufgehen.« Clark schluckte. »Tausendfünfhundert? Das ist aber... ziemlich ordentlich.« »Allerdings!«, pflichtete ihm Lionel bei. Clarks Blick wanderte unruhig zwischen der Landschaft draußen und dem Höhenmesser hin und her, während der Hubschrauber hochging. Zwanzig Meter, dann dreißig. Nun schwebten sie bereits neben der Dachkante der LuthorcorpFabrik. Okay, das ist noch nicht besonders hoch, redete Clark sich zu. Das ist gar nicht schlimm. Ich muss einfach nur daran denken, das Atmen nicht zu vergessen. »Willst du ihn mal fliegen, Clark?«, fragte Lionel. »Ähm, lieber nicht, Sir«, antwortete Clark. »Sie sind der Pilot.« »Da hast du Recht. Es ist nämlich nicht einfacher als Fahrradfahren«, erklärte Lionel. Er ließ den Hubschrauber um weitere zehn Meter steigen, dann noch einmal zehn. Und noch einmal. So weit, so gut, dachte Clark und riskierte erneut einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster. Es ist alles... okay. Wirklich! 59
Er drehte sich zu Lex um und machte das Daumen-hochZeichen. Ganz langsam in die Höhe zu steigen schien die richtige Methode zu sein. Er war zwar nervös, aber seine Unruhe wich allmählich einer Art... Hochstimmung. Er war in der Luft! Er war vollkommen in Sicherheit. Nichts Schlimmes würde passieren. Er sah Lionel an, der konzentriert auf seine Geräte blickte. »Mister Luthor?« »Ja, Clark?« »Könnten wir vielleicht über unsere Farm fliegen? Ich würde sie gern mal aus der Luft sehen.« Lionel lächelte Clark an. »Wenn der Freund meines Sohnes seine Farm aus der Luft sehen will, dann ist das unser nächstes Ziel!« Lex beugte sich vor, damit sein Vater ihn hören konnte. »Du brauchst nicht so dick auftragen, Dad. Dein guter Ruf eilt dir überallhin voraus.« »Das will ich nicht gehört haben, Lex«, entgegnete Lionel bestimmt. »So etwas ist unter unser beider Würde.« Clark sah zu, wie Lionel behutsam auf das Gaspedal für den rückwärtigen Rotor trat. Zunächst ging der Hubschrauber leicht in Schräglage und dann schwirrte er plötzlich nach Südwesten ab. Neunzig Sekunden später schwebten sie in etwa dreihundert Metern Höhe über der Farm der Kents. Clark spähte in die Tiefe. Da war das Haus, die Scheune und die Felder, die sich im Schachbrettmuster in alle Richtungen ausdehnten. Er konnte Lanas Haus und die Ställe dahinter sehen. Im Osten lag das Zentrum von Smallville. Er lächelte. Sein Heimatstädtchen bedeutete ihm sehr viel. Ihm wurde ganz warm ums Herz. Wie hatte sein Vater einmal gesagt? »Jeder möchte irgendwo dazugehören, Clark. Jeder hat das Bedürfnis, ein Teil von etwas zu sein.« 60
»Clark, sieh nur! Ich glaube, deine Mutter winkt uns!«, rief Lex und spähte angestrengt aus dem Fenster. »Sie steht in der Einfahrt!« Und da sah Clark seine Mutter auch schon vor dem Haus. Sie winkte hinauf zu dem Luthorcorp-Hubschrauber. Lionel flog einen kleinen Kreis, um ihren Gruß zu erwidern. »Das ist toll!«, sagte Clark. »Vielen Dank!« Lionel lächelte. »Gern geschehen. Hör mal, Clark, möchtest du mit mir und Lex zum Dinner nach Metropolis kommen? Um neun Uhr bist du wieder zu Hause, das verspreche ich.« »Ich kann leider nicht, Sir. Hab noch Hausaufgaben zu erledigen«, entgegnete Clark. »Aber trotzdem vielen Dank!« »Lex, hast du gehört, was Clark gesagt hat?«, fragte Lionel. »Ein Junge an der Highschool, der an die Hausaufgaben denkt. Das war bei dir ganz anders.« »Was du nicht sagst, Dad«, meinte Lex bissig. Aber falls Lionel die Feindseligkeit seines Sohnes bemerkt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. »Drehen wir noch eine Runde über der Stadt, bevor wir Schluss machen«, sagte er zu Clark. »Und was meinst du, willst du jetzt in so einen Flieger investieren?« Clark lächelte. »Ich glaube, ich spare erst mal für einen Gebrauchtwagen.« »Geht es dir gut, Clark?«, fragte Lex unvermittelt. »Sehr gut!«, entgegnete Clark und das stimmte auch. Seine Angst war verschwunden. Lex hatte Recht gehabt – Stück für Stück mit dem Hubschrauber in die Höhe zu steigen war wirklich die richtige Maßnahme gewesen. Lionel flog einen weiten Boden über die Main Street und die Highschool und dann zurück zur Luthorcorp-Fabrik. In diesem Augenblick wurde Clark etwas klar. Wenn ich aus dem Raumschiff hätte schauen können, dachte er, hätte ich genau das hier gesehen, bevor ich abgestürzt bin und meine Eltern mich fanden. Bevor der Meteoritenschauer 61
auf diese Stadt niederging und Lanas Eltern tötete und... »Fehlt dir auch ganz bestimmt nichts, Clark?« Lex legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du bist auf einmal ein bisschen grün um die Nase.« »Mir geht es gut, wirklich.« Lionel ist an dem Tag damals in Smallville gewesen, dachte er. Was wäre geschehen, wenn er mich gefunden hätte und nicht meine Eltern? Dann wäre er vielleicht jetzt mein Vater. Clark saß schweigend da, während sie auf den Hubschrauberlandeplatz des Firmengeländes zuflogen. Plötzlich ruckelte der Hubschrauber jedoch heftig und geriet merklich in Schräglage. »Dad?«, fragte Lex. »Keine Panik, Lex«, entgegnete Lionel. Aber Clarks Herz begann zu hämmern und sein Magen rebellierte, als er sah, wie besorgt Lionel dreinblickte, während er den Gashebel und einige Schalter betätigte, um den Hubschrauber wieder gerade aufzurichten. Sie verloren rasch an Höhe. Innerhalb weniger Sekunden waren sie bereits auf sechzig Meter abgesackt! Und dann ging der Motor aus. »Wir können auch ohne fliegen«, erklärte Lionel rasch. »Das nennt man Auto-Rotation. Aber haltet euch fest. Gleich gibt’s eine unsanfte Landung!« Clark blickte nach unten. Sie befanden sich nicht über dem Betonboden des Landeplatzes, sondern über einem Feld, und dahinter fiel das Gelände steil ab. »Mayday! Mayday! Mayday!«, rief Lionel in sein Funkgerät und der Hubschrauber sank weiter. Clark bekam es mit der Angst zu tun. Keuchend beobachtete er, wie die Nadel des Höhenmessers sich auf null zubewegte. Fünfzig Meter. Vierzig. Es ging alles viel zu schnell! Clark wurde bewusst, dass er nun nicht an sich denken durfte. Er musste überlegen, was er tun konnte, um alle Beteiligten zu retten. 62
Sofort wich seine Angst einer großen Entschlossenheit und Ruhe. Er wappnete sich und machte sich auf die Bruchlandung gefasst. Als der Hubschrauber auf der Erde aufschlug, wurden Lex und Lionel gegen die Kabinenwände geschleudert. Die Tür auf Clarks Seite wurde weggerissen. Und dann spürte Clark, wie der Hubschrauber anfing, langsam zu kippen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils erfasste Clark die Lage. Sie waren genau auf der Kante der steilen Böschung aufgeschlagen und nun drohte der Hubschrauber in die Schlucht zu stürzen. Blitzartig reagierte Clark und hechtete aus der Türöffnung. Falls Lionel und Lex es überhaupt mitbekamen, sah es für sie hoffentlich so aus, als sei er durch den Aufprall herausgeschleudert worden. Er überschlug sich mehrfach und drohte, den ganzen Abhang hinunterzukugeln, rammte jedoch sofort die Finger in den Boden, um seinen Sturz abzubremsen. Dann rannte er wieder hinauf zu dem schwankenden Hubschrauber, stemmte sich von unten gegen eine der zu Bruch gegangenen Kufen und schob mit ganzer Kraft. Es gab einen Ruck und schon stand der Hubschrauber wieder auf festem Boden. Sobald die Gefahr gebannt war, stolperte Clark in Windeseile die Böschung in die Schlucht hinunter, denn genau dort wäre er gelandet, wenn er bei dem Absturz aus dem Hubschrauber geschleudert worden wäre. Und was jetzt?, fragte er sich. Aber da gab es nur eins. Er warf sich ins Gras, schloss die Augen, täuschte Bewusstlosigkeit vor und wartete darauf, dass Lex und Lionel ihm zur »Rettung« eilten.
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8. NACHDEM CLARK SEINE ZIMMERTÜR GESCHLOSSEN HATTE, damit seine Eltern nicht hereinkamen und ihm überflüssige Fragen stellten, setzte er sich an den Computer. Die beiden waren seit dem Hubschrauberabsturz nicht mehr sonderlich angetan von seinem Vorhaben, Fallschirmspringen zu gehen, und deshalb wollte sich Clark erst gar nicht bei seiner Recherche zum Thema Fliegen erwischen lassen. In einer Stunde war er zu der ersten Flugstunde mit Tia am Raven Rock verabredet, der nicht weit entfernt von dem Stausee gleich hinter der Stadtgrenze lag. Wie Clark jedoch plötzlich klar geworden war, hatte er Tia Hilfe bei etwas versprochen, womit er sich überhaupt nicht auskannte. Zum Glück konnte er sehr schnell lesen und sich zudem fast alles, was er las, auch merken. Zunächst gab er die Suchbegriffe »Flugtechnik« und »Vögel« in eine Internet-Suchmaschine ein und es erschien eine lange Liste mit den entsprechenden Websites auf dem Bildschirm. Clark suchte sich eine aus, klickte sie an und las die einfache Erklärung: Ob Vogel oder Flugzeug, das Prinzip ist im Gleitflug ein und dasselbe: Die besondere Tragflächenform der Flügel sorgt in Kombination mit dem aerodynamischen Körper dafür, dass über den Flügeln ein niedriger Luftdruck herrscht als darunter. Durch diesen Druckunterschied kommt Auftrieb zu Stande, eine Kraft, die von unten auf die Flügel einwirkt. Der Mensch hat im Laufe der Geschichte immer wieder Versuche unternommen, vogelgleich zu fliegen. Dabei wurden Flügel aus den unterschiedlichen Materialien gefertigt. Aber nicht die Beschaffenheit der Flügel ist das Problem, sondern die 64
menschliche Muskulatur, denn der Mensch hat im Verhältnis gesehen viel weniger Kraft als ein Vogel. Hoffentlich sind Tias Flügel kräftiger als ihre Arme, dachte Clark. Er hatte sich bereits reichlich Gedanken über dieses Problem gemacht. Und nun, da er darüber las, geriet er wieder ins Grübeln. Ihn quälten viele Fragen. Zum Beispiel, wie um Himmels willen die Vögel überhaupt starteten. Und wie schafften sie es, nicht abzustürzen und sich den Hals zu brechen? Clark gab neue Suchbegriffe ein – »Starttechniken« und »Vögel« – und klickte gleich die erste Website in der langen Liste an, die auf dem Monitor erschien. Der Artikel war sehr aufschlussreich... »Seit wann interessierst du dich denn für Vögel?«, fragte jemand hinter ihm. Clark fuhr erschreckt auf und drehte sich um. Chloe spähte neugierig über seine Schulter auf den Computermonitor. »Ich habe dich gar nicht reinkommen gehört.« Clark schaltete rasch den Monitor aus. »Von Anklopfen hältst du wohl nicht viel?« »Ich habe angeklopft, aber du warst zu vertieft in die Vogelwelt und hast mich nicht gehört. Musst du ein Referat über Tukane halten oder so?« »Ich mache mich nur ein bisschen schlau.« »Komischer Zufall«, bemerkte Chloe. »Wie meinst du das?« »Hier!« Sie hielt ihm eine grüne Feder hin. »Hast du dir einen Papagei gekauft?«, fragte Clark. »Falsch! Whitney hat sie mir gegeben.« Chloe drehte die Feder zwischen den Fingern. »Na ja, um genau zu sein, habe ich ihn gebeten, sie mir zu geben. Sie stammt vom Tatort.« Clark runzelte die Stirn. »Du meinst, von der Stelle, wo er überfallen wurde?« »Wie du ja weißt, hat Whitney den Angreifer nicht gesehen. 65
Nur ein paar grüne Federn hat er auf der Straße gefunden. Er hat versucht, sie den cleveren Cops zu geben, als sie ihn verhörten, aber die haben sich nicht dafür interessiert. Mich hingegen interessiert das sehr!« Clark nahm sich die Feder. Sie war genauso grün wie die Federn an Tias Flügeln. Aber Tia hatte bestimmt nichts mit den Überfällen zu tun, davon war er überzeugt. Ihr Vater ließ sie ja kaum einmal aus dem Haus. Dennoch, die farbliche Übereinstimmung war irgendwie beunruhigend. »Und zu welchem brillanten Schluss sind Sie gekommen, Nancy Drew?«, fragte er schließlich. »Sehr witzig! Ich habe den Kurator der Bezirksvogelwarte angerufen und ihn um einen Interviewtermin gebeten. Ich will ihm die Feder zeigen und ihn fragen, was er davon hält. Deshalb muss ich auch gleich wieder los.« »Was erwartest du dir davon?« »Erstens wüsste ich gern, was für ein Vogel solche Federn hat, denn ich habe sämtliche Vögelbücher in der Bibliothek durchgesehen und nichts dazu gefunden. Und zweitens... keine Ahnung.« »Glaubst du etwa, Whitney wurde von einem Vogel überfallen?«, fragte Clark spöttisch. »Hal-lo! Wir sind hier in Smallville, schon vergessen?«, meinte Chloe. »Hier ist alles möglich!« »Hey, jetzt weiß ich’s!«, rief Clark triumphierend. »Es war Big Bird, der große grüne Vogel. Vielleicht waren sogar Ernie und Bert an der Sache beteiligt.« »Und ich wollte dich eigentlich bitten, mich zu begleiten...«, bemerkte Chloe. Sie streckte eine Hand nach der Feder aus, aber Clark wollte sie nicht hergeben. »Hast du nur diese eine?«, fragte er. »Ich habe zwei. Warum?« »Kann ich die hier behalten?« Chloe verschränkte die Arme vor der Brust. »Wozu brauchst 66
du die, wenn meine Detektivarbeit deiner Meinung nach sowieso... ähm... für den Vogel ist.« Clark verzog das Gesicht. »Sehr schlechtes Wortspiel.« »Vielen Dank! Also, was ist jetzt mit der Feder?« »Vielleicht gelingt es mir mit ihrer Hilfe, eine Theorie zu den Überfällen zu entwickeln«, flunkerte Clark. »Ich lasse mich von ihr inspirieren.« »Komm, begleite mich zur Vogelwarte, dann können wir uns zusammen inspirieren lassen!«, schlug Chloe vor. »Es ist ein netter Ausflug.« »Geht leider nicht, ich habe schon was vor.« Chloe grinste süffisant. »Dabei handelt es sich vermutlich nicht um einen Hubschrauberrundflug, oder?« »Du hast von dem Unfall gehört?« »Geschieht ja nicht alle Tage, dass in Smallville ein Hubschrauber abstürzt. Ich habe gehört, du wurdest eine Böschung hinuntergeschleudert.« Clark zuckte mit den Schultern. »Der Boden war ziemlich weich.« »Ja, aber trotzdem. Hast du dir das mit dem Fallschirmspringen mittlerweile vielleicht anders überlegt?« »Nein, warum sollte ich?«, entgegnete Clark lässig. Chloe zog eine Grimasse. »Also tust du es nicht nur wegen L-A-N-A?« »Warum scheint nur jeder zu vergessen, dass sie mit W-H-IT-N-E-Y zusammen ist?« Chloe sah ihn durchdringend an. »Was glaubst du denn, Clark?« »Lana und ich sind einfach nur Freunde, Chloe!« »Au Mann, das kann ich echt nicht mehr hören«, beschwerte sich Chloe und stöhnte. Sie sprang von Clarks Bett und ging zur Tür. »Wenn du nichts mehr von mir hörst, hat der grüne Monstergeier den Kurator der Vogelwarte aufgefressen und hält mich als Geisel gefangen.« An der Tür blieb sie noch 67
einmal stehen. »Die Verabredung zum Picknick morgen steht doch noch – oder hast du dann auch schon was anderes vor?« Clark brauchte eine Weile, bis ihm wieder einfiel, dass er mit seinen Freunden zu Picknick und Minigolf verabredet war. Dummerweise hatte er sich inzwischen auch mit Tia verabredet und ihr versprochen, am kommenden Tag die zweite Flugstunde mit ihr durchzuführen. »Ich komme natürlich«, versicherte er Chloe. »Ach, ich bringe übrigens noch jemanden mit.« »Lana habe ich schon eingeladen und sie hat zugesagt.« »Lana meine ich gar nicht. Ich bringe Tia mit.« »Tia? Die Tia, die in der Pizzeria arbeitet?«, fragte Chloe überrascht. »Ja, genau.« Chloe wartete gespannt auf eine nähere Erklärung, aber Clark hüllte sich in Schweigen. »Ja, genau, und weiter? Willst du mir vielleicht verraten, ob du sie als Bekannte mitbringst oder als Date?«, fragte sie nach einer Weile. »Als Bekannte, wenn du es so genau wissen willst«, antwortete Clark leichthin. Chloe stöhnte. »Manchmal machst du mich wahnsinnig, Clark Kent! Also gut, bring sie mit! Wir sehen uns morgen.« Und schon war sie aus der Tür. Raven Rock war ziemlich abgelegen, weit weg von asphaltierten Straßen und neugierigen Blicken. Clark nahm an, mit dem Fliegen war es wie mit dem Skifahren: Man fing am besten mit einem ganz kleinen Hügel an. Es war jedoch nur eine Vermutung, denn er hatte noch nie in seinem Leben auf Skiern gestanden. Sie hatten sich einen kleinen Felsvorsprung von gerade mal einem Meter Höhe ausgesucht, vor dem sich eine Wiese mit wilden Blumen ausbreitete. Falls Tias Flugversuch misslang, fiel sie nicht tief. Theoretisch hätte Clark sie selbst bei einem 68
Sturz aus hundert Metern Höhe auffangen können – die Schwierigkeit bestand nur darin, eine solche Aktion hinzukriegen, ohne seine Superkräfte zu offenbaren. »Bist du sicher? Willst du es hier versuchen?«, fragte Clark. »Wie die Vorfahren der Vögel, die auf Bäumen lebten«, bemerkte Tia. »Hm? Wie meinst du das denn?« »Die Vorfahren der Vögel haben fliegen gelernt, indem sie von Bäumen sprangen und die Flügel ausbreiteten«, erklärte Tia. »Meine Mutter ist früher beim Starten immer von dem Baum vor meinem Fenster gesprungen. Wenn ich es von diesem kleinen Vorsprung hier schaffe, kann ich es als Nächstes von einem Baum ausprobieren.« »Verstehe. Also, ich rekapituliere: Ein Körper bewegt sich umso schneller und weiter, je größer die äußere Krafteinwirkung, also je fester er angeschoben wird.« Clark zählte seine Kenntnisse an den Fingern ab. »Und wie wir wissen, entsteht, wenn Kraft auf einen Körper einwirkt, immer eine gleich große, aber entgegengesetzt gerichtete Kraft.« »Mit Dank an Sir Isaac Newton und die Lehre von den Kräften!«, entgegnete Tia. »Ich glaube, ich bin noch nicht so weit, dass du mich anschubsen kannst.« »Ich fasse ja nur die Grundlagen zusammen. Um Auftrieb zu bekommen, brauchst du Beschleunigung.« Tia schnaufte. »Also, Clark, um das herauszufinden, sind wir ja hier.« Sie zog ihr ausgeleiertes T-Shirt aus, unter dem sie ein Sport-Bustier trug. Nun konnte sie ihre Flügel ungehindert ausbreiten. Es war ein atemberaubender Anblick. Die Flügel waren fast so lang wie Tias Arme und die grünen Federn flatterten leicht im Wind. Als Tia sich umdrehte, bemerkte Clark in den Flügeln das verästelte Geflecht aus grünen Adern, die auf ein faseriges muskulöses Zentrum zuliefen. Tia sah Clark unsicher an. 69
»Sie sind wunderschön«, sagte er und erntete damit ein strahlendes Lächeln. »Danke!«, entgegnete Tia. »Okay, zuerst musst du kräftig mit den Flügeln schlagen, um Schwung zu holen. Und dann brauchst du nur noch zu gleiten.« Tia griff sich an den Bauch. »Mir ist auf einmal gar nicht gut.« Sie lachte nervös. »Ich bin ja da. Wenn du fällst, fange ich dich auf.« Tia nickte. »Ich versuche es mit Anlauf«, sagte sie und ging ein paar Meter zurück. Dann sprintete sie auf die Felsenkante zu, schlug so kräftig mit den Flügeln, wie sie konnte, und sprang in die Luft. Sie flatterte heftig, sie schwebte einen Augenblick lang auf der Stelle... Clark hatte die Arme ausgestreckt und spähte nach oben. Er verfolgte Tias Bewegungen und sprang dabei hektisch hin und her, um immer genau unter ihr zu sein. »Kräftiger schlagen!«, rief er. »Du schaffst es!« Aber in diesem Augenblick stürzte Tia mit einem frustrierten Aufschrei plötzlich ab und landete in seinen Armen. »Danke!«, keuchte sie atemlos. »Das war einfach, du warst ja nicht so hoch.« Behutsam setzte Clark sie auf dem Boden ab. Tia faltete ihre Flügel zusammen. »Der erste Fehlschlag, hm?« »Aber du bist nicht sofort abgestürzt«, bemerkte Clark. »Ich wette, es wird mit jedem Mal besser.« »Das bezweifle ich. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich kann einfach nicht fliegen.« »Du hast es doch erst einmal versucht! Ich bin überzeugt, du kannst es schaffen, Tia.« Sie sah ihn verwundert an. »Das war wirklich seltsam. In dem Augenblick, als du gerufen hast: ›Du schaffst es!‹, sagte eine Stimme in meinem Kopf: ›Nein, du schaffst es nicht‹. Und 70
dann bin ich abgestürzt.« »Vielleicht warst du zu stark darauf fixiert, dass du es nicht schaffst, oder so.« »Vielleicht«, entgegnete Tia nachdenklich. »Ich weiß wirklich nicht, warum du so nett zu mir bist, Clark.« »Auch andere Leute wären nett zu dir, wenn du ihnen Gelegenheit dazu geben würdest.« »Mein Vater...« »Ja, über deinen Vater weiß ich Bescheid.« »Er denkt, ich sei jetzt in der Bibliothek«, erklärte Tia. »Wenn ich vielleicht mal mit ihm rede und ihm...« »Nein!«, schrie Tia. »Oh nein! Das wäre das Schlimmste, was du tun könntest!« »Aber irgendwann musst du dich mal gegen ihn wehren«, wandte Clark ein. »Wie er dich behandelt, das ist einfach nicht richtig.« »Er ist kein schlechter Mensch, Clark. Und er ist ziemlich clever. Seine Kenntnisse über die Börse hat er sich ganz allein angeeignet. Er macht mit meinem Bruder zusammen Aktiengeschäfte per Computer. Spät in der Nacht, an den Märkten von Hongkong und London. Nur so haben wir uns den Umzug in unser neues Haus überhaupt leisten können.« Spät in der Nacht? Hongkong? Irgendetwas kam Clark daran merkwürdig vor. »Ähm... hast du mir nicht erzählt, er lasse dich nur in der Pizzeria arbeiten, weil eure Familie das Geld braucht?« »Deshalb durfte ich den Job ursprünglich annehmen«, erklärte Tia. »Das mit den Aktien kam später. Mein Dad sagt, sie verdienen wirklich viel Geld damit – sonst wären wir schließlich nicht umgezogen.« Und wenn sie das Geld für das neue Haus gar nicht vom Aktienhandel haben?, überlegte Clark. Vielleicht rauben die beiden nachts andere Leute aus. Von oben. Diese Theorie ist zwar reichlich an den Haaren herbeigezogen, aber... 71
»Tia, hat dein Vater auch Flügel?« »Natürlich nicht! Hätte er welche gehabt, hätte meine Mutter mit ihm zusammen fliegen können und wäre nicht gezwungen gewesen, uns zu verlassen.« »Stimmt«, pflichtete Clark ihr bei. »Aber vielleicht sind ihm ja erst vor kurzem welche gewachsen.« »Glaube ich nicht.« »Hast du denn in den letzten Wochen irgendwann mal seinen Rücken gesehen?« Tia runzelte die Stirn. »Nein, wir sind eine ziemlich verklemmte Familie.« »Halt die Augen offen!«, bat Clark sie. »Aber sei vorsichtig!« »Okay, versprochen. Aber egal, was du von meinem Vater denkst, Clark, er ist der Elternteil, der mir geblieben ist. Das hat eine große Bedeutung.« Tia sah auf die Uhr. »Einen Versuch mache ich noch. Dann muss ich wieder los.« »Jetzt schaffst du es!«, ermutigte sie Clark. Tia zog die Nase kraus. »Irgendwie wird das Gefühl, es nicht zu schaffen, größer, wenn du versuchst, mich anzufeuern. Warum nur?« »Ich weiß es auch nicht«, entgegnete Clark. »Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Morgen halten wir die zweite Flugstunde ab.« »Bist du sicher?« »Das habe ich doch versprochen, nicht wahr? Danach mache ich mit ein paar Freunden ein Picknick im Park. Du bist herzlich eingeladen.« »Wirklich?«, fragte Tia schüchtern. Clark nickte energisch. »Dein Vater kann dir nicht verbieten, Freunde zu haben, Tia.« »Ich werde ihn wegen des Picknicks fragen, aber das mit dem Fliegen erzähle ich ihm wohl besser nicht«, entgegnete Tia. 72
»Guter Plan!«, lobte Clark. »Guter Plan.« Und schon kletterte Tia auf den Felsen, um noch einen Flugversuch zu wagen.
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9. AM NÄCHSTEN MORGEN verriegelte Tia erst ihre Tür, bevor sie den Bademantel ablegte und ihre Jeans überzog. Sie wollte Clark in einer Stunde in der Bibliothek treffen, um mit ihm zu einer weiteren Flugstunde aufzubrechen, und danach gab es noch ein Picknick mit seinen Freunden. Tia war total aufgeregt. Es würde sein wie in den vielen Fernsehserien, stellte sie sich vor, in denen die Mädchen Freunde hatten – feste Freunde sogar – und sich über so unwichtige Dinge wie Kleider oder Frisuren den Kopf zerbrachen und nicht darüber, ob jemand ihre Flügel entdeckte. Tia sah noch einmal nach, ob sie wirklich abgeschlossen hatte, und stellte sich vor den Spiegel auf der Kommode, um ihre Flügel in ihrer ganzen grünschillernden Pracht auszubreiten. Wie konnte Clark sie nur schön finden? Tia versuchte, sich vorzustellen, was er in ihnen sah, aber es gelang ihr nicht. Jahrelang hatte sie sich anhören müssen, wie hässlich die Flügel ihrer Mutter seien und was für eine Schande. Es war nicht leicht, das zu vergessen, was der Vater ihr eingetrichtert hatte. Tia betrachtete seufzend ihr Spiegelbild. Wenn sie die Flügel eng zusammenfaltete, konnte sie sie immer noch recht gut verbergen, aber sie schienen täglich zu wachsen. Zugleich wurden sie kräftiger und das Federkleid wurde dichter und dunkler. Je größer sie wurden, desto mehr schämte sich Tia. Aber Clark Kent fand sie schön. Nach Tias Geschmack war »schön« die zutreffende Beschreibung für ein Mädchen wie Lana Lang. Sie hatte Lana so manches Mal in der Schule beobachtet und sich gefragt, wie es wäre, so toll und selbstbewusst zu sein – perfekt eben. Aber die Chance, das herauszufinden, würde sie wohl nie bekommen... 74
Als jemand an die Tür klopfte, fuhr sie erschreckt auf. »Wer ist da?« »Schwing die Hufe, wenn du mitfahren willst!«, rief ihr Vater ungeduldig. »Komme sofort!«, entgegnete sie. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Vorstellung, ihr Vater könne ihre Flügel entdecken, machte ihr Angst. Er hatte sie zwar noch nie geschlagen, war jedoch schon einige Male dicht davor gewesen. Und wenn er die Wahrheit herausfand, dann geschah ihr bestimmt etwas Schreckliches, dessen war sich Tia sicher. Die Frage, ob ihr Vater Flügel hatte, konnte sie Clark mittlerweile beantworten. Obwohl es in ihrer Familie nicht sehr freizügig zuging – sie konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie ihren Bruder oder ihren Vater zuletzt in der Badehose gesehen hatte –, hatte sie den Vater bespitzelt, als er zu Bett ging. Mit Hilfe eines Spiegels, den sie vor einen Spalt in der Holztür zu seinem Zimmer hielt, erhaschte sie einen Blick auf seinen Rücken. Er hatte ganz normal ausgesehen, fleischfarben und glatt, und damit war Clarks Verdacht widerlegt. Rasch wickelte sich Tia eine breite Bandage um Brust und Flügelansätze und zog ein weites T-Shirt und ein noch weiteres Sweatshirt über. Spontan beschloss sie, sich keinen Zopf zu flechten und das Haar offen zu tragen. Sie lächelte sich im Spiegel an und überlegte, wie Clark und seinen Freunden dieses Lächeln gefallen würde. »Hey, Schwester! Beweg deinen Hintern hierher!« Mit einem kräftigen Tritt gegen die Tür verlieh Kyle seinen Worten Nachdruck. »Bin schon da!« Tia schnappte sich rasch ihre Tasche und verließ ihr Zimmer. »Meine Tür musst du aber deswegen nicht eintreten!« Kyle zuckte mit den Schultern. »Warum hat das so lange gedauert? Ist ja nicht so, als müsstest du dich hübsch machen.« 75
Tia fragte sich, was das bedeuten sollte. Irgendetwas an der Art, wie Kyle es gesagt hatte, ließ Hoffnung in ihr aufkeimen. Schließlich trug sie ihr Haar heute offen. »Weil ich schon hübsch bin? Oder wie hast du das gemeint?« »Ja, hübsch hässlich!«, entgegnete Kyle schnaubend. »Und jetzt beweg deinen mageren Hintern zum Auto, bevor Dad noch wütender wird.« Er eilte zur Tür. Eines Tages, dachte Tia, werde ich wegfliegen und alles wird gut! Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft. Falls ich jemals fliegen lerne... »Du musst kräftiger schlagen!«, rief Clark Tia zu, die in knapp zwei Metern Höhe wie ein riesiger, hübscher Kolibri über der Wiese schwebte. Aber wie sehr sie sich auch anstrengte, sie kam irgendwie nicht vorwärts. »Geht nicht!« Sobald sie es ausgesprochen hatte, hörte sie auf, mit den Flügeln zu schlagen, und stürzte ab. Mühelos fing Clark sie auf; es war bereits das zehnte Mal an diesem Morgen. »Tia, sobald du sagst, du kannst es nicht...« »Ich weiß, Clark. Tut mir Leid.« »Sei nicht so streng mit dir!« »Wozu das Ganze?« Als sich Tia an den Kopf fasste, umgab sie ein Kranz grüner Federn und sie sah aus wie ein übernatürliches Wesen. »Ich bin hässlich und dumm und ich kann einfach gar nichts.« »Vielleicht gelingt es dir nur deshalb nicht, weil du nicht an dich glaubst«, entgegnete Clark leise. »Das hast du doch selbst schon mal gesagt, weißt du noch?« Tia gab keine Antwort. Clark war überzeugt, dass er Recht hatte. Er hatte Tias Spannweite gemessen und alles über Aerodynamik gelesen, was er in die Finger kriegen konnte. Seinem bisherigen Wissensstand nach war das Fliegen für Tia 76
theoretisch möglich. »Denk nach, Tia!«, fuhr er fort. »Du schaffst es mittlerweile schon, dich wie ein Hubschrauber in der Luft zu halten.« Die Ironie dieses Vergleichs entging Clark nicht – er hatte nicht so bald vor, noch mal in einen Hubschrauber zu klettern. »Du bist also vom Fliegen nicht mehr weit entfernt.« Tia sah ihn an und der Zweifel stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Glaubst du?« Clark nickte. »Zu Hause schließe ich immer meine Tür ab und trainiere die Rückenmuskulatur und die Flügel. Ich bin schon viel stärker geworden, aber...« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Du wirst es schaffen«, redete ihr Clark zu. »Wie wäre es, wenn wir heute Nachmittag nach dem Picknick noch mal herkommen und ein bisschen üben?« Tia sah ihn ungläubig an. »Das würdest du für mich tun?« »Sicher.« Sie umarmte ihn rasch. »Du bist der beste Freund, den ich je hatte, Clark. Ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder gutmachen kann.« Clark lächelte. »Sei einfach bei Gelegenheit irgendjemand anderem eine gute Freundin. Was hältst du davon?« »Wer hat sich die letzte Hähnchenkeule genommen?«, fragte Pete und wühlte in der großen Kühltasche. »Wenn ich mich recht erinnere, warst du das«, entgegnete Chloe. »Aber hier zählt ja keiner mit.« »Ich bin dabei, mir ein paar Pfunde anzufuttern, denn ich erwarte in Kürze einen Wachstumsschub«, erklärte Pete. Er zeigte auf Clark und Whitney. »Passt gut auf, Jungs! Schon bald werde ich auf euch hinabsehen.« »Ich finde, du siehst gut aus, wie du bist«, bemerkte Tia schüchtern. 77
»Da hört ihr es! Dieses Mädchen hat Geschmack!«, rief Pete und sprang von der Decke auf. »Wer hat Lust auf eine Runde Frisbee?« »Ich bin dabei«, sagte Whitney und stand auf. Er streckte sich und machte eine Wurfbewegung. »Mann, ist das toll, mal nicht einkaserniert zu sein!« Lana schlang die Arme um seinen Hals. »Ich bin froh, dass du nach Hause gekommen bist und mit uns hier sein kannst.« Er sah sie an. »Bist du?« »Allerdings. Du warst viel zu lange weg.« »Und habe dich furchtbar vermisst«, murmelte Whitney. Clark blickte angestrengt in eine andere Richtung, um sich den Anblick zu ersparen, wie Lana an Whitneys Hals hing und ihm tief in die Augen sah. »Yo, Clark! Frisbee?«, fragte Pete und ließ die orangefarbene Scheibe auf seinem Zeigefinger tanzen. »Ja, klar. Machst du mit, Tia?«, fragte Clark. Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Aber macht ihr nur!« »Bist du sicher?« »Sie kann ruhig hier bei uns bleiben«, versicherte Chloe Clark. Lana zog eine Augenbraue hoch. »Moment mal! Die Jungs spielen und die Mädchen sitzen auf der Decke?« »Das ist so Brady-mäßig, dass ich kotzen könnte«, bemerkte Chloe. »Aber geht nur, Jungs, wir wollen euch keine Konkurrenz machen.« »Könnt ihr doch gar nicht«, entgegnete Pete abschätzig. Chloe sprang auf und zeigte auf die Frisbeescheibe. Pete warf sie ihr zu. »Clark, lauf los!«, rief Chloe. Als Clark davon joggte, warf ihm Chloe die Scheibe hinterher. »Schöner Wurf!«, rief Clark, fing die Scheibe und warf sie ihr zurück. »Glückstreffer«, bemerkte Pete spöttisch. Chloe verdrehte die Augen. »Jämmerlicher Provokationsver78
such!« Dann drehte sie sich zu Clark um. »Lauf noch ein Stück weiter, ja?« Clark tat, wie ihm geheißen. »Dann mal los!«, rief er Chloe zu. »Wie willst du...«, setzte Pete an. Aber Chloe hatte die Scheibe schon mit einer lockeren Drehung des Handgelenks in die Luft befördert. Weil sie den Wurf etwas schräg angesetzt hatte, flog die Scheibe nach einem sauberen Bogen nach links genau auf Clark zu. Sehr gut!, dachte Clark und sprang ein wenig zur Seite, um die Scheibe besser auffangen zu können. Chloe konnte wirklich gut zielen! Clark geriet ins Grübeln. Wie weit und zielgenau konnte er wohl werfen, wenn er sich wirklich einmal freien Lauf ließ? Es juckte ihn, das einmal auszuprobieren. Er stellte sich vor, wie ihn alle für sein Talent bewunderten. Lana wäre bestimmt sehr beeindruckt. Sie würde ihm die Arme um den Hals legen, ihn anlächeln und... »Clark! Spielst du oder träumst du?«, rief Pete. »Hier kommt sie schon!«, rief Clark schnell und warf Pete die Scheibe zu. »Habt ihr Lust, Minigolf zu spielen?«, fragte Whitney, als Clark wieder herübergejoggt kam. Er sah Chloe schräg von der Seite an. »Und sag jetzt nicht, das kannst du genauso gut!« »Ich habe mein Können für heute ausreichend unter Beweis gestellt, danke!«, entgegnete Chloe und setzte sich wieder auf die Decke. Kaum waren die Jungs zu dem Minigolfplatz am anderen Ende des Parks losgezogen, lächelte sie Tia strahlend an. »Und, Tia, wie läuft es mit dir und Clark?« Tia machte sich eine Cola auf. »Wie meinst du das?« Chloe fing an, aufzuräumen und die Picknickabfälle in einer Mülltüte zu sammeln. »Ach, du weißt schon. Verbringst du gern deine Zeit mit ihm?« »Das ist Chloes Umschreibung für die Frage, ob du mit Clark 79
zusammen bist«, erklärte Lana. »Lana!«, protestierte Chloe. »Wenn mich das interessiert, frage ich ganz offen danach! Also, Tia: Bist du mit Clark zusammen?« Tia musste so lachen, dass ihr ein Schluck Cola in die Nase stieg und sie sich verschluckte. »Oh Gott, tut mir Leid!«, prustete sie. Auch Chloe und Lana brachen in lautes Gelächter aus. »Macht doch nichts!«, rief Lana. Tia tupfte mit einem Tuch die Colaflecken von der Decke. »Jetzt wisst ihr, wie schrecklich ich bin.« »Glaub mir, ich kann noch unendlich viel schrecklicher sein als du«, versicherte ihr Chloe. Sie legte sich auf den Bauch und stützte das Kinn auf die Hände. »Ich habe die liebenswerte Eigenschaft, beschämend ehrlich und offen zu sein. Clark sagte zum Beispiel, deine Mutter habe euch verlassen, als du noch klein warst. Stimmt das?« »Das geht dich nichts an, Chloe«, rügte Lana sie. Dann wandte sie sich an Tia. »Sie neigt dazu, das Leben mit den Augen einer Enthüllungsjournalistin zu sehen. Hör einfach nicht zu, wenn sie etwas sagt.« »Das macht doch nichts.« Tia spielte mit dem Coladeckel. »Es ist wahr. Ich weiß nicht, wo meine Mutter ist. Sonst gibt es nicht viel zu erzählen. Ich meine, ich vermisse sie, aber...« Tia brach ab. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich kann es nun mal nicht ändern.« »Das Gefühl kenne ich«, bemerkte Lana sanft. Tia dachte an Lanas Familiengeschichte. »Auf gewisse Weise wäre es einfacher für mich, wenn meine Mutter tot wäre«, sagte sie nachdenklich. Lana schauderte. »Das ist aber eine gruselige Erkenntnis.« »Du verstehst doch, wie ich das meine? Du kannst dir sicher sein, dass deine Mutter bei dir wäre, wenn sie könnte«, erklärte Tia. »Als ich klein war, hielt ich meine Mutter für meinen 80
Schutzengel. Aber dann ist sie verschwunden, hat mich allein gelassen und ist nie wieder zurückgekehrt.« Chloe und Lana schwiegen. Sie wussten nicht, was sie sagen sollten. »Immerhin hast du noch deinen Dad«, bemerkte Chloe schließlich. »Lana nicht.« »Ach bitte, jetzt nicht die Mitleidsmasche!«, rief Lana und stöhnte. Tia lächelte. »Vielleicht hilft es, wenn ich erzähle, wie streng mein Vater ist. Ich musste ihn wegen heute Nachmittag anlügen. Er hätte mir niemals erlaubt, mich mit euch zu treffen.« »Hör auf!« Chloe konnte es nicht glauben. »Warum denn das?« Tia zuckte mit den Schultern. »So ist er nun mal.« »Aber ein Picknick? Mitten im Park? An einem Sonntagnachmittag?«, wunderte sich Lana. »Du bist sechzehn, nicht sechs!« »Erklär ihm das mal!« Tia seufzte. »Er denkt, ich werde wie meine Mom. Seiner Meinung nach war sie ein Wildfang.« Sie warf ihr Haar in den Nacken und ließ sich die Nachmittagssonne ins Gesicht scheinen. »Wow, du hast wirklich tolles Haar!«, sagte Chloe. Sie hockte sich hinter Tia und nahm ihr Haar verträumt zu einem Zopf zusammen. »Nicht!« Tia fuhr wie von der Tarantel gestochen auf. »Was?«, fragte Chloe besorgt. »Was ist denn?« Tia wich zurück. »Tut mir Leid. Ich... ich kann es nicht leiden, am Kopf angefasst zu werden.« Chloe hielt beschwichtigend die Hände hoch. »Hey, tut mir Leid! Das war nur ein spontaner Rückfall in die Pyjama-PartyPhase. Ich habe es nicht böse gemeint.« »Nein, mir muss es Leid tun. Es liegt an mir, nicht an dir.« Tia errötete. 81
»Lässt du sie auch mal schneiden?«, fragte Lana, um die Wogen zu glätten. Tia rührte sich nicht. »Früher ja. Aber jetzt erlaubt es mein Vater nicht mehr.« »Was hat er nur für ein Problem?«, rief Chloe aus. »Wie ich euch sagte, er ist...« »Ja, ja, er ist streng. Das haben wir verstanden«, entgegnete Chloe ungeduldig. »Aber es sind deine Haare. Selbst wenn du sie grün färben wolltest, solltest du die Freiheit haben, es zu tun.« Tia lachte. »Also, das will ich wirklich nicht.« »Aber du verstehst doch, was ich meine?«, hakte Chloe nach. »Glaub mir, an ihm beißt man sich die Zähne aus.« Chloe war empört. »Du musst dich gegen ihn wehren!« »Das ist nicht so leicht.« Lana fasste Chloe am Arm. »Bedräng sie doch nicht so!« »Ich bedränge sie doch gar nicht. Ich mache nur Vorschläge, wie sie ihr Leben verbessern kann«, entgegnete Chloe. »Und die Frage, was mit Clark ist, hat sie übrigens immer noch nicht beantwortet.« Sie sah Tia an. »Also?« Tia zuckte mit den Schultern. »Wir hängen einfach nur so zusammen rum.« »›Zusammen rumhängen‹ ist ein weit gefasster Begriff. Das kann alles oder nichts bedeuten«, bemerkte Chloe. »Kannst du das nicht ein bisschen genauer erläutern?« »Wir sind Freunde«, sagte Tia. »Also, dieser Satz sollte aus sämtlichen Sprachen der Welt gestrichen werden!«, schimpfte Chloe. »Jetzt hör doch mal auf, Chloe!«, schaltete sich Lana ein. Sie legte eine Hand über die Augen und beobachtete die Jungs beim Frisbee. Sie wärmten sich für ihr Minigolfturnier auf. »Es ist schön, dass Whitney auch mal ein bisschen Spaß hat. Seit sein Vater krank wurde, hat sich sein Leben total verändert.« Sie wandte sich an Chloe. »Weißt du was? Er wurde auf die 82
Wache bestellt und man hat ihn noch mal vernommen. Er gilt immer noch als Verdächtiger!« »Ach, da fällt es mir wieder ein!« Chloe griff in ihre Tasche und kramte nach einer Weile eine grüne Feder hervor. »Tätärätä!« »Was soll das heißen?« »Das heißt, ich bin mit der Feder zur Vogelwarte gefahren. Und der Kurator hat mir gesagt, er kenne keinen Vogel, von dem sie stammen könnte. Weder in Kansas, noch sonst wo. Ziemlich merkwürdig, hm?« Tia blieb fast das Herz stehen. Die Feder, die Chloe in der Hand hielt, hätte von ihren Flügeln stammen können. Aber in jener Nacht war sie natürlich gar nicht draußen gewesen. »Wo... wo hast du die denn her?« Tia hoffte, das Zittern ihrer Stimme verriet sie nicht. »Whitney hat sie am Tatort gefunden, nachdem er überfallen wurde«, erklärte Chloe. »Jedenfalls hat der Kurator ein paar Proben von der Feder abgeschnitten und lässt sie untersuchen.« Sie steckte die Feder wieder in die Tasche, sah Lana an und wackelte mit den Augenbrauen. »Und so wird alles immer geheimnisvoller.« »Vielleicht stammt sie von einem Hut«, sagte Tia nervös. »Kann doch sein, sie hat gar nichts mit dem Überfall zu tun. Sie kann ja einfach so auf der Straße gelegen haben, oder?« »Das stimmt«, pflichtete ihr Chloe bei. »Aber das bezweifle ich irgendwie.« »Tia!«, ertönte plötzlich eine laute Stimme. Die drei Mädchen sahen auf. Mr. Haines kam mit wütendem Gesicht auf sie zumarschiert. Tia sprang auf. »Dad! Was machst du denn hier?« Ihr Vater baute sich vor ihr auf und hob drohend den Zeigefinger. »Ich habe dich zur Bibliothek gebracht. Und da hättest du auch bleiben sollen!« 83
»Wie hast du...« »Wie ich dich gefunden habe, du kleine Schlange? Die Bibliothekarin sagte mir, sie habe dich mit dem Jungen von den Kents gesehen. Sie hat gehört, wie ihr von einem Picknick im Park gesprochen habt. Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?« Tia bekam vor Verlegenheit rote Flecken im Gesicht. »Lass uns zu Hause darüber sprechen.« »Du verlogene kleine...« Chloe und Lana standen auf. »Mr. Haines, es gibt keinen Grund, so mit ihr zu reden«, fiel ihm Lana ins Wort. »Wir haben nur ein Picknick gemacht.« Mr. Haines sah Lana mit zusammengekniffenen Augen an. »Du hältst dich da raus! Deine Sorte kenne ich!« »Was?« Lana fiel die Kinnlade herunter. Chloe war empört. »So können Sie wirklich mit ihr nicht reden!« »Dich hat niemand um deine Meinung gebeten«, putzte Mr. Haines sie herunter und packte seine Tochter am Arm. »Du hast mir einiges zu erklären, junge Dame.« »Dad, bitte...«, setzte Tia leise an. »Mr. Haines, das reicht!« Clark klang sehr bestimmt, obwohl er leise sprach. Tias Vater drehte sich um und erblickte Clark, Whitney und Pete. Die drei jungen Männer standen ruhig und selbstbewusst vor ihm. »Kent! Das hätte ich mir denken können«, knurrte Mr. Haines und drehte sich wieder zu seiner Tochter um. »Du bist ja hinter ihm her wie eine läufige Hündin. Du bist genau wie deine Mutter!« Clark kam näher. »Reden Sie nicht so mit ihr!«, sagte er mit stählerner Stimme. Mr. Haines trat ganz dicht an ihn heran. »Redest du mit mir, du Lump?« 84
»Ich heiße Clark, Sir. Und ja, ich rede mit Ihnen.« »Misch dich nicht in anderer Leute Angelegenheiten, Kent. Ich warne dich!« Mr. Haines zerrte brutal an Tias Arm. Wut stieg in Clark auf und er packte den älteren Mann am Bizeps. »Sie tun ihr weh, Mr. Haines. Lassen Sie Tia los!«, verlangte er und quetschte seinen Oberarm zusammen. Ziemlich fest. »Aua!«, brüllte Mr. Haines und riss sich von Clark los. »Für wen hältst du dich, zum Teufel? Du hast ja keine Ahnung, mit wem du dich anlegst, du Lump. Wenn ich mit dir fertig bin, wird es dir Leid tun, geboren worden zu sein!« »Das glaube ich nicht, Mr. Haines. Ich spreche nicht sehr gut auf Drohungen an.« »Das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen!« Er warf Tia einen wütenden Blick zu. »Sag dem Kerl Lebewohl, Tia, denn für dich existiert er ab sofort nicht mehr!«
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10. IN DER PIZZERIA WAR DEPRIMIEREND WENIG LOS. Clark füllte die Zuckerdosen wieder auf. Dann wischte er den Boden und fragte sich, was wohl hinten im Büro zwischen Elem und Mr. Haines besprochen wurde. Es war der Tag nach dem Picknick und Tia war nicht in der Schule gewesen. Clark und Lana hatten mittags bei ihr zu Hause angerufen, aber niemand war an den Apparat gegangen. Und als Clark zur Arbeit gekommen war, war nicht Tia, sondern Mr. Haines aufgetaucht. Plötzlich flog die Bürotür auf. Mr. Haines kam herausmarschiert, Elem stürzte ihm hinterher. »Sie sind mir gerade der Richtige, um über den jungen Kent herzuziehen«, wütete Elem. »Er ist nämlich ein aufrechter junger Mann. Sie sind derjenige, über den man sich Fragen stellen muss! Sie behandeln ihre hübsche junge Tochter wie den letzten Dreck!« »Was ich mit meiner Familie mache, geht Sie nichts an! Sie sind nur ein ignoranter Fremder. Ihre Sorte hätten wir gar nicht erst reinlassen dürfen!« Bei diesen Worten sah Clark rot. Aber er wusste, sein Boss war durchaus in der Lage, sich gegen Mr. Haines zu behaupten, obwohl er ihm nur bis ans Kinn reichte. Und tatsächlich ging Elem zum Gegenangriff über. »Jetzt hören Sie mir mal zu, Sie Rüpel!« Elem sprach ganz leise, aber in seinen Augen funkelte Wut. »Sie können ihre Tochter hindern, arbeiten zu gehen. Und Sie können so viele Lügen über mich und meine Mitarbeiter verbreiten, wie Sie wollen, denn niemand wird auch nur ein Wort aus Ihrem Schandmaul glauben. Aber ich warne Sie! Wenn Sie Hand an Tia legen, werden Sie sich vor mir und Big Max verantworten müssen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Auch vor mir wird er sich verantworten müssen, dachte 86
Clark. Und darauf legt er ganz bestimmt keinen Wert. »Bleiben Sie mir vom Leib, zum Teufel!«, knurrte Mr. Haines, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Restaurant. Elem ballte die Hände zu Fäusten. »Es wäre mir eine ungeheure Befriedigung, dem Kerl die Eingeweide aus dem Leib zu prügeln«, sagte er, als die Tür ins Schloss fiel. »Das Gefühl kenne ich«, pflichtete ihm Clark bei. »Hat er gesagt, Tia darf meinetwegen nicht mehr hier arbeiten?« »Etwas in der Richtung.« »Ich habe ein schlechtes Gewissen. Wir haben gestern mit ein paar Freunden ein Picknick gemacht, aber Tia sollte eigentlich in der Bibliothek sein.« »Um Himmels willen, das Mädchen ist sechzehn Jahre alt! Seit wann ist ein Picknick am Sonntag eine Todsünde?«, regte sich Elem auf. »Holst du bitte Peperoni und Käse aus dem Schrank, Clark?« Clark holte die gewünschten Behälter, während Elem immer noch stinkwütend eine dicke Salami mit der Wurstschneidemaschine in dünne Scheiben schnitt. »Es geht manchmal ungerecht auf der Welt zu, Clark«, seufzte er, klatschte eine weitere Salami in die Maschine und beobachtete, wie sie in Scheiben auf der anderen Seite herauskam. »Sehr ungerecht sogar!« »Hallo, mein Sohn! Wie war die Arbeit?«, fragte Jonathan, als er spät am Abend in die Küche kam. Clark stand vor dem Kühlschrank und trank die Milch direkt aus der Tüte. Dann nahm er sich eine Hand voll von den frisch gebackenen Haferflockenkeksen, die noch zum Abkühlen auf dem Backblech lagen, und gab seinem Vater ein paar davon ab. Sie setzten sich an den Küchentisch und Clark erzählte die Geschichte von Tia und Mr. Haines. »Das klingt ja, als hätte Haines echt ein paar Schrauben 87
locker«, bemerkte Jonathan und knabberte nachdenklich an einem Keks. »Glaubst du, er ist gewalttätig?« »Ich weiß es nicht, Dad. Er ist sehr grob. Aber Tia sagt, sie bekommt keine Schläge.« »Vielleicht lügt sie ja«, überlegte Jonathan. »Kaum zu glauben, aber manchmal tun das Kinder, die geprügelt werden, um ihre Eltern zu schützen. Besonders, wenn sie nur noch einen Elternteil haben.« Das leuchtete Clark ein. Tia hatte sogar selbst davon gesprochen, dass sie nur noch ihren Vater hatte. Das machte die ganze Situation nur noch schlimmer, fand er. »Dad, ich muss etwas unternehmen.« »Du kannst ihn nicht der Kindesmisshandlung bezichtigen, wenn du gar keine Beweise hast, Clark. Mit so etwas muss man sehr vorsichtig sein.« »Dann soll ich also gar nichts tun? Tia ist wirklich ein nettes Mädchen, Dad.« Jonathan ging zum Kühlschrank, holte die Milch heraus und brachte gleich noch zwei Gläser aus dem Schrank mit. »Falls deine Mutter kommt«, bemerkte er mit Blick auf die Trinkgefäße, denn wie sein Sohn hatte auch er die Angewohnheit, die Milch direkt aus der Tüte zu trinken. Martha machte das wahnsinnig. »Wo ist eigentlich Tias Mutter? Von der hast du noch gar nichts erzählt?« »Sie... ist weg.« Jonathan schenkte seinem Sohn ein Glas Milch ein. »Du meinst, sie hat ihre Familie verlassen?« Clark nickte. »Schon vor langer Zeit.« »Dann ist die Familie wohl ziemlich kaputt?« »Du kennst nicht mal die Hälfte der Geschichte, Dad.« Jonathan verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich höre. Erzähl sie mir!« Ich wünschte, ich könnte es, dachte Clark. Er hatte seinen Eltern bisher immer alles anvertraut. Wenn ich es ihm nur 88
erklären könnte, dachte er, dann würde er verstehen, warum ich mich für Tias schreckliches Leben verantwortlich fühle. Und warum ich bei Moms Leben geschworen habe, Tias Geheimnis nicht zu verraten. »Das ist vertraulich«, murmelte er schließlich. Sein Vater zog die Augenbrauen hoch. »Clark, läuft da was zwischen dir und Tia?« »Beziehungstechnisch, meinst du? Nein, sie ist nur eine Freundin. Sie liegt mir am Herzen. Ich kann doch nicht einfach nur zusehen und nichts tun, Dad.« »Hey, ihr beiden!«, rief Martha von oben. »Es ist schon nach elf! Höchste Zeit, ins Bett zu gehen. Sonst bewerfe ich euch mit Lex Luthors Zauberdünger. Davon sind sämtliche Tomatenpflanzen verbrannt, die er mir gebracht hat!« »So spricht die Frau eines Landwirts!«, entgegnete Jonathan. »Wir kommen sofort!« Er wandte sich wieder seinem Sohn zu. »Lass mich die Sache mit deiner Mutter besprechen. Wir warten erst mal ab, ob Tia morgen wieder zur Schule kommt. Wenn sie immer noch fehlt und du sie auch telefonisch nicht erreichen kannst, fahren wir zusammen hin, okay?« Clark war einverstanden. Er stellte die Milchgläser in die Spüle und trottete hinter seinem Vater die Treppe hoch. Er machte sich keine allzu großen Hoffnungen. Wenn er seinen Eltern nicht die Wahrheit über Tia sagte, konnten sie ihm nur schwer in dieser Sache helfen. Aber was auch geschah, er wollte Tia um keinen Preis verraten.
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11. AM NÄCHSTEN ABEND MACHTE CLARK gerade Pause und trank eine Tasse Kaffee, als Chloe in die Pizzeria gestürmt kam. Sie war völlig aus dem Häuschen. »Jetzt pass mal auf, Clark!«, rief sie und ließ sich ihm gegenüber auf den Stuhl fallen. »Der Kurator der Vogelwarte hat die Proben der grünen Federn untersucht, die ich ihm dagelassen habe. Wie er sagte, ist die DNA völlig in Unordnung. Als sei durch irgendetwas eine Mutation ausgelöst worden.« »Durch den Meteoritenschauer wahrscheinlich«, bemerkte Clark. Wenn der Meteoritenstaub für Tias Mutation verantwortlich ist, grübelte er, Tia Whitney aber gar nicht überfallen hat, dann muss es noch jemanden mit dieser Mutation geben. »Clark? Bist du noch bei mir?«, rief Chloe. Clark blinzelte irritiert. »Ja, sorry, ich habe nachgedacht.« »Ich auch. Ich bin deiner Meinung, was die Meteoritentheorie angeht. Aber welchen Zusammenhang gibt es zwischen der mutierten Feder und dem Raubüberfall?« »Gute Frage«, meinte Clark. »Vielleicht ist jemand vor zwölf Jahren mit Meteoritenstaub in Verbindung gekommen und ihm sind Federn gewachsen«, dachte Chloe laut nach. »Und er kann fliegen – oder sie. Es kann ja auch eine Frau sein.« »Das solltest du unbedingt dem National Examiner erzählen«, spottete Clark und bemühte sich, Chloe schnell wieder von dieser Piste abzubringen. »›Vogelfrau als Schulkönigin‹ kommt bestimmt genauso gut an wie ›Junge mit artischockenförmigem Raumschiff auf die Erde gestürzt‹.« »Ausgerechnet du, lieber Clark, solltest nicht spotten, wenn es um Merkwürdigkeiten in unserem gemütlichen kleinen Nest 90
geht.« Sie griff zu seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck. »Hast du deinem Dad schon erzählt, dass Tia heute auch nicht in der Schule war?« »Ich habe ihn noch nicht gesehen. Als ich nach Hause kam, war er nicht da.« Clark spielte mit dem Salzstreuer und versuchte, ihn auf einem einzigen Salzkorn zu balancieren. »Ich glaube, ich gehe am besten selbst mal gucken, ob alles in Ordnung ist. Elem hat bestimmt Tias Adresse.« »Es ist das Haus mit den blauen Jalousien am Ende der Jayhawk Road. Das ist in der neuen LuthorcorpWohnsiedlung. Habe ich alles heute Nachmittag schon ausgekundschaftet«, erklärte Chloe. »Du brauchst mir nicht zu danken, dazu sind Freunde ja schließlich da«, fügte sie mit einem zuckersüßen Lächeln hinzu. »Ich fahre sogar persönlich mit dir hin.« »Ach, lass nur, ich kann ja erst nach der Arbeit los. Das wird spät. Du weißt ja, wie das ist«, sagte Clark hastig in einem Atemzug. Chloe sah ihn argwöhnisch an. »Wenn du auf meine Begleitung keinen Wert legst, brauchst du es nur zu sagen, Clark.« »Nein, so war das nicht gemeint!« »Ich dachte, du und Tia, ihr seid nur Freunde. Aber wenn es mehr ist, kannst du es mir ruhig sagen. Das ist ja wohl kein Problem, oder?« »Es ist... kompliziert.« Chloe verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielen Dank für diese ausführliche Erläuterung, Mister Kryptisch!« Clark sah sie durchdringend an. »Es tut mir Leid, Chloe. Wirklich! Ich würde es dir erklären, wenn ich könnte. Aber ich kann es einfach nicht.« »Ja, ist schon okay. Früher war es einfacher, befreundet zu sein. Vor der Highschool und den Dates und dem ganzen Wermit-wem-Spielchen.« 91
Clark stellte den Salzstreuer wieder zu dem Pfefferstreuer und der Zuckerdose. »So läuft es ist im Leben, Chloe. Wir werden älter und alles wird immer komplizierter.« Chloe schwieg eine Weile. »Ja«, pflichtete sie ihm schließlich bei. »Aber wünschst du dir nicht auch manchmal, es wäre anders?« Für mich war es schon immer kompliziert, dachte Clark in diesem Augenblick. Nach kurzer Überlegung antwortete er jedoch: »Ja, Chloe. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mir das manchmal wünsche.« »Clark, mein Junge, wir müssen uns unterhalten.« Elem nahm seine Schürze ab, nachdem er sich die Hände daran abgewischt hatte, und warf sie sich über die Schulter. Jetzt nicht!, dachte Clark. Jederzeit, aber nicht ausgerechnet jetzt! Er war in dem voll gestopften Abstellraum und wollte gerade an die Stechuhr. Er arbeitete gern für Elem, aber nun hatte er es ziemlich eilig. Im Laufe des Abends hatte er ein halbes Dutzend Mal versucht, Tia anzurufen, aber nie war jemand an den Apparat gegangen. Es gab auch keinen Anrufbeantworter. Allmählich machte Clark sich wirklich Sorgen. Er hatte vor, nach der Arbeit so schnell wie möglich bei Tia zu Hause nach dem Rechten zu sehen, ganz egal, ob sein Vater ihn nun begleitete oder nicht. »Was ist denn los, Elem?« »Also, Clark, es gibt da ein Problem.« Was habe ich angestellt?, fragte sich Clark und ging seine Schicht in Gedanken noch einmal durch. Es waren kaum Gäste gekommen. Er hatte die Salz- und Pfefferstreuer nachgefüllt, das Besteck sortiert, neue Trinkhalme nachgelegt und sich so gelangweilt, dass er am liebsten laut geschrien hätte. Vielleicht hatte Elem gemerkt, wie zerstreut er war. Hoffentlich nicht!, 92
dachte er. »Was immer es ist, ich bringe es in Ordnung«, sagte er entschlossen. Elem kratzte sich am Kopf. »Der Punkt ist, ich muss dir kündigen. Ich schmeiße dich raus.« »Was? Wieso denn?« Elem hielt beschwichtigend die Hände hoch. »Bevor du die Boxhandschuhe anziehst, hör mir erst mal zu! Big Max hat eine Lizenz zum Ausschank von Alkohol beantragt und wir haben sie endlich bekommen. Wir kriegen eine Theke, Blumen in den Fenstern, eine richtige italienische Speisekarte und einen richtigen Koch. Der Laden soll in Zukunft wesentlich mehr hermachen.« »Aber allen gefällt er doch so, wie er ist«, protestierte Clark. »Wie viele Gäste haben wir heute gehabt, Clark? Man kann sie an einer Hand abzählen, und die Turteltauben, die nach dem Kino gekommen sind, haben eine Stunde lang an einem Stück Pizza rumgeknabbert. Tatsache ist, wir müssen jeden Tag außer samstags kräftig bluten. Das Talon ist eine mächtige Konkurrenz. In diesem Laden steckt Luthor-Geld, da können wir nicht mithalten. Big Max und ich möchten uns um ein erwachseneres Image bemühen. Wir nennen die Pizzeria künftig Elem on Main und stellen Mitarbeiter ab einundzwanzig ein.« Er klopfte Clark auf die Schulter. »Nimm es mir nicht übel, Clark, ich halte große Stücke auf dich.« Clark hatte inzwischen seinen anfänglichen Schock überwunden und wäre vor Freude am liebsten in die Luft gesprungen. Er hatte schon genug Geld für den Kurs im Fallschirmspringen verdient und er langweilte sich auf der Arbeit zu Tode. Aber den Job einfach hinzuschmeißen wäre gegen das KentCredo gewesen, zu einer einmal eingegangenen Verpflichtung zu stehen. Mit anderen Worten: Seine Eltern hätten einen Anfall bekommen. 93
Clark räusperte sich und setzte ein angemessen betrübtes Gesicht auf. »Ich nehme es Ihnen nicht übel, Elem«, sagte er und streckte die Hand aus. Elem schlug ein. »Du bist ein toller Junge, Clark. Ich wollte dich eigentlich vorwarnen, aber es fiel mir schwer, es anzusprechen, und da habe ich es immer wieder aufgeschoben.« »Ich verstehe.« Elem schnippte mit den Fingern. »Ich weiß was, ich gebe dir eine Abfindung.« »Das ist doch nicht nötig«, protestierte Clark. »Zum Kuckuck, Clark, es ist das Mindeste, was ich tun kann, wenn ich dich schon ohne Vorwarnung rauswerfe. Warte, ich bin sofort wieder da!« Eiern eilte ins Büro und kehrte mit einem Umschlag zurück, den er Clark aushändigte. »Nimm das hier! Ich schreibe dir ein hervorragendes Zeugnis, wenn du eins brauchst. Du wirst in Big Max und mir immer gute Freunde haben, bis in alle Ewigkeit!« Clark bedankte sich und steckte den Umschlag in die Hosentasche. »Abmarschbereit? Ich will jetzt abschließen. Lass die Schürze einfach hier liegen, morgen ab sieben Uhr wird renoviert.« Elem tippte auf den großen Umschlag, den er unter dem Arm hatte. »Ich bringe das Geld noch zum Nachttresor und dann lege ich mich aufs Ohr.« Clark half seinem Boss, den Laden zu schließen, und warf einen letzten nostalgischen Blick in die Pizzeria, bevor Elem das Licht ausknipste. Elem on Main!, dachte Clark. Die Zeiten ändern sich. Sogar in Smallville! Als sie draußen waren, schob Elem den Riegel vor. »Jetzt trennen sich unsere Wege, Clark. Komm doch mal mit deinen Eltern vorbei, wenn wir mit der Renovierung...« Päng! Irgendetwas schlug von oben mit ungeheurer Wucht 94
auf Clark ein. Trotz seiner Superkräfte konnte er sich nicht auf den Beinen halten. Er stürzte in das große Glasfenster der Pizzeria, das zu einem gefährlichen Konfetti aus Glassplittern zersprang. »Hilfe!« Als Clark sich aufrappelte, sah er, dass Elem draußen auf dem Boden lag und sich mit Händen und Füßen gegen zwei Angreifer zu wehren versuchte. Sie waren schwarz gekleidet und hatten schwarze Mützen auf dem Kopf. Sofort sprang Clark mit einem großen Satz durch das zersplitterte Fenster. Er stürzte sich auf einen der Angreifer und warf ihn mitten auf die Straße. Dann wandte er sich dem anderen Kriminellen zu, packte ihn an den Armen und schleuderte auch ihn vom Gehsteig. Der Mann segelte im hohen Bogen durch die Luft und Clark sah ihn bereits wie einen nassen Sack neben seinem Kumpan landen. Aber er landete nicht. Als er am Scheitelpunkt des Bogens ankam, traten plötzlich kräftige grüne Flügel aus zwei Löchern in seinem Hemd. Er flatterte wie verrückt und schwebte wie eine Art dämonische Mythengestalt über die Main Street. Clark blieb die Luft weg, als er das böse Gesicht von Mr. Haines erkannte. »Aufstehen, Sohn!«, brüllte der, aber sein Partner lag noch benommen auf der Straße. Dann ist das wohl Tias Bruder Kyle, dachte Clark. Aber Tia hat doch gesagt, ihr Vater habe keine Flügel! Steckt sie etwa mit den beiden unter einer Decke?, fragte er sich. Macht sie aus mir den größten Trottel auf der Welt? »Heilige Mutter Gottes!«, keuchte Elem, als er die Augen aufschlug und das Flügelwesen in der Luft erblickte. Er lehnte sich gegen die Hauswand. Aus einer Platzwunde an seiner Stirn lief ihm Blut übers Gesicht. Auch am linken Bein blutete er heftig; offenbar hatte er eine Glasscherbe abbekommen. 95
Kyle schüttelte seine Benommenheit ab, schlug mit den Flügeln und flog los, um sich seinem Vater anzuschließen. Mit einem Sprung wäre Clark noch leicht an die beiden herangekommen, aber Elem brauchte seine Hilfe. Er verlor sehr viel Blut! Rasch kniete Clark sich neben ihn, legte die Hände um das verletzte Bein und versuchte, den Blutverlust durch Druck auf die Wunde einzudämmen. Hilflos sah er Mr. Haines und seinem Sohn hinterher, wie sie davonflogen.
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12. »TIA? TIA!«, RIEF CLARK und hämmerte an die Haustür. Nach dem Überfall hatte er erst einmal Elems Verletzungen versorgt und die Polizei gerufen. Als die Beamten eintrafen, hatte er zu Protokoll gegeben, dass er die Angreifer gesehen hatte, bevor sie entkommen konnten, und ihre Namen genannt. Nun wollte er unbedingt mit Tia sprechen, bevor die Polizei bei den Haines aufkreuzte. Das mit dem Fliegen hatte er nicht erwähnt. Und Elem war durch seinen Blutverlust viel zu benebelt, um sich an etwas erinnern zu können. »Tia!«, rief Clark, diesmal lauter. »Bist du da?« Keine Antwort. Aber er musste einfach herausfinden, wo sie steckte, und so prüfte er, ob die Haustür abgeschlossen war. Sie war es nicht. Vorsichtig betrat er das Haus. »Tia?«, rief er wieder. »Tia! Bist du da?« Dann flitzte Clark mit Supergeschwindigkeit durchs Haus und sah in jedem Zimmer nach. Es war niemand zu Hause. Als er das eingeschlagene Fenster in Tias Zimmer entdeckte, konnte er sich zunächst keinen Reim darauf machen. Im Schlafzimmer von Mr. Haines blieb Clark wie angewurzelt stehen: Da lagen zwei hautfarbene, schalenförmige Plastikprothesen auf dem Boden. Sie sahen aus wie zwei Hälften eines menschlichen Rückens. Jetzt verstehe ich!, dachte Clark. Kein Wunder, dass Tia denkt, ihr Vater habe keine Flügel. Diese Prothesen sind bestimmt eine Spezialanfertigung. Mr. Haines und Kyle tragen sie, damit niemand Verdacht schöpft. Und dann nehmen sie die Dinger ab, um aus der Luft Leute zu überfallen. Als Nächstes entdeckte Clark eine verschlossene Tür. Er rammte sie mit der Schulter, um sie aus den Angeln zu heben. 97
Es bot sich ihm ein beeindruckender Anblick: Da lagen stapelweise Schecks, Kreditkartenbelege und Bargeld; ganz offensichtlich die Beute der diversen Raubüberfälle auf Geschäftsleute. Das ist der Beweis!, dachte Clark. Am besten fasse ich hier nichts an. Wenigstens war Whitney nun von jedem Verdacht befreit. Clark mochte ihn zwar nicht besonders, aber dass er für etwas, das er nicht getan hatte, eingesperrt oder gerichtlich belangt wurde, ging einfach zu weit. Aus weiter Ferne erklang Sirenengeheul. Die Polizei war also auf dem Weg. Clark wollte sich unter keinen Umständen im Haus der Haines erwischen lassen. Die Beamten sollten sich selbst um die Beweise kümmern. Ihn interessierte viel mehr, was mit Tia los war. Wo war sie? Hatten ihr Vater und ihr Bruder sie weggebracht? Und wenn ja, was hatten sie mit ihr vor? Die Zeit drängte. Clark musste sie finden, bevor es zu spät war. »Clark! Wir haben uns solche Sorgen gemacht!«, rief Martha, als Clark zu Hause in die Küche gesaust kam. »Ein Polizist hat von der Pizzeria aus hier angerufen und uns erzählt, dass ihr angegriffen wurdet, du und Elem. Aber als wir hingefahren sind, warst du verschwunden.« Clark setzte seine Eltern ins Bild und verschwieg auch nicht, dass Mr. Haines und sein Sohn Flügel hatten und fliegen konnten. Auf diese Weise hatten sie schließlich all die nächtlichen Raubüberfälle begehen können. Seine Mutter wurde blass. »Smaragdgrün hast du gesagt? Dieselbe Farbe wie...« Clark nickte. »Es muss sich um eine bizarre Mutation handeln, die durch den Meteoritenschauer ausgelöst wurde.« Frustriert ballte er die Hand zur Faust, denn in seinem Inneren hatten sich jede Menge Druck und Schuldgefühle angestaut. 98
»Wann wird das je ein Ende nehmen?« »Clark, es ist nicht deine Schuld«, sagte Martha. »Doch, das ist es«, jammerte Clark. »Was immer mich hierher gebracht hat, hat auch die Meteoriten gebracht. So viele Menschen wurden dabei verletzt, Mom!« »Du warst doch noch ein kleines Baby«, wandte Jonathan ein. »Ein Baby ist ein unschuldiges Wesen, Clark.« Clark schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir nicht mehr so sicher.« »Hast du in Gegenwart von Mr. Haines dieselbe Übelkeit verspürt wie bei den Meteoriten, mein Sohn?«, fragte ihn sein Vater. »Nein, ich glaube, Mr. Haines und sein Sohn sind mutiert, nicht vergiftet. Tia ist diejenige, um die ich mir Sorgen mache.« Jonathan sah Clark in die Augen. »Was, hat sie etwa auch Flügel?« Clark schüttelte den Kopf. Wie gern hätte er seinen Eltern von Tias Flügeln erzählt. Aber das konnte er nicht, was auch immer geschah. »Das kann ich euch wirklich nicht sagen. Ich habe es versprochen.« »Clark«, fing sein Vater an. »Wie sollen wir helfen, wenn du uns nicht die Wahrheit sagst?« »Ich kann es nicht«, entgegnete Clark. »Jedenfalls jetzt noch nicht.« »Das ist einfach keine akzeptable Antwort«, bemerkte Jonathan. »Wann ist denn ›jetzt noch nicht‹ vorbei?« Clark schluckte. In seinem Inneren tobte ein unglaublicher Konflikt. Es gefiel ihm überhaupt nicht, seinen Eltern etwas zu verheimlichen. »Wie wäre es mit... morgen Abend. Wenn ich sie bis dahin nicht gefunden habe.« Martha sah Jonathan an und die beiden trafen stillschweigend 99
eine Übereinkunft. »Ich glaube, im Augenblick können wir dir wirklich nicht helfen. Du musst sie erst finden, deine...«, sagte Jonathan. »Sag mal, Clark, und da läuft wirklich nichts zwischen dir und Tia?« »Nein, Dad, nichts.« Clark sah, wie seine Eltern einen verstohlenen Blick wechselten. Seine Antwort hatte nicht sehr überzeugend geklungen. »Wenn ich nur wüsste, wo ich suchen soll! Wo kann sie nur stecken...«, überlegte Clark laut. Soweit er wusste, hatte Tia keine Freunde. Außer ihm. »Es war ein turbulenter Abend«, sagte sein Vater. »Und es ist schon ziemlich spät. Bis morgen früh können wir nichts tun – auch du nicht, Clark! Du solltest jetzt lieber ein bisschen schlafen.« Clark ging langsam die Treppe zu seinem Zimmer hoch, verschwand noch rasch im Bad, zog sich um und schlüpfte unter die Bettdecke. Er kam sich wie ein Versager vor. Ich habe Tia im Stich gelassen, dachte er. Was nützt es schon, wenn ich ihr gern helfen würde, aber nicht einmal weiß, wohin sie sich wendet, wenn sie Probleme hat oder... Die Erkenntnis kam so unvermittelt über ihn, dass er sich kerzengerade im Bett aufrichtete. Natürlich wusste er, wo sie war! In Windeseile zog er sich wieder an, schlüpfte in seine Sneakers und flitzte lautlos die Treppe hinunter.
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13. »MANCHMAL, WENN ICH MICH EINSAM FÜHLE, klettere ich rauf und denke darüber nach, wie unendlich groß das Universum ist... Und wenn ich mir dann so die Sterne angucke, fühle ich mich meist nicht mehr so einsam.« Als Clark die Treppe zum Speicher in der Scheune hinaufstürmte, ging ihm noch einmal durch den Kopf, was er Tia über sein Versteck erzählt hatte. Er war sicher, sie dort oben zu finden. »Tia? Ich weiß, du bist hier. Das ist okay«, rief Clark. Er stand mitten auf dem Speicher und hätte Tia leicht mit seinem Röntgenblick aufspüren können, aber er fand, es war besser, wenn sie sich freiwillig zeigte. In der Ecke ging ein Licht an. Da war sie! Tia saß auf einem alten roten Samtsessel, den Clark bei der Renovierung des Talons an Land gezogen hatte. Wie ein kleines Kind kauerte Tia sich zusammen und umklammerte ihre Beine, die sie eng an den Körper gezogen hatte. Ein Bündel Umschläge lag zu ihren Füßen auf dem Boden. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?«, fragte sie. »Zufällig richtig geraten«, entgegnete Clark, ging zu ihr und kniete sich neben sie. »Bist du okay?« Tia nickte, aber ihre Unterlippe zitterte und es liefen ihr die Tränen über die Wangen. Clark fragte sich, wie viel sie wohl über die Ereignisse des Abends wusste. Rasch holte er die Rolle Küchentücher, die er auf dem Dachspeicher fürs Großreinemachen bereithielt. »Tut mir Leid, Kleenex habe ich hier oben leider nicht.« »Ist doch egal.« Tia tupfte sich die Augen trocken und putzte sich die Nase. »Das war der schrecklichste Tag meines Lebens. Ich hatte einen furchtbaren Streit mit meinem Vater. 101
Deinetwegen.« »Meinetwegen?« Clark zeigte auf sich. Tia nickte. »Es ist nicht deine Schuld. Er denkt, ich verheimliche ihm eine große Liebesaffäre. Er hat mich angeschrien, schlimmer als je zuvor. Er hat mich sogar mit einer Schere bedroht.« Clark schnappte nach Luft. »Tia, hat er dich verletzt?« »Mich nicht, nur mein Herz.« Tia drehte sich um und Clark stellte fest, dass Mr. Haines ihre schönen Haare auf Nackenlänge abgeschnitten hatte. »Dann hat er mich in meinem Zimmer eingesperrt.« »Wie bist du da rausgekommen?« Tia schnäuzte sich noch einmal. »Ich habe gehört, wie er noch sehr spät mit Kyle weggegangen ist. Dann habe ich mein Fenster eingeschlagen und bin rausgeklettert. Es war dunkel und ich glaube, mich hat niemand gesehen. Ich hoffe es jedenfalls. Dann bin ich hergekommen. Ich wusste nicht, wo ich mich sonst verstecken sollte.« »Das ist okay.« Clark umarmte Tia und sie weinte an seiner Brust, während er sie tröstend in den Armen hielt. Nach einer Weile hob sie den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Es tut mir Leid, Clark. Ich sollte dich nicht mit meinen Problemen behelligen.« Wenn du wüsstest!, dachte Clark. »Wir sind Freunde, Tia. Mir liegt sehr viel an dir.« »Mein Vater sah richtig irre aus, Clark. Wirklich! Ich habe ihn noch nie so gesehen. Wenn er merkt, dass ich weg bin, wird er alles tun, um mich zurückzuholen.« Sie klammerte sich an Clarks Arm. »Du musst sehr vorsichtig sein. Bestimmt kommt er auch hier vorbei, um nach mir zu suchen.« »Das halte ich eigentlich nicht für sehr wahrscheinlich.« Und dann erzählte Clark Tia die ganze Geschichte – wie Elem und er vor der Pizzeria überfallen worden waren, wie er zu ihr nach Hause gefahren war, die Plastikprothesen entdeckt 102
hatte und schließlich auch die Beute der Raubüberfälle. »Oh, mein Gott!«, stieß Tia hervor. »Mein Vater und mein Bruder...« »Haben auch Flügel«, beendete Clark den Satz. »Ich schwöre, davon hatte ich keine Ahnung!« Clark nickte. »Ich glaube dir.« Tia schüttelte den Kopf. »Und ich habe meinem Vater geglaubt, als er sagte, er habe das Geld an der Börse verdient. Wie konnte ich nur so blöd sein!« »Sag so etwas nicht! Es ist nur natürlich, dass man denkt, die Eltern sagen einem die Wahrheit. Da hast du dir nichts vorzuwerfen.« Tia sprang auf. »Ich muss weg von hier. Ich habe dich in ernstliche Gefahr gebracht. Ich bin sicher, mein Vater kommt mit Kyle hierher.« Panisch sah sie sich um, als suche sie nach einer Fluchtmöglichkeit. »Beruhige dich doch! Sämtliche Cops von Kansas machen mittlerweile Jagd auf die beiden. Ich glaube, sie gehen das Risiko nicht ein, hier aufzukreuzen. Sie sind auf der Flucht. Du bist hier in Sicherheit.« »Glaubst du, die Polizei wird auch mich für kriminell halten?« »Nein, aber du wirst bestimmt gesucht. Du warst nicht in der Schule, zu Hause bist du auch nicht...« »Sie werden denken, mein Vater habe mir etwas angetan«, schloss Tia. Clark nickte. »Hör mal, Tia, es gibt da ein Problem. Ich habe dir mein Wort gegeben, dass ich niemandem von deinem Geheimnis erzähle, und dazu stehe ich auch. Aber wie wollen wir weiter vorgehen?« Tia lächelte ihn schüchtern an. »Kann ich nicht einfach hier oben bleiben?« »Meine Eltern sind schon misstrauisch geworden. Sie würden es früher oder später herausfinden. Ich habe über deine 103
Mutter nachgedacht. Wenn wir sie nur irgendwie ausfindig machen könnten!« Tia bückte sich nach den Umschlägen, die auf dem Boden lagen. »Da habe ich möglicherweise gute Nachrichten. Gestern bin ich in den Keller gegangen, wo mein Vater eine alte Truhe aufbewahrt. Und sieh nur, was ich gefunden habe!« Sie hielt Clark die Umschläge hin. »Briefe von meiner Mutter an mich.« »Tia! Das ist ja großartig!« »Ja.« Sie lächelte traurig. »Sie hat mir jahrelang geschrieben und mein Vater hat alle Briefe abgefangen. Ob er sie aufbewahrt hat, weil er sie immer noch liebt? Oder weil er immer noch so viel Hass mit sich herumträgt? Ich weiß nicht, was ich denken soll.« »Das ist jetzt eigentlich nicht so wichtig. Es bedeutet jedenfalls, wir können Kontakt zu deiner Mutter aufnehmen. Warum strahlst du nicht vor Freude? Das hast du dir doch immer gewünscht, oder?« Tia schüttelte den Kopf. »Das ist nicht so einfach.« Sie faltete den Brief auseinander, der das jüngste Datum trug, und las ihn Clark vor. »Liebe Tia, ich schreibe dir zwar, aber du kannst mir nicht antworten. Es bringt uns beide in Gefahr, wenn ich dir meine Adresse gebe. Dein Vater würde mich umbringen, wenn er mich findet, so sehr hasst er meine Flügel. Dich zu verlassen hat mir das Herz gebrochen, Tia, aber ich musste es tun, um mein Leben zu retten. Aus Selbstsucht hatte ich mir gewünscht, auch dir würden Flügel wachsen, dann hätten wir zusammen wegfliegen können. Aber so nahm ich an, es sei das Beste, wenn ich dich verlasse, damit du ein normales Leben führen kannst. Du sollst wissen, dass ich dich immer lieben und vermissen werde und mir von ganzem Herzen wünsche, du könntest 104
den Weg zu mir finden. In meinen Träumen fliegen wir gemeinsam – unbehelligt und frei. Ich liebe dich sehr! Mom« Tia lächelte glücklich. »Sie liebt mich. Ich habe es immer bezweifelt, aber sie hat mich von Anfang an geliebt.« Sie schob sich das weite Flanellhemd von den Schultern, ließ ihre Flügel aus dem ärmellosen Top gleiten und breitete sie in ihrer ganzen Pracht aus. »Ich wünschte, sie könnte das sehen.« »Vielleicht sieht sie es ja eines Tages.« »Wie denn? Ich kann nicht fliegen, Clark.« »Du bist ihre Tochter«, entgegnete Clark bestimmt. »Ich bin überzeugt, du kannst es.« Er streckte die Hand aus. »Zeig mir mal die anderen Briefe!« Tia reichte sie ihm und er sah sich die Poststempel an. Es gab viele unterschiedliche. Einige Briefe, die schon ein paar Jahre alt waren, stammten aus North Carolina. Das nächste Bündel kam aus Minnesota. Und die letzten waren alle von Colorado aus abgeschickt. Es gab ein paar aus Granby, einige aus einem Ort, der Kettering hieß, und sogar welche aus Boulder. Als Clark Tia die Briefe zurückgab, kam ihm eine Idee. »Du kannst über Nacht hier bleiben. Morgen werden wir versuchen, deine Mutter zu finden.« »Wie denn?« »Ich glaube, ich habe eine Idee. Wir können morgen darüber reden. Aber Tia, wenn wir sie nicht finden, muss ich es meinen Eltern erzählen.« Clark sprach mit fester Stimme. »Wenn ich dich hier verstecke, geht es sie schon etwas an.« »Ich hätte dich niemals beim Leben deiner Mutter schwören lassen dürfen«, erklärte Tia. »Aber ich hatte Angst.« »Also ist es abgemacht?« »Ja.« Tia beugte sich vor und küsste Clark auf die Wange. »Lana kann sich wirklich glücklich schätzen.« »Warum sagst du das?« 105
»Weil ihr dein Herz gehört.« Dieses eine Mal werde ich nicht sagen ›Lana ist mit Whitney zusammen‹, dachte Clark, diesmal werde ich die Wahrheit sagen. Die Worte lagen ihm bereits auf der Zunge. Du hast Recht, mein Herz gehört Lana Lang, wollte er sagen und öffnete den Mund. Und aus dem Nichts, als hätte er sie heraufbeschworen, ertönte plötzlich Lanas Stimme. »Clark?« Lana stand oben an der Treppe und starrte Tia an. Sofort versteckte Tia ihre Flügel und zog das Hemd über die Schultern. Die Angst stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Ich konnte nicht schlafen und bin spazieren gegangen«, erklärte Lana. »Ich habe Licht hier oben gesehen...« Sie zögerte. »Du darfst niemandem erzählen, was du gerade gesehen hast!«, fuhr Tia auf. »Was habe ich denn gesehen?«, fragte Lana. »Habe ich geträumt oder hast du tatsächlich Flügel?« »Ja«, antwortete Tia nach einer kurzen Pause. »Habe ich. Wirst du es für dich behalten?« Lana seufzte und sah Clark an. Clark wusste, was sie dachte: Wieder eine Merkwürdigkeit mehr in Smallville. Vielleicht noch ein bisschen merkwürdiger als die anderen, aber trotzdem... »Natürlich nicht«, entgegnete Lana bestimmt. »Ich wünschte nur, ich hätte es früher gewusst. Jungs sind ja ganz nett, aber ohne eine gute Freundin, der man vertrauen kann, hat man es schwer.« »Ich hatte noch nie eine«, gestand Tia. Lana lächelte sie an. »Also, jetzt hast du jedenfalls eine«, sagte sie. »Tia, erzähl ihr, was heute passiert ist. Ich gehe nur schnell rüber ins Haus und hole dir einen Schlafsack. Hast du 106
Hunger?« Tia nickte. »Kann ich vielleicht ein Sandwich haben?« »Kein Problem. Bin sofort zurück. Und erzähl Lana alles, ja?« »Mache ich«, willigte Tia ein und unterdrückte ein Gähnen. »Danke, Clark. Wirklich!« Als Clark einige Minuten später mit dem Schlafsack und einem Sandwich auf den Speicher zurückkehrte, wartete Lana an der Treppe auf ihn. »Alles klar?«, fragte er. »Mein Gott, Flügel!«, sagte Lana leise. »Tia sind wirklich Flügel gewachsen.« Clark schüttelte den Kopf. »Ich finde es auch unglaublich.« »Du bist schon lange genug in Smallville, um zu wissen, dass es eigentlich nichts Unglaubliches gibt. Wenigstens sehe ich das allmählich so. Tia ist übrigens gerade eingeschlafen«, entgegnete Lana fröstelnd. »Ich habe sie mit meiner Jacke zugedeckt.« Sofort zog Clark seinen Pullover aus und gab ihn Lana. »Wird dir dann nicht kalt, Clark?« »Ach was«, entgegnete er lächelnd. »Ich bin kälteresistent.« Lana zog den Pullover über, dessen Ärmel ihr viel zu lang waren. »Ich habe das Gefühl, in einem sehr privaten Augenblick hereingeplatzt zu sein«, begann sie. »Ich habe nur... Als ich Licht auf dem Speicher sah, bin ich davon ausgegangen, dass du allein hier bist. Es tut mir Leid.« »Das muss es nicht.« »Ich weiß, wie wichtig dir der Speicher ist, Clark. Wenn du Tia hierher mitbringst... nun, dann ist sie dir wohl auch sehr wichtig.« Ob Lana herauszufinden versucht, wie ich zu Tia stehe?, überlegte Clark. Zu seiner Erleichterung hatte sie anscheinend nicht gehört, was Tia über sein Herz gesagt hatte. 107
»Ich habe sie gar nicht hergebracht«, erklärte er Lana. »Sie hat sich hier oben versteckt und ich habe sie vorhin erst gefunden.« Er zögerte einen Augenblick, denn er wusste nicht, wie er sagen sollte, was er gern sagen wollte, und ob er es überhaupt aussprechen durfte. Manche Leute behaupten, man könne in mehrere Menschen gleichzeitig verliebt sein, dachte er. Vielleicht gibt es ja tatsächlich welche, die das können. Vielleicht kannst du es sogar, Lana. – Aber ich kann es nicht. Ich nicht. Nein! Niemals würde er diese Worte laut aussprechen! »Ich bin nicht in sie verliebt, Lana.« Lanas dunkle Augen glänzten im Mondlicht. »Glaubst du, es gibt so etwas wie Vorsehung, Clark?« »Ich weiß nicht. Warum?« »Weil mich manchmal das Gefühl beschleicht, dass du für irgendetwas ausersehen bist... Ich weiß auch nicht, für etwas Größeres als ich mir überhaupt vorstellen kann«, sagte Lana. »Und ich glaube, diese Bestimmung könnte vielleicht sogar wichtiger werden als die Gefühle, die du für... ach, egal für wen, empfindest.« »Das glaube ich aber nicht«, entgegnete Clark energisch. In seinem tiefsten Inneren befürchtete er jedoch, Lana könne Recht haben. »Nicht zu fassen, dass du es Lana gesagt hast und mir nicht!«, beschwerte sich Chloe, als sie am nächsten Mittag unterwegs zur Bezirksvogelwarte waren. »Ich hätte doch schon eher helfen können.« Tia war einverstanden gewesen, Chloe bei der Suche nach ihrer Mutter um Mithilfe zu bitten, und so hatte Clark sie zu sich auf den Speicher bestellt. Chloe war von Tias Flügeln absolut begeistert gewesen – sie waren das Coolste, was sie je gesehen hatte –, und sie erklärte sich sofort bereit mitzumachen. Auf Clarks Vorschlag hin, irgendwie 108
nachzuprüfen, ob es in jüngster Zeit Meldungen über die Sichtung seltsamer riesiger Vögel in Colorado gegeben hatte, war Chloe auf die Idee gekommen, zur Vogelwarte zu fahren und den Kurator dazu zu befragen. »Clark hat es mir gar nicht gesagt«, stellte Lana klar, die neben Chloe saß. »Ich bin gestern Abend bei den beiden reingeplatzt. Auf dem Speicher.« »Oh.« Chloe machte mit ihrem Kaugummi eine große Blase und ließ sie auf ihren Lippen zerplatzen. »Du bist also mitten in der Nacht auf Clarks Speicher geklettert?« »Ich konnte nicht schlafen.« »Wie romantisch«, bemerkte Chloe. »Jedenfalls... zurück zu dem Kurator. Er heißt Dr. Scott Dievendorf und er sieht so aus wie der Junge, in den ich damals in Metropolis in der dritten Klasse verknallt war – als Erwachsener, meine ich natürlich.« »Und er ist ein Vogelexperte«, ergänzte Lana. »Mehr als das«, entgegnete Chloe. »Er ist regelrecht besessen von allem, was fliegt. Er weiß so ziemlich alles, was man über Vögel und Flugzeuge nur wissen kann. Ehrlich gesagt glaube ich, er würde selbst gern fliegen können.« Sie lenkte den Wagen auf den Parkplatz an der Vogelwarte, die aussah wie eine Lagerhalle. Als sie hineingingen, sagte ihnen die Frau am Empfang, Dr. Dievendorf erwarte sie bereits im Vogelhaus. In der großen Voliere, die wie ein Dschungel wirkte, tirilierten unzählige Vögel. Wenn sie von Baum zu Baum flogen, blitzte über den Köpfen der Besucher immer wieder buntes Gefieder auf. »Das ist ja fantastisch!«, sagte Lana. »Eine Schande, dass ich noch nie hier war!« Der Kurator saß weiter hinten auf einer Steinbank. Auf der einen Schulter hatte er einen Papagei und auf der anderen einen Finken. Chloe stellte ihm ihre Freunde vor. »Schon zwei Besuche in einer Woche, junge Dame! Was 109
kann ich für Sie tun?«, fragte der Kurator. »Wir dachten, Sie wüssten vielleicht, ob in Colorado in jüngster Zeit ungewöhnliche Vögel gesichtet wurden«, begann Clark vorsichtig. Er wollte nicht zu viele Informationen preisgeben. »Ungewöhnlich in welcher Hinsicht?«, fragte Dr. Dievendorf zurück. In diesem Augenblick flog ein Kanarienvogel herbei und landete auf seinem ausgestreckten Zeigefinger. »Sehr große Vögel«, antwortete Clark. »So groß wie Menschen. Mit grünen Federn, wie Chloe Ihnen eine gebracht hat. Ich weiß, das klingt ziemlich abenteuerlich, Sir.« »Warum fragen Sie danach?«, forschte der Kurator. »Er muss eine Hausarbeit über Stadtlegenden schreiben«, entgegnete Chloe rasch. »Über Geschichten, die man im National Examiner lesen kann. Bigfoot, Sasquatch und so weiter.« Der Kurator stand auf und der Kanarienvogel flog davon. »Kommen Sie mit!« Er führte sie einen Korridor hinunter und öffnete die Tür zu seinem kleinen Büro. An den Wanden hingen unzählige Fotos, Schaubilder und Landkarten. »Leonardo da Vinci, 1485«, sagte der Kurator und zeigte auf die Zeichnung eines kleinen Flugzeugs mit riesigen fledermausähnlichen Flügeln. »Ornithopter nannte er das Ding.« Er ging ein paar Schritte weiter und tippte auf die gerahmte Zeichnung eines primitiven Segelflugzeugs. »George Cayley. Im achtzehnten Jahrhundert arbeitete er an einem mit Menschenkraft angetriebenen Gleitflugzeug.« »Das ist wirklich sehr interessant, Sir«, bemerkte Chloe höflich. »Aber was hat das alles mit einem großen grünen Vogel zu tun?« »Ich muss mich entschuldigen«, entgegnete Dr. Dievendorf. »Das Fliegen ist meine Leidenschaft. Mein ganzes Leben träume ich schon davon. Was für eine Freiheit! Und nun fragen Sie mich nach dieser geflügelten Kreatur, halb Vogel, halb 110
Mensch. Das ist höchst erstaunlich.« »Sie meinen, es gibt tatsächlich so etwas?«, platzte Chloe heraus. Der Doktor nahm die Zeitung, die auf seinem Schreibtisch lag und reichte sie Clark. Die Titelschlagzeile lautete: GRÜNE ENGELSFRAU ENTDECKT! Clark blätterte in der alten Ausgabe des National Examiner, bis er bei dem verschwommenen Foto einer weiblichen fliegenden Gestalt mit weit ausgebreiteten Flügeln ankam. »Das Foto wurde vor drei Monaten von einem Touristen im Rocky-Mountains-Nationalpark nördlich von Granby in Colorado aufgenommen«, erklärte Dr. Dievendorf. »Er ist so tief in den Wald gewandert, dass er sich verlaufen hat. In der Dämmerung sah er dann dieses Wesen hier am Himmel und hat es fotografiert. Er sagte, die Kreatur habe grüne Federn gehabt, aber da es sich um ein Schwarz-Weiß-Foto handelt, kann man das natürlich nicht sehen. Aber niemand hält dieses Foto für echt.« »Und wie sehen Sie das?«, fragte Lana. Der Kurator nahm sich die Zeitung und betrachtete das Foto. »Wenn ich es nicht für echt hielte, hätte ich es Ihnen nicht gezeigt. Ist sie nicht wunderschön?« Er wandte sich an Chloe. »Die grüne Feder, die Sie mir zur Analyse dagelassen haben, hatte eine ungewöhnliche Farbe. So ein leuchtendes Grün habe ich noch nie gesehen.« »Wow«, sagte Chloe nervös. »Wie aufregend!« »Haben Sie dieses Wesen etwa in Smallville gesehen?«, fragte Dr. Dievendorf erwartungsvoll. »Sind Sie so an die Feder gekommen? Um was geht es hier wirklich?« »Wie ich Ihnen sagte, um eine Hausarbeit«, antwortete Chloe und warf rasch einen Blick auf ihre Uhr. »Ach du liebe Zeit, wie spät es schon ist! Jetzt müssen wir uns aber beeilen! Sie waren uns eine große Hilfe, Sir.« Als sie Hals über Kopf das Büro verließen, blieb der Kurator 111
an seinem Schreibtisch stehen und starrte sehnsuchtsvoll auf das Foto der Vogelfrau. »Was denkt ihr, Leute?«, fragte Lana, als sie auf dem Parkplatz ankamen. »Ich denke, wir haben gerade Tias Mutter gefunden«, entgegnete Clark.
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14. »ES WIRD ZEIT, TIA«, SAGTE CLARK. Tia blickte zaudernd in den Abendhimmel. Nachmittags hatten Clark, Lana und Chloe ihr eine Landkarte mitgebracht und darauf den Weg von Smallville in den Rocky-MountainsNationalpark eingezeichnet. Clark war davon überzeugt, dass Mrs. Haines sich irgendwo in diesem Naturschutzgebiet aufhielt. Tia sollte losfliegen, sobald es dunkel wurde, hatten sie sich überlegt, und Clark sollte ihr beim Starten helfen. Aber nun, da der Moment gekommen war, hatte Tia schreckliche Angst. »Ich glaube, ich schaffe es nicht, Clark.« »Du schaffst es, Tia! Deine Mutter wartet auf dich. Denk daran, was wir besprochen haben. Wenn die Polizei mich fragt, werde ich die Wahrheit sagen. Dass du mir erzählt hast, du willst zu deiner Mutter. Und dass ich gar nicht genau weiß, wo sie lebt.« »Und wenn ich in Colorado ankomme«, fuhr Tia zögernd fort, »gehe ich mit meiner Mutter sofort zur Polizei.« »Ganz genau«, bestätigte Clark. Tia nickte, wirkte aber nicht sonderlich überzeugt. »Aber ich weiß trotzdem nicht, ob ich es schaffe.« »Ich kann deine Angst sehr gut nachvollziehen«, gestand Clark. »Ich wette, du wusstest nicht, dass auch ich Probleme mit der Höhe habe.« »Du? Davon hast du noch nie etwas gesagt!« »Man muss das, wovor man am meisten Angst hat, einfach als Prüfung betrachten, glaube ich. Und immer, wenn man so eine Prüfung besteht, kommt man seiner Bestimmung ein Stückchen näher.« Tia lächelte zaghaft. »Du bist ja ein richtiger Philosoph, Clark!« »Oder ein richtiger Schwätzer.« Er reichte Tia eine schwarze 113
Mütze. Lana hatte sie zusammen mit einer schwarzen Hose und einem schwarzen Pullover bei Fordman’s gekauft. In den Pullover hatten sie Schlitze gemacht, durch die Tia ihre Flügel stecken konnte, um sie ungehindert auszubreiten. Mit diesen Kleidungsstücken war sie in der Dunkelheit kaum zu erkennen. »Komm, lass uns loslegen!«, sagte Clark. »Und wenn es mir wieder nicht gelingt?«, fragte Tia. »Ich habe es doch noch nie geschafft.« »Heute Abend klappt es«, entgegnete Clark. »Ich spüre es ganz deutlich.« Sie verließen den Speicher und gingen vor die Scheune. Auf dem Hof hatte Clark einen Scheinwerfer aufgestellt, den er in der Garage gefunden hatte. Er war noch von der Party übrig, die er improvisiert hatte, als seine Eltern nach Metropolis gefahren waren. Er brauchte das Licht, um Tia beobachten und problemlos auffangen zu können, falls ihr der Start vom Scheunendach misslang. Zum Glück waren seine Eltern an diesem Abend bei einer Versammlung der Farmergenossenschaft. Im schlimmsten Fall blieb ihm also noch ein wenig Zeit, um sich zu überlegen, was er ihnen erzählen sollte. Denn falls Tia bei ihrer Rückkehr immer noch da war, schlug die Stunde der Wahrheit. Tia stand vor der Leiter, die an der Scheune lehnte. »Dann wären wir so weit«, sagte sie nervös. »Umarmst du mich noch mal?« Clark nahm sie in seine starken Arme. »Dein Vater kann dir nichts mehr anhaben, Tia«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du kannst fliegen! Du schaffst es!« Tia nickte und löste sich wieder von ihm. »Danke, Clark! Du bist der beste Freund, den man sich wünschen kann. Ich werde dich nie vergessen, Clark«, sagte sie und drehte sich zu der Leiter um. Päng! Es kam völlig unerwartet. Clark spürte einen Windstoß, bekam einen Schlag auf den Kopf und ging zu 114
Boden. Er wusste sofort, was los war. Mr. Haines und Kyle waren zurückgekommen! Und sie hatten es auf Tia abgesehen! »Tia!«, riet Clark, aber Kyle hatte sie sich schon geschnappt. Mr. Haines griff aus der Luft nach Clark und trug ihn mit kräftigen Flügelschlägen davon. »Eine Bewegung und sie ist tot!«, zischte er, bevor Clark überhaupt Anstalten machen konnte, sich zu befreien. Mr. Haines hielt ihn fest umklammert und stieg mit ihm immer höher in den Nachthimmel. Fünf Meter. Zehn. Zwanzig. Gut dreißig Meter in der Luft! Der Wind war kalt und Clark blickte fröstelnd in die Tiefe – sie waren direkt über dem Dach der Scheune. Als sich plötzlich wieder seine Höhenangst bemerkbar machte und ihm schwindelig wurde, kämpfte er nach Leibeskräften dagegen an. Er musste sich auf Tia konzentrieren. Er schloss die Augen, um das Schwindelgefühl zu vertreiben. »Tia ist Ihre Tochter«, sagte er zu Mr. Haines. »Sie würden ihr doch niemals Schaden zufügen.« »Ich tue, was ich tun muss«, knurrte Mr. Haines. »Sie wird uns nicht dasselbe antun wie ihre Mutter.« »Dann hauen Sie doch einfach ab! Wenn Sie von hier weggehen, sehen Sie Tia nie wieder«, schlug Clark vor. Aber Mr. Haines stieg immer höher mit ihm in den dunklen Himmel. »Halt die Klappe! Ich hätte sie mir schon vor langer Zeit vom Hals schaffen sollen. Genau wie ich es jetzt mit dir mache. Schönen Tod noch, du Lump!« Und schon ließ Mr. Haines Clark los. Hilflos und voller Panik stürzte er in die Tiefe, krachte mit dem Kopf voran durch das Holzdach der Scheune und landete auf ein paar Heuballen, die auf dem Boden lagen. Jeden Sterblichen hätte dieser Sturz umgebracht. Clark aber 115
befreite sich aus dem Heu, rappelte sich auf und wunderte sich, dass er vollkommen unverletzt geblieben war. Da hörte er Tia draußen schreien. Wie der Blitz rannte er los, aber er kam zu spät. Mr. Haines und Kyle hatten Tia in ihre Mitte genommen und flogen bereits mit dem schluchzenden Mädchen davon. »Clark, hilf mir!«, schrie Tia. Aber was sollte er tun? Clark stand hilflos da und sah zu, wie die drei immer höher stiegen. Mit einem Sprung konnte er sie nicht mehr erreichen. Selbst wenn er rasch auf die Scheune kletterte und von dem zertrümmerten Dach absprang, kam er nicht mehr an sie heran. Ich kann nicht zulassen, dass er Tia umbringt!, dachte er. Es musste doch irgendwie möglich sein, sie zu retten! In diesem Moment fiel sein Blick auf die Blechmülltonnen, die vor der Scheune standen. Die Deckel sahen aus wie große Frisbee-Scheiben... Das könnte klappen!, dachte er. Bitte, lass es funktionieren! Bitte! Rasch holte sich Clark die Deckel von beiden Tonnen. Während er sich zum Abwurf bereitmachte, behielt er Tia genau im Auge und versuchte abzuschätzen, wie schnell die drei sich fortbewegten und in welche Richtung sie flogen. Wenn er sein Ziel nur leicht verfehlte – immerhin handelte es sich um ein bewegliches Ziel – konnte das verheerende Folgen für Tia haben. Aber dieses Risiko musste er eingehen. Clark schleuderte die Mülltonnendeckel kraftvoll in die Luft und sie jagten mit einer unglaublichen Geschwindigkeit über den Nachthimmel. Der eine Deckel traf Mr. Haines an den Flügeln und der zweite erwischte Kyle. Beide schrien vor Schmerz und ließen Tia los, als sie sich reflexartig an die verletzten Flügel griffen. »Flieg, Tia!«, rief Clark ihr zu. »Flieg!« Tia schlug wild mit den Flügeln. Sie schwebte in der Luft 116
und bewegte sich weder vor noch zurück, während ihr Vater und ihr Bruder zu Boden stürzten. Clark wartete ab und fing zuerst Mr. Haines, dann Kyle. Mit dem dicken Seil, das neben der Scheune lag, fesselte er in Windeseile die beiden Männer Rücken an Rücken. Nun konnte er sich wieder um Tia kümmern, die zwar immer noch in der Luft schwebte, sich aber nur trudelnd um die eigene Achse drehte. Ein Furcht einflößender Anblick, der Clark an Lionel Luthors Hubschrauber vor der Bruchlandung erinnerte. »Flieg schon los, Tia!«, rief Clark erneut nach oben. »Flieg los!« »Ich kann es nicht!«, ächzte Tia. »Es funktioniert einfach nicht!« »Doch, du kannst es, Tia! Tu genau das, was dir eigentlich Angst macht!« Eine ganze Weile schwebte Tia noch auf der Stelle, ohne vorwärts zu kommen. Sie war innerlich hin- und hergerissen: Wollte sie weiter an die Lügen glauben, die man ihr über sie selbst erzählt hatte, oder an die Wahrheit der unbegrenzten Möglichkeiten? Und dann geschah ein Wunder: Tia begann tatsächlich, sich vorwärts zu bewegen. »Gut so, Tia, flieg!« Clarks Herz hämmerte im Takt von Tias Flügelschlägen. Er stand wie erstarrt da und beobachtete, wie Tia einen Halbkreis über der Scheune flog, dann die Richtung änderte und mühelos auf ihn zugesegelt kam, um nur wenige Meter über ihrem Vater und ihrem Bruder anzuhalten und auf der Stelle zu schweben. »Lebewohl, Dad!« »Wage es nicht...«, setzte ihr Vater an. »Das wirst du nie wieder zu mir sagen«, unterbrach ihn Tia energisch. »Ich wage es nämlich! Du hattest die ganze Zeit Recht. Ich bin genau wie meine Mutter!« Und damit stieg Tia wieder hoch in den Himmel hinauf und ihr Vater sah ihr hinterher und schüttelte hilflos die Fäuste. 117
Dabei verlor er jedoch das Gleichgewicht und stürzte mit seinem Sohn zusammen auf einen der offenen Säcke mit dem Testdünger von Luthorcorp, den Lex vorbeigebracht hatte. Eine riesige Staubwolke breitete sich aus. »Flieg endlich los, Tia!«, drängte Clark, denn die Freundin kreiste mit anmutigen Flügelschlägen unmittelbar über seinem Kopf. »Flieg, so weit du kannst, bis es hell wird. Dann machst du Pause und fliegst erst wieder in der Nacht weiter!« Tia zupfte sich eine Feder vom Flügel und ließ sie zu Clark hinunterflattern. »Nimm sie als Talisman mit, wenn du Fallschirmspringen gehst!« Clark lächelte. »Mache ich!« »Ich habe immer gedacht, meine Mutter sei mein Schutzengel«, sagte Tia. »Aber ich habe mich geirrt, Clark, denn in Wirklichkeit bist du es!« Und damit flog sie los und stieg auf in den rabenschwarzen Himmel; immer höher, bis sie eins mit der Nacht wurde. Wow! Sie hat es geschafft!, dachte Clark. »Hilfe!«, hörte er Mr. Haines plötzlich kläglich jammern. Clark wirbelte um die eigene Achse. Die beiden Männer lagen immer noch genauso auf den Düngersäcken, wie sie hingefallen waren. Aber es geschah etwas Merkwürdiges mit ihnen. Vor Clarks Augen begannen ihre Flügel zusammenzuschrumpfen. Natürlich!, dachte er. Da ist was in dem Dünger, das zerstört die Flügel! Mom hat doch erzählt, der Dünger habe die Tomatenpflänzchen verbrannt. Und jetzt verbrennt er offensichtlich die Flügel! Clark zog die beiden Männer von den Düngersäcken herunter und sah verblüfft zu, wie die Flügel immer weiter verkümmerten und schließlich zu Staub zerfielen. »Mir ist schlecht, Dad«, sagte Kyle. »Ruf schnell einen Krankenwagen!«, flüsterte Mr. Haines heiser. 118
»Mache ich«, versprach ihm Clark. »Sobald ich die Polizei angerufen habe.« Clark flitzte mit Supergeschwindigkeit in die Scheune, holte sich ein neues Seil und das schnurlose Telefon und kam wieder nach draußen. »Wie hast du das so schnell geschafft?«, krächzte Mr. Haines. »Zauberei!« Clark fesselte Mr. Haines und Kyle sicherheitshalber an Händen und Füßen, falls sie unerwartet wieder zu Kräften kommen sollten. Dann tippte er die Nummer der Polizeiwache ins Telefon. »Du hast mir meine Tochter weggenommen«, zischte Mr. Haines wütend. »Da irren Sie sich, Mr. Haines«, entgegnete Clark, während er darauf wartete, dass auf der Wache jemand an den Apparat ging. »Sie haben Tia lange genug gefangen gehalten und jetzt ist es ihr endlich gelungen, sich zu befreien.«
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Epilog »DU SAGST AB, PETE? Ich kann es nicht glauben!«, rief Lana in ihr Handy. Sie stand mit Clark vor einer der umgebauten Wellblechbaracken, die dem kleinen Flugplatz von Smallville als Lagerhallen dienten. »Wenn ich jemals wieder bei meiner Cousine Cheryl Kartoffelsalat essen will, hindert mich bitte daran!«, sagte Pete. »Am besten hindert ihr meine ganze Familie. Wir haben nämlich alle eine Lebensmittelvergiftung, aber nur zwei Badezimmer zur Verfügung. Das ist nicht besonders witzig. Hey, kann ich mal kurz mit Clark sprechen?« Lana reichte Clark das Handy. »Hey, Kumpel!«, sagte Clark. »Wie geht es dir?« »Bin schon über zwei Kilo leichter. Das war’s dann wohl mit meiner Vorbereitung auf den Wachstumsschub«, entgegnete Pete. »Hör mal, ich möchte dir noch einen tollen Sprung wünschen. Hast du immer noch solche Panik?« Clark warf einen raschen Blick in Lanas Richtung. »Halb und halb«, antwortete er. »Ach, wenn du mit Lana am blauen Himmel schwebst, was soll da schon schief gehen! Oh je, mein Magen fängt wieder an zu rebellieren. Ich muss Schluss machen. Halt die Ohren steif, Mann!« Als Clark Lana das Handy zurückgab, kam Terry Waters, ihr Fallschirmsprung-Lehrer, zu ihnen herüber. »In fünf Minuten geht’s los. Seid ihr bereit?« »Total!«, entgegnete Lana. Clark machte etwas weniger überzeugt das Daumen-hoch-Zeichen. Terry nickte zufrieden. »Gut! Es ist nämlich alles vorbereitet. Das Team wartet draußen in der Absprungzone, das Flugzeug steht bereit und ihr seid bestens ausgerüstet und startklar. Bitte lächeln, Clark! Das wird ein unvergessliches Erlebnis für euch. 120
Ich bin in fünf Minuten wieder da.« Lana sah Clark prüfend von der Seite an. »Du siehst ein bisschen blass aus. Ich hoffe, du wirst mir nicht auch noch krank.« »Mir geht es gut«, versicherte ihr Clark, obwohl sein Magen Purzelbäume schlug. Er war fälschlicherweise davon ausgegangen, nach dem Tageskurs im Fallschirmspringen von sämtlichen Ängsten befreit zu sein, die ihn zuvor noch gequält hatten, aber da hatte er sich gründlich geirrt. Dabei war das Training mit Terry, Janet und dem restlichen Team sehr gründlich gewesen. Er hatte sich mit Lana ein Trainingsvideo angesehen und ihnen war die ganze Ausrüstung erklärt worden und wie sie funktionierte. Sie hatten eine Übungsstunde in einem speziellen Hängegeschirr bekommen und gelernt, wie man den Fallschirm nach dem Öffnen steuerte. Sie waren sogar aus einer Flugzeugattrappe gesprungen und hatten unzählige Male wiederholt, wie man die Reißleine zog und den Höhenmesser überprüfte. Clark wusste über alles Bescheid. So gut, dass er es jemand anderem hätte beibringen können. Und er wünschte, jemand anderes als er selbst könnte nun den echten Sprung absolvieren – aus über dreitausend Metern Höhe. Lana schaute in den kobaltblauen Himmel und breitete die Arme aus. »Stell dir mal vor, wir könnten einfach mit den Flügeln schlagen und losfliegen wie Tia! Das wäre doch der absolute Wahnsinn!« Clark gab ein zustimmendes Grunzen von sich. »Ich habe endlich Die Möwe Jonathan gelesen«, plapperte Lana munter weiter. »Das ist ja der reinste Kitsch. Aber trotzdem irgendwie süß. Wenn ich zukünftig daran denke, wird es mich immer an Tia erinnern. Wenigstens sind ihr Vater und ihr Bruder im Gefängnis und sie muss sich um die beiden keine Sorgen mehr machen. Ich hoffe ja, wir kriegen eine Postkarte 121
von ihr oder so, damit wir wissen, dass sie gut bei ihrer Mutter angekommen ist.« »Tia sollte gleich nach ihrer Ankunft mit ihrer Mutter zur Polizei gehen. Das haben wir ausgemacht. Aber unser Sheriff wird mir wohl dazu nichts sagen, ich gehöre ja nicht zur Familie«, entgegnete Clark. »Glaubst du, sie hat es geschafft?«, fragte Lana. »Ich glaube, es war ihr Schicksal. Wie...« In diesem Augenblick kam Terry wieder zurück. »Jetzt geht’s los!«, rief er ihnen zu. Lana gab Clark einen Stups. »Du musst dir keine Gedanken machen! Wenn alle Stricke reißen, hast du doch noch dieses automatische Ding an deiner Brust, das spätestens in dreihundert Metern Höhe den Reservefallschirm öffnet.« Clark schluckte. »Na, das ist mir wirklich ein großer Trost!« »Jeder von uns springt mit zwei Begleitern«, versuchte Lana ihn zu beruhigen. »Sie nehmen uns in die Mitte. Und sie trennen sich erst von uns, wenn wir an der Reißleine ziehen und der Fallschirm sich öffnet.« Bei ihrem ersten Sprung sollten sie erst einmal den freien Fall kennen lernen. Es war vorgesehen, dass Clark und Lana mit je zwei Begleitern aus dem Flugzeug sprangen und so lange von ihnen flankiert wurden, bis sich ihre Fallschirme öffneten. Dann würden sich die Ausbilder noch ein Stück fallen lassen, bevor sie ebenfalls ihre Fallschirme öffneten. Über Funk wollte man Clark und Lana zum Zielkreis dirigieren. Clark hörte, wie auf der anderen Seite der Wellblechbaracken ein Flugzeugmotor ansprang. Als er mit Lana dort ankam, knatterte der Propeller des Flugzeugs schon ziemlich laut. Janet saß im Cockpit und winkte ihnen fröhlich zu. Clark wurde übel. Warum war er nicht derjenige, der mit einer Lebensmittelvergiftung zu Hause hockte! Terry half ihm und Lana ins Flugzeug, in dem schon die anderen Ausbilder warteten. Ihre Fallschirme trugen sie bereits 122
auf dem Rücken. Und da war noch jemand an Bord, der die gleiche Montur trug. Lex! »Was machst du denn hier?«, rief Clark erstaunt. »Ich freue mich auch, dich zu sehen«, entgegnete Lex trocken. »Hallo, Lana! Ich glaube, ich habe schon mal erzählt, dass ich den Fallschirmspringerschein habe. Und weil ich letzte Zeit keine Gelegenheit zu springen hatte, habe ich Janet und Terry gefragt, ob ich mitkommen darf. Ich hoffe, das macht euch nichts aus.« »Kein Problem«, entgegnete Lana und ließ sich von Terry den Fallschirm auf den Rücken schnallen. Lex rückte dichter an Clark heran, während ein anderer Ausbilder Clark in die Gurte seines Fallschirms half. »Ich bin nicht aufgekreuzt, um dir bei deinem Ausflug mit der schönen Lana in die Quere zu kommen«, raunte Lex ihm zu. »Ich bin zu deiner moralischen Unterstützung hier.« »Da bin ich echt froh, das kannst du mir glauben«, murmelte Clark. »Ich kann jede Unterstützung gebrauchen, die ich kriegen kann.« »Ich hoffe, das Malheur mit dem Hubschrauber hat den Angstfaktor nicht erhöht.« »Ehrlich gesagt«, entgegnete Clark, »war es nicht sehr hilfreich.« »Das tut mir wirklich furchtbar Leid. Ich werde es wieder gutmachen.« »Du kannst doch nichts dafür! So etwas kommt eben mal vor!« »Bei mir nicht, Clark. Ich habe mein Schicksal ganz gern unter Kontrolle.« Lex verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Es ist schon merkwürdig: Anscheinend muss man sehr oft das tun, wovor man am meisten Angst hat, um das zu 123
erreichen, was das Schicksal für einen bereithält. Hast du dir das auch schon mal überlegt?« Einer der Ausbilder klopfte Clark auf die Schulter. »Du bist jetzt startklar.« »Danke!« Clark wandte sich wieder Lex zu. »Wie ich dir mit großer Überzeugung und mit noch größerer Gewissheit versichern kann, lieber Lex, hat mein Schicksal nichts mit Fliegen zu tun.« Lex spähte aus dem Fenster. »Das Leben ist voller wundersamer Überraschungen. Sag niemals nie!« »Dreitausendfünfhundert Meter!«, rief Terry ihnen über den Motorenlärm hinweg aus dem Cockpit zu. »Macht euch bereit! Lex, du springst als Erster!« Clark wäre in diesem Augenblick liebend gern an jedem xbeliebigen anderen Ort gewesen – überall, nur nicht in diesem Flugzeug. Terry öffnete die Tür und warf einen prüfenden Blick auf den Zielkreis, dem sie sich nun näherten. »Viel Glück, Lex!«, rief Lana. Obwohl Clark starr vor Angst war, entging ihm Lanas Begeisterung nicht. Sie strahlte übers ganze Gesicht. Gott, sie war wunderschön! Und mutig. Es gab Leute, die trauten ihr nicht viel zu, weil sie mit ihrer zierlichen Figur so zerbrechlich wirkte. Clark wusste jedoch, was für eine Kämpferin sie in ihrem Innern war. Das war nur ein Grund, warum er sie liebte. Und weil er sie liebte, hockte er nun in diesem blöden Flugzeug mit dem blöden Fallschirm auf dem Rücken. »Okay, wir haben die perfekte Position!«, sagte Terry zu Lex. »Bist du bereit?« Lex nickte. Aber bevor er zur Tür ging, beugte er sich noch zu Clark rüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr: »Du schaffst es, Clark. Ich glaube an dich!« Dann kletterte er von der Tür aus auf die Metallverstrebung unterhalb der rechten Tragfläche. 124
Wie zuvor im Training erklärt worden war, stellte Janet nun den Motor ab. Sie segelten im Gleitflug in dreitausendfünfhundert Metern Höhe über die grünen Wiesen von Kansas. »Spring!«, rief Terry und schon war Lex weg. Clark und Lana beobachteten, wie er im freien Fall in die Tiefe stürzte. Es vergingen einige Sekunden, aber dann öffnete sich der Fallschirm und Lex schaukelte gemächlich auf die Erde hinunter. Inzwischen hatte Janet den Motor wieder angelassen und machte eine Kehrtwende, um den Zielkreis erneut zu überfliegen. Lana sah Clark an. »Ich bin so froh, dass du hier bist!« »Ich... bin auch froh«, stammelte Clark. »Lana!«, rief Terry. »Du bist dran!« Lana nahm Clarks Hand. »Du bist der mutigste Mensch, der mir je begegnet ist, Clark. Wenn jemand in Gefahr ist, setzt du dein Leben aufs Spiel, um ihn zu retten. Und wenn ich jetzt in Gefahr geriete, würdest du ohne nachzudenken sofort aus dem Flugzeug springen.« Da hat sie Recht!, stellte Clark fest. Terry öffnete wieder die Tür und Lana wartete, bis einer ihrer Begleiter nach draußen geklettert war. Dann folgte sie ihm mit dem zweiten Begleiter. Zu dritt stemmten sie sich gegen den Wind. Und dann war es so weit: Lana sprang mit den beiden Ausbildern ins große Nichts. Clark beobachtete starr vor Entsetzen, wie die drei fielen und fielen und fielen. Wusch! Plötzlich öffnete sich Lanas Fallschirm und die beiden Begleiter, die weiter in die Tiefe stürzten, entfernten sich rasch von ihr. »Clark!«, rief Terry. »Jetzt bist du an der Reihe!« Janet steuerte das Flugzeug erneut über den Zielkreis. Terry kletterte als Erster nach draußen und Clark folgte ihm. Er zwang sich, nicht nach unten zu sehen. Hinter ihm kletterte 125
Tammy Connors, die zweite Begleitperson aus dem Flugzeug. Einen kurzen Augenblick lang kauerten sie zu dritt im peitschenden Wind. Tu, was sie dir gesagt haben!, ermahnte sich Clark. Tu es einfach! Wenn Lana in Gefahr wäre, würdest du es ja auch tun, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich bin bereit!«, rief er in den Wind. Seine Begleiter machten das Daumen-hoch-Zeichen. Wie war das mit den Ängsten, die man überwinden muss, damit sich das Schicksal erfüllen kann?, dachte Clark. Da erinnerte er sich daran, wie Tia auf dem kleinen Felsvorsprung gestanden hatte. Zuerst war sie so verängstigt und verzweifelt gewesen, aber weil Clark an sie geglaubt hatte, hatte er sie dazu bringen können, an sich selbst zu glauben. Und genau das hatten Lex und Lana nun für ihn getan. Du schaffst es!, spornte er sich an. »Los!«, rief er seinen Begleitern zu und sprang von der Metallverstrebung ab. Und schon flog er! Zumindest hatte Clark das Gefühl, fliegen zu können. Einen kurzen Augenblick lang wurde sein Körper von einer enormen Energie und Freude überflutet, wie er sie in dieser Intensität noch nie erlebt hatte. Alles verschwand aus seinem Bewusstsein: der Fallschirm, seine Begleiter, sogar das Flugzeug. Ganz allein schoss er durch Zeit und Raum. Hier gehöre ich hin, dachte er. Und im nächsten Augenblick kehrte all das wieder zurück, was Terry ihm beigebracht hatte. Er wusste, wie er den Rücken anspannen und die Arme und Beine ausbreiten musste, damit sein Körper im freien Fall nicht außer Kontrolle geriet. Er warf einen Blick auf den Höhenmesser, um zum richtigen Zeitpunkt die Reißleine zu ziehen. »Zweitausendfünfhundert Meter!«, rief er Terry zu. Dann drehte er sich zu Tammy um und signalisierte ihr sein Okay. 126
Wie er es gelernt hatte, deutete er ein paar Mal den Zug an der Reißleine an, um den Begleitern zu zeigen, dass bei ihm alles in Ordnung war. Und dann, in zweitausend Metern Höhe, gab er das letzte Zeichen: Er war bereit. Als der Höhenmesser exakt fünfzehnhundert Meter anzeigte, zog Clark kräftig an der Reißleine. Wusch! Wie eine riesige Blüte öffnete sich der Fallschirm über ihm, während seine Begleiter weiter in die Tiefe stürzten. Er war ganz allein. Ringsum herrschte Stille. Ganz geruhsam schaukelte er der Erde entgegen, vollkommen losgelöst... Plötzlich fiel ein Schatten auf sein Gesicht und er sah auf. Eine wunderschöne Vogelfrau mit grünen Flügeln schwebte über ihm. Tia! Und dann kam mit großen Flügeln in leuchtendem Smaragdgrün Tias Mutter aus der Höhe herab und flog einen eleganten Bogen um ihre Tochter und Clark. Clark winkte. Tia kam näher und winkte zurück. Da fiel Clark etwas ein und er griff in die Tasche seines Overalls. Er holte die grüne Feder heraus, die Tia ihm als Talisman gegeben hatte, und hielt sie hoch. Tia war nah genug, um sie erkennen zu können. Und sie machte strahlend das Daumenhoch-Zeichen. Während Clark langsam zur Erde hinabsegelte, hatte er das Gefühl, die Luft habe noch nie so frisch gerochen und der Himmel sei noch nie so blau gewesen wie in diesem Augenblick. Er beobachtete, wie Tia und ihre Mutter sich in Spiralen immer höher in den Himmel hinaufschwangen, bis sie in der blauen Unendlichkeit verschwanden, im Reich der unbegrenzten Möglichkeiten. Clark spürte den Wind im Gesicht und genoss die Stille, die ihn umfing. An diesen Augenblick werde ich mich mein Leben lang erinnern, dachte er. Was für ein Glücksgefühl! Fliegen ist 127
das Größte!
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