Die Sklaven von Kalderon Version: v1.0
In den Dimensionen der Sterblichen, fern von allen Planeten, auf denen Leben ex...
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Die Sklaven von Kalderon Version: v1.0
In den Dimensionen der Sterblichen, fern von allen Planeten, auf denen Leben existiert, gibt es eine Welt, die durchdrungen ist vom Bösen. Eine Welt, die verwüstet wurde vor langer Zeit. Die geborsten ist bis ins Mark. Auf der die Gesetze der Dämonen gelten. Dort werden Sterbliche als Sklaven gehalten, als willenlose Diener, die in niemals endender Qual für ihre finsteren Herren Frondienste verrichten müssen. Der Name dieser Welt ist Kalderon. Die Sklavenwelt …
Institut für Politwissenschaften University of South Carolina, Columbia, USA 14. August 1963 »… und deshalb meine Freunde, möchte ich die Frage des Prä sidenten wiederholen und euch zurufen: Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, sondern was ihr für euer Land tun könnt.« Der Redner ließ seine Worte einen Moment wirken, bevor er fort fuhr. »Und falls der eine oder andere von Ihnen mich nun fragen sollte, was er sich darunter vorzustellen habe, so will ich Ihnen auch darauf eine Antwort geben. In allen seinen Ansprachen hat Prä sident Kennedy stets klar gemacht, dass es ihm nicht darum geht, der Welt einen amerikanischen Stempel aufzupressen. Mit einer Pax Americana, wie die Konservativen sie verstehen, ist keinem von uns gedient. Unser Ziel muss eine langfristige und integrative …« Der Rest von dem, was Dr. Mark Spencer hatte sagen wollen, ging in dem aufgeregten Getuschel unter, das unter den Gästen des Vor trags ausbrach. Nicht weniger als 400 geladene Personen hatten sich im Vor lesungssaal des Instituts versammelt, um Spencers Worten zu lauschen. Immerhin war der Politwissenschaftler alles andere als unumstritten, und trotz seines vergleichsweise jungen Alters hatte Spencer es schon wiederholt geschafft, in die Schlagzeilen zu kom men und die alten Eliten mit seinen gewagten Theorien zu produ zieren. Vielleicht auch aus einem Grund, der nichts mit Mark Spencers Scharfzüngigkeit, seinen geistreichen Reden und seinen provo kanten Theorien zu tun hatte: Mark Spencers Hautfarbe war schwarz …
»Was die Welt braucht, ist weniger Resignation und mehr Integra tion«, rief er den Versammelten zu. »Was genau wollen Sie damit sagen, Dr. Spencer?«, fragte ein hornbebrillter Mann, der in der vordersten Reihe saß und offenbar dem konservativen Lager angehörte. »Sollen wir den Feinden von Demokratie und Freiheit die Hand reichen?« »Gegenfrage, Sir – was würde es bedeuten, es auf eine Konfronta tion hinauslaufen zu lassen? Die Tage von Kuba haben jedem von uns mit aller Deutlichkeit klar gemacht, wie nahe die Welt bereits am Abgrund steht. Weder wir noch unsere Gegner können es sich leisten, weiter so zu tun, als würden wir isoliert voneinander leben. Wir alle teilen auf dieser Welt ein gemeinsames Schicksal. Der Un tergang des einen bedeutet auch den Untergang des anderen, davon bin ich überzeugt.« »Was?«, wetterte ein anderer Mann, der einen ergrauten Bürsten schnitt trug und sein markantes Kinn angriffslustig vorreckte. »Wollen Sie uns ernsthaft erzählen, es würde uns schaden, wenn der verdammte Kommunismus vor die Hunde geht?« »Das habe ich nicht gesagt«, schränkte Mark ein. »Aber ich bin der Ansicht, dass, ähnlich wie in der Physik, jede Kraft eine Gegenkraft auslöst. Im Augenblick befindet sich unsere Welt in einem – wenn auch labilen – Gleichgewicht. Würde eine der beiden Seiten plötz lich fehlen, hätte das unabsehbare Folgen. In gewisser Weise können Werte wie Freiheit und Demokratie nur existieren, wenn auch das Gegenteil davon existiert.« »Blödsinn, völliger Blödsinn«, ereiferte sich der Mann mit der Hornbrille. »Noch vor ein paar Jahren, Mr. Spencer, hätten Sie sich mit solchen Aussagen um Kopf und Kragen geredet.« »Nicht wahr?« Mark grinste verbissen. »Das waren noch Zeiten, als Mr. McCarthy in dieser Stadt das Sagen hatte. Oder als man Menschen meiner Hautfarbe mit ein paar Peitschenhieben zum Schweigen bringen konnte.«
»Unerhört«, rief jemand dazwischen. »Ich weiß, dass es vielen von Ihnen nicht gefällt, aber diese Zeiten sind vorbei, meine Herren«, fuhr Mark fort. »Sie alle sollten sich an den Gedanken gewöhnen, dass eine neue, junge Generation von Amerikanern das Heft in der Hand hält. Eine Generation, zu der auch der Präsident und Dr. King gehören. Und diese neue Generati on ist bereit, eine neue Weltordnung zu begründen, die nicht mehr auf Gegensätzen, sondern auf Gemeinsamkeiten aufbaut.« Wieder wurde aufgeregt und empört getuschelt. Mark wusste nur zu gut, dass seine Theorien in konservativen Kreisen auf Misstrauen und Ablehnung stießen, aber irgendwo musste er schließlich be ginnen. Im eigenen Lager zu predigen, war gut für das eigene Ego. Für die Sache selbst brachte es reichlich wenig. Aus dem aufgeregten Getuschel der Menge kristallisierte sich Ge lächter heraus. Gelächter, das Mark missfiel, weil es Missachtung und Hochmut ausdrückte. »Darf ich fragen, was so komisch ist?«, erkundigte er sich und blickte in die Menge, wobei er seine Augen gegen das grelle Licht der Bühnenscheinwerfer mit der Hand abschirmte. Wo steckte der unverschämte Kerl, der es wagte, ihn einfach auszulachen? Der junge Politwissenschaftler hatte nichts dagegen, wenn man sich mit seinen Ideen auseinander setzte, sie in der Luft zerriss und kritisierte. Aber er mochte es nicht, wenn man sie als lächerlich abtat. »Ich will es Ihnen erklären, junger Freund«, sagte eine Stimme, und im Mittelfeld des Zuschauerraums erhob sich ein schlanker Mann, der einen korrekten Anzug und streng gescheiteltes, blondes Haar trug. Einige der anwesenden Gäste kannte Mark von anderen Veranstaltungen und aus der Zeitung – diesen Mann hingegen hatte er noch nie gesehen. »Ja?« Neugierig rückte er seine Brille zurecht und beugte sich über das Rednerpult. »Nur zu, ich bin sehr gespannt, was Sie zu sagen
haben.« »Um es kurz zu machen, junger Freund«, sagte der Fremde gönnerhaft, »ich halte Ihre Ideen allesamt für Hirngespinste.« Mark machte ein langes Gesicht, und irgendwo lachte jemand, was ihn noch ärgerlicher machte. »Schön und gut, Sir«, sagte er, sich zur Ruhe zwingend. »Und darf ich fragen, womit Sie Ihr Urteil rechtfertigen?« »Erfahrung«, lautete die lakonische Antwort. »Ihre Theorien mö gen neu und radikal sein, aber sie gehen an den tatsächlichen Pro blemen vorbei.« »Genauso ist es!«, pflichtete jemand aus der Menge bei. »Lassen Sie sich das gesagt sein!«, rief ein anderer. »So«, schnaubte Mark, die Zwischenrufe einfach überhörend. »Und was bringt Sie darauf?« »Ganz einfach. Ich halte die Augen offen. Ich schlage die Zeitungen auf und sehe, was dort steht. Und ich sehe, dass es mit Ih ren Ideen nicht vereinbar ist. Wie zum Beispiel wollen Sie Rassen unruhen wie in Newfield mit ihrer Theorie rechtfertigen? Sie spre chen von Einvernehmen mit den Feinden unserer Nation, während Ihre Bürgerrechtler-Freunde die innere Sicherheit unseres Landes bedrohen.« »Genauso ist es!«, brüllte jemand aufgebracht. »Er sollte sich schämen!«, fügte ein anderer hinzu. »Was in Newfield geschehen ist, hat nichts mit meinen Theorien zu tun, das wissen Sie genau«, sagte Mark selbstbewußt. »Wenn Sie mit mir eine Diskussion über politische Grundlagen führen möch ten, dann lassen Sie meine Hautfarbe dabei aus dem Spiel.« »Wie Sie wollen. Dann nehmen wir eben den Südostasien-Konflikt …« »Was ist damit?« »Erklären Sie mir mal, wie Sie den Nordvietnamesen die Hand rei
chen wollen! Ein Volk, das sein eigenes Volk tötet. Das Minderhei ten unterdrückt und die Freiheit mit Füßen tritt …« »… und das, ganz nebenbei bemerkt, amerikanischen Interessen im Weg steht«, fügte Mark bissig hinzu. »Ich weiß, Sir, dass viele von Ihnen einen Truppeneinsatz in Vietnam befürworten, aber ich möchte Sie daran erinnern, dass der Präsident eindeutig davor ge warnt hat. Präsident Kennedy ist nicht gewillt, das Leben junger Amerikaner aufs Spiel zu setzen und sie in einen Krieg zu schicken, der nicht gewonnen werden kann.« »So«, sagte der andere, »und warum nicht?« »Ganz einfach, Sir. Weil das Bedürfnis nach Demokratie und Frei heit etwas ist, dass sich entwickeln muss, das aus dem Inneren eines Volkes entspringen muss. Es ist nicht möglich, es von außen aufzu pressen. Vor allem nicht mit militärischer Gewalt.« »Wieso nicht? Bei den Deutschen ist es uns gelungen, oder nicht?« »Die Verhältnisse dort lassen sich nicht mit denen in Vietnam ver gleichen. Schon im Koreakrieg mussten wir feststellen, dass unsere Maßstäbe nicht ohne weiteres auf die ganze Welt zu übertragen sind.« »Wissen Sie, Spencer«, sagte der Mann im Anzug und verfiel in die alte Gönnerhaftigkeit, »Sie sollten wirklich nicht vom Koreakrieg sprechen. Denn der fand statt, als Sie sich noch fast in die Windeln geschissen haben.« War es zuvor nur vereinzeltes Gelächter gewesen, das hier und dort zu hören gewesen war, so begann jetzt der ganze Saal, dröhnend zu lachen. Aus dem Mund der Politwissenschaftler, Journalisten und Senats abgeordneten, die zu dem Vortrag geladen worden waren, schoss Mark blanker Hohn entgegen. Noch einen Augenblick konnte er sich beherrschen. Dann hielt er es nicht mehr aus.
»Wenn das alles ist, was sie einer neuen Generation von Ame rikanern zu sagen haben, dann kann ich nichts anderes tun, als Sie alle zutiefst zu bedauern«, schnarrte er betroffen ins Mikrofon. »Gu ten Abend, meine Herren.« Er trat vom Rednerpult zurück, packte seine Unterlagen zu sammen und verließ den Hörsaal mit weit ausgreifenden Schritten. Das Gelächter begleitete ihn bis hinaus auf den Korridor und durch die große Aula. Erst, als er die gläserne Pforte hinter sich gelassen hatte und hinaus ins Freie trat, blieb das Geschrei hinter ihm zurück. »Idioten«, sagte Mark leise. Dann klemmte er sich seine Mappe unter den Arm und machte sich auf den Weg zurück zum Hotel. Er hätte sich ein Taxi nehmen können, aber er verzichtete darauf. Der Spaziergang an der Luft würde ihm gut tun, würde ihm vielleicht helfen, seinen Zorn und seine Frustration ein wenig zu vertreiben. Was sie auch sagen mochten, wie sehr sie sich auch dagegen wehren mochten – Mark war überzeugt davon, dass seine Ideen und Theorien richtig waren. Nur wenn die Menschen gemeinsam handelten, wenn Rassen, Religionen und Ideologien keinen Unter schied mehr machten, konnte man an einer neuen, besseren Zukunft arbeiten. Präsident Kennedy wusste das und war damit zum Hoffnungsträ ger einer jungen Generation von Amerikanern geworden, die sich nicht damit begnügen würde, das nachzukauen, was andere vorbe teten. Mark blieb stehen, ließ seinen Blick über das breite Band des Congaree schweifen. Nebelschwaden lagen über dem Fluss, in dem sich matt die Lichter der Stadt spiegelten. Mark atmete tief durch. Er konnte es fühlen. Die Veränderungen, die in der Luft lagen.
Der Beginn eines neuen Zeitalters stand bevor. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mochte von Kriegen und Zwietracht geprägt gewesen sein. Doch die Menschen würden aus ihren Fehlern lernen. Und ob es diesen Betonköpfen mit ihren Bürstenschnitten und Hornbrillen gefiel oder nicht – die Zukunft der Welt würde anders verlaufen, würde von Frieden und dem Willen zur Verständigung geprägt sein. Kuba war ein deutliches Signal gewesen. Nach Jahren der Rüstung und gegenseitiger Blindheit hatte es allen klar gemacht, wie nahe die Menschheit dem Abgrund stand. Verständigung war die einzige Möglichkeit, die einzige Chance. Mark wusste, dass er noch viele Rückschläge würde hinnehmen müssen. Aber er hatte auch das Gefühl, mit seinen Reden und sei nem Engagement etwas verändern zu können. Im nächsten Monat würde sein Buch erscheinen. Das Buch, in dem er seine Theorien darlegte, in dem er begründe te, weshalb die westliche Welt diesen neuen Pfad des Friedens und der Versöhnung beschreiten musste, weshalb ein Engagement in In dochina verhängnisvoll wäre und wieso Präsident Kennedy das Bes te war, das dieser Nation seit Abraham Lincoln widerfahren war. Manche würden ihn dafür kritisieren, einige seine Bücher ver brennen. Aber die Wahrheit würde von diesem Zeitpunkt an nicht mehr zu leugnen sein … »Mr. Spencer?« Mark zuckte zusammen, als plötzlich jemand seinen Namen aus sprach. Er blieb stehen und wandte sich um, und hinter einem der Bäume, die die Flusspromenade säumten, trat eine Gestalt hervor, die er im Gegenlicht der Straßenlaterne zunächst nicht erkennen konnte. Sie war groß und schlank, trug einen hellen Trenchcoat und einen Hut. »Ja?«, fragte Mark. »Kennen wir uns?«
»Ich denke schon, dass Sie mich kennen«, sagte die Gestalt, deren Stimme Mark bekannt vorkam. »Schließlich hatten Sie gerade erst das Vergnügen meiner Feindschaft …« Der Fremde trat heran. Bestürzt erkannte Mark unter der Hut krempe die Züge des Mannes im Anzug, der ihn vorhin im Hörsaal provoziert und zum Gespött der Menge gemacht hatte. »Sie?«, fragte er, einigermaßen verwirrt darüber, wie der Mann hierher gelangt sein konnte. Schließlich hatte er noch sein Gelächter gehört, als er den Hörsaal verlassen hatte, und er war zügig ge gangen … »Ich«, bestätigte der andere nur. Sein Grinsen war falsch und ölig. »Was wollen Sie? Haben Sie noch nicht genug Spott mit mir ge trieben?« Mark hörte, wie hinter ihm etwas raschelte. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass da jemand war. Als er sich jedoch kurz umwandte, um nachzusehen, war nichts zu erkennen. »Nervös?«, fragte der Mann im Trench. »Vorsichtig«, verbesserte Mark. »Man kann nie wissen. Es soll Leute geben, die Schlägertrupps anheuern, um unliebsame poli tische Gegner zum Schweigen zu bringen.« Der andere lachte nur. »So etwas würde ich nie tun, Mr. Spencer. Es ist richtig, dass ich Ihre Meinungen nicht teile. Dass ich Sie für einen aufgeblasenen Schwätzer halte. Und dass ich denke, dass Sie gefährlich sind – aber ich würde mich nie auf eine Handvoll sterbliche Schläger verlassen.« »Was, verdammt noch mal, reden Sie da?«, fragte Mark barsch. »Ich spreche davon, dass du dich mit Mächten angelegt hast, von denen du nicht das Geringste weißt, mein Junge.« »Von wegen«, widersprach Mark heftig. »Ich kenne euch genau! Denken Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen? Sie ge
hören zu diesen rassistischen Idioten, die nicht wahrhaben wollen, dass sich alles ändern wird. Wem gehören Sie an? Der weißen Bru derschaft? Dem KKK?« »Nicht ganz, mein Junge …« »Ich warne Sie! Präsident Kennedy weiß von Ihren Umtrieben. Und er hat zugesagt, Sie alle zu bekämpfen.« »Keine Sorge, mein Junge.« Der Fremde grinste böse. »Auch um deinen Präsidenten wird man sich noch kümmern. Aber zuerst bist du an der Reihe …« In dieser Sekunde – Mark traute seinen Augen nicht – ging mit dem Mann im Mantel eine grässliche Veränderung vor sich. Seine Züge verschwammen und veränderten sich, wurden dunkel und hässlich. Seine Augen begannen zu glühen, und sein Mund verwandelte sich, grässliche Hauer schossen plötzlich daraus her vor. Doch das war noch nicht alles! Auch der Körper des Fremden veränderte sich. Mark konnte se hen, wie er sich unter dem Trenchcoat ausdehnte. Im nächsten Moment wurde der Stoff des Mantels zerfetzt – von kleinen, mit messerscharfen Zähnen bewaffneten Mäulern, die sich kurzerhand hindurchfraßen. In Fetzen fiel der Stoff zu Boden und offenbarte die Kreatur in ih rer ganzen Scheußlichkeit. Ein dunkler, schlanker Körper mit einem schrecklichen Haupt und Tentakeln, aus deren Enden weitere Mäuler starrten. Mit hässlichem Geräusch schlugen ihre Kiefer aufeinander, während Geifer von ih ren wulstigen Lippen troff. »Nein«, war alles, was Mark hervor brachte. Der junge Politwissenschaftler und Bürgerrechtler wusste nicht, wie ihm geschah. Namenloses Entsetzen packte ihn, ohne dass sein Verstand eine Erklärung dafür fand, was hier vor sich ging oder wer
dieses Wesen war. Dann setzte der Fluchtreflex ein. Mark fuhr auf dem Absatz herum und wollte losrennen, doch der Weg war ihm abgeschnitten. Es war ihnen also doch jemand gefolgt, aber es war kein Schläger trupp, wie Mark zunächst vermutet hatte, sondern eine Horde ge drungener, grässlich aussehender Kreaturen. Über ihren knochigen Leibern spannte sich ledrige Haut, aus großen, haarlosen Schädeln starrten ihm gelbe Augen und gefletsch te Zähne entgegen. Bis auf Lendenschurze und einzelne Rüstungs teile, die sie trugen, waren die Kreaturen nackt. Geifernd und zischelnd stellten sie sich ihm in den Weg, bedrohten ihn mit den kurzen Speeren, die sie bei sich trugen. Vor Entsetzen wie gelähmt blieb Mark stehen. Er war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Sein Atem ging stoßweise, sein Puls raste, sein Verstand drohte zu versagen. Die Kreatur mit den vielen Mäulern lachte nur. »Wie ich dir schon sagte, mein Junge, du weißt nicht, mit wem du dich eingelassen hast.« Marks Mund öffnete sich zu einem Schrei. Er wollte laut brüllen, wollte sein Entsetzen laut hinausbrüllen und um Hilfe rufen – doch er kam nicht dazu. Denn in diesem Moment sprangen die Gehilfen der Kreatur vor und packten ihn mit ihren dürren Klauen. Mark unternahm den halbherzigen Versuch, sich zur Wehr zu setzen, doch mit ihrer bloßen Masse überwältigten sie ihn und rangen ihn zu Boden. Innerhalb weniger Augenblicke hatten sie ihm Fesseln angelegt – Fesseln, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Sie waren augenschein lich aus Metall, doch ein dunkles, purpurfarbenes Schimmern um gab sie. Und wann immer Mark den Versuch unternahm, sie abzu streifen, gingen höllische Schmerzen von ihnen aus, die seinen
ganzen Körper durchzuckten. »Gute Arbeit«, knurrte die Kreatur und bewegte ihre Tentakel, als würde sie jemandem ein Zeichen geben. Im nächsten Moment sah Mark, wie sich aus den Nebelschwaden, die über dem Fluss lagen, etwas löste. Es war ein Boot. Ein alter Kutter, dessen dunkle, wulstige Formen im Dunkel der Nacht kaum auszumachen waren. Lautlos näherte sich das Boot dem Ufer und legte an. Auf Deck entdeckte Mark weitere gedrungene Gestalten, die zischelnd um herhuschten. Plötzlich begriff er. Diese Kreaturen waren dabei, ihn zu entführen. Sie wollten ihn mit sich nehmen, an einen Ort, der vermutlich schrecklicher war als alles, was sich seine finstersten Albträume ausgemalt hatten … »Keine Sorge«, sagte das grässliche Wesen mit den Tentakeln, als könne es seine Gedanken erahnen, »es wird nicht lange dauern, und du kannst dich an nichts erinnern. Du wirst vergessen – wie alle Schatten.« Mark spürte, wie die knochigen Gestalten ihn packten und hoch hoben, ihn zum Ufer schleppten, wo der Kutter bereits wartete. Schwarz und bedrohlich zeichneten sich die Formen des Schiffes ab, und der junge Mann sah eine düstere, hoch gewachsene Gestalt, die auf der Brücke des Schiffes stand. Die Angst in seinem Inneren wurde unkontrollierbar. Mit eisiger Hand packte sie ihn und ließ ihn am ganzen Körper be ben, während sich sein Verstand noch immer weigerte, all das zu realisieren. Er wand sich in den Griffen seiner Bewacher, und der Schmerz, der von den Fesseln ausging, wurde unerträglich. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, der seiner Furcht und sei ner Agonie Ausdruck verleihen sollte. Doch Mark Spencers Ent
setzen wurde nur noch größer, als er merkte, dass sich seiner Kehle kein Laut entrang. Sie hatten ihm auch seine Stimme genommen … Man trug ihn auf das Deck des Schiffes und lud ihn wie ein Paket ab. Mark sah, dass er nicht der Einzige war. Noch viele andere Men schen lagen auf den dunklen Planken, gefesselt wie er, ungeachtet ihrer Rasse, ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts. Was ging hier nur vor? Wo war er? Gespenstisch langsam legte der Kutter vom Ufer ab. Kein Laut war zu hören, kein Motor tuckerte. Nur das Zischeln und die schleppenden Schritte der Kreaturen auf Deck durchdrangen die Stille. Der Kutter wendete und fuhr zurück zur Flussmitte, wo Nebel schwaden ihn einhüllten. Während es vom Ufer aus so ausgesehen hatte, als läge nur leichter Dunst über dem Fluss, war der Nebel in der Flussmitte dicht und undurchdringlich. Und plötzlich wich das dunkle Grau der Nacht einem grellen, orangeroten Lodern, als ob schlagartig tausend Feuer entzündet worden wären. Die Münder der gefangenen Menschen öffneten sich zu lautlosen Schreien. Mark sah, dass sich etwas geöffnet hatte, das eine Art Tor zu sein schien, ein orangerot glühender Schlund, der das Schiff und alles, was auf ihm war, zu verschlingen schien. Seine Angst steigerte sich noch, sein Pulsschlag raste. Im nächsten Moment hatte der Schlund das Schiff erfasst, zog es hinein in den glühenden Strudel, der in seinem Inneren rotierte. Mark war überzeugt, dass dies das Ende war …
*
Auf der Festung am Rande der Zeit … Fasziniert betrachtete Torn die umeinander rotierenden Kugeln aus Plasma, deren blau leuchtende Oberfläche sich beständig veränderte. Obwohl seine Suche nach dem Dämonichron nun schon einige Zeit zurück lag, konnte er nicht aufhören, sich über dieses fas zinierende Gebilde zu wundern, dass die Techniker der alten Zeit geschaffen hatten. Das Dämonichron war ein Wissensspeicher – fünf Kugeln aus Plasma, in denen alle Kenntnisse gesammelt waren, die die Wanderer der alten Zeit über das Böse zusammengetragen hatten. Es war eine Datenbank über die Grah’tak, die Furcht erregenden Dämonen aus einer anderen Dimension, die zu den Tagen der alten Wanderer über die Welten der Sterblichen hergefallen waren und die es bis auf den heutigen Tag zu bekämpfen galt. Zahllose Wanderer hatten sterben müssen, um all das Wissen zu sammenzutragen, das in den Kugeln des Dämonichron gespeichert war. Aber noch mehr Wanderern hatte es das Leben gerettet … Seinen Gegner zu kennen und von seinen Schwächen zu wissen, war der größte Vorteil, den ein Krieger im Kampf erlangen konnte. Und obwohl das Dämonichron Aeonen alt und seine Informationen in mancher Hinsicht überholt waren, war es Torn schon oft von Nutzen gewesen. Der Wanderer hoffte, dass es auch diesmal so sein würde. Er hatte die Malumetrie aufgesucht, weil er eine Information benö tigte. Eine Auskunft über einen Dämon, über einen Namen, der ihm keine Ruhe ließ. Der Grund dafür lag auf der Hand. Dieser Dämon entsprang Torns Vergangenheit – seiner menschli
chen Vergangenheit, an der ihn die Richter der Zeit nicht mehr teil haben ließen. Mit der Begründung, ihn schützen zu wollen, hatten sie seine Erinnerung daran gelöscht. Doch sein zurückliegendes Abenteuer hatte Torn klar gemacht, dass zumindest Spuren davon noch immer in seinem Unterbewusstsein verborgen waren.* Um diese Spuren ging es ihm. Um Klarheit zu bekommen, musste er die Vergangenheit erfor schen. Und wenn er seine Vergangenheit schon nicht erkunden konnte, dann doch wenigstens die des Dämons Morgo, der mit ihm in Verbindung zu stehen schien … Der Wanderer legte seine Handfläche auf die äußere Schicht, die die fünf Kugeln umgab. Dazu dachte er intensiv an den Namen der Kreatur, über die er Auskunft wollte, und das Dämonichron rea gierte. Aus der Datenbank, die in den fünf Plasmakugeln gespeichert war, suchte es den Eintrag heraus, den Torn sehen wollte. Fahler Lichtschein erschien über den kreisenden Kugeln, in dem eine Pro jektion des Grah’tak erschien, der mit seinem Echsenkörper, seinen Klauen und den Hörnern auf seinem nach vorn gewölbten Schädel einen schrecklichen Anblick bot. Auf einer weiteren Projektion erschien in der Schrift der alten Wanderer der Inhalt des Eintrags. »Morgo«, las Torn leise vor, »Beiname der Henker. Berüchtigt da für, die Seelen auf den Schlachtfeldern gefallener Sterblicher zu sammeln. Der Echsendämon gehörte einst der Leibwache der Kardi naldämonen an, ehe er …« Der Wanderer überflog den Text, doch keine der Informationen, die er hier fand, interessierte ihn besonders. Er hatte sich erhofft, etwas über die Verbindungen Morgos zu den Sterblichen zu finden. Möglicherweise gab es hier einen Hinweis auf seine eigene Verbindung zu der Echsenkreatur. Doch das Dä *siehe Torn Band 40: ›Im Strudel der Zeit‹
monichron schien darüber keinen Eintrag zu besitzen. Torn konkretisierte seine Anfrage, schickte einen weiteren Ge dankenbefehl an die Datenbank. »Negativ«, lautete die lapidare Antwort. Es existierte kein Eintrag, der das Verhältnis Morgos zu den Menschen konkretisierte. Wie auch? Das Dämonichron war geschrieben worden, Aeonen bevor die ersten Menschen existiert hatten, und es war alles andere als auf dem neuesten Stand. Damals hatten Tausende von Wanderern dar an gearbeitet, es mit Informationen zu füttern. Jetzt oblag diese schwierige Aufgabe ihm ganz allein. Dem letzten der Wanderer … »Wonach suchst du?«, fragte plötz lich eine Stimme hinter ihm. Torn fuhr herum und sah, dass einer der Lu’cen in der Malumetrie aufgetaucht war – einer der neun Richter der Zeit, in deren Diensten der Wanderer stand. Es war Custos, jener Lu’cen, mit dem Torn sich am engsten ver bunden fühlte und der auch sein Trainer und Waffenmeister im Umgang mit dem Lux war. Wie meist, wenn er mit ihm sprach, hatte Custos ein menschliches Erscheinungsbild gewählt – das eines alten Mannes, der eine weite Robe trug und dessen hagere, narbige Züge von vielen überstandenen Kämpfen zeugten. Torn wusste, dass Custos dieses Aussehen nicht zufällig gewählt hatte – denn in der alten Zeit war der Lu’cen selbst ein Wanderer gewesen. »Morgo«, stellte Custos fest, auf die Anzeige des Dämonichrons blickend. Torn konnte weder Lob noch Tadel in der Frage erkennen. »Ich versuche, mehr über ihn herauszufinden«, erklärte Torn. »Du versuchst, mehr über dich herauszufinden«, verbesserte Cu stos mit einem sanften Lächeln. »Ich kann es einfach nicht vergessen«, rechtfertigte sich der Wanderer. »Ich kann nicht vergessen, was Morgo zu mir gesagt
hat.« »Du solltest diesen Dingen keine allzu große Bedeutung bei messen, Torn. Wie du weißt, war das, was du gesehen hast, nur eine Spiegelung deiner Ängste. Ein teuflisches Spiel, das der Dämon Shador mit dir getrieben hat, bis wir ihn unschädlich machten.« »Das weiß ich«, räumte Torn ein, »und es macht alles nur noch schlimmer. Denn es bedeutet, dass ich das Wissen um meine Vergangenheit in mir trage. Sonst hätte Morgo nicht davon sprechen können.« »Möglicherweise. Oder aber, Shador hat dich bewusst getäuscht. Du weißt, dass die Grah’tak voller Lüge und Falschheit sind.« »Ich weiß. Aber das hier ist anders. Ich habe noch immer das Ge fühl, als hätte ich all das wirklich erlebt. Als wäre ich wirklich in der Grube von Kal’fath gewesen.« »Dennoch war es nichts als eine arglistige Täuschung. Shador wollte dich als Geisel nehmen, um so seine Freilassung von der Fes tung zu erreichen.« »Ich weiß. Aber was ich gesehen habe, kann ich nicht einfach vergessen. Morgo wusste von Callista, Custos …« »Natürlich. Weil du davon weißt.« »… und er nannte auch noch einen zweiten Namen – Rebecca. Dieser Name ist mir schon so oft begegnet, Custos, und zum ersten Mal erfuhr ich, wer sie war. Morgo sagte, sie wäre meine Gefährtin gewesen. In jener Vergangenheit, an die ich mich nicht erinnere. Und er sagte auch, dass er sie getötet hätte.« »Nichts davon muss wahr sein«, brachte der Lu’cen in Erinnerung. »Ich weiß. Und doch habe ich das Gefühl, dass es wahr ist. Wenn es wirklich stimmt, dass ich all das schon zum zweiten Mal durch lebe …« »Was dann, Wanderer?«, fragte Custos nach. »Ich rate dir, diesen Gedanken nicht zu Ende zu bringen. Es gibt einen Grund dafür,
weshalb deine Vergangenheit vor dir verborgen wurde.« »Aber offenbar kann sich ein Teil von mir noch an sie erinnern.« »Offenbar«, stimmte Custos zu. Seine Stimme nahm dabei einen seltsamen Tonfall an. »Früher«, sagte Torn leise, »hätte ich alles daran gesetzt, die Wahr heit zu erfahren. Ich hätte um jeden Preis wissen wollen, was damals geschehen ist. Doch jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich fürchte mich vor dem, was ich finden könnte, Custos.« »Und du tust gut daran, Wanderer.« »Die einzige Frage, die ich mir stelle, ist …« »… ob du es hättest verhindern können?« führte Custos den Satz zu Ende. Der weise Lu’cen schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, Torn. Aber du kannst dafür sorgen, dass sich Dinge wie die, die ge schehen sind, nicht wiederholen. Ein neuer Auftrag wartet auf dich, Torn. Die Lu’cen erwarten dich in der Zentrale.« Der Wanderer brauchte einen Augenblick, um seine Gedanken von Morgo, dem Dämonichron und den zurückliegenden Ereig nissen zu lösen. »Ich komme«, sagte er dann.
* Mark Spencer hatte das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein. Weder konnte er daraus erwachen noch gab es sonst eine Möglichkeit, ihm zu entfliehen. Und das, so unwahrscheinlich es sein mochte, konnte nur bedeu ten, dass alles wahr war, was Mark erlebte. Der organgerote Schlund hatte sie aufgenommen und ver schlungen. Für eine Zeit, die Mark unmöglich hatte messen können, waren sie durch eine Röhre aus pulsierendem, glutigem Rot gereist und hatten dabei nicht zu sagen vermocht, in welche Richtung sie
sich bewegten. Dann hatte sich das seltsame Tor plötzlich wieder geöffnet und das Schiff und seine Besatzung ausgespuckt – auf einen Fluss, der durch eine bizarre Landschaft aus roten Felsen floss. Die Sonne, die hoch am düsteren Himmel stand, sah seltsam unwirklich aus. Wie eine riesige, flackernde Fackel … Der Steuermann, der groß und düster im Heck des Schiffes stand, hatte den Kutter in einen Seitenarm des Flusses gesteuert, von dort in eine Höhle, die sich unmittelbar vor ihnen geöffnet hatte. Dort hatte das Schiff angedockt, und unter dem Knurren und Zischen der widerwärtigen Kreaturen waren die Gefangenen von Bord gebracht worden. Man trieb sie durch schmale Gänge und end los scheinende Korridore, die von unbekannten Werkzeugen in den Fels getrieben worden waren. Mark nahm alles nur noch wie aus weiter Ferne war. Von Entsetzen geschüttelt und von Furcht gepeinigt, hatte er nicht das Gefühl, dass es sein Körper war, den diese Kreaturen mit vorge haltenen Speeren und Peitschenhieben durch die Gänge trieben. Vielmehr kam es ihm vor, als würde er von außen zusehen, wie alles geschah. Sein Verstand hatte zu sehr gelitten, als dass er noch fähig gewesen wäre, dies alles auch nur annähernd zu erfassen. Der Marsch dauerte lange. Immer weiter führte der Weg durch dunkle Gänge, die nur von wenigen Fackeln erhellt wurden, steil wand er sich in die Höhe. Was Mark sah, erschreckte ihn weniger als das, was er hörte – unheimliche Schreie lagen in der Luft. Schreie, die voller Furcht waren und voller Schmerz, die aus tiefs ten Tiefen zu kommen schienen. Was war das für ein Ort? Ein Horrorkabinett? Ein Gefängnis? Ein verdammter Kerker?
Wie nahe Mark mit seiner Vermutung war, erkannte er erst, als der Marsch plötzlich endete – in einem Raum, der von entsetzlichem Gestank erfüllt wurde. Die niedrige Decke der Höhle war von Ruß geschwärzt, der Boden von Schmutz und Unrat überzogen. Die gedrungenen Gestalten, die hier umherhuschten – einige von ihnen trugen wallende Ka puzengewänder – schienen nicht weniger hässlich und grausam zu sein als die aus der Eskorte. Einige der Menschen im Zug brachen in entsetzte Schreie aus und wehrten sich gegen ihre Fesseln. Jedoch nur mit dem Effekt, dass sie ihnen noch mehr Schmerzen bereiteten. Mark hielt still. Er hatte das Gefühl, dass es die Furcht war, die ihn lähmte, aber vielleicht war es auch mehr als das. Vielleicht hatten die Ketten, die er trug, längst eine andere Wirkung entfaltet als nur die, ihn zu fesseln … Wieder waren unmenschliche Schreie zu hören, und entsetzt stellte Mark fest, dass sie von tiefer aus der Höhle drangen. Die hässlichen Kreaturen trieben die Gefangenen weiter ins Ungewisse Halbdunkel, und im Schein lodernder Fackeln erkannte Mark das Ziel ihrer Reise. Entsetzen schüttelte ihn, raubte ihm fast den Verstand. Es war eine Maschine. Zumindest nahm er an, dass es eine Maschine war. Eine Art Vorrichtung, die aus mehreren Halbkugeln bestand, die aus dem gleichen schimmernden Material zu bestehen schienen wie die Fesseln. Darunter befanden sich Stühle, die ebenfalls aus Metall waren und die lederne Fesseln aufwiesen. Leitungen, die ver borgenen Zwecken dienten, hingen von der Decke, zischend wich Dampf aus einem Ventil. Die Folterknechte in den Umhängen krächzten einige Anwei sungen in einer Sprache, die Mark nicht verstand. Alleine ihr Klang ließ ihn schaudern.
Dann traten die hässlichen Schergen vor und rissen einige der Menschen aus der Menge der Gefangenen, stießen sie mit vorgehal tenen Waffen auf die Maschine zu. Fünf von ihnen wurden gezwungen, sich auf die Stühle zu setzen, danach wurden sie daran gefesselt. Die Menschen wehrten sich und schrien, fragten ängstlich, was mit ihnen geschehen würde. Die hässlichen Schergen gaben keine Antwort. Sie kicherten nur und grinsten böse, ihr schreckliches Handwerk schien ihnen auch noch Freude zu bereiten. Als sie ihr Werk verrichtet hatten, traten sie zurück, und während die Menschen noch schrien, senkten sich die schimmernden Halb kugeln auf sie herab, bis sie sie ganz überdeckten. Danach kehrte Stille ein. Was im Inneren dieser Halbkugeln vor sich ging, vermochte Mark nicht zu beurteilen, doch alleine der Gedanke daran genügte, um den seidenen Faden, an dem sein Verstand noch hing, fast reißen zu lassen. Wie gebannt starrten er und die anderen Gefangen auf die schimmernden Halbkugeln, von denen dicke Leitungen hinauf zur Decke führten, von dort zu einer großen, bedrohlich aussehenden Apparatur, die mit leisem Stampfen arbeitete. Dann war es vorbei. Langsam und mit bedrohlichem Zischen hoben sich die Halb kugeln wieder, und fast fürchtete sich Mark vor dem, was darunter zum Vorschein kommen würde. Doch er irrte sich. Die Menschen auf den Stühlen sahen aus wie zuvor – und doch war etwas anders an ihnen. Ihr Blick war starr geworden, sie schrien und regten sich nicht mehr. Als die grausamen Schergen ihnen die Fesseln lösten, erhoben sie
sich automatenhaft und reihten sich nacheinander ein, verließen die Höhle durch einen Gang auf der anderen Seite. Wie Roboter, dämmerte es Mark schaudernd in Erinnerung an einen Roman, den er einmal gelesen hatte. Diese verdammte Ma schine macht aus Menschen Automaten … Und noch während ihm die schreckliche Erkenntnis dämmerte, kamen zwei der bewaffneten Kreaturen auf ihn zu und packten ihn.
* Die Zentrale war der Kern der Festung. In den alten Tagen, als diese Festung das letzte Bollwerk der Mächte des Lichts gewesen war, war sie von hier aus kommandiert worden. Uralte, längst verlassene Stationen und Terminals säumten den kuppelförmigen Raum in weitem Rund, riesige, vor Aeonen erloschene Monitore starrten von den gewölbten Wänden herab. Die Mitte der Zentrale wurde von einem alten Kommandosessel eingenommen, den einst der Stationskommandant besetzt hatte. In diesen Sessel ließ sich Torn fallen. Kaum hatte er Platz genommen, materialisierten rings um ihn die Gestalten der neun Lu’cen. Auch Custos war bei ihnen und Severos, der oberste und strengste Richter der Zeit. »Wir wollen vergessen, was hinter uns liegt«, sagte Severos und wollte damit wohl andeuten, dass die Lu’cen Torn nichts nachtrugen – immerhin hatte er durch seine Unvorsicht beinahe einen gefährlichen Dämon freigelassen. »Die Zeiten der Sterblichen sind zu ernst, als dass wir uns mit Dingen wie diesen aufhalten könnten.« »Was gibt es?«, wollte Torn wissen. »Ihr habt einen neuen Auftrag für mich?« »Ja, Wanderer«, stimmte Memoros der Geschichtskundige zu.
»Wir haben einen Besorgnis erregenden Vorfall in der Geschichte der Menschen beobachtet. Einen Vorfall, von dem wir glauben, dass er auf das Konto der Grah’tak gehen könnte.« »Was ist es?« »Jemand ist aus der Zeit verschwunden. Spurlos. Jemand, dessen viel versprechende Gedanken und Ideen die Menschheit ein Stück weiter hätten bringen können. Wir vermuten, dass die Grah’tak ein gegriffen haben, um ihn zum Schweigen zu bringen.« »Wen?« »Sein Name ist Mark Spencer«, erläuterte Memoros, »ein Polit wissenschaftler und Bürgerrechtler, der es trotz seiner Jugend zu einiger Bekanntheit gebracht hat. Kurz bevor sein Buch erscheint, dass das Denken der Menschen beeinflussen und das Bewusstsein einer neuen Generation mitformen könnte, verschwindet Spencer spurlos.« »Und ihr vermutet, dass die Grah’tak dahinter stecken könnten?« »Es ist eine Möglichkeit. Zwar hat Spencer auch politische Feinde, denen wohl jedes Mittel recht wäre, ihn zum Schweigen zu bringen, doch weist dieses Vorgehen auf die Grah’tak hin. Spencer gehört zu jener Kategorie von Sterblichen, die für sie gefährlich sind. Die die Menschen dazu animieren, Fragen zu stellen und das Offensichtli che anzuzweifeln, die sie ermuntern, neue Wege zu gehen und den Frieden zu suchen, nicht das Chaos und die Zwietracht.« Torn nickte. Solche Menschen waren den Grah’tak ein Dorn im Auge – denn auf Chaos und Zerstörung, auf Krieg und Zwietracht war ihr ganzer Einfluss aufgebaut. Menschen, die einander nicht fürchteten, die nicht auf Macht und Reichtum aus waren, sondern nach der Wahrheit suchten, waren für die Dämonen keine leichten Opfer mehr. Genau aus diesem Grund waren Menschen wie Mark Spencer für sie ein Risiko. Gut möglich, dass sie hinter seinem Verschwinden steckten.
»Was soll ich tun?«, fragte Torn. »Diesen Mark Spencer suchen?« »Ihn suchen, ihn finden und wenn möglich zurückbringen«, bestä tigte Severos. »Dies wird deine Aufgabe sein, Wanderer.« »Ich verstehe.« »Memoros wird dich in den Eigenheiten jener Zeit unterweisen. Die Menschheit ist in jenen Tagen im Umbruch begriffen. Neue Ide en brechen sich Bahn, aber es ist auch eine gefährliche Zeit am Rande des Chaos. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Grah’tak diesen Wendepunkt in der Geschichte der Menschen nicht zu Nutze machen, um einen Brückenkopf für ihr Heer zu errichten.« Torn nickte. Darum ging es den Grah’tak. Darum drehte sich der ganze Kampf, den der Wanderer in den verschiedensten Zeiten und Welten ausfocht. Diejenigen Grah’tak, die nach dem Ende des Großen Krieges in der Dimension der Sterblichen gestrandet waren, trachteten danach, erneut ihr Heer zu versammeln und zum Sturm auf die Sterblichen zu blasen. Deshalb versuchten sie, Zerstörung und Unheil zu streu en, um sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Stützpunkte zu errichten – Stützpunkte, von denen aus sie los schlagen und über die Welten der Sterblichen herfallen konnten. So, wie sie es schon einmal getan hatten, vor langer Zeit … »Ich werde gehen«, sagte Torn, »und ich werde tun, was ich kann.« »Das wissen wir«, versicherte Custos. »Und ich möchte noch etwas sagen«, fügte Torn hinzu. »Ich be daure, was geschehen ist. Ich hätte nie den verbotenen Bereich be treten und mit Shador Kontakt aufnehmen dürfen.« »Du hast unser Vertrauen missbraucht und uns enttäuscht«, sagte Severos hart. »Die kommenden Missionen werden zeigen, ob du das Vertrauen wert bist, das wir weiter in dich setzen.«
»Ihr werdet es nicht bereuen«, versprach Torn. »Leichtsinniger Mensch!«, wetterte Severos. »Wie kannst du dir so sicher sein? Du weißt noch nicht einmal, was dich dort draußen erwartet.« »Nein«, stimmte Torn zu, »das weiß ich nicht. Aber ich verspreche euch, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um euch diesmal nicht zu enttäuschen.« »Es sei«, sagte Severos. Die Zweifel, die in der Stimme des Lu’cen mitschwangen, waren selbst für Torn deutlich spürbar.
* Stimmen im Translucium … »Ich bin mir nicht sicher, ob es klug war, auf euren Rat zu hören, meine Brüder …« »Es ist keine Frage der Klugheit Severos. Torn ist unsere einzige Hoffnung, und das weißt du.« »Nicht unsere einzige. Noch mehr Wanderer gibt es, die sich auf sterblichen Welten rekrutieren lassen …« »… und doch dreht sich alles um diesen einen, und du weißt das.« »Ich weiß, Anarchos. Und manchmal denke ich, er weiß es auch. Bisweilen denke ich, er kann es fühlen … Ich fürchte, dass in ihm mehr vorgeht, als wir ahnen – und ganz sicher mehr, als wir kon trollieren können. Und das macht mir Sorge, meine Brüder. Ich füh le, dass etwas dort draußen ist. Etwas, das auf den Wanderer wartet. Eine unbestimmte Bedrohung.« »Ich fühle es ebenfalls, Severos«, sagte Custos. »Die Grah’tak planen etwas, die Zusammenballung negativer
Macht ist unübersehbar«, stellte Memoros fest. »Aber was könnte es sein?« »Wir können nichts tun als abwarten. Abwarten und darauf ver trauen, dass ein schwacher Sterblicher das Böse für uns bekämpft.« »Und wachsam sein, Severos«, fügte Custos hinzu. »Und wachsam sein …«
* Der Gardian trug den Wanderer durch die Zeit. Schon viele Reisen durch das Vortex hatte Torn hinter sich ge bracht, doch noch immer war seine Faszination über die endlos scheinende Röhre aus pulsierendem Licht, die die Zeiten und Welten überbrückte, ungebrochen. Mit dem Öffnen des Vortex hatte die Dimensionsforschung vor Aeonen ihren Anfang genommen. Sterbliche Wesen hatten einen Weg gefunden, Zeit und Raum zu überwinden und die Grenzen ihrer Wirklichkeit hinter sich zu lassen. Doch gleichzeitig hatten sie damit auch ihren Untergang herauf beschworen, denn die Grenze zum Subdämonium, in der das Böse herrschte, war geöffnet worden, und das Heer der Finsternis war über die Welten der Sterblichen hergefallen. All dies lag viele Zeitalter zurück. Die letzte Schlacht war ge schlagen und das Dämonenheer zurückgedrängt worden, doch noch immer gab es viele Grah’tak, die in den Zeiten und Welten der Sterblichen festsaßen und von dort aus das Werk der Vernichtung fortzusetzen versuchten. Auf der Erde, Torns ehemaliger Heimatwelt, waren sie besonders aktiv, und schon oft hatte sich der Wanderer gefragt, woran das liegen mochte.
Vielleicht, weil die Erde in den alten Tagen noch unbewohnt ge wesen war. Vielleicht auch, weil die Menschen allzu willige Werkzeuge in den Händen der Finsteren waren. Oder aus einem ganz anderen Grund, den der Wanderer noch nicht kannte … Und Torn war sich nicht sicher, ob er ihn je erfahren wollte. Es brauchte ihn auch nicht zu kümmern. Nicht hier und jetzt. Denn seine Mission bestand darin, einen jungen Mann zu finden, der vielleicht von den Grah’tak entführt worden war. Nur darauf hatte er sich zu konzentrieren, alles andere durfte keine Rolle spielen. Weder das, was hinter ihm lag, noch der Schmerz, der in seinem Inneren tobte, noch seine Furcht davor, erneut zu versagen. Nur sein Auftrag zählte … Als der Mantel der Zeit das Vortex wieder öffnete und den Wanderer in jene Zeit entließ, in der er seine Mission zu bestehen hatte, wurde Torn von Dunkelheit empfangen. Für einen kurzen Moment leuchtete der pulsierende Schlund des Vortex auf, um dann sofort zu verblassen. Per Gedankenbefehl brachte Torn auch das Plasma seiner Rüstung dazu, sein Aussehen zu verändern und dunkle Färbung anzunehmen, die ihn in der Dun kelheit tarnte. Dann erst blickte sich der Wanderer um. Er befand sich auf einem Hinterhof. Schmutzige Backsteinwände ragten rings um ihn auf, zerbeulte Mülltonnen und Unrat lagen umher. Die Luft war drückend und schwülheiß. Der Sommer des Jahres 1963. Die letzten Monate der Ruhe vor einem gewaltigen Sturm.
Vor der Ermordung Kennedys. Vor dem Krieg in Vietnam. Vor den Unruhen, die das Land erschüttern sollten … Torn fragte sich, weshalb ihn der Gardian ausgerechnet hier, in diesem schmutzigen Hinterhof abgesetzt hatte. Schließlich war es nicht seine Aufgabe, sich als zeitreisender Müllmann zu betätigen. Er sollte einen jungen Mann finden, der verschwunden war und der … Der Wanderer unterbrach sich in seinem Gedankengang, denn plötzlich machte er unter all den Tonnen und dem Unrat eine schau rige Entdeckung. Es waren die Beine eines Mannes, die auf die schmale Gasse ragten … Sofort eilte Torn hin, zog die Müllsäcke beiseite, die achtlos über den Mann geworfen worden waren. Sein Verdacht bestätigte sich. Der Mann war tot. Jemand hatte ihn mit mehreren Messerstichen in die Herzgegend getötet. Das Hemd des Marines, das unter seinem dunklen Anzug zu sehen war, war von Blut getränkt. Dem Zustand des Leichnams nach konnte das Verbrechen noch nicht lange zurückliegen, Torn schätzte nicht einmal eine Stunde. Weshalb hatte man den Mann ermordet? War es ein Überfall gewesen? Oder hing es damit zusammen, dass er dunkle Hautfarbe hatte? Im Süden der USA war Rassismus 1963 durchaus noch ein Thema gewesen … Der Wanderer griff in das Jackett des Toten und zog seine Briefta sche hervor. Das Geld war daraus verschwunden, was doch auf einen Raubmord hindeutete, aber die Papiere waren noch vor handen.
So erfuhr Torn, dass dieser Mann James Brook hieß und dass er Anwalt gewesen war. Allmählich dämmerte dem Wanderer auch, weshalb ihn der Gardian hier abgesetzt hatte. Er war zu spät gekommen, um diesen Mann noch zu retten, dessen Tod nichts mit den Grah’tak zu tun hatte, sondern sich im Fluss der Zeit ereignet hatte. Aber er konnte Brooks Identität über nehmen, um sich unter den Menschen zu tarnen … Aufmerksam nahm der Wanderer den leblosen Körper in Augen schein, und die Oberfläche seiner Plasmarüstung begann sich zu verändern, nahm das Aussehen des Ermordeten an. Torn kopierte auch Brooks Kleidung und nahm die Papiere des Mannes an sich. Noch einen Augenblick verharrte er respektvoll beim Leichnam des Mannes, in dessen Identität er geschlüpft war. Dann wandte er sich ab und verließ die Gasse. Als er die Straße erreichte, scholl ihm Lärm entgegen. Dies war eine heiße Sommernacht – und nicht nur deswegen, weil die Tempe raturen noch immer weit über dreißig Grad anzeigten. Demonstranten waren in den Straßen unterwegs. Demonstranten, die dunkle Hautfarbe hatten wie Torn, die beschriebene Tücher und Demonstrationstafeln mit sich trugen und die heisere Sprechchöre skandierten. »Mehr Rechte für Schwarze!«, hörte er sie rufen. »Wir fordern die Gleichstellung! Bürgerrechte für alle …« Keine Frage, der Wanderer war in eine Zeit des Umbruchs, der Unruhen und der Unsicherheit geraten. Er trat aus der Gasse hinaus auf die Straße, schloss sich dem Zug der Demonstranten an, deren Ziel klar war: das große, hell erleuch tete Gebäude, das am Ende der Straße aufrückte. Das State Capitol von South Carolina. Der Wanderer griff mit den erweiterten Sinnen der Plasmarüstung um sich, stellte aber fest, dass keine Grah’tak-Präsenz zu spüren
war. Sollten die Finsteren also tatsächlich ihre Klauen bei dieser Sache im Spiel haben, waren sie diesmal wohl subtiler vorgegangen. Vielleicht war er auch schon zu spät, um sie noch zu verfolgen. Aber laut Memoros’ Auskunft hatte sich Mark Spencers Entführung erst in dieser Nacht ereignet … »Bruder!«, wurde er plötzlich angesprochen. Der Wanderer wandte den Kopf und sah, dass einer der Demons tranten neben ihn getreten war – ein hitzköpfiger junger Mann mit kurz geschnittenem Haar und fiebrig leuchtenden Augen. »Willst du dich unserer Sache anschließen?«, fragte er. »Willst du auch, dass die Vormachtstellung der Weißen in diesem Land un widerruflich endet?« »Natürlich«, sagte Torn und bekam prompt einen Flugzettel in die Hand gedrückt. Der Wanderer wollte ihn unachtsam wegstecken. Es war schließ lich nicht seine Aufgabe, sich in die politischen Streitigkeiten der Menschen zu mischen, so sehr er das Anliegen dieser Demons tranten auch unterstützen mochte. Doch plötzlich fiel sein Blick auf das Gesicht, das auf dem Flugblatt zu sehen war. Es war die Zeichnung eines jungen Schwarzen, den der Wanderer ohne Mühe als Mark Spencer erkannte – den Mann, den er suchen und finden sollte. »Gesucht«, stand mit breiten Lettern über dem Foto geschrieben. »Ist dieser Mann das Opfer einer selbstgerechten und rassistischen Justiz geworden?« »Moment mal!«, rief Torn und schnappte sich den Jungen, der ihm den Zettel in die Hand gedrückt hatte. »Was ist das hier?« »Die größte Schweinerei seit Newfield«, gab der Angesprochene schulterzuckend zurück. »Unser Bruder Mark Spencer ist seit heute Abend spurlos verschwunden. Deshalb sind wir hier. Um für ihn zu demonstrieren. Wir marschieren zum Kapitol.«
»Was macht euch so sicher, dass die Regierung etwas darüber weiß?« »Mann, Bruder! Liest du keine Zeitung? Mark ist denen doch schon seit Wochen ein Dorn im Auge. Ich meine nich’ JFK, der is’ in Ordnung. Aber diese Säcke vom rechten Flügel. Gestern Abend hat Mark noch einen Vortrag an der Universität gehalten. Ein paar Stunden später war er spurlos verschwunden. Und es gibt Zeugen, die gesehen haben wollen, wie er am Fluss von einem Typen ange quatscht wurde, der wie ein CIA-Mann aussah.« »CIA?« »Der verdammte Geheimdienst, Mann? Lebst du hinterm Mond?« »So ungefähr«, gab Torn zu, und das war noch nicht einmal ge logen. »Und wohin wurde Mr. Spencer gebracht?« »Glaubst du, das sagen die uns? Nee, Mann, das wissen nur die verdammten Bullen, und die halten dicht. Also haben wir uns spon tan dazu entschlossen, zum Kapitol zu marschieren. So einfach lassen wir uns nicht mundtot machen, verstanden? Keiner von uns!« Und mit den letzten Worten, die er bereits geschrien hatte, fiel der junge Mann wieder in den Sprechchor der Menge ein, die lautstark gleiche Rechte für alle Hautfarben und die Freilassung von Mark Spencer forderten. Torn hörte es mit Unbehagen. Wenn es stimmte, was die Lu’cen vermuteten, würde die Demons tration vor dem Kapitol keine Ergebnisse bringen, denn die Grah’tak steckten hinter Mark Spencers Entführung. Im Gegenteil … Mit dieser Demonstration, die in der ohnehin schon angespannten Lage für noch mehr Chaos und Unruhe sorgte, arbeiteten die Bürgerrechtler den Grah’tak sogar noch in die Hand. Es war frustrierend anzusehen, wie die Finsteren es immer wieder schafften, auch gut gemeinte Taten der Menschen ins Gegenteil zu
verkehren. Torn blieb stehen. Er konnte dem Zug der Demonstranten bis zum Kapitol folgen, aber er sah nicht, was das bringen sollte. Stattdessen musste er ver suchen, Spuren von Mark Spencer zu finden, nachdem ihm der Zu fall – oder das Schicksal? – einen ersten Hinweis in die Hände ge spielt hatte. Was hat der Demonstrant gesagt? Die Polizei weiß Bescheid? Dann sollte ich am besten dort mit meiner Suche beginnen … Bei einem weiteren Demonstranten, der lauthals schreiend an ihm vorbeizog, erkundigte sich Torn nach dem Weg zum Polizeirevier. Dann machte er sich auf den Weg. Er ahnte nicht, dass er dabei be obachtet wurde …
* Im Cho’gra Das Cho’gra wurde auch die Hölle auf Erden genannt, und das aus gutem Grund. Denn dieser Ort, den sich der Kardinaldämon Math rigo in der Welt der Sterblichen geschaffen hatte und der nach sei nen eigenen Gesetzen existierte, kam dem, was sich die Menschen unter einer Hölle vorstellten, sehr nahe. Ausgedehnte, düstere Höhlen, die so tief unter der Erde lagen, dass sie von glutiger Hitze und giftigen Gasen durchdrungen wurden. Flüsse aus glühendem Magma, die durch das Höhlensys tem flossen und mit ihrem rötlichen Schein für düstere Beleuchtung sorgten. Ständige Schreie, die diesen schrecklichen Ort durch drangen und aus den Kehlen jener stammten, die in Mathrigos Fol
terkellern Qualen leiden mussten. Dies war der Ort, über den Mathrigo herrschte. Mathrigo, der Ver räter, der einst selbst ein Wanderer gewesen war, ehe er zum Bösen übergetreten war und seinesgleichen verraten hatte. Er hatte sich selbst zum Kardinaldämon aufgeschwungen und sich zum Anführer all jener Grah’tak ausgerufen, die auf den Welten des Immansiums gestrandet waren. Vom Cho’gra aus lenkte er sie, schickte sie in Schlachten und auf Missionen, die stets nur das eine Ziel hatten – die Mächte des Lichts zu besiegen und die Rückkehr der Finsternis vorzubereiten. Der Plan, den Mathrigo hierzu entwickelt hatte, schien zu funktionieren. Von langer Hand hatte er ihn vorbereitet, und er hatte Helfer dabei gehabt. Das Ziel stand fest – es war die Vernich tung des letzten Wanderers. Die Vernichtung von Torn … »Was hast du mir zu berichten?«, fragte Mathrigo den Nunc’tarBoten, der vor ihm im finsteren Thronsaal des Cho’gra erschienen war. »Unser Spion hat sich gemeldet, Euer Lordschaft«, sagte der Bote unterwürfig und verbeugte sich so weit, dass er fast den Boden be rührte. »Alles läuft so, wie ihr es vorausgesehen habt. Der Wanderer ist zur gefragten Zeit erschienen. Der Spion glaubt, ihn bereits er kannt zu haben.« »Sehr gut. Dann soll alles Nötige veranlasst werden. Schon einmal habe ich dem Wanderer eine Einladung ausgesprochen, und er ist ihr nicht gefolgt. Diesmal soll mein Plan nicht scheitern.« »Das wird er nicht, Euer Lordschaft. Ihr habt alles so trefflich be dacht …« »Spar dir deine Höflichkeiten«, zischte Mathrigo, und die Augen hinter der schimmernden Schädelmaske glommen auf. »Gewiss, Euer Lordschaft. Was immer Ihr befehlt …«
»Sagt unserem Spion, dass er dem Wanderer weiter folgen soll. Ich will über jeden seiner Schritte genau informiert sein. Und wenn der geeignete Augenblick gekommen ist, dann lasst die Falle zu schnappen.« »Jawohl, Euer Lordschaft«, sagte der Nunc’tar, und ohne seinen Kopf zu heben, zog er sich zurück. Mathrigo verzog das Gesicht. Er konnte sie nicht ausstehen, diese Nunc’tar, die ihm wie niedere Insekten erschienen. Aber um zwischen den Zeiten und Welten zu kommunizieren, waren sie ein notwendiges Übel. Vielleicht, sagte er sich, würde sich manches ändern, wenn sein Plan von Erfolg ge krönt war. Vielleicht würde sich alles ändern …
* Torn betrat die Polizeiwache, auf der es nicht weniger heiß herzuge hen schien als draußen auf den Straßen. Die Bank im Vorraum war voll mit Menschen, von denen die meisten Handschellen trugen – zwei Schwarze in zerlumpter Klei dung, ein Weißer, der offenbar betrunken war, drei Frauen, die ihrer Kleidung nach mit ihrem Körper Geld verdienten. Sie starrten Torn so verständnislos an, als hätte er vergessen, sich zu tarnen, dabei war es offenbar nur der korrekt sitzende Anzug, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein Farbiger im Maßanzug – in diesen Zeiten scheint das etwas Besonderes zu sein … Der Wanderer zuckte mit den Schultern, trat an die Theke, hinter der ein gleichmütig aussehender Beamter in dunkler Uniform auf einer alten Schreibmaschine herumhackte.
»Officer«, sagte Torn, »ich hätte da eine Frage …« »Schon klar«, entgegnete der Polizist, ohne ihn anzusehen. »Stell dich hinten an, Junge.« Junge? Was für eine Kinderstube hat dieser Kerl genossen? »Wie ich schon sagte, Sir«, beharrte Torn. »Ich will keine Anzeige aufgeben und werde sie nicht lange belästigen. Ich brauche nur eine Auskunft.« Jetzt blickte der Polizist doch auf. Er musterte Torn eingehend, und ein spöttisches Lächeln huschte über seine Züge. »Aber sicher, Sir«, sagte er dann in schlecht gespielter Freundlich keit und erhob sich von seinem Stuhl. »Und was genau kann ich für Sie tun? Soll ich vielleicht den Chief holen, damit er Ihnen eine Tasse Kaffee macht?« »Danke«, sagte Torn, den Sarkasmus in der Stimme des anderen überhörend. »Ich brauche nur eine Auskunft – über diesen Mann.« Er legte das Flugblatt mit dem Bild von Mark Spencer auf den Tresen und drehte es so herum, dass der Polizist es sehen konnte. »Wer soll das sein?«, fragte der Officer mürrisch. »Ein Bürgerrechtler namens Mark Spencer, der gestern Abend spurlos verschwunden ist. Man sagte mir, Sie wüssten etwas über seinen Verbleib.« Der Polizist blickte auf, musterte Torn noch einmal. »Wer sind Sie, Mann? Ein verdammter Reporter?« »Nein«, erwiderte Torn und griff in die Tasche seines Jacketts, um Brooks Ausweis zu Tage zu befördern. »Ich bin Anwalt.« »Scheiße«, sagte der Uniformierte. »Sag bloß, sie lassen euch jetzt auch schon Jura studieren?« Torn wollte etwas erwidern, diesem rassistischen Idioten eine ge harnischte Erwiderung an den Kopf werfen, als plötzlich die Tür des Reviers aufgerissen wurde. Ein weiterer Polizist kam herein, der einen älteren Schwarzen mit
angegrautem Haar mit sich führte. Der Mann blutete aus einer Wunde am Kopf. »Setz dich da hin!«, herrschte der Polizist ihn an und schleuderte ihn auf die Bank. »Ich will keinen Mucks mehr von dir hören, verstanden?« »J … ja, Sir«, erwiderte der Farbige eingeschüchtert. »Das könnte euch so passen, in unseren Straßen für Unruhe zu sorgen. Halt die Pfoten still, Alter, ehe ich mich ganz vergesse …« »Was hat der Mann getan?«, wollte Torn wissen, den das Benehmen des Polizisten ärgerte. »Was geht Sie das an?« »Der Mann blutet«, stellte der Wanderer fest. »Genau«, erwiderte der Officer mit demonstrativem Griff an sei nen Gürtel, wo ein Revolver und ein Gummiknüppel hingen. »Und du wirst auch gleich bluten, wenn du nicht aufhörst, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen.« »Das ist eine gute Idee, Frank«, stimmte der Polizist hinter der Theke zu. »Dieser Typ riskiert ohnehin eine ziemlich dicke Lippe. Er sagt, er ist Anwalt. Hat sich nach Mark Spencer erkundigt.« »Was du nicht sagst, Chester«, gab der andere zurück und zückte jetzt seinen Knüppel. »Und was gibt Ihnen das Recht dazu, Mister?« »Ich bin Anwalt«, wiederholte Torn. »Außerdem ist es mein gutes Recht als Staatsbürger.« »Er ist Anwalt«, echote der Uniformierte, als hätte Torn etwas un vorstellbar Abwegiges gesagt. »Und ein Staatsbürger ist er auch noch. Weißt du was, Nigger? Mach nur von deinem guten Recht Ge brauch, solange du es noch hast. Sobald dieser Erzliberale Kennedy weg ist, scheißen wir nämlich auf eure Rechte und machen da wei ter, wo wir vor ein paar Jahren aufgehört haben.« »Tun Sie nicht«, erwiderte Torn ungerührt. »Kennedys Tod wird nichts daran ändern. Sie können den Schwarzen nicht Ihre Rechte
vorenthalten. Es wird sich viel ändern – ob es Ihnen nun gefällt oder nicht.« »Ganz schön große Klappe für jemanden, dessen Großvater noch Baumwolle gepflückt hat«, knurrte der Polizist. Im nächsten Moment sprang er vor und schlug mit seinem Gummiknüppel zu. Wäre Torn ein Mensch gewesen, hätte der Hieb, der ihn un erwartet traf und an der Schläfe erwischte, zu Boden gestreckt. Doch er spürte nichts davon, die Plasmarüstung absorbierte die Energie des Stoßes, sodass keine Wirkung bemerkbar war. Dafür schlug der Wanderer zurück. Seine geballte Rechte schoss vor und erwischte den brutalen Poli zisten am Kinn. Mit den Armen rudernd taumelte der Kerl zurück, stieß gegen die gekalkte Wand der Polizeistation und sank bewusst los daran herab. »Na warte, du verdammter Bastard!« Der andere Officer, der mit vor Schreck geweiteten Augen hinter der Theke gestanden und zugesehen hatte, hieb mit der Faust auf einen Knopf, worauf im rückwärtigen Teil des Gebäudes eine Alarmglocke schrillte. Dann griff der Mann an sein Holster und zückte den Revolver, der dort steckte. Die Festgenommenen, die auf der Bank saßen, schrien auf und gingen in Deckung. Nur Torn blieb stehen, wissend, dass die Kugeln des Polizisten ihm nicht gefährlich werden konnten. Der Uniformierte fackelte nicht lange. Er drückte ohne Vorwar nung ab. Das Blei fauchte aus dem Lauf und auf den Wanderer zu – und wurde vom Plasma der Rüstung absorbiert, die nur für einen kurzen Moment fluktuierte. Ungläubig starrte der Polizist zuerst auf seine Waffe, dann auf die Brust des Wanderers, wo sich die Plasmarüstung bereits wieder ge schlossen hatte und wo weder Blut noch sonst eine Spur einer
Verletzung zu erkennen war. »Was …?«, stotterte der Sterbliche. Doch Torn ließ ihn nicht dazu kommen. »Dumm gelaufen, was?«, zischte er den Officer an, während seine Rechte über den Tresen schoss und den Polizisten am Kragen pack te. »Die Uniform, die Sie tragen, hat eine Bedeutung, Officer! Sie be deutet, dass Sie verpflichtet sind, die Bürger dieses Landes zu be schützen, und zwar alle Bürger, nicht nur die, deren Hautfarbe Ih nen gefällt. Haben Sie mich verstanden?« »J … ja«, bestätigte der andere keuchend. »Gut«, meinte Torn und ließ sein Gegenüber los. »Und jetzt sagen Sie mir verdammt noch mal, was Sie über diesen Mark Spencer wiss …« Weiter kam der Wanderer nicht. Denn in diesem Moment flog die Tür des Wachraums auf, und zehn Beamte der Bereitschaft stürzten herein, ihre Waffen im An schlag. »Das ist er, Jungs!«, brüllte der Polizist, während er selbst hinter der Theke in Deckung ging. »Er hat Chester vermöbelt und mich be droht. Schnappt ihn euch!« Das ließen sich die Polizisten nicht zweimal sagen. Wie hungrige Raubtiere setzten sie über den Tresen, hatten Torn innerhalb weniger Augenblicke eingekreist und griffen ihn an. Der Wanderer zögerte einen Moment. Sollte er sich zur Wehr setzen oder sich ergeben? Diese Polizisten hatten kein Recht, ihn festzuhalten, und sie stell ten vermutlich auch keine Ernst zu nehmenden Gegner dar. Andererseits waren da die Zivilisten auf der Bank, die bei einer Schießerei gefährdet würden. Und Torn wollte auch nicht mehr Auf merksamkeit erregen, als gut für ihn war. Alles, was er wollte, waren Informationen – und die Polizei war
offenbar die einzige Institution, die sie ihm geben konnte. Also war es am besten, wenn er blieb. »Ich ergebe mi …« Die Polizisten ließen ihn nicht ausreden. Schon prasselten die Hiebe ihrer Gummiknüppel auf ihn ein. Von irgendwo plärrte eine heisere Stimme, sagte etwas davon, dass er das Recht hätte, die Aussage zu verweigern. Dann klickten Hand schellen, und brutal wurde der Wanderer aus dem Polizeibüro ge schleift. Das Letzte, was er sah, ehe die Tür hinter ihm zuschlug, waren die betroffenen Blicke der Verdächtigen, die auf der Bank saßen und ihm nachsahen.
* Der Wanderer hatte schon viele Welten besucht, auch auf der Erde war er schon oft gewesen, zu den verschiedensten Zeiten. In den Knast hatte man ihn noch nie gesteckt. Diesmal jedoch war er dort gelandet, und das nur, weil eine Hand voll rassistischer Polizisten an seiner Hautfarbe Anstoß genommen hatte. Diese Idioten – wenn sie wüssten, dass ich mein Aussehen beliebig verändern kann … Der Wanderer schüttelte den Kopf. Wohin er auch reiste, immer wieder stieß er auf die gleiche Intoleranz, die die Menschen ein ander entgegenbrachten. Wann würden sie endlich lernen, Werte nicht nur nach Äußerlichkeiten zu beurteilen, sondern danach, was ein Mensch tat und sagte? Torn hatte diesem ganzen Rassismus-Unsinn nie etwas abge winnen können. Es wollte dem Wanderer einfach nicht einleuchten,
weshalb manche Menschen von Natur aus besser sein sollten als andere. Alle teilten das gleiche Schicksal – und alle wurden von den Grah’tak bedroht. Das Loch, in das man ihn gesteckt hatte, war gerade einen auf zwei Meter groß, hatte gekalkte Wände und kein Fenster. Drei Wände bestanden aus massivem Beton, zum Korridor gab es eine Gittertür. Okay, ich habe es geschafft, meine Tarnung zu bewahren – aber wie soll es jetzt weitergehen? Mit dem Lux könnte ich mir vermutlich einen Weg in die Freiheit schneiden. Ich könnte auch den Gardian rufen … Aber was dann? Hier auf dem Polizeirevier liegt die einzige Spur, die ich habe, um mehr über den Verblieb von Mark Spencer herauszubekommen … Der Wanderer überlegte, was weiter zu tun wäre, als er plötzlich angesprochen wurde. »He du!« Torn blickte auf, riskierte einen Blick auf den Korridor. Die Stimme kam aus der Zelle, die auf der anderen Seite des Ganges lag, seiner genau gegenüber. Es war der ältlich aussehende Neger mit der Platzwunde am Kopf, der ihm im Revier aufgefallen war. Offenbar hatte man die Wunde notdürftig versorgt und den armen Kerl dann ebenfalls eingelocht. »Meinst du mich?« »Klar, Bruder.« Der andere nickte. »Ich wollte mich nur bedanken. Was du da getan hast, war ziemlich tapfer – aber auch ziemlich dämlich. Du könntest tot sein.« »Keine Sorge.« Der Wanderer schüttelte den Kopf. »So leicht bin ich nicht totzukriegen.« »Du bist Anwalt?« Torn nickte, und der andere kicherte. »Das passt ja großartig. Dann können wir diese weißen Ärsche
verklagen, wenn wir hier raus sind.« »Was hast du getan?« »Ich? Gar nichts. Ich habe nur an der Demonstration teilgenom men und im falschen Moment ›Mehr Freiheit für Schwarze‹ gerufen. Im nächsten Moment hatte ich den Gummiknüppel am Schädel.« »Die Demonstration?«, hakte Torn nach. »Du meinst die Demons tration wegen Mark Spencer?« »Aber klar, Mann. Mark ist unser Bruder. Er ist einer der wenigen, die sich trauen, den Mund aufzumachen. Er hat unsere Unter stützung verdient.« »Weißt du, wo er ist?« »Nein, Mann, keiner weiß das. Aber es geht das Gerücht, dass sie ihn geschnappt hätten. Polizei oder Geheimdienst, wer weiß das schon. Irgendwelche Finstermänner, die für die Regierung arbeiten.« Finstermänner … Torn überlegte. Wäre es möglich, dass TITAN bei dieser Sache die Hände im Spiel hat? Die Verbrechensorganisation, die die Grah’tak unter den Menschen gegründet haben, ist auch in dieser Zeit ak tiv. Wenn ja, muss ich sehr vorsichtig sein. TITAN hat seine Spione überall … »Wer weiß?«, fuhr der gefangene Demonstrant fort. »Vielleicht werden wir Mark ja bald zu sehen bekommen.« »Wovon sprichst du?« »Ich spreche davon, dass die uns nicht umsonst eingelocht haben, Bruder. Wahrscheinlich werden sie uns im Schnellverfahren aburtei len und dann in irgendein finsteres Rattenloch in den Louisiana Bayous schicken. Ein Cousin von mir ist dort gewesen. Er sagt, es wäre die Hölle auf Erden …« Das bezweifle ich, diesen Titel nimmt schon ein anderer Ort für sich in Anspruch …
»Du glaubst doch nicht etwa daran, dass uns ein fairer Prozess ge macht wird, oder?« Der Alte lachte freudlos. »Also, ich weiß ja nicht, woher du kommst, Jungchen, aber ich fürchte, ich habe ein paar hässliche Neuigkeiten für dich. Willkommen in den Südstaaten, wo das Rad der Zeit stehen geblieben ist und wo Nigger noch immer Nigger sind.« »Danke«, sagte Torn tonlos. Damit war das Gespräch beendet. Der alte Mann schien alles los geworden zu sein, was ihm auf der Zunge gebrannt hatte, und der Wanderer sah keinen Sinn darin, die Konversation fortzusetzen. Was er hatte wissen wollen, hatte er in Erfahrung gebracht. Alles andere würde ihn nur unnötig von sei nem Auftrag ablenken, der darin bestand, Mark Spencer zu finden und zurückzubringen. Wenn es überhaupt noch möglich war …
* Es war gegen Morgen, als auf dem Korridor Schritte erklangen. Torn, der anders als seine menschlichen Mithäftlinge keinen Schlaf benötigte, stand noch immer an den Gitterstäben und starrte hinaus ins Halbdunkel des Korridors, als dort plötzlich mehrere uni formierte Gestalten erschienen. Drei von ihnen hatten Gummi knüppel in der Hand, die übrigen beiden waren mit Maschinenpis tolen bewaffnet. »Licht!«, befahl einer von ihnen laut, und die grelle Neonbeleuch tung des Zellentrakts sprang an. Die Optik von Torns Helmmaske passte sich den veränderten Lichtverhältnissen sofort an. Während die Männer mit den Maschinenpistolen zurück blieben, um zu sichern, traten die drei Polizisten mit den Schlagstöcken an die Tür von Torns Zelle. »Zurück!«, herrschten sie ihn an, und der Wanderer tat ihnen den
Gefallen. Geräuschvoll wurde das Schloss der Zellentür geöffnet, quietschend sprang das Gitter auf. »Raustreten, Brook!«, bellte der Anführer des Trupps, und Torn kam der Aufforderung nach. Kaum hatte er die schützenden Wände seiner Zelle verlassen, als einer der Polizisten auch schon zuschlug. Mit Wucht rammte der Uniformierte ihm den Schlagstock in die Kniekehlen, worauf der Wanderer niedersank. Nicht so sehr, weil der Hieb so heftig ge wesen war, sondern weil er kein Aufsehen erregen wollte. Sollten diese Kerle ruhig glauben, es mit einem ganz normalen Menschen zu tun zu haben … »Führt ihn ab«, befahl der Anführer seinen beiden Untergebenen, und die Officers packten Torn, legten ihm Handschellen an und schleiften ihn den Gang hinab. »Nicht!«, rief der Neger, mit dem sich Torn noch in der Nacht un terhalten hatte. Jetzt stand der Alte aufgebracht an der Tür seiner Zelle und rüttelte am Gitter. »Ihr verdammten Mistkerle! Lasst den Jungen hier, er hat euch nichts getan!« »Schnauze, Alter!« »Du darfst nicht mit ihnen gehen, hörst du?«, rief der Neger Torn hinterher. »Sie wollen dir nur schaden! Von dort, wo sie dich hin bringen, gibt es kein Zurück!« Die Worte des alten Mannes verstummten jäh, als die Tür des Zellentraktes hämmernd ins Schloss fiel. Die fünf Polizisten, die Torn bewachten, schleppten ihn weiter, bugsierten ihn durch eine Reihe von Korridoren und Toren, bis er die Orientierung verloren hatte. Er wusste, dass er sich irgendwo im Polizeipräsidium von Colum bia befand im Jahr 1963, das war auch schon alles. Doch das, was der Wanderer im nächsten Moment fühlte, sagte ihm, dass dort ge nau der Ort war, an dem er zu diesem Zeitpunkt sein musste.
Denn die erweiterten Sinne der Plasmarüstung fühlten negative Energie-Auren des Verderbens. Dämonische Präsenz. Grah’tak waren in der Nähe! Doch noch bevor Torn dazu kam, aus seiner Feststellung die richtigen Schlüsse zu ziehen, hatte der Trupp das Ziel des Marsches erreicht – einen Saal mit Wänden aus grauem Beton, der zu einer Art Gerichtskammer umfunktioniert worden war. An der Stirnseite stand ein hoher Richtertisch, an dem ein bleich gesichtiger, hohlwangiger Mann mit spärlichem Haar saß, der dem Wanderer düster entgegenblickte. Davor standen mehrere Stühle so wie eine Bank für den Angeklagten. Für Staatsanwälte und Verteidiger schien es vor diesem Gericht keinen Bedarf zu geben. »Setzen!«, blaffte der Anführer des Polizeitrupps den Wanderer an, und Torn, dem diese Sache immer weniger gefiel, wurde nie dergestoßen. »Verdammt«, beschwerte er sich, »was hat das zu bedeuten? Wer zum Teufel …?« Fußketten wurden ihm angelegt, sodass er nicht fliehen konnte. Die Polizisten umringten ihn im Halbkreis, während der unheimli che Richter streng und argwöhnisch auf ihn herabblickte. »James Brook?«, erkundigte er sich spitz. »Ja, Sir.« Torn nickte. Er wusste nur wenig über die Rechtsgebräu che in jener Zeit, aber was hier ablief, erinnerte ihn mehr an ein Standgericht der Inquisition als an ein Rechtsorgan eines demokra tischen Landes. Noch immer versuchte er vergeblich, die dämonische Präsenz einzugrenzen, die er fühlte. Sie schien überall zu sein, ihn förmlich zu umgeben … »Mr. Brook, Ihnen wird zur Last gelegt, zwei Beamte des Police Department von Columbia ohne jeden Grund tätlich angegriffen zu haben. Einer der Beamten wurde dabei so schwer verletzt, dass er
ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.« »Das ist so nicht richtig«, beeilte sich Torn zu erklären, während er mit seinen Sinnen weiter Umschau hielt. »Die Beamten haben mich angegriffen, worauf ich gezwungen war, mich zu verteidigen.« »Gibt es dafür Zeugen?«, erkundigte sich der Richter spitz. »Es waren einige Leute auf dem Revier. Festgenommene, nehme ich an, die auf ihre Vernehmung warteten.« »Was denn? Erwarten Sie, dass ich der Aussage von solchem Ab schaum Glauben schenke?« »Nein«, knurrte Torn. »Lassen Sie mich raten – Sie glauben natür lich den Kerlen in Uniform.« »So ist es. Und diese Kerle, wie Sie sie nennen, beschuldigen Sie einhellig, mit dem Streit begonnen zu haben.« »Verstehe.« Torn nickte. »Ist das der Grund, weshalb ich diesem seltsamen Gericht vorgeführt werde? Wo es keinen Staatsanwalt, keinen Verteidiger und keine Geschworenen gibt? Weil meine Schuld bereits von vornherein feststeht?« »Für jemanden, der nicht zur menschlichen Rasse gehört, begreifst du wirklich schnell«, erkannte der Richter mit einem bösen Grinsen an. »Nicht zur menschlichen Rasse?« Torn glaubte, nicht richtig zu hö ren. »Sie arroganter, rassistischer Bastard! Wie können Sie eine Rich terrobe tragen und im Interesse der Bürger dieses Landes Recht sprechen wollen? Sie mieses, weißes Arschloch.« »Du spielst deine Tarnung gut«, sagte der Richter nickend. »Wirklich überzeugend. Wenn wir es nicht besser wüssten, könnten wir tatsächlich annehmen, dass du einer dieser nichtswürdigen Menschen bist, für die ein Unterschied in ihrer Hautfarbe tatsächlich ein Grund zum Streit darstellt.« Der Hagere lachte leise. »Uns soll es Recht sein. Solange sich die Sterblichen mit solchen Nichtigkeiten beschäftigen, werden sie nicht daran denken, gegen uns aufzube
gehren …« In diesem Moment begriff Torn. Die dämonische Präsenz, die er die ganze Zeit über gefühlt hatte … Die Grah’tak versteckten sich nicht, sie waren hier, unmittelbar vor ihm. Er hatte es nur nicht bemerkt, weil sie sich tarnten, weil sie es verstanden, ihre verdorbenen Körper zu … Der Wanderer wollte reagieren, wollte an seine Hüfte greifen, um das Lux zu zünden und sich seiner Fesseln zu entledigen. Er kam jedoch nicht dazu. Denn in diesem Moment flutete ein matt leuchtender Blitz durch seine Fesseln und lud sie mit negativer Energie auf – Nekronergen, das seine Plasmarüstung schwächte und ihm schreckliche Schmerzen bereitete. Der Wanderer schrie auf, war einen Augenblick lang wie gelähmt, während der Richter und zwei der Polizisten sich vor seinen Augen verwandelten. Ihre menschlichen Züge verschwanden, gingen in die teerigen Vi sagen von Chamäleons über – Grah’tak, die in der Lage waren, sich in jedwedes sterbliche Wesen zu verwandeln. Die Chamäleons formten sich zu ihrer Lieblingsgestalt, jenen viel armigen, mit unzähligen Mäulern bewehrten Wesen, die sie vielleicht einst gewesen sein mochten, ehe sie die Fähigkeit erlangt hatten, ihre Gestalt zu wechseln. Drei der Polizisten hatten nicht zu den Grah’tak gehört. Entspre chend versteinert standen sie, als ihre Kollegen sich plötzlich in Grauen erregende Monstren verwandelten. In einer ersten, jähen Re aktion rissen zwei von ihnen ihre Maschinenpistolen in den An schlag, während der dritte seinen Schlagstock hob. Doch die Chamäleons ließen ihnen keine Chance. Mehrere ihrer Tentakel, die in gefräßige Mäuler endeten, zuckten
wie Peitschenenden vor. Die Kiefer bissen zu und verbissen sich in ihre bedauernswerten Opfer, rissen Fetzen von Fleisch aus ihnen heraus. Noch mehrmals zuckten die Tentakel mit peitschendem Knall, während die Kiefer geräuschvoll mahlten und sich wie ein Rudel Pi ranhas an ihren Opfern weideten, von denen Augenblicke später nur noch Knochen übrig waren. Erfolglos hatte sich Torn gegen seine Fesseln gestemmt, um den Sterblichen zu Hilfe zu kommen, die unwissentlich zu Helfern des Bösen geworden waren. Die Grah’tak hatten sie lediglich dazu benutzt, um ihre eigenen Signaturen zu verwischen. Schmerz, der von seinen Gliedern ausging und seinen ganzen Körper durchflute te, war alles, was der Wanderer damit erreichte. Die Chamäleons, allen voran der ›Richter‹, der noch immer auf sei nem hohen Sitz kauerte und von dort herunterspähte, lachten höhnisch. Torn gab seine Tarnung auf. Wozu sich noch verstellen? Die Grah’tak hatten seine Identität entdeckt und seine Verkleidung auf fliegen lassen. Verdammt, wie haben sie das nur gemacht? »Sicher fragst du dich, wie es uns gelingen konnte, deine Tarnung zu durchschauen«, sagte der Anführer der Chamäleons, als könne er Torns Gedanken lesen, »denn wie immer hast du gut gearbeitet, Wanderer. Es ist alles andere als einfach, dich unter den Sterblichen zu finden …« »Danke«, knurrte Torn trocken. »… allerdings bist du sehr durchschaubar, was die Zielsetzung deiner Missionen betrifft«, fuhr der Richter ungerührt fort. »Ein in szenierter Zwischenfall in der Zeit, ein wenig Chaos und Unrecht – und schon ist der Wanderer zur Stelle, um im Auftrag der edlen Lu’ cen die Sterblichen zu beschützen und die Unregelmäßigkeit im Fluss der Zeit wieder auszugleichen.«
»Dann … dann war alles nur inszeniert?«, fragte Torn ungläubig. »Ein abgekartetes Spiel?« Verdammt, wie haben sich die Lu’cen nur so irren können? »Nein, der Vorfall war durchaus echt. Nur sind, fürchte ich, Ursa che und Wirkung ein wenig durcheinander geraten.« Das Chamäle on kicherte. »Jener Sterbliche namens Mark Spencer wurde nur aus einem Grund von uns entführt, Wanderer. Um dich anzulocken. Er war der Köder, nichts weiter. Und du und deine einfältigen Freunde, ihr seid darauf hereingefallen.« »Ihr elenden Kreaturen! Was habt ihr mit ihm gemacht?« Der Grah’tak kicherte böse. »Inzwischen müsstest du uns gut genug kennen, um zu wissen, was mit ihm geschehen ist. Nach allem, was ich von dir gehört habe, Wanderer, sollst du ziemlich cle ver sein – wenngleich ich bisher nichts davon bemerkt habe. Aber für den Fall, dass du nicht von selbst darauf kommen solltest, was mit ihm geschehen ist, kannst du auch einfach abwarten – denn dich, Torn, erwartet ein ähnliches Schicksal.« Das Chamäleon und seine beiden Handlanger brachen in hyste risches Gelächter aus, in das die Kiefer ihrer Tentakel schnappend einfielen. »Bringt ihn weg«, ordnete der Richter daraufhin an. »Er wird be reits erwartet.« »Was werdet Ihr tun?«, erkundigte sich einer von Torns Bewa chern. »Ich werde in dieser Zeit bleiben, wie seine Lordschaft es angeord net hat. Dieser Präsident, von dem sie alle reden – Kennedy – scheint ein lohnendes Ziel für uns zu sein …« »Ihr abscheulichen Monster! Verdammte Höllenbrut!« Wieder stemmte sich der Wanderer gegen seine Fesseln, doch gegen die dä monische Energie, die von ihnen ausging, vermochte er nichts aus zurichten. Sie neutralisierte die Wirkung seiner Rüstung und schwächte seine Kräfte.
Wenn es mir doch nur gelingen würde, die verdammten Fesseln loszu werden … »Genug geredet! Schafft ihn weg!«, keifte der Richter, und auf sei nen Befehl hin öffnete sich in dem abgeschiedenen Gerichtsraum eine Kluft, aus der orangerotes Glühen drang. Das Kha’tex! Sie wollen mich mit sich nehmen! Dorthin, von wo sie ge kommen sind … Als sich der feurig glühende Schlund, der das Gegenstück zum Vortex der Wanderer bildete und ähnlich wie es in der Lage war, Zeiten und Welten zu überbrücken, vor ihm auftat, wich Torn un willkürlich zurück. Störrisch blieb der Wanderer stehen, bewegte sich keinen Schritt vorwärts. »Los!«, schnauzten die Chamäleons ihn an. »Bewege dich gefäl ligst! Hast du nicht gehört? Du wirst bereits erwartet.« »Ich kann nicht«, behauptete der Wanderer, dem plötzlich eine Idee kam. »Meine Plasmarüstung ist zu geschwächt. Wenn ich in diesem Zustand durch das Kha’tex gehe, werde ich das andere Ende nie erreichen.« »Umso besser«, höhnte einer seiner Bewacher. »Nicht wahr?« Torn nickte. »Die Frage ist nur, ob Mathrigo das auch finden wird. Schließlich hat er euch befohlen, mich lebend zu ihm zu bringen, richtig?« Der Wanderer hatte einen Schuss ins Blaue abgegeben. Dass es der Herr der Dämonen war, den der Chamäleon mit ›seine Lordschaft‹ gemeint hatte, war nur eine Vermutung, ebenso wie die Annahme, dass man ihn lebend fangen sollte. Doch Torn schien damit genau ins Schwarze zu treffen. »Verdammt«, knurrte der Richter und wedelte mit seinen Tenta keln, während die kleinen Mäuler feindselig zischelten. »Er hat Recht. Unser dunkler Herrscher wird uns ins Ma’thruk werfen
lassen, wenn dem Wanderer etwas zustößt. Er selbst will es sein, der ihn ins ewige Verderben schickt.« »Und wenn er nur blufft?«, fragte einer der anderen. »Ich weiß nicht.« Der Richter sprang von seinem hohen Sitz herab und beugte sich zu Torn, musterte ihn prüfend aus seinen kalten, bösen Augen. »Ich weiß nichts über die Technik dieser verdammten Wanderer. Möglicherweise sagt er die Wahrheit …« »Ich sage die Wahrheit«, versicherte Torn. »Wanderer lügen nicht. Niemals.« Noch einen Augenblick musterte ihn der Grah’tak. Dann erschien ein Grinsen auf seinem hässlichen Gesicht. »Aber natürlich! Dass mir das nicht selbst eingefallen ist! Diese einfältigen Kreaturen sind nicht in der Lage, zu lügen! Sie sagen stets nur die Wahrheit.« Die anderen Chamäleons fielen in sein höhnisches Gelächter ein. »Nehmt ihm die Fesseln ab«, ordnete der Richter dann an. »Wenn ihn das Nekronergen nicht mehr schwächt, wird er stark genug sein, die Reise durch das Kha’tex zu überstehen.« »Aber … ohne Fesseln …« »Was denn? Fürchtet ihr euch vor ihm? Er ist allein, und wir sind zu dritt. Außerdem ist er geschwächt. Er wird es nicht wagen …« Der Rest von dem, was das Chamäleon hatte sagen wollen, blieb ihm in seinem langen Hals stecken. Denn kaum hatten seine Bewacher Torn von den Fesseln befreit, explodierte der Wanderer in einer Bewegung, die für sie so plötzlich und unerwartet war, dass er seine Bewacher völlig überrumpelte. Herumwirbeln und das Lux zünden war eins. Grell fuhr die Klinge des Lichts aus dem Griff, beschrieb einen lo dernden Halbkreis, der einen Lidschlag später einen der Tentakel durchtrennte. Das Chamäleon, das Torn am nächsten gestanden hatte, schrie auf,
als es eines seiner Mäuler beraubt wurde. Der abgetrennte Tentakel fiel zu Boden, wo er sich schon Augenblicke später zischend auf löste. »Er hat uns getäuscht! Er hat uns getäuscht!«, rief der andere Grah’tak aus, während der Richter nur zornig brüllte. Doch schon einen Moment später hatten sich die Chamäleons wieder von ihrem Schrecken erholt. Seite an Seite drangen sie auf den Wanderer ein. Waffen brauchten sie nicht. Die schnappenden Mäuler an den Enden ihrer langen Tentakel waren wirksamer als jede Waffe. Mörderische Instinkte und rasiermesserscharfe Zähne, die in der Lage waren, das Plasma der Rüstung zu durchdringen … Torn musste sich vorsehen. Obwohl er von den Fesseln noch immer geschwächt war, gelang es ihm, einen Angriff blitzschnell vorschießender Mäuler abzu wehren. Das Lux schnitt durch fauliges Fleisch, und erneut schlugen durchtrennte Gliedmaßen zu Boden. Die Chamäleons schrien auf – doch im nächsten Moment schnellten ihre Glieder wie Peitschen er neut nach vorn. Torn sah die gefräßigen Mäuler heranfliegen. Zweien von ihnen wich er aus, ein weiteres Maul voller Zähne durchtrennte er knapp unterhalb des Kiefers. Dann jedoch hatte eines der Mäuler seine Deckung durchdrungen und biss zu. Der Wanderer spürte lähmenden Schmerz in seiner Hüfte, schlug instinktiv mit dem Lux zu. Zwar gelang es ihm, den Tentakel auszu schalten, doch schon waren zwei weitere heran, die ihn von beiden Seiten angriffen, gefolgt von einer ganzen Phalanx geifernder und mahlender Kiefer, die der Richter auf ihn abschoss. Der Wanderer beschrieb einen weiten Kreis mit dem Lux, um sich auf einen Schlag zu befreien. Es gelang ihm nur teilweise, denn die Tentakel der Kreaturen, die mit eigenen Reflexen ausgestattet
waren, wussten jetzt um die verderbliche Kraft des Lux und zuckten zurück, brachten sich vor der lodernden Klinge in Sicherheit. Eine Pause im Kampf trat ein. Die leuchtende Klinge in der Hand, sah sich der Wanderer einer Unzahl zähnestarrender Köpfe gegenüber, die vor ihm schwebten, bereit, auf ihn herabzustoßen. Mit etwas Glück konnte er die Hälfte von ihnen ausschalten, bevor sie ihn zerfetzten – aber niemals alle. Ich habe gegen einzelne Chamäleons gekämpft und diese Kämpfe fast verloren. Gegen drei von ihnen habe ich keine Chance, zumal meine Kräfte geschwächt sind. Fliehen kann ich nicht, weil diese verdammten Kreaturen mir den Weg versperren und ihre negativen Präsenzen den Mantel der Zeit blockieren. Mir bleibt also nur ein einziger Weg – und das ist ungefähr so, als würde man sich dafür entscheiden, von einer Löwengrube in eine Schlangegrube zu springen … Aus dem Winkel seines Blickfelds heraus erheischte der Wanderer einen Blick auf das Kha’tex, dessen Schlund noch immer offen stand. Dort hineinzufliehen, war das, was er am wenigsten wollte, und ganz sicher hätte er es nicht getan, hätte er die Wahl gehabt. Aber so, wie die Dinge lagen, würde er entweder in wenigen Sekunden sterben oder … Torn überlegte nicht länger. Mit einem grellen Kampfschrei unternahm er einen Ausfall, brach te die gefräßigen Mäuler der Grah’tak dazu, auf Distanz zu gehen, fuhr dann herum und stürzte sich in den orangeroten Schlund, der ihm wie das Maul einer weiteren gefräßigen Bestie erschien. Manchmal, dachte er grimmig bei sich, lügen Wanderer eben doch … Dann erfasste ihn der Strudel des Kha’tex und riss ihn hinein in die pulsierenden, wirbelnden Abgründe von Raum und Zeit, ohne dass er wusste, wo die Reise enden würde …
* Der Herr der Dämonen saß auf seinem Knochenthron und wartete. Wartete darauf, dass die Falle zuschnappen würde. Wie eine Spinne in ihrem Netz. Als sich erneut ein Nunc’tar im Thronsaal zeigte, knurrte Mathrigo vor Ungeduld. Der Bote begann darauf, an seinem ganzen verdor benen Körper zu zittern. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass der Herr der Dämonen einen Boten liquidieren ließ, nur weil ihm die Nachricht nicht gefiel, die er überbrachte – und was der Bote zu sagen hatte, war alles andere als erfreulich … »Dunkler Herrscher«, wisperte der Bote leise und verbeugte sich so tief, dass sein hässliches Gesicht den Boden berührte. »Es gibt neue Kunde.« »Sprich«, forderte Mathrigo ihn auf. Die glutig roten Augen, die aus den Sehschlitzen der Schädelmaske starrten, blitzten auf vor Un geduld. »Der Wanderer …« »Was ist mit ihm?« »Der Wanderer wurde gestellt und enttarnt. Es ist unseren Spionen gelungen, ihn festzunehmen, aber dann …« »… ist er ihnen entkommen«, vervollständigte Mathrigo den Satz tonlos, worauf der Nunc’tar erneut erzitterte. »Ja, Euer Lordschaft! Woher wisst Ihr …?« »Selbst wenn ich mich auf nichts mehr verlassen könnte – auf die Inkompetenz und Dummheit dieser Chamäleons ist immer Verlass«, knurrte der Herr der Dämonen mit böser Genugtuung. »Es ist wahr, Euer Lordschaft. Es ist dem Wanderer gelungen, sich zu befreien und Euren Agenten zu entkommen. Er ist in das Kha’tex
geflüchtet, und wir haben seine Spur verloren.« »Diese dämlichen Chamäleons haben seine Spur verloren«, stellte Mathrigo fest und lachte leise. »Ich hingegen weiß sehr genau, wo sich unser wandernder Freund befindet.« »Ihr … Ihr wisst es, dunkler Meister?« »Natürlich – oder dachtest du, ich würde mich auf ein paar hohl köpfige Chamäleons verlassen? Diese Kreaturen sind ebenso dumm wie gefräßig. Was wissen sie schon von meinen Plänen? Nichts. Nichts wissen sie.« »Dann … sollte der Wanderer ihnen entkommen?« »Ihnen entkommen?« Mathrigo lachte auf. »Wo denkst du hin, mein schleimiger Diener? Nein, der Wanderer sollte lediglich annehmen, dass er ihnen entkommen ist. In Wahrheit weiß ich ge nau, wo er sich befindet, und ich weiß auch, was er dort vorfinden wird.« Der Herr der Dämonen ballte triumphierend seine Rechte, die in einem mit Akul’rak-Stacheln bewehrten Handschuh steckte – ein Andenken an einen aufrührerischen Dämonenlord, den Mathrigo hatte hinrichten lassen. »Der Wanderer tut genau das, was ich erwartet habe, verhält sich genau so, wie ich es vorausgesehen habe. Nicht mehr lange, und er wird den schwersten Kampf führen, den er je zu führen hatte.« Ma thrigo gab ein Geräusch von sich, das ein Lachen hätte sein können. »Und am Ende dieses Kampfes, mein schleimtriefender Diener, werde ich triumphieren. Denn die Zeit ist reif, dass der Wanderer seinem schlimmsten Gegner gegenübertritt. Einen Gegner, gegen den er keine Chance hat, weil er seine Schliche kennt und der ihm keine Möglichkeit lassen wird, sich zur Wehr zu setzen.« »Brillant, Euer Lordschaft«, lobte der Nunc’tar beflissen. »Und wer ist dieser Gegner, von dem Ihr sprecht? Einer Eurer Kämpfer? Ein Dämonenlord vielleicht? Ein Champion des Kal’fath?« »Nichts dergleichen«, sagte Mathrigo und machte eine weg
wischende Handbewegung. »Nur einer kann dem Wanderer so ge fährlich werden – er selbst …«
* Der lodernde Tunnel des Kha’tex endete – und mit ihm der Alb traum, den der Wanderer durchlebt hatte. Wenn ihn der Gardian umhüllte und ihn in das Vortex schickte, war es Torn, als würden weder Zeit noch Raum existieren. Es war ein Zustand von innerer Klarheit, in dem man das Gefühl hatte, für einen kurzen, winzigen Augenblick das Wesen des Omniversums in all seiner Kompliziertheit zu erfassen. Natürlich war das nur eine Illusion, doch es war schon vorgekom men, dass Torn in diesen Augenblicken Visionen gehabt hatte, dass er Dinge gesehen hatte, die ihm widerfahren würden, oder dass die Geschichte ganzer Zivilisationen im Zeitraffertempo vor seinen Augen abgelaufen war. Bisweilen waren die Bilder, die er im pulsierenden Schlund des Vortex sah, erschreckend, ein anderes Mal trösteten sie ihn und machten ihm Mut. Und wieder bei anderen Gelegenheiten sah er rings um sich nichts als das undurchdringliche Blau des Tunnels, der die Zeiten und Welten überbrückte. Doch stets war die Reise durch das Vortex eine Erfahrung, die den Wanderer bereicherte. Ganz anders der Sturz durch das Kha’tex. Die innere Wärme, die den Wanderer erfüllte, wenn er durch das Vortex reiste, fehlte. Eisige Kälte erfüllte Torn, während von außen lodernde Flammen nach ihm leckten. Albtraumhafte Kreaturen tauchten aus dem Schlund auf, um sofort wieder zu verblassen, doch mit jedem Augenblick, der verstrich, hatte der Wanderer das Gefühl, dass seine Seele größeren Schaden nahm. Er wusste, dass es nicht gut für ihn war, sich im Kha’tex aufzuhal
ten – die Energie der Plasmarüstung reichte nicht aus, um der Präsenz des Bösen, die von allen Seiten auf ihn einstürmte, lange standzuhalten. Aber in Anbetracht der Möglichkeiten, die sich ihm geboten hatten, war ihm die Flucht durch den Dämonenschlund noch als die beste Option erschienen – angesichts des Albtraums, den er wäh rend seines Sturzes durchlebt hatte, ein geradezu törichter Gedanke. Die Erleichterung des Wanderers, als der Tunnel des Kha’tex endete und ihn in eine fremde Welt hinausspie, war entsprechend groß. Sie währte jedoch nur einen Augenblick. Denn der Ort, an den das Kha’tex ihn entließ, war kaum weniger schrecklich als der, von dem er kam. Eine Höhle mit gedrungener, rußgeschwärzter Decke, dazu fremde, bedrohlich aussehende Apparaturen, die hässlich dampften und zischten. Rings herum standen ganze Horden von Grak’ul – ge drungene Dämonenkrieger, die einst Sterbliche gewesen waren, ehe sie ins Malum gestürzt worden waren. Was den Wanderer jedoch noch mehr entsetzte, waren die Men schen, die er sah – Sterbliche von der Erde, die von Peitschen schwingenden Grak’ul angetrieben wurden und die vor Angst halb wahnsinnig waren. Verdammt, was ist das für ein Ort? Wohin bin ich geraten? Zeit, darüber nachzudenken, blieb dem Wanderer nicht. Denn die Grak’ul, die das Öffnen des Kha’tex mit einiger Gleichgültigkeit re gistriert hatten, bemerkten jetzt, dass der Neuankömmling nicht zu ihresgleichen gehörte. Kreischend erkannten sie den Feind in ihrer Mitte, und schon einen Lidschlag später stürmten sie mit Speeren, gekrümmten Klingen und Dämonenpeitschen auf ihn ein. Torn blieb keine Zeit, die Flucht zu ergreifen. Kampf war die
einzige Möglichkeit. In einer blitzschnellen, fließenden Bewegung riss er das Lux hoch und wirbelte es durch die Luft, den Angreifern entgegen. Die Klinge des Lichts zischte, als sie sich durch den vordersten Angreifer fraß und ihn in zwei Hälften trennte. Der Grak’ul fiel zu dampfendem Dämonenschleim zusammen. Die übrigen Dämonenkrieger registrierten den Tod ihres Kum panen mit zornigem Gebrüll. Hals über Kopf sprangen sie heran, schwangen ihre gefährlichen Waffen. Die Lichtklinge des Wanderers begegnete ihnen mit eisiger Prä zision. Wieder ging ein Grak’ul nieder, als das Lux tief in seine Einge weide fuhr, ein anderer schrie auf, als die Klinge seinen Arm durch trennte. Dämonenpeitschen knallten und zucken heran, und der Wanderer schaffte es nicht, ihnen allen auszuweichen. Torn spürte den Schmerz, als sie seine Rüstung berührten und kleine Wunden schlugen, die das Plasma sofort versorgte. Ein Speer zuckte heran, den der Wanderer abwehrte, geführt von den Atta cken mehrerer gebogener Dämonenklingen. Der Wanderer konterte die Schwerthiebe und trat dann mit dem Fuß zu. Der Grak’ul, den er getroffen hatte, taumelte zurück, stürzte in die Waffen seiner heulenden Kumpane. Schon setzte der Wanderer hinterher, und erneut ging das Lux mit vernichtender Wucht nieder, schnitt durch fauliges Fleisch und ledrige Haut. Die Menschen, die von den Grak’ul bewacht worden waren, unter nahmen nichts. Sie standen nur da, starrten den Wanderer und die kämpfenden Grak’ul fassungslos an. Sie hatten bereits mehr sehen und erleben müssen, als ihr Verstand fassen konnte. Woher sie kamen und wie sie hierher gekommen waren, konnte der Wanderer nur vermuten, aber nach allem, was das Richter-Cha
mäleon gesagt hatte, nahm er an, dass auch Mark Spencer diesen Weg genommen hatte. Die Sinne der Plasmarüstung nahmen ein Geräusch in seinem Rücken wahr. Blitzschnell fuhr der Wanderer die zweite Klinge des Lux aus und ließ den Stab einen Viertelkreis beschreiben. Sowohl vor als auch hinter ihm sanken Grak’ul mit aufgeschlitzter Brust nie der. Torn riss sein Lux hoch und ließ es in seiner Hand wirbeln. Noch ein-, zweimal ging die leuchtende Waffe nieder, streckte weitere Angreifer zu Boden. Plötzlich war der Kampf vorbei. Inmitten eines Wulsts aus leblosen, sich dampfend zersetzenden Körpern stand der Wanderer und blickte sich wachsam um. Die wenigen Grak’ul, die noch verblieben waren, hatten schreiend die Flucht ergriffen, ebenso wie die in Roben gekleideten Folterknechte, die sich beim Kampf vornehm zurückgehalten hatten. Torn zweifelte nicht, dass sie zurückkehren würden, sobald sie genug Hilfe geholt hatten, um ihn mit ihrer schieren Masse zu über rennen. Eilig blickte sich der Wanderer um. Zu gerne hätte er den Sterbli chen geholfen, die von den Grak’ul hierher gebracht worden waren, doch weder wusste er, woher sie kamen, noch wie er sie zurück bringen sollte. Und selbst wenn es ihm gelang – durfte man sie nach allem, was sie gesehen hatten, einfach so in ihre Welt entlassen? Torn wünschte sich, Custos um Rat fragen zu können oder wenigstens den Gardian, doch der Weg zurück ins Numquam war ihm verwehrt. Die dämonische Präsenz, die diesen Ort umgab, machte es ihm unmöglich, ihn zu gehen. Also blieb ihm nur, sich um sich selbst zu kümmern. So sehr es ihm widerstrebte, er musste die Sterblichen zurücklassen und sich um seine eigene Sicherheit sorgen. Rasch, ehe die Grak’ul zurück
kehrten … Zwischen den seltsamen Apparaturen, die den rückwärtigen Teil der Höhle ausfüllten, suchte der Wanderer nach einem Ausgang. Es waren Halbkugeln, die offenbar aus Dämonenstahl gebaut waren und die über diverse Schläuche und Drähte mit einer mons trösen Maschine verbunden waren, die die Mitte der Höhle einnahm und mit ihren fünf Auslegern wie ein großes stählernes Monster aussah. Giftiger Dampf entwich zischend aus Ventilen, während es im Inneren der Apparatur unaufhörlich stampfte. Was, in aller Welt, mag das sein? Der Wanderer passierte eine Schalttafel, die mit den hässlichen Symbolen der Grah’tak-Sprache beschrieben war. Die Hebel waren grotesk geformt, waren für die Bedienung durch monströse Klauen gedacht. Aus Neugier legte der Wanderer einen der Hebel um. Zischend hoben sich die stählernen Halbkugeln. Was darunter zum Vorschein kam, erfüllte Torn mit Entsetzen. Es waren Menschen – oder vielmehr das, was noch von ihnen üb rig war. Rein äußerlich schien ihnen nichts zu fehlen, doch ihre reglosen Mienen und ihre leeren Blicke verrieten nur zu deutlich, dass ihnen Schreckliches widerfahren sein musste. Torn konnte nicht anders, als an einen der metallenen Stühle zu treten, auf denen die armen Menschen saßen, und mit dem Lux die Fesseln zu durchtrennen. Sofort erhob sich die Frau, deren Blick in weite Ferne zu schweifen schien, machte auf dem Absatz kehrt und begann loszulaufen – zur anderen Seite der Höhle, wo sich unvermittelt ein Schott öffnete, das in den Fels eingelassen war. Ein Ausgang … Torn folgte der Frau, die von einem fremden Willen gelenkt zu
werden schien. Weder nahm sie von dem Wanderer Notiz noch von den anderen Menschen, die ihr entsetzt hinterherriefen. Torn blieb ihr auf den Fersen und verließ die Höhle. Weit hinter sich nahm er jetzt bereits die zornigen Rufe der Grak’ul wahr, die in Horden zu rückkehren, um ihre gefallenen Artgenossen zu rächen. Der Korridor, der jenseits des Schotts lag, war lang und dunkel, nur spärliches Fackellicht beleuchtete ihn. Der Wanderer konzentrierte sich und nahm menschliche Tarnung an. So konnten die Grah’tak ihn wenigstens nicht als Wanderer orten. Wenn er ihnen begegnete, würden sie aber natürlich einen frei herumlaufenden Menschen sehen, was sie nicht gestatten konnten. Den Griff seines inzwischen erloschenen Lux umklammernd, folg te er der Frau – bis der Korridor unvermittelt endete. Dahinter schien eine geräumige Höhle zu liegen. Ein dunkles Rauschen war zu hören, das von unterhalb der Abbruchkante her auf drang. Wenn Torn gedacht hatte, dass seine unfreiwillige Führerin in ih rem Lauf innehalten würde, so irrte er sich. Die Frau ging einfach weiter und stürzte über die Kante, fiel senkrecht in die Tiefe. »Nein!«, rief der Wanderer und eilte vor zum Rand. Er sah noch, wie die Frau von einem Strudel dunklen Wassers verschlungen wurde, der zehn Meter unterhalb des Ganges rotierte. Schon Augen blicke später war nichts mehr von ihr zu sehen, hatte der grausame Fluss, dessen Wasser finster und bedrohlich wirkte, sie ver schlungen. Jäh dämmert dem Wanderer, wo er sich befand. Dies ist der Fluss der Toten! Der Fluss, der die Kerkerwelt von Krigan durchfließt! Hierher also hat mich das Kha’tex gebracht. Ich bin in Krigan, dem Mi krokosmos, in dem die Grah’tak die Seelen all jener Menschen gefangen halten, die ihnen gefährlich werden könnten.
Ich habe mich immer gefragt, wie die Finsteren es fertig bringen, die Seelen von ihren Körpern zu trennen. Ich scheine dieses Geheimnis gerade gelüftet zu haben. Es ist diese Maschine, die ich gesehen habe. Sie setzt die Sterblichen unvorstellbaren Qualen aus, bis ihre Seelen freiwillig die Kör per verlassen … Dieses Rätsel war also gelöst. Doch was geschah mit den Körpern, die ihrer Seele beraubt worden waren? Schon einmal war Torn den Fluss der Toten hinabgereist, ohne sei nem Lauf jedoch bis zum Ende zu folgen.* Würde er nun auch dieses Geheimnis ergründen? Das wilde Geschrei, das den Korridor herabdrang, machte ihm deutlich, dass er keine Wahl hatte. Entweder stürzte er sich in den Strudel und lieferte sich dem Fluss aus, oder die Grak’ul würden ihn schnappen. Er musste das Wagnis auf sich nehmen. Außerdem sagte ihm ein untrügliches Gefühl, dass auch Mark Spencer diesen Weg genommen hatte. Und unabhängig davon, ob es nun eine Falle der Grah’tak war oder nicht – sein Auftrag besagte, ihn zu finden und in die Welt der Sterblichen zurückzubringen. Ich werde es versuchen … Es kostete den Wanderer einige Überwindung, über die Abbruch kante zu springen und sich in den Fluss zu stürzen, der die leblosen Körper der Sterblichen mit sich trug. Doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte. Und sprang. Der Sturz schien endlos zu dauern. Dann umfing ihn die dunkle Flut des Flusses, in den er bereits früher eingetaucht war. Und wie damals fühlte er das Leid und den Schmerz, die eisige Kälte, die dieser Fluss mit sich führte. Der Strudel sog ihn an sich, drehte sich immer schneller, bis dem *siehe Torn Band 38: ›Am Fluss des Todes‹
Wanderer nichts anderes übrig blieb, als seiner Gewalt nach zugeben. Beängstigend schnell riss ihn der Sog in die Tiefe, und Torn versank, war umgeben von Finsternis …
* Die Finsternis endete so jäh wie die Reise durch das Kha’tex, und der Wanderer fand sich durch dunkle Kanäle treibend, von deren Decke ein schwaches Licht schimmerte. Über dem Rauschen und Gurgeln des dunklen Wassers hörte er unmenschliche Schreie – das Klagen der Seelen, die in den Kerkern von Krigan inhaftiert waren und die nach und nach dem ewigen Vergessen anheim fielen. Der Gedanke ihrer elenden Existenz bedrückte Torn. Er hatte Freunde in Krigan, allen voran Orpheus, den griechischen Fürsten, der ihm einst den Weg in die Kerkerwelt der Grah’tak ge zeigt hatte.* Doch Torns Versuch, einige der gefangenen Seelen zu befreien, war kläglich gescheitert. Hier war es auch gewesen, als er jenem geheimnisvollen Namen zum ersten Mal begegnet war, der ihn seither immer wieder heim suchte, zuletzt, als Shador ihm seine tiefsten Ängste gezeigt hatte. Rebecca. Es war der Name einer jungen Frau, die er sehr geliebt haben musste – bevor er ein Wanderer geworden war, in seinem alten Leben, an das er sich nicht erinnern durfte … Vielleicht lagen die Antworten, die Torn im Dämonichron zu finden gehofft hatte, ja in Wahrheit hier verborgen. Vielleicht war es kein Zufall, dass ihn seine Mission hierher ge *siehe Torn Band 19: ›Der Kerker von Krigan‹
führt hatte … In tosendem Fluss ging es durch die düsteren Kanäle, die un terhalb der Kerkergänge verliefen. Einst hatte sich Torn in ihnen versteckt und war dabei durch Zufall auf den Fluss gestoßen, der die entseelten Körper transportierte. Vielleicht würde er nun endlich erfahren, was mit ihnen geschah. Der Wanderer ertappte sich dabei, dass er sich vor der Antwort fürchtete. Unvermittelt endete der Kanal, spie den Fluss und alles, was er mit sich führte, hinaus in die triste Landschaft von Krigan, die aus schroffen roten Felsen bestand, die feindselig in den dämmrigen, von der Fackelsonne erhellten Himmel ragten. Torn sah, wie mehrere leblose Körper an ihm vorbeitrieben, konn te den Schauder nicht unterdrücken, der ihn dabei durchrieselte. Er hatte sich geschworen, niemals wieder an diesen Ort des Schreckens zurückzukehren. Doch es schien etwas zu geben, das ihn wieder und wieder hierher trieb … Der Wanderer regte sich kaum, um möglichst wenig Aufmerksam keit zu erregen, ließ sich den Fluss hinuntertreiben wie all die anderen leeren Hüllen, die einst die Seelen Sterblicher enthalten hatten. Und er konnte nicht verhindern, dass ihn düstere Gedanken dabei beschlichen. Leere, seelenlose Hüllen … Ist meine Plasmarüstung nicht auch eine solche Hülle? Einen sterblichen Körper aus Fleisch und Blut habe ich längst nicht mehr. Die Lu’cen haben ihn mir genommen und meinen Geist in eine Rüs tung aus Plasma gesteckt, die mir gleichzeitig Schutz und Körper ist. Sie ermöglicht mir, meine Gestalt zu ändern und das Aussehen eines Menschen anzunehmen, doch ein Sterblicher bin ich schon längst nicht mehr. Kein Blut fließt durch meine Adern, kein Herz schlägt in meiner
Brust … Dennoch lebe ich. Wie ein Fremder fühlte ich mich stets unter den Menschen, auch wenn ich einst einer von ihnen war. Erst Callista gab mir das Gefühl, zu den Sterblichen zu gehören, in ihrer Mitte willkommen zu sein. Doch das ist vorbei. Inzwischen habe ich mit jenen leeren Hüllen mehr gemeinsam als mit Wesen aus Fleisch und Blut … Auf einem der hoch aufragenden Felsen, die das Flussbett säum ten, sah der Wanderer eine Gestalt. Es war ein Grak’ul-Wächter, der eine Lanze in seinen Klauen hielt und auf den Fluss herabspähte. Der Wanderer rührte sich nicht, und der Grak’ul schien keinen Verdacht zu schöpfen. Der Fluss beschrieb eine Biegung, und zu beiden Seiten wurden jetzt noch mehr Grak’ul sichtbar. Offenbar näherte sich der Flusslauf seinem Ende. Torn war gespannt darauf zu erfahren, was ihn dort erwartete. Das Ende? Auf einem der Uferfelsen entdeckte der Wanderer noch eine wei tere Gestalt – eine hässliche, widerliche Kreatur, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es handelte sich um eine Subspezies der Grah’tak, der er bislang noch auf keiner seiner Missionen begegnet war. Ein gedrungener Körperbau, unter dem sich jedoch stählerne Mus keln abzeichneten. Ein großer Kopf mit spitzen, weit abstehenden Ohren. Große, blutunterlaufene Augen, über denen buschige Brauen wucherten. Ein breites Maul, dessen Winkel grausam nach unten verzogen waren. Standen diese Wesen in Verbindung mit dem, was den Körpern der Sterblichen widerfahren würde? Die Antwort stand unmittelbar bevor, denn nach der nächsten Bie
gung endete der Fluss. Es war, als würde der breite Wasserlauf in einem gewaltigen Krater enden, der im roten Fels klaffte. Urplötzlich fiel der Fluss senkrecht nach unten ab. Doch allen Naturgesetzen, die man auf den Welten Sterblicher kannte, zum Trotz ging der Fluss nicht in einen Wasserfall über, sondern behielt seinen trägen Lauf bei und durchfloss jetzt eine ge waltige Röhre, die vom Kraterrand senkrecht abwärts führte. Und vor sich – der Wanderer ächzte entsetzt – sah Torn einen wei teren orangerot pulsierenden Schlund. Ein Tor zum Kha’tex! Dieser Fluss geht in eine Dimensionsbrücke über! Die entseelten Körper werden von Krigan an einen anderen Ort gebracht … Noch während ihm diese überraschende Erkenntnis dämmerte, wurde der Wanderer selbst von dem schrecklichen Leuchten erfasst, das aus den Tiefen des Dämonenschlundes drang. Im nächsten Moment fand er sich wieder inmitten der albtraumhaften Zwischen welt, die die Grah’tak dazu benutzten, die Entfernungen zwischen Zeiten und Welten zu überbrücken. Nur eine Frage beherrschte ihn dabei. Wohin führt diese Reise …?
* »Und?« Mathrigos Blick verriet Interesse, aber auch Selbstsicherheit. Die Selbstsicherheit von jemandem, der sein Opfer in der Falle wusste und keinen Zweifel daran hegte, dass es keine Chance mehr hatte. »Der Wanderer ist den Grak’ul entkommen, Euer Lordschaft«,
meldete der Nunc’tar unsicher, der seinen dunklen Meister an diesem Tag noch weniger verstand als an allen anderen. Normalerweise hätte eine Nachricht wie diese dazu geführt, dass Flüche geschleudert und Schädel zertrümmert wurden. Doch an diesem Tag entlockte die Meldung des Boten dem Herrn der Dä monen nur ein dunkles Lachen. »Umso besser. Dann wird er jetzt glauben, sich vor uns verstecken zu können. Sicher ist er bereits auf dem Weg nach Kalderon.« »Nach Kalderon, Euer Lordschaft?« »Gewiss.« Der Herr der Dämonen nickte. »Ihn dorthin zu bringen, war das Ziel meines Plans.« »Aber – verzeiht meine Frage – wäre es nicht einfacher gewesen, ihn gefangen zu nehmen und dorthin bringen zu lassen?«, erkun digte sich der Nunc’tar-Bote, den die großmütige Stimmung seines Herrschers unvorsichtig machte. »Dummkopf«, knurrte Mathrigo. »Eine Kreatur wie du, die nur die Finsternis kennt, weiß nichts von den Schlichen der Sterblichen. Ich hingegen vermag sie zu durchschauen. Die Sterblichen lieben ihre Freiheit. Sie setzen alles daran, nach ihren Gefühlen zu leben und sich selbst zu entscheiden. Das ist ihre Schwäche, denn ihre Ent scheidungen sind leicht zu beeinflussen.« »Auch die des Wanderers?« »Natürlich. Auch der Wanderer ist einst ein Mensch gewesen. Hät te ich ihn gefangennehmen und nach Kalderon bringen lassen, hätte ich niemals das erreicht, was ich erreichen will.« »Und was wollt Ihr erreichen, Euer Lordschaft?« »Ich will erreichen, dass sich mein schlimmster Gegner selbst ver nichtet. Nicht mehr und nicht weniger.« Der Herr der Dämonen warf sein mächtiges Haupt in den Nacken und verfiel in lautes, brüllendes Gelächter, das von der hohen Decke des Thronsaals widerhallte und das Cho’gra erzittern ließ.
Kalderon! Eine Welt, die von böser Macht durchdrungen war, die geborsten war bis ins Mark und die Form eines gewaltigen Kessels besaß, aus dem die Grah’tak einen Teil ihrer Stärke schöpften. Auf dieser düsteren Welt, die von den Schreien der Versklavten widerhallte, würde sich das Schicksal des Wanderers erfüllen …
* Eins ist ganz sicher – wir sind nicht mehr in Kansas … Der Satz aus ›Der Zauberer von Oz‹ kam dem Wanderer unwill kürlich in den Sinn, als die Reise durch das Kha’tex endete. Der lodernde Tunnel, der Torn eben noch umschlossen hatte, verschwand und wich düsterer Dämmerung, in der sich ein alb traumhaftes Szenario abspielte. Scharen von Grak’ul und jenen anderen Grah’tak, die der Wanderer zuletzt in Krigan gesehen hatte, standen bereit, um die Körper in Empfang zu nehmen, die aus dem Kha’tex kamen. Wie Vieh wurden sie verlesen und aussortiert, wurden verschiedenen Trupps zugeteilt – Männer und Frauen waren darunter, Menschen aus verschiedensten Epochen der Geschichte. Aber auch Bewohner anderer Welten. Nicht wenige davon hatte der Wanderer noch nie gesehen. Er sah einen Mann, dessen Züge indianisch waren, eine junge Asiatin und einen alten Greis, dessen Haartracht ihn als Bürger des Römischen Reiches kennzeichnete. Aber auch Wesen, die sicherlich nicht von der Erde stammten. Ein Marsianer war unter ihnen, zwei Katzenmenschen, die aussahen wie aufrecht gehende schwarze Panter, und noch zahllose mehr. Allesamt waren sie Wesen, die von den Grah’tak von ihren Welten
entführt worden waren, weil sie den Dämonen gefährlich geworden waren. Die wenigsten von ihnen waren Kämpfer oder Soldaten. Jene, die mit Waffengewalt für eine Sache kämpften, waren selten solche, die die Dinge hinterfragten. Jene Individuen, die die Grah’tak entführt hatten, waren Philosophen und Denker, Männer und Frauen des Geistes, deren Ideen und Theorien der Wahrheit gefährlich nahe ge kommen waren. Nur aus diesem Grund hatten die Grah’tak sie von ihren Welten entführt. Beklommen musste der Wanderer daran denken, wie die mo ralische und ethnische Entwicklung der Sterblichen dadurch ge bremst wurde! Was hätten diese Individuen auf ihren Welten bewir ken können! Sicher, der Fluss der Zeit würde in vielen Fällen die Lücken ausgleichen, die die Grah’tak hinterlassen hatten. Aber es würde dauern. Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte. Zeit, die für das Universum nicht von Bedeutung war, die die Sterblichen aber nicht hatten. Die Geister der Entführten hatte man nach Krigan verbannt, wäh rend man ihren Körpern gerade genug Energie gelassen hatte, um sich träge zu bewegen und den Anweisungen der grässlichen Skla ventreiber Folge zu leisten. Mit heiseren Befehlen in der Grah’tak-Sprache, die die Menschen jedoch zu verstehen schienen, bedeuteten die Sklaventreiber ihnen, sich zu formieren. Die meisten der Sterblichen trugen nur noch Fetzen ihrer Kleidung am Leib, viele hatten blutig gescheuerte Wunden. Die Grah’tak kümmerten sich nicht darum. Für sie waren diese Wesen nur Werkzeuge, nichts weiter. Torn spürte, wie ihn namenloser Zorn überkam. Am liebsten hätte er seine Tarnung aufgegeben, sein Lux gezündet
und diese elenden Ausgeburten des Subdämoniums gelehrt, dass die Sterblichen unter seinem Schutz standen. Doch so sehr alles in ihm danach schrie, er konnte es nicht tun. Muss mich beherrschen … Wenn ich mich jetzt verrate, werde ich ein paar Dutzend dieser elenden Kreaturen ins Verderben schicken. Aber was dann? Früher oder später werden sie mich überwältigen, den Sterblichen werde ich damit nicht helfen können. Zum einen weiß ich nicht, wo ich mich be finde, also dürfte es schwierig werden, einen Fluchtweg zu finden. Zum anderen darf ich mich von der äußeren Erscheinung dieser Männer und Frauen nicht täuschen lassen. Sie sind nichts als leere Hüllen, ihre Seelen sind in Krigan gefangen. Zwecklos, sie zu befreien … Frustriert beschloss der Wanderer, nichts zu unternehmen, und reihte sich stattdessen in die Reihen derer ein, die auf ihre Zuteilung warteten. Dass die Körper der Sterblichen für irgendeine Art von Sklavenarbeit eingesetzt wurden, stand inzwischen für ihn fest. Die Frage ist nur, wofür sie sie brauchen … Einer der hässlichen Sklaventreiber, dessen muskulöser Körper in einer ledernen Rüstung steckte, trat vor den Wanderer und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Bohrer!«, keifte er dann in seiner hässlichen Sprache, und unter Peitschenhieben wurde Torn zu einer Gruppe von Männern bugsiert, die mit reglosen Mienen ein Stück abseits warteten. Der Ort, an dem die makabre Auswahl stattfand, war eine schma le, von hohen Felsen umgebenen Talsohle. Die Felsen sahen anders aus als die von Krigan – ein wenig wie Stalagmiten, die sich in ge waltige Höhe türmten. Das schwarze Gestein schien einst flüssig ge wesen und plötzlich erstarrt zu sein. Es wirkte Furcht einflößend und bedrohlich. Torn hatte das Gefühl, dass die böse Präsenz, die er fühlte, nicht nur von den Grah’tak ausging, die sich hier aufhielten, sondern
auch das Gestein schien davon durchdrungen zu sein. Wohin, bei allen Mächten, bin ich geraten? Was ist das für eine schreck liche Welt, auf der entseelte Körper gesammelt und zu Sklavenarbeiten ge zwungen werden? Die Peitsche eines der Aufseher knallte – und wie auf einen unhör baren Befehl hin setzte sich der Trupp, dem Torn zugeteilt war, in Bewegung. Der Wanderer zögerte – überlegend, ob er ihm folgen sollte, aber anders, das war ihm klar, würde er das düstere Geheimnis dieser Welt nie entschlüsseln. Über einen schmalen Pfad, der in den schroffen Fels geschlagen worden war, verließ der Zug der Sklaven das Tal. Die Männer, die wie Torn zu ›Bohrern‹ ernannt worden waren (was immer das heißen mochte), trugen metallene Fußketten, die sie klirrend mit sich schleppten. Die Energie, die ihren Körpern verblieben war, schien unterschied lich groß zu sein. Während einige in der Lage waren, gebückt zu ge hen, konnten sich andere nur auf allen Vierten den steilen Weg hin aufschleppen. Wieder andere brachen bereits nach den ersten Me tern leblos zusammen. Es war ein grausamer Anblick, doch die Grah’tak scherten sich nicht darum. Unbarmherzig knallten die Peitschen der dämonischen Aufseher, wurden Befehle und Beschimpfungen gebrüllt. Je weiter sich der Zug vom Tal entfernte, desto mehr ging Torn die Fremdartigkeit dieser seltsamen Welt auf. Der Wanderer bezweifelte, dass es sich dabei um einen Mikrokos mos wie Krigan handelte. Diese Welt schien real zu existieren und den Regeln der Physik unterworfen zu sein. An den Felsen entdeckte der Wanderer Spuren von Erosion, die auf heftige Winde und Stürme hindeuteten. Eine Atmosphäre im
strengen Sinn schien dieser Planet jedoch nicht zu besitzen. Torn re gistrierte, dass die dünne Luft nur einen geringen Anteil an Sauer stoff besaß. Stickstoff und ätzende Gase waren an seiner Stelle in übergroßen Mengen vorhanden, und es herrschte eisige Kälte. Weder die Grah’tak noch der Wanderer brauchten Luft zum At men – und auch die Körper der Sterblichen benötigten sie nicht mehr, um zu funktionieren. Sie würden ihren Dienst tun und die Befehle ihrer Sklavenherren ausführen, bis das Gift ihrer traurigen Existenz ein Ende setzte. – Betreten schüttelte Torn den Kopf. Es gab keinen Himmel, der sich über der tristen Landschaft aus spitz aufragenden Felsen spannte, nur die Schwärze des Weltraums mit ihren glitzernden Sternen, vor denen ein bedrohlich grüner Nebel lag. Wo, verdammt noch mal, bin ich hier? Torn ging seine Erinnerung nach Hinweisen durch, versuchte sich an die vielen Welten zu erinnern, von denen ihm Memoros in end losen Sitzungen berichtet hatte, doch es war keine darunter, die auch nur annähernd dem entsprochen hätte, was der Wanderer hier sah. Immer steiler hinauf wand sich der Weg, der sich schmal und un deutlich vor ihnen abzeichnete. Zur Linken der Sklaven ragte die schroffe Felswand fast senkrecht auf, zur Rechten klaffte ein Ab grund, der so tief und dunkel war, dass man den Boden nicht sehen konnte. Die Sklaventreiber kümmerte das nicht. Erbarmungslos knallten ihre Peitschen, und ihre keifenden Befehle durchdrangen die giftige Luft; »Los, schneller! Wollt ihr wohl, ihr verdammten Hunde? Das Verderben erwartet euch …« Sie lachten mit heiseren Stimmen, und einmal mehr hätte der Wanderer am liebsten zum Lux gegriffen und dem Spuk ein Ende bereitet. Er durfte es nicht tun.
Noch nicht … Plötzlich drang vom Kopf des Zuges Geschrei herab. Einer der Gefangenen – ein bärtiger Mann, der wenig mehr als ein paar Fetzen aus Fell am Leib trug – hatte einen Fehltritt getan, wor auf sich einige Felsbrocken lösten. Lautlos, ohne mit der Wimper zu zucken, stürzte der Mann ins Leere und wurde vom bodenlosen Ab grund verschluckt. Niemand unternahm auch nur den Versuch, ihm zu helfen. Die Grak’ul und Sklaventreiber verfielen in schadenfrohes Geläch ter, schlugen mit ihren Peitschen auf die Gefangenen ein und mahn ten sie, sich zusammenzunehmen. Die Sklaven, die den Tod ihres Kameraden mit Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen hatten, gingen mit der selben Gleichgültig keit einfach weiter. Wie sollten sie auch anders reagieren? Es gab keinen Geist mehr, der sie beseelte, der in der Lage war, Gefühle wie Mitleid oder Furcht zu empfinden. Die Grah’tak hatten ihnen alles genommen. Ihre Freiheit. Ihre Würde. Ihre Seelen. Und wenn es so weit war, würden sie ihnen auch noch ihr Leben nehmen … Der Gedanke bedrückte Torn, und während sich der Marsch über den schmalen Bergpass fortsetzte, schwor sich der Wanderer, dass er zurückkehren und diesen armen Kreaturen helfen würde. Es musste einen Weg geben, sie von ihrem traurigen Sklavendasein zu befreien – und wenn er sie nur für immer davon erlöste … Der Marsch ging weiter. Immer wieder brachen einzelne aus dem Zug zusammen. Sofort waren ihre Bewacher bei ihnen, um wie von Sinnen auf sie einzuschlagen. Entweder, die Gefangenen rafften sich
dann wieder auf die Beine, oder die Sklaventreiber machten kurzen Prozess mit ihnen und stürzten sie über den Rand der Klippe. Es war ein Zug des Verderbens, der über die Berge marschierte, seinem unbekannten Ziel entgegen. In dieser Welt schien es weder Tiere noch Pflanzen zu geben noch sonst irgendwelches Leben. Im Gegenteil – das Leben auf diesem Planeten schien schon vor langer Zeit untergegangen zu sein. Torn vermutete es nicht nur wegen des Bösen, das er überall fühlte. Viele der Gesteinsformationen und der gewaltigen Stalagmiten, die sie passierten, machten auf ihn auch nicht den Eindruck, als wären sie durch natürliche Prozesse entstanden. Vielmehr hatte der Wanderer das Gefühl, als handelte es sich bei ihnen um geschmolzenes Gestein, das in gewaltigen Eruptionen aus dem Inneren des Planeten geschleudert worden und schlagartig er kaltet war. Eine abgestorbene, leblose Welt, die die Grah’tak zu ihrem Stütz punkt erkoren hatten. Aber weshalb habe ich noch nie etwas von diesem Ort erfahren? Wissen die Lu’cen etwas davon? Gab es diesen Ort schon, als die Wanderer der al ten Zeit noch existierten? Fragen über Fragen, die den Wanderer während des beschwerli chen Marsches beschäftigten. Immer wieder brachen Sklaven aus dem Zug zusammen, wenn ihre Lebensenergie nicht mehr ausreichte. Jedes Mal verwünschte sich Torn dafür, wenn er ihnen nicht half, doch ihm war klar, dass er sich dadurch verraten hätte. Die Sklavenkörper besaßen keine Seelen mehr. Ihnen war es gleichgültig, was mit ihren Kameraden geschah. Wenn er sich tar nen wollte, musste er sich verhalten wie sie. Teilnahmslos. Lethargisch.
Gleichgültig. So schwer es ihm fallen mochte, blieb Torn nichts anderes übrig, als dem Treiben der Grah’tak tatenlos zuzusehen. Entsprechend erleichtert war er, als der Sklavenzug schließlich sein Ziel erreichte. Zunächst hatte der Wanderer angenommen, dass sie die Nacht über marschiert waren und dass irgendwann der neue Tag herauf dämmern würde. Doch dann war ihm klar geworden, dass es auf dieser düsteren Welt keinen Tag gab. Es existierte keine Sonne, die diesen Planeten beleuchtete. Keine Sonne und kein Leben … Torn war auf das Schlimmste gefasst, was das Ziel des beschwerli chen Marschs betraf, doch nichts konnte ihn auf den Anblick vorbe reiten, der sich ihm tatsächlich bot, als der Sklavenzug seinen Be stimmungsort erreichte. Es war unfassbar. Über einen letzten, steilen Felskamm stieg der Pfad an, führte auf einen schmalen Grat, hinter dem sich das gewaltigste Tal erstreckte, das der Wanderer jemals gesehen hatte. Riesiger als die gewaltigsten Naturwunder der Erde, tausendmal größer als die Wüstensenken des Mars. Es war ein Talkessel, dessen Durchmesser mehrere tausend Ki lometer betragen mochte, so gewaltig, dass der gegenüberliegende Rand nicht zu sehen war. Das Gebirge, das in beide Richtungen wei terverlief und sich in ungeahnte Höhen erhob, schien die gewaltige Senke zu umrahmen, die von zerfurchtem Gestein übersät war und in der es Rinnen und Spalten gab, die kilometertief in den Boden reichten. Dunkler Fels, wohin das Auge blickte. Keine Erde, keine Pflanzen. Nur totes, lebloses Gestein, das durchdrungen war von Bosheit. Torn schauderte. Die Erkenntnis, dass Krigan, jener düstere Kerker, in dem die
Seelen Sterblicher gefangen gehalten wurden, in Wahrheit nur ein Mikrokosmos war, eine kleine, mit Sand gefüllte Kugel, die Mathri go in seinem Thronsaal aufbewahrte, war ein Schock gewesen. Doch dieser Augenblick, in dem sich der Wanderer dieser riesigen, von den Grah’tak beherrschten Welt gegenübersah und sich vorkam wie eine Fliege, die am Rand eines Vulkankraters saß, übertraf sie noch bei weitem. Den Furchen nach zu urteilen, die die Talsole durchzogen und die zur Mitte hin immer tiefer wurden, den Kessel wie ein gewaltiger Canyon teilten, musste dieser seltsame Planet vor Aeonen geborsten sein. Offenbar hatte sich hier eine Katastrophe von kosmischen Ausma ßen abgespielt, und der Wanderer war sicher, dass die Grah’tak da mit zu tun gehabt hatten. Deshalb auch die Felsentürme und Stalag miten, die aussahen wie erkaltetes Gestein – nichts anderes waren sie. Sie bestanden aus flüssigem Magma, das einst in die Schwärze des Alls hinausgeschleudert worden war, als diese Welt bis ins Mark geborsten und dann erstarrt war. Irgendetwas musste diesem Planeten widerfahren sein. Etwas hatte ihn mit solcher Wucht getroffen, dass es sein Innerstes nach außen gestülpt hatte, vor Millionen von Jahren. Etwas Böses. Etwas Schreckliches … Der Wanderer konnte nicht verhindern, dass ihn leiser Schauder erfasste. Was ist hier geschehen? Was hat diese Welt so verwüstet? Ich fühle, dass ich einem weiteren Geheimnis auf der Spur bin – aber wieder einmal weiß ich nicht, ob ich die Wahrheit wirklich wissen will. Ich habe Angst, daran zu verzweifeln. Was kann ein einzelner Wanderer mit einem Lux gegen etwas wie dies hier ausrichten? Erst jetzt registrierte der Wanderer die vielen tausend Gestalten, die sich dort unten in der Talsohle bewegten. Sklaven.
Arbeiter, die zwischen den Geröllhalden, den schroffen Felsentür men und den kilometertiefen Spalten unterwegs waren und mit primitiven Werkzeugen das Gestein bearbeiteten. Minensklaven, dämmert es Torn. Dieser Planet ist eine verdammte Minenkolonie! Fragt sich nur, was die Grah’tak hier abbauen, das ihnen so wichtig ist … So weit der Wanderer das Tal überblicken konnte, so weit sah er auch Sklaven, die dort unten schufteten, bewacht von Aufsehern, deren glühende Augen im Halbdunkel blitzten. Der beständige Klang von Werkzeug, das auf Gestein hämmerte, lag in der von Gift durchsetzten Luft, dröhnte von den Felswänden wieder, die das Tal in unvorstellbarer Höhe umschlossen. Eine grausige Szenerie. Was würden die Lu’cen sagen, wenn sie von diesem Ort erfuhren? Wenn es mir überhaupt je gelingt, wieder von hier zu entkommen … Dem Wanderer war die in dunklen Purpurtönen schimmernde Barriere, die die Senke umgab, nicht entgangen – eine Energiemau er, die den Kessel umgab und dafür sorgte, dass die Sklaven ihm nicht entfliehen konnten. Wer es doch versuchte, wurde der wenigen Lebensenergie beraubt, die ihn noch erfüllte. Und der Wanderer bezweifelte nicht, dass diese Barriere auch für ihn ein Hindernis darstellen würde. Zweimal schon war die Plasmarüstung durch das Kha’tex ge schwächt worden. Die Frage war, wie viel negative Aura das Plasma noch würde neutralisieren können, ohne selbst dabei Schaden zu nehmen. Torn zögerte. Während sich der Zug der Sklaven fortsetzte und die Grah’tak ihre Opfer den steilen Weg hinabtrieben, der in engen Windungen hinunter zur Talsohle führte, überlegte der Wanderer fieberhaft, wie er dieser sicheren Falle entkommen konnte.
Sollte er fliehen? Widerstand leisten? So tun, als ob seine Energie erloschen wäre? Der letzte Gedanke bot durchaus Aussicht auf Erfolg, zumal die Sklaventreiber einem Sklaven, der zurückblieb, wenig Bedeutung beimaßen. Im nächsten Moment entdeckte der Wanderer jedoch etwas, das alles änderte. Jenseits der Barriere erblickte er ein bekanntes Gesicht unter den Sklaven – Mark Spencer! Also doch! Sie haben den Jungen von der Erde entführt und nach Krigan gebracht. Sie haben ihn dieser teuflischen Maschinerie unter zogen und seine Seele aus seinem Körper vertrieben, haben seinen Geist in Krigan gefangen gesetzt, während sein Körper hierher ge schickt wurde, in diese Strafkolonie am Ende des bekannten Omni versums. Er ist hier! Und vielleicht habe ich doch noch eine Chance, ihn zu retten … Damit stand für den Wanderer fest, was er zu tun hatte. Er würde sich weiter als Sklave tarnen und sich mit all diesen be mitleidenswerten Gestalten inhaftieren lassen. Danach würde er ver suchen, in Mark Spencers Nähe zu bleiben und ihn aus dieser Hölle herauszuholen … Während die Sklaventreiber weiter brüllten und ihre Peitschen schwangen, ließ Torn Marc Spencer nicht mehr aus den Augen. Natürlich wusste er, dass dies nur der Körper Spencers war, dass sein Geist nicht hier, sondern in Krigan weilte. Doch wenn es auch nur die geringste Chance gab, das beides sich wieder vereinen ließ und er seinen Auftrag, Mark Spencer zurück zur Erde zu bringen, erfüllen konnte, dann wollte der Wanderer sie nutzen. Niemals aufgeben! Weiterkämpfen bis zum Ende! Das hatte ihm Cu
stos, sein weiser Lehrer und Waffenmeister, beigebracht. Wenn wir aufgeben, werden die Grah’tak triumphieren … Sie näherten sich der Barriere. Gleichmütig durchschritten die Sklaven den Vorhang, der aus einem matten, dunklen Schimmern bestand, über das purpurfarbene Blitze zuckten. Für Torn hatte es den Anschein, als würde das Durchschreiten der Barriere die Gefangenen weitere Kraft kosten. Nicht wenige von ih nen brachen zusammen, sobald sie sie durchquert hatten, schlepp ten sich nur mühsam weiter. Dann war die Reihe an dem Wanderer. Die Sklaventreiber brüllten ihn an und schwangen ihre Peitschen, feindselige Augen blitzten ihn an. Er durfte nicht zögern, musste einfach weitergehen, um keinen Verdacht zu erregen. Torn konzentrierte sich, sammelte seine ganze Kraft. Das Plasma der Rüstung durfte nicht fluktuieren, er müsste seine menschliche Gestalt um jeden Preis bewahren, sonst war seine Tar nung erledigt – und er mit ihr. Der Wanderer schloss die Augen, versuchte, jenen ruhenden Pol tief in seinem Inneren zu finden, von dem die Meditationslehre der Wanderer sprach. Es gelang ihm nur teilweise. In dem Augenblick, als das Plasma der Rüstung und die negative Energie der Barriere aufeinander trafen, spürte er heftige Schmerzen, der ihn aus seiner Konzentration aufschrecken ließ. Der Moment des Übergangs schien Aeonen zu dauern. Kälte durchfloss den Wanderer, während er sich einzig und allein darauf konzentrierte, seine Tarnung zu bewahren. Als er die Barriere endlich hinter sich gelassen hatte, widerstand er der Versuchung, sich nach seinen Bewachern umzudrehen, die
draußen geblieben waren. Mit scheinbarer Gleichgültigkeit ging er weiter. Er hörte kein Geschrei und keine Alarmrufe, also war es ihm offenbar geglückt, diese Hürde unentdeckt zu nehmen. Weitere Sklaventreiber, die ringsum auf den schroffen Felsen standen und ihre Dämonenpeitschen schwangen, nahmen die Skla ven in Empfang. Heisere Befehle wurden gebrüllt, die Gefangenen mit wüsten Flüchen bedacht, die hier, auf dieser düsteren, feindse ligen Welt nur zu leicht wahr werden konnten. Der Wanderer kümmerte sich nicht um sie. Sich in der Masse der Sklaven verbergend, die durch die Barrierie re drängten, huschte er zur Seite und verschwand hinter einem der Felsen. Einer der Sklaven, der ihm hinterher sah, tat es mit leeren, ausdruckslosen Blicken. Er würde ihn nicht verraten … Rasch wandte sich Torn in die Richtung, in der er Mark Spencer zuletzt gesehen hatte. Im Augenblick des Durchschreitens der Bar riere hatte es sich nicht vermeiden lassen, den Blickkontakt zu un terbrechen. Der Wanderer hoffte nur, dass Spencer noch dort sein würde, wo er ihn … Dort war er! Torn sah ihn am Fuß eines der zerklüfteten Felsen stehen, einge reiht in die endlose Schlange der Sklaven, die weiter hinab in den Talkessel stieg, mit unbekanntem Ziel. Der Wanderer mied es, von den Wachen gesehen zu werden. Kurzerhand reihte auch er sich in die Schlange ein, unmittelbar hin ter Mark Spencers seelenlosen Körper. Torn fühlte Bedrückung. Oft schon hatte er sich gefragt, was für eine Art Wesen er war – kein Mensch mehr, aber auch kein Lu’cen, wenig mehr als ein Geist, der einen Körper aus Plasma besaß. Doch in diesem Moment, als er im Gleichschritt mit den Sklavenkörpern hinab in die zerklüftete Landschaft des weiten Kessels stieg, wurde ihm klar, dass er die einzige Seele weit und breit war.
Die einzige Seele auf dieser schrecklichen, erstarrten Welt … Der Marsch der Sklaven führte hinab in zerklüftete Niederungen, in die kaum Licht fiel. Dennoch fanden sie ihren Weg, setzten automatenhaft einen Fuß vor den anderen. »Spencer?«, fragte Torn halblaut. »Mark Spencer?« Er erhielt keine Antwort. Natürlich nicht. Dort vor ihm schritt nur ein seelenloser Körper durch die dunkle Landschaft – Mark Spencers Seele war weit entfernt in Krigan gefangen. Obwohl der Wanderer keine Antwort erwartet hatte, stieß er eine halblaute Verwünschung aus. Wie, bei allen Mächten, konnte es ihm gelingen, Spencer aus dieser Sklavenwelt zu befreien? Wie die meisten der Sklaven trug auch Mark Spencers Körper nur noch Fetzen am Leib. Die Überreste dessen, was einst ein vornehmer Anzug gewesen sein mochte, bedeckten Teile seiner dunklen Haut. Sein Oberkörper war fast nackt und mit blutigen Striemen überzo gen, die von den Peitschen der Bewacher herrührten. Immer wieder tauchten die gedrungenen Sklavenmeister zu beiden Seiten des Pfades auf, standen auf den kargen Felsen und schlugen mit ihren Peitschen zu, hieben wahllos in die Menge. Die Sklaven, die mit Werkzeugen verschiedener Art ausgerüstet waren – Torn sah primitive Schaufeln, Hacken und Hämmer – dachten nicht daran, sich zur Wehr zu setzen. Alleine mit ihrer Masse hätten sie ihre Sklaventreiber jederzeit leicht besiegen können. Torn schätzte, dass auf einen Grah’tak unge fähr zwanzig Sklaven kamen. Aber die Körper, die von keinem eigenen Willen mehr beseelt wurden, waren nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Ohne Widerstand ließen sie alles mit sich geschehen, was ihre grausamen Häscher ihnen antaten.
Der Marsch führte durch eine schmale Schlucht. Längst schon hatten sie den Sichtkontakt zu anderen Sklaven verloren. In der un ermesslichen Weite dieses gewaltigen Kessels aus erkaltetem Fels gab es unzählige Klüfte und Spalten, und nur die Grah’tak schienen sich hier auszukennen. Am Ende der Schlucht, die sich unerwartet zu einer von steilen Felswänden umgebenen Senke öffnete, erwartete Torn eine weitere Überraschung. Es war ein Lager, vielleicht das Basiscamp dieser Abteilung von Sklaven, das zwischen turmhohen Mauern aus schroffem Fels er richtet worden war. Bewaffnete Grak’ul-Posten säumten die Klippen und sorgten dafür, dass niemand von diesem tristen Ort entkom men konnte. Das Lager selbst bestand aus wenig mehr als einer weiten Platte aus glattem, kaltem Stein, auf dem die Sklaven lagerten, die gerade keine Schicht hatten. Auch wenn es keine Seelen mehr gab, die den Körpern der Gefangenen innewohnten, mussten die Sklaven doch hin und wieder ruhen, um ihre Arbeitskraft zu erhalten. Torn wusste, dass die Grah’tak ihnen das nicht aus Menschlichkeit zugestanden, sondern weil die Notwendigkeit es erforderte. In der Mitte des Lagers loderte eine Rauchsäule in den grünlich schimmernden Himmel. Ein Feuer schien in einer Grube zu brennen, über dem ein großer Kessel mit einer stinkenden Flüssig keit hing. Davor hatte sich eine Schlange aus Hunderten von Skla ven gebildet, die nur eines zu wollen schienen. Nahrung … Wäre der Wanderer ein Mensch gewesen, hätte ihn Übelkeit befallen, als der Geruch in seine Nase stach. So begnügte er sich da mit, vor Abscheu das Gesicht zu verziehen, während die übrigen Sklaven den bestialischen Gestank nicht einmal zu bemerken schienen. Einige der Sklavenmeister bellten heisere Befehle, und die neu hin
zugekommenen Gefangenen stellten sich ebenfalls an der Essens ausgabe an. Torn achtete darauf, in Mark Spencers Nähe zu bleiben. Er behielt ihn im Auge, während sich der Sklaventrupp dem Zentrum der Senke näherte, dorthin, wo mehrere der Sklaventreiber mit gewaltigen Löffeln in der dunklen, stinkenden Suppe rührten, die im Kessel brodelte. Der Geruch war widerlich. Angeekelt fragte der Wanderer sich, was die Grah’tak den Sklaven zu essen geben mochten, um ihre Stärke und Arbeitskraft zu erhalten. Die Antwort übertraf seine schlimmsten Vorstellungen. Der Reihe nach passierten die Sklaven den Kessel, aus dessen Tiefen immer neue Portionen einer Suppe herausgehebelt wurden. Es war eine grünliche, trübe Flüssigkeit, die nach Fäulnis und Verwesung stank und Torn in seinem Innersten erschaudern ließ. Mark Spencer war vor ihm an der Ausgabestelle. Ein Grak’ul drückte ihm eine schäbige Schale aus Metall in die Hand, worauf der Sklavenmeister ihm aus dem Kessel austeilte. Die Augen des Wanderers weiteten sich vor Entsetzen, als er ein Auge in der trüben Suppe schwimmen sah. Ein menschliches Auge … Verdammter Mist! Wohin bin ich geraten? Was für ein Vorhof der Hölle ist das hier? Ich hasse die Grah’tak, ich hasse diese elenden, grausamen Bestien! Ich hasse sie … Alles in Torn sträubte sich, doch im nächsten Moment gab der Grak’ul auch ihm ein Gefäß, und auch der Wanderer bekam eine Portion von der Suppe ausgeteilt, von der er jetzt nur zu genau wusste, wie sie entstand. Das also geschieht mit den Körpern derer, deren Lebensenergie erschöpft ist, dachte er schaudernd. Obwohl er hartgesotten war und schon vieles gesehen hatte, das
einen Menschen schlicht um den Verstand gebracht hätte, wandte sich der Wanderer ab. Es war grässlich zu sehen, wie diese Sklaven, die einmal menschli che Wesen gewesen waren, von den Grah’tak dazu genötigt wurden, eine niederste Existenz zu fristen, ohne eigenen Willen und ohne Würde, als Kannibalen ihrer eigenen Art. Angewidert warf Torn das Gefäß mit der Flüssigkeit von sich. Selbst wenn ihn einer der Sklaventreiber dabei gesehen hätte – in diesem Moment wäre es ihm egal gewesen. Sein Innerstes verkrampfte sich vor Abscheu, namenloser Zorn erfüllte ihn. Und er schwor sich, dass die Grah’tak bezahlen würden für das, was sie den Menschen angetan hatten. Ihnen und allen anderen Sterblichen, die in diesem Todeskessel gefangen waren … Während sich die anderen Sklaven erschöpft niederließen und von ihrer Ekel erregenden Mahlzeit aßen, wandte sich der Wanderer ab. Übelkeit stieg in ihm empor, die Erinnerung an ein sehr menschli ches Gefühl. Wäre er noch ein Mensch gewesen, hätte er sich über geben. Vielleicht hätte er sich dann wohler gefühlt. So blieb dieses schale Gefühl, Mitwisser von etwas geworden zu sein, das entsetzli cher war als alles, was er sich hatte vorstellen können. Ziellos irrte der Wanderer durch das Lager. Hier und dort lagen Sklaven, erschöpft von ihren Arbeitsschichten. Torn sah Menschen und Bewohner anderer Welten, sah Männer und Frauen. Viele von ihnen waren fast nackt. Die eisige Kälte sorgte da für, dass sie am ganzen Körper Frostbeulen bekamen, doch in ihrer Gleichgültigkeit kümmerten sie sich nicht darum. Dies ist wirklich der Vorhof zur Hölle. Das sind keine Menschen mehr, nur noch leere Hüllen. Ihre Gleichgül tigkeit erschreckt mich, und unwillkürlich frage ich mich, ob sie nicht besser dran wären, wenn ihre traurige Existenz endete … Der Wanderer mahnte sich zur Ruhe. So entsetzlich das sein mochte, was er hier sah, er durfte sich davon nicht ablenken lassen.
Er hatte eine Mission zu erfüllen, und diese Mission besagte, Mark Spencer zu retten und zurück zur Erde zu bringen. Gerade wollte der Wanderer kehrt machen und zu seinem Schütz ling zurückkehren, als er plötzlich etwas sah. Etwas, das ihn jäh aus der inneren Starre und Lethargie riss, die sich auch bei ihm breit ge macht hatte. Es war ein weiteres bekanntes Gesicht, das er in der Menge der Sklaven erblickte. Es gehörte einer jungen Frau … Zuerst glaubte der Wanderer, einer Täuschung erlegen zu sein, hielt es für eine jener Wahnvorstel lungen, die ihn seit jenem schrecklichen Tag heimsuchten. Doch als er stehen blieb, um sich mit einem zweiten Blick zu vergewissern, sah er, dass seine Sinne ihn nicht getrogen hatten. Diese Frau, die dort zusammen mit anderen Gefangenen am Boden kauerte … Sie sah aus wie Callista!
* Ihre Züge waren ausgemergelt, und von der Schönheit, die sie einst beseelt hatte, war nur noch wenig zu sehen, ihr Haar war struppig und kurz geschnitten, ihr ledernes Kleid hing in Fetzen. Aber sie war es – oder sah ihr zumindest auf frappierende Weise ähnlich. Der Wanderer stand da wie vom Donner gerührt. Ist das wirklich möglich? Sehe ich das wirklich oder träume ich das nur? Hat mein Verstand kapituliert angesichts all dieser Schrecken? Ungläubig riskierte Torn einen zweiten und einen dritten Blick. Doch jene Frau, die seiner verlorenen Geliebten auf so auffällige Weise ähnlich sah, verschwand nicht, löste sich nicht einfach in Luft
auf, wie Trugbilder das zu tun pflegten. Sie blieb – und mit ihr die Überzeugung, dass diese Frau Callista war … Aber wie ist das möglich? Ich habe Callista in den Wäldern be graben, in denen sie von den Grah’tak ermordet wurde. Sollten die Grah’tak ihren Körper geraubt haben? War der Hinweis, den ich in Krigan erhalten habe*, vielleicht doch keine falsche Spur? Ist ihr Geist tatsächlich dort gefangen …? Unzählige Fragen stürmten auf den Wanderer ein, während er nur dastand und fassungslos auf die junge Frau starrte, die zwanzig Me ter von ihm entfernt inmitten eines Pulks von Sklaven kauerte. Ihre Miene war unbewegt, ihre Augen ausdruckslos wie die der anderen Gefangenen. Für einen kurzen Moment hob sie ihren Blick, und er traf sich mit dem von Torn. Doch kein Zeichen des Erkennens huschte über ihre Miene, nichts war zu spüren von jener inneren Übereinstimmung, mit der sie sich einst als verwandte Seelen erkannt hatten. Doch was bedeutete das schon in einer Welt wie dieser? Ich brauche Gewissheit! Ich muss wissen, ob sie es wirklich ist … Wenn sie es ist, muss es Spuren ihrer Verwundung an ihrem Körper geben. Die Lanze des Schwarzen Ritters hatte sie durchbohrt. Das ist der letzte Be weis, den ich brauche … Wie in Trance wollte sich der Wanderer in Bewegung setzen, um das Unvorstellbare zu überprüfen, als plötzlich ein dumpfer, grau samer Ton erklang. Hoch oben auf einem der Felsen stand ein Sklavenmeister, der in ein großes, bizarr geformtes Horn stieß. Der Ton, der sich daraus entrang, ließ die Sklaven auf dem Platz zusammenfahren. Schlagartig sprangen sie auf, und ihre seelenlosen Körper be gannen sich zu bewegen, formierten sich zu Trupps und Zügen. Die nächste Schicht hatte begonnen … *siehe Torn Band 38: ›Am Fluss des Todes‹
»Verdammt, wartet«, knurrte der Wanderer, als plötzlich alle Skla ven, die eben noch lethargisch auf dem Boden gekauert hatten, auf sprangen und nach ihren Werkzeugen griffen. Auch die junge Frau, die er für Callista hielt … Mit Fäusten und Ellbogen bahnte er sich einen Weg durch die Menge der willenlosen Körper, um näher an sie heranzukommen, doch im nächsten Moment hatte er sie aus den Augen verloren. Verdammt, wo ist sie …? Suchend blickte sich Torn um, sah in Augen, die ihm starr und ausdruckslos entgegenblickten, in unbekannte Gesichter von ver schiedensten Welten. Die junge Frau jedoch sah er nicht … Ich habe sie verloren. Und auch von Mark Spencer ist weit und breit nichts mehr zu sehen. Unmöglich, ihn in diesem Durchein ander zu finden. Verdammt, ich habe versagt, habe meinen Auftrag vernachlässigt, weil ich … In diesem Moment sah er sie wieder. Callista! Oder die, die ihr so ähnlich sah. Zusammen mit einigen anderen Sklavinnen hatte sie ein großes, schweres Werkzeug geschultert, das an seinem Ende einen Fräskopf aufwies. Ein Sklavenmeister trieb sie mit hektischen Rufen an. Sofort wollte Torn lossprinten, um sich an ihre Fersen zu heften, als er plötzlich fühlte, wie ihn jemand an der Schulter packte und zurückhielt. Der Wanderer wirbelte herum, hatte die Hand schon an der Hüfte, um das Lux zu lösen und zu zünden. Er blickte in die hässlichen Züge eines Sklavenmeisters, der in der Dämonensprache nur ein einziges Wort zu ihm sagte. »Werkzeug!«, übersetzte der Translator der Plasmarüstung, und
verwirrt blickte der Wanderer auf den Hammer, der zu seinen Fü ßen lag und auf den der Grah’tak deutete. Die automatenhaften, starren Bewegungen der anderen Sklaven imitierend, hob der Wanderer das schwere Werkzeug auf und schulterte es, womit der Aufseher zufrieden zu sein schien. Dann gesellte sich Torn rasch zu den anderen Sklaven, die sich zum Arbeitszug formierten. Er konnte Callista und ihre Kameradinnen in der Menge ausma chen, versuchte, so nahe wie möglich an sie heranzukommen, wäh rend sich der Zug bereits in Bewegung setzte. Er wollte um jeden Preis in ihrer Nähe bleiben, wollte das Geheim nis ergründen, das sie umgab. War sie tatsächlich die, für die er sie hielt? Wenn ja, bestand noch eine Chance, sie zu retten? Sie ins Leben zurückzuholen? Der Gedanke war so kühn wie verwerflich. Torn wusste, dass es ihm verboten war, solche Dinge auch nur zu denken. Schon die Ver bindung mit einer Sterblichen war ihm untersagt gewesen, und er hatte es dennoch getan. Was die Lu’cen sagen würden, wenn sie hiervon erfuhren, wollte er lieber gar nicht wissen. Alles, was er wollte, war, das Geheimnis dieser jungen Frau ergründen. Er brauchte Klarheit, um jeden Preis. Seinen Auftrag, Mark Spencer zu finden und zu retten, hatte er darüber fast vergessen. Der Zug der Sklaven setzte sich in Bewegung, verließ die Senke durch eine schmale Schlucht, die sich noch tiefer in den schroffen Fels zu graben schien. Schon nach wenigen Schritten war es so dun kel, dass die Bewacher Fackeln entzünden mussten – Dämonenfa ckeln, deren fahles Licht die Schlucht mit unheimlichem Leuchten erfüllte. Unentwegt knallten die Peitschen der Bewacher, wurden
wüste Flüche ausgestoßen. Die Sklaven ließen es willenlos mit sich geschehen. Nur einer war unter ihnen, der von einem eigenen Willen beseelt wurde … Der Wanderer wusste nicht, wohin die Sklaventreiber ihre bedau ernswerten Gefangenen führten. Nur eines war ihm klar – dass er jene Frau, die seiner geliebten Callista auf so frappante Weise äh nelte, nicht aus den Augen verlieren durfte. Vorsichtig, sodass es den Sklavenmeistern nicht auffiel, die den Zug mit Argusaugen überwachten, näherte er sich ihr, arbeitete sich an sie und die anderen Sklavinnen heran. Ein hünenhafter Mar sianer, der neben ihm ging, brach plötzlich unter der Last der Werk zeuge zusammen, die er zu schleppen hatte. Torn widerstand der Versuchung, ihm zu helfen. Er durfte sich jetzt nicht verraten. Die Schlucht endete vor einem dunklen Schlund, dem Eingang zu einem gewaltigen Stollen, der tief ins Innere des Planeten zu führen schien. Die Stalagtiten, die vom hohen Stolleneingang herabhingen, ließen ihn wie das riesige Maul eines Monstrums erscheinen, der die Skla ven verschlang. Doch die Gefangenen bemerkten es nicht – ihre In dividualität, ihre Fantasie und ihre Vorstellungsgabe war in Krigan geblieben, wo sie langsam verblasste. Willenlos setzten sie ihren Marsch fort, hinein in den finsteren Stollen, der so hoch war, dass ein mehrstöckiges Haus mühelos dar in Platz gefunden hätte. Durch die gewaltigen Dimensionen fühlte sich Torn fast ein wenig an die Festung am Rande der Zeit erinnert, auch wenn ihm bewusst war, wie absurd dieser Vergleich war. Die Festung war ein Hort des Lichts, die letzte Bastion, auf der sich die Große Armada gegen das Heer des Bösen behauptet hatte. Dieser Ort hingegen war von Bosheit durchdrungen, war ein Stütz punkt der Grah’tak.
Noch immer wusste Torn nicht, worum es den Grah’tak an diesem Ort eigentlich ging, wozu sie die Heere von Sklaven benötigten, die sie aus allen Zeiten und Welten zusammentrieben. Aber er war si cher, dass er es bald erfahren würde. Im weiteren Verlauf verbreiterte sich der Stollen, teilte sich in eine Rampe, die die Sklaven beschritten, und eine tiefer gelegene Hälfte. Im Halbdunkel glaubte der Wanderer, dort unten Schienen zu er kennen – große, gewaltige Schienen von mehreren Metern Breite. Was immer darauf fuhr, es musste riesig sein … Dann kam es auch schon. Aus der finsteren Tiefe des Stollens hörte Torn ein Geräusch, ein dumpfes Grollen und Stampfen, das sich schwerfällig näherte. Die Sklaven gingen weiter. Dann wurden Lichter im Stollen sicht bar – nicht das künstlich erzeugte Licht von Scheinwerfern, sondern das organische, unheimliche Glühen riesiger dämonischer Augen. Rasch kam es näher, und mit ihm verstärkte sich das Grollen und Stampfen, bis es den Stollen mit infernalischem Lärm erfüllte. Die Sklaven reagierten nicht darauf. Weder zuckten sie zusammen noch hielten sie sich die Ohren zu. Auch dann nicht, als ihnen ein wahrer Sturm aus dem Dunkel des Stollens entgegenbrauste, ent fesselt von den Windmassen, die das riesige, unheimliche Etwas vor sich herschob, das dort aus dem Tunnel kam. Lethargisch gingen sie weiter, bis sich die Rampe mit ihnen gefüllt hatte. Und im nächsten Moment platzte das gewaltige Etwas aus der dunklen Tiefe des Stollens. Es war ein Rak’tres. Ein Dämonenzug. Eine gewaltige Lokomotive, aus deren Innerem infernalisches Schnauben und Stampfen drang, bildete die Spitze des wuchtigen Gefährts, das sich wie ein riesiger, metallener Wurm aus dem Stollen wand. Wie so viele Maschinen, derer sich die Grah’tak bedienten, war auch der Rak’tres halborganisch. Zwischen metallenen Platten aus
Brak’tar lugte hier und dort gepanzerte Haut hervor, böse Augen starrten aus der Bugverkleidung der Lokomotive, die die Form eines riesenhaften, kantigen Totenschädels besaß. Angetrieben wurde das Gefährt von der dämonischen Energie des Wesens, das in ihm hauste und mental gesteuert wurde. Mit den Furcht erregenden Crush’tar, die die Grah’tak als Kampfkolosse einsetzten, war der Wanderer bereits solchen dämonischen Ma schinen begegnet. Aber es war das erste Mal, dass er einen Rak’tres erblickte. Viel hatte er von diesen höllischen Fahrzeugen gehört, die schon in der alten Zeit dazu verwendet worden waren, Gefangene zu transportieren. Doch als er diesen stampfenden und schnaubenden Koloss, von dem pure, unverhüllte Bosheit ausging, nun vor sich sah, schüttelte sich Torn vor Grauen. Quietschend und schnaubend kam die Lokomotive zum Stillstand, stinkender, giftiger Dampf quoll aus Ventilen und organischen Öff nungen. Die Waggons, die der Triebwagen zog – wulstige Gefährte, deren Außenhaut mit Stacheln überzogen war –, öffneten ihre Tore, die wie klaffende Schlünde aussahen. Die Sklavenmeister schwangen ihre Peitschen, und erneut setzten sich die Sklaven in Bewegung, suchten das Innere der riesigen Wagen auf. Torn blieb bei ihnen. Zu sammen mit der Gruppe, zu der auch die junge Frau gehörte, ge langte er in einen der Waggons, in deren Innerem bestialischer Gestank herrschte. Es war so dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte, und der Wanderer konnte nur ahnen, wie es im Inneren der Wagen aussehen mochte. Immer mehr Sklaven wurden in die Wagen gepfercht, bis sie so gefüllt waren, dass sie fast zu bersten drohten. Zischend schlossen sich die Türen der Waggons, und mit einem heftigen Ruck setzte sich der Dämonenzug in Bewegung. Die Sklaven, die rings um Torn in der Dunkelheit standen, sagten
kein Wort. Kein Laut entrang sich ihren Kehlen, willenlos und ohne Teilnahme ließen sie alles mit sich geschehen. Beklemmung beschlich den Wanderer. Nicht nur, weil das Elend dieser Sterblichen ihn zornig und betroffen machte, sondern auch, weil er nicht wusste, wohin die Reise ging. Stampfend nahm der Rak’tres Fahrt auf. Ein Beben durchlief die Wagen, ein Stöhnen, das wie aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Es war kein Motor, der diesen Höl lenexpress antrieb, sondern böse Energie. Die negative Aura eines Wesens, das durch Kräfte, die Torn nicht verstand und auch nicht verstehen wollte, zu einer Maschine geworden war. Einer Maschine, die im Auftrag der Grah’tak ihren Dienst versah. Immer schneller wurde die Fahrt. Heftige Erschütterungen durch liefen die Wagen, während der Zug – wie Torn annahm – immer tiefer ins Innere des Planeten einfuhr. Der Stollen führte immer geradeaus, und obwohl die Schwerkraft anders war als auf der Erde, glaubte der Wanderer deutlich zu er kennen, dass die Fahrt steil in die Tiefe führte. Wie lange er so stand, eingepfercht unter den leeren Körpern der Sterblichen, konnte Torn später nicht mehr sagen. Während der ge samten Fahrt hoffte er, dass dieser elende Höllentrip endlich enden werde. Irgendwann war es so weit. Das Stampfen und Stöhnen, das aus den organischen Eingeweiden des Monsterzuges drang, verlang samte sich und ebbte ab. Bremsen quietschten, und wieder drang zischend Dampf aus irgendwelchen Öffnungen. Dann kam der Zug zum Stillstand. Es dauerte einen kurzen Augenblick, den die Sklaven in schweigender Starre verbrachten, dann wurden die Türen der Waggons erneut geöffnet, und fahles Fackellicht schien herein und blendete die Gefangenen. Im Gegen licht tauchten die bedrohlichen Silhouetten von Sklaventreibern auf, die schon wieder dabei waren, ihre Peitschen zu schwingen.
»Los, aussteigen, ihr faules Gesindel!«, hörte Torn sie brüllen. »An die Arbeit, los! Der Herr der Dämonen lässt euch nicht am Leben, damit ihr faul herumsitzt …« Der Herr der Dämonen … Torn nickte. Mathrigo wusste also von diesem Ort. Natürlich wusste er davon, schließlich hatte er sich zum Herrscher aller Grah’tak im Immansi um aufgeschwungen. Doch was verbirgt dieser Ort? Welchem Zweck dient das alles hier? Worauf bin ich gestoßen? Zusammen mit den anderen Sklaven verließ Torn den Waggon, hielt sich in der Nähe der Sklavinnen, die den Bohrkopf trugen. Die Höhle, in die sie gelangten, war noch um vieles riesiger als die, aus der sie abgefahren waren. Hätte dort ein Haus Platz gefunden, so hätte man hier eine ganze Kleinstadt unterbringen können. Unter einer gewaltigen Kuppel aus erstarrtem, dunklem Gestein erstreckte sich ein weites Gewölbe, an dessen Rändern unzählige Sklaven damit beschäftigt waren, den Fels mit Hämmern, Meißeln und Bohrern zu bearbeiten. Der metallische Klang ihrer Werkzeuge klang hundertfach von der hohen Decke wieder und erfüllte die Höhle mit ohrenbetäubendem Lärm. Dazwischen verkehrten end lose Züge von Trägern, die Körbe mit Gestein schleppten, und anderen, die Wagen mit klobigen Rädern zogen. »Los, Bohrer, an die Arbeit!«, kreischte der Sklavenmeister, der Torn am nächsten stand. Der Grah’tak schwang seine Peitsche, und das Dämonenleder zuckte durch die Luft und erwischte Torn am Rücken. Heftiger Schmerz durchzuckte den Wanderer, und bange fragte er sich, was ein solcher Hieb bei einem Menschen anrichten musste. Kein Wunder, wenn diese bemitleidenswerten Gestalten mehr tot
als lebendig waren … Schweigend formierte sich der Sklavenzug und marschierte hinaus in die Höhle. Offenbar kannte jeder Sklave genau den Ort, dem er zugeteilt war. Torn gab sich Mühe, sich so selbstverständlich wie möglich zu be wegen. Dabei blieb er stets bei der jungen Frau, die er für Callista hielt. Je mehr der Wanderer von der Höhle zu sehen bekam, desto be eindruckter war er. Dies war nicht nur eine Höhle – es war ein gewaltiges Bergwerk. Entlang der senkrecht aufragenden Wände, die das weite Felsen rund umgaben, waren Gerüste aufgestellt, auf denen die Sklaven standen. Fieberhaft versuchten sie, kleine Brocken von schimmern dem Gestein aus den dunklen Felsmassen zu brechen – eine schweißtreibende, beschwerliche Arbeit, die durch die giftigen Gase, die die Luft durchsetzten, noch zusätzlich erschwert wurde. Kein Wunder, dass die Grah’tak halb tote Sterbliche einsetzten, um sie hier für sich arbeiten zu lassen. Ein lebender, empfindender Mensch hätte es an diesem unerträglichen Ort niemals ausgehalten. Torn nahm das Gestein genauer in Augenschein, ließ die Sensoren der Plasmarüstung eine knappe Analyse vornehmen. Nach allem, was sie erkennen konnten, handelte es sich tatsächlich um erkaltetes Magma. Das bedeutete, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Irgendetwas war diesen Planeten vor langer Zeit zugestoßen – eine Katastrophe von kosmischen Ausmaßen, die diese Welt hatte bersten und ihr Inneres erkalten lassen. Seither raste er als lebloser Klumpen Gestein durchs All, dessen Inneres halb geöffnet war und den Grah’tak als Rohstoffbasis diente. Die Frage war nur, wofür … Der Marsch durch die Höhle schien eine Ewigkeit zu dauern. End
lich erreichte Callistas Trupp ihren Einsatzort, einen gewaltigen, schwenkbaren Bohrer, der metertiefe Löcher in den Fels trieb. Auch hier gab es organische Elemente, mit denen die Apparatur versetzt war, und Torn zweifelte nicht daran, dass es die Energie jener war, die es bedienten, die dieses Werkzeug antrieb. Callista und die anderen Sklavinnen nahmen den Bohrkopf, den sie mit sich führten, und tauschten ihn aus. Dann machten sie sich daran, die Schicht zu übernehmen und das Gerät zu besetzen. Kaum hatten sie an den Bedienungselementen Platz genommen, schienen sie völlig unter dem Bann der Apparatur zustehen, die sie aussog und ihnen ihre verbliebene Lebensenergie nahm. Überall auf den Gerüsten und in den kleinen Stollen, die aus der Höhle abzweigten, wurde die Schichtablösung vorgenommen. Wäh rend die einen Sklaven automatenhaft zur Arbeit übergingen, ließen die anderen nicht weniger automatenhaft davon ab. Es war eine Ablösung, die in aller Stille vor sich ging und ohne dass das allgegenwärtige Hämmern auch nur einmal aussetzte. Der Übergang war nahtlos, die Sklavenmeister schienen alles genau ge plant zu haben. Und unwillkürlich fragte sich Torn, wie viele sol cher Höhlen es auf dieser finsteren Welt geben mochte. Der Wanderer bestieg eines der Gerüste, von dem aus er die Skla vinnen im Auge behalten konnte. Sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, wollte er sich die Frau, die Callista so ähnlich sah, aus der Nähe ansehen. Dann endlich würde er Gewissheit haben … Von der anderen Seite der Höhle war plötzlich ein lautes Geräusch zu hören – ein Zischen und Bersten, gefolgt vom aufgeregten Ge schrei der Aufseher. Torn fuhr herum, sah, wie eines der Gerüste wankte, während aus der Felswand darüber ein Strahl von giftig grünen Dämpfen aus dem porösen Gestein schoss. Offenbar waren die Sklaven auf eine Gasblase gestoßen …
Einige der Arbeiter wurden von den Dämpfen erfasst und stürzten vom Gerüst, das dadurch noch mehr ins Wanken geriet. Eine Se kunde später stürzte es mit infernalischem Krachen in sich zu sammen und begrub die meisten der Sklaven unter sich, die darauf gearbeitet hatten. Die Sklavenmeister tobten. Wie von Sinnen brüllten sie und schlugen auf jene ein, die das zweifelhafte Glück gehabt hatten, dem Einsturz zu entgehen, trieben sie dazu an, das Gerüst sofort wieder aufzustellen. Um jene, die bei dem Unglück zerschmettert worden waren, küm merte sich niemand. Die Grah’tak nicht und auch nicht die Men schen … Voll Bitterkeit setzte Torn seinen Hammer an und schlug auf die Felswand ein, ließ seine Wut und seine Frustration an ihr aus. Fun ken stoben, als das Metall auf das Gestein traf, und unter den Bro cken, die nach allen Seiten wegflogen, kam eine dunkle metallische Ader zum Vorschein, die alles Licht zu schlucken schien. Das also war es, worum es den Grah’tak zu gehen schien. Aber was war es? Wozu diente es? Was war das Geheimnis dieser schrecklichen Welt, auf der die Sklavenmeister der Grah’tak bei weitem nicht die einzige Gefahr zu sein schienen? Wie um den letzten Gedanken des Wanderers zu bestätigen, gab es plötzlich einen weiteren Zwischenfall. Das Geräusch des Bohrers, der sich mit infernalischem Lärm in den Fels gefressen hatte, erstarb plötzlich. Torn fuhr herum, als er Callista und die anderen Sklavinnen plötz lich aufspringen sah. Fluchtartig verließen sie die Bedienungs elemente der Apparatur, und zur Verblüffung des Wanderers hin derten die Sklaventreiber sie nicht daran.
Im Gegenteil – auch die Grah’tak ergriffen plötzlich die Flucht. »Verdammt, was …?« Die Antwort erfolgte eher, als Torn recht sein konnte. Ein kurzes Beben durchlief den Fels, gefolgt von einem lang gezo genen Schrei, der dem Wanderer durch sein Innerstes ging. Im nächsten Moment geschah es. Dort, wo sich der Bohrkopf mehrere Meter tief in den Fels ge schnitten hatte, durchzogen plötzlich Sprünge das Gestein, das einen Sekundenbruchteil später barst. Trümmer flogen nach allen Seiten und ereilten einige der fliehenden Sklaven. Und aus dem Dunkel der entstandenen Öffnung quoll etwas her vor, das Torn entsetzt als lebende, atmende Kreatur erkannte. Der Wurm, der sich aus der Öffnung wälzte, war riesig. Er mochte einen Meter im Durchmesser besitzen und an die fünfzehn Meter lang sein. Sein wulstiger Körper bestand aus Ringsegmenten, die ge panzert und mit Stacheln bewehrt waren. Sein Kopf besaß keine Augen, dafür zwei Paar Fühler, mit denen er sich vorantastete, und zwischen denen ein kreisrundes Maul klaffte. Zwei Reihen rasier messerscharfe Zähne zermahlten den Fels. »Steinwurm! Steinwurm!«, hörte Torn die Sklavenmeister entsetzt rufen, und auf den umliegenden Gerüsten ergriffen die Sklaven die Flucht. Offenbar hatte ich auch hier Recht – die Grah’tak sind nicht die einzige Gefahr auf diesem Planeten … Mit atemberaubender Schnelligkeit stürzte der Wurm aus der Öff nung, krachte dabei auf den Bohrer, der unter der Körpermasse des Untiers zusammenbrach. Die Sklaven wichen entsetzt zurück, während das Monstrum einen grässlichen Schrei von sich gab. Dann stürzte es sich auf die Kreatur, die ihr am nächsten stand – kein Sklave, sondern ein Aufse her.
Die rotierenden Zahnreihen der Bestie bissen ohne Zögern zu. Der Sklavenmeister, der starr vor Schreck dagestanden und zu der Kreatur aufgeblickt hatte, verschwand bis zur Körpermitte in ihrem grässlichen Schlund. Als das Monstrum von ihm abließ, standen nur noch die Beine des Grah’tak da, die im nächsten Augenblick blub bernd zu Schleim zerfielen. Torn verkniff sich jede Schadenfreude. Nicht, dass er mit dem Sklavenmeister Mitleid gehabt hätte, der noch vor wenigen Minuten ruchlos unschuldige Menschen in den Tod gepeitscht hatte. Doch jeder Triumph verbot sich, denn im nächsten Moment nahm der Steinwurm Kurs auf eine Gruppe Sklaven, die sich Schutz su chend aneinander drängten. Furcht konnten ihre leeren Körper nicht empfinden, doch die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass von diesen Monstren ein jähes und schreckliches Ende drohte. Und was den Wanderer noch mehr entsetzte – die junge Sklavin, die er für Callista hielt, stand in der vordersten Reihe! »Nein!«, brüllte Torn aus Leibeskräften. Er hatte nicht die Hölle durchlebt, war nicht bis hierher gekom men, um mit anzusehen, wie diese Frau einen grässlichen Tod starb, wie sie vor seinen Augen von einem Monsterwurm zerfleischt wurde. Niemals! Und wenn es bedeutete, dass er seine Tarnung aufgeben musste … Mit einem Satz sprang der Wanderer vom Gerüst. Weich landete er auf dem Boden und rollte sich ab, stand sofort wieder auf den Beinen. Der Wurm hatte die Sklaven jetzt fast erreicht, die nicht mehr wei ter zurück konnten, weil sich ihre Peitschen schwingenden Herren hinter ihnen versteckten. Offenbar wollten die Grah’tak lieber ein paar Sklaven opfern, um den Appetit der Bestie zu stillen, als ihr
selbst zum Opfer zu fallen. Torns Zorn paarte sich mit Verzweiflung. Er sah, dass das Monster nur noch wenige Meter von der Sklavin entfernt war, und er sah auch, dass sie keine Chance hatte, ihm zu entkommen. Entweder, er handelte, oder sie würde einen grausamen Tod sterben. Doch wenn er handelte, würde er sich dadurch verraten … Der Wanderer zögerte einen kurzen Moment. Einen Herzschlag lang, in dem das Unvorstellbare geschah. Die Sklavin, die seiner verloren geglaubten Callista so ähnlich sah, blickte zu ihm herüber. Ihre Blicke trafen sich, und für einen kurzen und dennoch endlos scheinenden Augenblick schien sich die alte Vertrautheit darin zu spiegeln. Eine Erinnerung an das, was gewesen war … »Callista«, stieß Torn atemlos hervor. Es gab kein Halten mehr. Das Lux flog wie von selbst in seine Hand, und der Wanderer be gann zu laufen. »Hierher, du verdammtes Scheusal! Komm hierher!« Er schrie laut, um die Aufmerksamkeit des Wurms auf sich zu len ken – verfügte diese Bestie überhaupt über ein Gehör? –, während er im Laufen das Lux zündete. Die blendend blaue Klinge stach aus dem Griff, und während der Wurm sein wehrloses Opfer fast erreicht hatte, katapultierte sich der Wanderer auf seinen monströsen Gegner zu. »Hier, du verdammtes Scheusal!«, rief er. Mit einem halsbrecherischen Sprung beförderte sich Torn durch die Luft und landete auf dem wulstigen, stachelbewehrten Rumpf der Bestie, unmittelbar hinter ihrem Kopf.
Zischend kreiselte das Lux in seiner Hand herum und stach herab, durchtrennte zwei der Fühler. Jetzt hatte der Wanderer die ganze Aufmerksamkeit des Mons trums. Mit einem schrillen Kreischen bäumte sich die Kreatur auf und warf Torn von ihrem Rücken. Der Wanderer stürzte und rollte sich ab. Doch noch ehe er sich wieder auf die Beine raffen konnte, bemerkte er den monströsen Körper der Kreatur bereits wieder über sich, sah die rotierenden Zahnreihen, die auf ihn zuschossen. Blitzschnell rollte sich Torn zur Seite. Der schwerfällige Angriff der Kreatur ging ins Leere, und der Wanderer hatte Zeit genug, wieder auf die Beine zu springen. Als das mächtige Haupt der Bestie erneut herumpendelte, um anzugreifen, war der Wanderer darauf vorbereitet. Er duckte sich, wich der Attacke aus und brachte im gleichen Moment einen Stoß mit dem Lux an. Zischend fraß sich die Klinge des Lichts durch die Panzerung des Wurms, drang jedoch nicht tief genug, um ihn ernsthaft zu verletzen. Die Kreatur gab ein Geräusch von sich, das wie ein verächtliches Schnauben klang. Dann bäumte sie sich plötzlich auf, sodass die vordere Hälfte ihres voluminösen Körpers den Wanderer turmhoch überragte. Torn sprang hin und her und versuchte das Monstrum zu verwir ren, dessen Taktik darin zu bestehen schien, ihn unter seinem sta cheligen und gepanzerten Leib zu begraben. Und da diese Kreatur Abkömmling einer dämonischen Welt war, zweifelte der Wanderer nicht daran, dass sie dazu auch im Stande war. Er musste rasch handeln. Per Gedankenbefehl verwandelte er die Klinge in seiner Hand in
den vierstrahligen Stern des Lichts, den er im nächsten Moment warf, noch ehe sich der Wurm dazu entschieden hatte, in welche Richtung er seine Körpermasse werfen wollte. Fauchend und rotierend stieß das Lux fast senkrecht hinauf, fegte haarscharf am Kopf der Kreatur vorbei und durchtrennte die beiden verbliebenen Fühler, die witternd um sich tasteten. Der Schrei, der sich aus dem Inneren des Steinwurms entrang, war fürchterlich. Jetzt war das Monstrum seiner Sinne beraubt, konnte nicht mehr erkennen, was in seiner Umgebung vor sich ging. Gefährlich war es jedoch noch immer. Blindlings ließ sich der Wurm zu Boden fallen, dorthin, wo Torn im letzten Moment noch gestanden hatte. Der Wanderer wich der Attacke aus, und der tonnenschwere Körper des Monsters donnerte neben ihm zu Boden. Im nächsten Moment kehrte das Lux zurück. Der Wanderer fing die Waffe auf. Noch während er sie in seiner Hand herum wirbelte, verwandelte er sie wieder in eine einzelne Klinge, die er mit vernichtender Wucht in den Nacken der Bestie rammte. Der Steinwurm zuckte zusammen, sein Kreischen ging in ein schrilles Heulen über. Noch einmal stieß der Wanderer zu, zerrte die Klinge ein Stück längs am Körper der Bestie entlang, worauf die Panzerung barst und dunkle, stinkende Eingeweide aus dem Inneren des Wurms hervorquollen. Noch einmal zuckte das Monstrum. Dann blieb es reglos liegen. Einen Augenblick lang herrschte Stille in der Höhle, starrten alle fassungslos auf den erschlagenen Wurm und Torn, der noch immer wie ein Sklave aussah, aber die gleißende Klinge des Lux in seiner
Hand hielt. Torn eilte zu der Sklavin, deren Leben er gerettet hatte. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Er erhielt keine Antwort. Dafür sah er die Narbe unter ihrem Kleid, das in Fetzen hing. Die Narbe, die von einer Lanze zeugte, die ihre Brust durchbohrt haben musste … »Callista?« Erneut keine Antwort – nicht einmal das Aufflackern einer Erinne rung. Wie auch? In diesem Körper war kein Geist, der sich erinnern konnte … In nächsten Augenblick endete die Lethargie, in die sowohl die Sklaven als auch ihre Meister verfallen waren, und Chaos brach aus. »Ein Feind! Ein Feind!«, hörte der Wanderer die Sklaventreiber kreischen, und mit knallenden Peitschen stürmten sie auf ihn ein, während gleichzeitig Horden von Grak’ul heraneilten, die als Wachtposten in der Höhle aufgestellt waren. Torn, der sich schützend vor Callista stellte, erwartete sie mit lo derndem Lux. Der erste Sklaventreiber fand ein jähes Ende, als die Klinge des Lichts seinen gedrungenen Körper durchbohrte. Der zweite begriff nie, was mit ihm geschah, als das Lux mit schrecklicher Wucht sein Haupt von seinem Körper trennte. Fauchend vor Wut drängten die Sklavenmeister und Grak’ul her an, doch das unentwegt kreisende Lux des Wanderers hielt sie auf Distanz. Immer wieder zuckten Peitschen vor und unternahmen ge bogene Dämonenklingen einen Versuch, seine Deckung zu durch dringen, doch Torn war auf der Hut, und jeder Versuch, ihn zu überwältigen, war für den Angreifer ein tödliches Unterfangen. Plötzlich erklang lautes Geschrei, und von der anderen Seite der Höhle eilten noch mehr Grak’ul-Wachen herbei, die nicht nur kurze
Klingen, sondern lange Speere bei sich trugen. Verdammt … Wieder zuckte Torns Klinge vor und schickte einen der Angreifer ins ewige Verderben. Doch was nützte das angesichts der erdrückenden Übermacht, die sich gegen ihn zusammenballte? Schon war die Zahl der Grak’ul, die aus allen Teilen der Höhle zu sammenströmten, nicht mehr zu zählen. Mit ihrer Masse würden sie ihn überrennen, daran bestand kein Zweifel. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, diese Sklaven dazu zu bringen, sich zur Wehr zu setzen. Wenn sie sich gegen ihre Peiniger erheben würden, hätten wir leichtes Spiel … Doch unter den Sklaven regte sich kein Widerstand. Die meisten von ihnen schienen sich nicht einmal für den Kampf zu interessieren. Nachdem der Steinwurm getötet und die Gefahr gebannt war, schulterten sie gleichgültig ihre Werkzeuge und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. In anderen Teilen der Höhle hatten sie über haupt nicht damit aufgehört. Eine neue Welle von Angreifern brandete heran. Torn führte das Lux in einem weiten Halbkreis, erwischte zwei Grak’ul mit einem einzigen Streich. Fauchend brachen die Dä monenkrieger zusammen. Ein Dritter setzte jedoch nach und stach mit seinem Speer zu. Der Wanderer zuckte zusammen, als die Dämonenwaffe unver mittelt durch seine Deckung drang und seinen Oberschenkel traf. Zwar reagierte er sofort und streckte den Angreifer nieder, doch die Spitze aus Brak’tar blieb in der Plasmarüstung stecken und bereitete ihm sengende Schmerzen. Rasch griff er danach und zog sie heraus, schleuderte sie den
Angreifern entgegen, während Plasma pulsierend aus der Wunde austrat und sie zu schließen versuchte. Das kostete Kraft. Torn war gezwungen, seine Tarnung aufzugeben, was die Grak’ul und Skla ventreiber noch mehr in Rage versetzte. Geifernd und schnaubend stürmten sie heran, warfen sich auf ihn wie ausgehungerte Raubtiere. Zischend zuckte das Lux durch die Luft und wehrte ihre Attacken ab, ein Sklavenmeister und ein Grak’ul sanken mit durchbohrten Körpern zu Boden. Doch die Kraft des Wanderers ließ nach, und die Verletzung koste te ihn zusätzliche Energie. Ich kann mich nicht mehr lange halten. Muss nach einem Ausweg su chen … Mit einem flüchtigen Blick vergewisserte er sich, dass Callista noch immer hinter ihm stand. Er musste es irgendwie schaffen, sie von hier fortzuschaffen. Doch welche Chance hatte er, diesem schrecklichen Ort zu entkommen? Keine … Wieder ein Angriff, schreiende Grah’tak, die sich ihm entgegen warfen. Wieder eine blitzschnelle Parade mit dem Lux, das durch die Körper der Angreifer schnitt. Dann erneut ein Treffer durch eine Dämonenklinge. Noch mehr Schmerz … Und noch mehr Kraft, die verloren ging. Es war ein aussichtsloser Kampf. Egal, wie viele Grah’tak der Wanderer erschlagen, wie erbittert er sich auch zur Wehr setzen mochte – am Ende würden sie ihn über rennen und ihn besiegen. Und mit ihm Callista, deren Anwesenheit an diesem grässlichen Ort ihm unfassbar erschien … Dennoch gab es keinen Ausweg. Torn umfasste sein Lux mit beiden Händen, blickte der nächsten
Welle der Angreifer gefasst entgegen, bereit, seinen Kampf bis zum bitteren Ende zu führen. Plötzlich tat sich unmittelbar hinter ihm etwas. Ein orangerotes Licht, das aufflammte, und im leeren Raum öffne te sich ein feuriger Schlund, der in endlose Ferne zu führen schien. Das Kha’tex!, stellte Torn voller Verblüffung fest. Er wusste weder, weshalb sich das Dämonentor gerade in diesem Augenblick geöffnet hatte, noch ahnte er, wohin es führte. Nur eines stand für ihn fest: Jeder Ort im Immansium besser war als dieser hier … Der Wanderer zögerte keinen Augenblick. Mit einer fließenden Bewegung wirbelte er herum, griff nach Callista, riss sie an sich. Und im nächsten Moment stürzte er sich mit ihr in den offenen Schlund des Kha’tex. Es war ein Sturz ins Ungewisse … ENDE
In der Gewalt Mathrigos von Michael J. Parrish Auf der Flucht von der Sklavenwelt Kalderon reist der Wanderer durch das Kha’tex. Wohin wird es ihn bringen? Auf der Erde des Jahres 1852 bricht eine Einheit der Fremdenlegi on zu einer Expedition auf, die sie ans Ende des Verstandes führen wird. Ein schreckliches Monster aus der Tiefe erwacht – und der Wanderer sieht sich mit seinem dunklen Schicksal konfrontiert.