Martin Endreß · Thomas Matys (Hrsg.) Die Ökonomie der Organisation – die Organisation der Ökonomie
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Martin Endreß · Thomas Matys (Hrsg.) Die Ökonomie der Organisation – die Organisation der Ökonomie
Martin Endreß Thomas Matys (Hrsg.)
Die Ökonomie der Organisation – die Organisation der Ökonomie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16750-3
Für Klaus Türk
Inhalt
Martin Endreß / Günther Wachtler / Thomas Matys Einleitung ........................................................................................................ 9 Jörg Sydow Organisationale Pfade: Wie Geschichte zwischen Organisationen Bedeutung erlangt .............................................. 15 Uwe Schimank Die funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft als Organisationsgesellschaft – eine theoretische Skizze ...... 33 Ingo Bode Der Zweck heil(ig)t die Mittel? Ökonomisierung und Organisationsdynamik im Krankenhaussektor .................................. 63 Raimund Hasse Ökonomisierungstendenzen bei Non-Profits, Großunternehmen und Start-ups – eine theoriegeleitete Diskussion empirischer Trends ...... 93 Thomas Matys Corporations in den USA. Kämpfe um Etablierung zwischen königlicher Charter und Industrialisierung ............................. 121 Wieland Jäger Wissen, Wissensarbeit und Wissensmanagement in Organisationen .......153 Michael Bruch Zum Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie aus organisationssoziologischer Sicht ..................... 175
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Inhalt
Thomas Lemke Gesellschaftskörper und Organismuskonzepte. Überlegungen zur Bedeutung von Metaphern in der soziologischen Theorie ................ 201 Günther Ortmann Zur Theorie der Unternehmung. Sozio-ökonomische Bausteine ............. 225 Verzeichnis der Autoren ................................................................................ 305
Einleitung
Organisationen werden für eine Soziologie, die sich als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse begreift, in zweifacher Hinsicht analytisch relevant: auf der einen Seite als korporative Akteure, also als emergente soziale Phänomene (‚Gebilde‘), auf der anderen Seite als Modus der Strukturierung sozialer Wirklichkeit, d.h. als sozialer Prozess. In beiden Reflexionshinsichten sind Organisationen sowohl in ihrer Konstruktivität und Historizität wie auch als Akteure und Aspekte der herrschaftlichen Strukturierung und Formbestimmtheit des Sozialen zu untersuchen. Diese Perspektiven werden somit für Fragen nach der Formierung materieller wie symbolischer Lebensprozesse, der im weitesten Sinne ökonomisch-politischen Regulation und wissensanalytischen Konfiguration sozialer Wirklichkeit zentral. Der vorliegende Band steckt diesen Problemhorizont in theoretischen wie materialen Beiträgen ab. Er vereinigt grundlagentheoretische Reflexionen zur Bestimmung des gesellschaftsanalytischen wie -kritischen Profils der Organisationssoziologie und Analysen zu Ökonomisierungsprozessen und/oder -tendenzen in der Gegenwartsgesellschaft. Mit diesem Zuschnitt greift der Band das gesellschaftsanalytische und gegenwartsdiagnostische Potential der organisationssoziologischen Analysen Klaus Türks in unterschiedlichen Hinsichten wie auch mit unterschiedlichen Positionierungen auf. Ohne die versammelten Beiträge zu sehr systematischen Zwängen unterzuordnen, lassen sie sich im Sinne der Entfaltung eines konzeptionellen Profils lesen: Ausgehend von der zentralen Einsicht in die Historizität des Sozialen (Jörg Sydow) wendet sich der Band spezifischen Ausprägungen dieser Historizität zu, den aktuellen Prozessen einer Ökonomisierung organisatorisch strukturierter sozialer Verhältnisse (Uwe Schimank, Ingo Bode, Raimund Hasse), um diese Prozesse dann unter Einbeziehung von Entwicklungen in den Feldern des Rechts wie des Wissen in Fallstudien zu vertiefen (Thomas Matys, Wieland Jäger). Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen und Entwicklungen wird schließlich die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen einer kritischen, organisationssoziologisch informierten Gesellschaftstheorie gestellt (Michael Bruch, Thomas Lemke), bevor der Band den abschließenden
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Blick auf die Rekursivität gesellschaftlicher Unternehmungen lenkt (Günter Ortmann). Jörg Sydow geht unter dem Titel „Organisationale Pfade“ der Frage nach, wie Geschichte in Organisationen Bedeutung erlangt. Er nimmt damit die temporale Dimension der Forschungsinteressen von Klaus Türk auf. Die drei folgenden Beiträge von Uwe Schimank, Ingo Bode und Raimund Hasse nehmen im engeren Sinne das Verhältnis von Organisation und Ökonomie in den Blick. Sie konzentrieren sich in verschiedenen Hinsichten auf Ökonomisierungstendenzen und kontrastieren die Perspektive Türks mit konzeptionellen Alternativen. Die folgenden beiden Fallstudien sind von der Forschungsprämisse geleitet, das ‚Konstrukt Organisation‘ am empirischen Material zu entwickeln und dokumentieren dies an der historischen Etablierung der korporativen Form (Thomas Matys) und dem organisationalen Wissens-Diskurs (Wieland Jäger). An diese Studien schließen sich stärker theoretisch ausgerichtete Beiträge an, die die Konturen eines organisationssoziologisch angeleiteten Projekts einer kritischen Gesellschaftstheorie erörtern (Bruch) und dem Status und der formierenden Bedeutung von Metaphern in theoretischen Entwürfen der Soziologie nachgehen (Lemke). Günter Ortmann beschließt mit einem breit angelegten Beitrag zu einer „Kleinen Theorie der Unternehmung“ den vorliegenden Band. Seine monographisch ausgewachsenen Überlegungen konzentrieren sich auf eine rekursive Bestimmung des Verhältnisses von Effizienz und Unternehmenspraxis. Titelgebung wie Widmung des vorliegenden Bandes sprechen einen Dank aus. Hervorgegangen ist diese Publikation aus einem Symposium anlässlich der Verabschiedung, genauer des Überganges von Klaus Türk in eine postuniversitäre Schaffensperiode, das im November 2007 an der Bergischen Universität Wuppertal stattfand. Ergänzt um weitere Beiträge versammelt der vorliegende Band überarbeitete und zumeist erheblich erweiterte Fassungen der im damaligen Rahmen gehaltenen Vorträge. Der Titel der vorliegenden Publikation spiegelt dabei die von Klaus Türk stets für die Organisationsforschung eingeforderte „Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Organisation und Ökonomie“ (so der Leittext der Reihe „Organisation und Gesellschaft“). Sie ist Teil der Bemühung um eine systematische Neugewichtung des gesellschaftstheoretischen Zuschnitts der Organisationstheorie, die unter Beachtung rekursiver Zusammenhänge um die Struktur- und Strukturierungseffekte von Organisation und Ökonomie weiß. Klaus Türk hat der Organisationssoziologie ein konsequent gesellschaftsanalytisches Profil und den Organisationsformen der materiellen Reproduktion von Gesellschaften über Arbeit ein historisch-phänomenologisches Gesicht (in
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den ‚Bildern der Arbeit‘) gegeben. Der konzeptionelle Zuschnitt seiner historisch-theoretischen Organisations- und Gesellschaftsanalysen wird ergänzt, unterstützt und weitergeführt durch die Sinnlichkeit von Erfahrungen im Rahmen einer historischen Phänomenologie von Arbeitsbildern.1 Verbunden sind beide Forschungsschwerpunkte in einem durch ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse konturiertes Wissenschaftsverständnis. Klaus Türks ‚ikonografische Anthologie‘ der Arbeit und seine gesellschaftstheoretische Organisationssoziologie haben somit ein gemeinsames Anliegen: Sie vereinen, in bester aufklärerischer Bedeutung, Vernunft und Erfahrung, Sinn und Sinnlichkeit in einzigartiger Weise. Will man Überschriften über das Werkprofil von Klaus Türk setzen, so sind in sozialer Hinsicht Marx und Luhmann, in sachlicher Hinsicht Organisationen, Kapitalismus und Herrschaft, in zeitlicher Hinsicht schließlich Historizität (Temporalität), also Geschichtlichkeit und damit Kritik anzuführen. Der Luhmannsche Subtext dieser Typik ist nicht zufällig gewählt, lässt er sich doch in vielen Schriften von Klaus Türk identifizieren. Eine Präferenz, die sich im Kern 1
Mit einer weltweit wohl einzigartigen Sammlung von mehreren 10.000 Bildern, auf denen der Arbeitsprozess thematisiert wird, hat Klaus Türk die bildende, die abbildende Kunst als ‚Quelle für das Verstehen von Gesellschaft‘ erschlossen. Insofern sich Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie für die Erkenntnis von gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnissen als zentral erweist, kommt in den Arbeitsbildern Wesentliches über Gesellschaft, über die existierenden Vorstellungen von deren Ordnung und Entwicklung zum Ausdruck. Die Bilder der Arbeit werden von Klaus Türk verständlich gemacht als „interpretierende, deutende, reflektierende Konstruktionen von Wirklichkeit“ aus unterschiedlichen Perspektiven. Seine begleitenden Texte sind luzide Verbindungen von sozialgeschichtlichen Einordnungen, kunsthistorischen Interpretationen und soziologischen Deutungen, in denen er zeigt, wie in bildförmigen, in visuellen Wirklichkeitskonstrukten auch immer der historische gesellschaftliche Diskurs über Arbeit und ihre gesellschaftliche Organisation zum Ausdruck kommt. Sie sind damit in seinen eigenen Worten ‚bildlich formulierte Ideologien‘, in denen die ganze Widersprüchlichkeit von gesellschaftlichen Arbeitsverhältnissen offenbar wird. So zeigen sie in der historischen Betrachtung die Arbeit z.B. einerseits als Chance und Möglichkeit, als Potential zur Erschaffung von Wohlstand, Fortschritt, Freiheit und Glück. Andererseits verdeutlichen die Bilder aber auch, dass mit Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Organisation immer auch Aneignung, Verwertung und damit Unterdrückung, Ausbeutung, Entfremdung und Herrschaft verbunden sind. Arbeit enthält immer beides. Die Möglichkeit zur „Erschaffung des Menschen durch sich selbst“, als Chance zur Bildung einer eigenen Identität, zur Persönlichkeitskonstitution und zur Selbstverwirklichung; andererseits sehen wir aber auch, dass sie oft mit Mühsal, Plage, Last, Leid und Erniedrigungen verbunden ist. In der bildlichen Symbolisierung dieser grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten der Arbeit erkennen wir den gesellschaftlichen Diskurs über die jeweilige Ausgestaltung und Deutung der elementaren gesellschaftlichen Antinomie von Freiheit und Zwang, von Emanzipation und Herrschaft. mit Mühsal, Plage, Last, Leid und Erniedrigungen verbunden ist. In der bildlichen Symbolisierung dieser grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten der Arbeit erkennen wir den gesellschaftlichen Diskurs über die jeweilige Ausgestaltung und Deutung der elementaren gesellschaftlichen Antinomie von Freiheit und Zwang, von Emanzipation und Herrschaft.
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der Sensibilität von dessen Theorie für Organisationen verdankt, wie sie gleichrangig flankiert wird von einer wichtigen Abgrenzung gegenüber Luhmann: Klaus Türk bestreitet die in dieser Variante von Systemtheorie strukturell angelegte Relativierung der Bedeutung der Ökonomie und ist zugleich skeptisch in Bezug auf neuere Thesen über einen Primat derselben. Mit seiner gesellschaftstheoretischen Organisationssoziologie hat Klaus Türk einen sehr eigenen Weg beschritten. Grundsätzlich geht es ihm darum, theoretische Konzepte zur Analyse und zur Erklärung einer spezifischen, historischen Gesellschaftsformation zu entwickeln, nämlich der modernen Gesellschaft. Als deren entscheidendes Merkmal sieht Klaus Türk die organisationsförmige Gestaltung der sozialen Verhältnisse. Zentral, so seine Argumentation, ist, dass Organisationen nicht als Assoziationen oder formalisierte Kooperationsbeziehungen zu begreifen sind, sondern in ihnen primär Einrichtungen gesehen werden müssen, deren charakteristische, formgebende Bedeutung in der Nutzung, der Aneignung und der Ausbeutung von Kooperationszusammenhängen durch die sogenannten ‚Organisationsherren‘ besteht. Er eröffnet damit eine Perspektive auf Organisationen, die es erlaubt, diese prinzipiell in ihren Orientierungen als ‚gegen Dritte gerichtet‘ zu betrachten und somit in ihrer herrschaftlichen Strukturiertheit wie ihrem herrschaftlichen Strukturierungspotential zu begreifen. Damit sind sie für ihn Regulationsformen, die keinesfalls als Produktivkräfte zu betrachten sind, sondern als Momente einer historischen Form der Produktionsverhältnisse. Sie kommen als typische Formen von Herrschaft in der Moderne in den Blick. Und so lassen sich Organisationen verstehen als historisch-gesellschaftliche Einrichtungen, die durch ihre Ausrichtung an einer durch je spezifische Interessen formierten Verwertungslogik eine ‚Aneignungspraxis von Kooperation‘ dastellen. Die Perspektive dieser ‚Kritik der politischen Ökonomie der Organisation‘ richtet den Blick darauf, dass in modernen Gesellschaften gar nicht so sehr das Kapitalverhältnis entscheidend ist, sondern vielmehr die Tatsache, dass sich die sozialen Verhältnisse in modernen Gesellschaften zwar als kapitalistische Verhältnisse realisieren und manifestieren, ihnen aber eine allgemeine Organisationsförmigkeit analytisch und historisch vorausgeht. In diesem Sinne werden Organisationen dann zu ‚abstrahierenden und generalisierenden Medien der Kommunikation‘, die das gesellschaftliche Leben insgesamt durchdringen und prägen. Als solche können sie, wie Klaus Türk schreibt, nur in Beziehung zu den gesamtgesellschaftlichen Eigenheiten verstanden werden: Sie müssen gesehen werden in ihren strukturierenden Einflüssen auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung, mithin in ihrer strukturellen Dominanz (in quantitativer wie qualitativer Hinsicht). Die soziologische Theorie von Klaus Türk wird somit getragen von dem Anliegen sowohl eine ‚Rückkehr der Gesellschaft in die
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Theorie der Organisation‘ zu ermöglichen, als auch eine ‚Rückkehr der Organisation in die Theorie der Gesellschaft‘ analytisch voranzutreiben. In diesem konzeptionellen Zuschnitt orientiert sich Klaus Türk an bedeutenden klassischen und zeitgenössischen Vordenkern. Es ist zuerst der historische Materialismus von Karl Marx als Methode der Gesellschaftsanalyse, wobei Türk allerdings die Kritik der politischen Ökonomie von Marx zu einer Kritik der politischen Ökonomie der Organisation insoweit umformuliert, als er gerne dem Warenkapitel, als dem ersten Kapitel im ‚Kapital‘, ein Organisationskapitel voranstellen würde. Denn für Türk stehen, wie skizziert, am Anfang der Gesellschaftsanalyse nicht die Ware, die kapitalistische Warenproduktion und -zirkulation, sondern die Organisation. Ein vergleichbarer Orientierungswert lässt sich für die Herrschaftssoziologie Max Webers ausmachen, die von Türk durch die Analyse neuer organisationaler Herrschaftsformen und deren Legitimationsgrundlagen verlängert wird. In diesen Überlegungen zum Wandel der Legitimation organisationaler Herrschaft ist Klaus Türk zugleich sehr nahe an der klassischen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, insbesondere an deren Technokratie- und Ideologiekritik. Vor allem dann, wenn er die ‚Rationalitätsfiktionen‘ und Effizienzvorstellungen von Organisationen als Fassaden eines gesellschaftlich notwendigen Scheins enthüllt. Kennzeichnend für die von Klaus Türk verfolgte Analytik ist ebenso eine Verbindung der Kritik der politischen Ökonomie der Organisation mit Ansätzen der Systemtheorie von Niklas Luhmann. So begreift er Organisationen als „abstrahierendes, generalisierendes Medium der Kommunikation“ und macht das Organisationsverhältnis als ‚strukturierende Struktur‘ innerhalb einer gesellschaftlichen Gesamtkonstellation begreifbar, die dieses mit erzeugt, zu ihr also in einem ‚rekursiven Konstitutionsverhältnis‘ steht. Schließlich hat Klaus Türk in jüngerer Zeit auch Foucaults Theorie der Gouvernementalität aufgegriffen, um Organisationen erkennbar zu machen als durch gesellschaftlich praktisch wirksame Denkformen generierte und Kopplungen von Denk- und Handlungsformen darstellende Formen einer historischen Praxis von Macht und Herrschaft, die gerade deshalb fortgesetzter Gegenstand einer Organisationskritik zu sein haben. Aus diesen wirkmächtigen soziologischen Traditionen entfaltet sich das ebenso eigenständige wie emergente Profil der Arbeiten von Klaus Türk, dass einerseits eine erhebliche Bereicherung der disziplinären Möglichkeiten zur theoretischen Konzeptualisierung moderner Gesellschaften mit ihren Herrschafts- und Legitimationsformen darstellt und das zum anderen eine prägnante, kritische Zeitdiagnose offeriert. Dieses Anregungspotential würdigen die Autoren und Herausgeber des vorliegenden Bandes.
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Der Dank der Herausgeber geht zunächst an den Fachbereich G „Bildungsund Sozialwissenschaften“ der Bergischen Universität Wuppertal wie an die „Gesellschaft der Freunde der Bergischen Universität“, die unbürokratisch Mittel zur Durchführung des Kolloquiums im November 2007 bereitstellten. Darüber hinaus danken wir nicht nur den beteiligten Autoren, die sich nicht zuletzt der Mühe der Revision ihrer Beiträge unterzogen haben, sondern ebenso Frau Agnes Dobrowolski, die die Gesamtherstellung der Druckvorlage in äußerst zuverlässiger und engagierter Weise übernommen hat. Martin Endreß / Günther Wachtler / Thomas Matys Wuppertal, Juli 2009
Organisationale Pfade: Wie Geschichte zwischen Organisationen Bedeutung erlangt Jörg Sydow
1. Einleitung Kaum ein Organisationstheoretiker im deutschsprachigen Raum hat sich so intensiv mit der Bedeutung von Vergangenem für Gegenwärtiges und Zukünftiges beim Organisieren auseinandergesetzt wie Klaus Türk an der Bergischen Universität Wuppertal. Erinnert seit hier nur an seine „Allegorie des Handels“ (Türk 1995), in der er die Organisiertheit des Handels und letztlich auch der Produktion – und die moderne Überformung dessen, was Türk ‚Ko-Operation‘ nennt – unter Rückgriff auf die Arbeiten von Marx, Weber, Sombart, Strieder, Wallerstein und einigen anderen schon im 16. Jahrhundert identifiziert; sowie zweitens an seine zusammen mit Thomas Lemke und Michael Bruch verfasste „Organisation in der modernen Gesellschaft“ (2002), bezeichnenderweise untertitelt mit: „Eine historische Einführung“ (Herv. J.S.). Dieser starke historische Bezug von Türks Arbeiten wird auch in der Rezeption seiner Arbeiten gewürdigt, zum Beispiel wenn unter Bezugnahme auf sein Buch „Die Organisation der Welt“ (1995), in der auch die „Allegorie des Handels“ erschienen ist, die Zusammenfassung seiner Position mit der treffenden Feststellung beginnt: „Organisationen sind ein historisches Phänomen, d.h. sie weisen einerseits einen historischen Entstehungsprozeß auf, indem sich ihre Formen ausgeprägt haben, und andererseits sind sie ein Produkt der modernen Gesellschaft und unterscheiden sich grundlegend von anderen historischen Formen wie etwa Zünften im Mittelalter.“ (Lang/Alt 2003: 329; Herv. J.S.)
Von meinem Fach, der Betriebswirtschaftslehre, ist eine solche Befassung mit ‚Vergangenem‘ – trotz einiger historisch an Organisationsforschung interessierter Kollegen, allen voran Alfred Kieser (1989, 1994) – erst gar nicht zu erwarten. Aber auch manche Organisationssoziologen haben den Blick für die Bedeutung des Historischen tendenziell verloren (oder – wie Organisationspsychologen – erst gar nicht gewonnen). So bleibt es allzu oft vor allem das Projekt von Historikern, der Bedeutung von Vergangenem für Gegenwärtiges und Zukünftiges nachzuspüren; dabei bleibt allerdings ob einer nur sehr zaghaf-
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ten Rezeption von Theorie im Allgemeinen und von Organisationstheorie im Besonderen gerade die Relevanz für Gegenwärtiges und Zukünftiges oftmals undeutlich (vgl. Berghoff 2004). Wenn ich mich als Betriebswirt der wichtigen Frage widme, wie denn eigentlich Geschichte in und vor allem zwischen Organisationen Bedeutung erlangt, so kann das nur sehr ausschnitthaft und mit einem eher typisch betriebswirtschaftlichen Erkenntnisinteresse geschehen, nämlich mit der Frage motiviert, warum dringend benötigter organisatorischer Wandel manchmal so schwierig ist und inwiefern hier die Geschichte einer Organisation bzw. auch eines interorganisationalen Netzwerks dafür verantwortlich sein kann. Dies soll mit Blick auf eine ökonomische Theorietradition geschehen, die von der Idee des ‚History matters!‘ lebt, aber deutlich – eben theoretisch! – darüber hinausgeht: der von dem Wirtschaftshistoriker Paul David (1985) und dem Modelltheoretiker W. Brian Arthur (1994) entwickelte Theorie der Pfadabhängigkeit. Diese Theorie ist in sozialwissenschaftlich renovierter Form von Kathleen Thelen (1999), Paul Pierson (2000), Jim Mahoney (2000) und anderen auf politische Systeme und – ein weiterer Bezug zum Wuppertal der 90er Jahre, als neben Klaus Türk auch Günther Ortmann und ich dem Wuppertaler Fachbereich angehörten – von Ortmann (1995) in „Formen der Produktion“ erstmalig auf Organisationen bezogen worden. Im Rahmen des am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin angesiedelten Graduiertenkollegs „Pfade organisatorischer Prozesse“ (www.pfadkolleg.de) wird diese sozialwissenschaftlich rekonzeptualisierte Theorie der Pfadabhängigkeit auf der Basis theoretischer und empirischer Studien zurzeit weiter entwickelt. Auf diese am Pfadkolleg insbesondere mit Georg Schreyögg und Jochen Koch betriebene Theoriearbeit (vgl. Schreyögg et al. 2003; Sydow et al. 2009; Schreyögg/Sydow 2009) werde ich im Folgenden Bezug nehmen. Zunächst aber möchte ich kurz an die mittlerweile nun schon nahezu klassische Forschung zur Pfadabhängigkeit erinnern (Abschnitt 2), sodann auf das empirische Phänomen der Pfadabhängigkeit zwischen Organisationen, insbesondere in Unternehmungsnetzwerken, eingehen (Abschnitt 3) und dann – einer typisch betriebswirtschaftlichen Sichtweise folgend – Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen eines „Pfadmanagements“ in solchen Systemen stellen und dabei insbesondere auf das Phänomen der Brechung von Pfadabhängigkeiten zwischen Organisationen eingehen (Abschnitt 4). Ich schließe mit wichtigen Schlussfolgerungen und anstehenden Herausforderungen (Abschnitt 5). Um in Anspielung auf den doppelsinnigen Titel dieses Bandes sowie zur Verabschiedung von Klaus Türk an der Bergischen Universität veranstalteten Kolloquiums ein Ergebnis vorwegzunehmen: es geht selbstverständlich um die
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Organisation von Ökonomie, aber auch und besonders um die Ökonomie der Organisation, weil – trotz aller sozialwissenschaftlichen oder sozialtheoretischen Rekonzeptualisierung – das Argument, wie in Organisationen Geschichte (auch) Bedeutung erlangt, im Folgenden ein im Kern Ökonomisches bleibt: über den Mechanismus der ‚increasing returns‘. 2. Small Events, Critical Junctures, Lock-ins, vor allem aber positive Selbstverstärkung: Die Theorie der Pfadabhängigkeit Auf die Bedeutung genau dieses Mechanismus stellen schon David (1985) und Arthur (1994) ab, als sie die Persistenz bestimmter Technologien wie der QWERTY-Tastatur erklärt und mit dem Begriff des Lock-in belegt haben. In aller Kürze lautet das Argument (vgl. dazu ausführlicher Schreyögg et al. 2003: 260 ff.): Ein kleines, kontingentes, manchmal sogar zufälliges Ereignis (small event) löst einen Prozess aus, der ab einem bestimmten Moment (critical juncture) sich selbst positiv verstärkt, die Handlungsoptionen zunehmend einengt und potenziell in eine Verriegelung (lock-in) mündet, die zwar kurzfristig noch effizient sein mag, in strategischer Hinsicht aber durchaus problematisch ist. Die Entwicklung der Tastaturanordnung, wie wir sie noch heute von Laptop, Notebook und Handheld kennen, ist ursprünglich gewählt worden, um das Verklemmen der Typenhebel bei zu schnellem Schreiben zu vermeiden (vgl. David 1985). Der technologische Pfad entstand allerdings erst, als die Serienfertigung von Schreibmaschinen Skalenerträge (economies of scale) ermöglichte und die sinkenden Preise zu einer weiteren Verbreitung der Schreibmaschine beitrugen. Dass sich diese und keine andere Technologie durchsetzte ist jedoch der Tatsache zu verdanken, dass die Schreibmaschine mit der QWERTYTastatur bereits in den 1890er Jahren „an element of a larger, rather complex system of production“ (David 1985: 334) geworden war. Dieses bestand nicht nur aus einer zunehmenden Zahl von Anbietern und Nachfragern, sondern aus den Schreibkräften selbst, die ihre Tippfähigkeit auf diese Tastatur hin optimiert hatten sowie aus der zunehmenden Zahl öffentlicher und privater Institutionen, die die Adoption und Diffusion dieser Technologie (nicht zuletzt durch Schulung) unterstützten. Von vielfältigen technischen, auch und gerade technisch überlegenen Alternativen herausgefordert (s. auch Ortmann 1995: 255 ff.), leben wir noch heute mit der QWERTY-Tastatur – bzw. im deutschsprachigen Raum der QWERTZ-Anordnung. Erst die nun möglich werdende Spracherkennung dürfte die Dominanz dieses Designs bedrohen, gleichwohl aber diese Technologie nicht vollständig ablösen.
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Die positive Selbstverstärkung, die für die Herausbildung des QWERTYPfades verantwortlich ist, ist im Kern eine von ‚increasing returns‘, aber schon David führt sie in seiner klassischen Studie auf drei Mechanismen zurück: Zu den für die ‚increasing returns‘ vor allem verantwortlichen Skalenerträgen tritt noch technische Verwobenheit (technical interrelatedness) der Hard- und ‚Soft‘-Ware sowie, damit zusammenhängend, die Quasi-Irreversibilität (quasiirreversibility) der Investitionen in die Entwicklung von Schreibfertigkeiten hinzu. Heute wird, wie gleich gezeigt wird, der Katalog relevanter Mechanismen – zumal mit Bezug auf Pfadabhängigkeiten in und zwischen Organisationen – noch weiter gefasst. 3. Von Persistenzen und Pfadabhängigkeiten zwischen Organisationen Begnügte sich David (1985) noch mit der Herausarbeitung dieser drei Mechanismen, wurde die Liste für die Entstehung von Pfadabhängigkeit verantwortlicher Mechanismen tatsächlich ständig ausgeweitet. Den zurzeit umfangreichsten Katalog hat Jürgen Beyer (2005) vorgelegt, der selbst Legitimität und Macht dazu zählt. Ohne an dieser Stelle die Diskussion über die Angemessenheit dieser Mechanismen und ihre Abgrenzung führen zu wollen (s. auch Sydow et al. 2009), sei hier festgehalten, dass ein wesentlicher Grund für die Ausweitung der Zahl der Mechanismen die Verbreiterung der Anwendungsdomäne der Theorie der Pfadabhängigkeit zu sein scheint. Mit ihr wird heute nämlich nicht nur das Beharrungsvermögen von wirtschaftlichen und politischen Institutionen (North 1990; Pierson 2000; Martin/Sunley 2006) erklärt, sondern auch die Schwerfälligkeit von Organisationen und selbst interorganisationalen Beziehungen und Netzwerken (vgl. Ortmann 1995; Schreyögg et al. 2003; Sydow 2007; Sydow/Lerch 2007; Schüßler 2009; Sydow et al. 2009; Koch i.D.). Letztere stehen im Folgenden ob der Bedeutung, die sie in den letzten Jahren gewonnen haben, im Vordergrund. Hinzu kommt, dass mit ihnen gemeinhin eine große Flexibilität und Adaptivität assoziiert wird. Dies ist aber, wie in diesem Beitrag gezeigt wird, nicht immer der Fall.
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3.1 Strukturelles Beharrungsvermögen oder organisationale Pfadabhängigkeit? Tatsächlich gibt es in der Management- und Organisationsforschung, vor allem der angelsächsischen, zahlreiche Hinweise auf Pfadabhängigkeiten zwischen Organisationen. Inkpen und Ross (2001) etwa beobachteten die Persistenz von angeblich gerade oft aus Flexibilisierungsgründen eingegangenen strategischen Allianzen und führen sie auf (versunkene) Kosten der Allianzbildung, auf reduzierte Möglichkeiten der Partnerwahl aufgrund von Bandwagon-Effekten und potenzielle Kosten der Allianzauflösung zurück (s. auch Patzelt und Shepherd 2008). Vor kurzem wurde sogar der Begriff der ‚network inertia‘ (Kim et al. 2006) bemüht, um das strukturelle Beharrungsvermögen von Netzwerkorganisationen zu thematisieren, denen anscheinend – und dies zu Recht – in dieser Hinsicht nicht mehr alles zugetraut wird. Lavie und Rosenkopf (2006) sprechen wie viele andere auch sogar explizit von Pfadabhängigkeiten, die sich bei strategischen Allianzen im Zusammenhang mit Explorations- und Exploitationsbemühungen herausbilden, meinen damit letztlich aber ebenfalls nur Persistenzen. Insoweit bleibt erstens unklar, ob es hier wirklich um mehr als bloßes strukturelles Beharrungsvermögen geht und zweitens, woraus dieses dann resultieren mag. Ein Teil des interorganisationalen Beziehungen und Netzwerken zuzuschreibenden Beharrungsvermögens resultiert dabei ganz offensichtlich aus der Tatsache, dass in solchen Netzwerken Organisationen zusammenarbeiten, deren organisationales Beharrungsvermögen – mit seinen positiven wie negativen Folgen – seit den populationsökologischen Studien von Hannan und Freeman (1977 bzw. 1984) vielfach untersucht worden ist. Dieses hat seine Wurzeln vor allem in organisationalen Routinen, begrenzten Erfahrungen und herrschenden Interessen, aber eben auch in organisationalen Pfadabhängigkeiten in Form sich positiv selbst verstärkender Prozesse. Anschauliche Beispiele für letztgenannte sind • das ‚single-loop learning‘ (vgl. Argyris 1976), das eine Verbesserung des einmal eingeschlagenen Lernpfades impliziert, nicht aber die Reflektion auf diesen Pfad, • der Theorie X-Loop, der den einmal eingeschlagenen Weg fragmentierter Arbeitsorganisation und direktiver Weisung dadurch verfestigt, dass er die Arbeitenden in genau dieser Art und Weise prägt – und in Folge vom Management weiter festgeschrieben wird sowie • die typischerweise bloß lokale Suche nach Lösungen, die ‚Betriebsblindheit‘ und ‚group think‘ (vgl. Janis 1982) auslösen und damit zu verstärkt lokaler Suche führten (s. auch Schreyögg et al. 2003: 269 ff.).
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Auch das möglicherweise als tatsächliche organisationale Pfadabhängigkeit im engeren Sinne zu identifizierende Beharrungsvermögen von Organisationen lebt potenziell in interorganisationalen Netzwerken weiter fort, weil sich dieselben in dieser Organisationsform ökonomischer Aktivitäten zwar womöglich etwas anders ausrichten, aber eben nicht auflösen. Dies gilt selbst dann, wenn Organisationen dazu tendieren, gerade in verkrusteten Strukturen bearbeitete Funktionen oder Prozesse (quasi) zu externalisieren (vgl. Sydow 1992) und die Rede von ‚grenzenlosen‘ Organisationen im Diskurs über Netzwerke und manch andere vermeintlich postmoderne Organisationsform nicht zuletzt deshalb durchaus verbreitet ist (vgl. Blecker 1999). Im Gegenteil lautet ein bislang nicht bestrittener empirischer Befund: Die Positionierung einer Organisation in einem rigiden Netzwerk stellt eine zusätzliche Quelle potenzieller Pfadabhängigkeiten dar (vgl. Walker et al. 1997). Unabhängig vom Beharrungsvermögen der in Netzwerken – nicht zuletzt auch zum Zwecke kollaborativer Innovation – zusammenarbeitenden Organisationen ist allerdings auch mit einem in den interorganisationalen Beziehungen zu verortenden, relationalen Beharrungsvermögen von Netzwerken zu rechnen. Dieses resultiert nicht nur aus transaktionsspezifischen, deshalb oft nicht reversiblen Investitionen der Netzwerkpartner in Anlage- und Humanvermögen (Williamson 1985), sondern auch aus dem praktischen Organisieren, beispielsweise dem Schaffen der für die Sicherung von Wettbewerbsvorteilen durch und in der Netzwerkorganisation so wichtigen interorganisationalen Routinen (vgl. Dyer/Singh 1998; Duschek 1998, 2002: 256 ff.; Schreyögg et al. 2004; Mante/Sydow 2009). Tatsächlich ist die Bedeutsamkeit gerade von Routinen, etwa im Zusammenhang mit der Selektion neuer Partner, bereits als relationale Pfadabhängigkeit apostrophiert worden. So zeigt sich in einer Untersuchung von Stan Xiao Li und Timothy Rowley (2002), dass aufgrund einer schon getroffenen Wahl die Tendenz besteht, wieder und wieder dieselben Partner zu wählen. Diese typischerweise bloß ‚lokale‘ Suche nach neuen Partnern könnte zwar einer rationalen Logik folgen, die auf die Bedeutung von (Vor-) Kenntnissen über und Erfahrungen mit den in Frage kommenden Partnerorganisationen und auf die Einsparung von Such- und anderen Transaktionskosten setzt. Vieles spricht jedoch dafür, dass sie oft Ausdruck einer Pfadabhängigkeit ist, in deren Folge die Frage der Selektion und Re-Selektion von Partnern eben nicht (mehr) reflexiv, sondern routinisiert angegangen wird. Dies ist besonders problematisch, wenn zum Beispiel von Lori Rosenkopf und Paul Almeida (2003) in der Zusammenarbeit mit Dritten ein Ausweg aus einer zu lokalen Suche nach Wissen in der Organisation gesehen wird. Die wiederholte Anwendung und die auf diese Art und Weise zu begründenden positiven Rückkopplungen (z.B. in Form von Lerneffekten) füh-
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ren jedenfalls zu Pfadabhängigkeiten in Netzwerken – auch wenn vielleicht nicht in dem gerade in bürokratischen Organisationen zu erwartenden Ausmaß. Ein Stück weit dokumentieren auch Indre Maurer und Mark Ebers (2006) das rekursive Zusammenspiel intra- und interorganisationaler Persistenzen in ihrer Studie von sechs Biotechnologie-Start-ups. Das in relationaler, struktureller und kognitiver Einbettung der Start-ups repräsentierte Sozialkapital hilft den Unternehmungen zunächst im Gründungs- und Wachstumsprozess, Kontakte zu schließen und Ressourcen zu mobilisieren. Allerdings wird genau dieses Kapital für sie später zur Last und führt in ein relationales und/oder kognitives Lock-in (vgl. Gargiulo/Benassi 1999); es sei denn, es gelingt den Start-ups, diesen Tendenzen durch ein effektives Beziehungsmanagement erfolgreich gegenzusteuern. Diese genannten Untersuchungen gehen zwar wie einige weitere deutlich über die bloße Feststellung hinaus, dass die Geschichte (auch) in der Entwicklung von Netzwerkorganisationen eine Rolle spielt, also beispielsweise die Wahrscheinlichkeit eine Allianz einzugehen mit der Tatsache steigt, dass bereits früher eine entsprechende Allianzbeziehung aufgenommen worden ist (vgl. Gulati/Gargiulo 1999). Allerdings sind auch diese über ‚history matters‘Konzeptualisierungen hinausgehenden Studien nicht wirklich pfadtheoretisch angelegt. Das allerdings wäre wichtig, wenn in der interorganisationalen Zusammenarbeit – wovon auszugehen ist – tatsächlich Pfadabhängigkeiten entstehen und die auch als solche ausgewiesen und erklärt werden müssen. Weder wird von diesen Studien nach kritischen, prozesswirksamen Ereignissen (small events) gefragt noch etwaige Verriegelungen (lock-ins) wirklich dingfest gemacht; schon lange nicht wird von ihnen akribisch den für die Pfadtheorie konstitutiven Selbstverstärkungsmechanismen nachgegangen, die ab einem zu bestimmenden Moment (critical juncture) für die Persistenz verantwortlich sind. Erst vereinzelt werden neben den genannten Lerneffekten netzwerktypische Mechanismen wie die soziale Einbettung (social embedding), die vorzugsweise Vernetzung mit Akteuren, mit denen man bereits zusammengearbeitet hat (repeated ties) oder die bereits über zahlreiche Beziehungen verfügen (preferential attachment), und die Vermutung, dass Organisationen eine Vielfalt an Beziehungen anstreben um die Erreichbarkeit ihrer Partner zu sichern (multiconnecitivity), mit der Pfadabhängigkeit in Verbindung gebracht und damit als mögliche Quellen eine Lock-in diagnostiziert (vgl. Gulati/Gargiulo 1999; Duysters/Lemmens 2004; Maurer/Ebers 2006; Glückler 2007; Milanov/Fernhaber 2007). Mit diesen netzwerktypischen Bedingungen werden letztlich streng genommen allerdings noch keine selbstverstärkenden Mechanismen, sondern nur mögliche Ausgangspunkte und Ergebnisse ihrer Wirksamkeit benannt. Dieses aber wird erst deutlich, wenn man auf theoretischer Grundlage strukturelles
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Beharrungsvermögen – hier von Allianzen, Netzwerken und Joint Ventures – von der Pfadabhängigkeit der Entwicklung der sie kennzeichnenden interorganisationalen Beziehungen unterscheiden kann. Dies gelingt nur auf pfadtheoretischer Grundlage. 3.2 Theorien interorganisationaler Persistenz: Zwei klassische Beispiele Breit rezipierte Organisations- und Netzwerktheorien stellen entsprechend vor allem auf das strukturelle Beharrungsvermögen der entsprechenden Sozialsysteme ab, liefern bislang – trotz aller Vorarbeiten von David, Arthur, North, Mahoney, Pierson, Thelen und einigen anderen – keine wirklich pfadtheoretische Erklärung ihrer Persistenzen, die dann auch tatsächlich als Pfadabhängigkeiten im strengeren Sinne zu fassen wären. Dies sei am Beispiel einiger weniger Organisationstheorien, die manchmal auch als Interorganisations- oder gar Netzwerktheorien herhalten müssen, illustriert. Organisationstheorien sind in deutlich unterschiedlichem Maße in der Lage, den Prozess der Entwicklung entsprechender Persistenzen in und auch zwischen Organisationen zu erklären. Während wohl nur wenige Organisationstheorien als a-historisch zu klassifizieren sind, haben insbesondere soziologische Theorieansätze wie zum Beispiel der Neoinstitutionalismus eines Paul DiMaggio, Woody Powell oder Dick Scott (vgl. zum Überblick Türk 2000; Walgenbach/Meyer 2008) die geschichtliche Entwicklung von Organisationen – und auch von Interorganisationsbeziehungen – stets im Blick gehabt. Ein Konzept wie das der Institutionalisierung kann gar nicht umhin, die Bedeutung von Zeit und Geschichte im Prozess der Verfestigung und Sedimentierung von kognitiven und normativen Strukturen zu berücksichtigen. Dieser Prozess führt bekanntlich im Extremfall dazu, dass institutionalisierte Praktiken nicht mehr hinterfragt werden. Insbesondere in Verbindung mit dem verwandten Konzept des ‚imprinting‘ (vgl. Stinchcombe 1965), das auf die nachhaltigen Folgen initialer Bedingungen (hier bspw. der Gründung eines Joint Ventures oder einer strategischen Allianz) verweist, manchmal gar als eine Variante der Pfadabhängigkeit angesehen wird (vgl. Beckman/Burton 2008), wird die historische Kraft dieses Erklärungsansatzes mehr als deutlich. Eine pfadtheoretische Erklärung im engeren Sinne bietet dieser Ansatz jedoch genauso wenig wie die bereits oben erwähnte Populationsökologie, weil er auf die bloße Reproduktion und Verfestigung von Praktiken abstellt, nicht aber auf einen sich verengenden Prozess mit zunehmend eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass derartige Erklärungen von Persistenzen weniger nützlich seien. Vielmehr gilt es deutlich festzustellen, dass eine Theorie organi-
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sationaler Pfade immer nur bestimmte Arten von Persistenzen – eben durch positive Rückkopplungseffekte entstehende – erklären kann. Auch einige ökonomische Ansätze wie insbesondere die Transaktionskostentheorie (vgl. zum Überblick Picot et al. 2008) werden zunehmend sensibler gegenüber der Bedeutung von Zeit in der Entwicklung organisationaler und interorganisationaler Arrangements. Dies gilt zumindest für solche Transaktionskostenökonomen, die nach einer Dynamisierung dieses eigentlich komparativstatischen Ansatzes trachten und deshalb Entwicklung (bis hin zur Eskalation) transaktionsspezifischer Investitionen und entsprechender vertraglicher Commitments in den Blick nehmen – und zum Beispiel prognostizieren, dass aufgrund solcher Entwicklungen der Wechsel von einer Organisationsform zur anderen bzw. eine entsprechende Anpassung der gegenwärtigen Form für zukünftige Transaktionen erschwert, wenn nicht gar unmöglich ist (vgl. Langlois/Robertson 1995; Argyres/Liebeskind 1999; Leiblein/Miller 2003). Bei genauerer Analyse stellt sich allerdings heraus, dass es sich hierbei wiederum nicht um Pfadabhängigkeit im obigen Sinne handelt, es einmal mehr nur um die Herausbildung von interorganisationalen Persistenzen allgemein geht. 3.3 Theorie der (inter-) organisationalen Pfadabhängigkeit Im Unterschied zu diesen soziologischen wie ökonomischen Organisationstheorien versucht die Theorie organisationaler Pfadabhängigkeit nicht zu erklären, wie es zu einem allgemeinen Beharrungsvermögen von Organisationen sowie von interorganisationalen Beziehungen oder Netzwerken kommt, sondern tatsächlich zu Pfadabhängigkeiten im oben skizzierten Sinne als Ergebnis sich selbst verstärkenden Prozesse. Im Anschluss an den von David (1985) und Arthur (1994) eingeführten Begriff der Pfadabhängigkeit und unter Rückgriff auf entsprechende sozialwissenschaftliche Erweiterungen durch North, Mahoney, Pierson und Thelen wird diese Theorie am Pfadkolleg der Freien Universität nicht nur auf Prozesse in sondern auch zwischen Organisationen angewandt, um in empirischen Studien Verlaufsmuster zu identifizieren, die von einem kontingenten small event ausgelöst und ab einer critical juncture positiv verstärkt werden, sich in Folge die Handlungsoptionen immer stärker einengen und zumindest potenziell in ein lock-in münden, das zwar kurzfristig durchaus noch effizient sein mag, aus strategischer Sicht aber bereits als problematisch anzusehen ist. Dabei werden organisationale Pfade – in wie zwischen Organisationen – analytisch nicht nur von technologischen, sondern auch von instutionellen Pfaden unterschieden. Gleichwohl ist in der Praxis immer wieder von einem Zu-
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sammenwirken dieser Arten von Pfadabhängigkeiten auszugehen (vgl. z.B. – mit Blick auf regionale Cluster – Sydow/Lerch 2007: 200 ff.). Zudem dürfte eine Unterscheidung von organisationalen und instutionellen Pfaden im Einzelfall schwerfallen; nicht nur dann, wenn Organisationen als Institutionen aufgefasst werden. Pfadabhängigkeiten zwischen Organisationen dürften im Wesentlichen durch ähnlich gelagerte Ereignisse und selbstversärkende Prozesse zustande kommen wie in Organisationen sich deshalb nicht grundsätzlich letzteren unterscheiden.
Abb. 1: Die Konstitution eines organisationalen Pfades (Sydow et al. 2009) Die Konstitution eines organisationalen Pfades wird analytisch in drei Phasen unterschieden (s. Abb. 1). In der Phase I – der Preformationsphase – besteht ein noch breiter Handlungsspielraum, obwohl natürlich auch hier die Möglichkeiten von der Vergangenheit mitbestimmt werden. Eine einmal aus welchen Gründen auch immer gewählte Handlung – zum Beispiel die Festlegung auf einen bestimmten Kooperationspartner – mag sich dabei später als das tatsächlich oder auch nur vermeintlich entscheidende small event darstellen, von dem ein sich selbst verstärkender Prozess seinen Ausgang nimmt und das nur angesichts seiner später womöglich gravierenden Folgen als ‚klein‘ bezeichnet wird. In der Realität werden eher eine Vielzahl solcher Ereignisse zusammenwirken und als entsprehendes, den Pfad initiierendes Ereignisbündel angesehen werden müssen. Beispielsweise ist in dem schon angesprochenen QWERTY-Fall letztlich nicht entscheidbar, ob allein die Anordnung der Typenhebel zur Verlangsamung (!)
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der Schreibgeschwindigkeit oder zur Ermöglichung des werbekräftigen Schreibens von T-y-p-e-w-r-i-t-e-r auf einer Zeile der Tastatur oder aber das rasche Anlaufen der Massenproduktion oder das intensive Training der Schreibkräfte in den späten 1880er Jahren den entsprechenden Pfad ausgelöst hat (vgl. David 1985). Phase II, die Phase der eigentlichen Pfadabhängigkeit bzw. die Formationsphase beginnt mit genau dem critical juncture, von dem an der sich selbst durch positive Rückkopplungen verstärkende Prozess beginnt. Wie angedeutet, können diese positiven Feedbacks durch ‚increasing returns‘ verursacht sein, aber auch als Koordinations- und Komplementaritätseffekte oder Lern- und Erwartungseffekte daherkommen (vgl. Sydow et al. 2009). Im Ergebnis der Wirksamkeit eines oder mehrerer dieser Mechanismen verfestigt sich beispielsweise eine interorganisationale Routine. Gleichwohl ist diese selten alternativlos, jedoch bedarf es erheblicher und zunehmend größerer Anstrengung, den einmal eingeschlagenen organisationalen (Routine-) Pfad zu verlassen. Der Übergang zur Phase III – der Lock-in-Phase – ist durch eine weitere Einengung des Handlungskorridors gekennzeichnet. Das Auftreten einer entsprechenden Verriegelung in der gewählten Alternative – zum Beispiel die weitere Zusammenarbeit mit dem gewählten Partner – wird immer wahrscheinlicher. Noch mag das Lock-in in seiner Wirkung – zum Beispiel aufgrund weiter sinkender Koordinationskosten oder steigender Lernerträge – durchaus positiv sein. Weil das positive Lock-in jedoch in ein negatives umschlagen kann (s. auch Martin/Sunley 2006), etwa weil sich ein potenziell attraktiverer Kooperationspartner bietet, ist bereits das positive Lock-in aus strategischer Perspektive bereits problematisch. Während schon eine ganze Reihe von empirischen Untersuchungen zur Pfadabhängigkeit in und von Organisationen vorliegt (vgl. Dievernich 2007; Holtmann 2008; Jacobs 2009; Koch i.D.), harren Pfadabhängigkeiten in interorganisationalen Beziehungen und Netzwerken – anders auch als jene in regionalen Clustern (vgl. Grabher 1993; Fuchs/Shapira 2005; Martin/Sunley 2006; Sydow/Lerch 2007) und in ausgewählten Branchen (vgl. z.B. für den finnischen Einzelhandel Lamberg/Tikkanen 2006 und für die deutsche Bekleidungsindustrie Schüßler 2009) zu identifizierenden – weitgehend noch empirischer Analyse. Ein erstes Beispiel für die Untersuchung von interorganisationalen Pfadabhängigkeiten stellt eine Studie von Nils Kuschinsky (2008) dar, die am Beispiel kollaborativer Produktentwicklung von Automobilherstellern und Systemlieferanten untersucht, wie sich die Interorganisationsbeziehungen verfestigen und zunehmend schwerer zu lösen sind. Ausgelöst durch in bester Absicht getroffene strategische Entscheidungen (big statt small events) kommt es in den untersuchten Fällen durchweg dazu, dass nicht nur innerhalb eines Produkt-
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entwicklungsprojekts der Lieferant nicht mehr gewechselt werden kann, sondern es auch gerade nach einem erfolgreichen Projektverlauf immer unwahrscheinlicher wird, dass die Beziehung gelöst wird. In Folge verbessern sich die Routinen der Zusammenarbeit weiter (Koordinationseffekte), entstehen auf beiden Seiten Lerneffekte und wohl auch Komplementaritätseffekte. Alternativen bleiben dennoch generell verfügbar, so dass kein Lock-in im engeren Sinne entsteht. Gleichwohl fällt den Akteuren der Wechsel nicht nur innerhalb eines laufenden Projekts, sondern auch projektübergreifend schwer. Erwartungsgemäß ist die Wirkung eines Lock-ins im organisationalen Kontext jedoch weniger klar als im technologischen Bereich, obwohl er auch dort sozial überformt ist. Umgekehrt legen grundlegende technologische Neuerungen – man denke etwa an die Elektrifizierung des Antriebs – Veränderungen im Organisationalen nahe. Im Ergebnis dieser Studie erweisen sich Netzwerkbeziehungen als Ergebnis einerseits zwar intendierter Kooperation, andererseits aber auch als sich unintendiert einstellende zunehmend enge Kopplung von Beziehungen, ohne dass ein Ausbrechen im Sinne eines Wechsels so genannter Insupplier und ihr Ersatz durch Outsupplier damit unmöglich ist. Sowohl diese Studie als auch eine ebenfalls am Pfadkolleg erstellte Untersuchung zur Entstehung interorganisationaler Routinen in einem von zwei Unternehmungen getragenen Gemeinschaftsunternehmen (vgl. Mante/Sydow 2009) zeigen aber, wie methodisch schwierig es ist, Prozesse der Pfadabhängigkeit – und eben nicht nur der Herausbildung von Routinen oder anderen organisatorischen Persistenzen – in interorganisationalen Beziehungen und Netzwerken empirisch dingfest zu machen und zudem noch beispielsweise von einem bloßen ‚imprinting‘ zu unterscheiden. Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf, auch und gerade in methodischer Hinsicht. 4. Von der Betriebswirtschaftslehre gesucht: „Pfadmanagement“ Die Forschung zu organisationalen Persistenzen und allemal zu organisationalen Pfadabhängigkeiten träfe nicht auf soviel Interesse in betriebswirtschaftlicher Forschung und Praxis, wenn mit ihr nicht Hoffnungen auf Einsichten in die Möglichkeiten und Grenzen der Pfadgestaltung bzw. des Pfadmanagements verbunden wären. Betriebswirtschaftlich würde man erwarten, dass nicht nur technologische und institutionelle, sondern gerade auch organisationale und interorganisationale Pfade bewusst initiiert, kreiert, verlängert, umgelenkt oder eben auch beendet bzw. gebrochen werden können. Auf organisatonsübergreifender Ebene, im Netzwerk oder im Feld, würde man zusätzlich davon ausgehen, dass eine Pfadkonkurrenz geschaffen werden kann, die die Persistenz
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bestehender organisationaler und interorganisationaler Pfade immer wieder herausfordert. Allerdings muss man, allemal aus einer Managementperspektive, aufpassen, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten (s. auch Schreyögg et al. 2003; Ortmann 2009). Der Erkenntniswert der Theorie der organisationalen Pfadabhängigkeit für ein Pfadmanagement besteht gerade darin, Ansatzpunkte für Gestaltungshandeln aufzuzeigen, aber auch deutlich zu machen, wo Gestaltung kaum mehr eine Chance besitzt. In der Formationsphase (Phase II in Abb. 1) erscheint dabei eine Beeinflussung des Pfadverlaufs zweifelsohne einfacher als in der Lock-in-Phase (Phase III). Schwieriger schon ist zu ermitteln, wann es – und dies nicht nur aus dem strategischen Grund der Offenhaltung von Handlungsoptionen – zwingend wird, ein Lock-in aufzubrechen. Eine Zeit lang ist ja davon auszugehen, dass es durchaus ökonomisch (noch) positive Effekte hat, bevor sich dann eine ‚negative Pfadabhängigkeit‘ (vgl. Martin/Sunley 2006) durchsetzt. Die Theorie der organisationalen Pfadabhängigkeit kann und soll zwar helfen, einen praxismächtigen Blick auf das Phänomen zu eröffnen; gleichwohl wäre es von ihr zuviel verlangt, wenn sie konkrete Hinweise auf die Möglichkeiten und Grenzen des Pfadmanagements geben sollte. Zumindest zurzeit noch ist dazu ihr Entwicklungsstand in konzeptionell-theoretischer wie in empirischmethodischer Sicht nicht weit genug. Zudem sollte man sich vor Augen führen, dass wirkliche Pfadabhängigkeiten eben weder einfach zu vermeiden noch zu überwinden sind. Das Dilemma der organisationalen Pfadabhängigkeit ist ja gerade, dass sich diese Prozesse zum überwiegenden Teil hinter dem Rücken der Akteure einstellen. Es bedarf deshalb besonderer Anstrengung, den Blitz der Reflexivität hier einschlagen zu lassen und das entsprechende Problem den Akteuren offenkundig zu machen. Noch größerer Anstrengung bedarf es, wenn es gilt die dann vielleicht diagnostizierte Pfadabhängigkeit in ihrer Wirkmächtigkeit zu beeinflussen, gegebenenfalls sogar zu überwinden. Denn die Einsicht in die Pfadabhängigkeit einer Entwicklung ist eine zwar notwendige, keinesfalls aber eine hinreichende Bedingung für Veränderung. Die Brechung organisationaler – wie auch technologischer oder institutionaler – Pfadabhängigkeit bedarf vielmehr eines gehörigen Maßes an Macht, oft genug kollektiv zu mobilisierender Macht. Dies gilt selbstverständlich insbesondere in der Phase des Lock-ins. Paradoxerweise kann eine Netzwerkorganisation nicht nur – wie gezeigt – Quelle organisationaler wie relationaler Pfadabhängigkeiten sein, sondern auch zu deren Diagnose und – unter Umständen – Überwindung beitragen. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Aufnahme einer auf das Monitoring von Pfadabhängigkeiten spezialisierten und/oder darin besonders kompetenten Organisation in das Netzwerk oder an die in der Regel günstigeren
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Voraussetzungen, die eine Netzwerkorganisation im Vergleich zum Markt für kollektives und dadurch machtvolleres Handeln schafft. 5. Schlussfolgerungen und Herausforderungen Pfadabhängigkeit repräsentiert wahrlich nicht, dies dürfte deutlich geworden sein, die einzige Form, wie Geschichte in Organisationen und – hier im Zentrum: in interorganisationalen Beziehungen und Netzwerken – eine Rolle spielt. Gleichwohl repräsentiert organisationale Pfadabhängigkeit ein Beispiel für ‚strong history‘ (vgl. Page 2006), denn sie stellt nicht nur – wie beispielsweise Imprinting – auf die Bedeutung früherer Ergebnisse für gegenwärtige Entwicklungen ab, sondern auf die genaue zeitliche Ordnung der Vergangenheit. Unbeachtet dieser Unterscheidung wird dies manchem Organisationstheoretiker bzw. mancher Organisationstheoretikerin allzu sehr historisch argumentiert sein, für fast jeden Wirtschaftshistoriker bzw. jede Wirtschaftshistorikerin allzu theorielastig daherkommen. Aber genau in dieser Balance zwischen historischer Sensibilität einerseits und theorieorientierter Analyse anderseits liegt die Stärke der hier eingenommenen Prozessperspektive bzw. das Potenzial eines pfadtheoretischen Forschungsprogramms. Auf diese Weise wird es zum besseren Verständnis der Schwierigkeiten des Wandels von Organisationen und Interorganisationsbeziehungen beitragen, aber auch die Möglichkeiten für den Wandel realistischer ausloten helfen. Methodisch birgt dieses Programm erhebliche Herausforderungen in sich, geht es doch darum Entstehung und Verlauf pfadabhängiger Prozesse über einen oft sehr langen Zeitraum zu studieren. Dies ist regelmäßig nur im Rahmen von Intensivfallstudien möglich. Unter günstigen Bedingungen ergibt sich die Möglichkeit vergleichender Längsschnittstudien (vgl. Dobusch 2008). Mit Blick auf die Identifikation von organisationaler Pfadabhängigkeit in wie und auch zwischen Organisationen ist zwar zu vermerken, dass der Weg von einer komparativ-statischen zu einer stärker dynamischen und damit auch historisch sensibleren Netzwerkanalyse bereitet ist (vgl. Maurer/Ebers 2006; Sydow/Lerch 2007; insbes. aber Stark/Vedres 2006). Die Herausforderungen bei der Identifikation der wirklich für die Pfadentstehung kritischen Ereignisse, der tatsächlich wirksamen Selbstverstärkungsmechanismen sowie der aktuellen ‚Härte‘ des Lock-in sind allerdings noch zu meistern.
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Die funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft als Organisationsgesellschaft – eine theoretische Skizze Uwe Schimank
Wer die Moderne als Organisationsgesellschaft bezeichnet, sieht sich mindestens zwei gängigen Missverständnissen ausgesetzt.1 Das eine Missverständnis besagt, wer von Organisationsgesellschaft rede, meine damit, dass die ganze Gesellschaft oder zumindest ihre großen Teilbereiche wie Wirtschaft, Politik oder Religion als ein einziger Organisationszusammenhang begriffen werden könnten; abgeschwächt heißt es, Organisationsgesellschaft besage, dass die Gesellschaft – oder jedenfalls: alles, was an ihr wichtig ist – nur aus Organisation bestehe. Das andere Missverständnis unterstellt demjenigen, der von Organisationsgesellschaft spricht, dass das für ihn das primäre, alles weitere prägende Merkmal der Moderne darstelle. Auch wenn es einzelne Beobachter der Moderne gibt, die beide Behauptungen zumindest für bestimmte Phasen unterschreiben würden,2 wird üblicherweise mit dem Terminus Organisationsgesellschaft lediglich – das allerdings entschieden! – konstatiert: Fast alle gesellschaftlichen Teilbereiche sind mittlerweile in hohem Maße von formalen Organisationen durchdrungen, in denen große Teile der Leistungsproduktionen der Teilbereiche – Güter und Dienstleistungen 1 2
Siehe als Überblicke Schimank (2001) sowie aktueller Tyrell/Petzke (2008), die allerdings die gleich geschilderten Missverständnisse teilweise mit transportieren. Streng genommen findet sich allerdings nur bei Charles Perrow (1989: 3/4) die vollmundige These: „… meine zentrale Behauptung ist, dass die Organisationen die Gesellschaft einverleibt haben.“ Siehe ferner Perrow (2002: 1, 3): „… the most important feature of our social landscape is the large organization, public or private. … once large bureaucracies are loosed upon the world, much of what we think of as causal in shaping our society – class, politics, religion, socialization and self-conceptions, technology, entrepreneurship – becomes to some degree, and an increasing degree, and a largely unappreciated degree, shaped by organizations.” Seine im Einzelnen durchaus aufschlussreichen historischen Nachzeichnungen der gesellschaftlichen Dynamik des “organizing America” können diese starken Thesen allerdings in keiner Weise belegen oder auch nur plausibel machen. Schon Max Webers (1922: 124-130, 551-579) Diagnose der „bürokratischen Herrschaft“ als unentrinnbarer Schicksalsmacht der Moderne und die Zuspitzung im von der Kritischen Theorie gezeichneten Bild der „verwalteten Welt“ (Adorno 1953) sahen hinter der Organisationsgesellschaft mit Rationalisierung bzw. Kapitalismus die eigentlichen Triebkräfte des gesellschaftlichen Geschehens.
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in Unternehmen, Bildungsleistungen in Schulen und Hochschulen, Forschungsleistungen in Instituten und Universitäten etc. – stattfinden; und dieser Tatbestand ist eines von mehreren zentralen Merkmalen der Moderne. Die erste Feststellung ist leicht überprüfbar, indem man die Gegenprobe macht: Wo gibt es überhaupt noch wesentliche Teile der Leistungsproduktion außerhalb von Organisationen? Am wichtigsten sind hier sicher die Intimbeziehungen einschließlich der Kindererziehung sowie größere Teile der Kunstproduktion. Dies sind ersichtlich – freilich interessante – Ausnahmen von der Regel einer weitgehend flächendeckenden organisatorischen Durchdringung der modernen Gesellschaft. Anstatt nun aber diesen unleugbaren Tatbestand zum Generalschlüssel der Moderne zu erheben, aus dem alle weiteren wichtigen gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken abgeleitet werden können, muss und kann man das Konzept Organisationsgesellschaft neben andere analytische Perspektiven stellen, die dann etwa – so meine eigene Präferenz, und in alphabetischer Reihung – funktionale Differenzierung, Entscheidungsförmigkeit des Handelns, Kapitalismus und Rationalisierung als weitere Grundcharakteristika ins Rampenlicht rücken. Wichtig bei einem solchen mehrdimensionalen Gesellschaftsverständnis ist, dass man sich Schritt für Schritt ein Verständnis der Wechselwirkungen zwischen den Grundcharakteristika, und damit auch des relativen Gewichts der einzelnen Charakteristika, erarbeitet;3 und natürlich hängt es von dem jeweils zu klärenden gesellschaftstheoretischen Rätsel ab, welche der Charakteristika in Verbindung mit welchen weiteren Variablen in spezifische analytische Erklärungsmodelle eingebaut werden. Jenseits oberflächlicher Adaptionen des bisweilen höchst vage gebrauchten Begriffs der Organisationsgesellschaft, wie sie immer mal wieder Konjunktur haben, ist Klaus Türk (1995; 1997; 1998) derjenige, der auf der Linie des eben Geforderten weitgespannte und vielschichtige theoretische Überlegungen vorgelegt und dann auch mit historischer Empirie unterlegt hat (vgl. Türk et al. 2002), die ein Verständnis der Moderne unterbreiten, aus dem Organisationen nicht wegzudenken sind. Es geht ihm dabei um die wechselseitige Konstitution von Organisation und moderner Gesellschaft. Er begreift zum einen Organisation eingebettet in einen sie prägenden gesellschaftlichen Kontext; zum anderen sieht er dies in umgekehrter Wirkrichtung mit der schon angesprochenen organisatorischen Durchdringung fast aller Gesellschaftsbereiche zusammen:
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Es ist also ein – hoffentlich! – durchaus falscher Eindruck, wenn Tyrell/Petzke (2008: 453) mir unterstellen, ich könne deshalb so schnell von der „Organisations-“ zur „Entscheidungsgesellschaft“ überlaufen, weil nur ein „geringer Aufwand an Begriffsbildung“ mich an Erstere bände.
Die funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft als Organisationsgesellschaft
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„(1.) Als Teilkontexte des gesellschaftlichen Ganzen lassen sich Organisationen nur in Relation zu den gesamtgesellschaftlichen Eigenheiten bestimmen und verstehen; in den organisationalen Kontexten selbst müssen die wesentlichen Momente der gesamtgesellschaftlichen Eigenheiten aufweisbar sein; (2.) da Organisationen selbst wesentliche strukturelle Momente der Gesellschaft sind, muß zeigbar sein, worin das strukturierende Moment der Organisationsform (der Organisationen) im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft liegt.“ (Türk 1997: 127)
Nicht wenige Theorieangebote zum Verständnis der modernen Gesellschaft blenden zwar Organisationen nicht völlig aus, stellen sie aber keineswegs ins Zentrum, sondern führen sie lediglich als einen Posten neben anderen in einer additiven Merkmalsliste auf. Das geht – so Türks Ausgangspunkt – nicht. Auf die Frage: „Worin bestehen denn nun die wesentlichen Strukturen der modernen Gesellschaft?“ lautet seine Antwort: „Wenn ich eine solche Zusammenschau wage, sind es vor allem drei Strukturmerkmale, die m.E. zusammengedacht werden müssen.“ (Türk 1998: 2) Und dann führt er funktionale Differenzierung, kapitalistische Produktionsweise und Organisation auf. Für ihn erschließt sich das gesellschaftliche Geschehen in der Moderne vorrangig aus dem Wechselspiel dieser drei Grundcharakteristika. Er scheint manchmal sogar so weit zu gehen, dass hierbei Organisation den hervorstechenden Faktor darstellt: „Auf der Ebene der gesellschaftlichen Strukturen behaupten wir eine strukturelle Dominanz formaler Organisationen.“ (Türk 1998) Neben zwei weiteren Begründungen, die er für diese Dominanz gibt, ist hier die dritte These von besonderem Interesse: „Organisationen sind unter dem Gesichtspunkt der Initiierung weiterer gesellschaftlicher Strukturen dominant: Organisationsvermittelt werden auch andere, die einzelnen Organisationen übergreifende Strukturen angeregt: ideologische Grundstrukturen des politischen Systems, Marktstrukturen, Strukturen des Gesundheitssystems, Strukturen gesellschaftlicher Differenzierung, Strukturen gesellschaftlicher Aufmerksamkeit für bestimmte Themen oder Probleme, um … nur einige Beispiele zu nennen.“ (Türk et al. 2002: 40, Hervorheb. weggel.)
Abgesehen davon, dass dies eine wenig systematische Auflistung ist, in der immerhin die beiden anderen Grundcharakteristika auch wieder auftauchen, käme es nun entscheidend darauf an, genauer zu fassen, was ‚Initiierung‘ bedeutet. Offenbar mit Bedacht wird nicht davon gesprochen, dass die Organisationen die genannten und weitere Gesellschaftsstrukturen produzieren oder nachhaltig prägen – aber wie weit geht dann das, was mit ‚Anregung‘ umschrieben wird, und was hat man sich überhaupt darunter vorzustellen? An anderen Stellen schildert Türk das Zusammenwirken der drei Grundcharakteristika der Moderne gleichrangiger, legt sich also auf keine Dominanz von Organisation fest. Einige Formulierungen, etwa in Türk (1997: 161-176), könn-
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ten auch so gelesen werden, als läge die ‚strukturelle Dominanz‘ bei der kapitalistischen Produktionsweise – siehe schon die Überschrift: „Organisationen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation.“ Das klingt zumindest, als sei diese jenen vorgeordnet – etwa in der Weise, dass Organisationen ein Erfordernis, damit also ein Mittel, zur Durchsetzung und Stabilisierung des Kapitalismus seien. Nur das dritte Merkmal – die funktionale Differenzierung – zieht Türk nicht als Kandidaten für ‚strukturelle Dominanz‘ heran. Das liegt zum einen daran, dass er hinsichtlich der Differenzierungsform der Moderne – anders als die differenzierungstheoretische Standarddarstellung – keinen Primat funktionaler Differenzierung sieht, sondern die ‚stratifizierende Differenzierung‘ als gleich starkes Moment behauptet (vgl. Türk 1995: 166-170). Zum anderen begreift Türk zumindest in manchen Überlegungen beide Differenzierungsstrukturen als abgeleitete Merkmale von Kapitalismus: „‚Funktionale Differenzierung‘ und ‚Stratifikation‘ bezeichnen zwei zentrale Dimensionen, in denen sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse verkörpern: Die für die moderne kapitalistische Gesellschaftsformation typischen ausdifferenzierten Bedeutungskonstellationen mit realabstraktiven Kommunikationen finden ihren Ausdruck in der Kategorie der funktionalen Differenzierung.“ (Türk 1995: 167 f.)
Ohne den Denkweg Türks im Dreieck von Organisation, funktionaler Differenzierung und Kapitalismus nun im Einzelnen nachzeichnen und kritisch würdigen zu wollen, möchte ich stattdessen sogleich meinen eigenen Gegenvorschlag – soweit ich damit bislang gekommen bin – präsentieren. In Übereinstimmung mit Türk versuche ich hier ebenfalls, die Moderne und ihre Dynamiken analytisch als Wechselspiel der genannten drei Strukturmerkmale zu modellieren. Aber anders als bei ihm ist bei mir die funktionale Differenzierung der Moderne dasjenige Merkmal, von dem her sich die beiden anderen Merkmale erschließen lassen. Funktionale Differenzierung hat für mich, ohne sie verabsolutieren zu wollen, den analytischen Primat. Obwohl das so ist, werde ich im vorliegenden Beitrag, parallel zu Türk, das Hauptaugenmerk auf Organisation legen und die anderen beiden Charakteristika nur dahingehend betrachten, wie sie zum Verständnis der Moderne als Organisationsgesellschaft beitragen. Salopp formuliert lautet meine Leitfrage: Für welches Problem der Moderne ist die Organisationsgesellschaft die Lösung? Meine Antwort lautet: Nur als Organisationsgesellschaft kann die Moderne zugleich eine funktional differenzierte und eine kapitalistische Gesellschaft sein und dauerhaft bleiben. Andersherum formuliert: Weil funktionale Differenzierung zwangsläufig Kapitalismus sozusagen als Geburts-
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fehler impliziert, ist ihr dauerhafter Bestand nur bei gesellschaftlicher Durchorganisierung möglich.4 1. Lohnarbeit und die Geldabhängigkeit von Arbeitsorganisationen Ich starte meine Überlegungen auf der Organisationsebene. Die Moderne kennt zwei Grundtypen formaler Organisationen: Arbeits- und Interessenorganisationen (vgl. Schimank 2000: 306-322).5 Interessenorganisationen wie Vereine aller Art oder politische Parteien konstitutieren sich über einen Prozess der ‚Ressourcenzusammenlegung‘ als freiwillige Zusammenschlüsse von Personen mit gemeinsamen substantiellen Interessen (vgl. Coleman 1974; Vanberg 1982: 8-22).6 Dahinter steht das Kalkül, durch diese Bündelung individueller Einflusspotentiale die Interessen kollektiv besser verfolgen zu können als je individuell isoliert. Dieser Organisationstyp begann in dem Maße aus dem Boden zu schießen, wie die Moderne Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit institutionalisierte, also vor allem im Zuge der Ausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit und politischen Demokratie. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft führte zur Entstehung teilsystemspezifischer Publika, die teilweise im öffentlichen Raum auftreten und sich dann wiederum teilweise auch in Interessenorganisationen wie Kunst- oder Sportvereinen wiederfinden (vgl. Burzan et al. 2008). Ferner brachte der gesamtgesellschaftliche Primat der kapitalistischen Ökonomie, wie noch erläutert werden wird, als Gegengewicht alle Arten von politischen Interessenorganisationen, insbesondere auch Gewerkschaften und politische Parteien, hervor. Insofern gibt es unübersehbare Bezüge von Interessenorganisationen zu funktionaler Differenzierung und Kapitalismus, denen ich aber hier nicht weiter nachgehen will. Ich werde mich vielmehr auf den anderen Organisationstyp und dessen Bedeutung im Dreieck von Organisationsgesellschaft, funktional differenzierter und kapitalistischer Gesellschaft konzentrieren. Denn Arbeitsorganisationen sind weit überwiegend diejenigen Organisationen, die die teilsystemischen Leistungsproduktionen erbringen; nur 4
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Hier darf kein funktionalistischer Fehlschluss hineingelesen werden: Die Durchorganisierung hat nicht stattgefunden, um die funktionale Differenzierung mitsamt Kapitalismus aufrecht zu erhalten. Sondern: Wenn die Durchorganisierung, die – aufgrund welcher, hier nicht anzusprechender Ursachen auch immer – geschehen ist, nicht passiert wäre, hätte dies für die funktionale Differenzierung eine Existenzkrise bedeutet. Beide haben Vorläufer in vormodernen Gesellschaften, auf die ich hier genauso wenig eingehen muss wie auf heutige Mischtypen – etwa selbstverwaltete Betriebe oder solche zumeist größeren Interessenorganisationen, die sich teilweise bezahlter Arbeit bedienen. Dieser Konstitutionsmodus liegt nicht nur Interessenorganisationen als korporativen Akteuren, sondern auch z.B. sozialen Bewegungen als kollektiven Akteuren zugrunde.
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im Teilsystem des Sports werden die Leistungen in erheblichem Maße von Interessenorganisationen erbracht.7 Und um diese Leistungsproduktionen geht es letzten Endes im Wechselspiel von funktionaler Differenzierung und Kapitalismus, wie noch deutlich werden wird. Arbeitsorganisationen konstituieren sich, anders als Interessenorganisationen, nicht ‚von unten‘, sondern genau umgekehrt ‚von oben‘. Nicht Interessenübereinstimmung, sondern eine bestimmte Form der Interessenkomplementarität, die zu einem Tauschgeschäft genutzt werden kann, liegt Arbeitsorganisationen zugrunde. Es beginnt mit jemandem, der eine solche Organisation etabliert – ein Unternehmer oder eine andere Art von Träger wie eine Regierung, die ein Schulministerium einrichtet, oder ein Schulministerium, zu dessen Befugnissen die Gründung von Schulen gehört. Der Träger will mit der eingerichteten Organisation bestimmte Leistungen produzieren – als Unternehmer, weil er durch den Verkauf dieser Leistungen Gewinne erzielen will. Für diese Leistungsproduktion sucht der Träger nun Organisationsmitglieder, die daran mitarbeiten. Er geht aber nicht davon aus, dass sie sich aus freien Stücken dazu bereit finden, weil sie – wie bei einer Interessenorganisation – selbst unmittelbar von diesen Leistungen profitieren oder altruistisch geneigt sind, anderen diese Leistungen zur Verfügung zu stellen. Vielmehr stellt ihnen der Träger eine Bezahlung ihrer Leistungen in Aussicht. Weil sie die angebotene Bezahlung einer Nicht-Erbringung der dafür geforderten Arbeit vorziehen und der Träger umgekehrt lieber zahlt, als auf die Arbeit zu verzichten, kommt ein Tausch zustande. Arbeitsorganisationen beruhen somit auf Lohnarbeit und damit historisch vor allem auf der massenhaften „Expropriation des Landvolks von Grund und Boden“ (Marx 1867: 744-761).8 Familiale Subsistenzwirtschaft, eingebettet in feudale Gemeinschaften des ‚ganzen Hauses‘ (vgl. Brunner 1968) und lokale Herrschaftsverbände, wird abgeschafft, Arbeit wird ebenso wie Boden und Kapital zur ‚fiktiven Ware‘ (vgl. Polanyi 1944). Eine Dynamik, in der sich Wirtschaft, Intimbeziehungen und Politik gegeneinander ausdifferenzieren, führt dazu, dass Personen fortan ihre Arbeitskraft verkaufen und dabei lernen müssen, sie nach der Tauschwertlogik quasi-unternehmerisch einzusetzen;9 die Gegen7
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Ein Sonderfall ist das politische System, dessen Leistungen in erheblichem Maße erst einmal in der Produktion kollektiv bindender Entscheidungen bestehen, woran Interessenorganisationen stark beteiligt sind. Die Implementation der Entscheidungen erfolgt dann freilich wieder über Arbeitsorganisationen, vor allem in der öffentlichen Verwaltung; zudem sind die politischen Parteien und die meisten Interessenverbände schon längst stark durch verberuflichte Mitwirkung geprägt. Zur Geschichte der Lohnarbeit siehe Castel (1995). In einem grundsätzlichen Sinne sind moderne Arbeitnehmer damit immer schon „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß/Pongratz 1998) gewesen, auch wenn gewerkschaftliche Kartellbil-
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seite in Gestalt der Arbeitskraft nachfragenden Arbeitsorganisationen tut dies ebenfalls. Der dabei getauschte Gebrauchswert der Arbeit, das je spezifische Arbeitsvermögen einer Person, bleibt zwangsläufig – anders als bei einem Werkvertrag – eine ‚zone of indifference‘ (vgl. Barnard 1938: 167-169), was einerseits der Arbeitsorganisation unerlässliche Flexibilitäten des Arbeitseinsatzes ermöglicht, andererseits aber auch eine Kampfzone schafft, in der weit mehr als das von der ‚principal-agent‘-Perspektive herausgestellte ‚shirking‘ stattfindet (vgl. Ebers/Gotsch 1993: 203-216), etwa auch mit der Arbeitstätigkeit verbundene Identitätsansprüche erhoben werden (vgl. Schimank 1981; Wagner 2000). Lohnarbeit bedeutet, dass beide Seiten – sowohl die Personen als Arbeitskräfte als auch die Arbeitsorganisationen – chronisch geldabhängig sind. Für die Personen gilt: „Arbeit wird zur Möglichkeit, Eigentum zu gewinnen – und sei es nur: Eigentum an Nahrungsmitteln zum sofortigen Verzehr.“ (Luhmann 1988: 212) Um diese Möglichkeit – genauer gesagt: Notwendigkeit – zu realisieren, wenden sich Personen an Arbeitsorganisationen, die „… Arbeitsplätze bereitstellen, also Gelegenheit bieten, Geld zu verdienen.“ (Luhmann 1981: 401) Woher kriegen nun die Arbeitsorganisationen das Geld? Für im Wirtschaftssystem angesiedelte Unternehmen ist die Sache unmittelbar klar: Die gewinnorientierte Tätigkeit dieser Organisationen schafft über den Verkauf von Waren einen beständigen Geldzufluss, über den die Arbeitskräfte entlohnt werden. Andere in die gesellschaftliche Leistungsproduktion eingebundene Arbeitsorganisationen wie z.B. Straßenverkehrsämter, Universitäten, Krankenhäuser oder eine von einer Elterninitiative gegründete Kindertagesstätte haben demgegenüber in stark variierender Gewichtung zwei weitere Geldquellen: den Staat und ihre Leistungsabnehmer – wobei Letztere hier keinen Gewinnanteile enthaltenen Preis zahlen, sondern einen mehr oder weniger großen Anteil der anfallenden Kosten. Insbesondere die Bedeutung des Staates für die Finanzierung der Leistungsproduktionen in sämtlichen gesellschaftlichen Teilsystemen ist nicht zu unterschätzen. Teils tritt er dabei als organisatorischer Träger und damit zumeist Hauptfinancier, teils als Mitfinanzierer, teils als Finanzierungsgarant der jeweiligen Arbeitsorganisationen auf.10 Ein Blick auf die Wirtschaft zeigt zunächst
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dung der Arbeitskraftanbieter, solange sie erfolgreich ist, dieses Unternehmertum kollektiviert hat. Hier ist nur der – weit überwiegende – Teil derjenigen teilsystemischen Leistungsproduktionen aufgelistet, der in Arbeitsorganisationen stattfindet. Interessenorganisationen – Sportvereine bzw. politische Parteien – tragen, wie schon erwähnt, die Leistungsproduktionen des Breitensports und einen wesentlichen Teil der politischen Entscheidungsproduktion und werden dabei ebenfalls staatlich finanziell unterstützt. Nachrichtlich schließlich sei vermerkt, dass auch die nicht organisationsförmige Leistungsproduktion der Intimbeziehungen auf vie-
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nicht wenige und teilweise bedeutende Staatsunternehmen sowie beträchtlich staatliche Subventionen für Unternehmen aller Branchen – ganz zu schweigen von den Ausfallbürgschaften und Krediten, die in der derzeitigen tiefen Weltwirtschaftskrise an Unternehmen, insbesondere Banken, fließen. Darüber hinaus ist – hier nur für Deutschland und ohne zahlenmäßige Größenordnungen – zu registrieren: • Im politischen System ist die gesamte öffentliche Verwaltung in staatlicher Trägerschaft, nur teilweise werden die Kosten der Leistungsproduktion in Gestalt von Gebühren durch die Leistungsabnehmer, seien es Individuen oder Organisationen, mitgetragen. • Das Militär ist vollständig in staatlicher Trägerschaft. • Im Rechtssystem ist das Gerichtswesen als Zentrum dieses Teilsystems vollständig in staatlicher Trägerschaft, die Leistungsabnehmer zahlen in Form von Gebühren oder Strafgeldern nur den geringeren Teil der anfallenden Kosten. • Im Wissenschaftssystem sind die Universitäten und außeruniversitären Institute in staatlicher Trägerschaft, und die Industrieforschung erhält erhebliche staatliche Subventionen. Auch von den zusätzlich eingeworbenen Drittmitteln der staatlich getragenen Einrichtungen entfällt ein ganz erheblicher Anteil auf Staatsgelder. • Im Journalismus gibt es den gewichtigen Sektor des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der sich in hohem Maße über staatlich zu genehmigende Gebühren der Leistungsabnehmer finanziert. • Im Religionssystem finanzieren sich die großen christlichen Kirchen über eine staatlich gewährte und eingetriebene Sondersteuer. • Im Kunstsystem sind bestimmte Einrichtungen wie Museen oder Schauspielhäuser überwiegend in staatlicher Trägerschaft, hinzu kommen Subventionen für viele andere Organisationen. Es gibt in Form von Eintrittsgeldern eine Beteiligung der Nutzer an den Kosten. • Im Bildungssystem ist von den Kindergärten bis zu den Hochschulen das Gros der Organisationen in staatlicher Trägerschaft oder überwiegend staatlich finanziert. Kindergärten werden teilweise durch die Leistungsabnehmer finanziert; ein geringer Teil der Kosten eines Studiums wird neuerdings über Studiengebühren durch die Leistungsabnehmer gedeckt. • Der Sport wird als Spitzensport über seine Verbände massiv staatlich gefördert.
lerlei Weise staatlich finanziell gefördert wird, wobei Kinder- und Elterngeld sowie steuerliche Entlastungen für Familien am wichtigsten sind.
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Im Gesundheitssystem ist der Staat zum einen Träger vieler Krankenhäuser und Kliniken, zum anderen ist er durch die gesetzliche Regelung der Krankenversicherungspflicht Finanzierungsgarant und gleicht zudem immer wieder auch anfallende Defizite aus.
Gegen diese staatlich vermittelten Gelder an teilsystemische Arbeitsorganisationen nimmt sich der Anteil derjenigen Finanzmittel, die diese Organisationen als unmittelbare Nutzungsentgelte von den Leistungsabnehmern erhalten, überall gering aus. Noch marginalere Bedeutung haben solche Arbeitsorganisationen, die sich aus den finanziellen Beiträgen der von ihnen profitierenden Leistungsabnehmer tragen, egal ob es sich bei Letzteren um Organisationen oder Individuen handelt. Die Hochschulrektorenkonferenz als von den Hochschulen getragene und ihnen dienende Servieeinrichtung wäre ein Beispiel für die erste Variante, eine Elterninitiative, die zwei Kindergärtnerinnen beschäftigt, ein Beispiel für letztere, ‚zivilgesellschaftliche‘ Variante. In beiden Fällen ist es im übrigen nicht selten der Fall, dass offen oder verdeckt wiederum auch staatliche Gelder hinzufließen und einen Teil der aufzubringenden Kosten decken. Wenn damit die Geldgeber der teilsystemischen Arbeitsorganisationen identifiziert sind, wiederholt sich die Frage: Woher beziehen diese Geldgeber ihr Geld? Für die Unternehmen ist die Frage bereits beantwortet: Die von ihnen erwirtschafteten Einnahmen dienen – neben der Entlohnung ihrer Arbeitskräfte – auch dafür, von anderen Unternehmen oder von Arbeitsorganisationen anderer Teilsysteme erhaltene Leistungen vollständig oder teilweise, mit Gewinnanteil oder nur kostendeckend, zu bezahlen. Aber auch die dem Staat sowie den individuellen Abnehmern teilsystemischer Leistungen verfügbaren und verausgabten Finanzmittel stammen aus dem Wirtschaftsgeschehen, also der durch Gewinnerwartungen getriebenen Produktion und Distribution von Waren. Der moderne Staat finanziert sich als Steuerstaat (vgl. Hickel 1976; Grauhan/Hickel 1978) aus Steuern, die er bei den Unternehmen und den Organisationen anderer Teilsysteme sowie bei den individuellen Akteuren als Besteuerung ihrer Arbeitseinkommen eintreibt; und die Individuen beziehen ihr Einkommen teils als Arbeitseinkommen von Unternehmen oder Organisationen anderer Teilsysteme, teils als Transferzahlungen von Seiten des Staates. Damit ist dargelegt: Arbeitsorganisationen in allen Teilsystemen der modernen Gesellschaft benötigen eine ständige Geldzufuhr, um insbesondere ihre Arbeitskräfte bezahlen zu können; und dieses Geld stammt letztlich aus der Wirtschaft. Luhmann resümiert lapidar so: „Jede Organisation muss bei ständigem Abfluss von Geld dafür sorgen, dass sie wieder zu Geld kommt. Das gibt dem Wirtschaftssystem, das allein für Geld sorgen ... kann, eine überragende
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Bedeutung ...“ (Luhmann 2000: 467/468). An diesem Punkt muss der Blick genauer auf die Gesellschaftsform der Moderne gerichtet werden. 2. Kapitalismus und funktionale Differenzierung Ohne dass ich hier das gesamte Spektrum gesellschaftstheoretischer Perspektiven auf die Moderne Revue passieren lassen kann, wende ich mich sogleich den beiden Perspektiven zu, auf die Türk die Durchorganisierung der modernen Gesellschaft bezieht: den Theorien funktionaler Differenzierung und der marxistischen Kapitalismustheorie. Zwischen beiden Theorielagern gab es in den 1960er und 1970er Jahren Frontverhärtungen, die keine wissenschaftlichen, sondern politische Beweggründe hatten; und da anschließend der Marxismus gesellschaftstheoretisch vorübergehend von der Bildfläche verschwand, hat hier bis heute keine Entspannung stattgefunden. Dabei stellt ein unvoreingenommener Betrachter schnell fest: • Die marxistische Gesellschaftstheorie geht zwar seit und mit Karl Marx – in differenzierungstheoretischer Terminologie formuliert – von einem gesamtgesellschaftlichen Primat der kapitalistischen Wirtschaft aus.11 Die Entwicklung der Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse bestimmen ‚in letzter Instanz‘12 die übrigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Aber die marxistische Gesellschaftstheorie sieht die Ausdifferenzierung weiterer gesellschaftlicher Teilsysteme neben der Wirtschaft, denen eine ‚relative Autonomie‘13 zukommt: Politik, Recht, Religion, Wissenschaft, Kunst, Bil11
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Dabei fällt auf, dass die marxistischen Analysen insgesamt wenig Aufwand für eine Begründung des gesamtgesellschaftlichen Primats der Wirtschaft getrieben haben. Teils wurde, an den frühen Marx anknüpfend, der Primat anthropologisch aus der Zentralität von Arbeit im menschlichen Leben und Zusammenleben hergeleitet – siehe nur als insgesamt repräsentative, wenngleich im Detail verfeinerbare und modifizierungsbedürftige orthodoxe Darlegung Holzer (1978: 164-194), ferner als Überblick auch Bader et al. (1976: 32-39) sowie z.B. Mandel (1962: 19/20) oder Kosik (1967: 194-204) für die lapidare Übernahme dieser anthropologischen Prämisse in verschiedenen Strömungen des „westlichen Marxismus“. Nur der strukturalistische Marxismus erteilte allen anthropologischen Begründungen seiner Gesellschaftskonzeption eine dezidierte Absage, weil er den „Humanismus“ jeglichen anthropologischen Denkens als eine bürgerliche Ideologie einstufte (Althusser 1964). Andere Begründungen dafür, dass die Gesellschaft eine „Struktur mit Dominante“ und Wirtschaft in der modernen Gesellschaft die „Dominante“ bildet (Althusser/Balibar 1968: 127-132, 289-300), wurden jedoch dort nicht geliefert, also offenbar nicht als nötig erachtet. Ähnlich selbstverständlich gingen auch die „Staatsableitungen“ in ihren Herleitungen der Funktion des Staates in einer kapitalistischen Gesellschaft vom Primat der Wirtschaft aus – siehe etwa Offe (1972; 1975: 9-50) oder Hirsch (1974). Friedrich Engels, zitiert nach Bader et al. (1976: 32). So die von Nicos Poulantzas (1968) mit Blick auf den Staat geprägte Begrifflichkeit.
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dung. Dieser ‚Überbau‘ kann den durch die ökonomische ‚Basis‘ abgesteckten Rahmen nicht sprengen, verfügt allerdings innerhalb dieses Rahmens über einen gewissen eigenen Entfaltungsspielraum. Sowohl Talcott Parsons’ als auch Niklas Luhmanns Varianten der differenzierungstheoretischen Perspektive bestreiten einerseits vehement einen gesamtgesellschaftlichen Primat der Wirtschaft in der Moderne.14 Andererseits finden sich bei näherem Hinsehen in ihren gesellschaftstheoretischen Überlegungen immer wieder Denkfiguren und Gedankensplitter, die eben diesen Primat dann doch in Betracht ziehen (vgl. Schimank 2005). Die insbesondere von Luhmann betonte teilsystemische Autonomie wird also im Nachgang erheblich relativiert.
Sieht das nicht nach einer Konvergenz von Theorieperspektiven aus, die sich geradezu als Antagonisten stilisiert haben? Stefan Kühl (2004: 38) hat die Frage, um die es hier geht, gut auf den Punkt gebracht: „Wie ist eine … Gesellschaftstheorie aufgebaut, die die Eigensinnigkeit von gesellschaftlichen Teilbereichen in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellt und gleichzeitig in der Lage ist, die Prominenz kapitalistischer Wirtschaft in den Blick zu bekommen?“ Türk hat sich, wie angesprochen, bemüht, dieses Zusammendenken beider Perspektiven von der Kapitalismustheorie her zu betreiben. Mein Versuch des Zusammendenkens setzt demgegenüber differenzierungstheoretisch an. Ich gehe also nicht davon aus, dass die Wirtschaft immer schon, etwa durch eine ArbeitsAnthropologie begründet, einen gesamtgesellschaftlichen Primat innegehabt hat und sich die funktionale Differenzierung der Moderne auf diese überhistorische Konstante einstellen musste. Stattdessen registriere ich, dass sich – zunächst noch im Rahmen der stratifikatorisch differenzierten mittelalterlichen europäischen Gesellschaft – eine Reihe von Teilsystemen ausdifferenzieren, worunter auch die Wirtschaft ist (vgl. Schimank 2005a: 165-183).15 Diese mehrere Jahrhunderte währende Dynamik einer allmählichen Umstellung der Gesellschaftsform auf funktionale Differenzierung vollzieht sich bei den verschiedenen Teilsystemen in unterschiedlicher Geschwindigkeit und mit je eigenen Kombinationen von Verlaufsfiguren, und es gibt vielfältige Wechselwirkungen zwischen den teilsystemischen Ausdifferenzierungen. Im Ergebnis zeigt sich dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein weitgehend stabiles polykontexturales Nebeneinander von etwa einem Dutzend ausdifferenzierter Teilsysteme, die allesamt als ‚Wertsphären‘ eine selbstreferentiell geschlossene Handlungslogik ausprägen, 14 15
Zu beider Sicht der Wirtschaft in der modernen Gesellschaft siehe Beckert (1997: 199-348). Siehe im Übrigen das nur sehr knapp skizzierte „Modell der historischen Genese funktionaler Teilsysteme“ in Türk (1995: 192-194), das eine hochinteressante Vergleichsfolie zu meinen eigenen Überlegungen bietet.
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die als binärer Code etabliert ist. Keines dieser Teilsysteme wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Bildung, Gesundheit oder Politik ist in seinen Leistungen für andere Teilsysteme wie für das je eigene Publikum durch ein anderes ersetzbar; und fast alle erbringen unverzichtbare Leistungen.16 Doch trotz dieser Gleichrangigkeit der Teilsysteme in punkto Unverzichtbarkeit hat sich, wie spätestens im beginnenden 19. Jahrhundert registriert wurde, ein gesamtgesellschaftlicher Primat des kapitalistischen Wirtschaftssystems in dem Sinne etabliert, dass dessen Erfordernisse auch in allen anderen Teilsystemen und damit für die in ihnen angesiedelten Organisationen sowie auf Seiten der individuellen Gesellschaftsmitglieder in deren gesamter Lebensführung vorrangige Beachtung finden. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass beispielsweise in wissenschaftlichen Wahrheitsfragen unmittelbar nach Profitgesichtspunkten entschieden wird. Die jeweilige teilsystemische Eigenlogik bleibt gewahrt. Doch ihr Entfaltungsspielraum wird folgenreich und strukturell, nicht bloß nach wechselnden kontingenten Umständen, durch funktionale Erfordernisse wirtschaftlicher Prosperität gerahmt.17 Der gesamtgesellschaftliche funktionale Primat der Wirtschaft konstituiert sich relational: aus der herausgehobenen Position, die die Wirtschaft im Gefüge der allseitigen Leistungsinterdependenzen hat. Die Wirtschaft und nur sie versorgt – wie bereits dargestellt – die gesamte moderne Gesellschaft mit Geld; und diese Ressource der Leistungsproduktion nicht nur der Wirtschaft, sondern aller anderen Teilsysteme ist nicht bloß, wie Parsons (1963a; 1963b; 1964; 1968) und Luhmann (1976; 1997: 316-396) es differenzierungstheoretisch darstellen, ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium neben anderen wie Macht oder Liebe oder Wahrheit.18 Geld ist vielmehr – wie auch Georg Simmel (1900) in vielen Beobachtungen herausstellt – dasjenige symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium, das sachlich und sozial viel universeller einsetzbar ist als andere. So ist legitime Macht an Territorien, inhaltlich umschriebene Befugnisse und befugte Positionen gebunden. Wahrheit können nur Experten handhaben, und jede Wahrheit ist – wie eine Ware – inhaltlich spezifiziert und daher nur in dem passenden Kontext zu gebrauchen. Bei Liebe wiederum sind die Einsatzmöglichkeiten zwar sachlich vielfältig, aber in sozialer Hinsicht extrem reduziert. Wer geliebt wird, kann vom Liebenden fast alles verlangen – aber nur 16 17 18
Allenfalls der Sport wäre womöglich verzichtbar. Ich kann das im Weiteren nur sehr knapp ausführen – siehe ausführlicher Schimank (2009). Jürgen Habermas (1980) hat schon früh auf Besonderheiten des Geldmediums hingewiesen; neuerdings arbeitet Christoph Deutschmann (1999; 2000; 2007a; 2008) dezidiert die Unvergleichbarkeit von Geld und anderen Medien heraus – siehe ferner mit ähnlicher Stoßrichtung Paul (2004) sowie Kuchler (2005). Auch Parsons und Luhmann haben stets zugestanden, dass Geld das ‚technisch‘ am weitesten entwickelte der Medien sei, ohne aus dieser Beobachtung jedoch weitere Schlüsse zu ziehen.
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von ihm. Geld hingegen ist global; es vermag fast alles zu kaufen, und vor allem ohne zeitlich heute vorausbestimmen zu müssen, was morgen gekauft wird; es kann von jedem gegenüber jedem gehandhabt werden; und es ist am eindeutigsten quantifiziert. Dieser unvergleichliche Generalisierungsgrad des Geldes verschafft demjenigen Teilsystem, das die gesamtgesellschaftliche Geldquelle ist, Möglichkeiten der Infiltration aller anderen Teilsysteme, die das Wahrheitsmedium der Wissenschaft oder auch das Machtmedium der Politik nicht bieten. Luhmann (1981: 401) stellt fest: „Wirtschaft ist ein funktionsspezifisches, gleichwohl aber universelles, bis in die hintersten Winkel durchgreifendes Teilsystem der Gesellschaft.“ Er fragt an gleicher Stelle sogar, „... ob über diese Kette: Geldabhängigkeit der Organisationen → Organisationsabhängigkeit der meisten Funktionssysteme nicht eine latente Dominanz der Wirtschaft in der modernen Gesellschaft sich durchsetzt.“ (Luhmann 1981: 401) Man könnte fragen, was diese über Organisationen konstituierte Geldabhängigkeit aller gesellschaftlichen Teilsysteme davon unterscheidet, dass sie etwa auch allesamt abhängig davon sind, dass die rechtliche Konfliktschlichtung funktioniert oder sie mit wissenschaftlichen Wahrheiten zur immer weiteren Rationalisierung ihrer Leistungsproduktionen versorgt werden. Mit und zugleich gegen Parsons könnte man auf seine „cybernetic hierarchy of control“ verweisen, in der das Geld als Kommunikationsmedium der Wirtschaft die gesamtgesellschaftlich wichtigste, weil universell verwendbare ‚energetische‘, vielfältigste Handlungs- und Leistungszusammenhänge ermöglichende Kraft darstellt (vgl. Parsons 1961: 171-177; Schimank 1996: 112-116). Parsons selbst bezeichnet sich zwar wegen „der überwiegenden Bedeutung der kybernetisch höchstrangigen Elemente für die Strukturierung von Systemen des Handelns“ als „Kulturdeterministen“, sieht also letztlich einen Vorrang der „regelnden“ vor den „energetischen“ Faktoren (Parsons 1966: 174/175, Hervorheb. weggel.). Wenn man aber mit Luhmann die Polykontexturalität funktionaler Differenzierung ernst nimmt, muss man bezüglich der ‚regelnden‘ Faktoren davon ausgehen, dass diese entweder untergeordnete und sachlich begrenzte fremdreferentielle Programmstrukturen wie etwa Recht im Kunst- oder Bildungssystem darstellen oder als jeweils teilsystemische Leitorientierung zwar allen anderen Orientierungen übergeordnet sind – dies aber eben nur im Rahmen des jeweiligen Teilsystems und nicht gesellschaftsweit. Allein im Rechtssystem gilt Recht als höchster Wert, und Wahrheit allein im Wissenschaftssystem. Damit vermittelt nur Geld einen Zugriff auf Gesellschaft, der zwar nicht ‚regelnd‘, aber als vorhandene bzw. fehlende ‚Energie‘ überall ermöglichend wirkt – oder eben Dinge unmöglich macht. Das inhärent und unauflösbar spannungsreiche Konstruktionsprinzip der modernen als einer funktional differenzierten kapitalistischen Gesellschaft be-
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steht demnach darin, dass funktionale Differenzierung mit der Wirtschaft ein Teilsystem hervorgebracht hat, dessen Dynamik aus sich heraus ständig zu einer Subordination aller anderen Teilsysteme drängt. Dieser Primat könnte freilich gesellschaftlich völlig harmlos und damit auch theoretisch unerheblich sein, wenn die Wirtschaft ein robustes, in sich ruhendes und durch äußere Einwirkungen nicht so leicht erschütterbares gesellschaftliches Teilsystem wäre. Das ist aber eben nicht der Fall. Der Markt als spezifischer GovernanceMechanismus der kapitalistischen Wirtschaft besitzt nur eine schwache ordnungsbildende Kraft, und das manifestiert sich für die im Markt auftretenden Warenanbieter als eine durchgängig sehr hohe Komplexität ihrer Entscheidungen, aus der sich ständig transintentionale Effekte ergeben, die nicht nur diese Komplexität reproduzieren, sondern eine allgegenwärtige inhärente Instabilität des Wirtschaftsgeschehens hervorrufen, die ihrerseits dann auch in die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme ausstrahlt und dort beständige Rücksichtnahmen verlangt.19 Anders als andere Governance-Mechanismen verlangen Märkte den in ihnen auftretenden Akteuren zuallererst Lernbereitschaft und flexible Anpassungsfähigkeit ab. Wenn aber jeder jederzeit gegenüber jedem lernbereit ist und sich der jeweiligen Konstellation flexibel anpasst, fehlt jegliche Verlässlichkeit bietende Konstante, wie es sie in Hierarchien durch gesetzte Regeln und Befugnisse, in Gemeinschaften durch eingelebte Orientierungen und Routinen und in Netzwerken durch allseits bekannte Veto-Positionen gibt. Soziale Ordnung stellt sich demgegenüber auf Märkten nur noch als permanentes wechselseitiges AufTrab-halten und Schritthalten her. Dieses „endogene Governance-Defizit“20 der kapitalistischen Wirtschaft ist der Preis für die „ungeheure Warensammlung“ (Marx 1859: 15), also das alle anderen Formen des Wirtschaftens weit übertreffende Niveau der Leistungsproduktion. Da der Marktmechanismus das Wirtschaftssystem flächendeckend durchzieht, bleiben lokal entstehende Turbulenzen meistens nicht begrenzt, sondern schaukeln sich schnell über einfache Mechanismen der ‚deviation amplification‘ (vgl. Maruyama 1963) hoch – ob nun als ‚rational herding‘ auf Finanzmärkten (vgl. Devenow/Welch 1996; Kindleberger/Aliber 2005; Windolf 2008), als Deoder Inflationsspiralen (vgl. Baumgartner/Burns 1980) oder als Pfadabhängigkeiten der Technikentwicklung, der Managementmoden oder der Konsumtrends 19
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Diese Hervorhebung des Marktes, die ja alles andere als originell ist, veranlasst zu einer Rückfrage an Türk: Welchen Stellenwert für das wirtschaftliche Geschehen und dessen Auswirkungen auf andere gesellschaftliche Teilsysteme spricht er dem Marktmechanismus zu? Da er zumeist von ‚kapitalistischer Produktionsweise‘ spricht, scheint er den strukturierenden Kern von Kapitalismus eher in der Produktions- als in der Distributionssphäre zu sehen. Um einen Begriff von Gläser/Lange (2007: 435) zu adaptieren.
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(vgl. Deutschmann 2007b). Die Globalisierung, die im Wirtschaftssystem als Teil der funktional differenzierten Weltgesellschaft am weitesten vorangeschritten ist, verstärkt die Fernwirkungen dieser Ungleichgewichte innerhalb der Weltwirtschaft und macht damit zugleich alles immer noch unüberschaubarer für die Akteure. Die meisten Anleger, Unternehmen, Konsumenten und Arbeitnehmer ahnen oftmals nicht einmal, dass sie längst von einer ganz woanders entstandenen Turbulenz betroffen sind. Die funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft kombiniert also eine schwache interne Ordnungsbildung der Wirtschaft mit deren starker externer Ordnungsgefährdung in allen anderen Teilsystemen: Die kapitalistische Wirtschaft ist inhärent instabil und krisenanfällig, und das schlägt in den anderen gesellschaftlichen Teilsystemen zum einen als Störung von deren Leistungsproduktionen, zum anderen als gleichzeitige Einforderung von umfassender Rücksichtnahme auf die wirtschaftlichen Belange durch. Die Rolle der kapitalistischen Wirtschaft im Ensemble der gesellschaftlichen Teilsysteme stellt sich damit so dar wie die eines Familienvaters, von dessen Leistungskraft und Wohlergehen alle Angehörigen existentiell abhängen, der aber chronisch kränkelt, was die anderen zu großen und möglichst antizipativen Zugeständnissen zwingt.21 Fragt man nun weiter, auf welchem Weg sich dieser gesellschaftsstrukturell angelegte Primat der kapitalistischen Wirtschaft in den anderen Teilsystemen manifestiert, muss man sich wieder auf die Organisationsebene begeben und erneut den Arbeitsorganisationen zuwenden. 3. Arbeitsorganisationen unter Ökonomisierungsdruck Ich hatte aufgewiesen, dass die Arbeitsorganisationen aller gesellschaftlichen Teilsysteme geldabhängig sind und dieses Geld direkt oder indirekt – über den Staat und individuelle Leistungsabnehmer vermittelt – aus der Wirtschaft stammt. Über diese Geldflüsse fühlen auch diejenigen Arbeitsorganisationen, die jenseits der Wirtschaft in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen angesiedelt sind, permanent den Puls des wirtschaftlichen Geschehens; und hierüber teilt sich ihnen der Primat der Wirtschaft als mal stärkerer, mal schwächerer Ökonomisierungsdruck auf ihr jeweiliges eigenes Agieren mit. Dieser Druck äußert sich zunächst in der finanziellen Dimension der organisatorischen Leis21
Luhmann (1997: 769) konstatiert generell: „In funktional differenzierten Gesellschaften gilt …: das System mit der höchsten Versagensquote dominiert, weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt.“
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tungsproduktion, kann dann aber über diese Dimension hinaus auch in der Programmdimension Ausdruck finden. In der finanziellen Dimension finden sich folgende vorherrschende, oft miteinander kombinierte Formen des Ökonomisierungsdrucks (vgl. Engartner 2007): • Sparzwänge, die den Organisationen auferlegt werden und dann oft quantitative oder qualitative Leistungsreduktionen nach sich ziehen; • eine verstärkte Selbstbeteiligung des Publikums an der teilsystemischen Leistungsproduktion, entweder in finanzieller Hinsicht oder durch ehrenamtliches Engagement bzw. schlichtes ‚Selbermachen‘; • eine Suche nach privaten Sponsoren, wie man es etwa für Teile des Kunstund auch des Wissenschaftsbetriebs vorfindet; • eine Privatisierung derjenigen Komponenten der teilsystemischen Leistungsproduktion, die dann – etwa aufgrund reduzierter Arbeitskosten – kostengünstiger angeboten oder sogar gewinnbringend betrieben werden können; • und schließlich eine Kommerzialisierung im Sinne einer Ermöglichung oder Gewährung von wirtschaftlich betriebenen Segmenten der Leistungsproduktion – siehe etwa die Einführung privater Rundfunksender oder die Ausbreitung privatwirtschaftlicher Krankenhausketten. Systematisch betrachtet bewegt sich der Ökonomisierungsdruck auf einer fünfstufigen Skala (vgl. Schimank/Volkmann 2008). Auf Stufe 1 existiert kein Kostenbewusstsein in den teilsystemischen Arbeitsorganisationen – Geld zur Kostendeckung ist für diejenigen Akteure, die über die Ausgestaltung der Leistungsproduktion entscheiden, problemlos gegeben.22 Auf Stufe 2 wird Kostenbewusstsein als ‚Soll-Erwartung‘ (vgl. Dahrendorf 1958: 37-39) formuliert – die Kosten sollen zur Kenntnis genommen werden, und wo es leicht fällt, soll gespart werden. Stufe 3 heißt dann, dass Kostenbewusstsein eine ‚MussErwartung‘ darstellt – die Leistungsproduktion darf keine Verluste machen. Stufe 4 ist erreicht, wenn Gewinnerzielung als ‚Soll-Erwartung‘ gesetzt ist – über Verlustvermeidung hinaus sind bescheidene Gewinne erwünscht. Schließlich ist auf Stufe 5 Gewinnsteigerung die ‚Muss-Erwartung‘ – mit der Leistungsproduktion soll primär möglichst viel Geld verdient werden. Während Unternehmen als Organisationen des Wirtschaftssystems immer schon mindestens Stufe 3, eigentlich aber Stufe 4 erreichen müssen,23 können 22 23
Entweder deshalb, weil es großzügig zugeteilt wird, oder deshalb, weil es im Hintergrund – ohne dass sie sich darum kümmern müssen – beschafft wird. Von einem gesteigerten Ökonomisierungsdruck kann in der Wirtschaft selbst also erst gesprochen werden, wenn Stufe 5 zur Vorgabe gemacht wird – wie etwa im „Finanzmarktkapitalis-
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die Entscheidungsträger von Arbeitsorganisationen anderer Teilsysteme durchaus dauerhaft auf Stufe 1 agieren – vorausgesetzt, die Staatsfinanzen fließen üppig, sekundär bzw. alternativ auch die Mitgliederbeiträge, Gebühren und Spenden von privaten Haushalten oder die Auftragshonorare von Unternehmen. Solche Zeiten gab es, und sie können auch wiederkehren. So können sich z.B. Sozialarbeiter oder Krankenhausärzte noch an nicht allzu lang zurückliegende Zeiten erinnern, als sie gar nicht wussten und keinen Gedanken daran verschwendeten, wie viel Geld eine bestimmte Maßnahme, auch im Vergleich zu Alternativen, kostet. Doch es gibt eben auch – wie derzeit – diejenigen Phasen, in denen Museen, Universitäten, Krankenhäuser oder Verwaltungsbehörden mindestens Stufe 3 erreichen müssen, also bisherige stillschweigend gewährte Ausfallbürgschaften des Staates oder der privaten Geldgeber zurückgenommen werden. Dann kann „weniger Geld“ (Luhmann 1983: 39) dazu führen, dass medizinisch Gebotenes, wissenschaftlich Erforderliches oder künstlerisch Wünschenswertes unterbleibt, die Orientierung der teilsystemischen Leistungsproduktion am je eigenen Code also nicht mehr oberste Richtschnur ist, sondern explizit Kostengesichtspunkten untergeordnet wird.24 Von Seiten staatlicher Geldgeber teilsystemischer Leistungsproduktionen geht ein solcher Ökonomisierungsdruck umso stärker aus, je mehr der Steuerstaat in eine Finanzkrise gerät. Aus seiner „Huckepack-Finanzierung der Staatsausgaben“ (Grauhan/Linder 1974: 63) durch die Wirtschaft leitet sich „Akkumulation als Bezugspunkt“ (Offe/Ronge 1976: 55/56) staatlichen Handelns her (vgl. Offe 1975: 24/25; Grauhan 1975: 54-61). Weil die Höhe der Steuereinnahmen direkt abhängig von der Prosperität der Wirtschaft ist 25 und dieser Zustand nicht beliebig mit staatlichen Mitteln, etwa durch Wirtschaftspolitik, herbeizuführen und zu erhalten, bestenfalls schwach mit beeinflussbar ist, ergibt sich für sämtliches staatliches Entscheiden ein struktureller Vorrang wirtschaft-
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mus“ mit dem Insistieren von Investmentfonds auf kurzfristiger Gewinnmaximierung (vgl. Windolf 2005). Das unterscheidet Ökonomisierung von Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung, Medialisierung und anderen gesellschaftsübergreifenden Diffundierungen teilsystemischer Handlungsorientierungen. Diese anderen fremdreferentiellen Einflüsse untersagen inhaltlich bestimmte und sachlich begründete Optionen im Horizont dessen, was der jeweilige teilsystemische Code eröffnet, bzw. legen bestimmte Optionen nahe. Ökonomisierung verschließt demgegenüber unbestimmte, substantiell völlig heterogene Ausschnitte des Horizonts, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie – im Aggregateffekt mit unbestimmten anderen Optionen – zu teuer sind. Die denkbare Alternative einer Erhöhung der Steuern ist allenfalls kurzfristig in sehr engen Grenzen möglich, sofern nicht die Investitionsneigung zurückgehen und damit die Masse des Besteuerbaren geschmälert werden soll. Und wenn der Staat – als funktionales Äquivalent zu Steuererhöhungen – über die Notenbank Geld druckt, das er dann zusätzlich ausgeben kann, rächt sich das ebenso schnell in Gestalt einer Geldentwertung.
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licher Gesichtspunkte vor allen anderen gesellschaftlichen Belangen. Positiv formuliert, muss der Staat ein „gesundes Investitionsklima“ herstellen und wahren, um zu verhindern, dass die Unternehmen von ihrem „negativen Eigentumsrecht“ – dem Recht, nicht zu investieren – Gebrauch machen (Offe 1975: 204).26 Diese Rücksichtnahme der Politik auf die Belange der Wirtschaft wird um so stärker, je knapper die Staatsfinanzen werden – was bei einer länger währenden Wirtschaftskrise der Fall ist, wie sie seit den 1980er Jahren in vielen westlichen Ländern herrscht. Dann dominiert die ‚rechte Hand‘ (vgl. Bourdieu 1998) des Staates: Die Finanz- und Wirtschaftsressorts setzen alles daran, durch Sparen bei den Ausgaben des Wohlfahrtsstaats und gleichzeitige Anreize und Unterstützungen wirtschaftlicher Investitionen sowie durch eine Verbilligung der Ware Arbeitskraft das Investitionsklima zu verbessern; und insbesondere die sozialund wohlfahrtsstaatlichen Geldleistungen leiden. Der gleiche Effekt schlägt zusätzlich über die privaten Haushalte durch. Deren verfügbares Einkommen steht und fällt – wie das Steueraufkommen – mit der wirtschaftlichen Prosperität; insbesondere im Extremfall der Arbeitslosigkeit werden Konsumausgaben generell und darunter auch die Gelder, die auf verschiedene Weisen als Kostenbeteiligung an der Leistungsproduktion des Bildungs-, Religions- oder Kunstsystems an die betreffenden Arbeitsorganisationen fließen, reduziert. Schließlich wird es für Arbeitsorganisationen all dieser Teilsysteme dann auch schwieriger, sich über bezahlte Aufträge für Unternehmen oder auf dem Wege des Sponsoring Geld zu verschaffen. Damit ist die Stellschraube, über die von Seiten der Wirtschaft direkt oder indirekt ein anonymer, von massenmedial verbreiteten Konjunkturdaten als Aggregationseffekt des handelnden Zusammenwirkens zahlloser Wirtschaftsakteure erzeugter, also von keinem bestimmten Akteur getragener mal schwächerer, mal stärkerer Druck zur Kostenreduktion auf Arbeitsorganisationen 26
Zwar steht es jedem staatlichen Akteur frei, sich über diese Abhängigkeit von der Wirtschaft hinwegzusetzen; und natürlich ist der Staat kein monolithischer Akteur, der unisono stets die Belange wirtschaftlicher Prosperität im Auge hat. Ganz im Gegenteil neigen die meisten staatlichen Akteure von sich aus dazu, diese Belange zu ignorieren – insbesondere dann, wenn einflussreiche gesellschaftliche Interessengruppen Forderungen an sie stellen, die finanzaufwendige Leistungen mit sich bringen. Es gibt jedoch einen staatlichen Akteur, der sich als Sachwalter des Steuerstaatsprinzips und damit auch der politischen Berücksichtigung wirtschaftlicher Prosperitätserfordernisse verstehen muss: das Finanzministerium (vgl. Krupp 1992; Schmidt 1992). In dieser Sachwalterrolle ist es mit bestimmten formellen Rechten ausgestattet, die ihm erlauben, auch die anderen staatlichen Akteure steuerstaatlich in die Pflicht zu nehmen. Das Finanzministerium teilt den anderen staatlichen Akteuren nicht nur die ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmittel zu, sondern kann auch noch darüber hinaus jederzeit einen so genannten „Haushaltsvorbehalt“ anmelden und damit ein Veto gegen besonders finanzaufwendige staatliche Maßnahmen einlegen. Darüber vermag sich dann nur noch der Regierungschef hinwegzusetzen.
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anderer Teilsysteme ausgeübt wird, in die Grundstruktur der funktional differenzierten Gesellschaft eingebaut. Diese Stellschraube wird allenfalls manchmal so gelockert, dass man sie vielleicht gar zeitweilig ganz vergisst – etwa als im Deutschland der 1960er Jahre der ‚kurze Traum immerwährender Prosperität‘ (vgl. Lutz 1984) währte. Doch sobald die Lage der Wirtschaft Rücksichtnahmen in den anderen Teilsystemen gebietet, kann die Schraube mehr oder weniger brachial angezogen werden – und spätestens dann merken alle Beteiligten wieder schmerzhaft, dass sie in einer Gesellschaft leben, in der wirtschaftliche Belange letztendlich die Szene beherrschen. Der Kostendruck, der daher rührt, dass Unternehmen weniger Geld – in Gestalt von Gewinnen und Kaufkraft – produzieren, das der Wirtschaft für die Finanzierung anderer Teilsysteme entzogen werden kann, ist in der finanziellen Dimension die Minimalformel, in der die Wirtschaft anderen Teilsystemen ihre Erfordernissen nahebringt. Die Maximalformel ist ein sich prinzipiell aus gleichen Ursachen speisender Kommodifizierungsdruck, der sich darin äußert, dass Unternehmen sich immer wieder diejenigen Bestandteile und Formen der Leistungsproduktion anderer Teilsysteme als Investionsobjekte vornehmen, die versprechen, gewinnträchtig bzw. noch gewinnträchtiger betrieben werden zu können. Spätestens dann, wenn sich in wirtschaftlichen Stagnationsphasen lukrative Investitionschancen bei der wirtschaftsinternen Güter- und Dienstleistungsproduktion verknappen, schweift der Investorenblick ohne Vorbehalte oder gar Skrupel auch über alle anderen Teilsysteme, von der Religion und dem Rechtswesen bis zu den Intimbeziehungen. Die weitreichendsten Formen von Kommodifizierung stellen Privatisierungen vordem staatlich oder staatsnah betriebener Leistungsproduktionen anderer Teilsysteme oder auch des politischen Systems selbst dar, wie sie in den letzten Jahrzehnten mehrfach vorgekommen sind – siehe etwa Post und Telekommunikation, Bahn, Kliniken, Gefängnisse oder den Bau und Betrieb von Fernstraßen (vgl. Engartner 2007). In anderen Fällen sind unternehmerisch getragene Angebote zusätzlich und konkurrierend zu den bisherigen Angeboten hinzugekommen: etwa kommerzielle Fitnessstudios oder private Hochschulen und Rundfunksender. Kommodifizierung liegt ferner auch dort vor, wo schon seit langem wirtschaftlich bereitgestellte Komponenten der Leistungsproduktion anderer Teilsysteme sich immer mehr ausweiten, also z.B. die richtige Sportkleidung und -ausrüstung immer essentieller für breitensportliche Betätigung und immer teurer wird oder in Intimbeziehungen Fertignahrung bzw. Restaurantbesuche das eigene Kochen immer mehr ablösen.27 Schließlich kann sich Kommodifizierung auch als Enthemmung wirtschaftlicher Gewinnmotive in anderen Teilsystemen äußern – 27
S. auch Eva Illouz’ (2003) Studie zur Konsumabhängigkeit der romantischen Liebe.
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wenn etwa Rechtsanwälte, Ärzte oder Journalisten die in ihrem traditionellen beruflichen Ethos angelegte diesbezügliche Zurückhaltung immer mehr ablegen. Kommodifizierung bewirkt, dass zum einen bestehende Arbeitsorganisationen anderer Teilsysteme nicht mehr nur die Ökonomisierungsstufe 3 erreichen, sondern darüber hinaus in Richtung der Stufe 5 streben müssen. Zum anderen kommen neue Arbeitsorganisationen als zusätzliche oder alternative Leistungsanbieter hinzu, die von vornherein als Unternehmen auftreten und in Richtung Stufe 5 zu gehen haben. Über finanzielle Warnsignale und Wegweiser hinaus werden die teilsystemischen Arbeitsorganisationen ab einem bestimmten Punkt auch durch inhaltliche Gebote der Rücksichtnahme auf die Linie wirtschaftlicher Prosperitätserfordernisse gebracht – wenn etwa angemahnt wird, dass sich die wissenschaftliche Forschung stärker auf industriell benötigte technologische Innovationen ausrichten solle oder wenn die Kirchen den Fingerzeig erhalten, dass es mit Blick auf wachstumsträchtige Zukunftsbranchen inopportun sei, übermäßige theologische Skrupel gegen Stammzellforschung zu artikulieren. Ökonomisierungsdruck vollzieht sich dann auch über das Aufdrängen wirtschaftsorientierter Elemente in die teilsystemische Programmstruktur. Hier kommt ein an der Maximierung lukrativer Investitionschancen orientierter ‚Funktionalismus als Akteurswissen‘ (vgl. Vobruba 1992) zur Geltung, der die ‚stumme Macht der Möglichkeiten‘ – um Hartmut Essers (2000: 269) Formulierung zu übernehmen – bzw. Unmöglichkeiten ergänzt, die sich in der finanziellen Dimension zur Geltung bringt. Welche Funktionserfordernisse wirtschaftlicher Prosperität als wie gewichtig eingestuft werden und wer dementsprechend zur Verantwortung gezogen wird: Dieses handlungsprägende Wissen ist diskursiv formbar im Sinne von Luhmanns (1962) ‚Ideologieplanung‘. Der bis vor kurzem ungebrochene Siegeszug des „neoliberalen“ Denkens über die Gestaltung aller gesellschaftlichen Teilsysteme ist ein plastisches Beispiel dafür, wie – in Claus Offes (2003: 23) prägnanten Formulierungen – „wissensarme Gewissheiten“, kurzerhand mit den Weihen bestimmter wirtschaftswissenschaftlicher Schulen versehen, zu „allseits unbezweifelten Lebenstatsachen“ deklariert werden. Ökonomisierungsdruck kann sich also, außer auf Verlustvermeidung bzw. Gewinnerzielung zielend, weiterhin auch auf eine inhaltliche Anpassung der teilsystemischen Leistungsproduktionen an die hegemoniale Deutung dessen, was der Wirtschaft Not tut, erstrecken.28 Die Bandbreite solcher wirtschaftsaffiner Rationalitätsfiktionen ist groß und reicht von sehr generellen Vorstellungen wie z.B. der Idee, dass eine strikt leistungsbasierte Zuweisung von Finanzmitteln an Arbeitsorganisationen wie etwa Universitäten leistungssteigernd 28
S. auch Schimank (2008a: 221-225) zu Ökonomisierung als normativer Fiktion.
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wirke, bis zu speziellen Maßregeln der Art, dass die E-Musik des 20. Jahrhunderts weniger publikumsträchtig ist als Barock, Romantik und Klassik, woran sich die Programmgestaltung von kommunalen Konzerthäusern orientieren solle. Schon ein Ökonomisierungsdruck in Richtung der Stufe 3 läuft, differenzierungstheoretisch bewertet, auf eine Autonomiegefährdung teilsystemischer Leistungsproduktion hinaus; erst recht baut sich dieses Gefährdungspotential auf, wenn nennenswerte und immer größer werdende Anteile der Leistungsproduktion von Unternehmen bzw. Organisationen, die sich unternehmerisch geben müssen, getragen werden. Wird der finanzielle Druck in Richtung Verlustvermeidung oder Gewinnerzielung dann auch noch durch entsprechende Programmelemente überhöht, gleichsam ‚zum Programm gemacht‘, steigert das den Gefährdungsdruck weiter. Gefährdung heißt wohlgemerkt nicht, dass sich dieses Potential zwangsläufig auch realisiert – aber je größer es anwächst, desto wahrscheinlicher wird dies, und desto drastischer sind dann die Folgen. Hierbei ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die teilsystemische Autonomie nicht erst dann reduziert oder ganz aufgehoben wird, wenn die teilsystemspezifische selbstreferentiell geschlossene Handlungslogik situativ oder sogar auf längere Dauer und flächendeckend außer Kraft gesetzt und durch die wirtschaftliche Handlungslogik ersetzt wird.29 Neben diesem momentanen oder längerwährenden Totalverlust teilsystemischer Autonomie durch Inthronisierung des wirtschaftlichen Codes können durchaus weitreichende Autonomieeinbußen derart geschehen, dass Einwirkungen aus dem Wirtschaftsgeschehen den Bewegungsspielraum des weiterhin codegeprägten, also selbstreferentiellen teilsystemischen Operierens mehr oder weniger drastisch einschränken. Nicht nur der Direktzugriff auf den Code, auch indirekte Rahmungen des für sich genommen unangetastet bleibenden Codes können die teilsystemische Autonomie reduzieren. Den Akteuren eines Teilsystems mag durchaus völlig die Freiheit gelassen werden, sich in ihrem Handeln an dessen selbstreferentiellem Code und an nichts anderem auszurichten – wenn aber finanzielle Gesichtspunkte und diese überhöhende Programme den Rahmen des effektiv möglichen „Auslebens“ des Codes entsprechend eng vorgeben, wirkt dies als eine mindestens genauso starke, wenn nicht sogar manchmal stärkere Autonomiebeschränkung wie eine direkte Außerkraftsetzung des Codes. Je nach dem, wie eng den teilsystemischen Arbeitsorganisationen diese wirtschaftlich auferlegte Zwangsjacke ihrer Leistungsproduktionen geschnürt wird, schränkt das die teilsystemische Autonomie mehr oder weniger stark ein. Im Extremfall vollzieht sich eine 29
So Luhmanns (1990: 289-299) verengtes und disjunktes Verständnis teilsystemischer Autonomie. Die im Weiteren angesprochenen äußeren Begrenzungen und graduellen Abstufungen führt er unter dem Begriff „Abhängigkeit“ – eine wenig sinnvolle Begriffsverdopplung.
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‚feindliche Übernahme‘30 beispielsweise von Teilen der medizinischen Versorgung oder wissenschaftlichen Forschung durch die Wirtschaft. Geschähen diese ‚feindlichen Übernahmen‘ gleichzeitig bei allen Teilsystemen, und jeweils flächendeckend, käme das als deren Entdifferenzierung gegenüber der Wirtschaft zugleich der Entdifferenzierung Letzterer gleich und bedeutete damit ein dreifaches Ende: das Ende einer kapitalistischen Wirtschaft, das Ende einer kapitalistischen Gesellschaft, und das Ende einer funktional differenzierten Gesellschaft. Dies ist einerseits nach den bisherigen Erfahrungen mit der Moderne nur eine Denkmöglichkeit, und nichts deutet darauf hin, dass das auf absehbare Zeit anders werden könnte. Andererseits führt der Gedanke in aller Zugespitztheit vor Augen, dass es beständiger Gegenkräfte bedarf, um dem von der kapitalistischen Wirtschaft ausgehenden und über die Arbeitsorganisationen vermittelten Ökonomisierungsdruck auf alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme standhalten und so deren Autonomie wahren zu können. Denn dieser Druck mag manchmal schwächer sein – er verschwindet nie und kann vor allem jederzeit plötzlich anschwellen. 4. Arbeitsorganisationen als Verteidiger teilsystemischer Autonomie Bis zu diesem Punkt sieht es, vereinfacht gesagt, so aus, als sei die gesellschaftliche Durchorganisierung das Vehikel, mit dem die kapitalistische Wirtschaft ihren gesamtgesellschaftlichen Primat in die anderen Teilsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft transportiert. Die Arbeitsorganisationen wären dann ausschließlich Instrumente des Ökonomisierungsdrucks, und nach den eben angesprochenen Gegenkräften, die funktionale Differenzierung gegen eine gesellschaftliche ‚Durchkapitalisierung‘ (vgl. Funke 1978) aufrechterhalten, müsste man woanders suchen. Arbeitsorganisationen stellen in der Tat nicht die wichtigsten und schon gar nicht die alleinigen Gegenkräfte dar. Neben anderen, hier nicht anzusprechenden Gegenkräften31 ist insbesondere der Staat als ‚Selbstschutz der Gesellschaft‘32 gegen ihr eigenes Wirtschaftssystem einzustufen.33 Er ist eben nicht nur ein den Ökonomisierungsdruck transportierender Steuerstaat, sondern 30 31
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Vgl. Schimank (2006: 71-83). Vor allem bestimmten sozialen Bewegungen – siehe Schimank (1983). Heutzutage wären auf globaler Ebene vor allem Greenpeace und Attac zu nennen – siehe hierzu die im Ergebnis ähnliche Beurteilung des funktionalen Antagonismus von internationalen NGOs und global operierenden Unternehmen bei Münch (2008). Um eine in vergleichbarem Zusammenhang benutzte Formulierung Karl Polanyis (1944: 182) zu adaptieren. Näheres hierzu in Schimank (2008).
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auch ein demokratischer Staat; und in dem stellen die gesellschaftlich Schlechtergestellten gleichsam eine ‚natürliche‘ Mehrheit derer dar, die ein Interesse an einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat haben, der die Autonomie der anderen Teilsysteme gegen den Ökonomisierungsdruck zu wahren bestrebt ist. Was ich, diese hier nicht auszuführenden Überlegungen ergänzend, nun abschließend noch in den Raum stellen möchte, ist die Vermutung, dass Arbeitsorganisationen ganz analog zugleich als Instrumente des Ökonomisierungsdrucks wie als Puffer gegen diesen wirken. Sie sind eben nicht nur, wie dargestellt, geldabhängig, sondern weisen als Akteure im Vergleich zu Personen eine Kombination von Eigenschaften auf, die sie immer auch zu Verteidigern teilsystemischer Autonomie und damit funktionaler Differenzierung prädestiniert. Eine Arbeitsorganisation hat, anders als eine individualisierte Person in der funktional differenzierten Gesellschaft, sozusagen ihren ‚Lebensmittelpunkt‘ in einem einzigen Teilsystem – ein Unternehmen in der Wirtschaft, ein Museum im Kunstsystem oder ein Gericht im Rechtssystem.34 Orientierungen anderer Teilsysteme werden von Arbeitsorganisationen durchaus berücksichtigt, manchmal sogar – siehe die Rechtsabteilung eines Unternehmens – intern institutionalisiert, jedoch immer nur als Randbedingungen der jeweiligen teilsystemischen Handlungslogik.35 Forschungsinstitute wollen wissenschaftliche Erkenntnisse produzieren, nichts sonst – aber dafür kann es nötig sein oder opportun erscheinen, dass man sich an geltendes Recht hält und keine hohen Geldstrafen riskiert. Arbeitsorganisationen sind somit teilsystemisch monomanisch ‚eingenordet‘. Was das bedeutet, wird im Vergleich zu Individuen klar: Letztere sind Akteure, die in der Regel nicht von sich sagen können, dass ihre gesamte Lebensführung von der Logik eines und nur eines gesellschaftlichen Teilsystems regiert wird. Stattdessen müssen sie tagtäglich, manchmal im Minutenabstand, Führungswechsel, was ihren teilsystemischen Leitstern anbelangt, teils hinnehmen, teils selbst vornehmen. Arbeitsorganisationen sind hingegen ein für alle Male auf Gedeih und Verderb ihrem teilsystemischen „Dämon“ (Weber 1919: 613) verschrieben. Während man z.B. einen individuellen Wissenschaftler durch Zwang, Anreize oder Überzeugung vergleichsweise leicht dazu bewegen kann, fortan ‚unternehmerisch‘ aufzutreten (vgl. Bröckling 2007), ist das bei einem Forschungsinstitut zwar nicht unmöglich, aber viel schwieriger. Es verhält sich als Organisation gegenüber entsprechenden An- oder Zumutungen gleichsam be34 35
Ausnahmen sind u.a. Universitäten als organisatorisches Nebeneinander von Wissenschaftsund Bildungssystem (Braun/Schimank 1992). Eine Rechtsabteilung wirkt – gegen die Interpretation von Scharpf (1989: 15/16) – nicht als ‚Außenstelle‘ des Rechtssystems im Wirtschaftssystem, sondern als Defensivakteur des Unternehmens, der die ökonomische Handlungslogik gegen rechtliche Restriktionen abzuschirmen hilft.
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griffsstutziger, will und kann nicht glauben, was nun von ihm erwartet wird. Denn es würde, dem Ökonomisierungsdruck folgend, nicht nur einen Rollenwechsel vornehmen, sondern einen Identitätsbruch durchmachen. Arbeitsorganisationen legen in diesem Sinne, strukturell in Alternativlosigkeit begründet,36 eine große Teilsystemtreue an den Tag; und sie sind darin, im Vergleich zur Flatterhaftigkeit individueller Personen, höchst beständig. Mit dieser Eigenschaft sind Arbeitsorganisationen unerlässliche Träger der jeweiligen teilsystemischen Handlungslogik (vgl. Schimank 2001a). In Gestalt der „Mitgliedsrolle“ (Luhmann 1964: 29-49) beschaffen Arbeitsorganisationen eine generalisierte Konformitätsbereitschaft individueller Personen mit der organisatorisch hochgehaltenen jeweiligen teilsystemischen Handlungslogik. Die teils zu unbeständige, teils auch zu träge, immer wieder eigensinnige und launenhafte Subjektivität von Personen wird in formalen Organisationen durch Entlohnung, Karrierechancen und Kündigungsdrohungen domestiziert. Das trägt die binären Codes und Programmstrukturen, wie sie jedes Teilsystem der modernen Gesellschaft ausgebildet hat – auch gegen Ökonomisierungsdruck. Schließlich sind Arbeitsorganisationen hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Einflusspotentials, mit Individuen verglichen, typischerweise starke Akteure. Organisationen generell, also auch Arbeitsorganisationen, sind „composite actors“ (Scharpf 1997: 42-50), also Bündelungen je individueller Einflusspotentiale.37 Zusammengefasst: Arbeitsorganisationen sind nimmermüde prinzipientreue und einflussreiche Repräsentanten ihres Teilsystems. Sie stellen sich damit insgesamt nicht einfach nur als Vehikel des Ökonomisierungsdrucks auf ihr Teilsystem dar, sondern ebenso als Verteidiger der teilsystemischen Logik gegen diesen Druck.38 Die beobachtbare Trägheit der Anpassung – bis hin zur durchgehaltenen Nicht-Anpassung – von Universitäten, Krankenhäusern oder Sozialämtern an Ökonomisierungsdruck zeigt, wie zwiespältig gebaut diesbezüglich die Organisationsgesellschaft ist. Einerseits unterwirft sie die funktionale Differenzierung dem Kapitalismus – andererseits schützt sie diese vor ihm.39 Damit ist keineswegs gesagt, dass die Arbeitsorganisationen der anderen Teilsysteme, auch in Verbindung mit den anderen Gegenkräften, ein unbesiegbarer Schutzmechanis36 37 38
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Ein Unternehmen kann keine politische Partei werden, diese kein Krankenhaus und das keine Schule. James Colemans (1982) Diagnose der „asymmetric society“ bestätigt nur aufs Neue, was nicht erst Weber umtrieb: die enorme gesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit von Organisationen. Pierre Bourdieus (1992) Denkfigur, wonach jedes soziale Feld einen „autonomen“ und einen „weltlichen Pol“ aufweist, ließe sich als Konstitutionsprinzip der teilsystemspezifischen Arbeitsorganisationen verstehen. Man könnte von einem in sie eingebauten funktionalen Antagonismus (Schimank 1994) sprechen. Zur Rolle der Organisationsleitungen dabei siehe genauer Schimank (2008a).
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mus funktionaler Differenzierung sind – diese Entwarnung geben weder die theoretische Konstruktion noch die empirischen Erfahrungen her. Doch Arbeitsorganisationen sind immerhin widerspenstige, weil in sich gespaltene Überbringer des Ökonomisierungsdrucks in ihr jeweiliges Teilsystem. 5. Schluss In diesem Beitrag wollte ich als Differenzierungstheoretiker zumindest skizzenhaft vorführen, wieso die funktional differenzierte moderne Gesellschaft zwangsläufig auch eine kapitalistische Gesellschaft ist, und wieso diese funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft wiederum – solange sie besteht – eine Organisationsgesellschaft sein muss. Man hätte diese analytische Triade natürlich auch als Kapitalismustheoretiker oder als Organisationstheoretiker erschließen können. Von diesen beiden Zugängen her versucht ja Türk, die moderne Gesellschaft zu verstehen. Wenn erst einmal alle drei Zugänge gleichermaßen entfaltet vorliegen, kann man sie nebeneinanderlegen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede, bei Letzteren auf jeweilige Stärken und Schwächen sowie auf Kombinationsmöglichkeiten prüfen. In der derzeitigen, was die theoretische Durchdringung anbelangt, noch wenig konsolidierten Diskussionslage könnte es hingegen eine Zeit lang das Beste sein, alle drei denkbaren Zugänge erst einmal je für sich auszubauen, ohne dabei allzu sehr auf die beiden jeweils anderen Zugänge zu schauen. Ängstliche oder auch nur durch unspezifische Neugier motivierte Seitenblicke könnten sonst noch leicht dazu führen, dass man seine Spur verliert oder gar nicht erst richtig findet. Das ist natürlich kein Plädoyer für theoretischen Dogmatismus, wie wir ihn in der Soziologie bereits zur Genüge haben. Aber es gibt eben auch im Theoriediskurs ein ‚good closing‘ bzw. ‚bad opening‘ (vgl. Klapp 1978). Literatur Abromeit, H.; Juergens, U. (Hrsg.) (1992) Die politische Logik wirtschaftlichen Handelns. Berlin Adorno, Th. W. (1953) Individuum und Organisation. In: Adorno, Th. W. (1972) 440-456 Adorno, Th. W. (1972) Soziologische Schriften, Bd. 1. Frankfurt/M. Allmendinger, J. (Hrsg.) (2003) Entstaatlichung und Soziale Sicherheit – Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002. Opladen Althusser, L. (1964) Marxismus und Humanismus. In: Althusser, L. (1968) 168-194 Althusser, L. (1968) Für Marx. Frankfurt/M. Althusser, L./ Balibar, E. (1968) Das Kapital lesen. Reinbek Bader, V.; Berger, J.; Ganßmann, H.; Knesebeck, J. v.d. (1976) Einführung in die Gesellschaftstheorie. Gesellschaft, Wirtschaft und Staat bei Marx und Weber. Frankfurt/M.
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Der Zweck heil(ig)t die Mittel? Ökonomisierung und Organisationsdynamik im Krankenhaussektor Ingo Bode
Krankenhäuser gehören zu einer Klasse formaler Organisationen, die – obwohl sie in einschlägigen Typologien, z.B. bei Mintzberg (1983), der sie als ‚professional bureaucracies‘ klassifiziert hat, durchaus in Erscheinung tritt – selten in den Fokus der empirisch ausgerichteten Organisationssoziologie rückt. Ausnahmen bestätigen die Regel: Im angelsächsischen Raum fanden vor längerer Zeit einige soziologische Studien Beachtung, die den Organisationscharakter von Krankenhäusern mit Blick auf Prozesse und Strukturen (para-) medizinischer Berufsarbeit eingehend profilierten (vgl. Freidson 1963 oder Strauss et al. 1997 [1985]). Überhaupt kommt der Medizinsoziologie bis heute das Verdienst zu, wesentliche Erkenntnisse über die organisationalen Voraussetzungen stationärer Krankenbehandlung geliefert zu haben – auch in Deutschland (vgl. Siegrist 1974). Unter dem Eindruck einer weltweiten Durchsetzung quasiindustrieller Strukturen in der Gesundheitsversorgung sind Krankenhäuser auch unmittelbarer Gegenstand organisationssoziologischer Forschung geworden (so bei Rhode 1974 oder Heydebrand 1973). Insgesamt aber waren solche Zugänge lange Zeit eher episodischer Natur, da sich die Organisationssoziologie auf andere Sektoren der modernen Gesellschaft konzentrierte. In der jüngeren Vergangenheit ist nun allerdings eine nachhaltigere Auseinandersetzung mit Organisationsfragen im Krankenhaussektor zu beobachten (vgl. Lega 2005, Cuille 2006; Baecker 2007, Vogd & Saake 2008, Reay & Hinings 2009). Das liegt höchstwahrscheinlich in dem Umstand begründet, dass dieser Sektor (erneut) einen epochalen Strukturwandel erlebt, welcher (hierzulande) verbreitet unter dem Stichwort Ökonomisierung verhandelt wird (vgl. Simon 2001, Braun 2009; allgemein: Schimank & Volkmann 2008). Ökonomisierung steht in sozialwissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen meist für die Einführung privatwirtschaftlicher Steuerungs- und Allokationsroutinen in bis dato marktfern und administrativ bewirtschaftete Produktions- und Dienstleistungssektoren in staatlicher oder gemeinnütziger Trägerschaft (vgl. Hermes 2002, Czerwick 2007, Pfau-Effinger et al. 2008, Buestrich et al. 2008). Gelegentlich wird dabei moniert, dass der Begriff der Ökonomisierung zu unscharf und zur Beschreibung vieler der in diesen Sektoren derzeit vorange-
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triebenen Umbauprozesse der Begriff der ‚Verbetriebswirtschaftlichung‘ geeigneter sei (vgl. Möhring-Hesse 2008). Unumstritten sollte allerdings sein, dass die Optimierung numerisch bestimmbarer Kosten-Leistungs-Relationen die basale ‚gesellschaftsfähige‘ Legitimation für solche Umbauprozesse darstellt. Dabei wird die Aussicht auf mitunter schmerzvolle Anpassungszumutungen auf Seiten der Produzenten und auch der Nutzer bzw. Klienten in der (ver)öffentlich(t)en Meinung regelmäßig mit dem Hinweis kommentiert, dass das Ziel der Effizienzsteigerung die im Umbauprozess eingesetzten, bis dato sektoruntypischen Instrumente betriebswirtschaftlicher Rationalisierung letztlich rechtfertige – also der mit modernen Organisationskonzepten assoziierte Generalzweck (nun) auch in Bereichen wie der Krankenversorgung die als unangenehm erfahrbaren Mittel heilige. Die neuere organisationssoziologisch orientierte – oder zumindest so verwertbare – Literatur zum Bereich des stationären Gesundheitswesens hat Veränderungen in der Organisationsdynamik von Krankenhäusern durchaus im Auge. Man beobachtet, wie deren Organisationscharakter mit den neuen Steuerungsund Finanzierungsformen sukzessive verändert wird. Allerdings setzen diesbezügliche Diagnosen oft andere Akzente: Verwiesen wird beispielsweise auf die Ausbildung neuer Kompetenzen und Erwartungen auf Seiten des medizinischen Personals einerseits sowie der Patienten1 andererseits. Die Ärzteprofession, so eine häufige Feststellung, werde in ihrer fachlichen Autorität verunsichert, weil ihre Deutungshoheit in Folge neuer medialer Informationsangebote und wachsender Expertenkritik auf Seiten der Patienten angegriffen sei. Auch bringe die wachsende Standardisierung klinischer Praxis sowie die Verkopplung von inner- und außerstationärer Therapie in ‚Behandlungsnetzwerken‘ einschneidende Veränderungen im Profil medizinischer Berufspraxis mit sich (vgl. Pfaff & Scheibler 2006, Baecker 2007, Schubert & Vogd 2009). Das soziologische Augenmerk richtet sich hier ganz offensichtlich auf inkrementelle Veränderungsprozesse eher kultureller Natur. Die harten Fakten stehen allerdings für weit elementarere Veränderungsdynamiken: Die seit einigen Jahren weltweit vorangetriebene ökonomische Umprogrammierung von Krankenhäusern auf der Basis einer Simulation erwerbswirtschaftlicher Steuerungsmechanismen – die im Weiteren noch näher erläutert wird – hat im Kliniksektor einen Mentalitätswandel herbeigeführt, der in vielerlei Hinsicht dem entspricht, was Klaus Türk in seinen Arbeiten zur Durchsetzung eines aus der kapitalistischen Industrie erwachsenen Herrschaftsdispositivs feinsinnig beschrieben und kritisch beleuchtet hat (vgl. Türk 1995, 1997, 1999; 1
In diesem Beitrag wird der Einfachheit halber die männliche Form zur Bezeichnung beider Geschlechter verwendet.
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Türk et al. 2006). In der Tat verweist die organisationale Praxis heutiger Krankenhäuser in einer ganzen Reihe von Aspekten auf eine zugespitzte Indienstnahme des bürokratisch-herrschaftlichen Ordnungsinstrumentariums für erwerbswirtschaftliche Endziele – eine Entwicklung, die im Hinblick auf die Arbeits- und Leistungsvollzüge im stationären Versorgungsprozess nicht folgenlos bleibt. Insofern ist der Krankenhaussektor unter heutigen Bedingungen ein gutes Anschauungsbeispiel für die von Türk entwickelte Perspektive auf die Entwicklungsdynamik von Organisation und Organisationsgesellschaft in der (fortgeschrittenen) Moderne. Insbesondere sensibilisiert diese Perspektive dafür, dass in dem Maße, wie die in der Erwerbsökonomie zum Einsatz kommenden Instrumente herrschaftlich-bürokratischer Steuerung nun auch im Krankenhaussektor gesellschaftlich als legitim gelten, die Kulturlogik der (kapitalistisch verfassten) Organisationsgesellschaft zunehmend sektorübergreifend auf eine bestimmte Lesart dessen festgelegt ist, was als effiziente Form menschlicher Ko-Operation gelten kann und darf. Erst auf dieser gesellschaftstheoretisch profilierten Hintergrundfolie wird erkennbar, in welche hegemoniale Denkschablone die oben genannte, die öffentliche Debatte seit langer Zeit weitgehend dominierende, Zweck-Mittel-Assoziation eingelassen ist. Wie nachfolgend argumentiert wird, gibt es im Krankenhauswesen der Gegenwart jedoch so etwas wie eine ‚zweite Wirklichkeit‘, die sich aus einem anderen Strang gesellschaftlicher Modernisierung herausentwickelt hat und in der aktuellen Entwicklungsphase nicht einfach abgeschüttelt wird: Sie rührt im Wesentlichen aus zwei gesellschaftlich institutionalisierten (was nicht bedeutet: unerschütterlichen) Formen kultureller (Zweck-)Programmierung, die in jenem Transformationsprozess, den der Sektor derzeit durchläuft, unvermittelt auf die Wucht erwerbswirtschaftlicher Ökonomisierung2 treffen. Diese Programmierung kommt einmal von innen in Gestalt einer sozioprofessionellen Arbeitsorientierung der die Gesundheitsversorgung interaktiv umsetzenden Akteure (Ärzte und Pflegepersonal), und zum anderen von außen, i.e. als normative Festlegung des Krankenhauswesens auf das, was im Weiteren wohlfahrtsgesellschaftliche Infrastrukturfunktion genannt wird. Gewiss: Arbeitsorientierung und Infrastrukturfunktion waren nie, und sind heute weniger denn je, immun gegenüber den über den Organisationsmechanismus durchgesetzten Imperativen der Erwerbswirtschaft – nicht zuletzt deshalb, weil der Krankenhaussektor schon immer mit dem Geld der Erwerbswirtschaft alimentiert wurde. Aber sie bildeten v.a. während der Blütezeit des Sozialstaats der 1970er und 1980er Jahre starke 2
Zum Begriff der erwerbswirtschaftlichen Ökonomisierung – mit Bezug auf Vereine und ähnliche Nonprofitorganisationen – Wex (2004: 311).
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Gegenpole zur kapitalistischen Erwerbslogik und gaben dem Sektor Raum zur Entfaltung einer Eigendynamik, die ihre ganz eigenen Widersprüche und Spannungen (z.B. Verrechtlichung, Medikalisierung, Übersteigerung kurativer Funktionen etc.) erzeugte (für viele: Schubert & Vogd 2009) und neben die von Türk so treffend beschriebenen, sektorübergreifenden Assimilationsbewegungen der modernen Organisationsgesellschaft trat. Die aus der Sicht einer gesellschaftsbewussten Organisationssoziologie spannende Frage ist deshalb, wie es mit diesem Nebeneinander unter Bedingungen der oben umrissenen und im Weiteren noch näher erläuterten Ökonomisierungsprozesse weiter geht. Schlägt Quantität – also das Ausmaß des Einflusses erwerbswirtschaftlicher Organisationsmechanismen – hier in Qualität, also in die effektive Unterwanderung der o.g. Arbeitsorientierungen und der Infrastrukturfunktion um? Oder bewegt sich die Doppelwirklichkeit des Organisationsfelds auf eine neue Stufe der spannungsreichen Ko-Existenz zu, bei der es zu neuen Formen der Spannungsverarbeitung kommt? Verhält es sich am Ende vielleicht eher so, dass die spezifischen Zwecke, die der Organisation intern und extern zugewiesen werden, sie selbst kompromittierende Steuerungsinstrumente ins Leere laufen lassen, also der (kulturell zugewiesene) Zweck die Mittel eher heilt als heiligt? Allgemeiner gefragt: Wie und mit welchen (absehbaren) Folgen verändert sich das Verhältnis von Ökonomie und Organisation in einer Zeit, in der sich (wenigstens bis vor kurzem) der Siegeszug erwerbswirtschaftlicher Denk- und Ordnungsmuster bzw. die „Totalisierung des Wettbewerbs“ (Rosa 2006: 100) in westlichen Gegenwartsgesellschaften als unaufhaltsam dar(ge)stellt (hat)? Der vorliegende Beitrag bearbeitet diese Frage in vier Schritten: Er umreißt zunächst in der gebotenen Kürze jene institutionellen und organisationalen Veränderungen, die im deutschen (Akut-)Kliniksektor seit etwa fünfzehn Jahren stattgefunden haben und mit einer Transformation des Organisationscharakters in Richtung erwerbswirtschaftliche Ökonomisierung einherzugehen scheinen. Diese Entwicklungsdynamik wird dann im Lichte des Türk’schen Paradigmas gedeutet; dabei lässt sich erkennen, dass dieses Paradigma viele der stattfindenden Dynamiken erhellt und begreifbar macht. In einem dritten Schritt wird dann auf einige institutionelle und organisationale Besonderheiten des Krankenhaussektors sowie ihre offensichtliche Relevanz für aktuelle Entwicklungen in diesem Sektor abgestellt. Damit fällt das Augenmerk auf eine sektorspezifische Organisationsdynamik, die im Türk’schen Theorieprogramm – welches insgesamt andere Organisationssektoren (klassische Wirtschaftsunternehmen, Verwaltungsbürokratien, Verbände) fokussiert – ausgeblendet bleibt. In einem vierten Schritt wird nach Anschlüssen in der (neueren) Organisationssoziologie gesucht, um diese Dynamik verständlich zu machen. Am Schluss steht eine Spekulation
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über die erwartbaren Auswirkungen des o.g. Nebeneinanders von erwerbswirtschaftlicher Ökonomisierung und sektorspezifischer Organisationsdynamiken im Hinblick auf materielle Versorgungs-Outcomes. 1. Phänomene des Wandels I Der Begriff „Ökonomisierung“ prägt die aktuelle Diskussion über den Strukturwandel der Krankenhausversorgung in hohem Maße (vgl. Braun 2009). Kritischen Zeitbeobachtern gelten die mit dem Terminus assoziierten Bewegungen als Ausfluss einer „ideologischen Neuorientierung des Verhältnisses von Staat und Markt“ (Manzeschke 2007: 70; s. auch Simon 2001), im Kontext einer Verschiebung der für den Sektor (ursprünglich) konstitutiven Organisationsreferenzen hin zu einem konkurrenzorientierten Denken. Verfechter einer stärker erwerbswirtschaftlich ausgerichteten Steuerung des Sektors (und seiner Organisationen) argumentieren anders: Der Kliniksektor ist aus ihrer Sicht pathologisch – diagnostiziert werden zu viele Betten, zu ausgiebige Behandlungen, zu viel Redundanz in der Versorgungslandschaft, zu viel Macht auf Seiten der Besitzstandswahrer. Abhilfe schaffen könne erst eine ‚wettbewerbliche Nachfragesteuerung‘ (vgl. Neubauer 2007), mittels derer sich dann ‚Effizienzreserven‘ heben ließen (vgl. Augursky et al. 2009). Dazwischen bewegen sich Positionen, die ebenfalls ökonomisch argumentieren, aber auf bestehende natürliche Grenzen erwerbswirtschaftstypischer Steuerungsmechanismen im Krankenhaussektor abstellen (s. auch Bruckenberger et al. 2006). Verwiesen wird hier auf die beschränkte Konsumentensouveränität bzw. strukturelle Informationsasymmetrie zwischen Anbietern und Nachfragern sowie die Notwendigkeit, die Vorhaltung von Versorgungskapazitäten flächendeckend sicherzustellen und somit Überkapazitäten zu tolerieren. Zweifelsohne ist die zuletzt genannte Maxime für die Steuerung des Krankenhauswesens nach wie vor grundlegend. In jedem Fall muss man genauer hinsehen, wenn es darum geht, real existierende Ökonomisierungsprozesse im Kliniksektor zu erfassen. Dass in diesem Sektor paradigmatische Veränderungen greifen, ist indes unbestreitbar. Wenngleich auch für das Krankenhauswesen zwischen ‚talk‘ und ‚action‘ unterschieden werden sollte, ist jener Jargon, der in der auf das Organisationsfeld bezogenen Managementliteratur vorherrscht, bereits ein guter Indikator: ‚Klinikmarketing‘ (vgl. Kahl & Mittelstaedt 2007), ‚strategische Optionen‘ (vgl. Schweizer & Bernard 2009), ‚Käuferverhalten und markenpolitische Implikationen im Krankenhausmarkt‘ (vgl. Haseborg & Zastrau 2008), ‚Profitcenter‘ und ‚Benchmarking‘ (vgl. Franke 2007) – das ist die Begriffswelt, die die Diskussion im Organisationsfeld schon seit längerer Zeit
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kennzeichnet. Und dieser Jargon bzw. die mit ihm verbundenen ‚mind-set‘ haben einen materiellen Hintergrund. Dieser hängt wesentlich mit grundlegenden Umstellungen bei der institutionellen Steuerung des Krankenhaussektors zusammen, die wiederum mit bestimmten organisationsstrukturellen Veränderungen korrespondieren. Auf die deutsche Szenerie bezogen sind drei Phänomene von zentraler Bedeutung. Erstens ist es im System der stationären Gesundheitsversorgung zu einer grundlegenden Umstellung jenes Reglements gekommen, welches die Alimentierung von Krankenhäusern regelt. Konkret geht es um die Abkehr vom sog. Selbstkostendeckungsprinzip und Hinwendung zu einem Fallpauschalensystem (vgl. Kretschmer & Nass 2005, Simon 2007, Braun 2009). Die Kostenträger (i.w. die Gesetzliche Krankenversicherung) zahlen den Kliniken heute für den laufenden Betrieb nicht mehr einen Ausgleich für real entstandene Behandlungskosten, sondern pauschale Einheitsvergütungen, die sich am diagnostizierten Krankheitsbild orientieren und in einem Katalog von ‚diagnosis-related groups‘ (DRG) gelistet sind. Die Ressourcenausstattung der Kliniken hängt mithin unmittelbar von der Nachfrage nach Versorgungsleistungen ab. Die Fallpauschalen, die von einem öffentlichen Institut berechnet und in einem komplexen Verhandlungsprozess unter Beteiligung von Kassen, Krankenhausverbänden und Gesundheitsministerium abgestimmt werden3, sind eingebunden in ein System der Budgetbildung, welches die wirtschaftliche Situation der Krankenhäuser von der Zusammensetzung ihres Behandlungsportfolios (‚case mix‘) abhängig macht – wobei die Dynamisierung der Gesamtbudgets im Zeitverlauf sich bis vor kurzem an der Entwicklung der (volkswirtschaftlichen) Grundlohnsumme orientierte, mithin also gedeckelt war.4 Um ‚Rechnungsbetrug‘ zu vermeiden, sind ferner bestimmte Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden – z.B. gibt es Unter- und Obergrenzen für abzuleistende Behandlungstage oder Abschläge bei Wiederaufnahmen kürzlich entlassener Patienten bei gleicher Diagnose. Die den Krankenhäusern zugebilligten Fallmengen werden klinikindividuell mit Vertretern der Krankenkassen unter Berücksichtigung der Krankenhausplanung einerseits, der (absehbaren) Nachfrageentwicklung im Umfeld einer gegebenen Einrichtung andererseits ausgehandelt. Dabei besteht (de facto) die Erwartung, dass die Krankenhäuser ihre realen Fallkosten qua 3
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In dem von dieser Einrichtung (das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus, kurz: InEK) entwickelten Katalog gibt es derzeit ca. 1100 eingespeiste Diagnosen. Die Kalkulation der Behandlungskosten beruht auf Daten von 221 repräsentativ ausgewählten Kliniken sowie 2,8 Millionen Fällen. Im Gefolge von 2008 vereinbarten Tariflohnsteigerungen sowie der oben dargelegten massiven Proteste wurde eine Aufweichung dieses Budgetdeckels beschlossen, der 2008 noch bei weniger als 0,7% gelegen hatte. Bis 2011 soll ein neuer Orientierungswert und damit eine alternative Dynamisierungsformel gefunden werden.
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Produktivitätsfortschritt permanent reduzieren und sich erst dadurch Spielraum zur Durchsetzung größerer Fallmengen verschaffen – die Kliniken stehen mithin unter permanentem Rationalisierungsdruck. Dessen ungeachtet bleibt die für (einige) Kernsektoren der Erwerbswirtschaft typische ökonomische Regulierungslogik im Krankenhauswesen weiterhin mehrfach gebrochen. Die materielle Alimentierung des Sektors ist in weiten Teilen sozialisiert, es besteht ein allgemeines Zugangsrecht zu seinen Leistungen, es gibt ein bedarfsorientiertes Planungssystem5, und Mengen wie Preise unterliegen einer öffentlichen Regulierung – insofern gibt es keine regelgerechte Marktsteuerung (vgl. Brückenberger et al. 2006: 5-29). Dennoch ist offensichtlich, dass die patientenunabhängige Einpreisung von Krankheitsbildern, wie Schubert & Vogd (2009: 41) anmerken, zur Erfindung einer „neue(n) Klasse von Waren“ geführt hat. Krankenhäuser müssen sich heute so aufstellen, dass sie viele und gute ‚Fälle‘ anwerben – v.a. in regionalen Räumen, in denen mehrere Konkurrenten auftreten. Organisationsstrukturelle Veränderungen sind mithin unumgehbar (s.u.). Das neue Alimentierungsregime fand bislang keine Anwendung für die Finanzierung der Investitionstätigkeit der Kliniken. Diese obliegt noch immer – oft auf gesonderten Antrag hin – den Bundesländern, die jedoch in ihrer Bewilligungspraxis seit längerem immer restriktiver vorgehen. Viele Krankenhäuser sehen sich mithin veranlasst, regelwidrig Einnahmen aus dem laufenden Geschäft zu Investitionszwecken einzusetzen. Insgesamt wird von einem wachsenden Investitionsstau im gesamten Sektor ausgegangen.6 Wenngleich die im Kontext der Konjunkturprogramme 2009-2010 eingeleiteten Sonderfördermaßnahmen für Entspannung sorgen sollen, wird sich die Investitionsfinanzierung mittelfristig wohl an die für den laufenden Betrieb geltende Fallpauschalenlogik anpassen. Ab 2012 sollen nämlich auch die Investitionsbeihilfen von den realisierten Fallmengen abhängig gemacht werden können und in eine sog. leistungsorientierte Pauschalförderung überführt werden – wobei entsprechende
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Die Krankenhausplanung soll nach dem Willen führender institutioneller Akteure auf Rahmenvorgaben zurückgefahren werden. In diesem Rahmen sollen Kliniken, die eine gewisse Mindestmenge an Operationen nicht vorweisen können, entsprechende Leistungsangebote aufgeben – aus Qualitäts- bzw. Sicherheitsgründen, aber auch und nicht zuletzt mit dem Ziel einer räumlichen Konzentration von Versorgungskapazitäten bzw. der Ausdünnung der entsprechenden Infrastruktur. Mindestmengen gelten allerdings verbreitet als Wettbewerbshindernis, weil Anbieter ihr Angebot nicht frei entfalten können. Sie sind bislang indes nur marginal implementiert (so im Bereich der Krebstherapie). Bundesweit sind die Mittel für Krankenhausinvestitionen seit 1991 um etwa die Hälfte zurückgefahren worden; die „systemwidrig“ aus Betriebsmitteln vorgenommenen Investitionen wurden für Mitte dieses Jahrzehnts auf etwa 25% der Gesamtkosten geschätzt.
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Maßnahmen im Belieben der Bundesländer liegen. Das markt- bzw. absatzorientierte Alimentierungsprinzip wird mithin weiter ausgerollt. Eine zweite, für die institutionelle Umgestaltung des Krankenhauswesens relevante Innovation, ist perspektivisch von noch größerer Bedeutung: der preisgestützte Vertragswettbewerb zwischen Krankenkassen und unter einzelnen Krankenhäusern. Bislang handelt es sich noch um ein Randphänomen in Gestalt der sog. integrierten Versorgungsprogramme. Hier werden Kliniken ermuntert, sich an bereichsübergreifenden Versorgungsketten zu beteiligen und dabei eine bestimmte Menge von Behandlungen an eine Krankenkasse zu ‚verkaufen‘, um sich damit feste Patientenströme zu sichern.7 Es geht dann also um einen Wettbewerb nicht nur um Fälle, sondern auch um Preise, und zwar unter der Regie konkurrierender Kostenträger, i.e. der Krankenkassen, die seit geraumer Zeit an Konzepten zur Ausbreitung eines solchen Systems arbeiten (vgl. Bode 2009). Der Ökonomisierungsprozess im deutschen Krankenhauswesen lässt sich schließlich an einem dritten – im internationalen Vergleich besonders markanten – Phänomen festmachen: dem Eindringen kapitalistischer Unternehmen in eine lange Zeit öffentlich bzw. gemeinnützig verfasste Trägerlandschaft (vgl. Rehm 2007, Bähr 2008).8 Börsennotierte Verbundfirmen wie Helios, Rhön, Aklepsios oder Sana haben in den letzten Jahren eine Vielzahl (defizitärer) städtischer Kliniken übernommen und dabei durchgreifende Umbaumaßnahmen ergriffen. 9 Der von den kommerziellen Betreibern betriebene Import privatwirtschaftlicher Managementtechniken in ein vormals gemeinnützig ausgerichtetes Organisationsfeld hat den erwerbswirtschaftlich geprägten Rationalisierungsprozess im Krankenhaussektor insofern angeheizt, als auf diese Weise rasch neue Managementstandards implementiert und nicht-kommerzielle Konkurrenten unter Nachahmungsdruck gesetzt wurden. Zwar war die Übernahme öffentlicher Kliniken durch private Investoren mit Rationalisierungsschutzzusagen verbunden; auch setzten viele der von den privaten Klinikbetreibern verfolgten Reorganisationskonzepte zunächst auf die Optimierung von Bausubstanz und Prozessabläu7 8
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Z.B. endoprothetische Operationen mit Nachversorgungsgarantie. Waren Anfang der 1990er Jahre nur 15% aller Krankenhäuser in privater Hand, hatte sich diese Quote bis 2007 verdoppelt. Allerdings standen 2007 nur knapp 14% der Krankenhausbetten unter der Regie privater Konzerne – diese betreiben in der Mehrzahl kleinere und spezialisierte Einheiten. Bis vor kurzem galt der Krankenhaussektor auf dem Markt für Unternehmensakquisitionen als besonders lukrativ, weil von großen Rationalisierungsreserven und stabilen Nachfrageströmen ausgegangen wurde. Zudem bot der Sektor interessante Optionen auf Kopplungsgeschäfte. Potenzielle Investoren waren u.a. Unternehmen aus dem Bereich Medizintechnik, die die Kliniken auch als Absatzmarkt für eigene Produkte begreifen konnten, sowie Pharmaunternehmen, die sie als Patentierungsinstrument nutzen wollten (vgl. Lohmann 2007: 42).
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fen. Dessen ungeachtet zielten die Reorganisationsprogramme der neuen Eigentümer zugleich auf eine Reduzierung des Personalquotienten im Pflegebereich, die Nutzung von Überstunden als Kapazitätsanpassungsinstrument sowie eine Vermarktlichung der Vergütungsstrukturen (vgl. Rehm 2007, Gröschl-Bahr & Stumpfögger 2008): Nicht-medizinische Angestellte (mit geringerer ‚Marktgängigkeit‘) verzeichneten Einkommenseinbußen, umworbenes ärztliches Personal hingegen wurde durch Gehaltsverbesserungen gezielt an- bzw. von Konkurrenten abgeworben. Überdies gab es Anstrengungen, die Angebotsstruktur nach Maßgabe von Profitabilitätsgesichtspunkten auszugestalten. Wenngleich die verfügbaren Daten im Detail umstritten sind, so gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Maximalversorger aus dem öffentlichen Sektor ein überdurchschnittliches Volumen an teuren (weil komplexen) Behandlungsfällen10 verzeichnen, während viele Privatkliniken in eher komplikationsfreien Therapiefeldern operieren und so auf Grund des dadurch erzielten Gewinnvorsprungs den Kostensenkungswettbewerb im Sektor weiter antreiben können. Die einschneidende Transformation des internen Governance-Modus – von eher deliberativ (im kommunalen und gemeinnützigen Sektor) zu dezidiert renditeorientiert – scheint also durchaus qualitative Auswirkungen zu haben, obwohl alle Kliniken dem gleichen Regulierungssystem unterliegen. Wenig überraschend verfolgen die nicht-kommerziellen Träger in vielen Bereichen in ihren Rationalisierungsprogrammen mittlerweile vergleichbare Strategien11, was dann auch in organisationsfeldübergreifenden Veränderungen auf der Beschäftigungsebene zum Ausdruck kommt. Während die Zahl der Ärzte zwischen 1991 und 2007 deutlich zulegte (um 15%), war im gleichen Zeitraum der Umfang des nicht-ärztlichen Personals markant rückläufig (um knapp 10%), wobei bei den Pflegekräften die Teilzeitquote kräftig ausgeweitet wurde (von 25 auf 40%). Bemerkenswert erscheint dabei, dass die Betriebsergebnisse bei den Kliniken zunehmend breiter streuen und vermehrt Bilanzdefizite auftreten (vgl. Augurzky 2008) – eine typische Konfiguration für erwerbswirtschaftlich geprägte Sektoren. Der Wettbewerb um Fälle und (perspektivisch) um Preise sowie die Transformation des internen Governance-Modus im Zuge von Privatisierungsprozessen stützen im Krankenhauswesen einen allgemeinen Wandel von Organisationsstrukturen. Gewiss hat dieser Wandel auch demographische, technologische oder kulturelle Ursachen. Bedeutsam erscheint, dass der Patientendurchlauf ebenso wie der finanzielle Aufwand pro Behandlungsfall deutlich zugenommen
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Z.B. Entbindung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Rheuma, Bewegungsapparatskrankheiten und psychische Erkrankungen. Outsourcing-Maßnahmen und strategische Allianzen mit kommerziellen Partnern sind mittlerweile auch hier der Normalzustand (vgl. Schweizer & Badura 2009, Franke 2007: 62ff).
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haben.12 Die erwerbswirtschaftliche Ökonomisierung generiert allerdings eine ganz eigene Agenda. Grundsätzlich haben die meisten Krankenhäuser Vorkehrungen dafür getroffen, dass für jedes Krankheitsbild ein Kostendeckungsprofil gebildet werden kann. Dessen Über- bzw. Unterschreitung in den Planungs-, Steuerungs- und Produktionsprozessen wird zum zentralen Richtwert bei der Organisation interner Abläufe. Krankenhäuser unterhalten heute verbreitet Kostenstellen mit laufender Gewinn- und Verlustrechnung, teilweise gekoppelt an ein System interner Verrechnungspreise.13 Gängige Praxis ist zudem das Outsourcing von Servicefunktionen in Tochter- bzw. Beteiligungsgesellschaften oder in das lokale Marktumfeld (vgl. Zobel 2008, Franke 2007).14 Teile des Service- und zunehmend auch des Pflegepersonals werden von Leiharbeitsfirmen eingekauft. Beim Führungspersonal ist der Übergang „vom Verwaltungsleiter zum Manager“ (Franke 2007: 34) flächendeckend abgeschlossen. Gleichzeitig scheint die ärztliche Hierarchie im internen Governance-Prozess an Einfluss zu verlieren. Für die kaufmännischen Direktoren sind ergebnisabhängige Vergütungssysteme eingeführt worden. Unter ihrer Regie werden Zielnormen formuliert, die die einzelnen Abteilungen dazu antreiben (sollen), ein bestimmtes Volumen an ‚lukrativen‘ Therapien zu erreichen. Dabei kann das ausführende Personal im Rückgriff auf ausgefeilte Informations- und Controllingsystem permanent mit etwaigen Bilanzdefiziten konfrontiert werden, beispielsweise im Falle von Normüberschreitungen bei den Patientenliegezeiten. Fall- und Abteilungskosten werden qua ‚Benchmarking‘ einrichtungs- oder auch konzernintern vergleichbar und dadurch in der Alltagspraxis des medizinischen und pflegerischen Personals zu einem harten Datum. Verbunden wird dies vielerorts mit dem Aufbau einer streng prozessorientierten Ablauforganisation, durch die therapeutische Leistungen auf der Basis modularisierter Abteilungsstrukturen und „klinischer Behandlungspfade“ systematisch (vor-)standardisiert werden. 15 Ziel ist die konsequente 12
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Zwischen 1991 bis 2007 von 2600 auf 3500 € (alle Angaben aus der Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamts). Die Zahl der Kliniken ist im gleichen Zeitraum um 13% zurückgegangen, ebenso wie die Auslastungsquote (84/77%.) und das Bettenvolumen (um 25%). Das Fallvolumen nahm hingegen deutlich zu (14,6/17,2 Millionen). In einem solchen System mieten z.B. einzelne Abteilungen Operationssäle oder radiologische Dienste an (vgl. das Beispiel einer Uni-Klinik bei Franke 2007: 100-101). Damit waren in der Vergangenheit massive Lohnabsenkungen für die Beschäftigten verbunden (Jaehrling 2007). Gleiches bewirkt die Durchsetzung von Nottarifverträgen, welche derzeit für ca.10% der deutschen Krankenhäuser in Kraft sind. Als besonders innovativ gilt die Einrichtung eines ‚Flusssystems‘ mit einer Differenzierung von Versorgungsstufen zwischen Intensiv- und Low-Care-Stationen, wobei letztere eine geringere personelle und medizin-technische Ausstattung erhalten. Die Standardisierung von Versorgungsprozessen wird auch durch die zunehmende ‚evidence-base‘-Orientierung im Gesundheitswesen angereizt (vgl. Pfaff & Scheibler 2006).
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Durchplanung sämtlicher vertikalen Kooperationsprozesse, um einen (prima facie) effizienteren Personaleinsatz sicherzustellen. Dem gleichen Ziel dient die Etablierung neuer Berufsbilder, z.B. von Stellen für Versorgungs- und Dokumentationsassistenten, Narkosehelfern oder Patientenhostessen. Die Ausdifferenzierung von Interventionskompetenzen im Berufsgefüge des Krankenhauses führt zur Heraustrennung von als überbezahlt geltenden Teil-Funktionen aus ganzheitlicheren Berufsprofilen sowie zu einer stärker taylorisierten – und damit im Sinne erwerbswirtschaftlicher Rationalisierung besser kontrollierbaren – Arbeitsteilung. Analog dazu vollzieht sich im Pflegebereich eine Verschiebung von der Funktions- zur Primärpflege (vgl. Marrs 2008: 68-82). Man sieht: Die Ökonomisierung des Steuerungssystems hat Konsequenzen für das organisationale Arrangement der Krankenversorgung. 2. … und ihre Interpretation im Lichte des Türk’schen Paradigmas Wie können die bis hierhin (schemenhaft) umrissenen Wandlungsprozesse aus der Perspektive einer gesellschaftsbewussten Organisationssoziologie angemessen interpretiert werden? In einem ersten Zugriff erscheinen die von Klaus Türk formulierten Beobachtungen zur ‚Organisation der Welt‘ (vgl. Türk 1995) durchaus richtungweisend. Mit Blick auf die Kernmomente dessen, was Türk den „real-materiellen Lebens- und Aneignungsprozess“ nennt, „durch den sich Menschen ko-operativ ... reproduzieren“ (Türk 1995: 38, 39), sprechen die oben dargestellten Entwicklungen in der Tat eine klare Sprache: In der Krankenhauslandschaft des 21. Jahrhunderts wird das Instrumentarium der Organisation offenbar zunehmend dazu eingesetzt, die entscheidenden Akteure, welche sozial und kulturell nicht primär an den Maximen der Erwerbslogik orientiert sind – sondern (para-)professionell bzw. infrastrukturorientiert (dazu unten mehr) –, auf ein mit Renditezielen kompatibles Organisationsverhalten zu trimmen. Die Transformation des Krankenhauswesens steht allem Anschein nach für einen weiteren Schritt der „Universalisierung von Geld-Ware-Beziehungen und ihre Beherrschung durch Marktmacht und Marketing“ (ebd.: 80). Mehr noch: Die gerade in Deutschland besonders akzentuierte Tendenz der Überführung von Krankenhäusern in erwerbswirtschaftliche Trägerformen macht mit Händen greifbar, dass sich (nun auch) im Bereich der Gesundheitsversorgung „Organisation … als die adäquate Sozialform des Kapitals“ manifestiert (ebd.: 41). Mit anderen Worten: Die Durchsetzung erwerbswirtschaftlicher Trägerformen und der von ihr ausgehende Anpassungsdruck auf nicht-erwerbswirtschaftliche Träger bewirkt, dass Organisationen des Kliniksektors (auch) unmittelbar als ‚Insti-
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tution der kapitalistischen Gesellschaftsformation‘ (vgl. Türk 1997) erscheinen können. In der Gesellschaftsformation des fortgeschrittenen Kapitalismus, argumentiert Türk, wird organisationale Herrschaft „abgestützt durch eine legitimatorische Strategie“ (Türk 1995: 43).16 Die im Krankenhauswesen gegenwärtig prominente Strategie ist durch die eingangs umrissene Zweck-Mittel-Logik begründet, derzufolge die – aus traditioneller Perspektive – sachfremden Instrumente betriebswirtschaftlicher und wettbewerblicher Steuerung, so sehr sie auch bestimmte Opfer fordern mögen, auf Grund ihrer Effizienzvorteile unabwendbar sind. Umgekehrt untermauern, wie sich im Rekurs auf Türk (1999) argumentieren lässt, die neu eingerichteten Organisationsstrukturen bestimmte Kommunikationen (z.B. das Argumentieren in Fallkosten), welche dem geschilderten Rationalisierungsprozess eine über die Organisationsgrenzen hinaus greifende, gesellschaftsweite Eigendynamik verleihen. In der Tat: Politiker, Medienöffentlichkeit, Kassen- und Verbändefunktionäre internalisieren die neue ZweckMittel-Logik bzw. richten ihre Deutungsmuster zunehmend daran aus – was etwa dann erkennbar wird, wenn die für die Steuerung des Organisationsfelds Verantwortlichen wie selbstverständlich unterstellen, dass Qualitätssteigerungen im Gesamtsystem nur über die Perfektionierung der betriebswirtschaftlichen bzw. wettbewerblichen Agenda erreichbar sind (stellvertretend für den entsprechenden Fachdiskurs: Weber 2004). In der neuen Konfiguration scheinen nun mehr hegemoniale Organisationsformen (auch) in dem Sinne als „Distanzwaffen“ (Türk 1999: 53) zu funktionieren, dass alternative Ko-Operationsformen aus dem Sinnhorizont der Akteure des Organisationsfelds herausfallen. Spätestens in der ‚durchökonomisierten‘ Gegenwartsgesellschaft erscheint also die Formierung der bürokratisch-herrschaftsorientierten Organisation auch im Krankenhaussektor als evolutionäre Tendenz, die „an die Entwicklung der europäischen Kultur, Ökonomie und bürgerlichen Gesellschaft, vor allem aber an die Genese des modernen Kapitalismus gebunden ist“ (ebd.: 44). Das „effizienzorientierte Steuerungsmodell“ (ebd.: 46) bestimmt die Kommunikationen in diesem Sektor, die „Strukturkorrespondenz“ (Türk 1999: 49) zwischen Krankenhaussystem und -umwelt scheint allzu offensichtlich. Das absehbar materielle Ergebnis einer solchen Entwicklung liegt auf der Hand und manifestiert sich in u.a. (einschlägig) von Perrow (1989) als Kernmerkmal der zeitgenössischern Organisationsgesellschaft beschriebenen Externalisierungsprozessen, konkret: eine Neigung zur Abweisung ‚unwirtschaftlicher‘ Fälle an andere Organisationen, die Verursachung von Versorgungs- und 16
Laut Türk sind dabei „organisationale Produktionen … angewiesen auf ideologische, legitimatorische, qualifikatorische, politische und materielle Ressourcen, die Organisationen nicht selbst produzieren.“ (Türk 1995: 88)
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Betreuungsdefiziten durch die Vorenthaltung von für andere Organisationen relevanten Sachinformationen, das Anziehen von Patienten, für die andere Einrichtungen leistungskompetenter wären sowie die Überstrapazierung von Arbeitsenergie und -ethos des Klinikpersonals, dessen ‚Burnout‘ von anderen Organisationen verarbeitet bzw. kompensiert werden muss. Der Zweck – also die Erhöhung numerischer Effizienz bei Aufrechterhaltung der allgemeinen (kurativen) Versorgungsfunktion – heiligt hier offenbar die Mittel, i.e. die zunehmende Beschränkung organisierter Ko-Operation auf die Logik extrinsisch motivierter und herrschaftlich-bürokratisch kontrollierter Arbeitstätigkeit. 3. Die zweite Wirklichkeit Die in den o.g. Ökonomisierungsprozessen zum Ausdruck kommenden Strukturentwicklungen lassen sich durchaus als Zurichtung des Krankenhaussektors im Sinne des Herrschaftsimperativs einer kapitalistisch strukturierten Organisationsgesellschaft deuten. Allerdings: Die Subsumption dieses Sektors unter die Normalität der Erwerbsökonomie (und ihrer Organisationen) war im Verlaufe des 20. Jahrhunderts und ist auch heute noch stets nur partiell. Sowohl der Blick in die Vergangenheit des Sektors als auch eine Reihe von Impressionen zu jüngeren Entwicklungen im Krankenhauswesen machen deutlich, dass der Sektor sich in einer Art ‚Doppelwirklichkeit‘ bewegt, in der Bürokratisierungs- und (später) Ökonomisierungstendenzen spannungsreich mit anderen Organisationslogiken vermittelt sind. Diese Doppelwirklichkeit hat ihren präsumtiven Ort in Regulierungsartefakten – also etwa all jenen gesetzlichen bzw. administrativen Bestimmungen, die als Zielmarke für die Steuerung des Sektors das Erreichen von ‚Qualität und Wirtschaftlichkeit‘ ausgeben, in der öffentlichen Wahrnehmung, also in medial transportierten Diskursen und Deliberationen relevanter Stakeholder (Verbände, Administrationen, Journalisten17), sowie nicht zuletzt in den Köpfen von Bürgern und Patienten – wobei empirisch zu prüfen wäre (was hier nicht geleistet werden kann), wie stark entsprechende Repräsentationen ausgebildet sind und wie potenzielle Widersprüche und Spannungen dabei jeweils verarbeitet werden. Dabei ist wesentlich, dass die zweite Wirklichkeit die erste nicht überformt oder dementiert. So lässt sich die Ausweitung einer industrialisiert17
Man kann diesbezüglich auch von einer „offiziellen sozialpolitischen Kultur“ sprechen, die sich zwar nicht mit den Haltungen und Einstellungen der Gesellschaftsmitglieder deckt, diese aber immer auch prägt bzw. rahmt und damit die Regulierung sozialpolitisch gesteuerter Sektoren beeinflusst (vgl. dazu die für das Feld der Alters- und Pflegeversorgung durchgeführte Untersuchung von Bode 2008).
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tayloristischen Krankenhausversorgung in den 1970er Jahren einerseits als Prozess der Durchsetzung eines organisationsgesellschaftlichen Herrschaftsdispositifs interpretieren, das auch organisationsstrukturelle Konsequenzen hatte. Die von der zeitgenössischen Krankenhaussoziologie (vgl. Heydebrand 1973, Rohde 1974, Siegrist 1978) so treffend charakterisierten Eigenschaften der modernen Klinikorganisation, konkret: die Quasi-Kasernierung von Patienten, die willkürträchtige Hierarchisierung von Entscheidungsprozessen und die Implementierung einer ebenso bürokratisch-mechanistischen wie einseitig kurativ ausgerichteten Kapazitätsplanung verkörpern typisch organisationsgesellschaftliche, also: lebensweltfremde, machtgesättigte und in diesen Dimensionen sozial verselbständigte Formen menschlicher Ko-Operation. Die dabei auftretenden Friktionen konnten und mussten mehr oder weniger notdürftig durch medizinische Rationalitätsfiktionen und Disziplinierungspolitiken unter der Regie der ‚Männer in weiß‘ unter Kontrolle gehalten werden. Gleichzeitig aber wird andererseits die Krankenhausversorgung in dieser Epoche endgültig zum Bestandteil dessen, was man als wohlfahrtsgesellschaftliche Infrastruktur sozialer Daseinsvorsorge bezeichnen könnte. Der flächendeckende Zugang zu stationären Versorgungseinrichtungen, der Anspruch an (bestmöglichst) am medizinischen Bedarf ausgerichteter Krankheitsbehandlung sowie die Verpflichtung des Staates auf eine fortwährend an Versorgungsbedürfnisse und -möglichkeiten angepasste Kapazitätsvorhaltung werden zu einer wohlfahrtskulturellen Normalität, die sich markant von den bis dato herrschenden Verhältnissen einer residualistischen und sozial diskriminierenden Versorgungspraxis abhebt und im Übrigen auch insofern wohlfahrtskulturell unterfüttert ist, als sie international unterschiedlich ausfällt (s. auch Lindner 2001, Schölkopf 2005). Die wohlfahrtskulturellen Orientierungen manifestieren sich im politischadministrativen System sowie auf der Ebene zivilgesellschaftlicher Akteure. Gerade in Deutschland entwickelt sich das Krankenhauswesen während des 20. Jahrhunderts zum Kernbestandteil eines universalistisch angelegten und sozialpolitisch regulierten Gesundheitssystems (grundlegend: Simon 2000). Der Kliniksektor wird dabei, wie Manzeschke (2007: 63) treffend formuliert, als eine ‚Sonderwirtschaftszone‘ interpretiert, die der Sphäre der Erwerbsökonomie weitgehend entzogen ist und so zum zentralen Eckpfeiler moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit wird. Zugleich wird er mit diversen zivilgesellschaftlichen Instanzen – Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Kommunen – kurzgeschlossen. Damit korrespondiert im politisch-administrativen System die Ausbildung eines – häufig als ‚korporatistisch‘ bezeichneten – Verbändesystems bzw. einer gemeinsamen Selbstverwaltung (vgl. Klenk 2008) sowie in einem komplexen Zusammenspiel von Interessenarrangements und normativ-ethischen Berufsordnungen
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(vgl. Bode 1998). Auf diese Weise erhält das Krankenhauswesen eine spezifische wohlfahrtsgesellschaftliche Basis. Der Rekurs auf den Begriff der Infrastruktur zur Kennzeichnung der gesellschaftlichen Einbettung des Krankenhauswesens ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sicherlich erläuterungsbedürftig, wird dieser Terminus doch in der Regel mit öffentlichen Gütern und natürlichen Monopolen im Energie-, Transport- oder Telekommunikationssektor assoziiert. Man kann und sollte jedoch gerade in der Ökonomisierungsdebatte über dieses Begriffsverständnis hinausgehen: Dass moderne Gesellschaften solche Einrichtungen unterhalten und sie symbolisch als Kollektivgüter fassen bzw. lange Zeit befasst haben, verweist darauf, dass in modernen Gesellschaften spezifisch verortete und organisational verkörperte Strukturen existieren18, die Verknüpfungen zwischen Lebenssphären bzw. Funktionssystemen ins Werk setzen und so erst die Voraussetzung dafür schaffen, dass arbeitsteilig arrangierte Lebensführung (in zivilisierter Form) auf Dauer gestellt werden kann. In einem eher kultursoziologischen Zugriff kann man mit Vogel (2009: 63) auch von einer „Infrastrukturalisierung des Sozialen“ sprechen, die sich mit dem Wohlfahrtsstaat moderner Prägung herausbildet und dazu führt, dass bestimmte Einrichtungen sozialer Daseinsvorsorge in modernen Gesellschaften zu „kollektiven Selbstverständlichkeiten“ und zu einem „zentralen Integrationsfaktor“ werden (ebd.: 64, 65). Wenngleich nun die Krankenversorgung nur selten mit dem Infrastrukturbegriff in Verbindung gebracht wird19, so erscheint der (so verstandene) Infrastrukturcharakter von Krankenhäusern allzu offensichtlich. Dieser Charakter ist zunächst institutionell spezifisch kodiert. In der durch das Krankenhausgesetz von 1972 geregelten planmäßigen Vorhaltung von allgemein zugänglichen Versorgungskapazitäten manifestiert sich eine symbolisch kodifizierte gesellschaftliche Grundhaltung, der zu Folge der Krankenhaussektor (ähnlich wie Feuerwehren oder Wasserwerke) die oben genannte Verknüpfung zwischen Lebenssphären bzw. Funktionssystemen durch die Ausbildung bestimmter Organisationsstrukturen zu garantieren hat. Ihm ist ein allgemeiner Versorgungsauftrag zugewiesen, der durch ein ausdifferenziertes System der Krankenhausplanung 18
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Je nach Theoriepräferenz kann man die Existenz dieser Strukturen parsonianisch als Orte der Interpretation unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionssysteme, als spezielle Vorkehrungen zur „strukturellen Kopplung“ ansonsten selbstreferenziell abgeschotteter gesellschaftlicher Teilsysteme (im Luhmann’schen Sinne) oder auch (marxistisch gewendet) als staatlich moderierten Reproduktionssektor zur Gewährleistung kapitalistischer Akkumulation begreifen. Belässt man es bei einer ‚middle range‘-Perspektive, so ist wesentlich, dass Kopplungs- bzw. Vermittlungsfunktionen der geschilderten Art bestimmten Organisationstypen überlassen worden sind, deren besonderer Charakter in der Gesellschaftstheorie meistens keine Rolle spielt. Höfling (2008: 22) etwa spricht vom Gesundheitssystem als einer „netzwerkartig angelegte Infrastrukturwirtschaft“.
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auf epidemiologischer Datenbasis ein fast alle Bevölkerungsteile einbeziehendes System der Krankenpflichtversicherung20 sowie (lange Zeit) sog. gemeinsame und einheitliche Versorgungsverträge zwischen Kassen und Kliniken implementiert werden soll. Ungeachtet einer lokal ausdifferenzierten Trägerlandschaft steht die Vorstellung von einer flächendeckenden Grund- und Spezialversorgung zu überregional vergleichbaren Konditionen bis heute für eine wohlfahrtskulturelle Normalität – und diese schließt auch jene ein, die zur Sicherstellung der Funktionserfordernisse der Erwerbswirtschaft nicht benötigt werden. Für die Funktionsweise von Krankenhäusern hat dies einschneidende Konsequenzen. Von besonderer Bedeutung erscheint dabei der Umstand, dass die ökonomische Basis bzw. die Ressourcenausstattung des Krankenhaussektors lange Zeit dezidiert bedarfswirtschaftlich ausgerichtet war. Sämtliche Akteure des Sektors wurden (materiell wie symbolisch) darauf festgelegt, dass die Ressourcenallokation immer und stets den medizinischen Bedürfnissen zu folgen hat.21 Einmal als legitim angesehene Versorgungsbedürfnisse – bzw. die zu deren Befriedigung als notwendig deklarierten Kostenansätze – legten (früher oder später) eine entsprechende Mittelausstattung nahe, die aus anderen Bereichen des gesellschaftlichen Ressourcenhaushaltes (bzw. aus dessen Zuwachs) zu mobilisieren war. In der Sprache der Sozialbürokratie hieß das Selbstkostendeckungsprinzip. Vieles spricht dafür, dass sich über diesen unbedingten gesellschaftlichen Versorgungsauftrag und seine bedarfswirtschaftliche Operationalisierung im gesamten Organisationsfeld – d.h. in den Kliniken selbst, aber auch bei jenen Akteuren, die für deren administrative und politische Regulierung zuständig waren – eine auf die Infrastrukturfunktion bezogene Grundhaltung ausbildete, die auch die lokal vollzogenen Entscheidungsprozesse sinnhaft strukturierte und ihnen Richtung verlieh – also selbst zu einem Teil des im organisationalen Reproduktionsprozesses zum Einsatz kommenden Instrumentariums wurde. Entscheidungen über Programme, Maßnahmen und nicht zuletzt Strukturen (z.B. Kapazitätsplanung, Praxis der Notaufnahme, Ausgestaltung des Sozialdienstes) konnten – auch und gerade jenseits berufsethischer Normen (s.u.) – nicht anders begründet werden als nach Maßgabe dieser allgemein internalisierten wohlfahrtsgesellschaftlichen Infrastrukturfunktion des Krankenhauswesens. 20 21
Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) oder Privatversicherung mit funktional-äquivalenter Versorgungsfunktion (für Beamte und Selbstständige). Das war in bestimmter Hinsicht illusionär, denn de facto arbeiten (auch) Gesundheitssysteme stets mit fixen Ressourcen – und diese waren zumindest bis Ende der 1960er Jahre eher knapp bemessen. Außerdem bestehen gleichsam natürliche Grenzen dieser Bedarfsorientierung in jenen Beschränkungen, die sich aus der strukturellen Unsicherheit fallbezogener medizinischer Diagnose und Therapie ergeben und leicht Gegenstand einer willkürlichen „Reduktion der Komplexität“ werden (Baecker 2007: 249).
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Die infrastrukturelle Grundausrichtung korrespondierte dabei mit den das Organisationsfeld „überdachenden sozio-kulturellen Normen der Gesundheitspflege“ (Rhode 1974: 6), konkret: mit bestimmten Ausprägungen des medizinischen und später auch pflegerischen Professionalismus. Der von der klassischen Professionssoziologie hinlänglich durchleuchtete normative Unterbau medizinisch-professionellen Handelns sowie seine partielle Übertragung auf den Bereich der Pflegearbeit (vgl. Winter 2005) beinhaltete eine universalistische Patientenorientierung, die aktiv (auch) in die industrialisierte Krankenhausorganisation eingebracht und deren administrativ-bürokratischen Logik gleichsam entgegengehalten wurde. In der von Talcott Parsons (1964) eingeführten Terminologie leiten die Bezugswerte wissensbasierte Autonomie und affektive Neutralität die institutionelle Einbettung des Sektors, z.B. in Gestalt des ärztlichen Kammerwesens (vgl. Freidson 2001). Gewiss: Diese (para-)professionellen Normen waren stets mit Einkommens- bzw. Statusinteressen der beteiligten Berufsgruppen verknüpft; ferner setzten paternalistische Arzt-PatientBeziehungen sowie die subsidiäre Position des – eher auf einen die kurativmedizinische Engführung des Arzthandelns überwindenden, ganzheitlichen Versorgungsansatz orientierten – Pflegepersonals mitunter enge Grenzen. Dennoch kann es an der sich im 20. Jahrhundert vollziehenden professionskulturellen Strukturierung von Klinikorganisationen und ihrer Verkopplung mit dem Infrastrukturcharakter des Krankenhaussektors keinen Zweifel geben (s. auch Mintzberg 1983 oder Scott et al. 2000: 175-195). Die Frage ist allerdings, was aus diesem Tandem im Zuge der oben umrissenen Ökonomisierungstendenzen geworden ist. Hier ist zunächst festzuhalten, dass es zwischen der Epoche der Industrialisierung der stationären Klinikversorgung und dem Auftreten der o.g. verschärften Ökonomisierungstendenzen eine Phase der ‚Humanisierung des Krankenhauses‘ gegeben hat, die bis heute Nachwirkungen zeigt (vgl. Engelhardt & Herrmann 1999). Humanisierung meint hier insbesondere die stärkere Einbeziehung lebensweltlicher Bezüge in den Klinikalltag sowie den Ausbau von Patientenrechten. Die Ausstattung der Krankenzimmer (Fernsehen, Telefon, Nasszellen), die Einrichtung von Gemeinschaftseinrichtungen (Selbstbedienküchen, Medienräume, Bibliotheken etc.) sowie die Öffnung der allermeisten Häuser für den freien Besucherverkehr deuten an, dass die Beziehung zwischen Organisation und Gesellschaft im Krankenhauswesen auch von nicht-ökonomischen und bürokratisch bisweilen eher dysfunktionalen, in der Wohlfahrtskultur (und dem Prozess ihrer Zivilisierung) verankerten Einflüssen geprägt wurde und wird – wiewohl dies durchaus sozial selektiv (z.B. in höherem Maße für privat Krankenversicherte) vonstatten ging und geht.
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Gleiches gilt für die Ausweitung der Patientenrechte sowohl im Behandlungsprozess als auch auf institutionellem (rechtlichen) Wege (vgl. Pfaff & Scheibler 2006). Beispiele dafür sind die zumindest formale Durchsetzung des ‚Informed-Consent‘-Prinzips, die Entwicklung des Arzthaftungsrechts, der Einbezug von Patientenvertreter in gesundheitspolitische Steuerungsgremien sowie die (staatlich geförderte) Einrichtung von Patientenberatungsstellen und Homepages zur Patienteninformation. Von Krankenhäusern wird heute zunehmend erwartet, dass sie Auskunft geben über das, was sie tun und wie sie es tun – was auch organisationsstrukturelle bestimmte Konsequenzen hat. Die Transparenzerwartung entspricht der Ökonomisierungsagenda in bestimmter Hinsicht, sollen doch Patienten heute so etwas wie eine Konsumentenmentalität ausbilden und auf diese Weise die Kliniken unter Wettbewerbsdruck setzen.22 Zugleich aber geht es dabei auch um Transparenz im Sinne des für die Moderne grundlegenden Wertes der individuellen Selbstbestimmung – ungeachtet dessen, dass es sich bei der Vorstellung vom „mündigen Patienten“ letztlich um einen Mythos handelt (vgl. Stollberg 2008). Wenn also, wie seit längerem zu beobachten, Krankenkassen ‚Klinikportale‘ ins Internet stellen, diverse Printmedien Leistungsvergleiche veröffentlichen und Krankenhäuser sich vermehrt um Qualitätszertifikate bemühen23, dann folgt dies nicht zuletzt wohlfahrtskulturell untermauerten Emanzipationsansprüchen jenseits der Ökonomisierungsagenda. Schließlich kann auch nicht übersehen werden, dass solche Ansprüche immer wieder in die Arena der Gesundheitspolitik vordringen, die nach wie vor wesentliche Rahmendaten für die Praxis auch und besonders von Krankenhäusern setzt. An diese Ansprüche können und konnten zuletzt verstärkt Interessenkoalitionen anknüpfen, die sich gegen den Ökonomisierungsdruck im Krankenhauswesen wenden24 – und auch einige Stakeholder im politisch-administrativen System, denen es zuletzt gelang, diesen Druck etwas zu entschärfen bzw. weitere Schritte zur Ökonomisierung des Sektors (z.B. einen zunächst geplanten stärkeren Preiswettbewerb) aufzuhalten. Mit anderen Worten: Die wohlfahrtsge-
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Was allerdings hochproblematisch sein kann: Ein solcher Wettbewerb veranlasst die Kliniken nämlich, Versorgungsbedürfnisse qua Außenwerbung gezielt zu wecken, was bei den Adressaten potenziell Misstrauen generiert und damit, wie Manzeschke (2007: 81) zu Recht anmerkt, das Beziehungsgefüge zwischen den Leistungserbringern und jenen stört, die nicht mehr als verlässliche Medizin und Pflege suchen. Seit einigen Jahren müssen deutsche Krankenhäuser überdies sog. Qualitätsberichte publizieren; die Auflagen im Hinblick auf die Transparenz und Standardisierung der Berichterstattung (Darstellung von Therapieergebnissen etc.) sind dabei zuletzt deutlich verschärft worden. Im Oktober 2008 zum Beispiel während einer von ca. 130.000 Beschäftigten besuchten Massenkundgebung, welche ein sog. „Aktionsbündnis zur Rettung der Krankenhäuser“ in Berlin organisiert hatte.
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sellschaftliche Infrastrukturfunktion des Krankenhauswesens wird auch unter Bedingungen verschärfter Ökonomisierung permanent reaktualisiert. Eine ähnlich ambiguitätsträchtige Konstellation zeigt sich beim Akteurskern der ‚professional bureaucracy‘ (vgl. Mintzberg 1983) – also bei jenen Funktionsträgern und Arbeitskräften, die vor Ort mit der Ökonomisierungsagenda zu leben haben. Die wenigen zur Erfahrungswelt und Praxis dieser Akteure liegenden neueren Studien vermitteln ein zweischneidiges Bild: Was die oberste Führungsebene auch der nicht-kommerziellen Kliniken betrifft, so scheint diese Ebene die oben umrissenen Rationalisierungsprogramme einerseits durchaus aktiv voranzutreiben. Andererseits sind Versuche erkennbar, den Wettbewerbsdruck strategisch zu unterlaufen, beispielsweise durch interorganisationale Allianzbildungen, die die Verhandlungsmacht der Kliniken z.B. gegenüber den Krankenkassen erhöhen (vgl. Hermes 2002: 89-100). Auch versuchen viele größere Krankenhäuser bereits seit längerer Zeit, durch den Aufbau von größeren Spezialzentren überregionale Monopole zu bilden (vgl. Janischowski & Schneider 1999), was den gleichen Effekt hat. Allerdings: Auf der Ebene des Patientenkontakts haben die Rationalisierungsprozesse v.a. bei der Pflege eine massive Zunahme der Arbeitsintensität bewirkt (vgl. Schmidt & Möller 2006: 8), und es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Pflegetätigkeiten in Bereichen wie Aktivierung oder psychosoziale Stabilisierung zurückgefahren werden mussten (vgl. Weidner 2007, Marrs 2008). Die von den nicht-ärztlichen Berufsgruppen gewährleisteten Versorgungsfunktionen – ‚sentimental work‘ und ‚articulation work‘ in den Begriffen von Strauss et al. 1997 [1985]) – geraten offensichtlich unter Dauerstress und Rechtfertigungsdruck. Dem ärztlichen Personal scheint Ähnliches zu widerfahren: Berichtet wird von einer durch die bürokratische Prozessierung der Verbetriebswirtschaftlichung bedingten Überformalisierung der Patienten- und Behandlungsdokumentation, die – laut Befragungen – die Möglichkeiten zur Kommunikation mit Patienten stark beeinträchtigt (vgl. Klinke 2007). Fallstudien von Vogd (2006) zeigen, dass Ärzte ihren Energiehaushalt umschichten und deliberative Diagnoseverfahren stärker auf komplexe Fälle konzentrieren. Standardbehandlungen werden also deprofessionalisiert, ganzheitlichere Zugänge auf Fälle erschwert (ebd.: 131; s. auch Kretschmer & Nass 2005). Auch scheint es so, dass die Zulassung zu kostspieligen Versorgungsformen zunehmend restriktiv gehandhabt wird.25 Nun gibt es bislang kaum belastbare Evidenz für schlechtere Behandlungsergebnisse (vgl. Braun 2009). Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass es 25
So bestehen Indizien für zunehmende Suchzeiten von Einlieferern auf Intensivstationen (vgl. Boldt & Schöllhorn 2008).
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einigen Kliniken – vornehmlich jenen, die schwarze Zahlen schreiben – gelingt, den ‚organizational slack‘ hochzuhalten (durch Nebeneinkünfte 26 etc.). Eine mindestens ebenso große Rolle dürfte die ‚Selbstausbeutungselastizität‘ des Arbeitskörpers spielen. Die Bereitschaft bzw. das Aushalten einer immensen Überstundenbelastung beim ärztlichen Personal sowie die traditionelle Selbstdisziplin der (überwiegend weiblichen) Pflegekräfte deuten auf eine Dehnbarkeit beruflicher Commitments27 hin, welche es in nur wenigen Sektoren der modernen Arbeitsgesellschaft in dieser Form geben dürfte. Im Ergebnis hat es derzeit den Anschein, dass die Agenten des Organisationssektors – und viele seiner Stakeholder – die Logik der betriebswirtschaftlichen Rationalisierung mit ihren Leitreferenzen gleichsam zu rekolonialisieren versuchen und damit die infrastrukturelle wie professionelle Grundausrichtung des stationären Interventionsapparats das mit Ökonomisierungsbestrebungen verbundene Generalziel (‚Hauptsache effizient‘) zumindest teilweise in Richtung eben dieser Grundausrichtung korrigiert – die Mittel also gewissermaßen den Zweck heilen (und nicht heiligen). 4. Anschlussmöglichkeiten in der Organisationssoziologie zur Deutung dieser Phänomene Im Grundsatz hat Klaus Türk stets gesehen, dass organisierte Ko-Operationen genealogisch und empirisch soziale Gebilde sind, die auf einer Kombination von Sinneinheiten beruhen und neben der Wirklichkeit machtgesättigter bürokratischer Hierarchie auch andere Realitätsebenen aufweisen. V.a. mit Blick auf erwerbswirtschaftliche Unternehmen verweist er auf eine soziale Organisationswelt, in der beispielsweise „Subkulturen mit spezifischer Loyalität“ (Türk 1995: 71) existieren, welche sich mit den formalen Ordnungsmustern in den Organisationen nicht decken und diese mit einem Corpsgeist o.ä. versorgen. Diese Überlegung kontrastiert mit Segmenten der neueren Organisationssoziologie, in denen man entsprechende kulturelle Referenzen als konstitutive Strukturelemente begreifen würde (s.u.). Sie erscheint diesen gegenüber aber insofern realistischer, als die entsprechenden Theorieangebote de facto eine Doppelwirk-
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Solche Nebeneinkünfte lassen sich beispielsweise bei Privatpatienten, in der Schönheitschirurgie oder durch den (immer häufiger zu beobachtenden) Betrieb ambulanter medizinischer Versorgungszentren erzielen. Berner et al. (2005) fassen diese Commitments unter die Formel des ‚organizational citizenship behavior‘.
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lichkeit in (bestimmten) formalen Organisationen als wahrscheinlich(er) ausweisen.28 Jedoch vermutet Türk, dass Sinneinheiten jenseits der bürokratischkapitalistischen Herrschaftsrationalität evolutionär einer Tendenz zur Marginalisierung unterliegen. Explizit ausbuchstabiert findet sich in seinem Oeuvre eine solche Vermutung für den Bereich der Verbände, innerhalb derer – laut Türk – die Logik assoziativ-deliberativer Ko-Operation Tendenzen der Oligarchisierung und Unterordnung unter diese Herrschaftsrationalität Platz macht (vgl. Türk et al. 2006: 129 ff.; 173 ff.; 269 ff.) und in kultureller Hinsicht Reziprozität von Utilitarismus verdrängt wird (vgl. Türk 1995: 137). Und doch stellt er die Frage: „Lassen sich in der Geschichte (und in der Gegenwart) ‚schwimmende Formen‘ ausmachen, die sich dadurch auszeichnen, dass die Kombination von Sinneinheiten noch nicht (oder nicht mehr) klar und eindeutig ist?“ (Türk 1999: 57) Wenn hier vermutet wird, dass der Infrastrukturcharakter von Krankenhäusern in der Gegenwartsgesellschaft eine Sinneinheit sui generis darstellt, die für eine ganze Organisationsklasse und ihre Kernakteure orientierungsstiftend ist, dann geht es vordergründig nicht darum, inwieweit Subkulturen trotz bürokratisch-herrschaftlicher Metaordnung überleben, also trotz der Prägekraft dieser Ordnung die vollständige „Transformation von Eigensinn in Konformität“ ausbleibt (Türk 1995: 77). Vielmehr wird hier ja unterstellt (s.o.), dass der wohlfahrtsstaatliche Infrastrukturcharakter die Organisation Krankenhaus mit Sinn jenseits der politisch-ökonomisch vermachteten Umwelt versorgt. Allerdings wird die Frage nach der Subversionskraft von organisationsinternen Sinnbezügen akut, wenn diese (erwerbswirtschaftlich kodierte) Umwelt die (Infrastruktur-)Organisation kolonialisiert. Unter den gegenwärtig im Krankenhauswesen bestehenden Bedingungen können Corpsgeist und bestimmte Formen der Vergemeinschaftung durchaus widerständig wirken; dabei mag im Übrigen auch eine Rolle spielen, dass sich – analog zu dem einschlägig als Principal-Agent-Problematik29 diskutierten Sachverhalt – bürokratische Herrschaft ‚von oben‘ nicht umstandslos (bzw. vollständig) gegen die Sinnbezüge der pro28
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In Teilen der mit Organisationskultur befassten Theoriebestände wird ebenso von einem Dualismus von offizieller und untergründiger Sinnstiftung ausgegangen (vgl. Martin 1992 oder Franzpötter 1997). Der hier benutzte Begriff von Doppelwirklichkeit ist theoretisch eher anspruchslos und hat im Übrigen keine Affinität zu Türks (kritischer) Diskussion der Doppelstruktur organisationsgesellschaftlicher (auf institutionalisierter Ordnung und lokaldynamischer Mikro-Praxis beruhender) Entwicklung (1999). Das Principal-Agent-Theorem geht bekanntlich von der Beobachtung aus, dass Eigentümer oder Stakeholder (Mitglieder, Auftraggeber) von Organisationen als ‚principals‘ nur begrenzt Kontrolle über das ausüben, was von ihnen rekrutierte bzw. angestellte Personen als ‚agents‘ umsetzen (für viele: Pratt & Zeckhauser 1985).
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fessionell sozialisierten Akteure durchsetzt.30 Der feldübergreifende Schulterschluss dieser Akteure31 zur Verteidigung der für sie orientierungsstiftenden Sinneinheit wäre dann auch – wenngleich in anderer Weise als von Türk erwartet – eine Spielart „netzwerkförmig als politische Arena organisational abgesicherter Bünde und Bündnisse“ (Türk 1995: 71). Allerdings: Corpsgeist und Vergemeinschaftung könnten auch oder zugleich die Grundlage für die o.g. Phänomene des ‚organizational citizenship behaviour‘ bilden – also dazu beitragen, dass die Kolonialisierung der (wohlfahrtsgesellschaftlichen) Infrastrukturfunktion reibungslos(er) (qua Selbstausbeutung) verläuft. Bei der theoretischen Durchdringung einer solchen Ambivalenz des Handelns kulturell spezifisch sozialisierter und ‚unter Außendruck‘ geratener Organisationsakteure könnten strukturationstheoretische Ansätze (vgl. Ortmann et al. 1997, Holtgrewe 2000, Zimmer 2001, Berends et al. 2003, Bode 2003) weiterhelfen. Ausgehend von der durch Giddens (1992) eingeführten Formel der Dualität von Struktur und Handlung wird organisationale Reproduktion hier als eine – im Handeln von in Legitimations- und Ressourcenstrukturen eingebundene, aber dennoch kreativ gestaltungs- und lernfähigen Akteuren angelegte – permanente Neukonstitution von Organisationsprogrammen begriffen. Organisationen fügen gewissermaßen ein Bündel lokaler Strukturationsprozesse zusammen, sind dabei aber potenziell befähigt, „qualitativ höchst verschiedenartige Handlungen ... simultan nebeneinander herlaufen [zu] lassen“ (Geser 1990: 413). Sie werden dabei auch zum Mitgestalter der ihre eigenen Strategien und Praxen regulierenden „supraorganisationalen Strukturen“ (Ortmann et al. 1997: 327)32, wobei „organisationale Formen der Realitätsinterpretation und -schaffung“ auch „formend auf das institutionelle Umfeld“ – im hier betrachteten Organisationsfeld z.B. das für den Kliniksektor relevante sozialpolitische Regelsystem – zurückwirken können (Zimmer 2001: 365). Damit ist zwar letztlich keine substantielle Aussage darüber getroffen, wohin sich der Krankenhaussektor insgesamt bewegt und v.a. warum er dies tut. Gleichwohl lassen sich durch strukturationstheoretische Modelle sowohl die im vorherigen Kapitel umrissenen Formen beruflichen Coping-Verhaltens als auch Phänomene der Reaktualisierung der wohlfahrtsgesellschaftlichen Infrastrukturfunktion, wie sie die o.g. Verbündungsphänomene verkörpern, in ihrem Prozesscharakter erhellen.
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Diese Vorstellung bestimmt die angelsächsische Diskussion zur Durchsetzung erwerbswirtschaftlich ausgerichteter Organisationsmodelle im Sozial- und Gesundheitssektor in hohem Maße (vgl. Kirkpatrick& Ackroyd 2003). Zu beobachten bei den o.g. bereits erwähnten Protestaktionen im Herbst 2008. Geser betrachtet dieses Wechselverhältnis für den Fall wohlfahrtsstaatlich verankerter Verwaltungsträger, die er einerseits als Empfänger institutioneller Normierungen sieht, andererseits als Subjekte einer „kritischen Evaluation“ (ders. 1990: 414) derselben.
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Um das Verhältnis zwischen dieser Infrastrukturfunktion und der Organisationsdynamik im Krankenhauswesen theoretisch zu durchdringen, kann ferner – in Anschluss an entsprechende Vorarbeiten – auf das Programm des sog. Neoinstitutionalismus zurückgegriffen werden (für viele: Senge & Hellmann 2006 und Scott 2008). In diesem Programm werden gerade nicht-erwerbswirtschaftliche Einrichtungen als Bestandteile institutionalisierter gesellschaftlicher Sektoren bzw. kulturell spezifisch kodierter Organisationsfelder aufgefasst. Diese Sektoren gelten als „recognized area(s) of institutional life“ (DiMaggio & Powell 1983: 148), deren Akteurslandschaft – „key suppliers, resource and product consumers [and] regulatory agencies” (ebd.) – einer besonderen formalen und symbolischen Regulierung unterliegt. Dafür grundlegend sind nicht die ökonomischen oder technischen Funktionen der fraglichen Organisationen (Erträge erzielen; gemeinwohlorientierte personenbezogene Dienstleistungen erbringen etc.), sondern der Umstand, dass sie als Organisationsklasse sui generis in spezifischer Weise normativ festgelegt sind – und zwar (in der Regel) nach Maßgabe einer gesellschaftlich institutionalisierten Zweckbestimmung, die gleichsam über dem profanen Alltag der im bzw. für den Sektor tätigen Akteure schwebt. Problematisch an diesem (international sehr erfolgreichen) Theorieprogramm erscheint freilich, dass die oben geschilderte Doppelwirklichkeit im Krankenhauswesen mit der theorieimmanenten Annahme einer materiell spannungsfreien Ultrastabilität des Sektors nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen ist. Die feldübergreifend homogene Ausbildung von Organisationsstrukturen und -leitbildern – ein unter dem Stichwort Isomorphismus von diesem Theorieprogramm breit thematisierter Prozess – scheint zwar eine Differenz von ‚talk‘ bzw. ‚ceremony‘ und ‚action‘ (vgl. Meyer & Rowan 1977) zuzulassen, nicht aber die substanzielle Destabilisierung von institutionalisierten Organisationsreferenzen, wie sie die Tendenzen zur erwerbswirtschaftlichen Ökonomisierung ganz offensichtlich mit sich bringen. Zur Rekonstruktion eines – bislang freilich unvollständigen – Isomorphismus in Richtung der von Türk diskutierten Durchsetzung eines hegemonialen politisch-bürokratischen Steuerungsmodus auch in Sektoren mit (zuvor) wohlfahrtsgesellschaftlichem Infrastrukturcharakter kann der neoinstitutionalistische Ansatz insofern keinen Beitrag leisten.33 33
Zur theoretischen Diskussion eines Sektorgrenzen überschreitenden Isomorphismus vgl. Bode et al. (2006), hier mit Blick auf die spannungsreiche Entwicklung von Organisationen im Bereich der Beschäftigungsförderung. Die Transformation institutioneller Umwelten im Krankenhauswesen war Gegenstand der auf US-Verhältnisse bezogenen Studie von Scott et al. (2000) – die Untersuchung, die anhand von Fallstudien aus dem Raum San Franzisco den Übergang von ‚professional dominance‘ zu ‚managed care‘ rekonstruiert; diese Studie hat zwar einen neoinstitutionalistischen Fokus, bleibt aber hochgradig deskriptiv bzw. hypothetisch bei der Erklärung institutionellen Wandels, indem sie schlicht auf neue Orientierungsmuster im gesundheitspolitischen System, Veränderungen in der medizinischen Technologie
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Gleiches gilt für das organisationssoziologische Programm der neueren Systemtheorie (vgl. Luhmann 2000), welches zwar – prima facie – Erklärungen für die Remanenz feldspezifischer Organisationsnormen (im Modell der notorischen Selbstreferenz organisationaler Reproduktion) bereithält, aber die Durchdringung des Referenzhaushaltes spezifisch institutionalisierter Organisationssektoren wie dem des Krankenhauswesens mit anderen (hier: erwerbswirtschaftlichen) Systemkontexten entstammenden Referenzen theorieimmanent ebenso ausschließt wie Prozesse einer durch organisationsfeldspezifische Sinnorientierungen vermittelten Re-Strukturation einer solchen Durchdringung – durch die es zu dem kommt, was sich im heutigen Krankenhauswesen verbreitet beobachten lässt: nämlich einer nervösen und ergebnisoffenen Ko-Existenz, bzw. eines „uneasy truce“ (Reay & Hinings 2009: 634) von Alt- und Neureferenzen. 5. Ausblick Es ist angesichts der insgesamt dürftigen Forschungslage wohl noch zu früh, von einer nachhaltigen Unterwanderung der für das deutsche Krankenhauswesen (lange Zeit) typischen (para-)professionellen und infrastrukturellen Grundorientierungen zu sprechen und dementsprechend die derzeit beobachtbaren Ökonomisierungsprozesse als Ausdruck eines vollständigen Durchbruchs der in der kapitalistischen Erwerbswirtschaft ausgebildeten herrschaftlich-bürokratischen Organisationsform zu deuten. Insofern muss am Ende offen bleiben, wieweit die von Klaus Türk entwickelter Perspektive auf die moderne Organisationsgesellschaft für den hier untersuchten Bereich tatsächlich trägt. Die Arbeiten Türks liefern in jedem Fall eine Theoriefolie für die Deutung aktueller Tendenzen, die auf eine stärkere Durchdringung der Organisation Krankenhaus mit der für erwerbswirtschaftliche Unternehmen typischen Zweck-Mittel-Logik hinauslaufen. Unter Berücksichtigung der oben umrissenen (para-) professionellen und infrastrukturbezogenen Organisationsreferenzen – welche in Türks Modell herrschaftlich-bürokratischer Ko-Operation keine tragende Rolle spielen – stellt sich die Lage indes unübersichtlich dar. Das, was in diesem Beitrag als Doppelwirklichkeit des Organisationsfelds bezeichnet wurde, stellt sich heute anders dar als vor einigen Jahrzehnten, besteht aber in veränderter Form offenbar fort. Die spezifischen Zwecke, die Krankenhäusern bis heute intern und oder die Kostendynamik im Sektor verweist. Gleiches gilt für die Arbeiten von Reay und Hinings (2009), die allerdings andeuten, in welchen Bahnen die Ko-Existenz konkurrierender institutioneller Logiken im Krankenhaussektor verlaufen kann; konkret verweisen sie auf pragmatische Kompromisse und projektgebundene Schulterschlüsse zwischen manageriellen und medizinisch-professionellern Logiken und ihren Stakeholdern.
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extern zugewiesen werden, scheinen jedenfalls weiterhin einiges an Eigenleben zuzulassen und die in der kapitalistischen Erwerbswirtschaft beheimatete Zweck-Mittel-Logik zu irritieren. Aus der Perspektive einer gesellschaftsbewussten Organisationssoziologie fehlt es bislang noch an einem Theoriekonzept, welches der Komplexität und Spezifik des Transformationsprozesses im Krankenhauswesen und anderen Einrichtungen der sozialen Daseinsvorsorge gerecht wird. Die säkulare Dynamik organisationsgesellschaftlicher Modernisierung auf der Basis eines aus dem erwerbswirtschaftlichen System heraus auf die Gesamtgesellschaft übergreifenden Mechanismus bürokratisch-herrschaftlicher Rationalisierung (im Sinne von Türk) macht sich bei den gegenwärtigen Entwicklungen im Krankenhauswesen zweifelsohne bemerkbar, durchaus auch im Hinblick auf die Transformation von Organisationsstrukturen (z.B. in Gestalt von neu geschaffenen ‚profit centern‘). Insofern kommt dem (u.a.) von Türk entwickelten Theorieprogramm große Bedeutung zu. Auf der anderen Seite stehen allerdings Modernisierungsund Organisationsdynamiken, die in diesem Rationalisierungstrend nicht aufgehen und sich mit diesem Theorieprogramm kaum in Einklang bringen lassen: Die Zivilisierung des Krankenhauses ab den 1970er Jahren, die Hartnäckigkeit der professionsethischen Kodierung (selbst unter Bedingungen zugespitzter Ökonomisierung) oder die Aktualisierbarkeit einer auf die Infrastrukturfunktion der Krankenhäuser bezogenen wohlfahrtskulturellen Grundhaltung, auf die wesentliche Stakeholder des Organisationsfelds in den öffentlichen Auseinandersetzungen noch immer festgelegt scheinen. Für die Ausdeutung des nervösen – und von den Organisationsakteuren vor Ort praktisch-provisorisch vermittelten – Nebeneinanders der beiden Wirklichkeiten stehen bislang keine befriedigenden Theorieangebote zur Verfügung – auch weil jene Ansätze, die das Eigenleben von Organisationen der sozialen Daseinsvorsorge systemtheoretisch oder neoinstitutionalistisch interpretieren, keine Erklärung für das Eindringen und eben auch die partielle Durchsetzung sektorfremder Referenzen (v.a. die der kapitalistischen Zweck-Mittel-Logik) parat haben. Strukturationstheoretische Modelle leisten hier keine Abhilfe, stellen aber ein Theorieraster zur Verfügung, das bei der Rekonstruktion uneindeutiger und widerspruchsträchtiger Reorganisationsprozesse hilfreich erscheint und eine Deutungsfolie für die Mechanik bereitstellt, durch die diese Prozesse handhabbar gemacht bzw. klein gearbeitet werden. Was die materiellen Konsequenzen der beobachtbaren Veränderungen anlangt, so lassen sich allerdings bestimmte Vermutungen anstellen. In dem Maße, wie die im Krankenhaussektor des 20. Jahrhunderts jenseits des (erwerbs-) wirtschaftlichen Systems ausgebildete Zweck-Mittel-Logik prekär wird, kann mit dem organisationalen Instrumentarium eben dieses Systems heute zunehmend in
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die Kliniken hineinregiert werden. Die Akteure vor Ort geraten dadurch unter permanenten Zugzwang – was ihnen tagtäglich schwierige Kompromisse und Abwägungen beim Auftreten ‚unwirtschaftlicher‘ Entscheidungsalternativen aufdrängt. Unter Bedingungen eines zunehmend wettbewerblich strukturierten Organisationsfeldes gibt es dabei Verlierer und Gewinner und damit mehr oder weniger Zugzwang – also einen Mechanismus, durch den die Organisationsleistungen stärker streuen und der paraprofessionell und infrastrukturell begründete Organisationszweck systematisch unterschiedlich bedient wird.34 Die Leistungen des Krankenhaussektors werden so zunehmend heterogener ausfallen der gesellschaftlichen Erwartung einer universell-bedarfsorientierten Versorgung weniger gut entsprechen. Mit anderen Worten: Selbst wenn der in der spezifischen professionellen bzw. infrastrukturellen Verfasstheit des Sektors verwurzelte Organisationszweck die (zweckfremden) Mittel weiterhin kurieren kann, so wird der Heilungserfolg aller Wahrscheinlichkeit nach immer unterschiedlicher ausfallen. Was das im Hinblick auf die wohlfahrtsgesellschaftliche Infrastrukturfunktion des Krankenhauses und den Orientierungshaushalt der dort federführenden Akteure langfristig bedeutet, bleibt abzuwarten. Literatur Amelung, V. E., Sydow, J. & Windeler, A. (Hrsg.) (2009) Vernetzung im Gesundheitswesen – Wettbewerb und Kooperation, Stuttgart Augurzky, B. (2008) Krankenhaus Rating Report 2007. Die Spreu trennt sich vom Weizen, in: Klusen, N. & Meusch, A. (Hrsg.) (2008) 185-198 Baecker, D. (2007) Zur Krankenbehandlung ins Krankenhaus in: Baecker, D. (Hrsg.) (2007) 237266 Baecker, D. (Hrsg.) (2007) Wozu Gesellschaft? Berlin Bähr, Ch. (2008) Privatisierungswelle deutscher Kliniken, in: Everling, O. (Hrsg.) (2008) 10-21 Berends, H., Boersma, K. & Weggeman, M. (2003) The Structuration of Organizational Learning, in: Human Relations (56) 9, 1035-1056 Berner, S., Dütschke, E. & Schwämmle, A. (2005) Freiwillig mehr tun? Organizational Citizenship Behavior im Krankenhaus - ein Vergleich zwischen Ärzten und Pflegekräften, in: Das Gesundheitswesen (67) 11, 770-776 Böckmann, R. (Hrsg.) (2009) Gesundheitsversorgung zwischen Solidarität und Wettbewerb, Wiesbaden Bode, I. (1998) Vermittlungsleistungen normativer Interessenorganisationen. Verbände im Gesundheitswesen als „enfants terribles” mit Gemeinwohlbindung, in: Soziale Welt (49) 2, 183204 Bode, I. (2003) Multireferenzialität und Marktorientierung? Krankenkassen als hybride Organisationen im Wandel, in: Zeitschrift für Soziologie (32) 5, 435-453
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Vgl. bezüglich dieser Problematik die Überlegungen zur Konfiguration des ‚disorganisierten Wohlfahrtskapitalismus‘ in Bode (2004).
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Ökonomisierungstendenzen bei Non-Profits, Großunternehmen und Start-ups – eine theoriegeleitete Diskussion empirischer Trends1 Raimund Hasse
Einleitung: Ökonomisierung in der Allgemeinen Soziologie Die überwiegende Mehrheit der Soziologen stimmt darin überein, dass die gesellschaftliche Entwicklung durch neuartige Formen des Wirtschaftens gekennzeichnet ist. Zugleich ist gefragt worden, inwiefern wirtschaftliche Dynamiken Ausdruck übergeordneter Entwicklungen sind, aus denen auch andere Trends hergeleitet werden können, so wie man dies nicht zuletzt im Zusammenhang mit Differenzierungstheorien oder aus modernisierungstheoretischer Sicht hervorhebt (s. einführend Schimank 2007; Degele/Dries 2005). Nach wie vor aktuelle Kandidaten für übergeordnete Trends sind Verwissenschaftlichung, Technisierung und Innovation, deren gesamtgesellschaftliche Prägewirkungen insbesondere in Theorien der Informationsgesellschaft betont werden (vgl. Bell 1973; Castells 1996). Ebenso ist die Bedeutung organisatorischer Ursachen für umfassende Formen gesellschaftlichen Wandels hervorgehoben worden, so wie klassischerweise in Max Webers Bürokratisierungsthese beschrieben (vgl. Weber 1972: 124-130) und seit einiger Zeit z.B. im Zusammenhang mit neuartigen Formen der Vernetzung (vgl. Powell/ Smith-Doerr 1994) diskutiert. Abgesehen von Fragen nach ursächlichen Bedingungen ist gefragt worden, inwiefern wirtschaftliche Veränderungen auch andere und potenziell sämtliche Gesellschaftsbereiche erfassen. Eine sehr eindeutige Position zu dieser Frage nehmen marxistische Positionen ein. Grundgedanke ist, dass institutionelle Strukturen und kulturelle Phänomene des sog. Überbaus durch Vorgaben der sog. wirtschaftlichen Basis determiniert sind. Technologische und institutionelle 1
Grundlagen des Beitrags sind im Rahmen des Projekts „Organisationsgründung – Zum Einfluss von Organisationsmerkmalen und Umweltbeziehungen auf die Entwicklung von Ausgründungen in der Biotechnologie“ erarbeitet worden. Sie wurden u.a. mit den Mitarbeiterinnen Sigrid Duschek und Eva Passarge diskutiert sowie im Rahmen der Tagungen „Theoretische Konzepte der Ökonomisierung“ (FernUniversität Hagen, Mai 2008) vorgestellt. Für Kritik, Anregungen und Kommentare bedanke ich mich. Beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) bedanke ich mich für die Förderung des Forschungsprojekts.
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Faktoren der Wirtschaft bestimmen demnach die gesellschaftliche Entwicklung in ihrer Gesamtheit. Das moderne Wirtschaftsleben, basierend auf Privateigentum und Profitstreben, wird dabei als ein expansives, eigendynamisches Projekt ausgewiesen. Seinem Voranschreiten kann sich letztlich kein Gesellschaftsbereich entziehen. Kapitalismus bezeichnet deshalb nicht lediglich eine bestimmte Form des Wirtschaftens, sondern eine Gesellschaftsformation in einem viel umfassenderen Sinne. Grundgedanke ist dabei eine Vormachtstellung der Wirtschaft gegenüber allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – nicht zuletzt gegenüber Politik und Recht. Mit der Diskussion um Globalisierungsprozesse und damit einhergehende Grenzen der politisch-rechtlichen Regulierung hat dieser Grundgedanke in den vergangenen 10-15 Jahren noch einmal an Aktualität gewonnen (vgl. Guillen 2001; Schmidt/Trinczek 1999). Die im gesellschaftspolitischen Kontext vorherrschenden Perspektiven halten Anpassungen an neuartige Bedingungen eines umfassenden internationalen Wettbewerbs für unvermeidbar, und/oder sie betonen, dass man der wirtschaftlichen Globalisierung mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert ist. Ökonomisierung meint in diesem Zusammenhang, dass immer mehr Gesellschaftsbereiche zu Objekten kapitalistischen Wirtschaftens werden und dass zunehmend mehr Gesellschaftsbereiche nach deren Logik ausgestaltet werden. Andere Bereiche wie Politik, Wissenschaft und Familie sind der Argumentation zufolge starkem Anpassungsdruck ausgesetzt, um erforderliche Leistungen für das Wirtschaftssystem zu erfüllen und um auf wirtschaftlichen Wandel zu reagieren. Dieser dem Wesen nach marxistische Entwurf ist innerhalb und ausserhalb der Wissenschaft überaus einflussreich gewesen. Die klassischen Beiträge, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts konstituierenden Soziologie, haben sich dennoch kritisch an ihm abgearbeitet, indem sie nach sozialen Ursachen der wirtschaftlichen Entwicklung gefragt haben. Für Emile Durkheim (1977) war die Zunahme sozialer Dichte entscheidend. Sie wurde als unmittelbare Konsequenz von Bevölkerungswachstum und Verstädterung angesehen. Soziale Dichte begründete Durkheim zufolge Prozesse der Arbeitsteilung – und die Zunahme an Effizienz galt ihm lediglich als Folge, nicht als Ursache dieser Entwicklung. Auch Max Webers Interesse galt soziologischen Ursachen der ökonomischen Entwicklung, wobei der moderne Kapitalismus insbesondere als Ausdruck einer umfassenden und alle Wertsphären betreffenden Rationalisierung begriffen wurde. Hierdurch ausgelöste Veränderungen von Techniken der Buchführung bis hin zu Veränderungen religiöser Glaubensvorstellungen und Praktiken schufen demnach Voraussetzungen für eine an sich unwahrscheinliche Entwicklung (vgl. Weber 1972; 2006).
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Aktuellere Theorien der Soziologie knüpfen sowohl an die Grundfiguren des Marxismus als auch an die zuletzt genannten Klassiker der Soziologie an. So beschreibt nicht nur Pierre Bourdieu (1977, 1988) die Verselbständigung der Ökonomie und deren tendenziell rücksichtslose und selbst zerstörerische Wachstumsdynamik in fast marxistischer Manier. Auch Luhmann betont eine Rücksichtslosigkeit der Ökonomie, die bis hin zur Bedrohung erforderlicher Voraussetzungen und Grundlagen reicht (vgl. Luhmann 1986, 1988). In gesellschaftstheoretischer Hinsicht wird diese Perspektive jedoch erweitert, so wie es der Perspektive der soziologischen Klassik entspricht. Insbesondere hat Luhmann eine Mehrdimensionalität der gesellschaftlichen Entwicklung diagnostiziert und komplementäre Prozesse der Verselbständigung und Ausbreitung von Wissenschaft (vgl. Luhmann 1987), Recht (vgl. Luhmann 1993), Politik (vgl. Luhmann 1981) etc. beschrieben. Auffällig ist jedoch, dass diese Erweiterung in der Organisationstheorie Luhmanns wieder relativiert wird (vgl. Hasse/Krücken 2005a). Einerseits begreift er die unterschiedlichen Organisationstypen (wie Wirtschaftsorganisationen, Wissenschaftsorganisationen, politische Organisationen etc.) als bestimmten Funktionssystemen zugeordnet. Andererseits wird jedoch auf Professionalisierungstendenzen und auf berufsförmige Organisationsmitgliedschaft als universelle Trends verwiesen. Diese Trends führen der Argumentation zufolge zur starken Abhängigkeit sämtlicher Organisationen von wirtschaftlichen Bedingungen – und dieser Sachverhalt ist geeignet, auf Organisationsebene eine Vormachtstellung wirtschaftlicher Orientierungen zu plausibilisieren. Genau hier setzen die folgenden Überlegungen an. Auf Organisationen bezogen bedeutet Ökonomisierung, dass wirtschaftliche Kriterien bei Entscheidungen und Routinen einer Organisation an Gewicht gewinnen. Im Falle ökonomischer Zielsetzungen, so wie sie von Wirtschaftsorganisationen erwartet werden, kann Ökonomisierung auf eine Reduzierung von ‚slack‘ und auf die Umkehr von Prozessen der Verselbständigung von Zwischenzielen und Mitteln bezogen werden (zu derartigen Zielverschiebungen siehe bereits Merton 1995, zuerst 1937). Im Falle anderer Zielsetzungen, die für alle anderen Organisationstypen kennzeichnend sind, bedeutet Ökonomisierung, dass wirtschaftliche Orientierungen als Mittel oder als Zwischenziel so aufgewertet werden, dass sie die eigentliche Zielsetzung überlagern und an diese nur noch vage angebunden sind. Ökonomisierung ist jeweils ein Prozessbegriff, der die Entwicklung zu einem ‚mehr‘ an ökonomischen Kriterien bezeichnet. Sie kann ihren Ausdruck finden (1) in einer zunehmend wirtschaftlichen Verwendung knapper Mittel, (2) in einer stärkeren Orientierung an relevanten Märkten, in denen eine Organisation als Abnehmer oder als Anbieter in Erscheinung tritt und niedrige bzw. hohe Preise realisieren möchte, sowie (3) in dem Versuch, auf andere Weise Ressour-
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cen zu erwirtschaften.1 Wichtig ist, dass Fragen zur Ökonomisierung nicht mit Verweis auf allgemeine Zielsetzungen einer Organisationsspitze oder auf demonstrativ zur Schau gestellte Aussendarstellungen beantwortet werden können. Vielmehr sind Entscheidungsorientierungen, Vorgaben und Praktiken im Binnengefüge einer Organisation zu berücksichtigen. Im Folgenden soll eine theoretisch geleitete Diskussion empirischer Phänomene erfolgen, die auf ein derartiges Verständnis von Fragen der Ökonomisierung von Organisationen bezogen sind. Dabei wird auf drei Organisationsbereiche eingegangen, indem diese nach vorherrschenden Erscheinungsformen und Folgen organisatorischer Ökonomisierung befragt werden: • Im ersten Schritt geht es um Non Profit-Organisationen, wobei auch auf die Ausbreitung von Idealen und Techniken des sog. New Public Management (NPM) eingegangen wird. Für diese Organisationen ist kennzeichnend, dass sie anderen Zielsetzungen und Selbstverständnissen als denen des Gewinns verpflichtet sind. Gleichwohl orientieren sie sich zunehmend am Vorbild wirtschaftlicher Organisationen. • Zweitens wird die Diffusion sog. Shareholder Value-Prinzipien als eine Form der weitergehenden Ökonomisierung wirtschaftlicher Großorganisationen behandelt. Dabei zeigt sich, dass Ansprüche und Erwartungen organisatorischer Ökonomisierung im Prinzip unabgschlossen sind. Sie betreffen also auch Organisationen, deren Profitorientierung grundsätzlich nicht in Frage gestellt ist. • Drittens werden allgemeine theoretische Überlegungen und empirische Eindrücke aus einem Forschungsprojekt präsentiert. Ökonomisierungstendenzen werden dabei am Beispiel sog. Start-ups untersucht – also kleiner neuer Organisationen, die auf die Vermarktung wissenschaftlichen Wissens ausgerichtet sind. Einerseits sind Start-ups von vorneherein wirtschaftlichen Zielsetzungen vepflichtet, andererseits sind sie Gegenstand massiver Interventionen, die eine stärkere Marktausrichtung und eine strengere Orientierung an Effizienzkriterien zum Ziel haben. 1
Während die unter (1) genannte Form der Ökonomisierung als Effizienzorientierung in Erscheinung tritt, beziehen sich die Formen (2) und (3) jeweils auf Fragen der Effektivität. Die Unterscheidung zwischen (2) und (3) ist dabei wichtig, weil nicht alle Ressourcen über Märkte akquiriert werden. So können für einen landwirtschaftlichen Betrieb staatliche Hilfen oder Ausgleichszahlungen (etwa für brach liegende Anbauflächen) wichtiger sein als die Erzielung optimaler Marktpreise für produzierte Güter. Oder für börsennotierte Unternehmen wird die nur lose an erzielte Profite gekoppelte Aktienentwicklung zum Masstab wirtschaftlichen Erfolgs. Zu derartig „erfolgreich scheiternden Organisationen“, deren Ressourceneinwerbung trotz fehlender Gewinnaussichten (oder wenigstens Kostendeckung) gelingt (sowie zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Effizienz und Effektivität) siehe insbesondere Meyer/ Zucker (1989).
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Auf der Grundlage dieser drei Organisationsbereiche lässt sich Ökonomisierung als quasi-universeller Trend begreifen, der praktisch sämtliche Organisationen betrifft. Andererseits lässt sich verdeutlichen, dass die Ausbreitung ökonomischer Ideale und Verfahrenstechniken in ihren substanziellen Auswirkungen – nach wie vor – stark variiert. 1. Wirtschaftsorganisationen als Vorbilder – Ökonomisierungvon Non Profits und öffentlichen Einrichtungen Lange Zeit galt nicht Ökonomisierung sondern Bürokratisierung als organisatorischer Mastertrend. Grundlage hierfür war eine modernisierungstheoretische Zuspitzung von Webers These der Ausdehnung bürokratischer Herrschaft – und zwar von der Verwaltung in andere Gesellschaftsbereiche. Weber selbst identifizierte bereits Tendenzen einer Bürokratisierung der Wissenschaft und der Politik (vgl. Weber 1980, 1992). Später wurde auch für Wirtschaftsorganisationen eine Dominanz bürokratischer Prinzipien angenommen. Zentrale Autoren wie Alvin Gouldner in den USA oder Hans Paul Bahrdt in Deutschland konnten deshalb noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von sog. Industriebürokratien reden, wenn sie große Wirtschaftsorganisationen meinten (vgl. Gouldner 1954; Bahrdt 1959). Auch kommt die Leitorientierung an Verwaltungsbürokratien bei der Namensgebung der wichtigsten und Mitte der 1950er Jahre von James D. Thompson mitbegründeten Fachzeitschrift der Organisationstheorie zum Ausdruck: Administrative Science Quarterly (ASQ). Anspruch der ASQ war es, Beiträge zu einer allgemeinen Organisationswissenschaft zur Diskussion zu stellen; keinesfalls lag eine Beschränkung auf Verwaltungseinrichtungen zugrunde. Ende der 1950er Jahre wird mit der zunächst empirischen, dann grundsätzlichen Hinterfragung bürokratischer Organisationen eine zweite große historische Phase eingeläutet (vgl. Stinchcombe 1959; Collins 1975). Das Ideal bürokratischer Organisation wird zunächst dekonstruiert, indem man hervorhebt, dass die Vielfalt und Dynamik technologischer und institutioneller Bedingungen ein breites Spektrum an Organisationen erfordert (vgl. Burns/Stalker 1961; Lawrence/Lorsch 1967; Perrow 1970). Spätestens seit den 1980er Jahren setzen sich dann neuartige Idealvorstellungen der Organisation durch – flexible Spezialisierung (vgl. Piore/Sabel 1985), lean production (vgl. Womack et al. 1991), Qualitätsmanagement (vgl. Deming 1992), Netzwerke (vgl. Powell 1990) etc. pp. Die erste Gemeinsamkeit dieser Ideale ist es, dass sie allesamt als Alternativen zu großen bürokratischen Organisationen angepriesen werden. Zweitens bezieht man sich auf Unternehmen und weist diese hierdurch als Prototyp für
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Organisationen aus. Drittens hält man in der Organisationsberatung die favorisierten Modelle für nahezu universell einsetzbar, d.h. man erarbeitet Möglichkeiten der Übertragung auf andere Organisationsfelder. Ökonomisierung meint in diesem Zusammenhang: Wirtschaftsorganisationen bestimmen OrganisationsTrends wie z.B. sub-contracting, Projektmanagement, management by objectives; andere Organisationstypen folgen den dort eingeläuteten Entwicklungen mit mehr oder weniger Verzögerung (oder sie können als scheinbar unwichtige Sonderfälle vernachlässigt werden). Ein großer Teil der organisationswissenschaftlichen Auseinandersetzungen bezieht sich seitdem auf die Frage, ob es möglich und sinnvoll ist, das gesamte Spektrum an Organisationen nach dem Vorbild erfolgreicher Wirtschaftsorganisationen zu gestalten. Auch Verwaltungen, Sportvereine, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen etc. geraten dabei in das Visier. Zugleich beansprucht eine ganze Industrie an Beratern, einen praktischen Beitrag zu leisten und Widrigkeiten überwinden zu können, die mit der Einführung wirtschaftlich erprobter Organisationsformen verbunden sind. So ist McKinsey als Unternehmensberater nun auch für die Bahn oder gar für die Gewerkschaften zuständig, um Organisationsabläufe zu verbessern. Externe Beratung ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Instrument, um Entscheidungen zu implementieren, und sie ist ein wichtiges Symbol der Aufgeschlossenheit gegenüber Neuerungen, durch deren Verwendung „Legitimationsgewinne erwirtschaftet“ werden können. Die Sprache der Ökonomie und die Anerkennung moderner Wirtschaftsorgansisationen als Vorbilder sind demnach in nahezu sämtliche Organisationsbereiche diffundiert. Der hier hervorgehobene Trend einer universellen Orientierung am Vorbild wirtschaftlicher Organisationen und die Tendenz zur Übernahme unternehmenstypischer Maximen (wie insbesondere Orientierung an Leistungsabnehmern sowie straffe Re-Organisation interner Abläufe) zielen auf eine optimale Verwendung knapper Ressourcen. Sie werden zunehmend als Richtschnur organisatorischen Entscheidens angesehen – und vor allem werden sie demonstrativ zur Geltung gebracht, um Übereinstimmung mit den Erwartungen ressourcenrelevanter Umwelten zu demonstrieren. Aktuelle Weiterbildungsangebote und Veränderungen von Curricula einschlägiger Studiengänge (z.B. der Sozialpädagogik oder der kirchlichen Gemeindearbeit) belegen in diesem Zusammenhang, dass auch Aufgaben sehr spezifischer Organisationen in Anlehnung an das Vorbild wirtschaftlicher Organisationen definiert werden. So kann man sich beispielsweise als Sozialwirt qualifizieren, um später in wohlfahrtspolitischen Einrichtungen zu arbeiten. An Anforderungsprofilen, so wie sie aus Stellenausschreibungen hervorgehen, lässt sich darüber hinaus erkennen, dass sogar im Falle von Protestorganisationen wie Greenpeace kaufmännische Expertise und
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Kompetenzen im Umgang mit Finanzströmen als Schlüsselqualifikationen gelten. Man kann deshalb bilanzieren, dass praktisch jedes Organisationsfeld derzeit Gegenstand von Veränderungen ist, die auf eine Anpassung an das Vorbild wirtschaftlicher Organisationen abzielen. Ähnliche Tendenzen einer Ökonomisierung nicht-wirtschaftlicher Organisationen lassen sich bei dem seit den 1990er Jahren massiv voranschreitenden New Public Management (NPM) identifizieren (vgl. Hood 1995). NPM bezieht sich auf Reformen in Verwaltungen und bei öffentlichen Dienstleistungsanbietern. Es wird seit einigen Jahren in praktisch sämtlichen staatlichen Sektoren und in fast allen europäischen Ländern diskutiert (vgl. Jones et al. 1997). Kennzeichnend ist eine möglichst rücksichtslose Orientierung an klar definierte Zielgrößen, die zur Richtschnur der Auswahl von Mitteln gemacht werden sollen. Insofern steht NPM der klassischen Idee einer Konditionalprogrammierung von Organisationen diamertral entgegen. D.h. anstelle einer an rechtlichen, politischen oder anderen Vorgaben verpflichteten Wenn/Dann-Logik, die nicht zuletzt von Luhmann (1973) als wesentlich für Organisationen erachtet wurde, soll eine Orientierung an Zwecken treten. Sie gelten gemäß eines NPM als Richtschnur der Mittelauswahl und tragen insofern erheblich zur Durchsetzung einer spezifischen Form der Rationalisierung bei – nämlich gleiche Resultate mit geringerem Mitteleinsatz bzw. mit gegebenen Mitteln bessere Resultate zu erzielen. Voraussetzung ist allerdings: Die Ziele müssen ex ante klar definiert sein und werden im Prozess der Bearbeitung nicht variiert, um beispielsweise neuartigen unvorhergesehenen Herausforderungen oder Spezifika von Einzelfällen Rechnung zu tragen. (Insofern werden Ökonomisierungseffekte mit ähnlichen Trägheiten erkauft, wie sie für bürokratische Organisationsformen kennzeichnend sind.) Entscheidend dabei ist, dass der Mittelaufwand in Form von Kosten bestimmt werden kann und dass die Konstruktion eindeutiger Ziele auf eine Weise gelingt, die seitens der relevanten gesellschaftlichen Umwelt akzeptiert wird. NPM steht in zweierlei Hinsicht in einer engen Beziehung zu Ökonomisierungstendenzen: Einerseits begründet es Veränderungen von Verwaltungen und staatlichen Leistungsanbietern in Form einer Orientierung an betrieblichen Effizienzkriterien und post-bürokratischen Organisationsformen. Stichworte hierzu sind leistungsbezogene Entlohnung und andere Anreize, Serviceorientierung und Kundenzufriedenheit. Der Anspruch lautet, Verwaltungen und öffentliche Leistungsanbieter nach dem Vorbild wirtschaftlicher Organisationen zu gestalten und entweder bestimmte Zwecke mit minimalem Aufwand zu realisieren oder durch Einsatz bestimmter Mittel ein maximales Ergebnis zu erzielen (vgl. Terry 1999).
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Andererseits begründet NPM eine geringere Leistungstiefe des Staates sowie Tendenzen eines Outsourcing ehedem staatlicher Aufgabenbereiche (vgl. Naschold/Otter 1996). Wirtschaftsorganisationen dringen hierdurch in Bereiche vor, die ihnen zuvor verschlossen waren (vgl. Self 1993) – man denke an ehedem öffentliche Infrastrukturangebote, an Bildung und Gesundheit oder an den Betrieb von Gefängnissen und internationalen Sicherheitsfirmen, die teils sogar Armeeaufgaben übernehmen. Derartige Privatisierungen sind gesellschaftspolitisch nicht unumstritten. Für die hier verfolgte Themenstellung ist bemerkenswert, dass sich Kritiker in weiten Teilen ebenso wie Befürworter auf Fragen der Leistungsfähigkeit bzw. der Kostenentwicklung beziehen. So können Angebote in vielen Fällen nicht aufrechterhalten werden (z.B. beim öffentlichen Nahverkehr) oder es kommt langfristig zu anfangs verdeckten Kosten, weil Inverstitionen und Instandhaltungen vernachlässigt werden (z.B. bei der Wasserversorgung). Zugleich haben Privatisierungen in vielen Bereichen zwar tatsächlich zu Kosteneinsparungen geführt, doch können Privatisierungseffekte nicht von Alterseffekten getrennt werden, sofern alte öffentliche Leistungsanbieter von neuen privaten Lesitungsanbietern verdrängt werden. Für diese Fälle ist organisationswissenschaftlich zu erwarten, dass Unterschiede der Kostenentwicklung weniger in der Differenz öffentlich vs. privat sondern in grundsätzlichen Leistungsunterschieden zwischen alten und jungen Organisationen begründet sind. Neue Organisationen tendieren demnach auch unabhängig vom jeweiligen Organisationstyp zu erhöhter Effizienz, weil sie weniger Rücksichten auf etablierte stakeholder nehmen müssen, nicht mühsam in der Vergangenheit begründete Routinen und Trägheiten überwinden müssen, um sich auf neue Situationen einzustellen, und weil sie grundsätzlich geringere Legitimität mit erhöhter Effizienz kompensieren müssen. Mit fortschreitendem Alter ist demnach abnehmende Effizienz zu erwarten, weil sich Routinen und Trägheiten einspielen, stakeholder-Ansprüche formieren etc. – und das gilt ganz unabhängig davon, ob es sich um öffentliche oder um privatwirtschaftliche Anbieter handelt. Ungeachtet von Fragen zur tatsächlichen Leistungsfähigkeit privater Anbieter haben Auslagerungen staatlicher Dienste in den vergangenen Jahren eine starke Konjunktur gehabt (vgl. Terry 1998). Insofern scheint es sich um eine gerichtete Entwicklung zu handeln. D.h. entgegengesetzte Veränderungen hatten den Charakter seltener Ausnahmen. Nur im Krisenfall oder bei gravierenden Befürchtungen werden Unternehmen also zu öffentlichen Einrichtungen; nur in Ausnahmefällen werden Leistungen, die ehedem von Unternehmen erbracht
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wurden, von öffentlichen Einrichtungen oder von Organisationen des Dritten Sektors übernommen.2 2. Shareholder Value: Die spezielle Ökonomisierung wirtschaftlicher Organisationen Dem Wirtschaftssoziologen Neil Fligstein (2001, 2005) zufolge haben wir in der jüngsten Vergangenheit eine wirtschaftsgeschichtliche Phase erlebt, in der mit Hilfe von Techniken der Shareholder Value-Orientierung (SVO) eine epochale Wende eingeleitet worden ist. Wenngleich zweifelsohne auch vorher kapitalistische Unternehmen existiert haben, wird die Einführung und Diffusion der SVO als Meilenstein der wirtschaftlichen Entwicklung bezeichnet (s. auch Davis/ Marquis 2005). Die These Fligsteins gewinnt dadurch an Gewicht, dass er lediglich vier historische Phasen identifiziert, die seit den 1860er Jahren den modernen Kapitalismus geprägt haben (vgl. Fligstein 1990). Hierzu zählen (1) Kartellbildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; (2) die Entstehung von Grossunternehmen durch Prozesse vertikaler und horizontaler Integration; (3) Produktdiversifizierung und Multidivisionale Unternehmensformen; (4) besagte SVO. Wenngleich die genannten Formen des Wandels wirtschaftlicher Strukturen überaus unterschiedlich gewesen sind, gibt es wichtige Ähnlichkeiten. So wird jeweils angenommen, dass die hervorgehobenen Änderungen einerseits eine Reaktion auf strukturelle Probleme ihrer Zeit gewesen sind und andererseits spezifische neue Probleme hervorgebracht haben, für die dann neue Lösungen zu finden waren. (1) Kartellbildung erscheint in diesem Zusammenhang als ein früher Versuch, ruinösen Wettbewerb zu vermeiden und Produktionsvolumina sowie Preisentwicklungen nicht an Turbulenzen des Marktes anpassen zu müssen. Sie führte jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Anti-TrustGesetzen, auf deren Grundlage Absprachen illegitim wurden. (2) Vertikale und horizontale Integration war demnach eine Reaktion auf dieses Problem. Sie führte jedoch zu Überproduktion (d.h. Absatzproblemen), die als wesentlicher Auslöser der sog. Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren betrachtet wird. (3) Durch Produktdiversifizierung und Multidivisionale Unternehmensformen soll2
Derzeit kann man derartige Krisenphänomene gut beobachten: Im deutschen Parlament werden Möglichkeiten der Enteignung von Unternehmen erörtert, Regierungen beraten über die Beteiligung an großen Wirtschaftskonzernen und die Fachdiskussion erörtert die Frage, bis zu welchem Ausmass seitens der Politik genuine Wirtschaftstätigkeiten wie die der Kreditvergabe übernommen werden können. Es bleibt abzuwarten, ob dies im historischen Rückblick als vorübergehende Ausnahme oder als epochale Richtungswende bewertet werden wird.
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ten die Akzente von Massengütern auf Spezialisierungen und Nischenprodukte verlagert werden, um Absatzprobleme zu vermeiden. Ihre Folge waren geringe Profitraten und dadurch relativ schlecht bewertete Unternehmen. (4) Als Reaktion hierauf verbreiteten sich schließlich seit den 1980er Jahren SVOs, um Unternehmenswerte systematisch steigern zu können. Für jede dieser Phasen wird also angenommen, dass die für ihre Zeit charakteristischen Organisationsweisen eine Reaktion auf vorherrschende Probleme darstellen und dass diese Organisationsweisen zugleich zu neuen Herausforderungen führen. Grundgedanke des Shareholder Value-Konzepts ist es in diesem Zusammenhang, mithilfe von Accounting-Techniken sämtliche Teilbereiche und -abläufe einer Organisation auf Fragen der Profitrealisierung auszurichten d.h. slack zu reduzieren und Prozessen der Verselbständigung von Zwischenzielen entgegenzuwirken (vgl. Ballwieser 2000; Grant 2002). Dies basiert auf dem Versuch eines kontinuierlichen Ausweises sämtlicher Unternehmenswerte und darauf, Wertsteigerungen zum Maßstab unternehmerischen Erfolgs zu machen. Den allgemeinen Bezugspunkt dieser Bilanzierung bildet das Gesamtunternehmen. Ungeachtet von Schwierigkeiten der Umsetzung können dem Ansatz zufolge jedoch auch einzelne Abteilungen oder gar einzelne Mitarbeiter einer sog. Wertsteigerungsanalyse unterzogen werden. SVO ist insofern eine neuartige radikale Form der organisatorischen Ökonomisierung von Wirtschaftsunternehmen. Die Radikalität dieser Neuerung besteht darin, dass Informationen zur absoluten oder zur relativen Wertsteigerung als Entscheidungsgrundlage genutzt werden können – und zwar von Eigentümern (bzw. von Inhabern entsprechender Verfügungsrechte) als auch von Managern. Die einen können Informationen zur Wertentwicklung entweder für Verkaufsentscheidungen oder gar für eine aktive Intervention in das Management nutzen. Die anderen – d.h. die Manager – können genau dies antizipieren. Sie sind dadurch verpflichtet, die entsprechenden Informationen zur Grundlage praktisch sämtlicher ihrer Unternehmensentscheidungen zu machen. Im Idealfall soll hierdurch erreicht werden, dass stets Gewinnerwartung das ausschlaggebende Kriterium von Unternehmensentscheidungen ist. Soweit das Modell. Es ist mit dem Anspruch verbunden, damit eine bislang nicht bekannte und maximale Form der Ökonomisierung organisationsinterner Abläufe zu gewährleisten. Aus binnen-organisatorischer Sicht ist es naheliegend, dieses Instrument strategisch zu nutzen und Unternehmen gegenüber Besitzern, potenziellen Käufern und der Öffentlichkeit besser aussehen zu lassen, als sie in Wirklichkeit sind (vgl. Dobbin/Zorn 2005; Zajak/Westphal 2004). Tatsächlich heben selbst finanzwissenschaftliche Beiträge hervor, dass große Möglichkeiten der strategischen Fehldarstellung und der Manipulation von Bilanzierungen und Wertsteigerungsanalysen gegeben sind. Teilweise ist in
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dieser Literatur sogar von einer bloßen Wertekommunikation die Rede, die nichts anderem dient, als Folgsamkeit gegenüber vorherrschenden Normen zum Ausdruck zu bringen. Wirtschaftsberichterstattung wird demnach (ganz so, wie es ein neo-institutionalistisches Verständnis von Organisationen erwarten lassen würde) rituell inszeniert und symbolisch zur Geltung gebracht, ohne dass die prozessierten Informationen unbedingt mit der Wirklichkeit eines Unternehmens übereinstimmen und Entscheidungsrelevanz erhalten (vgl. Fiss/Zajac 2006; Westphal/Zajac 1998). Zugleich ist die tatsächliche Ausbreitung der SVO Gegenstand einiger empirischer Untersuchungen gewesen. Dabei wurden vor allem Unterschiede identifiziert – und Variablen, die Unterschiede plausibilisieren. Ebenso sind mir SVOs einhergehende Effekte, teils überaus kritisch und alarmierend, thematisiert worden. Allgemein gelten sog. downsizing und speziell der Verkauf unproduktiver Unternehmensbereiche als wichtigste Struktureffekte. Komplementär hierzu gibt es Tendenzen zu Fusionen und zu Zukäufen. Da sich letztere insbesondere auf die Zusammenführung ehedem konkurrierender Unternehmensbereiche beziehen, kommt es organisationssoziologisch zur sog. Klumpung von Marktanteilen, d.h. zu Konzentrationsprozessen und zu Tendenzen der Oligopolbildung. Allerdings sind mit Bezug auf die USA erhebliche sektorale Unterschiede des Anteils Shareholder Value-orientierter Unternehmen aufgezeigt worden. Ebenso konnte gezeigt werden, dass dies andere sektorale Unterschiede nach sich zieht. So belegen Fligstein & Shin (2004) mithilfe statistischer Verfahren, dass die Einführung von Techniken der Shareholder ValueOrientierung insbesondere mit der Erhöhung des Anteils an Dienstleistungsberufen, mit für die 1980er und 1990er Jahren typischen Formen des Auseinanderdriftens der Lohnentwicklung sowie mit dem Umfang an Investitionen in IT korreliert. Jedoch korreliert die Einführung von Techniken des Shareholder Value-Managements den Autoren zufolge nicht mit steigenden Profitraten. SVO ist demnach überaus folgenreich, aber sie ist in bemerkenswerter Weise nicht wirksam im Sinne der Zielsetzung. Auch Fiss & Zajac interessieren sich im Rahmen einer Studie aus dem Jahr 2004 für Diffusionsprozesse und für damit einhergehende Effekte. Allerdings geht es ihnen nicht um Branchenspezifika. Stattdessen stehen bei ihnen unterschiedliche Unternehmensformen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Zudem beziehen sie sich mit Deutschland auf einen nationalstaatlichen Kontext, der in der Fachliteratur als („quasi-renitenter“) Nachzügler gilt (vgl. Beyer/Höpner 2004; Davis/Marquis 2005). Ihr Ergebnis läuft darauf hinaus, dass bei großen börsennotierten Unternehmen bereits seit den 1980er Jahren, also lange bevor neue gesetzliche Auflagen veränderte Formen der Unternehmensbilanzierung verlangten, eine massive Hinwendung zu Idealen einer SVO zu beobachten ist.
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Um dies zu belegen, werden die Geschäfts- und Jahresberichte der 100 größten Unternehmen einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Auf dieser Grundlage können grundlegend veränderte Formen der Unternehmenskommunikation belegt werden. SVO wird demnach zu einer Zielgrösse börsennotierter Unternehmen, die demonstrativ zur Schau gestellt und aktiv in die Umwelt kommuniziert wird (s. auch Schmidt 1998 für eine ähnliche Beobachtung) Die hiermit einhergehenden substanziellen Effekte variieren jedoch nach Massgabe recht einfacher Organisationsparameter. Um dies zu zeigen, untersuchen die Autoren, inwiefern die rhetorische Bekenntnisse zu Idealen der SVO mit SV-typischen Managementprinzipien einhergeht. Letztere operationalisieren sie, indem sie sich auf (a) vorherrschende Anreizsysteme für das Management und (b) Formen der Unternehmenswertbilanzierung (EVA statt Gewinn als return on investment) bzw. die Frage der – in den 1990er Jahren noch freiwilligen – Übernahme internationaler Wirtschaftsprüfungsverfahren beziehen. Das Ergebnis besteht Fiss & Zajac (2004) zufolge darin, dass das relativ einheitliche Bekenntnis zur SVO, so wie es insbesondere in veröffentlichten Geschäftsberichten zum Ausdruck kommt, mit überaus großen Unterschieden der Managementpraxis einhergeht. Zudem zeigen die Autoren, dass diese Unterschiede mit organisationssoziologischen Variablen erklärt werden können. Unterschiede der Praxis ergeben sich demnach aus insgesamt wenig überraschenden Parametern: • dem Alter und der Ausbildung des Top-Managements (wobei die Regel gilt: junge Manager, die eine Business-Ausbildung aufweisen, sind eher Prinzipien der SVO verpflichtet als ältere Manager, die einen technischwisenschaftlichen Hintergrund haben); • dem Bekennnis zur SVO auf Seiten relevanter Kooperationspartner (insbesondere Finanzdienstleister, deren SVO stark ausgeprägt ist, legen die Übernahme von Prinzipien des SV-Managements nahe), • der Einbindung von Arbeitnehmerinteressen in Form von Betriebsräten, so wie sie z.B. durch Mitbestimmungsrechte vorgeschrieben sind, (wobei allgemein gilt: Mitbestimmung steht der Implementation von Techniken des SV-Managements entgegen) sowie • der Art der Unternehmensbesitzer (im Falle von Familienunternehmen: die Bereitschaft zur Übernahme von Prinzipien des SV-Managements ist in der ersten und zweiten Generation geringer als in folgenden Generationen; im Falle von Unternehmensbeteiligungen des Bundes und der Länder: sozialdemokratische Regierungen reagieren relativ widerstrebend). Insgesamt kann der Grundgedanke einer SVO als die radikale Form einer Ökonomisierung von Wirtschaftsorganisationen bezeichnet werden. Slack soll redu-
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ziert und der Verselbständigung nicht-ökonomischer Zwischenziele entgegengewirkt werden. Einführung und Ausbreitung der SVO sind am deutlichsten in der nach außen gerichteten Unternehmenskommunikation zu beobachten, was organisationssoziologisch betrachtet wichtige Hinweise auf in der relevanten Umwelt institutionalisierte Erwartungsstrukturen liefert. Die mit dieser Kommunikationsform einhergehende Einführung hierzu passender Anreize und Informationsgrundlagen für das Management hinkt dieser Entwicklung hinterher, was ein Indiz für Formen loser Kopplung ist – aber keines für die grundsätzliche Entkopplung von ‚talk‘ und ‚action‘ i.S.v. Brunsson (1989). Vor allem aber sind die damit erzielten Effekte uneindeutig. Einerseits unterstreicht dieser Sachverhalt den symbolischen Charakter der SVO, ganz so wie man es im NeoInstitutionalismus erwarten würde (vgl. Westphal/Zajac 1998). Andererseits deutet er darauf hin, dass Prozesse der Ökonomisierung wirtschaftlicher Organisationen mit der Einführung von Techniken des SV-Managements noch lange nicht ihren Abschluss gefunden haben. 3. Start-ups – Ökonomisierung und Unternehmensgründung Start-ups sind junge und im Regelfall sehr kleine Unternehmen, die auf die Weiterentwicklung und Nutzung wissenschaftlicher Forschung ausgerichtet sind. Für Fragen der Ökonomisierung ist die Ausbreitung von Start-ups aus zwei Gründen interessant: Erstens deutet sie darauf hin, dass ein als wichtig erachteter gesellschaftlicher Funktions- und Leistungsbereich, wie der der Weiterentwicklung und Nutzung wissenschaftlicher Forschung, von neuen Wirtschaftsorganisationen bearbeitet wird, während er zuvor unter stärkerer Einbeziehung anderer Organisationstypen oder dadurch gekennzeichnet war, dass er nicht als Gegenstand organisierter Aktivitäten in Erscheinung getreten ist. Ökonomisierung bezeichnet insofern die Ausweitung des Tätigkeitsspektrums wirtschaftlicher Organisationen. Zweitens können Start-ups hinsichtlich ihrer Ökonomisierungsgrade beschrieben und danach befragt werden, wie stark sie wirtschaftlich ausgerichtet sind und inwiefern sie in ihrem Entwicklungsverlauf einer Dynamik unterliegen, in dessen Folge sie zunehmend auf wirtschaftliche Kriterien und auf Marktorientierung ausgerichtet werden. Die Ausführungen dieses Abschnitts beziehen sich auf beide Formen der Ökonomisierung – also sowohl auf die Ausbreitung des Organisationstyps (3.1) als auch auf typische Entwicklungsmuster einzelner Start-ups (3.2).
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106 3.1 Start-ups als gesellschaftlich unterstützte Ökonomisierung des Transfers wissenschaftlichen Wissens
Ein Blick auf die sog. Entrepreneurship-Forschung der vergangenen Jahre belegt, dass Unternehmensgründungen eine überaus hohe Wertschätzung erfahren. Das liegt – ganz im Sinne neo-institutionalistischen Annahmen zu Grundlagen gesellschaftlicher Legitimität – insbesondere an Hoffnungen auf positive Effekte: Neuen Unternehmen schreibt man wichtige Impulse für die volkswirtschaftliche Entwicklung zu, und sie werden als Voraussetzung zur Bewältigung von Herausforderungen wie z.B. die der Globalisierung beschrieben (vgl. Thornton 1999). Insbesondere neuen Unternehmen, die sich der wirtschaftlichen Nutzung technologischer Innovationen verschreiben, werden enorme Potenziale zugeschrieben. Vermutet wird, dass Unternehmensgründungen durch Wissenschaftler anderen Formen des Wissenstransfers überlegen sind. Im gesellschaftspolitischen Diskurs kommt der hohe Institutionalisierungsgrad von Start-ups darin zum Ausdruck, dass kaum mehr alternative Formen der Weiterentwicklung und Verwendung wissenschaftlichen Wissens für möglich gehalten werden.3 Ungeachtet dieser allgemeinen Wertschätzung ist empirisch allerdings eine auffällige sektorale, räumliche und zeitliche Konzentration sog. Ausgründungen aus der Wissenschaft zu beobachten. Mit anderen Worten: In Feldern der Hochtechnologie (insbesondere IT und Biotechnologie) begegnet man seit den 90er Jahren regionalen Clustern (zumeist in Nähe zu angesehenen, ingenieurs- und naturwissenschaftlich ausgerichteteten Universitäten), die in Boom-Phasen durch starkes Wachstum gekennzeichnet sind. Häufung und Wachstumsraten von Start-ups können organisationstheoretisch durch die große Bedeutung erfolgreicher Vorbilder sowie durch die Entstehung und Verdichtung eines geeigneten institutionellen Umfelds plausibilisiert werden. Von sog. Trendsettern sowie durch die Etablierung wichtiger Kooperationspartner ist demnach eine Sogwirkung zu erwarten, in deren Folge potentielle Ausgründer motiviert und bei der Umsetzung angeleitet werden. Ein zentraler Engpass für Ausgründungen aus der Wissenschaft wird in der – relativ zum Bedarf überaus geringen – Kapitalausstattung der Unternehmen gesehen. Die mit Start-ups verbundenen wirtschaftlichen Chancen vor Augen, haben sich in der Vergangenheit Wagniskapital-Unternehmen etabliert. Sie sind auf die Finanzierung riskanter, aber im Erfolgsfall lukrativer Vorhaben spezialisiert. Eine wesentliche Einschränkung besteht jedoch darin, dass WagniskapitalUnternehmen in hohem Maße von wirtschaftlichen Konjunkturen abhängig sind. 3
Zur Erinnerung: Noch in den 80er Jahren war eine hohe Wertschätzung gegenüber einer Wertschätzung aktiver technologiepolitischer Gestaltung kennzeichnend. Das Modell war MITI in Japan, nicht Silicon Valley.
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D.h. in Zeiten wirtschaftlicher Krisen fehlen ihnen die Mittel, um Start-ups zu unterstützen. Darüber hinaus werden Start-ups aus der Wissenschaft im Vergleich zu anderen Neugründungen generell skeptisch beurteilt – einerseits weil die ohnehin hohen Risiken aufgrund fehlenden Fachwissens auf Seiten der Kapitalgeber besonders schwer einzuschätzen sind, andererseits wegen des Verdachts fehlender wirtschaftlicher Kompetenzen auf seiten der Ausgründer. Wissenschafts- und technologiepolitische Fördermassnahmen zielen in diesem Zusammenhang darauf ab, hieraus resultierende Barrieren abzubauen und so die Bearbeitung neuer wirtschaftlicher Betätigungsfelder aktiv zu unterstützen. Insofern ist Ökonomisierung in diesem Fall kein eigendynamischer sondern ein durch Schaffung geeigneter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen unterstützter Prozess. So sind an Universitäten eine große Zahl einzelner Informations- und Förderungsmaßnahmen durchgeführt worden, um zu Unternehmensgründungen zu motivieren und wirtschaftliche Kompetenzen zu vermitteln: Professuren für Entrepreneurship-Forschung sind ausgeschrieben und besetzt worden, einschlägige Lehrangebote wurden auch für Fachfremde der Natur- und Ingenieurswissenschaften oder im Rahmen der Weiterbildung angeboten u.s.w.. Hinzu kommen schließlich sogar finanzielle Förderungen von Existenzgründungen oder die Bereitstellung infrastruktureller oder informationaler Leistungen (vgl. OECD 2003). Die Entstehung eines derartig wohlwollenden Umfeldes für Start-ups bedeutet, dass politische oder gar wissenschaftliche Institutionen – vorübergehend und im begrenzten Ausmaß – sogar wirtschaftliche Kernfunktionen wie die der Finanzierung übernehmen (und die Frage, wie effizient dies möglich ist, ist möglicherweise sekundär, sofern es diesen Institutionen dabei auch um eine demonstrative Zurschaustellung ihrer Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Werten der Innovationsfähigkeit geht). Allerdings können politische oder gar wissenschaftliche Institutionen ihren Klienten nicht das symbolische Kapital zur Verfügung stellen, das von wirtschaftlichen Akteuren im Falle einer Zusammenarbeit ‚mitgeliefert‘ wird. So hat man in Bezug auf das Schlüsselthema der Finanzierung hervorgehoben, dass das Engagement angesehener und erfolgreicher Wagniskapital-Unternehmen von anderen Unternehmen (Kooperationspartner, Zulieferer, Abnehmer etc.) als ein wichtiges Signal auf erwartete Gewinne bewertet wird. Wagniskapital-Unternehmen selektieren demnach nicht nur ‚die Besten‘, sondern sie bringen diese hervor, indem sie ihre Klienten mit einer für andere sichtbaren Erfolgserwartung auszeichnen (vgl. Podolny/Stuart 1995). Öffentliche Finanzierungsmodi können diesen symbolischen Mehrwert demgegenüber nicht generieren, weil bei ihnen andere Rationalitäten, Motive und Förderkriterien unterstellt werden.
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Seitens der Organisationsforschung sind Fragen der Organisationsgründung und der Ausbreitung neuer Organisationstypen vor allem im Rahmen der Populationsökologie und in evolutionstheoretischen Analysen untersucht worden (vgl. Hannan et al. 1999; Aldrich 1990, 1999). Den Bezugspunkt bilden Gruppen gleichartiger Organisationen (vgl. Carroll 1988; Hannan & Freeman 1977); das primäre Forschungsinteresse gilt der zahlenmäßigen Entwicklung von Organisationen eines gegebenen Typs in einem begrenzten Raum. Methodisch eröffnet die strenge Bezugnahme auf Organisationstypen und deren Gründungsbzw. Mortalitätsraten besondere Möglichkeiten des Einsatzes mathematischer Verfahren, mit denen Ausbreitungen rekonstruiert werden können.4 Theoretisch wird die Konzentration auf Gruppen gleichartiger Organisationen als bevorzugte Untersuchungsebene mit der Annahme einer weitgehenden Wandlungsresistenz einzelner Organisationen begründet. Wenngleich neuere Beiträge stärker auf Anpassungspotentiale einzelner Organisationen eingehen (und in diesem Zusammenhang die relativ geringere Überlebenswahrscheinlichkeit anpassungsorientierter Organisationen betonen), führt die Trägheit einzelner Organisationen aus der hier referierten Sicht dazu, dass Wandel primär über Mortalität und Gründung realisiert wird (vgl. Hannan & Freeman 1977). Trägheit einzelner Organisationen korrespondiert demnach mit hoher Dynamik auf aggregierter Ebene. Sie impliziert, dass sich einzelne Organisationen nicht oder nur mit grosser zeitlicher Verzögerung auf neue Aufgaben einlassen. Dies schafft aus populationsökologischer Sicht Raum für Unternehmensgründungen. So beschreibt Freeman (1986) Unternehmensgründungen als unmittelbaren Effekt der Trägheit einzelner Organisationen: Angestellte machen die Erfahrung, dass sich die von ihnen wahrgenommenen Gelegenheiten innerhalb der Organisation nur schwer nutzen lassen, und gründen deshalb selbst ein Unternehmen. Für Fragen der Ökonomisierung bedeutet dies, dass Neugründungen von Unternehmen eine Alternative zur Ökonomisierung bestehender Organisationen darstellen. Es kommt dann weniger auf den Wandel bestehender Organisationen in Richtung Ökonomisierung an als auf die Frage, welche Typen an Organisation sich ausbreiten, weil sie günstige Rahmenbedingungen vorfinden.
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Allerdings kann nicht zwischen unterschiedlichen Varianten von Mortalität differenziert werden (vgl. Amburgey & Rao 1996), obwohl im Falle von Start-ups aus der Wissenschaft die Auflösung des Unternehmens durch Verkauf oder Fusion einen großen Erfolg bedeuten kann, während andere Marktaustritte eher als Misserfolg zu bewerten sind. Für Fragen der Unternehmensgründung lässt sich in ähnlicher Weise anmerken, dass formale Gründungen lediglich die erfolgreiche Teilmenge sämtlicher Gründungsvorhaben darstellen und bereits im Vorfeld scheiternde Gründungsvorhaben nicht erfasst werden können. Beides schmälert die Aussagekraft auf Gründung und Mortalität basierender statistischer Beschreibungen.
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3.2 Start-ups als Gegenstand von Ökonomisierungsprozessen Die Ökonomisierung einzelner startups bezieht sich auf deren Entwicklungsdynamik in Richtung einer stärkeren Marktorientierung bzw. einer stärkeren Gewichtung von Fragen der Effizienz und Effektivität. Start-ups sind in diesem Zusammenhang bereits deshalb ein interessanter Forschungsgegenstand, weil sie als neu gegründete Unternehmen noch keine Eigengeschichte aufweisen. Es ist deshalb anzunehmen, dass sie in besonderer Weise durch in der Gegenwart vorherrschende Umweltbedingungen geprägt werden und/oder dass sie besonders leicht durch internes Management gestaltet werden können. Wie diese Prägungen beschaffen sind und welche Versuche der Gestaltung sich im Falle von Start-ups in der Biotechnologie beobachten lassen, ist im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts untersucht worden.5 Erwartet wurde, dass Unternehmensgründungen im Bereich der Biotechnologie von den Beteiligten als vergleichsweise radikaler Schritt vollzogen werden. Für Start-ups wäre es demnach wichtig, sich von Beginn an auf einen effizienten Umgang mit knappen Ressourcen und auf Marktbedingungen einzulassen – d.h. sich an der Nachfrageseite zu orientieren und bei Kontakten zu Geschäftspartnern sorgfältig auf eine optimale Nutzung vorhandener Möglichkeiten zu achten. Bestätigte sich diese Erwartung, wären Start-ups von Beginn an durch hohe Grade der Ökonomisierung gekennzeichnet. Ihre schiere Ausbreitung wäre demnach ein Indiz für die Ökonomisierung eines bedeutsamen Funktions- und Leistungsbereichs der Gesellschaft. Im Vergleich zu diesen Erwartungen stellten wir im Rahmen der Projektarbeit fest, dass sich Unternehmensgründungen im Bereich der Biotechnologie anfangs in grosser Kontinuität zu Forschungsvorarbeiten entwickeln, aus denen sie hervorgegangen sind. Oftmals unterschied sich der Modus der Problembearbeitung nicht grundsätzlich von 5
Dabei wurden mit Hilfe der Swiss Life Sciences www.swisslifesciences.com Datenbank sowie eigener Recherchen neun Unternehmen ausgewählt, die im Bereich der pharmazeutischen Biotechnologie in einem der drei Subsektoren Therapeutics, R&D Services und Others tätig sind. Um den typischen Entwicklungsprozess von Unternehmen eines Subsektors besser nachzeichnen zu können, wurden drei Alterskohorten gebildet: 2005-2006, 2002-1999 und 1995 und älter. Wichtigste Datengrundlage waren problemzentrierte Interviews mit Führungspersonen des jeweiligen Unternehmens (Geschäftsführer bzw. Mitglieder der Geschäftsführung, leitende Angestellte oder Mitglieder des Aufsichtsrates oder wissenschaftlichen Beirats). Vertreter von zwei Unternehmen wurden in einem Abstand von mehr als einem Jahr ein zweites Mal zur Unternehmensentwicklung befragt. Komplementär wurden Sekundärquellen wie InternetSeiten, Presseberichte, Communiqués von Fördereinrichtungen, Branchenportale und Patentdatenanken einbezogen. Zur Ergänzung wurden ferner Experteninterviews mit Kapitalgebern, Transferbüros mehrerer Schweizer Universitäten, Professoren, die ausgegründet haben, Beratungsunternehmen und anderen relevanten Institutionen geführt.
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dem drittmittelfinanzierter Forschung, wenngleich gegenüber Kapitalgebern – nicht nur bei der Präsentation im Rahmen von Verhandlungen sondern auch bei späteren Berichten und sog. Milestones – wirtschaftliche Perspektiven ungleich stärker zu betonen und detaillierter zu beschreiben waren als zuvor. Oftmals wurden darüber hinaus sogar die gleichen Zulieferfirmen in Anspruch genommen, man agierte teils universitätsnah in Technologieparks und verfolgte ganz allgmein Vorhaben, die wie Universitätsprojekte auf die Laufzeit einiger Jahre ausgerichtet waren (für derartige Ähnlichkeiten universitärer und privatwirtschaftlicher Forschung in der Biotechnologie s. auch Hasse 1996). Ganz allgemein dienen Wirtschaftskontakte nicht nur unmittelbaren ökonomischen Zwecken. Vielmehr haben sie einen hohen symbolischen Wert für neue Unternehmen. So sind im Falle von Start-ups, wie zuvor bereits mit Bezug auf Wagniskapital erwähnt, eingeworbene Mittel nicht nur die finanzielle Voraussetzung für die Bearbeitung aktueller Forschungsvorhaben. Vielmehr dienen sie auch dem Reputationserwerb bzw. -erhalt. So können auf ihrer Grundlage kaskadenartig weitere Mittel generiert und Wachstumsprozesse realisiert werden. Insofern sind Fragen von Reputation und Status untrennbar mit Zugangsmöglichkeiten zu Ressourcen verknüpft – und es scheint wichtig zu sein, dabei auf angesehene wirtschaftliche Akteure wie spezialisierte Wagniskapitalfirmen als Finanzierer oder große Pharmaunternehmen als Abnehmer zurückgreifen zu können (vgl. Hasse/Passarge 2009). Interessiert man sich für die Entwicklungsdynamik von Start-ups, dann ist es sinnvoll die Eckpunkte zu markieren und Entwicklungsverläufe zu rekonstruieren. In wissenschaftlich-technischer Hinsicht ist zentral, dass viele der von uns untersuchten Start-ups bereits zum Zeitpunkt der Gründung über ein – im Prinzip wirtschaftlich handelbares – Forschungsergebnis verfügten (und zwar in Form von Patenten). Dies bildet den Kern des Unternehmens. Im Regelfall ist dieses Forschungsergebnis von den Gründern selbst erarbeitet worden – und zwar in universitären Kontexten und häufig im Rahmen von Forschungsarbeiten. In wirtschaftlicher Hinsicht bilden Fördermittel den Ausgangspunkt vieler Start-ups. Sie werden – oftmals vor der eigentlichen Unternehmensgründung – über Forschungsanträge eingeworben, ohne dass bereits Gründungsabsichten manifest sind. Die Gründung selbst erfolgt dann oftmals unter Einbeziehung von Eigenmitteln, Preisgeldern und Stiftungsmitteln (vgl. Passarge 2008). Für den weiteren Verlauf sind hohe Mortalitätsrisiken und kurze ‚Lebensspannen‘ ein charakteristisches Kennzeichen von Start-ups. Deshalb können herkömmliche Lebenszyklusmodelle der Betriebswirtschaftslehre praktisch nicht angewendet werden. Darüber hinaus entspricht es oftmals der Zielsetzung der Gründer, frühzeitig von anderen Unternehmen aufgekauft und insofern zu Objekten vertikaler Integration zu werden. Start-ups stellen insofern nicht unbe-
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dingt (Zwischen-) Produkte in Form von Dienstleistungen oder neuen Wirkstoffen her – und sie wollen nicht unbedingt langfristig überleben. Oftmals sind sie vielmehr selbst das Produkt, dessen rasche Veräusserung angestrebt wird. Diese Selbstvermarktung kann man als eine Extremform der Ökonomisierung ausweisen.6 Doch was passiert zwischen Gründung und Mortalität; lässt sich der Entwicklungsverlauf als Ökonomisierung beschreiben? Start-ups sind anfangs in wissenschaftliche Kontexte eingebettet, die sich kaum von denen regulärer Forschungsprojekte unterscheiden. Ebenso behalten universitäre Herkunftseinrichtungen im Falle der von uns untersuchten Start-ups zunächst eine wichtige Stellung. Auch kann das Hinzukommen neuer Kooperationspartner i.S.v. Abnehmern und Zulieferern leicht überschätzt werden, weil Start-ups anfangs sehr streng auf die Entwicklung einer Innovation ausgerichtet sind. Demgegenüber ist die Finanzierungsbasis durch starke Veränderungen gekennzeichnet. Im Kern läuft sie auf eine radikale Erhöhung von Risikokapital hinaus, deren Vergabe zumeist an strenge Bedingungen geknüpft ist. Förderer üben demnach einen nachhaltigen Einfluss aus, indem sie Beratungsleistungen anbieten, Geschäftspläne einfordern oder nach einiger Zeit sogar eine Erweiterung oder den Austausch der Geschäftsführung erzwingen (d.h. oftmals: Naturwissenschaftler werden durch Wirtschaftsexperten ergänzt oder ersetzt). Komplementär zu diesen Veränderungen relevanter Umwelten und Kooperationspartner sind interne Entwicklungsdynamiken zu beobachten. Insbesondere kann Wachstum zu neuen Form der Arbeitsteilung, zu Formalisierung und zur Herausbildung von Routinen führen. Gleichwohl fallen auch hier Änderungsbereitschaft und -druck relativ gering aus. Technologische Herausforderungen und damit einhergehende Formen der Aufgabenungewissheit stehen insbesondere bei den auf radikale Innovationen in Form von Therapeutikaentwicklung ausgerichteten Start-ups einem strengen Wirtschaften im Sinne eines effizienten Umgangs mit Knappheit und enger Marktorientierung entgegen. Der Versuch, genuin unsichere Forschungsvorhaben zu einem erfolgreichen Ende zu bringen, um Lizenzen ausgeben zu können oder um das Unternehmen zu veräussern, bedingt insofern, dass Start-ups eher untypische Wirtschaftsorganisationen mit insgesamt relativ schwachen Ökonomisierungsgraden darstellen.
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In Bezug hierauf gibt es eine post-organisatorische Form der Verstetigung in Form sog. Serial Innovators, die ihr in Vorläuferprojekten erworbenes Human- und Sozialkapital für neue Geschäftsideen einsetzen. Serial Innovators sind jedoch stets Personen (also keine Organisationen), und es sind dann diese Einzelpersonen, die neue Unternehmen gründen und diese ggf. später Gewinn bringend veräußern.
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4. Zusammenfassung und Diskussion Thema des Beitrags waren gegenwärtig zu beobachtende Tendenzen organisationsbezogener Ökonomisierung. Dabei wurde ein breites Spektrum an Organisationstypen berücksichtigt: große, im Regelfall börsennotierte Wirtschaftsorganisationen, Organisationen in öffentlicher Trägerschaft (Verwaltungen und staatliche Leistungsanbieter) sowie private Non Profit-Organisationen. Ebenso wurde mit Start-ups auf den Sonderfall junger Organisationen eingegangen, die der Wirtschaft neue Tätigkeitsbereiche erschliessen. Um Ökonomisierungsprozesse auf ein derartig breites Spektrum an Organisationstypen beziehen zu können, wurde Ökonomisierung nicht auf Fragen des Profits bzw. der Profitorientierung reduziert. Statt dessen wurde Ökonomisierung als ein Prozess begriffen, der in Erwartungen (1) einer zunehmend wirtschaftlichen Verwendung knapper Mittel, (2) einer stärkeren Orientierung an relevanten Märkten und (3) des Versuchs, auf andere Weise Ressourcen zu erwirtschaften, zum Ausdruck kommt. So verstanden, ist Ökonomisierung ein allgegenwärtiger Trend. Er erfasst gewinnorientierte und Non Profit-Organisationen sowie alte (oftmals große) und junge (im Regelfall kleine) Organisationen. Allerdings variieren die damit ausgelösten Effekte erheblich, und dieser Sachverhalt deutet darauf hin, dass Ökonomisierung kein reibungsloser Prozess ist. Im ersten Teil wurden Ökonomisierungstrends nicht-wirtschaftlicher Organisationen thematisiert. Im Falle privater Non-Profit-Organisation (NPOs) bedeutet die Einbeziehung ökonomischer Kompetenzen in die jeweilige Organisation eine Form der Professionalisierung, die auf Organisationskompetenzen aufbaut. Während Sozialarbeiter, Mediziner, Sportler oder Künstler als Experten für die Bewältigung von Kernaufgaben gebraucht werden, denen sich eine NPO verpflichtet (wie im Falle von Wohlfahrtseinrichtungen, Krankenhäusern, Sportvereinen und Museen), fungieren Organisationsspezialisten als Experten für den Umgang mit knappen Mitteln und für Zahlungsströme. Aufgrund der hohen Bedeutung für Ressourcen, die nicht zuletzt aus Gründen des Wettbewerbs und der Verberuflichung organisatorischer Aufgaben gegeben sind – und wegen der gesellschaftlichen Erwartung eines rationalen Umgangs mit knappen Mitteln – sind praktisch sämtliche Bereiche durch diesen Trend gekennzeichnet. Im Falle öffentlicher Einrichtungen wurde auf die Erfolgsgeschichte des New Public Management (NPM) als Indikator für Ökonomisierungstendenzen eingegangen. Die Entdeckung und Diffusion von NPM kann als Beleg dafür herangezogen werden, dass auch Verwaltungen und öffentliche Leistungsanbieter sehr stark auf das Vorbild wirtschaftlicher Organisationen ausgerichtet werden. Unterschiede zu profitorientierten Organisationen werden dadurch relativiert, wobei auch im Falle von Verwaltungseinrichtungen und Anbietern staatlicher Leis-
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tungen anzunehmen ist, dass die demonstrative Orientierung an wirtschaftlichen Prinzipien gesellschaftlichen Erwartungen eines rationalen Umgangs mit Mitteln entspricht. Aus dieser Erwartungskonformitität, so die nahe liegende Schlussfolgerung, lassen sich Ansprüche auf gesellschaftspolitische Unterstützung ableiten. Zusammen betrachtet haben Wirtschaftsunternehmen (bzw. die dort vorherrschenden Organisationsprinzipien und Kompetenzerwartungen) demnach Modellcharakter für sämtliche Organisationsbereiche. Allerdings sind dabei Fragen der Tiefenwirkung noch vollständig ausgeklammert, d.h. die hierdurch ausgelösten Effekte auf die Bewältigung der Kernaufgaben waren nicht Gegenstand der Beschreibungen. Derartige Tiefenwirkungen wurden im zweiten Abschnitt mitberücksichtigt. Den Bezugspunkt bildeten Großunternehmen. Großunternehmen können als ‚harte Fälle‘ für die These aufgefasst werden, dass organisatorischer Ökonomisierung ein (noch) nicht abgeschlossener und im Detail unabschließbarer Prozess ist. Schließlich steht außer Frage, dass Großunternehmen seit jeher Zielsetzungen des wirtschaftlichen Erfolgs und der Profitorientierung verpflichtet gewesen sind. Aufkommen und Ausbreitung von sog. Shareholder ValuePrinzipien stellen vor diesem Hintergrund eine weitergehende Form der Ökonomisierung dar. Shareholder Value-Orientierungen können auf alle Bereiche und Detailabläufe eines Unternehmens bezogen werden. Sie versprechen vor allem ein höheres Auflösevermögen bei der Implementation ökonomischer Zielsetzungen. Shareholder Value-Erwartungen sind innerhalb weniger Jahrzehnte praktisch an alle Großunternehmen adressiert worden – in sämtlichen Wirtschaftssektoren und in sämtlichen Ländern. Gleichwohl bleiben sektorale, regionale und in Organisationsmerkmalen begründete Unterschiede in der Übernahmebereitschaft und Verwendung von Shareholder-Value-Orientierungen zu berücksichtigen – und für diese Unterschiede sind institutionelle Bedingungen ausschlaggebend. Darüber hinaus variieren die damit erzielten Effekte, so dass sich nicht einmal belegen lässt, dass Shareholder-Value-Orientierungen sich positiv auf die Entwicklung des Shareholder Value auswirken. In jedem Fall deuten diese Unterschiede darauf hin, dass Ökonomisierung noch immer nicht abgeschlossen ist – und zwar auch nicht im Wirtschaftsleben. Organisationsforscher nehmen im Anschluss an Arthur Stinchcombe (1965) ganz allgemein an, dass etablierte Organisationen vergleichsweise träge auf neuartige Trends reagieren, weil sie eigene Traditionen und Routinen herausgebildet haben und weil sie in Kontexte eingebettet sind, die spezifische Erwartungen an eine Organisation herantragen. Nimmt man nun Ökonomisierung als derzeit vorherrschenden Mastertrend an, dann sind die ausgeprägtesten Formen einer Ökonomisierung bei neu gegründeten Organisationen zu erwarten. Im dritten Abschnitt ging es deshalb um neu gegründete Unternehmen und um die
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Frage, welche Erscheinungsformen der Ökonomisierung sich hier beschreiben lassen. Die auf Fragen der Ökonomisierung bezogenen Eindrücke aus einem empirischen Projekt, das sich auf Start-ups in der Biotechnologie an verschiedenen Standorten in der Schweiz bezieht, fallen ambivalent aus: Einerseits bestätigt sich die Erwartung einer extremen Ökonomisierung. Neugründungen im Bereich der Biotechnologie arbeiten nicht nur gezielt an der Entwicklung marktfähiger Produkte und Dienstleistungen. Vielmehr steuern sie oftmals auf eine Entwicklung hin, an deren Ende die Übernahme durch andere Organisationen eine attraktive Alternative zur Aus-Lizensierung darstellt. Im Fall dieser Alternative vertreiben Start-ups nicht nur Produkte und Dienstleistungen. Vielmehr sind sie selbst das Produkt, mit dem hohe Preise erzielt werden sollen. Eine radikalere Form der Ökonomisierung ist kaum vorstellbar, und die massenhafte Ausbreitung dieses Prinzips würde wohl auf eine grundlegend neue Form des Kapitalismus hinauslaufen. Andererseits sind die Tätigkeiten und Zielsetzung von Start-ups in der Biotechnologie mit sehr großen Ungewissheiten behaftet. Aufgrund des langen Vorlaufs und der Vermarktungsferne ihrer Projekte sind sie generell von externer Finanzierung abhängig. Aus wirtschaftlicher Sicht locken hohe Gewinnmöglichkeiten Risikokapital an. Dies hat zur Ausbreitung hierauf spezialisierter Finanzaktivitäten geführt, und die Akquise von Risikokapital ist zur kritischen Größe avanciert. Aber auch gesellschaftlich sind Start-ups in hohem Maße erwünscht und gelten als förderungswürdig – sei es aufgrund erhoffter Wirtschaftseffekte, sei es aus symbolischen Gründen. Die Folge ist, dass Start-ups sowohl öffentliche als auch privatwirtschaftliche Finanzierungsmöglichkeiten offen stehen, wenngleich auch hier große sektorale, räumliche und konjunkturelle Varianz kennzeichnend ist. Für den Erfolg biotechnologischer Vorhaben scheint jedoch der Zugang zu diesen Finanzierungen so bedeutsam zu sein, dass Fragen eines effizienten Umgangs mit Knappheit nicht im Vordergrund des Betriebsalltags stehen. Auch als Kriterium der Kreditvergabe sind sie weniger wichtig als symbolischer Kriterien in Form von Sozialkapital, Status, Reputation etc. Ökonomisierung ist dabei also nur von untergeordneter Bedeutung – und vermutlich eher zu erwarten, sobald Start-ups entweder in etablierte Unternehmen integriert werden oder gezwungen sind, marktnäher zu agieren. Insofern ist der Ökonomisierungsgrad von Start-ups weit geringer als man es erwarten würde – sowohl hinsichtlich einer zunehmend wirtschaftlichen Verwendung knapper Mittel, als auch in Bezug auf eine stärkere Orientierung an relevanten Märkten, in denen eine Organisation als Abnehmer oder als Anbieter in Erscheinung tritt und niedrige bzw. hohe Preise realisieren möchte. Ökonomisierung findet ihren Ausdruck vielmehr in dem Versuch, auf andere Weise Ressourcen zu erwirtschaften. Grundlage hierfür sind Ausweise einer Förderungs- bzw. Kre-
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ditwürdigkeit aufgrund von ‚Versprechen‘ über zukünftig zu erwartende Gewinne. Die Auseinandersetzung mit empirischen Trends in Richtung Ökonomisierung führt insgesamt zu dem Ergebnis, dass Erscheinungsformen und Effekte organisatorischer Ökonomisierung vielschichtig sind: • Non-Profit-Organisationen akzeptieren Wirtschaftsorganisationen als Vorbilder und inkorporieren ökonomische Kompetenzen; • öffentliche Einrichtungen sollen im Fall des NPM analog zu Wirtschaftsunternehmen geführt oder gar durch diese ersetzt werden; • Großunternehmen bekennen sich zum Ideal einer allgegenwärtigen Shareholder Value-Orientierung; und • viel versprechende wissenschaftliche Projekte werden in Start-up-Unternehmen fortgesetzt, deren Entwicklungsverlauf dadurch gekennzeichnet ist, dass in der Geschäftsleitung Wissenschaftler durch Manager mit praktischen Wirtschafts- und Finanzkompetenzen ersetzt werden. Insofern treten die Konturen einer umfassenden Ökonomisierung praktisch sämtlicher Organisationen deutlich zu Tage. Gleichwohl ist es schwierig, einen Endpunkt dieser Entwicklung (in Form ‚vollständiger Ökonomisiertheit‘) zu bestimmen. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass wir erst am Anfang einer Entwicklung stehen, die noch immer erhebliche Steigerungspotenziale bereithält. Die theoretisch entscheidende Frage ist in diesem Zusammenhang, inwiefern andere Mastertrends aktiv zur Relativierung der geschilderten Ökonomisierungstendenzen beitragen. So stehen nicht nur Nonprofits und Verwaltungseinrichtungen, sondern auch Wirtschaftsunternehmen unter gesellschaftlicher Dauerbeobachtung – und sie reagieren teilweise mit der Stärkung nichtökonomischer Orientierungen, so wie sie beispielsweise in Idealen einer sog. Corporate Social Responsibility (CSR) zum Ausdruck kommen. Allgemein betrachtet, könnten also Legitimationsbedarf und Moralisierung solche Mastertrends darstellen. Weiterere Kandidaten wären Verrechtlichung sowie das in sehr vielen Organisationsbereichen zu beobachtende Wiedererstarken dem Wesen nach Weberianischer Bürokratie – d.h. der Produktion und Prozessierung von Akten und Dokumenten, die dann als Richtschnur organisatorischen Entscheidens eingesetzt werden. Man denke hier an allgegenwärtige und überaus kostspielige Formen der Evaluierung, des Accounting und allgemein des Verfahrens-Controlling, deren rasche Ausbreitung sich nicht unbedingt aus Ökonomisierungsbestrebungen herleiten lässt (und deren Effekte in dieser Hinsicht oftmals überaus fraglich sind).
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Ökonomisierung kann somit als übergeordneter Trend ausgewiesen werden, aber es ist vermutlich nicht der einzige, dem Organisationen ausgesetzt sind. Organisationen werden sich demnach auch weiterhin mit verschiedenen und zuweilen unvereinbaren Erwartungen auseinandersetzen müssen. Und weiterhin gilt: Einige scheitern an den damit einhergehenden Herausforderungen, doch viele finden Wege und Mittel zu überleben und erfolgreich zu sein. Die Organisationsforschung der vergangenen Jahrzehnte hat Konzepte wie symbolisches Management, mimetische Anpassung und lose Kopplung etabliert, mit deren Hilfe sich beschreiben lässt, wie diese Wege und Mittel beschaffen sind. Das alles kann für die Erörterung von Fragen des Umgangs mit Ökonomisierungserwartungen genutzt werden – und nicht zuletzt bieten diese Konzepte auch der Allgemeinen Soziologie Anknüpfungspunkte für die Weiterbeschäftigung mit Fragen zur Ökonomisierung der Gesellschaft. Literatur Aldrich, H. E. (1990) Using an Ecological Perspective to Study Organizational Founding Rates. In: Entrepreneurship: Theory and Practice 14: 7-24 Aldrich, H. E. (1999) Organizations Evolving. London Amburgey, T. L./ Hayagreeva, R. (1996) Organizational Ecology: Past, Present, and Future Directions. In: Academy of Management Journal 39: 1265-1286 Bahrdt, H. P. (1958) Industriebürokratie. Versuch einer Soziologie des industrialisierten Bürobetriebes und seiner Angestellten. Stuttgart Ballwieser, W. (2000) Wertorientierte Unternehmensführung. In: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 52: 160-166 Baum, J. A. (1999) Organizational Ecology. In: Clegg, S.R./Hardy, C. (1999) 71-108 Bell, D. (1973) The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting. New York Berndt, R. (Hrsg.) (1998) Unternehmen im Wandel – Change Management. Berlin Beyer, J./ Höpner, M. (2003) The disintegration of organised capitalism: German corporate governance in the 1990s. In: West European Politics 26/4: 179-198. Bourdieu, P. (1977) Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz Bourdieu, P. (1988) Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion. Konstanz Brunsson, N. (1989) The Organization of Hypocrisy. Talk, Decisions, and Actions in Organizations. Chichester Burns, T./ Stalker, G.M. (1961) The Management of Innovation. London Carroll, G.A. (1988) Organizational Ecology in a Theoretical Perspective. In: Carroll, G.A. (1988) 1-6. Carroll, G.A. (1988) Ecological Models of Organizations. Cambridge, MA Castells, M. (2001) The Rise of the Network Society: The Global Economy: Structure, Dynamics, and Genesis, Oxford, and Malden, MA. 101-162 Castells, M. (1996) The Rise of the Network Society. In: The Information Age: Economy, Society and Culture, Vol. I. Malden, CA Clegg, S.R./ Hardy, C. (1999) Studying Organizations. Theory and Methods. London
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Corporations in den USA. Kämpfe um Etablierung zwischen königlicher Charter und Industrialisierung1 Thomas Matys
„Man beachte, wie diese wesentlichen Elemente der körperschaftlichen Strategie von Beginn an angewendet wurden: Industriespionage, Informationsmanagement, Auslagerung von Risiko als Investitionsanreiz, Fabriken und Einkaufsmeilen, internationaler Handel, Arbitrage, Kolonieverwaltung, militärische Verbindungen und sogar Markennamen. Diese Elemente wurden in den ersten zwei Jahren der Körperschafts-Geschichte gängige Praxis. Nach vier Jahrhunderten dramatischen Wachstums besteht die Form der Körperschaft heute in erstaunlich ähnlicher Gestalt.“ (Nathan 2001a: 4)
Vorbemerkung Mein Beitrag hat zunächst eine dokumentarische Funktion: Es geht darum, die bis heute existente und wirkmächtige Form der Organisation, die „Corporation“, in ihrer Entstehungsgeschichte in den Vereinigten Staaten von Amerika historisch zu rekonstruieren und damit wichtige empirische Elemente aufzunehmen – hier sei zunächst das Jahr 1600 als Wegscheide gesetzt –, die sich dann in ein polit-ökonomisches Terrain einpassen, innerhalb dessen sich die moderne Gebildeformation von Organisation erst entfalten konnte. Dass die Herausbildung der Corporations einen von Friktionen und Machtkämpfen durchdrungenen Prozess darstellt, scheint in Europa bis heute nahezu unbekannt zu sein. Im Anschluss an diese historiografischen Darstellungen werde ich das Dargelegte unter polit-ökonomischer Perspektive auf Organisation, die vor allem die Etablierung von Herrschaft durch die organisationale Form verdeutlicht, verdichtet zusammenfassen. Dabei wird u. a. deutlich werden, dass modernes Management ohne die Etablierung der korporativen Form heute nicht denk- und praktizierbar wäre.
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Dieser Beitrag entspricht einer veränderten Fassung eines einzelner Kapitelteile der Dissertation des Verfassers, die sich mit der Entstehung der Corporations aus organisationssoziologischer Perspektive befasst.
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1. East India & Co. – Handelskörperschaften als moderne Ur-Organisationen Der erste Blick führt in das kolonialbegierige, elisabethanische England des 17. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit sollten sich zwei Korporationstypen zur Befriedigung der Macht- und Wirtschaftsinteressen von Krone einerseits und den wirtschaftlich Tätigen andererseits herausbilden: Die Überseehandelsgesellschaften und die joint stock companies. Die Überseehandelsgesellschaften nahmen die Befriedigung beider Interessenlager durch ihre Aufgabenzwitterstellung in besonders markanter Weise auf. Die königliche Gründungscharter beinhaltete neben der Korporierung auch die Übertragung hoheitlicher Befugnisse zwecks Ersetzung fehlender exekutiver Gewalt der Krone in den neuen Kolonialgebieten. Dafür wurde das Handelsprivileg für bestimmte Güter aus den Kolonien zugunsten der hinter der Gesellschaft stehenden Kaufleute gewährt. In der Zeit nach 1610 gab die Company erstmals Anteile – mit anderen Worten: Aktien – für die Dauer mehrerer Erkundungsreisen und nach 1650 für unbegrenzte Dauer aus (vgl. Merkt/Göthel 2006: 60 ff.):
Abb. 1: Aktie der East India Company über £ 668, ausgegeben am 23. Mai 1795 Quelle: http://www.tschoepe.de/auktion47/auktion47_england.htm
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Handelsgesellschaften hatten zu Beginn fest umrissene Aufgabenstellungen von der Krone erhalten, was sich in ihrem Namen ausdrückte. Sie widmeten sich der Erkundung, dem Handel und der Kolonisierung in den neuentdeckten Territorien. Die Wahrnehmung staatlicher Funktionen wich später dem Ziel der Förderung des privaten Handels und der Mehrung des Reichtums der Anteilseigner. Die East India Company, deren Gründung von Königin Elisabeth I. von England am 31. Dezember 1600 persönlich bewilligt wurde, scheint so etwas wie die moderne Ur-Corporation gewesen zu sein; manche charakterisieren sie als machtvollste Corporation, die jemals bestanden hat (vgl. Nace 2003: 34). Ihre Ursprünge wurzeln in einer königlichen Einkaufsmeile für internationalen Handel namens Royal Exchange of London, von der aus es der Krone möglich wurde, die internationalen Tauschkurse zu regulieren und die Handelsverfahren zu kontrollieren. Nach dem Niedergang der spanischen Seemacht waren die holländischen Bemühungen groß, den vormals portugiesischen Handel mit dem Osten zu monopolisieren, also versuchten die Engländer, die Holländer bei der Kolonisierung Ostindiens zu überflügeln (vgl. Nathan 2001: 5). Das Zusammenspiel von Entdeckergeist und kaufmännischem Interesse von Händlern – gepaart mit einer international ausgerichteten Empire-Politik der britischen Krone – war es wohl auch, das so etwas wie die East India Company als erste große Handelskörperschaft entstehen lassen konnte. Die Company kolonisiert Teile Südostasiens und kontrolliert schließlich, wenn auch widerwillig, Indien. 1601 zeichnet Elisabeth den Insurance Act1 und die Zahl der Handelskörperschaften schnellt in die Höhe. Schon 1602 kopieren die Holländer die Idee und gründen die Holländische Ostindische Kompanie. Damit, so führt Nathan (ebd.) aus, ist das Prinzip der Risikoauslagerung, welches durch das Konstrukt einer Körperschaft erst möglich wird, als konstitutives körperschaftliches Organisationsprinzip in der modernen Welt angelangt. Die Grundmuster für dieses Prinzip waren im englischen common law des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit angelegt: Hier waren es vor allem die Kaufmannsgilden, die als Vorläufer moderner Handelskörperschaften angesehen werden konnten, allerdings bestand die vornehmliche Funktion dieser Gilden lediglich darin, die Unternehmungen ihrer einzelnen Mitglieder zu unterstützen und das Monopol, welches der König der Gilde verliehen hatte, vor Störungen durch Nichtmitglieder zu schützen (vgl. Merkt/Göthel 2006: 59). Hingegen lag das Geschäftsrisiko nicht bei der Gilde, sondern ausschließlich bei den einzelnen Mitgliedern, die – nach Maßgabe der Gilderegelungen – ihre Geschäfte auf eigene Rechnung betrieben und persönlich 1
Im Insurance Act von 1601 heißt es: „... mit Mitteln der Versicherungspolice erlassen Wir, daß der Verlust eines Schiffes nicht das Verderben eines Mannes bedeute, sondern der Verlust leicht auf Viele verteilt werde, statt schwer auf Wenige ...“ (Lawson 1993: 37 zit. nach Nathan 2001a: 26).
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unbeschränkt haftbar waren. Trotz der – noch – fehlenden Haftungsbeschränkungen wies der Organisationstyp „Gilde“ bereits einige Charakteristika moderner Korporationen auf, z. B. die Teilung gemeinsamer Infrastruktur und KapitalPooling (vgl. Nace 2003: 32). Ebenso wie die Zünfte, als ständische Körperschaften von Handwerkern, die im Mittelalter zur Wahrung gemeinsamer Interessen entstanden waren, müssten Gilden zunächst eher als Assoziationen denn als Organisationen bezeichnet werden: es sind „... Vergemeinschaftungsformen, die die Intragruppen-Beziehungen zwischen den assoziierten, u. U. sogar unvertretbaren, Subjekten regeln ...“ (Türk 1995: 118; Herv. i. Orig.), Organisationen dagegen sind primär außenorientiert (vgl. ebd.). Gegen Ende der Tudorzeit (1603) allerdings verlor das System der Kaufmannsgilden an Bedeutung und wurde durch das klassische römischrechtliche Korporationssystem ersetzt (vgl. Merkt/Göthel ebd.). Eine Körperschaft konnte danach, wie oben angedeutet, nur durch Hoheitsakt, d. h. entweder durch königlichen Verleihungsakt in Gestalt einer „Charter“ oder durch Parlamentsbeschluss, geschaffen werden. Die Erteilung der Charter war gleichzusetzen mit der Inkorporation. Die zweite Gruppe, die – so könnte man formulieren – einen weiteren Prototyp der modernen (business) Corporation darstellt, ist die o. g. joint stock company. Die joint stock companies bildeten das Pendant zu den Überseehandelsgesellschaften auf englischem Territorium. Da sie nicht (auch) mit der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben betraut wurden, unterstanden sie recht schnell nicht mehr einer starken staatlichen Reglementierung im Vergleich zu den Überseehandelsgesellschaften (vgl. ebd.). Eine Gründung konnte bereits durch Vertrag erfolgen, nicht selten unter Zuhilfenahme der Charter einer sich auflösenden oder beendeten Gesellschaft. Damit konnte eine Rechtspersönlichkeit des Handelsverkehrs auch ohne Inkorporationsakt geschaffen werden. Berühmte Beispiele für joint stock companies stellen die Russia Company (gegründet 1553) und die Turkey Company (gegründet 1581) dar (vgl. Nace 2003: 33). Diese Beispiele belegen den oben beschriebene Übergang von Assoziation zu Organisation, zeigen sie doch einen zentralen Aspekt des Formwandels von Sozialität auf: Kollektive, gruppenartige Gebilde, innerhalb derer die Mitglieder einzeln identifizierbar sind, werden durch körperschaftliche, vereinheitlichende Organisationen abgelöst und damit kognitiv losgelöst von konkreten Einzelpersonen. An den Überseegesellschaften jedoch lassen sich erste Institutionalisierungen einiger zentraler Managementprinzipien ausmachen: Im Gegensatz zu den damals üblichen Personengesellschaften – bei der verhältnismäßig kleine Gruppen von Männern, durch persönliche Loyalität und gegenseitiges Vertrauen miteinander verbunden, ihre Ressourcen zusammenlegten, um Firmen zu gründen, die sie sowohl leiteten als auch besaßen – waren bei einer Kapitalgesell-
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schaft Firmenbesitz und Firmenleitung voneinander getrennt. Das Management war für die Geschäftsführung zuständig, während eine andere Gruppe, die Aktionäre, Eigentümer war (vgl. Bakan ebd.: 12). Damit war die organisationstheoretisch in Bezug auf das „Handlungssubjekt“ der Organisation bedeutsame Auftrennung von Eigentums- und Verfügungsgewalt (über Kapital, Güter, Personal etc.) vollzogen. 1688 gab es bereits fünfzehn körperschaftlich organisierte Kapitalgesellschaften in England, obwohl keine mehr als ein paar hundert Mitglieder zählte (vgl. Bakan ebd.: 15). Die Organisationsform der Kapitalgesellschaft wurde ein beliebtes Mittel zur Finanzierung von Unternehmungen in den Kolonien, so auch in Neuengland, also dem Ur-Territorium der heutigen USA. Dies war möglich geworden, nachdem König Charles I. 1629 einen Freibrief („Charter“) an die Massachusetts Bay Company für die Kolonisierung Neuenglands bewilligt hatte. Aus dieser Zeit datieren auch die ersten dokumentierten Kämpfe zwischen der herrschaftsbeanspruchenden englischen Kolonialmacht und den frühen Staaten Neuenglands: 1664 sandte Charles II. Vertreter, um die Geschäftsbücher zu prüfen, worauf die Firma die königliche Autorität in Frage stellte. Die Krone wies später die Geschäftsführer der Massachusetts Bay Company zurecht: „Der König gab nicht Seine Herrschaft über euch auf, als Er euch zu einer Handelskörperschaft machte ... Als Seine Majestät euch die Autorität über die Untertanen verlieh, die unter eurer Rechtsprechung leben, machte er sie nicht zu euren Untertanen, und euch nicht zu ihrer höchsten Autorität.“ (Lawson 1993: 37 ff. zit. nach Nathan 2001a: 5)
Insgesamt waren die meisten damaligen Unternehmen zunächst „Schwindelunternehmen“ (Bakan ebd.: 12): Es waren solche, die ihren Aufschwung Spekulationen zu verdanken hatten, zumeist also kurzfristig Erfolg hatten und dann wie Kartenhäuser zusammenfielen – zwischen 1690 und 1695 gab es dreiundneunzig dieser öffentlich gehandelten „Kapitalgesellschaften“; 1698 war ihre Anzahl auf zwanzig geschrumpft. Im Jahr 1720 wurden – bis auf ein paar Ausnahmen – die Kapitalgesellschaften in England verboten, da die Krone einem wuchernden Spekulationsfieber begegnen wollte: Das Englische Parlament erließ den Bubble Act, der die Gründung von Unternehmen, die sich „erdreisten, eine Körperschaft zu sein“ (ebd.: 14) und „übertragene Wertpapiere ohne Rechtsbefugnis“ (ebd.) aufzulegen, als Verstoß gegen das Gesetz ahndete. Trotz dieser Eindämmung wuchs im 17. und 18. Jahrhundert insgesamt der Handel mit den heutigen USA rapide. Die Tatsache, dass eine Reihe von Mitgliedern des Englischen Parlaments auch Anteilseigner der East India Company waren, kann als ein gewichtiger Grund dafür angesehen werden, dass viele Beschränkungen gerade für die East India Company nicht galten. Das System wechselsei-
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tiger Herrschaftssteigerungen zwischen König/Staat und kapitalistischem Unternehmer markiert dien historischen parallelen „take off“ von Organisation und Kapitalismus (vgl. Türk 1995: 33). Trotz der für damalige Verhältnisse offenkundigen Machtfülle der East India Company muss an dieser Stelle noch einmal auf das Grundprinzip der damaligen gecharterten Corporations eingegangen werden: Vor 1776 gab es nur wenige machtvolle, meist von enttäuschten Gouverneuren geführte Corporations. Sie wurden auf Zeit gegründet, vielleicht 10 oder 20 Jahre, und mit der „Erfüllung“ eines öffentlichen Zweckes, z. B. Bau eines Gebäudes oder einer Brücke, ‚beauftragt‘. Das jeweilige ‚Produkt‘ ging dann meist nach Fertigstellung an den Staat über (vgl. Edwards ebd.). Damit lässt sich dieser temporären Privatisierung durchaus in das um sich greifende ideologisch-kulturelle Paradigma der Rationalität und Technologie, angetrieben durch Gestaltbarkeits- und Machbarkeitsschübe mit zumeist teleologischem Grundmotiv (vgl. Türk 1995: 132 ff.) einordnen Bis 1780 gab es nicht eine einzige Bank in den späteren USA. Die ersten Banken ab 1790 waren keine Privatbanken, sondern staatlich beauftragte Finanz-Institutionen (vgl. Landauer 1981: 36). Die staatliche Kontrolle, die für die Corporations bis 1886 galt, umfasste folgende Punkte (vgl. Hartmann 2002: 75): • keine Befreiung persönlicher Management-Haftung durch staatlichen Inkorporierungsakt, • Zusammenschluss gemäß Zweck auf Zeit, • keine Spendenfähigkeit gegenüber politischen Parteien oder Verbänden, • Monopolaufsicht und -begrenzung durch die Einzelstaaten, • Offenlegungspflichten der Corporations gegenüber den Einzelstaaten und • die Gerichte der Einzelstaaten, nicht das Bundesgericht, sind für Rechtsverstöße von Corporations zuständig. Jahrhunderte später einmal würde die o. b. Haftungsbeschränkung englisches (1856) bzw. amerikanische Gesetzesrecht (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) werden (vgl. Bakan ebd.: 20). Bis dahin war es aber noch ein friktionsreicher Weg. 2. Steuern – Repräsentation – Revolution Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Industrielle Revolution in vollem Gange, was vor allem am Aufstieg der Großindustrie im Bereich der Dampfkraft zu beobachten war; Bergbau- und Textilindustrie folgten. Um 1790 gab es bereits 328 Kapitalgesellschaften in den heutigen USA (vgl. Bakan ebd.: 16).
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Trotz enormer Absetzbemühungen der East India Company von der Krone einerseits, traten andererseits die Abhängigkeiten zum Königreich deutlich zutage: Die Company hatte erhebliche Probleme, die riesigen neu erworbenen Gebiete zu verwalten. Nicht nur die Hungersnot von Bengalen, sondern auch die Probleme des Mutterlands machten der Company zu schaffen: In ganz Europa herrschten wirtschaftliche Stagnation und Depression, ausgelöst durch die Nachwehen der Industriellen Revolution. Großbritannien wurde in eine Rebellion in Nordamerika (einem der Hauptimporteure für Tee) verwickelt, und Frankreich stand am Rande einer Revolution. Die verzweifelten Direktoren der Ostindien-Kompanie versuchten durch einen Appell an das Parlament, den Bankrott abzuwenden. Hierin baten sie um finanzielle Unterstützung. Daraufhin wurde der Tea Act von 1773 erlassen, in dem der East India Company größere Autonomie bei der Abwicklung ihres Handels in Nordamerika eingeräumt wurde. Durch die monopolistischen Aktivitäten wurde jedoch die so genannte Boston Tea Party ausgelöst. Dies war eines der wichtigsten Ereignisse, die später zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg aber auch zu den ersten ProCorporations-Steuergesetzgebungen führen sollten (vgl. Hartmann ebd.: 51).
Abb. 2: Die Vernichtung von Tee bei der Boston Tea Party. Lithografie von Sarony Major, 1846. Quelle: http://teachpol.tcnj.edu/amer_pol_hist/thumbnail22.html
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Boston Tea Party ist die Bezeichnung für ein Vorkommnis im Hafen der nordamerikanischen Stadt Boston am 16. Dezember 1773: An diesem Tag drangen symbolisch als Indianer verkleidete Bostoner Bürger in den Hafen ein und warfen Ladungen Tee der East India Company von drei dort vor Anker liegenden Schiffen ins Hafenbecken (vgl. Hartmann ebd.: 61 ff.). Hintergrund dieser Auseinandersetzung war der Versuch Englands, die Kolonien an den Verwaltungskosten für wirtschaftliche Aktivitäten – als teilweisen Ausgleich für die Unterhaltung der zu ihrem Schutz in Nordamerika stationierten Truppen – zu beteiligen: Die für diesen Zweck erlassenen Gesetze wie der Sugar Act (Zuckergesetz) von 1764 oder der Stamp Act (Stempelgesetz) von 1765 bedeuteten eine eher milde Besteuerung der Kolonisten, die deutlich unter der Durchschnittsbelastung der Untertanen im Mutterland lag. Trotzdem stießen diese steuerpolitischen Maßnahmen auf zum Teil erbitterten Widerstand in Nordamerika (vgl. Nagler 2004: 6). ‚Sugar Act‘ und ‚Stamp Act‘ zogen nämlich direkte, das heißt in den Kolonien selbst erhobene Steuern nach sich. Daraus ergab sich ein ernster staatsrechtlicher Konflikt, da die Kolonisten das Besteuerungsrecht des britischen Parlaments nicht anerkannten. Je nach Lesart waren nämlich die Kolonisten als englische Bürger zwar berechtigt zu wählen, konnten dieses Recht aber nicht ausüben wegen der großen Distanz – und waren folglich auch nicht im Parlament in London vertreten – oder sie waren wie die Engländer durch die Vertreter ihrer Körperschaften – des Adels, der Städte, der Geistlichen und des einfachen Volkes – repräsentiert (vgl. Landauer 1981: 15). Es standen sich also die Kolonisten mit einem individuellen Verständnis von Repräsentation und die Briten mit einem korporativen gegenüber. Die Kolonisten fassten ihre Interpretation der Lage mit dem Slogan „no taxation without representation“ (keine Besteuerung ohne die Möglichkeit eines faktischen Mitwirkungsbeschlusses in einer gewählten Versammlung) zusammen. Dabei ist wichtig zu sehen, dass sie sich in ihrem fortwährenden Selbstverständnis als britische Bürger primär auf überkommene Rechte beriefen, wie sie sich in der englischen common law-Tradition einer ungeschriebenen Verfassung, eines Gewohnheitsrechts, entwickelt hatten. Bis zur Eskalation der Krise im Verhältnis zum Mutterland in den Jahren 1775/1776 wurde die Forderung nach Unabhängigkeit von England und der Einrichtung einer eigenen Rechtsordnung daher auch nur vereinzelt erhoben. Die in den Präambeln der Stempel- und Zuckergesetze angedeutete unmissverständliche Absicht des Mutterlandes England, eine Verstärkung der imperialen Kontrolle der Kolonien zu bewirken, wirft ein frühes Licht auf das Politikverständnis der Neu-Amerikaner: Während in England nach wie vor die Ansicht herrschte, dass ein Parlamentsabgeordneter der Gesamtbevölkerung gegenüber Verantwortung trage, so vertraten die Kolonisten
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aufgrund ihrer gewachsenen Erfahrungen in den assamblies (Versammlungen) die Meinung, Volksvertreter seien direkt und ausschließlich ihren Wählern verpflichtet (vgl. Nagler ebd.: 8). Das britische Parlament erkannte zwar die Stellung der Kolonien nicht an und bestand auf seinem souveränen Besteuerungsrecht, der britische Finanzminister Charles Townshend versuchte jedoch, weitere Komplikationen zu umgehen, nachdem sich Vertreter der Corporations (v. a. Kaufleute und Rechtsanwälte) aus Boston, Philadelphia und New York einen wirkungsvollen Importboykott englischer Waren durchgesetzt hatten. Parallel dazu kam es aber auch schon zu spontanen Massendemonstrationen, in deren Verlauf britische Steuerbeamte geteert und gefedert wurden (vgl. ebd.). Die Steuern – die bekannteste davon die Stempelsteuer – wurden wieder aufgehoben und durch eine ‚äußere Besteuerung‘ durch Zölle ersetzt. Im so genannten Townshend Act wurden ab 29. Juni 1767 Zölle auf die Einfuhr von Leder, Papier und Tee gelegt. Die Kolonisten reagierten heftig auf diese Zölle. Eine Gruppe zum Widerstand bereiter Männer, die sich Sons of Liberty nannte, rief zu Boykotten auf und es kam zu einem blutigen Zusammenstoß mit britischen Ordnungstruppen, dem so genannten Boston Massacre (5. März 1770). Diese Entwicklungen hatten sich schließlich in der o. b. Boston Tea Party entladen. So lieferten sich Kolonisten und eine verstärkte Truppenpräsenz aus dem Mutterland einen Schlagabtausch der schließlich in einer offenen Rebellion und der amerikanischen Unabhängigkeit münden sollte: Alle Bemühungen der englischen Krone scheiterten, die Revolutionäre von ihrer Absicht abzubringen, eine republikanische Staatsform zu gründen. Die innerhalb dieses neuen Staates sich manifestierende Denkweise und die daraus resultierende Praxisform in Bezug auf ‚Körperschaftlichkeit‘ war Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels: Das Mutterland schaffte es nicht, ein ‚repräsentatives‘ Verständnis von Körperschaftlichkeit in den USA zu implementieren und bewirkte damit, das der Modus der ‚Beauftragung‘ bzw. ‚Charterung‘ in Bezug auf Corporations von da an mehr und mehr erodierte zugunsten eines sich entfaltenden Autonomieverständnisses, welches wie ausgeführt die individuellen Bürger in den ‚neuen Staaten‘ für sich in Anspruch nahmen. Neben ‚handfesten‘ politischen Kämpfen – und das schien bereits durch – haben die Friktionen um die Etablierung der korporativen Form in den USA stets auch ihren Niederschlag in Auseinandersetzungen gefunden, die die Entwicklung und Institutionalisierung von verbindlichen Rechtsnormen zum Inhalt hatten. Vertreter der Corporations argumentierten zwecks Durchsetzung ihrer Interessen häufig mit Rechten, die sich aus Artikeln der amerikanischen Verfassung oder aus deren Zusatzartikeln ergaben. Und aus ihrer Sicht verstößen eben
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viele Gesetze und Erlasse der Einzelstaaten gegen diese Artikel. Doch bevor ich weitere Details darlege, sei im Folgenden zunächst eine kurze Nachzeichnung der Entstehung von Verfassung und Zusatzartikeln gegeben. 3. Unabhängigkeit und Verfassung – Freiheit trotz Gleichheitsparadoxon Durch die Kriegserklärung Frankreichs an England und durch das Eingreifen Spaniens und der Niederlande weitete sich der Unabhängigkeitskampf zu einem internationalen Konflikt aus. Am 4. Juli 1776 wurde die Unabhängigkeitserklärung (Declaration of Independence) durch den Kongress angenommen: Die in Philadelphia versammelten Vertreter ihrer dreizehn Vereinigten Staaten von Amerika erklären ihre Unabhängigkeit von England. In dem von Thomas Jefferson aus Virginia verfassten Text wird erstmals in einem staatlichen Dokument Bezug genommen auf die unveräußerlichen Menschenrechte auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück (vgl. Junkelmann 2005). Der Kernsatz dieser Verfassung, „all men are created equal“, so bemerkt Nagler weiter, habe mit dem Anspruch auf Gleichheit zur damaligen Zeit direkt ein gesellschaftliches Paradoxon dargestellt: einerseits war die neue Nation in vieler Hinsicht die freieste der Welt, andererseits waren 500.000 Bewohner schwarz und damit versklavt und unfrei (vgl. ebd.: 8 f.). Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ist das oberste Gesetz der Vereinigten Staaten und dabei die älteste Verfassung, die bis heute besteht. Sie trat am 4. März 1789 in Kraft und hat als Modell für viele andere staatliche Verfassungen gedient. Die neue Verfassung löste die vorher bestehenden „Artikel der Konföderation“ ab.
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Abb. 3: „Die Vereinigten Staaten von Amerika“. Huldigungsblatt auf die von den dreizehn Neuengland-Staaten angenommene Verfassung vom 17. September 1787 / Kupferstich von Amos Doolittle. Providence / R. I., John Carter Brown Library. Quelle: http://cgfa.sunsite.dk/d/p-doolitt1.htm Die Bill of Rights sind die ersten zehn Amendments (Zusätze) zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Begriff Amendment bezeichnet in der englischsprachigen Rechtsterminologie eine ergänzende Gesetzesänderung. Insbesondere werden die für das Staatsrecht der USA außerordentlich wichtigen ergänzenden und korrigierenden Zusatzartikel der US-Verfassung Amendments genannt. Sie gewähren den Einwohnern bestimmte unveräußerliche Rechte. Sie wurden vom amerikanischen Kongress am 25. September 1789 beschlossen und von 11 Bundesstaaten ratifiziert. Die Ratifizierung wurde am 15. Dezember 1791 abgeschlossen. Die Besonderheit der Bill of Rights liegt vor allem im Grundsatz der Verfassungsgerichtsbarkeit, d. h., die Rechte sind für jeden Bürger am Supreme Court einklagbar, sogar gegenüber staatlichen Gesetzen, die nicht verfassungskonform sind. Und Corporations sollten eben einen gehörigen
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Teil ihrer quantitativen und qualitativen strukturellen Dominanz nicht zuletzt daraus beziehen, dass sie – wie natürliche Personen – Rechte aus den Zusatzartikel für sich – sich ebenfalls als Personen klassifizierend – vor den Gerichten der Einzelstaaten oder sogar vor dem Supreme Court reklamierten und einklagten. Ich werde darauf sogleich zurückkommen. Folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Amendments: Nummer Jahr 1.
Zusammenfassung Trennung von Staat und Kirche, Meinungsfreiheit, 1791 Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit
2.
"
3.
"
Recht zum Tragen von Waffen durch das Volk bzw. durch organisierte Milizen Keine Zwangseinquartierung von Soldaten in Privathäusern
4.
"
Keine Durchsuchung ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl
5.
"
Kein Prozess ohne ordentliche Anklage, kein neuer Prozess gegen Freigesprochene, Zeugnisverweigerungsrecht, Kompensationsrecht
6.
"
7.
"
Recht auf öffentlichen Geschworenenprozess in Strafsachen, Recht auf Beiziehung von Entlastungszeugen, Recht auf einen Anwalt Recht auf ordentlichen Geschworenenprozess in Zivilsachen
8. 9.
" "
Verbot überhöhter Kaution und besonders grausamer Strafen In der Verfassung nicht erwähnte Grundrechte bleiben bestehen
10.
"
In der Verfassung nicht genannte Rechte liegen bei Einzelstaaten
11.
1795 Klagerecht der Bürger gegen fremde Einzelstaaten eingeschränkt
12.
1804 getrennte Wahl von Präsident und Vizepräsident
13.
1865 Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit
15.
alle in den USA geborenen sind US-Staatsbürger und Bürger 1868 ihres Einzelstaats; auch die Einzelstaaten müssen die Grundrechte der Bill of Rights beachten 1870 gleiches Wahlrecht für US-Bürger aller Hautfarben und Ethnien
16. 17.
1913 Erhebung einer allgemeinen Bundeseinkommensteuer ermöglicht 1913 Direktwahl der Senatoren durch die Bürger
18.
1919 Verbot des Alkoholhandels - Beginn der Prohibition
19.
1920 Einführung des Frauenwahlrechts
14.
21.
kürzere Frist zwischen Wahlen und Amtsantritt, Nachfolgeregelungen 1933 Aufhebung des 18. Zusatzartikels - Ende der Prohibition
22.
1951
23.
1961 Teilnahme des District of Columbia bei Präsidentschaftswahlen
24. 25.
1964 Entzug des Wahlrechts wegen Steuerschulden unmöglich 1967 Nachfolgeregelung bei Tod oder Amtsunfähigkeit des Präsidenten
20.
1933
Beschränkung der Amtsdauer des Präsidenten auf zwei Wahlperioden
26.
1971 Absenkung des Wahlalters auf 18 Jahre
27.
1992 Diätenerhöhungen werden erst nach der nächsten Wahl gültig
Tab. 1: Die Amendments der US-amerikanischen Verfassung Quelle: http://german.open-encyclopedia.com/Amendment
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Diese hier verdichtet präsentierten historischen Fakten stellen wichtige Elemente eines polit-ökonomisches Terrains dar; sie sind Teil des Kontextes, der für das Verstehen des vermehrten Aufkommens und der zunehmenden Etablierung von Corporations und somit der korporativen Form, von großer Bedeutung ist. 4. Kämpfe um das Wesen einer königlichen Charter Bevor allerdings die Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung durch die Corporations ‚in Anspruch genommen‘ werden sollten, gab es – ebenfalls juristische – Auseinandersetzungen, die von der oben angeführten Erosion des Charter-Prinzips gekennzeichnet waren und die für die Corporations nicht unwichtige Frage zum Inhalt hatten: In welchem Verhältnis sollten eigentlich die Gesetzesartikel, also ‚gesetztes Recht‘, zu den hoheitlichen Charters, die ja noch dem Rechtsdenken einer o. g. an Gewohnheitsrecht orientierten common lawTradition entsprachen, stehen? Und damit direkt verbunden: Welchen Einfluss gegenüber Corporations sollten (zumeist einzel-) staatliche Maßnahmen – also z. B. Gesetze oder Erlasse – haben ‚dürfen‘? Im berühmten Dartmouth-Fall („Trustees of Dartmouth College v. Woodward“, 1819) wurde diese Frage erstmals – präzidenzfallartig – virulent: Der Geistliche Eleazar Wheelock errichtete 1754 auf eigene Kosten eine Missionsschule zur Einweisung der ‚indians‘ in die christliche Religion und um sie im Lesen und Schreiben auszubilden. Der Erfolg dieser Schule veranlasste ihn dazu, die Schule zu vergrößern, um neben den Ureinwohnern Amerikas (indians) auch die Kinder des eigenen Landes auszubilden. Dazu sammelte er Spendengelder und in New Hampshire bekam er Land angeboten, um dort das Dartmouth College zu gründen. Wheelock bat die Krone um die Gründung einer Corporation: 1769 wurde die – vielleicht könnte man sagen: Stiftungs- – Charter verliehen (vgl. Ehmke 1961: 226).2 Wesentlicher Inhalt der Charter: Wheelock wurde Präsident des Dartmouth College und er ernannte zwölf Personen als Treuhänder (trustees), die die Angelegenheiten der Schule und die Verwaltung des Vermögens übernehmen sollten; sie hatten das Recht auf Kooptation. Als sich Auseinandersetzungen zwischen ihnen zum Politikum ausweiteten, verabschiedete der Staat New Hampshire allerdings 1816 drei Erlasse im Rahmen seiner Gesetzgebungsbefugnis, die die Charter ergänzten, sie waren folgenden Inhalts: 2
Von Hippel merkt hierzu an, dass man die Rechtsform des College auch als eine „Charible Corporation“ bezeichnen könne, also als eine gemeinnützige Corporation. Diese Rechtsform habe sich bereits im 18. Jahrhundert als eigene Rechtsform neben der Business Corporation etabliert (vgl. v. Hippel 2007: 17).
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• • •
das Dartmouth College wurde in Dartmouth University umbenannt, die Anzahl der Treuhänder (trustees) wurde auf 21 erhöht, außerdem wurde ein Aufsichtsgremium (Board of Overseers) eingerichtet, welches aus 25 Personen bestehen sollte. Mitglieder des Aufsichtsgremiums waren Repräsentanten des Staates (z. B. President of the Senate and the Speaker of the House of Representatives of New Hampshire etc.), • ein Sekretariat sollte eingerichtet werden, welches die Berichte der Sitzungen der Treuhänder verfasst und an die Mitglieder des Aufsichtsgremiums weitergibt, • Professoren der Universität sollten zwar noch von den Treuhändern ausgesucht, aber vom Aufsichtsgremium geprüft werden. Die neue Dartmouth University war damit praktisch in die Hände des Staates gelegt (vgl. Ehmke ebd.). Die alten Treuhänder des Dartmouth College hatten obige Akte der Gesetzgebung nie akzeptiert und eine Klage gegen den Sekretär Woodward (der sich auf die Seite der neuen trustees gestellt hatte) zunächst bei einem einzelstaatliches Gericht und schließlich beim Supreme Court eingereicht. Der oberste Gerichtshof des Staates New Hampshire erklärte die Gesetze für gültig und wies die Klage ab. Die so genannte contract clause, nach der kein Staat Gesetze erlassen solle, die Verpflichtungen aus Verträgen beeinträchtigten (Art. I, § 10, Klausel 1 der Bundesverfassung), war nach Meinung des Gerichts nicht anwendbar, das sie nur private Rechte schütze, es sich beim College aber um eine public corporation handele (vgl. ebd.). Die Kläger argumentierten, es handele sich um eine gemeinnützige Institution, „a private charity“ (ebd.). Die Gesetze seien ungültig, das sie gegen „common right“, gegen die Verfassung von New Hampshire und gegen die Bundesverfassung verstießen (vgl. ebd.). Der Supreme Court entschied schließlich, dass die Änderungsgesetze die o. g. contract clause verletzten eine corporate charter als Vertrag vor nachträglichen Eingriffen durch neue Gesetze geschützt sei (vgl. Merkt/Göthel ebd.: 65). Die Richter argumentierten bezüglich der vom common law geforderten Rücksicht („consideration“) im Sinne eines Leistungsversprechens der Gegenstände aus privatrechtlichen Verträgen, dass diese Rücksicht ja erfüllt sei: sie liege in dem Nutzen, den das Land von Corporation habe und deretwegen der Staat überhaupt charters erlasse (vgl. Ehmke ebd.: 227). Die Richter argumentierten weiter, dass der Staat New Hampshire als Nachfolger der Krone in den Vertrag eingetreten sei; das College sei eine ‚private corporation‘ und keine ‚civil institution‘, die Funktionen des government ausübe (vgl. ebd.). Auch der Umstand, dass das College sich Erziehungsaufgaben widme, mache es nicht zu einer öffentlichen Anstalt und unterstelle seine Charter nicht dem Willen des Gesetzgebers. Die contract clause schütze alle Verträge, sie garantiere damit die College-
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charter und verbiete die Änderungsgesetze, wie förderlich diese auch für das College und die Erziehung im Allgemeinen sein mögen (vgl. ebd.). Im Prinzip ging es also im Dartmouth-Fall zum ersten Mal um die existenzielle Frage, ob eine Corporation eigentlich eine öffentliche oder private Organisationsform darstellt und ob eine Rechtspersönlichkeit durch einen parlamentarischen Akt verliehen werden darf (vgl. v. Hippel 2007: 17). Die Väter der amerikanischen Verfassung beabsichtigten offensichtlich, Corporations aufgrund schlechter Erfahrungen in der Kolonialzeit relativ streng reguliert zu halten (vgl. Edwards 2002: 2). Staatliche Steuerung sei näher an den Menschen und ermögliche es, „eine Auge auf Corporations zu halten“ (ebd.). Allerdings zeigt der Dartmouth-Fall ein erstes gewichtiges Scheitern einer solchen Politik: Auf die in diesem Fall geäußerten Pro-Corporations-Begründungen beriefen sich Hunderte von Handelsgesellschaften, um Einschränkungen ihrer charterRechte durch Kommunen und Einzelstaaten abzuwehren (vgl. Ehmke ebd.: 237). Neben dem Dartmouth-Fall stellen die Slautherhouse Cases [83 U.S. 36 (1872)] einen weiteren gewichtigen Rechtsstreit dar, der der – so könnte man formulieren – intervenierenden Variable ‚Corporation‘ im Streit um Herrschaftsansprüche zwischen Bundesstaat und Einzelstaaten, aber eben auch zwischen korporativen Machtansprüchen einerseits und staatlichen Regulierungsanstrengungen andererseits mehr und mehr zur Institutionalisierung verhalf. In New Orleans wurden von der Gesetzgebung des Staates Louisiana das Crescent City Livestock Landing und die Slaughter-House Company außerhalb des Stadtgebietes gegründet. Diesen Companys wurden per Charter bestimmte Aufgaben übertragen. Die entsprechende Satzung wurde am 8.3.1869 erlassen und enthielt folgenden Passus: „An act to protect the health of the city of New Orleans, to locate the stock landings and slaughterhouses, and to incorporate the Crescent City Livestock Landing and Slaughter-House Company.“ (Cornell University Law School 2007: 1)
Darin wurde unter anderem festgelegt, dass die Metzger der Stadt kein Vieh mehr bei sich schlachten durften, sondern dies in den neu gegründeten Companys gegen ein Entgelt tun mussten. Die neu gegründete Corporation – eine aus 17 Personen gebildete Schlachthofgesellschaft – erhielt die exklusiven Vorrechte eines 25-jährigen Monopols für die Landung von Mississippi-Viehtransporten, die Bereithaltung von Schlachtvieh und schließlich das Schlachten selbst (vgl. Ehmke 1961: 282). Alle anderen Lagerhäuser und Schlachthäuser in den Gemeinden Orleans, Jefferson und St. Bernard sollten geschlossen werden (vgl. ebd.). Die Metzger reichten daraufhin Klage ein: Die Kläger behaupteten, dass der Company eine Monopolstellung eingeräumt worden sei und damit habe
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eine kleine Anzahl an Personen, auf Kosten vieler anderer, exklusive Rechte erhalten. Eine große und verdienstvolle Klasse von Bürgern, die Metzger der Stadt, würden des Rechtes beraubt, ihr Gewerbe auszuüben, von welchem sie und ihre Familien abhingen. Außerdem sei zur Sicherung des Lebensunterhaltes der Bevölkerung die unbeschränkte Ausübung des Geschäftes notwendig (vgl. Cornell University Law School 2007: 1 ff.). Die Metzger seien, so deren Anwälte weiter, in eine „unfreiwillige Knechtschaft“ (ebd.) geraten und „Vorrechte und Immunitäten von Bürgern [also ihre eigenen; TM] der Vereinigten Staaten“ (ebd.) seien beschnitten worden. Zudem werde ihnen der gleiche Schutz der Gesetze verweigert; sie würden gleichsam ihres Eigentums ohne Gesetzesprozess beraubt (vgl. ebd.). Somit, so die Kläger weiter, stellten die Vorrechte, die der „Schlachthaus-Company“ per Charter zugekommen seien, ein Verstoß gegen wesentliche Inhalte des 13. (Verbot von Sklavenarbeit) und des 14. („equal protection clause“; vgl. Tab. 1) Zusatzartikels der Verfassung der Vereinigten Staaten darstellte (vgl. Labbé/Lurie 2003: 207 ff.). Das Gericht wies die Punkte am 14.04.1873 zurück. Bei den an diesem Fall beteiligten Richtern war die Sachlage jedoch sehr umstritten und die Urteilsbegründung kam nur mit einer knappen Mehrheit (5 zu 4) zustande (vgl. Labbé/Lurie ebd.). Zum Argument des Rechteentzugs bzgl. der Gewerbeausübung – was die Metzger wohl plausiblerweise mit ihrem „Eigentum“ meinten – führte das Gericht aus, es habe lediglich den Ort der Gewerbeausübung festgelegt. Die neu gegründete Company zerstöre auch nicht das Geschäft der Metzger. Zur Frage, ob denn der Staat Louisiana überhaupt das Recht habe, festzulegen, an welchen Orten geschlachtet werden dürfe, antwortete das Gericht mit dem Argument der sog. ‚Polizeimacht‘. Diese Macht könne nicht genau definiert werden, aber von ihr hingen die Sicherheit der Gesellschaftsordnung, das Leben und die Gesundheit der Bürger, der Genuss des privaten Lebens etc. ab. Zum Schutze der Gesundheit und zum Wohle der Allgemeinheit könne, so das Gericht weiter, das Schlachten in dicht besiedelten Räumen untersagt werden. Die Regulierung der Orte und die Art und Weise das Schlachten von Tieren durchzuführen, gehöre zur Polizeimacht des Staates Louisiana (vgl. Cornell University Law School ebd.). Ehmke merkt dazu an, dass die police power eine Verbindung kennzeichne zwischen der den Einzelstaaten verbleibenden Regierungsgewalt einerseits und einer zulässigen Grundrechtseinschränkung (durch das Interesse der öffentlichen Wohlfahrt begründet) andererseits (vgl. Ehmke 1961: 131 f.). Schärfer müsste man im Prinzip an dieser Stelle formulieren, dass ein Grundrecht eines ‚Individual-Bürgers‘ (das der Metzger auf ‚freie‘ Berufsausübung) zugunsten einer Corporation eingeschränkt worden war. Zur Monopolstellung der neu geschaffenen (Sonder-)Corporation erklärte das Gericht, dass dies sehr wohl in der Befugnis des Gesetzgebers liege, denn der Gesetzgeber verfol-
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ge ja mit der Gründung der Corporation einen öffentlichen Zweck, eine Absicht. Die Corporation habe eine Aufgabe zu erfüllen. Und die ihr zugewiesenen Pflichten und Vorrechte (Schlachtung, Lagerung, etc. vgl. o.) seien klar definiert und gut überwacht. Dass eine „persönliche Knechtschaft“ (Cornell University Law School ebd.) gemeint war, beweise sich, so das Gericht zum Vorwurf der Verletzung des 13. Amendments, durch den Gebrauch des Wortes ‚unfreiwillig‘, welches sich nur auf Menschen beziehen könne. Die Frage nach den Vorrechten und Freiheiten der Bürger gestaltet sich für das Gericht dagegen diffizil; es argumentierte wie folgt: Jeder Einwohner der USA sei Bürger der Vereinigten Staaten und des Einzelstaates. Der Anspruch auf Vorrechte und Freiheiten, der sich in der USVerfassung in Abschnitt 2 des 4. Artikels befindet, besagt Folgendes: „Die Bürger eines jeden Einzelstaates genießen alle Vorrechte und Freiheiten der Bürger anderer Einzelstaaten.“ Daraus leiteten die Richter ab, dass das Recht, Vorrechte und Freiheiten für Bürger zu definieren, bei den Einzelstaaten und nicht bei der Bundesregierung liegen müsse (vgl. ebd.). Und das hätte der Staat Louisiana in diesem Falle ja getan. Es handelt sich also dabei um eine weitere Verstärkung des Polizeimacht-Arguments. 1879 erhielt Louisiana eine neue Verfassung, die in corporate charters (mit Ausnahme der Eisenbahncharters) gewährte Monopole im Allgemeinen und Schlachthofmonopole im Besonderen aufhob. Der Supreme Court hielt die Aufhebung des Monopols jetzt für zulässig: interessanterweise wurde innerhalb der Mehrheitsmeinung wieder mit o. e. police power argumentiert. Zu diesem Zeitpunkt sind also Corporations noch nicht – durch juristische Urteile oder nur Interpretationen – durch Inanspruchnahmen von Artikeln oder Zusatzartikeln der amerikanischen Verfassung adressiert. Meyers (2003) merkt hierzu an, dass die Macher des 14. Amendments durch das Wort ‚Person‘ eine Gesetzeslücke geschaffen hätten, die man durch eine Corporation füllen könne (vgl. Meyers 2003: 8). Dazu hatte es allerdings bei den Slaughterhouse Cases noch nicht ganz gereicht, obwohl das ‚Bürger-Argument‘ und das ‚Monopol‘Argument ja deutlich auch eher korporative denn rein individuelle Argumentationslinien beinhalten. Zusammengefasst markieren der Dartmouth-Fall und die SlaughterhouseFälle den organisationstheoretisch bedeutsamen Sachverhalt, die Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Gesetzgebung und den so genannten ‚corporate rights‘ in den USA: Vermittels der Frage der Zulässigkeit allgemeiner police power-Regulierungen (vgl. Ehmke ebd.: 239) begründet der Staat Inkorporierungen oder „Löschungen“ von Organisationen jeweils mit denselben Motiven: die ‚Regulierungsgewalt‘ über Corporations behalten zu wollen. Damit ist ein zentraler Aspekt, der auch viele weitere der im Folgenden noch dargelegten
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Fälle durchziehen wird, markiert: Es geht um die Rolle des Staates als zentrale Herrschaftsinstanz der modernen Gesellschaft (vgl. Türk/Lemke/Bruch 2006: 114 ff.). Beide Fälle garantieren noch nicht direkte verfassungsmäßige Rechtsakte der Anerkennung von Zusatzartikeln für Corporations, allerdings wird der Weg dazu bereitet: Oberflächlich erscheint es so, dass der Dartmouth-Fall Corporations begünstigte (durch die Setzung, nicht ex post in charters ‚hineinregieren‘ zu können) und die Slaughterhouse-Fälle die Corporations im Prinzip schwächten (durch Anti-Monopol-Maßnahmen im Rahmen der Polizeimacht); sie aber auch gleichzeitig stärkten. Allerdings kann bei einer zweiten Betrachtung nicht außer Acht gelassen werden, dass sich die korporative Form ja auch in den staatlichen Instanzen repräsentierte: die abstrakte Vorstellung, ‚die Corporations‘ oder ‚den (Einzel- oder Bundes-) Staat‘ als Einheit, als Ganzes wahrzunehmen, markiert einen wichtigen Schritt im Prozess der Etablierung der korporativen Form. Der im Folgenden hier behandelte Komplex der „Railroad Companies“ wird zeigen, dass es dem „corporate business“ (Ehmke ebd.: 285) zunehmend gelingen wird, verfassungsrechtliche Schutzrechte zu erlangen und sich damit weiteren staatlichen Regulierungsabsichten und -maßnahmen zu entziehen. 5. Railroad Companies – Dominanz und erste Kritik In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfalteten sich in den USA – obwohl Amerika bis zum 1. Weltkrieg als weitgehend agrarisch bestimmt gelten kann (vgl. Türk 2000: 304) – relativ gesehen enorme Wachstumsschübe in Handel und Industrie. Bis in die 1840er Jahre hinein markierten Spinn- und Webprozesse als erste Maschineneinsätze die Anfänge des Fabriksystems (vgl. Schweikart 1994: 29), welches das Handwerk – sei es agrarisch oder nicht-agrarisch ausgeführt – als dominante Form der Arbeit revolutionierte: Erstmals konnten nämlich un- und angelernte Arbeiter in den Fabriken beschäftigt werden. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verlagerte sich durch diese Dequalifikation gelernter, meist handwerklicher Arbeiter und den technischen Fortschritt die Organisations- und Verfügungsgewalt über den Produktions- und Arbeitsprozess immer mehr auf das Management (vgl. Avary/Steinisch 1990: 106). ‚Wissenschaftliche Betriebsführung‘, als ‚Scientific Management‘ durch F. W. Taylor berühmt geworden, erlebte eine enorme Karriere. Ein zentraler Wirtschaftskomplex innerhalb der Industrialisierung Nordamerikas stellte zweifellos die Eisenbahn dar. Der Eisenbahnbau war bis in die 1890er Jahre der wichtigste „Leitsektor“ (Wehler 1974: 24). Die erste transkontinentale Eisenbahnlinie wurde 1869 fertiggestellt. Zwischen 1860 und 1900
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vergrößerte sich das gesamte Eisenbahnnetz von 5.000 auf 322.000 Kilometer, mehr als alle Linien in Europa zusammen. Um dieses Wachstum zu fördern, verteilte die Regierung Darlehen und kostenloses Land an westliche Eisenbahnlinien. Die Subventionierung der Eisenbahnen erfolgte zudem durch Landzuteilung, z. B. auf die Weise, dass eine Eisenbahngesellschaft jede zweite „section“ auf beiden Seiten der Linienführung erhielt. So erwarben sich diese Corporations insgesamt riesigen Landbesitz, der gerade durch die Eröffnung der Verkehrslinien an Wert zunahm (vgl. Landauer 1981: 89 ff.). Um den Wettbewerb gering zu halten, stimmten Eisenbahnunternehmen Fusionen zu und standardisierten Verschiffungsraten. In dieser Epoche zeitigte allerdings eine derartige ökonomische Machtkonzentration auch gesellschaftliche Kritikformen: Populäre Zeitschriften veröffentlichten Artikel von so genannten ‚Mudrakers‘, von recherchierenden Journalisten, die unlautere Geschäftspraktiken, Korruption in Regierungskreisen und Armut in den Städten offenlegten. Es waren gerade die mächtigen Eisenbahngesellschaften, die auf Seiten der Bevölkerung Unsicherheiten, Ängste und sogar Hass entstehen ließen. Parallel zu Streiks und Kämpfen ‚verarbeiten‘ Karikaturen die gesellschaftlichen Stimmungen jener Zeit – hier zunächst ein Cartoon (unbekannten Autors), welches den Eisenbahn-Unternehmer Cornelius Vanderbilt als Monarchen zeigt (zuerst veröffentlicht im New York Daily Graphic 1877):
Abb. 4: Die neue „Aristokratie des Reichtums“ („Aristocracy of Wealth“; 1877) Quelle: http://www.ashp.cuny.edu/1877/f1877-2.html
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Ganz bedrohlich wirkt die Vorstellung von übermächtigen Railroad-Imperien im Cartoon von Frank Bellew, erstmals 1874 in derselben Zeitung publiziert:
Abb. 5: „The American Frankenstein“ von Frank Bellew, 1874 Quelle: http://www.ashp.cuny.edu/1877/f1877-3.html Nicht nur in der Eisenbahnindustrie, sondern auch in vielen anderen Industriezweigen wurden ‚Trusts‘ – riesige Zusammenschlüsse von Unternehmen – als Versuch gegründet, Monopolstellungen zu erlangen. Diese Riesenunternehmen konnten Produkte effizient herstellen und preiswert verkaufen, aber sie legten auch Preise fest und zerstörten kleinere Mitbewerber und festigten in vielen ökonomischen Bereichen massive Monopolstrukturen. Dies erfolgte besonders in der Erdölindustrie. Diese wuchs, dominiert von John D. Rockefellers gigantischem, 1882 gegründetem, Standard Oil Trust. Nach Rockefellers Auffassung ließ sich die starke Kapitalkonzentration (bis 1904 waren 318 Unternehmen im
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Besitz von 40 Prozent des gesamten industriellen Anlagevermögens der USA) relativ einfach erklären: „Seines Erachtens war die korporative Umformung des amerikanischen Kapitalismus und das Wachstum der Großunternehmen nicht anderes als „der Sieg des Stärkeren über den Schwächeren ... ein Gesetz der Natur und ein Gesetz Gottes“ (Avery/Steinisch 1990: 93). Andrew Carnegie, der als armer schottischer Einwanderer nach Amerika gekommen war, baute ein riesiges Imperium von Stahlwerken und Eisenminen auf. Sein 1901 gegründeter Konzern, die United States Steel Corporation, der „Trust der Trusts“ (ebd.) wurde zum größten Wirtschaftsunternehmen der Welt und produzierte 60 Prozent des nationalen Stahls. Vor allem bei den Stahltrusts muss von massiver Einflussnahme auf die Unternehmensführungen durch die Banken ausgegangen werden, so dass einige Autoren von einer „Verflechtung zwischen Großindustrie und Finanzkapital“ (ebd.: 94) sprechen: Staatliche Regulierungen schrieben den großen Banken eine bestimmte Liquiditätsmenge vor (Federal Reserve Act von 1913), welche dann den Corporations kreditmäßig zur Verfügung gestellt werden konnte. So können wir von einer sich gegenseitig stützenden organisationalen Dreiecksbeziehung zwischen Stahlindustrie, Bankenwesen und Staat sprechen. In der amerikanischen Bevölkerung galt bspw. die Standard Oil Company bald als Bedrohung, so dass auf Grundlage des Sherman-Anti-Trust-Acts der Supreme Court 1911 eine Entflechtung dieses Riesenkonzerns anordnete. Dass allerdings überhaupt eine planerisch-strategische Ökonomie-Konzeption seitens des Bundesstaates hätte umgesetzt werden können, hatte massive Hinderungsgründe: „In der Periode früher Industrialisierung gab es nämlich in den Vereinigten Staaten nur eine äußerst schwache, auf den Einzelstaat begrenzte und auch durch häufigen Personalaustausch instabile staatliche Bürokratie, von der ein planender Eingriff in die Wirtschaft überhaupt nicht ausgehen konnte.“ (Lösche 1990: 419) Eine Railroad Company sollte es auch sein, die in den ‚berühmtesten‘ Fall der – so die Corporations-Kritiker – Inanspruchnahme der oben erwähnten Verfassungszusätze (vgl. 2.) durch die Corporations involviert war und der – indirekt – eine ‚Nutzung‘ der Amendments gelingen sollte: Im Rechtsstreit Santa Clara County v. Southern Pacific Railroad (1886) ließ sich die Southern Pacific Railroad Co. in einem (eigentlichen Steuer-) Präzedenzfall von prominenten Rechtsanwälten vertreten. Klagegegenstand war die Auffassung der Railroad Company, dass der County Santa Clara das Unternehmen ungerecht besteuert habe, da der Bezirk Santa Clara die Steuern gemäß eines Unternehmenswertes taxiert habe, der nicht nur die Züge und die Bahnschienen als Eigentum einschloss, sondern auch die Gebiete um die Zäune sowie die Zäune selbst, welche ja dem County Santa Clara zuzurechnen seien. So ergebe sich ein überhöhter Grundwert, von dem aus taxiert werde. Niemand sonst (keine andere Person),
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so die Anwälte, werde auf diese Weise taxiert. Zudem, so die Railroad-Anwälte, habe ja der Bundesstaat und nicht der County die Höhe der Steuern abgeschätzt – aus diesem Grunde hatte die Bahngesellschaft gar keine Steuern gezahlt (vgl. Hartmann 2002: 99). Im Grunde, so merkt Horwitz (1979) an, sei es darum gegangen, korporatives Eigentum anders zu besteuern als individuelles Eigentum. Der gesamte Aufwand der Anwälte der Company konzentrierte sich (obendrein) nun darauf, die zuviel gezahlten Steuern früherer Jahre zurückgezahlt zu bekommen. Hartmann (2002) führt aus, dass der Fall eigentlich ein einfacher Steuerfall gewesen sei. Die Anwälte der Bahn hätten im Prinzip bis dato gar nichts zu tun gehabt mit Menschenrechts-, Verfassungs- oder Körperschaftsfragen. Trotzdem verbrachten sie viel Zeit ihrer Verteidigung damit zu argumentieren, dass bisher Corporations höchstens als ‚künstliche Personen‘, z. B. in Entscheidungen 1871 und 1882, gefasst worden seien, nun sei allerdings der Geltungsbereich des 14. Zusatzartikels betroffen, welcher ja die Rechte ‚natürliche Personen‘ kennzeichne und die Railroad Company sei eben wie eine solche zu fassen. Nun sei hier zunächst aufgeführt, was der erste von fünf Abschnitten des 14. Zusatzartikels enthält: „Alle Personen, die in den Vereinigten Staaten geboren oder eingebürgert sind und ihrer Gesetzeshoheit unterstehen, sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Einzelstaates, in dem sie ihren Wohnsitz haben. Keiner der Einzelstaaten darf Gesetze erlassen oder durchführen, die die Vorrechte oder Freiheiten von Bürgern der Vereinigten Staaten beschränken, und kein Staat darf irgend jemandem ohne ordentliches Gerichtsverfahren [„due process of the law“-clause] nach Recht und Gesetz Leben, Freiheit oder Eigentum nehmen oder irgend jemandem innerhalb seines Hoheitsbereiches den gleichen Schutz [„equal protection“-clause] durch das Gesetz versagen.“
Dieser erste Abschnitt enthält im Kern drei wichtige Bestandteile, die man zunächst voneinander trennen muss, um sie dann wieder zusammenzusetzen: 1. Der Aspekt „Grundrechte“: Hier sind die universell schützbaren Grundrechte Leben, Freiheit und Eigentum genannt. 2. Der Aspekt, der das ordentliche Gerichtsverfahren betont und 3. der Aspekt, der auf eine gleichförmige Schutzfunktion abstellt. Der 1. Aspekt der Grundrechte ist in seiner Praktikabilität (im Sinne ‚Einhaltung‘ bzw. Garantie) nur fassbar, wenn man die Verschränkung bzw. ‚Bedeutung‘ der beiden anderen Aspekte darlegen kann. Beginnen wir mit dem 2. Aspekt der ordentlichen Gerichtsbarkeit: Die Herkunft dieser Klausel ist bekannt: Sie geht auf die „law of the land“-Klausel des 39. Kapitels der Runnymede Charter von 1215 zurück (vgl. Ehmke 1961: 269). Die Vorstellung des ordentlichen Gerichtsverfahrens („due process of the law“) ist älter als die Magna Charter; sie findet sich anstelle der „law of the land“-Klausel zum ersten Mal in einem Gesetz Edwards III. aus dem Jahr 1354. Von England dann wurde
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diese Klausel in die neuen Kolonien gebracht und später in einzelstaatliche Verfassungen übernommen. Die ursprüngliche Bundesverfassung enthielt keine due process-Klausel, sie wurde aber 1791 durch den die Bundesgewalt beschränkenden 5. Zusatzartikel hinzugefügt. Der 14. Zusatzartikel band dann auch die Einzelstaaten an den due process of law (vgl. Ehmke ebd.: 270). Der obige Passus ist nun so interpretierbar, dass der 14. Zusatzartikel also nur den Staat und nicht den einzelnen Bürger bindet (vgl. Currie 1988: 56). Die Verfassung in den USA genießt Vorrang vor Einzel- und bundesstaatlichen ‚Aktivitäten‘, egal welcher Instanz der Gewaltenteilung diese zuzuordnen sind. Zum 3. Aspekt der gleichen Schutzfunktion: Horwitz (ebd.) spezifiziert diesen, indem er die Argumentation der Anwälte insofern weiter darlegt, als dass jene vorgebracht hätten, der 14. Zusatzartikel schütze nicht irgendwelche abstrakten korporativen Eigentumsrechte, sondern im Prinzip doch die – individuellen – Rechte der Teilhaber. Die Anwälte hätten gleichsam argumentiert, die korporativen Rechte könnten nicht getrennt werden von Rechten der Individuen, die ja gerade die Corporation bildeten. Hartmann stellt klar, dass es im Kern nie um die Eins-zu-Eins-Gleichheit zwischen natürlichen Personen und Corporations gegangen sei, sondern um die Gleichheit innerhalb einer jeweiligen ‚Klasse‘: Im 14. Zusatzartikel bildeten (schwarze) ‚Männer‘ die gleiche Klasse – analog stellten Corporations an sich eine einheitliche Klasse dar, sie genössen folglich gleiche Schutzrechte, eben ‚equal protection‘. Jetzt wird es wieder möglich, die drei zentralen Aspekte dieses Abschnitts des Zusatzartikels ‚zusammenzudenken‘: „Niemand darf … ohne ordentlichen Gerichtsprozess … irgendeiner Person … den gleichen Schutz versagen.“ Die gesamte Literatur, die zu diesem Thema zu finden ist, bietet vielfachen Interpretationsraum dieses Zusatzartikels; sie hat allerdings zumindest einen ‚gemeinsamen Nenner‘: Niemand bezweifelt heute mehr, dass es bei diesem 14. Zusatzartikel um die verfassungsgemäße Gleichstellung von Farbigen und Weißen in den USA – daher: „equal protection clause“ – gegangen sei, die mit dem Inkrafttreten dieses Amendments nun also auch Bürger sein konnten (vgl. Ehmke 1961: 297). Mit keiner Silbe tauchen Corporations – auch nicht nur umschrieben oder mit anderen Begriffen wie bspw. Unternehmung o. ä. versehen – in diesem Zusatzartikel auf. Und dennoch war dem Anschein nach allen Beteiligten des Santa Clara-Urteiles offenbar klar, dass Corporations sehr wohl die Urteilsbegründung der Richter – sagen wir vorsichtig – beeinflusst haben. Wie allerdings die Urteilsverkündung und deren Rezeption verliefen, ist unabhängig von sachlichen Urteilsbegründungen als spektakulär und für unser Thema als besonders bedeutsam anzusehen: Der Chef-Richter Waite erklärte die gewichtigste Feststellung in Bezug auf Corporations unmittelbar vor Verkündung des Urteils mündlich und außerhalb des Protokolls den Railroad-Anwälten: Das
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Gericht wolle keine Argumente hören, ob Corporations unter die Klauseln des 14. Zusatzartikels fielen oder nicht, es sei der Auffassung die Corporations fielen darunter. Der Gerichtsreporter J. C. Bancroft Davis, der diese mündliche Äußerung aufzeichnete, vermerkte, dass das Gericht keinerlei weitere gesetzliche Begründung gegeben habe. Davis wird später seine Aufzeichnungen an den Chef-Richter Waite senden und ihn um Stellungnahme bitten, ob er die Sache korrekt wiedergegeben habe, da er sie in der 118. Ausgabe der U.S. Reports veröffentlichen wolle. Waite bestätigt lediglich, dass die entsprechenden Äußerungen vor der Gerichtsverhandlung gefallen seien. Waite überlässt allerdings die Interpretation bezüglich etwaiger Verfassungsfragen ganz Davis (vgl. Allison 2005: 5). Entsprechende Davis-Aufzeichnungen hatte Hartmann einer Recherche der Gerichtsakten des Supreme Courts von Oktober 1885 bis Oktober 1886 entnommen. Er stellt noch einmal klar: „It was in the headnotes“, womit er wohl den Anmerkungs- bzw. Zusatznotiz-Charakter der Davis-Aufzeichnungen verstärken will3. In der Urteilsbegründung ist vom 14. Zusatzartikel keine Rede mehr. Der US-amerikanische Satiriker Matt Wuerker nimmt die „equal protection“-Problematik in einem Cartoon auf: Mit dem Santa Clara-Urteil spannten die Richter einen schützenden Schirm über die Corporations, die ‚Normalbürger‘ dagegen blieben im Regen stehen:
Abb.6: „Equal protection“ Quelle: In: http://www.poclad.org/illustration3.cfm
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Erst 1906 wird der Supreme Court die Davis-Aufzeichnungen, genauer: die „headnotes“, für rechtlich unbedeutend erklären und sogar explizit darauf hinweisen, dass die Santa ClaraEntscheidung keine einmütige war (vgl. Allison 2005: 6).
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In der Urteilsbegründung selbst lehnte das Gericht den Einspruch des Countys Santa Clara, dass die Railroad zahlen müsse, ab und bestätigte, dass der Staat ohne rechtliche Grundlage das Gebiet inklusive der Zäune besteuert habe (vgl. Hartmann ebd.). Dieses wiederum hatte wohl die Railroad-Anwälte darin bestärkt, massiv mit den beiden Aspekten des 14. Zusatzartikels zu argumentieren, die sich auf die Grundrechte (1. Aspekt, vgl. o.) und den Gleichheitsschutz (3. Aspekte, vgl. o.) bezogen. Den 2. Aspekt, den des ordentlichen Gerichtsverfahrens, brauchten sie gar nicht mehr anführen – dieser war ihnen ja gewährt worden. Obwohl es zwar nicht explizit um ‚Corporations as persons‘ im Urteil gegangen war, wurden durch den Supreme Court die beiden wichtigen Passagen des 14. Zusatzartikels, dass nämlich nun auch keine Corporation ihres Eigentums (sprich: eine Zahlung von Steuerung aus ihrem Vermögen) ‚beraubt‘ werden dürfe, ohne Wahrung des Gleichheitsgrundsatzes des ‚equal protection‘clause (sprich: nicht sachgerechter weil nicht analog zu natürlichen Personen erfolgter Taxierung). De facto kann damit das Santa Clara-Urteil als durchaus wichtiger Referenzpunkt gelten, in seiner Gesamtheit – die Gewährung eines ordentlichen Gerichtsprozesses sowie der Schutz des Eigentums von Corporations analog zu natürlichen Personen als verfassungsmäßig „anerkennungswürdig“ zu fixieren –, den 14. Zusatzartikel für Corporations ‚nutzbar‘ gemacht zu haben. Dieses Urteil trat historisch eine Welle weiterer Justizfälle los, die alle von der Inanspruchnahme obiger Amendments durch die Corporations gekennzeichnet sind. Inhaltlich reichen diese Fälle von Auseinandersetzungen zwischen Bundesstaaten der USA und einzelnen Corporations bzw. ihrer ‚Agenten‘ bis zu Fällen von Privatpersonen, die Corporations verklagt haben. Die Heterogenität der Klagegegenstände reicht von Eigentumsfragen über Einforderungen von Bürgerrechten bis zu strikten staatlichen Kontrollregelungen für die Corporations. Es ist m. E. sehr hilfreich, dieses historische Setting zunächst zu kenn, wenn man verstehen will, warum eine heute v. a. in den USA immer größer werdende Corporationskritische Bewegung viele dieser damaligen Gerichtsfälle zum Ausgangspunkt einer Kritik nimmt, derzufolge die den Corporations durch diese Urteile gewährten „Rechte“ eben denselben wieder abzuerkennen und sie den einzig „wahren“ Gesellschaftssubjekten – den individuellen Bürgern – zurückzugeben seien. Die Corporations-Kritiker nennen die „In-Person-Stellung“ von Organisation Corporate Personhood. Das Hauptargument lautet, die Corporations könnten über die Figur der Corporate Personhood die Rechte der Bill of Rights – genauer: mit Hilfe der Amendments – für sich einklagen. Corporations seien zu mächtig, könnten ihre Interessen mit Hilfe ihres Geldes durchsetzen und die Demokratie sei somit in Gefahr. Und: Die Kritik scheint sich fast aus-
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schließlich gegen ökonomische Organisationen und dort vor allem gegen Großkonzerne zu richten. So lautet auch ein heute in US-amerikanischer Corporations-Kritik häufig zu findender Slogan: „Defying Corporations, Defining Democracy“ (POCLAD 2008). 6. Fazit und Ausblick: „Kritik der politischen Ökonomie der Organisation“ Die eingangs erwähnte polit-ökonomische Perspektive, die ich jetzt einnehmen möchte, um die organisationssoziologischen Erkenntnisfortschritte aufzuzeigen, die sich aus dem von mir oben Dargelegte durchaus herausarbeiten lassen, beginnt bei Karl Marx: Seine historisch-materialistische Theorie einer „Kritik der politischen Ökonomie“ interessiert sich „... für die historisch spezifische – und damit auch historisch wechselnde – Art und Weise, wie Menschen durch gesellschaftliche Formen ihre Ko-Operation regulieren und konfigurieren, welche Konzepte sie zur Gestaltung und Legitimation ihrer Beziehungen zu einander sowie ihrer Arbeit an der äußeren und ihrer ‚inneren Natur‘ verwenden.“ (Türk 1995: 38; Herv. i. Orig.) Eine derartige Sichtweise lenkt die Aufmerksamkeit auf die soziale Strukturiertheit gesellschaftlicher Verhältnisse – Marx führt hierzu aus: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (MEW 1972: 115) Menschen produzieren und reproduzieren also die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie leben, letztlich stets durch ihr konkretes Handeln mit. Und diese einmal geschaffen Verhältnisse wirken dann wiederum konditionierend, strukturierend und restringierend auf die Bedingungen des menschlichen Handelns zurück. Wenn man also dieses wechselseitige Strukturierungsprinzip auf das hier behandelte Phänomen ‚Organisation‘ bezieht, gelangt man im Grunde zu einer notwendigen Erweiterung des Marx-Diktums der „Kritik der politischen Ökonomie“: Man kommt zu einer Perspektive der „Kritik der politischen Ökonomie der Organisation“ (Türk 1995). Diese analysiert – an einen historisch-materialistischen Theorierahmen anschließend – die historisch spezifische Art und Weise, in welcher durch den ‚Modus Organisation‘ der gesellschaftliche Lebensprozess von Menschen „interpunktiert, konfiguriert, strukturiert sowie auf vielfältige Weise zerschnitten und zusammenfügt, ausgebeutet und beherrscht, entmutigt und ermutigt wird“ (Türk 1995: 38). Dass also die Herrschaftsstruktur „Organisation“ (auf der Ebene der Gesellschaft – s. o.) die materielle Basis der Menschen (auf der Ebene der Interaktionen konkreter Menschen – s. o.) strukturiert, lässt Türk für diese Ebene der materiellen Basis den Begriff der Ko-Operation verwenden: Ko-Operation meint die reale Ebene faktischer
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gesellschaftlicher Praxis (vgl. Türk 1995: 96 f.). Die Schreibweise mit Bindestrich soll andeuten, dass es sich bei Ko-Operation nicht notwendig um herrschaftsfreie, konsensuell-kommunikativ abgestimmte soziale Praxisformen handelt (vgl. ebd.: 287). Die Unterscheidung von Organisation und Ko-Operation findet sich auch im Term der ‚Politischen Ökonomie‘ wieder: Der Begriff des Politischen verweist auf die Analyse der formierenden Seite menschlicher Sozialität, d. h. auf die je besonderen Formen der Regulation, Strukturierung und (Fremd-) Nutzung menschlicher Ko-Operation (vgl. Bruch 2000: 53)4; der Begriff der Ökonomie soll demgegenüber den „real-materiellen Lebens- und Aneignungsprozess benennen, durch Menschen sich ko-operativ in ihrem sozial und natural-ökologischen Kontext reproduzieren (vgl. Türk 1995: 38 f.). Vor diesem theoretischen Hintergrund, der – im Kern – auf die Konstruiertheit von Organisation und zugleich auf den Herrschaftszusammenhang „Organisation“ generell verweist, kann nicht deutlich genug betont werden, dass eben jenes Konstrukt Organisation ein umkämpftes war und ist: es sind Kämpfe um das Wesen einer Organisation, Kämpfe und Konflikte um Deutungshoheiten, Auseinandersetzungen um materielle Vorteile, Kämpfe innerhalb bzw. gegen das politische System (welches wiederum selbst in vielen Punkten organisationsförmig angeordnet ist) und nicht zuletzt Herrschaftsansprüche, die organisationale Form zu etablieren. Folgende Punkte möchte ich nun mit Bezug auf die Gebilde-Vorstellung von Organisation unter der Perspektive der im Term der ‚Kritik der politischen Ökonomie der Organisation‘ angelegten Konstruktions- und Kampf-Aspekte verdichtet zusammenfassen: 1) Im britischen Commonwealth des 17. Jahrhunderts formieren sich bereits erste Prototypen moderner Organisation: die Überseehandelsgesellschaften – allen voran die East India Company – stellen sich als Gebildekonstruktionen dar, die einerseits in ihrer ambivalenten Funktion zwischen Staatsbeauftragtem und eigenständigem organisationalen Akteur changieren, anderseits setzen sie sich eindeutig von mittelalterlichen – nach innen gerichteten – Assoziationstypen ab: Akkumulation, Außenorientierung, Risikoauslagerung und Haftungsbeschränkung in Form früher Aktiengesellschaften sowie die Kapitalfunktion des Geldes konstituieren Bedingungen der modernen korporativen Form Organisation.
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Dass diese Definition an ihrer Aktualität nichts eingebüßt hat, schlägt sich auch in Selbstbeschreibungen von (Teil-)Bereichen nieder, die gemeinhin als „Bindestrich-Soziologien“ bezeichnet werden: bspw. der politischen Soziologie (besser sollte man sagen: Soziologie der Politik): „Das Politische steht für ein gesellschaftliches Bewegungsprinzip, in dem sich die Handlungs- und Gestaltungsdimension von Politik in der Spannung zum Menschen ausdrückt.“ (Böhnisch 2006: 7; Herv. i. Orig.)
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2) Damit liefern auch diese frühen modernen Formen von Korporation einen Beitrag zum historischen parallelen ‚take off‘ von Organisation und Kapitalismus und dienen gleichzeitig der wechselseitigen Ermöglichung von Herrschaftssteigerungen von Staat (König) und kapitalistischem Unternehmer. 3) Die Gebildedimension von frühen Corporations wie der East India Company als Überseehandelsgesellschaft oder der Russia Company als Joint Stock Company lässt sich auch am impliziten Modus der Trennung von kognitiven Gebildesphären ablesen: die Corporations bilden verselbständigte Einheiten organisierten Kapitals, die sich – juristisch verankert – völlig von einzelnen Personen oder Kollektiven losgelöst haben und damit eine neue Emergenzebene herstellen: die Ebene der Organisation. 4) Körperschaftlich organisierte Kapitalgesellschaften institutionalisieren historisch signifikante erste Managementprinzipien durch die Trennung von Eigentums- und Verfügungsmacht in Bezug auf das Kapital: Organisationale Agenten verfügen über Kapitalmacht, nicht die Eigentümer. 5) Corporations zunächst auf Zeit zu gründen und sie an einen öffentlichen Zweck zu binden, fügt sich gut in das aufkommende gesellschaftliche Setting des 16./17. Jahrhunderts ein: das um sich greifende ideologischkulturelle Paradigma der Rationalität und Technologie, angetrieben durch Gestaltbarkeits- und Machbarkeitsschübe mit zumeist teleologischem Grundmotiv. 6) Trotz einer Fülle an Beschränkungen und Auflagen, die den Corporations seitens königlicher Herrscher und ausführenden Gouverneure gemacht wurden, gelang es den Vertretern der imperialen Monarchie insgesamt nicht, die Eigendynamik einer Entfaltung des korporativen Prinzips zu stoppen, welches durch die Charakteristika eigene Zweckverfolgung, finanzielle Unabhängigkeit, eigene Macht- und Ressourcenvermehrung sowie massiver politischer Einflussnahme gekennzeichnet war. 7) In US-amerikanischen Verfassungsartikeln und in den Zusatzartikeln lassen sich Rückbezüge zu naturrechtlich-fundierten Universalien ausmachen. Der Impetus von Menschen- und Bürgerrechten transportiert von Anbeginn an eine Freiheitssemantik, die einerseits durch gesellschaftliche Paradoxa gekennzeichnet war (bspw. Schwarzen-Thematik) und andererseits zumindest koevoluiert mit der Emergenz des (freien) Corporation-Prinzips, so dass von einem wechselseitigen Verstärkerschub gesprochen werden kann. 8) Dartmouth- und Slaughterhouse Cases stellen bereits weit vor dem berühmten Santa Clara Case wenn auch keine verfassungsmäßigen Rechtsakte der Anerkennung von Corporations dar, so sind sie doch v. a. Ausdruck des erbitterten Kampfes zwischen Bundesstaat, Einzelstaat und Organisation um eben genau diese Anerkennung. Vielleicht lassen sich die beiden Rechtsfäl-
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le als ‚Vorarbeiten‘ charakterisieren: Dartmouth bereitet für die Corporations das Terrain, privatrechtliche Verträge vor Gesetzen zu schützen und sich damit gleichsam wie ‚freier Bürger‘ fühlen zu können; Slaughterhouse verhilft der ‚intervenierenden Variable‘ ‚Organisation‘ auf die Bühne gesellschaftlicher Akteure: Obwohl seitens der Metzger im Prinzip mit eher Kollektiv- denn Korporations-Argumenten entlang des 13. und 14. Zusatzartikels gearbeitet wird, werfen doch Urteil nebst Argumentationen des Gerichts ein deutliches Zeichen auf das Gestaltungs- und Aktionsverständnis, welches bzgl. Corporations vorherrschen sollte: Monopolstellung und Privilegierung und damit Schließungs- und Exklusionsmechanismen werden durch eine starke Interpretationsmacht des sich konstituierenden USamerikanisches Fallrechts bzw. Richterrechts geschaffen, die bereits ohne die ‚Inanspruchnahme‘ der Verfassung gewichtige materielle Vorteile organisationalen Denkens und Handelns ermöglichen. Insgesamt markieren beide Fälle entlang der Pole ‚Polizeimacht‘ und „zulässiger Grundrechtseinschränkung“ den Kampf um die Rolle des Staates als zentrale Herrschaftsinstanz der modernen Gesellschaft (welcher oft selbst korporativen Ordnungsprinzipien unterliegt). Abschließend sei angeführt, dass also der Santa Clara-Fall im Grunde einen Automatismus der Rechtspraxis etabliert hat, US-amerikanische Corporations mit den Amendments in Beziehung zu setzen, und zwar deshalb, weil seitens der Kritiker unterstellt wird, dass – obwohl es im Urteil gar nicht explizit darum ging – Corporations ‚wie (natürliche) Personen‘ verfassungsrechtlich anzuerkennen seien, die Corporations-Vertreter damit einen ‚Freischein‘ erhalten hätten, sich weitere Amendments ‚für ihre Zwecke anerkennen zu lassen‘. Parallel damit verbunden ist die Kritik, dass die Allianzen zwischen juristischpolitischem System und den Corporations – also dem ökonomischem Systems – keine ‚Zufälle‘ seien, sondern es Absprachen und Verschwörungen5 gegeben haben muss. Aus einem systemtheoretischen Blickwinkel scheint zumindest die Figur der ‚strukturellen Kopplung‘ einer zunehmend funktional differenzierten Gesellschaft durch: Das System Recht vollzieht nach, was in anderen Systemen, die ihre jeweils eigenen Unterscheidungspraxen und Spezialsemantiken ausgebildet haben, wie bspw. ‚Politik‘, ‚Wirtschaft‘ oder ‚Wissenschaft‘ bereits längst kognitiv verarbeitet – sprich: praktiziert – zu sein scheint: Corporations wie natürliche Personen – und das heißt konkret: mit denselben Rechten wie natürliche Personen – zu begreifen. 5
Das kann an dieser Stelle nur angedeutet werden, für Einzelheiten verweise ich auf meine Dissertation.
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Wissen, Wissensarbeit und Wissensmanagement in Organisationen1 Wieland Jäger
Meine Ausgangsthese ist: Wir befinden uns in einer ‚Wissensgesellschaft im Werden‘. Diese These kommt allerdings annähernd einem Entwurf ins Unbekannte gleich, obwohl der Soziologie seit geraumer Zeit die Auseinandersetzung mit Wissen nicht fremd ist. Bereits Karl Mannheim hat seit 1921 eine eigene Disziplin ‚Wissenssoziologie‘ entwickelt (vgl. Mannheim 1964). Seine Theorie der Erkenntnis geht von der Welt der empirisch vorfindlichen Menschen aus; statt einer transzendentalen Erkenntnis nach Immanuel Kant fordert er eine soziale Theorie der Erkenntnis, für die das konkrete gesellschaftliche Leben selbst die Bedingung jeder möglichen Erkenntnis ist. Für Mannheim stellt Wissen ein soziologisch erforschbares Phänomen dar. Seine Wissenssoziologie soll das Denken von außen betrachten, unter dem Aspekt seiner Funktionalität; Ideen sollen als ‚Teile einer Weltanschauungstotalität‘ erforscht werden. Später diskutieren Berger/Luckmann die Frage, wie es möglich ist, dass „ein bestimmter Vorrat von ‚Wissen‘ gesellschaftlich etablierte ‚Wirklichkeit‘ werden“ kann (vgl. Berger/Luckmann 1969: 3). Der Vorgang der Produktion gesellschaftlicher Wirklichkeit wird einzelnen Subjekten zugeordnet; die Konstitution von Gesellschaft erscheint als ein Prozess der Erzeugung von Wissen, woran die Subjekte sich im Umgang miteinander orientieren. Gesellschaftliche Wirklichkeit wird fortwährend erzeugt und auf Dauer gestellt durch Prozesse der Institutionalisierung und Legitimierung, zudem permanent zurückgeholt ins Bewusstsein durch Vorgänge der Internalisierung.
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Der Beitrag nimmt u.a. verschiedene, teilweise verstreut publizierte Arbeiten des Verfassers erneut auf und schreibt sie fort, mit besonderem Blick auf gesellschaftstheoretische Aspekte.
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1. Wissen und Wissensarbeit Die zunehmende quantitative Relevanz und eine grundlegend veränderte Qualität des Wissens gelten unstrittig als Differenzierungsmerkmale einer der industriellen Arbeitsgesellschaft nachfolgenden Gesellschaftsformation. Strittig dagegen ist, ob dieser neue Typ eine ‚Wissensgesellschaft‘ ist, die mehr darstellt als eine allgemein akzeptierte Verständigungsformel, im Kern Wissen als Gegenpol zu Arbeit begreift und damit das Ende der Arbeitsgesellschaft schlechthin besiegelt. Unterhalb dieser theoretisch anspruchsvollen Ebene zeichnet sich wiederum ein Konsens ab, wenn es mit Blick auf neue, der Ablösung der Industriegesellschaft auch angemessene Formen der Arbeit erneut um die Bedeutung von Wissen geht. Einigkeit herrscht nämlich in der Auffassung vor, dass Wissensarbeit im großen Stil wächst; sie bezieht sich Willke (1998: 21) zufolge auf Tätigkeiten, deren relevantes Wissen nicht einmal im Leben durch eine Lehre, Fachausbildung, Erfahrung u. a. erworben wird. Stattdessen unterliegt dieses Wissen einer fortwährenden Revision, ist stets als verbesserungsfähig anzusehen, wird als Ressource begriffen (sofern es denn in praktisches Handeln umgesetzt wird) und es ist untrennbar mit Nichtwissen verzahnt. In Übereinstimmung mit Drucker (1969) sieht Willke in der Wissensarbeit und in dem elaborierten Zusammenspiel von Wissensarbeitern (vorwiegend Akademiker) und lernfähigen, innovativen und Wissensmanagement betreibenden Organisationen sogar das entscheidende Kriterium für den Wandel von der Industrie- zur ‚Wissensgesellschaft‘ (aber eben diese gesellschaftstheoretische Vermessung spaltet die scientific community, vgl. z.B. Konrad/Schumm 1999). Die schier unhintergehbare Kombination von Wissen und Nichtwissen macht Wissen risikoreich; das Risiko besteht nicht darin, nicht genug zu wissen, vielmehr nicht das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu wissen. Degele (2000) spricht daher vom ‚riskanten Wissen‘. Das kann weitgehend überzeugen, entlässt jedoch nicht aus der Verpflichtung begrifflicher Kärrnerarbeit. Was also heißt ‚Wissensarbeit‘? Wilkesmann (2005: 55 ff.) unterscheidet einen betriebswirtschaftlichen, arbeitssoziologischen und systemtheoretischen Diskurs. a. Die Auseinandersetzung mit Wissensarbeit in der ökonomischen Perspektive setzt mit Machlups Differenzierung von wissensproduzierenden und nichtwissensproduzierenden Berufen ein. Machlup (1980) trennt Beruf nach der Produktion, Bearbeitung und Verarbeitung von Information. In der Gegenwart wird Wissen im Sinne eines Produktionsfaktors interpretiert, in Ergänzung zu Arbeit, Kapital und Boden. (Wissen hatte bereits Marx (1953: 549) als eigenständiges Merkmal des Produktionsprozesses bezeich-
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net, wenn er in den „Grundrissen“ schreibt: „Das allgemein gesellschaftli che Wissen, knowledge“ sei „zur unmittelbaren Produktivkraft geworden.“) Die aktuelle Debatte rankt sich um Systematisierungen des Managements von Wissen; inhaltlich geht es vor allem um die Generierung neuen Wissens und um die Speicherung und Nutzung von Daten. b. Aus arbeitssoziologischer Sicht ist Wissensarbeit eng an Interaktion und Kommunikation gebunden. Vorreiter der Debatte ist Malsch (1987), der den interaktiven Aspekt von Wissensarbeit hervorhebt. Malsch unterscheidet drei Phasen: die Wissensgewinnung (dabei wird „Erfahrungswissen unter selektiven Gesichtspunkten empirisch erhoben, beobachtet oder angefragt und schriftlich fixiert oder elektronisch gespeichert“ (Malsch 1987: 80)), die Wissensobjektivation („das abgespeicherte Erfahrungswissen wird systematisch entfaltet und in kontextfreies Planungswissen transformiert“, (ebd.)) und schließlich die Wissensrückkehr, in welcher das objektivierte Wissen in Anwendungswissen rückübersetzt wird. Die Relevanz der Interaktion bestätigen neuere Arbeiten z.B. von Konrad/Schumm (1999), Böhle/Bolte (2002), Deutschmann (2002), Rammert (2002) und Porschen (2008). c. Systemtheoretisch ist gerade auch für den Wissensmanagement-Diskurs die Differenzierung in Daten, Information und Wissen relevant. Daten stellen das ‚Rohmaterial‘, die Variablen, Zahlen und Fakten dar. Daten müssen stets in Zahlen, Sprache, Text oder Bildern codiert sein (vgl. Willke 1998: 7); Daten werden erst dann zur Information, wenn sie in einen Kontext von Relevanzen eingebunden sind. Aus Informationen wird Wissen, wenn sie in einen zweiten Kontext von Relevanzen integriert sind: „Dieser zweite Kontext besteht nicht, wie der erste, aus Relevanzkriterien, sondern aus bedeutsamen Erfahrungsmustern, die das System in einem speziell dafür erforderlichen Gedächtnis speichert und verfügbar hält.“ (Willke 1998: 11) Willkes Überlegungen assoziieren mit der Figur des Wissensarbeiters (knowledge worker) im Informationszeitalter. Der Wissensarbeiter erstellt und managt Informationen, die er anderen zur Verfügung stellt. Allerdings ist dessen starke Konzentration auf ‚Informationen‘ insofern nicht ganz unproblematisch, als in Zeiten der Netzwerke eine andere Figur, diejenige des Netzarbeiters (web worker), weitergehende Funktionen ausübt, nämlich die Herstellung und das Management von Beziehungen zwischen Wissen, hardware und den Akteuren. Das jedoch bedeutet nicht das Ende der Wissensarbeit, vielmehr lassen sich in der Praxis Mischformen dieser beiden Arbeitstypen nachweisen. Zwei Einsichten treten jetzt hervor: Wissen ist nicht unabhängig von Personen und deren Interaktionsprozessen zu begreifen, d.h. das Managen von Wissen
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geschieht nicht unabhängig von Individuen. Darüber hinaus kann Wissen nicht getauscht werden, nur Daten sind tauschfähig. Diese müssen erst interpretiert, d.h. zu Informationen und Wissen generiert werden. 2. Wissensarbeit unter aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Das Zusammenspiel von Wissen und Arbeit beruht gegenwärtig vor allem auf mehreren parallel und komplementär verlaufenden Prozessen, die sich in der ‚modernen Wissensarbeit‘ verschränken. Wie auch immer Wissen sich wandelt, klar ist zunächst: Das, was ‚gewusst‘ und ‚gelernt‘ wird für wie auch immer geartete organisationale Zwecke, verbleibt zumeist nie bei den arbeitenden Subjekten – sie treten es ab bzw. es bleibt ‚Eigentum‘ der Organisation, in ‚deren Auftrag‘ (neu) gewusst wird. Dies unterstellt bleibt dennoch ein Wandel moderner – so könnte man es formulieren – ‚Wissenssubjektivität‘ in Bezug auf Arbeit zu konstatieren: Einen hierzu zentralen Aspekt analysiert Degele (2000) mit ihrer These vom ‚informierten Wissen‘: Die Autorin skizziert den Wandel des Wissens zu einem neuen Typ – informiertes Wissen, dessen Schwerpunkt sich von inhaltlichen zu nichtinhaltlichen Komponenten verlagert. Bedeutsamer als die tiefgreifende Analyse von Zusammenhängen wird jetzt die Fähigkeit, Situationen schnell zu überschauen und rasche Entscheidungen zu treffen. Zum effizienten Umgang mit und Management von Wissen zählen weitere Komponenten und Fähigkeiten wie Strukturieren, Abstrahieren und Formalisieren. Dieses ‚informierte Wissen‘ ist zugleich, wie angedeutet, ,riskantes Wissen‘. Ein Drittes tritt hinzu, nämlich die Veränderung des Umgangs mit Wissen. Dessen Prototyp ist nicht mehr der Experte, der Vielwisser, der Besitzer von Wissen, sondern der ‚Wissens-Virtuose‘– ein Surfer, ein Jongleur, ein Spieler, denn der Virtuose kumuliert keine Wissensbestände, bringt sie statt dessen gezielt in Aktion: ‚Doing knowledge‘ anstelle von ‚having knowledge‘. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass offenbar vom Wissen die Rede ist, nicht über das Wissen. Diese Konstellation ruft die Erinnerung an Roland Barthes’ Antrittsvorlesung im Collège de France 1980 wach, der das Wissen der Wissenschaft von dem Wissen der Literatur unterschieden hat: Dem savoir quelque chose stellte er das savoir de quelque chose gegenüber. Und in Verlängerung dieser Differenzierung wird zudem deutlich, dass in der Gegenwart den Computer-, Wirtschafts- und Kognitionswissenschaften sowie jüngst der Biologie (insbesondere der Soziobiologie nach Wilson 1998, demzufolge ein menschliches Gehirn nicht als leere Tafel auf die Welt kommt, sondern als belichtetes Negativ, das darauf wartet, ins Entwicklungsbad gelegt zu werden, vgl. ebenso den Aufstieg der Neurowissenschaft) eine weithin ungeteilte Aufmerksamkeit zu-
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kommt, wohingegen beispielsweise die Literaturwissenschaft und die Philosophie in der Wissensdiskussion eine eher randständige Rolle übernehmen. An dieser Stelle wird damit m. E. deutlich, dass eine Entinhaltlichung von Wissen den Anteil von Organisation und Management ansteigen lässt, im Interesse eines effizienten Umgangs mit Wissen. Der informierte, risikobewusste und risikobereite ‚Wissens-Virtuose‘ generiert Wissen nun nicht mehr allein am Schreibtisch, vielmehr auf der Basis eines kommunikativen, transdisziplinären Prozesses. Die Problemlösungsfähigkeit einer Organisation oder eines Unternehmens wird, so von Lüde (2001: 27), nicht mehr ausschließlich durch die Summe der individuellen Fähigkeiten der Beschäftigten bestimmt, sondern durch kooperative Cluster sowie die Fähigkeit, sich das Wissen, das außerhalb vorhanden ist, nutzbar zu machen. Dieses Vermögen, sich externes Wissen anzueignen und in Verbindung mit eigenem Wissen neue Wissensbestände hervorzubringen (absorptive capacity), erscheint zunehmend als der entscheidende Vorteil im globalisierten Wettbewerb der Unternehmen. Und jenes von Degele ausgemachte o. e. ‚informierte Wissen‘ geht mit seinem Technik- und Subjektbezug nun als Strukturationsbedingung in Arbeit ein und trifft dabei mit einem allgemeinen Rückzug eindeutiger ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturvorgaben zusammen, welche den Prozess der Subjektivierung von Arbeit insgesamt wechselseitig stützen und verstärken. a. Mit Blick auf betrieblich induzierte Subjektivierungsvorgänge ziehen globaler Wettbewerb und globale Vernetzung den Wandel von Organisationen mit der Tendenz zur Auflösung formaler Strukturen für das Arbeitshandeln nach sich, zumindest werden diese Strukturen in zeitlicher, räumlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht ausgedünnt (‚Entgrenzung von Arbeit‘). Werden bislang vorherrschende Prinzipien der betrieblichen Hierarchie und des strikten ‚Durchorganisierens‘ von Arbeit tendenziell aufgegeben, durchbrochen oder durch Dezentralisierung oder Verselbständigung ergänzt, sind die Arbeitssubjekte im Gegenzug aufgefordert, durch Selbstorganisation und Selbststeuerung in eigener Regie Strukturen der Arbeitsausführung zu entwickeln. Moldaschl (2003: 98) zufolge zeigt sich dies in allen Dimensionen von Arbeit, bei der Selbstorganisation der sachlichen Durchführung ebenso wie bei der Flexibilisierung von Arbeitszeiten, in der Lockerung räumlicher Bindungen der Arbeit, in der Ausdünnung von Vorgaben für die soziale Kooperation oder in Erwartungen an eine verstärkte Eigenmotivation. Auch die Neugestaltung des Verhältnisses von Betrieb und Arbeitskraft im Sinne einer marktähnlichen Auftragsbeziehung stützt die Subjektivierungsthese, die Voß/Pongratz (1998) zugespitzt in der Figur des ‚Arbeitskraftunternehmers‘ bündeln.
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b. Unter dem Aspekt der wissensinduzierten Subjektivierung ist betrieblicher Arbeitsorganisation und modernem Wissen die Aufforderung zu personalen Strukturierungsleistungen und zur Eigenverantwortlichkeit in der Verschränkung mit neuen Technologien gemein, zumal die hohe Komplexität des Wissens den Nutzen der technologischen Potentiale der Wissensvermittlung zur adäquaten Organisation des Wissens geradezu erzwingt. Und adäquate Wissensorganisation heißt in ökonomischen Organisationen stets Marktförmigkeit: Der Unternehmer der eigenen Arbeitskraft ist ein Wissensarbeiter, der sein Wissenskapital in unternehmerischer Form mit Hilfe der neuen Technologien auf den Märkten offeriert, d. h. auch und vor allem Angebote suchen und Nachfrage schaffen muss. Der Charakter der Wissensarbeit lässt sich mit Frey-Hoffmann (2005: 22) im Sinne eines Wandels „weg von einseitig starren Strukturationsbedingungen und hin zu personalen Strukturationsleistungen, weg von vorwiegend formaler, inhaltlicher Qualifizierung hin zu subjektivierter Kompetenzentwicklung“ begreifen. c. Neben ökonomisch-betrieblichen prägen auch soziokulturelle Faktoren die Wissensarbeit, die in Verbindung beispielsweise mit der Individualisierungsthese (Beck 1986) oder der ‚normativen Subjektivierung von Arbeit‘ (vgl. Baethge 1991) und beider Anschlussdebatten als Selbstgestaltung der Lebens- und Erwerbsbedingungen sowie im Sinne der Geltendmachung eigener Ansprüche an die Arbeit gesehen werden können. Fassen wir die Aspekte zusammen, lässt sich bilanzieren: Die Strukturbedingungen der Wissensarbeit erscheinen als ein Zusammenwirken von Wissen und moderner Technologie (besonders ‚informiertes Wissen‘), Globalisierung (lokaler und globaler Wettbewerb, betriebliche Entgrenzung, Subjektivierung von Arbeit) und kulturellem Wandel (Individualisierung, anspruchsvolle Selbstbestimmungs- und Selbstverwirklichungswerte). Wissensarbeit vereint also den steigenden Subjektivitäts- und Kompetenzbedarf moderner Organisationen mit der Rolle von Individuen als ‚Strukturierungsinstanz‘ (vgl. Kleemann/Matuchek/Voß). 3. Organisation von Wissensarbeit Das klassische Organisationsverständnis geht davon aus, dass Organisationen arbeitsteilig, mit eindeutiger Verantwortungszuteilung und hierarchischen Strukturen zielorientiert Leistungen erbringen. Zudem verfügen Organisationen zur Gewährleistung von Koordination und Arbeitsleistung über einen elaborierten Katalog von Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen. Im Fall der auf Kooperation,
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Selbststeuerung und Autonomie gestützten Wissensarbeit erweist sich die Anwendung des Katalogs als kontraproduktiv, da Wissensarbeit kaum von Dritten beobachtet und beurteilt werden kann (vgl. Wilkesmann 2005: 55 f.). Zudem bedarf Wissensarbeit zunehmend des Theorie- und Faktenwissens, darüber hinaus Erfahrungs- und Beziehungswissen, das in Gruppen, Teams, in Netzwerken, in Organisationen für selbständiges und eigenverantwortliches Handeln unabdingbar ist. Dazu wiederum ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen Management und Beschäftigten von Nöten, in Verbindung mit einer Steuerung durch Leitbilder, Überzeugungen und Motivation (vgl. Lehner 2002: 67). Die neuen Organisationsstrukturen zeichnen sich durch ein Nebeneinander von Zentralisierung und Dezentralisierung, von Dehierarchisierung nach innen und die Ausbildung eines Unternehmensnetzwerks mit vertrauensbasierten Marktbeziehungen nach außen aus (vgl. Baukrowitz u.a. 2000: 7). Im Unterschied zur tayloristisch-fordistisch verfassten Organisation lässt sich die wissensbasierte Organisation mit Heidenreich/Töpsch (1998: 16) anhand dieser drei Dimensionen charakterisieren: a. Breiterer Zugriff auf das individuelle Leistungsvermögen (Kreativität, Kooperationsfähigkeit u. a.) vermittels kulturell-symbolischer Aspekte: Die in der Organisationskultur verankerten Werte, Leitbilder etc. dienen der Selbststeuerung des Individuums; b. Veränderung des Kontrollpotentials, indem informatisierte Fremd- und Selbstbeschreibungen, die in netzwerkartigen Informations- und Kommunikationssystemen verankert sind, eine höhere Transparenz in Organisationen bewirken; c. eine stärkere Nutzung zwischenbetrieblicher Kooperations- und Innovationsnetzwerke führt zur Dezentralisierung und Dehierarchisierung der Arbeitsorganisation. Von zentraler Bedeutung ist der Wandel der Kontrollformen. Direkte, an Prinzipien der Hierarchie und konkreter Stellenbeschreibung orientierte Kontrolle ist einer indirekten Kontrolle, so genannter ‚Kontextsteuerung‘ gewichen. Allerdings gilt, dass Wissensarbeit nicht einfach durch direkte Kontextsteuerung wie Geld, Recht, Macht von Seiten des Managements zu kontrollieren ist. In dieser Lage schlägt Willke (1998: 134 ff.) das Verfahren der ‚dezentralen Kontextsteuerung‘ über Verhandlungssysteme vor. Diese operieren über bewusste vertikale und horizontale Koordination, die Organisationsmitglieder selbst beeinflussen. Allerdings sind die Risiken einer Verhandlung zwischen Management und Beschäftigten nicht unerheblich, sofern differierende Interessen aufeinander treffen und in konfliktreichen Auseinandersetzungen Kompromisslösungen gefunden werden müssen.
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Auf der Suche nach einem Verfahren, das keine bewusste Verhandlung auf der Handlungsebene erfordert, entwickelt Wilkesmann (2005: 63f.) einen anderen Lösungsvorschlag. Unter Rückgriff auf Heckhausens Begriff der ‚intrinsischen Motivation‘ (dabei stimmen Handlung und Handlungsziel thematisch überein) offeriert er eine Lösung, die im Sinne einer ‚indirekten Kontextsteuerung‘ lediglich einer Entscheidung auf der Strukturebene bedarf, um anschließend Kooperation auf der Handlungsebene zu bewirken. Die kooperative Handlung selbst könne dann ein ungeplanter Effekt sein. Im Detail geht es Wilkesmann um die Situation, die die individuelle Wahrnehmung der Gleichsetzung von Handlung und Ziel strukturiert. Dass ein Zusammenhang zwischen Organisationsstruktur und intrinsischer Motivation besteht, ist seit der organisationspsychologischen Studie von Hackman/Oldham (1980) unstrittig. Die Autoren entwickeln ein auf fünf Kerndimensionen, die zur Arbeitsmotivation führen, fußendes Modell, das zwar für die Produktionsarbeit gilt, jedoch mit einigen Ergänzungen durch Wilkesmann auf die Wissensarbeit übertragen werden kann. Die Kerndimensionen sind: 1. Abwechslungsreichtum der Tätigkeit (skill variety), 2. Ganzheitlichkeit der Aufgabe (task identity), 3. Bedeutung der Aufgabe (task significance), 4. Selbständigkeit (autonomy) und 5. Rückmeldeeffekt (job feedback). Die Übertragung auf die Wissensarbeit ergibt folgendes Bild: Zu 1.und 2.: Abwechslungsreich und ganzheitlich ist Wissensarbeit, weil sie Tätigkeiten der Datenweitergabe und der Generierung neuen Wissens umfasst. Zu 3.: Die Bedeutung der Aufgabe ist gegeben, sofern sich der Akteur mit den grundsätzlichen Zielen der Organisation identifiziert. Zu 4.: Selbstständigkeit herrscht vor, wenn der Akteur keinen zu engen Zeitrestriktionen unterliegt. Zu 5.: Rückmeldung zeigt sich in der Sichtbarwerdung des Produkts der Wissensarbeit etwa in der Form eines neuen Prototyps oder einer gelungenen Reorganisation. Erste empirische Studien bestätigen Wilkesmann zufolge, dass der durch die Kerndimensionen gekennzeichnete Handlungsspielraum nicht nur zur Attribution von intrinsischer Motivation führt, sondern auch zu kooperativem Handeln bei der Wissensarbeit, d.h. die hoch motivierten Akteure geben Daten weiter und beteiligen sich an der Generierung neuen Wissens ohne strategische Eingriffe des Managements, wie sie selbst noch in Willkes Konzept der ‚dezentralen Kontextsteuerung‘ unerlässlich sind. Aus all diesem folgt: Wissensarbeit ist auf der Handlungsebene aller Voraussicht nach nur über – intrinsisch motivierte – Selbststeuerung möglich (einen aufschlussreichen empirischen Beleg liefert z. B. die Untersuchung von Heisig/Ludwig 2004). Das wiederum geschieht jedoch nicht voraussetzungslos: Auf der Strukturebene wird nämlich festgelegt, ob denn überhaupt ein breiter Hand-
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lungs- und Entscheidungsspielraum vorhanden ist und sich Kooperationen selbst stabilisieren können. Es werden also Situationsdeutungen vorstrukturiert. Das ist nach Wilkesmann in Organisationen möglich, weil diese über einen Stab verfügen, der Regeln und Situationsdeutungen innerhalb der Organisation durchsetzen kann. Auf der Strukturebene fallen also Entscheidungen darüber, wie die Handlungsebene selbst strukturiert ist, welche Potentiale sie eröffnet. Dabei existiert ein Wechselverhältnis zwischen beiden Ebenen, das anders ist als in klassischen Hierarchien (für das Beispiel von ‚Partnerschaften‘ und ‚zirkulärem Organisieren‘ siehe Wilkesmann (2005: 66 f.)) Halten wir also fest: Wissensarbeit kann nicht von außen durch einfache Vorgabe von Seiten des Managements gemanagt werden; allerdings bedarf die erforderliche Selbststeuerung auch konkreter struktureller Entscheidungen, die erst den Möglichkeitsraum der Selbststeuerung definieren. 4. Wissensmanagement Neue Koordinationsfunktionen im Verhältnis von Handlungsebene und Strukturebene erfordern einen Wandel des Wissensmanagements vom klassisch tayloristisch-fordistischen Rationalisierungsparadigma zur Ausrichtung auf die Entstehung, Reproduktion und Wirkung von Wissensstrukturen im Unternehmen, denn in der Phase des Umbruchs von der Industrie- zur Wissensgesellschaft arbeiten zahlreiche Unternehmen nach wie vor nicht wissensbasiert. Die Gründe dafür sind vielfältig. Schmitz/Zucker 1996 sehen sie in dem betrieblichen Finanz- und Rechnungswesen („... was nicht zählbar ist, zählt nicht“); herkömmliche Merkmale wie Kapital- und Geldflüsse und eben nicht das Wissenskapital bestimmen zukunftsorientierte Entscheidungen, der ‚return on knowledge‘ liege immer noch im Schatten des ‚return on investment‘. Probst u.a. 1999 weisen Managern und Mitarbeitern der Unternehmensorganisation gleichermaßen die Verantwortung zu. Während erstere in der Schaffung kollektiver und frei verfügbarer Wissensbestände mögliche Veränderungen, sogar den Verlust betrieblich zugeschriebener Einfluss- und Machtbereiche wittern (‚Wissen ist Macht‘), stehen letztere dem Erwerb neuen Wissens wegen der damit verbundenen Aufgabe des Bewährten und Sicheren sowie auch aus Sorge um den Arbeitsplatz eher skeptisch und abweisend gegenüber. Die Aufgabe, Wissen zu managen, wird dadurch erschwert. Zu allererst muss m. E. das Management ein integratives Verständnis der Wissensbasis einer Organisation entwickeln. Die Elemente des Wissens (Zeichen, Daten, Information) zu kennen und ihre Zusammenhänge zu erfassen, ist unabdingbar, soll die häufig ungenügende Koordination einzelner Bereiche überwunden werden (Beispiel: die Forschungs-
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und Entwicklungs-Abteilung ist zuständig für Produktinnovationen, ohne auf Daten/Informationen der EDV zugreifen zu müssen, oder: die Personalentwicklung hat die Aufgabe, individuelle Fähigkeiten zu vermitteln, ohne deren Bedeutung für den kollektiven Organisations-zusammenhang im Detail zu kennen). Angesichts dieses Mangels sind Wissensziele zu definieren, d.h. das Management formuliert eine dem Unternehmenszweck adäquate ‚Vision‘ (keine Utopie), die sich vornehmlich auf markt- und wettbewerbsbezogene Elemente bezieht (angestrebte Marktposition, erforderliche Kundenleistungen in Form von Produkten und Diensten). Die ‚Vision‘ selbst ist in eine Vielzahl von definierten Teilzielen eingebettet, die den Weg beschreiben, auf dem die ‚Vision‘ erreicht werden soll. Probst unterscheidet drei Zielausrichtungen: Normative Ziele (‚die unternehmenspolitischen und kulturellen Leitplanken des Unternehmens‘), strategische Ziele (Übersetzung der ‚Vision‘ in konkrete Realisierungsschritte) und operative Ziel (Umsetzung der normativen und strategischen Vorgaben sowie Steuerung und Kontrolle dieser Aktivitäten im Rahmen spezifischer Projekte und Implementierungsprozesse). Auf der Grundlage dieser Zielebenen erscheint nun Transparenz des auf den Organisationszweck bezogenen Wissens möglich; eine Wissensanalyse offenbart, welche Wissensbestände bereits vorhanden, welche Fähigkeiten noch zu entwickeln sind. Angesichts der Wissensexplosion und des enorm hohen Zerfallswert von Wissen sehen sich insbesondere kleine und mittlere Unternehmen außerstande, die Generierung von Wissen allein aus eigener Kraft zu gewährleisten. Die Aufgabe des Managements, Wissen durch externe Träger, durch fremde Firmen, durch Kunden oder durch neue Produkte auf dem Wissensmarkt zu erwerben, erweist sich zumeist als schwierig, weil risikoreich: So fällt beispielsweise mit dem Einkauf externer Experten eine Vorentscheidung darüber, welche organisatorischen Fähigkeiten aufgebaut werden sollen. Zudem ist in diesem Prozess die Kongruenz mit den Organisationszielen zu beachten, Inkongruenzen ziehen Fehlinvestitionen nach sich. Allein, Expertenwissen einzukaufen, Kunden zu befragen und Fremdprodukte zu analysieren reichen nicht aus, Wissensbestände in Organisationen dauerhaft zu implementieren. Aus-, Fort- und Weiterbildung der Beschäftigten ist das Gebot der Stunde. Innovative Unternehmen geben Anreize für schöpferische Ideen, schaffen Freiräume für Kreativität, tolerieren Fehler im Sinne eines ‚Lehrgelds‘ (vgl. Probst 1999) auf dem Weg zur Lösung. Doch es sollte nicht nur der Blick auf die Manager gerichtet werden. Insgesamt befinden sich nämlich beide, Mitarbeiter und Manager (wobei die Manager ja auch Mitarbeiter sind) ‚im selben Boot‘: Beiden doch die anspruchsvolle Aufgabe zu, individuelles Wissen in kollektives Wissen umzuwandeln. Die Verbindung der individuellen mit der kollektiven Ebene stellt bspw. nach Willke die Grundbedingung einer ‚lernenden Organisation‘ dar. „Wenn organisatio-
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nale Systeme lernen können, dann können sie auch Wissen generieren, speichern und in systemisch organisierten Prozessen anwenden.“ Kollektives Lernen transferiert individuelles Wissen über die Handlungskonzeption aus den Köpfen der Mitarbeiter in die Organisationsstrukturen, d.h. organisationales Wissen bildet sich in der Organisationsform des Systems ab und zeigt sich in deren Strukturen. Diesen Prozess in Gang zu setzen und auf Dauer zu gewährleisten, ist Aufgabe des Managements, zentral orientiert an vier Leitfragen: (1) Was ist der Lerninhalt? (2) Wie gelingt Lernen? (3) Wozu lernen? (4) Welche Qualität muss das Lernen haben? Erhellend in diesem Zusammenhang der an Willke anknüpfende, empirisch fundierte Beitrag von Schmid 2001 zur Gestaltung und Umsetzung des Wissensmanagements-Ansatzes im produktorientierten Ideenmanagement bei Daimler (zum Zeitpunkt der Studie noch mit Chrysler verbandelt). Eine wesentliche Voraussetzung der Wissenskollektivierung liegt in einer funktionsfähigen Kommunikationsstruktur und -intensität (Weißbach 2000); individuelles Wissen muss in der Organisation verteilt werden, um es dauerhaft nutzbar machen zu können. Das Kollektivwissen ist die Grundlage neuer individueller Erfahrungen und Lernprozesse, mit denen organisationale Bedingungen modifiziert und angepasst werden. Auf diese Weise bleibt eine ‚Wissensspirale‘ in Bewegung. Der nun obigem Wandel zu einer derart gefassten strukturellen Perspektive auf die Organisation von Wissen – sei sie organisational oder gesamtgesellschaftlich konnotiert – entsprechende theoretische Zugang kann unter Anwendung der Strukturationstheorie von Giddens (Dualität und Rekursivität von Wissensstrukturen (vgl. Jäger/Meyer 2003: 86 ff.)) gelingen. Stark verkürzt gilt: Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich Wissen als Struktur und Handeln gegenseitig konstituieren und bedingen. Als differente Wissenskomponenten gehen Faktenwissen und medienkompetentes Metawissen, Theoriewissen und Erfahrungswissen, Qualifikation und personale Kompetenz ein wechselseitiges Konstitutions- und Bedingungsverhältnis ein, in dem die eine Form des Wissens die andere Form erst ermöglicht und vice versa. Dieser Sachverhalt deckt sich mit Kernaussagen der Giddensschen Theorie: In der Dualität von Struktur gibt es keine Struktur ohne Handlungen und keine Handlung ohne Struktur. Strukturen (Regeln und Ressourcen, die interaktive Beziehungen über Zeit und Raum stabilisieren) sind sowohl Medium bzw. Bedingung des Handelns wie auch Produkt dieses Handelns, d. h.: „Wissen als Struktur beeinflusst das Handeln der Akteure, die in ihren Handlungen auf das Wissen Bezug nehmen, gleichzeitig reproduzieren die Handlungen der Akteure des Wissens, indem es durch Handlungen bestätigt [oder auch verworfen] wird.“ (Zimmer zitiert in Frey-Hoffmann 2005: 35) In Anwendung der Strukturationstheorie ist Wissen allerdings nicht allein an Personen gebunden; Wissen ist
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wegen des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Struktur und Handeln ebenso in Organisationen angelegt. Wenn Wissen in den Organisationsstrukturen steckt, wenden es zwar weiterhin die Akteure an und sie reproduzieren es, jedoch handelt es sich dabei nicht notwendigerweise um Wissen, das nur dem Akteur zur Verfügung steht. Der Ansatz von Giddens stellt insofern ein Theoriegerüst zur Erklärung dar, wie Wissensstrukturen entstehen und sich wandeln, zudem dient er der Überwindung einseitiger objektivistischer oder subjektivistischer Wissensmanagement-Ansätze (eine ausführliche Anwendung von Giddens’ Theorie auf das Wissensmanagement findet sich bei Jäger/ Weinzierl (2007: 170-202)). Bevor wir uns darauf kurz einlassen eine Vorbemerkung. In der aktuellen betriebs- und sozialwissenschaftlichen Literatur werden insbesondere sechs unterschiedliche Konzepte des Wissensmanagements diskutiert. 1. Der hochgradig praxisorientierte Ansatz von Probst/Raub/Romhardt (1999); die Autoren verstehen Wissensmanagement im Sinne einer pragmatischen Weiterentwicklung der Theorien und Konzepte des ‚organisationalen Lernens‘. 2. Die auf ein allgemeines Modell der Wissensschaffung im Unternehmen angelegte japanische Konzeption von Nonaka/Takeuchi (1997), die in der Umwandlung von implizitem Wissen in explizites Wissen durch Externalisierung die Hauptaufgabe des Wissensmanagements sieht. 3. Die auf heuristischen Prinzipien (Selbststeuerung, Eigenverantwortung, Rückkopplung von Kommunikation, Networking) für ein Führungssystem von Wissensarbeit beruhende Konzeption von Pfiffner/Stadelmann (1999), die das erfolgreiche Management von Wissen an den kompetenten Umgang des Wissensarbeiters mit sich selbst, mit seinen Kollegen, Mitarbeitern und externen Anspruchsgruppen knüpft. 4. Der systemische Ansatz von Willke (1998, 2004), der Wissensmanagement als Kontextmerkmal von gesellschaftlichen, organisationalen, technologischen und individuellen Faktoren betrachtet und als Quellen des systemischen Denkens auf die Gestalttheorie, die Familientherapie und die soziologische Systemtheorie vor allem Luhmannscher Prägung zurückgreift. 5. Das integrative Modell von Pawlowsky (1998), das die Lernfähigkeit der Organisation durch ein Management der Ressource ‚Wissen‘ in Organisationen steigern will. 6. Das Modell des ‚Ganzheitlichen Wissensmanagements‘ von Bullinger/ Wörner/Prieto (1998), das das Zusammenspiel von technischer Integration und einer ‚humanorientierten‘ Perspektive als konstitutives Merkmal des Managens ausdrücklich hervorhebt.
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Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ragen die beiden Konzepte von Willke und Bullinger u. a. heraus. Beiden gemeinsam ist die Auffassung, das Wissensmanagement als Teil des allgemeinen Managements im Unternehmen verstanden und praktiziert werden muss. Sie nehmen damit eine nötige Einordnung des Wissensmanagements in gesamt-organisationale Zusammenhänge vor. a. Das systemische Management kennzeichnet eine umfassende, ganzheitliche Wahrnehmung der Organisation als komplexes, dynamisches System. Eine Organisation besteht „aus thematisch spezifischen und auf strategische Ziele ausgerichteten Kommunikationen, die in der Form von Entscheidungen aufeinander aufbauen und aneinander anschließen.“ (Willke 2004: 106) Auf der Grundlage von Prinzipien des systemischen Managements erarbeitet Willke einen Leitfaden für die Einführung des systemischen Wissensmanagements in der Auseinandersetzung mit den Themenfeldern Wissen und Lernen, Wissen und Nichtwissen, Wissen der Person und Wissen der Organisation. b. Die herausragende Stellung des ‚Ganzheitlichen Wissensmanagements‘ (GW) zeigt sich in der breiten Rezeption innerhalb der Managementdebatte, die besonders an die Verbindung von Technik und ‚Humanbezug‘ anknüpft und aus der differenzierten Analyse von drei Gestaltungsdimensionen, die neben der vernetzten Informations- und Kommunikationssysteme (erstens) und der organisatorischen Verankerung des Wissensmanagements in den Unternehmen (zweitens) durch Aushandlungsprozesse zwischen Management und Beschäftigten („diskursive Koordinierung“ nach Braczyk) vor allem die Bedeutung der ‚Humanressourcen‘ (drittens) herausstellt, so dass bei veränderter Personalpolitik Aufwendungen für die Fortbildung der Beschäftigten nicht länger als Kostenfaktor gelten, vielmehr als Investition in ‚Humankapital‘. Dieser GW-Ansatz ließe sich m.E. gewinnbringend mit verschiedenen zentralen soziologischen Konzeptionen verbinden, beispielsweise mit dem „Erfahrungswissen“-Ansatz von Fritz Böhle im Sinne eines individuellen und kollektiven organisationsrelevanten Wissens, wie es Porschen (2008) für das Wissensmanagement im Allgemeinen unternimmt. An dieser Stelle jedoch steht der Bezug zu Giddens’ Strukturationstheorie im Vordergrund (Jäger/Weinzierl, a.a.O.), Der unmittelbar praktische Gewinn liegt darin, Alternativen zur Überwindung unübersehbarer konzeptioneller Defizite des GW (als da sind: Überbetonung von Rationalität, Unempfindlichkeit für Ignoranzen und Irrationalitäten in der Organisation, Interesse des Managements an der Optimierung des Bestehenden, Ausgrenzung der Organisation selbst als Reflexionsobjekt) anbieten zu können. Im Detail bedeutet das:
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1. Die strukturationstheoretische Perspektive schärft den Blick für Gegensätze in der Rationalität, für differente Aspekte der Rationalisierung, für unintendierte Handlungsfolgen auf der Basis unerkannter Handlungsbedingungen. Wer also GW ‚einsetzt‘, um bestehende Unternehmensstrukturen und -prozesse so zu verändern, dass die Organisation durch neues oder neu bzw. besser genutztes Wissen neue Handlungsalternativen ausbilden kann und sich auf diese Weise zu einer wissensbasierten Unternehmung entwickelt, kann (und darf) zum einen nicht davon ausgehen, dass Handlungen nur zu beabsichtigten Ergebnissen führen, muss zum anderen berücksichtigen, dass die umgesetzten Prinzipien des GW nicht allein zu einer besseren Nutzung der Ressource ‚Wissen‘ stattdessen auch zu einer ‚Gegenrede‘ führen und dass sich darüber hinaus Erfolge der GW erst einstellen, sofern die Organisationsmitglieder, Wissensexperten und Kunden das Handeln anerkennen und akzeptieren. 2. Zudem gelingt mit Giddens eine Fortschreibung des GW insofern, als nicht mehr nur Bestehendes zu optimieren das Ziel ist, sondern der Wandel struktureller Grundlagen eingeschlossen ist. Diese Öffnung wirkt dem Eindruck entgegen, GW diene vorrangig dem Manage- und Kontrollierbarem und rufe nur Veränderungen hervor, die das Führungswissen zulasse. Eine diese Begrenzung überwindende Sicht berücksichtigt indirekte Steuerungsinstrumente, zudem die Bedeutung einer vom Management nicht als implementier- und steuerbar betrachteten Organisationskultur. Vor diesem Hintergrund bleibt die Aufgabe des Managements darauf beschränkt, im Sinne einer symbolischen, kulturbewussten Führung Rahmenbedingungen für eine Wissenskultur zu schaffen. 3. Auch für ein interpretatives Verständnis von Organsationskultur als Ideensystem, das nur in den Köpfen der Mitglieder existiert, ist mit Giddens darauf zu verweisen, dass alles Akteurshandeln in kontextuell gebundene Interaktion eingebettet ist, die durch spezifische Strukturen ermöglicht und restringiert wird und diese Strukturen rekursiv reproduziert. Erst das Verständnis von Dualität und Rekursivität der Struktur befähigt GW, aus Wissen eine Ressource zu machen, wenn die handelnden Akteure die Rahmenbedingungen und Strukturen (z. B. eine auf Vertrauen, Konsens und Kooperation gründende Organisationskultur) anerkennen und sich in ihrem Handeln entsprechend rekursiv auf diese beziehen und zugleich reproduzieren. In der Folge verfügt nicht nur das Management über Machtpotentiale im Sinne von allokativen und autoritativen Ressourcen, sondern auch den Beschäftigten fällt Macht zu, deren Anerkennung der Legitimität allerdings von entscheidender Bedeutung dafür ist, Managementhandeln auch als Ressource wahrzunehmen.
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5. Ganzheitliches Wissensmanagement und Gesellschaftstheorie Die Frage, ob Ganzheitliches Wissensmanagement aus strukturationstheoretischem Blickwinkel tatsächlich ein neues Managementkonzept darstellt, mit dessen Hilfe Unternehmen sich zu wissensbasierten Organisationen entwickeln können – anders gefragt: Kann eine Identifikation aller relevanten Wissenspotentiale und ihre systematische Ausschöpfung durch Optimierung der Wissensflüsse entlang der Kernprozesse entsprechende Organisationen herbeiführen –, ist aus oben Gesagtem noch nicht eindeutig beantwortbar. Es muss jetzt weiter soziologisch reflektiert und mit deutlichem Blick auf Gesellschaftstheorie nach der gesellschaftsstrukturierenden Wirkung von Wissen gefragt werden. Unter Verweis auf die eingangs postulierte ‚Wissensgesellschaft im Werden‘, die ja vor allem auch durch Parameter wie allgemeine Ungewissheit, Riskanz, steigende Komplexität und Dynamik der organisatorischen Umwelt und durch höhere Unkalkulierbarkeit/bei zunehmendem Risiko von Entscheidungen gekennzeichnet ist, wird diese Umbruchphase nicht selten unter Zuhilfenahme von Krisenszenarien zu charakterisieren versucht. Die Umbruchphase ab Mitte der 70er Jahre bezeichnet Wagner 1995 als ‚zweite Krise der Moderne‘, als Krise der ‚organisierten‘, nationalstaatlich verfassten Moderne in Europa. Diese Krise gilt Wagner „... als Bruch vieler der sozialen Konventionen der organisierten Moderne ... Die ‚Vereinbarung‘, die industriellen Beziehungen in nationalem Rahmen zu regeln, wurde gebrochen; der keynesianische Konsens, eine nationale, verbrauchergestützte Wirtschaft zu entwickeln, erodierte; die organisatorischen Regeln, die Position und Aufgabe jeden Akteurs bestimmt und gesichert hatten, wurden umgestaltet; und technische Innovationen, deren Anwendung bestehende Konventionen zu zerbrechen drohte, wurden nicht länger aufgehalten.“ (zitiert in Faust 2000: 75f.)
In dieser Umbruchphase gerät alles Wissen unter Druck, Unsicherheit greift um sich: Gewissheiten und damit praktische Handlungsmöglichkeiten verflüssigen sich, zentrale Wissensbestände verfaulen, mit ihnen ihr sinnstiftender und sinnerhaltender Wert. Die Konzeption des Ganzheitlichen Wissensmanagements nun ist eine Reaktion darauf; angesichts überkommener Wissensbestände deutet sie die Situation, formuliert neue kollektive Überzeugungen und setzt sie im Unternehmen jene Lösungen durch, die ihrer spezifischen Situationsdeutung naheliegen. Die organisierte Moderne dagegen, so Faust, hielt einen größeren Vorrat an kollektiven Gewissheiten mit einem ausgeprägten Repertoire gesellschaftlich anerkannten Wissens parat; Konzepte des Managements beruhen in dieser Phase auf eher gefestigten Überzeugungen zu Ursache-Wirkungsbeziehungen und
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stellen Zweck-Mittel-Technologien bereit. „In diesem, aber auch nur in diesem Sinn, ist die Kennzeichnung der heutigen Gesellschaft als ‚Wissensgesellschaft‘ angebracht, wenn damit signalisiert werden soll, daß die gegenwärtige Phase durch eine gesteigerte Infragestellung von gesellschaftlichem Wissen im Vergleich zur ‚organisierten Moderne‘ gekennzeichnet ist.“ (Faust 2000: 79). In einem weiteren Sinn, so der Autor, müsse die These vom Wandel der Industriegesellschaft zu einer Wissensgesellschaft zurückgewiesen werden, denn (mit Heidenreich 1999: 1) „[d]ie moderne Gesellschaft [wurde] immer auch als Wissensgesellschaft begriffen ..., da die Bereitschaft zur Infragestellung eingelebter Wahrnehmungs- und Handlungsmuster ein konstitutives Merkmal der Moderne ist.“ Hier zeichnet sich eine eher zurückhaltende Einstellung zur Wissensgesellschaft ab (so auch bei Zimmerli 2000). Relevant ist vor allem die Rolle des Ganzheitlichen Wissensmanagements im Zuge der „zweiten Krise der Moderne“. Dessen ausgeprägte Orientierung auf eine allumfassende, ‚totale‘ Modernisierung des Wissens (genauer: des Führungswissens, das bei einem starken Interesse an einer Optimierung des Bestehenden und bei zugleich nur geringer Bereitschaft zur perspektivischen Überwindung dieser Begrenzung einer innerorganisatorischen offenen Diskussion entzogen bleibt) rückt das Ganzheitliche Wissensmanagement in die Nähe der Vermutung, der Modernisierungsprozess stelle letztlich eine Modernisierungsoffensive (vgl. Wagner 1995) dar, die im Fahrwasser einer modischen Beschleunigung des Managementwissens liege. Nachdem seit den 80er Jahren „in einer Art Dauerfeuer ... die Normen und das Wissen der alten Institutionen zermürbt und sturmreif geschossen.“ (Faust 2000: 78) worden sind, und zwar durch Modenmacher wie kommerziell tätige Managementgurus, Beratungsgesellschaften und international operierende Buch- und Zeitschriftenverlage mit ihrem gnadenlosen Verriss veralteter Strategien, Strukturen und Verfahren, entsteht ein Vakuum, das mit neuen „transitory collective beliefs“ (so definiert Abrahamson 1996 Moden, zitiert bei Faust, ebd.) aufzufüllen ist. An dieser Suche nach neuen Orientierungen beteiligen sich viele Akteure mit teilweise höchst fragwürdigen Managementempfehlungen (sog. ‚business fads‘, vgl. die scharfe Kritik daran bei Deutschmann 2001 und Nigsch 1997), die Staehle (1989: 73) diversen Modewellen seit den 50er Jahren zuordnet, einschließlich der hoch gelobten ‚Organisationskultur‘ in den 80er und 90er Jahren. Neuorientierung sucht und findet auch das Ganzheitliche Wissensmanagement. Dennoch gilt: Und während noch dessen Inhalte diskutiert, gestaltet und, wie bei Schmid 2001, empirisch erprobt werden, denken Unternehmensberater und Managementgurus wiederum darüber nach, unter welchen Umständen und Bedingungen auch die neuen Wissensbestände Fäulnis ansetzen und als überkommen gelten.
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Hier liegt die eigentliche Bewährung der Konzeption, nämlich sich dem strategisch angelegten Dekonventionalisierungsprozess zu widersetzen und – trotz aller Verdienste – substantiell mehr auszuweisen als eine modische Variante der Verortung von Wissen. Dazu zählt nicht allein die Überwindung konzeptioneller Begrenzungen der beschriebenen Art, vielmehr ebenso, die Ressource ‚Wissen‘ beispielsweise in der Auseinandersetzung mit neuen Tendenzen in der Informatisierung der Arbeit hinsichtlich der Technologisierung der Arbeitsorganisation, der Virtualisierung des Arbeitsvermögens und der Mediatisierung der Arbeitskraft zu entwickeln und einzusetzen. Die hier nochmals deutlich werdende Verschränkung von Wissen und Arbeit lenkt den Blick sozusagen en passant auf die in aktuellen Gesellschaftstheorien (Luhmann, Offe, teilweise auch bei Habermas) gehegten Zweifel an dem Bemühen, über die Analyse der Arbeit zu einer Analyse der Gesellschaft zu gelangen. Stattdessen, wie z.B. Bommes/Tacke (2001) es im Rahmen der Luhmannschen Systemtheorie unternehmen, wird Arbeit als Inklusionsform des Funktionssystems der Wirtschaft und als Inklusionsmedium von Organisationen begriffen; der Weg von der Arbeit zur Theorie der Gesellschaft führt dann nur über die Analyse von Organisationen und ihrer Art der Inanspruchnahme von Arbeit. (vgl. Brose 2008) Über die Tragfähigkeit einer solchen differenzierungstheoretischen Sicht im Zuge der Entwicklung von Wissensarbeit ist nicht entschieden. Immerhin deutet sich beispielsweise bei Habermas in seinem neuen Arbeitsverständnis (‚reflexive Arbeit‘), die eben auch Wissensarbeit einschließt, und der an ihn angelehnten These von der ‚Entkoppelung der Entkoppelung von System und Lebenswelt‘, in der theoriestrategisch Arbeit eine durchaus tragende Rolle zukommt (vgl. Jäger/Baltes-Schmitt 2003), eine Möglichkeit an, über eine genuine Arbeitsanalyse zur Gesellschaftsanalyse zu kommen. 6. Fazit Die Wissensgesellschaft im Werden hat viele Facetten. Auf organisationale Ebene gesellen sich neben jahrzehntelang dominierenden Konzepten, die sich durch Rationalität, Planbarkeit, Gewissheit und Sicherheit, kurz: Managebarkeit, in Bezug auf Wissen auch – so könnte man formulieren – postmoderne Wissensformen, die Unplanbarkeit, Transformationsprobleme und Riskanz (die übrigens schon je in modernen Organisationen existierten) beinhalten. Wissen (und auch Nichtwissen) zu managen, stellt zwar ein praktisch nach wie vor ungelöstes Problem des erweiterten Aufgabenprofils betrieblichen Managements dar, theoretisch eröffnet das einer strukturationstheoretischen Analyse und Weiterentwicklung unterzogene Konzept des ‚Ganzheitlichen Wissens-
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managements‘ jedoch ein aussichtsreiches Potential, substantiell mehr aufzuweisen als eine modische Variante der Verortung des Wissens. Empirisch bleibt über vorliegende Studien hinaus zu prüfen, inwieweit Ganzheitliches Wissensmanagement zum gewinnbringenden Management des organisationalen Wandels führen könnte. In diesem Zusammenhang verliert die Analyse bzw. Herstellung der Sicherung von Konformität auf der Mikroebene der Interaktionssysteme an Gewicht, stattdessen steht „die permanente Systemgenese und Systemreproduktion bzw. die Systementwicklung durch kollektive Handlungskoordination von Subjekten im Vordergrund.“ (Türk 1988: 11) In ihrem Fahrwasser liegt die Potentialität von ‚Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen‘ (vgl. Deleuze 1993: 255); eine Freiheit, „die mehr wäre als die des Marktplatzes“, sie wird „nur dort entstehen, wo man aufhört, sie zu managen“ (Bröckling zitiert in Opitz 2004: 191). Und eine zentrale Kontrollform ist die Herstellung der Zählbarkeit der ‚Kapitalie‘ ‚Wissen‘: Auch postmodernes Wissen wird zunehmend in Gewinn, in Margen und in Kostenstellen umrechenbar werden. Auf einer Makroebene wird die gesellschaftsstrukturierende Dimension von Ganzheitlichem Wissensmanagement deutlich, indem o. b. ‚Elemente‘ einer postmodernen Wissensformation – ja was wohl? – gewusst und ‚ausgeführt‘ werden. Sollten wir also nun der Auffassung sein, dass derartige Denkund Handlungsstrukturen dauerhaft und bewährt existieren und stets wieder reproduziert werden – konstitutive Merkmale jeglicher Gesellschaftlichkeit –, dann können wir abschließend durchaus feststellen, wie seien bereits längst angekommen – in der Wissensgesellschaft. Literatur Abel, J./Sperling, H.J. (Hrgs.) (2001) Umbrüche und Kontinuitäten. Perspektiven nationaler und internationaler Arbeitsbeziehungen. München/Mering Abrahamson, E. (1996) Management Fashion. Academy of Management Review, 21, No.1, 254-285 Baethge, Martin (1991) Arbeit, Vergesellschaftung, Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit. In: Soziale Welt 42, Heft 1, 6-20 Bardmann, T.M. (1994) Wenn aus Arbeit Abfall wird. Aufbau und Abbau organisatorischer Realitäten. Frankfurt/M. Barthes, R. (1980) Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt/M. Beck, U. (1999) Modell Bürgerarbeit. In: Beck, U. (Hrsg.) (1999) 7-189 Beck, U. (1986) Risikogesellschaft. Frankfurt/M. Beck, U. (Hrsg.) (1999) Schöne neue Arbeitswelt. Frankfurt/M. Bell, D. (1973) Information Society. New York (Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt/M. 1985) Berger, P./Luckmann, Th. (1969) Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M. Böhle, F./Bolte, A. (2002) Die Entdeckung des Informellen. Frankfurt/M. Bommes, M./Tacke, V. (2001) Arbeit als Inklusionsmedium moderner Organisationen. Eine differenzierungstheoretische Perspektive. In: Tacke, Veronika (Hrsg.) (2001) 61-83
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Zum Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie aus organisationssoziologischer Sicht Michael Bruch
Kritik ist ein zentrales Element der sich als reflexiv beschreibenden modernen Gesellschaft. Dies gilt nicht nur für die gesellschaftliche Ordnung insgesamt, sondern gleichermaßen für die verschiedenen gesellschaftlichen Praxisformen. Die kritische Gesellschaftstheorie ist nicht nur Ausdruck dieses gesellschaftlichen Selbstverständnisses und ihrer Praxis, sondern sie nimmt zugleich ein bestimmtes Verhältnis zu dieser Praxis ein, dessen Besonderheit ihren kritischen Gehalt, insbesondere gegenüber anderen Formen der Theoriebildung markiert. Die Organisationsforschung im Allgemeinen und die sich als kritisch begreifende im Besonderen, zeichnen sich durch eine Form der Kritik aus, die in der Problematisierung entweder bestimmter organisationaler Praktiken (Managementpraktiken, Korruption, Praktiken der Diskriminierung, etc) oder der gesellschaftlichen Macht von Organisationen (vgl. Perrow 1989, Dobb 1963) besteht. Gemeinsam ist diesen Kritiken vor allem, dass sie die gesellschaftliche Existenz von Organisationen als gegeben voraussetzen, sodass die Einzelorganisationen gleichsam den unüberschreitbaren Horizont der Kritik bilden. Das Forschungsprojekt1, das hier dargestellt werden soll, unterscheidet sich von diesen Ansätzen ebenso, wie von den gängigen Thematisierungen von Organisation in den übrigen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen. Die Differenz besteht dabei wesentlich in einem veränderten Erkenntnisobjekt. Dieses besteht in der Untersuchung der Entwicklungszusammenhänge, die sich historisch zu einem gesellschaftlich hegemonialen Denk- und Handlungsmuster der Regulation der gesellschaftlichen Kooperationsverhältnisse in Gestalt von Organisation entwickelt haben und deren Macht- und Herrschaftseffekte.
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Von einem Forschungsprojekt soll hier aus zweierlei Gründen die Rede sein: Zum einen geht es um die Darstellung eines langjährigen Forschungsprozesses, der, wie insbesondere die Arbeiten Klaus Türks zeigen, durch kontinuierliche theoretische und empirische Verschiebungen und Erweiterungen gekennzeichnet ist. Zum anderen eröffnet dieser Forschungsansatz ein historisch-empirisches Forschungsfeld, das durch unsere bisherigen Arbeiten längstens nicht erschlossen ist.
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Mit dieser Perspektive verbindet sich ein theoretischer Zugang zum Phänomen von Organisation und zur Verhältnisbestimmung von Organisation und Gesellschaft, der folgendermaßen orientiert ist: „Die gesellschaftliche Totalität führt kein Eigenleben oberhalb des von ihr Zusammengefaßten, aus dem sie selbst besteht. Sie produziert und reproduziert sich durch ihre einzelnen Momente hindurch. ... So wenig aber jenes Ganze vom Leben, von der Kooperation und dem Antagonismus seiner Elemente abzusondern ist, so wenig kann irgendein Element auch bloß in seinem Funktionieren verstanden werden ohne Einsicht in das Ganze, das an der Bewegung des Einzelnen sein Wesen hat. System und Einzelheit sind reziprok und nur in ihrer Reziprozität zu erkennen.“ (Adorno 1989: 127)
Die Analyse ist vor diesem Hintergrund als eine strikt historisch verfahrende anzulegen, die die Genese, Existenz und Persistenz von Organisation nicht von der der modernen Gesellschaft insgesamt trennt. Die folgenden Ausführungen sind nicht primär auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Organisationsforschung sondern auf das Feld oder das Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie gerichtet. Dabei soll es zum einen um den Versuch gehen zu skizzieren, welche Probleme für eine Analyse der Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der modernen Gesellschaft aus einem Organisationsverständnis innerhalb der kritischen Theoriebildung resultieren, das hinter ihre eigenen theoretischen Ansprüche zurückfällt. Zum anderen geht es darum einen Umriss dessen zu geben, was ich hier als Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie aus organisationssoziologischer Perspektive bezeichnen möchte. Um die Problemstellung, Zielsetzung und methodische Vorgehensweise deutlich zu machen, soll in zwei Schritten vorgegangen werden. Da der Kritikbegriff selbst keinen unerheblichen Einfluss sowohl auf die Konstruktion des Forschungsgegenstandes als auch seine Analyse hat, werde ich zunächst kurz auf diesen Zusammenhang eingehen. Dabei werde ich versuchen zu umreißen, was hier mit kritischer Gesellschaftstheorie gemeint ist und warum der vorzustellende Theorieansatz in diesen theoretischen Rahmen einzuordnen ist. In einem zweiten Schritt wird es dann um die eigentliche Darlegung des Forschungsprojektes gehen. 1. Hinsichtlich der Erörterung des Kritikbegriffs und der Praxis von Kritik scheint es mir sinnvoll zunächst eine vorläufige, rein analytische Unterscheidung zwischen zwei Formen der Kritik zu machen. (A) Zum einen jene Kritik, die vor-
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wiegend aus dem Erfahrungsbereich der Organisationspraxis selbst hervorgeht und auf diese gerichtet ist. (B) Zum anderen jene Kritik, die der wissenschaftlichen Praxis zuzurechnen ist und in der wesentlich das Verständnis von Wissenschaft, Wissenschaftlichkeit und kritischer Theoriebildung zum Ausdruck gebracht wird. (A) Die Organisationskritik ist nicht nur so alt wie ihr Gegenstand selbst, sondern sie weist darüber hinaus eine große Bandbreite und sehr unterschiedliche Formen auf, die von der frühen Bürokratiekritik, der sogenannten Maschinenstürmerei, dem Anarchismus, dem Operaismus bis hin zum Taylorismus und den sich daran anschließenden Rationalisierungsdiskursen reicht. Diese Kritiken lassen sich weder hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Träger noch hinsichtlich ihrer Zielvorstellungen vergleichen. Dennoch bilden all diese verschiedenen Kritiken eine Schnittmenge. Diese besteht in der Thematisierung, Begutachtung und Bewertung dessen, was man als Regierung bezeichnen kann. So wird die in der Mitte des 19. Jahrhunderts von unterschiedlichster Seite geübte Bürokratiekritik etwa von Robert von Mohl auf die Formel der ‚Übertreibung der Staatsidee‘ gebracht, der die Stärkung der ‚Zivilgesellschaft‘ mittels des Vereinswesens, also privater Organisationen, entgegengestellt wird. Dabei wird insbesondere die Kritik an der Stellung und Funktion der Bürokraten an die Frage gebunden, wer regieren soll und wie regiert werden soll. Der Anarchismus radikalisiert diese Kritik zu einer, die zumindest implizit die Organisationsform selbst, sei es in Gestalt von Parteien, des Staates und seiner Apparate oder als Prinzip von Regierung insgesamt, in Frage stellt. Die Kritiken des Operaismus und Taylorismus setzen an der betrieblichen Ebene an, weisen dabei aber zugleich darüber hinaus. Im Zentrum der operaistischen Kritik steht die Regierung der Arbeit in Form ihrer betrieblichen, fabrikmäßigen Organisation. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse werden als eine historische Form der Regierung von Arbeit begriffen. Die Kritik Taylors lässt sich insofern als eine Regierungskritik begreifen, als er die Regierungsverhältnisse auf der Ebene der unmittelbaren Produktion thematisiert. Für ihn stellen sich die betrieblichen Missstände als ein Problem der Regierungsgewalt dar, das er als ein Problem des Wissens formuliert. Das Wissen über die Produktionsprozesse wird zum Dreh- und Angelpunkt einer nachhaltigen Regierung des Verhaltens der unmittelbaren Produzenten und Produzentinnen und zugleich zur Bestimmung des Verhältnisses von Regierenden und Regierten.
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(B) Die Rede von kritischer Gesellschaftstheorie ist nicht unproblematisch, da die Bestimmung von Kriterien zur Abgrenzung von anderen Formen der Theoriebildung mit diversen Schwierigkeiten verbunden ist. Wenn hier dennoch diese Bezeichnung Verwendung finden soll, dann deshalb, weil wir es hier mit einem Feld von Theoriebildung zu tun haben, das sich durch ein spezifisches Wissenschaftsverständnis auszeichnet. Dieses Verständnis ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass es die Wissenschaften selbst als Ausdruck der gesellschaftlichen Teilung von geistiger und körperlicher Arbeit, also als Ausdruck der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse reflektiert. Sodann markiert die Bezeichnung kritischer Gesellschaftstheorie ein spezifisches Verständnis von Kritik und Theoriebildung. Kritik ist, folgt man dem Wissenschaftsverständnis des kritischen Rationalismus, ein zentrales Merkmal von Wissenschaftlichkeit überhaupt. Denn gemäß diesem Verständnis zeichnet sich die Methode der Wissenschaften dadurch aus, Lösungsversuche für die durch sie gestellten Probleme zu erproben. Diese Lösungsversuche müssen einer Form genügen, die sie der rationalen Kritik zugänglich macht. Ansonsten werden sie als unwissenschaftliche aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen. Kritik dient also nicht nur als ein Mittel der wissenschaftlichen Kontrolle, sondern mehr noch, sie ist geradezu ein Wesensmerkmal von Wissenschaftlichkeit und, so Popper, die „sogenannte Objektivität der Wissenschaft besteht in der Objektivität der kritischen Methode“ (Popper 1989: 106). Wir haben es hier mit einem Kritikbegriff zu tun, der rein innerwissenschaftlich gedacht ist, da die Kritik nicht den selbstreferenziellen Raum der Wissenschaft verlässt. Der Kritikbegriff der kritischen Gesellschaftstheorie stellt Kritik als innerwissenschaftliches Verfahren nicht in Frage, sondern gibt ihr eine erweiterte und veränderte Bedeutung. Kritische Gesellschaftstheorie ist, folgt man Horkheimer, demgegenüber „als ganze ein einziges entfaltetes Existenzurteil“ (Horkheimer 1984: 44). „Sie ist nicht irgendeine Forschungshypothese, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweist, sondern ein unablösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt.“ (ebd.: 58) Auch hier steht, wie bei Popper, am Anfang der Forschung und Theoriebildung ein Problem. Ein Problem aber, das nur dann entsteht, wenn Gesellschaft als eine andere gedacht wird als die, die existiert. Einzig durch das, was Gesellschaft nicht ist, „wird sie sich enthüllen als das, was sie ist, und darauf käme es doch wohl in einer Soziologie an, die nicht, wie freilich die Mehrzahl ihrer Projekte, bei Zwecken öffentlicher und privater Verwaltung sich bescheidet.“ (Adorno 1989: 142; s. auch Habermas 1986) Es geht
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hier nicht, dies gilt es zu betonen, um die Definition dessen, was als Kritik und was nicht als Kritik zu gelten hat, sondern um die Konsequenzen für die Kritik, darum, ob überhaupt noch ein ‚Außen‘ gedacht werden darf und kann.1 Zudem sollte anhand der Formulierung Adornos deutlich werden, dass sowohl die Bezugspunkte der Problemstellung als auch der Kritik keine innerwissenschaftlich generierten sind und sich etwa in Form von erkenntnistheoretischen, methodologischen oder theoriearchitektonischen Fragen äußern, obgleich all diese Fragen durchaus Gegenstand auch der kritischen Wissenschaftspraxis sind. Die Bezugspunkte liegen vielmehr in der konkreten gesellschaftlichen Existenzform und der Haltung, die zu dieser eingenommen wird. Diese Haltung schließt sowohl den Anspruch auf wissenschaftliche Wertfreiheit als auch den objektiver Kriterien der Kritik aus. Zur Bestimmung eines Kritikbegriffs, der es sowohl ermöglicht die eigene Intention und Position zum Ausdruck zu bringen als auch zugleich Kritik zu einem historischen Gegenstand der Analyse zu machen scheint es mir sinnvoll an eine von Foucault vorgeschlagene Bestimmung anzuknüpfen. Für Foucault ist das Charakteristische der Kritik, jenseits ihrer jeweiligen historischen Formen und Gegenstände, „... die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12) und in „dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung“ (ebd.: 15, s. auch Demirovic 1999). Wenngleich mit der Form der Kritik schon wichtige Implikationen bezüglich ihres Gegenstandes verbunden sind, muss zudem die Frage nach dem Gesellschaftsbegriff der kritischen Theoriebildung gestellt werden. Die sozialwissenschaftliche Praxis in ihren einzelnen Disziplinen ist seit ihrer Entstehung bestimmt durch eine spezifische Sichtweise von Räumlichkeit, wobei die Konstruktion der Vorstellung von der Existenz souveräner Räume den nachhaltigsten Einfluss gehabt hat. „Nahezu alle Sozialwissenschaften nahmen an, daß die politischen Grenzen die räumlichen Parameter anderer wichtiger Interaktionen festlegten – für den Soziologen war dies die Gesellschaft, für den Makroökonomen die Nationalökonomie, für den Politologen das politische Gemeinwesen und für den Historiker die Nation. In diesem Sinne war die Sozialwissenschaft regelrecht ein Geschöpf, wenn nicht sogar eine Schöpfung der Staaten, versteht man ihre Grenzen als den entscheidenden Faktor für die Konstruktion sozialer Gehäuse.“ (Wallerstein u. a. 1996: 34; s. auch Wallerstein 1995)
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Auf Organisation bezogen bedeutet dies: Die Verschiebung des Kritik-Horizonts über die Grenzen der Einzelorganisationen hinaus ermöglicht eine Kritik von Organisation, die gleichbedeutend ist mit einer Kritik der Gesellschaft insgesamt und umgekehrt.
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Wenngleich Marx in seinen Analysen noch weitgehend an den nationalstaatlichen Grenzen orientiert war, eröffnete er ein Denken, dass über diese hinausweist. Die kapitalistische Produktionsweise liegt quer zu nationalstaatlicher Grenzziehung. Teil der bürgerlichen Gesellschaftsformation sind alle jene Menschen, die, wie vermittelt auch immer, einbezogen sind in die kapitalistische Warenproduktion. Und der Wallersteinschen Weltsystemtheorie gilt die Struktur differenter politischer Räume geradezu als konstitutiv für die Entstehung und Funktionsweise der kapitalistischen Produktionsweise. Die „Kritische Theorie“ greift die Marxsche Sichtweise in mehrfacher Hinsicht auf. Wie Marx bestimmt sie die bürgerliche Gesellschaft über den Prozess kapitalistischer Warenproduktion und -zirkulation. Zudem reflektiert sie Gesellschaft (auch als Begriff) in seiner Funktion als historisches Moment moderner Herrschaft. Ihre Kritik zielt dementsprechend nicht allein auf gesellschaftliche Teilpraktiken, sondern auf die Gesellschaft insgesamt (vgl. Institut für Sozialforschung: 22ff.; Adorno 1993: 53ff.). Soziologie im Sinne kritischer Gesellschaftstheorie, so lässt sich mit Adorno zusammenfassen, besteht darin, Einsichten in die Gesellschaft, in das Wesentliche der Gesellschaft herzustellen. „... Einsicht in das, was ist, aber in einem solchen Sinne, daß diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was gesellschaftlich ‚der Fall ist‘ ..., an dem mißt, was es selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch zugleich die Potentiale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren.“ (Adorno 1993: 31) 2. Eine kritische Gesellschaftstheorie aus organisationssoziologischer Sicht schließt in mehrfacher Hinsicht an die skizzierten Überlegungen kritischer Theoriebildung an. Sie basiert aber zugleich auf der Überzeugung, dass das Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie sowohl in analytisch-theoretischer als auch in empirischer Hinsicht einer Erweiterung um eine kritische und historisch-empirische Organisationssoziologie bedarf. Diese Erweiterung beinhaltet allerdings nicht allein eine Ergänzung der Theorie um den Gegenstand und die Kategorie der Organisation. Sie zielt vielmehr auf eine Verschiebung der analytischen Gesamtperspektive. Um zunächst die theoretischen und empirisch-analytischen Probleme deutlich zu machen, bietet es sich an, auf einige Arbeiten aus dem Umkreis kritischer Theoriebildung und deren Analysen der gesellschaftlichen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzugehen. Dabei können zwei Linien der Interpretation ausgemacht werden, die sich beide zentral auf Organi-
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sation hinsichtlich der Charakterisierung des Formwandels der bürgerlichen Gesellschaft beziehen. Die Entwicklung der industriell-kapitalistischen Gesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in den kapitalismustheoretischen Arbeiten jener Zeit als eine Bestätigung der Marxschen Prognosen gewertet. Aufgrund der den kapitalistischen Produktionsverhältnissen immanenten Gesetzmäßigkeiten, so die Annahme, werde der liberale Konkurrenzkapitalismus durch den Monopolkapitalismus abgelöst, der als Vorstufe der Selbstaufhebung der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft gedeutet werden könne. „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ (Marx 1979: 791)
Wesentlich ist hierbei die Annahme, dass der Organisationsgrad der Produktion mit dem Vergesellschaftungsgrad zusammenfalle. Der „organisierte Kapitalismus“, so die Bezeichnung Hilferdings für den Monopolkapitalismus, sei durch die Vergesellschaftung nicht nur des Arbeitsprozesses im Großbetrieb sondern ganzer Industriezweige und die Vereinheitlichung der vergesellschafteten Industriezweige untereinander gekennzeichnet. „Damit wächst zugleich die bewußte Ordnung und Lenkung der Wirtschaft, die die immanente Anarchie des Kapitalismus der freien Konkurrenz auf kapitalistischer Basis zu überwinden strebt“ (Hilferding 1924: 144). Die gleiche Sichtweise findet sich in der Leninschen Imperialismustheorie, in der er den fortgeschrittenen Kapitalismus in seiner imperialistischen Gestalt als „Übergangskapitalismus“ oder „sterbenden Kapitalismus“ (Lenin 1979: 144, Lenin 1961: 369) bezeichnet. Organisation wird hier nicht nur als ein Prinzip bewusster und rationaler Ordnungsbildung der vermeintlichen Irrationalität einer marktförmigen gesellschaftlichen Ordnungsbildung entgegengesetzt, sondern erscheint darüber hinaus als eine neutrale Produktivkraft, die den klassenförmigen Produktionsverhältnissen entgegengesetzt wird. Mit Organisation verbindet sich die auf Emanzipation gerichtete Vorstellung von der Aufhebung des Politischen im Sinne der Aufhebung der bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse. So sei die Verwandlung des Staates in eine bloße Verwaltung der Produktion nichts anderes als der Wegfall des Klassengegensatzes (vgl. Marx/Engels 1983: 491). Diese Reduktion der bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse auf die Eigentumsverhältnisse ermöglicht die Vorstellung, den kapitalistischen Produktionsverhältnissen wohne neben ihren Herrschaftsaspekten eine neutrale, technische Rationalität der gesellschaftlichen Naturaneignung inne. Die Depolitisierung von Organisation ist dabei nicht nur
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Ausdruck dieses Denkens, sondern sie bildet das notwendige Gegenüber. Sie ermöglicht eine scheinbar radikale Kritik, ohne die basalen gesellschaftlichen Strukturen moderner Herrschaft thematisieren zu müssen. Die gesellschaftspolitischen Konsequenzen dieser verkürzten Kritik sind dabei keine, die sich erst aus der geschichtlichen Retroperspektive als verfehlte erweisen. So war es offenbar zeitgenössischen Beobachtern möglich hinsichtlich der Frage nach den Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus folgendes festzustellen: „Es wird Ihnen nicht klar, daß Rußland dank dem Bolschewismus nicht etwa einen neuen Okzident vorbereitet, sondern daß der Bolschewismus der Weg ist der okzidentalen ekelhaften Zivilisation nach Rußland. Keine neue Welt wird vorbereitet, sondern unsere ekelhafte alte kommt nach dem Osten.“ (Roth 1983: 231) Und Thomas Mann stellt 1919 fest: „Ich bedachte in diesem Zusammenhang, daß der sittliche Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus darum geringfügig ist, weil beiden die Arbeit als höchstes Prinzip, als das Absolute gilt. Es geht nicht an, zu thun, als sei der Kapitalismus eine schmarotzerische und unproduktive Lebensform. Im Gegenteil, die bürgerliche Welt kannte keinen höheren Begriff und Wert, als den der Arbeit, und das sittliche Prinzip wird im Sozialismus erst offiziell, es wird wirtschaftliches Prinzip, politisches und menschliches Criterium, vor dem man besteht oder nicht, und dies so sehr, daß niemand fragt warum und wieso eigentlich Arbeit diese unbedingte Würde und Weihe besitzt. Oder bringt der Sozialismus einen neuen Sinn und Zweck der Arbeit? Nicht, daß ich wüßte. Ist Arbeit ein Glaube, ein Absolutum? Nein. Der Sozialismus steht geistig, moralisch, menschlich, religiös nicht höher, als die kapitalistische Bürgerlichkeit, sondern ist nur ihre Verlängerung. Er ist ebenso gottlos, wie sie, denn Arbeit ist nicht göttlich.“ (Mann 1997: 268)
Die zweite Interpretationslinie bezieht sich wie erstere auf die kapitalistische Entwicklungsdynamik, kommt aber vor allem vor dem Hintergrund der sich entwickelnden totalitären Regime in Europa zu völlig anderen Ergebnissen. Da die ökonomische Krisensituation zwischen 1929 und 1933 gerade nicht zur Überwindung der kapitalistisch basierten Herrschaftsverhältnisse führte, sondern im Gegenteil zu einer verschärften, gewaltgestützten Herrschaftsausübung, warf dies die Frage auf, welcher theoretische und empirische Stellenwert der kapitalistisch verfassten Ökonomie für die Struktur und Entwicklung der modernen Gesellschaft überhaupt beizumessen sei. Die Pollocksche Analyse des Nationalsozialismus, die zentral für die theoretische Entwicklung der Kritischen Theorie werden sollte, kommt zu dem Ergebnis, dass die den kapitalistischen Produktionsverhältnissen innewohnende Entwicklungsdynamik nicht, wie Hilferding und Lenin annahmen, zu dessen Aufhebung drängen, sondern zu dessen Verfestigung in Gestalt des totalitären bzw. demokratischen Staatskapitalismus (vgl. Pollock 1984).
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Diese auch als Verschiebung vom Primat der Ökonomie zu dem der Politik interpretierte Entwicklung ist für Horkheimer kein Ausdruck einer singulären Entwicklung, wie etwa in Deutschland, er sieht sie vielmehr als Symbol für das, „was einmal kommen müßte, nämlich eine völlig verwaltete, rationalisierte, von einer Stelle aus geleitete und gelenkte Gesellschaft“ (Horkheimer 1985a: 328f.). Neben dieser etatistischen Erklärungsvariante findet sich bei Horkheimer eine weitere Interpretation, die den gesellschaftlichen Organisationen eine zentrale Bedeutung für die moderne Herrschaftsstruktur zuschreibt. Gewerkschaften und Parteien fördern ihm zufolge „eine Idee der Vergesellschaftung, die von der Verstaatlichung, Nationalisierung, Sozialisierung im Staatskapitalismus kaum verschieden war“ (Horkheimer 1997: 295). Die Differenz zwischen den Gesellschaftssystemen erweist sich hinsichtlich des grundlegenden Modus der Herrschaftsausübung nur als die Verkleidung des Gleichen. „Wenn überhaupt die Phantasie sich vom Boden der Tatsachen entfernt, setzt sie an Stelle der vorhandenen staatlichen Apparaturen die Bürokratie von Partei und Gewerkschaft, an die Stelle des Profitprinzips die Jahrespläne der Funktionäre. Noch die Utopie war von Maßregeln erfüllt. ... In den restlichen Demokratien befinden sich die Leiter der großen Arbeiterorganisationen heute schon in einem ähnlichen Verhältnis zu ihren Mitgliedern wie im integralen Etatismus die Exekutive zur Gesamtgesellschaft: sie halten die Massen, die sie versorgen, in strenger Zucht, schließen sie gegen unkontrollierten Zuzug hermetisch ab, dulden Spontanität bloß als Ergebnis ihrer eigenen Macht.“ (Horkheimer 1997: 295 f.)
Wenngleich Horkheimer hier Organisationen eine zentrale Bedeutung für die Herrschaftsverhältnisse in der modernen Gesellschaft zuschreibt und durchaus wesentliche Aspekte von Organisationen benennt, geht der Begriff von Organisation nicht über das Verständnis dessen hinaus, was er an anderer Stelle als ‚Racket‘ (Horkheimer 1985b), d. h. als ein allgemeines Prinzip einer auf Herrschaft gerichteten Gruppenbildung bezeichnet hat. In beiden Argumentationslinien, so lässt sich zusammenfassen, wird Organisation eine zentrale Bedeutung für die Struktur und Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen und den Herrschaftsverhältnissen im Besonderen zugeschrieben. Der technizistisch-apolitische Organisationsbegriff wie er bei Hilferding und Lenin und in der Marxschen Orthodoxie insgesamt zum Ausdruck kommt und von ihnen zu einem emanzipativen Gegenbegriff zum Kapitalverhältnis stilisiert wird, erweist sich nicht allein in theoretisch-analytischer Hinsicht als defizitär, sondern er verhindert die Einsicht in die zentralen Mechanismen und Charakteristika moderner Herrschaft. In den Arbeiten der älteren Kritischen Theorie werden Organisationen zwar explizit als Bestandteil moderner Herrschaftsausübung benannt, ohne indessen einen theoretischen Begriff zu entwickeln, der es erlauben würde, Organisation systema-
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tisch in die wissens- und rationalitätstheoretischen Gesellschaftsanalysen der Kritischen Theorie einbinden zu können. 3. Das Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie aus organisationssoziologischer Sicht setzt u. a. an den benannten Defiziten an, knüpft dabei aber zugleich an zentrale theoretische Bausteine sowohl der Marxschen Theoriebildung als auch der Kritischen Theorie an. Ziel ist die Entwicklung eines macht- und herrschaftsanalytischen Ansatzes, der sowohl ökonomistische und etatistische Engführungen als auch totalisierende Interpretationsweisen (Topos der ‚verwalteten Welt‘ (Horkheimer 1985c u. 1985d)) vermeidet. Um den spezifischen analytischen Zugang des Projekts und seine kritische Kontinuität innerhalb der kritischen Gesellschaftstheorie zu verdeutlichen bietet sich wiederum ein Bezug auf die Marxsche Theorie an. In der „Kritik der politischen Ökonomie“ (Marx 1974) entwickelt Marx eine Kritikperspektive, die Herrschaft nicht mehr wie noch in der „Deutschen Ideologie“ (Marx/Engels 1981) ideologiekritisch analysiert. Herrschaft wird nun auf der Ebene der gesellschaftlichen Kooperationsverhältnissen verortet und in Form der Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses thematisiert. Sozialstrukturell drückt sich Herrschaft in der Existenz von Klassen und ökonomisch in Form von Ausbeutung aus. In diesem Zusammenhang spielt die Kategorie des Eigentums eine zentrale Rolle, allerdings nicht in einem juridischen Sinne wie bei Hilferding und Lenin (Und wie insgesamt in der marxistischen Orthodoxie). Der Begriff des Eigentums bezeichnet vielmehr die Aneignungsverhältnisse hinsichtlich der äußeren Natur und damit verbunden der Verhältnisse zur inneren Natur und der Verfügungsverhältnisse über die Arbeitsmittel und -produkte. „Eigentum meint also ursprünglich nichts anderes als Verhalten des Menschen zu seinen natürlichen Produktionsbedingungen als ihm gehörigen, als den seinen, als mit seinem eigenen Dasein vorausgesetzte; Verhalten zu denselben als natürliche Voraussetzungen seiner selbst, die sozusagen seinen verlängerten Leib bilden.“ (Marx 1974: 391) Mit diesem Eigentumsbegriff ist eine Kritikperspektive verbunden, die die historische Form bzw. die historisch spezifische Formierung und Regulation der gesellschaftlichen Kooperationsverhältnisse thematisiert. Anders formuliert geht es damit um die Frage danach, was unser Verhalten in allen drei oben benannten Dimensionen regiert und wie es regiert wird und zwar immer in Bezug auf die Kooperationsverhältnisse, die die Menschen im Zuge der Aneignung der äußeren Natur historisch eingehen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass
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keine der drei Dimensionen isoliert betrachtet werden kann. Eine gewalt- und herrschaftsförmige Aneignung von Natur muss auf der Grundlage dieser Konstruktion immer einhergehen mit einem gewalt- und herrschaftsförmigen Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und zu anderen (vgl. Horkheimer/Adorno 1986). Mit den für eine kritische, organisationssoziologische Gesellschaftstheorie grundlegenden Arbeiten „Zur Kritik der politischen Ökonomie der Organisation“ und „Organisation und Kooperation“ (beides in Türk 1995) knüpft Klaus Türk nicht nur an die von Marx eröffnete Kritikperspektive an, sondern bezieht diese kritisch auf die Marxsche Theorie selbst. Wie bei Marx steht im Zentrum der Analyse die herrschaftsförmige Formierung der konkreten, gesellschaftlichen Kooperationspraxen der Naturaneignung. Im Unterschied zur Marxschen Theorie wird zum einen die Analyse nicht auf den kapitalistischen Produktionsprozess begrenzt und zum anderen wird hier von der Annahme ausgegangen, das nicht das Kapitalverhältnis, sondern das Organisationsverhältnis (vgl. Bruch 2000) sowohl logisch als auch historisch-empirisch die grundlegende gesellschaftliche Form der herrschaftsförmigen Konfiguration der materiellen und immateriellen Naturaneignung in der modernen Gesellschaft darstellt. Mit dieser Annahme sind eine Reihe von Fragen und Problemstellungen verbunden, die die Grundlagen und den Rahmen unseres Forschungsprogramms einer kritischen Gesellschaftstheorie aus organisationssoziologischer Sicht bilden. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Problemkomplexe: (a) Die sozial- und gesellschaftstheoretisch fundierte Bestimmung von KoOperation und ihrer Produktions- und Reproduktionsbedingungen im Unterschied zu Organisation; (b) die gesellschaftstheoretische Bestimmung von Organisation; (c) die historisch-empirische Rekonstruktion der Genese von Organisation. zu (a): Eine Kritik, die Herrschaft nicht als produktive, sondern als regulative, restringierende und abschöpfende Sozialform begreift, bedingt die Annahme der Existenz einer alternativ strukturierten, produktiven sozialen Praxis, die hier als Kooperation bezeichnet werden soll. Mit Kooperation ist eine Kategorie angesprochen, die in der kritischen Gesellschaftstheorie insgesamt zwar einen grundlegenden Bezugspunkt bildet, theoretisch jedoch bisher stark unterbelichtet geblieben ist. Wie insgesamt eine Soziologie der Kooperation fehlt. Genauso wie sich der kapitalistische Produk-
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tionsprozess nur analytisch in Arbeits- und Verwertungsprozess trennen lässt, können Kooperation und Organisation nur als analytisch trennbare Einheiten sozialer (gesellschaftlicher) Lebensvollzüge bzw. Naturaneinung begriffen werden. Gleichwohl muss sich zumindest annäherungsweise bestimmen lassen, worin die Eigenart kooperativer Praxisvollzüge liegen, die sie von der organisationalen Praxis unterscheidet. Türk und Stolz haben diesbezüglich erste Versuche (Stolz/Türk 1992, Stolz 1993, Türk 1995) unternommen, wobei sie sich auf grundlagentheoretische Überlegungen Maturanas und Valeras (1980 u. 1987), das aus der materialistischen Sozialphsychologie stammende Lorenzersche Konzept der Desymbolisierung (Lorenzer 1972 u. 1977) und das Marxsche Theorem der formellen und reellen Subsumtion (Marx 1970) beziehen, das von ihnen einer sozialtheoretischen Reinterpretation unterzogen wird. Ohne alle diese Überlegungen hier im Einzelnen nachzuvollziehen, lässt sich folgendes festhalten. „‚Ko-Operation‘ soll den realen, systemisch und systematisch desymbolisierten Strom menschlicher Praxis benennen, der Basis, Ressource oder auch ‚Problem‘ und ‚Objekt‘ jeglicher institutioneller, diesen Zusammenhang gerade kognitiv oder restringiert-praktisch zerschneidenden, ‚Superstruktur‘ (‚Überbau‘) ist. Der Bereich der Ko-Operation strukturiert sich dabei jeweils gesellschaftlich-historisch zu speziellen ‚Ko-Operationsweisen‘.“ (Türk 1995: 98)
Hervorzuheben ist hierbei, dass mit der Kategorie der Ko-Operation keine gewalt- oder herrschaftsfreie Praxis bezeichnet werden soll, sondern nicht mehr aber auch nicht weniger als die alleinige Ebene von Produktivität im Sinne realer Hervorbringung. Die Entwicklung einer Soziologie der Kooperation ist sicherlich eine interessante Aufgabe. Für die Untersuchung moderner Herrschaftsverhältnisse aber scheint mir jedoch weit wichtiger die Analyse der Verwobenheit von kooperativer Naturaneignung und ihrer herrschaftsförmigen Konfiguration zu sein, die doch gerade in der für die moderne Gesellschaft typischen Entwicklung technischer und legitimatorischer Verfahren der Ökonomisierung von Macht und Herrschaft zum Ausdruck kommt. Die mit der Kategorie der Ko-Operation verbundenen theoretischen und politischen Aspekte stehen m. E. deshalb auch nicht, wie man meinen könnte und Türk selbst unterstellt hat (vgl. Türk 1995: 110), im Widerspruch zu der Foucaultschen Analytik der Macht. Die Produktivität der Macht bezeichnet zunächst nur, dass Machtausübung nicht allein als ein (juridischer) Mechanismus des Verbots und der Restriktion also negativ gedacht und analysiert werden kann, sondern dass ihre Wirkungsweise einen hervorbringenden, einen positiv setzenden Charakter besitzt (vgl. Foucault 1978), was nicht nur mit dem obigen Kooperationsbegriff vereinbar, sondern entscheidend für die Analyse der Denk-
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und Handlungspraxen von Organisation ist. Zudem unterscheidet auch Foucault sowohl zwischen der Existenz von Machtmechanismen und ihren Objekten, als auch zwischen Macht und Gegenmacht. Entscheidend scheint mir in diesem Zusammenhang, dass wir es hier mit der gleichen Frage- und Problemstellung zu tun haben, die von Max Weber aufgeworfen, von der älteren Kritischen Theorie weiter entwickelt wurde und die gleichermaßen zentral ist für das hier verfolgte Projekt einer kritischen, gesellschaftstheoretischen Organisationssoziologie. Dieses Problem besteht in den Machteffekten in Verbindung mit der okzidentalen Rationalität, die der modernen Gesellschaft ihr spezifisches Gepräge verliehen hat. Foucault kleidet diesen Zusammenhang in folgende Frage: „Wie wäre nun aber diese Rationalität von den Mechanismen, den Prozeduren, den Techniken, den Effekten der Macht zu trennen, die mit ihr einhergehen und die uns so unerträglich sind, daß wir sie als typische Form der Unterdrückung in den kapitalistischen und vielleicht auch in den sozialistischen Gesellschaften bezeichnen?“ (Foucault 1996: 81) Mit dieser Fragestellung verliert das, was in kritischer Absicht mit der Kategorie der Ko-Operation verbunden ist, nicht an Bedeutung, sondern sie verbindet diese mit dem obigen Kritikbegriff: der Kunst nicht in jener Weise regiert zu werden. zu (b): Hinsichtlich der Frage nach der Konzeptionalisierung und Durchführung der Untersuchung, sind neben der Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von Ko-Operation und Organisation noch weitere theoretische und methodischanalytische Überlegungen anzustellen. Zunächst stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft zu denken ist. Für die Beantwortung dieser Frage bildet die Kategorie der Ko-Operation wiederum einen zentralen Bezugspunkt. Begreift man Gesellschaftlichkeit sozialtheoretisch als aufeinander bezogene menschliche Lebensäußerungen, dann ist Organisation als eine besondere Form von Ko-Operation Gesellschaft. „Sie ist eine bestimmte Art und Weise der Ko-Operation von Menschen, nämlich eine regulative Ko-Operation bezüglich weiterer Ko-Operation. Es exisitiert in dieser Perspektive überhaupt kein Relationsproblem zwischen Organisation und Gesellschaft. Es gibt nur ein Spezifikationsproblem: Welche historisch-spezifische Art von ko-operationaler Regulation der Ko-Operation ist Organisation? Und es besteht ein Produktions- bzw. Reproduktionsproblem: Wie sind Existenz und Persistenz von Organisation(en) zu erklären?“ (Türk/Lemke/Bruch 2002: 15)
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Die Beantwortung dieser Fragen schließt die Frage nach der Bestimmung jener spezifischen Konfiguration von Ko-Operationen ein, die sich historisch zu einer Gesellschaftsformation verbinden. Dies bedeutet, dass forschungspraktisch die Untersuchung der Prozesse der Entwicklung von Organisation nicht von denen der modernen Gesellschaft getrennt werden kann. Gesellschaft ist in Bezug auf Organisation weder als etwas Äußeres noch als etwas Vor- oder Übergeordnetes zu denken. Kritik kann in diesem Sinne keine sein, die sich auf bestimmte organisationale Praktiken beschränkt, sondern sie ist immer schon eine Kritik der Gesellschaft. Diese Perspektive unterscheidet sich, dies gilt es hier nochmals zu unterstreichen, auch von jener der Kritischen Theorie. Denn obgleich auch Adorno (1954) darauf verweist, dass eine Kritik von Organisation nicht ohne eine ausgeführte Theorie der Gesellschaft auszukommen vermag, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass wir es hier mit einer Kritik zu tun haben, die sich auf die gesellschaftliche Funktion und Wirkung von Organisation beschränkt. Denn Adorno fasst Organisation nicht als ein spezifisches, der modernen Gesellschaft eignes Phänomen auf. Ihre Qualität als Werkzeug der Realisierung gesetzter Zwecke und der ihr eigenen Tendenz zur Entfremdung und Verdinglichung gilt Adorno als ein ubiquitäres Phänomen. Das spezifisch Moderne besteht für ihn in der Ausdehnung und Verfügungsgewalt von Organisationen, die zu einem Umschlag von Quantität in Qualität führe. Die von Organisation ausgehende Bedrohung liege aber nicht in ihr selbst, sondern in den irrationalen Zwecken, von denen sie abhängt. Organisation kann in diesem Sinne keine eindeutige Qualität zugeschrieben werden. Ihre Wirkung hängt vielmehr von den Diensten ab, in denen sie steht. Das hier verfolgte Anliegen, dies dürfte deutlich geworden sein, geht nicht nur mit einer gänzlich anderen Verhältnisbestimmung von Organisation und Gesellschaft einher, sondern zielt gerade auch auf die Problematisierung jenes von Adorno formulierten Typus von Kritik, der hinter die eigenen theoretischen Ansprüche kritischer Theoriebildung zurückfällt, da sie letztlich über eine oberflächliche Kritik von Organisation nicht hinausgeht. Im Vergleich dazu soll hier ein methodisch-analytischer Zugang zum Erkenntnisobjekt Organisation gefunden werden, der die Analyse von Organisation historisch und systematisch an die Geschichte der abendländischen Rationalität bindet. Wir schlagen diesbezüglich einen Zugang vor, der seinen Ausgangspunkt in der empirisch vorfindbaren Unterscheidung von Organisation und Organisationen nimmt und diese analytisch wendet, indem man zum einen nach der historischen Genese dieser Unterscheidung fragt und zum anderen Organisation nicht als das Allgemeine des Besonderen von Einzelorganisationen, also nicht als Begriff, sondern als einen Komplex von Wissens- und Verhaltenspraxen analysiert, der sich historisch zu einem Dispositiv von Regierung entwickelt hat.
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Diese Form der Analyse ist an eine Sichtweise von Organisation geknüpft, die zunächst ganz allgemein folgende Punkte umfasst: 1. Organisation im Singular ist als ein Dispositiv aufzufassen. Der Begriff des Dispositivs bezeichnet einen sozialen Komplex, der dreifach dimensioniert ist: (a): In ihrer extensionalen Dimension spannt das Organisationsdispositiv einen Wissens- und Handlungsraum auf, der aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Strukturierungen des Raums sowie Verhaltensweisenund -anforderungen besteht. (b): Die intensionale Dimension markiert die Besonderheit dieses Raums, die durch die spezifische Verknüpfung der genannten Elemente entsteht. (c): Die strategische Dimension bezeichnet die historisch spezifische Funktion die mit dieser Verknüpfung verbunden ist. 2. Einzelorganisationen werden durch die kombinative Applikation zentraler Elemente dieses Dispositiv produziert. 3. Die Macht- bzw. Strukturierungseffekte dieses Dispositivs erschließen sich dabei nicht nur über die Bestimmung der genannten Dimensionen, sondern gleichermaßen über das, was durch ihre Bestimmung ausgeschlossen wird. 4. Der regierungstheoretische Zugang soll nicht nur eine veränderte historischempirische Analyse des Gegenstandes Organisation ermöglichen, sondern mittels des Regierungsbegriffs soll zugleich die mit Organisation verbundene spezifische Art und Weise der Machtausübung thematisch gemacht werden. Mit diesem hier skizzierten Zugang zu dem Phänomen Organisation orientieren wir uns an der Machtanalytik Foucaults, der mit dem Regierungsbegriff eine der Macht eigene Verhältnisweise bzw. eigene Art und Weise der Machtausübung bezeichnet. Machtverhältnisse sind als Teil der Praktiken der Machtausübung zu betrachten, zu denen die Verfügung über allokative, autoritative und symbolische Ressourcen gehören. Dies bedeutet nicht, folgt man Foucault, „daß es sich um drei getrennte Bereiche handelt und daß es einerseits den Bereich der Dinge, der zielgerichteten Techniken, der Arbeit und der Transformation des Realen gäbe, andererseits den der Zeichen, der Kommunikation, der Reziprozität und der Fabrikation des Sinns, und schließlich den der Herrschaft, der Zwangsmittel, der Ungleichheit und des Einwirkens von Menschen auf Menschen. Es geht um drei Typen von Verhältnissen, die allerdings immer ineinander verschachtelt sind, sich gegenseitig stützen und als Werkzeuge benutzen.“ (Foucault 1987: 252)
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Machtverhältnisse kommen letztlich zwar nicht ohne Gewalt und auch nicht ohne Konsens aus, diese bilden aber nicht die Grundlage von Machtverhältnissen, sondern sind Teil ihres Instrumentariums. Mit dem Regierungsbegriff soll die der Macht eigene Verhältnisweise bzw. eigene Art und Weise der Machtausübung bezeichnet werden. Das Charakteristische eines Machtverhältnisses besteht in der Formierung eines Raums von Möglichkeiten, den Möglichkeitsraum oder Spielraum anderer zu formieren. Dabei werden die Subjekte, auf die Macht ausgeübt wird, durchaus als Subjekte des Handelns anerkannt, sodass sich „vor dem Machtverhältnis ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen, Erfindungen eröffnet“ (Foucault 1987: 254). Machtausübung operiert auf dem „Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der Subjekte eingeschrieben hat ...“ (ebd.: 255). Diese Strukturierung des Feldes möglicher Handlungen versucht Foucault mittels des Begriffs der ‚Führung‘ zu erfassen, wobei mit Führung zugleich die Tätigkeit des ‚Anführens‘ anderer und die Weise der Selbstorientierung des Verhaltens in einem Feld von Möglichkeiten gemeint ist. Machtverhältnisse sind Verhältnisse der ‚Meta-Führung‘, des ‚Führens der Führungen‘. Regierung bzw. Gouvernement bezeichnet in diesem Sinne ein jeweils historisch spezifisches Set von Wissen und Praktiken der Selbst- und Fremdorientierung. Dieser Zugang erlaubt es, Organisation als ein gesellschaftlich verfestigtes, spezifisches Muster von Denk- und Verhaltenspraxen zu begreifen, das nicht nur den einzelorganisationalen Praktiken als Möglichkeitsbedingung und Programm zugrunde liegt, sondern darüber hinaus den gesellschaftlichen Möglichkeitsraum unserer Denkund Handlungspraxen so präformiert, dass die Wahrscheinlichkeit der gesellschaftlichen Geltung verschiedener Kooperationspraktiken ungleich verteilt wird. zu (c): Die historisch-empirische Untersuchung hat vor diesem Hintergrund ihren Ausgangspunkt in der empirisch vorfindbaren Denk- und Verhaltenspraxis dessen zu nehmen, was wir als Organisation bezeichnen. Über eine Analyse lassen sich die verschiedenen inhaltlichen Merkmale ermitteln, die charakteristisch für diese Praxis sind (vgl. Türk/Lemke/Bruch 2002). Ich werde mich im Folgenden bei meiner Darstellung auf ein wesentliches Merkmal beschränken und zwar auf die Vorstellung von Organisation als Praxis rationaler Ordnungsbildung, wobei diese Praxis als eine Praxis von Regierung rekonstruiert werden soll. Organisation als Praxis rationaler Ordnungsbildung setzt ein spezifisches Bewusstsein von Rationalität und Ordnung voraus. Eine Vorstellung, in der
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nicht nur bestimmt wird, was als rational und als Ordnung im Vergleich zu irrational und Unordnung zu gelten hat, sondern ganz wesentlich die Vorstellung von der Endogenität sozialer Ordnung, d. h. von der gesellschaftlichen Selbstproduktion von Ordnung statt exogener Zuschreibung von Ordnungsstiftung. Die Entstehung dieses gesellschaftlichen Bewusstseins kann nicht emanzipationsgeschichtlich als ‚Erwachen‘ eines gesellschaftlichen und individuellen Selbstbewusstseins oder als Entdeckung einer bis dahin unentdeckten Wirklichkeit verstanden werden. Sie muss vielmehr als historische Transformation eines Ordnungsdiskurses begriffen werden, die es ermöglichte, soziale Ordnung als Gegenstand systematischer Intervention zu konzipieren. Bezeichnend für das mittelalterliche Denken ist die Vorstellung der Exogenität gesellschaftlicher Ordnung als Teil der von Gott geschaffenen Welt. Himmel und Erde bilden zwei aufeinander bezogene Teile, wobei die obere Ebene (der Himmel) das Modell für die untere (die Erde) abgibt. Die Verbreitung der Ordnung erfolgt über Instruktionen und Befehle, wobei die Körperschaft der Geistlichkeit als Ordnung par excellence erscheint. Normen und Wertvorstellungen sind auf die Bewahrung und Kontinuität dieser göttlichen Ordnung gerichtet. Dieses Ordo-Denken ist auf Transzendentales gerichtet; die Vorstellung menschlich induzierten sozialen Wandels ist nicht nur prinzipiell ausgeschlossen, sondern gilt als Gefahr, als Quelle von Unordnung (vgl. Duby 1981). Mit Beginn der frühen Neuzeit wird das Modell einer göttlich bestimmten, unabänderlichen Ordnung zunehmend verworfen. Ordnung erscheint nun als vom Menschen gestaltet und gestaltbar – oder noch schärfer formuliert: Die Ordnung muss vom Menschen selbst gestaltet werden; sie wird zu einer Sache von Entwurf und Handlung. Machiavelli und Morus gelten in diesem Zusammenhang als wesentliche Repräsentanten neuzeitlichen politischen Denkens. Sie thematisieren die Frage gesellschaftlicher Ordnung aus verschiedenen Perspektiven und auf der Grundlage verschiedener Problemstellungen. Dabei entwerfen sie zwei unterschiedliche Konzepte, die sich erst in der weiteren historischen Entwicklung zu einem Modell modernen Regierungs- und Ordnungsdenkens verbinden. Machiavelli gründet seine Überlegungen im Wesentlichen auf Erfahrung. Für ihn ist es die ‚tatsächliche Gestalt der Dinge‘, auf deren Grundlage die politischen Konzepte zu entwickeln sind. Als Instrument dient ihm die Vernunft als Verfahren einer nach Regeln der Logik sich richtenden Deduktion, wobei die Urteile ganz im Sinne der instrumentellen Vernunft am individuellen Erfolg und Ergebnis orientiert sind. Machiavelli eröffnet damit einen politischen Diskurs, in dem Ethik und Politik als trennbar und Regierung als rein technisch-sachliches Verfahren der Machtaneignung und -ausübung gedacht werden kann. Dabei verbleibt er allerdings sowohl der Vorstellung von Regierung als einer rein
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personalen Beziehung als auch der Vorstellung des unveränderlichen Wesens der Welt und der Natur des Menschen verhaftet. Während Machiavellis Überlegungen auf das Problem des Verhaltens und der Handlungen des Fürsten (Der Fürst 1513) gerichtet sind, setzt Morus mit seiner Schrift „Utopia“ (1516) an einem völlig anders gelagerten Problem an, nämlich dem des Strafrechts und der Kriminalität, d. h. an dem Verhalten der Untertanen und hier insbesondere der Genese krimineller Handlungen. Die Form der Kritik beinhaltet dabei schon die Struktur des Entwurfs einer alternativen Gesellschaftsordnung, weil Moral und Sittlichkeit nicht personalisiert, sondern als Ergebnisse gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen werden. Diese Sichtweise definiert sowohl den Gegenstand als auch die Techniken von Regierung neu. Wenn das Verhalten der Menschen nicht aus ihrem Charakter ableitbar ist, sondern als Folge gesellschaftlicher Ordnung begriffen wird, muss der Gegenstand von Regierung auf die gesellschaftliche Ordnung gerichtet sein. Der Staat Utopia weist folgerichtig eine Struktur auf, deren Voraussetzung nicht der ‚gute Mensch‘ ist, sondern eine, in der die gesellschaftliche Ordnung gute Menschen ermöglicht. Wesentlich für diese Ordnung ist, dass sie sich als ein Institutionengefüge präsentiert, in dem nicht nur die einzelnen Institutionen, sondern auch alle ihre Verflechtungen keinem göttlichen oder natürlichen, sondern einem ‚vernünftigen‘ Plan der Menschen folgen. Rationalität erscheint hier nicht wie bei Machiavelli als subjektive, auf den individuellen Erfolg gerichtete, sondern als objektive Vernunft (vgl. Horkheimer 1985e). Morus gelangt deshalb auch zu einem anders gearteten Konzept von Regierung, da vernünftiges Verhalten auf eine vernünftige Gesellschaftsordnung angewiesen ist. Die Unterwerfung unter diese Ordnung wird nicht primär über die Macht eines Herrschers vollzogen. Vielmehr beruht sie auf der Einsicht in ihre Vernünftigkeit. Obgleich der Zusammenhang von Vernunft und gesellschaftlicher Ordnungsbildung für die weitere historische Entwicklung zentral ist, kommt es mir hier zunächst auf etwas anderes bzw. einen bestimmten Aspekt an. Morus eröffnet ein Denken, in dessen Zentrum weniger abstrakte Prinzipien politischer Ordnung, sondern vielmehr die alltäglichen Lebensäußerungen der Menschen stehen. Die Menschen bilden den eigentlichen Gegenstand von Regierung, womit das Wissen von der Natur des Menschen, das Wissen von den Beweggründen seines Verhaltens ins Zentrum des Regierungsdenkens verschoben wird. Dieses Denken, das wir im weiteren historischen Verlauf etwa bei Hobbes2 und in den Schriften Bacons wieder antreffen, gilt es weiter zu verfolgen. Es ließe sich zudem Bezug nehmen auf die sogenannte ‚Hausväterliteratur‘ des 16. bis 2
Im ersten Teil seines Leviathan (1651) beschäftigt er sich ausschließlich mit dem Verhalten der Menschen.
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18. Jahrhunderts, die sich an die männlichen Haushaltsvorstände richtet und ihnen Ratschläge zur richtigen Einrichtung, zur richtigen Regierung ihres Hauses gibt. Ich möchte stattdessen einen Schritt in die Mitte des 18. Jahrhunderts machen und zwar zu einem Regierungsdenken, das als Polizeywissenschaft bezeichnet wird (vgl. Justi 1759, 1760; Delamare 1707), da sich in diesem Diskurs eine ganze Reihe zentraler Elemente des Organisationsdispositivs ausmachen lassen. Die Polizeywissenschaft stellt nicht nur eine Weiterführung eines Regierungsdenkens dar, das bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Vielmehr entsteht in der Verbindung zeitgenössischer naturwissenschaftlicher, politischer und ökonomischer Wissensbestände im Kontext absolutistischer Territorialstaatlichkeit entsteht neuartiges Regierungsdenken. Die Bedeutung von Regierung wird dabei sowohl hinsichtlich dessen, was unter Regierung zu verstehen ist, als auch bezüglich der Objekte und Techniken von Regierung neu definiert. Diese Redefinition hat nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die Existenzweise der Menschen, sondern gleichermaßen auf die Art und Weise des Zugriffs auf die Lebendigkeit der äußeren Natur. Als Objekte des zeitgleich entstandenen modernen Produktivitätsdispositivs werden die Menschen nicht mehr allein als politisch-rechtliche Subjekte, sondern als lebendige Produktionsfaktoren, welche die Elemente einer produktiven Ordnung, eines produktiven Gesamtkörpers bilden, betrachtet. Gleiches gilt für die äußere Natur. Die Polizeywissenschaft ist der Versuch der wissenschaftlichen Systematisierung und Rationalisierung dieses Zusammenhangs. Mit ihr etabliert sich die Vorstellung vom Staat als einer produktiven und in Konkurrenz zu anderen stehenden Einheit. Die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe zur Bezeichnung dieser Einheit, wie ‚moralischer Körper‘ oder ‚Maschine‘ gelten dabei nicht als bloße Metaphern; denn gleich, ob es sich um biologische oder technologische Begriffe handelt, es geht stets um Vereinigung, Zusammensetzung, Übereinstimmung der Teile, um Kraft, um Arbeit und um Stärke. Um Leitmotive, die in das Arsenal des Organisationsdispositivs Eingang finden werden. Wir haben es hier mit der Entwicklung eines Denkens zu tun, das den Staat als ein räumlich abgrenzbares, durch bewusste Vergemein-schaftung entstandenes Gebilde mit einer je eigenen Ordnung begreift. In Abwandlung vertragstheoretischen Denkens wird Gesellschaft als Bündelung individueller Kräfte, als eine zusammengesetzte Kraft begriffen. Die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft ermöglicht den Individuen an dieser zusammengesetzten Kraft Teil zu haben. Gesellschaftlichkeit wird als Mittel – gleichsam als Sozialtechnologie – zur Stärkung individueller Kraft verstanden. Antrieb und Endzweck der Gesellschaft ist die Teilnahme und die Teilhabe an dieser Kraft. Regierung wird zu einer reflexiven Ordnungspraxis, zu einer Praxis der Synthetisierung von Teilen zu einem Ganzen, wobei der Regent als
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Konstrukteur und Überwacher erscheint. Grundlegend für die erfolgreiche Funktion jenes Gebildes sind die ‚weise‘ Konstruktion und die richtige bzw. angemessene Führung. Regieren wird zu einer Frage des Wissens, der Kenntnis und Beobachtung der gesellschaftlichen Ordnung. Orientiert am Souveränitätskonzept steht im Zentrum des Ganzen ein abstraktes Gebilde um dessen Macht, Stärke und Wachstum es geht. Die Individuen gewinnen ihre Bedeutung einzig aufgrund ihrer Relevanz für das Ganze und ihre reelle Subsumtion wird, so das Versprechen, bei konsensueller Haltung und strenger Unterordnung mit Wohlstand belohnt. Wir haben es hier nicht nur mit der Entwicklung von Denk- und Handlungspraxen von Regierung zu tun, die zentral sind für das Organisationsdispositiv. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Entstehung einer gesellschaftlichen Problemstellung, die in der weiteren historischen Entwicklung unmittelbar an die Organisationsform gebunden sein wird. Diese Problemstellung, die mit der Vorstellung von der Notwendigkeit der Steuerung der lebendigen Lebensäußerungen der Menschen verbunden ist, besteht darin, das sogenannte Transformationsproblem zu einem gesellschaftlichen Problem überhaupt zu machen. Organisation bildet historisch eine Antwort auf dieses Problem. Mittels Organisation soll nicht nur das abstrakte Arbeitsvermögen in konkrete Arbeitsverausgabung transformiert, sondern gleichermaßen Gelehrigkeit, Parteidisziplin, Vereinstreue, etc. erzeugt werden. Organisation als Regierungsdispositiv stellt nicht nur diesbezügliche Techniken3 bereit, sondern in ihr ist von Beginn an die Vorstellung von der Notwendigkeit der Regierung von Menschen eingeschrieben. In ihr materialisiert sich ein Denken, das den Menschen und seine Lebendigkeit, die Natur in ihrer Lebendigkeit als Quelle von Macht, Reichtum und Wohlstand entdeckt, sie aber zugleich zur Gefahr und Bedrohung für all eben dieses stilisiert. Man könnte nun einwenden, dass wir es hier mit gesellschaftlichen Denkund Praxisformen zu tun haben, die gleichermaßen als konstitutive Merkmale der kapitalistischen Produktionswiese zu gelten haben und zudem in dem von Foucault beschriebenen Disziplinardispositiv enthalten seien. Dies ist sicherlich nicht falsch, trifft jedoch nicht das hier verfolgte Anliegen. Es geht weder darum den merkantilistischen Staat zum Urbild von Organisation noch der kapitalistischen Unternehmung zu machen. Es geht vielmehr um die Herausarbeitung der Bildungselemente von Organisation, ihrer je eignen Herkunft und Rationalität. Und es geht darum zu zeigen, wie sie als Teile verschiedener, auch emanzipativ intendierter, gesellschaftlicher Prozesse und als Gegenstand der Kritik zu 3
Beispiele sind: Die zeitliche und räumliche Einschließung der Individuen und ihre auf Kontrolle und Disziplin zielende räumliche Anordnung; die Ausbildung von Corps- und Teamgeist, etc. (s. auch Türk/Lemke/Bruch 2002)
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einem Konstrukt umgearbeitet werden, das ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt als Organisation bezeichnet wird. Verdeutlichen lässt sich dies an der sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entfaltenden Kritik an der herrschenden Regierungsweise (Kritik an der herrschenden Vorstellung der ökonomischen Funktionsprinzipien, Kritik des absolutistischen Staates, Kritik am Stände-Prinzip, etc.), die in unterschiedlicher Form an den Regierungsdiskurs der Polizey anknüpft. In jenem Zeitraum entsteht mit der Freimaurerei eine Bewegung, die wie die Polizeywissenschaft Regierung zu ihrem zentralen Thema macht. Bedeutsam ist diese Bewegung für die hier verfolgte Fragestellung, da sie nicht nur eine äußere Gestalt und eine interne Struktur entwickelt, die in weiten Teilen der Form von Organisationen entsprechen (vgl. Weishaupt 1786 u. 1790; Dülmen 1977; Kieser 1996 u. 1998), sondern hier wird ein Modell von Regierung entwickelt, das als kritisches Gegenmodell, als Gegenmacht zur Regierungsweise des absolutistischen Staates fungiert. Zwar bleibt dieses zunächst auf die abgegrenzten Räume der Logen beschränkt, seinem Anspruch nach aber gilt es als Modell von Regierung überhaupt. Erst mit der Bildung von Organisationen wird die Möglichkeit geschaffen, dass sich Organisation als Regierungswissen, als Wissen des Führens von Führung handlungspraktisch materialisieren kann. Dabei geht es, wie ich oben dargelegt habe, um den Zugriff auf die lebendigen Lebensäußerungen der Individuen. Dieser Zugriff erfolgt allerdings, und dies ist typisch für die bürgerliche Gesellschaft, in differenzierter und selektiver Art und Weise. Er ist auf die jeweiligen regulations- und verwertungsrelevanten Anteile der Individuen beschränkt. Dieser Strategie entspricht, dass Organisationen die Individuen stets nur partial und nicht total inkludieren, wobei sie auf die für die bürgerliche Gesellschaft zentrale Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit zurückgreifen. Erst die Partialinklusion, d. h. die Inklusion von Personen als Träger von Funktionen bzw. Rollen ermöglicht es, ein Herrschaftssystem zu etablieren, das kompatibel mit den bürgerlichen Gleichheits- und Freiheitsrechten ist. Organisationen ermöglichen es, die Subjekte bei Aufrechterhaltung ihres Status als formal gleiche Rechtssubjekte zugleich den jeweiligen organisationalen Ordnungs- und Disziplinregimen zu unterwerfen. Zeitgleich formiert sich eine Kritik, die die herrschende Regierungsweise aus der Perspektive der Ökonomie problematisiert. Sie führt über die Unterscheidung von Staat und Zivilgesellschaft zu einer spezifischen Technologie des Regierens, zu deren wesentlichen Bestandteilen das Konstrukt der Organisation gehört. Dieser Prozess lässt sich beispielhaft an einem der letzten Werke der Polizeywissenschaft verdeutlichen, das von dem Staatswissenschaftler Robert von Mohl (1844) im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verfasst wurde. Während bei
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Justi Regierung und Polizey noch als Instrumente gedacht werden, die die in der Gesellschaft vorhandenen Kräfte erst hervor und zur Anwendung bringen, besteht bei von Mohl die einzige Aufgabe der Polizey in der Beseitigung von Hindernissen, die sich negativ auf die Kraftausübung auswirken. Nicht der Staat ist es, der durch eine entsprechende Regierung die Kräfte hervorbringt, die in der Gesellschaft vorhanden sind, sondern die Gesellschaft selbst ist es, die ihre Kräfte nur unter Zuhilfenahme des Staates entfaltet. In diesem Zusammenhang taucht erstmals die Konstruktion der Einzelorganisation, hier noch in Form des Vereins, auf, die zwischen den Staat und die Individuen tritt und Funktionen übernehmen soll, die vormals dem Staat zugeschrieben wurden, nämlich solche Vorhaben zu übernehmen, welche die Möglichkeiten und Fähigkeiten der einzelnen Menschen übersteigen. Organisationen werden nun als Strukturelemente der Regierung der Gesellschaft gedacht. Mit Organisation als Regierungsdispositiv etabliert sich eine Regulationsweise der gesellschaftlichen KoOperationsbeziehungen, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: 1. Regierung wird als eine vom Staat und mit ihm von Fragen politischer Herrschaft losgelöste Form der Strukturierung sozialer Beziehungen gedacht. 2. Diese Depolitisierung findet ihre Entsprechung in der Entsubjektivierung von Ordnungsbildung. An die Stelle von Personen und Interessen tritt eine zweckgerichtete Rationalität, die 3. die Strukturierung sozialer Beziehungen nicht nur allein als einen rein sachund zweckorientierten Prozess ausgibt, sondern gerade diese Orientierung als Garant für Effektivität und Produktivität erscheinen lässt. 4. Der Bezug auf diese Rationalität von Ordnungsbildung ermöglicht es, ein Regime der Unterwerfung zu etablieren, das die geforderte Fremd- und Selbstdisziplin als Notwendigkeit vernunftgeleiteten Handelns ausgibt. 5. Die gesellschaftliche Ausbreitung und Verfestigung dieser Rationalität, die bis heute als ein zentrales Merkmal von Organisation gilt, geht auf eine doppelte Machtstrategie zurück, die im Feld gesellschaftlicher Gültigkeit bzw. Wahrheit operiert. Zum einen haben wir es mit einer Problematisierung der bisher gültigen Ordnung gesellschaftlicher Kooperationspraxen und zum anderen mit einer Veränderung der Ordnung des OrdnungsWissens selbst zu tun. Diese Veränderung macht sich in einer Rekonfiguration dessen geltend, was denkbar und nicht denkbar, was sagbar und nicht sagbar, was als machbar und als nicht machbar gedacht werden kann. Wir haben es hier, anders formuliert, mit einer Inklusions- und Exklusionspraxis in der Dimension des Wissens zu tun.
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Schluss Das Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie aus organisationssoziologischer Sicht besteht nicht darin, an die Stelle der zentralen Gegenstandsbereiche kritischer Theoriebildung den der Organisation zu setzen. Es geht aber auch nicht um die schlichte Hinzufügung eines weiteren Gegenstandsbereichs. Dies liefe mit größter Wahrscheinlichkeit wiederum nur auf eine Kritik von Einzelorganisation bzw. bestimmter einzelorganisationaler Praktiken hinaus, wie wir sie etwa in Gestalt der Kritik des Taylorismus oder anderer Managementpraxen kennen. Die hier vorgetragene Organisationskritik ist keine, die mit Versuchen der ‚Vernünftigung‘ von Organisation vereinbar ist. Zwar sind in der Entwicklung kritischer Theoriebildung bis heute die hier angesprochenen Probleme durchaus zum Thema gemacht worden, die sich in einer Reihe verschiedener theoretischer Weiterentwicklungen und Erweiterungen niedergeschlagen haben (Zu nennen sind hier etwa die strukturalistischen Arbeiten seit Althusser, die Arbeiten der Regulationstheorie, die kritisch-materialistische Staatstheorie Poulantzas, die theoretischen Erweiterungen durch die feministische Theoriebildung, die Reformulierung der Kapitaltheorie durch Bourdieu, etc.). Daneben müsste es jedoch vielmehr darum gehen, die zentralen Themen kritischer Gesellschaftstheorie (Staat, Kapitalverhältnis, Rassismus, Sexismus, Kulturindustrie) systematisch mit einer gesellschaftstheoretisch entfalteten Organisationskritik zu verbinden. Dabei stehen Auseinandersetzungen mit historischen Formen der praktischen und theoretischen Organisationskritik wie sie etwa innerhalb der Bewegung des Anarchismus und des Operaismus formuliert wurden, noch aus. Jenseits der Gemeinsamkeiten mit den genannten theoretischen Arbeiten ist mit dem hier vertretenen Theorieansatz allerdings die Infragestellung der Auffassung verbunden, dass das Kapitalverhältnis die Basisinstitution von Macht- und Herrschaftsausübung in der modernen bürgerlichen Gesellschaft bildet. Unsere hier skizzierten Arbeiten der historisch-empirischen Dekonstruktion von Organisation sind denn auch zugleich als ein Konstruktionsprozess zu verstehen, der es entgegen der Auffassungen auch innerhalb der herrschenden kritischen Theoriebildung, ermöglichen soll Organisation zum Gegenstand von Kritik zu machen. Einer Kritik, die nicht nur, wie Foucault es formulierte, darin besteht nicht in jener Art und Weise regiert zu werden, sondern auch darin nicht in jener Art und Weise zu regieren.
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Gesellschaftskörper und Organismuskonzepte. Überlegungen zur Bedeutung von Metaphern in der soziologischen Theorie Thomas Lemke
Vor dreißig Jahren haben Ernst-Wolfgang Böckenförde und Gerhard Dohrn-van Rossum in einem wegweisenden Lexikonartikel die Geschichte des Organisationsbegriffs rekonstruiert und seine Herkunft aus der Sprache der Naturbeschreibung dokumentiert.1 ‚Organisation‘ bildete zusammen mit ‚Organismus‘ und ‚Organ‘ zunächst ein gemeinsames semantisches Feld und bezeichnete Eigenschaften natürlicher Körper, bevor die Begriffe im 19. Jahrhundert zu eigenständigen politischen, juristischen und sozialwissenschaftlichen Termini wurden. Im Verlauf dieses Jahrhunderts – so Böckenförde und Dohrn-van Rossum – verliert sich zunehmend das Bewusstsein dieser modellhaften Übertragung aus dem Reich der Natur in die soziale Welt – auch wenn die früheren Bedeutungen immer wieder reaktualisiert werden (1978: 520 f.). In ähnlicher Weise zeigt Klaus Türks historisch informierte Organisationssoziologie, dass der Organisationsbegriff ältere Naturmetaphern und Organismusvorstellungen ‚synthetisiert‘ und zuvor gebrauchte Metaphern wie ‚Maschine‘ oder ‚Uhrwerk‘ ersetzt. Türk stellt in seiner Arbeit die holistischen Imaginationen und die herrschaftslegitimatorischen Funktionen der Körpermetaphorik heraus, die die Organisationsform und ihre Bedeutungsdimensionen bis heute entscheidend bestimmen (Türk 1995: 14, 153 f.; s. auch Türk/Lemke/Bruch 2002: 88-113). In meinem Beitrag möchte ich an diese Einsichten anknüpfen und sie verallgemeinern, um nach der systematischen Bedeutung von Metaphern, insbesondere der Organismusmetaphorik, für die soziologische Theoriebildung zu fragen. Den Bezugspunkt der folgenden Überlegungen bilden Arbeiten aus dem Projekt „Poetologie der Körperschaften“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, die im Spannungsfeld von Literatur- und Sozialwissenschaften angesiedelt sind. Sie stellen das Ergebnis eines interdisziplinären Experiments dar, das etablierte Grenzziehungen infrage stellt und der spezifischen Textualität soziologischer und sozialphilosophischer Theoriebildung Rechnung trägt. Für meine Fragestellung möchte ich mich vor allem auf Susan1
Ich danke Günther Ortmann für hilfreiche Anmerkungen und Hinweise.
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ne Lüdemanns Habilitationsschrift „Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären“ (2004) konzentrieren und ergänzend die von ihr gemeinsam mit Albrecht Koschorke, Thomas Frank und Ethel Matala de Mazza verfasste Studie „Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas“ (2007) heranziehen.2 Zunächst werde ich die Grundlinien der in diesen Arbeiten annoncierten „Kritik soziologischer Theoriebildung mit literaturwissenschaftlichen Mitteln“ (Lüdemann 2004: 9) genauer vorstellen. Eine zentrale Rolle spielen dabei Überlegungen von Hans Blumenberg zur Erkenntnis begründenden Bedeutung von Metaphern und der Begriff des gesellschaftlichen Imaginären von Cornelius Castoriadis. Im nächsten Teil sollen zwei Leitmetaphern genauer untersucht werden, die Lüdemann zufolge für die Sozialphilosophie und die Soziologie von entscheidender Bedeutung sind: die Metapher des sozialen Körpers einerseits und die des Gesellschaftsvertrags andererseits. Der dritte Abschnitt beleuchtet einige metapherntheoretische Ambivalenzen und Verkürzungen in Lüdemanns Analyse. Darüber hinaus sind auch Bedenken anzumelden gegen ihre enge und einseitige Interpretation der organologischen Metaphorik, deren Komplexität und Mehrdeutigkeit sie nicht hinreichend erfasst. Im vierten Teil werde ich argumentieren, dass es die von Lüdemann ins Feld geführte Dichotomie von Natürlichkeit und Künstlichkeit, von Organismus und Vertrag, zu destabilisieren gilt, statt sie affirmativ fortzusetzen. Dafür greife ich auf Intuitionen von Cornelius Castoriadis zur prinzipiellen Offenheit und ontologischen Unbestimmtheit des Gesellschaftlichen und auf Roberto Espositos Entwurf einer anderen Politik der Gemeinschaft zurück, die die vorherrschenden identitären Bestimmungen des Gemeinschaftlichen kritisch reflektiert. Der fünfte Teil diskutiert den zeitdiagnostischen Befund, dass aktuelle Gesellschaftsbeschreibungen die Metapher des Netzwerks anstelle der Körpermetaphorik verwenden. Am Ende steht ein Fazit, das Stärken und Schwächen der hier dargestellten theoretischen Perspektive kurz zusammenfasst. 1. Metaphern und das gesellschaftliche Imaginäre Die hier vorzustellende Forschungsperspektive geht von der These aus, dass keine Beschreibung der Gesellschaft ohne Metaphern auszukommen vermag.
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Für weitere Arbeiten aus diesem Arbeitszusammenhang vgl. etwa Frank et al. 2002 und Hebekus et al. 2003.
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Insofern führt jede Gesellschaftstheorie ihre eigene Ikonografie im Schlepptau. Oder genauer (da dieses Bild insofern irreführend ist, als es die den Beschreibungen vorausliegende Bedeutung von Metaphern unterschlägt): Es sind die Metaphern, die die Beschreibung der Gesellschaft in sozialphilosophischen und soziologischen Texten fundieren und strukturieren. Für Lüdemann – und hier folgt sie den Spuren Nietzsches1 – ist das Metaphorische unhintergehbar. Die Soziologie sei in grundsätzlicher Weise auf die Leistungen von sprachlichen Bildern angewiesen, ohne dass dieser Umstand in der soziologischen Theorie angemessen reflektiert würde (vgl. Lüdemann 2004: 24 f.). Soziologische Gesellschaftsbeschreibungen, so die Autorin, ignorieren regelmäßig die prinzipiell metaphorische Verfasstheit soziologischer Begriffsbildung und nehmen ihre Modellierungen meist für bare Münze. Sie explizierten weder ihre literarischen und rhetorischen Elemente noch wollten sie etwas von der Textualität ihrer Verfahren wissen; im Gegenteil betrachteten sie das Soziale oder die Gesellschaft häufig als eine immer schon vorhandene Wirklichkeit, die es nur auf den Begriff zu bringen gelte. Aus dem Blick gerate dabei die realitätskonstituierende Rolle soziologischer Analysen: „Sie arbeiten mit an der Produktion von sozialem Sinn und sind daher nicht einfach deskriptiv, sondern in hohem Maße präskriptiv oder performativ. Sie bringen Begriffe und Bilder der Gesellschaft in Umlauf, die für die sozialen Akteure handlungsleitend sind oder sein können, und zwar umso mehr, als das ‚Ganze‘ der Gesellschaft diesseits seiner darstellenden Vorstellung oder vorstellenden Darstellung im und als Text nicht zugänglich ist.“ (ebd.: 11, Hervorheb. im Orig.)2
Dieser wissenschaftliche Positivismus hat Lüdemann zufolge zwei einschneidende Konsequenzen für die Soziologie. Er verstelle zum einen die Einsicht in die prinzipielle Undarstellbarkeit der Gesellschaft und die unausweichliche Konstruktion und Kontingenz soziologischer Grundbegriffe; zum anderen verhindere er den produktiven und notwendigen Austausch mit Nachbardisziplinen wie der Literatur- oder der Medienwissenschaft. Nur eine interdisziplinäre Perspektive und die systematische Einbeziehung literaturwissenschaftlichen Wissens könne die Soziologie über ihre eigene Text-Praxis, über die Konstitution ihrer Gegenstände und Grundbegriffe aufklären und den Blick schärfen für die vielfältigen und mehr oder weniger versteckten Theorieimporte aus Disziplinen wie der Physik oder der Biologie, die die Soziologie seit ihren Anfängen geprägt haben. 1 2
Vgl. Nietzsche 1969. Die grundlegende Bedeutung von Metaphern ist freilich keine Spezialität der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, sondern lässt sich ebenso in den Biowissenschaften beobachten (vgl. Keller 1998; Gutmann/Weingarten 2001; Kay 2002).
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Lüdemann grenzt dieses selbstreflexiv-kritische Projekt von dem klassischen Vorhaben der Wissenssoziologie ab. Diese stellt zwar die Relativität aller Beobachtung in Rechnung, betont zugleich jedoch die prinzipielle Möglichkeit objektiver Erkenntnis, um Ideologien beobachten und bewerten zu können. Im Gegensatz dazu verfolgt Lüdemann die These, dass jede Beobachtung gesellschaftlicher Realität kontingent und selektiv bleiben muss, da sie ihre eigene Standortgebundenheit nicht mitreflektieren könne: „Die Bewertung einer bestimmten Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit als ideologisch (an ‚Ideen‘ ausgerichtet, die den gesellschaftlichen ‚Tatsachen‘ nicht mehr entsprechen) ... bleibt an eine andere Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit gebunden, die zwar mit Argumenten für sich werben, nicht aber Objektivität per se für sich beanspruchen kann.“ (ebd.: 12; Hervorheb. im Orig.)
Von zentraler Bedeutung für ihre Kritik am soziologischen Mainstream und ihre weitere Argumentation sind zum einen der Versuch Cornelius Castoriadis, ‚Gesellschaft als imaginäre Institution‘ zu begreifen und zum anderen Hans Blumenbergs Entwurf einer ‚Metaphorologie‘. Letztere schlägt eine Neufassung des Verhältnisses von Wissenschaft und Imagination, Begriff und Metapher vor. Führt im klassischen Selbstverständnis der Wissenschaft der Weg vom Mythos zum Logos, von der Metapher zum Begriff, kehrt Blumenberg die Rangfolge um, indem er sprachliche Bilder zu einer epistemologischen Grundbedingung, zur „Substruktur des Denkens“ (1998: 13) erhebt. In dieser Lesart sind Metaphern nicht sekundär und vorläufig gegenüber dem exakten Begriff, sondern sie schaffen erst die Möglichkeit, etwas zu erkennen. Erkenntnis besteht demnach nicht in einer passiven Vergegenständlichung der Dinge, sondern in einem aktiven Konstruktionsprozess, bei dem metaphorische Mittel unverzichtbar sind (vgl. Blumenberg 1998; 1971; s. auch 1997). Die Leistung von Castoriadis besteht darin, die produktiven und innovativen Aspekte gesellschaftlicher Einbildungskraft herauszustellen. Die Bedeutung des Imaginären sei nicht auf Illusionen oder Interessen zu beschränken; vielmehr schafft für Castoriadis das Imaginäre erst den Horizont, vor dem sich eine Gesellschaft repräsentiert und immer wieder neu entwirft. Es ist die Grundlage für die kreativen Dimensionen individuellen Handelns und schafft neue gesellschaftliche Regeln, Gegenstände und Formen. In dieser Perspektive reproduziert das Imaginäre nicht nur die bestehenden gesellschaftlichen Institutionen, sondern es ist darüber hinaus die Triebkraft zur Selbstveränderung und Neugestaltung der Gesellschaft (vgl. Castoriadis 1984).3 Kurz gesagt will Lüdemann im Anschluss an Intuitionen von Blu3
Castoriadis sucht sein Konzept des Imaginären vom Repräsentationsdenken und Widerspiegelungstheorien abzusetzen: „Das Imaginäre, von dem ich spreche, ist kein Bild von. Es ist unaufhörliche (und gesellschaftlich-geschichtlich und psychisch) wesentlich indeterminierte
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menberg und Castoriadis die genuine Leistung von Metaphern der Gesellschaft in der soziologischen Theoriebildung in den Blick nehmen. Ihr Ziel ist es, den traditionellen Dualismus von Imagination und Wissenschaft hinter sich zu lassen, um die Wirkungsweise des Imaginären in wissenschaftlichen Texten aufzuzeigen (vgl. Lüdemann 2004: 24). 2. Körper und Vertrag Im Mittelpunkt der Studie stehen zwei Leitmetaphern, die für die Sozialphilosophie und die Soziologie von großer Bedeutung waren und – so die Einschätzung der Autorin – immer noch sind.4 Beide entwerfen ein Bild für die Gesellschaft als Ganze und damit für die Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen: die Metapher des sozialen Körpers und die des Gesellschaftsvertrags, die Lüdemann als Metapher der Natürlichkeit bzw. der Künstlichkeit begreift. Beide Modelle lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Sie seien in der abendländischen Geschichte immer wieder aufgegriffen, modifiziert und variiert worden, hätten sich aber in ihrem substanziellen Kern bis in die Gegenwart erhalten (vgl. Lüdemann 2004: 26). Der größte Teil der Arbeit ist der Auseinandersetzung mit der Metapher des Körpers gewidmet. Lüdemann deutet das Bild des sozialen Organismus sowohl als Resultat der Selbstrepräsentation von Kollektiven als auch als Instrument, das Vorstellungen von Ganzheit stiftet und in der sozialen Welt verankert. Das Bild des Kollektivkörpers bezeichnet in der Regel ein hierarchisches Gesellschaftsmodell, das sich durch eine interne Gliederung, funktionale Arbeitsteilung und asymmetrische Partizipationschancen auszeichnet. Die organologische Metaphorik entwirft Gesellschaft als Naturzusammenhang, sie transportiert die Vorstellung einer unmittelbaren präsymbolischen (substanziellen) sozialen Einheit, die fundamentaler sei als alle Differenzierungen und Spaltungen der Gesellschaft. Ihre Geschichte beginnt bereits in der griechisch-römischen Antike. Erste Elemente einer politischen Anatomie des sozialen Körpers finden sich in den Gesellschaftsentwürfen von Platon und Aristoteles. 5 Die antike Vorstellung
4 5
Schöpfung von Gestalten/Formen/Bildern, die jeder Rede von ‚etwas‘ zugrunde liegen. Was wir ‚Realität‘ und ‚Rationalität‘ nennen, verdankt sich überhaupt erst ihnen.“ (1984: 12; Hervorheb. im Orig.) Vgl. dazu Abschnitt 5. Ein besonders anschauliches Beispiel für die politische und soziale Bedeutung der Körpermetaphorik liefert Titus Livius in seinem monumentalen Geschichtswerk „Ab urbe condita“. Livius beschreibt, wie im Jahr 494 vor Christus in Rom ein Bürgerkrieg droht. Die Plebejer wenden sich gegen die Patrizier und verlassen die Stadt, um auf den Heiligen Berg zu ziehen.
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eines Kollektivkörpers wird im Mittelalter christlich überformt und die Kirche als Leib Christi konzipiert. Die paulinische Theologie griff die antike Tradition auf, fasste nun aber den sozialen Körper als Körper eines Gottes, der zugleich das ‚Haupt‘ der Glaubensgemeinschaft bildet (vgl. Lüdemann 2004: 79-100; Koschorke et al. 2007: 55-102).6 Die Vorstellung des fleischgewordenen Gottes bestimmte später auch die Entwicklung des modernen Staates im christlichen Europa. Sie stellte ein Modell der Verkörperung zur Verfügung, das den symbolischen und den physischen Körper des Königs auf eigentümliche Weise miteinander verschränkte und die Legitimation souveräner Herrschaft entscheidend prägte. Auch nachdem die christologischen Bezüge in den Hintergrund traten, erlaubte es die doppelte Körperlichkeit des Königs, die politische Gemeinschaft und Integrität des Staates zu repräsentieren (vgl. Kantorowicz 1990; Koschorke et al. 2007: 103-218). Fand das Ancien Régime sein Einheitsprinzip im Körper des Königs, markierten die Französische Revolution und die Hinrichtung Ludwigs XVI. das Ende dieses Körperschaftsmodells alteuropäischer Prägung. Aber auch nach der Entsakralisierung und Zerstörung des königlichen Körpers blieb das staatstheoretische und verfassungspolitische Denken der Sphäre der Körperlichkeit verhaftet. Obwohl – oder gerade weil – die Einheit von Macht und Körper nicht mehr in traditioneller Weise existierte, verschwindet keineswegs der Bezug auf die Körpermetaphorik. Im Gegenteil: Nicht nur der Begriff des Organismus, auch ‚Organ‘, ‚Organisation‘ und ‚juristische Person‘ werden zu zentralen Begriffen in den politischen und (verfassungs-)rechtlichen Debatten des 19. Jahrhunderts (vgl. Böckenförde/Dohrn-van Rossum 1978; Koschorke et al. 2007: 219-382). Lüdemann interpretiert die in den politischen, rechtstheoretischen und sozialphilosophischen Texten entfaltete Metaphorik als Versuch, der nachrevolutionären und desinkorporierten Gesellschaft wieder einen Körper zu geben. Das Bild des Körpers wird nun vom König auf neue Adressaten über-
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In dieser Lage schickt der Senat Menenius Agrippa zu den aufständischen Plebejern. Dieser beschwichtigt das Volk mit einem Gleichnis. Wie der menschliche Körper durch den Streit der Glieder an den Rand völliger Entkräftung gelange und nur das Zusammenwirken aller Glieder seine Gesundheit garantiere, so sei auch der soziale Organismus nur lebensfähig, solange jeder Teil seine Aufgabe innerhalb des Körperganzen erfülle. Wer sich diesem funktionalen Zusammenhang zu entziehen suche, schädige nicht nur die anderen, sondern letztlich auch sich selbst (Koschorke et al. 2007: 15-54). Vgl. Römer 12, 4-5: „Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder denselben Dienst leisten, so sind wir, die vielen, ein Leib in Christus.“
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tragen: auf das Volk, den Staat oder die Gesellschaft. Allerdings geht im Zuge dieser „Übersetzung“7 auch eine entscheidende Dimension verloren: „Ist nämlich in der gleichzeitig juridischen und politisch-theologischen Fiktion von den zwei Körpern des Königs die Differenz von Realem und Symbolischem (natürlichem und politischem Körper des Königs) in die politische Repräsentation selbst eingeschrieben, so verschmilzt der politische Körper des Volks im 19. Jahrhundert zunehmend mit seinem vorgeblich biologischen Substrat. Unter der Ägide der Biologie als neuer Leitwissenschaft vollzieht sich ein Prozess der Entmetaphorisierung, der die symbolische Dimension des Politischen kassiert und in jener […] Situation mündet, wo politische Macht und bloßes Leben einander vermittlungslos gegenüberstehen.“ (2004: 203)
Diese Reflexion des Politischen im Biologischen führt schließlich zu einer Substanzialisierung des gesellschaftlichen Gefüges, dessen Gesetz zunehmend nicht mehr als kontingente, und auf einen Willen beziehbare juridische Norm erscheint, sondern als ewiges und unveränderbares Naturgesetz hypostasiert wird (ebd.).8 Dieser politisch-historische Kontext prägte auch die Entstehung der Soziologie als Fachdisziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die organische Metaphorik erlaubte es den frühen Soziologen zum einen, gesellschaftliche Ordnung als Naturzusammenhang vorzustellen und die Konflikthaftigkeit und Kontingenz sozialer Verhältnisse auszublenden; indem sie Gesellschaft als Naturordnung imaginierten, konnten sie zum anderen die Soziologie als positive Wissenschaft in Analogie zu den Naturwissenschaften begründen (2004: 123). Kurz gesagt ging es im Namen der Gesellschaft als eines „sozialen Organismus“ um die Zurückweisung sowohl des juridischen Modells des Gesellschaftsvertrages als auch um die Ablehnung der politischen Symbolik des Klassenkampfes (ebd.: 106; s. auch Ambros 1963; Donzelot 1994: 76-86). Zur Illustration ihrer These wählt Lüdemann zwei soziologische Schlüsseltexte aus dem Ende des 19. Jahrhunderts: Emile Durkheims „Über die Teilung der sozialen Arbeit“ (1893/1977) und Ferdinand Tönnies’ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887/1991). Durkheims Arbeit war wegweisend für die weitere soziologische Theoriebildung bis hin zu Parsons’ Strukturfunktionalismus und Luhmanns Systemtheorie. In Abgrenzung vom Vertrags-Paradigma entwickelte 7 8
Vgl. dazu die klassischen Überlegungen von Michel Callon zu einer „Soziologie der Übersetzung“ (vgl. Callon 2006) Vgl. dazu die klassische Formulierung bei Michel Foucault: „Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen. ... Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendiges Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.“ (1977: 170 f.)
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er ein Konzept von Gesellschaft mit Hilfe von Analogiebildungen, die er der Biologie entlehnte. Durkheims These einer ‚organischen Solidarität‘, welche die moderne Gesellschaft zusammenhalte, überträgt die Vorstellung eines in sich funktional differenzierten und arbeitsteilig organisierten Organismus auf das Soziale und erklärt damit Gesellschaft als Naturzusammenhang. Vertraut Durkheim auf zukünftigen Fortschritt und Höherentwicklung durch eine ‚organische‘ Gesellschaftsordnung, repräsentiert ‚Gesellschaft‘ für Tönnies umgekehrt den Niedergang und das Verfallsprodukt einer vergangenen ‚Gemeinschaft‘. Um die Kategorie der Gemeinschaft zu bestimmen, greift er auf die Organismusmetapher mit ihren Konnotationen von Substanz, Einheit und Identität zurück, während er Gesellschaft als ein mechanisches Artefakt verstanden wissen will. Tönnies kontrastiert die affektive Bindekraft einer als ursprünglich imaginierten Gemeinschaft mit den unpersönlichen und funktionalen Sozialbeziehungen der Gesellschaft: „Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares.“ (Tönnies 1991: 4) Lüdemanns Analyse zielt jedoch nicht darauf, die gewählte Metaphorik als falsch und unzutreffend zurückzuweisen; noch geht es ihr darum, den Gebrauch von Metaphern als unzureichend für eine begriffliche Durchdringung des Gegenstands zu entlarven. Vielmehr will sie die semantische Erzeugung von ‚Gesellschaft‘ aufzeigen und eine Perspektive infrage stellen, die vorgibt, ihren Gegenstand lediglich passiv zu beschreiben. Die Metapher bildet die Ähnlichkeit nicht ab, sondern stellt sie vielmehr erst her. Die organische Konzeption von Gesellschaft wird in dem Maße zu einer Eigenschaft des Realen, in dem sie gerade nicht mehr als Metapher wahrgenommen wird, sondern sie die Illusion der Buchstäblichkeit erzeugt (vgl. Lüdemann 2004: 40-46). Den Bildern des Kollektivkörpers stellt Lüdemann die Urszene des Gesellschaftsvertrags gegenüber. Wo Erstere einen Lebenszusammenhang konstatieren und natürliche Gesetzmäßigkeiten zu registrieren vorgeben, betonten Vertragstheoretiker den Prozess der aktiven Herstellung des sozialen Bandes, dessen künstliche Herkunft sich nie verleugnen lässt. Reklamiert die OrganismusMetapher die Autorität von unveränderlichen, jedem Gestaltungswillen entzogenen Naturgesetzen, stellt die Vertragsmetapher für Lüdemann die Arbitrarität und Konventionalität gesellschaftlicher Normen heraus. Sie sucht den Kern des Vertragsdenkens freizulegen, das die Kontingenz und Konflikthaftigkeit gesellschaftlichen Lebens artikuliere und soziale Bindungen als fragil und modifizierbar begreife. Als Kronzeugen für ihre These führt Lüdemann ausgerechnet den frühmodernen Philosophen Thomas Hobbes und dessen Konzeption des Gesellschaftsvertrages an (vgl. Hobbes 1984). Diese Wahl überrascht aus mehreren Gründen. Zunächst ist Hobbes – anders als Durkheim und Tönnies – kein Sozio-
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loge und sein Interesse gilt weniger der Konstitution des sozialen Bandes, sondern vor allem der Begründung politischer Souveränität. Aber Hobbes ist noch in anderer Hinsicht ein schlechter Gewährsmann für die von Lüdemann verfolgte theoretische Distanzierung von der organologischen Metaphorik, denn in seine Konstruktion des ‚Leviathan‘ ist ein kaum übersehbarer Körperbezug eingebaut. Schon das berühmte Frontispiz des Leviathan – die Darstellung des Souveräns, der sich aus Hunderten menschlicher Körper zusammensetzt – legt nahe, dass Hobbes’ Begründung des modernen Staates keineswegs ohne die organologische Semantik auszukommen vermag. Das Titelemblem illustriert nicht nur die abstrakte Vertragskonstruktion; vielmehr geht die Körpermetaphorik in den Konstitutionsprozess ein und ist diesem nicht äußerlich (vgl. Bredekamp 1999). Die von Hobbes eingeführte Personenlehre mit der Unterscheidung zwischen natürlichen und juristischen Personen und die von ihm vorgestellten Rechtsfiktionen und Repräsentationskonzepte erlauben erst die vertragliche Verbindung der Einzelkörper zu einem einheitlichen politischen Körper So verweist Hobbes etwa im Kapitel 17 des „Leviathan“ explizit auf die Grenzen des Vertragsmodells. Der Staat sei zwar keine Naturtatsache, sondern eine künstliche, von Menschen geschaffene Einrichtung, aber dennoch „mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: ... eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam.“ (Hobbes 1984: 134; s. auch Wahrig-Schmidt 1996; Steinmann 2005). Iris Därmann weist zu Recht darauf hin, dass dem „Vertrag und der rechtlichen Konstruktion des Leviathan gerade kein Primat zu[kommt]. Der Staat ist nicht das beherrschbare und formbare Werk, das in den Händen seiner Konstrukteure verbleibt, sondern entzieht sich ihnen nach getaner Arbeit als Werk, um in die gewaltsame Natur des Souveräns einzugehen.“ (2006: 89).9 Insofern bildet die Körpermetaphorik das Herzstück des hobbesschen Gesellschaftsvertrags.10 Im Folgenden soll jedoch die Frage, ob Lüdemanns Interpretation des Hobbesschen ‚Leviathan‘ angemessen ist bzw. ob sie als repräsentatives Beispiel für 9 10
Ferdinand Tönnies kennzeichnet den Staat bei Hobbes daher als „Kunstwerk und als Organismus“ (1971: 244-248). Die Verschränkung von Vertrags- und Körpermetaphorik ist freilich kein Charakteristikum, das allein die hobbessche Konstruktion des Leviathan prägt. Dies zeigt etwa ein Blick auf den Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau: „Alles Unwesentliche weggelassen, läßt sich der Gesellschaftsvertrag auf folgende Begrifffe zurückführen: Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft (puissance) der höchsten Leitung des Gemeinwillens (volonté générale), und wir empfangen als Körper jedes Glied als unzertrennlichen Teil des Ganzen. Im gleichen Augenblick entsteht aus dieser Vergesellschaftung, anstelle des einzelnen Vertragspartners, ein Moral- und Kollektivkörper, der aus so vielen Mitgliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat; aus diesem Akt hat er seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen.“ (Rousseau 1977: 74; Hervorheb. im Orig.; s. auch Meyer 1969: 135-147; Esposito 2004b: 162-166)
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die Tradition der Vertragsmetaphorik taugt, nicht weiter verfolgt werden. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht vielmehr ein grundsätzliches Problem, das die vorangegangenen Ausführungen aufgeworfen haben. Meine These ist, dass es die von Lüdemann ins Feld geführte Dichotomie von Natürlichkeit und Künstlichkeit, von Organismus und Vertrag, zu destabilisieren gilt, statt sie affirmativ fortzusetzen. Bevor ich diese These ausführlicher begründe, sollen im nächsten Teil zunächst einige metapherntheoretische Vereinseitigungen und Verkürzungen in Lüdemanns Argumentation kritisch beleuchtet werden. 3. Soziologische Analyse und Metapherntheorie Lüdemanns Analyse blendet eine Reihe von Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten der Organismusmetaphorik aus – und macht so erst die Präferenz für das Alternativmodell plausibel. Zunächst ist daran zu erinnern, dass Metaphern oft nicht nur in eine, sondern in beide Richtungen wirken (vgl. Black 1996).11 Daher dient nicht nur der individuelle Organismus als Bild für die Gesellschaft; umgekehrt prägen auch politische, militärische und soziale Konzepte Vorstellungen vom Organismus. So zeigen etwa die häufigen Verweise auf den Körper als ‚kleiner Staat‘ oder ‚Zellenstaat‘ eine koevolutionäre Dynamik von Übertragung und Rückübertragung, der den biologischen Organismus als Staat und den Staat als politischen Organismus interpretiert (vgl. Mann 1969; Montgomery 1991; Tanner 1998; Esposito 2004a: 179-189; Sarasin et al. 2007). Damit zusammen hängt ein zweites Problem: Lüdemann behandelt den Körper als eine stabile Referenz, deren Grundzüge sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Sie unterstellt einen isolierbaren und überzeitlichen Bedeutungskern, der bis in die Gegenwart unverändert bleibt. Statt von feststehenden Formen auszugehen, wäre es aber vermutlich angemessener, die ‚Flüssigkeit‘ der Metaphern zu untersuchen, deren Bedeutungen historisch differieren, ohne auf einen einheitlichen Referenten rückführbar zu sein. Das Bild vom Körper unterliegt selbst einem historischen Prozess, das Wissen vom Körper in der Antike ist kaum mit den heutigen Körperrepräsentationen vergleichbar. Es macht einen signifikanten Unterschied, ob der Körper als sterbliche Hülle, als sündiges Fleisch, als physiologische Maschine oder als informationelles Netzwerk imaginiert wird. Mit den Veränderungen des medizinischen und biologischen Wissens verändert sich auch das Bild vom Körper. Damit ist höchst zweifelhaft, ob der von Lüdemann vorausgesetzte überzeitliche ‚Kern‘ 11
Für einen Überblick und eine Bilanzierung der vorliegenden metapherntheoretischen Perspektiven vgl. Haverkamp 1996; 2007.
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der Organismusmetaphorik überhaupt existiert (vgl. Haraway 1995; Keller 1998). Drittens ist die semantische Analyse der Organismusmetaphorik bei Lüdemann eigentümlich verkürzt. Sie fokussiert einseitig auf die Repräsentationen von Identität, Ganzheit und Geschlossenheit, während sie den Konnotationen der Verletzlichkeit, Offenheit und Sterblichkeit des Organismus kaum Beachtung schenkt.12 Auf diese Weise kann die Bedeutung von Krankheit, Niedergang und Verfall für die Organismusmetaphorik nicht mehr erfasst werden. Anders als Lüdemann annimmt (vgl. 2004: 126), verleugnen oder verdrängen sozialphilosophische und soziologische Texte, die sich der Organismusmetaphorik bedienen, keineswegs soziale Spaltungen und Konflikte zugunsten eines harmonistischen oder holistischen Modells; vielmehr schreiben sie Differenz und Dissens in der Regel in den sozialen Organismus ein – allerdings in Form der inneren Bedrohung und Gefährdung einer vorab bestehenden Identität: als Pathologien und Ursachen für Niedergang und Tod (vgl. Thacker 2005; Braun 2007).13 Der vierte Kritikpunkt leitet über zu der bereits angekündigten grundsätzlichen Diskussion der beiden Ordnungsschemata. Lüdemanns Bezug auf die Organismusmetaphorik folgt einer negativen Logik der Abgrenzung und Distanzierung. In ihrer kritischen Lesart bleibt das Körpermodell immer einer Logik imaginärer Ganzheit und Einheit verpflichtet, die die Spaltungen des gesellschaftlichen Feldes verleugnet und die Kontingenzen sozialer Ordnung verdunkelt. Ich möchte nun zwei Fragen weiterverfolgen: Zum einen soll geklärt werden, ob Lüdemanns Präferenz für die Vertragsmetapher plausibel ist; zum anderen ist zu fragen, ob sich ein positiver Bezug auf die Organismusmetaphorik denken lässt, der sich von der Vorstellung einer vorab bestehenden ursprünglichen Ganzheit und Identität zu befreien vermag. Anders gefragt: Ist ein affirmativer Bezug auf den Körper jenseits biologistischer oder holistischer Gesellschaftsmodelle möglich und wie könnte er aussehen?
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Wie Gareth Morgan herausgestellt hat, steht die Organismusmetapher nicht nur für Einheit und Schließung, sondern auch für Offenheit und Umweltsensibilität (Morgan 2000: 51-106). Lüdemann zufolge wird das „politische Gemeinwesen, anders als der Organismus, permanent von seiner eigenen Spaltung und Teilung bedroht“. Wie Michael Pawlik in einer Rezension zurecht einwendet, lässt diese Argumentation jedoch die Verletzlichkeit aller Organismen außer acht und halbiert somit die organologische Metaphorik: „So wie der Vertrag den Naturzustand bannen soll, muss das Leben gegen die Drohung des Todes behaupten. Das Schreckensbild der Auflösung rumort im organologischen Denken nicht weniger heftig als in den Vertragstheorien.“ (2005)
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212 4. Kollektiver Körper und politische Gemeinschaft
Die Vertragsmetaphorik funktioniert in Lüdemanns Argumentation als Gegenbild zu Konzeptionen, die von einer vorab bestehenden, aus der Naturordnung begründeten gemeinschaftlichen Identität ausgehen; im Unterschied zu diesen betont das Vertragsmodell die Fragilität, Gemachtheit und Veränderbarkeit sozialer und politischer Ordnung. Zweifel an dieser abstrakten Gegenüberstellung finden sich ironischerweise bei einem zentralen Gewährsmann ihrer Arbeit. Cornelius Castoriadis unterscheidet in seinem Buch über das gesellschaftliche Imaginäre zwei Formen traditionellen Denkens, die beide gleichermaßen die Kontingenz gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse ausblenden, um die Ordnung der Gesellschaft entweder aus Naturgesetzlichkeiten oder aus Vernunftgründen abzuleiten. „In beiden Varianten ist die Identitäts- und Mengenlogik am Werk. Beidesmal wird die Gesellschaft als Menge wohlunterschiedener Elemente gedacht, die durch wohlbestimmte Relationen aufeinander bezogen sind.“ (Castoriadis 1984: 301) Unschwer lassen sich die Körper- und die Vertragsmetaphorik den beiden Registern zuordnen, die unterschiedliche Spielarten derselben Problematik darstellen. Wie Lüdemann selbst mit Blick auf Castoriadis feststellt, verdeckt der Streit zwischen Vertragskonzeption und Organismusmetapher eine tiefer liegende Gemeinsamkeit. Ob die Elemente oder Teile dem Ganzen vorausgehen, oder umgekehrt die gesellschaftliche Totalität die Konstitution der Teile erst ermöglicht, beide Vorstellungen stimmen in dem Ziel überein, „Gesellschaft überhaupt als zum determinierten Ganzen sich schließende Menge bzw. Hierarchie von Mengen (Klassen, Ständen, Geschlechtern usw.) zu denken“ (Lüdemann 2004: 48). Die ‚Familienähnlichkeit‘ der Vertragsmetaphorik und der Körpermetaphorik besteht also in ihrer Begründung einer gesellschaftlichen Totalität und Einheit, während es demgegenüber darum gehen müsste, die prinzipielle Offenheit und ontologische Unbestimmtheit von Gesellschaft herauszuarbeiten. Castoriadis zufolge entzieht sich das gesellschaftliche Sein dem identitätsund mengenlogischen Schema. Um ‚Gesellschaft‘ jenseits der traditionellen Ordnungs- und Begründungsangebote zu denken, führt Castoriadis selbst eine Metapher ein, die die notwendige Unbestimmtheit und das schöpferische Potenzial des Gesellschaftlichen erfassen soll: „Wir können das Gesellschaftliche als Koexistenz nicht mit den Mitteln der überkommenen Logik denken, das heißt: wir können es nicht als Einheit einer Mannigfaltigkeit (im üblichen Sinn dieser Ausdrücke), nicht als bestimmbare Menge bestimmter und wohlunterschiedener Elemente begreifen. Wir haben es vielmehr als Magma zu denken, als Magma von Magmen sogar – worunter ich nicht das Chaos verstehe, sondern eine nicht-mengenförmige Organisationsweise einer Mannigfaltigkeit, für die das Gesellschaftliche, das Imaginäre und das Unbewusste als Beispiel dienen können.“ (Lüdemann 1984: 310; Hervorheb. im Orig.)
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Magma ist ein geologischer Begriff, der die unterirdischen Ströme flüssiger Lava bezeichnet, die an der Erdoberfläche hart und starr werden. Castoriadis behauptet mit der Metapher des Magma eine ursprüngliche Schöpfungskraft, die eine unaufhörliche und wesentlich indeterminierte Schöpfung von gesellschaftlichen Formen und Bildern erlaubt (die dann verhärten und erstarren). Das flüssige Urgestein steht hier für eine sich stets erneuernde und niemals zu fixierende Energie, die Bedeutungsketten produziert, Institutionen hervorbringt und immer neue gesellschaftliche Handlungsformen und Denkweisen erfindet (vgl. ebd.: 559-609). Ähnliche theoriestrategische Funktionen erfüllt der Begriff der Multitude bei Hardt und Negri, die sie als heterogene und produktive Gesamtheit von Akteuren konzipieren, die sich weder auf eine übergeordnete Instanz oder eine zugrunde liegende Identität berufen. Die Multitude ist die „lebendige Alternative, die im Innern des Empire entsteht“ (Hardt/Negri 2004: 9) und verkörpert das Potenzial der Befreiung von Herrschaft und Ausbeutung. Sie fungiert als globale Gegenkraft zum Kapitalismus und zielt auf „einen neuen Gesellschaftskörper jenseits des Empire“ (Hardt/Negri 2002: 218; 2004). Der Begriff der KoOperation bei Klaus Türk bezeichnet ebenfalls eine nicht-organisationsförmige Assoziation, die im „tatsächlichen Lebensprozeß vergesellschafteter Subjekte“ (Türk 1995: 13) wurzelt und sich nicht auf grundlegende anthropologische Bestimmungen reduzieren lässt. Sie unterliegt der Organisationsform, ist ihr aber zugleich ontologisch vorausgesetzt. Beruht Organisation auf der Abstraktivierung und Subsumtion menschlicher Ko-Operation, erzeugt diese das Begehren nach rationalen, autonomen und egalitären Lebens- und Arbeitsformen, die die historischen Formen gesellschaftlicher Organisation transzendieren (vgl. Türk 1995).14 Diese exemplarischen Theorieentwürfe tragen dem Eigensinn und der Kontingenz gesellschaftlicher Praktiken Rechnung und zielen darauf, Formen der lebendigen Assoziation zu entwerfen, die sich den Alternativen einer dekorporierten und amorphen ‚Masse‘ auf der einen und eines wohlgeordneten und organisierten Gesellschaftskörper auf der anderen Seite entziehen. Gleichzeitig brechen sie auch mit der auf Tönnies zurückgehenden Tradition der polemischen Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft, indem sie Körperbild und Vertragsmodell als zwei konstitutive Momente einer gemeinsamen Problematik begreifen statt sie einander gegenüberzustellen.15 In diesem Sinn spricht Klaus 14 15
Zur Bedeutung der Metaphernanalyse für die Organisationsforschung vgl. Morgan 2000; Grant/Oswick 1996. Demgegenüber scheint Lüdemann mit ihrer Parteinahme für das Vertragsmodell das von Tönnies vorgeschlagene und von ihr selbst kritisierte Schema von Gemeinschaft und Gesellschaft, von ursprünglichem Naturzusammenhang und freiwilliger Assoziation letztlich weiterführen zu wollen – nur mit umgekehrtem normativen Vorzeichen.
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Türk von der „Doppelutopie der Moderne“ (Türk 1995: 14), in der naturwüchsig funktionierender Markt und planvoll gestaltete Organisation, automatische Optimierung und technologische Machbarkeit keine einander ausschließenden Gegenpole darstellen, sondern sie komplementär aufeinander verweisen und sich wechselseitig stabilisieren. Die problematische, weil abstrakt bleibende Gegenüberstellung von Vertragsmodell und Körpermetaphorik lässt freilich Lüdemanns Kritik an biologistischen und im schlechten Sinn holistischen Konzepten unberührt. Sie verweist zu recht auf die realitätskonstituierenden und -legitimierenden Effekte der Verwendung der Körpermetaphorik in soziologischen und politischen Texten. Offen bleibt jedoch, ob prinzipiell ein affirmativer Bezug auf den Körper in sozialphilosophischen und soziologischen Texten denkbar ist, der ohne naturalistische und essenzialistische Konnotationen auszukommen vermöchte. Einen aussichtsreichen Schritt in diese Richtung hat der italienische Philosoph Roberto Esposito in seinen letzten Büchern unternommen. Für Esposito besteht das zentrale Problem des westlichen politischen und sozialen Denkens in der Gleichsetzung von Gemeinsamen und Eigenem, wobei Gemeinschaft als eine ‚Eigenschaft‘ der in ihr zusammengeführten Subjekte oder als eine durch ihre Vereinigung erzeugte ‚Substanz‘ begriffen wird (vgl. Esposito 2004a: 8). Er grenzt sein Konzept der Gemeinschaft sowohl vom Vertrags- als auch von dem vorherrschenden Körpermodell ab: „[D]ie Gemeinschaft [kann] nicht als ein Körper, eine Korporation gedacht werden, worin die Individuen zu einem größeren Individuum verschmelzen. Ebensowenig kann sie als ein gegenseitiges intersubjektives ‚Erkennen‘ verstanden werden, worin sie sich zur Bestätigung ihrer anfänglichen Identität spiegeln. Als ein kollektives Band, das irgendwann auf den Plan trat, um vordem getrennte Individuen miteinander zu verbinden.“ (ebd.: 17)
Gegen diese identitären Konzeptionen des Gemeinschaftlichen erinnert Esposito an die etymologische Herkunft des Wortes communitas als cum munus. Munus steht für Bürde, Verpflichtung, Aufgabe und Amt. In dieser Lesart definiert sich Gemeinschaft (communitas) gerade nicht durch Eigenschaft, Eigentum oder Essenz; vielmehr realisiert sie sich als eine geteilte Verpflichtung und eine gemeinsame Aufgabe. Sie ist kein Besitz oder Territorium, das in der Vergangenheit erworben wurde und das es zu verteidigen gilt, sondern ein konstitutiver Mangel und ein zukünftiges Versprechen: etwas Auszufüllendes und ein Anliegen. Sie ist kein mit sich identisches oder authentisches Kollektiv, da eine identitätsstiftende Grundlage oder ein Authentizität verbürgendes Prinzip nicht existieren (vgl. Esposito 2004a: v.a. 11-16). Wie Robin Celikates herausstellt, anerkennt dieser Begriff der Gemeinschaft, „dass eine bestimmte Form der Entfrem-
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dung, der Entzweiung und des Konflikts für die Gemeinschaft konstitutiv ist – und sie nicht deren Gefährdung oder deren Anderes darstellt“ (Celikates 2008: 14). Die Gemeinschaft besteht insofern nur im Streit ums Gemeinsame (das es noch nicht gibt, das hergestellt werden muss), als Prozess und nicht als Substanz, als Projekt und nicht als Ausgangspunkt. Eine auf Identität und Zugehörigkeit gegründete Gemeinschaft wäre hingegen „das genaue Gegenteil der communitas“ (Esposito 2004b: 142; Hervorheb. im Orig.). Den Gegenbegriff zur communitas bildet bei Esposito die immunitas, die auf den Schutz und die Verteidigung der eigenen Identität zielt, die wechselseitige Offenheit untergräbt und den Kreislauf der Gaben und Aufgaben unterbricht. Immunität steht für Entlastung, die Abwesenheit von Pflichten, die Entbindung von Aufgaben, die Ausnahme von Schulden: „Immun ist, wer ... niemandem etwas schuldet: Ob es sich um ursprüngliche Autonomie oder um die nachträgliche Enthebung von einer zuvor eingegangenen Schuld handelt, ist dabei einerlei, denn dasjenige, was zur Bestimmung des Begriffs zählt, ist die Befreiung von der Verpflichtung des munus – mag dieses nun persönlich, steuerlich oder staatsbürgerlich sein.“ (Esposito 2004b: 12; Hervorheb. im Orig.)
Die Immunisierungstechniken definieren die Grenze zwischen Innen und Außen, Eigenem und Fremden; sie umfassen das individuelle Leben ebenso wie das gemeinschaftliche Zusammenleben und unterwerfen beide dem Prinzip der Bewahrung der Identität und der Abwehr von Bedrohungen (s. auch Lemke 2000a). Zwischen Gemeinschaft und Immunität besteht jedoch nicht ein einfacher Gegensatz bzw. ein Oppositionsverhältnis; vielmehr handelt es sich „um eine komplexere Dialektik, in welcher der eine Terminus den anderen nicht bloß negiert, sondern ihn unterschwellig als die eigene notwendige Voraussetzung impliziert“ (Esposito 2004b: 11). Die „Dialektik der Immunität“ (ebd.: 39) besteht darin, dass jede Gemeinschaft eine Tendenz der Bewahrung von Identität durch Regulierung der Zugehörigkeit ausbildet. Auf diese Weise wird die Gemeinschaft gegen das Andere, Fremde geschützt – also gegen eben das, was das Gemeinschaftliche begründet. Jede Politik für die Gemeinschaft ist daher nur als eine Politik gegen die Illusion einer Fundierung in einer vorgängigen Substanz und die Idee einer schon erreichten Identität zu denken. Espositos Konzept der Gemeinschaft setzt ein anderes Konzept des Körpers voraus, das ohne biologistische Konnotationen und holistische Authentizitätsvorstellungen auskommt. Es anerkennt die konstitutive Verwundbarkeit, Offenheit und Endlichkeit des individuellen und kollektiven Körpers als Grundlage der Gemeinschaft – statt sie als deren Gefährdung zu bekämpfen:
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„Damit kehrt die – bereits von Virchow und Nietzsche auf verschiedene Weise durchdeklinierte – Vorstellung vom Körper als dem Ort wieder, wo unterschiedliche und potentiell im Konflikt zueinander stehende Zellsegmente aufeinanderstoßen und sich aneinander messen. Es ist nie ursprünglich, abgeschlossen, vollständig – ein für alle Mal ‚fertig‘, sondern es bildet sich immerzu und von Mal zu Mal, je nach Situation und je nach den Kreuzungen, die seine Entwicklung beeinflussen. Seine Grenzen riegeln es nicht als geschlossene Welt ab, sondern sie bilden im Gegenteil einen Rand, der gewiß heikel und empfindlich ist, doch gleichwohl durchlässig für seine Verbindung mit dem, was es, obwohl es außerhalb liegt, von Anfang an durchquert und alteriert.“ (ebd.: 237 f.; 2008)16
Esposito weist darauf hin, dass die Körpermetaphorik nicht immer und in jedem Fall Vorstellungen von Einheit, Ganzheit und Geschlossenheit evoziert. Problematisch ist demnach nicht die Metapher selbst, sondern ihre „spezifisch immunitäre Färbung“ (ebd.: 170). Daher kommt es darauf an, wie der kollektive Körper imaginiert und das Verhältnis zwischen den Körpern artikuliert wird. Esposito zeigt, dass die Anerkennung der Verletzlichkeit und Endlichkeit des individuellen Körpers, seine permanente Angewiesenheit auf und der notwendige Austausch mit anderen Körpern durchaus das Modell für ein anderes Denken von Gesellschaft und Politik sein kann, das das Gemeinsame als Produkt einer kollektiven und konfliktuellen Anstrengung und nicht als Ausdruck einer jeder gesellschaftlichen Praxis immer schon vorgängigen Identität behandelt. 5. Vom Organismus zum System, vom Körper zum Netzwerk? Kommen wir nach diesen systematischen Überlegungen auf den gesellschaftsdiagnostischen Gehalt der hier untersuchten Analyseperspektive zu sprechen: Welchen Stellenwert besitzen holistische Vorstellungen des gesellschaftlichen Körpers in aktuellen Gesellschaftsbeschreibungen? Lüdemanns Antwort auf diese Frage fällt nicht ganz eindeutig aus. Sie geht zum einen davon aus, dass in der soziologischen Theorie organologische Konzepte (noch) eine prominente Rolle spielen. Zum anderen und gleichzeitig ist sie auch der Auffassung, dass ihre Vormachtstellung in der Beschreibung gesellschaftlicher Realität zunehmend schwindet.
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Vgl. Robin Celikates: „Der Körper ist nicht erst sei seiner Denaturalisierung durch die Biotechnologie ein prinzipiell offenes und verletzliches Gebilde ohne eindeutig festlegbare Grenzen. ... Folgen wir nun der Übertragung der Metaphorik des Körpers auf das Kollektiv, so gilt die Diagnose der Heterogenität und Unabschließbarkeit natürlich erst recht auf der Ebene der Gemeinschaften und ihrer Identitäten, die nicht mehr als kulturell, ethnisch, religiös etc. einheitlich imaginiert werden können.“ (2008: 6)
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Was den ersten Punkt angeht, so bleibt die Beweislage allerdings recht dünn. Als Beleg für die Fortdauer organologischer Bezüge in zeitgenössischen Gesellschaftstheorien führt sie ausschließlich die Systemtheorie in der Fassung von Niklas Luhmann an. Der Systembegriff sei der „unmittelbare Nachfolger des älteren Organismus-Begriffs“ (Lüdemann 2004: 18). Er sei zwar bei Luhmann als Differenzbegriff konzipiert, reontologisiere aber im Ergebnis Gesellschaft als das ‚umfassende Sozialsystem‘. Der Systembegriff führe Einheitssemantiken mit sich und operiere mit Vorstellungen gesellschaftlicher Totalität, die seine Verwendung als Differenzbegriff der Gesellschaft disqualifizierten: „Es ist die Beobachtung, die den Beobachter macht, und nicht umgekehrt.“ (ebd.: 18; Hervorheb. im Orig.; 124 f.; s. auch Koschorke et al. 2007: 386) Lüdemann weist hier zu Recht auf einige Ambivalenzen in Luhmanns Systembegriff hin, der gegen den eigenen Anspruch noch substanzialistische Konnotationen mit sich führt.17 Dennoch stellt sich die Frage, ob sich die Systemtheorie in der Luhmannschen Fassung so bruchlos in die klassische Traditionslinie der Organismusmetaphorik einsortieren lässt, wie sie annimmt. Aber selbst wenn man ihrer Argumentation in diesem Punkt folgte, bliebe noch zu klären, ob sich die zeitgenössische Soziologie insgesamt im Bannkreis der organologischen Metaphorik bewegt (s. auch Saar 2005). Eine genauere Bestimmung und Untersuchung der von Lüdemann diagnostizierten „uneingestandenen biologistischen und holistischen Konnotationen kurrenter Gesellschaftsmodelle“ (Lüdemann 2004: 19) wäre sicherlich angezeigt. Geht Lüdemann hier vom Fortwirken der Organismusmetaphorik in aktuellen Gesellschaftsbeschreibungen aus, kommt sie an anderer Stelle zu einer davon abweichenden Einschätzung. In dem gemeinsam mit Albrecht Koschorke, Thomas Frank und Ethel Matala de Mazza geschriebenen Buch über den „fiktiven Staat“ konstatieren die Autoren das tendenzielle Verschwinden der Körpermetaphorik zur Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse. Diese sei eng an die Entstehung moderner Staatlichkeit gekoppelt, deren Charakteristikum darin besteht, die territorialen Grenzen mit den ‚inneren Grenzen‘18 der Subjekte und
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Lüdemann stützt sich dabei nicht zuletzt auf die von Peter Fuchs in seinem Buch „Die Metapher des Systems“ vorgelegte Problembeschreibung und seine dekonstruktivistische Reformulierung der Systemtheorie: „Es wird keine krasse Fehleinschätzung sein, wenn man sagt, daß sehr viel von dem, was auf dem Markt der Systemtheorien gehandelt wird, seine Solidität, sein Attraktion ebendadurch gewinnt, daß in der Idee des Abzugs (dieser Differenz) ein Rest von Ontologie, von Substanzdenken überwintert.“ (2001: 24) Vgl. dazu Lüdemanns Hinweis auf Fichtes Reden an die Deutsche Nation: „Zuvörderst und vor allen Dingen: – Die ersten, ursprünglichen und wahrhaft natürlichen Grenzen der Staaten sind ohne Zweifel die inneren Grenzen.“ (Zit. nach Lüdemann 1999: 367)
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die individuellen Körperbilder mit dem imaginären Volkskörper zu verbinden.19 Heute neige sich die Epoche des Nationalstaates als oberster Instanz sozialer Integration dem Ende zu. Im Zeichen der Globalisierung entstehen – so Koschorke et al. – supranationale Gebilde und Organisationsformen, die neue Integrationswirkungen entfalten und nationalstaatliche Kompetenzen und Regulationsmuster teilweise außer Kraft setzen. Diese Gebilde griffen in ihren Selbstbeschreibungen kaum noch auf das herkömmliche körperschaftliche Vokabular zurück: „Sie fügen sich nicht mehr in eine Mythologie kompakter sozialer Körper, die sich letztlich der Mythologie des Staates dienstbar machen ließ. Sie sind nicht beständig genug und meist zu locker koordiniert, um sich als arbeitsteiliger Organismus, der jedem Glied seine feste Funktion zuweist ... ins Bild setzen zu lassen.“ (Koschorke et al. 2007: 384 f.) Zur Kennzeichnung dieser neuartigen Formen der Koordination politischer, militärischer, wirtschaftlicher und ideologischer Macht hat sich den Autoren zufolge die Metapher des Netzwerks durchgesetzt. Sie sei dabei, zum Leitbild eines zukünftigen post-korporatistischen Denkens aufzusteigen. „Im Gegensatz zu Körperschaften, die ihre Festigkeit aus der hierarchischen Einfügung aller Teile in das große Ganze beziehen, funktionieren Netzwerke als lose Strukturen, die sich mit großer Beweglichkeit bilden und ebenso wieder auflösen können; sie beharren nicht auf einem gemeinsamen kollektiven Wesen aller Beteiligten, sondern sind veränderlich und vielgestaltig; ... statt sich an einem Zentrum auszurichten, sei es ‚Magen‘, ‚Herz‘ oder ‚Haupt‘ umschrieben, operieren sie gleichermaßen heterarchisch und dezentriert. Entsprechend unempfindlich reagieren sie gewöhnlich auf Grenzverletzungen und auf die Bildung hybrider Kombinationen aus Elementen unterschiedlichster Herkunft und Natur.“ (ebd.: 385)
Die These vom Siegeszug des Netzwerkkonzepts präsentieren die Autoren allerdings mit einiger Vorsicht. Sie befürchten zu Recht, dass dieses Szenario der Ablösung der Körpermetaphorik durch die des Netzwerks „zu stark nach Art einer einheitlichen Evolutionsgeschichte gedacht“ sei (ebd.: 386). Sie betonen, es sich hier um Leitmetaphern handelt; in der Realität sei zu beobachten, dass beide Formen der Selbstrepräsentation und Organisation sich vielfach überlagern und sie Mischverhältnisse eingehen. Ebenso räumen Koschorke et al. ein, 19
Friedrich Balke hat unter Rückgriff auf Georg Simmel und Carl Schmitt auf die „Fiktionalisierungsfunktion des Raum-Denkens“ für die Herausbildung des Nationalstaats hingewiesen: „Die Funktion des vom Staat eingehegten Raums ist es, die Bevölkerung mit einem (imaginären) Körper auszustatten, der ihr erlaubt, sich als ‚Volk‘ zu erleben und als ‚Volk‘ zu handeln. Darin besteht der Vorgang der Nationalisierung. Wie der König nach Kantorowicz hat nämlich auch das Volk zwei Körper, einen dispersen (zusammengesetzt aus den empirischen Körpern der das Volk ‚tragenden‘ Bevölkerung eines historisch kontingent abgegrenzten Territoriums) und einen homogenen, der sich als Effekt der imaginären, fiktionalen Vereinheitlichungsfunktion des umhegten Raumes ... herstellt.“ (1992: 47)
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dass „rigide Formen der kollektiven Identitätsbildung, vor allem in Gestalt ethnisch fundierter Nationalismen, neben ‚postbiologischen‘ und sogar ‚postsozialen‘ Konzepten von institutioneller Koordination“ bestehen (ebd.: 386 f.). So hilfreich die von den Autoren gemachten Einschränkungen und Vorbehalte im Einzelnen sind, sie verdecken ein grundsätzliches Problem. Klärungsbedürftig ist weniger, wie sich der ‚Übergang‘ zwischen zwei Leitmetaphern begreifen lässt; in Frage steht vielmehr, ob es sich überhaupt um einen Prozess der Abfolge und ein Filiationsverhältnis handelt. Die Autoren verfolgen die These, dass die Netzwerkmetaphorik die Körpermetaphorik tendenziell ergänzt oder ablöst und sich beide Beschreibungs- und Darstellungsformen in der sozialen Realität (noch?) überlagern oder verschränken. Im Unterschied dazu ließe sich argumentieren, dass nicht die Körpermetaphorik als solche in den Hintergrund tritt, sondern vielmehr die Vorstellung eines abgeschlossenen, hierarchisch organisierten und mit sich identischen Körpers; an ihre Stelle tritt zunehmend die Idee eines fluiden, offenen, hybriden Körpers: die Konzeption des Körpers als Netzwerk.20 Wenn diese Einschätzung richtig ist, liegen verschiedene Körperbilder miteinander im Wettstreit – und die aktuellen ethnisch fundierten Formen des Nationalismus sind dann keine residualen Überbleibsel, die einer längst vergangenen Welt angehören, sondern vielmehr das Produkt einer neuen Konstellation – und eine Reaktion auf die Verletzung traditioneller politischer und biologischer Grenzen. 6. Fazit Die hier vor allem am Beispiel von Susanne Lüdemanns Arbeit dargestellte theoretische Perspektive weist ein großes kritisches und analytisches Potenzial auf. Sie verdeutlicht die zentrale Bedeutung von Gesellschaftsbildern in sozialphilosophischen und soziologischen Texten. Metaphern sind weder ärgerliche Hindernisse noch zweifelhafte Hilfsmittel auf dem Weg zu einem klaren Begriff der Gesellschaft, sondern ein notwendiges Organ des Denkens. Sie sind weniger
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Vgl. etwa die Einschätzung von Evelyn Fox Keller: „Im Gefolge der technologischen und begrifflichen Veränderungen, deren Zeuge wir in den letzten drei Jahrzehnten geworden sind, hat sich der Körper selbst unwiderruflich verändert, möglicherweise besonders im biologischen Diskurs. ... Der Körper der modernen Biologie ist, wie das DNA-Modell – und wie ein modernes politisches Gebilde und ein Unternehmen –, einfach zu einem weiteren Teil eines Informationsnetzwerks geworden, jetzt Maschine, dann Botschaft, immer bereit, das eine mit dem anderen zu vertauschen.“ (1998: 146 f.; s. auch Haraway 1995)
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zu vernachlässigenden Epiphänomene oder lässtiges Beiwerk als elementare Bestandteile und Bausteine soziologischer Theoriebildung. Die Bilder der Gesellschaft, die in der Soziologie zirkulieren, stellen daher keine Repräsentationen oder Widerspiegelungen gesellschaftlicher Realität dar; vielmehr kommt ihnen eine Realität sui generis zu. Es handelt sich um wissenschaftlich begründete Fiktionen, die performative Wirkungen entfalten (können). Es ist für die Verfasstheit gesellschaftlicher Institutionen von zentraler Bedeutung, welche Metaphern in welcher Weise entworfen werden. Notwendig ist daher, die Positivität der Metapher ernst zu nehmen, um die imaginäre und auf symbolische Vermittlungsprozesse angewiesene Institution der Gesellschaft zu erfassen. Dies hat Konsequenzen für das disziplinäre Selbstverständnis der Soziologie. Diese beobachtet oder beschreibt nicht einfach nur gesellschaftliche Realität, sondern ist an deren Herstellung aktiv beteiligt: „Die soziologische Wissenschaft ist also ... integrativer und produktiver Bestandteil des sozialen Imaginären. Sie produziert Imagines der Gesellschaft in Gestalt von Ordnungsmodellen, die im gesellschaftlichen Feld performative Kraft entfalten und so zur Selbstkonstitution der Gesellschaft beitragen.“ (Lüdemann 2004: 109; Hervorheb. im Orig.; s. auch Steinmann 2005) Die literaturwissenschaftlich angeleitete Analyse von Metaphern der Gesellschaft ist also ganz zweifellos ein wichtiger Beitrag zur soziologischen Aufklärung und zur Selbstaufklärung der Soziologie. Umgekehrt könnte jedoch auch die hier skizzierte Metaphernanalyse von soziologischen Wissensbeständen und methodischen Zugängen profitieren, um das Analyseinstrumentarium verfeinern und das Untersuchungsfeld verbreitern zu können. Eine soziologisch informierte Metaphernanalyse besitzt zwei wichtige Vorzüge gegenüber der von Lüdemann skizzierten theoretischen Perspektive. Erstens beschränkte sie sich nicht auf die Untersuchung von Imaginationen in wissenschaftlichen Texten. Metaphern finden sich nicht nur in Theorietexten und in der Wissenschaftssprache, sondern auch in der ‚Gebrauchssemantik‘: in Populärtexten, Regierungsakten, Presseartikeln, Tagebüchern, Polizeiberichten etc. Deren Analyse – und die Untersuchung der Formen ihrer Verknüpfung mit dem Wissenschaftsdiskurs – stellt eine wichtige Verbreiterung des Untersuchungsfeldes dar und ist von zentraler Bedeutung für eine Einschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung von Metaphern. Zum zweiten liegt der analytische Ertrag eines soziologischen Blicks auf die Genese, Zirkulation und Veränderung von Metaphern in einer Komplexivierung der Untersuchungsperspektive. Die vorgestellte literaturwissenschaftliche Analyse von Metaphern der Gesellschaft führt mit ihrer Fokussierung auf Imaginationen tendenziell zu einer Entmaterialisierung der Analyse. Die Gefahr besteht, dass die literaturwissenschaftliche Analyse von Metaphern diese von den Praxisformen isoliert, deren integralen
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Bestandteil sie bilden. Gerade weil der soziale Körper nur im Imaginären der Gesellschaftsmitglieder existiert, muss er sinnlich erfahren und in kulturellen Praktiken angeeignet werden; die Materialität dieser Routinen und Rituale sollte auch und gerade eine metaphernsensible Theorie des Sozialen in die Untersuchung einbeziehen können (vgl. Droese 2002; Lemke 2000b). In meinem Beitrag habe ich schließlich auch auf eine Reihe von Einseitigkeiten, Verkürzungen und Blindstellen in Lüdemanns Interpretation der Organismusmetaphorik aufmerksam gemacht und wichtige Bedenken gegen ihre Präferenz des Vertragsmodells – oder grundsätzlicher: gegen die theoretische Fortsetzung des Dualismus von Vertragsmetaphorik und korporalem Prinzip – vorgetragen. Ebenso wenig teile ich ihren diagnostischen Befund und die normative Überzeugung, dass das Organismusmodell aufgrund der ihm fest eingeschriebenen biologistischen und holistischen Konnotationen als überholt zu betrachten sei. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Körperrepräsentationen dramatisch verändert. Die Vorstellung eines hierarchisch und arbeitsteilig organisierten Körpers, der sich aus einfachen Bestandteilen mit festen Funktionen zusammensetzt, wird zunehmend überlagert von der Idee des Körpers als eines prinzipiell offenen, informationellen Netzwerks. Damit erhielten auch die Authentizitätsillusion und die Legitimationsfunktion, die auf der Vorstellung eines natürlichen Körpers jenseits technologischer Interventionen und kultureller Codierungen beruhten, deutliche Risse. In dieser Distanzbewegung liegen durchaus Chancen für ein anderes Denken des Sozialen, das Offenheit und Ortlosigkeit nicht als Bedrohung, sondern als Bedingung der Imagination eines gemeinsamen kollektiven Körpers vorstellt. Ob diese Vision ‚Hand und Fuß‘ besitzt, bleibt freilich abzuwarten. Literatur Ambros, D. (1963) Über Wesen und Form organischer Gesellschaftsauffassung. Soziale Welt. 1963; 14. Jg.:14-32 Anselm (Hrsg.) (1996) Theorie der Metapher. Darmstadt Balke, F. (1992) Die Figur des Fremden bei Carl Schmitt und Georg Simmel. Sociologica Internationalis. 1992; Vol. 30: 39-59 Belliger, A./Krieger, D. J. (Hrsg.) (2006) ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie. Bielefeld Black, M. (1996) Die Metapher. In: Haverkamp. Anselm (Hrsg.) (1996) 55-79 Blumenberg, H. (1997) Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, In: Blumenberg, H. (1997) 85-106 (zuerst 1979) Blumenberg, H. (1971) Beobachtungen zu Metaphern. Archiv für Begriffsgeschichte 1971, Vol. 15: 161-214 Blumenberg, H. (1997) Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main
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Zur Theorie der Unternehmung. Sozio-ökonomische Bausteine1 Günther Ortmann
1. Rationalität: Logik der Überbietung 1.1 Kontingenz: Der eine beste Weg und die Einzigartigkeit der Situation Kontingenz, so heißt es, sei das Signum der Moderne. Für Niklas Luhmann (1992: 94) ist sie gar ihr Midas-Gold. Andere haben sie willkommen geheißen: als Freiheit. Es wüchsen doch unsere Möglichkeiten, so-oder-auch-anders zu handeln. Mir selbst scheint die moderne Eskalation von Handlungskontingenz mit einer Eskalation von – technologischen, ökonomischen, systemischen – Notwendigkeiten, also: Unfreiheiten, einherzugehen, die sich mit der wachsenden Kontingenz zu einer höchst brisanten Mischung verbinden (Ortmann 2009). So oder so: Eine Theorie der Unternehmung, die auf der Höhe der Zeit sein soll, muss mit den Herausforderungen zurechtkommen, die sich stellen, wenn Situationen mehrdeutig, Informationen unsicher und Entscheidungen kontingent sind. Das versucht sie seit fast einem Jahrhundert, und zwar vor allem mit informationsökonomischen Anstrengungen. Harold Demsetz hat einmal (1993: 159) bemerkt, dass fast zweihundert Jahre lang, von der Geburtsstunde der modernen Ökonomik, von 1776 bis 1970, nur zwei Texte verfasst worden sind, die eine tiefgreifende Änderung der Sicht der Dinge in der Zunft bewirkt haben: Knights (1921) „Risk, Uncertainty, and
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Dieser Beitrag ist ein Extrakt unternehmungstheoretischer Überlegungen aus 35 Jahren. Das entschuldigt hoffentlich halbwegs den peinlichen Umfang des Textes. Er ist kompiliert aus nur leicht überarbeiteten Publikationen, nämlich: Ortmann (2009a: 31 ff.) für Abschnitt 1.1; (2003a: 138 ff.) für 1.2; (2009a: 132 ff.) für 1.3; (1995: 98 ff.) für 1.4; (2004: 211 ff.) für 1.5; Ortmann u. a. (1990: 50 ff.) für Abschnitt 2; Ortmann (2009b) für 3.1; (2009c) für 3.2; Ortmann, Zimmer (1986) für 3.3; Ortmann (2004: 50 ff.) für Abschnitt 4; (2003b: 185 ff.) für Abschnitt 5 und 6; (2003a: 247 ff.) für Abschnitt 7; schließlich (2009b) für Abschnitt 8. Man kann den Text nicht nur zu lang finden, sondern auch zu kurz, weil er nur Ausschnitte bietet. Für Ausführliches verweise ich auf die angegebenen Textstellen.
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Günther Ortmann
Profit“ und Coases (1937) „The Nature of the Firm“. Wenn man da etwas großzügiger ist und die Simon-Cyert-March-Connection hinzunimmt, dann drängt sich ein nur nachträglich nicht mehr überraschendes Resümee auf: Alle drei, bahnbrechend, wie sie auf ihre je besondere Weise waren, handeln von Informationsproblemen und Informationskosten und bereiten einerseits der Informationsökonomik,1 andererseits einer durchaus breiter und tiefer angelegten Reflexion auf den Zusammenhang von Effizienz und Wissen den Boden. Darauf komme ich noch zurück. Zunächst wähle ich einen anderen, entscheidungs- und organisationstheoretischen Ausgangspunkt: die Kontrastierung mit jenem traditionsreichen, zählebigen Gegenbegriff zur Kontingenz, der das scientific management und die Betriebswirtschaftslehre so lange dominiert und die Einsicht in die Kontingenz des Entscheidens so lange verstellt hat: die Figur des one best way. (Über-)Fülle der Möglichkeiten: Geöffnet wurde die Büchse der Pandora nicht von den Theoretikern der Kontingenz. Auf dem Felde von Organisation und Management hat vielmehr einer den systematischen Anfang gemacht, von dem der contingency approach sich gerade absetzen wollte: Frederick Winslow Taylor. Er war es, der angetreten ist, dem Diktat der Tradition, des durch mündliche Überlieferung überkommenen Könnens und Wissens, und der „wirre(n) Masse von Faustregeln und ererbten Kenntnissen“, wie es in den „Grundsätzen wissenschaftlicher Betriebsführung“ aus dem Jahre 1911 (deutsch 1913: 32 f) hieß, ein Ende zu machen: Alles ist anders möglich als bisher üblich. Der ‚one best way‘, den er an die Stelle des Üblichen setzen wollte, geriet dann so schnell in die Kritik, dass die meisten Kritiker darüber die initiale kontingenzeröffnende Geste Taylors, den Zweifel an der Notwendigkeit des bisher als geltend Etablierten, aus den Augen verloren.2 Allerdings bestand Taylors vollständige Geste in der Öffnung und Schließung der Büchse voller anderer Möglichkeiten, nicht zuletzt: Schließung für die Arbeitenden erfreulicher Möglichkeiten. Alles ist anders möglich, aber nun gilt es, den einen besten Weg zu wählen. Darin folgt ihm bis heute das Management in seiner unermüdlichen Suche nach best practices. Die Entdeckung der Kontingenz erzeugte dafür den Bedarf und bereitete den Boden für die Bedarfsdeckung: das Terrain für die Entdeckung oder – kontingente! – Behauptung immer neuer one best ways. Die Proponenten solcher best practices sind Parasiten der 1 2
Ein locus classicus: Stigler (1961); sodann: Alchian/Demsetz(1972). Vgl. aber Erich Gutenberg (1983: 146): „Dennoch aber kann niemand bestreiten, dass er der erste war, der den Vorgang beim Schaufeln wirklich sah ...“ Und ebenda: „... indem er seinen Scharfsinn und die Einseitigkeiten, die in seiner Natur lagen, auf Arbeitsverrichtungen konzentrierte, wie sie sich täglich vor den Augen von Millionen abspielen, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, ihr Studium zum Inhalt seines Lebens zu machen, revolutionierte er die moderne Fertigungstechnik.“
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Kontingenz. Sie gleichen Drogenhändlern darin, dass der Stoff, den sie im Angebot haben, den Bedarf nicht nur deckt, sondern auch stets neu erzeugt. An die allgemeingültige Bestimmung des einen besten Weges heftete sich die Kritik, und sie wurde geführt im Namen der Situation. Was ist der beste Weg? Well, it depends. Und wovon hängt es ab? Von der Situation. Daher der zweite Name der Kontingenztheorie: situativer Ansatz. Was aber heißt ‚Situation‘? „Der Begriff der Situation“, schreiben Alfred Kieser und Herbert Kubicek (1992: 205), „ist ein offenes Konzept, das wir in Abhängigkeit von unserer Fragestellung und unserem jeweiligen Wissen mit konkretem Inhalt füllen.“ Was der beste Weg ist, eben das möchten wir wissen. Es hängt von der Situation ab. Dann möchten wir wissen, was die Situation ist. Das – hängt von unserem Wissen ab. „Daher wäre es voreilig, die Situation endgültig durch eine bestimmte Anzahl von Dimensionen zu definieren.“ (ebd.) Man beachte, dass das große ‚Je nachdem‘ des situativen Ansatzes also von Anfang an eine durch diesen Zirkel nur mühsam verdeckte Leerstelle enthielt. Wovon es abhängt, was wie zu tun sei, das schien zunächst um so eher offen bleiben zu können, als das kontingenztheoretische Forschungsprogramm sich ja gerade anheischig machte, diese Leere zu füllen. Wenn das gelungen wäre, wenn es nicht, wie William Starbuck (1982: 3) nüchtern konstatiert hat, „null finding“ erbracht hätte, dann wäre den Kontingenztheoretikern die Vollendung der Geste Taylors gelungen: die Büchse der Pandora zu öffnen und sogleich wieder zu schließen. Alles ist anders möglich, und ‚es kommt darauf an‘, aber es gibt den einen besten Weg in situ – den auf spezifizierte Situationen zugeschnittenen, relativierten, aber eben dadurch restaurierten und so doch noch fixierbaren one best way. Die Unendlichkeit möglicher Situationen aber ist der ideale Nährboden für die Kultivierung immer neuer bester Wege. Sie verschafft dem Praktiker ein unerschöpfliches Reservoir an Möglichkeiten, jene Schließungen zu verheißen – und dem Kontingenztheoretiker ein unerschöpfliches Feld der Forschung. Über der Kritik an der situativen Restauration des one best way gerät fast schon in Vergessenheit, dass die Entdeckung der Situation – situativer, kontextueller Umstände – als Inbegriff der bedingenden Faktoren der Organisation einen bedeutenden Fortschritt gegenüber dem Scientific Management darstellte. Allerdings hatte Mary Parker Follett, auch darin zu wenig beachtet3, schon früh ein ‚law of situation‘ postuliert. In einer für ihre Zeit – 1925! – erstaunlichen Lesart dessen, was es heißt, Befehle zu geben, kommt sie zu dem Ergebnis: „One person should not give orders to another person, but both should agree to take their orders from the situation.“ (Follett in Metcalf, Urwick 1940: 59; letzte 3
Vgl. aber jetzt Althans (2007).
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Hervorh. G. O.) Wenn sie „the reciprocal relating of all the factors in a situation“ als Problem und Herausforderung jedweder Koordination benennt, ist sie erstaunlich modern, dicht an systemtheoretischen und ‚relationistischen‘ Fassungen des Problems: „This sort of reciprocal relating, this interpenetration of every part by every other part, and again by every other part as it has permeated by all, should be the goal of all attempts at co-ordination.“ (ebd.: 299) Auch nimmt sie in entscheidenden Passagen den scheinbaren Objektivismus der „authority of the situation“ (ebd.: 59) durch die Einsichten zurück, dass es darauf ankommt „[t]o find the significant rather than the dramatic features“ (ebd.: 40) der Situation; dass dabei Symbolisches, Sprache und also Interpretation ins Spiel kommen (ebd.: 41 f); und dass wir auf die gleichen Worte und Situationen nicht mechanisch reagieren, sondern antworten, und zwar sehr unterschiedlich. Response ist an dieser Stelle ihr zentraler Begriff (s. bes. 43 ff., 52 f), und zwar näherhin, bemerkenswert genug, „circular as well as linear response“ (ebd.: 44) – eine klare und unmissverständliche Vorwegnahme dessen, was seit Parsons ‚doppelte Kontingenz‘ heißt. Das sieht man an ihrer Erläuterung am Beispiel des Tennis: „A serves. The way B returns the ball depends partly on the way it was served to him. A’s next play will depend on his own original serve plus the return of B, and so on and so on. We see this in discussion. We see this in most activity between one and another.” (ebd.: 44) Die Offenheit und Zirkularität, die damit eigentlich schon etabliert war, wurde im Kontingenzansatz durch eine einseitige und lineare Inanspruchnahme einer Facette des Bedeutungsspektrums von ‚Kontingenz‘ geschlossen. „Contingent“ wurde, wie erwähnt, nicht mit „[auch anders] möglich“ übersetzt, sondern mit „bedingt durch“ („contingent upon“) – bedingt eben durch die so zu Prominenz gelangten situativen Faktoren. Das stellte die Weichen in Richtung auf einen situativen Determinismus, den weder Joan Woodward noch Tom Burns noch die anderen geistigen Ahnen des Ansatzes im Sinn gehabt hatten. Dass ‚Kontingenz‘ zwischen ‚Möglichkeit‘ und ‚Bedingtheit‘ changiert, erlaubte eine merkwürdige, kaum vermerkte Verkehrung der Denkfigur. Aus Nichtnotwendigkeit wurde Notwendigkeit – Determination durch die Situation, ein Rückschritt, weil der contingency approach auf diese Weise hinter die ihrerseits kontingenzeröffnende Idee der bounded rationality Herbert Simons zurückfiel, die ja ebenfalls als Kritik des Taylorismus aufgetreten war.
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1.2 Bounded rationality; Paradoxien des Entscheidens Seit den bahnbrechenden Arbeiten des Nobelpreisträgers Herbert A. Simon (vor allem: 1947) ist den Organisationstheoretikern und Ökonomen der Gedanke geläufig, daß wir Menschen uns schwertun, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Wir wissen nicht genug, unsere Informationsverarbeitungskapazität ist begrenzt, und unsere Präferenzen sind instabil und inkonsistent. Man mag sich zu diesen individuellen Beschränkungen der Rationalität Macht- und Interessenkonflikte, die Komplexität und Unübersichtlichkeit der modernen Welt, die zunehmende Länge von Handlungsketten, die „Verriegelung der Welt“ (Ortmann 1997: 41 ff.) in Pfadabhängigkeiten, lock-ins und systemischen Zwängen und die beträchtliche Blindheit gesellschaftlicher Teilsysteme füreinander und für den Gesamtzusammenhang hinzudenken, um eine Ahnung von der Unwahrscheinlichkeit vernünftiger Entscheidung zu gewinnen. Simons Idee aber lässt sich weitaus radikaler denken und ist, vor und nach Administrative Behavior, zu dem Denkmotiv der Unentscheidbarkeit zugespitzt worden. Dabei sind die Akzente etwas anders gesetzt worden als von Simon. Nicht die bounded rationality des einzelnen und nicht der verwickelte und verriegelte Zustand der Welt, sondern das inhaltliche und zeitliche Verhältnis von Regeln und ihrer Anwendung stehen im Zentrum der Überlegungen. Vernünftige Entscheidungen erfordern Kriterien, also: Regeln, die aber immer in Ansehung der Situation (an)gewendet werden müssen. Das aber ist immer so-undauch-anders-möglich – kontingent. Entscheiden müssen wir uns gerade dann, wenn wir es mit Begründungslücken und Kontingenz (also weder mit Unmöglichkeit noch mit Notwendigkeit) zu tun haben; wenn wir, mit anderen Worten, uns mit guten, zwingenden Gründen gerade nicht entscheiden können4. Im deutschsprachigen Raum war es – nach Hermann Lübbe5 – vor allem Niklas Luhmann, der das Problem gesehen und den Gedanken ausgearbeitet hat, 4
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Man beachte: Paradox ist also nicht die Idee der Entscheidung, sondern nur die Idee zwingender Begründung der Entscheidung, und sei es eines „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“. Einige der folgenden Passagen sind, geringfügig modifiziert, entnommen aus Ortmann (2001: 281-284). Dort wird die Rolle von Emotionen beim Umgang mit den Paradoxien des Entscheidens behandelt. Lübbes scharfe Sicht der Dinge steht im Kontext des Versuchs einer Rehabilitation des Entscheidungsbegriffs nach dessen Desavouierung durch Carl Schmitt. Der Begriff sei kompromittiert, gleichwohl brauchbar und unentbehrlich. Und sein Kern sei: „Eine Entscheidung ist fällig, wenn es angesichts alternativer Möglichkeiten zu handeln gilt, ohne daß ‚entscheidende‘ Gründe für die eine Möglichkeit gegen die andere oder umgekehrt vorhanden sind oder zu beschaffen wären“ (Lübbe 1971: 17). Wo wir (Ortmann u. a. 1990) die Metapher von der „Kluft der Kontingenz“ gewählt haben, da spricht Lübbe, auch der Sache nach nahezu übereinstimmend, vom „Abgrund des Mangels an festlegenden Gründen fürs Handeln“ (Lübbe 1971: 20). Von ferne klingt Kierkegaards (und Luhmanns) Angst vor den Schrecken der Über-
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dass „Unentscheidbarkeiten ... zugleich die Voraussetzung für die Möglichkeit des Entscheidens“ sind (Luhmann 2000: 111). In den Worten Heinz von Foersters (1992: 14): „Only those questions that are in principle undecidable, we can decide.“ Ich muss mich hier kurz fassen und merke daher nur an, dass bei beiden Denkern die Begründung lautet: Wenn es perfekte Begründungsbrücken über die „Kluft der Kontingenz“ (Ortmann u. a. 1990: 376) gibt, handelt es sich nicht um Entscheidung, die diesen Namen verdient, sondern um eine Rechenoperation. Das hat auch Jacques Derrida so gesehen6, der dieses Denkmotiv der „Heimsuchung durch das Unentscheidbare“ (Derrida 1991: 49) mit den beiden teilt. Zwar ist er mit der Frage von Recht und Gerechtigkeit, also rechtlichen Entscheidungen befasst, aber es ändert sich nichts am Problem und wir brauchen nichts an der Formulierung zu ändern, wenn es um Rationalität und betriebswirtschaftliche Entscheidungen geht: „Das Unentscheidbare ist nicht einfach das Schwanken oder die Spannung zwischen zwei Entscheidungen, es ist die Erfahrung dessen, was dem Berechenbaren, der Regel nicht zugeordnet werden kann, weil es ihnen fremd ist und ihnen gegenüber ungleichartig bleibt, was dennoch aber – dies ist eine Pflicht – der unmöglichen Entscheidung sich ausliefern und das Recht und die Regel berücksichtigen muß. Eine Entscheidung, die sich nicht der Prüfung des Unentscheidbaren unterziehen würde, wäre keine freie Entscheidung, sie wäre eine programmierbare Anwendung oder ein berechenbares Vorgehen.“ (Derrida 1991: 49 f)
Die Paradoxien des Entscheidens7 erweisen sich als späte Abkömmlinge des Platonischen Suchparadox. Zu diesen Paradoxien zähle ich es, dass, wie gerade von Ökonomen gesehen und gesagt worden ist, Präferenzen, Ziele und Präferenzordnungen nicht etwa vor und unabhängig von der Entscheidung existieren, sondern erst durch diese Entscheidung etabliert werden. Kein Geringerer als James Buchanan (1979: 111) hat darauf aufmerksam gemacht: „Nicht einmal Individuen haben wohldefinierte und wohlformulierte Ziele, die unabhängig von den Entscheidungen selbst existieren.“ Auch für Buchanan übrigens folgt, wie für von Foerster und Derrida, gerade aus dem unlösbaren Zusammenhang von
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fülle an Möglichkeiten an, am Ende: die alte konservative Angst vor dem Chaos, die Schmitts Denken beherrscht hat. Zu Lübbes, Schmitts und Panajotis Kondylis’ Dezisionismus vgl. auch Bolsinger (1998); für eine pragmatische Version des Dezisionismus Greven (2000). Und, im Anschluss an Derrida, Ernesto Laclau (1993), der das Politische als Ensemble von Entscheidungen bestimmt, die auf einem Terrain des Unentscheidbaren getroffen werden; dazu und zu einer „Politik der Entparadoxierung“ Stähelis sehr bedenkenswerten Versuch, Luhmann mit Derrida und Laclau zu lesen: Stäheli (2000, hier 226 ff.). Dazu, mit Blick auf Managemententscheidungen, auch Neuberger (2000); Littmann und Jansen (2000) führen vor, wie schnell das Denken in Paradoxien zur nächsten ManagementMode werden kann. „Oszillodox“ heißt ihr Buch – und handelt von Oszillationen in Paradoxien des Managements.
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Entscheidung und Unsicherheit – „Wählen setzt für seine ureigene Bedeutung die Anwesenheit von Ungewißheit voraus“ (Buchanan 1979: 109) – die Verantwortlichkeit für die Konsequenzen der Entscheidung. Das unterscheidet diese Denker vom Dezisionismus. Noch präziser ist die Formulierung von Steedman und Krause (1986: 226), die von Präferenzordnungen sagen, „es gibt vorab keine allgemeine Ordnung R, vielmehr etablieren die Entscheidungen, zumindest zum Teil, welches R ex post genommen werden kann, um die Entscheidung als Resultat einer Maximierungsübung zu beschreiben. Ex ante aber existiert diese Ordnung R nicht, und der Entscheidungsprozess kann nicht angemessen als passiv beschränkte Optimierung beschrieben werden, die gegebene Randbedingungen und eine objektive Funktion umfaßt.“ (Krause 1986: 226)
Dann aber haben wir es mit dem Problem zu tun, wie Menschen sich trotz allfälliger Begründungslücken und -zirkel – und gar: rational – entscheiden. Eine dem angemessene Entscheidungstheorie dürfte, das sei nur en passant notiert, nicht hinter die luziden Erläuterungen des „Problems der Kür“ bzw. des „Wählens zwischen Handlungsentwürfen“ bei Schütz (1971: 77 ff.; 1974: 88 ff.) zurückfallen. Sie könnte an die Bergson-Husserl-Schütz’sche Idee anschließen, dass wir Entscheidungen meist gar nicht fällen, sondern dass sie fallen, dass am Ende eines Entscheidungsprozesses „die freie Handlung sich von ihm (dem Subjekt der Entscheidung) ablöst gleich einer überreifen Frucht“ (Schütz 1974: 90). Ich sehe starke Parallelen zwischen dieser Idee und Reinhard Seltens decision emergence view (vgl. Selten o. J.: 1990). Selten spricht, in ähnlicher Metaphorik, vom Reifen und vom Aufquellen einer Entscheidung. Das alles ist vom orthodoxen Entscheidungsmodell weit entfernt, und es lässt den nötigen Raum, der nachträglichen Vollendung der Konstitution von Entscheidungskriterien – nachträglich im Verhältnis zum orthodoxen Entscheidungsmodell, das „erst die Kriterien und dann die Entscheidung“ postuliert – Rechnung zu tragen. Halten wir also abschließend fest, dass zu den Paradoxien des Entscheidens also jene merkwürdige Nachträglichkeit8 zählt, mit der Präferenzen, Regeln und Normen, diese vermeintlich immer schon fertigen Wegweiser unseres Handelns, erst in situ vollends konstituiert werden.
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Zur Figur einer konstitutiven Nachträglichkeit mit Blick auf Kommunikation vgl. jetzt auch Stäheli (2000: 214 ff.); vgl. ferner Karl Weicks Konzept des „retrospective sensemaking“ (Weick 1995: 24 ff.), das auf Alfred Schütz zurückgeht; instruktiv zu beidem Leifer und Rajah (2000) mit Überlegungen zur strategischen Ambiguität vorsichtiger Akteure, die wissen, dass die Bedeutung ihrer an andere adressierten Handlungen einer nachträglichen Konstitution durch die Reaktion dieser anderen unterliegt.
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232 1.3 Wahrscheinlichkeit, genuine Unsicherheit, Zögern, Zuversicht, entrepreneurship
Wenn man, wie üblich, mit Frank Knight (1921) Ungewissheit als Terminus für Situationen reserviert, denen, anders als Risikosituationen, Wahrscheinlichkeiten nicht zugeordnet werden können, dann ist das eine erste Annäherung an das, was ich hier als genuine Unsicherheit einkreisen möchte. So hat Helmut Wiesenthal Situationen charakterisiert, in denen unbekannt ist, was überhaupt erwartet werden kann – zuordbare Wahrscheinlichkeiten können daher gar nicht zur Debatte stehen. Auch Herbert Simons Konzept beschränkter Rationalität enthält die Möglichkeit fehlender Information über Wahrscheinlichkeiten. „Aber auch dann, wenn Wahrscheinlichkeitswerte für mögliche Ereignisse vorliegen, ist Handlungsunsicherheit nicht ohne weiteres reduziert. Ein wahrscheinliches Ereignis mag lange auf sich warten lassen [wie Lottospieler und Systemwetter klagen]. Ein besonders unwahrscheinliches Ereignis mag schon morgen und nicht erst in 1000 Jahren eintreten [wie Experten für Reaktor-‚sicherheit‘ suggerieren möchten]. Als vergangenheitsbezogene Häufigkeitsverteilungen können Wahrscheinlichkeitswerte weder eine Prognose für dynamische Umwelten stützen, noch taugen sie zur Orientierung bei einmaligen [‚non-divisible‘ und ‚non-seriable‘] Ereignissen – als welche u. a. ökonomische Entscheidungen gelten.“ (Wiesenthal 1990: 23, Fn. 34)
Von dem aus der Forschung über Entscheidungs‚anomalien‘ bekannten Schwierigkeiten der Menschen, Wahrscheinlichkeiten angemessen zu berücksichtigen (vgl. Shiller 1999), ganz zu schweigen. Wenn die ökonomische Orthodoxie noch stets ein Bild gezeichnet hat, das nach Art einer Fischaugen-Optik in seiner Mitte, riesenhaft vergrößert, als alles beherrschendes Motiv Entscheidungen unter Sicherheit oder Risiko zeigt, also mit sicheren Erwartungen oder wenigstens bekannten Wahrscheinlichkeiten, so stellt sich außerhalb der Modellwelten der Ökonomen eher ein Gegenbild ein. Hinreichende Sicherheit, hinreichend bekannte Wahrscheinlichkeit gibt es nur an dessen Rändern – in der Logistik etwa, in der Versicherungswirtschaft, innerhalb des Bank- und in vielen Fällen des Massengeschäfts kann man manchmal davon profitieren, überall dort, wo es genügt, mit der Annahme des durchschnittlichen Akteurs zu operieren (Khalil 1997: 154). In der Mitte des Bildes aber fallen Entscheidungen unter genuiner Unsicherheit ins Auge und werfen Fragen über Fragen auf. Übrigens dominieren solche Entscheidungen das Bild noch stärker, wenn man die seit Knight gepflegte Gewohnheit aufgibt, kompakte Situationen mit dem Etikett entweder ‚Risiko‘ oder ‚Unsicherheit‘ zu versehen. Dann sieht man nämlich, dass diese Charakterisierungen sich meist nur auf einzelne Aspekte oder Dimensionen von Situationen beziehen lassen, während die komplette, komplexe Situation es an sich hat, facettenreich zu sein, mit Fa-
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cetten des Risikos einschließlich zuordbarer Wahrscheinlichkeiten und solchen der Unsicherheit. Auch solche gemischten Situationen aber sind in summa kontaminiert von genuiner Unsicherheit. Und Wiesenthals Argument zeigt darüber hinaus, dass Akteure von einer untilgbaren Restproblematik an Unsicherheit auch dort noch geplagt sind, wo Wahrscheinlichkeiten bekannt sind, weil aus Wahrscheinlichkeiten Entscheidungen nicht etwa ableitbar sind. (Die Debatte um die Kernkraft etwa wäre nicht zu Ende, wenn die Wahrscheinlichkeitsrechnungen unstrittig wären.) Ich möchte hier, jenseits der vielen in der Literatur breit diskutierten Einwände wider die Ausblendung genuiner Unsicherheit durch die Standardökonomik9, eine noch andere Argumentation von Elias Khalil zugunsten einer
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Knights Punkt war: Angesichts der Einzigartigkeit besonderer Ereignisse fehlt es an zuordbaren Wahrscheinlichkeiten. Wiesenthal also betont darüber hinaus das Ungenügen von Wahrscheinlichkeiten für die Begründung von Entscheidungen. Simon stellt auf begrenzte Rationalität ab, die Literatur zur path dependency auf die Indeterminiertheit pfadabhängiger Resultate. Vielfach wird auch mit doppelter Kontingenz und rekursiver Erwartungsbildung (Erwartungserwartungen) argumentiert, wie etwa in Keynes’ Theorie der Finanzspekulationen. Auch rat race economics und die Jagd nach positionalen Gütern implizieren eine Unsicherheit, die zwar theoretisch (so Khalil 1997: 154), selten jedoch in praxi abgestellt oder in Wahrscheinlichkeitsverteilungen gebracht werden kann. Verschärfte Kontingenz kommt auch dadurch ins Spiel, dass Umweltzustände von eben jenem Handeln abhängen, das die passende Antwort auf die Umweltentwicklung sein soll. Khalils gleich zu erörternder Punkt unterscheidet sich von alledem darin, dass er nicht auf exogene Umstände, sondern auf eine dem Akteur immanente Unsicherheit bezüglich seiner eigenen Fähigkeiten abstellt. Ein weiteres Argument, das auch Khalil (1997: 149) nur kurz erwähnt, möchte ich noch besonders herausstellen. Amartya Sen (1982) hat gezeigt, dass Entscheidungen nicht nur und nicht immer die Präferenzen eines Akteurs erkennen lassen, sondern (auch) sein moralisches Commitment. Eine ähnliche Unsicherheit aber, wie Khalil – siehe unten – sie mit Blick auf die eigene Fähigkeit postuliert, müssen Akteure erst recht mit Blick auf die eigenen moralischen Fähigkeiten und die moralische Frage haben, was sie dem/den Anderen zumuten können, und zwar sowohl angesichts (unsicherer) eigener Skrupel oder Skrupellosigkeit als auch angesichts der (unsicheren) „Nehmer-Qualitäten“ dieser Anderen und Zumutbarkeiten für sie. Auf diese moralische Dimension komme ich unten, in Abschnitt 8, unter dem Titel „Reziprozität“ zurück. Bemerkenswert ist, dass die präskriptive Entscheidungslogik der betriebswirtschaftlichen Lehrbücher zwar Entscheidung unter Unsicherheit zu behandeln pflegt, aber selbst dort mit einer ganzen Menge sicherer Kenntnisse des Entscheiders operiert. Er kennt immerhin: eine komplette Ergebnismatrix, also die möglichen Umweltzustände, die infolge der Wahl seiner (ihm ebenfalls bekannten!) Handlungsalternativen eintreten können, wenn er auch nicht weiß, mit welcher Wahrscheinlichkeit; er kennt – zumindest im Sinne impliziten Wissens – seine Sicherheitspräferenz; seine Höhenpräferenz (etwa ‚je höher, desto besser‘); zugehörige Entscheidungsregeln wie Minimax, Maximax, Minimax, Pessimismus-Optimismus-Regel, LaplaceRegel, Savage-Niehans-Regel. Das ist eine, gemessen an der Praxis des Entscheidens, recht stattliche Liste an sicheren Kenntnissen. Es macht aus Entscheidungen eine Rechenaufgabe.
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unabstellbaren Unsicherheit aufgreifen10. Sie berücksichtigt Dimensionen des Entscheidens unter Unsicherheit, die in der ökonomischen Literatur weithin vernachlässigt werden: Angst, Zögern, Unentschiedenheit, Zuversicht und vor allem eine Unsicherheit, die nicht von außen kommt, von exogenen Umständen, Ereignissen, Prozessen und Handlungen anderer, sondern dem Akteur selbst innewohnt: Unsicherheit über die eigenen Fähigkeiten, genauer: über die eigene self-ability. Gemeint sind damit nicht etwa feststellbare befähigende Eigenschaften wie skills, Qualifikationen, Fachkompetenz, Ausbildungsniveau, sondern die Fähigkeit, sich der Herausforderung einer Aufgabe gewachsen zu zeigen. Mit dieser Fähigkeit hat es, so läuft Khalils Argument, eine eigentümliche Bewandtnis: Sie ist nicht als Eigenschaft eines Akteurs ex ante gegeben, sondern stellt sich heraus oder nicht, und selbst ex post kann ihre Einschätzung nicht falsifiziert werden, weil die Fähigkeit sich inzwischen entwickelt hat. Dem Praxistest macht dies zu schaffen: „ability is a function of the testing of ability.“ (Khalil 1997: 152) Ob etwa ein Ziel, das man sich gesetzt hat, genau an der Grenze der Fähigkeit eines Akteurs lag oder darunter oder darüber, lässt sich ex post nicht bestätigen, denn: „One cannot repeat the test because the subject of the test, ability, would have mutated. Similar to chasing a moving target, as the agent attempts to repeat the past, selfability develops because of the attempt.“ (ebd.) Man geht wohl nicht fehl, wenn man eine große Nähe dieses Könnens zu der seit Edith Penrose (1959/95) und dann besonders im resource-based view und im competence-based view des strategischen Managements mit großer Aufmerksamkeit bedachten (Meta-?) Kompetenz von Unternehmen konstatiert, ihre Ressourcen (einschließlich angebbarer skills etc.) geschickt zu nutzen. Khalil (1997: 153) zieht in einem Literaturhinweis selbst diese Parallele zu Penrose und definiert: „Self-ability is the prowness of organization of human capital“. Individuelle und auch korporative Akteure müssen ihr ‚Organisationskapital‘, wie Khalil diese self-ability in beiden Fällen nennt, zu kohärenter Fokussierung auf die jeweiligen Aufgaben nutzen. Dass dabei eine unaufhebbare Unsicherheit à la Khalil bleibt, ist bisher, soweit ich sehe, im Diskurs über die strategische Bedeutung von Ressourcen und Kompetenzen der Unternehmen nicht berücksichtigt worden. Ich meine, in Khalils uncertainty ferner ein theoretisches Echo der Ignoranz (und der ignorance of ignorance) sensu Hirschman zu hören (den Khalil allerdings kaum je erwähnt). Man könnte geradezu sagen: Hirschmans hiding hand schützt uns, aber nur, wenn wir von etwas getragen sind, das Khalil ‚faith‘ nennt, eine Zuversicht, ein Zutrauen zu den eigenen Kräften – während ansons10
Den Hinweis darauf verdanke ich den Arbeiten von Küpper, Felsch (2000) und Felsch (2005), die daran in theoretischen Überlegungen zur Organisationsdynamik anknüpfen.
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ten Unsicherheit, Angst, Unentschiedenheit und resultierendes Zögern auf Dauer Selbstverachtung, Depression, Sucht und Zwanghaftigkeit nach sich ziehen. Damit erklärt Khalil Konzepte für relevant, die uns in der Soziologie der Emotionen von Randall Collins wiederbegegnen (s. auch Collins 1993; dazu Ortmann 2009: 189 ff.). Seine Überlegung führt Khalil zu einem emphatischen Begriff des entrepreneurship, der sich am besten verstehen lässt, wenn man ihn in seiner Opposition zum Zauderer sieht. Zu basaler Unsicherheit in Bezug auf die eigene Fähigkeit könne man sich, so Khalil, auf zwei Weisen verhalten (die natürlich empirisch in allen möglichen Graden und Mischungen auftreten): aktiv oder passiv, handelnd oder nicht handelnd, wagend oder zögernd. Wer den Wettbewerb mit sich selbst sucht, „intemporal competition between future and past selves stemming from the desire of the present self to test self-ability“ (Khalil 1997: 147), den wird jene Unsicherheit zu unternehmerischem Handeln in diesem emphatischen Sinne veranlassen. Der wird die Gelegenheit beim Schopfe greifen, der Angst zu entkommen, indem er die Probe aufs Exempel macht – indem er das Wagnis eingeht, seine Fähigkeit auf die Probe zu stellen und sie entweder bestätigt zu finden (‚self-realization‘) oder zu verändern und zu erweitern (‚self-transmutation‘) – oder, versteht sich, Enttäuschung über das eigene Ungenügen zu erleben. Das ist, alles in allem, das Porträt des Menschen als unternehmerisches Individuum – Abweichungen von diesem Bild erscheinen bei Khalil allzu schnell im Modus der Defizienz. Zögern zum Beispiel kommt bei ihm eigentlich nur als von Angst bestimmter (verhängnisvoller) Versuch vor, Enttäuschungen über die eigenen Fähigkeiten zu vermeiden – Hamlet, Ophelia oder Catherine aus Emily Brontёs Wuthering Heights gelten ihm als die abschreckenden Beispiele für das, was dem Zögernden blüht: Selbstverachtung, Depression, Verrücktheit, Tod. Abweichende Begriffe des Unternehmertums – etwa Kirzners Bestimmung des entrepreneurs als Ausbeuter unbemerkter Gelegenheiten – weist Khalil (1997: 157 f) glatt zurück, weil es ihm um ‚creative entrepreneurship‘ geht. Das ist ein legitimes Interesse, aber es verführt Khalil zu einer Herabsetzung jedweden Zögerns, jedweder Unentschiedenheit und zu einer nachgerade existenzialistischen Feier unternehmerischer Entschlossenheit und Kreativität, die angesichts des Zustandes der Welt, angesichts entfesselter Kontingenz und systemischer Blockaden, doch ein wenig nach dem Pfeifen im Walde klingt. Ganz abgesehen davon, dass auch die Wahrnehmung von Gelegenheiten à la Kirzner ein kreativer Akt ist, so dass uns diese Art der begrifflichen Bestimmung in schwierigste Abgrenzungsfragen und Debatten um einen angemessenen Begriff von Kreativi-
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tät triebe11. Wenn man die Zeitdiagnosen vom Verschwinden der Unternehmung, ihrem bald nurmehr fiktiven Kern und ihrer marionettengleichen Abhängigkeit von den Finanzmärkten auch nur als ernsthafte Möglichkeit anerkennt, sieht man ja sofort die Gefahr, dass Khalils kreativer entrepreneur zu einer obsoleten Gestalt oder jedenfalls einer Randfigur dieser Geschichte zu werden droht. Auf den Finanzmärkten spielen sie ja eher Statistenrollen. Die Hauptrollen dürften mit Kirzners Opportunitätenausbeutern besetzt sein. Denen kann man, wie Khalil, den Ehrentitel des entrepreneurs verweigern – darüber aber könnte sich die Geschichte womöglich einfach hinwegsetzen. Nach alledem muss man eines zugeben: Wenn – und insofern, als – man dadurch motiviert ist, kann man wegen der von Khalil herausgearbeiteten Unsicherheit keiner instrumentellen Rationalität folgen. Man kann insoweit nicht optimieren. Man kann nur, in Khalils Terminologie, einer achievement rationality folgen, einer Vernunft des Sich-Erprobens, des Vollbringens und der Bewährung, die nicht mit gegebenen Endzuständen operieren und daher nicht auf Optimierung aus sein kann, die vielmehr den Wert des Handelns in der Selbstbewährung, in selfrealization und self-transmutation erblickt. ‚To make the future excel the past‘, ‚to outperform the past self‘, ‚surpassing of past challenging performances‘, ‚competing with oneself‘: wie sehr darin eine allgemeinmenschliche Logik der Überbietung und nicht doch eher eine besondere Kultur des Kapitalismus, der Moderne und Hypermoderne zur Geltung kommt, lasse ich einmal dahingestellt12. Festhalten aber lässt sich: Ausgerechnet für unternehmerisches Handeln in dem emphatischen Sinne Khalils ist Optimierung keine Option.
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Kirzners ‚alertness‘ wird nicht jedem, und sicher nicht Khalil, als Fall eines ‚creative entrepreneurship‘ einleuchten. Wer aber, wie Khalil, einem derart emphatischen Unternehmerbegriff anhängt, muß sich ferner fragen lassen, wie er es, um es an diesem Beispiel zu erläutern, mit der routinisierten Suche der Pharma-Industrie nach neuen Wirkstoffrezepturen hält. Da werden in weitgehend automatisiertem screening bis zu zwei Millionen verschiedene Stoffe mit sogennanten Target-Molekülen (zum Beispiel Enzyme oder Rezeptoren für Botenstoffe) in Kontakt gebracht, um zu sehen, ob sie da erwünschte Wirkungen (und keine unerwünschten Nebenwirkungen) entfalten. Von 5000 bis 10 000 Wirkstoffen, die nach einem solchen screening hergestellt und näher analysiert werden, schaffen es cirka fünf bis zur Erprobung am Menschen, und von diesen fünf nur einer zum Echteinsatz in der Therapie. Ist das nun ‚creative entrepreneurship‘? vgl. den Abschnitt 1.5 „Maximizing, satisficing, Überbietung“.
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1.4 Produktivität, Wirtschaftlichkeit, Rentabilität Wie einfach sieht das aus: „Produktivität = Ergebnis (Ertrag) der Faktoreneinsatzmengen“ Faktoreneinsatzmengen (Guternberg 1958: 29) oder Produktivität = Output Input Sofort jedoch stellen sich die bekannten Fragen ein: Was ist Input? Nehmen wir: Arbeitsstunden. Aber die Arbeitsstunde voller geisttötendem Stress bei herkömmlicher Massenproduktion ist eine ganz andere als die voller kreativer Spannung bei lean production – sagen uns jedenfalls die Autoren der MITStudie über schlanke Produktion (Womack u.a. 1992: 106). Ist intensivere Arbeit pro Stunde mehr ‚Input‘ als die weniger intensive? Man sieht: Das kommt auf den Blickwinkel an. Und was ist Output? Das Produktionsergebnis, gewiss. Aber Atomasche ist leider das Ergebnis der Produktion von Atomstrom. Gemeint ist also wohl: das gewünschte Produktionsergebnis, das, was Gutenberg ‚Ertrag‘ nennt? Aber von wem gewünscht? Wieder läuft es auf den Blickwinkel hinaus. Der Unternehmer wird die erzeugten Kilowattstunden meinen und die Beseitigung des Atommülls zum Faktoreinsatz zählen müssen – wenn er, wenn er ihn beseitigen muss. Noch lieber wird er die Beseitigung ‚externalisieren‘, also anderen aufhalsen. Und da Atommüll schlechterdings nicht zu beseitigen ist, bleibt es beim Aufhalsen, sofern er Atomstrom produziert, und ‚die anderen‘, das sind bekanntlich auch die nachfolgenden Generationen. Darin stecken allerdings schon eine ganze Reihe impliziter Prämissen: Es existiert ein Unternehmer, der definiert, was das gewünschte Produktionsergebnis ist. Dann allerdings scheint die Produktivitätsfrage doch noch einfach zu werden. Wir können sagen: Input ist alles, was etwas kostet, Output alles, was Geld einbringt, und da beim mengenmäßigen Input und Output ohnehin stört, dass man verschiedene Einsatzfaktoren und verschiedene Produkte (‚Apfel und Birnen‘) nicht addieren und nicht vergleichen kann, können wir gleich sagen: Nehmen wir die mit Preisen multiplizierten Out- und Inputs. Deren Verhältnis kann man Wirtschaftlichkeit nennen: Wirtschaftlichkeit =
Output x Preis je Outputeinheit (= Leistung) Input x Preis je Inputeinheit (= Kosten)
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Natürlich fragt sich sofort, mit welchem Preis hier Input und Output zu multiplizieren sind. Das ist ein Problem: das betriebswirtschaftliche Bewertungsproblem, das sofort ins Auge fällt, wenn man an galoppierende De- oder Inflation oder – ein im Falle der Automobilproduktion heute sehr wichtiger Effekt – an wechselnde EURO-, Dollar- und Yen-Kurse (oder auch an die Krise der Finanzmärkte ab 2007 mit ihren Auswirkungen auf den Automobilabsatz) denkt. Deshalb kommt man für viele Vergleichsrechnungen ohne den Rückgriff auf Produktionskennziffern – wie Mannstunden pro Auto –, also auf Faktoreneinsatz- und Ausbringungsmengen statt -werten, nicht aus: zur Bereinigung von Preiseffekten. Auch wenn man mit Mengen- statt mit Wertgrößen operiert, bleibt es aber bei einer prinzipiellen Abhängigkeit der Produktivitätsbestimmung vom Markt. Denn was nichts kostet, wie die Sonne und die Luft, das wird bekanntlich nicht zu den Inputmengen, und was nicht – am Markt – Geld bringt, wie Abfall, nicht zu den Outputmengen gezählt werden. Den Mühen der Betriebswirtschaftslehre um die ‚Isolierung der Betriebsleistung‘ von Preis- und Markteinflüssen, so unverzichtbar sie sind, haftet daher immer etwas Illusionäres an. Zwar legen Produktivitätsberechnungen und die praktische Inanspruchnahme von Ressourcen als Produktionsfaktoren, als Input, resp. als Produkte, Output, Schnitte in die Welt, die jede Rede von ‚der‘ Produktivität wegen ihrer institutionellen Voraussetzungen und ihrer externen – externalisierten – Kosten willkürlich erscheinen lassen. Gleichwohl folgt all das einer verbindlichen, rekonstruierbaren einzelwirtschaftlichen Logik (der es allerdings in erster Linie nicht um Produktivität, sondern um Profitabilität geht). Aus einzelwirtschaftlicher Sicht nämlich können bestimmte Marktverhältnisse, bestimmte institutionelle Gegebenheiten für bestimmte Zeitpunkte und -räume einigermaßen gut vorausgesetzt werden, ergo auch: bestimmte Chancen der Externalisierung von Kosten. Innerhalb dieses Rahmens, der letztlich von den institutionellen Umständen und den Zwecken der Rechnung definiert wird, machen daher Produktivitätsberechnungen und -vergleiche durchaus Sinn, auch Vergleiche mit – etwa japanischen – Konkurrenten, sofern dabei nur mit genügend Berechtigung von diesen ‚Rahmenbedingungen‘ abgesehen werden kann, sei es, weil sie ähnlich, sei es, weil sie in ihren Effekten für die Zwecke der Vergleichsrechnung vernachlässigbar sind. Die Eignung der Produktivität oder des Wirtschaftlichkeitsprinzips als Ausgangspunkt, als Ursprung für die Erklärung des Verhaltens von Unternehmen, wird aber durch etwas anderes unterminiert, dadurch nämlich, dass dieses Prinzip nicht nur dieses, ein ‚Erstes‘, sondern auch ein ‚Letztes‘, nicht nur UrSprung, sondern auch Endpunkt, rekursiv hervorgebrachtes Resultat sozialen Handelns ist.
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Es ist eine leere, das heißt: eine erst noch zu füllende, zu ergänzende Formel. Ihre Spezifikation erfolgt durch die interpretativen, normativen, politischen und ökonomischen Schließungen organisationaler Praxis. Neil Fligstein (1990: 295 ff.) hat diesen Gesichtspunkt in einem Kapitel mit dem Titel „The Social Construction of Efficiency“ für eine Umkehrung der üblichen Geschichte vom Markt und seinen Effizienzgeboten fruchtbar gemacht: „Instead of markets calling forth efficient forms of social organization, political and social interactions produced the structuring of sociologically efficient markets. ... In other words, the forms of social organization produced the market, not reverse. The central mistake made in traditional accounts of the history of the large corporation is that by reading history backwards economic historians have known how things turned out and thereby were able to impute what kind of social institutions must have been called forth by efficient markets.“ (Fligstein 1990: 300)
Für Fligstein (ebd.: 303), der mit seinem „not reverse“ der Rekursivität der Verhältnisse immer noch nicht ganz gerecht wird, kann es daher keinen „absolute standard of efficiency“ geben. „In my opinion managers must construct views about what constitutes efficient action that are historically determined“ (ebd.), und damit ist zum Beispiel gemeint: Was Effizienz konkret heißt, hängt in hohem Maße vom Staat – und also, in Giddens‘ Begriffen, von der Legitimationsund politischen Ordnung – ab, wie von unzähligen anderen institutionellen Bedingungen. Preise und Markt und davon abhängig, Produktivitätsbestimmungen, sind das Ergebnis dieser Bedingungen: Das ist die institutionalistische Sicht der Dinge. Aus solchen Gründen erlaubt die hier vorgeschlagene rekursive Fassung des Verhältnisses von Effizienzbestimmung einerseits und Merkmalen von Organisationen, technischen Lösungen und Formen der Produktion andererseits eine Umkehrung der üblichen Version. Durchaus denkbar nämlich ist die Ergänzung des Satzes: Eine Organisationsstruktur/eine technische Lösung/eine Form der Produktion setzt sich durch, weil sie effizient ist,
durch den Satz: Eine Organisationsstruktur/eine technische Lösung/eine Form der Produktion ist (wird) effizient, weil sie sich durchgesetzt hat,
und immer noch heißt ‚effizient‘ dann nur: ‚effizient für das einzelne Unternehmen (und unter spezifischen technologischen, institutionellen u. a. Umständen)‘.
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Die gravierendsten unter den resultierenden Schwierigkeiten möchte ich am Gedanken der rekursiven Bestimmung von Effizienz und Unternehmungspraxis und an dem Satz verdeutlichen: Die Computertechnologie weckt neue Wünsche. Der Computer wird in diesem Satz nämlich nicht mehr nur als zweckmäßiges Mittel für eine effiziente Produktion gedacht. Dass er neue Wünsche weckt, soll ja nichts anderes besagen, als dass die ‚ursprünglichen‘ Ziele, zu deren Erreichung er als Mittel beitragen sollte, im Zuge der Entdeckung seiner Möglichkeiten während und nach der Implementation redefiniert, in den oben gewählten Begriffen: neu spezifiziert werden. Eben noch bloßes Mittel, dessen Zweckmäßigkeit aus dem Zweck abgeleitet wurde, entpuppt er sich jäh als konstitutives Moment einer gelegenheitsabhängigen, ‚opportunistischen‘ – aber doch wohl durchaus nicht Unvernünftigen – Modifikation des Zweckes, etwa in Richtung größerer Servicefreundlichkeit, Flexibilität, Kontrolle o. ä. Das nimmt die in Abb. 1 wiedergegebene Form an, und selbstredend unterminiert diese Form jedwede Zweck-Mittel-Hierarchie. Auch das ist nicht ganz neu in der Organisationstheorie und wird dort u. a. unter dem Titel „Zielwandel“ thematisiert13. Es bereitet denen, die sich mit der Methodologie der Produktivitätsmessung herumschlagen, mächtige Probleme. Ihnen, die ja immer gegebene Zwecke unterstellen müssen, da sich Produktivitä13
Vgl. etwa Hirschman (1967), Luhmann (1973: 33 ff., 55 ff., 139 ff., 146 ff.), Becker, Küpper, Ortmann (1988: 91 f., 102 f.). Johannes Rohbeck (1993: 190 ff.) hat den Gesichtspunkt der Zirkularität des Zweck-Mittel-Schemas, um den es mir hier zu tun ist, genau getroffen: mit der Formulierung, „daß im Laufe der Menschheitsgeschichte erst durch die Erfahrung im Umgang mit Werkzeugen eine Vorstellung des Mittels gewonnen werden konnte,“ (ebd.: 196) aus der sich erst sodann neue, erweiterte Funktionen und Zwecke dieses Mittels ergeben konnten. Rohbeck (1993: 227), dessen gesamtes Buch jene Zirkularität zum Leitthema macht, entwirft „das Modell einer dynamischen Rückkoppelung, die immer neue und von den ursprünglichen Intentionen abweichende Zwecke generiert. Bezieht man dabei den entwicklungstheoretischen Aspekt mit ein, kann das System von Zwecksetzung und Handlungsbedingung als ein System iterativer (sic!) Selbstreferenz beschrieben werden.“ Er verweist in diesem Zusammenhang auf Levi-Strauss‘ Bricolage und Derridas Radikalisierung dieses Konzepts, derzufolge nicht nur der Bastler, sondern auch der Ingenieur, der Wissenschaftler – und, wie wir (Ortmann u.a. 1990: 391 ff.) gesagt haben, auch der Manager – mit der Unvorhersehbarkeit des Resultats von wie auch immer angewandten Mitteln (Rohbeck 1993: 227) konfrontiert sind. Bastelei zielt ja genau auf jenes rekursive Verhältnis von Mitteln, die nicht nur vom Zweck bestimmt sind, sondern diesen ihrerseits bestimmen. Als „Subjekt, das der absolute Ursprung seines eigenen Diskurses wäre“, ist der Ingenieur für Derrida (1976: 431) – und der Manager für mich – „ein Mythos“. Zur Behandlung endogenen Präferenzwandels durch die neoklassische Ökonomie vgl. von Weizsäcker (1973). Wie erwähnt, ist der Gesichtspunkt rekursiver Verhältnisse zwischen Mittel und Zweck – bis hin zum Motiv der Zweck-Mittel-Verkehrung, dem amerikanischen Institutionalismus seit Veblen völlig geläufig und geradezu eines seiner Hauptthemen, übrigens nicht zuletzt durch eine intensive Rezeption John Deweys, dem auch Rohbeck (1993: 167 ff.) große Aufmerksamkeit und eine rehabilitierende Würdigung widmet; vgl. Reuter (1994: 72 ff., 232 ff.).
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ten sonst nicht berechnen lassen, gerät der exorzierte Zielwandel, geraten in Abhängigkeit von neuen Mitteln modifizierte Zwecke ständig durch die Hintertür – es ist die Hintertür der Logik der Ergänzung – wieder in ihre Rechnungen. Dem können sie sich aber nicht wirklich stellen, denn das hieße, die Rekursivität von Ziel- und Mittelbestimmungen anzuerkennen – und jedweder Produktivitätsberechnung den festen Boden zu entziehen.
Zweck
Ableitung
Setzung, Spezifikation
Mittel Abb. 1: Logik der Ergänzung des Zwecks durch das Mittel Diese Rekursivität von Mittel und Zweck – im Licht der Mittel definieren, modifizieren, erweitern, ja: verstehen wir erst unsere Zwecke – gibt es, seit Mittel und Zweck im zweckmäßigen Handeln auseinandertreten, nicht erst seit der modernen Entfesselung der Technik (so auch Rohbeck 1993), mit der aber Hans Freyer in einer berühmten Passage (1970: 139) die folgenden Fragen aufkommen sieht: „Was kann ich damit alles machen; d.h. was kann ich nun alles wollen? Schon die einfachste Dampfmaschine ist in diesem Sinne kein Werkzeug mehr. … Das bedeutet eine Umkehrung der geistigen Grundsituation um 180 Grad. Es wird nicht mehr vom Zweck auf die notwendigen Mittel, sondern von den Mitteln ... auf die möglichen Zwecke hin bedacht.“ (Freyer 1970: 139)
Diese Umkehrung von Mittel und Zweck ist der Topos konservativer Technikkritik der Spengler, Freyer, Schelsky und Gehlen wie, mit andersgerichtetem Impetus, der Kritischen Theorie etwa eines Horkheimer oder, mit besonderer Schärfe, Günther Anders. Indes: Vom Mittel her zu denken, unter der Frage: ‚Was kann ich nun alles wollen?‘, das kann, wie man am Fall sinnvollen Zielwandels sieht, Gegenstand von Kritik nicht schon sein und rechtfertigt auch nicht die Rede von einer 180-Grad-Umkehrung. Dazu bedarf es jener Dominanz der Mittel über die Zwecke, die Anders als prometheisches Gefälle bezeichnet
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hat – „daß wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können“ (Anders 1980: VII). Bleibt noch, wenigstens als Merkposten, die bekannten, aber meist beharrlich ignorierten Schwierigkeiten noch einmal in Erinnerung zu rufen, • dass die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens gesteigert werden kann, ohne die Produktivität zu erhöhen, zum Beispiel durch Lohnsenkungen; • dass einzelwirtschaftliche Effizienz gesamtwirtschaftliche Ineffizienz bedeuten kann – Stichwort: Externalisierung sozialer Kosten; und • dass Wirtschaftlichkeit sich nicht etwa in vollständiger Deckung mit Rentabilität befindet, wie das Beispiel solcher Unternehmen – und das sind nicht nur Monopole – lehrt, die auf wirtschaftliche Verfahren und/oder Produkte verzichten, weil und solange das unter Rentabilitätsgesichtspunkten vorteilhaft ist. 1.5 Maximizing, satisficing, Überbietung Die neoklassische ökonomische Orthodoxie zeigt, wie oft bemerkt worden ist, nur wenig Interesse für jene Fragen des Inneren der Unternehmung. Das rührt daher, dass sie die Firma lediglich als Input-Output-Maschine und im Übrigen als Black Box behandelt, die das Verhältnis von Output und Input schon irgendwie maximieren wird. Jüngere Entwicklungen innerhalb oder in der Nähe des Paradigmas legen den Akzent auf die Minimierung der Transaktionskosten – sehr grob: der Organisationskosten – und bleiben, soweit die Frage maximizing versus satisficing in Rede steht, der Orthodoxie verpflichtet. Maximierung jedoch ist, wie Herbert A. Simon überzeugend gezeigt hat, unter realistischen Bedingungen der Unsicherheit und beschränkten Rationalität der Akteure unmöglich. Simons eigenes Konzept, satisficing, bietet daher eine Alternative, die nicht, wie es seitens der Orthodoxie versucht worden ist, lediglich als Maximierung unter Restriktionen behandelt werden kann. Nicht maximale, sondern nur zufriedenstellende Lösungen werden von den Akteuren verfolgt. Satisficing jedoch ist ein psychologisches Konzept – was stellt uns zufrieden? –, das vielleicht für menschliches Verhalten generell leidlich passend sein mag, nicht aber organisationales Handeln innerhalb kapitalistischer Ökonomien erklären kann. Das wurde spätestens offensichtlich, als Lewins Anspruchsanpassungstheorie in die Organisationstheorie Marchs und Simons (1958: 47 ff., 120 f., 182 ff.) eingebaut wurde. Es handelt sich dabei um eine psychologische Theorie des menschlichen Verhaltens in Erfolgs- und Misserfolgssituationen (vgl. Lewin u. a. 1944). Gegen diesen Einbruch der Psychologie in das Feld der Ökonomie hat Erich Gutenberg, der große alte Mann der Nachkriegs-Betriebswirtschaftslehre,
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folgenden schlagenden Einwand erhoben: Ein Manager, der sich der Lewinschen Theorie gemäß verhalten würde, also sein Anspruchsniveau im Falle von Misserfolgen senken und sich daher mit mittelmäßigen oder gar schlechten Resultaten zufrieden geben würde, würde wahrscheinlich bald entlassen (Gutenberg 1966). Das lässt sich noch schärfer zuspitzen: Es droht eine Abwärtsspirale aus Misserfolg und Anspruchsminderung. Während Gutenbergs Argument allerdings einen gewissen Ökonomismus zeigt, eine ökonomistische Abstraktion von jedweder Psychologie, vernachlässigen March und Simon das spezifisch ökonomische Emergenzniveau, das Gutenberg zu Recht reklamiert und mit seinem Beispiel anschaulich demonstriert. Ich suche nach einer Position dazwischen. Dieses ökonomische Emergenzniveau ist gegenüber dem psychischen ‚höher‘ in dem Sinne, wie es von Michael Polanyi (1985) bestimmt worden ist, höher also nicht im Sinne einer Beurteilung der Wichtigkeit oder des Wertes, sondern nur in folgendem Sinne: 1. Das höhere Emergenzniveau setzt das niedrigere voraus, aber nicht umgekehrt, und es wird 2. durch zusätzliche Regeln kontrolliert/gesteuert, die nicht auf der niedrigeren Ebene gelten. Natürlich können psychologische Gesetz- oder Regelmäßigkeiten durch ökonomische nicht annulliert werden. (Deswegen bleibt Gutenbergs rigide Ausklammerung der Psychologie unbefriedigend.) Wohl aber werden sie dem unterworfen, was Polanyi ‚marginale Kontrolle‘ nennt – hier also marginale Kontrolle dessen, was im Rahmen (biologischer und) psychischer Gesetz- oder Regelmäßigkeiten noch offen bleibt, durch ökonomische Gesetz-/Regelmäßigkeiten. Simons bescheidener Manager könnte diese marginale Kontrolle leidvoll erfahren. Das Beispiel zeigt, wie das Verhältnis von Ökonomie und Psyche theoretisch gefasst werden kann, ohne die eine oder die andere im Wege wissenschaftliche Abstraktion ganz auszublenden, und übrigens auch, ohne Ökonomie auf Psychologie zu reduzieren. Das Konzept des satisficing ist nicht in der Lage, eine gewisse, kontinuierliche Nötigung zu einer Suche nach ‚besseren‘ Lösungen zu erklären – eine Nötigung, die von der tatsächlichen oder vermeintlichen Abhängigkeit des eigenen Erfolgs vom Verhalten ‚der Anderen‘ ausgeht. Sie bedeutet in gewisser Weise die Nötigung, sich nie zufrieden zu geben – nie oder zumindest nicht leicht, nicht oft, nicht immer. Insofern steht daher Simons satisficing in scharfem Kontrast zu der dadurch induzierten Rastlosigkeit und zu den beobachtbaren, beständigen Versuchen, die Anstrengungen zu verstärken, wie sie für die kapitalistische Firma typisch sind. Es geht also um eine Spannung zwischen einem angeblich immer währenden, maßlosen, grenzenlosen ökonomischen Druck – Marxens rastlose Bewegung des Kapitals kommt einem in den Sinn – und einem psychischen Verhal-
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ten, das, jedenfalls oft, nur nach Angemessenheit, hier: nach angemessenem Gewinn strebt. Es ist in diesem Sinne, dass mich Simons satisficing nicht zufrieden stellt. Ein alternatives Konzept hätte uns in die Lage zu versetzen, den erwähnten ökonomischen Druck in Rechnung zu stellen, der Unternehmen zu (vermeintlich) besseren Lösungen treibt – seien sie besser als gestern oder besser als die ‚der Anderen‘. Es müsste uns aber auch erlauben, von der Tatsache Notiz zu nehmen, dass den Resultaten des Wirtschaftens und Organisierens in Unternehmen Optimalität nicht zugesprochen werden kann und dass sie sich dem Erklärungsschema der Profitmaximierung keineswegs fügen. Mit Druck ist Handlungsdruck gemeint, also eine Nötigung zu handeln. Nicht gemeint ist, was in der Evolutionstheorie Selektionsdruck heißt, der von den Risiken ausgeht, Überlebenserfordernisse zu verfehlen. Ihn gibt es unabhängig von seiner Wahrnehmung durch individuelle oder organisationale Akteure. Ob er als solcher wahrgenommen und als Nötigung zum Handeln aufgefasst wird, ist kontingent. Ein Unternehmen kann untergehen, ohne diesen objektiven Druck wahrgenommen oder in Handeln umgesetzt zu haben, ja, vielleicht gerade weil es ‚die Zeichen der Zeit‘ nicht erkannt hat. Selektionsdruck wirkt über Aussterbeereignisse. Nicht überlebensfähige Organisationen oder organisationale Meme oder Comps fallen der Auslese zum Opfer. (Meme oder Comps – von competencies –, erfolgreiche Verhaltensweisen, Regeln, Kenntnisse, Fähigkeiten oder Routinen von Organisationen, gelten als Pendants der Gene im Reich der Organisationen. Gewinnmaximierung könnte dann als Resultat solcher Auslese – statt als Resultat intendierter Zielstrebigkeit – gerettet werden. Auch davon aber kommen die Evolutionstheoretiker unter den Organisationsforschern mehr und mehr ab.) Allerdings macht sich ein evolutionärer Selektionsdruck, wenn es so etwas gibt, im Falle kapitalistischer Ökonomien durch ökonomischen Handlungsdruck hindurch geltend – und durch das Handeln und Unterlassen der Akteure hindurch. Das Konzept des ökonomischen Drucks als Handlungsdruck muss die Skylla des Objektivismus und die Charybdis des Subjektivismus vermeiden. Weder eine schier externe, exogene, a priori und objektiv gegebene, absolute Notwendigkeit noch ein rein interner, endogener, selbstkonstruierter, relativer Glaube genügt den Anforderungen an dieses Konzept. Genau genommen genügt nicht einmal die Idee eines mittleren Kurses, wie sie durch das Bild von Skylla und Charybdis evoziert wird. Stattdessen konzipiere ich ökonomischen Druck einerseits und seine Wahrnehmung andererseits als rekursiv konstituiert, und zwar in einem gemäßigt konstruktivistischen Sinne. Rekursivität meint dabei ein zirkuläres, besser: spiral- oder wendelartiges Verhältnis zwischen Wahrnehmung und wahrgenommenen Prozessen in der Umwelt, eine Spirale oder Wendel, die eine Nötigung zum Handeln konstituiert, hier: eine Nötigung, die Dinge zu ändern.
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Damit sind wir für eine Sicht ökonomischen Drucks gerüstet, die von einer internen Hervorbringung oder Konstruktion ausgeht, welche durch eine externe Irritation, Perturbation oder Intervention ausgelöst, aber nicht determiniert wird. Das bedeutet: ein nicht-deterministisches Verständnis von ökonomischem Druck. Rote Zahlen in einer Bilanz verraten nicht, wie sie schwarz zu bekommen sind. Es ist nicht die externe Irritation, sondern eher die interne Organisationsstruktur, welche die Reaktion des Unternehmens ‚determiniert‘. (Auch zwischen Organisationsstruktur und Verhalten indes besteht in Wahrheit kein Determinationsverhältnis, daher die Anführungszeichen. Die Organisationsstrukturen restringieren und ermöglichen lediglich das Handeln, sie determinieren es nicht.) Diese internen Strukturen sind Signifikationsstrukturen (Sinnkonstitution: Wahrnehmung, Interpretation, Kommunikation), Legitimations- und Herrschaftsstrukturen, einschließlich der Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen. Mit alledem soll die Relevanz externer Kräfte – die Relevanz der Umwelt – also nicht geleugnet werden. Wie Karl Weick (1985: 240) es einmal formuliert hat: „Es trifft gewiß zu, daß sich Organisationen an den Dingen stoßen, und dass ihre blauen Flecken eine gewisse Handfestigkeit ihrer Umwelt bezeugen.“ Da sind wir bei einer Widerstandserfahrung, bei dem, was der Unternehmung zustößt. Rückläufige Verkaufsergebnisse, Liquiditätslücken oder Einbußen an Profitabilität oder Produktivität können sehr wohl solche ‚blauen Flecken‘ sein und als solche wahrgenommen werden, als Folge einer ökonomischen Härte der Umwelt. Aber um organisationale Reaktionen auszulösen, müssen sie eine organisationale Schmerzgrenze überschreiten, einen Leidensdruck hervorrufen oder auf andere Weise internen Handlungsdruck erzeugen. Ein Wandel ohne externen Druck, ohne Druck aus der Umwelt gilt als nicht sehr wahrscheinlich. Er kommt aber durchaus vor. Andererseits steht nicht geschrieben, dass externer Druck unweigerlich Wandel – und gar: den richtigen Wandel – auslöst. Tatsächlich impliziert die interne Hervorbringung jener Nötigung die Möglichkeit eines organisatorischen Wandels, der nicht extern provoziert wurde, etwa, ein häufiger Fall, durch interne Konflikte, oder durch Ein- und Umsicht einer vorausschauenden Unternehmensleitung, die versteht, dass es in der Krise für den Wandel, der nun erforderlich wäre, oft zu spät ist. Auch angst- oder wunschverzerrte Umweltwahrnehmungen und Wahrnehmungs- und Interpretationsverzerrungen, die in der Organisationsstruktur begründet sind, können Wandel auslösen. Ökonomischer Druck bezieht sich auf die Produktion und Reproduktion allokativer Ressourcen im Sinne Giddens’ (1984). Ich bestimme ihn als eine aus – ‚natürlicher‘ oder ‚institutioneller‘ – Knappheit resultierende, wahrgenommene Nötigung zu handeln. Damit soll nicht gesagt sein, dass es nur ökonomische
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Mittel und Wege gibt, auf eine Unternehmung Druck auszuüben. Pfeffers und Salanciks Ressourcenabhängigkeits-Theorie (1978), Meyers und Rowans Konzept rationalisierter Mythen und institutionalisierter Techniken (1977) und DiMaggios und Powells Idee eines (mimetischen, zwangsweisen oder normativen) organisationalen Isomorphismus (1983) haben unsere Einsicht in die Dimensionen der Signifikation und Legitimation, in die kulturellen und institutionellen Quellen von Handlungsdruck auch für Organisationen vertieft. Das bedeutet die Nötigung, in zumindest leidlicher Übereinstimmung mit etablierten Überzeugungen, Werten, Normen und Standards zu handeln, um eine hinreichende Unterstützung der Organisation aus ihrer Umwelt zu gewährleisten. Auch diese Nötigung jedoch ist in Unternehmen ökonomisch (nicht determiniert, aber) dominiert. Eine Theorie der Unternehmung, die das ernstlich in Rechnung stellen wollte, müsste ein Konzept für die Kosten und Nutzen der Legitimationssicherung entwickeln. Oft ist es jedenfalls ganz rational aus Sicht der einzelnen Unternehmung, in Übereinstimmung mit solchen institutionellen Anforderungen zu handeln, selbst dann, wenn dieses Verhalten nicht effizient im Sinne schierer Output-Input-Relationen ist.14 Damit haben wir acht Startpunkte gewonnen: • eine ‚konstruierte‘, besser: von der Organisation selbst in Kraft oder in Geltung gesetzte (‚enacted‘) statt einer einfach exogen gegebenen Umwelt; • Druck und Nötigung statt absolutem Zwang; • eine rekursive und gemäßigt konstruktivistische statt einer objektivistischen Fassung von Druck; • beschränkte Rationalität anstelle vollkommener Information und Rationalität; • Kontingenz statt Determinismus; • ‚organization matters‘ statt, wie in der Neoklassik, ‚organization doesn’t matter‘; • Organisationen als (korporative) Akteure statt als reine Objekte und Mittel der Anpassung und • ökonomischer und nicht-ökonomischer Handlungsdruck. 14
An dieser Stelle tun sich, wie man sieht, fruchtbare Anwendungsfelder für einen linguistic turn der Theorie der Unternehmung auf. Denn die Arbeit an der Bedeutung von Texten (von Vertragstexten, Regelwerken, Gesetzen u.v.a.), an Interpretation und Kommunikation wie auch die Produktion und Sicherung von Legitimation, einschließlich Legitimationsfassaden, verursacht (1.) Kosten, stiftet (2.) für die Unternehmung Nutzen und bedarf für ihre Analyse (3.) einschlägiger linguistischer Kompetenz, etwa, um die performativen Effekte der erforderlichen Sprechakte in Abhängigkeit von deren Gestaltung zu analysieren. Zum Beispiel mag der performative Effekt marktschreierischer Werbung ihre Unglaubwürdigkeit, der performative Effekt ungeeigneter Anweisungen Unbotmäßigkeit, der performative Effekt allzu detaillierter Verträge oder Kontrollregelungen Misstrauen und Opportunismus sein. Dazu mehr unten, in 4.
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Und wir haben eine noch mehr oder minder vage Idee eines Konzepts zwischen maximizing und satisficing, das berücksichtigen kann, dass in kapitalistischen Ökonomien ‚gut‘ möglicherweise nicht gut genug ist – nicht gut genug, um zu überleben –, weil jemand anders besser ist oder besser sein könnte. Von diesem Ausgangspunkt aus und mit dieser vagen Idee im Kopf beginne ich mit einem Umweg. Es scheint mir nötig, sich einiger Resultate der maximizing-satisficing-Debatte zu vergewissern. War es nicht doch so, dass satisficing sich als lediglich raffiniertere Form des maximizing entpuppt hat – der Maximierung unter den Bedingungen der Unsicherheit und beschränkter Rationalität? Exkurs: Maximizing oder satisficing? Das Argument, ich selbst habe es früher (vgl. Ortmann 1976) verfochten, könnte lauten: Mit beschränkter Rationalität verhalte es sich eigentlich nicht so sehr anders als mit beschränkter physischer Kraft, und diese letztere Grenze würde niemanden auf die Idee bringen, das Konzept der Maximierung in Zweifel zu ziehen. Maximierung, recht verstanden, impliziere doch alle Arten von Restriktionen oder Beschränkungen. Das Maximum sei das Größtmögliche, es sei der beste Weg innerhalb des ‚feasible set‘, der verfügbaren Menge an Handlungsalternativen. Darin steckt ein schlagender Einwand. Simons satisficing lässt sich nicht einfach mit dem Hinweis auf Schranken begründen, die dem Gewinnstreben entgegenstünden, denn darin verrät sich bereits etwas, das über diese Schranke hinausdrängt. „Mit dergleichen Argumentationsweise“, so habe ich einmal gegen die Betriebswirtschaftslehre, soweit sie sich auf Simon beruft, eingewandt, „könnte die BWL die beschränkte Muskelkraft der Arbeiter als Beweis für die Unmöglichkeit der Gewinnmaximierung heranziehen.“ (Ortmann 1976: 9) Ohne das zu Beschränkende aber kann die Schranke nicht gedacht werden. Und tatsächlich dient ja Arbeitsgestaltung der Überwindung der Schranken der Muskelkraft, Informationsmanagement der Überwindung der Schranken des Wissens, dienen betriebswirtschaftliche Verfahren und Organisation der Überwindung der Schranken individueller Rationalität. Der Punkt ist jedoch, dass diese treffenden Einwände wider das satisficing nicht die Möglichkeit und nicht die Wirklichkeit der Gewinnmaximierung beweisen. Die Schwierigkeiten der Maximierung sind etwas komplizierter gelagert. Sie beschädigen sogar den Sinn einer entsprechenden Als-Ob-Annahme. Um das zu sehen, muss man über die allseits zugestandene Einschränkung jedweder Maximierung durch den ‚feasible set‘ nachdenken.
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Was als ‚feasible set‘ in Betracht kommt, hängt von den Aktivitäten des Entscheiders ab, namentlich von seinen Suchaktivitäten. Das etabliert nun doch ein ernstliches Problem für jene Rettung des maximizing. Es ist bekannt, dass die neoklassischen Ökonomen seit Arrow versucht haben, diese Komplikationen durch das Konzept der Informations- oder Suchkosten in ihr Paradigma zu inkorporieren. Sie haben, konfrontiert mit dem Einwand unvollkommener Information, ihr Paradigma nicht etwa, à la Popper, als falsifiziert betrachtet und aufgegeben, sondern den Einwand, à la Dingler, ‚exhauriert‘. Sie haben, salopp formuliert, einen Rucksack an ihre Theorie ‚angestrickt‘ und ihr so mehr Aufnahmefähigkeit gegeben. „Dehne die Suche so lange aus, bis die Grenzkosten der Suche ihrem Grenznutzen gleich ist“, so lautet die rettende Idee der Neoklassik im Angesicht des Problems unvollkommener Information. Doch auch damit gibt es eine ganz ernste Schwierigkeit, wie Winter (1964: 1975), Elster (1987: 89 ff.) und andere gezeigt haben. Woher soll ich die Kosten und die Nutzen der Suche kennen, bevor ich gefunden habe, was ich suche? Dem hat Kenneth Arrow (1970: 152) den Titel „Informationsparadox“ verliehen. Die Idee der Maximierung der Sucherträge führt in dieses Paradox oder in einen infiniten Regress, denn nun wären ja Informationen, betreffend die Suchkosten und -nutzen, zu suchen, eine Suche, die ihrerseits Suchkosten verursacht und so fort. Die moderne, informationsökonomisch aufgeklärte Neoklassik verstrickt sich in die Aporien des Platonischen Suchparadox, das ja lautet: Die Suche nach der Lösung eines Problems ist ein paradoxes Unterfangen, weil es die Suche nach etwas Unbekanntem ist, von dem ich, eben weil es unbekannt ist, nicht weiß und nicht wissen kann, wo und wie es zu finden ist. Michael Polanyi hat eine Lösung präsentiert, die auf die Ahnung eines Zusammenhanges, auf Hinweise, Zeichen oder Spuren eines Verborgenen innerhalb unseres impliziten Wissens abstellt (Polanyi 1985: 28 f). Ich habe versucht, diese Lösung durch das Konzept der Rekursivität zu stützen und zu stärken – durch die Idee rekursiver, iterativer Versuche, dieses Unbekannte/ Undeterminierte in tentativen Schritten zu bestimmen, tastend, im Dunkeln tappend, probehandelnd, mittels Versuch und Irrtum, auf den Wegen des ‚muddling trough‘ (Lindblom), des ‚piecemeal engineering‘ (Popper), unter Gebrauch von Daumenregeln, suchend in der Nachbarschaft des Bekannten (Simon) und, mit Albert Hirschman, die eigene Ignoranz ignorierend und just dadurch die Entdeckung von Neuem ermöglichend (s. im einzelnen Ortmann 1995: 393 ff.). Milton Friedman, konfrontiert mit Einwänden, die sich auf den mangelnden Realismus neoklassischer Prämissen beziehen, hat bekanntlich geantwortet: Es käme überhaupt nicht darauf an, ob Entscheider tatsächlich Maximierungskalküle à la homo oeconomicus durchführten. Worauf es ankäme, sei, ob Individuen handelten, als ob sie ihren Nutzen maximierten. Friedmans Artikel aus dem
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Jahre 1953 wurde seither zum Klassiker – weithin akzeptiert innerhalb der ökonomischen Zunft. Friedman argumentiert mit einer scheinbar überzeugenden Analogie. Ein exzellenter Billard-Spieler braucht, wenn er seine Stöße platziert, keineswegs Differenzialgleichungen zu lösen, betreffend die Interaktion der Billard-Kugeln, und natürlich tut er das auch nicht. Es genügt, wenn er so agiert, als ob er eine solche Kalkulation angestellt hätte. Friedmans Als Ob dient ersichtlich dem Zweck, eine Art Bypass um das Rätsel zu legen, warum Akteure handeln, wie sie handeln, und theoretisch voranzukommen, ohne sich damit herumschlagen zu müssen. Aus solchen Abstraktionen gewinnt die neoklassische Ökonomik eine große Stoßkraft. Entschiedenes Absehen-von ermöglicht scharfes, konzentriertes Sehen. Gerade deswegen aber bleibt die Frage, wie unser Billard-Spieler seine Kugeln, ein Manager sein Blatt spielt, unbeantwortet. Ich möchte argumentieren, dass auch im Falle des Managers sehr wohl ein Als Ob das menschliche Handeln orientiert, jedoch ein durchaus anderes als das Friedman’sche Als Ob. Manager handeln nicht, à la Friedman, als ob sie ihren Nutzen maximieren könnten. Das ist eine Theoriefiktion, nicht die Fiktion der Praktiker. Das schließt nicht aus, dass sie, à la Vaihinger, eine Annäherung an kontrafaktische Ideale verfolgen. Gewinnmaxima aber kommen als Kandidaten dafür nicht in Betracht, weil sie (zwar die Modelle der Theoretiker, aber) nicht das Handeln der Praktiker zu orientieren vermögen. Der Grund aber ist nicht die Unerreichbarkeit von Maxima – dieses Schicksal teilt Maximierung mit allen Idealisierungen –, sondern der Umstand, dass Vaihingersche Ideale (respektive eine Annäherung an sie), anders als bei Punkten, Geraden oder Ebenen, im Falle einer Gewinnmaximierung eben nicht definierbar sind, ja, außer für von allem Sozialen gereinigten Konstellationen (s. u., Fußnote 20) nicht einmal gedacht werden können. (Man denke nur an Oskar Morgensterns einander zu Tode jagender Prognosen in dem Falle, dass alle Akteure über vollkommene Information verfügen.) Ich ziehe daher vor zu sagen: Manager handeln, als ob sie wissen könnten, wie sie die richtigen Überbietungen erzielen könnten (und wann sie es versuchen sollten/müssten), obwohl sie es nicht wissen können (und obwohl sie, wenn sie nicht sehr auf den Kopf gefallen sind, auch wissen, dass sie es nicht wissen können). Was aber Überbietung hier heißen soll, bedarf nun noch der Reflexion. Jedenfalls geht es um komparative Relationen, nicht um absolute oder auch nur situative Maxima – um ein ‚besser als‘, nicht um ein Optimum. *
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Was gut genug ist, hängt innerhalb kapitalistischer Ökonomien von den Handlungen ‚der anderen‘ ab. Es stellt sich allenfalls a posteriori und hinter dem Rücken des einzelnen Akteurs heraus. Das begründet den spezifischen Druck, sich nicht mit einmal bewährten Lösungen zufrieden zu geben, sondern mehr zu versuchen. Ich glaube nun nicht, dass es im Kapitalismus überall und immerdar einen ewig währenden Zwang zu einzelwirtschaftlicher Verbesserung gibt. Je nach Marktsituation, je nach Verhalten der Wettbewerber, je nach technologischen oder anderen Kompetenzvorsprüngen kann es – auch: sehr lange – Zeiten der Saturiertheit geben. Aber Wettbewerb bedeutet: Es könnte einen Wettbewerber geben, der es besser macht als du, und der dich daher möglicherweise überbietet. Mit dieser Sorte doppelter Kontingenz umzugehen, heißt, in einem gewissen Maße diese mögliche Gefahr zu antizipieren, und das wiederum bedeutet: Die bloße Möglichkeit, überboten zu werden, begründet einen Druck, seinerseits die anderen und/oder die eigene Leistung von gestern zu überbieten. Mit dieser Nötigung zur Überbietung meine ich kein individuelles Motiv, sondern einen institutionellen Imperativ, der in die Struktur kapitalistischer Ökonomien eingelassen ist. Überbietung in diesem Sinne ist ein Handlungsprinzip, das von einzelnen Akteuren oder Organisationen nicht einfach, das heißt nicht kostenlos, nicht kampflos, nicht ohne die Gefahr von Sanktionen, abgelehnt werden kann. Viabilität innerhalb des Kapitalismus erfordert eine zureichende Erfüllung dieses Imperativs oder Prinzips der Überbietung. Erich Gutenberg hat dieses Prinzip für die kapitalistische Firma als erwerbswirtschaftliches oder Gewinnprinzip spezifiziert. In der Unternehmung geht es darum, aus Geld mehr Geld zu machen. In seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1929, zu Unrecht seither vernachlässigt, hat Gutenberg die Unternehmung „unter Verwendung einer regulären Als Ob-Konstruktion“ (1929: 41 f) analysiert, unter Rekurs auf Vaihingers „Philosophie des Als Ob“. Er hat sie analysiert, als ob in ihrem Inneren nichts als schiere Rationalität Platz griffe. Was er ‚das psycho-physische Subjekt‘ genannt hat, ein Subjekt mitsamt seinen irrationalen Motiven, seiner begrenzten Rationalität und so fort, ist von Gutenberg explizit eingeklammert worden – eingeklammert ausdrücklich im Sinne der phänomenologischen Methode. Tatsächlich kann Gutenbergs Konstruktion der kapitalistischen Firma, die entlang des erwerbswirtschaftlichen Prinzips agiert, ohne Schwierigkeiten als Anwendung der Schützschen phänomenologischen Methode der eidetischen Reduktion und der Konstruktion idealtypischer Modelle der sozialen Welt verstanden werden – „Konstruktionen zweiten Grades: es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden“ (Schütz 1971a: 7). Das ist, was Giddens doppelte Hermeneutik genannt hat. Auch Gutenberg übrigens hat das Gewinnprinzip nicht auf psychische Motive
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profitsüchtiger Individuen, sondern auf Strukturen15 von Marktwirtschaften zurückgeführt. Das erwerbswirtschaftliche Prinzip ist ihm zufolge ein institutionell etabliertes Regulativ – gegründet in einem bestimmten ökonomischen System, das ohne dieses Regulativ nicht funktionieren würde (Gutenberg 1973: 9). Und der Punkt ist: Seine handlungsregulierende Funktion hängt von seinem fiktionalen, kontrafaktischen Charakter ab – seinem Charakter als einer operativ wirksamen Fiktion. (Vaihingers Punkte, Geraden etc. sind wirksam im Sinne einer Handlungsorientierung gerade wegen ihrer Unerreichbarkeit.) Das heißt, die Leute handeln, als ob sie ‚immer und immer wieder könnten‘, als ob ihre Erfahrungen für alle Zukunft gültig blieben, und als ob sie wissen könnten, wie ‚die anderen‘ zu überbieten wären. Gutenberg jedoch hat immer Optimierung als die in Rede stehende Idealisierung angesehen. Optima waren für ihn jene idealen Punkte, nach denen, jedenfalls in der Theoriekonstruktion, Manager und Unternehmen streben – natürlich beschränkt in diesem Streben durch eine Menge restringierender, situativer, kontextueller Umstände. Mit dieser Linie der Optimierung hielt Gutenberg jederzeit Tuchfühlung mit der neoklassischen Mikroökonomik. Es ist dies die Stelle, an der ich das sehr viel vagere,16 unscharfe Konzept der Überbietung platzieren möchte – unschärfer allerdings nur in Begriffen mathematischer Modellierung und Determination, statischer Gleichgewichte, nicht im Sinne der 15
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Strukturen, wie ich hinzufügen möchte, verstanden als produziert und reproduziert durch Akteure, wie Giddens sie im Sinn hat, das heißt, recht kompetente Akteure, die immer die Fähigkeit haben, anders zu handeln, deren Handeln also durch diese Strukturen nicht determiniert, sondern nur restringiert (und ermöglicht!) wird; vgl. Giddens (1984). Man beachte, dass Vagheit ein schwieriges und wichtiges Konzept ist und nicht etwa umstandslos als Theoriemangel verworfen werden darf (Sainsbury 1993: 38 ff.). „Es dient oft einem guten Zweck, die Vagheit unangetastet zu lassen. Vagheit und Genauigkeit schließen einander keineswegs aus.“ (Quine 1980: 226) Die Maße des Blechs einer Autokarosserie zu präzisieren, ist für viele Zwecke sinnvoll. Der Versuch zu präzisieren, ob der die Sitze des Autos ‚bequem‘, sein Innenraum ‚edel‘, seine Frontpartie ‚freundlich‘ oder seine Gestalt ‚raubtierhaft‘ ist, stößt auf Grenzen. Alle diese Begriffe sind vage – und übrigens mehrdeutig. Beides ist nicht dasselbe (Quine 1980: 222 ff., 228 ff.), behindert aber Maximierung. Wo präzise Berechnung den lay actors aus den genannten Gründen nicht möglich ist, mag das Konzept der Überbietung dem der Maximierung überlegen sein, nicht, weil oder obwohl es selbst ungenau ist (das muss es nicht sein), sondern weil es seinem Gegenstand nicht dort Trennschärfe abzugewinnen trachtet, wo er sie nicht zu bieten hat. Ein präziser Begriff der Überbietung begnügt sich mit dem Präzisierbaren und lässt ihre Ränder unscharf, weil sie in der sozialen Praxis unscharf sind. Maximierung scheint das anspruchsvollere Konzept zu sein. Es ist aber simpler in dem Sinne, dass es für den Theoretiker leichter zu hantieren ist, weil es mathematische Modellierung erlaubt. Und das ist tatsächlich der wichtigste Grund, warum an ihm festgehalten wird. Es ist insofern nicht das anspruchsvollere, sondern das radikaler vereinfachende Konzept. Die Prämissen neoklassischer Ökonomik – vollkommene Information, Nutzenmaximierung – dienen dieser Simplifizierung. Selbstverständlich kann eine solche Vereinfachung Einsicht befördern.
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Handlungsorientierung in praxi. Denn reflexiv auf ein Gestern – ‚immer wieder‘ – und/oder auf exzellente Andere zu rekurrieren, heißt, auf Anknüpfungspunkte, auf einen gewissen Grund zu rekurrieren, so unsicher er auch sein mag, um mehr zu bekommen, besser zu werden, schneller, billiger, smarter, effizienter. Vergleichsobjekte, -hinsichten und -maßstäbe sind zur Hand oder können entwickelt werden. Ob es allerdings die richtigen waren, die, auf die es ankam, stellt sich erst ex post facto heraus. Das ist bei weitem praktikabler und operationaler als jede Optimierungsregel. (Praktikabler und operationaler, aber immer noch ein Ideal, denn es bleibt ja bei der doppelten Kontingenz sozialen Handelns, bei der Nachträglichkeit und beim ‚Hinter dem Rücken‘ der Konstitution dessen, was ‚gut genug‘ oder ‚besser‘ heißt.) Auch der neoklassische Mainstream rekurriert allerdings auf ein ‚besser als‘ – auf ordinale Nutzenbestimmung, jenes ‚better off‘, von dem Kenneth Arrow so fasziniert war. Damit ist allerdings normalerweise die bessere unter den aktuell möglichen Alternativen innerhalb der Präferenzordnung des einzelnen, isolierten Individuums gemeint. Es beruht auf einer (transitiven) Ordnung, besser gesagt, einem ‚ordering‘ der Welt der erreichbaren Alternativen entlang einer ordinalen Skala, einschließlich der dann unabweisbaren Wahl der besten unter diesen Alternativen. Das wäre insoweit noch mit der Idee der Maximierung vereinbar, unterliegt allerdings ebenfalls den von Simon aufgeworfenen Zweifeln, betreffend die Information über den feasible set und die Existenz, Konsistenz, Transitivität, die zeitliche Stabilität und die Kenntnis der eigenen – gegenwärtigen und zukünftigen! – Präferenzordnung und, wie ich ergänzen möchte, ganz besonders ihre Unabhängigkeit von den Präferenzen der je anderen. Nicht erst dort, wo Arrow sie analysiert hat: nicht erst bei kollektiven Entscheidungen stoßen wir auf Aporien, wie sie im Unmöglichkeitstheorem artikuliert worden sind (vgl. Arrow 1984). Die Figur der Überbietung, die ich hier vorschlage, soll im Übrigen gerade keine universelle, sondern eine auf kapitalistische Ökonomien beschränkte Handlungsmaxime zum Ausdruck bringen. Das Modell des homo oeconomicus versagt, besonders vor strategischen Situationen (in denen Präferenzen und Handeln des Einen vom Handeln des anderen abhängen – die oben erwähnte doppelte Kontingenz). Ob tit for tat eine gute oder gar die beste Strategie im iterierten Gefangenendilemma ist, hängt wie Axelrod (1984) selbst betont, von den Strategien der anderen ab. „Ego und Alter wissen voneinander, daß jeder für sich über genuin endogene, von der Umwelt zwar angeregte und konditionierte, aber niemals determinierte Handlungsdispositionen verfügt: Jeder kann jederzeit auf jedes Ereignis mit Deutungsund Präferenzinnovation, d. h. unvorhersehbar reagieren. Unerwartete Situationen mögen konservativ, vertraute Konstellationen innovativ beantwortet werden. Oder es wird die eine Reaktionsweise zur Verschleierung der anderen vorgetäuscht. Wenn aber Ego und Alter wissen, daß jeder die Interaktionsstruktur durch Mobili-
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sierung seiner ‚internen‘ Ambiguität modifizieren kann, können sie die Unsicherheit der strategischen Ego-Alter-Dyade nur durch gesteigerte Sensibilität für Überraschungen im Handeln des anderen ‚bearbeiten‘. Sie müssen den anderen und die gemeinsame Umwelt sorgfältig beobachten und nach Anlässen für Deutungs- und Strategieinnovationen Ausschau halten. Auf der Grundlage der so gewonnenen Informationen entsteht ein mehr oder weniger zutreffendes ‚Kausalmodell‘ der künftig möglichen Ereignisse, das als Referenzrahmen für die Wahl von Handlungsabsichten dient. So kehrt sich das Informationsmodell des homo oeconomicus um, in welchem die (unabhängig) gegebenen Präferenzen die Informationsbeschaffung steuern. Bei strategischer Unsicherheit fungieren die wie und warum auch immer verfügbar gemachten und kontingent gedeuteten Informationen als Grundlage der Präferenzbildung.“ (Wiesenthal 1990: 26)
Die Akteure praktizieren einen alltäglichen Relativismus mit Blick auf die anderen. Sie entlehnen Vergleichsmaßstäbe und -hinsichten ihren Vergleichsobjekten. Dabei bedienen sie sich inkorporierter Entscheidungsroutinen, Francks (1992) körperlicher Entscheidungen, eingespielter, eingeschliffener Schemata und Typisierungen und institutionalisierter Beurteilungs-, Verfahrens-, Vergleichs- und Nachahmungsschemata. Kennzahlen, Verfahren der Konkurrenzbeobachtung, der Qualitätskontrolle oder des Benchmarking sind Beispiele für letztere Verfahren. Es resultiert vielleicht der Isomorphismus der neoinstitutionalistischen Organisationssoziologie. In den Worten DiMaggios und Powells (1983: 150): „organizations tend to model themselves after similar organizations in their field that they perceive to be more or less successful“. Damit stellen sich dem Theorektiker zwei Fragen: 1. Wie werden diejenigen bestimmt, mit denen man sich vergleicht? 2. Woher beziehen diese ‚Referenzgruppen‘ ihre Maßstäbe? Auf die erste Frage antwortet die einschlägige Soziologie,17 nämlich die Theorie der Referenzgruppen (Merton 1957): Als Bezugsgruppen des Vergleichens kommen (individuelle oder korporative) Akteure in vergleichbarer Lage in Betracht. Das scheint in eine Tautologie, einen Zirkel oder einen infiniten 17
Aber auch die neue experimentelle Wirtschaftsforschung, wie sie im deutschsprachigen Raum etwa von Ernst Fehr und Simon Gächter vertreten wird. Sie enthüllt sofort Entscheidungs‚anomalien‘, gemessen an orthodoxen Rationalitätskonzepten; für einen Überblick vgl. Falk (2002); vgl. für ein Beispiel das Konzept einer ‚melioration‘ angesichts über die Zeit verteilter Einzelentscheidungen, die voneinander abhängen: Herrnstein, Prelec (1991). (Ich entscheide mich heute für B, weil ich mich gestern für A entschieden habe und Abwechslung suche. Oder: Ich entscheide mich heute für A, weil ich mich gestern für A entschieden habe und ‚süchtig‘ geworden bin.) Zu beachten bleibt aber, dass mit der Psyche der Individuen und der (kapitalistischen) Ökonomie distinkte Emergenzniveaus thematisch werden, und dass mit letzterer – der Ökonomie – Verhaltensweisen zum Aussterben verurteilt werden können, die psychologisch ganz plausibel, ‚normal‘ oder gar vernünftig sind. Schon im Umkreis der Problematik kognitiver Dissonanz hat die mikroökonomische Theorie mit einem Referenzgruppenkonzept gearbeitet (Schlicht 1984).
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Regress zu führen, in Bewegungen, welche die Akteure aber opportunistisch/dezisionistisch/situativ ab- respektive unterbrechen können, nach Maßgabe situativer und in performativen Sprechakten erzeugten oder forcierten Dringlichkeiten. Auf wen sich eine mimetische oder vergleichende Orientierung richtet, ist daher kontingent. Die Antwort auf die zweite Frage macht die Dinge noch verwickelter: Die anderen – unsere Referenzgruppen – beziehen ihre Vergleichsmaßstäbe und -hinsichten ihrerseits von ihren Referenzgruppen, also, unter anderem, von uns. Das sieht ja nach schlechtunendlicher Zirkularität aus, aber tatsächlich erlauben die Antworten zu 1. und 2. pfadabhängige Lösungen, nämlich die Ausbildung von Vergleichsmaßstäben und -hinsichten in Trajektorien der Definition von Maßstäben, die nämlich mittels solch wechselseitigen, rekursiven Referierens der einen auf die anderen und vice versa als Eigenwerte emergieren und zeitweise stabilisiert werden18. Diese temporären Stabilisierungen implizieren allerdings Optimalität weder im einzel- noch im gesamtwirtschaftlichen Sinne. Und was für den Praktiker einigermaßen einfach, jedenfalls hantierbar ist – er muss ja „nur“ aufpassen, den Vergleich mit der Konkurrenz zu bestehen –, das stellt die Theorie vor schwierigste Probleme, die allenfalls komplexitätstheoretisch abzuarbeiten sind – abzuarbeiten, aber nicht von inhärenten Indeterminiertheiten zu reinigen. Die Logik der Überbietung stellt andere und weniger anspruchsvolle, realistische, realisierbare Anforderungen an die Praktiker (und leider höhere an die Theoretiker, die ja nun über weite Strecken ohne eine Berechenbarkeit ihres Gegenstandes auskommen müssen, zumal sie die Eindeutigkeiten der Orthodoxie durch unabstellbare Vieldeutigkeit und durch die Unwägbarkeiten doppeltkontingenter Strategiebildung zu ersetzen haben. Was „besser“ ist, schon das leidet an solcher Vieldeutigkeit und Unwägbarkeit. Sofern hier zu Zwecken der Theoriebildung mit vereinfachenden Annahmen gearbeitet wird, bedarf es, noch einmal, zumindest komplexitätstheoretischer Modelle, die mit der doppelten und multiplen Kontingenz der Präferenzen zurechtkommen.) Sie erfordert von den Praktikern nicht die – unmögliche – Bestimmung von Maxima oder Optima, sondern „nur“ operationale Bestimmungen jenes bettersmarter-fastercheaper, zu dem man sich genötigt fühlt, also Kriterien nicht für Maxima, sondern nur für ordinale Skalen, für ‚mehr/weniger‘, ‚schneller/langsamer‘ und so fort. Sie erfordert ‚nur‘ eine Relationierung, einen Vergleich, die Bestimmung einer Verbesserung gegenüber identifizierbaren Vergleichsobjekten. Das ‚Nur‘ steht in Anführungszeichen, weil dieser Job schwer genug bleibt, besonders aber, weil, 18
Übrigens mit erheblichen nationalen Differenzen. So werden in den USA viel höhere Umsatzrenditen für angemessen – und gerechtfertigt! – gehalten als in Deutschland. Das führt zu Reibungen, wenn beiderlei Anspruchsniveaus in einem internationalen Konzern aufeinanderprallen.
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wie erwähnt, ein ‚besser oder schlechter‘ in Unternehmen vom Markt und dem Urteil der Kunden abhängt, sich also wiederum allenfalls ex post ergibt. Dem begegnen die Entscheider also mit rebus-sic-stantibus-Klauseln19 oder, allgemeiner, mit Erwartungsbildung, unterstützt etwa durch Marktforschung. Die Praxis kann die Spaltmaße an ihren neuen Automodellen nicht minimieren, wohl aber verringern – im Vergleich zum eigenen Vorläufermodell oder zu den aktuellen Modellen der Konkurrenz. Sie kann PS-Zahlen, Höchstgeschwindigkeit, die Zahl der Airbags und dergleichen nicht maximieren, aber erhöhen (und hoffen, dass die Kundschaft es goutiert). Entsprechendes gilt für Gewinne, Umsätze, Marktanteile, Rentabilität oder was immer sonst zu betriebswirtschaftlichen Zielvorgaben avanciert. Zwischen den Maxima der Orthodoxie und dem psychologischen ‚genug‘ Herbert Simons’ liegt das evolutionäre ‚genug‘ der Viabilität (von Glaserfeld 1991) und, ausbuchstabiert für eine kapitalistische Umwelt, das komparative Mehr hinreichender Überbietung. Was aber ist mit ‚hinreichend‘ gemeint? Was kann ‚hinreichende Übereinstimmung mit dem Imperativ der Überbietung‘ heißen? Was ist ‚gut genug‘ in dem evolutionären Sinne von ‚viabel‘? Es ist kein Mangel, sondern ein wesentliches Merkmal solcher Prinzipien/Regeln/ Maximen, dass sie in einem gewissen Sinne leer sind – dass sie notwendigerweise eine gewisse Leere lassen, die erst unter situationalen Umständen gefüllt/erfüllt/ergänzt werden kann. Man muss also so fragen: Was heißt ‚Überbietung‘ heutzutage? Heißt es downsizing? Corporate restructuring? (Und übrigens, was heißt das eigentlich genau?) Heißt es schlanke Produktion? Investments in Humankapital? Desinvestitionen? Diversifikation? Oder, umgekehrt, Konzentration aufs Kerngeschäft? Alle diese Rezepte sind im Angebot. Es gibt keine sicheren, vom Handeln der anderen unabhängigen Antworten. Es gibt keinen Blick ‚hinter den Rücken‘. Es gibt keinen Weg, der Nachträglichkeit zu entrinnen, mit der sich die Dinge herausstellen müssen. Wieder helfen Schütz’ Konzept der Idealisierung und Derridas Logik des Supplément, (nicht, um fertige Antworten zu liefern, aber) das Problem zu klären, weil es einmal mehr ein Problem des ‚understanding origins‘ ist, diesmal: das Problem, das Verhältnis eines Prinzips zu seiner Anwendung zu verstehen – die Um-Setzung des Prinzips in die Praxis. Auch das Prinzip der Überbietung ist keineswegs ein reiner und voller Anfang, principium, sondern 19
Dupré (1993: 368 ff.) bietet eine zwingende Erörterung, warum deren Pendant in der Theorie, die berühmt-berüchtigte ceteris-paribus-Klausel, pauschal in Anschlag gebracht, zu einer Immunisierung und vollständigen Leere der Theorie führt: „Without careful specifiction of what it is for other things to be equal, we could claim a ceteris paribus law whenever anything has even a rarely exercised capacity to bring about some effect.“ Diese Kritik hat Hans Albert schon 1967, in „Marktsoziologie und Entscheidungslogik“, geführt.
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bedarf der Füllung/Erfüllung in praxi. Die Einsicht, die wir von Derrida beziehen können, ist dann: Diese Füllung/Erfüllung mag sich entweder als Ergänzung oder als Ersetzung herausstellen. „Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert ... aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; wenn es auffüllt, dann so, wie man eine Leere füllt.“ (Derrida 1983: 250) Das schließt ein, dass in praxi das Prinzip sogar pervertiert werden kann. Schütz erläuterte die gleiche Komplikation nicht mit Blick auf Prinzipien, aber auf ‚Deutungsmuster‘ und deren Anwendung. Deutungsmuster – man denke z. B. an das Schema eines typischen Postbeamten, Polizisten oder Kartenspielers – sind in einem bestimmten Sinne leere Formen, die in praxi gefüllt werden müssen, durch praktische interpretative Akte. Jede Interpretation ist ein Akt rekursiver Sinnkonstitution, vollführt im Wege der Anwendung eines Deutungsmusters, das aber erst in seiner Anwendung genau bestimmt oder gefüllt/ergänzt wird. Das ist, wie Schütz (1974: 113 f, 259) zu Recht anmerkt, keineswegs ein irgendwie mangelhafter Zirkel, keine petitio principii, weil wir zwischen der Konstitution eines interpretativen Schemas via Anwendung und dem auf diese Weise konstituierten Schema (das sodann wieder angewandt und dadurch erneut spezifiziert, vielleicht modifiziert, vielleicht reproduziert, vielleicht pervertiert, jedenfalls supplementiert wird) unterscheiden können. Damit ist genau die Art und Weise beschrieben, in der das Prinzip der Überbietung praktisch umzusetzen ist. Es ist natürlich nicht vollkommen leer – irgendwie meint es ja ein ‚Mehr‘ (mehr Geld; mehr Gewinn; mehr Output; mehr Umsatz; mehr Effizienz; mehr Wachstum oder Ähnliches). Irgendwie meint es ja eine Verbesserung der Position gegenüber gestern und/oder gegenüber ‚den Anderen‘. Aber es bleibt eine notwendige Leere, und erst situative Umstände – Wie ist die Marktsituation? Wie stehen die Konkurrenten da? Was tun sie? Wie reagieren die Kunden? Und so fort – erlauben deren Füllung/Erfüllung. Maximierung entpuppt sich dann als ein sehr spezieller, seltener Fall, weil die Voraussetzungen der Maximierung im Sinne der Kalkulation eine Maximums, und sei es des maximalen Erwartungsnutzens, in der Realität nicht sehr oft gegeben sind20 (und schon gar nicht im Falle strategischen Entscheidens). Es handelt sich, so gesehen, um einen Sonderfall der Überbietung.
20
Ein Beispiel wäre die Routenoptimierung für viele Aufgaben des Transports. Da gibt es wenig Variablen, viel Erwartbares, wenig Abhängigkeit vom – gar strategischen – Verhalten anderer. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine vom Sozialen nahezu gereinigte Problemstellung.
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2. Macht und Ökonomie So selbstverständlich die Ökonomie für den Soziologen Anthony Giddens als Strukturmoment der Herrschaftsordnung zu thematisieren ist, so wenig entspricht das dem Selbstverständnis der ökonomischen Theorie. Mehr noch: Sie, die Macht doch zumindest als Moment der Ökonomie aufzunehmen hätte, tut sich traditionell selbst damit schwer. Der theoretische Ort, an dem es geschehen müsste, ist die Theorie der Unternehmung, die aber Macht lange Zeit völlig ausgeblendet hatte und, seitdem sie sie zur Kenntnis nimmt, darin ein eher unproblematisches Mittel zur Durchsetzung wirtschaftlicher Entscheidungen sieht. Uns muss also daran gelegen sein, eine Verbindung zu solchen unternehmungstheoretischen Ansätzen herzustellen, die in der Koordination und Kontrolle der unternehmungsinternen Aktivitäten ihr eigentliches Thema haben, insbesondere auch – aber nicht nur – aller Aktivitäten zur Erfüllung von Arbeitsverträgen. Um bei letzterem – in mancher Hinsicht zentralen – Beispiel für den Moment zu verweilen: Spätestens seit John A. Commons in „Institutional Economics“ (1934) in puncto Arbeit und Arbeitsvertrag sog. ‚bargaining transactions‘, also das Aushandeln und Übertragen des Verfügungsrechts über die Arbeitskraft, von den anschließenden ‚managerial transactions‘, also der Nutzung dieser Rechte durch Anordnung von Vorgesetzten, unterschieden hat, gerät die Unbestimmtheit des Arbeitsvertrages und die Differenz zwischen Arbeitsvermögen und Arbeit in den Blick auch unternehmungstheoretischer Analysen. Ronald H. Coase operierte in „The Nature of the Firm“ (1937) – in etwas anderer Perspektive – mit der Unterscheidung von Organisationskosten und sog. ‚marketing costs‘, Kosten also, die sich mit der Anzahl der Markthandlungen ändern und für die sich heute der Name Transaktionskosten eingebürgert hat: Such- und Informationskosten, Kosten der Verhandlungen, des Abschlusses und der Kontrolle von Verträgen. Bleiben wir noch beim Arbeitsvertrag: Herbert A. Simon hat die Differenz zwischen ‚employment contract‘ und ‚sales contract‘ mit der Bemerkung auf den Punkt gebracht: ,,[Der Arbeiter ist] ... sozusagen bereit, einen Blankoscheck zu unterschreiben“ (1957: 185; Übers. G.O.), und er hat hinzugefügt: „Der Verkäufer ist nicht daran interessiert, wie seine Ware nach dem Verkauf gebraucht wird, während der Arbeiter daran interessiert ist, was der Unternehmer ihn tun lassen wird ...“ (1957: 184). Besonders an Simons „A Formal Theory of the Employment Relation” (ebd.: 183 ff.) sieht man, wie weit schon damals die Verknüpfung verhaltenswissenschaftlicher und mikroökonomischer Argumente gediehen war, die ja wenig später zu Cyerts und Marchs „A Behavioral Theory of the Firm“ (1963) ausformuliert wurde: die Theorie der Koalitionsbildung, der Konflikte und ihrer prekären und immer nur
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vorläufigen Quasi-Lösungen, die unter anderem durch Verhandlungen und „politics“ erzielt werden, wie March und Simon schon in „Organizations“ (1958) postulieren. Von dieser Theorietradition zweigen nun zwei alternative Paradigmen ab, die beide beanspruchen können, die Reduktion der Unternehmung auf die Frage der Produktionseffizienz durch die herkömmliche ‚theory of the firm‘ zu überwinden zugunsten der Effizienz der Koordination der Produktion (und des Absatzes, der Beschaffung und aller anderen Unternehmungsaktivitäten). Das geschieht bekanntlich einmal im Namen der Transaktionskosten, die besonders Oliver E. Williamson in den Mittelpunkt einer neuen mikroökonomischen Theorie der Organisation gestellt hat.21 Das alternative, allerdings durchaus verwandte Paradigma ist das der Kontrolle bzw. der Kontrollkosten, die im Ansatz der US-amerikanischen „Radical Political Economics“ eine ähnlich dominierende Rolle spielen. Eine Differenz dieser beiden Paradigmen ist es, dass in der Coase-SimonWilliamsonschen Sicht der Dinge der Gebrauch, der in der Unternehmung von Arbeitsvermögen gemacht wird, letztlich so problemlos vom Unternehmer determiniert werden kann, wie das die Neoklassik immer unterstellt hat, während die Bowles, Gintis, Edwards, Reich, Gordon und Weisskopf darin die zentrale und unaufhebbare Konfliktbeziehung innerhalb der kapitalistischen Firma sehen. Mit starken Argumenten wenden übrigens Gintis und Bowles (1981) diesen Gesichtspunkt kritisch auch gegen Marx, von dem natürlich die Unterscheidung von Arbeitsvermögen und Arbeit ursprünglich stammt, der aber den Produktionsprozess seinerseits als einen ‚Administrationsprozess von Dingen‘ konzipiert habe. Bei Coase und Williamson erweist sich der Arbeitsvertrag mitsamt seinen Anordnungsrechten gerade als das gegenüber dem Markt effizientere Koordinationsinstrument, während die Radicals von daher – aus den spezifischen Kontrollkosten der kapitalistischen Unternehmung – deren Ineffizienz, Überorganisiertheit, ineffiziente Technikwahl etc. zu entwickeln versuchen: mittels des theorietechnischen Instrumentariums der Mikroökonomie. (Die kapitalistische Firma treibt demnach etwa die Arbeitsteilung auf ein ineffizientes Niveau, weil sie dadurch Kontrollkosten spart und den Effizienzverlust durch diese Einsparung (über-)kompensiert; oder sie bevorzugt systematisch solchen technischen Fortschritt, der eine Erhöhung der Arbeitsleistung je Arbeiter ermöglicht, und
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Vgl. z. B. Williamson (1975, 1985); mit speziellem Bezug auf die Organisation der Arbeit und auf das Kontrollparadigma der „Radical Political Economics“ Williamson (1980, 1981); kritisch dazu Dow (1987); zur betriebswirtschaftlichen bzw. unternehmungstheoretischen Rezeption dieses Ansatzes vgl. z. B. Picot/Michaelis (1984); Stauss (1983); Windsperger (1983; 1987); Schneider (1987); Kieser (1987).
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neigt daher zu einem ineffizient hohen Niveau technisch-organisatorischer Innovation, etc.). Natürlich hat eine solche Argumentation eine hohe Affinität zum Phänomen der Macht, die bei Simon ohnehin und nun auch bei Williamson eine, milde gesagt, unterentwickelte Rolle spielt (vgl. Dorow/Weiermair 1984; Duda/Fehr 1988). Macht wird als dasjenige Medium entwickelt, das die Lücke zwischen rechtlicher Verfügungsmacht über die Arbeitskräfte und der – vom Arbeiter ausgeübten – faktischen Verfügungsmacht schließt. Neoklassisch gesprochen: „Die kapitalistische Unternehmung wird versuchen, die Kosten [= Nutzenentgang] der Nichteinhaltung von Befehlen für den Arbeiter so stark zu erhöhen, daß sie höher sind als der Nutzenentgang, der durch die Ausführung des Befehls entsteht.“ (Duda/Fehr 1986: 550) Eine derartige ökonomische Theorie der Macht in Unternehmungen führt u. a. via Effizienzlohntheorie zu einer Theorie des Unterbeschäftigungs-Gleichgewichts, die als unternehmungstheoretisch fundiert gelten kann, und zu einem strikt ökonomischen und zugleich machttheoretischen Verständnis solcher Phänomene wie interne Arbeitsmärkte, die durch Senioritätsregeln abgeschottet sind, Betriebsrenten, Zusatzversicherungen und andere betriebliche Sozialleistungen, Prämienzahlungen u. a., die allesamt die ‚Mobilitätskosten‘ für die Beschäftigten – andersherum gesagt: das Drohpotential der Unternehmensleitung – erhöhen, eine Sicht der Dinge, der sich ausgerechnet die Betriebswirtschaftslehre ungern öffnet (vgl. die Debatte um Sadowskis Analyse betrieblicher Sozialleistungen in der DBW 1984 und 1985; Sadowski 1984; Herder-Dorneich 1985; Wollert 1985; Wirth 1985). Im normativen Hintergrund einer solchen Argumentationsweise steht bei den Radicals die Frage nach ‚kontrollkostenfreundlicheren‘ Basisinstitutionen: Mitbestimmung, Selbstverwaltung, oder was sonst Kontrolle durch Vertrauen und Konsens zu ersetzen vermag. (Dabei ist es denkbar, dass die Radicals das Konsenspotential, mit dem auch in der kapitalistischen Unternehmung recht zuverlässig gerechnet werden kann, systematisch unterschätzen, darin denn doch Enkel Marxens (vgl. Ortmann 1987). Vom Dissenspotential und Kontrollbedarf derjenigen Institutionen zu schweigen, auf die sie ihre Hoffnungen setzen). Das Kontrollparadigma erlaubt nun einen – wenn auch nicht nahtlosen – Anschluss an die Ergebnisse der machttheoretisch interessierten Organisationssoziologie (vgl. Crozier/Friedberg 1979) und der Industriesoziologie, an das Konzept der Mikropolitik (vgl. Küpper/Ortmann 1986; 1988) und besonders auch an die anglo-amerikanische Labour-Process-Debate, in der ja – unter Mitwirkung der Radicals (vgl. Edwards 1981) – auf analoge Weise Kontrolle als endogenes Moment des betrieblichen Geschehens begriffen wird.
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3. Die Unternehmung als Akteur 3.1 Das unternehmungstheoretische Desiderat Die Theorien der Unternehmung halten allerlei Antworten auf die drei Fragen aller Fragen bereit: (a.) ‚Just what is the thing we call a firm?‘ (b.) ‚Why are there firms?‘ (c.) ‚Why are firms organized as they are‘ (vgl. Putterman/Kroszner 1996)? Geradezu verblüffend ist es, wie selten Unternehmungen als (korporative) Akteure charakterisiert worden sind – mit allen Konsequenzen, die diese Ignoranz gegenüber den enormen Möglichkeiten von Unternehmen zum aktiven Eingreifen ins soziale, nicht nur ökonomische Geschehen zeitigt. Firmen sind als Produktionsfunktionen und Input-Output-Maschinen, als Bündel von Rechten, als Risikoversicherungen für Input-Lieferanten, als Nexus von Verträgen oder auch von Handlungsregeln, als wirtschaftliche Aktionszentren, als kapitalistische Erwerbswirtschaften, als produktive soziale Systeme, als organisierte Einrichtungen zur Verringerung von Einkommensunsicherheiten durch Suche nach und Verwirklichung von Arbitragegewinnen, als groß geratene Teams, als Ressourcenbündel, als Veranstaltungen des resource pooling, sodann der Minimierung von Opportunismusrisiken und der Transaktions-, Monitoring- oder Kontrollkosten, natürlich auch als Einrichtungen zur Ausbeutung und Kapitalverwertung (vgl. Türk 1987; 1995), schließlich aber, und heute mit besonderer Aktua1ität, als „repositories of specialized knowledge“ (Demsetz 1993: 171) beschrieben worden. Fast immer fehlt in diesen Bestimmungen, die einander im Übrigen meist gar nicht ausschließen, die Akteurseigenschaft von Unternehmen. Das ist umso befremdlicher, als Organisationen, und ganz besonders die großen Unternehmen, die mächtigen Akteure der Moderne sind. Das gilt sowohl in ihrem Innenverhältnis zu ihren Mitgliedern als auch in ihrem Außenverhältnis, besonders, wenn man ihren großen Einfluss auf Recht und Politik bedenkt (dazu s. 3.3). Wie wenig die aufgezählten Bestimmungen einander ausschließen und vielmehr Aspekte oder Dimensionen der Unternehmung ins Auge fassen, sieht man, wenn man Unternehmen einfach bestimmt als (typischerweise korporative) Akteure systematisch betriebener Kapitalverwertung (die zu diesem Behufe Teambildung, Ressourcenpooling und/oder Ausbeutung etc. veranstalten, Ausbeutung anderer Akteure und/oder günstiger Gelegenheiten).
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3.2 Der korporative Akteur Bevor ich besonders die gesellschaftliche Außenwirkung von Unternehmen diskutiere, muss ich eine Frage erörtern, die betont praktisch-moralisch oder betont theoretisch gestellt werden kann: Kommen Organisationen, und daher auch: Unternehmen, überhaupt als Akteure in Betracht? Gibt es so etwas wie korporative Akteure? Ich glaube, dass es starke, ja: unabweisbare Gründe gibt, diese Frage mit einem entschiedenen ‚Ja, aber‘ zu beantworten: Ja, aber ohne die Rolle individueller Akteure dabei zu negieren. Die Differenz zu Vertretern eines methodologischen Individualismus wie Max Weber oder Herbert Simon liegt am ehesten in der Anerkennung der Emergenz einer Akteurseigenschaft, die aus einer Verselbständigung gegenüber den Vermögen, Motiven, Interessen und Intentionen der Organisationsmitglieder resultiert. Der übliche Einwand dagegen lautet: ‚Wer hat je eine Organisation handeln sehen?‘ Er sticht deswegen nicht, weil wir auch das Handeln von „natürlichen“ Personen nicht etwa sehen, sondern (re- )konstruieren und Subjekten zurechnen – Subjekten, deren Zurechnungsfähigkeit, Konsistenz etc. wir ebenfalls fingieren, in einer in der Moderne fest institutionalisierten und praktisch wirksamen Fiktion oder Etikettierung (vgl. Douglas 1991; Jepperson/Meyer 1991). Organisationen, und zumal Unternehmen, werden als juristische Personen und korporative Akteure fingiert. Es ist dies eine Realabstraktion im Sinne Klaus Türks (1995: 168). Die Fiktion resultiert aus sozialer Praxis und mündet wieder in sie ein, ist in vielfacher Hinsicht der Bewährung in der sozialen Praxis ausgesetzt und kann daher an widerstreitender Praxis und Erfahrung scheitern. Akteursstatus erlangen Organisationen durch zyklische Verknüpfung von Selbst- und Fremdbeschreibung einerseits und Selbst- und Fremdzurechnung des Handeins, Entscheidens und Kommunizieren ihrer Mitglieder andererseits im und durch das Handeln, Entscheiden und Kommunizieren – oder, kürzer, in der Formulierung von Teubner (1987: 64): durch zyklische Verknüpfung von Identität und Handlung. Der Korporativakteur ist eine Realität, die sich einer Fiktion verdankt. „Er ist ,real‘, weil diese Fiktion Strukturwert gewinnt und soziale Handlungen dadurch orientiert, dass es diese kollektiv bindet.“ (Teubner 1987: 69) Die Differenz zu Max Weber ist hier minimal. Was ‚Strukturwert‘ heißt, lässt sich weiter ausbuchstabieren. Man kann an eine ‚Corporation’s Internal Decison Structure‘ (CID-Struktur) denken, die es erlaubt, einer Organisation korporative Intentionalität zuzusprechen (so Kettner 2001: 167). Weber sprach von einem Verwaltungs- respektive Erzwingungsstab. Autoritäts-, Weisungs-, Verantwortlichkeits-, Zuständigkeits- und Vertretungsregelungen erlauben es, Interaktionen einer Organisation zuzurechnen. Solche Zurechnung ist nicht schiere gedankliche Konstruktion, sondern basiert erstens
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auf organisatorisch geregelten Repräsentationsverhältnissen – das Organisationsmitglied handelt für die Organisation, für die Unternehmung (im Dienste, in Stellvertretung, im Auftrag, auf Weisung, im Namen, mit Prokura, im Interesse oder jedenfalls unter dem Schutz und Schirm der Unternehmung), und zweitens auf der Emergenz organisationaler, individuell nicht verfügbarer Handlungsvermögen und Handlungsweisen. Man kann, in abstrakterer Perspektive, an Eigenschaften wie Handlungsfreiheit, Voraussicht, Überlegungsfähigkeit und Mitbetroffenheit (Kettner 2001: 149) oder auch an Selbstbindungsfähigkeit (vgl. Pies 2001) denken, die eine Akteurseigenschaft konstituieren. Man muss daher Organisationen und zumal Unternehmen mit ihrem Eigensinn als ‚Verursachungsinstanz‘ etwa von Gesetzgebungsakten, Marketing-Kampagnen oder Zinspolitik anerkennen und diese Vorgänge ‚Handeln‘ (des Bundestages, eines Unternehmens, der Zentralbank) nennen, weil es einigermaßen autonom selegierte, sinnhaft intendierte oder jedenfalls zurechenbare und daher – in Grenzen – moralisch zu verantwortende Verhaltensakte sind.22 3.3 Management, Recht und Politik Wie agiert der korporative Akteur ‚Unternehmung‘? Ich beschränke mich auf das vernachlässigte Feld der strategischen Einflussnahme auf Recht und Politik. Mein Argument ist, dass die Einflussnahme von Unternehmungen auf Regulation, Recht und Politik ein vernachlässigtes, aber wichtiges Feld des strategischen Managements ist und daher im Rahmen einer positiven Theorie nicht ausgeblendet werden sollte. Es geht, allgemeiner formuliert, um die Opposition zwischen strategischem Management und seinen institutionellen, besonders: rechtlichen und politischen, Rahmenbedingungen. Institutionen bestimme ich dabei mit Anthony Giddens (1984: 17) als diejenigen regelmäßig reproduzierten Praktiken, die in gesellschaftlichen Totalitäten – innerhalb von Organisationen, Branchen oder ganzen Gesellschaften – die größte Ausdehnung in Raum und Zeit besitzen – seien es, wie bei Veblen (1987: 186), so etwas wie Denkgewohnheiten, besser: Interpretations- und Kommunikationspraktiken, der rechtlichen Sanktionierung oder politische oder ökonomische Praktiken, die dem einzelnen von der Gesellschaft 22
Vgl. Geser (1990: 402 ff.). ‚Verursachungsinstanz‘ steht in Anführungszeichen, weil es nicht um eine naturwissenschaftliche Verursachung geht, sondern um Aktorkausalität im Sinne Richard Taylors (1966). Instruktive Erörterungen der ethischen Aspekte der Herausbildung/Anerkennung des Akteursstatus von Korporationen bei Bühl (1998: 61 ff., 297 ff.). Türks Einwand (1995: 11, Fußnote 4) gegen die Bestimmung von Organisationen als Akteure – sie hindere, den ‚Strukturationszusammenhang zwischen Organisationen und Institutionen theoretisch zu fassen‘ – teile ich nicht. Dazu jetzt, in 3.3, mehr.
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auferlegt sind und von ihm nicht einfach abgelehnt werden können. In diesem Abschnitt interessieren mich besonders solche – rechtlichen und politischen – Institutionen, die von Seiten des Staates im Wege der Regulation bewusst und absichtlich – deliberat – etabliert werden, obwohl ich auch andere Institutionen gelegentlich streifen werde. Zeigen möchte ich, dass die Vernachlässigung der Rekursivität zwischen diesen Institutionen einerseits und dem strategischen Management andererseits innerhalb der Theorie ein wichtiges Feld strategischen Managements ausblendet, das ich ‚strategische Institutionalisierung‘ und näherhin ‚rekursive Regulation‘ nenne: die allseits bekannte und doch eher stiefmütterlich behandelte strategische Einflußnahme des Managements auf die institutionellen Rahmenbedingungen seines Handelns. Strukturation meint ja: Strukturen sind Medium und Produkt des Handelns – sie werden durch das Handeln hervorgebracht, das sie sodann restringieren und, nota bene, ermöglichen. Diese Dualität und Rekursivität brauchen wir nicht nur im Verhältnis organisationaler Strukturen zum individuellen Handeln vorzusehen, wir können sie auch im Verhältnis supraorganisationaler Strukturen zum organisationalen Handeln in Anschlag bringen. Und ein besonders wichtiger Fall ist dabei eben: das Verhältnis institutioneller, besonders politischer und rechtlicher, Rahmenbedingungen zum strategischen Management. Dieses Verhältnis wird in einzelwirtschaftlicher Perspektive üblicherweise so behandelt, dass die instutionellen Rahmenbedingungen ausgeklammert oder irgendwie als selbstverständlich gegeben genommen werden und nach einem unter Effizienz- oder Rentabilitätsgesichtspunkten optimalen strategischen Kurs einer Unternehmung gefragt wird. Im Rahmen einer normativen Theorie der Regulation wird umgekehrt in gesamtwirtschaftlicher Perspektive nach nach optimalen oder wenigstens second-best-Institutionen gefragt, die eine möglichst hohe Effizienz der regulierten Unternehmen insgesamt ermöglichen. Beide Male bleibt die Genesis von Institutionen, die Frage ihrer Entstehung unter dem Einfluss interessierter, mehr oder minder mächtiger Akteure und insbesondere Unternehmungen, außer Betracht. An Anschauungsmaterial für solchen Einfluss ist kein Mangel. Die USamerikanischen Automobilhersteller, mit einer gesetzlichen Regelung zur Förderung der Produktion verbrauchsarmer Autos aus dem Jahre 1975 konfrontiert, drohten, als die festgelegten Höchstgrenzen für den Flottenverbrauch greifen sollten, mit Fabrikschließungen, Arbeitsplatzabbau und einer resultierenden Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums und erreichten, daß die Verbrauchsstandards Ende 1985 „in accordance with the wishes of GM and Ford“ (Adams/Brock 1986: 924) gelockert wurden. Die Tabak- und die Waffenindustrie sehen nicht untätig zu, wenn Präsident Clinton das Rauchen oder den Waffenbesitz gesetzlich zu restringieren versucht. Wenn die amerikanische Sicher-
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heitsbehörde National Transportation and Safety Board (NTSB) sich gegenüber der Federal Aviation Administration (FAA) mit der Forderung durchsetzt, zusätzliche Sicherheitsrichtlinien für alle Jumbo-Jets zu erlassen, die vor Funkenflug im Tank schützen sollen, dann ist das, wie ein US-Luftfahrtexperte erklärt, „finanzielles Dynamit für Boeing“ (Der Spiegel Nr. 52 vom 23.12. 1996: 178). Von der neuerdings viel postulierten Regulation der Finanzmärkte zu schweigen. • Nicht nur mit Blick auf Recht und Politik, sondern in einem sehr viel allgemeineren Sinne lässt sich sagen, dass Prozesse der Institutionalisierung zum Kerngeschäft des Managements von Unternehmungen gehören, und zwar vor allem adressiert an, • die Unternehmung selbst (Etablierung intraorganisationaler Institutionen – ‚Organisation‘, ‚Standardisierung‘), • Kunden (Erzeugung und Stabilisierung von Präferenzen, Institutionalisierung von Vertriebswegen etc.), • Konkurrenten (z. B. Erzeugung von Marktzutrittsbarrieren), • Lieferanten, Abnehmer und andere Kooperationspartner (Etablierung interorganisationaler Netzwerke, Herstellung von Abhängigkeiten, Stabilisierung von Vertrauen etc.) und • Recht und Politik (institutioneller Rahmen). Hier geht es besonders um den letzten Punkt, den ich jedoch zunächst in einen allgemeinen Rahmen stellen will. Eine systematische Betrachtung des Verhältnisses von strategischem Management und Institutionen kann entlang zweier Dimensionen entwickelt werden. Die eine stellt auf die Unterscheidung ab, ob nur innerorganisatorische oder organisationsübergreifende institutionelle Regelungen betroffen sind. Die andere Dimension bezieht sich auf die Frage, ob es sich eher um die Nutzung von bestehenden institutionellen Regelungen (einschließlich unintendierter Veränderungen im Zuge dieser Nutzung) handelt oder ob institutionelle Regelungen durch das Management aktiv und intendiert erzeugt oder beeinflusst werden. Von den bei einer Kreuztabellierung entstehenden vier Feldern interessiert mich hier nur der Fall der intendierten Veränderung bzw. Erzeugung supraorganisationaler institutioneller Regelungen (via Einfluss auf staatliche Regulation) durch das strategische Management (Abb. 2), den ich ‚strategische Institutionalisierung‘ nenne.
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Nutzung (incl. nichtintendierter Modifikation) bestehender Institutionen Intendierte Veränderung von Institutionen
organisationale Institutionen organisationale Reproduktion
supraorganisationale Institutionen gesellschaftliche Reproduktion
Reorganisation
strategische nalisierung
Institutio-
Abb. 2: Nutzung und Veränderung organisationaler und organisationsübergreifender Institutionen im Rahmen des strategischen Managements Organisationsübergreifend institutionalisiert sind allerdings auch: bestimmte Denk- und Konsumgewohnheiten, Vertriebskanäle, Industriestandards und technische Normen, die Zuschnitte ganzer Märkte und Branchen, um nur einiges zu nennen, das durchaus das Interesse des strategischen Managements erregt – und um anzudeuten, dass sich Prozesse der intendierten wie nichtintendierten, organisationalen wie supraorganisationalen Institutionalisierung in allen Dimensionen des Sozialen abspielen: in der Dimension der Signifikation, der Legitimation, der Politik und der Ökonomie. Wir benötigen daher noch eine weitere Unterscheidung, um unseren Gegenstand endgültig eingekreist zu haben: Ich unterscheide auf der Ebene supraorganisationaler Institutionen Regulation durch den Staat, in einem sehr weiten Sinne verstanden als bewussten, intendierten und formalen Typus rechtlicher und politischer Institutionalisierung, von anderen Typen der Institutionalisierung, die über informelle Prozesse des taking for granted verlaufen und auf diesem Wege Normen und Gewohnheiten etablieren. Beide Typen können „strategischer Institutionalisierung“, das heißt strategischer Einflussnahme durch das Management von Unternehmen unterworfen werden. Formal heißt aber, dass die politischen und rechtlichen ‚Spielregeln‘ der Gesellschaft durch die dazu berechtigten Instanzen der Legislative, der Judikative und der Exekutive hervorgebracht und dass sie genau deshalb als irgendwie ‚gültig‘ akzeptiert werden. Man kann dann den Einfluss des strategischen Managements auf Regulation vom Einfluss auf andere, nicht formale, nicht via Regulation hervorgebrachte, ‚informelle‘ Institutionen unterscheiden (Abb. 3).
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„Strategische Institutionalisierung“ Die Einflussnahme des strategischen Managements auf supraorganisationale Institutionen betrifft informelle (nicht staatlich etablierte) Institutionen Marketing, Standardisierung und Normung, Etablierung von Netzwerken etc.
formelle (durch den Staat per Regulation etablierte) Institutionen rekursive Regulation
Abb. 3: Rekursive Regulation als Spezialfall strategischer Institutionalisierung Diese erstere Einflussnahme des strategischen Managements auf die förmliche, politische und rechtliche Regulation ihres Handlungsfeldes rechtfertigt es, von rekursiver Regulation zu sprechen. Denn es geht um die ‚Regulation‘ der Regulation (Abb. 4). Man sieht dann leicht und deutlich den Zusammenhang: Eben weil es ihr eigenes Handlungsfeld ist, das per Regulation strukturiert wird, muss die Unternehmung, muss ihr strategisches Management daran interessiert sein, diese Regulationen zu regulieren, genauer: die Regulateure zu günstigen Regulationen zu veranlassen.
Staat
Unternehmen Abb. 4: Rekursive Regulation: Das Verhältnis von Staat und Unternehmen
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4. Sprache, Unternehmung und Unternehmungstheorie 4.1 Performative Sprechakte Der englische Wissens- und Wissenschaftssoziologe Barry Barnes (1983) hat im Gefolge John L. Austins (deutsch 2. Aufl. 2002), dem wir ja die basale Unterscheidung konstativer von performativen Sprechakten verdanken, vorgeschlagen, solche Begriffe, die ‚natürliche‘ Gegenstände und Eigenschaften erfassen, von solchen zu unterscheiden, die Gegenstände und/oder Eigenschaften erfassen, die durch performative Sprechakte allererst hervorgebracht werden. ‚Natur‘ oder ‚Sprechakt‘ – daher nennt Barnes die ersteren: Begriffe vom N-Typ, die letzteren: Begriffe vom S-Typ. ‚Baum‘, ‚Blatt‘, ‚Brett‘, das sind Bezeichnungen für ‚N-type terms‘, ‚Totem‘, ‚Tabu‘, oder auch ‚Geld‘ bezeichnen ‚S-type terms‘. Typische Begriffe vom S-Typ, mittels derer wir uns also auf eine Entität beziehen, die wir erst durch diese Bezugnahme entstehen lassen, sind auch: Außenseiter, Verdächtiger, Gegner, Freund, Feind, Kosten, Leistungen, Erfolgsfaktoren. Es sind nicht deren natürliche Eigenschaften, sondern unsere performativen Bezugnahmen, die sie zu Außenseitern etc. machen. Das ist natürlich eine heikle Unterscheidung, die nicht über die Schwierigkeit hinweg hilft, dass der Mensch von Natur Kultur ‚ist‘ und dass wir, wenn wir ‚Natur‘ sagen, ‚Baum‘ oder ‚Blatt‘, immer schon die Natur in Richtung Kultur überschritten haben; dass wir damit immer schon in der Sprache sind. Barnes’ wichtiger Aufsatz trägt den Titel „Social Life as Bootstrapped Induction“. Das ganze soziale Leben, will er sagen, ist voll solcher Bezugnahmen auf selbsterzeugte Gegenstände und Eigenschaften, selbsterzeugt, wohlgemerkt, durch eben diese Bezugnahmen. Das soziale Leben ist voll von Selbstreferentialität und bootstrapping, und Organisationen sind es erst recht. In einem nächsten Schritt können wir einen performativen Sprechakt (oder eine Handlungsweise, die einen solchen konkludent zum Ausdruck bringt, zum Beispiel den Pfiff des Schiedsrichters oder den Akt des Bezahlens mit deutschem Geld) zerlegen und sagen: Solche Akte enthalten als performativen Kern die operativ wirksame Bestimmung: X zählt als Y, oder, genauer: X zählt als Y im Kontext K (vgl. Searle 1983; 1997). Der Satz Y zählt als Versprechen im Kontext K1. Meier zählt als Außenseiter, Müller als Gegner in den Kontexten K2 und K3. Dieses Papierstück zählt als Geld im Kontext K4. Wenn man die Sache so formuliert, sieht man, dass der darin enthaltene performative Effekt der Effekt einer Fiktion ist, und zwar einer operativ wirksamen, nämlich für das weitere Sprechen und Handeln wirksamen Fiktion. Tun wir doch so, als ob dieses Stück Papier Geld wäre, dann ist es Geld. Behandeln wir doch diese beiden Verspre-
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chen V1 und V2 als einen Vertrag, dann ist es ein Vertrag. Wir ziehen uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Bedeutungen. 4.2 Bootstrapping in Theorie und Praxis Bootstrapping, dieser Münchhausen-Trick, wird nicht nur im Sprechen in Anspruch genommen. Allgemein geht es „um Muster, die sich ergeben, wenn Akteure oder Gebilde sowohl als ‚Subjekte‘ als auch als Objekte von Transformationsprozessen auftreten“ (Ortmann 2003: 26); wenn wir den Boden, auf dem wir entscheidend, handelnd stehen, erst durch unser Entscheiden und Handeln bereiten, womöglich: durch Fiktionen. In der Tat ist eine mögliche und wichtige Bedeutungsfacette des bootstrapping: zirkuläre Verursachung. (Schon Maturana, Varela 1990: 54, hatten ja die Zirkularität der autopoietischen Organisation von Zellen und Lebewesen mittels der bootstrapping-Metapher beschrieben.) Aber wir bewegen uns hier in der Welt des Sozialen, ergo in der Welt sinnhaften Handelns, und so wird es oft auch nicht um Kausalität, wohl aber um zirkuläre Begründungsverhältnisse gehen. Das kann mit Leichtigkeit zu einem bekannten, verstörenden, daher immer wieder verdrängten Fundamentalproblem aller Sozialwissenschaft ausgeweitet werden: Wie dem Tatbestand Rechnung tragen, dass die Begriffe, Theoreme, Prognosen, Erklärungen und Empfehlungen der Sozialwissenschaften die schöne und hässliche Neigung zeigen, in ihren Gegenstandsbereich einzudringen und dort Wirkungen auszulösen (vgl. Merton 1957)? So dass der Gegenstand sich ändert, weil Wissenschaft ihn beschreibt, analysiert, erklärt – weil Wissenschaft, wenn sie spricht, nolens volens performative Effekte hat? Für die ökonomische Theorie in ihrem Verhältnis zur Praxis hat Oskar Morgenstern (1972: 706 f) diese Zirkularität so formuliert: „The kind of economic theory that is known to the participants in the economy has an effect on the economy itself. … There is thus a ‚backcoupling‘ or ‚feedback‘ between the theory and the object of the theory, an interrelation which is definitely lacking in natural sciences“. Das verstrickt die ökonomische Theorie in die Frage, ob sie – ihre Begriffe, ihre Botschaften und die von ihr ausgelösten und vielleicht nicht energisch korrigierten Missverständnisse – nicht jenen Zustand der Welt, den sie nur zu beschreiben oder gar nur mittels Als-Ob-Annahmen zu modellieren vorgibt, tatsächlich herbeiführt: eine Welt aus egoistischen, opportunistischen, gar arglistigen Akteuren, in der Phänomene wie die Gabe – siehe unten –, von der Theorie abgetan als Illusion oder als weltfremder Idealismus, tatsächlich weltfremd (gemacht) werden. So haben Ghoshal und Moran (1996; Näheres s.u., 7.2) die neue Institutionenökonomik kritisiert.
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Dies betrifft das rekursive, zirkulär gebaute Verhältnis der Theorie zur Praxis. Schauen wir uns nun nach bootstrapping im Gegenstandsbereich von Theorie um. Alles, was in den Sozialwissenschaften unter Titeln wie ‚frames‘, ‚scripts‘, ‚frames of reference‘, Referenzgruppen, ‚labelling‘ (Etikettierungen), Stigmatisierung, ‚group thinking‘ u.ä. verhandelt wird, zehrt von solcher Selbstreferentialität. Das schon ist unternehmungstheoretisch von großer Bewandtnis – man denke nur an die Theorie der Referenzlöhne (s. u., 7.), an die Etikettierungen der Arbeiten den sei es als shirker, sei es als intrapreneurs, oder an die frames des Controlling, des strategischen Managements (z. B.: Markt- versus Ressourcenorientierung). Noch handfestere Beispiele: Aktienpreise, Börsen-Blasen, Wahlergebnisse, politische Allianzen oder auch militärische Strategien23, Rüstungsspiralen, Domino-Effekte – wenn Vietnam kommunistisch wird, fallen auch andere Staaten um; wenn wir einmal Lösegeld zahlen, ermuntern wir Erpresser – und, umgekehrt, die Logik der Abschreckung ‚basieren‘ auf bootstrapping, auf einer selbstfingierten und dadurch selbsterzeugten Grundlage. Barry Barnes (1983: 535 f) gibt das Beispiel der Schwachstelle in einer militärischen Abwehrfront. (Unternehmungstheoretiker mögen hier gleich an wirtschaftliche Abwehrkämpfe, etwa um Wettbewerbspositionen, denken.) Ist ‚Schwachstelle‘ nicht ein ‚N-type term‘? In mancher Hinsicht schon. Hügel, Berge, Flüsse, Befestigungen machen manche Stellen und Stellungen stark – die anderen sind eben schwach. Das Problem ist aber, dass die Zuschreibung von Stärke respektive Schwäche durch den Verteidiger Konsequenzen haben wird: Er wird an einer Schwachstelle Truppen zusammenziehen, neue Befestigungen errichten und so fort – und also die Schwachstelle stärken (und die starken Stellungen schwächen). Umgekehrt der Angreifer: Er wird seine Angriffe auf die (vermeintlichen) Schwachstellen konzentrieren und sie dadurch (weiter) schwächen. Stellen wir nun noch in Rechnung, dass beide die Kalkulation des je anderen bedenken müssen, geraten wir in das schon 1928 von Oskar Morgenstern analysierte Problem der einander zu Tode jagenden Prognosen. „Punkt A ist unverwundbar, also ziehe ich dort Truppen ab, was A schwächt. Das könnte der Gegner antizipieren und gerade A angreifen, weswegen ich die Truppen lieber 23
Das wird in der Spieltheorie seit langem gesehen; vgl. nur Rapaport (1961); Kreps/Wilson (1982); Kreps et al. (1982); Dupuy (1991). Spiele, in denen die Strategiewahl nicht ohne Rücksicht auf die vermutete Strategiewahl von Gegenspielern getroffen werden kann, erfordern und beinhalten ein schon recht verwickeltes bootstrapping: Meine Beurteilung der Situation umschließt die Beurteilung der Situation durch meinen Gegenspieler und umgekehrt. Das alles macht die Hoffnungslosigkeit der Suche nach ‚one best ways‘ oder ‚best practices‘ auf Feldern strategischer Spiele wohl hinlänglich klar. Das beständige Oszillieren des Managements zwischen immer neuen Managementmoden resultiert (auch) aus solchen Paradoxien wechselseitiger strategischer Abhängigkeit.
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nicht abziehe. Oder vielleicht doch, weil auch das ja der Gegner antizipieren könnte ... (etc. ad infinitum).“ Nun brauchen wir nur noch die Stärke oder Schwäche der Abwehrfront als Metapher für die Stärke oder Schwäche einer Institution, eines Gesetzes, einer Regel oder einer Marktposition zu nehmen, um zu sehen, dass wir es dort mit ähnlichen Effekten der Selbstverstärkung oder Selbstunterminierung zu tun haben. Was wir für die physische Landschaft im Krieg gesehen haben, gilt, mutatis mutandis, auch für soziale, für institutionelle Landschaften. Wenn viele eine Währung für schwach halten, werden sie daraus fliehen – und daher schwächen. Wenn Steuergesetze als zahnlos gelten, weil viele sie umgehen, werden noch mehr sie umgehen – und weiter schwächen. Wenn in einer Organisation die Drückebergerei in bestimmten Werkstätten oder Abteilungen als bedrohlich gilt, dann wird das Management dort die Schutzwälle – die Kontrollen – verstärken und vielleicht nur bewirken, dass die Arbeitszurückhaltung andere Wege nimmt. Es wird vielleicht Zeituhren einführen, um die Anwesenheit zu kontrollieren, und nur erreichen, dass die Leute in Anwesenheit faulenzen, vielleicht sogar ihre Zurückhaltung verstärken. Taylorismus und misanthropische Menschenbilder können aus solchen Gründen als self-fulfilling phrophecies wirken. Selbstbefestigung, Selbstdämpfung und Selbstverstärkung aber – nun: von Bedeutung und von Regeln – ist des Rätsels Lösung, warum und wie es angesichts der Strudel des bootstrapping überhaupt zu verlässlicher, stabiler Bedeutung und zu verlässlichen organisatorischen Regelwerken kommen kann, obwohl nicht einfach Regelbefolgung, sondern erst Regelbefolgung und -verletzung für die Funktionsfähigkeit einer Unternehmung sorgt (vgl. Ortmann 2003a). Die allgemeinste Figur ist wohl die im Rahmen der Komplexitätstheorie zunächst jenseits sprachlicher Bezüge entwickelte zirkuläre Figur der Selbstorganisation und selbsttragender, pfadabhängiger Prozesse. Man kann nun sehen, dass die dort ins Auge gefasste zirkuläre, ergo: Selbst-Verursachung jederzeit ein Bündnis eingehen kann mit jener Selbst-Begründung, die in der Sprache angelegt ist. Von den mit alledem implizierten sprachtheoretischen Bezügen findet sich in der orthodoxen ökonomischen Theorie kaum eine Spur, außer in Gemeinplätzen wie dem, dass die Wirtschaft zur Hälfte Psychologie sei, was wir etwas genauer (und weniger psychologistisch) fassen können, indem wir sagen: Im Herzen der Ökonomie gibt es Bedeutung, Selbstreferentialität, bootstrapping, eine „spaghetti junction“ (Barnes 1983: 526) aus unzähligen performativen Sprechakten und Aktknäulen – Akten der Form ‚counts as‘. Mehr noch, wie die Autorin einer nicht nur deshalb bemerkenswerten Dissertation mit dem Titel „Sprache und Ökonomie“, Beate Männel (2002: 16), feststellt: „Betrachtet man das weite Feld ökonomischer Literatur, so muss der
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Eindruck entstehen, Sprache sei aus der Sicht der Wirtschaftswissenschaften vollkommen irrelevant.“ Männel nun nennt zwei Ausnahmen von der Abstinenz der Ökonomen, Donald McCloskeys „Rhetoric of Economics“ und die Theorie des Signalisierens. Darauf und auf zwei weitere Ausnahmen: Veblens Theorie des demonstrativen Konsums und Albert Hirschmans „Exit, Voice, and Loyalty“, komme ich jetzt. 4.3 Thorstein Veblen: Konsum als Symbol Der springende Punkt bei Thorstein Veblens demonstrativem Konsum ist, dass Konsumgüter und Konsum als Zeichen fungieren – als Zeichen für einen Rang, als Status- und Prestigesymbol. Damit befasst sich die Linguistik nicht, denn hier geht es nicht darum „How to do things with words“ (Austin), sondern wir lassen umgekehrt, und nicht nur manchmal, Taten sprechen, wie Austin selbst klar gesehen hat. Das tun auch jene Militärstrategen aus dem vorigen Abschnitt, die eine Abwehrfront ausbauen, um ‚Stärke zu demonstrieren‘ – einschließlich der dann sofort möglichen Täuschungsmanöver. Angriffe werden vielleicht nur fingiert, Potemkinsche Dörfer errichtet, auch im Wirtschaftsleben. Noch beim Einsatz handfestester Gewalt ist fast immer das Wichtigste deren Bedeutung: als Demonstration und Nachweis überlegener Stärke, von Entschlossenheit, von Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, als Warnung, als Drohung, als Bestrafung, als Abschreckung. Die Bedeutungsdimension des Handelns ist in der Soziologie immer gesehen worden, von Durkheim, von Weber, von Parsons, dem Erfinder symbolischer, generalisierter Medien der Interaktion, von Mead, Garfinkel und Goffman, den Denkern symbolischer Interaktion. Nackte Gewalt, wie Parsons einmal (1967: 278) bemerkt hat, hat innerhalb von Machtsystemen den gleichen Platz inne wie pures Gold innerhalb monetärer Systeme. Sie fungieren beide als zwölftes Kamel der Geltung, weil sie deren letzte Zuflucht symbolisieren. (Die ‚Basis‘ von Geld ist nicht Gold, sondern Vertrauen, wie die ‚Basis‘ von Macht nicht Gewalt, sondern Anerkennung ist, was nicht bedeutet, dass Gewalt wie Gold durch Fiktion erübrigt werden kann.) Status, Prestige und prestigeträchtiger Konsum, das alles sind wiederum paradigmatische Beispiele für Begriffe vom S-Typ im Sinne Barnes’. Dass ihre inhärente Selbstreferentialität handfeste ökonomische Auswirkungen hat, ist bekannt. Wenn die Leute begehren, was die anderen für begehrenswert erklären (performativer Sprechakt), und zwar, weil es für begehrenswert erklärt wird, dann führt das in Spiralen, die im wirklichen Leben notorisch, in der ökonomischen Theorie aber notorisch unterbelichtet geblieben sind: Begehrt ist die edle Gegend, am begehrtesten die Spitzenlage oder Spitzenposition, für die daher
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höchste Preise bezahlt werden, Preise, die aber zu einem neuen Gleichgewicht – via Steigerung des Angebots, veranlasst durch die schönen hohen Preise – nicht führen, weil es das Wesen einer Spitzenposition ist, nicht vermehrt werden zu können. Solche Phänomene sind Gegenstand heterodoxer, aber äußerst scharfsinniger ökonomischer Analysen – ich nenne Fred Hirschs Theorie postitionaler Güter, George Akerlofs rat race economics und „The-Winner-Take-All Society“ von Frank und Cook24. Man muss sich klarmachen, dass die Werbeschlachten der Zigarettenkonzerne ebenso Positionskämpfe sind wie die Suche nach Spitzenmanagern, die Jagd nach der Position des Superstars, die Rattenrennen von Anwälten und Unternehmensberatern um den Status der Partnerschaft, die Fußballbundesliga und überhaupt der Leistungssport oder die Jagd der Vereine nach Starspielern. Die exorbitanten Preise respektive Gehälter, die da überall gezahlt werden, resultieren aus einigermaßen komplexen ‚spaghetti junctions‘ aus dem bootstrapping der Geltung. Klingende Münze, geschöpft aus Geltungsfiktionen, die allgemein anerkannt worden sind. Inwiefern ist das für das Geschehen in Unternehmen von Bewandtnis? Insofern, als auch in Unternehmen ‚Konsum‘ als Statussymbol gilt – die Zahl der Mitarbeiter, die Höhe eines Budgets oder Etats, die persönliche Ausstattung (Büro, Dienstwagen, Gehalt, Spesenregelung, andere Vertragskonditionen, Partnerstatus), der hierarchische Rang, die informelle Machtposition. Resultat insoweit: Um all dies wird ein ineffizient hoher Aufwand getrieben, weil und insofern dieser Aufwand eben Prestige stiftet. Andererseits ist die organisationale Hierarchie potentiell Schauplatz der erwähnten Rattenrennen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um die je höheren Positionen – mit dem Resultat individuell verschwenderischer, für die Unternehmung aber höchst wünschenswerter Verausgabung von Arbeits-Input. Aber, und die damit möglichen organisationalen Effizienzvorteile wieder bedrohend, rat races um Positionen in Unternehmen stellen mächtige Anreize für Organisationsmitglieder dar, nicht nur ihre Produktion, sondern auch ihre Signalproduktion und ihren mikropolitischen Ellbogeneinsatz zu erhöhen, ein24
Hirsch (1980), Akerlof (1976) Frank/Cook (1995); für eine übersichtliche Darstellung einschließlich einer knappen Analyse der Ökonomie der Superstars Franck/Müller (2000); locus classicus: Rosen (1981); für eine Anwendung auf die Selektion von (Top-)Managern: Gaitanides (2004). Als Rattenrennen bezeichnet man Wettbewerbe, bei denen der gesteigerte Input der Wettbewerber – die Ratten laufen schneller – nicht zu einem gesteigerten Output führt – der Käse, der am Ziel winkt, wird nicht größer – und der Lohn für all die Anstrengungen nur Einem winkt (und womöglich sehr attraktiv ist). Resultat: Alle strengen sich furchtbar an, aber ‚the winner takes it all‘. Und die Anstrengungen all der anderen waren vergebens – in der Sprache der Ökonomen: verschwendet. Von solchen Verhältnissen geht eine gewaltige Sogwirkung aus, und die herben Verluste und Enttäuschungen der Vielen werden fast unsichtbar im blendenden Glanz erst der schönen Verheißungen, dann der Sieger. „Deutschland sucht den Superstar“ – allerdings in jedem Wettbewerb einen neuen.
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schließlich Rhetorik, impression management, Mobbing-Aktivitäten u. ä. Unternehmen müssen teils die Kosten dafür tragen, teils screening-Aufwand treiben, teils solche Aktivitäten eindämmen, und all das kostet Geld. Alles, was hier, von erstens bis drittens, eine Rolle spielt – und eben in Rede steht –, Budgetbewilligungen, Leistungsbeurteilungen, Karrieren, Entgeltsysteme etc., ist in höherem Maße vom Erfolg performativen Redens abhängig als gemeinhin gesehen wird, jedenfalls nicht einfach, wie es die einschlägige Ideologie will, von sprachunabhängig ermittelbaren Kosten und Leistungen. Unternehmen befinden sich selbst in Reputations-, Status-, Prestige-, Positions- und Rattenrennen und müssen erheblichen Aufwand dafür treiben. Die Kette ‚performative Sprechakte → S-type terms → X zählt als Y im Kontext K → Organisationsstrukturen → Strategien der Organisationsmitglieder und der Organisationen selbst‘ führt von der Sprache bis tief in die organisationale Ökonomie. 4.4 Albert Hirschman: Voice Der orthodoxe Ökonom aber will davon nichts wissen. Er liebt die Eindeutigkeit, daher die Einsilbigkeit, um nicht zu sagen: die Wortlosigkeit, nämlich das konkludente Geschehen von Angebot und Nachfrage. Milton Friedman findet, dass man das öffentliche Schulwesen Marktmechanismen unterwerfen soll, denn: „Die Eltern können dann in viel größerem Maße, als dies heute möglich ist, ihrer Meinung über die Schulen direkt Ausdruck geben“. Politische Verfahren findet er demgegenüber zu „schwerfällig“ (Friedman 1962: 91; Hervorh. G.O.) Die zitierte Passage macht schlagend klar, wo und warum sich der Ökonom von der Dimension der Bedeutung, des Sprechens und MiteinanderSprechens verabschiedet. Die umsichtigste ökonomische Gegenposition dazu hat Albert Hirschman in „Exit, Voice, and Loyalty“ bezogen, einem derjenigen berühmten Bücher, die zwar viel zitiert, man ist geneigt zu sagen: zu Tode zitiert, aber wenig gelesen werden. Sein Argument ist ganz einfach. Es lag vor uns wie Edgar Allen Poes entwendeter Brief – der Dieb hier war die ökonomische Orthodoxie –, aber erst Hirschman hat es gesehen. Missfallen äußert der ziemlich schweigsame homo oeconomicus durch Abwanderung. Jeder Kneipenwirt kennt die unangenehme Seite dieses Verhaltens. Die Kunden bleiben einfach weg – und er weiß nicht warum. Hirschman führt ins Feld, dass Kunden – oder, der für mich hier besonders interessante Fall – Mitglieder in Unternehmen nicht nur die Option des Abwanderns (‚exit‘) haben. Sie können auch ihre Stimme erheben, und er bestimmt „voice“ als Komple-
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ment und womöglich Supplement der Abwanderung. In einer Firma wird geschlampt? Der Overhead und die Verwaltung setzen Fett an? „Aufgabe des Widerspruchs [‚voice‘] ist es, eine Firma oder Organisation auf ihre Fehler aufmerksam zu machen.“ (Hirschman 1974: 28, 31) Zum Reagieren braucht sie Zeit und erheblich mehr Bedeutungsnuancen, als die stumme Abwanderung verärgerter Mitarbeiter vermitteln kann. Die Unternehmung nun – allgemeiner: die Organisation – ist derjenige soziale Ort, an dem einschlägige Erörterungen ihren Platz finden können – im Gegensatz zum Markt25. Damit hat Hirschman die Theorie der Unternehmung und die gesamte ökonomische Theorie für eine linguistische Wende geöffnet, weil es ja ökonomische Gründe sind, die er für die Option des Diskurses (‚voice‘) ins Feld führt. Das Argument hat eine Tragweite, die man auf den ersten Blick vielleicht nicht gleich voll überschaut. Organisationskosten sind in hohem Maße Kosten einschlägiger Diskussionen – Einflusskosten, wie Milgrom und Roberts (1990) einmal gesagt haben, Kosten einer Mikropolitik, soweit sie auf (Ein-)Reden zurückgreift. Voice nun lässt sich als der Versuch auffassen, einem ‚X zählt als Y im Kontext K‘ Geltung zu verschaffen – sei es einer Wirklichkeitsbestimmung, sei es einem Erfolgsstandard, sei es einer Kritik an einer Praxis, sei es einer neuen Idee. Voice ist der Name für die performativen Sprechakte, mittels derer das Als Ob einer Begründung etabliert oder destruiert werden kann. Ich erwähne ferner, dass es auch mit Blick auf Nationen und nationale Standorte die Optionen exit und voice gibt, und dass Organisationen selbst als korporative Akteure, besonders Unternehmen, wie in 3.3 gezeigt, ganz überragende Möglichkeiten haben, ihre Stimme zu erheben, wenn es um Gesetzgebung, Regulation und Subventionen geht, und dass sie von diesen Möglichkeiten ausgiebig Gebrauch machen. Ob man spricht oder schweigt, Einrede erhebt oder stillschweigend abwandert, dafür sind besonders die Erfolgschancen der Einrede und die Loyalität ausschlaggebend, die die Unzufriedenen mitbringen. So etwas Anökonomisches und Altmodisches wie Treue oder Loyalität erweist sich jäh als ökonomisch hoch bedeutsam, weil es die Option ‚voice‘ fördert. Loyalität verhindert allzu schnelle, allzu stumme Abwanderung. Und Vertrauen – kann ich darauf vertrauen, dass mein Widerspruch nicht gegen mich ausgelegt und verwendet werden wird? – avanciert zu einem ‚Schmiermittel der Ökonomie‘ (vgl. Arrow 1980). Mit Loyalität, Vertrauen und Hirschmans „voice“ aber sind wir erneut beim Phänomen der Selbstreferentialität, der Fiktionalität und des bootstrapping angelangt. Gilt die Einrede als berechtigt oder als Nörgelei? Zählt ein organizatio25
Dort mag die Stimme von Kunden Gehör finden 1. in Gestalt von individuellen Kundenbeschwerden, 2. durch Verbraucher-Bewegungen und -Organisationen, 3. durch staatliche Aufsichtsbehörden und 4. via Marktforschung der Firmen, neuerdings, 5. via Kundenintegration, aber das heißt schon: jenseits des Marktes.
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nal slack – eine (allzu?) großzügige Ressourcenausstattung – als Fettleibigkeit oder als notwendige Reserve? Vertrauen verdient das Unternehmen, dem wir Vertrauen gewähren. Treu sind wir dem, das unsere Treue verdient – dieses Verdienst aber konstituieren wir dadurch, das wir es ‚zubilligen‘, ‚zuerkennen‘.26 Die Kehrseite dessen ist, und das hat Hirschman nicht mehr zum Thema gemacht: Vertrauenswürdigkeit kann ebenso fingiert werden wie der Ernst, mit dem Einreden begegnet wird. Das erleben wir als Kunden, als Organisationsmitglieder und als Bürger in einer Demokratie am eigenen Leibe. Scheinheiligkeit als Antwort auf Hirschmans Stimme ist ein probates Mittel um so mehr, als wir es, wie nun klar zu Tage liegt, ohnehin mit Fiktionalität zu tun haben. Die wirkliche Vertracktheit liegt darin, dass wir die Fiktionalität notwendiger, in aller Selbstreferentialität unvermeidlicher Fiktionen – fiktionaler Vorgriffe auf eine Verlässlichkeit, die wir anders als über solche Vorgriffe nicht gewinnen können – von Scheinheiligkeit, Manipulation, Lüge, bloßer Show unterscheiden müssen und es selten sicher können. Ein Plan ist nicht einfach wahr oder falsch, sondern eine operativ wirksame Fiktion zukünftiger Wirklichkeit. Wie steht es da mit einer Bilanz; einer Reformoffensive; mit Kundenorientierung; mit Dezentralisierung; mit der Gewährung von Mitarbeiterautonomie; mit dem „Wir haben verstanden“ der Shell AG in der Brent Spar-Affäre; mit Zielvereinbarungen; mit der Delegation von Verantwortung – und so weiter und so fort? Es rechnet sich, für solche, notfalls scheinheilige Legitimationssicherung erheblichen Aufwand zu treiben. Und die Kosten der Legitimationssicherung könnten vielleicht, als wichtiger, womöglich heutzutage dramatisch an Gewicht gewinnender Fall von Transaktionskosten, eine Verbindung stiften zwischen der neuen Organisationsökonomik und der neoinstitutionalistischen Organisationssoziologie. Umgekehrt wird es für die Empfänger einschlägiger Signale und Botschaften um so wichtiger, deren Vertrauenswürdigkeit zu beurteilen – tunlichst auch in face-to-face-Kommunikation, weil Mimik – das gefrorene Lächeln im Unterschied zu spontanem –, Gestik und der Ton, der die Musik macht, dafür so manchen wichtigen, weil unintendierten Hinweis gibt.
26
Dass Vertrauen auf einer impliziten moralischen Pflicht gegründet ist, erörtert mit Blick auf Organisationstheorie und Moralphilosophie Hosmer (1995).
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4.5 Neue Institutionenökonomik: Signalling Männel (2002: 152 ff.) führt die Theorie des Signalisierens als Beispiel für ökonomische Ansätze an, die jedenfalls in gewisser Weise eine Dimension von Bedeutung, also eine symbolische Dimension der Ökonomie in Rechnung stellen. Sprechen und eine bestimmte Art konkludenten ökonomischen Handelns kann, wie wir es schon von Veblen kennen, in seiner Zeichen-, Symbol- und daher Signalisierungsfunktion wichtig werden. Im Rahmen ökonomischen signallings allerdings geht es nicht, wie bei Veblen, um die Demonstration des Status einer müßigen Klasse, sondern um Signale an potentielle oder aktuelle Partner ökonomischer Transaktionen, betreffend Handlungspläne, Absichten, Sanktionspotentiale, Produkt- und Leistungsqualitäten oder Eigenschaften wie Glaub- und Kreditwürdigkeit, Fachkompetenz u. ä. Wenn man an sogenannte Vertrauensgüter denkt, also Güter und Leistungen, deren Qualität ein Käufer sei es vor, sei es sogar nach Vertragsschluss nicht sicher beurteilen kann, so dass er dem Anbieter irgendwie vertrauen muss – man denke an Gebrauchtwagen, die Dienstleistung des Arztes oder einer Universität –, dann erhellt sogleich die Relevanz solcher Signale (wie z. B. Zertifikate, ein guter Ruf, Garantieversprechen u.a.). Sie treten als Zeichen einer Qualität an die Stelle der (nicht erkennoder beurteilbaren) Qualität selbst – als mehr oder auch minder verlässliche Zeichen. Die Adressaten sollen handeln, als ob die Zeichen verlässlich seien. Gerade Ökonomen, die zu einem misanthropischen Menschenbild und zu dem vorauseilenden Verdacht neigen, der Mensch werde, wo immer es nützt, Signale zur Täuschung missbrauchen (ein Vorgriff seitens der Theorie, der selbsterfüllende Kraft entfalten mag), gerade Ökonomen sehen scharf, dass alles auf die Glaubwürdigkeit der Signale ankommt und dass daher als credible commitments tatsächliche Selbstbindungen durch Pfänder, Geiseln und Vorleistungen besser geeignet sind als schöne Worte. Besonders hilfreich sind gegenseitige Bindungen. Solche Bindungen sind beides zugleich: tatsächliche, ersichtlich und verlässlich wirksame Selbstbeschränkungen und Signale: ‚Siehe, du kannst dich drauf verlassen.‘ Ihr Vorzug ist, dass sie insoweit die Kluft zwischen Signal und signalisierter Verlässlichkeit schließen. Allgemein gesprochen geht es um das Problem asymmetrischer Information. Ein Vertragspartner im Rahmen eines Arbeits-, Kauf-, Kredit- oder sonstigen Vertrages weiß mehr als (der) andere und könnte das ausnutzen. Informationsbeschaffung, Kommunikation und Kontrolle können die Ungleichheit der Informationsstände zum Teil ausgleichen. Soweit das nicht oder nicht vollständig möglich ist, werden Vertragspartner auf Signal-, Anreiz- und Sanktionsstrukturen bedacht sein, die jede Versuchung, den anderen über den Tisch zu ziehen, minimieren. Kommunizieren, Überreden, Überzeugen, signalling, An-
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reizen, Versprechen, Sich-Verpflichten, Drohen – immer haben wir es mit performativen Sprechakten zu tun, wie sie die Sprechakt-Theorie analysiert. Immer geht es um die Wahrnehmung und Interpretation solcher Signale, die ja nicht wirklich Eindeutigkeit aufweisen, deren Bedeutung aber von größter ökonomischer Bewandtnis ist. Das aber überführt die neue Institutionenökonomik am liebsten in Konstellationen, in denen Eindeutigkeit herrscht. Den Versprechen der Menschen ist nicht zu trauen. Aber: „Zusagen über Transferzahlungen müssen ‚glaubwürdig‘ sein. Dies bedeutet (sic), es muss allen Beteiligten klar sein, dass ein Brechen der Zusagen sich nicht lohnt“ – so bringt zum Beispiel Birgitta Wolff (1999: 85) sich und die einschlägigen ökonomischen Modelle in Sicherheit. Es ist eine Sicherheit vor sprachlichen Vieldeutigkeiten, vor den Unwägbarkeiten eines womöglich doch erforderlichen Vertrauens und wirklicher Glaubwürdigkeit. Denn was sie hier – in Anführungszeichen – ‚glaubwürdig‘ nennt, bezeichnet ja eigentlich so ziemlich das Gegenteil: das Versprechen eines Akteurs, das dieser nur hält, weil und wenn’s sich für ihn rechnet, und auf das ich mich nur verlasse, weil ich mit seinem Egoismus und dieser Berechnung (und nicht etwa, weil ich mit seiner Vertrauenswürdigkeit) rechne. Das nennt man Anreizkompatibilität. In Verträgen etwa lassen sich Bedingungen formulieren, die ihre Einhaltung positiv, ihre Verletzung negativ sanktionieren. Dann, so die Hoffnung, braucht man sich um die Glaubwürdigkeit eines Partners und seiner Zusagen nicht länger zu scheren. Man denke nur an die außerordentlich umfangreichen Vertragswerke im Rahmen langfristiger Zuliefer-Kontrakte, etwa in der Automobilindustrie – und an die gleichwohl zusätzlich nötige formelle und informelle Kommunikation auf allen Unternehmensebenen, nötig, um eine solche Kooperation zustandezubringen und abzuwickeln. Man denke andererseits an den beträchtlichen Aufwand für Signalproduktion, den besonders diejenigen treiben müssen, denen an einer Spitzenposition in Rattenrennen à la Akerlof gelegen sein muss: Topmanager etwa, die sich zu diesem Zwecke zunehmend eigene Kommunikationsberater halten (Gaitanides 2004). Es zeichnet sich eine Welt ab, in der es mehr und mehr auf solche Signalproduktion ankommt, mehr vielleicht als auf tatsächliche Qualität – auf performative Effekte eines impression management und bloß symbolischer Politik. Dass aber auch ein Handeln Signalfunktionen haben kann, übrigens auch ungewollte, ist uns allen geläufig. Eine Regierung zahlt Lösegeld? Das ist das Signal „Wir sind erpressbar“ und wird daher nach Möglichkeit vermieden. Ein Einsatz einer Atombombe, eine schnelle und harte Reaktion auf einen gegnerischen Angriff signalisiert auch für die Zukunft die Bereitschaft dazu. Sich ein Mal kooperativ zu verhalten, kann die Bedeutung haben, Kooperativität zu demonstrieren. Reputationsaufbau verläuft über solche Art praktischer Performativität, und wo immer Zukunft und strategische Überlegungen eine Rolle
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spielen, sind daher praktische Demonstrationen gefragt. Der Konkurrent dringt in meine Kundenweide ein? Ich schlage hart zurück, nicht nur, um diesen Angriff abzuwehren, sondern auch, und das mag viel wichtiger sein, um ihm und allen anderen zu zeigen: jeder, der das versucht (versuchen wird), ‚kann sich auf etwas gefasst machen‘. Der performative Effekt ist die Erzeugung von Erwartungen. 4.6 Donald McCloskey: Rhetoric of economics Der erste Ökonom von Rang aber, der explizit auf die Sprachakt-Theorie Austins und Searles Bezug nimmt, ist Donald McCloskey. Er kritisierte die Konzentration selbst der modernen, informationsökonomisch reflektierten Theorie auf den Aspekt der Information. Wissen sei mehr, nämlich Information plus ‚judgement‘. Infolgedessen spielten perlokutionäre Akte des Überredens und Überzeugens, aber auch illokutionäre Sprechakte wie Versprechen, Angebote machen, Wünsche äußern, etwa: Nachfragewünsche, in der Wirtschaft eine wichtige Rolle, nämlich für den Abschluss von Verträgen – Arbeits-, Kauf-, Kreditverträge, um nur einige zu nennen; für den Aufbau und die Stabilisierung von Vertrauen; für jedwede Kooperation; für Werbung und Public Relations; für alle Arten informellen Austauschs, etwa Unterhaltungen von Brokern, Portfoliomanagern und Analysten an der Börse und drum herum; für die Koordination angesichts von Arbeitsteilung. McCloskey und Klamer (1995: 192 ff.) beziffern sogar den Anteil der auf die Überzeugung anderer gerichteter Sprechakte, nämlich auf 25 Prozent des US-amerikanischen Bruttosozialprodukts. Beate Männel (2002: 151) ergänzt McCloskeys Liste durch Sprechakte, „welche die Koordination und Performanz der Wirtschaftspolitik hervorbringen“, und weist auf die Rolle des Sprechens für die Produktivität generell hin – wir können ergänzen: für Forschung, Entwicklung, Wissenstransfer und Innovation. In Deutschland ist McCloskeys „Rhetoric of Economics“ (1985) besonders von Dieter Sadowski, einem führenden Kopf unter den Betriebswirten aufgegriffen und zu einem energischen Plädoyer für die Mehrdeutigkeit des betrieblichen Geschehens genutzt worden27. Damit die Wirtschaft, damit Arbeitsteilung und Kooperation funktioniert, bedarf es des Sprechens – der Kommunikation, der Anweisungen, der Versprechen und Vereinbarungen, der Abstimmung, der Schriftform und mündlicher 27
Am Beispiel betrieblicher Sozialleistungen; s. Sadowski, Pull (1997); dazu Ortmann (2003b: 249 ff.).
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Abreden. Es bedarf der Erwartungssicherheit, die wir daraus ziehen, dass wir über die Rollen unserer Partner Bescheid wissen. Es bedarf, in Grenzen die aber unbestimmt bleiben, der Fixierung – der Fest-Stellung – von Bedeutung im Dienste eines verlässlichen Wieder-und-immer-wieder. 5. Die Ressourcen der Unternehmung Oben war schon von Regeln die Rede, die auf prekäre Weise das Handeln in und von Unternehmen strukturieren. Nun wird soziales Handeln aber nicht nur durch Regeln, sondern auch durch Ressourcen restringiert und ermöglicht, Grund genug, die Ressourcen, wie Anthony Giddens es tut, in den Begriff sozialer Struktur mit aufzunehmen. Das erweist sich aus einer ganzen Reihe von Gründen als vorteilhaft. (1.) Auf allgemeinster Ebene hat es den Vorzug, einen kulturalistischen Bias der Gesellschaftstheorie zu vermeiden und eine praxistheoretische Grundierung zu erlauben (dazu auch Reckwitz 2002): die Referenz auf eine soziale Praxis, die als solche nicht schon endet, wo Kommunikation aufhört, sondern eine Differenz in der Welt auch außerhalb von Sinnwelten macht. (Schon ein Fußballspiel besteht nicht nur aus Kommunikation, und das Spiel namens Kapitalismus auch nicht.) (2.) Auf ökonomische und politische – in Giddens’ Terminologie: allokative und autoritative – Ressourcen rekurriert alles wirtschaftliche und politische Handeln, das ohne einen Begriff sozialer, nämlich wirtschaftlicher und politischer (Macht-) Ressourcen kaum angemessen thematisiert werden kann. (3.) Der gesamte Ökologie-Diskurs lebt von seinem Rekurs auf die natürlichen Ressourcen, die aber in soziale Praxis eingehen und als zweite Natur aus ihr hervorgehen (vgl. Ortmann 1997). (4.) Große Debatten um die Begründung von Gleichheits- und Gerechtigkeitsansprüchen und um Legitimität und Legitimation des Kapitalismus kreisen um die Frage der Verteilung von Ressourcen, weil jene Ansprüche offenbar damit zu tun haben, ob „einem jeden die Mittel zur Verwirklichung seiner individuellen Projekte zur Verfügung“ stehen (Michel 2000: 181). Besonders um das Werk Philippe Van Parijs’ (z.B. 1991) mit seiner ausgeklügelten Forderung nach einem detailliert und differenziert zu bestimmenden Grundeinkommen für alle hat sich eine Diskussion entzündet, in der es um einen gleichen Anteil an ‚unverdienten Ressourcen‘ geht, zum Beispiel Erbschaften, knappe und gute Arbeitplätze, aber auch ‚interne‘ Ressourcen wie Gesundheit oder Fähigkeiten und Talente, deren Ungleichverteilung gerech-
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terweise vielleicht zu kompensieren sei.28 All das hat gewiss mit Natur und Materie zu tun, geht aber wohl kaum darin auf. Ressourcenverteilungen und Ressourcennutzungen bedürfen der Legitimation. Das gilt, heutzutage mehr denn je, sogar für die Erzeugung von Ressourcen – man denke nur an die Atomkraft oder die Gentechnologie. (5.) Auch organisationale Strukturen lassen sich mit Anthony Giddens als Sets von Regeln und Ressourcen bestimmen. Dass Organisationen vieler Ressourcen bedürfen, die sie im Dienste ihrer Zwecke transformieren, ist ja nicht nur für Unternehmungen eine richtige Beschreibung. Der Ressource-Dependence-Ansatz der Organisationsforschung hat dem Rechnung getragen. Die – im Idealfall: einzigartigen – Ressourcen von Unternehmungen sind in den letzten Jahren sogar ins Zentrum der Aufmerksamkeit neuerer Ansätze des strategischen Managements geraten, die es daher erlauben, Fragen der Organisation und des strategischen Managements zusammenzuführen. Auf Edith Penrose (1959/1995), Philip Selznick (1957) und Albert O. Hirschman29 (vgl. 1978; Hirschman/Lindblom 1962) lassen sich die Bemühungen zurückführen, unternehmungsspezifische Ressourcen, ‚strategic assets‘, ‚coporate capabilities‘ und ‚core competencies‘ als Quellen strategischer Wettbewerbsvorteile zu identifizieren und zu analysieren: resource-based view. Und schon Penrose insistierte auf der bedeutsamen Unterscheidung von Ressourcen und den ‚services‘, die durch sie geleistet werden. Es gibt eine Differenz zwischen Ressourcen und ihrer Anwendung, den ‚ways of making use of resources‘. Zeigen lässt sich, dass diese Anwendung den Charakter und den Wert von Ressourcen (mit) konstituiert. Das hat Konsequenzen für den ‚resource-based view‘, den ‚knowledge-based view‘ und die Theorie der Kernkompetenzen. Es bedeutet, dass wir im Gebrauch einer Ressource als Handlungs- oder Produktionsmittel eine weitere, eine mitlaufende Produktion in Gang setzen, die Produktion nämlich einer Gebrauchsweise, die alt oder neu sein mag, bekannt oder unbekannt, unsere ganz ureigene idiosynkratische oder eine verallgemeinerbare. Diese scheinbar sekundäre, andere, stumme Produktion ist das beherrschende Thema in Michel de Certeaus Buch „Kunst des Handelns“ (1988). 28 29
Für einen konzisen Überblick vgl. Krebs (2000) und die Diskussionsbeiträge in den Heften 2 und 3 von: Analyse & Kritik 22 (2000). Hirschman zu dieser Ahnenreihe zu zählen, ist, soweit ich sehe, nicht üblich. Ich tue es, weil er in „Exit, voice, and loyalty“ und schon in früheren Arbeiten die große Bedeutung der Ressourcen und der Weisen ihrer Nutzung deutlicher als die meisten gesehen, betont und analysiert hat – mit besonderer Aufmerksamkeit für ‚organizational slack‘: „At any one point of time, an economy’s resources are not to be considered as rigidly fixed in amount ... The crucial, but plausible, assumption here is that there is some ‚slack‘ in the economy; and that additional investment, hours of work, productivity, and decision making can be squeezed out of it by pressure mechanismus.“ (Hirschman/Lindblom 1962: 211 f) Darin ist schon der Gedanke enthalten, den ich hier etwas weiter ausarbeiten möchte, dass Ressourcenpotentiale durch die Art ihres Gebrauchs verändert, hier: vergrößert werden können.
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Ressourcen determinieren, trivial genug, das Handeln so wenig wie Regeln, sondern restringieren und ermöglichen es. Dann aber ist ihre Anwendung so wenig sekundär, bloß abgeleitet, wie die Anwendung der Regel, sondern sie sind von ihr als einem Supplément auf konstitutive Weise abhängig: von jener praktischen Anwendung, die dem Mittelcharakter des Mittels angeblich nichts weiter soll hinzufügen können. Es folgt weiter, dass dieser Mittelcharakter einer beständigen Verschiebung und Veränderung in der und durch die Anwendung unterliegt, und so kann es geschehen, dass, was vor 1989 eine Mauer war, am 9.11.1989 Fahrradweg und Tanzboden und nach 1989 Souvenir-Steinbruch und Museumsstück wurde; dass aus einem Rheumamittel – Aspirin – eine Kopfschmerztablette und später ein Mittel zur Herzinfarkt-Therapie wurde; aus einem Baumstamm ein Rad; aus einem von Hand gepflückten Strauch, einem von Hand gemähten Weizenfeld ein maschinell geerntetes Stück ‚Natur‘ wird. Und man sieht, dass die Gebrauchsweise auf die Mittel zurückwirkt – der Strauch passt zur Maschine, der Apfelbaum zu effizienter Ernte, der Weizen steht nurmehr kniehoch auf dem Feld, der Frühling droht zum stummen Frühling zu werden. Und nun, mit Blick auf die – einzigartigen? – Ressourcen einer Unternehmung, dem resource-based view zufolge die Grundlage für Wettbewerbsvorteile: Es ist erst der kreative Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, die mögliche Quelle der Werte, die mit ihrer Hilfe geschaffen werden.30 Rekursivitäts- und Supplementaritätsbeziehungen verlaufen von den Ressourcen zu ihrer nur scheinbar sekundären Anwendung und von regelmäßigen Anwendungsweisen auf bedeutsame, konstitutive Art zurück zu den Ressourcen, die durch ihre Nutzungsweisen – ihre Potentiale – geradezu, wie Penrose es tut, definiert werden können. Wissen, und eine auf Wissen bezogene ‚absorptive capacity‘ (vgl. Cohen, Levinthal 1990), erweisen sich dabei als besondere Ressourcen insofern, als sie durch Gebrauch nicht vermindert, sondern vermehrt werden. Diese Eigenschaft der Selbstverstärkung macht Prozesse des Wissensaufbaus für einschlägige Ansätze so attraktiv: Wo Tauben sitzen, fliegen Tauben zu. Ressourcen sind Potentiale, deren Nutzung in Grenzen offenbleibt, bis sie aktualisiert werden. Und als in situ aktualisierte heißen sie bei Giddens: Modalitäten.31
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Zu den Implikationen und Komplikationen für den resource- resp. competence-based view, das strategische Management und die Theorie der Unternehmung, s. Ortmann (2009b). Zu Potentialen und den kontingenten Weisen ihrer Aktualisierung vgl. auch Agamben (1998: 7-75). Vor allem hat man zu bedenken, dass Potentiale aufhören, Potentiale zu sein, sobald sie aktualisiert, das heißt, auf eine bestimmte Weise genutzt werden.
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Dann aber macht der Theorie die folgende Problematik zu schaffen: Da es ihr gerade um die Einzigartigkeit von Wettbewerbsvorteilen zu tun ist, erweist sich die Verallgemeinerbarkeit von Gebrauchsweisen als möglicher Nachteil und drohende Gefahr, weil und insofern sie tendenziell mit Übertragbarkeit, Imitierbarkeit und/oder Substituierbarkeit einhergeht. So gilt das besondere Interesse den so genannten nicht-tangiblen Ressourcen, Kompetenzen, Wissensvorsprüngen – auch dieser Begriff geht schon auf Penrose (1959/1995, 24) zurück. Und es geht in der Theorie der Kernkompetenzen (vgl. Hamel/Prahalad 1995) nicht nur um den Aufbau, sondern auch um die ‚Dehnung‘ von Ressourcen, um ‚Ressourcen-Leverage‘ (Hebelwirkung) und um die ‚Entfaltung‘ von Ressourcen, mit anderen Worten: um die Kunst ihrer optimalen Anwendung. Das konnte man schon seit Hirschman (1978; Hirschman/Lindblom 1962) wissen, dass die Qualität und die Quantität einer Ressource als Ressource, als Potential, direkt von den Gebrauchsweisen abhängen, mittels derer man sie sich zunutze macht. Besonders interessant wäre eine Art Anwendungskompetenz, die sich nicht oder noch nicht verallgemeinern lässt, weil sie in der Kompetenz der situativen Besonderung terminiert, die aber jedenfalls in dem Sinne verallgemeinerbar sein soll, dass die fokale Organisation doch immer wieder auf sie zurückgreifen kann. Die doppelte Paradoxie, die darin liegt, dass diese Kompetenz innerhalb der Organisation, aber nicht darüber hinaus verallgemeinerbar sein soll, und dass sie eine allgemeine Fähigkeit zur Besonderung, das heißt, zur situationsspezifischen, situationsangemessenen Anwendung von Regeln und Ressourcen sein soll, ist die Crux und zugleich der Nährboden ressourcenorientierten strategischen Managements und der einschlägigen Theorien. Es ist die Crux, weil ihre Sehnsucht einer Unmöglichkeit gilt – mit Giddens gesprochen: der Unmöglichkeit, die Ressourcen als Modalitäten32, die Modalitäten als Ressourcen verallgemeinern und fixieren zu wollen, mit de Certeau gesprochen: Ressourcen (= Potentiale) und die Weisen ihres Gebrauchs (ihrer Aktualisierung) zugleich verallgemeinern und doch als besondere flexibel halten zu wollen. Es ist ihr Nährboden, weil die Theorie jene differantielle Bewegung reproduzieren (und, zumindest zeitweise, Wettbewerbsvorteile im Wissenschaftsbetrieb daraus schlagen) kann, welche die Praxis in ihrer Jagd nach Differenz – ‚Why are firms different?‘ – immer schon vollführt. Sie besteht im Rekurs auf Regeln und Ressourcen und der beständigen Differenzierung, Neuerung in ihrer Anwendung33, und die Theorie, die diese Bewegung nachvollzieht, mündet in 32 33
Zum Giddensschen Modalitätenbegriff in diesem Zusammenhang vgl. besonders: Duschek (2001). Die der Figur nach gleiche Bewegung der Différance sieht man auch beim Wachstum einer Unternehmung, wenn es darum geht, die proportionalen Anteile der verschiedenen Ressourcen zu wahren, was aber wegen deren Unteilbarkeiten nie ohne Rest möglich ist. Penrose
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dem vergeblichen, aber jederzeit attraktiven Versuch, eine Meta-Kompetenz der Anwendung, nämlich eine Anwendungs-plus-Abweichungskompetenz, eine allgemeine Situierungskompetenz zu fixieren, was natürlich nur in schönen Verheißungen und wolkigen Formulierungen gelingt, die den sich anbahnenden infiniten Regress verhüllen. Der resource-based view ist stark dort, wo er den offenen, den Potentialcharakter von Ressourcen selbst betont und zu ihrer kreativen Nutzung anregt. Er verstrickt sich in Paradoxien, wenn er, im Stile der Management-Guru-Literatur, Einzigartigkeit als allgemeines Rezept offeriert. Was hier mit Blick auf den resource-based view und seine diversen Versuche gesagt ist, eine Regel-und-Ressourcen-Anwendungs-und-Abweichungskompetenz, das heißt, eine Kompetenz zu fixieren, die allgemein und situativ zugleich sein soll, das lässt sich, noch allgemeiner, für die gesamte Denkbewegung der Forschung zum strategischen Management formulieren. Immer gilt diese Bewegung der Fixierung des Bewegten, der Verallgemeinerung des Situativen, und wenn es das eine Mal das Computer Integrated Manufacturing ist, das als allgemeine Antwort, als Stein der Weisen festgehalten wird, so das andere Mal lean production, dann business process reengineering, dann knowledge management et cetera ad infinitum. Das eine Mal geht es um Positionen auf Märkten und Normstrategien, (also: Regeln der Strategiefindung,) das andere Mal um einzigartige Ressourcen, und jedes Mal entdecken wir nach einer Weile: Keine Normstrategie kann errechnet und blind angewandt werden. Kein Approach gilt wirklich allgemein, sondern wir fixieren uns in Abhängigkeit von situativen Umständen, die uns aber im Augenblick nicht restlos klar sind, auf Marktpositionen, dann auf Regeln, dann auf interne Stärken und Schwächen, dann auf Geschäftsprozesse, dann auf Verschwendung, dann auf Ressourcen, dann auf Kultur, dann auf Wissen, immer aber auf Regeln und Ressourcen, deren Allgemeinheit wir haben wollen, ohne von ihrer situativen Angemessenheit zu lassen. Der Stein der Weisen gerät zum Fels des Sisyphos. Wenn es aber gelingt, eine spezifische Weise des Gebrauchs einer Ressource zu fixieren und auf Dauer zu stellen (und gar die Ressource, ein Gebäude, eine Maschine, einen Wissensbestand, auf diese Gebrauchsweise ‚zuzuschneiden‘), dann impliziert das nicht nur die Gefahr der Imitation, sondern auch die der Rigidität – die einer eines Tages nicht länger willkommenen Schließung. (1959/1995: 69, Fn. 1) zitiert aus einer anderen Studie einen „industrial engineer“ mit folgendem Stoßseufzer: „Every time we make something, we have something left over, and have to find something to do with that. And when we find something to do with it we usually find that leaves us with something else. It is an endless process.“ Genau das ist die endlose Bewegung der Verschiebung/Veränderung, die Derrida ‚différance‘ genannt hat. Man könnte die zitierten Sätze auf jedwede betriebliche Rationalisierung, auf jedwede Jagd nach Wettbewerbsvorteilen anwenden, ja, man könnte sie als Weisheit für das Leben überhaupt nehmen.
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Dass Kernkompetenzen immer auch die Gefahr von Kernrigiditäten (LeonardBarton 1992; 1995: 29 ff.) mit sich bringen, wird in der einschlägigen Literatur unter Titeln wie „asset specificity“, „straight jackets“, „path dependency“, „Kompetenzfalle“ und „lock in“ thematisiert. Auch Kernkompetenzen haben nicht das Zeug zum Stein der Weisen, weil ihre Selektivität und Rigidität, eben noch erstrebenswert, im nächsten Augenblick zum Verhängnis werden kann. Auch darin erweist sich die Hartnäckigkeit und Restriktionskraft von Ressourcen, seien es tangible, seien es intangible. (Auch Wissen und Können, gestern noch Garanten eines Erfolges, erweisen sich oft als rigide, eben weil sie doch bisher den Erfolg garantiert haben. Das ist, was die Rede von der Kompetenzoder Erfolgsfalle meint; vgl. Levitt/March 1988) Das alles wiederum besagt nicht, dass die Suche nach solchen Kompetenzen sinnlos ist. Es heißt nur, dass kein Ende solcher Suche in Aussicht ist. Das Ziel entfernt sich immer wieder: während der Jagd und durch die Jagd; weil die Jäger ermüden; weil die Beute ihnen von anderen weggeschnappt wird; vor allem aber, weil, was eben noch nach Beute aussah, jäh wertlos – entwertet durch ‚competence destroying technological advance‘ (vgl. Tushman/Anderson 1986) – oder zum Köder einer Falle werden kann. Immer wieder zerbröselt der Stein der Weisen. 6. Produktion und Konsumtion Die folgende ‚flach auf der Hand liegende Vorstellung‘ war für den Marx der „Grundrisse“34 „allerdings ein Zusammenhang, aber ein flacher“ (Marx o. J.: 10 f): „Die Produktion bringt die den Bedürfnissen entsprechenden Gegenstände hervor; die Distribution verteilt sie nach gesellschaftlichen Gesetzen; der Austausch verteilt wieder das schon Verteilte nach dem einzelnen Bedürfnis; endlich in der Konsumtion tritt das Produkt aus dieser gesellschaftlichen Bewegung heraus, wird direkt Gegenstand und Diener des einzelnen Bedürfnisses und befriedigt es im Genuß. Produktion erscheint so als der Ausgangspunkt, Konsumtion als der Endpunkt, Distribution und Austausch als die Mitte ...“ (ebd.: 10)
Demgegenüber macht Marx den Gesichtspunkt geltend, dass die Produktion auch Konsum (nämlich Konsum von Produktionsmitteln) und der Konsum auch Produktion ist, und dies letztere nun in mehrfacher Hinsicht: Der Konsum produziert „in einer oder der anderen Art“ (ebd.: 12) 34
„Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ – der ‚Rohentwurf‘, den Marx nie veröffentlicht und den das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED als Herausgeber erst 1983 in die „Marx Engels Werke“ (MEW) mit aufgenommen hat. Ich zitiere nach der EVA-Ausgabe (Marx o. J.).
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den Menschen und seine Arbeitskraft; das Produkt, das nämlich ‚den letzten finish in der Konsumtion‘ erhält 35; die Produktion, und dies in doppeltem Sinne, „1) indem erst in der Konsumtion das Produkt wirkliches Produkt wird. Z. B. ein Kleid wird erst wirklich Kleid durch den Akt des Tragens; ein Haus, das nicht bewohnt wird, ist in fact kein wirkliches Hause; also als Produkt, im Unterschied von bloßem Naturgegenstand, bewährt sich, wird das Produkt erst in der Konsumtion. Die Konsumtion gibt, indem sie das Produkt auflöst, ihm erst den finishing stroke; denn Produkt ist die Produktion nicht als versachlichte Tätigkeit, sondern nur als Gegenstand für das tätige Subjekt; 2) indem die Konsumtion das Bedürfnis neuer Produktion schafft.“ (Marx o. J.: 13; erste Hervorh. G. O.)
Das sind Bestimmungen von einer Umsicht und einem Scharfblick, die immer noch den laufenden Wissenschaftsbetrieb blamieren. Die letztere Bestimmung bedeutet auch: Der Konsum erzeugt jene spezifischeren Bedürfnislagen, die über bloße Naturbedürfnisse – Hunger, Durst et cetera – hinausgehen und sodann die Ressourceneigenschaften entsprechend zu spezifizieren erlauben. Man beachte, dass hier mehr als ein Hauch an Rekursivität zu spüren ist: Bedürfnisse treiben Produktionen und dann Konsum, der Konsum aber treibt Bedürfnisse hervor36. „Dem entspricht von Seiten der Produktion, daß sie 1) der Konsumtion das Material, den Gegenstand liefert. Eine Konsumption ohne Gegenstand ist keine Konsumtion; also schafft nach dieser Seite, produziert die Produktion die Konsumtion. 2) Aber es ist nicht nur der Gegenstand, den die Produktion der Konsumtion schafft. Sie gibt auch der Konsumtion ihre Bestimmtheit, ihren Charakter, ihren finish. Ebenso wie die Konsumtion dem Produkt seinen finish als Produkt gab, gibt die Produktion den finish der Konsumtion. Einmal (i. Orig. gesperrt, G. O.) ist der Gegenstand kein Gegenstand überhaupt, sondern ein bestimmter Gegenstand, der in einer bestimmten, durch die Produktion selbst wieder [zu] vermittelnden Art konsumiert werden muß. Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabeln und Messer gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv. Die Produktion schafft also den Konsumenten. 3) Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis. Wenn die Konsumtion aus ihrer ersten Naturroheit und Unmittelbarkeit heraustritt – und das Verweilen in derselben wäre selbst noch das Resultat einer in der Naturroheit steckenden Produktion –, so ist sie selbst als Trieb vermittelt durch den Gegenstand. Das Bedürfnis, das sie nach ihm fühlt, ist durch die Wahrnehmung dessel35 36
„Eine Eisenbahn, auf der nicht gefahren wird, die also nicht abgenutzt, nicht konsumiert wird, ist nur eine Eisenbahn dynamei, nicht der Wirklichkeit nach.“ (Marx o. J.: 12) Und ‚dynamei‘ wäre zu übersetzen mit: der Kraft oder der Möglichkeit nach – potentiell. Vgl. dazu Ortmann (1995: 83 f, 98 ff.).
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ben geschaffen. Der Kunstgegenstand – ebenso jedes andre Produkt – schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand. Die Produktion produziert die Konsumtion daher, 1) indem sie ihr das Material schafft; 2) indem sie die Weise der Konsumtion bestimmt; 3) indem sie die erst von ihr als Gegenstand gesetzten Produkte als Bedürfnis im Konsumenten erzeugt.“ (Marx o. J.: 13 f; Hervorh. G. O.)
In Sachen ‚Subjekt‘ klingt da Manches an, das später Foucault ausgearbeitet hat. Den Punkt 2) nun muss man dem Gedanken de Certeaus als Ergänzung hinzufügen: Die Produktion erzeugt Weisen der Konsumtion. Jedoch darf man, wie wir mit de Certeau gesehen haben, diese Marxsche Idee ihrerseits nicht überziehen. Gewiss geben die Produkte, gibt daher die Produktion dem Konsum ein gewisses finish – eine Schließung! –, aber, wie wir nun sagen können, sozusagen nicht die letzte. Das tun sozusagen erst die Kosumenten selbst im Konsum. Zwischen das rohe Fleisch und Messer-und-Gabel schiebt sich noch deren Gebrauchsweise, die weder durch das Fleisch noch durch Messer und Gabel vollständig determiniert ist. Kochen und Essmanieren bleiben Felder der de Certeauschen ‚Kunst des Handelns‘. Dass der Konsum Gebrauchsweisen produziert, dieses Gegenstück zur Produktionsweise37, hat Marx mit großem Scharfblick gesehen, dass auch diese Gebrauchsweisen noch angewandt werden müssen und darin ein subversives oder jedenfalls differantielles Potential steckt, hat er bei aller Subtilität seiner Analyse am Ende doch nur aus den Augenwinkeln gesehen. Dafür war ihm längst klar, was die orthodoxe Ökonomik lange verdrängt hat und heute aber, in Zeiten von mass custumization, Kundenintegration und Innovationsnetzwerken sich aufdrängt: das der Konsum ein produktiver Akt ist und Unternehmen gut beraten sind, die Kreativität der Kunden bei der Ideengeneration, der Produktentwicklung und -innovation einzubeziehen, und dass Technikentwicklung daher ein rekursiver Prozess ist, der über Anwendungskontexte und von dort zurück zur Entwicklungsarbeit verläuft (vgl. Kowol/ Krohn 1995). Noch wichtiger ist der Gedanke, dass die Produktion ‚die erst von ihr als Gegenstand gesetzten Produkte als Bedürfnis im Konsumenten erzeugt‘ – man denke nur an SEP oder Fernsehsendungen wie ‚Big Brother‘ –, und noch wichtiger die Bestimmung, dass die Konsumtion Bedürfnisse (re-)produziert. Dafür ist natürlich der Drogenkonsum das Paradigma, aber schon ein flüchtiger Blick genügt zu sehen, wie viele Produkte, in einem leicht metaphorischen Sinne, 37
Vgl. Wittemann (1996), der von Konsumformen gesprochen und vorgeschlagen hat, dieses Konzept für eine Erweiterung des Problemhorizonts der Industriesoziologie zu nutzen – leider bisher ohne große Resonanz.
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Drogencharakter haben: die tägliche Zeitung, der Zucker im Kaffee oder die Servo-Lenkung, deren Gebrauch uns abhängig macht: von der Servo-Lenkung. 7. Warum arbeiten die Arbeiter? Anreize; Normen; Effizienz- und Referenzlöhne; manufacturing consent Warum arbeiten die Arbeiter? Nun, sie haben sich dazu schließlich in Arbeitsverträgen verpflichtet, in Verträgen, die allerdings unvollkommen sind und deren Einhaltung oft nicht gerichtlich erzwungen werden kann. Sodann folgen sie, und das ließe sich als Ausbuchstabieren dieser unvollständigen Kontrakte auffassen, Zweckprogrammen, formulierten Regeln, die von vornherein auf die an Bedingungen geknüpfte Fixierung bestimmter Handlungsweisen verzichten und das Handeln durch Vorgabe von Zwecken – zum Beispiel Outputgrößen, Umsatzsteigerung, Einschaltquoten – zu steuern versuchen; sie folgen Konditionalprogrammen, also Regelwerken nach dem Muster ‚Wenn x, tue y‘, die aber in all ihren Komponenten interpretations-, situtations- und kontextgebunden bleiben; und sie folgen Befehlen oder Anweisungen, für die ebenfalls, von H. A. Simon schon 1947, gezeigt worden ist, daß sie meist nicht konkrete Handlungen vorschreiben, sondern nur Prämissen für die Beschäftigten spezifizieren, deren Anwendung und Auslegung immer noch deren kompetentes Urteil verlangt.38 ‚Incomplete contracts‘: die Tatsache, daß Verträge, aber besonders Arbeitsverträge, notwendig unvollkommen sind, und daß darin ihre Flexibilität, aber auch ihre Achillesferse liegt, ist die Entdeckung der modernen Institutionenökonomik. Ich nehme sie als einen paradigmatischen Fall für die Notwendigkeit der (Er-)Füllung und Ergänzung von Regeln in der Anwendung, mit der Chance oder dem Risiko ihrer Ersetzung und Pervertierung. Ihre Flexibilität gewinnen Arbeitsverträge gerade aus ihrer Leere – daraus, daß sie die konkrete Nutzung eines Arbeitsverhältnisses offen- und den wechselnden Situationen überlassen. Wie Herbert A. Simon (1957: 185), einer der geistigen Väter der Idee, es so unnachahmlich formuliert hat: Der Arbeiter ist bereit, sozusagen einem Blankoscheck zu unterschreiben. Das konstituiert, was als arbeitspolitisches Transformationsproblem in den Fachjargon eingegangen ist: in tagtäglichem Tauziehen muß ausgehandelt werden, wie das Arbeitsvermögen genutzt, das heißt, in Arbeit ‚transformiert‘, das heißt: wie der Arbeitsvertrag ge-/erfüllt wird. Auch der Arbeiter hat da Spielräume, und dem 38
Für eine berühmt gewordene Studie zur Differenz zwischen ‚instruction manuals‘ für Serviceleute bei Xerox und ihrer täglichen Arbeitsweise s. Orr (1996).
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vor allem gilt die Sorge der einschlägigen Betriebswirtschaftslehre und, nota bene, des Managements von Unternehmungen. Denn natürlich müssen solche Spielräume nicht immer im Dienste der Sache, sie können auch dafür genutzt werden, es sich bequem zu machen. Die Grenzen allerdings sind da, einmal mehr, unscharf. Damit wären wir bei der nur scheinbar einfachen Frage, der Johannes Bergers einen Aufsatz dieses Titels gewidmet hat: Warum arbeiten die Arbeiter, und, näherhin: warum bummeln sie nicht? Es geht also um „das alte Problem der differentiellen Auslegung des Arbeitsvertrages“ und um die Frage: „welche Mittel stehen der Unternehmungsleitung zur Verfügung, diese ‚Interpretationslücke‘ zu schließen und die Auslegung des Arbeitsvertrages durch die Vertragsparteien zur Deckung zu bringen?“ (Berger 1995: 416; Hervorh. G. O.) Der Kontrakt in seiner tatsächlichen, konkreten Bedeutung wird im tagtäglichen Tauziehen um Arbeitsdisziplin zwischen Prinzipalen und Agenten erst zuende ‚geschrieben‘ und dabei verändert und seine perfekte Erfüllung in einer infiniten Bewegung wieder und wieder verschoben (différer). In den Worten von Oliver Hart, der mit der Unvollständigkeit von Kontrakten und mit der Unausrottbarkeit von ‚unforeseen contingencies‘ geradezu die Entstehung der Unternehmung begründet: „Ein unvollständiger Vertrag wird revidiert oder nachverhandelt, wenn sich die Zukunft entfaltet. Wenn doch die Parteien die Lücken auffüllen können, während sie weitermachen, kann man tatsächlich fragen, warum vertragliche Unvollständigkeit von Bedeutung ist. Der Grund ist, daß der Nachverhandlungsprozeß einige Kosten verursacht. Manche davon sind ex post-Kosten, die während der Nachverhandlungs-Phase selbst entstehen, und andere sind ex ante-Kosten, die man sich in Antizipation der Nachverhandlung zuzieht.“ (Hart 1995: 24 f; Herv. G.O.)
In einer solchen Welt werden ‚credible commitments‘ wichtig. Hier, im Herzen avanciertester ökonomischer Theorie der Unternehmung, sehen wir die Denkfigur der (Er-)Füllung, Ergänzung, Veränderung und geradezu nachträglichen Vollendung der Konstitution von Verträgen (renegotiation) an zentraler Stelle plaziert. „Tatsächlich wird der Vertrag am besten als ein geeigneter Hintergrund oder Ausgangspunkt für solche Nachverhandlungen statt als Spezifikation eines endgültigen Ergebnisses verstanden.“ (Hart 1995: 2; Hervorh. G. O.) Die Idee ist: Innerhalb einer Organisation – der Unternehmung – lässt sich das nun erforderliche ‚day-to-day bargaining‘ und lassen sich die nun gebotenen Maßnahmen zur Durchsetzung und sinnvollen Ausfüllung von Verträgen, nun also: Arbeitsverträgen, oftmals effizienter abwickeln als auf Märkten oder vor Gerichten. Die Mittel der Unternehmensleitung sind dabei: Anreize, Drohungen, Kontrollen und die Mobilisierung normativer Bindungen. Bergers gesamte Argumen-
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tation läuft nun darauf hinaus, letztere als eine notwendige Ergänzung der ersteren namhaft zu machen und dann vor allem zu fragen, „welcher Verlaß auf eine Verhaltenssteuerung über Normen besteht.“ (Berger 1995: 409) Damit tut Berger den Schritt von einer neohobbesianischen zu einer neodurkheimianischen Fassung des Organisationsproblems. Regeln werden befolgt, nicht verletzt oder ihre Verletzung im Rahmen der Unternehmungserfordernisse gehalten, nicht nur, weil Anreize locken und Kontrolle und Entlassung droht, also weil man muss; nicht nur, weil man es will; sondern auch, weil man es soll (und sogar noch das Sollen will), und die letzteren beiden Fälle kosten vielleicht weniger und bringen mehr. Berger sucht die Lösung in Okuns Theorie impliziter Verträge39. Das stellt auf wechselseitige, nicht förmlich fixierte Versprechen ab, die eingehalten werden, weil das für alle Beteiligten vorteilhaft ist oder aber als Pflicht angesehen wird, die also selbst ihre Einhaltung gewährleisten. Auch implizite Verträge aber sind Verträge, die ge- und erfüllt sein wollen. So sehr man Bergers Denkbewegung zustimmen kann – wir brauchen noch mehr theoretische Versatzstücke, um aus der Klemme zu kommen, in die uns die Einsicht in die Notwendigkeit von Regelverletzungen gebracht hat. Eine Antwort zielt auf Mimesis als ein unterschätztes Moment dieses Geschehens. Mittels Mimesis versuchen wir die Interpretationslücke zu füllen, vielleicht nicht ganz, aber so gut es eben geht: die Differenz zwischen allgemeiner Regel und besonderer Situation. Mittels Mimesis wenden wir uns der Regelbefolgung oder der Regelverletzung zu und können dabei die situativen Umstände gleich mit berücksichtigen (vgl. Ortmann 2003a). Diese Antwort lässt sich unternehmungstheoretisch durch drei Konzepte ergänzen: Effizienzlöhne, Referenzlöhne und „manufacturing consent“. Die Theorie der Effizienzlöhne besagt, dass Unternehmen Löhne oberhalb der (markträumenden) Gleichgewichtslöhne zahlen, um shirking resp. dadurch verursachte Kontrollkosten zu vermeiden. Wenn das die einen tun, müssen es auch die anderen tun, was den positiven Motivationseffekt, der ja auf positiven Lohndifferenzen beruht, einebnet. Es resultiert aber ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht, also eine ‚industrielle Reservearmee‘, die in Sachen shirking das nämliche bewirkt – nun eher mit der Drohung der Peitsche (Arbeitslosigkeit) als mit dem Zuckerbrot des Effizienzlohns. Die Theorie der Referenzlöhne (Benz/Stutzer 2003) gibt eine Antwort auf die Frage, woher die Arbeitenden ihre Normen, betreffend die Angemessenheit oder gar Fairness von Löhnen, beziehen: aus
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Stillschweigende Übereinkommen etwa zwischen Meistern und Arbeitern, durchaus am offiziellen Regelwerk vorbei, aber oft im Dienste der Sache; vgl. Okun (1980). Vgl. auch Kreps (1990) und Wernerfelt (1993).
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dem Vergleich mit ihren Referenzgruppen. Und Michael Burawoys manufacturing consent (1979) postuliert die mitlaufende Produktion von Konsens als Nebenprodukt kapitalistischer Produktion nach dem Muster: Wer am Spiel teilnimmt, akzeptiert nolens volens praktisch, wie auch immer implizit, die Regeln des Spiels. Diese Theorieansätze sind zusammengenommen geeignet, eine Lücke zu schließen, die auch die Soziologie nie ganz geschlossen hat: die Erklärung der Genesis einschlägiger Normen, hier: Normen der Angemessenheit oder Fairness der Entlohnung. Es steckt darin eine Theorie der Gabe, die mit einer Reziprozitätsmoral rechnet: Die Arbeiter beantworten faire Löhne mit Fairness ihrer Arbeitsleistung. Diese Figur der Gabe indes hat eine noch erheblich größere Reichweite. 8. Reziprozität: Tausch versus Gabe In Jörg Freilings’ (2004) ambitioniertem Versuch, vom resource-based view zu einer ‚competence-based theory of the firm‘ zu kommen,40 liegt der Akzent nicht einseitig auf der einzelnen Unternehmung – Freiling betont sogleich das Erfordernis eines ‚relational view‘ à la Dyer und Singh (1998) und die Relevanz von Unternehmungsnetzwerken. Wohl aber stellt er ein ‚Ambiente‘ heraus, das eine Unternehmung offeriere: „an ‚ambiente‘, consisting of stability, reliability, and tight asset and resource couplings, nurturing competence buildung and leveraging“ (Freiling 2004: 35). Dafür habe die Unternehmung einen stabilen – nicht: statischen – Hintergrund zu bieten, der aus verschiedenen institutionellen Elementen bestehe. Jenem Ambiente und dieser institutionellen Umgebung möchte auch ich Aufmerksamkeit widmen. Freiling denkt vor allem an Verträge, betreffend „the distribution of property rights, similar agreements, trust and commitment.“ (ebd.) Zu Recht fasst er da nicht nur förmlich vereinbarte, sondern auch implizite Kontrakte und informelle Arrangements mit ins Auge und gibt mit Vertrauen und Commitment zwei Stichworte, die eine strikt utilitaristische Sicht der Dinge verbieten. Zwei weitere derartige Stichworte lauten: ‚mutual understanding‘ und Motivation. Damit sind Erfordernisse für den Umgang mit sozialer Komplexität und der ‚interconnectedness‘ bezeichnet, die aus allfälligen Komplementaritäten resultieren. In Sachen ‚Motivation‘, nötig, um jene zahllosen Lücken zu schließen, die von notwendig unvollkommenen Verträgen bei der Bestimmung der Aufgaben 40
Gestützt besonders auf Arbeiten von Penrose (1959), Dierickx/Cool (1989), Sanchez et al. (1996), Dyer/Singh (1998), Osterloh et al. (1999), Sanchez (2001), Duschek (2002) und Madhok (2002); s. jetzt auch Freiling u. a. (2008).
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der Kreation, Nutzung, Weitergabe und Weiterentwicklung von Wissen, zumal: impliziten Wissens, nun einmal gelassen werden, macht Freiling eine wohlüberlegte Anleihe bei der auf Bruno Frey (1997) zurückgehenden Theorie intrinsischer Motivation als einem integralen Bestandteil einer Theorie der Unternehmung (vgl. Osterloh et al. 1999). Der Preismechanismus eignet sich zur Übertragung impliziten Wissens schon mangels Messbarkeit nicht. Das Argument lässt sich noch erheblich stärken, wenn man an Arrows Informationsparadox denkt. Intrinsische Motivation und soziale Normen können diese Lücken schließen, weil sie uns in den Stand setzen, (Wissen) anders als um der Gegengabe willen zu geben. Und der Witz ist nun aber, dass intrinsische Motivation ihrerseits ein Zustand ist, der intendiert nicht (leicht) erreicht werden kann – der wesentlich Nebenprodukt ist (vgl. Elster 1987). Dass sie intrinsisch ist, besagt ja, dass sie aus extrinsischem Nutzen und darauf abstellenden Intentionen nicht generiert werden kann. Die Verlässlichkeits-, Messbarkeits- und Motivationslücken, die sich beim Wissenstransfer überall auftun, können überbrückt werden in einem entsprechenden ‚Ambiente‘ (Freiling) und einer geeigneten institutionellen Umgebung. Wann und warum geben wir Tipps, Rat, Hilfestellung, konstruktive Kritik, Ideen, Wissen, wenn wir nicht gerade Altruisten sind? (1.) Wenn wir etwas dafür eintauschen, und sei es: einen Gegenwert in der Zukunft, oder (2.) aus intrinsischer Motivation, vulgo: aus Freude am Geben, oder (3.) aus Pflicht – weil es sich gehört. Diese drei sollte man nicht in eins setzen und nicht verwechseln. Die meisten Ökonomen sind nicht gut darin, sie zu unterscheiden. Dass Leute Gaben geben, ohne einen extrinsischen Nutzen im Auge zu haben, ist ihnen Hekuba. Wir alle aber tun es: im Wissenschaftsbetrieb, unter Kollegen, unter Freunden, unter Personen unseres Vertrauens, zu schweigen von institutionellen Kontexten, die Nutzenkalküle explizit restringieren, wie im Falle der Open-Source-Bewegung. Aber der ganze Wissenschaftsbetrieb gleicht eben weithin einer Open-Source-Bewegung, und das gilt cum grano salis – cum grano salis! – auch, und muss gelten, für communities of knowledge, systems of high performance, communities of practice innerhalb und zwischen Unternehmungen sowie anderen Organisationen. Wem das zu idyllisch klingt, dem sei gesagt, dass es mir ganz und gar fern liegt, eine schöne heile Welt zu behaupten oder zu postulieren. Dass in Unternehmungen, Unternehmungsnetzwerken und weithin auch in anderen Organisationen der Blick auf den (eigenen) Nutzen dominiert, darüber müssen wir einander wohl kaum belehren. Meine Behauptung ist nicht, es dominiere eine Ethik der Reziprozität, wohl aber: ganz ohne geht es nicht, wie verschwindend gering und wie verschwiegen ihr Anteil auch sein mag. Ich postuliere hier insoweit keine Moral, sondern analysiere Bedingungen der Möglichkeit des Gebens und
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Nehmens, und dazu zählen eben auch: moralische Bedingungen. Auch die Fähigkeit, politische Koalitionen zu schmieden und soziales Kapital zu akkumulieren, das hier überall von Vorteil ist, hängt nicht nur, aber auch, und womöglich entscheidend, von der paradoxalen Fähigkeit ab, (auch einmal) jenseits von Nutzenkalkülen zu geben. Die Reputation eines ehrlichen Maklers, einer integren Politikerin, eines anständigen Vorgesetzten, einer loyalen Kollegin oder eines fairen Partners ist anders kaum zu haben. George Akerlof hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine der effizientesten Methoden, loyal und vertrauenswürdig zu erscheinen, darin besteht, vertrauenswürdig zu sein. „Honesty is useful“ (Akerlof 1983: 56). Besonders nützlich aber ist Ehrbarkeit dann, wenn man sie nicht um solcher Nützlichkeit willen an den Tag legt.41 Das hat eine Implikation, mit der sich die Standardökonomik schwer tun muss: Es gibt so etwas wie moralische Ressourcen und moralische Kompetenzen von Unternehmen, die sie, wenn sie darüber verfügen, zwar mobilisieren und unter Umständen als ‚Organisationskapital‘ (vgl. Sadowski 2002) in Anschlag bringen, aber nicht kaufen können, jedenfalls nicht direkt. Wohl aber können Organisationen Personal rekrutieren, das für solche Ressourcen und Vermögen einsteht, und sie können durch geeignete Regelwerke und Praktiken dieses ‚Kapital‘ produzieren und reproduzieren. Albert O. Hirschman (1978) hat in „Exit, voice, and loyality“ das Paradigma für diese Art Organisationskapital geliefert: Loyaliät. Sie verhindert (allzu) schnelle Abwanderung und bewahrt die Organisation daher vor dem Verlust des Ideenreichtums, der Kritik und der Mitarbeit jener kritischen Geister, die sich mit dem status quo nicht zufrieden geben. Und auch Loyalität kann man nicht kaufen. Um nicht missverstanden zu werden: Oft, trotz der erwähnten Hindernisse, tauschen wir Wissen (und kommen über jene Hürden mit Hilfe der Anreiz- und Kontrollkrücken der neuen institutionalistischen Ökonomik). Ergänzend ist Eric von Hippels (1988) ‚informelles know-how-trading‘ gefragt, das er besonders für Innovationsprozesse postuliert. Unterhalb dessen aber, und manchmal besonders dann, wenn es sich um besonders heikles Wissen handelt, geben wir es ohne berechnenden Blick auf die Gegengabe, die wir gleichwohl erwarten (können). In diesen Begriffen werden Tausch und Gabe auseinandergehalten. Gabe ist nicht Tausch, auch wenn das on dit des Ökonomen anderes verkündet. Das ist in einer Intuition sehr lebendig, die wohl die meisten von uns teilen, und an 41
Natürlich kann das Wissen darum seinerseits Eingang finden in eine besonders reflektierte Nutzenkalkulation, die mit dem besonderen Wert einer als ‚Geschenk‘ gewährten Gabe für den Empfänger rechnet. „Du sollst Gerechtigkeit haben“, sagt der ‚Geber‘ Don Corleone bei Mario Puzo („Der Pate“). „Eines Tages, und dieser Tag wird vielleicht niemals kommen, werde ich dich bitten, mir dafür einen Gefallen zu tun. Bis dahin betrachte diese Gerechtigkeit als Geschenk.“ Diesem Schachzug hat Horst Bosetzky (1974) als Don-Corleone-Prinzip zu organisationstheoretischen Ehren verholfen.
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die ich daher appelliere: Eine Gabe (eines Tipps, eines Rats, einer Information) ist uns ungleich wertvoller, wenn sie ‚einfach so‘ und womöglich gerne, aus Freundschaft, im Vertrauen auf Fairness oder aus Anstand gegeben wird, als wenn der Nutzen, den die Gegengabe stiftet, das Motiv des Gebens ist. Dabei ist klarzustellen, warum Reziprozität nicht impliziert, dass die Gabe um der Gegengabe willen gegeben wird. Das ist eigentlich einfach. Zu wissen, dass es Reziprozität gibt (und sicherstellt, dass man in Gabensystemen wirtschaftlich zurechtkommt), ist eines. Die Gegengabe, also den Nutzen, zum Motiv und zur Intention meines Gebens zu machen, ein anderes. Sehr wohl kann – und muss! – die Gabe als Gabe vom Geber intendiert, vom Empfänger wahrgenommen und anerkannt sein, ohne dass diese Anerkennung oder gar eine Gegengabe zum Motiv des Gebers würde.42 Wer hier als Motiv und Intention nur entweder Altruismus43 oder Nutzen für möglich hält, übersieht, in letztlich utilitaristischer Manier, ein anderes Motiv, eine andere Intention: eine Moral, die gerade fordert zu tun, was sich gehört, weil es sich gehört, und nicht, weil es nützt. Diese Moral aber, da sie Moral irdischer Menschen und nicht kantischer Engel ist, wird nicht dadurch annulliert, dass die Handelnden, in peripherer, mitlaufender, beiläufiger Intentionalität,44 um die leidliche Sicherheit einer Gegengabe und daher eines wirtschaftlichen Auskommens wissen. Das bedeutet nämlich nur, dass sie wissen: Die Verhältnisse sind so, dass ihre Moral nicht ihrer Existenz den Garaus machen wird. Es bedeutet nur, dass Moral nicht Blindheit gegenüber solchen lebenspraktischen Erfordernissen impliziert. Es bedeutet nicht, dass ihre Moral käuflich ist. Es bedeutet nicht, dass ihre Moral verkappter Utilitarismus ist. Der übliche utilitaristische Einwand dagegen – ‚Ist der Geber nicht zumindest auf Anerkennung und Reputation aus?‘ – greift aus einem einfachen Grunde nicht: weil eine solche Anerkennung die Geltung einer Moral bereits voraussetzt (sie ist ja gerade Anerkennung der moralischen Qualität des Gebens). Der Standardeinwand läuft auf begging the question hinaus (so auch Khalil 2004). Dass Gabensysteme funktionieren, hängt also, das ist ein durchaus durkheimianischer Gedanke, nicht – nicht allein – von funktions- und nutzenbedachten Intentionen, sondern von der Geltung einer Ethik der Gabe ab, die durch zu starke Nutzenorientierung erodieren kann. Die Ökonomie hängt, das wäre das 42 43
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Jacques Derrida (1993) hat allerdings argumentiert, dass darin bereits eine Verunreinigung der ‚reinen Gabe‘ liegt, eine Kontamination durch den Tausch, und dass eine reine Gabe daher eine Unmöglichkeit ist. Als Gegensatz zu Nutzenorientierung Altruismus anzuführen, halte ich für einen Kategorienfehler. Das Gegenteil von Altruismus ist Egoismus, und als Gegensatz zu Nutzen- führe ich hier überall Pflichtorientierung an. Die aber steht orthogonal zu dem Gegensatzpaar Altruismus/Egoismus. Bestärkend Khalil (2004). Zum Konzept peripherer Intentionalität vgl. allgemein Martens (2002), mit Blick auf Gabensysteme Ortmann (2004b: Kapitel 5.8 und 5.9).
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durkheimianische Standardargument, von Voraussetzungen ab, die sie allein aus sich selbst heraus – aus einer auf Nutzen bedachten Kalkulation heraus – nicht erzeugen kann, deren Reproduktion sie aber zumindest ermöglichen muss, obwohl ökonomisches Kalkül diese moralischen Voraussetzungen unterminiert. Nutzenkalküle, Direktion und Tausch können das freie Fließen, das Geben und Nehmen von Wissen nicht nur forcieren, sondern auch gefährden. Dieses ganze Feld des Jenseits der Ökonomie wäre genuines Betätigungsfeld der Soziologie. Ersichtlich kann die ökonomische Perspektive es nicht in den Blick nehmen, es sei denn unter Preisgabe ihrer bisher in Anspruch genommenen axiomatischen Grundlagen.45 In Gabensystemen, um es in einem Satz zu sagen, wird funktionierende Reziprozität primär via Moral und Normen, nicht via Nutzenkalkül gesichert. Ich kann hier nicht zeigen, sondern nur erwähnen, dass in Arbeiten so herausragender Ökonomen und Managementforscher wie Kenneth Arrow (1975), George Akerlof (1982, 1984) und Eric von Hippel (1988) die Gabe sensu Mauss, wenn auch in letztlich utilitaristischer Manier, an genau der Stelle in Anspruch genommen wird, wo sie auch hier platziert ist: beim Erfordernis eines Gebens jenseits von Nutzenerwägungen beim Bluspenden, aber auch darüber hinaus, nämlich in Organisationen und und überall, wo der Markt versagt (Arrow), im Rahmen von Arbeitsverträgen („labor contracts as partial gift exchange“, Akerlof 1982) und in Prozessen der Innovation (vgl. Ortmann 2004: 178 ff.). Inzwischen hat auch die experimentelle Wirtschaftsforschung zahlreiche Belege dafür erbracht, dass die Menschen sich nicht nur an ihren Nutzen orientieren, sondern auch nach Art eines homo reciprocans agieren (z. B. Fehr u. a. 1997; für einen Überblick Göbel u. a. 2007). Im Lichte des Arrowschen Informationsparadox ist es sicher kein Zufall, dass es besonders Innovationsprozesse sind, die auf ein Minimum an Gaben, 45
Anders Karl Polanyi (1978: 71 ff., 87 ff.), der mit großem Verständnis über Gabensysteme und Reziprozität schreibt und die erwähnte Blindheit der ökonomischen Zunft als Ignoranz gegenüber der großen Transformation interpretiert, die erst Marktwirtschaften hervorgebracht habe. Anders auch die neue experimentelle Wirtschaftsforschung, die Reziprozität nicht umstandslos mit Tausch gleichsetzt, sogar dem Eigennutz entgegensetzt und einen homo reciprocans postuliert (vgl. Fehr et al. 1997; Falk 2002). Es gibt eine mittlerweile unabweisbare und jedenfalls für Ökonomen nicht selbstverständliche Evidenz, gewonnen in wohlkontrollierten Experimenten, dass Fairness- und Gerechtigkeitsgesichtspunkte die Entscheidungen etwa von Kunden, Arbeitern und, allgemein gesprochen, Interaktions- und Kooperationspartnern beeinflussen, die sich daher nicht nur an ihrem Eigennutz orientieren. Eine Klasse dieser Experimente betrifft Gabentausch-Spiele, in denen sich zeigt, dass die Leute sich kooperativer respektive fairer verhalten als Modelle schieren Eigeninteresses voraussagen würden; für einen Überblick Fehr/Schmidt (1999). Bemerkenswert auch: Die Neigung zu selbstsüchtigem oder aber kooperativem Verhalten hängt stark von der ökonomischen respektive strategischen – und ich ergänze: von der institutionellen – Umgebung ab.
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Großzügigkeit und Vertrauen angewiesen sind oder jedenfalls auf ihrem Boden besonders gut gedeihen. In einer Studie über ein Forschungs- und Entwicklungskonsortium der Halbleiterindustrie haben Browning, Beyer und Shetler das einmal mehr gezeigt, mit gelegentlichem Rekurs auf Mauss. Ihr Fazit: „ ... the interdependencies involved in interorganizational arrangements can pay off, but some initial degree of trust and someone to start the contributions flowing are needed“ (1995: 144). Damit betonen sie das Problem, wie hier ein Anfang zu machen sei: mit einem großzügigen Vorgriff auf eine vertrauensvolle Kooperation, die eben dadurch initiiert und begründet wird. Die Literatur zu open innovation und, in diesem Rahmen, zum Phänomen des free revealing, entdeckt neuerdings ein zum Teil auf Pflichten solchen Gebens und Nehmens beruhendes Verhältnis auch zu den Kunden, die in Innovationsprozesse einbezogen werden.46 Und ein Blick auf den knowledge-based view des strategischen Managements und einen kompetenzbasierten Ansatz, wie Freiling ihn entwickelt, zeigt also, dass sich diese Überlegungen in einen noch allgemeineren Rahmen einrücken lassen, den Rahmen einer allgemeinen Theorie der Unternehmung. In jenem Ansatz nämlich wird die Unternehmung, wie gesehen, als Einrichtung zur Kreation, Integration und Anwendung von Wissen aufgefasst, Wissen, das (1.) die wichtigste Ressource von Unternehmungen darstellt, (2.) in ihren Mitgliedern residiert, und das (3.) weder über den Koordinationsmechanismus ‚Markt‘ noch über den alternativen Mechanismus ‚Hierarchie‘ gut koordiniert werden kann. Die Formen reziproker Koordination im Sinne Thompsons (1967), geteilten, verteilten und gegenseitigen Wissens, gruppenbasierter Problemlösung, gegenseitiger Abstimmung und geteilter Überzeugungen in Organisationen, Netzwerken und communities of practice und die erforderlichen Prozesse der Kommunikation und des Wissenstransfers, auch: der Wissenskreation sind zu einem beträchtlichen Teil auf ein Geben ohne berechnenden Blick auf Gegengaben angewiesen. Daher kann man sich der Schlussfolgerung nicht länger entziehen, dass die Gabe in diesem durchaus emphatischen, durchaus anökonomischen Sinne im Herzen der Unternehmung und im Innersten einer theory of the firm eine verschwiegene, leicht zu übersehende, aber wichtige Rolle spielt. Das Geben und Nehmen im Rahmen der Kreation, Integration und Anwendung von Wissen vollständig von einer Kalkulation der Gegengabe abhängig zu machen, würde den Wissensfluss überall hemmen, stören, umleiten und versiegen lassen. Damit landen wir bei einem eigenartigen Resultat: Eine avancierte Theorie der Unternehmung muss an entscheidender Stelle, dort, wo es um die heutzu46
Zum Beispiel Chesbrough (2003); von Hippel (1988, 2001); Piller (2003); Reichwald/Piller (2005).
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tage wichtigsten Unternehmungsressourcen geht, eine Theorie der Gabe inkorporieren können, die ihrerseits gerade das Andere der Ökonomie, das Jenseits des Tauschs und des Nutzenkalküls zu denken erfordert: nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als ineinander verschränkte Dimensionen des Sozialen und des Wirtschaftens. Literatur Adams, W.; Brock, J. W. (1986) Corporate power and economic sabotage, in: Journal of Economic Issues 20, 919-940 Akerlof, G. A. (1982) Labor Contracts as Partial Gift Exchange, in: Quarterly Journal of Economics 97, 543-569 Akerlof, G. A. (1983) Loyalty Filters, in: American Economic Review 73, 54-63 Albert, H. (1967) Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Ökonomische Probleme in soziologischer Perspektive, Neuwied, Berlin Alchian, A. A./Demsetz, H. (1972) Production, Information Costs, and Economic Organization, in: American Economic Review 62, 777-795 Alt, J. E./Shepsle, K. A. (Hrsg.) (1990) Perspectives on positive political economics, Cambridge Althans, B. (2007) Das maskierte Begehren. Frauen zwischen Sozialarbeit und Management, Frankfurt a. M. Anders, G. (1980) Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 5. Aufl., München Arrow, K. J. (1970) Essays in the Theory of Risk Bearing, Amsterdam Arrow, K. J. (1975) Gifts and Exchanges, in: Phelps, E. S. (Hrsg.) (1975) 13-28 Arrow, K. J. (1984) Social Choice and Justice, Oxford Arrow, K. J. (1980) Wo Organisation endet, Wiesbaden Austin, J. L. (2002) Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words, zuerst 1962), 2. Aufl., Stuttgart Barnes, B. (1983) Social Life as Bootstrapped Induction, in: Sociology, 17. Jg., 524-545 Becker, A./Küpper, W./Ortmann, G. (1988) Revisionen der Rationalität, in: Küpper, Ortmann (1988), 89-113 Benjamin, W. (1980) Über den Begriff der Geschichte, in: Benjamin, W. (1980) 691-704 Benjamin, W. (1980) Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. Benz, M./Stutzer, A. (2003) Was erklärt die gestiegenen Managerlöhne, in: Die Unternehmung 57, 5-19 Berger, J. (1995) Warum arbeiten die Arbeiter? Neomarxistische und neodurkheimianische Erklärungen, in: Zeitschrift für Soziologie 24, 6, 407-421 Birke, M./Burschel, C./Schwarz, M. (Hrsg.) (1997) Handbuch Umweltschutz und Organisation. Ökologisierung, Organisationswandel, Mikropolitik, München, Wien Bolsinger, E. (1998) Was ist Dezisionismus? Positionen, Kontexte, Wirkungslinien, in: Politische Vierteljahresschrift 39, 471-502 Bosetzky, H. (1974) Das Don Corleone-Prinzip in der der öffentlichen Verwaltung, in: BadenWürttembergische Verwaltungspraxis 1, 50-53 Browning, L. D./Beyer, J. M. S./Shetler, J. C. (1995) Building Cooperation in a Competitive Industry: SEMATEC and the Semiconductor Industry, in: Academy of Management Review 38, 113151 Buchanan, J. M. (1979) What should economists do? Indianapolis
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Autorenverzeichnis
Ingo Bode, geb. 1963, Dr. rer. pol., Professor für Sozialpolitik mit Schwerpunkt gesellschaftliche und organisationale Grundlagen, Universität Kassel. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Organisationssoziologie des Nonprofitsektors, Politische Soziologie des Wohlfahrtsstaats, vergleichende Gesellschaftsanalyse. Aktuelle Publikationen: The Culture of Welfare Markets. The international recasting of pension and care systems (New York/ London 2008), Arbeit im gemeinnützigen und informellen Sektor (in: F. Böhle, G. Voß & G. Wachtler (Hrsg.), Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden 2010), Killing the Golden Goose? Third Sector Organisations and Back-to-work Programmes in Germany and the UK (mit M. Aiken, in: Social Policy and Administration 43, 3, 2009). Michael Bruch, geb. 1963, Dr. rer. soc., Lehrbeauftragter an der J.-W. GoetheUniversität, Frankfurt/M. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Theorien moderner Gesellschaften, Herrschaftstheorien, Organisationstheorie und geschichte, Gouvernementality-Studies. Martin Endreß, geb. 1960, Dr. phil., Professor für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie, Bergische Universität Wuppertal. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Allgemeine Soziologie, Politische Soziologie, Wissenssoziologie. Aktuelle Publikationen: Verstehende Soziologie(n) und hermeneutische Tradition(en) (in: M. Staudigl (Hrsg.), Alfred Schütz und die Hermeneutik, Wien, im Druck), Unvorhergesehene Effekte – altes Thema, neue Probleme? (Gerd Albert et al. (Hrsg.), Dimensionen und Konzeptionen von Sozialität, Wiesbaden, im Druck), Selbstdeutungen und Handlungschancen – Zur analytischen Kontur des Mikro-Makro-Verhältnisses (Jens Greve et al. (Hrsg.), Das Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung, Wiesbaden, S. 193-221). Raimund Hasse, Dr. rer. soc., Professor für Soziologie: Organisation und Wissen, Universität Luzern. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: NeoInstitutionalismus; Organisation, Innovation und Wissen; Organisation und soziale Ungleichheit. Aktuelle Publikationen: Der Neo-Institutionalismus als
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makrosoziologische Kulturtheorie (in: Senge, K./ Hellmann, K.-U. (Hrsg.), Einführung in den Neo-Institutionalismus, Wiesbaden 2006, S. 150-160), Systems Theory, Societal Contexts, and Organizational Heterogeneity (in: Greenwood, R. et al. (Eds.), Handbook of Organizational Institutionalism, Thousand Oaks, CA, mit G. Krücken, 2008), Neo-institutionalistische Wirtschaftssoziologie (erscheint in: KZfSS, Sonderband Wirtschaftssoziologie, mit G. Krücken, vorauss. 2009), Institutionelle (Problem-)Arbeit: Theoretischer Hintergrund und Bezugnahme auf den Fall schulischer Diskriminierung (erscheint in: Dörre. K. et al. (Hrsg.), Unsichere Zeiten?, mit L. Schmidt, vorauss. 2009). Wieland Jäger, geb. 1944, Professor a.D. für Soziologie, Bereich Arbeit und Gesellschaft, FernUniversität in Hagen. Arbeitsgebiete: Arbeits- und Industriesoziologie, Organisationssoziologie, Soziologische Theorie. Forschungsschwerpunkte: Moderne soziologische Theorie und sozialer Wandel; Management im Umbruch – Studien zum Organisationswandel; Arbeit und Sinn. Aktuelle Publikationen: W. Jäger/ R. Schützeichel (Hrsg.): Universität und Lebenswelt (Wiesbaden 2008), W. Jäger/ K. Röttgers (Hrsg.): Sinn von Arbeit. Soziologische und wirtschaftsphilosophische Aspekte (Wiesbaden 2008), W. Jäger/ U.Weinzierl: Moderne soziologische Theorien und sozialer Wandel (Wiesbaden 2008), W. Jäger/ S. Pfeiffer: Ende des Elends. Marxsche Reformulierung, handlungstheoretischer Beitrag und dialektische Reanimation der Arbeits- und Industriesoziologie (in: N. Huchler (Hrsg.): Ein Fach wird vermessen, Berlin 2008, S. 69-88). Thomas Lemke, geb. 1963, Dr. phil, Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft, Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt/M. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, soziologische Theorie, Organisationssoziologie, Biopolitik, politische Soziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie. Aktuelle Publikationen: Biopolitik zur Einführung (Hamburg 2007), Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests (zusammen mit Regine Kollek, Frankfurt/M./New York 2008). Thomas Matys, geb. 1971, Dipl.-Soz.-Wiss., Bergische Universität Wuppertal. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Arbeits-, Organisations- und Kultursoziologie. Die in Arbeit befindliche Dissertation beschäftigt sich mit der Entstehung US-amerikanischer „Corporations“ aus organisationssoziologischer Sicht. Aktuelle Publikationen: Sinn von Arbeit im „Management-Zeitalter“ (zus. mit Wieland Jäger; im Druck); „(Un)sichere Führungskarrieren?“ – Ein Gegensatzpaar, das keines ist (zus. mit Thomas Brüsemeister/Wieland Jäger, im Druck).
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Günther Ortmann, geb. 1945, Dr. rer. pol., Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Organisation, Theorie der Unternehmung, Macht und Mikropolitik, Strategisches Management, Unternehmensnetzwerke, Organisation und Dekonstruktion, Fiktionen des Organisierens, Organisation und Moral. Aktuelle Publikationen: Als Ob. Fiktionen des Organisierens (Wiesbaden 2. Aufl. 2010), Management in der Hypermoderne. Kontingenz und Entscheidung (Wiesbaden 2009). Uwe Schimank, geb. 1955, Prof. für Soziologie, Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität Hagen. Arbeitsschwerpunkte: Theorien der modernen Gesellschaft, soziologische Zeitdiagnosen, Organisations- und Entscheidungstheorien, Hochschulforschung, Sportsoziologie. Neuere Buchpublikationen: Das Publikum der Gesellschaft – Inklusionsverhältnisse und Inklusionsprofile in Deutschland (mit Nicole Burzan, Brigitta Lökenhoff und Nadine Schöneck, Wiesbaden 2008), Die Entscheidungsgesellschaft – Komplexität und Rationalität der Moderne (Wiesbaden 2005), Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft (Wiesbaden 2005). Jörg Sydow, Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbes. Unternehmenskooperation, Institut für Management der Freien Universität Berlin und Visiting Professor an der Graduate School of Business der University of Strathclyde. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher (zuletzt: Vernetzung im Gesundheitswesen, Stuttgart 2008) sowie Gründungsmitherausgeber von der Managementforschung und Industrielle Beziehungen. Zudem ist er Mitglied der Herausgeberbeiräte von Organization Studies, Organization Science und Scandinavian Journal of Management. Seine Forschungsinteressen richten sich vor allem auf die Management- und Organisationstheorie sowie auf Fragen strategischer Unternehmenskooperation und -vernetzung, des Projektund Innovationsmanagements sowie der Industriellen Beziehungen. Weitere Informationen: www.wiwiss.fu-berlin.de/institute/management/sydow/index. html Günther Wachtler, geb. 1944, Dr. rer. pol., Professor für Soziologie von Arbeit, Industrie, Organisation, Bergische Universität Wuppertal. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Arbeits- und Industriesoziologie, Zusammenhänge von Arbeit und Sozialstruktur, Arbeitsorganisation. Aktuelle Publikation: Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden 2010 (Hrsg. zus. mit F. Böhle und G. Voß).