Atlan - König von Atlantis Nr. 471 Dorkh
Die Stadt der Verlorenen von Hans Kneifel
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Atlan - König von Atlantis Nr. 471 Dorkh
Die Stadt der Verlorenen von Hans Kneifel
Die Flucht vor dem unheimlichen Fremdling
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort seine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie tatsächlich alles überstehen, was Dorkh gegen sie aufzubieten hat, und sogar ihre Aufgabe erfüllen – allerdings anders, als Duuhl Larx es sich vorgestellt haben dürfte. Nun aber, da Dorkh Kurs auf den Sitz des Dunklen Oheims eingeschlagen hat, scheint der Dimensionsfahrstuhl dem Untergang geweiht zu sein. Deswegen sucht Atlan nach einem funktionstüchtigen Raumschiff, und sein Weg führt ihn in DIE STADT DER VERLORENEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide sucht nach einer Fluchtmöglichkeit von Dorkh. Razamon, Grizzard, Asparg und Fiothra ‐ Atlans Gefährten. YhmʹDheer ‐ Ein Gassuare. Stophemuk, Garshar und Pantzerklag ‐ Drei Dorkher, die sich Atlans Gruppe anschließen.
1. Keiner von ihnen sprach es laut aus: die Angst hatte sie alle gepackt. Ihre Chancen, das Weltenfragment Dorkh lebend zu verlassen, waren denkbar gering geworden. Und sie schwanden von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag mehr dahin. Summend und brausend raste Dorkh durch den Dimensionskorridor. Es gab keinen Wechsel zwischen Tag und Nacht mehr. Es war, als habe es niemals Sonnenschein gegeben. Wie nahe der Augenblick war, an dem das Weltenfragment das unbekannte Ziel erreichte, wußte keiner von Atlan und seiner Begleitung. Vermutlich wußte es auch nicht eines der Wesen, von denen Dorkh bevölkert wurde. Es galt als sicher, daß diese Fahrt endgültig zum Dunklen Oheim führte – was immer sich unter dieser Bezeichnung verbarg. Sicher war es ein Flug ins Verderben. »Verdammt! Die Gluthölle über dem SCHLOSS tobt noch immer!« Razamon hielt im Laufen inne und zeigte hinüber zu den Resten des SCHLOSSES. »Verschwende keine Gedanken mehr daran«, sagte der Arkonide und schüttelte den Kopf. »Vergiß die ›Seele‹ von Dorkh, Razamon.« Sie versuchten, so schnell wie möglich dem Inferno zu entkommen und gleichzeitig den Gassuaren im Auge zu behalten. Es war vermutlich die einzige Garantie, daß sie lebend hier wegkamen. »Mich stören nicht das Glühen und die vielen
Leuchterscheinungen!« rief der Berserker aus. Sein Gesicht zeigte einen grimmigen, fast schmerzhaften Ausdruck. Er litt innerlich, aber er scheute sich offensichtlich, es zuzugeben. Atlan spürte dieselbe Art der Beeinflussung, und deshalb antwortete er: »Mir geht es nicht anders, Razamon. Irgendwelche Impulse schlagen aus dem SCHLOSS bis hierher.« »Die Entfernung ist nicht groß genug«, sagte Fiothra leise. Sie schien wesentlich erschöpfter als die beiden Männer von Pthor. »Ich weiß nicht, ob die Distanz überhaupt etwas bewirkt«, stöhnte Razamon und verfolgte mit den Augen den angeblichen Piraten, der sie zu seinem Raumschiff führen sollte. »Wahrscheinlich nicht. Wir haben keine andere Wahl. Wieder einmal reagieren wir, anstatt sinnvoll zu handeln.« Atlan und Razamon stützten sich auf einen kantigen Felsen. Der Stein wuchs aus dem kargen Boden eines kleinen Hügels auf. Der Hügel befand sich in dem ungastlichen Gelände längs des SCHLOSSES, und den Spuren von YhmʹDheer folgten Atlan und seine Gefährten durch das kahle Hügelgebiet. Asparg, der dorkhische Magier, bemerkte unruhig: »Ich glaube, YhmʹDheer läuft auf den Wald von Fryg zu.« »Schon möglich«, erwiderte Grizzard‐Upanak und schüttelte sich. »Ich bin halb tot vor Angst.« Ungerührt entgegnete der Berserker: »Nimm dich zusammen, Jäger!« Upanak blickte verwirrt von einem zum andern und schwieg. Die Verfolger konnten im Augenblick eine kurze Pause riskieren. Deutlich sahen sie im sandigen Boden die Spuren des Gassuaren, der ein Agent des Neffen Germen Zurm war. Das SCHLOSS gab es nicht mehr – wenigstens nicht mehr in der Form, wie es bisher bestanden hatte. Für Atlan existierte keine erkennbare Möglichkeit, die Seele von Dorkh zu erreichen. Er hätte sonst versuchen können, sie zu einer Kursänderung zu bewegen. Denn jeder andere Kurs war besser als
derjenige, der zum Dunklen Oheim führte. Auch die Spur, die jetzt verfolgt wurde, bedeutete alles andere als Sicherheit. Es war eine geringe Chance. Deswegen hatten sie die fünf Wesen ergriffen. Razamon, der immer wieder mit beiden Händen an seinen Kopf griff und die Wirkung der fremden Impulse abzuschwächen versuchte, faßte in der kurzen Pause seine Überlegungen zusammen und sagte: »Wohin sollte der Gassuare sonst rennen? Ich bin fast sicher, daß er zu seinem Raumschiff läuft.« Razamon und Atlan spürten deutlich die Impulse, die in wilden Wellen kamen und gingen, aber sie waren relativ leicht in der Lage, sie zu ignorieren. Aber Grizzard litt schwer darunter. »Ich muß ununterbrochen lachen«, sagte er mit todernstem Gesicht. »Dann wird deine Gesellschaft uns fröhlich machen«, knurrte Razamon, ohne Grizzard anzusehen. »Ich spüre Heiterkeit und Lachlust!« beharrte Grizzard. »Ja?« »Und dann wieder Unruhe und Gereiztheit.« »Die gereizte Stimmung hat auch mich erfaßt«, meinte Asparg. »Aber sowohl Fiothra als auch ich können widerstehen.« »Ich auch«, sagte Atlan, schob sich aus der Deckung und lief den Hügel abwärts. Der silbrig schimmernde Helm des Fremden schwankte weit vor ihnen in einem Taleinschnitt hin und her. Weit jenseits des kahlen Gebiets, das unzählige Möglichkeiten zum Verstecken und zur Deckung bot, zeichnete sich im ungewissen Dämmerlicht ein dunkler Streifen ab. Dies konnte der Wald sein, von dem der Magier gesprochen hatte. »Ich nicht minder!« stieß Razamon hervor. Auch der Berserker wußte nicht, woher seine Unruhe kam, die sich ständig steigerte. Wieder verfolgten sie YhmʹDheer, der sich zwar einigermaßen schnell, aber sorglos bewegte. Entweder ahnte er nicht, daß er Verfolger hatte, oder er kümmerte sich nicht darum.
Razamon, Atlan, die beiden Magier und Grizzard – sie alle spürten seltsame Schwingungen. Aber nur Grizzard litt ernsthaft unter dem Ansturm der Impulse, die immer stärker wurden und zudem ihre Eigenschaften veränderten. Immer wieder wechselte unangebrachte Heiterkeit und Sorglosigkeit mit Phasen stärkster, sich steigender Unruhe ab. Die Stimmung war ohnehin gereizt, und die leichte Erregbarkeit nahm ununterbrochen zu. »Hat er uns etwa bemerkt?« rief Fiothra nach einer Weile. Die Gruppe lief und stolperte neben der Spur entlang. Einmal waren die Eindrücke der kurzen Beine mit ihren merkwürdig geformten Füßen deutlich, dann wieder verwischt. »Vielleicht!« gab Razamon zurück. »Selbst wenn er gesehen hat, daß wir ihn verfolgen, kümmert es ihn nicht. Er ist voller Panik. Vermutlich leidet er unter ebendenselben Schwingungen wie wir«, rief Atlan über die Schulter zurück. Hintereinander rannten, stolperten und keuchten sie die Spur entlang. Der Gassuare war nicht schnell, aber beharrlich. Trotzdem schrumpfte der Vorsprung, den er gegenüber seinen Verfolgern hatte. Die fünf so unterschiedlichen Wesen beobachteten YhmʹDheer genau. Aber der Gassuare drehte sich nicht um, sondern suchte unbeirrbar seinen Weg durch das Gelände. Ab und zu warfen die Fremden einen kurzen Blick in die Richtung auf das SCHLOSS. Noch immer ragte die Lichtkuppel auf, und unverändert loderten und zuckten glühende Leuchterscheinungen über den Resten des Bauwerks, das nach Atlans und Razamons Meinung dasselbe für Dorkh war wie die FESTUNG für Pthor. Etwa eine Stunde später blieb Razamon stehen, hob das machetenartige Messer und schwenkte es über seinem Kopf. »Freunde«, warnte er, »die Impulse oder Schwingungen, die wir empfangen, treffen auch auf alle anderen Lebewesen.« Die zierliche Fiothra warf das blauschwarze Haar in den Nacken und fragte verwundert:
»Du magst recht haben, Fremder. Aber was bedeutet das für uns?« Razamon schenkte ihr ein verzerrtes Lächeln. »Wir können uns vielleicht zusammennehmen oder sind bis zu einem bestimmten Grad immun dagegen. Nicht so die anderen. Sie werden zuerst heiter und gelöst, dann aggressiv, und schließlich greifen sie an. Wir können leicht das Opfer eines Überfalls werden.« Die Magierin aus dem sagenhaften Land Shatna murmelte: »Wahrscheinlich hast du recht.« »Und deshalb müssen wir uns vorsehen«, ergänzte ihr Halbbruder. »Wohin rennt dieser silberbehelmte Abgesandte aus dem Terfen‐Revier?« Atlan lachte kurz und humorlos auf. »Wir hoffen noch immer, daß er uns zu seinem intakten Raumschiff führt.« »Alles ist undurchsichtig!« schrie Grizzard plötzlich. »Ich fühle, wie ich ganz verrückt werde.« »Das ist nur von Vorteil«, knurrte der Berserker. »Dieses Fragment ist verrückt. Verrücktheit ist der Normalzustand – wir sollten es alle genau wissen.« Auch ihn quälte etwas; etwas tief in seinem Innern breitete sich aus und wurde von der Strahlung der zerglühenden SCHLOSS‐ Ruine offensichtlich verstärkt. Aber der Berserker wußte selbst nicht, was ihn peinigte. »Weiter!« drängte Atlan unruhig. Sie liefen im nebligen Halblicht zwischen zwei Hügeln entlang. Zwischen den Findlingen wuchsen kleine, graubraune Bäume mit spitzen Blättern. Sie sahen wie Lederstücke aus und raschelten bisweilen ebenso. In das Rascheln und das Geräusch der eiligen Schritte mischte sich ein undeutliches, auf und abschwellendes Brummen. Razamon und Atlan drehten wild die Köpfe, aber sie erkannten nichts. Trotzdem wurden die gespenstischen Geräusche lauter. »Was ist das?« rief Grizzard in heller Panik.
Niemand antwortete ihm. Seine Weggenossen und Freunde liefen unbeirrbar weiter. Der dunkle Streifen des vermeintlichen Waldes wurde deutlicher, man konnte bereits senkrechte Streifen erkennen. Also doch ein Wald? Das Summen und Schnarren, das aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien, riß plötzlich ab. Eine Gruppe von wilden Gestalten, die dem Herdenpferch entsprungen sein mußten, rannte von rechts einen flachen Hang herunter. Die Wesen, alles andere als menschenähnlich, schwangen Knüppel, schleuderten auf Atlan und seine Freunde Steine in allen Größen und grölten unverständliche Flüche. »Hierher«, donnerte Razamons Stimme auf. »Hinter mir her. In die Felsen.« Er schlug einen Haken, duckte sich blitzschnell hintereinander vor mehreren geschleuderten Brocken und rannte im Zickzack, immer wieder irgendwelchen Geschossen ausweichend, zwischen eine Formation zackiger, fingerartig aufstrebender Steine zu. Mit einem gewaltigen Satz verschwand er in dem schmalen Spalt zwischen zwei Brocken. In panischer Hast folgten ihm die anderen. Als sie keuchend die Stelle erreichten, an der er verschwunden war, sahen sie, daß der Berserker wie ein Rasender eine glatte Steinfläche hinaufkletterte. Er riß lose Steinsplitter los, die wie Keile oder unregelmäßige Wurfgeschosse geformt waren. Als er die Spitze des etwa zehn Meter hohen Felsens erreicht hatte, schleuderte er mit dröhnenden hallenden Schreien die Felszacken nach den Angreifern. Die Dorkher, eine Gruppe von etwa zwei Dutzend verschieden großen, behaarten und unbeschreiblich ungepflegt aussehenden Wesen, stoben kreischend auseinander und ließen ihre primitiven Waffen fallen. »Kampf!« schrie Razamon gellend und schleuderte seine Felszacken wie ein antiker Gott unter die rennenden, stolpernden und vor Angst und Verwirrung in die Höhe springenden Dorkher. Sie flohen so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Wieder näherte sich
das Summen, wurde lauter, schwoll ab und kam erneut lauter zurück. Razamon warf, während die anderen Flüchtenden unter ihm sich einen Weg durch die Felsen suchten, seinen letzten Brocken und heulte hinterher: »Wut! Ärger!« Dann kletterte er schnell hinunter. Das summende Geräusch hüllte jeden von ihnen förmlich ein. Es schien jede Zelle einzeln zu durchdringen und in Aufregung zu versetzen. Staubkörner tanzten in der dämmerigen Luft. Ihr Tanz, dies dachte sich Atlan nach einer Anzahl Schritten, war anders als der von Staubteilchen im Sonnenlicht. Und es gab keine Sonne … Es sind Lebewesen, von deren Schwingungen die Luft bewegt wird! sagte sein Logiksektor ruhig. Die einzelnen Körner wurden größer und drehten sich in Schleifen und Spiralen umeinander. Sie flammten und glühten aus sich heraus. An den Stellen, wo die fünf Verfolger durch den riesigen Schwarm hindurchrannten, hielten sich für einige Sekunden die schattenhaften Hohlräume ihrer bewegten Silhouetten. Je länger es dauerte, je länger das Rennen zwischen den Felsbrocken des Hanges und den tanzenden Punkten anhielt, desto mehr veränderte sich der Klang. Es wurde hallender und ebenfalls böser, aggressiver, stechender. »Nur schnell von hier weg!« rief Fiothra voller Furcht. Ihr schulterlanges blauschwarzes Haar flog bei jedem Schritt auf und nieder wie ein Tuch. In einer lang gezogenen Linie rannten die Fremden hinter dem Gassuaren her. Sie fühlten sich keineswegs als Verfolger, sondern als Verfolgte. Die Menge der tanzenden und kreisenden Lichtpunkte nahm zu. Gleichzeitig schwollen die strahlenden Staubkörner an, und ihr Leuchten steigerte sich. »Geschwindigkeit ist auch keine Rettung, scheint mir«, gab Razamon zurück, aber er lief trotzdem vor Atlan her und wurde
immer schneller. Instinktiv schlugen sie alle nach den Partikeln oder Tieren, die bisher harmlos, wenn auch gespenstisch und drohend blieben. Aber die nächste Veränderung der Geräusche bedeutete auch eine Veränderung des Aussehens jener rätselhaften Funken. Sie verloren ihr Leuchten. Ohne sichtbaren Übergang erschienen in der unbewegten Luft Tausende und aber Tausende von insektenhaften Körpern. Lange Flügel bewegten sich in rasender Schnelligkeit. Die Tiere, größer als ein Finger, beschleunigten ihre Bewegungen. Der Extrasinn meldete sich: Auch diese Bestandteile der Fauna von Dorkh sind gefährlich! Um davon überzeugt zu sein, sagte sich der Arkonide, hätte es seines Logiksektors nicht bedurft. Trotzdem war er ratlos. Daß es nichts nützte, wild um sich zu schlagen, sah er bei Razamon. Weder Schnelligkeit noch das Gegenteil waren die geeigneten Mittel, den Leuchtinsekten zu entgehen. Die Tiere stürzten sich unvermittelt auf die Flüchtlinge. Es war, als ob ein Schwarm Mörderbienen angreifen würde. Augenblicklich waren die Fremden von einer riesigen Masse aufgeregter Insekten umhüllt. Die summenden und sirrenden Angreifer bedeckten sofort die Kleidung und krabbelten über jeden Quadratzentimeter Haut. Sie stachen nicht, und sie bissen auch nicht. Aber an den Enden ihrer vielen Beine befanden sich Widerhaken, die eine Vielzahl winziger Wunden erzeugten. Asparg, der als letzter hinter Fiothra rannte, schrie auf und schlug wie wahnsinnig um sich. Immer wieder versuchte er, die krabbelnden und wimmelnden Tiere von seinem Gesicht wegzuwischen. »Wir müssen ins Wasser! Zum singenden Fluß!« rief er qualvoll. Weit und breit war nicht das geringste Anzeichen eines Baches oder gar des »Singenden Flusses« zu erkennen. Atlan schrie: »Es ist besser, sich im Sand zu wälzen!« Die fünf Verfolger stolperten halb blind einher. Sie waren
ununterbrochen damit beschäftigt, die kleinen Tiere von den Augen, aus dem Haar und von den Ohren wegzuschlagen und herunterzuklauben. Grizzard gebärdete sich, als ob er bei lebendigem Leib aufgefressen werden würde. Er war außer sich. Seine Furcht kam und ging in hektischen Wellen. Wieder kam – unbewußt – die Erinnerung an sein erstes Leben über ihn. Furcht und Angst, Selbsterhaltungstrieb und düstere Ahnungen göttlicher Geschehnisse hatten damals sein Leben beherrscht und ausgefüllt. Heute war es nicht anders. Er wimmerte, heulte und schrie unablässig, sprang hin und her und überschlug sich schließlich im Sand zwischen zwei Felsengruppen des Hügelkamms. Auch er hörte den krachenden Donnerschlag nicht, der über die Fläche neben dem SCHLOSS hallte. Aber in dem aufstaubenden Sand wurden viele Insekten von Grizzards Haut weggerissen und zerquetscht, anderen Tieren riß der Sand die hauchfeinen Flügel auseinander. »Sand ist die Rettung!« donnerte Razamons Stimme auf. Sie warfen sich zu Boden, rollten sich hin und her und schoben sich kriechend auf die Steine zu. Ihre Hände griffen in den Sand und schleuderten ihn hoch. Aus dem Summen war ein hysterisches, fast pfeifendes Geräusch geworden. Aber jede weitere Bewegung der fünf Personen, deren Körper von Tausenden und aber Tausenden winzigster Stiche gepeinigt wurden, befreite sie von Dutzenden der aufgeregten Tiere. Ein zweiter, lang hallender Donner erschütterte die Hügel. Razamon, der die Gruppe anführte, sprang auf und fuhr mit beiden Händen wie mit einem Kamm durch sein schwarzes Haar. Die letzten Insekten fielen zuckend und summend von seinen Fingern, als er sie heftig schlenkerte. Er blickte wild um sich. »Weiter!« ächzte er. »Sonst entkommt uns der Gassuare.« Die Impulse und Strahlungen, die von der Glut des SCHLOSSES ausgingen, hatten vorübergehend angesichts dieses neuen Schreckens an Bedeutung verloren. In einer großen Sandwolke, die nach allen Richtungen stäubte, verloren sich die letzten
Leuchtinsekten. Atlan stierte Grizzard an – beide sahen, wie die anderen auch, unbeschreiblich aus. Ihre Haut war an den meisten Stellen von nadelkopfgroßen Blutstropfen bedeckt, die teilweise angetrocknet waren. Überall hafteten winzige Sandkörner. »Warum haben die strahlenden Bienen nicht YhmʹDheer angegriffen?« rätselte die junge Magierin. Razamon packte Grizzards Schulter und riß den Mann herum. Der einstige Jäger versuchte gerade, sich den Schädel an einem Felsen einzurennen. Razamon schrie ihn an: »Uns geht es genauso schlecht wie dir. Reiß dich zusammen!« Grizzard starrte leeren Blickes an ihm vorbei und schüttelte langsam seinen Kopf. Ihn schien wirklich der Irrsinn ergriffen zu haben. »Ich …«, murmelte er undeutlich. »Überall Schmerzen … will sterben …« »Nicht hier und nicht jetzt«, sagte Atlan hart. Die Angehörigen der kleinen Gruppe sagten nichts und sahen sich schweigend und voller Verwirrung an. Atlan meinte nach einigen Augenblicken der Entspannung: »Wir befinden uns in einem gefährlichen Gebiet. Und die Natur von Dorkh spielt verrückt. Trotzdem sollten wir unser Ziel nicht aus den Augen verlieren.« »Irgendwo dort vor dem Waldrand«, meinte Razamon, »rennt YhmʹDheer um sein Leben. Auch dieses wahnsinnige Rennen hat irgendwann ein Ende. Weiter, Freunde!« »Ich kann nicht. Ich will nicht. Ich sehe keinen Sinn mehr!« schrie Grizzard gequält auf. Atlan deutete in die Richtung des Waldrands, der inzwischen deutlich zu erkennen war. Nach einigen Kilometern knickte die Grenze des SCHLOSS‐Bereichs nach Nordost ab. Etwa tausend Schritte von den Verfolgern entfernt lief YhmʹDheer, er hatte in der letzten Zeit seine Geschwindigkeit drastisch gesteigert. Jetzt machte er wirklich den Eindruck, als sei er vor
etwas auf der Flucht. Panische Angst diktierte seine Schritte und sein Tempo. »Hinterher.« »Verdammt«, fluchte Grizzard, aber trotz der tausend Ängste, die in ihm tobten, folgte er den anderen. Hinter seiner Angst erkannte er, daß sie den einzigen Schutz für sein Leben darstellten. Ihre Blicke hefteten sich auf YhmʹDheer, der sich bereits dem Waldrand genähert hatte und in unverändert großer Geschwindigkeit auf den ungefügen Beinen daherrannte. Wieder wuchsen Unruhe und Gereiztheit zwischen den Angehörigen der Gruppe. Die Magierin rief klagend: »Aus dem Wald von Fryg fließt der Singende Fluß. Nach Südosten. Westlich davon liegt die Stadt der Verlorenen. Wißt ihr das?« »Nein«, antwortete Atlan. »Und im Augenblick ist es auch nicht wichtig.« Jeder von ihnen hatte genügend Grund, sich darüber zu wundern, daß sie noch am Leben und leidlich unversehrt waren. Sonst besaßen sie kaum mehr als das, was sie am Körper trugen. Sie hofften, daß die Belästigungen aus den glühenden Trümmern und der schwelenden Energie des SCHLOSSES mit zunehmender Entfernung nachlassen würden. Hier aber, zwischen den letzten Hügeln des fast leeren Landes, waren die fremden Energien aber noch immer in aller Schärfe und Deutlichkeit zu spüren. Sie rannten etwa eine halbe Stunde, so schnell sie konnten, weiter. Der Vorsprung, den der Gassuare herausgelaufen hatte, schmolz wieder zusammen. In vollem Lauf rannten sie aus dem Tal zwischen zwei kargen, von Fels und bleichen Sträuchern übersäten Abhängen hinaus. Vor ihnen lag eine Ebene, die sich bis zum Waldrand erstreckte. Die Grenze des SCHLOSSES verlief ab hier nach Nordosten. Die ebene Fläche war von niedrigen Gräsern bewachsen. Deutlich zeichnete sich trotz des fehlenden Sonnenlichts die fast gerade Spur
in dem Gräsermeer ab, die der Gassuare hinterlassen hatte. Da sich die Verfolger an einem leicht erhöhten Platz befanden, konnten sie sehen, wie YhmʹDheer gerade zwischen den Büschen des Waldrands verschwand. »Hinterher!« sagte der Arkonide drängend. Der Berserker setzte sich wieder in Bewegung und folgte in langen Sätzen der Spur. »Hoffentlich hat er sein Schiff dort versteckt!« rief Atlan. »Bisher hat er es mit der Wahrheit nicht genau genommen. Vielleicht sitzen wir auch jetzt einer Lüge auf.« Sie hasteten, stolperten und liefen keuchend durch das Gras. Bisher hatten sie nicht sehen können, daß Dorkh‐Wesen, Getier oder einzelne Bestien den Gassuaren angegriffen hatten. Aber sie wurden angegriffen, kaum daß sie ein Viertel der Strecke zurückgelegt hatten. Winzige Schlangen stießen zischend ihre eckigen Köpfe gegen die Beine und Füße der Rennenden. Immer wieder stoben kleine oder große Insekten aus dem Gras, schwirrten summend heran und griffen mit ihren Kiefern und Stacheln an. Jeder der Verfolger schlug wütend um sich, und der Lauf geriet immer wieder ins Stocken. Blindwütig stürzten sich kleine Tiere, die wie Ratten mit gestreiftem Fell und langen Rückenkämmen aussahen, auf Kleidung und Gliedmaßen der fünf Fremden. Mit wilden Tritten und gezielten Schlägen spitzer Steine entledigten sich Atlan und Razamon der Angreifer. Sie würden euch niemals angreifen, wenn nicht die Impulse aus dem SCHLOSS wären, erklärte der Logiksektor. Die spitzen Zähne der kleinen Wesen rissen lange Streifen aus der Kleidung. Die Wunden waren nicht zahlreich, aber tief und schmerzhaft. Atlan, Razamon, Fiothra und Asparg wehrten sich, so gut sie es vermochten. Nur Grizzard‐Upanak handelte völlig falsch und unberechenbar. Wieder brach der steinzeitliche Jäger in ihm durch. Oder alle
anderen Teile seines Wesens wurden im Bann der Furcht und Unruhe hinweggeschwemmt und ließen einen zutiefst unselbständigen und deshalb gewalttätigen Mann zurück. Grizzard identifizierte zwar die kleinen Nagetiere, die Schlangen und die wütenden Insekten als Angreifer und Grund seiner Raserei, aber er beantwortete jeden ihrer Vorstöße, indem er wild um sich schlug. Auch griff er Atlan oder Razamon an, je nachdem, wer von den beiden ihm am nächsten lief. »Wir sollten ihn niederschlagen«, rief Razamon nach dem vierten, völlig unmotivierten Überfall. »Über die Schulter geworfen und getragen wäre der Jäger keine Gefahr mehr.« Der Arkonide, der immer wieder mit aller inneren Kraft gegen die Beeinflussung seines Willens ankämpfte, ächzte auf. »Geduld, Razamon«, sagte er keuchend. »Auch das vergeht.« Während sie redeten und Razamon den Steinzeitler mit sich zerrte, griffen erneut kleine Tiere an. Heulend, knurrend und winselnd schnappten sie nach den Fremden und bissen sich gegenseitig, wenn sie sich zu nahe kamen. Rechts und links der Spur niedergedrückter Gräser zitterten die Halme, wenn sich die kleinen Bestien darin bewegten. Doppelt handgroße Vögel flatterten auf den Zweigen der Zwerggewächse auf, schrien mißtönend und ließen sich auf die fünf Fremden fallen. Ihre Flügel mit den scharfen Kanten und Enden der Schwungfedern schlugen in die Gesichter. Mit vorgespreizten Krallen und aufgerissenen spitzen Schnäbeln zielten sie nach den Augen der Dahinhastenden. Razamons simple Waffe beschrieb in der Luft wilde Kreise und schmetterte die meisten der Vögel zu Boden. Die Zeitabstände zwischen den Anfällen des jungen Steinzeitjägers wurden kürzer. Er war nur noch für kurze Minuten bei klarem Bewußtsein. Für ihn war alles fremd und bedrohlich geworden. Seine Reflexe und Instinkte schienen aber in Ordnung zu sein, denn er erkannte noch immer die Attacken der Tiere. Sie selbst – und alles
andere unter dem verhangenen grauen Himmel – bedeuteten: Gefahren. Etwa hundert Schritte vor dem Waldrand entfernt blieb Razamon stehen, erschlug zwei möwengroße Vögel und zerschmetterte mit einem wuchtigen Tritt das Rückgrat eines gelben Tieres mit spitzen Hörnern, das sich auf ihn stürzte. Der Berserker rief zu seinen Begleitern zurück: »Das Rauschen, das ich höre, kommt das vom Singenden Fluß, Fiothra?« Schwitzend und keuchend, voller kleiner Wunden und die tiefen Spuren der Erschöpfung im Gesicht, stolperte die Magierin heran. Ihr Antlitz, das Atlan und Razamon wegen der auffallenden Schönheit immer gern angesehen hatten, war eine von Panik verzerrte Maske. »So wird es sein«, stieß sie hervor. »Ich weiß von keinem anderen Wasser hier in der Nähe.« »Kann es der Wind sein?« fragte Atlan. Für einige Sekunden bildeten sie eine ruhige Gruppe, deren Mitglieder beratend beieinander standen. Der Schein trog. Sie waren nur zu sehr erschöpft, um so zu reagieren, wie ihnen wirklich zumute war. Asparg deutete zurück auf die unbewegte Fläche der unzähligen Halme. Die Ebene wurde jetzt von einer weitaus deutlicheren Spur zertrampelter und geknickter Gewächse gezeichnet. Kein Windhauch ließ die Gräser hin und her wogen. »Welcher Wind«, stieß er hervor. »Es gibt keinen Wind.« »Du hast recht«, sagte Atlan müde. »Es muß das Wasser des Flusses sein. Können wir weiter?« Die Gestalt mit dem silbrig schimmernden Helm rannte irgendwo vor ihnen durch den Wald. Ab und zu hörten sie ein Geräusch splitternder Äste. Razamon wandte sich ungeduldig in die neue Richtung und rief: »Wenn wir Glück haben, sind wir in kurzer Zeit in einem
Raumschiff, das uns aus dem Chaos hier hinausbringt.« Er warf einen langen Blick zurück auf die Überreste des SCHLOSSES. Über der deutlich sichtbaren Lichtkuppel des Zentrums loderten und zuckten noch immer die Reste einstiger Schirme und technischer Anlagen. Atlan und die drei anderen folgten dem Berserker, dessen gewaltige Kräfte trotz aller Hindernisse nicht nachgelassen hatten. Grizzard stöhnte auf und klammerte sich an Atlans Schulter. »Dunkel!« sagte er schaudernd. »Schwarzer Wald. Ich will nicht dort hinein.« »Wir helfen dir«, versuchte ihn Atlan zu beruhigen. Aber als er in die Augen des jungen Mannes blickte, der nicht nur durch veränderte Identitäten, sondern durch eine Odyssee des Schreckens seinen Körper und Verstand zum Schauplatz unbegreiflicher Vorgänge gemacht hatte, zuckte der Arkonide zusammen. Er ahnte das nahe Ende, das im Wahnsinn und Chaos stattfinden würde. 2. Der Wald von Fryg schien zunächst ein Wald wie jeder andere zu sein; nichts anderes als eine Ansammlung von kleinen und großen, dicken und dünnen Bäumen. Aber mit jedem Dutzend Schritte, die Atlan und seine Begleiter auf der Spur des Gassuaren weiter in das Halbdunkel unter den Wipfeln eintauchten, summierten sich die Eindrücke. Es war dunkel und fast absolut still. Der Boden war von einer dicken Schicht abgestorbener Pflanzenteile bedeckt. Dieser Teppich aus Nadeln, Blattresten und dem Staub vermoderten Holzes federte tief unter jedem Schritt. Der Fremde mit dem schwerfälligen Körper, der einer umgekehrten Birne glich, hatte deutliche Spuren hinterlassen; er schlurfte dahin und zog die Füße nach. Im weichen Waldboden sahen seine Verfolger lange Furchen.
Die Kronen der Bäume bildeten etwa dreißig, stellenweise vierzig Meter über den Köpfen der dahinhastenden Gruppe ein fast undurchdringliches Dach. Ab und zu fielen mit hohlem Sausen faustgroße Früchte oder Nüsse aus den Zweigen und schlugen wie Granaten in den weichen Boden. Augenblicklich bildete sich in der faulenden und stinkenden Masse ein winziger Krater, in dem kleine, weiße Insekten herumkrochen und wie irrsinnig übereinander herfielen. Zwischen den Stämmen, einige zwanzig Meter weiter in der Richtung der Spur, ertönte ein langgezogenes, zischendes Fauchen. Razamon rannte weiter und hob das lange Messer schlagbereit hoch. »Eine neue Teufelei, zweifellos«, rief er unterdrückt. »Achtung!« Grizzard wurde von einer der heruntersausenden Früchte an der Schulter getroffen. Er stieß einen Schrei aus und fiel zuckend zu Boden. Während er schwer aufschlug und eine Wolke schwarzen Moderstaubs hoch wirbelte, kam wieder der fauchende Laut aus dem Innern des Waldes und schlug peinigend an die Ohren der Verfolger. Grizzard wälzte sich wimmernd am Boden, hielt seine Schulter fest und gab unbeschreibliche Laute von sich. Atlan drehte sich um und lief auf ihn zu. Er half dem Schmerzgepeinigten auf die Beine und hielt ihn fest. Mit einigen Griffen versuchte er die Schulter abzutasten. Möglicherweise hatte das natürliche Geschoß einen Knochen zerschmettert oder das Gelenk getroffen. Grizzard schlug mit der anderen Hand schreiend nach Atlan, der nur knapp einem Hieb mitten ins Gesicht entging. Er fing das Handgelenk auf und hielt es fest. »Du Narr!« grollte er. »Ich will dir doch nur helfen. Ist es schlimm?« »Der Wald«, stöhnte und gurgelte der Jäger, »er bringt mich um!« »Halb so schlimm«, meinte der Arkonide und merkte nur, daß der
schwere Hieb der Nuß eine Beule und Prellungen verursacht hatte. Trotzdem schrie Grizzard bei jedem prüfenden Griff grell auf. »Markiere nicht den Sterbenden, Grizzard.« »Ich bin nicht Grizzard«, brüllte der Jäger. »Ich bin Upanak.« »Auch gut. Trotzdem …«, sagte Atlan und zog ihn mit sich. Nur mühsam konnte er durch den körperlichen Kontakt den vor Furcht halb wahnsinnigen jungen Mann beruhigen. Etwa dreißig, vierzig lange Schritte folgten die Fremden der Spur. Dann befanden sie sich vor einigen verfaulenden Wurzelstöcken. Vor langer Zeit waren riesige Bäume umgeworfen worden, und die tausendfingrigen schwarzen Wurzeln reckten sich wie die Klauen urweltlicher Tiere den Verfolgern entgegen. Die Spur des Gassuaren führte links an dem natürlichen Wall vorbei. Wieder hörten sie das Fauchen und Zischen, diesmal unmittelbar vor sich. Gleichzeitig, als habe das drohende Geräusch den Hagel ausgelöst, prasselten heulend einige Dutzend der gefährlichen Früchte aus den Baumkronen. Sie schlugen in der Mehrzahl in den Boden ein, aber einige trafen die Fremden, obwohl sie beim ersten Geräusch nach beiden Seiten auseinandergesprungen und sich in Deckung geworfen hatten. Eine der steinharten Nüsse streifte Grizzards Nacken und zog eine schmerzende Furche von seiner Schulter bis zu den Kniekehlen. Asparg wurde am Knie getroffen und wimmerte auf. Als er aufzustehen versuchte, hüllte ihn eine große Wolke von dunklem Staub ein, die ihn husten und würgen ließ. Razamon war nicht getroffen worden und sah als erster, wie sich zwischen den Stämmen und den um neunzig Grad gekippten Wurzelsystemen zwei lange Schlangenarme hervorschoben. »Achtung!« rief er und schnellte sich zur Seite. Ihn hatte keine der tückischen Nüsse erwischt, aber drei von ihnen waren so nahe an ihm vorbeigefallen, daß er den starken Luftzug gespürt hatte. Es waren weder Schlangen noch Tentakel, die nach den Eindringlingen in den Wald griffen. Es schienen die
klauenbewehrten und von zahllosen Haken und Widerhaken bestückten Gliedmaßen eines lauernden Tieres zu sein. Undeutlich erkannten Razamon und Atlan hinter dem schwarzen Gitterwerk der Baumstämme einen großen Körper, der immer neue und längere Arme vom Boden hob und den Fremden förmlich entgegenschleuderte. Es waren Spinnenbeine, in zahllose Gelenke unterteilt. Sie bewegten sich schneller und schneller, tasteten hierhin und dorthin, und mehrere Male erhaschten der Berserker und sein Freund einen kurzen Blick auf eine kleine schimmernde Halbkugel, die nichts anderes als ein Auge sein konnte. Razamons Messer pfiff herunter und trennte einige Gelenke von dem dünnen, haarigen Arm ab. Sie hatten sich Fiothra genähert, die vor Schreck starr stehengeblieben war. Razamon packte das zierliche Geschöpf um die Hüften und schleppte die Magierin mit sich, während er anderen Krallen und Haken auswich und auf seinem Weg weiter stürmte. Asparg sprang ebenfalls auf der anderen Seite zwischen die Bäume und rannte dem Berserker nach. Atlan hob in einer wütenden Trotzgeste einige Nüsse auf und schleuderte sie mit aller Kraft auf das lauernde Tier, dessen Gliedmaßen jetzt den gesamten Raum entlang der Spur erfaßt hatten und jeden Zentimeter abtasteten. Fast jedes Geschoß traf den halb versteckten Körper. Eines schlug gegen ein Gelenk und zerschmetterte ein Auge. Das Zischen, das jenes Geschöpf daraufhin ausstieß, ließ einen neuen Hagel von Nüssen aus den Kronen herunterkrachen. Glücklicherweise schlugen die pflanzlichen Projektile an Stellen ein, an denen sich keiner der Verfolger mehr befand. Einige Minuten später rief Atlan unterdrückt: »Gibt es eine Erklärung, weshalb der Gassuare nicht angegriffen wurde?« Noch immer erkannten sie, zum Teil verwischt, zum Teil recht deutlich, die Fußspuren YhmʹDheers vor ihnen.
»Offensichtlich schützt ihn etwas. Oder er hat etwas an sich, das die Tiere abschreckt«, versuchte Razamon zu erklären. Er zog Grizzard hinter sich her. Der Jäger war durch das rasende Tempo des Berserkers und durch die Anstrengungen, nicht gegen Baumstämme zu prallen oder sich die Füße an Wurzelknollen zu brechen, genügend abgelenkt. Im Augenblick machte er keinerlei Schwierigkeiten. Während das wütende Zischen des verletzten Tieres hinter ihnen leiser wurde, nahm das Geräusch plätschernden Wassers an Deutlichkeit zu. »Es muß der Fluß sein«, rief die Magierin aus. Sie konnte sich fast nicht mehr auf den Beinen halten und schwankte, auf die Schulter Aspargs gestützt, hin und her. Weiter ging es zwischen den Stämmen hindurch und über die modernden Schichten zwischen hochragenden, gichtknolligen Wurzeln. Riesige Ameisen, die in breiten Zügen auf dem Weg hin und her wimmelten, griffen die Erschöpften an. Minutenlang rannten sie im Zickzack und sprangen zwischen den Tieren umher. Aber schon hatten sich die Kiefer vieler halb fingergroßer Sechsfüßler in der Kleidung und der Haut festgebissen. Ätzende Absonderungen verbrannten die bloße Haut. Mit Stücken brechender Rinde schlugen und schabten die Fremden die Tiere von ihren Beinen. Und noch immer wechselten die Impulse aus dem SCHLOSS ab – einmal trügerische Heiterkeit, dann wieder nagende Unruhe und ausbrechende Wut verbreitend. Kaum hatten sie die Zone der Ameisenstraßen hinter sich gelassen, gerieten sie in den Bereich von dünnen glänzenden Fäden, die aus den Kronen hingen und leise schaukelten. An jedem Fadenende, in unterschiedlicher Höhe aus den Wipfeln herunterhängend, baumelte ein dicker, grün schillernder Klumpen. Als sich die Köpfe und Schultern der Verfolger näherten, bewegten sich die Tiere. Die einen, die tief unten hingen, schaukelten hin und
her und versuchten, die Fremden zu erreichen. Andere, die weiter oben schwebten, spannen einen Faden oder rollten ihn auf, wobei sie ruckartig nach unten fielen und ihre Gestalt veränderten. Aus den annähernd runden Körpern klappten lange Spinnenbeine hervor. Blitzende Stacheln entfalteten sich und zielten nach der Beute. Atlan duckte sich und rannte, seinen Körper hin und her werfend, zwischen den schaukelnden und heruntergleitenden Tieren hindurch. Einige der grün schillernden Spinnen rasten so schnell abwärts wie kurz vorher die gefährlichen Kugelfrüchte. Wieder erwischte es ausgerechnet Grizzard. Eines der Tiere landete auf seiner Schulter. Als er die Berührung spürte, wirbelte er herum und schrie gellend auf. Er wollte mit beiden Fäusten das Tier wegstoßen, aber mitten in der Bewegung erstarrte er. Er blieb stehen und begann hilflos zu stöhnen und zu lallen. Der Ekel hatte ihn gepackt. Er vermochte nicht, seine Arme zu bewegen. Atlan drehte sich um und begriff schlagartig, daß ein neuer Terror den Jäger heimsuchte. Er sprang auf Grizzard zu und hob den trockenen Aststumpf. Ein Schlag pfiff über die Schulter des Jägers, knapp an dem Ohr und den schreckhaft aufgerissenen Augen vorbei. Das Tier war gerade dabei, die Stacheln seiner heftig zuckenden Beine in die Schulter Grizzards zu schlagen. Der Hieb riß den Körper der Spinne weg, zerbrach die Gliedmaßen und zerriß den Faden. Der Rest des Fangfadens schnellte mit einem summenden Geräusch in die Baumkrone zurück. Dann packte Atlan den Jäger und schob ihn vor sich her, im Lauf den baumelnden und herunterzuckenden Tieren ausweichend. Die anderen hatten sich in panischer Flucht in Sicherheit gebracht. »Endlich!« rief Fiothra nach einer Weile aus. »Das Wasser.« Sie schien sich vom Singenden Fluß Erleichterung oder gar Rettung zu versprechen. Die Baumstämme traten auseinander.
Etwas mehr der vagen Helligkeit fiel auf den Waldboden. Zwischen den Wurzeln wuchs allerlei grünes Gebüsch, und direkt vor den Verfolgern lag die breite Brücke, die den Fluß überspannte. Hier am Anfang der Brücke, die aus wuchtigen Quadern bestand und oben von zerfurchtem Sand oder dunklem Staub bedeckt war, schien es ausnahmsweise keine rasenden Angreifer zu geben. Das Rauschen des Wassers aber klang ganz anders, als es wenigstens Razamon und der Arkonide gewohnt waren. Die Fische oder andere Wasserbewohner unterliegen ebenfalls den Impulsen! wisperte der Extrasinn. Der Berserker sprang an die niedrige Brüstung und blickte hinunter. »Sieh dir das an«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Alles Lebende ist rasend geworden.« »Tatsächlich. Ich hätte das nie gedacht – selbst die Fische leiden unter den Impulsen.« Atlan beugte sich über die Steinkante und blickte die Oberfläche des breiten, nicht sonderlich tiefen Flusses an. Das Wasser war trüb geworden, und unter den Tausenden winziger, schäumender Wellen schwammen in wilden Kurven, sich immer wieder krümmend und nach dem Nachbarn schnappend, unzählige Fische aller Größen. Das Wasser, in dem sich lange Streifen schleimiger Blasen bildeten, kochte an allen Stellen förmlich in den hektischen Bewegungen. Jeder kämpfte gegen jeden. »Nicht einmal die Gesichter können wir uns reinigen«, grollte der Berserker und sah sich nach Grizzard um. Der junge Mann stand in der Mitte der Brücke, sagte kein Wort und starrte der Spur des Gassuaren nach. Das Magierpärchen lehnte keuchend an der Brüstung, etwa in der Mitte der Brücke. »Die Vorstellung«, sagte Atlan und deutete flußaufwärts, »daß praktisch jedes Wesen zwischen trügerischen Glücksgefühlen und höchster aggressiver Unruhe ununterbrochen hin und her gerissen wird, macht mir Angst.«
»Mir nicht weniger«, gestand Razamon und gab Atlan einen langen Blick aus seinen dunklen Augen. Noch waren beide Männer in der Lage, den Impulsen zu widerstehen. Wie lange noch, war fraglich. Besonders Razamons Stimmung schien allmählich einem gefährlichen Scheitelpunkt entgegenzutreiben. »Es gibt keine Möglichkeit, uns dagegen zu schützen«, sagte Atlan grimmig. »Wir müssen die Pause abbrechen.« »Der einzige Schutz, vorläufig, den wir besitzen«, stieß Razamon hervor, »ist unaufhörliche Bewegung. Der Gassuare besitzt eine auffallende Ausdauer.« »Wir sind dicht hinter ihm«, antwortete Atlan und nickte aufmunternd. »Weiter, Freunde.« Er wagte gar nicht zu denken, was sie tun würden, wenn sich seine Befürchtungen bewahrheiteten. Er rechnete zwar nicht damit, aber es konnte durchaus sein, daß der Fremde kein Raumschiff versteckt hatte und planlos vor den Auswirkungen der Strahlung flüchtete. Die Gruppe der erschöpften Verfolger rannte über die andere Hälfte der Brücke, in den Ohren das Plätschern und Zischen des aufgewühlten Wassers und der riesigen Menge der Leiber, die aus dem Fluß sprangen, sich in der Luft überschlugen und wieder eintauchten. »Ein häßliches Lied«, murmelte Atlan im Selbstgespräch, »das der Singende Fluß von sich gibt.« Wieder verengte sich der Pfad. Zwar verlief eine Straße parallel zum Ufer, in derselben Breite wie die Brücke selbst, aber YhmʹDheer hatte sie nicht benutzt. Als die fünf Fremden, mit ihren primitiven Holzknüppeln und Razamons Machetenmesser ungenügend bewaffnet, in das Dunkel des Waldes eintauchten, stellte sich sofort ein verstärktes Gefühl der Beklemmung ein. Baumstämme schoben sich drohend näher. Wurzeln ragten zwischen den wenigen grünen Pflanzen hoch. Einzelne Spinnenkugeln schnurrten an ihren Fäden herunter, und in
unregelmäßigen Abständen heulten die nußartigen Geschosse aus den Ästen herab. Aber schon nach einem kurzen, hastigen Lauf erreichten sie die Lichtung. Durch die geringen Unterschiede in der Helligkeit jenseits der Mauer von Stämmen hatte sich das Vorhandensein einer freien Fläche bereits angekündigt. Jetzt sah Razamon auch wieder den auffallenden Helm des Gassuaren. »Dort ist es!« rief der Berserker unterdrückt und drehte sich zu Atlan um, der Grizzard mit sich riß. »Tatsächlich!« Zwischen trockenen Blättern und brechenden Zweigen sprangen sie auf die Lichtung hinaus. Also doch, Arkonide! stellte der Extrasinn betroffen fest. Die Lichtung war nicht groß, aber ihr Boden schien fast völlig eben und fest zu sein. Er war von kriechendem Gras mit runden Halmen und lappigen Blättern bedeckt. Bewegungslos stand YhmʹDheer keine zwanzig Schritte vom Rand des Waldes entfernt und starrte aus seinen zehn Knopfaugen auf das Raumschiff. Nicht einmal seine Nasenspitze, die sonst schnüffelnd ununterbrochen in Bewegung gewesen war, rührte sich. Das Raumschiff war keine Illusion. Es war deutlich vorhanden – aber jemand hatte es in ein Wrack verwandelt. Razamon blieb stehen und begann erbittert zu fluchen. Mit einer wütenden Bewegung warf er seine Machete zu Boden. Sie drang bis zum Heft in den festgebackenen Sandboden. Atlan erkannte nach zwei, drei umfassenden Blicken die gesamte Tragweite der Situation und alle ihre Konsequenzen. »O verdammt!« war alles, was er hervorbrachte. Die Enttäuschung traf ihn wie ein Schlag mit einem Hammer zwischen die Schulterblätter. Seine Augen hefteten sich starr auf die zerbeulte, löchrige und von Brandspuren übersäte Außenhülle des Raumschiffs. Es war nicht sonderlich groß, aber es hätte den sechs in Frage kommenden Personen genügend Platz geboten.
Atlan sagte dumpf, jedes Wort betonend: »Unsere einzige wirkliche Chance – da ist sie. Ich bin sicher, daß auch YhmʹDheer dieses Ende nicht geahnt hat.« Der Gassuare stand noch immer da, als sei er in Erz gegossen. »Verflucht sei Dorkh! Verflucht sei der Dunkle Oheim. Und wir müssen dafür bezahlen!« ächzte Razamon. Er sah furchtbar aus; es schien, als würde er sich jede Sekunde auf den Gassuaren oder jeden anderen stürzen, um auf irgendeine falsche Weise seine Enttäuschung abzureagieren. »Was ist das?« schrie Grizzard. Niemand beachtete ihn in diesem Moment, und sein Schrei bedeutete keinem der vier anderen etwas. Auch er stand regungslos da und blickte von Atlan zu Razamon und vom Berserker auf den Gassuaren und das zertrümmerte Raumschiff. Atlan versuchte, seine Stimmung zu beherrschen und seiner Enttäuschung Herr zu werden. Er legte in einer kameradschaftlichen Geste den Arm um Razamons Schulter und sagte: »Das Schiff wird niemals wieder fliegen können. Packen wir YhmʹDheer und versuchen wir, den Rest seines Geheimnisses zu erfahren.« Razamon, ohne den Blick von dem Wrack losreißen zu können, knurrte wütend: »Geht in Ordnung. Er ist ebenso schockiert wie wir.« Fiothra schluchzte, den Kopf an der Schulter des Halbbruders, leise vor sich hin. Jeder von ihnen wußte jetzt definitiv, daß sie auf diese Weise das Weltenfragment Dorkh nicht würden verlassen können. Plötzlich bewegte sich YhmʹDheer. Die beiden Arme, kurz und mit Händen, die den Tenkakeln von Polypen ähnelten, bewegten sich hektisch. Die Dutzende von biegsamen und fingerähnlichen Fortsätzen kennzeichneten deutlich die rasende Erregung, die diesen Exoten gepackt hatte. Ein Teil
seiner verdächtigten Erzählungen wurde hier zur schauerlichen Wahrheit. Das Gesicht zeigte keinen Ausdruck; es war nicht dafür geschaffen, die inneren Vorgänge des fremden Wesens widerzuspiegeln. Aber das Ende der spitzen Nase bewegte sich wie eine Kompaßnadel hierhin und dorthin. Atlan und Razamon gingen schnell und in gespannter Haltung auf den Gassuaren zu, der keine zehn Meter von ihnen entfernt war. Atlan murmelte in einem Tonfall, den Razamon kannte und richtig interpretierte: »Ich glaube nicht, daß es sehr schwer sein wird, YhmʹDheer zu überwältigen und dazu zu zwingen, uns nunmehr endgültig die Wahrheit zu sagen.« Die beiden Magier reagierten ähnlich wie Grizzard. Fiothra und Asparg hatten keinerlei magische Möglichkeiten, mit ihrer unendlichen Enttäuschung fertig zu werden. Sie sanken Seite an Seite auf einen dünnen Baumstamm, blieben sitzen und richteten ihre Blicke schweigend auf Atlan, den Gassuaren und Razamon. Razamon rüttelte an der Rundung von YhmʹDheers Schulter. Die Polypenärmchen des Fremden zuckten und schlängelten sich nervös. Das flache Gesicht drehte sich zu Razamon. YhmʹDheer stieß aus seinem Mundspalt hervor: »Mein Schiff! Es ist total vernichtet. Ich bin ein Gefangener auf Dorkh.« Der weit ausladende Helm bewegte sich federnd hin und her, als ob unter seinen Rändern ein Luftstrom toben würde. Irgendwie sah dieses Wesen wie ein merkwürdiger Pilz aus, fand Atlan. Noch immer stand Grizzard wie gelähmt da, und nur in seinem Gesicht zuckte und arbeitete es. »Wer hat dein Schiff zerstört?« fragte Razamon. »Es waren die Herren des SCHLOSSES! Gar nicht anders denkbar«, kam es zwischen den Raspelzähnen hervor. »Zuerst haben sie uns sechs einsperren lassen. Und dann fanden Sie das
Schiff und – ihr seht, was sie uns angetan haben.« Atlan erklärte steif: »Wir sind dir gefolgt. Uns betrifft die Zerstörung ebenso. Auch uns ist die Flucht von Dorkh unmöglich gemacht worden.« Stammelnd antwortete YhmʹDheer, kaum auf Atlans Argument eingehend oder wegen der Verfolgung überrascht zu sein: »Das ist das Todesurteil für mich.« »Warum gleich diese pessimistische Ansicht?« wollte Razamon wissen. Er näherte sich mit vorsichtigen Schritten dem Schiffswrack. »Die Uleb haben mich zum Tode verurteilt. Das Sterben wird nicht mehr lange auf sich warten lassen«, stammelte der Gassuare. Diesmal schien seine innere Erregung so groß zu sein, daß er nicht einmal daran dachte, sich zu verstellen und zu lügen. Unter dem Eindruck des Schocks sagte er die Wahrheit. »Davon scheinst du überzeugt zu sein?« fragte Atlan. »Wovon?« schrie der Gassuare. Im Augenblick war es im Wald seltsam ruhig, es erfolgte kein Angriff auf die fünf Fremden. Nicht einmal aus dem Gras, das den Boden der Lichtung bedeckte, stiegen Insekten auf. Vermutlich hing dies mit der Gegenwart von YhmʹDheer zusammen. »Von deinem baldigen Tod!« sagte Razamon grimmig. Das ausdrucksarme Gesicht des Gassuaren ließ nicht erkennen, ob er sich über die Gegenwart seiner Verfolger ärgerte oder sie erleichtert begrüßte. »Im SCHLOSS ist etwas Furchtbares passiert!« keuchte YhmʹDheer. »Wir hören?« »Niemand hat damit rechnen können«, fuhr der Vertreter des Dunklen Oheims fort, »daß sich unter der Kristallkuppel ein fremdes Wesen eingenistet hat.« »Dorkh wimmelt von fremden Wesen«, stellte Atlan beunruhigt fest. »Wir sind auch Fremde.« »Aber bei weitem nicht so wirkungsvoll«, sagte der Gassuare in
verändertem Tonfall. »Der Fremde ist durch unsere Anwesenheit und gewisse Manipulationen zu voller Aktivität erwacht. Ich habe es nicht mehr genau sehen können. Es ist schon zu groß geworden. Aber ich habe die Anwesenheit des Fremden deutlich gespürt. Ich irre mich bestimmt nicht.« »Was ist dies für ein Fremder? Wie sieht er aus? Was tut er …?« fragte Atlan. »Man sieht nur eine seltsame Schwärze«, erklärte YhmʹDheer aufgeregt, und sein Helm wippte, »die sich unter der Kuppel gesammelt hat. Der unheimliche Eindringling hat ganz Dorkh beeinflußt, alle lebenden Wesen auf Dorkh. Vermutlich hat er auch die Energieschirme über dem SCHLOSS zum Einsturz gebracht.« Razamon und Atlan überlegten und waren noch nicht in der Lage, alles zu verstehen. »Aus welchem Grund hätte er das tun sollen? Wie konnte er das anfangen – ist er so mächtig, dein Fremdling?« erkundigte sich der Berserker. »Seine Macht ist riesengroß«, lautete die angsterfüllte Antwort. »Niemand soll die Chance haben, vor ihm zu fliehen. Also mußte nicht nur mein Raumschiff zerstört werden, sondern auch die Schiffe unter den Energieschirmen. Dem Fremden ist bei der Katastrophe nichts geschehen. Es scheint mir, daß er durch den Zusammenbruch noch mächtiger geworden ist.« »Kennst du das Ziel des Fremden?« fragte Atlan. YhmʹDheer steigerte sich, während er erklärte, in immer größere Erregung hinein. Seine graue Haut zitterte ebenso wie die konischen Armstümpfe und die schlangenhaften Fingerchen. »Sein Ziel ist«, sagte der Gassuare langsam, »die Dorkher zu seinen Opfern zu machen. Spürt ihr die Schwingungen der Katastrophe? Sein Ziel ist ferner, ganz Dorkh zu erobern. Alles Leben auf dem Dimensionsfahrstuhl soll vernichtet werden. Ich habe das Massaker unter der Kuppel aus nächster Nähe miterlebt …«
Er drehte sich hin und her, lief zu seinem Schiff und umrundete es zweimal. Dann kam er wieder zurück zu der Gruppe der Wartenden. Verdächtige Ruhe herrschte über der Lichtung; nicht einmal das zornige Summen von Insekten war zu hören. »Meine Lage ist aussichtslos … keine Hoffnung mehr!« schrie YhmʹDheer mit überschlagender Stimme. »Mein Tod ist eine beschlossene Sache.« Seine Fingerchen züngelten aufwärts und ergriffen den Rand des Helmes. Mit einem entschlossenen Ruck riß der Gassuare den Helm von seinem Kopf, indem er die flache, silbrige Schale hochstemmte und dann zu Boden schmetterte. Angeblich war dieser »Helm« von den Haaren des Geschöpfes erzeugt worden. Aber auch dies schien eine von YhmʹDheers Lügen gewesen zu sein. Kaum hatte der Helm den Boden berührt und war der Gassuare ein Stück weit auf Grizzard zugetorkelt, schwankte er hin und her, kippte nach vorn und lag regungslos da. »Er ist tot«, kreischte Fiothra und sprang auf. Ihr Bruder echote dumpf: »Er hat sich selbst getötet.« Die Bewegungen waren alle in rasender Geschwindigkeit erfolgt. Atlan und Razamon hatten nicht eingreifen können. Als sie sich jetzt über den ausgestreckten, regungslosen Körper beugten, stellten sie fest, daß sich YhmʹDheer tatsächlich selbst das Leben genommen hatte. Seine Furcht und die absolute Aussichtslosigkeit seiner Lage hatten ihn umgebracht. Razamon hob den Kopf und schaute hinauf zu Atlan. »Es wird ernst, mein Freund«, meinte er halblaut. »Was wir bisher erlebten, war nur ein Vorspiel.« Im selben Augenblick erscholl vom Rand der Lichtung ein langgezogener, röhrender Schrei. Er riß sie alle aus ihrer Versunkenheit. Am schnellsten bewegte sich Grizzard. Er sprang auf den Schalenhelm des Toten zu, denn er war davon überzeugt,
daß dieser Helm YhmʹDheer vor den Angriffen der rasenden Umwelt geschützt hatte. 3. Grizzards Verwirrung erreichte einen neuen Höhepunkt. Als er die Lichtung betreten hatte, konnte er fühlen, wie eine tiefe Ruhe über ihn kam. Seine Angst verflog, seine Furcht fand keinen Gegenstand mehr. Langsam war er wieder in der Lage, seine Umgebung so wahrzunehmen, wie sie wirklich war. Nur in der Nähe des Gassuaren mit seinem silbernen Helm fühlte er sich einigermaßen wohl. Der Helm also schützte ihn vor den ununterbrochenen Bildern des Schreckens, die bisher von allen Seiten auf ihn eingedrungen waren. Der Helm hatte verhindert, daß ihn die rasenden Tiere angriffen und ihm Wunden zufügten. Es war die silberne Schale, die jetzt auf ihn zurollte, und nach der sich Atlan zu bücken schien. Sofort kam wieder die Panik über Grizzard – niemand sollte ihm seinen Schutz wegnehmen. Eine neue Welle von Ängsten überrollte ihn. Beim ersten Zeichen, daß wieder ein Tier angreifen würde, sprang Razamon zurück und riß seine Machete aus dem Boden. Das Tier befand sich jenseits des Wracks und war noch nicht zu sehen. Atlan bemerkte, daß Grizzard den Helm aufhob. Er ging auf den Jäger zu, denn auch er war einigermaßen sicher, daß der Helm des Gassuaren vor den Angriffen geschützt hatte. Atlan streckte den Arm aus, sah in Grizzards verwirrtes Gesicht und sagte mit einer Stimme, von der er hoffte, daß sie den Jäger beruhigte: »Überlasse mir den Helm, Grizzard. Ich will ihn untersuchen.« Grizzard packte die Ränder mit beiden Händen, machte einen Satz rückwärts und schrie: »Nein! Mich soll der Helm schützen.« Er war sicher, daß Atlan ihm den unersetzlichen Schutz entreißen
wollte, lief ein paar Schritte und stülpte sich blitzschnell den Helm auf den Kopf. »Halt! Nicht!« rief Atlan warnend. Es war zu spät. Grizzard starrte den Arkoniden schweigend an. Dann sog er röchelnd und pfeifend die Luft in die Lungen. Er brach zusammen, nachdem sein Körper in eine Reihe wilder Zuckungen verfallen war. Razamon und Atlan sprangen auf ihn zu, die neue Bedrohung aus der Tiefe des Waldes ignorierend. Der Extrasinn rief warnend: Es ist der Helm des Gassuaren! »Er stirbt daran!« keuchte Atlan, kniete sich neben Grizzards Kopf und zerrte an den Rändern des Helmes. Die tödliche Kopfbedeckung bewegte sich zwar, als bestünde sie tatsächlich aus elastischen, breiten Hornbändern, aber sie löste sich nicht. Razamon ließ sich neben Atlan ins Gras fallen und half Atlan, den Helm zu lösen. Aber der Helm heftete am Schädel des Jägers, als sei er dort festgewachsen. Schließlich spannte der Berserker seine Muskeln, riß am Helm und drehte ihn dabei. Grizzards Körper wurde einen Meter weit mitgezerrt, und dann erst löste sich der Helm. Es war zu spät. »Grizzard ist tot. Das zweite Opfer dieses verdammten Dinges«, keuchte Razamon und drehte den Helm herum. Atlan und er starrten verblüfft in das Innere dieses erstaunlichen Gegenstands. Er war eindeutig organischer Natur. In der Höhlung, die von den silberfarbenen Strängen gebildet wurde, befanden sich dünne, fingergleiche Tentakel mit nadelförmigen Saugnäpfen. Jetzt ringelten sie sich ein und zogen sich in das Material des Helmes zurück. »Unfreiwillig hat mir Grizzard das Leben gerettet«, sagte Atlan voller Ernst und stand auf. Vom Rand der Lichtung kamen knackende und prasselnde Geräusche, dann ein heiseres Knurren. »Ich wollte tatsächlich ebenfalls den Helm untersuchen. Wahrscheinlich hätte ich ihn mir auch aufgesetzt.«
»Was hat er nicht alles versucht«, sagte Razamon erschüttert und betrachtete den Leichnam Grizzards, »um in seinen Körper zurückzukommen.« »Er hatte nicht viel Freude nach diesem Tag«, meinte Atlan. »Legst du Wert auf den Helm?« Razamon machte eine wegwerfende Handbewegung und winkte Fiothra und Asparg. »Weg damit. Die Tiere werden uns wieder angreifen!« sagte er. »Wohin jetzt?« Atlan schleuderte den Helm in die Richtung des zertrümmerten Wracks und packte die Magierin an der Hand. »Auf alle Fälle hinaus aus diesem fürchterlichen Wald. Wir müssen versuchen, einen Zugor zu finden.« Asparg stieß hervor: »Hinaus in die Steppe. Dort gibt es wenige Tiere. Und dann zur Stadt der Verlorenen.« »Einverstanden. Also – nach Osten!« Die Magier sagten, während sich die Gruppe zusammendrängte und von der Lichtung flüchtete, daß in der Stadt der Verlorenen die Technos hausten. Von dort brachen sie bei jedem Stillstand des Dimensionsfahrstuhls mit ihren Zugors auf, durchstießen den Wölbmantel und raubten neue Bewohner für Dorkh von dem betroffenen Planeten. Zwischen den Bäumen fragte Razamon: »Meinst du, daß Dorkh in der nächsten Zeit auf einem Planeten mit atembarer Lufthülle zwischenlandet?« »Das nicht«, bekannte der Arkonide. »Aber wir können Torstadt erreichen. Wenn es auf Dorkh überhaupt noch ein raumtüchtiges Fahrzeug gibt, dann nur dort.« »Einverstanden. Wie weit ist es bis zur Stadt der Verlorenen, Fiothra?« rief Razamon und schlug vor ihnen die Spinnenfäden auseinander, die sich auf die Schultern der Flüchtenden senkten. »Ein guter Tagesmarsch. Aber jeder von uns ist zu Tode
erschöpft!« rief ihr Halbbruder. »Wir rasten, sobald wir einen Platz erreicht haben, an dem wir unseres Lebens sicherer sind als hier«, tröstete sie Atlan. Auch er fühlte trotz des Zellaktivators ein deutliches Nachlassen seiner Kräfte. Sie liefen auf der eigenen Spur zum Fluß und zur steinernen Brücke zurück. Das Wasser bot noch immer denselben Anblick: jedes schwimmende Wesen kämpfte gegen ein anderes. »Schrecken und Tod sind tatsächlich die wahren Herrscher über Dorkh«, rief Atlan unterdrückt, als sie in mäßigem Tempo versuchten, in Flußnähe die Steppe zu erreichen. »Wir haben nicht einmal Zeit gehabt, die Toten zu begraben oder wenigstens Steine über ihre Körper zu schichten.« »Es muß die Wahrheit sein, von der YhmʹDheer gesprochen hat. Ein fremdes Wesen wird mächtig und herrscht auf seine Art über Dorkh.« »Ich erkenne seine Herrschaft über uns nicht an«, sagte der Arkonide. »Und jeder von uns hat weitaus Schlimmeres überlebt.« »Trotzdem sind wir bei jedem zweiten Schritt tödlichen Gefahren ausgesetzt«, entgegnete der Berserker. Man sah ihnen die ausgestandenen Strapazen an. Atlan und die drei Übriggebliebenen der Gruppe taumelten dahin. Sie waren müde, ihre Kleidung bestand nur noch aus ausgefransten Fetzen, die Haut ihrer Hände und Gesichter trug unter dem Schmutz die Wunden der zahllosen Attacken der Tiere. Philosophische Überlegungen über die wahre Natur des aus wesenloser Schwärze bestehenden neuen Herren über Dorkh waren in diesen Momenten ebenso unangebracht wie die Trauer über zwei Wesen, die vor ihren Augen aus schwer zu klärenden Gründen gestorben waren. Vielleicht gab es in der Steppe weniger Überfälle, weniger Gefahren. Möglicherweise trafen sie jemanden, der das Lagerfeuer und seine Vorräte mit ihnen teilte. Es war sogar denkbar, daß sie wenigstens ein paar Stunden Schlaf haben konnten. Und schließlich würden sie sich irgendwo in der Stadt der
Verlorenen ein Versteck suchen können. Eine Stunde lang stolperten sie nach Osten. Sie verließen den Wald mit seinen ekelerregenden Spinnen und den Nußgeschossen. Vom Ufer des Singenden Flusses aus griffen lange, gepanzerte Krokodilwesen an, mit weit aufgerissenen Rachen und Schwänzen, die in lange Lederpeitschen ausliefen und explosionsartige Knalle erzeugten. Es gelang den vier Flüchtenden, den Schwänzen auszuweichen; ein einziger Treffer hätte genügt, um einen Körper halbwegs zu zerstückeln. Schlangen wühlten sich aus dem feuchtwarmen Sand, als der Wald von Fryg fast übergangslos in einen Streifen trockene Steppe mündete. Zischend und klappernd griffen die Reptilien an, und die beiden Männer aus Pthor mit den immer schwächer werdenden Magiern sprangen in vorsichtigen Sätzen hin und her. Aus ihrem Rennen wurde ein grotesker Tanz, der aus der Entfernung lächerlich wirkte, für sie aber lebensgefährliche Gründe hatte. »Wir haben immer wieder viele Technos mit ihren Zugors gesehen«, rief irgendwann Asparg. »Die Zugors starteten leer und kamen fast immer voller Gefangener zurück. Wir müssen uns in acht nehmen.« Atlan schüttelte den Kopf und blieb einige Sekunden lang stehen. Ein Streifen mit waschbrettartiger, harter Oberfläche lag vor ihnen. Keine Spuren. Hier waren sie tatsächlich sicherer. »Auch die Technos werden unter den Impulsen leiden«, gab er seiner Überzeugung Ausdruck. »Ein kleiner Vorteil für uns.« »Vorteil – Nachteil … wir sind auf uns selbst gestellt und befinden uns in einer keineswegs beneidenswerten Lage.« Razamon, der wieder einmal sich an die Spitze der zusammengeschmolzenen Gruppe gesetzt hatte, ließ sein Machetenmesser durch die Luft wirbeln. Er fuhr fort: »Ich hoffe, daß wir einen Zugor finden können. Nachdem wir mit YhmʹDheers Raumschiff kein Glück hatten, schaffen wir es vielleicht auf diese Weise. Allerdings rechne ich nicht damit, daß wir
innerhalb der Schwarzen Galaxis zufällig auf einen Planeten hinaus flüchten können, der uns echte Überlebenschancen bietet.« »Ich bin deiner Meinung«, rief der junge Magier. »Aber dort, wo die Einsätze der Horden des Pferches geleitet wurden, können wir mit einiger Sicherheit ein Schiff finden. Es ist sehr weit vom SCHLOSS entfernt.« Rund eine Stunde lang gingen sie über den harten Boden der Steppe. Es erfolgte kein einziger Angriff. Die Flüchtenden erholten sich ein wenig. Trotzdem waren sie von Gefühlen der Furcht und der Aussichtslosigkeit nach wie vor beherrscht. Die Kanten und Ecken der Gebäude, die weit vor ihnen aufragten und die Stadt der Verlorenen kennzeichneten, hoben und senkten sich hinter den Dünen oder tauchten dahinter auf. Nach einer Weile hielten die Vier auf dem Kamm einer niedrigen Düne an, und Fiothra deutete nach vorn. »Dort bewegt sich eine Karawane«, sagte sie erschöpft. Atlan, Asparg und Razamon blickten in die angezeigte Richtung. Tatsächlich tappten Reiter, Reittiere und Wanderer über die sandige Fläche. Sie strebten, etwa zwei Dutzend Personen mit und ohne Tiere, nach Norden. Von hier aus wirkte ihr Zug traurig und schleppend. »Es scheinen Zukahartos zu sein«, murmelte Atlan. »Und darüber hinaus wirken sie, als würden sie nicht voller hysterischer Aggressivität sein. Eher sehen sie aus, wie … ich weiß nicht recht, wie traurige, erschöpfte Wesen.« »So wie wir«, pflichtete ihm die junge Magierin bei. »Ich bin sicher, wir sollten nicht vor ihnen flüchten.« »Wir haben keine Wahl. Unsere Chancen sind gleich null. Mir knurrt der Magen, und ich bin müde bis zum Umfallen«, sagte der Berserker. »Schleppen wir uns weiter, auf die Fremden zu.« Wieder erstreckte sich vor ihnen eine Fläche aus hartem, zusammengebackenen Sand. Nicht einmal wütende Moskitos behelligten die Gruppe. Unangefochten, wenn auch in langsamem
Tempo erreichten sie die Stelle, an der einerseits einige wenige grüne Gewächse zu sehen waren, andererseits das Ziel der hoffnungslosen Karawane zu sein schien. Atlan sagte kurz: »Es sind Zukahartos. Und ein paar Turganer.« »Was haben sie hier verloren?« fragte Razamon knurrend. Sie stolperten einen flachen Hang hinunter. Vor ihnen und unter ihnen zeigte sich in dem Steppengebiet so etwas wie eine winzige Oase. Im ungewissen Licht schimmerte eine kleine Wasserfläche. »Vermutlich befinden sie sich in derselben Lage wie wir«, brummte Asparg. »Sie sind verwirrt, und sie flüchten in irgendeine Richtung, um den Impulsen des SCHLOSSES zu entkommen.« »Eine wahrscheinliche Erklärung.« Der Umstand, daß es weder hellen Tag noch schwarze Nacht gab und das Fehlen jeglicher Zeitmeßinstrumente erschwerte die Schätzung ungemein. Aber die kleine Gruppe war seit dem letzten Schlaf mindestens ununterbrochen zwanzig Stunden auf den Beinen. Die meiste Zeit davon hatten sie kämpfend und rennend verbracht. Ihre Erschöpfung war, so dachten sie, fast nicht mehr zu steigern. Sie gingen auf die dürftige Ansammlung von Büschen und Sträuchern zu, die sie in Ermangelung eines besseren Ausdrucks als »Oase« bezeichneten. Eine Art Palme überragte die Wasserfläche. Das Gewächs sah aus wie ein zerzauster, sandbestäubter Besen. Atlan murmelte verzweifelt: »Es wird verdammt schwierig werden, hier so etwas wie Ruhe zu finden. Aber wir können nicht so weitermachen wie bisher.« »Sieh dir Asparg und Fiothra an«, erwiderte Razamon finster. »Sie sind nur noch Gespenster ihrer selbst.« Die Gruppe kam aus dem Westen, die regellos zusammengewürfelte Karawane der Turganer und Zukahartos aus dem Süden. In gleichem Tempo näherten sie sich dem Wasser. Im Sand ragten einige halbhohe Felsen auf, in deren Schutz sich dürre Gräser und rotes Moos ausbreiteten. Der unverkennbare frische
Geruch, den das Wasser auszuströmen schien, verlieh den Lebewesen scheinbar neue Kräfte. Ihre Bewegungen wurden lockerer und leichter – so schien es. Einige der Turganer führten hinter ihren Reittieren schwerbeladene Lasttiere her. Vor einiger Zeit, als Razamon die Spur Atlans nach Turgan verfolgte, war dies für den Berserker ein gewohntes Bild gewesen. Auch die Lastchreeans ließen die Köpfe tief hängen und stolperten, jedesmal tiefe Löcher im Sand hinterlassend. Als die beiden Gruppen auf Rufweite einander nahegekommen waren, hob Razamon die Hand. Deutlich betont rief er hinüber: »Keine Feindschaft, kein Kampf! Ich sehe, auch ihr widersteht den verderblichen Schwingungen. Wir sind erschöpft und wollen mit euch zusammen rasten.« Undeutlich schallte die Antwort herüber. Einer der Turganer rief: »Ich bin Stophemuk aus Turgan, der bekannte Händler der Waffen. Kein Kampf. Auch wir sind auf der Flucht.« »Dann wird es ein friedliches Auskommen und Nebeneinander geben«, schrie Atlan und nahm Fiothra um die Schultern. Gemeinsam schleppten sie sich bis zum Rand der Wasserfläche und hockten sich zuerst einmal in den feuchten Sand. Langsam kamen die Zukahartos näher. Ein Mann stellte sich vor Razamon und sagte knarrend: »Ich bin Garshar und bin der Anführer der Zukahartos.« Razamon erwiderte, während er seine Ärmel hochstreifte und die Hände tief in das kühle Wasser tauchte: »Ich bin Razamon, der Starke Fremde. Der Mann mit dem weißen Haar ist Atlan, und unsere beiden Freunde heißen Fiothra und Asparg. Alle anderen sind tot.« Razamon hob grüßend die Hand, reinigte sich zuerst sein Gesicht und trank dann aus den hohlen Händen – nachdem er einen prüfenden Schluck genommen hatte und sah, daß sich die Tiere nicht scheuten, von dem Tümpel zu trinken – schweigend und
voller Wohlbehagen. Das kühle, frische Wasser aus geheimnisvollen Tiefen Dorkhs war ungiftig und wohlschmeckend. »Seid gegrüßt«, entgegnete der Karawanenführer. »Den Handel, denke ich, können wir für heute vergessen. In diesen Zeiten, in denen es keine Dunkelheit und keine Sonne gibt, ist es unmöglich, Geschäfte zu machen.« »Um so mehr«, sagte Atlan und tat dasselbe wie Razamon, »als wir nichts haben, um deine sicherlich hervorragenden Waren zu bezahlen.« »Trotzdem«, murmelte der Händler aus Turgan, »sind gerade Waffen in diesen bedrohlichen Zeiten ein Vorteil.« Die acht Zukahartos kamen heran, tranken Wasser und bildeten einen Viertelkreis um den Rand der Quelle. »Endlich!« sagte Fiothra und ließ sich nach vorn fallen. Die Ankömmlinge schwiegen und tranken, reinigten sich und ließen ihre Tiere saufen, dann entfachten zwei schweigende Turganer ein kleines Feuer aus mitgebrachten Holzkohlen. Einer murmelte: »Wir kochen eine Suppe, einen dicken Eintopf. Jeder wirft in den Topf, was er hat; wer nichts hat, darf trotzdem einen Happen haben.« »Ich steuere ein paar Handvoll Wasser bei«, sagte Razamon mit grimmigem Humor, »denn wir haben nichts anderes.« »Es reicht für alle, denke ich«, erwiderte der Turganer. Ein hagerer Parde aus Ljanas schlenderte zwischen den Tieren und den Männern heran, die sich erschöpft zu Boden geworfen hatten. Er blickte aus leuchtenden gelben Augen in die Runde und sagte schließlich in seinem kehligen Dialekt: »Auch ich fremd. Ihr suchen nach Versteck? Alle suchen. Alle sind verrückt und töten sich.« Der Anführer der turganischen Handelskarawane nickte und pflichtete ihm bei: »Wir alle suchen nach einem Versteck, Mann von Ljanas. Seit das
SCHLOSS in Brand geriet, galoppieren Wahnsinn und Totschlag mit verhängten Zügeln über Dorkh. Nicht nur die Dorkher, sondern alle Tiere sind voller Wahnsinn. Wir haben das seltene Glück, einen ruhigen Platz gefunden zu haben. Setz dich her und erzähle uns, was du erlebt hast.« »Da hat jeder viel zu erzählen«, sagte Asparg. Sie hatten sich notdürftig gereinigt und fühlten sich etwas besser. Das Feuer brannte mit stechenden Flammen. Aus dem braunen Sud stiegen allerlei verlockende Gerüche auf. Fleisch wurde geschnitten, Gewürze und Früchte fielen in das heiße Wasser, Brotfladen wurden hineingebrochen. Trotz aller Ruhe und Besonnenheit, die im Augenblick diese kleine Notgemeinschaft auszeichnete, war unter den Dorkhern eine deutliche Unruhe spürbar. Auch sie kämpfen gegen die Impulse, lautete die Erklärung des Logiksektors. Nachdem alle Wanderer sich rund um das Feuer gelagert hatten, die Tiere an den mageren Blättern rupften, die verdächtig schweren Lasten der klapprigen Tragetiere im Sand lagen, begann Stophemuk, indem er auf Razamon und Atlan deutete: »Ihr wirkt, als würde euch das alles«, er machte eine Bewegung, die Dorkh und die herrschenden mißlichen Umstände kennzeichnete, »nicht berühren. Seid ihr nicht von der Unruhe und dem ausbrechenden Leichtsinn gepackt?« »Wir können den verderblichen Impulsen noch widerstehen«, antwortete Atlan wahrheitsgemäß. Sein Magen knurrte laut; der Geruch der Suppe zog in dicken Schwaden durch das Lager. »Ihr seid die geborenen Anführer!« erklärte Stophemuk zufrieden. »Meine Lasten sind voller Waffen.« »Waffen? Welcher Art?« »Alles Denkbare. Genug, um eine kleine Armee auszurüsten. Nehmt die besten und gefährlichsten Waffen und führt uns an. Wir dachten daran, uns in der Stadt der Verlorenen zu verstecken, bis alles vorbei ist.«
»Es ist auch unser Ziel«, murmelte Asparg gähnend. »Wann ist eure Suppe fertig?« »Bald«, sagte der Mann am Feuer. Plötzlich sprang eines der ruhenden Lasttiere auf, schlug wild nach allen Richtungen um sich und wurde von zwei Zukahartos nur mit Mühe wieder eingefangen. Die Nervosität steigerte sich spürbar. »Wir alle selbe Erfahrung. Wir alle geflüchtet«, sagte der Parde und nickte mehrmals. »Waffen gut. Aber wenig helfen.« »Immerhin kann man sich damit die ärgsten Angreifer vom Hals halten«, sagte Atlan und betrachtete sinnend die schlafende Fiothra, die ausgestreckt neben seinen Knien lag. »Kann man die Stadt der Verlorenen von hier aus sehen? Ist es der Berg am Horizont?« »Wohl, wohl«, murmelte der Parde. »Stadt im Park.« Die Turganer fesselten ihren Tieren die Beine und öffneten einige der Packen, in denen sich die schweren Waffenlasten befanden. Sie winkten einladend, und ächzend standen Atlan und der Berserker auf. Sie gingen hinüber und sahen sich an, was die Händler unter anderen Umständen einer staunenden Menge angeboten und verkauft hätten. Es waren buchstäblich alle Arten von Waffen, von hervorragend geschliffenen Messern in ledernen Scheiden bis zu peitschenähnlichen Energiewaffen. Der Turganer machte eine einladende Geste. »Nehmt, was ihr wollt!« sagte er wegwerfend. Razamon und Atlan wählten zunächst zwei Dolche, die sie sich an die Oberschenkel schnallten. »Danke«, brummte Atlan. »Wenn die Last zu groß ist, nützen selbst die besten Waffen nichts. Aber das eine oder andere Stück interessiert mich.« Eine kleine Waffe, die kurze Blitze verschoß und tödliche Wirkung hatte, wechselte den Besitzer. Razamon wählte eine langstielige Kampfaxt und einen etwas größeren Strahler. Schließlich suchte sich Atlan noch eine schwere, revolverähnliche Waffe aus, die gut in seiner Faust lag und Explosivgeschosse verfeuerte, dazu eine Reihe
von großen, scheibenförmigen Magazinen voll von verschiedenfarbenen Patronen. »Das reicht«, bestimmte Razamon und nahm auch für Fiothra und Asparg Messer und kleine Schußwaffen mit. »Deine Geschenke sind uns hochwillkommen und schließlich auch die heiße Suppe, denn wir haben seit tausend Kilometern nichts mehr gegessen.« Sein Magen knurrte und unterstrich die Ehrlichkeit seiner Rede. Atlan warf einen Blick in den kupfernen Kessel, der auf einem plumpen Dreibein über den Flammen gedreht wurde. Jeder der Angehörigen der Karawane hatte zu dem Essen etwas beigetragen; Braten, winzige Eier, gemahlenes Schrot, trockene gelbe Pilze und andere Zutaten vermengten sich zu einer undefinierbaren, aber aufmunternd riechenden Brühe. Ein Zukaharto verteilte schweigend große Holzlöffel. Obwohl jeder der Anwesenden todmüde war, beherrschten Nervosität und Unruhe die Szene. Ab und zu sprang einer auf, griff nach seiner Waffe und rannte ein paar Schritte aus dem Lagerkreis hinaus. Er warf wilde Blicke in die Runde, spähte in die Steppe hinaus, sah zum grauen, schlierendurchzogenen Himmel und kam wieder mit gesenktem Kopf zurück. Ab und zu fuhr ein klagender Windstoß über die winzige Oase dahin, wirbelte Sand auf und mischte ihn mit den Gerüchen des schmorenden Eintopfs. Der Koch nahm ein Hohlgefäß, schöpfte es voll Quellwasser und schüttete es in die dicke Suppe, dann hob er den Topf vom Feuer und stellte ihn zwischen die Wesen, die in allen Stellungen dasaßen, lagen und standen. »Eßt!« rief er, als preise er eine Ware an. »Ich habe einschläfernde Gewürze verwendet. Ihr werdet gut schlafen nach dieser Suppe der Wunder.« Mehr oder weniger ruhig tauchten sie nacheinander ihre Holzlöffel in den dampfenden, klumpigen Brei. Die Suppe schmeckte tatsächlich so gut, wie sie roch. Auch Fiothra wachte auf und aß mit wahrem Heißhunger. Mitten unter dem Essen versuchte
ein Reittier der Turganer, sich loszureißen. Es stob in einem halsbrecherischem Galopp mitten durch den Kreis der Essenden und versank bis zur Brust im Wasserloch, ehe es sich losstrampelte und von den Turganern angehalten wurde. Sie schlugen mit den Griffen der Peitschen zu, wickelten Seile um die Beine und brachten das Tier einige Meter nach der Quelle zu Fall. Dann kamen sie zum Kessel zurück, als sei nichts geschehen. Trocken bemerkte der Parde: »Aufregungen überall. Nichts ist normal. Chaos herrscht. Versteck in Verlorenenstadt einzige Rettung.« »Das wird sich erst noch herausstellen«, sagte Atlan ruhig. »Aber mir scheint es, daß Hausmauern doch etwas mehr Schutz bieten als dürre Wüstenbüsche.« Der Eintopf schmeckte wirklich ausgezeichnet. Allerdings hätten sie ihn unter allen Umständen gegessen; ihr Hunger zeigte sich beim ersten Bissen und überfiel sie erneut mit großer Macht. Einige Schlucke Wasser aus dem Teich rundeten die Mahlzeit ab. Der Berserker sah schweigend zu, wie einige Turganer untereinander die Wachfolge ausknobelten. »Schlafen!« sagte er dann. »Weckt mich, wenn ihr einen zuverlässigen Wächter braucht.« »Darauf kannst du dich verlassen«, antwortete einer der Männer aus dem Land der Zukahartos. Jeder von ihnen suchte sich einen geschützten Platz unter einem Busch. Atlan legte sich zwischen die Wurzeln der knotigen Palme, blickte noch einige Zeit in die Runde und fühlte erleichtert die wärmenden Strahlungen, die vom Zellschwingungsaktivator ausgingen. Der Zustand der Leute von Dorkh war im Augenblick ausgeglichen. Jedenfalls schien es so. Selbst die Reittiere verhielten sich ruhig. Aber dies alles konnte sich binnen weniger Sekunden ändern. Atlan schlief ein. Seine letzten Gedanken befaßten sich mit seinen Erwartungen.
Großer Optimismus verbot sich von selbst. Aber vielleicht waren ihre Chancen, zu entkommen, nicht ganz so schlecht, wie er befürchtete. 4. Immer wieder wachte einer von ihnen auf. Aber es waren nur die Geräusche zu hören, die Dorkh auf seinem rätselhaften Kurs durch den Dimensionskorridor erzeugte. Kein Tier kam zur Tränke, keiner der Männer versuchte, den anderen zu bekämpfen – war es denkbar, daß die Impulse vom SCHLOSS nachgelassen hatten? Dreimal öffnete der Arkonide die Augen und sah jedesmal, wie sich Razamon aufrichtete und, die Hand am Griff der Waffe, schweigend und konzentriert jeden Zentimeter der Umgebung musterte. Die Magier aus Shatna schliefen wie tot. Deine Kräfte kehren mehr und mehr zurück, meldete sich der Logiksektor. Atlan winkte dem Berserker zu, grinste kurz und ließ den Kopf wieder sinken. Er schlief weiter. Chaotischer Lärm ließ den Arkoniden in die Höhe taumeln. Sekunden später war er hellwach. In dem kleinen Lager war die Panik ausgebrochen – oder genauer, sie war wieder zurückgekehrt. Zwei Tiere hatten ihre Fesseln gesprengt und sprangen schreiend und grunzend am Rand des Tümpels hin und her. Ihre Hufe wirbelten Sandwolken auf. Ein Tritt schleuderte den Topf aus den letzten Resten der Glut. Einige Funken trafen auf die Haut von Schlafenden. Sie sprangen auf, fluchten und vergrößerten das Durcheinander. Ein Zukaharto war einem neuen Schub der Strahlung erlegen. Er rannte hin und her. In seinen Armen hielt er eine langläufige Waffe. Hin und wieder, ohne recht zu zielen, feuerte er sie ab. In der halben Helligkeit leuchteten orangerot die langen Mündungsblitze. Sand
spritzte auf, ein Geschoß traf den Stamm der Palme und ließ ihn zittern. Augenblicklich waren Razamon und Atlan auf den Beinen. Sie verständigten sich mit einigen Gesten. Dann rannten sie von zwei Seiten auf den Tobenden zu. Der Mann stolperte in diesem Moment über die Waffe. Ein Schuß löste sich und traf zufällig die Kruppe eines Tieres. Mehrere Turganer wirbelten lange Schnüre durch die Luft und versuchten, die durchgehenden Tiere einzufangen. Lasten rissen auf und verstreuten ihren Inhalt in den harten Sand. Ein Feuerstoß zischte und krachte zwischen den rennenden Gestalten hindurch und warf in der Mitte des Tümpels Wasserfontänen auf. Razamon bückte sich im Laufen, schöpfte seine Hände voller Sand und schleuderte ihn, als er nahe genug herangekommen war, gegen den Kopf des rasenden Mannes. Atlan sprang ihn seitlich an, schlug zweimal kurz zu und fing die Waffe auf. Dann stellte er dem Zukaharto ein Bein. Schreiend brach der Dorkher zu Boden und wurde von Razamon mit einem Spezialgriff bewußtlos gemacht. Sofort drehten sich die beiden Männer herum und versuchten festzustellen, ob der Wiederausbruch der Panik angesteckt hatte. Keine Zeichen dafür! sagte der Extrasinn. Den vereinten Anstrengungen der Händler gelang es bald, die rasenden Tiere wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Ruhe war vollständig dahin. Einige Männer verteilten trockenes Fladenbrot und ließen einen Weinschlauch herumgehen. Dann wurden die Reittiere gesattelt und die Lasten auf die Rücken der Packtiere geschnallt. Der Parde murmelte: »Groß Aufregung. Schlaf zu Ende. Verlorene Stadt nächstes Ziel, ja?« »So ist es«, bekräftigte Razamon grimmig. Die vorübergehende Ruhe war trügerisch. Die Tiere stemmten sich gegen die Zügel und mußten mit Schlägen gefügig gemacht werden.
Wieder kamen Stophemuk und Garshar auf den Arkoniden und seinen Freund zu. »Führt uns an. Ihr seid entschlossen und schnell.« »Es mag sein«, gab Atlan zu bedenken, »daß sich unsere Wege in der Stadt der Verlorenen schnell trennen.« Der Turganer deutete auf die Erhebung inmitten einer dunkelgrünen Fläche, deren Einzelheiten nicht zu unterscheiden waren. »Wenig ist mehr als nichts«, sagte er fatalistisch. »Nicht wahr, Garshar?« »Mein Wort!« stimmte der Zukaharto zu. »Als ich gesehen habe, wie ihr meinen Kameraden beruhigt habt … ihr müßt uns führen. Ihr habt Waffen, und wir alle sind ausgeruht. Es wird nicht so schwer sein wie in der vergangenen Zeit.« »Geht in Ordnung«, murmelte der Berserker. »Es gibt schlimmere Arbeiten.« Er hob sich auf die Zehenspitzen, ließ einen prüfenden Blick umhergehen und grinste Atlan aufmunternd zu. Offensichtlich sah auch der Berserker, daß sich die Mitglieder der Karawane in großer Eile und in gewohnter Sicherheit fertigmachten. Die ersten Tiere setzten sich in Bewegung, die Reiter schwangen sich auf die Rücken der Chreeans. »Gehen wir«, sagte Atlan zu Fiothra und hob sie in den Sattel eines schmächtigen Turganers. »Heute haben wir es etwas bequemer.« »Ich kann es noch nicht glauben«, gestand sie. »Gestern glaubte ich, ich müßte sterben.« »Vergiß es«, murmelte Atlan. »Dort ist unser Ziel.« Sie verließen die Oase, die ihnen tatsächlich einen ruhigen Aufenthalt gesichert hatte. Das Durcheinander aus Lasten, Tieren und Männern gliederte sich in geordnete Bahnen, und so war bald wieder eine langgezogene Karawane entstanden, die Atlan und Razamon und dem Händler aus Turgan folgte. Weit voraus lag die Stadt der Verlorenen.
Als die Karawane näher gekommen war, etwa drei Stunden später, erkannten sie deutlichere Einzelheiten. Der eine oder andere Händler war bereits in der Siedlung der Technos gewesen. Wie ein Berg erhob sich die Stadt aus einer Landschaft, die durch ihren parkähnlichen Charakter auffiel. Hätte es Sonne, Schatten, blauen Himmel und treibende Wolken gegeben, würde Atlan die Umgebung als traumhaft schön bezeichnet haben. Die Gebäude bestanden im Gegensatz zu der Senke der verlorenen Seelen, denn dieser Vergleich drängte sich Razamon und Atlan schnell auf, nicht aus Glas, sondern aus hellem Kunststein. Falls auch hier fremde Wesen im Tiefschlaf versteckt waren, befanden sie sich nicht in einzelnen, weit auseinanderstehenden Bauwerken, sondern in einem wüsten Konglomerat aus Ecken, Kanten und Winkeln. Die Häuser in unterschiedlichen Größen waren pyramidenförmig übereinandergetürmt. Aber es gab nicht eine einzige ruhige Fläche. Kleine Würfel schwebten, von Stegen und Treppen gehalten, über größeren geometrischen Formen. Längliche, schachtelförmige Bauteile erhoben sich über eckigen Säulen, in denen Nischen gähnten und Vorsprünge kantig hervorlugten. Zwischen einzelnen Teilen der Berge aus Würfeln und Kastenelementen gab es breite Schneisen, durch die man die Landschaft hinter der Stadt sah. Jedes Bauelement der Stadt schien mit allen anderen durch ein verwirrendes System von Verbindungen zusammengeheftet. Leitern rankten sich hochkant und waagrecht zwischen den Wänden und Böden und Decken hindurch. Treppen schlängelten sich kühn im Zickzack an den Außenseiten der Pyramide entlang. Brücken spannten sich über die Durchblicke und tauchten abwärts, zielten aufwärts. Kein einziges Fleckchen Grün war in dieser seltsamen Stadt zu sehen, auch blinkten keine Glasscheiben oder Metallflächen. Wie ein merkwürdiges, hellgraugelbes Kristallgebilde stemmte sich die Stadt aus der ebenen Fläche des Parks.
Schließlich wandte sich Razamon an den Arkoniden und stellte beunruhigt fest: »Dieses Gegenstück zur Senke auf Pthor mißfällt mir aus mehreren Gründen. Wenn dort tatsächlich fremde Wesen im Tiefschlaf liegen, dann bereitete ihr Hineinschaffen große Schwierigkeiten.« »Und das Hinaustransportieren nicht weniger«, brummte Atlan. Fiothra und ihr Halbbruder ritten beziehungsweise gingen so weit von den zwei Männern entfernt, daß sie nicht verstanden, worüber sie sich unterhielten. Razamon nickte; seine Unruhe und innere Anspannung schienen spätestens seit dem Schlaf verschwunden zu sein. Er zuckte mit den Schultern und ergänzte: »Die parkähnliche Landschaft trügt. Vermutlich will man einen anderen Eindruck hervorrufen. Wozu, das weiß sicher nur der Dunkle Oheim.« »Er weiß es, ganz bestimmt«, meinte Atlan. »Haben sich die Erbauer dieser Stadt hier nicht getraut, über eine bestimmte Grundfläche hinaus Gebäude zu errichten?« Sie gingen und ritten zwischen die ersten Büsche und Bäume des Parks hinein. Die Chreeans scheuten nicht, auch keinerlei aggressive Tiere griffen an. Noch nicht. Atlan wandte sich nach hinten und fragte Stophemuk: »Bist du nicht auch der Ansicht, daß die Zugors auf den obersten Dächern und Plattformen zu finden sind?« Hinter seinem Gesichtsschutz hervor entgegnete der Turganer: »Immer wenn wir hier waren und Zugors landeten, taten sie es ganz oben.« Sein Hintermann fügte stockend hinzu: »Ganz oben, richtig. Aber sie flogen auch durch die Klüfte zwischen den Wänden und unter den Stegen und Treppen hindurch.« Ein breiter, kiesbestreuter Weg wand sich in sanften Schleifen durch den verwilderten, aber mit System und überlegter Planung
angelegten Park. Jeder einzelne Schritt rief ein knirschendes Geräusch hervor, so daß die vielen Füße und Hufe der Karawane ein dauerndes Prasseln erzeugten. Razamon blieb stehen, als er zwischen dem düsteren Grün etwas Weißes schimmern sah. In diesem Moment glich der schwarzhaarige, hagere Mann mehr denn je einem Habicht mit ebenso flinken Augen. »Etwas nicht in Ordnung?« erkundigte sich Atlan und blickte in die Richtung des ausgestreckten Arms. »Eine Statue. Sie zeigt ein Wesen, das wir nicht kennen.« Die Karawane bewegte sich in gleichem Schrittempo ungehindert weiter. »Etwas Abwechslung in dem öden Trott«, versuchte Atlan schwach zu scherzen. Die Augen der beiden Magier hefteten sich auf die Figur, die auf einem runden Säulenstumpf stand. Es war ein phantastisches Wesen, offensichtlich aus einer Art milchigen Glases oder aus weißem Stein herausmodelliert. »Ein Ding, das starke Ähnlichkeit mit einem Kraken hat«, sagte Razamon wegwerfend. »Vielleicht ist es der Erbauer der Stadt.« »Wenn der Baumeister ein Krake war, dann würde die Stadt der Verdammten runder aussehen, wie unter Wasser gelegen«, mutmaßte Atlan. »Eines ist so unsicher wie das andere«, rief der junge Magier. »Ich kenne dieses Wesen auch nicht.« Totenstille umgab sie alle. Der Weg durch den Park führte an Wiesen mit hochgewachsenem Gras vorbei, an einzelnen Baumgruppen und an Buschreihen, zwischen denen immer wieder alle denkbaren Formen von Postamenten und daraufgestellten Gestalten aus weißem Stein zu sehen waren. Eine der Statuen war fremder als die andere. Sie schienen Wesen darzustellen, die einer ungewöhnlich bizarren und kranken Phantasie entsprungen waren – aber die Wahrscheinlichkeit, daß sie Bewohner oder Mutationen irgendeines
Planeten in der Schwarzen Galaxis waren, bestand durchaus. Schweigend und mit hochgezogenen Schultern saßen die Turganer und die Zukahartos auf ihren Reittieren. Die Stille, die wuchtigen Gebäude der hochgetürmten Stadt und die gebrochenen Farben beunruhigten sie. Der Zukaharto, der den Impulsen verfallen war und begonnen hatte, Amok zu laufen, regte sich und schrie unverständliche Worte. Man hatte ihn quer über einen Sattel gebunden. »Labyrinth«, rief der Parde. »Totenstadt. Große Fürchtigkeit.« Atlan winkte nach hinten; er fand an der bemerkenswert intensiven Stille nur wenig, das ihn ängstigte. Nach den ununterbrochenen Kämpfen der vorletzten Wegstrecke war diese Ruhe mehr als eine Erholung. Die letzte Baumgruppe blieb hinter ihnen zurück. Wiesen breiteten sich aus und stiegen an den Rändern der Gebäude leicht an. Zwei geschwungene Buschreihen führten wie Mauern auf eine breite Rampe ohne Stufen zu, die im Innern der Stadt verschwand. Stophemuk bemerkte undeutlich: »Es lassen sich keine Tiere blicken. Niemand und nichts greift an. Es gibt auch keine Dorkher, scheintʹs mir.« Atlan pflichtete ihm bei: »Jedenfalls keine sichtbaren. Nehmen wir an, daß unser Kommen genau beobachtet wird.« »Und was tun wir mit den Tieren?« »Wir treiben sie zwischen die Häuser und binden sie«, schlug jemand weiter hinten aus der Karawane vor. »Sollten wir sterben, nützen sie uns ohnehin wenig.« »Das«, sagte der Händler bitter, »ist die richtige Einstellung eines freien Handelsmanns! Denkt daran, daß wir hier vielleicht Sklaven fangen können.« »Etwa Technos?« begehrte ein anderer auf. Leises, furchtsames Gelächter antwortete ihm. Der Zug bewegte sich die Rampe hinauf und kam auf einen freien Platz, der von
Mauern umstanden war. Viele Treppen und Stege führten kreuz und quer in verwirrender Vielfalt aufwärts und nach allen Richtungen. Leere Fensterhöhlen und halb geöffnete Türen verschiedener Größe gähnten die Eindringlinge an. Die Männer ließen sich aus den Sätteln fallen, luden Teile der Lasten ab und fesselten die Tiere an lange Leinen, die sie um massive Säulen in den Fensterhöhlungen schlangen. Razamon hob auffordernd seine Streitaxt, deutete durch einen schrägen Schacht zum grauen Himmel und sagte: »Ehe wir hinaufklettern, sollten wir uns hier umsehen. Schwärmt aus, Männer, und wer etwas Interessantes findet, meldet es sofort.« Die Reiter zogen entschlossen ihre Waffen, stießen Flüche und Kommandos aus, mit denen sie sich selbst Mut machten und gingen schnell in alle Richtungen auseinander. Eine Gruppe bildete sich rasch, die aus Atlan und Razamon, dem Magierpärchen und Stophemuk bestand. »Hier unten scheint alles leer zu sein«, stieß er hervor und umklammerte Razamons Schulter. »Trotzdem – sehen wir nach.« »Genau das beabsichtigen wir«, versicherte der Berserker. »Und zwar einigermaßen gründlich.« Zwischen den Mauern herrschte ein noch trüberes Zwielicht. Allein schon dieses geheimnisvolle Halbdunkel war geeignet, ängstliche Naturen das Grauen zu lehren. Überall lag eine dicke Schicht aus Staub, winzigen Teilen der Mauern und zusammengewehtem Laub und anderen Pflanzenresten. Jeder Schritt wirbelte feine Wolken hoch, die vielen Spuren prägten sich tief in den Schmutz ein. Die Mauern, Ecken, Kanten und Durchgänge verwandelten sich bald in ein Labyrinth, aus dem nur die eigenen Spuren einen Ausweg versprachen. Knirschend öffneten sich Türen, wenn sich die Männer mit den Schultern dagegenstemmten. Die Räume dahinter waren leer. Hin und wieder konnte man die Umrisse seltsamer Maschinen oder halb zerfallener Geräte sehen – und alles war von
einer dicken Kruste aus Staub, den Netzen längst gestorbener Spinnentiere und angewehten Haufen von Pflanzenüberbleibseln umgeben. »Nicht nur eine Stadt der Verlorenen«, sagte Atlan nach einer Weile und hustete, »sondern auch eine ausgestorbene Stadt. Vielleicht spielt sich das gesellschaftliche Leben auf höherer Ebene ab.« Razamon grinste säuerlich und schnippte mit den Fingern. »Manchmal beneide ich dich um deinen Sinn für Situationskomik«, entgegnete er. »Ich vermute, du willst deinem Herzen nur Luft machen.« »So ist es!« versicherte Atlan grimmig. »Mir ist nicht zum Scherzen zumute. Seit dem Tag der Ankunft auf Dorkh habe ich nicht gescherzt.« »Du hattest auch keinen Grund. So wie jetzt«, antwortete Razamon. »Und auch hier: gähnende, aber staubige Leere.« Sie blickten durch große Fenster in ausgedehnte und verlassene Räume hinein. Es gab keine Spur von Leben hier. Ab und zu ertönte, halb als hallendes Echo, ein Schrei, ein Fluch oder ein Kommando von einer der anderen Gruppen durch den Irrgarten aus Wänden, Vorsprüngen, Nischen und Rampen. Eine chaotische Ansammlung von derartigen Stilelementen erstreckte sich hier, deren Sinn keinem der Anwesenden klar wurde. »Ich habe von der Stadt nur Legenden und Berichte gehört. Sie war für uns aus Shatna stets eine Quelle der Geheimnisse und schauerlicher Vorstellungen«, meinte Fiothra schulterzuckend. »Ich gehe mit euch, weil ich mich so am sichersten fühle. Neugierde ist es nicht, die mich treibt.« »Das kann sich schnell ändern«, widersprach ihr Halbbruder. »Vielleicht ist es so, wie Atlan sagt. Das Leben hat sich nach oben zurückgezogen. Auch die schlafenden Fremden werden, unter Umständen, oben zu finden sein.« Der Turganer, der bisher finster und schweigend gefolgt war und
die leeren Räume auf der linken Seite musterte, brach sein skeptisches Schweigen und rief zornig: »Auf nichts ist Verlaß. Nach dem, was ich hörte, war die Stadt vor kurzem noch ein begehrtes Ziel von Händlern. Aber hier gibt es nicht einmal Spuren von Technos oder Wächtern. Und schon gar keine von fremden Wesen.« »Warten wir ab!« sagte Atlan, hob beide Hände an den Mund und schrie: »Wir, die erste Gruppe, steigen aufwärts. Folgt uns und gebt diese Nachricht weiter!« Ein deutliches Echo, Arkonide, bemerkte ironisch zwei Sekunden später der Extrasinn. Vermischt mit den Echos von Atlans Gebrüll kamen die Antworten von hinten, beiden Seiten und vorn. Dann breitete sich wieder die lastende Stille aus. Die fünf Personen stiegen etwa zweihundert breite Stufen aufwärts, die in unberechenbarem Zickzack zwischen Wänden, über kleine Abgründe und entlang anderer Wände führten. Schließlich standen sie schwitzend auf einem Dach, dessen Kante von einem massiven Geländer. Der Himmel über ihnen, von dem sie jetzt ein größeres Stück sahen, war von der Farbe schmutziges Wassers. Die Gruppe befand sich zufällig an einer Außenfläche der Turmstadt. Von hier aus sah man weit ins Land hinein. Auch hinüber zum SCHLOSS blickte man ohne Schwierigkeiten. »Es zuckt und brodelt und glüht noch immer!« sagte Asparg traurig. »Aber ich spüre die Impulse nur noch schwach und ganz tief innen.« »Auch das, mein Freund«, sagte Atlan abwartend, »kann sich leider schnell ändern.« Sie wandten sich um und gingen wieder ins »Innere« der Stadt. Hier, wo Wind und Regen leichter Zutritt fanden, lag weitaus weniger Staub. Trotzdem gab es keine Spuren, nicht einmal die von Vögeln, die sich hier zur Rast niedergelassen haben mochten.
Ein ungastlicher, abstoßender Platz. Gib acht! flüsterte der Logiksektor. Plötzlich stießen sie auf die erste Spur! »Halt! Nicht darüberlaufen!« sagte Razamon scharf und zog seine Waffe. Er drehte sich langsam einmal um seine eigene Achse. Sein Kopf hob und senkte sich. Seine Augen suchten jeden Winkel und jeden Vorsprung ab. »Keine Bewegungen. Nichts!« brummte Atlan. Auch hier gab es nur knirschende Tore, leere Fensterhöhlen und scharfkantige Brüstungen. »Wir müssen höher hinauf.« Die Spur vor ihnen verlief quer zu ihrem bisherigen Weg und sah aus, als habe sie ein Techno hinterlassen. Sofort folgten sie ihr und kamen, wie nicht anders erwartet, an ein neues System von Gängen, Treppen und schrägen Flächen. Etwa dreißig Meter höher entdeckten sie die erste geschlossene Tür. Hier lag kein Staub mehr. Unzählige Spuren hatten sich während der letzten Stunde der Suche gezeigt. Die meisten von ihnen verliefen hin und her, von Tür zu Tür, und schließlich vereinigten sie sich und gingen bis zu einer Stelle, wo sie aufhörten, weil kein Staub mehr lag. Die Portale, Türen und Schotte waren hier oben, etwa auf der Trennlinie des obersten Drittels, sauber und glänzten. In den Fenstern waren undurchsichtige Scheiben aus einer Glassubstanz. Atlan lief auf ein Schott zu, drehte an den Riegeln und Zuhaltungen und zog die schwere Türplatte auf. Licht fiel ins Innere einer großen Kammer. »Da sind die Schläfer!« Razamon deutete hinein. Neugierig kamen die Magier und der Turganer näher und warfen schweigende Blicke in den Raum. Zum Teil in offenen Kästen, zum anderen Teil auf niedrigen, glatten Bahren, geschützt durch einen transparenten Überzug, lagen bewegungslos die Schläfer. Man konnte ihr Aussehen in dem wenigen Licht nicht genau erkennen, aber sie alle sahen fremd und
exotisch aus. »Dorkh hat also auch Beutezüge unternommen und eine Menge Wesen von Fremdwelten eingefangen«, sagte Atlan und versuchte, die Schrift auf der Torplatte und an anderen Stellen zu entziffern. Sie ähnelte den Symbolen auf den Parraxynt‐Bruchstücken. »Und dies ist der Beweis, daß die Stadt der Verlorenen noch intakt ist«, betonte Razamon. »Aber wir suchen keine Schläfer, sondern Zugors. Weiter, Freunde.« Nach einem letzten Blick auf die etwa fünfzig Schläfer in dieser einen Kammer verschlossen sie wieder das Schott und gingen weiter. »Ab jetzt sollten wir keinen Lärm machen«, empfahl Atlan und entsicherte die Turgan‐Waffe. »Wir stoßen vermutlich bald auf die Wächter. Ich kann mir vorstellen, daß sie uns angreifen werden, denn sie schützen die Schläfer.« »Verstanden!« antwortete Stophemuk, und das Magierpärchen nickte eifrig. Sie folgten dem Weg, der sich ihnen gewissermaßen anbot. Von tief unten tönte hallender Lärm herauf und brach sich echohaft an den Schluchten zwischen den Sektoren. Als die Gruppe einen solchen Spalt auf einem schmalen Steg überquerte, blickten die Eindringlinge nach unten. Dort konnten sie die anderen Mitglieder der Karawane erkennen, ameisenhaft klein und durcheinanderlaufend. Einige von ihnen befanden sich bereits im zweiten Drittel der Stadt. Der Turganer faßte sich plötzlich mit beiden Händen an den Kopf und stöhnte auf. »Das SCHLOSS«, keuchte er. »Ich werde rasend …« Einen Sekundenbruchteil später spürten es auch seine vier Kameraden. Wieder schlugen starke Wellen von Impulsen in ihren Verstand ein und wirkten dort wie eine gefährliche Droge. Ein Blick in die Richtung des SCHLOSSES zeigte ihnen, daß die Verhältnisse dort unverändert waren. Sie hatten es nicht anders
erwartet. »Er hat recht, verdammt!« knirschte Razamon und warf seinen Kopf zurück. Sie konzentrierten sich, noch immer mitten auf dem Steg, darauf, die auf und abschwellende Unruhe und die grundlose Heiterkeit und Entspanntheit zu ignorieren, zu vergessen. Schließlich flüsterte das junge Mädchen mit dem schulterlangen Haar: »Es hilft ein wenig, wenn man das SCHLOSS nicht sieht, Atlan.« Das konnte zutreffen. Außerhalb der direkten Sichtlinie, wie bei einer Funkverbindung, würden sich die Impulse vielleicht abschwächen. Razamon drückte dem Turganer, der seine Waffe auf der Brüstung des Steges abgelegt hatte, den Griff wieder in die Hand und zog den Verschleierten mit sich. Sie verschwanden hinter dem nächsten massiven Würfel eines Gebäudes und bogen im Schutz von Wänden und Dächern auf eine steile Treppe ab. Hier oben, unweit der absoluten Spitze der Stadt, hingen die Gebäude enger beieinander und waren an den meisten Stellen durch große, plattenartige Flächen miteinander verbunden. Im Gewirr der rechten Winkel kletterten und hasteten die fünf weiter aufwärts. Der mentale Druck ließ nur wenig nach. Aber sie gewöhnten sich wieder daran, die Impulse zu unterdrücken. Andere Gedanken und pausenlose Bewegungen lenkten sie ziemlich stark ab – stark genug jedenfalls um nicht wieder in den halben, unkontrollierbaren Irrsinn zu verfallen. »Tatsächlich. Es hilft!« munterte Razamon mit verzerrtem Gesicht die anderen auf. Als sie zum nächstenmal die Köpfe hoben, sahen sie vor sich nur einen engen Treppenschacht, einige Dutzend Stufen und darüber den schmutzigen, grauen Himmel. Über ihnen lag die oberste Plattform. »Es ist mehr als merkwürdig«, knurrte Atlan, »daß sich bisher noch kein Techno gezeigt hat.« »Sie verstecken sich vielleicht, weil die anderen dort unten so
lärmen«, gab Asparg zurück. »Vielleicht lauern sie uns an einer günstigen Stelle auf?« sagte Razamon und kletterte als erster die letzten Stufen aufwärts, die Waffe im Anschlag. Er hob den Kopf über den Rand der obersten Kante, sicherte nach allen Seiten und winkte. »Kommt!« Sie hatten noch insgesamt zehn Tore oder Schotte geöffnet. Räume unterschiedlicher Größe waren zu erkennen gewesen. Je weiter oben sich der betreffende Saal befunden hatte, desto mehr Schläfer lagen darin. Das letzte Schott, keine vierzig Schritt entfernt, zeigte einen Saal, der buchstäblich mit Schläfern vollgestopft war; Wesen aller Größen, Farben und allesamt mehr als exotisch. Humanoide hatten sie bei der oberflächlichen Musterung nicht sehen können. Für Atlan und Razamon war es sicher, daß die Beutezüge Dorkhs weitaus erfolgreicher gewesen waren als diejenigen von Pthor. Hinter dem Berserker, einige Schritte von der obersten Stufe entfernt, blieben die Eindringlinge stehen. »Wir haben es geschafft!« stellte der Turganer fest. Die Fläche wurde von zahlreichen Gebäuden gebildet, deren Dächer sich in verschiedenen Höhen befanden. So entstand ein Platz, der sich aus zwei Dutzend eckiger Terrassen zusammensetzte. Die Platten aus Kunststein wiesen hier und dort kantige Öffnungen auf; es waren Lichtschächte oder Luftlöcher. Gitter und Netze, deren Zweck nicht erkennbar war, spannten sich an anderen Stellen. Zwei Zugors standen nebeneinander auf einer der tieferen Plattformen. Nicht ein einziger Techno hatte sich blicken lassen. Als Atlan auf die Zugors losrannte, dröhnte an zwei Stellen plötzlicher Lärm aus den Lichtschächten. Augenblicklich änderte Atlan seine Richtung. Zwischen darunterliegenden Hausmauern ertönte gellendes Geschrei. Dumpfe Schläge waren zu hören, Schüsse peitschten auf, und Metall klirrte auf Metall. Während die Magier und der Turganer auf die andere Lärmquelle zurannten, folgte Razamon seinem Freund.
Atlan stand am Rand des Lichtschachts und starrte hinunter. Seine Haltung ließ erkennen, daß er versuchte, nicht gesehen zu werden. Schweigend zeigte er auf eine große Anzahl von Technos, die versuchten, eine schmale Tür in einem kleinen Gebäude, mehr einem Vorsprung innerhalb einer großen, fensterlosen Wand, aufzubrechen. Atlan flüsterte: »Keine Ahnung, wer sich hinter der Tür verborgen hält. Aber in kurzer Zeit wird er aufgeben müssen.« Die Technos schlugen mit schweren Äxten auf die Tür ein. Ab und zu gab einer von ihnen einen Schuß auf die Riegel ab. Sie schienen allesamt der Raserei verfallen zu sein. Wo sie sich bisher versteckt gehalten hatten, und warum sie so plötzlich auftauchten, konnten weder Atlan noch Razamon ahnen. Der Berserker zuckte zusammen, als er am Rand des Blickfelds einen Zukaharto auftauchen sah, der sich mit selbstmörderischem Eifer auf die Technos stürzte und dabei aus seiner Waffe lange Feuerstöße abgab. Ein Techno schleuderte eine dolchartige Waffe nach dem Eindringling. Ein anderer schoß auf ihn und traf ihn in den Hals. Razamon und Atlan sahen sich an, rannten sofort zu den Magiern, und der Arkonide ordnete an: »Hier. Nimm die Waffe, Asparg. Es ist eure Aufgabe, die Zugors zu verteidigen. Wir sehen nach, wer sich dort versteckt. Wir scheinen die einzigen Normalen weit und breit zu sein. Versteckt euch!« Stophemuk stieß hervor: »Du hast recht. Meine Karawane … sie ist verloren. Sieh dir diese Narren an.« Er beherrschte sich meisterhaft. Durch diesen Lichtschacht konnte man erkennen, daß einerseits die Hälfte der Zukahartos und der Turganer die Technos gesehen hatte und sich anschickte, auf sie einzudringen. Die andere Hälfte griff, von den Impulsen rasend gemacht, ihre eigenen Kameraden an, die sich erbittert wehrten. In
diesem Augenblick schlug ein Turganer, der sich wohl noch beherrschen und seine Wut unterdrücken konnte, mit der breiten Seite eines Beiles einen Zukaharto nieder. Zwei Männer rannten, wild um sich feuernd, auf die Technos zu, die sich auf einer höheren Ebene der Stadt befanden, aber nur etwa hundert Meter weit entfernt waren. »Wir müssen eingreifen. Das artet in eine Massenschlächterei aus!« sagte Atlan scharf. »Leider haben wir keine Lähmwaffen«, sagte Razamon und spurtete an der Seite des Karawanenführers hinter Atlan her. »Es wird schwierig werden.« Der Turganer fluchte ununterbrochen vor sich hin. Sie stürmten die letzte Treppe wieder hinunter, wandten sich nach links und befanden sich, als sie jenen Querkorridor betraten, am Rand der Auseinandersetzung. Dort war die Tür, deren Metall tiefe Kerben und Flammenspuren zeigte. Ein Trupp Technos schlug auf das Metall ein, riß an den Hebeln und versuchte, das Schott aufzustemmen. Der Rest der Technos wandte sich dem neuen Gegner zu. »Alle sind sie verrückt!« brummte Razamon und wich einem Beil aus, das auf seinen Kopf zuwirbelte. Energieblitze zuckten auf, als Technos auf Turganer und Zukahartos schossen und umgekehrt. Wie bösartige Bienen surrten Armbrustpfeile durch die Luft. Ein Zukaharto starb mit einem gurgelnden Schrei. Ein Turganer rannte im Zickzack zwischen den Kämpfenden hindurch und auf die Treppe zu, an deren oberem Ende die Zugors standen. Atlan schlug einen rasenden Turganer, der ihn mit dem umgekehrten Ende einer Strahlenwaffe angriff, mit einem Hieb bewußtlos. Vielleicht überlebte wenigstens dieser Mann den Kampf. Die Gruppen schossen weiter, teilweise brachten sich die Technos selbst gegenseitig um. Im Versuch, sich irgendwo zu verstecken und eine Deckung zu finden, verlagerte sich der Kampf in einzelnen Etappen über Treppen, hinter Mauerkanten und auf tiefere und
höhere Ebenen. Razamon hob seinen Strahler und gab eine Serie von Schüssen rund um die umkämpfte und umlagerte Tür ab. Jaulend fraßen sich die Glutstrahlen in die Wände. Dunkler Rauch kochte brodelnd aus den Einschlagkratern und trieb die Technos zurück. In den Rauchschwaden erkannten sie den Schützen nicht und hasteten schreiend hinter ihren kämpfenden Artgenossen her. Atlan warf sich zu Boden, als er einen Waffenlauf auf sich gerichtet sah. Ein Feuerstrahl zischte dicht über seinem Rücken dahin und verlor sich in der Luft. Stophemuk schoß einem Turganer in die Brust, der zweimal auf ihn gefeuert hatte. An Razamons Schulter schwelte ein Stück der Kleidung; er schlug die Glut in blitzschnellen Bewegungen aus und lief dorthin, wo gekämpft wurde. Immer wieder wichen die Eindringlinge bewegungslosen, verkrümmten Körpern aus. Es waren Technos, Zukahartos und der Parde, dessen große Augen blicklos in den Himmel starrten. Geräusche einer wilden Flucht waren zu hören, als Atlan und seine zwei Begleiter aus dem Rauchvorhang auftauchten und sich die tränenden Augen wischten. Ein Zukaharto taumelte ihnen entgegen, griff sich an die Brust und brach stöhnend zusammen. Überall lagen Leichen und Sterbende. Atlan, Razamon und Stophemuk suchten an allen Stellen, an denen sie Kampflärm gehört hatten. Sie fanden noch weitere fünf Männer, die, seltsamerweise unverletzt, lebend den Kampf überstanden hatten. Die Technos waren entweder getötet worden, hatten sich gegenseitig selbst umgebracht oder waren geflüchtet. Die Ruhe, die jetzt eintrat, war eine Ruhe des Todes. Atlan schüttelte sich und versuchte, in den Augen der Überlebenden zu erkennen, ob sie zu den Widerstandsfähigen gehörten oder ob von ihnen neue Gefahren drohten. Aber sie senkten ihre leergeschossenen Waffen und verhielten sich ruhig.
»Wir konnten uns nicht durchsetzen«, sagte ein Turganer. »Die Anfälle kamen ganz plötzlich. Wir selbst mußten uns wehren.« »Niemand macht euch einen Vorwurf«, erklärte Stophemuk. »Die Karawane ist verloren. Zwei von euch, oder von mir aus alle, ihr geht hinunter und holt die wichtigsten Teile der Ausrüstung. Und das Essen! Bindet die Tiere los und treibt sie davon; sie gehen sonst elendiglich ein. Schnell – oben stehen Zugors.« »Wir kommen so schnell zurück, wie es geht.« Atlan nickte dem Anführer anerkennend zu und sagte: »Der beste Entschluß, den du treffen konntest. Eine Karawane ist zu ersetzen, das eigene Leben nicht.« Langsam gingen sie wieder zurück, kletterten die Stufen hinauf und trafen den sechsten Überlebenden abwartend vor der schmalen Tür stehen. »Hoffentlich gelingt es uns«, meinte Razamon und wedelte den Rauch vor seinem Gesicht zur Seite, »diese geheimnisvolle Tür zu öffnen.« Atlan ging zum Schott, schlug fünfmal mit dem Kolben der Waffe dagegen und sagte laut und deutlich: »Öffne die Tür. Der Kampf ist vorbei. Wir sind deine Befreier!« Er bekam keine Antwort. Der Berserker stemmte sich gegen den ersten Riegel und setzte seine ungewöhnlichen Kräfte ein. Knirschend bewegte sich das Metall, obwohl von innen Widerstand geleistet wurde. Staunend sahen Stophemuk und der andere Turganer zu, wie Razamon die Tür öffnete und mit einem schnellen Ruck, gleichzeitig zur Seite springend, aufriß. Atlan richtete seine Waffe auf die Gestalt, die aus der Dunkelheit auftauchte. Ruhig sagte er: »Keine Angst. Wir tun dir nichts!« Ein Techno starrte die kleine Gruppe mit allen Anzeichen der Angst und Verwirrung an.
5. Die große, schlanke Gestalt des Technos in seiner Lederkleidung und den Stiefeln versperrte den schmalen Eingang völlig. Atlan und Razamon versuchten, an ihm vorbei oder über seine Schultern zu blicken. Sicherlich befand sich in diesem Raum etwas, das den Dorkher gezwungen hatte, den Raum und dessen Inhalt zu verteidigen. Der Techno sagte stockend: »Ich bin Pantzerklag. Wer seid ihr?« Razamon versuchte, sich verständlich zu machen. Da sich die Grundsprachen beider Weltenfragmente nur in einzelnen Dialekten und Spezialausdrücken sehr stark voneinander unterschieden, gelang es ihm einigermaßen. Das Mißtrauen wich langsam aus dem dunklen Gesicht des Technos. »Wir kommen von weither. Dieser Mann ist aus Turgan. Wir haben die anderen Technos vertrieben.« »Sie wurden wahnsinnig. Sie griffen mich an. Ich floh – hierher.« »Komm heraus«, sagte Atlan. »Wir wollen nicht kämpfen. Wir sind auch nicht verrückt geworden. Aber wir spüren die Impulse aus dem Schloß.« Der Techno machte zwei Schritte vorwärts, und Razamon schob sich an Atlan vorbei, um in einer günstigen Position zu stehen. Er wollte unbedingt in die vergleichsweise kleine Kammer hinein. »Das SCHLOSS – es ist zerstört. Alles Üble kommt von dort«, erklärte der Techno tonlos. »Es geht zu Ende mit Dorkh.« Atlan legte ihm in einer beschwichtigenden Geste die Hand auf die Schulter. Gleichzeitig zog er ihn aus dem Eingang heraus. Sofort versteifte sich der Körper des Technos, und er wollte nach den Riegeln der reichlich mitgenommenen Tür greifen. Im selben Moment fiel sein Blick auf die Reihe der Körper, die regungslos auf der freien, von Schußspuren und fallengelassenen Waffen übersäten Fläche lagen.
»Alle tot?« fragte er. Im selben Moment huschte Razamon hinter ihm vorbei und ins Innere der kleinen Kammer. Atlan machte gleichzeitig eine ablenkende Bewegung und schob sich zwischen den Berserker und den Techno. Stophemuk stand still da und bewunderte das vollkommen harmonische, abgestimmte Verhalten der zwei Männer. Razamon verschwand im Halbdunkel der Kammer. »Sie sind alle tot«, bestätigte Atlan und dachte an den Gassuaren und den unglücklichen Grizzard, seinen unfreiwilligen Lebensretter. »Und diejenigen, die noch leben, sind davongelaufen.« Undeutlich erkannte er, wie sich Razamon in der Kammer bewegte. Der Berserker versuchte, alles zu sehen und das möglichst schnell. Atlan richtete die nächste Frage an den Techno. »Ich bin Atlan«, sagte er eindringlich. »Was ist hier in der Stadt der Verlorenen geschehen? Wir erlebten den Untergang des SCHLOSSES aus nächster Nähe mit. Es war beeindruckend und furchtbar.« Langsam und bedächtig, als stünde er noch immer unter einem Schock, sagte Pantzerklag: »Ein Befehl kam vom SCHLOSS.« »Wie lautete er?« »Wir sollen sofort die Schläfer wecken. Alle Schlafenden.« »Aber, soweit wir gesehen haben, schlafen sie noch alle.« »Kurze Zeit später sahen wir von hier aus, wie sich die Lichtkuppel bildete.« »Und der Befehl?« fragte Atlan begierig und sah, wie Razamon in der Kammer vor einem dunklen Sockel stehengeblieben war, auf dem ein vielgliedriges Wesen lag. Sockel und der Schläfer waren von einem gläsernen Deckel überspannt. »Er wurde nicht mehr ausgeführt. Verwirrung brach aus und ergriff alle in der Stadt.« »Nur dich nicht?« erkundigte sich Atlan und hoffte, daß er die
Wahrheit erfuhr. »Mich nicht. Ich versuchte, das Erwachen dieses …« Er drehte sich um und wollte auf den einzelnen Schläfer zeigen. Er sah Razamon, der sich ebenfalls herumdrehte und aus der Kammer herausrief: »Ein Wesen mit sechs Gliedern. Ich kann nicht genau erkennen, wie es aussieht. Aber nach der Schrift hier ist es ebenfalls ein ›Grizzard‹, also einer, der ›für alle schläft.‹ Sollen wir ihn wecken?« Der Techno sprang auf Razamon zu und breitete die Arme aus. Es war kein Angriff, sondern nur der Versuch, Razamon aufzuhalten. Atlan folgte dem Techno in den Raum hinein und warf einen langen Blick auf den fremden Schläfer. Der Techno schrie jammernd: »Nein! Nicht! Weckt ihn nicht auf! Laßt ihn schlafen – nur neues Elend wird dadurch heraufbeschworen!« »Er hat recht, Atlan«, meinte Razamon. »Und du, Pantzerklag, hast versucht, die Erweckung zu verhindern?« Es ist klüger, jenen »Grizzard« schlafen zu lassen, kommentierte der Extrasinn. Der Techno nickte mehrmals und erwiderte bedrückt: »Es wurde immer schwerer. Alle waren sie gegen mich. Die Impulse der Aggression vom SCHLOSS wurden stärker und stärker.« Razamon lehnte sich gegen den breiten Rahmen des Schottes und winkte den Turganer heran. »Ich halte es durchaus für möglich«, sagte er nachdenklich, »daß die Befehle gar nicht mehr von den Befehlshabern gegeben wurden. Wir kennen die Situation kurz vor Ausbruch der Lichteffekte!« »Also hatte der Gassuare doch recht«, mutmaßte Atlan. »Die Uleb konnten nicht mehr reagieren.« »Vielleicht war es tatsächlich jene schwarze Kreatur, von der er sprach?« sagte Razamon. »Wie auch immer: lassen wir diesen Dorkh‐Grizzard schlafen. Meine Erfahrungen mit seinem Vorgänger sind nicht gerade begeisternd.« Er schob den Techno hinaus und verschloß das ramponierte Schott
sorgfältig. Der Hüter der Schläfer zeigte mehr als nur deutliche Erleichterung. Jetzt war er sicher, daß er es mit wohlwollenden Eindringlingen zu tun hatte. Der Turganer zog den Stoff von seinen Augenschlitzen tiefer hinunter und sagte: »Warum wollten die SCHLOSSHERREN die Schläfer wecken? Und warum sollte die schwarze Gefahr, von der ihr sprecht, und die ich nicht kenne, die Schläfer aufwecken wollen?« »Gerade das ist die Frage. Vielleicht braucht dieses … Ding neue Opfer!« Razamon schüttelte energisch den Kopf. »Dorkh ist stark bevölkert. Es widerspräche der Logik. Überall gibt es genügend Opfer.« »Ich weiß es nicht«, gestand der Techno, der noch ratloser als die Eindringlinge war. »Jedenfalls werden die Schläfer wohl ungestört bleiben, da alle die rasenden Technos entweder geflüchtet oder tot sind«, bemerkte der Turganer in grimmiger Zufriedenheit. »Jetzt steht wohl unserem Flug in die Freiheit nicht mehr viel im Weg?« »Nur deine Männer, die vermutlich die Treppen heraufkeuchen!« sagte Razamon. Im selben Moment schrien Asparg und Fiothra laut durch den Lichtschacht herunter: »Kommt! Eine riesige Wolke fliegender Tiere nähert sich! Schnell!« Atlan stöhnte auf, Razamon stürzte zur nächsten Wand und brüllte Befehle nach unten. Die Männer sollten sich mit dem Essen und der Ausrüstung beeilen. Nacheinander rannten und kletterten die Eindringlinge, denen sich Pantzerklag ohne Zögern anschloß, auf die oberste Plattform der Stadt. Die Magier und der einzelne Mann, der sich hatte retten können, standen mit gezogenen Waffen und ängstlichen Mienen neben den beiden Zugors und blickten einer seltsamen Erscheinung entgegen. YhmʹDheer und seine rätselhafte Schwarze Gefahr waren vergessen. Eine schwarze Wolke, sicher ebenso gefährlich, näherte sich der Stadtspitze.
»Wir kommen!« schrien die turganischen Händler von unten. Auch sie hatte erneut die Furcht gepackt. Die Wolke, in der es zu brodeln und zu kochen schien, bestand aus Tausenden von schwarzen Einzelwesen. Ob es Vögel oder Echsen waren, konnte niemand erkennen. Jedenfalls waren ihre Schwingen dunkel, und die Tiere näherten sich in rasendem Tempo aus dem Süden. Aber sie bewegten sich als Masse keineswegs geradlinig fort. Immer wieder schwankte die Wolke nach rechts oder links, oben oder unten, und einzelne Tiere lösten sich von ihr. Die Form veränderte sich ständig. Jetzt wuchs aus der Wolke ein Rüssel hervor, tastete nach unten und zog sich wieder zurück. Alle diese Bewegungen gingen in vergleichsweise rasendem Tempo vor sich. Die Tiere bewegten sich schneller als ein Taubenschwarm, aber nicht weitaus so exakt. Der Rüssel stach wieder hervor, aber diesmal zielte seine Spitze auf die Stadt und auf die wenigen Personen, die sich jetzt in die Zugors schwangen. »Endlich!« schrie der Turganer erleichtert. »Kommt schnell! Es wird gefährlich. Gebt mir eine Strahlenwaffe!« Die Männer taumelten keuchend und am Ende ihrer Kräfte heran und begriffen binnen weniger Augenblicke das Ausmaß der Gefahr. Sie ließen ihre Bündel über die Bordwände fallen und kletterten hinein. Einer warf Stophemuk eine schwere, kolbenförmige Waffe zu. Auch Razamon und Atlan hoben ihre Energiewaffen und duckten sich in die Zugors. Der Berserker schrie heiser: »Für einen Start der Zugors ist es zu spät.« »Wir versuchen«, gab Atlan zurück und zielte auf die Spitze der Angriffsformation, »die Tiere zurückzutreiben.« Auch diese Tiere gehorchten nur dem Zwang der Impulse, die von den Ruinen des SCHLOSSES ausstrahlten. Sie waren unruhig geworden, und ihre Aufregung fand keine begreifbare Möglichkeit, sich abzureagieren.
Also suchten sie sich ein Ziel und griffen an. Die kleinen Gestalten auf dem höchsten Punkt der Stadt schienen lohnende Ziele zu sein. »Feuert!« rief der Arkonide. »Es geht um unser Leben.« Aus drei schweren Energiewaffen zuckten lange, blendende Strahlen. Sie schlugen in die Körper der Leittiere ein, die der Plattform bis auf weniger als hundert Meter nähergekommen waren. »Ich komme mit euch!« schrie Pantzerklag und entriß einem Turganer die Waffe. Er schoß ziellos und schnell in die Wolke aus flatternden und schwebenden Geschöpfen hinein. Trotz seines ängstlichen Gebarens traf er viele der unaufhaltsam näherkommenden Tiere. Ihre Federn oder Flughäute fingen Feuer, als bestünden sie aus Papier. Zuckend und lange schwarze Rauchstreifen hinter sich herziehend, stürzten die getroffenen Tiere in verschiedenen Winkeln abwärts. Razamon stieß wütend hervor: »Es gibt keine Leittiere. Jeder einzelne greift an. Wir müssen die Zugors starten!« Eben schwang sich geduckt der letzte Zukaharto in die Flugschale. Am Steuer des einen Zugors stand Atlan, am anderen Razamon; das heißt, sie versuchten, die Griffe und Schalter zu erreichen. Die zwölf verschiedenen Wesen in den beiden Zugors befanden sich eine Sekunde später mitten in dem Schwarm. Es waren nicht nur Vögel aller Arten und Größen, sondern auch kleinere und größere Flugechsen. Dazwischen flatterten und schwirrten seltsame Gestalten, die wie gigantische Libellen aussahen, mit gräßlichen Hornissenköpfen und zangenartigen Kiefern. Eine rasende Flut schlagender Flügel, durch die Luft pfeifender Krallen und aufgerissener Schnäbel umgab die Insassen der Flugscheiben. »Wehrt euch! Dauerfeuer!« schrie Razamon. Er schoß mit der linken Hand und benutzte seine Axt mit der Rechten. Er wirbelte sie
über seinen Kopf, und jedes Tier, das in den Bereich dieses Wirbels geriet, schlug mit zerbrochenem Rückgrat oder unbrauchbaren Flügeln zu Boden. Atlan kämpfte sich die geringe Entfernung bis zur Steuerung des Zugors buchstäblich durch eine lebende Mauer aus zuckenden Leibern. Das trübe Licht des Himmels hatte sich verdunkelt. Es war nicht so schwarz wie die Nacht, aber die Menge der Körper, die nach Tausenden zählte, erzeugte rund um die Zugors eine Zone des Halbdunkels. Die Strahlen der Waffen und die langen Flammenzungen der Mündungsfeuer waren nicht in der Lage, mehr Helligkeit abzugeben. Innerhalb ganz kurzer Zeit hatte sich um die Zugors ein doppelter Wall aus zuckenden, kreischenden und brennenden Tierleibern gebildet. Die sterbenden Tiere krachten mit großer Wucht auf die Köpfe und Schultern der Verteidiger und füllten inzwischen Teile des Zugors aus. Ununterbrochen donnerten die Waffen auf, von denen Explosivgeschosse verfeuert wurden. Die gleißenden Strahlen der Energiestrahler schnitten breite Gassen in den durcheinanderquirlenden Schwarm. Razamon schaffte es, die Hauptkontrolle des Zugors zu erreichen und zu schalten. Summend erwachten die Aggregate zum Leben, aber die Maschine rührte sich noch nicht. »Kämpft!« schrie der Berserker. »Wehrt euch! Haltet uns den Rücken frei!« »Wir versuchen es!« schrie jemand. Die Schwingen schlugen den Eindringlingen um die Ohren. Die Krallen rissen lange, aber nicht tiefe Wunden. Immer wieder hakte sich ein Schnabel oder ein krokodilartiger Rachen in die Haut oder in die Kleidung der Männer. Ununterbrochen spuckten die Waffen Tod und Verderben aus. Aber die Wolke drehte sich und wirbelte um die Köpfe und Körper der Besatzungen der Zugors. Razamons Flugmaschine hob sich summend um einen halben
Meter. »Ich habe es geschafft!« schrie er aus Leibeskräften. »Was ist mit dir, Atlan?« Zwei riesige Echsen schwirrten mit peitschenden Schlägen ihrer sichelförmigen Saurierflügel heran, näherten sich von zwei Seiten einem Zukaharto und packten ihn. Sie schlugen ihm mit den Krallen die Waffe aus der Hand. Als er sich duckte, um ihrem Angriff zu entgehen, schlossen sich die mächtigen Reptilienkiefer des ersten Tieres um seinen Unterarm. Im gleichen Augenblick setzte sich der andere Zugor in Bewegung. Atlan klammerte sich an die Kontrollen. Um seinen Kopf wirbelten und flatterten kleine Flugechsen. Undeutlich nahm er wahr, wie sich mehrere wuchtige Körper durch die Menge der Angreifer schoben und miteinander zu kämpfen schienen. Gleichzeitig klammerten sie sich an den Zukaharto, der in seiner Angst mehrere tötete, ehe ihn die Tiere über die Bordwand rissen. Seine gellenden Schreie verstummten abrupt, als er auf dem Boden aufschlug. Sofort wurde der Haufen der Flugechsen größer und größer. Sie kamen von allen Seiten, warfen sich auf den zuckenden Körper und bedeckten ihn schließlich in einem dicken Knäuel. Razamons Zugor wurde schneller, stieg schräg hoch und entfernte sich. Auf den ersten Metern der Startstrecke schob er sich durch die schwarzen Tiermengen wie ein Boot durch das Wasser. Atlan spürte, wie sich sein Zugor schüttelte und senkrecht in die Höhe stieg. Aus beiden Flugmaschinen wurde noch immer mit derselben Heftigkeit geschossen. »Ich habe es ebenfalls geschafft, Razamon«, schrie Atlan zurück und ließ die Maschine schneller werden. Einige Sekunden später schien der Spuk vorbei zu sein. Unter den beiden Zugors blieb die größere Menge der fliegenden Wesen zurück. Die Besatzungen schossen weiter auf einige große
Exemplare, die hartnäckig noch immer versuchten, sich ihre Beute zu holen. Die getöteten Körper kleinerer Tiere wurden über Bord geworfen. Der Geruch nach schmorenden Federn und Schuppen hörte auf, als die Zugors leer waren. Inzwischen hatten die Maschinen ein ziemlich hohes Tempo erreicht und gingen in den Horizontalflug über. Atlan fand sich ohne Schwierigkeiten mit den Kontrollen zurecht und winkte hinüber zum Berserker. Die hagere Gestalt winkte kurz zurück und schrie: »In welche Richtung?« »Nach Torstadt!« gab der Arkonide zurück. »So war es ausgemacht.« »Also nach Süden. Großer Umweg um die Reste des SCHLOSSES?« »Auf jeden Fall. Kein Risiko eingehen. Bleiben wir in Rufverbindung.« »Verstanden.« In jedem Zugor befanden sich nur noch fünf Personen. Also hatte noch ein Mann im Getümmel unbemerkt den Tod gefunden. Während der Fahrtwind eine gewisse Kühlung verschaffte, versuchten die Überlebenden, sich gegenseitig zu helfen. Im Gepäck fanden sie kühlende Salbe gegen die vielen kleinen Wunden und Schnitte. In den ersten Minuten sprach niemand. Die Maschinen flogen etwa zwanzig Meter voneinander entfernt in rund vierhundert Metern Höhe nach Süden. Atlan wischte sich über das Gesicht und blickte zurück zur Stadt der Verlorenen. Der riesige Schwarm der rasend gewordenen Tiere bildete noch immer eine unregelmäßig geformte Wolke um die obersten Bauwerke und über den Plattformen. Aber er zerstreute sich langsam. Einzelne Tiere und kleine Gruppen flatterten schnell nach allen Richtungen davon.
»Welch ein Alptraum!« sagte sich der Arkonide und warf einen nachdenklichen Blick auf den Techno. Sein gesamtes Leben war voller solcher Begebenheiten: ein Weggenosse und Mitkämpfer starb, und ein anderer trat vorübergehend an dessen Stelle. Die Frauen und Männer lösten einander scheinbar ab, und nur er, Atlan, erlebte die gesamte Länge des Geschehnisses mit. Pantzerklag hatte sich ihnen angeschlossen, ohne viel zu fragen, und er hätte auch nicht auf die Erlaubnis gewartet. Sie waren schnell, aber sicherlich nicht für lange Zeit Schicksalsgenossen geworden. Als habe der Techno Atlans Gedanken erraten, sagte er kurze Zeit später: »Ich bin froh, daß ihr mich mitgenommen habt. Vielleicht lebt noch jemand von uns in der Stadt. Und vielleicht werden die wenigen wieder normal. Aber sie haben nicht das Wissen, viele Schläfer aufzuwecken. Auf keinen Fall denjenigen, ›der für alle schläft‹.« Atlan erwiderte durchaus ehrlich und ohne Umschweife: »Keiner von uns weiß, welchen Sinn das alles hat. Wir befinden uns auf der Flucht, und niemand kann sagen, wo sie endet.« Fiothra blickte ihn an, als habe er ihr Todesurteil ausgesprochen. Atlan bemerkte, daß der Berserker herüberblickte und gab das Zeichen, weiter nach Osten auszuweichen. Aus den Augenwinkeln hatte er das Glühen über dem SCHLOSS gesehen. Jetzt heftete er seine Blicke auf das Bild, das sich ihm bisher noch niemals so deutlich geboten hatte, selbst nicht von der Spitze der Stadt. Auch Razamons Zugor änderte geringfügig seine Flugrichtung, behielt aber ebenso wie Atlans Maschine seine Flughöhe bei. Ausgerechnet jetzt, wo sie leicht würden entkommen können, zeigte sich nicht ein einziges fliegendes Wesen. Trotzdem behielten die Besatzungen die Waffen schußbereit in den Händen. Im Mittelpunkt der sechseckigen Fläche befand sich noch immer
die Lichtkuppel. Rundherum glühte und waberte die entfesselte Energie. Lautlos tobten dort die unbekannten Strahlungen und sandten ihre verderblichen Impulse über den gigantischen Felsbrocken Dorkh. Denke an vergleichbare Erscheinungen, flüsterte der Logiksektor. Sind es erste Anzeichen der apokalyptischen Entwicklung? So mochte es sein, sagte sich Atlan. Natürlich waren er und Razamon entschlossen, dem ausbrechenden Chaos und der Vernichtung zu entkommen. Pantzerklag stöhnte auf. Es war ein Laut, der überaus deutlich die Angst und die Verzweiflung erkennen ließ – und die Hoffnungslosigkeit. Razamons Stimme donnerte herüber: »Atlan! Sieh genau hin! Im SCHLOSS geschieht etwas.« Atlans Blick konzentrierte sich. »Die Dunkle Gefahr. Oder das Schwarze Elend«, sagte er hart zu seinen Mitinsassen und zeigte darauf. »Der Gassuare hat es uns berichtet, aber wir konnten es nicht recht glauben.« Sie sahen schweigend und in Furcht erstarrt, was Razamon meinte. Dicht über dem Boden des SCHLOSSES, inmitten der Gluterscheinungen, befand sich ein schmaler dunkler Streifen. Während die Zugors weiter geradeaus flogen, wurde der Streifen dichter und dehnte sich zu einem Band aus. Die Farbe änderte sich; es war, als würde dort in wahnsinniger Eile eine pechschwarze Mauer in die Höhe gezogen. Der unterste Teil der Lichtkuppel war bereits unsichtbar und von der wesenlosen Schwärze verschluckt worden. Die schwarze Substanz schien das wenige Licht in sich aufnehmen zu wollen. Sie wirkte stumpf und bedrohlich und breitete sich immer mehr aus. Die Kuppel wurde in den nächsten Minuten völlig von der Schwärze aufgefressen. Dann stellte sie selbst eine neue Form dar: eine tiefschwarze Kuppel.
Aber noch zuckte und glühte es um sie herum. Die Größenzunahme verlief jetzt langsamer. Trotzdem dehnte sich die Schwärze weiter aus. Das gesamte leuchtende Areal wurde von ihr nach und nach geschluckt, und einige Minuten später herrschte dort, wo sich das SCHLOSS befunden hatte, nur noch undurchdringliche Finsternis. Für einen Teil von Dorkh war es tiefste Nacht geworden. Atlan löste sich aus der faszinierten Erstarrung und brüllte hinüber zu Razamon: »Ich würde am liebsten den Kurs ändern und mir alles aus der Nähe ansehen!« »Du würdest verrückt sein, wenn du das tätest!« schrie der Berserker zurück. »Denke an die Impulse.« »Gerade deswegen. Sie haben mit dem Ende des Glühens nichts gemein. Noch immer sind sie zu spüren. Trotz der Finsternis dort.« Razamons Überlegung war nicht von der Hand zu weisen. Er rief: »Vielleicht ist auch nur das Glühen von irgendwelchen Maschinen gelöscht worden?« »Denkbar. Aber ebenso wahrscheinlich ist es, daß wir genau das sehen, von dem YhmʹDheer, der Gassuare, sprach.« »Beides erscheint mir gleich gefährlich. Solltest du deine Neugierde nicht bezähmen können, dann gehe wenigstens kein Risiko ein!« »Ich versuche es!« sagte Atlan, ohne sich um das bekümmerte Murmeln der Insassen zu kümmern. Er drehte den Kurs des Zugors, der jetzt fast mit höchster Geschwindigkeit dahinflog, leicht nach Westen, also nach rechts in Flugrichtung. Einige Sekunden lang veränderte sich nichts, außer dem Ton des sausenden Fahrtwinds. Als sich Atlan umdrehte, merkte er, daß ihm Razamon folgte, aber in einem Abstand, der sich ständig vergrößerte. Atlan umklammerte die Griffe der Steuerung und war bereit, die Hebel augenblicklich herumzureißen und den Kurs zu ändern. Dann packte alle Flüchtenden schlagartig ein Gefühl des Grauens.
Atlan hatte in dem letzten Sekundenbruchteil, in dem er noch über klare Gedanken verfügte, den Richtungshebel bewegt. Auch Razamon tat im gleichen Augenblick genau dasselbe. Die Zugors schwenkten wieder zurück auf ihren alten Kurs. Aber in den wenigen Zeitabschnitten, die zwischen dem jähen Schlag des Grauens und der zweiten Kursänderung lagen, fingen die Insassen beider Flugschalen zu kreischen, zu wimmern und zu schreien an. Ihre Hände fuhren an die Köpfe und umklammerten die Schläfen. Ein Turganer riß sich das Tuch vom Gesicht und verdrehte die Augen. Atlan fühlte im Innersten seines Verstands einen stechenden Schmerz, und sein Körper reagierte augenblicklich. Eisige Furcht vor einer unbekannten Gefahr, deren Größe seine Vorstellungskraft überschritt, ließ ihn innerlich erstarren. Der Schock war plötzlich gekommen. Aber die Verkrampfung löste sich nur langsam. Zusammen mit der unveränderten Wirkung der Impulse vom SCHLOSS war ein solch starker Druck entstanden, daß er sich nur zögernd abbaute. Das Schreien und Wimmern und die unkontrollierten Bewegungen der Zugor‐Insassen hörten auf und gingen in ein Murmeln und Stöhnen der Erschöpfung und Erleichterung über. Atlan und Razamon, die an der Steuerung standen und sich an Handgriffen festklammerten, vermochten sich noch am ehesten von der Ausschließlichkeit der Verstandeskrise zu erholen. Aber auch sie litten entsetzliche Qualen. Deine Idee war undurchführbar, Arkonide, sagte der Logiksektor. Dorkh ist gefährdet. Fliegt weiter nach Torstadt. Als sich die Zugors einander wieder genähert hatten, rief Atlan hinüber: »Ich bin jetzt überzeugt, daß YhmʹDheer absolut recht hatte. Die Schwärze ist die Bedrohung.« »Also ist das Dunkel mit dem Wesen identisch, von dem der Gassuare sprach. Mit allen Konsequenzen«, gab Razamon zurück. Der Wind trocknete die dicken Schweißtropfen auf seinem Gesicht.
»Eine unvorstellbare Gefahr für das Weltenfragment und jedes lebende Wesen darauf«, faßte Atlan zusammen. »Aber warum?« Razamon lachte heiser und erwiderte: »Der Versuch, das herauszufinden, endet mit dem Tod, zumindest endet er im Wahnsinn. Wir hatten den Beweis dafür.« »Ich will es kein zweitesmal versuchen.« Nach einer Weile, in der wenigstens die ärgsten Spuren des Schocks sich langsam verwischten, stellte Razamon eine weitere hypothetische Frage. »Kann es«, er zeigte über die Schulter zu der drohenden Schwärze zurück, »mit dem Dunklen Oheim identisch sein? Die Farbe jedenfalls erscheint mir ein gemeinsames Merkmal.« Atlan überlegte. Schließlich war fast alles Undenkbare möglich, und das Unwahrscheinliche war hier an der Tagesordnung. Ragnarök auf Dorkh? »Unwahrscheinlich.« »Warum?« »Dorkh ist unterwegs zum Dunklen Oheim. Warum also sollte er sich hier bereits jetzt manifestieren? Und eindeutig steht fest, daß wir uns in einem Dimensionskorridor befinden.« »Wir werden nichts anderes tun können, als alles abzuwarten«, gab der Berserker zurück. »Weiter nach Torstadt.« »Mit Höchstgeschwindigkeit«, sagte Atlan und schränkte dann ein: »Und wenn es eine Chance gibt, sich unterwegs irgendwo zu erholen und gleichzeitig Informationen zu bekommen, dann sollten wir sie wahrnehmen.« Unter ihnen zeigte sich die Straße der Händler, und dahinter befand sich schon der Wölbmantel um Dorkh. Der Flug, ohne jeden Aufenthalt gerechnet, würde nicht weniger als vierundzwanzig Stunden dauern, selbst wenn die Maschinen ununterbrochen mit Höchstgeschwindigkeit flogen. Das SCHLOSS oder vielmehr das, was sich hinter der mörderischen Dunkelheit verbarg, lag genau an Steuerbord der
dahinjagenden Zugors. Die Insassen duckten sich hinter die hochgewölbten Bordwände, streckten sich aus und versuchten, sich zu entspannen. Aber der Schrecken saß tief in ihnen. 6. Der Arkonide wußte, wie es um ihn und seine vier Gefährten stand. Während er stundenlang steuerte, versuchten sie, sich neu zu orientieren. Sie sicherten die Waffen, warfen die leergeschossenen Energiewaffen über Bord und sahen das wenige Gepäck durch, das die Karawanenleute von ihren Chreeans gerettet hatten. Einige Nahrungsmittel waren durch den Angriff der Flugwesen verdorben worden. Ein Wassersack war ausgelaufen, nachdem ihn die Krallen oder Schnäbel zerfetzt hatten. Ein halbleerer Weinschlauch ging von Hand zu Hand und war danach leer. Verbandszeug wurde ausgepackt und angewendet. Einige winzige Vögel fanden sich in den Falten von Kleidungsstücken. Immerhin beschäftigten sich alle, und diese Tätigkeit lenkte sie ab. Aber gleichzeitig offenbarte sich, daß man keineswegs gerettet war: Die meisten Waffen funktionierten zwar noch, aber Proviant und Wasser waren schon jetzt knapp. Ab und zu stemmte sich einer der Insassen hoch, klammerte sich an den Griffen des Zugors fest und blickte im summenden Fahrtwind nach unten. Etwa dreihundert Meter hoch flogen jetzt die Zugors. Die Höhe war groß genug, um sicher zu sein und einen genauen Überblick zu behalten. Aber sie war nicht zu groß, und so konnte jeder deutlich erkennen, wie es um Dorkh stand. Die Zugors folgten jetzt der Straße der Händler, die sich parallel zum Rand des Welteneilands nach Südwesten erstreckte. Die Landschaft war eigentlich dürftig und bestand aus Weiden,
Sandflächen und höckerförmigen Hügeln. Aber sie wurde dadurch, daß der Wechsel zwischen den Bildern schnell erfolgte, einigermaßen abwechslungsreich. Immer wieder tauchten kleine Wälder auf. Hier und dort floß ein Bach und mündete in einen kleinen Weiher. Eine Kette Wasservögel mit langen Hälsen begleitete die Zugors eine Weile, dann gerieten die Tiere wieder in den Einfluß der unruhestiftenden Strahlung, und die schnurgerade Reihe zerbrach. Mißtönende Schreie kamen herüber, als die schwanartigen Tiere mit auffallend buntem Gefieder sich in alle Richtungen stürzten und wild mit den Riesenschwingen ruderten. Aber sie griffen weder einander noch den Zugor an. Stophemuk setzte sich wieder auf den Boden des Zugors, sah Atlan lange an und sagte dann: »Überall dieselben Zustände. Alle Tiere und alle Dorkher werden ständig aggressiver.« »Nur uns geht es in diesen Stunden etwas besser«, antwortete Atlan hoffnungsvoll. »Mir scheint, daß der Einfluß des SCHLOSSES mit zunehmender Entfernung schwächer wird. Jedenfalls für uns.« »Du weißt, daß unsere Vorräte kläglich sind?« »Die Kämpfe haben jeden von uns hungrig gemacht«, erklärte Asparg. »Gibt es dort unten keinen Ort, an dem wir ungefährdet landen können?« Der turganische Händler überlegte eine Weile, dann schlug er vor: »Vor Varlan, abseits der Straße der Händler, liegt ein Gasthof. Es ist eine Art verfallene Karawanserei.« Er wandte sich an den einzigen Zukaharto. »Kennst du den ›Berg der drei Quellen‹ nicht?« Stumm schüttelte der Mann den Kopf. »Nun«, erklärte Stophemuk, schwankend zwischen der eigenen Furcht und dem Wunsch sich zu erholen und satt zu essen, »es ist ein seltsam geformter Berg, der bald vor uns auftauchen müßte, links von der Straße, umgeben von niedrigem Buschwerk. Als ich
das letztemal dort war, vor Jahren, sprudelten die Quellen noch immer. Zwei von ihnen sind heiße Quellen, die Minerale aus dem Innern Dorkhs mit sich führen. Man nennt sie Byg und Buhg. Die dritte Quelle, Nagh, liefert Trinkwasser. Der Wirt ist gierig und alt, aber ich entsinne mich, daß man die Bereitwilligkeit seiner Mägde zu rühmen wußte.« Und nach einer Weile, in der er vermutlich in der Erinnerung herumkramte und zu lächeln begann, fügte er traurig hinzu: »Aber sicher ist jetzt alles verfallen und verwaist, und die Mägde sind häßliche alte Vetteln geworden.« Atlan hielt, während der Turganer sprach, Ausschau nach dem »seltsam geformten Berg links von der Straße«. Endlich, als er bereits die Felder des nördlichsten der Wilden Dörfer zu sehen glaubte, tauchte der Berg auf. Er war nicht höher als dreißig oder fünfzig Meter und wirkte sehr merkwürdig. Ein schief stehender Spitzkegel, in dem sich viele unregelmäßige Löcher befanden, mit einiger Wahrscheinlichkeit aus dem weichen Gestein herausgearbeitet. »Ist dies dort die Station der Händler mit Buhg, Nagh und Byg?« erkundigte er sich. Stophemuk schob sich über die Kante, spähte hinunter und rief dann: »Das ist es! Ich sehe keine Karawane in der Nähe. Nur kämpfende Tiere. Ich denke, bei aller Vorsicht, wir können uns dort ein paar Stunden aufhalten und erholen. Ob auch Razamon meiner Ansicht ist?« »Das läßt sich unschwer feststellen«, sagte Atlan grinsend und machte seinem Freund das Zeichen, die Zugors abzubremsen und einander zu nähern. Als sie dicht nebeneinander flogen und sich ohne Geschrei verständigen konnten, ergab eine schnelle Abstimmung, daß jeder von ihnen den einsamen Gasthof aufsuchen wollte – hauptsächlich deshalb, weil er einsam war. »Also landen wir. Nahrungsmittel, Wasser, Ruhe und
Informationen. Das sind unsere Ziele«, entschied Atlan. Kurz darauf lag der Berg unmittelbar vor ihnen. Die Zugors bewegten sich in einer großen, enger werdenden Spirale um den Berg aus gelbem Gestein herum. Schmale Wege, die jetzt verlassen waren, durchzogen das graugrüne Gebüsch. Ab und zu huschte ein kleines Tier unter die Büsche. Aus dem obersten Loch im Felsen stieg eine dünne Rauchsäule hervor, und zugleich mit dem Rauch breitete sich ein Geruch nach frischem Braten aus. Es schien ein einladendes Signal zu sein – oder eine Falle. »Die Zimmer der Karawanserei sind in diesen Höhlen. Dieselben Baumeister waren am Werk, die auch Turgan geschaffen haben«, erklärte Stophemuk, der sich in die Lage versetzt sah, endlich wieder aus seiner passiven Haltung heraustreten zu können. Atlan nickte und entgegnete: »Sieht jemand von euch etwas, das uns von der Landung abhalten sollte?« Es gab Löcher, die so groß wie ein Scheunentor waren und den Zugor leicht passieren lassen würden, und zahllos waren die kleineren Löcher, die Fenster und die Terrassen der Gastzimmer also. »Nichts.« Gleichzeitig senkten Razamon und Atlan ihre Flugscheiben. Sie landeten auf einem leeren Platz neben dem Eingang. In die glatt aufragende Felswand waren lange Reihen von Krampen eingelassen, an denen rostige Eisenringe hingen. Ungefragt deutete der Händler darauf und erklärte: »Dort konnten wir Tiere oder Sklaven anbinden. Aber das scheint ja nun für lange Zeit vorbei zu sein. Vielleicht für immer.« Die Zugors setzten weich auf. Langsam kletterten die Insassen heraus und machten Lockerungsübungen. Die Stille rundum war einesteils beruhigend, andererseits konnte sie alles andere bedeuten. Aber der Geruch nach Braten wurde stärker und verlockender. Aufmerksam studierten Atlan und Razamon die vielen Spuren im
Sand vor dem breiten, unregelmäßig geformten Eingang. Ein langgezogenes Fries aus Buchstaben und vignettenhaften Bildern zog sich über den Eingang und die Ringe in der Wand hin. Es war der Name des Gasthofs. Darunter hatten offensichtlich Generationen von Händlerkarawanen mit Dolchen oder spitzen Steinen zahllose Sprüche und Zeichnungen eingeritzt. Stophemuk entdeckte einige, die entweder von ihm stammten oder ihn belustigten, jedenfalls stieß er ein Gelächter aus. »Hinein in den Berg der drei Quellen!« rief er fast ausgelassen fröhlich. Sie folgten ihm. Atlan ging voran, Razamon sicherte die Gruppe nach hinten. In ihren Taschen steckten die kantigen Griffe der Zugor‐Hauptschalter. Ihre Hände lagen um die Griffe der kurzläufigen Waffen, von denen schwere Explosivgeschosse verfeuert wurden. »Eine Karawanserei, die offensichtlich bessere Tage gesehen hat«, bemerkte Atlan zu Stophemuk, der sich mit jedem Schritt tiefer hinein mehr und genauer erinnerte. Schwaches Licht fiel durch Luftkanäle hinein, die schräg nach außen führten. Eigentlich war es hier wunderbar kühl und ruhig, und die Luft war frisch und roch gut. »Zweifellos. Aber das Leben verläuft aufwärts und abwärts. Schlechter als sehr schlecht kann es niemandem gehen, und oft kommen glückliche Wochen, ehe man es sich versieht«, antwortete der Turganer. »Aber wenn ich es recht deute …« »… dann geht alles einem furchtbaren Ende zu«, ergänzte der Zukaharto, der hinter ihm ging. »Es wäre kein schlechter Ort, um den Untergang im Versteck abzuwarten«, murmelte Razamon und sah sich um. Auch hier waren die Wände derart von Kritzeleien bedeckt, daß die Linien der Ritztechnik schon fast wie ein Kunstwerk wirkten, wie eine strukturierte Fläche. Der Gang, der ziemlich niedrig aber sehr breit war, verbreiterte
sich nach einem Knick und einer niedrigen Barriere, die wie eine Theke aussah, zu einem Saal, einer auf den ersten Blick sehr gemütlichen Felsenhalle. Jeder Sitz, jeder Tisch, die vielen Säulen, der Kamin und sogar der große, verzierte Abzug darüber waren in minuziöser Feinarbeit aus dem Fels herausmodelliert. Ein Triumph der Handarbeit. Im Kamin befand sich ein großer Haufen Glut. Darüber lagen auf einem eisernen Grill verschiedene Bratenstücke. Eine Frau in mittleren Jahren drehte die Stücke über der weißen Glut hin und her. Ab und zu tropfte Fett in die Glut und verbrannte zischend. Atlan steckte die Waffe ein; seine rötlichen Augen begegneten einem freundlichen Blick. »Willkommen!« sagte die Frau. In der Art, wie sie das einzige Wort aussprach, und darin, welche Haltung sie einnahm, lagen die Tugenden eines Wirtes; man brachte alle Eindrücke zusammen und wußte, daß man sich hier ohne Gefahren wohl fühlen konnte, und zwar so lange, wie man bezahlen konnte. »Danke«, sagte der Arkonide ebenso herzlich. »Ein gutes Wort in einer Welt, die dem Wahnsinn verfällt.« Als er es aussprach, merkte er es, und auch der Logiksektor bestätigte es ihm sofort. Die Wirkung der Impulse war hier verflogen. Eine zusätzliche Erholung. Zu seiner nächsten Überraschung erklärte Stophemuk: »Du bist Mʹdary. Ich kenne dich. Ich war vor vier Jahren mit einer prunkvollen Karawane und vielen geketteten Sklaven hier. Ich zahle alles, denn bald wird das Geld von Dorkh nichts mehr wert sein.« Er griff in eine der unergründlichen Taschen seines Umhangs und brachte eine Handvoll jener geschliffenen Kiesel zum Vorschein, die auf Dorkh das Zahlungsmittel darstellten. »Auch ich erinnere mich. Du bist Stophemuk, der auch in den Nächten sein Gesicht bedeckt hält«, entgegnete die Frau. »Was wollt ihr? Wie lange bleibt ihr? Was können wir für euch tun?
Nebenbei, ihr seid die ersten Gäste seit fast einem Monat. Hier leben nur noch vier Leute.« Razamon schenkte der Frau ein breites Lächeln und sagte in entschiedenem Tonfall: »Zuerst für jeden von uns ein großes, schäumendes, bitteres Bier, gut gekühlt. Dann das beste Essen. Schließlich einige Bäder in euren famosen Quellen – wenn sie nicht versiegt sein sollten –, und einige Stunden Schlaf. Nicht mehr. Aber für uns bedeutet es mehr, als du dir vorstellen kannst.« Das Gespräch hatte drei andere Leute herbeigelockt. Ein junges Mädchen blickte die abgerissene Gesellschaft mit furchtsamen, großen Augen an. Der Wirt hinkte herein und warf abschätzige Blicke auf seine Gäste, bis er das Geld in Stophemuks Hand sah. Und ein junger Mann mit breitem Kiefer und behaarten Armen, der aus dem Horden‐Pferch entlaufen sein mußte. »Ihr sollt alles haben, was ihr wollt. Setzt euch zu uns. Eben wollten wir essen. Es ist fast Mitte des Tages, auch wenn einmal wieder die Zeiten sich nicht unterscheiden.« Razamon schob seine Waffe in den Gürtel und ließ sich ächzend auf ein dickes Kissen fallen, das auf einer steinernen Bank lag. Ein großer Steintisch wurde schnell und ohne viel Worte gedeckt, und dann kamen ein Dutzend Humpen oder mehr, aus denen heller Schaum quoll. Fast in feierlichem Schweigen tranken sie alle die ersten Schlucke. Es war die vorübergehende Illusion, die ihnen vorgaukelte, es wäre das schönste und beste Getränk ihres Lebens. Fiothra lehnte sich an Atlans Schulter und flüsterte auffallend laut: »Wir sind in einer Oase der Ruhe. Zwar bin ich Magierin, aber bisher war ich mit meinen Fähigkeiten eher eine Last als eine Hilfe. Ihr werdet nicht hier bleiben?« Atlan blickte in ihre strahlend blauen, großen Augen, sah die Spuren der letzten Tage in ihrem schmutzigen Gesicht und nahm einen großen Schluck. Er entgegnete voller Ernst:
»Wir wollen uns retten und etwas bewirken, etwas ändern. Sei unbesorgt, auch ich würde es hier lange aushalten. Aber das ist der ungünstigste Platz, um Rettung zu finden. Die Ereignisse gehen hier an uns vorbei und begraben uns unter sich. Wir müssen dorthin, wo die Hebel der Macht angesetzt werden. Nur so können auf Dorkh Ruhe und Sicherheit einkehren – die Alternative kennst du.« »Wahnsinn und Tod für uns alle«, bestätigte sie. »Ich wußte es. Trotzdem werde ich jede Minute hier genießen.« »So geht es uns allen.« Mit den Wirtsleuten zusammen nahmen sie an dem langen Tisch neben der Glut ein reichliches Essen ein. Braten, verschiedene Kräuter und Gemüse, lecker in Fett gebraten und gedünstet, abermals ein fein gezapftes Bier, verschiedene Salate und frisches Brot, das noch die Hitze des Ofens in sich trug … sie meinten, auf einem anderen Planeten zu sein oder in einer anderen Zeit. Und dennoch jagte Dorkh stöhnend und unter seinem grauen Himmel durch den Korridor der Dimensionen, unbekannte Entfernungen zurücklegend, während sie sprachen, aßen und tranken. Ein bitterer, starker Kräuterschnaps stand am Ende des Essens. Ein Zukaharto rülpste außerordentlich laut und voller Höflichkeit. »Danke, Wirtsleute«, sagte er. »Und Dank auch dir, Turganer.« Stophemuk winkte großzügig ab. »Nicht der Rede wert. Gibt es noch bei euch die Kammer, in der man Kleidung und so weiter kaufen kann?« »Sie ist nicht gerade gefüllt. Aber es wird sich Ersatz für eure Röcke und Mäntel finden lassen«, sagte Mʹdary. »Wir haben die Zimmer und die Bäder vorbereitet.« »Noch ein Bier, bitte«, sagte Atlan und fühlte sich seltsam froh. * Eine Stunde später fühlte er, wie das Wasser der Byg, angereichert
mit unbekannten, aber intensiv riechenden und ebenso wirkenden Mineralien, seinen Körper umschmeichelte. Byg: heiß, scharf und sprudelnd. Schmutz löste sich sofort, die Haut wurde rot, der Kreislauf schraubte sich in die Höhe. Das heilende Wasser der heißen Mineralquelle sollte gegen etwa fünfzig Prozent aller auf Dorkh bekannten Krankheiten helfen, einschließlich verrenkter Glieder, Schorf, böse Geschwüre, Fisteln und Blutergüsse. Atlan grinste und warf einen Blick auf die Sanduhr. Nur noch wenig Sand war in der oberen Hälfte. Auf der breiten Kante zwischen den Wannen – aus Fels, fein geglättet – stand ein gefüllter Bierkrug. Mit einer scharfen Bürste schrubbte Atlan seine Haut und fühlte sich geradezu animalisch wohl. Als der Sand durchgelaufen war, stand er auf, drehte die Uhr um, nahm einen Schluck und stieg in die zweite Wanne. Hier wartete das Wasser der Bugh auf ihn. Als er untertauchte, wirbelte, zischte und schäumte das weniger heiße Wasser auf. Seine Haut veränderte ihre Farbe. Der Kreislauf wurde beruhigt, die Entspannung kam über ihn. Dieses Wasser half angeblich gegen die andere Hälfte aller Krankheiten. In seinem Zimmer lagen Teile der neuen Kleidung. Stophemuk zahlte alles. Er war, was seine Barschaft betraf, wohl von Weltuntergangsstimmung ergriffen. Das Bier tat auch seine bekannte Wirkung. Es trug, wenigstens bei Atlan, zur Entspanntheit bei. Gab es, dachte er, auf Dorkh so etwas wie Hopfen? Auf der Erde jedenfalls sorgte der Wirkstoff dieser Dolde für einen tiefen Schlaf und für einwandfreie Funktion der inneren Organe. Er bearbeitete seine Haut mit einem weichen Schwamm und fühlte, wie Ruhe und Schläfrigkeit über ihn kamen. Zum erstenmal seit sehr langer Zeit fühlte er sich wohl und sorgte sich auch nicht um die Zukunft. Schließlich stand er in der dritten, kleineren Wanne. Er zog an einem Schieber. Aus winzigen Löchern in dem Felsgestein schossen eiskalte Schauer von Quellwasser und trafen wie ein Hagelschlag
seine Haut. Die Wasser der Quelle Nagh waren in die Spitze des Berges hochgepumpt worden, und das Gefälle besorgte den Druck. Die Reste jeglichen Schmutzes wurden weggespült. Wieder wurde seine Haut rot, aber sie blieb weich. Die vielen Schnitte und Abschürfungen, Blutergüsse, Risse und die winzigen Geschwüre, die sich entwickelten – alles war verschwunden! Er blieb so lange unter der eisigen Dusche, wie er es aushielt, aber schon als er sich mit einem großen weißen Tuch abtrocknete, taumelte er vor Müdigkeit und wohltuender Erschöpfung. Als Mʹdary kam und ihn mit einem stark riechenden Öl einrieb und massierte, trank er gerade noch den letzten Rest aus seinem Tonhumpen und schlief ein, als habe man ihn betäubt. Er schlief ohne Träume. Der Zellschwingungsaktivator hatte genügend Zeit, seine regenerierende Wirkung auszuüben. Wie alle anderen schlief er etwa zehn Stunden lang ungestört und tief. Er erholte sich in einem Maß, wie er es für kaum faßbar gehalten hatte. Nach dem Aufwachen zog er Teile der alten und die neue Kleidung an, kontrollierte seine Waffen, lud nach und fühlte sich wie neu geboren. Pessimismus und Skepsis, was seinen ehrgeizigen Part im Kampf um Dorkh – wie immer sich dieses Schlagwort interpretieren ließ – betraf, waren verflogen. Er fühlte sich jünger, stärker und voller Hoffnung und Optimismus. Ein seltsamer Vorgang, dachte er, aber er wußte, wieviel und in welchem Maße der Körper und dessen Verfassung für den Verstand ausmachten. Er war der erste neben dem Kamin, in dem ein neues Feuer glühte. Schweigend und langsam nahm er sein Frühstück ein. Er wählte leichte, kräftige und nahrhafte Speisen und trank nur ein großes Glas dieses purgierenden Kräuterauszugs. Nach und nach kamen seine Weggenossen. An keinem von ihnen war die Wirkung der Bäder, der Massagen und des tiefen Schlafes vorübergegangen. Sie wirkten, als wären sie andere Personen oder mindestens eine Handvoll Jahre jünger. Jeder Schritt verriet neue Kräfte und war voller federnder Leichtigkeit. Auch die Gesichter
zeigten, daß sie bereit waren, sich ausgeruht und voller Schwung in jedes Abenteuer zu stürzen. Diese Verfassung, dazu die erstklassige Bewaffnung, die teilweise neue Kleidung und der Besitz von zwei Zugors, den besten Maschinen auf Dorkh, vermittelte ihnen allen darüber hinaus das Bewußtsein, für fast alle Eventualitäten bestens ausgerüstet zu sein. Atlan wandte sich mit einem Bündel von Fragen an den Wirt, der zweifellos der erfahrenste unter den Leuten vom »Berg« war. »Ja«, erwiderte Leinard und streichelte seinen Bauch, »du hast recht. Wir verlassen den Berg, um die Braten zu jagen und das Gemüse und so weiter zu ernten. Wir spüren ebenfalls die Unruhe und die grundlose Heiterkeit. Aber auf rätselvolle Art und Weise sind wir geschützt, wenn wir wieder zwischen den Felsen sind. Ist damit deine Frage beantwortet?« Atlan spürte nach dem letzten Schluck den scharfen Geschmack des alkoholhaltigen Kräutersuds auf seiner Zunge und nickte. »Eine klare Antwort, Leinard. Und wie stellst du dir deine Zukunft vor, nach allem, was wir dir berichtet haben?« Leinard hob seine runden Schultern, legte sein Gesicht in Falten, die Weisheit ebenso wie Listigkeit bedeuten konnten und sprach aus, was er dachte. »Ich bin alt. Ich bin hier geboren und habe den Berg nur selten verlassen. Wenn schon, dann nur für kurze Reisen zu den Wilden Dörfern. Ich habe manchen Sturm, der über Dorkh hinwegging, hier überstanden. Vielleicht überstehen wir auch den Ansturm der Schwarzen Gefahr. Natürlich haben wir Angst und können uns ein angenehmeres Leben unschwer vorstellen.« Schweigend hörten die zehn Fremden zu. Sicherlich sprach aus diesen Worten eine gewisse Abgeklärtheit. Nach einer eindrucksvollen Pause, in der er ein Bier verlangte, erhielt und zur Hälfte in sich hineingoß, fuhr Leinard fort: »Aber das Leben ist so oder so. Wie wahr! Wenn ihr mit euren hochfliegenden Plänen scheitert, kommt hierher zurück, und wir
überwintern warm und voller Heiterkeit. Euer Leben ist nichts für mich. Mein Leben mag euch langweilig erscheinen. Aber so ist und bleibt es. Ich wünsche euch wirklich von Herzen Erfolg; für alles, was ihr vorhabt. Zieht in Frieden und tötet alle eure Gegner. Gegenwärtige und zukünftige. Denn, wie jedermann weiß, ist der Tod der große Löser aller Probleme. Es hat euch bei mir im Berg gefallen?« Zustimmendes Murmeln und Bemerkungen der Dankbarkeit und Anerkennung ertönten entlang des Tisches. »Schön, schön«, sagte Leinard. »Dann darf ich wohl auch um Glattstellung der Verbindlichkeiten ersuchen.« Alle Augen richteten sich auf Stophemuk, der ein vergnügtes Grinsen aufsetzte – erst jetzt bemerkten sie, daß er im krassen Gegensatz zu allen anderen Turganern sein Gesicht (das tatsächlich sehr angenehm aussah und auf anziehende Weise männlich wirkte!) völlig entblößt hatte – und sagte: »Das ist wohl meine Arbeit. Ade, schönes Geld, mühsam genug verdient. Es werden sich, falls ich überlebe, andere Quellen finden; und eine Karawane ist auf Kredit schnell zusammengestellt. Nenne deine Summe, Wirt der klugen Worte!« Leinard breitete in einer umfassenden Geste seine Arme aus und nannte einen Betrag, dessen Höhe Atlan verblüffte, Razamon grinsen machte und tatsächlich den Händler an den Rand seiner Fassung brachte. Er verlangte, nachdem er dreimal trocken geschluckt hatte, ein Bier und begann die facettenförmig glatten Steine abzuzählen. »Das Bier geht auf meine Rechnung«, sagte der Wirt. »Und über die Schwelle des Todes, mein handelnder Freund und Vater des Geldes, kannst du deinen Besitz ebenso wenig mitschleppen wie ich diesen Berg hier. Klar?« »Wahr gesprochen!« bekräftigte der Zukaharto. Razamon, die beiden Magier und Atlan sahen sich an und brachen in Gelächter aus. Seit dem Betreten von Dorkh, das unter ebenso
widrigen Umständen stattgefunden hatte, lachten sie zum erstenmal gelöst, laut und herzhaft. Stophemuk schaffte es, rund fünf Prozent Nachlaß für prompte Zahlung herauszuhandeln. Mit diesem Sieg über Leinard, der den Abzug sicher einkalkuliert hatte, Stophemuk jedoch sein Selbstbewußtsein zurückgab, verabschiedeten sie sich von den vier Personen. Man brachte sie bis zu genau dem Punkt, an dem sich Felsen und Außenwelt berührten. Ausgestattet mit einem Vorrat an Nahrungsmitteln, Bier und Wein für rund zehn Tage und zehn Personen stiegen sie in die Zugors, brachten die Schaltergriffe wieder an und starteten nach Süden. Was sie in Torstadt erwartete, wußten sie nicht. Aber sie planten, in einem der Wilden Dörfer zu landen und sich dort gründlich umzusehen. Im Gegensatz zum Wirt und seinen Gehilfen befanden sich die Vertriebenen aus den Städten Dorkhs in freier Natur, in unmittelbarer Nachbarschaft der Händler‐Straße und womöglich im Besitz wertvoller Informationen. Kaum, daß sich die Zugors in die Luft erhoben hatten, fühlten die Insassen wieder die Impulse aus dem mittlerweile unsichtbaren SCHLOSS. Abermals ergriff sie das Wechselbad der Stimmungen. Minutenlang dachten sie erfreut und kichernd an die Stunden in diesem denkwürdigen und teuren Gasthof. Und in den folgenden Minuten begannen sie sich vor der Zukunft zu fürchten, wurden unruhig und gaben einander gereizte Antworten. Atlan starrte von seinem erhöhten Platz aus hinunter auf das Gebiet zwischen der deutlich erkennbaren Straße und dem Rand von Dorkh. Das erste, nördlichste, Dorf kam näher. Dort unten kämpften immer wieder Tiere gegen Tiere, Dorkher gegen Tiere und Wesen von Dorkh gegeneinander. Nichts hatte sich geändert.
* Südlich von Varlan, dort, wo die Straße der Händler wieder zum Rand hin abbog und dessen Konturen folgte, also nach Südost verlief, lag Luoccotzanto. Es war das am weitesten im Süden gelegene Wilde Dorf. Atlan und Razamon hatten in ihrer ewigen und intensiven Suche nach Informationen und mit ihrer immerwährenden Neugierde erfahren, was die Wilden Dörfer wirklich waren: keine Dörfer voller Wilder, sondern wild entstandene, unkontrollierte Siedlungen von Ausgestoßenen, Unzufriedenen und Unverstandenen aus buchstäblich allen Teilen von Dorkh. Erstaunlicherweise lebten sie im Frieden miteinander. In diesen Dörfern hausten Wesen, von denen allgemein gesagt wurde, daß sie zu den diszipliniertesten und friedlichsten Bewohnern von Dorkh gehörten! Natürlich kamen die meisten Tatsachen von Stophemuk und den überlebenden Turganern. Sie waren Händler, und sie mußten wissen, an welchen Stellen ihre Karawanen gefährdet waren und an welchen Stellen sie in Ruhe und Frieden reiten konnten. In der Nähe der Wilden Dörfer gab es keinerlei Probleme. »Dort«, rief Stophemuks Begleiter aus dem anderen Zugor, »dort unten liegt Luoccotzanto. Klein, gepflegt, voller fleißiger Bewohner. Alle Rassen und Gruppen von Dorkh sind dort vertreten.« »Ich kannʹs erkennen!« antwortete Atlan. Seine Meinung sah etwa folgendermaßen aus: Mit einiger Wahrscheinlichkeit nahmen die Wirkungen der Impulse vom SCHLOSS mit zunehmender Entfernung ab, und zwar besonders gegenüber den Insassen der Zugors. Sie hatten überlebt, sie hatten sich bewährt, und jeder von ihnen war bis zu einem gewissen Punkt immun gegenüber den Impulsen. Auf dem Boden von Dorkh und unter allen anderen Wesen wüteten weiterhin die verderblichen Strahlungen. Eine Landung in einem der Dörfer, und hier bot sich
nach übereinstimmender Meinung aller, die etwas davon wußten, Luoccotzanto an, würde Atlans Überlegungen entweder bestätigen oder das Gegenteil beweisen. Der Aufenthalt würde auf alle Fälle kurz sein. Und möglicherweise ohne Gefahren. »Wir landen!« sagte Atlan laut und gab Razamon Zeichen, die dieser bestätigte. Die Zugors senkten sich aus einer Flughöhe von etwa dreihundert Metern abwärts und legten sich schräg in eine Kurve. Die Umgebung dieses Dorfes strahlte ebenso wie die Wirtsstube einen mehr als einladenden Eindruck aus. Etwa kreisförmig erstreckten sich unregelmäßig große und keineswegs rechteckige Felder, Wiesen, Äcker und Weiden, unterbrochen von kleinen fetten Waldgebieten und Buschansammlungen. Ein Bach, von dem aus schmale Kanäle wegstrebten, schlängelte sich in wirren Linien durch dieses Gebiet. Im Zentrum des Kreises befanden sich ordentlich aussehende Häuser. Die meisten schienen einstöckig zu sein und waren mit Stroh gedeckt. Die Straßen waren, aus der Luft und während der zweiten Umkreisung deutlich zu erkennen, gerade oder in angenehmen Kurven angelegt. In jedem Fall waren sie sauber und mit Steinen belegt. Zwischen den einzelnen Häusern erkannten die Insassen der Zugors, die sich alle über die Kante beugten und nach unten starrten, sogar Gärten, die liebevolle Gestaltung verrieten. Außerhalb des Dorfkernes standen auffallend große Hallen, vor denen sich Windmühlenflügel langsam drehten. Razamon rief: »Bescheidene Anzeichen einer Art von Industrie. Vermutlich gut ausgerüstete Handwerksbetriebe!« »Langsam meine ich«, rief Atlan hinüber, »daß dieses Dorf wohltuend normal ist. Normal in dem Sinn, daß hier versucht wird,
sich weiterzuentwickeln. Alles strahlt einen Eindruck aus, der mir bekannt ist. Positiv, würde ich sagen. Ich schlage vor, wir landen auf dem Dorfplatz und versuchen, einen absolut friedlichen Eindruck hervorzurufen.« »Genau das wollte ich vorschlagen«, rief Razamon zurück und bewies, daß sie beide die Situation gleichartig beurteilten. »Wir landen?« »Wir landen und bleiben nicht lange!« Sie hatten inzwischen mehr als ein Drittel der Entfernung zwischen der Stadt der Verlorenen und Torstadt zurückgelegt. Ausgestattet mit ihrer neuen Zuversicht und geradezu vor Energie berstend, konnten sie alle die Landung kaum erwarten. Die Zugors senkten sich und setzten dicht nebeneinander im Zentrum des Dorfes auf. Noch während die Insassen über die Bordwände kletterten und sich umsahen, strömten aus den Häusern alle nur denkbaren Wesen heraus, die auf Dorkh lebten. Der Eindruck aus der Nähe war ebenso positiv wie der aus der Luft. Atlan setzte sich neben Fiothra und Razamon auf das Bord des Zugors und rief den Näherkommenden zu: »Wir sind Freunde. Keine Sorge, wir fliegen in kurzer Zeit wieder weg. Wir wollen nur mit euch reden.« Mindestens ein Dutzend verschiedener Wesen bildete schnell einen Ring um die Zugors und deren Besatzungen. Schließlich kam ein hochgewachsener Mann mit krausem, weißem Haar, der ein glänzendes Amulett trug. Er sagte langsam, als spräche er mit Begriffsstutzigen: »Willkommen. Wir haben frisches Wasser für müde Wanderer. Unsere Frauen werden für euch tanzen. Unruhe und Fröhlichkeit bestimmen unser Leben. Kommt und laßt euch verwöhnen. Nach einigen Stunden werden wir mit euch kämpfen und versuchen, euch zu töten. Der Tod ist nunmehr Herrscher über Dorkh. Willkommen und immer wieder Willkommen.«
Sie wußten jetzt, daß der positive Eindruck trog. Sie waren nicht in einem ordentlichen Dorf gelandet, sondern in einem Gebiet, in dem die hysterische Stimmung bereits um sich gegriffen hatte. Der Arkonide drehte seinen Kopf, warf einen langen und prüfenden Blick in die Runde, dachte eine Weile nach und antwortete dann auf diese wirre Rede so wirr und nachdrücklich wie möglich: »Vater des Dorfes! Danke für das Willkommen! Wir sind fremd hier und wollen weder eure schönen Frauen tanzen sehen, noch werden wir mit euch bis zum Tod kämpfen. Wir würden euch ohnehin besiegen. Alles, was wir wollen, ist ein Trunk klaren Wassers und ein gutes Gespräch. Wir sind geschickt worden, um den Tod zu töten, also Dorkh zu retten. Fröhlichkeit und Unruhe kennen auch wir, denn wir wissen, woher diese Stimmungen kommen. Wollen wir reden oder kämpfen?« Gleichzeitig zog er eine Waffe, richtete sie auf die Brust des Sprechers und lächelte verbindlich. Ein überraschtes Murmeln ging durch die Reihen der Dorfbewohner. Sie waren alle halb verrückt. Atlan, Stophemuk und Razamon wußten, daß sie am falschen Platz gelandet waren. Ein schneller Start erschien unmöglich. Wieder einmal saßen sie in einer Falle. Aber diese Falle hatten sie sich zum größten Teil selbst gestellt. Nun mußten sie versuchen, ohne Verluste wieder zu entkommen. Es würde alles andere als leicht sein. Beim Versuch, ungehindert zu starten, würde es mit größter Wahrscheinlichkeit abermals Tote oder Verletzte geben. Das war der Moment, wo Atlan und Razamon erkannten, daß sie sich besser im Berg des Wirtes versteckt und alles abgewartet hätten. »Trotzdem«, sagte Atlan ebenso leise wie grimmig entschlossen, »werden wir dieses Dorf auch wieder verlassen. Eines weiß ich: die Schwierigkeiten begannen schon mit der Landung.«
»Schwierigkeiten?« murmelte Razamon zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Wenn es nur Schwierigkeiten sind? Immerhin haben wir die gesamte Bevölkerung eines Dorfes gegen uns. Viel Vergnügen, Freund Atlan.« »Du wirst mir helfen, mich hier herauszuwinden«, meinte der Arkonide. »Davon abgesehen ist dies kein übler Platz zum Sterben.« Sie grinsten sich an, aber in dieser Grimasse lag keine Freude, sondern nur das Wissen, daß sie alle wieder einmal im Zentrum der Gefahren standen. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 472 von König von Atlantis mit: Flucht von Dorkh von Hans Kneifel