Atlan - König von Atlantis Nr. 464 Dorkh
Dorkh erwacht von Peter Terrid
Der Kampf mit den Uleb
Atlans ko...
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Atlan - König von Atlantis Nr. 464 Dorkh
Dorkh erwacht von Peter Terrid
Der Kampf mit den Uleb
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie bisher alles überstanden haben, was Dorkh gegen sie aufzubieten hatte. Atlan und seine Gefährten schaffen es sogar wider Erwarten, unbeschadet zum SCHLOSS, dem Machtzentrum von Dorkh, zu gelangen. Dort aber entbrennen erbitterte Kämpfe zwischen Angreifern und Verteidigern des SCHLOSSES – und schließlich wird das Chaos perfekt, als DORKH ERWACHT …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan, Razamon und Grizzard ‐ Der Arkonide und seine Gefährten werden für Lemurer gehalten. Danta‐Pyrt und Olyn‐Tzair ‐ Zwei Uleb. Konterfert und Ghyderzan ‐ Technos von Dorkh. Aoore und Deela ‐ Zwei Puntharen.
1. In geordneter Formation zog die Flottille durch die Schwärze des Weltraums. Olyn‐Tzair hatte das Kommando, die anderen sieben hatten ihm zu gehorchen. Der Auftrag der acht war mit wenigen dürren Worten umschrieben: Aufspüren, angreifen, vernichten. Sie verstanden sich meisterlich auf dieses Handwerk, es war ihr Lebensinhalt. Olyn‐Tzair kontrollierte die Anzeige der Taster. Die elektronischen Sinnesorgane des Schiffes waren hochsensibel. Was immer sich in der näheren Umgebung des Schiffes bewegte, wurde von ihnen erfaßt, angemessen und ausgewertet. Im Augenblick zeigten die Instrumente an, daß die Flottille in diesem Bezirk des Weltraums allein war. Es gab etliche Sonnen, einige wenige Planeten, aber es gab keinerlei Schiffsbewegungen. Danach aber suchten sie. Sie wollten Schiffe aufspüren und vernichten, und ihr Augenmerk hatten sie auf ganz bestimmte Schiffe gerichtet. Krieg herrschte zwischen dem Volk des Olyn‐Tzair und den Lebewesen, deren Schiffe die acht mit unbarmherziger Härte jagten und zerstörten. Es war noch kein Ende des grausigen Kampfes abzusehen. Er tobte schon etliche Jahrzehnte, aber seine Wurzeln reichten tief in die Vergangenheit zurück. Olyn‐Tzair kannte diese Geschichte wie jeder seiner Gefährten. Ihr
ganzes Leben war nur erklärlich, ihre Lebensart nur dann verständlich, wenn man diese Vorgeschichte kannte. Die Galaxis, durch die sich die Flottille bewegte, war keineswegs die Heimat der acht. Die Heimat dieser Wesen war vor langer Zeit einmal ein galaktisches System gewesen, das später in den Katalogen der Gegner als Galaxis M‐87 auftauchen würde. Entstanden waren sie aus einer Rasse, die sich Skoars nannten; es waren treuergebene Gefolgsleute der Herren jener Galaxis M‐87 gewesen. Die Okefenokees, die Herren von M‐87, hatten vor langer Zeit die Gene ihrer Untertanen gezielt beeinflußt. Herausgekommen waren lebende Kampfmaschinen, die von ihren Feinden Bestien genannt wurden – sie waren hart, unerbittlich und der Schrecken aller, die mit ihnen zu tun hatten. Dazu zählten nach geraumer Zeit auch ihre Schöpfer, die Okefenokees. Die Bestien flohen. Mit sich schleppten sie Wissenschaftler ihrer ehemaligen Herren, die ihnen helfen mußten. Binnen weniger Jahrhunderte wurden die Bestien zu einer galaktischen Großmacht. Der Konflikt zwischen Okefenokees und Bestien schien unausweichlich. Es war zum Krieg gekommen, und die Bestien hatten dieses fürchterliche Schlachten verloren. Sie wurden aus M‐ 87 vertrieben. Diesmal nahmen sie keine Wissenschaftler mit. In ihrem Gepäck befand sich vielmehr etwas, das sie niemals wieder loswerden sollten – Angst, panische Furcht vor Entdeckung. Für die Riesengestalten der Bestien war die grauenvolle Niederlage ein traumatisches Erlebnis, von dem sie sich niemals wieder erholen sollten. Achthundert Millionen Bestien verließen M‐87 und suchten in der Weite des Weltraums nach Lebensraum. Ein Teil dieser achthundert Millionen, ein Viertel genau, siedelte sich in einem galaktischen System an, das später den Namen Magellansche Wolken tragen sollte. Jahrtausende vergingen. Die Bestien lebten in Furcht und Schrecken, in der
immerwährenden Angst, von ihren Schöpfern entdeckt und völlig vernichtet zu werden. Alles, was die Bestien von M‐87 unternahmen, diente ausschließlich dem einen Zweck, das Volk der Bestien vor diesem Schicksal zu bewahren. Riesige Industrieunternehmungen wurden aufgebaut. Die Bestien wappneten sich, so gut sie es vermochten. Sie schraken auch nicht davor zurück, an sich selbst Experimente vorzunehmen. Endlos lange hyperphysikalische Versuchsreihen wurden gestartet und durchgeführt. An ihrem Ende stand ein neues Lebewesen, Bestien neuen Typs. Von denen, die später Grund hatten, sie zu fürchten, wurden sie Uleb genannt. Uleb stand ursprünglich einmal für Unbekanntes Lebewesen. Die Uleb waren größer und kräftiger ausgefallen als ihre Vorfahren, die Bestien aus M‐87. Sie vermochten auch, dank einer umgewandelten Genstruktur, fremde Lebewesen körperlich zu übernehmen. Trotz dieser Verbesserungen blieb auch den Uleb eine typische Eigenschaft der Bestien erhalten – auch sie hatten panische Angst vor einer Entdeckung durch die Okefenokees. Die Uleb hatten sich zurückgezogen. Sie hausten in einem geheimen Sektor der Materienbrücke zwischen den Magellanschen Wolken. Von dort aus dirigierten sie ihre weniger weit entwickelten Artgenossen vom Normaltyp der Bestien. Es kam noch zu einer weiteren Abspaltung – aus dem Normaltyp entwickelte sich im Lauf der Zeit die Rasse der Haluter. Nach Jahrtausenden der Vorbereitung schien die Zeit endlich gekommen, alle Sorgen der Bestien und Uleb auf einen Schlag zu bereinigen. Die Uleb holten aus zum großen Schlag gegen die Okefenokees in M‐87. Mit einer riesigen Flotte griffen sie die Herren von M‐87 an – und wurden unter grauenvollen Verlusten erneut zurückgeschlagen. Wenn es noch eines Anlasses bedurft hätte, die Angst der Uleb vor
Entdeckung zur manischen Besessenheit zu steigern, dann war es diese Niederlage. Was die geschockten Uleb vollends fast um den Verstand brachte, war die knappe Information, daß die Okefenokees in M‐87 an der Entwicklung einer Zeitmaschine arbeiteten. Was das bedeutete, war für die Uleb sofort klar – die Okefenokees wollten offenbar den fatalen Fehler der Erschaffung der Bestien im Ansatz revidieren. Gelang das, mußten Bestien und Uleb mit einem Schlag aus der Wirklichkeit des Einstein‐Kontinuums verschwinden. Mit dieser Todesangst im Nacken betrieben die Uleb ihre Machtpolitik. Wo immer auch nur in bescheidenen Ansätzen mit der Zeit experimentiert wurde – die Uleb lauschten, und wenn sie sicher waren, schlugen sie zu. Ihr ganzes Leben widmeten sie der einen Aufgabe – jedes Experiment mit der Zeit im Ansatz zu zerschlagen und alle weiteren Versuche für alle Zeiten zu unterbinden. Für alle Völker, die im Lauf ihrer Entwicklung in die Nähe der Zeitexperimente gerieten, war dies das Todesurteil. Die Uleb kannten keine Gnade, wähnten sie doch in jedem derartigen Versuch den ersten Schritt dazu, sie ein für allemal verschwinden zu lassen. Während sie sich selbst im sogenannten Enemy‐System abschotteten, organisierten sie Kriege gegen alle anderen Völker, die sich mit der Zeit beschäftigten. Sie selbst glaubten sich sicher in ihrem Versteck. Das Enemy‐System wurde durch einen in die Zukunft gerichteten Zeitschirm vor jedem Zugriff fremder Mächte geschützt. Nur über einen streng bewachten Zeit‐Transmitter konnte das Heimatsystem der Uleb erreicht werden. Völlig sicher aber fühlten sich die Uleb nie. Ein Ausdruck dieses Unsicherheitsgefühls war die Flottille, die den abgelegenen Sektor der Milchstraße durchstreifte. Olyn‐Tzair und seine Gefährten waren auf der Suche nach Angehörigen eines
Volkes, das es gewagt hatte, nach der Zeit zu greifen. Seit beinahe einhundert Jahren lag die Rasse der Lemurer im Krieg mit den Halutern, denen die Uleb die Vernichtung der Lemurer übertragen hatten. Die Uleb selbst operierten meist im Hintergrund. Das waren die Bedingungen, unter denen die Flottille vom Enemy‐ System aus gestartet war. Kommandeur der kleinen Flotte war Olyn‐Tzair. Er maß wie fast alle Uleb vier Meter in der Höhe, und entsprechend waren die anderen Glieder seines Körpers ausgebildet. Uleb besaßen zusätzlich zu den Handlungsarmen ein Paar Sprung‐ und Laufarme. Das gab ihnen trotz der Massigkeit des Körpers eine ungeheure Beweglichkeit. Uleb waren in der Lage, ihre Körperstrukturen umzuwandeln – sie ließen ihre Leiber gleichsam zu kompakten, stahlharten Blöcken gefrieren und waren so für eine Vielzahl von gegnerischen Waffen nahezu unangreifbar. Dazu kam die reichhaltige Ausrüstung, die Olyn‐Tzair in den Taschen seines erdbraunen Kampfanzuges stecken hatte. Wer jemals einen Uleb in voller Aktion gesehen hatte, der verstand, warum man schon die Vorfahren Bestien genannt hatte. Es schien nichts zu geben, was dem Ansturm eines rasenden Uleb hätte widerstehen können. Für primitive Völkerschaften konnte schon das Auftauchen eines einzigen Uleb den Untergang bedeuten. »Ortung!« Olyn‐Tzair stellte fest, daß sich Danta‐Pyrt gemeldet hatte. »Wo?« »Ich gebe die Koordinaten durch. Es scheint weit entfernt zu sein.« Ein paar Sekunden später erschien auf Olyn‐Tzairs Kontrollschirm das gleiche Bild wie bei allen anderen Schiffen. Sehr weit entfernt, so schwach, daß man es gerade noch anmessen konnte, zeigte sich ein Energieecho. Die Struktur dieser angemessenen Energieausschüttung nahm ein wenig Zeit in Anspruch. Als sie beendet war, öffnete Olyn‐Tzair das breite, zahngespickte Maul zu einem grimmigen Lächeln.
»Lemurer«, sagte er grollend. Er brauchte keine weiteren Befehle zu geben. Die Uleb ließen die Aggregate ihrer Schiffe hochfahren und beschleunigten. Hunderte von Malen hatten Olyn‐Tzair und seine Gefährten dieses Manöver durchgeführt. Es klappte reibungslos. »Mich wundert, daß sie sich hier überhaupt sehen lassen«, sagte Zeffin‐Quorm, der zum ersten Mal diese Flottille begleitete. »Was haben Lemurer ausgerechnet in diesem Winkel der Galaxis zu suchen?« »Was weiß ich«, gab Olyn‐Tzair zurück. In diesem Augenblick gellte in jedem der acht Uleb‐Schiffe eine Sirene. Olyn‐Tzair erstarrte. Er tat dies buchstäblich. Er wandelte seine Körperstruktur um, denn der Klang, der an sein Ohr schlug, gehörte zum Schrecklichsten, das ein Uleb hören konnte. Es besagte mit grausiger Eindeutigkeit, daß irgendwo im Meßbereich des entsprechenden Tasters an der Zeit manipuliert worden war. Das aber bedeutete in jedem Fall für jeden Uleb Großalarm. Kalte Angst griff nach Olyn‐Tzair. War es soweit? Kamen die Okefenokees, um sich für die wiederholten Invasionsversuche ihrer ehemaligen Geschöpfe zu rächen? Hatte für die Uleb und ihre Artgenossen die letzte Stunde geschlagen? Olyn‐Tzair kannte den Sirenenton aus Übungen. In der Wirklichkeit hatte er ihn noch nie gehört. Er erschütterte ihn bis ins Mark. Er brauchte geraume Zeit, um wieder zu sich zu finden, und er war der erste Uleb, der die Kraft aufbrachte, die schrillende Sirene abzustellen. Dennoch gingen Angstschauer durch den gigantischen Leib des Uleb, als er die Meßwerte kontrollierte. Seine Besorgnis wuchs mit jedem Augenblick.
Das Meßprotokoll sagte unzweideutig aus, daß sich die Zeitmanipulation in unmittelbarer Nähe des gerade erst angemessenen Lemurerschiffs abgespielt hatte. Olyn‐Tzair wagte nicht, diese Tatsachen in voller Konsequenz zu bedenken. Er klammerte sich instinktiv an die verzweifelte Möglichkeit, daß dies alles nur ein Meßfehler war. Die Zeittaster der Uleb waren der Besorgnis ihrer Schöpfer entsprechend hochempfindlich. Lieber einmal zuviel gewarnt als einmal zu wenig – das konnte das Ende der Uleb bedeuten. »Was machen wir?« fragte Zeffin‐Quorm. »Wir fliegen hin«, entschied Olyn‐Tzair. »Meldung an die Zentrale?« wollte Falgär‐Kym wissen. Olyn‐Tzair zögerte. »Wir wollen keine voreilige Panik auslösen«, sagte er dann. »Wir fliegen hin und sehen uns die Sache an – im Zweifelsfall wird immer noch Zeit genug bleiben, unsere ganze Macht zu mobilisieren.« Falgär‐Kyms Geste drückte gelinden Zweifel aus, aber er sagte nichts. Noch war die Autorität des Kommandanten unzweifelhaft. Während die Flottille dem fernen Ziel entgegenraste, stellte Olyn‐ Tzair Berechnungen an. Er versuchte anhand der Meßergebnisse herauszubekommen, welches Ereignis den Zeittaster hatte anschlagen lassen. Er kam zu keinem brauchbaren Ergebnis. Die Meßwerte widersprachen sich in krasser Weise – ersichtlich war lediglich eines: Es war etwas geschehen, das das Raum‐Zeit‐Kontinuum an der betreffenden Stelle erschüttert hatte, und zwar auf eine Art und Weise, die zwingend an eine Manipulation der Zeit erinnerte. Dann stellte Olyn‐Tzair noch etwas anderes fest. Die Lemurer, die er angemessen hatte, bewegten sich – und zwar auf jenen Punkt des Universums zu, an dem die ZeitErschütterung stattgefunden hatte. War das Zufall? Oder steckte Absicht dahinter?
Wie immer, wenn das Problem der Zeit ins Spiel kam, wurde Olyn‐Tzair unruhig. Er wußte, was für sein Volk auf dem Spiel stand, und entsprechend behutsam und exakt mußten die Vorgänge recherchiert werden. Der Feind durfte keinerlei Gelegenheit finden, sich vor dem Vernichtungsschlag der Uleb noch in Sicherheit zu bringen. War in dem fraglichen Sektor der Milchstraße tatsächlich mit der Zeit herumgespielt worden, dann gab es für die Uleb nur eine Strategie – das betreffende Gebiet wurde hermetisch abgeriegelt, und dann wurde vernichtet, was sich in der Sperrzone befand. Skrupel, ganze Sonnensysteme zu vernichten, besaßen die Uleb nicht – die Okefenokees hatten skrupulöse Kampfmaschinen nicht brauchen können, und die Bestien hatten sich naturgemäß gehütet, ihren Nachkommen Eigenschaften wie Rücksichtnahme oder eine hochentwickelte instinktgekoppelte Moral mit auf den Weg zu geben. Gut war, was den Uleb nützte – alles andere war uninteressant. Gab es etwas, das den Uleb schaden konnte, wurde das Etwas beseitigt – so einfach war das. Wieder und wieder verglich Olyn‐Tzair die Meßergebnisse. Das Ereignis, das den Zeittaster hatte anschlagen lassen, hatte sich nicht wiederholt. Das verwunderte den Uleb, der sich nicht vorstellen konnte, daß die Unbekannten es bei diesem einen Versuch bewenden ließen. Nun, es konnte Olyn‐Tzair gleichgültig sein. Das Zielsystem – ein sehr abgelegener Winkel der Milchstraße, in dem eigentlich weder Uleb noch Lemurer etwas zu suchen hatten – war bald erreicht. Die Lemurer würden früher ankommen, das ließ sich nicht verhindern. Indes war der Verband der Feinde nicht sehr groß – es würde den Uleb nicht schwerfallen, ihn zu vernichten. Die Meßergebnisse verrieten, daß die Lemurer den Punkt erreicht hatten, an dem die Zeit‐Erschütterung stattgefunden hatte. Die Daten verrieten des weiteren, daß die Lemurer ihren Flug unterbrachen – also war es kein Zufall, daß sie das System
angeflogen hatten. Ob sie von Anfang an dort hatten ankommen wollen oder ob sie ebenfalls die ZeitErschütterung angemessen hatten und nun nachsehen wollten, was für das Phänomen verantwortlich war, würde sich vielleicht niemals ermitteln lassen. »Die Schiffe sind gefechtsklar zu machen«, sagte Olyn‐Tzair. Er stellte für sein Schiff Gefechtsbereitschaft her, auch für das sehr große Beiboot, das zur OLYN gehörte. Man konnte nie wissen – völlig wehrlos waren die Lemurer nicht, schließlich hatten sie dem vernichtenden Angriff von dreihundert Millionen Halutern fast ein Jahrhundert lang standhalten können. »Macht euch fertig!« ermahnte Olyn‐Tzair seine Gefährten. Dies war nicht länger ein normaler Erkundungsflug, bei dem es nicht von großer Wichtigkeit war, ob die Flottille eine Feindberührung hatte oder nicht. Dieses Mal standen größere Dinge auf dem Spiel. An der Zeit war manipuliert worden, das war für jeden Uleb ausreichend, sein Äußerstes zu geben. Dann war der Augenblick gekommen. Die Flottille der Uleb fiel in den Normalraum zurück. Sofort schaltete Olyn‐Tzair die Ortungsanlagen an. Sie griffen jetzt nicht mehr lichtjahreweit in das All hinaus, sondern erkundeten einen Raum von wenigen Lichtmonaten – allerdings mit weit höherer Wirksamkeit und Präzision. Diese Normalortung zeigte Olyn‐Tzair, daß er in der Nähe einer gelben Sonne herausgekommen war. Sie zeigte ihm des weiteren, daß diese Sonne sechs Planeten hatte, davon einen in der Zone, die die verhaßten Lemurer als ihre ökologische Zone betrachteten, in der sie sich am wohlsten fühlten. Die Ortung zeigte auch, daß ein Pulk von Lemurerschiffen in diesem Augenblick zum Landeanflug auf den Planeten ansetzte. Olyn‐Tzair stieß ein Grollen aus. »Angriff!« befahl er. 2. »Das gibt es nicht«, sagte Tsookhar. »Das kann es einfach nicht
geben!« Er hatte mit vielem gerechnet, als er den gewaltigen, beinahe eruptiven Energieausbruch in der Nähe seines Konvois angemessen hatte – aber mit einem derartigen Gebilde hatte er nicht rechnen können. Die Quelle jenes Ausbruchs zu finden, war ein leichtes gewesen – noch immer war das sich auslösende Gebilde anzumessen. Mehr noch – es war auf den Bildschirmen der Normaloptik sogar deutlich zu sehen. Tsookhar sah ein Land, kaum zu erkennen unter einem Energieschirm, der die gesamte riesige Fläche überwölbte. Die Größenordnung des solcherart geschützten Landes ließ die Bezeichnung Kontinent durchaus berechtigt erscheinen. Kraß hob sich der seltsame Kontinent von den umliegenden Regionen ab. Während der Rest des Planeten klar zu erkennen war, verschwammen hinter dem Energieschirm die Konturen auf seltsame Art und Weise. Bewegungen waren nicht darunter auszumachen. Tsookhar vermutete aber, daß es unter dem Schirm Leben gab … Denn welchen Sinn, wenn nicht den, Leben zu schützen, hatte ein Energieschirm? Das Grün, das durch den Wölbschirm hindurchschimmerte, war zudem ein beredter Beweis für das Vorhandensein von Leben. Irgend jemand mußte schließlich den Schirm erstellt haben. »Kann mir einer sagen, was das sein soll?« fragte Tsookhar. In der Besatzung seines Schiffes fand sich keine Antwort. Die Jaas‐ Thor raste mit Unterlicht auf den Planeten zu, es war der dritte in einer Reihe von sechsen. Es war Zufall, daß sich der Pulk der Schiffe hierhin verirrt hatte. Vor einigen Tagen war der Konvoi – er hatte ursprünglich aus mehr als einhundert Schiffen bestanden – von Halutern angegriffen und nahezu aufgerieben worden. Jetzt waren nur noch sechs Schiffe übrig, darunter zwei Transporter, die Tausende von Menschen
transportieren sollten – ursprünglich zum Transmitter nach Andromeda, jetzt an jeden beliebigen Ort, Hauptsache außer Reichweite der Haluter. »Das Ding hat sich bewegt«, sagte Tsookhar. »Es liegt da und strahlt im Hyperbereich, aber vor ein paar Stunden war es noch nicht da – was also hat das zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht«, sagte Ruyan, Tsookhars Erster Offizier. »Ich bin aber sicher, daß es sich um eine Falle handelt. Wir sollten von hier verschwinden.« In der Zentrale der Jaas‐Thor klang beifälliges Murmeln auf. Vor zehn Tagen war der Konvoi gestartet, von jenem Planeten, auf dem der Kontinent Lemuria lag, und der von den Halutern unablässig mit geballter Macht bestürmt wurde. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das Ende der Lemurer gekommen war. Hinter den Männern und Frauen, die das Ende des Konvois überlebt hatten – es waren wenig genug –, lagen Tage und Stunden, erfüllt mit unvorstellbaren Strapazen und Entbehrungen. In der Jaas‐ Thor gab es kaum mehr einen Tropfen zu trinken, und an Bord gab es Mütter mit Kindern – das erbärmliche Wimmern der Kinder peinigte unablässig das Gemüt des Kommandanten, auch wenn kein einziger Säugling in Hörweite war. »Verfluchte Haluter«, murmelte Tsookhar. »Wir haben keine andere Wahl«, sagte er nach einer Pause des Nachdenkens. »Wir brauchen Proviant und vor allem Wasser. Zurückkehren können wir nicht, und bis wir uns wieder in die Nähe der Transmitterstrecke wagen dürfen, wird auch geraume Zeit vergehen.« Der Erste Offizier nickte finster. »Das stimmt«, sagte er bedrückt. »Es wird Wochen dauern, bis unsere Schlachtflotten die Strecke wieder freigekämpft und abgesichert haben, und bis dahin müssen wir uns irgendwo verstecken und abwarten.« »Also?«
Es erhob sich kein Widerspruch. Tsookhar beließ den Pulk auf dem alten Kurs, der ihn genau auf den Planeten mit dem geheimnisvollen Kontinent führen sollte. Tsookhar war als Kommandant noch jung – die fürchterlichen Verluste, die die Lemurer hinzunehmen hatten, sorgten dafür, daß auch sehr hohe Offiziersstellen sehr früh von jungen Leuten besetzt wurden. Tsookhar zählte dreißig Jahre, ein Teil seiner Offiziere war gerade erst mannbar geworden. Auf den anderen Schiffen des Pulks sah es keineswegs besser aus. Überall fand man Flickwerk, die am meisten gebrauchte Fähigkeit war Improvisationsvermögen. Tsookhar wußte, daß er in eine der dunkelsten Epochen der Lemurer hineingeboren worden war, und er fürchtete insgeheim, daß er sogar das Ende der Lemurer würde miterleben müssen. »Wie stellt ihr euch dazu?« fragte Tsookhar über eine Ringschaltung die Kommandanten der anderen Schiffe. Er fixierte Drorah, die einzige Kommandantin im Pulk. Sie war von faszinierender Schönheit, dazu eiskalt und berechnend; Tsookhar hatte sie noch nie lächeln sehen. Indes stand fest, daß sie zu den tüchtigsten Kommandanten zählte, die es bei den Lemurern jemals gegeben hatte – eine Ausnahmeerscheinung, optisch wie charakterlich. »Mir gefällt dieses Ding nicht«, sagte die Frau sofort. »Ich bin dafür, dieses System sofort zu verlassen. Tsookhar – überlege: Was wir angemessen haben, kann jedes Haluterschiff ebenfalls anmessen.« »Richtig«, sagte der Kommandant. Er trug für den gesamten Pulk die Verantwortung, und er hatte schwer daran zu tragen. »Trotzdem brauchen wir Nahrung und Wasser – und vielleicht erwächst uns dort unten ein Verbündeter.« »Lächerlich«, sagte Drorah kalt. »Wir haben keine Verbündeten gehabt, wir haben jetzt keine, wir werden niemals welche haben.« Das traf zweifellos zu.
»Außerdem«, fuhr die Frau fort. »Ein paar Stunden werden die Leute wohl noch ohne Wasser auskommen können.« »Hart gegen andere wie gegen sich selbst?« fragte Tsookhar mit leisem Spott. Drorah zog die linke Augenbraue in die Höhe; sie machte das gekonnt und sehr effektvoll. »Wenn …«, begann sie, wurde aber durch den Alarm der Raumortung unterbrochen. »Kontakt!« rief der Ortungsoffizier in diesem Augenblick in Tsookhars Zentrale. »Acht Schiffe – ohne Zweifel Feindschiffe!« »Da haben wir es!« knirschte Drorah. »Verschwinden wir von hier, bevor es zu spät ist.« Tsookhar zögerte einen Augenblick. Die Frau hatte teilweise recht. Es war insbesondere wichtig, die Flüchtlinge in den Transportschiffen in Sicherheit zu bringen. Eines dieser Schiffe, vollgepackt mit mehr als zweitausend Männern, Frauen und Kindern, wurde von Drorah befehligt – es war Mord, ihr Schiff in den Kampf zu werfen. »Drorah«, sagte Tsookhar. »Setz dich ab, zusammen mit dem anderen Transporter. Wir werden euch zu finden wissen. Wir anderen werden versuchen, die Haluter zu vertreiben. Ich möchte mir dieses seltsame Ding ansehen.« »Wie du willst«, sagte Drorah. In ihrem Gesicht zuckte kein Muskel. »Leb wohl.« Der Bildschirm wurde dunkel. Drorah hatte die Verbindung unterbrochen. In einer seltsamen Anwandlung von Hellsichtigkeit wußte Tsookhar plötzlich, daß er die Frau niemals wiedersehen würde. Er drängte den Gedanken beiseite – es gab jetzt entschieden Wichtigeres zu tun. Auf den Kontrollschirmen konnte er verfolgen, wie die beiden Transporter sich vom Pulk lösten und beschleunigten. Sie suchten ihr Heil in der Flucht, irgendwohin hinein ins Zentrum der Galaxis.
Die Furcht vor den Halutern saß jedem im Nacken. »Gefechtsbereitschaft«, ordnete Tsookhar an. Sein Erster Offizier grinste müde. Für die Besatzungen der vier Lemurerschiffe war die Gefechtsbereitschaft in den letzten Tagen zum Dauerzustand geworden. »Zwei gegen einen«, sagte Ruyan. »Ein heißer Tanz wird das werden – und wir haben immer noch Passagiere an Bord.« Tsookhar winkte ab. Ruyans Einwand traf zwar grundsätzlich zu. Die Jaas‐Thor hatte Überlebende des Konvois an Bord genommen, was war ihr anderes übriggeblieben. Aber deswegen blieb das Schiff ein Kampfschiff – die Geretteten gingen nur das gleiche Risiko ein wie die normale Besatzung, und das erschien Tsookhar unter diesen Umständen zumutbar. »Wir haben Schlimmeres überstanden«, sagte er. Tsookhar wußte, daß er übertrieb, aber er sah keinen Sinn darin, lange zu diskutieren – an der Auseinandersetzung ließ sich ohnehin nichts ändern. Erst wenn es gelang, die Haluter zurückzutreiben, hatten die vier Lemurerschiffe eine echte Chance. In jedem anderen Fall wären die Haluter ihnen auf den Fersen geblieben, hätten womöglich Verstärkung herbeigeführt – der Kampf schien absolut unausweichlich. In der Jaas‐Thor wurden die Schotte geschlossen, um eventuelle Vakuumeinbrüche frühzeitig abriegeln zu können. Die Energieversorgung der Geschütze wurde aktiviert, die Passagiere wurden in die Innenräume gesperrt – wenn es zu einem Treffer kam, waren sie dort noch am sichersten. Tsookhar fieberte der Auseinandersetzung entgegen. Um jeden Preis wollte er das Geheimnis des seltsamen Kontinents klären. Immer wieder starrte er auf den Bildschirm, der das Gebilde zeigte – ein unfaßbares Rätsel für den Lemurer. Die Auswertung der Meßergebnisse zeigte nämlich, daß es auf dem Planeten – von dem überwölbten Teil abgesehen – kein höheres
Leben gab, nur einfache Pflanzen. Wer hatte dann die technische Anlage geschaffen, die das Energiefeld erzeugte, unter dem sich der Kontinent verbarg? Nur schemenhaft konnte man das Land darunter sehen. »Sie greifen an«, rief Ruyan. »Jetzt geht der Tanz los.« * Sie hatten keine Chance gehabt. Dieses bittere, demütigende Gefühl peinigte Tsookhar mehr als alles andere, als er die halbzerschossene Jaas‐Thor auf den Landekurs brachte. Die Haluter – wenn es welche waren, denn die Schiffe sahen anders aus, als Tsookhar die Haluterschiffe in Erinnerung hatte – hatten mit unbarmherziger Härte zugeschlagen. Treffer auf Treffer war in den Schutzschirmen eingeschlagen, und manch einer war bis auf die stählerne Hülle der Schiffe durchgeschlagen. Zwei der vier Lemurerschiffe trieben als glühende Gaswolken im Raum, und alles, was bei dem fürchterlichen Gefecht für die Lemurer herausgekommen war, waren ein paar Treffer bei den Halutern gewesen. Zwei der Haluter‐Schiffe schienen angeschlagen, aber die anderen waren mehr als genug für die halb wracken Lemurer‐ Einheiten. Tsookhar kannte die Grausamkeit dieser Auseinandersetzung. Er wußte auch, was sich in den nächsten Stunden abspielen würde. Zunächst einmal würde die Jaas‐Thor landen – besser gesagt: sie würde abstürzen, denn ein derart beschädigtes Schiff konnte man nicht mehr richtig landen. Wenig später würden dann die Haluter‐ Schiffe auf dem Boden des Planeten aufsetzen, und dann würden deren Besatzungen Jagd auf die Überlebenden des Absturzes machen. Ein Glück, dachte Tsookhar, daß sich Drorah hatte absetzen
können. Ihr waren die Haluter nicht gefolgt – vielleicht hatte sie mehr Glück als ihre Gefährten. »Kontakt mit der Lufthülle«, sagte der Erste Offizier. Blut hatte sein Gesicht verschmiert und war inzwischen zu einer Kruste eingetrocknet. Die Stimme des Mannes war völlig ruhig. Kein Unterton verriet, daß die Jaas‐Thor in wenigen Minuten auf dem Boden des Planeten zerschellen würde. Ein wilder, verzweifelter Plan durchfuhr Tsookhar, eine abenteuerliche Kriegslist. Vielleicht funktionierte sie. »Ruft den Kontinent an«, sagte Tsookhar. »Sendet irgendeinen Text, möglichst unverständlich.« »Was bezweckst du?« fragte Ruyan. Mit äußerster Anstrengung verhinderte der Offizier, daß das Schiff den Kurs verließ. »Ich will die Haluter glauben machen, wir stehen mit den Leuten unter dem Energieschirm in Verbindung – vielleicht gewinnen wir Zeit dadurch.« »Zeit wofür?« fragte Ruyan bitter. Tsookhar gab auf diese Frage keine Antwort. Er sah zu, wie sein Befehl befolgt wurde. »Ruyan, steuere das Schiff so, daß wir möglichst dicht an den Energieschirm herankommen.« »Wenn wir darauf aufschlagen, kannst du alles andere vergessen«, bemerkte der Erste Offizier. »Aber wie du willst – ich bin gespannt …« Der Funkspruch war hinausgegangen, sorgfältig ausgesuchte Kodegruppen, die keinen erkennbaren Sinn ergaben. Wenn die Haluter den Flottenkode der Lemurer geknackt hatten – damit mußte stets gerechnet werden –, würden sie einiges zu tun haben, diesen Funkspruch zu entziffern. Genau das war Tsookhars Absicht gewesen. Er starrte auf die Reste des Panoramaschirms. Auf einem der kleineren Monitoren darunter war die positronische Lagebeschreibung zu sehen – der Standort der Jaas‐Thor und ihres
Begleitschiffs sowie der Kurs der Verfolger. Die Lage war klar und übersichtlich. Die Haluter rasten heran, um den beiden Schiffen die entscheidenden Treffer zu geben. Wenn sie mit weiteren Salven erreichen konnten, daß die Lemurerschiffe entweder noch in der Luft explodierten oder aber manövrierunfähig auf den Planeten abstürzten, war die Arbeit getan. Andernfalls mußten die Haluter einzeln Jagd auf die überlebenden Lemurer machen. Irgend etwas störte Tsookhar an den Haluterschiffen – sie entsprachen nicht dem, was er gewohnt war. »Bei allen Sternengötzen!« schrie Ruyan auf. »Sie drehen ab. Sie drehen tatsächlich ab.« Jubel brandete nicht auf. Die Menschen in der Zentrale der Jaas‐ Thor wußten, daß sie nur ein wenig Zeit geschunden hatten. Der Sensenmann hatte zum Schwung ausgeholt, daran hatte sich nichts geändert. »Sie glauben, wir wollten sie in eine Falle locken«, knurrte Ruyan. »Sollen sie.« Die Jaas‐Thor flog unbeirrt ihren Kurs weiter. Endlich konnte sich Tsookhar wieder um sein Schiff kümmern – das Halbwrack sicher auf den Boden zu bringen, würde meisterliches Können erfordern. Und was danach geschah … Tsookhar machte sich keine Gedanken darüber. Einstweilen wollte er nur landen. Auf dem Monitor konnte er sehen, daß die Haluterschiffe den Kurs sogar beträchtlich geändert hatten. Sie waren außer Schußweite, und sie machten keinerlei Anstalten, die Jaas‐Thor auf ihrem Weg zu verfolgen. Offenbar hatten auch die Haluter Respekt vor dem gigantischen Wölbschirm, der den Rätselkontinent barg. Tsookhars Versuch, den Halutern zu suggerieren, er stünde mit den Leuten im Innern des Schirmfelds in Verbindung, war gelungen – vorerst. Die Jaas‐Thor sank tiefer. Das Heulen der verdrängten Luft wurde stärker. Die Antigravanlagen wurden hochgefahren.
»Wer kann, soll sich anschnallen«, sagte Tsookhar. Er winkte eine junge Frau heran, die mit ihrem Kind unversehens in der Zentrale der Jaas‐Thor aufgetaucht war. Zu suchen hatte sie dort nach dem Bordreglement nichts – aber was zählten Regeln in einem solchen Augenblick. »Schnall dich fest«, befahl Tsookhar der Frau. »Dort ist ein Platz frei.« Es war der Sessel des Piloten. Tsookhar nahm nur ganz am Rande wahr, daß sich die Frau tatsächlich anschnallte. Die Servomechanismen des schweren Sessels funktionierten noch. Tsookhar blieb vor den Instrumenten stehen. Auf den Schirmen wurde das Land unter der Jaas‐Thor immer deutlicher. Karger Boden, spärlich bewachsen mit Krüppelgewächsen, nur ab und zu ein wenig Wasser erkennbar. Die Sensoren verrieten, daß es dort unten kalt und trocken war, kein besonders guter Platz, um ein Raumschiff zu landen, dessen Besatzung es am nötigsten gebrach – an Nahrung und Wasser. Vor allem fehlte es am Sichtschutz nach der Landung – auf dem öden Land war jeder Lemurer leicht auszumachen. Den Halutern stand eine einfache Jagd ins Haus. Das Kind in den Armen der jungen Frau wimmerte leise. Immer tiefer sackte die Jaas‐Thor. Tsookhar preßte die Lippen aufeinander. Es konnte nicht mehr lange dauern. Ein Blick auf die Haluter. Sie hielten respektvoll Abstand. Hinüber zu dem Energieschirm – es würde mit viel Glück auf einen Fußmarsch von ein paar tausend Schritt hinauslaufen, mit sehr viel Glück. Tsookhar entschloß sich, das Schicksal nicht herauszufordern. Er konnte versuchen, unmittelbar neben dem Schirmfeld zu landen – und dabei riskieren, gegen das Feld zu krachen und die Jaas‐Thor so zu vernichten. Er konnte aber auch zu weit ab von dem Feld landen und es den Halutern leicht machen, mit einem Landungskommando
den Weg zu dem Feld abzuriegeln. Haluter entwickelten auf dem Boden eine Geschwindigkeit von bis zu 120 Kilometern pro Stunde – und die Lemurer mußten Kinder mitschleppen. Über allem stand natürlich die Frage, ob es den Lemurern gelingen konnte, den Schirm überhaupt zu passieren – Tsookhar ging davon aus, daß es möglich sein mußte, so oder so. Denn eine andere Überlebensmöglichkeit als diese gab es für die Lemurer nicht. 3. Mit verhaltener Wut sah Olyn‐Tzair zu, wie die beiden restlichen Lemurerschiffe zur Landung ansetzten. Es würde mehr ein Absturz daraus werden, aber das interessierte den Uleb wenig. Er hätte zu gerne gewußt, in welcher Verbindung die Lemurer mit dem rätselhaften Gebilde auf dem Planeten standen. Für den Uleb war es offensichtlich: dieses Gebilde war die Quelle der ZeitErschütterung, und wenn die Lemurer in Verbindung standen mit dem geheimnisvollen Land, dann war ihnen offenbar gelungen, was die Uleb mit aller Macht hatten verhindern wollen. Das hieß: völlig sicher war sich Olyn‐Tzair nicht. Die Bewohner des Landes unter der Energieglocke antworteten nämlich nicht auf den Funkspruch der flüchtenden Lemurer. Auch das konnte eine Falle sein. Vorsichtshalber blieb Olyn‐Tzair mit seinen Schiffen außerhalb der Reichweite normaler Geschütze. Nicht daß er sich vor den Kanonen der Lemurer gefürchtet hätte – der Widerstand der vier Schiffe hatte ihn eher amüsiert als geängstigt. Aber man konnte nicht wissen, was es an bösen Überraschungen unter dem Schirm gab. Uleb hatten in solchen Fällen einiges zu verlieren – sie waren nämlich biologisch unsterblich. Auch dies war eine Folge der hochkomplizierten Versuche, die ihre Vorfahren mit dem eigenen
Erbmaterial angestellt hatten. »Was sollen wir tun?« fragte Falgär‐Kym. »Warum greifen wir nicht einfach an?« »Langsam«, bestimmte Olyn‐Tzair. »Erst will ich sehen, was die Lemurer machen.« Er sah zu, wie sie ihre beiden Schiffe herunterbrachten. Das unleugbare Geschick, das die beiden Kommandanten der Lemurer dabei an den Tag legten, war für den Uleb nur ein weiteres Argument, diesen Lemurern hinterherzujagen, bis auch der letzte vernichtet war. Die Schiffe der Lemurer vollführten zwar entsetzliche Sprünge beim Aufprall auf den Boden des Planeten, aber sie barsten nicht, und sie explodierten auch nicht, wie Olyn‐Tzair insgeheim gehofft hatte. »Es wird eine Menge Überlebender geben«, sagte Danta‐Pyrt. »Arbeit für uns.« Nun, in den wenigen Stunden, die Olyn‐Tzair den Lemurern zu geben bereit war, konnten sie schwerlich weit kommen – jedenfalls nicht weiter als ein Uleb laufen konnte. Nachdem sich die riesige Staubwolke gelegt hatte, die beim Absturz der beiden Schiffe aufgewirbelt worden war, schaltete Olyn‐Tzair die Fernoptik seines Schiffes eine Stufe höher. Die vorzüglichen Geräte zeigten, daß tatsächlich eine sehr große Zahl der Lemurer den Absturz überstanden hatte – wesentlich mehr, als üblicherweise an Bord eines Schiffes zu finden waren. Vermutlich hatten die Lemurer Flüchtlinge an Bord. Olyn‐Tzair konnte die Wracks der beiden Schiffe sehen. Um sie würde er sich nicht mehr zu kümmern haben – sie waren in keinem Fall mehr flugtauglich. Die Hülle war derartig zerbeult und aufgerissen, daß man vermuten konnte, kein einziges Aggregat der äußeren Abteilung funktioniere noch – das schloß sämtliche Schiffsgeschütze ein. Kleine schwarze Punkte auf felsig grauem Untergrund – das
waren die Lemurer in Olyn‐Tzairs Objektiv. Er war gespannt, was sie machen würden. Bereits nach kurzer Zeit stand fest: die Lemurer wandten sich in geordneten Kolonnen dem Rand des Schirmfelds zu. Sie hatten also etwas mit dem rätselhaften Kontinent zu tun. »Wir sollten eingreifen«, drängte Falgär‐Kym. »Wir warten ab«, entschied Olyn‐Tzair, und gegen seine Befehle gab es natürlich keinen Widerspruch. Es verging geraume Zeit, in der sich ein schwärzlich wimmelnder Zug dem Energieschirm entgegenwälzte. Dann hatten die vordersten Lemurer das Feld erreicht. Leider konnte Olyn‐Tzair nicht mehr beobachten – das Auflösungsvermögen seiner Geräte ging nicht weiter. Aber er sah, daß sich die Spitze des Zuges in das Energiefeld hineinbohrte, darin verschwand. Eigentlich hätte man jetzt Entladungen anmessen können müssen. Wenn feste Körper mit einem Energiefeld zusammenprallten, wurden die festen Körper in der Regel vernichtet. Nichts dergleichen geschah. Der Zug der Lemurer ging weiter. »Aha«, sagte Olyn‐Tzair. Die Lemurer konnten das Energiefeld unbeschadet passieren, das stand für Olyn‐Tzair fest. Niemals würden die Lemurer in selbstmörderischer Absicht zu Tausenden in ein tödliches Energiefeld hineinlaufen. Daß der Zug fortgesetzt wurde, bewies, daß man diese Barriere überwinden konnte. Olyn‐Tzair überdachte die Angelegenheit mit seinem Planhirn. Während sein Ordinärhirn gleichgültig die Wanderung der Lemurer verfolgte, überdachte das Planhirn die Lage, analysierte sie und arbeitete mit der Perfektion einer organischen Rechenmaschine einen Plan aus. Jedenfalls tat es das normalerweise – in diesem speziellen Fall kam auch das Planhirn zu keiner klaren Schlußfolgerung.
Olyn‐Tzair entschloß sich daher ohne durchkalkulierten Plan zum Angriff. Er schickte drei seiner Kampfgenossen aus, in das Energiefeld einzudringen und dort die Projektoren zu zerstören. Die drei Einheiten der Flottille lösten sich aus dem Verband und jagten davon. Olyn‐Tzair sah ihnen gleichmütig hinterher. Er rührte sich auch nicht, als die Schiffe nach kurzer Flugdauer in den Schußbereich etwaiger Geschütze gerieten. Nichts geschah, kein Schuß fiel. Dann war der Rand des Schirmfelds erreicht. Genau gleichzeitig flammten drei Eruptionen auf der Oberfläche des Schirmes auf, und im gleichen Augenblick schlugen bei Olyn‐ Tzair die Energietaster weit aus. Kalten Herzens stellte Olyn‐Tzair fest, daß die Masse der drei Uleb‐Schiffe nicht mehr anspielbar war. Den gleichzeitigen gewaltigen Energieausbruch bewertete Olyn‐Tzair als die Vernichtung der drei Erkundungseinheiten. »So geht es also nicht«, sagte der Uleb. Der Tod dreier Gefährten berührte ihn wenig. »Was nun?« fragte Danta‐Pyrt. »Landen wir?« Olyn‐Tzair machte eine Geste der Zustimmung. »Wir gehen auf der anderen Seite des Feldes nieder und dringen von dort ein«, sagte er ruhig. »Was den Lemurern möglich ist, sollte auch uns gelingen.« Danta‐Pyrt hatte einen gewichtigen Einwand. »Funkspruch an die Zentrale?« Olyn‐Tzair zögerte keinen Augenblick. »Wer möchte ihn absetzen?« Es zeigte sich, daß keiner der fünf Überlebenden Lust hatte, die Heimat zu informieren – erst wollten sie den Erfolg dieses Kampfes sicherstellen, dann erst sollte ein Funkspruch abgeschickt werden. Die Uleb‐Schiffe verließen die Parkbahn und gingen langsam tiefer. Sie verließen den Sichtbereich der Lemurer und flogen in
weitem Bogen eine andere Stelle des Schirmfelds an. Fast gleichzeitig gingen sie in der Nähe des Feldes nieder. Wenig später verließen sie ihre Schiffe. Fünf Uleb machten sich auf den Weg, um das Rätsel des Kontinents unter dem Schirmfeld zu lüften. * »Vorwärts!« schrie Tsookhar. »Keine Pause einlegen!« Er trieb seine Gefährten unnachsichtig an. Ab und zu sah er in die Höhe. Irgendwo dort, in diesem Abstand mit bloßem Auge nicht zu erkennen, hingen die Haluter im Raum. Offenbar hielten sie noch immer gebührenden Abstand. Tsookhar konnte seine Freunde auf der anderen Seite des Schirmfelds sehen, nur schemenhaft und sehr undeutlich, aber das genügte. Er war sicher, daß sie die andere Seite erreicht hatten, und sie waren ganz offenkundig noch am Leben – das allein zählte. Ruyan war als erster hinübergegangen und auch angekommen. Er sollte drüben den weiteren Marsch der Lemurer leiten. »Weitergehen!« schrie Tsookhar. »Keine Verzögerungen. Die Haluter können jeden Augenblick eintreffen!« Eine Stunde hatten die Überlebenden gebraucht, bis sie sich aus den völlig zerstörten Schiffen hatten ins Freie durchschlagen können, und es war den meisten wie ein Wunder erschienen, daß sie nicht sofort danach von den Halutern angegriffen worden waren – sie wären wahrlich eine leichte Beute gewesen. Damit konnte es sehr bald vorbei sein. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Haluter zum Angriff ansetzen würden, und was sich dann abspielen würde, wagte Tsookhar sich nicht auszumalen. Ein junger Mann kam herangeeilt. »Eine Nachricht von der Ortung!« schrie er schon von weitem. »Die Haluter greifen an, drei Schiffe haben den Orbit verlassen.« Tsookhars Gesicht versteinerte gleichsam. Er wußte: das war das
Ende. »Beeilt euch«, schrie er wild. »Lauft, Leute!« Es war ein hoffnungsloser Versuch, aber besser als bloße Untätigkeit. In wenigen Augenblicken mußten die Schiffe der Haluter da sein – sie ließen sich sehr viel Zeit, anders war nicht zu erklären, daß der Bote vor den ersten … Ein Schlag ging durch den Boden. Eine unerklärliche Kraft hob Tsookhar samt dem Boden an, stieß ihn mit Wucht in die Höhe. Erdbeben, dachte Tsookhar. Dann zuckte ein Netz filigraner Entladungen durch das Schirmfeld, und im gleichen Augenblick wurde das Land überschüttet vom grellen Glanz einer gewaltigen Detonation. Irgend etwas ist explodiert, durchzuckte es Tsookhar. Wahrscheinlich die Jaas‐Thor. Die Druckwelle erreichte die Flüchtenden und riß sie von den Beinen. Meterweit flogen einige durch die Luft. Der Boden vibrierte, wie von einer Riesenfaust getroffen. Dann brach einen Herzschlag später der ohrenbetäubende Lärm der Explosionen über die Fliehenden herein und ließ sie für geraume Zeit ertauben. Tsookhar kam als einer der ersten wieder auf die Beine. Er sah zu den Wracks hinüber, die am Rand seines Gesichtsfelds erkennbar waren. Der Lemurer traute seinen Augen kaum – beide Schiffe gab es noch, sie waren nicht explodiert. Tsookhar stieß einen gellenden Freudenschrei aus. Nicht die Lemurerschiffe waren explodiert – es waren die Haluter gewesen, deren Schiffe in dem geheimnisvollen Wölbfeld vergangen waren. Tsookhar sprang zum nächsten am Boden liegenden Lemurer und richtete ihn auf. Mit Gesten trieb er die Leute an, und sie begriffen, was er ihnen
andeutete – die Haluterschiffe konnten das Wölbfeld nicht passieren. Wer es schaffte, das Feld zu durchschreiten, war gerettet. Tsookhar konnte sehen, wie sich die Gefährten auf der anderen Seite bewegten. Sie lebten und waren trotz der Eruptionen, die durch das Feld gerast waren, unversehrt. Mit wilden Armbewegungen trieb Tsookhar seine Freunde vorwärts. Immer hinein in das seltsame Wölbfeld. Wie es kam, daß die Lemurer passieren konnten, nicht aber die Haluter – was kümmerte Tsookhar das Wieso und Warum. Hauptsache war, daß es die Lemurer durchließ. Er sah, wie die Gefährten rannten. Sie alle wußten: gefährlich konnten ihnen jetzt nur die Haluter werden, die auf dem Boden des Planeten landeten und sich außerhalb des Schirmfelds auf die Überlebenden stürzten. Dem galt es zu entgehen, unter allen Umständen. Tsookhar sah, wie die Frauen ihre Kinder aufnahmen, um schneller laufen zu können. Verwundete wurden auf Tragen hin und her geschüttelt, aber sie beschwerten sich nicht. Jeder hatte nur einen Gedanken – vorwärts, sich in Sicherheit bringen. In breiter Front durchquerten die Lemurer das Wölbfeld. Zwar wunderte sich Tsookhar einen Augenblick lang, daß keiner zurückkehrte, um ihm zu berichten, wie es auf der anderen Seite aussah, aber was kümmerte ihn das in diesem Augenblick? Es ging um das nackte Überleben in einer Situation, die völlig verzweifelt und hoffnungslos erschienen war. Tsookhar wußte, daß in diesem Augenblick noch immer Kranke und Verletzte aus den Wracks getragen wurden. Wie lange konnten die Haluter brauchen, bis sie die endlos lange Kolonne der Flüchtigen erreichten? Eine Stunde, bestenfalls. Was das hieß, wagte Tsookhar nicht in Einzelheiten sich vorzustellen. Die Wracks der Schiffe waren etliche Kilometer von der äußersten Grenze des Wölbfelds entfernt, und was jetzt die
zerbeulten Hüllen der Lemurerschiffe verließ, hatte nicht mehr die Kraft zu einem Dauerlauf. Tsookhar blieb außerhalb des Schirmfelds. Er kannte nur noch eine Aufgabe – so viele Lemurer wie möglich über die rettende Grenze zu treiben, vor den rachsüchtigen Halutern in Sicherheit zu bringen. Was es im Innern des Wölbfelds gab, das interessierte ihn in diesem Augenblick nicht sehr. Ein neuer Bote erschien. »Meldung von der Jaas‐Thor«, stieß der Mann hervor, kaum daß er zu Atem gekommen war. »Die Schiffe sind in Brand geraten. Es besteht Explosionsgefahr!« Tsookhar hörte die Meldung wie durch eine Wand von Watte, aber er verstand den Inhalt. Ein Fluch kam über seine Lippen. Es erschien im ersten Augenblick unsinnig, daß ein Riesenkörper aus Stahl, wie es ein Raumschiff war, anfangen sollte zu brennen – aber es gab im Inneren dieser Schiffe genügend Material, das im Zweifelsfall Feuer fangen konnte, wenn die Initialtemperatur nur hoch genug war. »Wo brennt es?« fragte Tsookhar zurück. Der Bote machte ein unglückliches Gesicht. »Unter anderem in der Nähe der Reaktorräume«, stieß er hervor. Tsookhar murmelte einen wütenden Fluch. Wenn das Feuer auf die Kabel übergriff, konnte es jederzeit zu Kurzschlüssen kommen, und niemand vermochte vorherzuberechnen, was passierte, wenn in wichtigen Leitungen plötzlich Ströme flossen, die dort nicht hingehörten. Da wurden Schaltungen betätigt, die längst abgestellt waren, Sicherungen flogen an den falschen Stellen heraus, und zu den Steuereinrichtungen der Reaktoren flossen Lenkimpulse, die gar keine waren, aber dennoch getreulich von den Automaten befolgt wurden. Am Ende einer solchen Schadenskette konnte sehr leicht eine explosionsartige Entladung der an Bord gespeicherten
Antriebsenergie stehen – in anderen Worten: der Reaktor konnte in einer atomaren Explosion in die Luft fliegen. Eine solche Detonation wäre für alle Flüchtigen das Ende gewesen, soweit sie sich nicht bereits in dem Innenraum des Wölbfelds in Sicherheit gebracht hatten. »Die Leute sollen laufen«, schrie Tsookhar. »So schnell es geht. Der Brand soll von den Robots bekämpft werden. Alle Mitglieder der Besatzung und sämtliche Passagiere sollen schnellstens hierhin kommen – ohne Rücksicht auf Materialverluste.« »Wird gemacht, Kommandant«, sagte der Bote. Er machte sich auf den langen, beschwerlichen Lauf zurück zur Jaas‐Thor, der Gefahr einer atomaren Explosion entgegen, und der Gefahr, einem blutgierigen, zu allem entschlossenen Haluter in die fürchterlichen Handlungsarme zu laufen. Trotz der schrecklichen Gefahr, die ihm drohte, zeigte der junge Lemurer nicht das geringste Zögern. Tsookhar sah ihm nach – es war entsetzlich, soviel Charakterstärke und Tapferkeit in etwas so Sinnlosem wie einem Krieg zu vergeuden. »Weiter!« schrie Tsookhar. »Lauft, Leute!« Er schwenkte die Arme, trieb die Lemurer an. * »Noch knapp einhundert, Kommandant«, sagte der Meldegänger. »Sie werden in ein paar Augenblicken hier sein.« Tsookhar hätte vor Freude am liebsten geweint. Das Wunder dieses namenlosen Planeten hatte tatsächlich stattgefunden – die Schiffe waren noch immer nicht explodiert, die Haluter hatten sich nicht gerührt – noch ein paar Minuten, und alle Überlebenden des Gefechts waren in Sicherheit. Jetzt gab es auch wieder Hoffnung für ihn, den Kommandanten. Er sah die letzten Gruppen heranwanken. Es waren in der Mehrzahl
Verletzte, die von Freunden gestützt oder gar getragen wurden. Sie waren erschöpft und wirkten niedergeschlagen, obwohl ihre Rettung bevorstand. Für einige war es das dritte oder vierte Mal, daß sie aus akuter Lebensgefahr errettet worden waren – nur um in die nächste Schlacht, das nächste Gefecht hineingezogen zu werden. Tsookhar sah zur Jaas‐Thor hinüber. Im Schein der untergehenden Sonne schien das Wrack zu glühen, warf rötliche Reflexe über den kargen Boden. Später, wenn die Haluter abgezogen waren, wollte Tsookhar zu seinem Schiff zurückkehren und das Wichtigste retten – Waffen, Material, die unersetzlich wertvollen Logbücher und Karten. Dann war der letzte Trupp der Flüchtigen heran. Es wurde Zeit, auch für Tsookhar. Er schritt auf den Wölbschirm zu, drang in ihn ein. Ein seltsames, unerklärliches Gefühl überkam ihn. Er begann zu lächeln. Mit jedem Schritt, den er machte, fiel ein Stück der Last ab, die er zu tragen gehabt hatte. Er vergaß den gräßlichen Krieg zwischen der ersten Menschheit und den Halutern. Er vergaß die Katastrophe, die dazu geführt hatte, daß die Lemurer auf diesem Planeten landen mußten. Es verschwanden die Angst und die Beklemmung, die in den letzten Stunden auf ihm gelastet hatten. Tsookhar merkte nicht, wie sich seine Kleidung langsam auflöste und gleichsam verwehte. Er lächelte, weil er die Sorgen hinter sich gelassen hatte. Er lächelte, weil er hinter sich sein Gedächtnis gelassen hatte. Es war ein Wesen ohne Erinnerung, das den Wölbmantel durchquerte und den Boden des Dimensionsfahrstuhls betrat. Dorkh hatte neue Bewohner bekommen. 4.
Irgend etwas sagte Danta‐Pyrt, daß nicht alles richtig war, was er tat. Leider wußte Danta‐Pyrt nicht, was von dem falsch war, was er tat – es fehlte ihm an Vergleichsmöglichkeiten. Etwas stimmte nicht – aber was? Danta‐Pyrt sah verdrossen seine Gefährten an. Er kannte sie erst seit kurzem. Vor ein paar Tagen hatte er sie zufällig getroffen, wie er waren sie nackt gewesen, und wie er hatten sie kein Gedächtnis mehr gehabt. Geblieben aber war den fünf Uleb ihre überragende Intelligenz – und das gab letztlich den Ausschlag. »In jedem Fall sollten wir uns zusammentun«, sagte Danta‐Pyrt. »Wir sind von der gleichen Art, folglich gehören wir zusammen.« »Mag sein«, erklärte Olyn‐Tzair. Er fuchtelte mit dem rechten Handlungsarm in der Luft herum. »Aber ich frage mich, was wir hier zu suchen haben? Wo sind wir überhaupt?« »Auch das wird sich feststellen lassen«, sagte Danta‐Pyrt. »Ich habe einen Vorschlag zu machen.« Die anderen schwiegen. »Wir trennen uns und untersuchen das Land«, sagte Danta‐Pyrt; ein gewisses Gefühl des Unbehagens stieg in ihm auf, aber er unterdrückte die Empfindung. »Jeder untersucht einen Winkel des Landes, danach treffen wir uns an dieser Stelle wieder.« Die fünf brauchten nicht zu diskutieren. Zum einen war Danta‐ Pyrts Vorschlag der einzige sinnvolle Plan zum Handeln. Zum anderen waren sich alle fünf sicher, den Platz für das Zusammentreffen mit Sicherheit wiederfinden zu können. »So werden wir handeln«, sagte Olyn‐Tzair. Sie trennten sich. Danta‐Pyrt ließ sich auf alle sechs nieder und begann zu laufen. Mit hoher Geschwindigkeit raste er über das Land. Es erschien ihm seltsam, daß er nicht mehr genau wußte, wer er war und was er hier tat – er war aber gewillt, diese Fragen schnell zu beantworten.
Nach einigen Stunden hatte Danta‐Pyrt eine beachtliche Strecke hinter sich gebracht. Eine Verschnaufpause einzulegen, hatte er nicht nötig – Uleb kannten fast keine Ermüdung. Danta‐Pyrt nahm Einzelheiten des Landes in sich auf. Er sah die tiefe Schlucht, den Cañon von Fryg, er durchquerte mit der Wucht eines Geschosses den Wald von Fryg und folgte dem Verlauf der Schlucht. An einer passenden Stelle überquerte er den Spalt und raste auf der anderen Seite weiter. Eine weite Ebene, grasbestanden, nahm ihn auf. Danta‐Pyrt stellte fest, daß es Leben gab auf dem Land, Leben in vielfältiger Form. Keines der Wesen aber war in irgendeiner Form für den Uleb bedeutungsvoll. Danta‐Pyrt grub in seinem Gedächtnis, während er das Land durchkämmte. Er fahndete auf zwei Ebenen nach Informationen – zum einen wollte er herausfinden, wer er war, zum anderen mußte er ermitteln, warum er sich überhaupt in dieser Lage befand. Die Informationen, die er bei seinem hastigen Durchmustern des Landes gewinnen konnte, halfen ihm nicht sehr weiter. Dann aber, mitten im Lauf, ging ein Ruck durch das Land. Das war ein Augenblick, der auch einem Uleb ein leises Gefühl der Angst bescheren konnte. Was hatte das zu bedeuten? Der Boden unter den Füßen des Uleb zitterte und bebte, Blitze zuckten in rascher Folge über den Himmel. Immer stärker griff die Furcht nach Danta‐Pyrt. Die Sonne, die auf das Land herabgeschienen hatte, verschwand plötzlich und machte formlosem grauen Nebel Platz. Danta‐Pyrt kam nach kurzer Überlegung zu der Schlußfolgerung, daß der Planet, auf dem er sich befand, die Umlaufbahn um die Sonne verlassen hatte. Ein Bild stieg nebelhaft in Danta‐Pyrts Gedächtnis auf – das Bild eines Planetenteilstücks, überwölbt von einem Energieschirm. Danta‐Pyrt begriff, daß er sich auf diesem Kontinent befand. Und
er begriff, daß sich dieser Kontinent zusammen mit ihm in Bewegung gesetzt hatte. Danta‐Pyrt blieb stehen. Neue Erinnerungen kamen. Er entsann sich, daß er über zwei Hirne verfügte, daß in dem zweiten, dem Planhirn, Informationen gespeichert waren, die er dringend zum Verständnis der Lage brauchte. Der wichtigste Schritt war getan. Danta‐Pyrt kam zu der Schlußfolgerung, daß er das Gedächtnis verloren hatte. Alles andere ergab sich zwangsläufig aus dieser herausragend wichtigen Information. Vergessen war sein Vorsatz, das Land zu erkunden. Jetzt galt es für ihn zunächst einmal, sein Gedächtnis zu rekonstruieren, alles andere schien zweitrangig. Aber Danta‐Pyrt kam zu keinem brauchbaren Ergebnis. So sehr er sich auch bemühte und in seinem Hirn wühlte, es fanden sich einstweilen keine Daten, die er hätte verwerten können. Nur eines fand Danta‐Pyrt heraus – alles, was ihn bedrückte und beschäftigte, hatte mit diesem seltsamen Kontinent zu tun, auf dem er sich befand, und der nun durch Raum und Zeit … Von irgendwoher kam wieder eine Erinnerung. Sie war knapp und besagte, daß das Stichwort Zeit für ihn von besonderer Wichtigkeit war. Das zweite war eine jäh aufschießende Gefühlswoge, die Danta‐Pyrt überschwemmte – Angst. Unlösbar verknüpfte sich bei dem Uleb der Begriff Zeit mit dem Wort Angst, und sein Verlangen, dieses Gefühl unter Kontrolle zu bekommen, wurde übermächtig. Es mußte eine logische Verknüpfung zwischen all den Bruchstücken geben, die in Danta‐Pyrts Gedächtnis gleichsam lose herumlagen. Der rätselhafte Kontinent, das geheimnisvolle Wölbfeld, die Angst vor allem, was mit Zeit zu tun hatte … aber Danta‐Pyrt bekam diese Bruchstücke einstweilen nicht zusammengesetzt zu einem klaren übersichtlichen Gebilde.
Er rannte weiter. * Vieles von dem, was er sah, verstand er nicht. Es kümmerte ihn auch nicht. In einem recht seltsamen Experiment überprüfte Danta‐ Pyrt alle Fakten, die er sammeln konnte, auf ihre Wichtigkeit – rief ihr Anblick heftige Gefühlsassoziationen hervor oder nicht? Blieb sein Inneres von den Bildern unberührt, setzte Danta‐Pyrt seine Suche fort – wegen etlicher Belanglosigkeiten war er nicht hierhergekommen. Es mußte einen hochwichtigen Grund geben, daß er an diesen Ort gekommen war und dabei offenbar sein Gedächtnis verloren hatte. An einem großen Felsen erprobte Danta‐Pyrt, ob auch andere Funktionen seines Körpers und seines Geistes geschwächt worden waren. Mit höchster Geschwindigkeit raste er gegen den kompakten Fels – die danach herumfliegenden Gesteinstrümmer zeigten ihm, daß er nach wie vor seinen Körper in seiner Gesamtstruktur umwandeln und kristallin verhärten konnte. Am Rand des Gebirges entlang stieß Danta‐Pyrt nach Süden vor. Ein zweites Mal überquerte er den breiten Cañon, dann jagte er durch eine verlassene Wüste. Stunde um Stunde verging, in der Danta‐Pyrt nichts anderes tat, als das Land zu erkunden und ziemlich gerade nach Süden zu jagen. Unterwegs kam er zu der Erkenntnis, daß jenes geheimnisvolle Wölbfeld, das über dem Kontinent lag, von irgendwelchen Apparaturen erzeugt werden mußte – so etwas konnte nicht natürlichen Ursprungs sein. Nun, wenn dem so war, mußten irgendwo die Erbauer der Anlage leben, und wenn es sie nicht mehr gab, dann mußten zumindest die technischen Anlagen auffindbar sein. Es war Stunden später, als er zu einer neuen Erkenntnis kam.
Er stieß auf neue Lebewesen. * Das Lager war schon von weitem zu erkennen gewesen. Danta‐ Pyrts hervorragende Augen hatten es bald gesehen, und er setzte sich in Richtung auf das Feuer in Bewegung. Sich heranzuschleichen, hatte für einen Uleb keinen Sinn – sein Trittschall wurde vom Boden hervorragend geleitet. Man konnte ihn schon aus großer Entfernung kommen hören. Daher ließ sich Danta‐Pyrt einmal mehr auf alle sechse nieder und beschleunigte. Mit höchster Geschwindigkeit jagte er auf das flackernde Feuer zu. Im Näherkommen wurden Gestalten sichtbar – menschliche Gestalten. Danta‐Pyrt wußte sofort, daß er es mit Feinden zu tun hatte. Die Gefühlsaufwallung, die von ihm Besitz ergriff, war da völlig eindeutig – grenzenloser Haß, gepaart mit der kreatürlichen Furcht, die er noch vom Begriff Zeit her kannte. In dieser Lage gab es für Danta‐Pyrt kein Überlegen, kein Zögern. Er öffnete das Maul, stieß ein grausiges Brüllen aus und warf sich auf die Schar der Menschen. Mochten sie nur auseinanderspritzen, er erwischte dennoch viele. In wildem, haßerfüllten Blutrausch stieß der Uleb wie das Verhängnis selbst auf die Lemurer nieder – plötzlich entsann er sich auch des Namens dieser Lebewesen. Er brauchte nicht lange, um die überraschte Schar auseinanderzutreiben. Den schwachen Versuch, sich ihm zu widersetzen, vereitelte er rasch. Erst als er sein grausiges Werk zur Genüge verrichtet hatte, ließ er von der Verfolgung des wild verstreuten Restes der Schar ab. Neben den Resten des ehemaligen Lagerfeuers blieb Danta‐Pyrt
stehen. Quälend stiegen Erinnerungen in ihm auf. Es waren keine präzisen Informationen, die ihm zu schaffen machten. Damit hätte er etwas anfangen können, sie hätte er mit seinem logischen Denkvermögen erfassen und verarbeiten können. Was ihn peinigte, waren unklare Assoziationen, vage Erinnerungsfetzen, die sich in keinen sinnvollen Zusammenhang einordnen ließen. Er versuchte dennoch zu ordnen, was in ihm vorging, logisch zu erarbeiten, was sich nur immer mit Verstandeskraft und klarem Denkvermögen erfassen ließ. Er haßte diese Wesen, die sich Lemurer nannten, weil sie – wie ihm überraschend einfiel – von Lemuria stammten. Er haßte die Lemurer, folglich hatte er auch einen Grund dazu. Die Lemurer mußten folglich entweder in der Gegenwart oder in der Vergangenheit für ihn von größter Gefährlichkeit gewesen sein. Danta‐Pyrt setzte sich langsam wieder in Bewegung. Er trabte, seinem Erinnerungsvermögen folgend, dem Ort entgegen, an dem er seine Gefährten verlassen hatte. Hatte der Haß auf die Lemurer etwas mit der Angst zu tun, die ihn überfiel, wenn er an den Begriff Zeit dachte? Wenn dem so war – hatte er dann nicht auch Grund, sich vor den Lemurern zu fürchten? Dieser Gedankengang quälte und peinigte den Uleb, bis er an den Ort zurückkehrte, von dem er ausgegangen war. Von den Gefährten fehlte nur Olyn‐Tzair. »Was hast du gefunden, Danta‐Pyrt?« fragte Falgär‐Kym. »Du siehst aus, als hättest du einen Kampf hinter dir.« Der Uleb berichtete knapp, was sich zugetragen hatte. Danta‐Pyrt sah seine Gefährten scharf an während seines Berichts, und es entging ihm nicht, daß die Worte Lemurer und Zeit auf die Gefährten die gleiche erschreckende Wirkung ausübten wie auf ihn. »Sie sind unsere Todfeinde«, stieß Falgär‐Kym hervor. »Wir müssen sie vernichten, ausnahmslos.«
»Richtig!« rief Zeffin‐Quorm. Eine handfeste Erklärung für diese seltsame Übereinstimmung fanden die vier nicht – sie stellten nur fest, daß ihnen der Haß auf die Lemurer gemeinsam war – und die Angst vor der Rache dieser Wesen. Nachdem sich dieser Gedanke einmal festgesetzt hatte, wurde er immer stärker und quälender. Denn die Uleb wußten – auf den ersten Blick konnten ihnen die Lemurer niemals gefährlich werden. Dies auch nur zu glauben, war absurd – ein Uleb konnte es allein mit Hunderten dieser zwergenhaften Wesen aufnehmen. Danta‐Pyrt wußte zudem, daß die Lemurer keinerlei technische Ausrüstung besaßen – was auch immer darunter zu verstehen war, denn auch die Uleb hatten keinerlei technische Ausrüstung. Sie erinnerten sich indes dumpf, daß es so etwas gab. Keinen Zweifel konnte es geben, daß in jedem von ihnen die Furcht vor der Rache der Lemurer tief verwurzelt war. Wenn das stimmte, und keiner der vier hatte Grund, daran zu zweifeln, mußte es für diese Furcht handfeste Gründe geben. Irgendwo hinter den zweiarmigen Lemurern mit ihren zerbrechlichen Körpern und ihren minderwertigen Denkorganen mußte etwas anderes stehen, der wirkliche, der wahre Grund für die tiefverwurzelte Furcht der Uleb. Und diese Furcht wuchs in dem Maß, in dem sich dieser wahre Grund nicht aufspüren ließ. Sie zermarterten sich die Hirne, aber sie fanden nichts – sie waren erfüllt von der Furcht vor einem Phänomen, von dem sie nicht einmal die ungefähre Art anzugeben vermochten. Als Olyn‐Tzair an den Sammelpunkt zurückkehrte, fand er eine Gruppe von Verzweifelten vor. Die vier brauchten nicht viel Zeit, und Olyn‐Tzair gehörte auch in dieser Beziehung wieder zu ihnen. Von Furcht gepeinigt, saßen die Uleb auf dem Boden des Rätselkontinents. »Ich habe etwas gefunden«, sagte schließlich Olyn‐Tzair. »Eine
strahlende Kuppel, absolut undurchdringlich.« Schauder durchliefen die Uleb. »Es gibt allerdings einen Zugang, und ich bin in diese Kuppel hineingekommen.« »Was hast du gesehen?« fragte Danta‐Pyrt. »Seltsame Gebilde«, antwortete Olyn‐Tzair. »Große Häuser, groß genug für uns – seltsam, es sind genau fünf Stück.« »Eines für jeden von uns«, sagte Falgär‐Kym. Seine Stimme verriet Betroffenheit. »Ob das ein Zufall ist?« »Zufall hin oder her«, sagte Olyn‐Tzair. »Ich weiß nur eines: diese Kuppel ist unangreifbar, wenn wir uns dort verschanzen. Dort sind wir vor den Lemurern sicher. Ich schlage vor, daß wir uns in dieser Strahlenkuppel ansiedeln. Von dort aus können wir aufbrechen, das Land für uns zu erobern – und dort können wir in Ruhe feststellen, was es auf sich hat mit dem Geheimnis um diese Welt.« »Geh voran«, sagte Danta‐Pyrt. »Wir werden von dieser Festung Besitz ergreifen.« Sie machten sich sofort auf den Weg. Olyn‐Tzair führte sie ans Ziel. Wieder wurden sie von Erinnerungen gepeinigt, als sie die leuchtende Kuppel zum ersten Male sahen. Vieles kam ihnen bekannt vor, als sie näher kamen. Seltsam vertraut wirkte der geradlinig durch die Energiehülle führende Stollen, und beim ersten Anblick der Gebäude wußten alle fünf sofort, daß es sich um ehemalige Raumschiffe handeln mußte. Sie machten sich an die Untersuchung, aber sie konnten nichts finden, das ihnen weitergeholfen hätte. Zum einen fehlte es im Innern der sternförmigen Schiffe an Maschinen, zum anderen hätten die Uleb mit ihrem getrübten Gedächtnis mit einem eventuell vorhandenen Maschinenpark wenig anfangen können. Dennoch reichte ihr Erinnerungsvermögen aus, die Nützlichkeit dieser Anlage einzusehen. Sie beschlossen, sich im Innern der Energiekuppel häuslich einzurichten. Dort drinnen waren sie vor Racheaktionen durch die Lemurer sicher – der einzige Zugang ließ
sich leicht und zuverlässig absichern. »Entweder wird einer von uns am Tor stets Wache halten«, sagte Olyn‐Tzair, »oder wir werden Eingeborene in unsere Dienste stellen, die diese Aufgabe übernehmen können.« Eingeborene gab es – die Uleb hatten sie gesehen, als sie in panischer Furcht aus dem Eingang der Anlage gestürzt waren. Mit diesen Wesen fertig zu werden, trauten sich die Riesen aus Magellan ohne weiteres zu. »Also?« fragte Olyn‐Tzair. »Wir bleiben«, lautete die Antwort der vier. Sie richteten sich in den verlassenen Schiffen häuslich ein. Sie bauten sie nach ihren besonderen Bedürfnissen um, soweit sich das machen ließ. Dabei verstrich Zeit, und während Zeit verstrich, veränderten sich die Uleb ganz allmählich. Ihre Erinnerungen wurden nicht besser; im Gegenteil, sie wurden zusehends schlechter. Hatte Danta‐Pyrt ganz am Anfang noch davon geträumt, eines der Sternenschiffe flugfähig machen zu können, so war er nach kurzer Zeit damit zufrieden, eine sichere Behausung gefunden zu haben, die er sich eher notdürftig als Wohnung einrichtete. Abwechselnd taten die fünf am Eingang zum SCHLOSS Dienst, als sich aber nach etlichen Monaten kein einziger Feind zeigte, wurde den Uleb dieser Dienst nach und nach zu langweilig. Vermöge ihrer Kraft, Schnelligkeit und Stärke, gepaart mit rücksichtsloser Grausamkeit, unterwarfen sie sich rasch die kleinen Stämme und Völker der Dorkher ringsum. Nichts schien es zu geben, was sich ihnen in den Weg hätte stellen können. Die Sklaven der Uleb, die sich schon sehr bald als Herren von Dorkh fühlten, übernahmen es, den Bedarf ihrer Unterdrücker zu decken – sie lieferten die Nahrungsmittel, sie stellten die Wachen an der Pforte. Von den Lemurern war nichts zu sehen und zu hören. Wahrscheinlich hatte Danta‐Pyrts Überfall die letzten Reste
vernichtet. So dachten die Herren des SCHLOSSES von Dorkh. 5. Viel Zeit verging. Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Das Gedächtnis der fünf SCHLOSSHERREN wurde nicht besser. Sie trafen sich ab und zu und versuchten in langen, beinahe qualvollen Sitzungen herauszufinden, was sie vergessen hatten. Es gelang ihnen nicht, das Dunkel wollte sich nicht lüften. Es ließ sich nicht vermeiden, daß einige Nachrichten aus dem Innern des SCHLOSSES heraussickerten und sich im Land verbreiteten. Eine Information hier, eine Nachricht dort, ein Märchen, eine Geschichte, eine Sage aus uralter Zeit, von einem Feuer zum nächsten getragen, verändert und entstellt, im Kern aber richtig und gleichbleibend. Es gab noch Lemurer auf Dorkh. Der erste Kontakt mit den Bestien aus Magellan war ihnen im Gedächtnis verhaftet für alle Zeit. Wenn sie sich auch nicht erinnern konnten, warum sie nach Dorkh gekommen waren, wenn sie auch nicht wußten, daß sie Lemurer waren und damit Feinde der Uleb, so wußten sie nach diesem schrecklichen Gemetzel, was sie von den Herren des SCHLOSSES zu halten hatten. Die Nachrichten aus dem Innern der streng bewachten Festung erreichten auch die Lemurer, die sich stets versteckt hielten. So erfuhren die Nachfahren der ersten Menschheit vieles. Sie lernten, daß sie Lemurer waren; sie erfuhren in Bruchstücken, daß die Uleb sie ganz speziell haßten – und fürchteten. Vielerlei sickerte durch, verband sich zu einem seltsamen Gebräu aus Wahrheit und Dichtung. Währenddessen wuchs das Volk langsam an. Es ließ sich nicht
vermeiden, daß ab und zu ein Lemurer von anderen gesichtet wurde – und es ließ sich auch nicht vermeiden, daß einige dieser Begegnungen weitererzählt wurden. Die Sage von den Lemurern war vom SCHLOSS ausgegangen, nun kehrte sie langsam ins SCHLOSS zurück. Augenblicklich machten sich die fünf daran, dieser Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Sie machten Jagd auf jeden Lemurer, der irgendwo gesehen wurde, und wer das Pech hatte, diesen Feinden in die Hand zu fallen, der war verloren. Dabei machten die Uleb einen verhängnisvollen Fehler. Die ersten Lemurer, die sie fanden, schlugen sie kurzerhand tot, und sie schonten dabei nichts und niemanden. Als sie viel später versuchten, einen Lemurer lebend zu fangen, um ihn nach seinen Artgenossen ausfragen und verhören zu können, hatte sich der wechselseitige Haß bereits so tief eingefressen, daß es keinem Uleb gelang, eine brauchbare Information aus einem gefangenen Lemurer herauszuholen. Wer den Uleb oder ihren Häschern in die Hände fiel, tötete sich lieber selbst, als daß er sein Volk der Wut der Uleb überantwortet hätte. In aller Verborgenheit wuchs das Volk der Lemurer wieder an. Es gab Rückschläge, aber es gab auch Fortschritte. Alljährlich trafen sich die Lemurer zu einem Rat. Es ging stets nur um das eine Thema – sollen wir in diesem Jahr angreifen oder nicht? Alles andere erschien den Lemurern – zu Recht – unwichtig. Denn: schlug dieser Angriff fehl, war dies das Ende der Dorkher lemurischer Abstammung. Und eines Jahres war es soweit … * »Sie haben die äußeren Wachen einfach überrannt«, meldete der Posten. »Und danach sind die inneren Wachen gefallen. Wir konnten sie nicht aufhalten, Herr …«
Danta‐Pyrt brüllte auf und schlug mit voller Kraft zu. Der Bote kam nicht dazu, seine Unglücksbotschaft fortzusetzen. Danta‐Pyrt schob den Leichnam des Unglücklichen mit dem Fuß weg und stellte Verbindung zu seinen Freunden her. »Was gibt es?« fragte Falgär‐Kym. Er trug, wie auch die anderen Uleb, eine Nachahmung jener typischen Kampfkombination, die Uleb üblicherweise zu tragen pflegten – es war eine schlechte Nachahmung. »Wir werden überfallen«, sagte Danta‐Pyrt. »Irgend ein Gesindel will uns angreifen.« Falgär‐Kym lachte laut auf. »Lach nicht«, herrschte Danta‐Pyrt ihn an. »Angeblich sind sowohl die inneren als auch die äußeren Wachen bereits niedergekämpft.« »Willst du die Angelegenheit allein erledigen?« fragte Olyn‐Tzair. »Oder brauchst du unsere Hilfe?« »Ich werde erst einmal allein vorgehen«, sagte Danta‐Pyrt. »Später werde ich mich gegebenenfalls mit euch in Verbindung setzen.« Er trennte die Leitung und verließ sein Schiff. Draußen angekommen, ging er auf alle sechse nieder und lief los. Er war längst nicht mehr so schnell wie früher, es fehlte ihm ein wenig an Übung. Dennoch brauchte er nur kurze Zeit, um die Hauptkampflinie zu erreichen. Sie zeichnete sich schon von weitem ab – eine Flammenwand stieg dort zum Himmel empor, darüber wogten dichte schwarze Rauchwolken, die jede Sicht nahmen. Danta‐Pyrt veränderte seine Körperstruktur. Dann setzte er seinen Sturmlauf fort. Mochten sie nur versuchen, die Herren des SCHLOSSES anzugreifen, die Verwegenen – sie konnten nur eine Niederlage erleiden. Danta‐Pyrt durchquerte die Feuerzone, die unangenehm breit war, dann verharrte er. Durch die Schwaden hindurch konnte er die ersten Angreifer
sehen. Er stieß ein Gebrüll aus, das Angst und Haß in gleichem Maß erkennen ließ. Lemurer. Sie hatten den Tunnel erobert und die dort stationierten Wachen niedergemacht oder vertrieben. Nun, es konnte nicht lange dauern, dann war dieser verzweifelte Versuch gescheitert. Danta‐Pyrt bereitete sich darauf vor, mit einem gewaltigen Sturmlauf den gesamten Tunnel leerzufegen. Er preschte los. Namenloser Schrecken griff nach ihm, als er nach wenigen Metern schon gegen massiven Fels prallte – gegen so massiven Fels, daß auch ein Uleb mit völlig umstrukturiertem Körper ihn nicht einfach durchbrechen konnte. In diesem schrecklichen Augenblick begriff Danta‐Pyrt, daß die Lemurer zu einem gut geplanten Angriff ausgeholt hatten, zu einem Kampf, der sehr wohl mit der Vernichtung der Uleb enden konnte. Altern konnten die Uleb nicht, wohl aber sterben, und davor hatten auch sie Angst. Danta‐Pyrt wandte sich um und rannte mit äußerster Kraft zurück in die Sicherheit seines Schiffes. »Wir sind in höchster Gefahr«, schrie er, sobald die Verbindung hergestellt worden war. »Die Lemurer greifen uns an.« Olyn‐Tzair stieß ein triumphierendes Brüllen aus. »Sie kommen gerade recht«, sagte er frohlockend. »Das sagst du«, gab Danta‐Pyrt zurück. »Laß mich sagen, was sie getan haben und was sie noch tun werden. Sie haben den Tunnel erobert.« »Wenn schon«, sagte Zeffin‐Qurom leichthin. »Dann haben sie den gesamten Tunnel mit Felsblöcken vollgestopft, wohlgemerkt, den ganzen Tunnel. Es gibt nur einen schmalen Durchlaß, durch den sie selbst herein und heraus können.«
»Wir werden den Tunnel räumen«, sagte Ghorgur‐Pra. »Das wird schwer werden«, gab Olyn‐Tzair zu bedenken. »Aber es wird uns gelingen, schließlich haben wir Zeit.« »Die haben wir nicht«, rief Danta‐Pyrt. »Denn sie pumpen durch die Lücke unablässig hochbrennbares Material in das Innere des SCHLOSSES.« Jetzt war jedem der Uleb klar, daß es ans Leben ging. Uleb kamen aufgrund ihres speziellen Metabolismus praktisch ohne jede Atemluft aus. Aus jedem vorhandenen Material vermochten sie den lebensnotwendigen Sauerstoff herauszuspalten und zur Versorgung ihrer Körper zu verwenden. Ein Uleb konnte daher nicht ersticken. Wohl aber konnte bei einem andauernden Flächenbrand im Innern des SCHLOSSES das Feuer auf Gebiete übergreifen, die für den Erhalt des SCHLOSSES und damit der Uleb‐Herrschaft lebenswichtig waren. Wenn die Lemurer genügend siedendes Pech in das SCHLOSS hineinpumpten, würde der Brand irgendwann die Schiffe erfassen. Die Uleb würden dann sicherlich noch leben, aber wenn die Schiffe vernichtet wurden, weil das Feuer lebenswichtige Leitungen zerfraß, wenn die Reaktoren deswegen in die Luft flogen, wenn der Energielieferant für das Schirmfeld, den die Uleb noch gar nicht gefunden hatten, angeschmort wurde, ausfiel oder gar explodierte … dann ging es auch für einen Uleb ums nackte Leben. Dieser raffinierte Vernichtungsplan stellte der Intelligenz der Lemurer ein denkbar gutes Zeugnis aus, und bei den Uleb tat der Schrecken über diesen Plan seine Wirkung. »Wir müssen den Weg freiräumen, koste es, was es wolle«, sagte Danta‐Pyrt. »Folgt mir!« Die fünf verließen ihre Schiffe und setzten sich in Bewegung. Wie sehr sie sich beeilen mußten, war auf den ersten Blick ersichtlich – immer tiefer hinein in das SCHLOSS fraß sich der lodernde Brand. Sinnlos, ihn stoppen zu wollen – er fraß sich durch Funkenflug rasch weiter. Es galt, die Quelle des Feuers abzudrehen.
Die Uleb stürmten zum Tunnel, der das SCHLOSS mit der Außenwelt verband. Eine Hundertschaft – vermutlich, denn man konnte nicht genug sehen – warf sich den Uleb entgegen und wurde rasch niedergemacht. Diese Lemurer opferten sich, nur um für ihre Kameraden Zeit herauszuschinden. Danta‐Pyrt wußte, daß es ums Ganze ging. Wer diese Schlacht gewann, war danach Herr von Dorkh, der Verlierer hatte ausgespielt. Er erreichte als erster den Tunnel, streckte die Arme aus und griff nach den Steinen. Es war schwer, die Blöcke zu fassen, denn sie saßen paßgenau aufeinander, und selbst die titanischen Körperkräfte eines Uleb brauchten einen Ansatzpunkt, um wirksam werden zu können. Danta‐Pyrts Hände fanden keinen Spalt, in den er seine Finger hätte schieben können. Er tastete im Dunkeln nach dem Spalt, durch den die Lemurer den Tunnel passieren konnten. Im gleichen Augenblick spürte er, wie sich etwas Spitzes in seinen Leib bohrte, außerdem legte sich ein schleimiger, feuchter Gegenstand um seinen ausgestreckten Arm. Es war leicht für Danta‐Pyrt, den Schmerz über die Speerwunde zu unterdrücken und seine Körperstruktur so umzuwandeln, daß jeder weitere Versuch dieser Art zum Scheitern verurteilt war. Was ihm nicht gelang, das war der Versuch, die schleimige Substanz loszuwerden – und die Angst davor, durch ein Kontaktgift umgebracht zu werden. Auch davor war er weitgehend durch die umgewandelte Körperstruktur gefeit, aber eben nur weitgehend – irgendwann mußte er wieder seinen Normalzustand herstellen, und wenn ihm das Gift dann schon im Körper saß …? Danta‐Pyrt bekam einen der Felsen zu packen, er riß ihn aus seinem Lager. Der nächste Brocken … Danta‐Pyrt stieß einen Schrei der Wut aus.
Genau da, wo er vor ein paar Sekunden einen Felsblock entfernt hatte, stak jetzt ein neuer Block. Und während er dort stand, lief aus kleinen Löchern – nicht groß genug für Danta‐Pyrts Finger – das siedende, brennende Pech. Danta‐Pyrt packte erneut zu. Sie mußten auf der anderen Seite stehen, mit einem riesigen Maschinenpark. Es war kaum zu glauben. Offenbar hatten sie den Querschnitt des Stollens berechnet, ihn in Blöcke aufgeteilt und dann jeden einzelnen Block in Dutzenden, vielleicht gar Hunderten von Exemplaren hergestellt. Für jeden Block, den Danta‐Pyrt herausreißen konnte, wurde ein Ersatzstück auf der anderen Seite sofort nachgeschoben. Danta‐Pyrt drosch mit allen vier Fäusten auf den Stein ein. Brocken sprangen heraus, pfiffen durch die glühheiße Luft. Danta‐ Pyrt konnte nicht sehen, welchen Erfolg er damit erzielte, denn die Luft um ihn herum war erfüllt von schwarzem Rauch. Er mußte nach Gefühl arbeiten, und das war schwer. Die Uleb lösten sich ab. Im Innern der Festung gab es keine Lemurer mehr, sie waren längst von den Uleb erschlagen. Aber es gab noch genügend Todesmutige, die sich in den engen Stollen wagten, der von außen in den steinernen Pfropfen führte, mit dem die Lemurer den Tunnel verschlossen hatten. Dort konnten sie mit Speeren stechen und ihre Giftbündel werfen – meist erreichten sie nichts. Sie erreichten im besten Fall, daß einer der Uleb ein paar Augenblicke Zeit verlor. Diese Augenblicke konnten wichtig werden. Das Feuer umloderte bereits die Schiffe, in denen die Uleb hausten. Olyn‐Tzair war kurz in das SCHLOSS hineingejagt, um sich umzusehen – im Innern stand das gesamte Land in Flammen. Die Zeit arbeitete gegen die Uleb. Sie lösten sich an der Frontstelle ab, denn das unablässige Zuschlagen konnte auch die Kräfte eines Uleb erlahmen lassen. Sie gewannen nur wenig Raum, aber sie kamen vorwärts.
Es waren nur Zentimeter, aber die zwanzig Meter Distanz zwischen Eingang und Ausgang setzten sich schließlich aus Zentimetern zusammen. Unablässig kämpften sie sich vorwärts, verzweifelt, denn sie wußten den Tod in ihrem Nacken. Was die Lemurer währenddessen draußen an neuen Todesfallen aufgebaut hatten, wußten die Uleb nicht – sie hatten auch nicht viel Angst davor. Wirklich gefährlich konnte ihnen nur der Zusammenbruch des Energiefelds werden. Immer wieder nahm Danta‐Pyrt Anlauf und rammte den massigen Körper gegen den Stopfen aus Felsgestein. Vergebens. Dieser Masse war er nicht gewachsen. Die Lemurer hatten jeden einzelnen Block so bearbeitet, daß er sich zwar vergleichsweise leicht in den Tunnel hineinschieben ließ, sich aber stark verkeilte, wenn man ihn in der Gegenrichtung zu bewegen versuchte. Trotz dieser Raffinesse kamen die Uleb vorwärts. Sie gewannen Schritt für Schritt an Raum. Sie arbeiteten jetzt sehr konzentriert und effektiv. Zwei der fünf Uleb standen an der steinernen Mauer und zertrümmerten sie, die anderen schafften das Bruchgestein zur Seite und sorgten dafür, daß es den Lemurern nicht gelang, den einmal verlorenen Boden wieder zurückzugewinnen. Als die Hälfte der Strecke zurückgelegt war, gab es im Innern der Festung kaum mehr Atemluft – jede normale Besatzung des SCHLOSSES wäre längst erstickt gewesen. Danta‐Pyrt versuchte, sich die Meute auf der anderen Seite vorzustellen, wie sie sich mühten und plagten. Nur mit einer gewaltigen Zahl von Männern konnten sie die ungeheure Kraft der Uleb kompensieren. Wahrscheinlich gab es draußen ein regelrechtes Heerlager – wehe den Lemurern, wenn der erste Uleb die Sperre durchbrach. Es gab weit und breit kein Versteck für einen Lemurer. Dann kam der Punkt, an dem die Lemurer den Versuch aufgaben, in die Festung einzudringen. Jetzt war der gesamte Querschnitt des
Tunnels verschlossen. Das erleichterte den Lemurern sogar das Arbeiten, wie Danta‐Pyrt entsetzt feststellen mußte – denn im Innern des SCHLOSSES entwickelte der infernalische Brand einen ebenso gigantischen Luftbedarf. Der Stöpsel im Flaschenhals des Tunnels wurde gleichsam hineingesogen. Danta‐Pyrt stieß einen triumphierenden Schrei aus. »Aufhören!« rief er. »Arbeit einstellen.« »Bist du von Sinnen!« schrie Olyn‐Tzair zurück. »Keineswegs«, schrie Danta‐Pyrt. »Helft mir lieber, das Loch noch mehr zu verstopfen – und dann hören wir auf zu kämpfen.« * Die Lemurer waren ein wenig enttäuscht, daß die Energiekuppel ungeachtet ihrer Anstrengungen nicht zusammenbrechen wollte, aber diese Enttäuschung wurde mehr als wettgemacht durch den Triumph, die Herren des SCHLOSSES besiegt zu haben. Bangen Herzens hatten sie das Rumoren und Toben auf der Gegenseite der Absperrung verfolgt, den verzweifelten Kampf der Eingeschlossenen, deren gigantische Körperstärke sie oft genug am eigenen Leib erfahren hatten. Stunden hatte dieser Kampf gedauert, und er hatte schier kein Ende nehmen wollen. Jetzt war er offenbar entschieden. Auf der anderen Seite rührte sich nichts mehr. Die Uleb mußten tot sein, verbrannt oder erstickt. Wahrscheinlich letzteres, denn gegen Feuer waren sie weitgehend unempfindlich, das hatten die Lemurer mehr als einmal feststellen müssen. In weitem Bogen umlagerte das Heer der Lemurer den Eingang zum SCHLOSS. Es war das größte Aufgebot, daß die Lemurer hatten aufstellen können – die Zusammenfassung aller Kräfte.
Niemals hätten sie eine größere Leistung als diese vollbringen können. Nun war der Kampf entschieden. Dorkh gehörte den Lemurern. Vielleicht war es sogar gut, daß der Schirm nicht zusammengebrochen war – dann konnten die Lemurer Dorkh übernehmen. Man mußte nur den steinernen Pfropfen entfernen, die Leichen der Uleb fortschaffen und die Verwüstungen beseitigen, die der Brand hinterlassen haben mußte. Er mußte, wie die Uleb, längst mangels Sauerstoff erloschen sein. Das ganze Volk der Lemurer sah zu, wie die Vorauskommandos sich an die Arbeit machten und Stein um Stein aus dem Verschluß herausbrachen. Blauschwarze Wolken quollen den Arbeitern entgegen, als sie den letzten Steinwall entfernten. Eine Hundertschaft erlesener Speerschleuderer drang als Vorauskommando in das SCHLOSS ein. Das ganze Volk der Lemurer – von wenigen Ausnahmen abgesehen – sah zu, als die Hundertschaft in dem Tunnel verschwand. Das ganze Volk wartete minutenlang, das ganze Volk der Lemurer sah diese Hundertschaft in panischer Furcht aus der Öffnung hervorstürzen, und dann sah das gesamte Volk der Lemurer den ersten der fünf Uleb in der Öffnung auftauchen … … danach gab es kein Volk der Lemurer mehr. 6. Meine erste Reaktion war spontan, instinktiv. Weg von hier! Ich hatte Haluter in voller Wut erlebt, und dieser Bursche war noch eine Nummer größer als ein Haluter. Wenn solche Kolosse sich in Bewegung setzten und zu kämpfen begannen, halfen nur noch
transportable Geschütze. Melbar Kasom mit einer Zweihandwaffe hätte einen solchen Burschen vielleicht zum Stehen bringen können – unser verlorener Haufen sicherlich nicht. »Vorsicht!« rief ich und warf mich zur Seite. Die anderen reagierten nicht. Razamon und Grizzard starrten aus schreckgeweiteten Augen auf den vier Meter großen Koloß, der sich langsam von seinem massigen Sitz erhob. Ich stoppte meine Bewegung. Etwas stimmte nicht. Der Uleb – ich vermutete, daß er Danta‐Pyrt hieß – machte keinerlei Anstalten, sich auf uns zu stürzen. Wir hätten dem wenig, praktisch nichts entgegenzusetzen gehabt. Und bis wir eine Abzweigung des Korridors erreicht gehabt hätten, wären wir unter einer Tonne kristallisierten Ulebkörpers zermalmt gewesen. Er hob die Arme, holte zum Schlag aus … Was denn? Sah ich richtig? Ich kannte mich in der Charakterologie von Uleb nicht aus, aber die Bewegung, die Danta‐Pyrt vollführte, der Laut, der aus dem gräßlich anzusehenden Maul brach … das war nie und nimmer die Reaktion eines wuterfüllten Uleb, einer biologischen Mordmaschine, wie es keine zweite in meiner Erinnerung gab. Das sah aus … Er hat Angst, gab das Extrahirn knapp durch. Was denn? Ein Uleb, der sich vor uns fürchtete? Das durfte es nicht geben, das sprach aller Erfahrung, über die ich verfügte, Hohn. Und doch sah ich richtig. Danta‐Pyrt stand auf, streckte die furchterregenden Arme abwehrend aus … und wich vor uns zurück. Ich konnte es kaum fassen. »Ihr habt die verbotene Gestalt«, sagte Konterfert. Dem Techno schienen die Augen aus dem Kopf zu quellen – so hatte er sich seinen Herrn nicht vorgestellt. Nicht so groß und gewaltig, auch
nicht so furchtsam und verzagt. »Lemurer!« schrie Danta‐Pyrt. »Sie wollen sich rächen!« Offenbar hielt er mich für einen Lemurer. Der Gedanke war nicht ganz so absurd, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte – mein Volk stammte schließlich von der ersten Menschheit ab. Dennoch … was war geschehen, daß … Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Was auf mich einstürmte, ließ sich in praktisch kein Konzept einfügen. Wir waren auf Dorkh, einem Dimensionsfahrstuhl des Dunklen Oheims. Dorkh hing irgendwo in der Schwarzen Galaxis fest, und diese Schwarze Galaxis wiederum wurde durch Zeiten und Räume von jenem Raum und jener Zeit getrennt, in der ich zu leben gewohnt war. Und ausgerechnet hier trafen wir aufeinander – ein Uleb, der sich vor Lemurern fürchtete, und ein uralter Arkonide. Absurd, einfach absurd – aber deswegen nicht weniger wirklich. So seltsam dieses Zusammentreffen auch sein mochte, es fand statt, und nach der Wirklichkeit dieses Treffens hatten wir uns zu richten. »Was ist das für einer?« fragte Razamon. Der Anblick des Kolosses hatte den Berserker sichtlich beeindruckt. Grizzard war halb ohnmächtig vor Angst und Schrecken. »Ein Uleb«, sagte ich. Was war das für eine Antwort? Wie wenig besagte sie von dem, was sich dahinter an Schrecken und Schrecklichkeit verbarg. Danta‐Pyrt trug wie alle seine Artgenossen einen erdbraunen Kampfanzug. Allerdings war dieses Modell hier offenbar von einem dorkhischen Schneider verfertigt worden und sah auch danach aus. Die Gewandung glich mehr einem ausgebeulten Kartoffelsack als einem Kampfanzug. Ich hatte auch den unbestimmten Eindruck, daß Danta‐Pyrts Gemütsverfassung dem Zustand seiner Kleidung entsprach. »Roboter!« gellte Danta‐Pyrts Stimme. Das Organ des Uleb war tadellos in Ordnung; er brachte es auf Lautstärken, die einem die Ohren abfallen lassen konnten. Ein paar
Sekunden lang war ich halb taub von dem Getöse des Uleb. »Roboter her«, schrie der Uleb. »Eine Invasion von Lemuria!« Der Uleb war hoffnungslos übergeschnappt, stellte ich fest. Sollte ich versuchen, ihn gefangenzusetzen? Mit deinen kümmerlichen Mitteln? fragte der Logiksektor voller Hohn. »Hat er Angst vor uns?« fragte Razamon entgeistert. »Es sieht so aus«, sagte ich. Ich machte ein paar Schritte vorwärts, und tatsächlich, Danta‐Pyrt wich ein wenig zurück. Er wurde von Angst fast geschüttelt. Was war mit dem Uleb geschehen, daß er sich so vor uns fürchtete? Nur weil er uns für Lemurer hielt, mußte er nicht in eine derartige Panik verfallen. Es gab hier ein Geheimnis zu lüften. »Wir sind Abgesandte des Dunklen Oheims«, versuchte ich zu erklären. Ein irrer Uleb half uns nicht, wenn wir etwas in Erfahrung bringen wollten. Hinter uns ertönte Maschinenlärm. Die Roboter marschierten auf, unsagbar klobige Konstruktionen, aber genügend schwer bewaffnet, um jeden Widerstandsversuch zum Selbstmord werden zu lassen. »Festnehmen«, brüllte Danta‐Pyrt. »Nehmt die Lemurer mit und sperrt sie ein.« »Wir sind keine Lemurer«, sagte ich. »Wir sind …« Völlig übergeschnappt war Danta‐Pyrt nicht. Die Anwesenheit der Roboter schien ihm ein wenig Zuversicht wiedergegeben zu haben. Vielleicht hatte er auch endlich festgestellt, daß wir gegen ihn praktisch nichts auszurichten vermochten. Er nahm eine drohende Haltung ein, öffnete das Maul, mit dem er sogar Beton zermahlen konnte, und brüllte wütend. Das Geräusch ging durch Mark und Bein. Konterfert schwankte. Danta‐Pyrt machte eine Bewegung, einen Schritt auf uns zu. Ich wich zurück.
Wenn sich der Uleb in Bewegung setzte und sich auf uns stürzte, waren wir verloren – er konnte seinen Körper in ein kristallines Material umwandeln, das es an Festigkeit und Härte mit bestem Terkonitstahl aufnehmen konnte. Ich hatte keine Lust, von dem Riesen niedergetrampelt zu werden. Zwischen den Robotern waren wir vorläufig noch am sichersten. Ich wich langsam zurück, während das Scheppern und Stampfen der Maschinen mir immer näher kam. Dann spürte ich harte Metallfäuste an meinem Körper. Wir waren gefangen. »Sperrt sie ein!« schrie Danta‐Pyrt. »Sperrt sie ganz sicher ein.« Wir wurden herumgedreht. »Herr!« versuchte Konterfert aufzubegehren, aber der erbarmungslose Griff seines Roboters ließ ihn verstummen. »Eine Invasion«, hörte ich Danta‐Pyrt murmeln, in entsprechender Lautstärke. »Die Lemurer kommen. Ich muß die anderen warnen. Sie kommen zurück, sie wollen sich rächen.« Was er dann sagte, konnte ich nicht mehr hören. Das stählerne Schott schloß sich hinter uns und schnitt die Stimme des Uleb ab. »Was soll das heißen?« empörte sich Konterfert. »Schweig!« herrschte ich ihn an. Jetzt wußte ich endlich, wer sich hinter dem Begriff SCHLOSSHERREN verbarg – aber sehr viel weiter brachte mich diese Einsicht nicht. Ich vermutete, daß irgendwann in grauer Vergangenheit der Dimensionsfahrstuhl Dorkh in die Zeit geraten war, in der sich Lemurer und Haluter sowie die hinter ihnen stehenden Uleb einen fürchterlichen hundertjährigen Krieg geliefert hatten. Aus dieser Zeit mußten die Uleb stammen. Diese Zeit lag weit zurück, wie weit, das vermochte ich nicht abzuschätzen, auch nicht, dank welchen Tricks – oder welcher Hilfe von innen – die Uleb durch den Wölbmantel gedrungen waren. Es hatte in jedem Fall etwas mit Lemuria zu tun. Nur – es gab auf Dorkh keine Lemurer. Es sei denn …
Richtig, konstatierte das Extrahirn. Die humanoide Grundform ist auf Dorkh sehr oft vertreten, wenn auch stark gewandelt. Waren die vielen Sippen, Stämme und Völker, deren äußere Gestalt entfernt an Menschen erinnert hatte, die Nachkommen von Lemurern, die ebenfalls an Bord des Dimensionsfahrstuhl gespült worden waren? Wenn dies stimmte, hatten sie sich in den vergangenen Jahrzehntausenden sehr verändert – etwas mehr, als man mit normaler Mutation hätte erklären können. »Eine hübsche Pleite«, sagte Razamon. Seine Stimme verriet verhaltene Wut. »Was wird jetzt aus uns?« »Abwarten«, empfahl ich. Zunächst wollte ich das Problem durchdenken – vielleicht ergab sich irgendwo der Ansatz einer Lösung. Vor einer stählernen Tür blieben wir stehen. Die Roboter öffneten und stießen uns über die Schwelle. Hinter uns fiel die Tür wieder ins Schloß. Wir waren gefangen. Der Raum war völlig kahl und leer. Es gab weder Möbel noch irgendwelche Einrichtungsgegenstände. Alles, was wir zu sehen bekamen, waren vier nackte, kahle Wände. »Wenn ich will, kommen wir hier heraus«, stellte Razamon nach gründlicher Überprüfung fest. »Das Schloß ist nicht stabil genug, um mich zu halten.« »Sehr gut«, sagte ich. »Warten wir, bis ein wenig Ruhe eingekehrt ist.« Grizzard hockte sich in eine Ecke des Raumes und zog die Beine an den Körper. In einem anderen Winkel saß in ähnlicher Haltung der Techno Konterfert. Ich setzte mich mitten in den Raum. Es gab viel zu überlegen. Mit Uleb hatten wir es also zu tun … *
»Es sind keine Technos, es waren richtige Menschen, echte Lemurer.« »Beruhige dich, Danta‐Pyrt«, sagte Olyn‐Tzair langsam. »Woher willst du das wissen?« Danta‐Pyrt bewegte heftig die Handlungsarme. »Sie waren hier in der Zentrale«, schrie er, außer sich vor Erregung. »Zusammen mit einem von diesen elenden Technos. Drei echte Lemurer, es kann gar keinen Zweifel geben.« Er konnte sehen, wie sein Gegenüber erschrak. »Unmöglich«, warf Ghorgur‐Pra ein, aber auch seine Stimme verriet, wie erregt er war. »Wenn ich es sage, dürft ihr mir wohl glauben. Ich weiß doch, was ich sehe. Drei echte Menschen von Lemuria. Sie haben uns gefunden. Nach all der Zeit haben sie uns gefunden, und sie sind schon mitten unter uns.« »Das ist das Ende«, stöhnte Falgär‐Kym entsetzt auf. »Wir müssen sie niederschlagen«, rief Ghorgur‐Pra. »Alle, es darf kein einziger entkommen.« »Und ich dachte, wir hätten sie alle erwischt, damals?« murmelte Olyn‐Tzair, sichtlich erschüttert. »Sie sind da«, schrie Danta‐Pyrt. »und wenn ein paar von ihnen so frech sind, in meiner Zentrale aufzutauchen, hier, in der Zentrale von DANTA, dann können die anderen nicht weit sein.« »Wir müssen alles mobilisieren«, sagte Olyn‐Tzair. »Alles, was wir haben. Die Technos, die Roboter …« »Die Chreeans auch?« »Noch nicht«, empfahl Ghorgur‐Pra. »Bisher haben wir es nur mit vereinzelten Lemurern zu tun, das hat Danta‐Pyrt ja gesagt. Ihr wißt, daß immer wieder echte Menschen geboren werden auf Dorkh, obwohl wir alles getan haben, um das zu verhindern.« »Zugegeben«, sagte Falgär‐Kym. »Es tauchen immer wieder echte Menschen im Hordenpferch auf, die unseren Kontrolleuren entgehen. Aber in einem Punkt kann ich Danta‐Pyrt nur zustimmen
– daß drei erwachsene Menschen es wagen, sich bei ihm in der Zentrale seines Schiffes zu zeigen, ist eine unerhörte Herausforderung.« »Sie behaupteten«, erinnerte sich Danta‐Pyrt, »sie seien Abgesandte des Dunklen Oheims.« »Lüge«, rief Olyn‐Tzair. »Ein Ablenkungsmanöver.« »Wir sind uns also einig?« wollte Danta‐Pyrt wissen. »Wir schicken die Techno‐Reserven und die Robots los …« »Ich bekomme gerade eine Meldung«, warf Ghorgur‐Pra ein. »Es scheint den Eindringlingen gelungen zu sein, die Sklaven zu befreien. Die Verteidiger werden auch von hinten angegriffen.« Olyn‐Tzair stieß einen Laut der Wut aus. »Sie sollen kämpfen«, sagte er. »Dafür erhalten sie ihren Lohn. Die Robots werden ihnen helfen, die Lage zu unseren Gunsten zu wenden. Außerdem werden wir Reserven herbeirufen lassen, aus Yzam und Bhijarr.« »Hoffentlich kommen sie nicht zu spät«, sagte Danta‐Pyrt. »Ich habe drei echte Menschen bei mir an Bord …« »Was hast du mit ihnen gemacht«, fragte Olyn‐Tzair. »Eingesperrt«, sagte Danta‐Pyrt. »Haben sie sich nicht gewehrt?« wollte Olyn‐Tzair wissen. »Nein«, sagte Danta‐Pyrt. »Sie haben sich, ohne Widerstand zu leisten, abführen lassen.« »Das ist ein sehr schlechtes Zeichen«, sagte Olyn‐Tzair. »Wenn sie keine Angst mehr vor uns haben, müssen sie sich sehr stark fühlen.« »Das sage ich ja«, rief Danta‐Pyrt. »Das ist die Invasion. Sie kommen, und sie wollen sich rächen.« »Wir werden sie zurückschlagen«, behauptete Olyn‐Tzair. »Wir?« fragte Falgär‐Kym. »Jawohl«, beharrte Olyn‐Tzair. Die Stimmung wurde zusehends gereizter. Danta‐Pyrt konnte sehen, wie sich langsam, aber unaufhaltsam die Furcht seiner Gefährten bemächtigte, dieselbe Furcht, die auch in seinen
Gedanken vorherrschte und ihn immer mehr peinigte. Tief in seinem Innern wußte er, daß diese Niederlage auch das Ende seines ganzen Volkes sein würde – auch wenn er nicht hätte sagen können, wo dieses Volk lebte. Er wußte es einfach, und das gräßliche Gefühl, den Untergang seiner selbst und seinesgleichen in diesen Stunden erleben zu müssen, stürzte den Geist des Uleb in immer größer werdende Verwirrung. »Niederschlagen«, murmelte Danta‐Pyrt. »Einfach niederschlagen.« »Du sollst die Gefangenen nicht töten, sondern befragen«, entschied Olyn‐Tzair. »Wir müssen wissen, wieviel angreifen …« »Millionen«, rief Ghorgur‐Pra mit überschnappender Stimme. »Es werden noch viel mehr sein als damals, als sie uns beinahe erwischt hätten. Und diesmal werden sie nicht auf den Trick hereinfallen und uns für tot halten.« Die anderen schwiegen. Sie erinnerten sich dieser Schlacht, sie erinnerten sich vor allem der Dinge, die sie selbst getan hatten. Nachdem der Ausgang verstopft gewesen war, hatte das wütende Feuer im Innern des SCHLOSSES sehr bald ausgehen müssen – wegen Sauerstoffmangels. Darunter hatten die Uleb nicht zu leiden gehabt, sie hatten jederzeit Sauerstoff aus dem Felsgestein gewinnen können. Sie hatten sich totgestellt und gewartet, bis die Lemurer selbst das Hindernis entfernt hatten, und dann waren sie über die Angreifer hergefallen … »Wir können nicht mehr kämpfen wie früher«, klagte Falgär‐Kym. »Sehen wir dem Unausweichlichen ins Auge – wenn wir selbst in den Kampf eingreifen, könnten wir getötet werden.« »Nein!« schrie Zeffin‐Quorm auf. »Nein und tausendmal nein. Die Roboter werden sie niedermachen, und wenn das nicht hilft, werden die Chreeans losgelassen.« »Du weißt, was das bedeutet?« fragte Olyn‐Tzair. »Es ist mir gleich«, schrie Zeffin‐Quorm, außer sich vor Erregung. »Begreift doch – es sind Menschen im SCHLOSS.«
»Sie werden uns töten«, sagte Danta‐Pyrt halblaut. »Sie werden uns erbarmungslos niedermachen. Herfallen werden sie über uns und uns erschlagen.« Seine Angst griff auf die anderen über. Immer mehr verloren sie den Überblick über die Lage, immer geringer wurde ihre Selbstkontrolle. Die Herren des SCHLOSSES verfielen mit jeder Minute, die verging, mehr der Panik. Olyn‐Tzair gab Befehl, daß sich alle Technos in der Nähe der Schiffe versammeln sollten. Dort sollte die Abwehrfront gegen die Menschen aufgebaut werden – mit den anderen Dorkhern hoffte Olyn‐Tzair leicht fertig zu werden. Als er zu seinem Platz zurückkehrte und sich wieder in die Gesprächsleitung einschaltete, war Danta‐Pyrt verschwunden. Olyn‐Tzair konnte nicht wissen, daß sein Gefährte in diesem Augenblick seine Befehle an die Technos und Roboter erteilte. Danta‐Pyrt ordnete an, daß sich die Truppen in der Nähe der Technosiedlung sammeln und geordnet gegen die Angreifer vorgehen sollten. Als er zurückkehrte, waren seine Befehle längst von den Anordnungen Ghorgur‐Pras korrigiert worden. Auf den Schirmen der Uleb zeichnete sich das Chaos ab. Immer größer wurde das Durcheinander. Inzwischen hatten sich die entlaufenen Sklaven mit den eingedrungenen Dorkhern verbündet, und die Technos hatten kaum eine Chance, diesem doppelten Angriff hinreichenden Widerstand entgegensetzen zu können. In Danta‐Pyrt wuchs die Gewißheit, daß die letzte Stunde der Uleb‐Herrschaft auf Dorkh geschlagen hatte. 7. Aoore preßte sich dicht an den Boden. Neben ihm lag Deela, die gerade erst wiedergefundene und
befreite Freundin. Es kam Aoore immer noch wie ein Wunder vor, daß er überhaupt so weit vorgedrungen und derart erfolgreich gewesen war. Vor den Augen der beiden Puntharen tobte der Kampf zwischen Rebellen und den Truppen der SCHLOSSHERREN. Längst waren die Reihen der Technos geworfen, teilweise stark gelichtet worden. Ein paar der Technos hatten sich unterdessen auf die Seite der Dorkher geschlagen. »Was macht ihr hier?« fragte eine scharfe Stimme. Aoore blieb stocksteif liegen. »Dreh dich um, oder …« Aoore gehorchte. Er erkannte einen grimmig dreinblickenden Techno. Und er erkannte eine auf seinen Kopf gerichtete Waffe. »Ich habe dich nie zuvor gesehen«, sagte der Techno wütend. »Wie bist du hier hereingekommen?« »Wie alle anderen auch«, sagte Aoore. »Durch den unbewachten Eingang.« Der Techno nickte grimmig. »Ich bin Ghyderzan«, sagte er. »Ich sollte das Tor bewachen, aber meine Leute haben mich im Stich gelassen.« Aoore, geborener Punthare und daher mit Mut nicht überragend eingedeckt, sagte zaghaft: »Das wird noch vielen so ergehen. Sieh selbst, was geschehen ist, Ghyderzan.« »Ich habe Augen im Kopf«, knurrte Ghyderzan. Von geordnetem Widerstand gegen die aufständischen Dorkher konnte keine Rede sein – allerdings auch nicht von einem organisierten Angriff. Technos und Angreifer wirkten gleichermaßen ungeschickt – kein Wunder, hatten doch beide Gruppen niemals mit solchen Aktionen gerechnet. Kein Techno konnte sich erinnern, jemals einen solchen Angriff meuterischer Dorkher erlebt zu haben, kein Dorkher konnte sich entsinnen, jemals so schwache und kampfesunlustige Technos erlebt zu haben.
»Der Kampf ist längst entschieden«, sagte Aoore. Er versuchte, sich aus der Schußlinie des Technos zu bewegen, aber die Mündung der Waffe machte jede Bewegung mit. »Was soll das heißen?« »Deine Leute sind so gut wie geschlagen«, sagte Aoore. »Sie weichen überall zurück, und von draußen strömen unablässig Tausende von Dorkhern nach. Die Herren des SCHLOSSES sehen ihrem Ende entgegen.« Ein ungeheuerlicher Frevel lag in diesen Worten, und Ghyderzan fühlte sich versucht, den Frevler einfach niederzuschießen. Dann aber sagte er sich, daß der eigentliche Frevel nicht in den Worten lag, sondern vielmehr darin, daß diese Worte zutreffend waren. »Verrat!« knurrte er wütend. »Unsere Leute werden siegen«, versprach Aoore. Wenn nur die Waffe nicht gewesen wäre … Ghyderzan sah ein, daß der Punthare recht hatte. Für ihn ergab sich daraus die Frage, was er tun wollte, und wenn – für wen er etwas tun wollte. Für sich selbst, entschloß er sich. Und im Augenblick sah es so aus, als sei es für ihn am nützlichsten, sich den Aufständischen anzuschließen. »Aufstehen, ihr beide!« sagte er. »Munter, bewegt euch.« Deela gehorchte sofort. Sie kannte Ghyderzan, sie war an ihm vorbei in das SCHLOSS verschleppt worden. Sie wußte, welche Autorität er bei seinen Leuten genoß, wie sehr die Dorkher ihn gefürchtet hatten. Zu dritt bewegten sich die Gestalten auf die Reihen der Kämpfenden zu. Aoore konnte sehen, daß bei den Angreifern heilloses Durcheinander herrschte, das nur überboten wurde durch das Chaos auf seiten der Verteidiger. Aoore überfiel sofort die Angst, versehentlich von den eigenen Leuten angegriffen zu werden – in dem allgemeinen Durcheinander war das Risiko recht groß. Zu seiner Erleichterung aber geschah nichts dergleichen. Im
Gegenteil, wohin die drei auch kamen, sofort ruhte an dieser Stelle der Kampf. Die Autorität des Toroffiziers der Technowache schien ungebrochen. Ghyderzan war unterdessen ganz offensichtlich zu einem Entschluß gekommen. »Her zu mir, Leute!« rief er mit lauter Stimme. »Ich übernehme das Kommando.« Einigen Überläufern aus den Reihen der Technos saß der Gehorsam tief in den Knochen. Sie eilten sofort herbei, und auch unter den Dorkhern fanden sich etliche, die sich Ghyderzans Kommando unterstellen wollten. Aoore nutzte die günstige Gelegenheit, sich davonzuschleichen. Sobald er die Waffe in Ghyderzans Hand nicht mehr auf seinen Rücken gerichtet wähnte, nahm er Deela bei der Hand und zog sie zur Seite. Zwischen den Lagergebäuden und den Unterkünften der Technos fanden die beiden Puntharen einstweilen ein sicheres Versteck. Von dort aus konnten sie auch verfolgen, wie sich der Kampf um das SCHLOSS weiter entwickelte. Ghyderzan brauchte nicht viel Zeit, um sich durchzusetzen. Da er vom Kämpfen mehr verstand als alle anderen, die sich in dieser Auseinandersetzung tummelten, bekamen die Angriffe seiner Leute erheblich mehr Druck und Wucht. Die Reihen der Verteidiger des SCHLOSSES lichteten sich immer mehr. »Sie werden das ganze SCHLOSS erobern«, sagte Aoore. »Ich weiß nicht«, sagte Deela leise. »Ich erinnere mich, daß auch die Technos vor etwas Angst hatten. Was passiert, wenn dieses Etwas in den Kampf eingreift?« Aoore sah seine Geliebte an. »Was meinst du, sollen wir uns zurückziehen?« Deela, vor kurzem noch wild entschlossen, die Zeit ihrer Sklaverei brutal zu rächen, zeigte jetzt weniger Zuversicht. Sie nickte. Puntharen waren von Hause aus keine Helden; ihr ganzes Leben
verbrachten sie in der Regel zusammengeduckt und aneinandergekauert im Verband der Sippe, stets darauf bedacht, niemals gesehen zu werden. Aoore hatte, bedingt durch die letzten Ereignisse, viel von dieser Geisteshaltung verloren – aber zur Heldenkühnheit reichte es bei ihm noch nicht. Er ahnte, daß das SCHLOSS sehr leicht zur Todesfalle werden konnte – und bevor sich diese Falle schloß, wollte er lieber im Freien und in Sicherheit sein. Die beiden Puntharen rannten los, fort von der Auseinandersetzung, die ihrem Höhepunkt entgegenstrebte. Unterwegs stieß Aoore auf neue Kämpfer. Halb Dorkh schien mobil gemacht zu haben. Immer neue Scharen strömten in das Innere des SCHLOSSES. Es mußten längst Tausende sein, nicht sehr gut bewaffnet, aber wild entschlossen, die Herrschaft der SCHLOSSHERREN ein für allemal zu brechen. Unter den Kampfbegierigen erkannte Aoore auch etliche Technos – sie kamen offenbar von den anderen Techno‐Städten, aus Yzam oder Bhijaar, und sie machten nicht den Eindruck, als wollten sie den angreifenden Dorkhern in den Rücken fallen. Im Gegenteil, sie schienen darauf zu brennen, die Herrschaft der SCHLOSSHERREN zu beenden. Aoore sah zu, daß er den kampfeslustigen Dorkhern nicht zu nahe kam; er wollte sich nicht dem Vorwurf der Feigheit aussetzen, noch weniger wollte er von den Wogen der Angreifer in das Getümmel zurückgespült werden. Aoore ahnte, daß der Kampf noch nicht entschieden war. Auf einem Hügel blieb Aoore minutenlang stehen. Er sah hinab auf die Senke, in der die Kämpfe tobten. Aus den Schiffen der SCHLOSSHERREN wurden Verstärkungen an die Front geworfen. Die Technos, die dazu bestimmt waren, zeigten wenig Lust, sich von den Dorkhern niedermachen zu lassen. Sie wußten allerdings in ihrem Nacken klobige Maschinen, und das ließ es ratsam erscheinen, Widerstand zumindest vorzutäuschen. »Die Leute von Dorkh werden siegen«, sagte Deela.
»Hoffentlich«, murmelte Aoore. Er konnte jetzt sehen, daß die Maschinen plötzlich vorrückten und in den Kampf eingriffen. Sie kamen nicht weit. Ghyderzan zeigte sich als Meister im Organisieren. Er faßte die Dorkher zu kampfkräftigen Einheiten zusammen. Auf dem Schlachtfeld entwarf er seine Strategie, und die ersten Anfangserfolge verstärkten noch seine Autorität. Dementsprechend wirksamer wurden die Angriffe der Dorkher. Ghyderzans Anweisungen verhalfen ihnen zu Erfolgen und vor allem zu besseren Waffen. Es zeichnete sich ab, daß der Kampf nicht mehr lange dauern konnte. Die ersten der verteidigenden Maschinen bekamen Treffer. Aoore hatte niemals zuvor etwas Ähnliches gesehen. Fasziniert sah er dem Schauspiel zu. Gewaltig waren die Lücken, die die Dorkher in die Reihen der Kampfmaschinen schlugen. Eine nach der anderen wurde lahm geschossen, blieb stehen und brannte wenig später aus. Explosionen erschütterten die Luft und zerstörten weitere Maschinen. Aoore begriff zwar nicht, wie sich ein solches Gebilde aus Metall überhaupt bewegen konnte, aber er sah mit Vergnügen, wie die Dorkher diese Gegner niederkämpften. Eine andere Gruppe fand sogar Gelegenheit, sich abzusondern. Bestückt mit Beutewaffen schlichen sie sich an die Gehege der Chreeans heran. Offenbar wollten sie frühzeitig verhindern, daß diese Bestien sich unter die Kämpfer mischten. Aoore, der gelernt hatte, die Mord‐Chreeans zu fürchten, sah genußvoll zu, wie die Dorkher die Reihen der Tiere lichteten. Die letzte Waffe der SCHLOSSHERREN wurde langsam stumpf. Im Zentrum des Kampfes wurden die Verteidiger immer weiter zurückgedrängt. Zwar konnten sie vorübergehend einmal ein wenig an Boden gewinnen, dann aber mußten sie zurückweichen. Die ersten Dorkher betraten das Gebiet zwischen den Wohnungen der
SCHLOSSHERREN. Es war, als hätten die SCHLOSSHERREN nur auf diesen Übergriff gewartet. Aoore stieß einen erschreckten Ruf aus, als er sah, was sich am Rand seines Gesichtsfelds abspielte. Die Gatter der Chreeansgehege öffneten sich wie von Zauberhänden. Die Tiere zögerten keinen Augenblick lang – sie verließen die Gehege. »Los!« schrie Aoore und sprang auf. »Wir müssen laufen. Deela, es geht um unser Leben.« Er warf keinen Blick mehr zurück. Jetzt zählte die Zeitspanne eines Augenzwinkerns. Es gab Hunderte dieser blutgierigen Bestien, und es gab nur einen einzigen Weg aus dem SCHLOSS heraus. Wer diesen Engpaß nicht rechtzeitig erreichte, war verloren, mußte zwischen den Kiefern der Mord‐Chreeans jämmerlich enden. Die beiden Puntharen rannten, was sie nur konnten. Beide hatten in frischer Erinnerung, was sich bei der Befreiung der Sklaven zugetragen hatte – eine Gruppe selbstmörderisch tapferer Sklaven hatte sich vorsätzlich den Chreeans geopfert, um Aoores Befreiungsversuch im entscheidenden Stadium zu sichern. Die Todesschreie der Sklaven gellten in Aoores Gedächtnis, sie trieben ihn an. Er wußte das gleiche Schicksal in seinem Nacken. Sie kümmerten sich nicht darum, daß ihnen Dorkher entgegeneilten. Sie nahmen sich auch keine Zeit, den Eindringlingen klarzumachen, welcher Gefahr sie entgegenrannten – nach dem ersten Fehlversuch, bei dem sie nur unverständiges Kopfschütteln geerntet hatten, verspürten sie keinerlei Lust, das eigene Leben zu riskieren, um die Unvernunft der Dorkher zu kurieren. Nur weg von hier, heraus aus der Reichweite der Mord‐Chreeans – die beiden Puntharen hatten keinen anderen Gedanken mehr. Sie liefen, so schnell sie nur konnten, und es kam ihnen zustatten, daß Puntharen geübte Läufer waren. Zwar strauchelte Deela ein
paar Male, aber jedesmal konnte Aoore ihr schnell wieder auf die Beine helfen. »Zurück!« schrien sie noch einmal einer Gruppe knüppelbewaffneter Dorkher zu, die sich ins Kampfgetümmel stürzen wollten. »Ihr lauft dem Tod entgegen.« »Feiges Puntharengesindel«, klang es ihnen entgegen. »Bringt euch nur in Sicherheit, ihr Feiglinge – wir werden kämpfen bis zum letzten Blutstropfen.« Das werdet ihr erleben, dachte Aoore, aber er sagte es nicht. Er setzte die Flucht fort. Sinnlos, den wertvollen Atem zu solchen Reden zu verschwenden. Die Pforte kam in Sicht. Sie war offen, und Aoore sah mit großer Erleichterung, daß die Zahl der eindringenden Dorkher nicht so groß war, daß man das Innere des SCHLOSSES nicht hätte verlassen können. »Wo wollt ihr beide hin?« fragte einer am Eingang. Aoore blieb schwer atmend stehen. »Weg von hier«, sagte er schnaufend. Schweiß rann über sein Gesicht. »Es gibt hier mörderische Chreeans, und die SCHLOSSHERREN haben sie frei gelassen.« »Unsinn«, sagte der Dorkher. Sein Mißtrauen war erwacht. »Ihr habt Beute gemacht, nicht wahr, und jetzt wollt ihr euch verdrücken.« »Nichts da«, riefen andere. »Ihr werdet mitkommen und kämpfen, wie wir auch.« Aoore schwankte leicht. Er war müde, er hatte lange Zeit nichts mehr gegessen, und in seinen Eingeweiden brannte der Durst. »Glaubt mir«, sagte er schwach. »Ihr habt mit diesen Waffen keine Chance – die Chreeans sind gräßlich, sie werden euch zerfleischen.« »Puntharen«, sagte einer. »Feiglinge.« »Vielleicht stehen sie in Diensten der SCHLOSSHERREN«, erklang eine wilde Stimme. »Macht sie nieder.« Der Dorkher, der Aoore festgehalten hatte, zeigte sich besonnener.
»Laßt sie laufen«, sagte er, bevor die anderen sich der Aufforderung anschließen konnten. »Schaden können sie uns nicht – und wozu wären zwei Puntharen nütze, wenn sie uns begleiten würden.« Hohngelächter brach über Aoore und Deela herein. Sie ertrugen es mit Gleichmut, was blieb ihnen auch anderes übrig. Aoore setzte sich langsam in Bewegung. Er verspürte wenig Erleichterung, als er den Tunnel betrat, der hinausführte in die freie Weite des Landes. Haßerfüllte, wütende Blicke schlugen den beiden Puntharen entgegen, als sie sich an der Wandung des Tunnels entlangschoben. Licht tauchte vor ihnen auf, Helligkeit. Dann waren nur noch ein paar Schritte zu tun, und sie hatten die Energiehülle hinter sich gelassen. Kalte Luft schlug ihnen entgegen, zum erstenmal seit geraumer Zeit fand der Blick einen weiten Himmel. Aoore stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er sah seine Gefährtin an, auch sie lächelte glücklich. »Wohin wollen wir gehen?« fragte Deela. Aoore zuckte nur mit den Schultern. »Irgendwohin«, sagte er leichthin. Sie setzten sich wieder in Bewegung. Noch immer kamen Dorkher zum SCHLOSS, um den fälligen Tribut zu entrichten. Aoore und Deela konnten sie sehen, wie sie sich vorsichtig näherten. Sobald sie informiert worden waren oder einfach aus dem Fehlen der Absperrung gefolgert hatten, daß etwas Besonderes sich zugetragen hatte, ließen sie in der Regel alles stehen und liegen und eilten auf den Eingang des SCHLOSSES zu. »Unbelehrbar«, murmelte Aoore. Die beiden Puntharen überlegten nicht lange. Vor dem Eingang zum SCHLOSS standen Dutzende von verlassenen Fahrzeugen, zum Teil waren sie umgestürzt. Die Waren lagen verstreut auf dem Boden, zum Teil zertrampelt. Zwischen den
Haufen liefen herrenlose Chreeans umher. Aoore wußte natürlich nicht, wem die Tiere gehörten. Er sagte sich aber, daß einige Besitzer von Chreeans ihre Tiere niemals wieder würden gebrauchen können. Es hatte Tote gegeben bei dem Kampf im Innern des SCHLOSSES, und es würde noch mehr Tote geben. »Was meinst du?« fragte Aoore. »Sollen wir uns bedienen?« Deela lachte. »Kein Zögern«, empfahl sie. »Diese Gelegenheit kehrt niemals wieder.« Sie stellten sich ein Gespann zusammen, und niemand hinderte sie daran. Sie besorgten sich einen Wagen und schirrten ein Chreean‐ Gespann davor, eine Arbeit, die mit viel Mühe und Anstrengung verbunden war. Beide Puntharen hatten nie zuvor mit Chreeans zu tun gehabt, sie mußten bei den noch angeschirrten Tieren abschauen, wie sie vorzugehen hatten und wie das Endprodukt ihrer Bemühungen auszusehen hatte. Sie schafften, was sie sich vorgenommen hatten, auch wenn es manche Blessuren dabei gab. Dann suchten sie sich aus den weggeworfenen Waren und Tributlasten das heraus, was sie brauchen konnten. An Karren, die vollbeladen und mit angepflockten Chreeans oder Tarpanen beschirrt waren, vergriffen sie sich nicht. Die beiden Puntharen nahmen nur von dem, was am Boden lag und herrenlos aussah – es war mehr als genug für sie. Eine unerklärliche Heiterkeit hatte sie ergriffen. Deela lachte immer wieder laut auf, und sie war sogar so dreist, Aoore ab und zu an seinem zweifach gegabelten Bart zu zupfen, etwas, das sie früher niemals gewagt hätte. Das Gefühl, endlich wieder frei zu sein, ließ sie so überschäumend reagieren. Zum ersten Mal bestiegen Puntharen einen Wagen, zum ersten Mal griff ein Punthare nach den Zügeln eines Chreean‐Gespanns. Es sah danach aus, als sollte dieser Tag für die Puntharen schicksalhaft werden. Das Gespann setzte sich in Bewegung, sanft trabten die Chreeans
an. Aoore hätte am liebsten vor Freude laut gejubelt; er fühlte sich unsagbar glücklich – er hatte mehr erreicht, als er sich hatte träumen lassen. Noch einmal drehten sich die Puntharen um. Sie sahen ein letztes Mal nach dem Tor, durch das sie in die Freiheit zurückgekehrt waren. Schmerzlich wurde Aoore bewußt, daß durch diese Öffnung jederzeit eine Horde blutgieriger Chreeans hervorstürzen und über das Land herfallen konnte. Dann aber verdrängte er den Gedanken. Mochten die Dorkher in der Umgebung die Sorge dafür tragen, daß die Mord‐Chreeans entweder getötet oder eingefangen wurden. Er, Aoore, hatte nichts damit zu tun. Für ihn war das Abenteuer im SCHLOSS beendet. Für andere fing es in diesem Augenblick gerade erst an. 8. »Ich wüßte gerne, was eigentlich los ist«, sagte Razamon grimmig. Wir waren noch nicht sehr lange eingesperrt, dennoch zerrte die Langeweile schon sehr stark an unseren Nerven. Konterfert und Grizzard waren in sich zusammengesunken, sie schienen alle Hoffnung verloren zu haben. Wie es in Razamon aussah, wußte ich nicht genau – aber ich ahnte, daß der Berserker diesen Zustand nicht lange ertragen konnte. Irgendwann würde er zu handeln beginnen. Dann erlosch plötzlich das elektrische Licht, ohne jede Vorwarnung. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Konterfert beklommen. »Ist etwas geschehen?« »Vermutlich«, sagte Razamon trocken. Ich ging zur Tür hinüber und legte ein Ohr an das Metall. Der
Stahl leitete den Schall recht gut, verzerrte ihn aber sehr – das lag an der anderen Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schalls in hochverdichtetem Stahl. Es hörte sich an, als gebe es allerhand Durcheinander in der DANTA. Ich hörte etwas wie Fußgetrappel, dann ein Geräusch, das entfernt an das Zischen einer Strahlwaffe erinnerte. Irgendwo wurden Türen zugeschlagen, irgend etwas heulte schmerzerfüllt auf. Neben mir war Razamon aufgetaucht. Auch er hielt sein Ohr an die Tür. »Kampf«, sagte er knapp. »Offenbar sind die Rebellen in die DANTA eingedrungen.« Das Extrahirn gab mir mit einem kurzen Impuls zu verstehen, daß es Razamons Lagebeurteilung für wahrscheinlich hielt. Die Schlußfolgerungen lagen auf der Hand. Offenbar waren die Uleb nicht in der Lage, die gerade erst ausgekrochene Revolution zu stoppen. Das hatte auf der einen Seite Vorteile – so wie ich die Uleb im Gedächtnis hatte, waren sie ohne weiteres fähig, ein fürchterliches Blutbad anzurichten; dazu würde es wohl nicht kommen. Auf der anderen Seite konnte ich mir nicht vorstellen, daß die Dorkher, die nach meiner Schätzung Jahrzehntausende unter der Schreckensherrschaft der Uleb gelebt hatten, sich nun barmherziger zeigen würden als ihre vormaligen Herren. Wenn es kein Blutbad der Uleb unter den Dorkhern gab, war zu befürchten, daß die Dorkher ihrerseits nicht zögern würden, die Uleb zu massakrieren. Der Gedanke schien absurd, denn mit normalen Waffen waren die Uleb praktisch nicht anzugreifen. Jeder Versuch dieser Art kam einem komplizierten Selbstmord gleich. Was war mit den Uleb geschehen, daß sie sich so schwach zeigten? Ich wußte es nicht. Eines aber stand fest: wenn ich Informationen aus den Uleb herausbekommen wollte, dann mußte ich handeln – jetzt und sehr schnell, sonst war alles verloren.
»Razamon«, sagte ich. »Du kannst diese Tür öffnen?« »Selbstverständlich«, sagte der Berserker. Er hatte keineswegs übertrieben. Eine halbe Minute später war das Schloß zerstört. Wir konnten auf den Gang treten. Dort brannte eine kümmerliche Notbeleuchtung. Immerhin etwas. »Zur Zentrale«, bestimmte ich. »Nicht doch«, spottete Razamon. »Willst du dich mit dem Uleb prügeln?« »Ich lasse dir den Vortritt«, sagte ich. »He, Grizzard! Konterfert!« Die beiden wollten sich nicht rühren. Hatten sie alle Hoffnung aufgegeben? Ich ging zu Konterfert hinüber, schüttelte ihn, aber ohne Wirkung. Der Techno wirkte, als habe er einen harten Schlag auf den Kopf bekommen – sein Blick ging gleichsam durch mich hindurch. Grizzard sah kein bißchen besser aus. »Zwecklos«, sagte Razamon. »Die beiden bekommen wir nicht wach. Wir sollten nachsehen, ob es hier noch andere Gefangene gibt.« »Du denkst an die Magier?« »Richtig«, sagte Razamon. »Vielleicht haben sie Grizzard und Konterfert behext – jedenfalls sehen die beiden so aus.« »An die Arbeit«, sagte ich. Von außen waren die Zellen leichter zu öffnen als von innen. Die ersten beiden Räume waren leer. In einem der weiteren entdeckte ich eine Gruppe Zukahartos. Razamons Verdacht, daß hier die Magier eingegriffen hatten, bekam neue Nahrung – auch die Zukahartos wirkten wie hypnotisiert. Es gab viele Gefangene in diesem Trakt, sie alle waren teilnahmslos, stumpf, rührten sich nicht. Dann stießen wir auf den letzten Raum. Razamon brach mit gewaltiger Kraft die Tür auf. Der Raum war dunkel. Ich ging hinein, und nach kurzer Zeit hatte ich mich an das schwache Licht gewöhnt. »Willkommen«, sagte ich.
Es waren die beiden Magier. Xerylhs Beschreibung paßte haargenau. Sie waren knapp zwanzig Jahre alt, mittelgroß und sehr schlank und zierlich. Das Haar war während der Haft ein wenig gewachsen, es fiel blauschwarz und glatt weit über die Schultern. Die Gesichter waren auffallend hübsch, fremd darin wirkten nur die großen, intensiv blauen Augen – es fehlte darin das Weiße, zumindest sah man es nicht. Asparg trug einen Waffenrock aus blauem Leder, Fiothras Gewand war kurz und von der gleichen Farbe. »Ihr müßt die beiden Magier sein, von denen Xerylh erzählt hat.« »Wir sind es«, sagte Fiothra. »Was ist mit Xerylh? Ist er tot?« »Er hat Ghyderzan gezwungen, die Verbindungen zwischen ihm und der Metallsäule zu durchschneiden.« »Dann ist er tot«, sagte Asparg. Die beiden wirkten sehr zurückhaltend. »Habt ihr die anderen Gefangenen unter Kontrolle?« fragte ich. »Allerdings«, sagte Asparg. »Vorsicht!« gellte Razamons Stimme. »Mord‐Chreeans.« Er stand auf dem Gang. Mit einem Satz war ich neben ihm. Tatsächlich, da kamen sie. Es waren nur zwei, aber ihre Blutgier ließ sie zu mörderisch gefährlichen Angreifern werden. Und wir hatten keinerlei Waffen. »Asparg«, rief ich. »Fiothra. Wenn ihr diese Bestien betäuben könnt wie die anderen Gefangenen, dann tut es.« »Warum sollten wir«, sagte Asparg kalt. »Die Biester werden sie fressen«, stieß ich hervor. Hinter den zweien, die auf uns losrannten, erschienen am Ende des Ganges vier weitere. Das erste Chreean war heran, öffnete das zahngespickte Maul. Razamon schlug zu. Es gab ein häßliches Geräusch, dann brach die Bestie am Kopf tödlich getroffen zusammen. Sofort fiel das zweite Chreean über den Artgenossen her. »Könnt ihr das verantworten?« schrie ich. »Sie sind Opfer wie ihr,
und sie können sich nicht wehren.« Ich konnte gar nichts tun. Ich verfügte nicht über die berserkerhafte Körperstärke Razamons, der ein solches Tier mit der bloßen Hand fällen konnte. Ich sah, wie die anderen Chreeans ihren Lauf verlangsamten. Wie viele dieser Bestien schlichen an Bord der DANTA herum? Wie waren sie überhaupt hereingekommen? Die Uleb haben sie freigelassen, sagte das Extrahirn trocken. Und jetzt haben sie die Kontrolle über sie verloren. Ich sah, wie eine der Bestien sich anschickte, in unsere ehemalige Zelle einzudringen – Grizzard lag benommen dort, dazu Konterfert. »Greift ein!« schrie ich die beiden Magier an. »Tut etwas, ehe es zu spät ist.« Asparg sah mich kalt an. »Donnerwetter«, stieß Razamon aus. Ich sah, wie unmittelbar vor ihm ein Chreean zusammenbrach. Es knickte einfach in den Beinen ein, kippte um und blieb liegen. Den anderen erging es nicht viel besser. »Danke«, sagte ich und lächelte Asparg an. Er reagierte nicht. In den offenen Zelltüren erschienen Gestalten. Die Gefangenen waren erwacht. Stieren Auges standen sie eine Zeitlang reglos, dann suchten sie ihr Heil in zielloser Flucht. Ich sah, daß auch Konterfert sich unter den Flüchtigen befand. Grizzard blieb seltsamerweise zurück. Er schwankte auf uns zu. »Was ist passiert?« fragte er unsicher. »Nichts Wichtiges«, sagte Razamon spöttisch. »Wer seid ihr?« fragte ich meinerseits die beiden Magier. Asparg lächelte zurückhaltend. »Ich bin Asparg, dies ist meine Halbschwester Fiothra«, erklärte der junge Magier. »Das dachte ich mir«, sagte ich trocken. »Ihr kommt aus Shatna?« »In der Tat«, versetzte Fiothra. Sie war genauso schweigsam wie ihr Halbbruder.
»Wo liegt Shatna?« wollte ich wissen. »Nicht weit«, sagte Asparg. »Oder sehr weit entfernt«, ergänzte Fiothra. »Es hängt davon ab.« Ich verstand, daß es keinen Sinn hatte, die beiden verhören zu wollen. Da sie vermutlich jederzeit die wilden Chreeans aufwecken und auf uns hetzen konnten, erschien es mir nicht ratsam, die Unterredung in dieser besonderen Form fortzusetzen. »Wir wollen in die Zentrale«, sagte ich. »Werdet ihr uns begleiten?« »Geh voran«, sagte Fiothra. »Wir werden euch den Rücken decken.« War das ein Vertrauenstest? »Habt ihr keine Waffen?« fragte ich. »Unsere Schwerter haben die SCHLOSSHERREN uns abnehmen lassen. Jetzt können wir nur die Waffen des Geistes einsetzen.« In dieser Beziehung waren sie vermutlich besser ausgerüstet als mit Schwertern. Ich ging voran. Die Zentrale zu finden, war nicht einfach. Es hatte Kämpfe im Inneren des Schiffes gegeben. Tote Chreeans lagen in den Gängen, dazwischen tote Technos, zerstörte Maschinen. Ein Teil der klobigen Roboter war bei den Kämpfen explodiert, das hatte die Gänge und Stollen stark beschädigt. Überwältigend stabil war die DANTA ohnehin nicht. Erst jetzt erkannte ich mit voller Klarheit, daß dieses Schiff von den Uleb für ihre speziellen Erfordernisse umgerüstet worden war – das war der Gesamtkonstruktion nicht besonders gut bekommen. Wir mußten Umwege machen, um in die Nähe der Zentrale gelangen zu können. Unterwegs wartete ich gespannt auf ein Lebenszeichen von Danta‐Pyrt, dem Uleb‐Kommandanten des Schiffes. Er rührte sich nicht. Wahrscheinlich hatte er sich in die Zentrale zurückgezogen und leitete die Aktionen seiner Mordbestien von
dort. Der Einsatz der Mord‐Chreeans zeigte deutlich, was von den Uleb zu halten war. Sie selbst waren durch die blutgierigen Tiere nicht gefährdet. Sie brauchten nur ihre Körperstruktur umzuwandeln, dann konnten ganze Herden von Chreeans sich die Zähne an den kristallharten Leibern ausbeißen. Für einen Dorkher, der einem solchen Chreean über den Weg lief, hatte das letzte Stündlein geschlagen, und ein bewaffneter Techno mußte einiges an Kaltblütigkeit und Glück aufbringen, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden. Die Spuren des Kampfes, die wir im Innern der DANTA finden konnten, bewiesen uns deutlich, daß die Chreeans ihre ungezügelte Mordlust an allem austobten, was sich bewegte. Offenbar war es den Uleb gleichgültig, daß auch ihre treuen Diener, die Technos, hohe Opfer bringen mußten. Wie es draußen aussah, versuchte man sich besser nicht vorzustellen – ich konnte nur hoffen, daß es Dorkhern wie Technos gelungen war, sichere Verstecke zu finden. Im Notfall konnten sie ja durch den offenen Energietunnel … »Allmächtiger!« rief ich unwillkürlich aus. Ein Bild stieg vor mir auf: der offene Verbindungstunnel zwischen dem SCHLOSS und der Außenwelt. Es gab keinen Tormagier mehr, es gab keine Techno‐Wachen mehr. Die Dorkher waren überhaupt nicht organisiert – ein ähnlich loser Pöbelhaufen wie jener berühmte Haufen, der die Bastille in Paris gestürmt hatte. Beim geringsten Widerstand flohen die Dorkher vermutlich in alle Himmelsrichtungen, die Pfiffigen suchten vermutlich durch den Tunnel das Weite … … und ihnen auf dem Fuß folgten die Mord‐Chreeans, die blutgierigsten und gefährlichsten Bestien, die man sich nur vorstellen konnte. Hunderte, womöglich Tausende, die über das Land herfallen konnten, die dort draußen genügend Gelegenheit fanden, sich zu vermehren … man durfte den Gedanken nicht zu Ende denken.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte ich. Im Laufen erklärte ich meinen Gefährten worum es ging. Grizzard in seiner Verwirrung verstand gar nichts, Razamon wurde wütend, und die beiden Magier hielten sich mit jeder Art von Kommentar zurück. Dann erreichten wir die Zentrale. Sie war wieder verschlossen, aber diesmal wußte ich, in welcher Höhe man nach dem Knopf zu suchen hatte, der das Schott aufschwingen ließ. Der Öffnungsmechanismus funktionierte noch. Fast ohne Geräusch glitt das Tor zur Seite. Die Zentrale war leer. Danta‐Pyrts Sessel war nicht besetzt. Irgendwo war ein Feuer ausgebrochen, das jetzt in den Kabelsträngen der Zentrale Nahrung fand. »Wo ist …«, fragte ich unwillkürlich. »Da vorne«, sagte Razamon. »Dies ist Danta‐Pyrt.« * Ich verstand gar nichts mehr. Indes, die Spuren waren eindeutig. Offenbar war es einigen Mord‐ Chreeans gelungen, sich bis hierher vorzuarbeiten. Daß die Tiere in ihrer Gier keinerlei Unterschiede zwischen Freund und Feind machen würden, hatte ich erwartet, nicht aber, daß ihnen auch ein Uleb zum Opfer fallen konnte. Danta‐Pyrt war tot. Die Chreeans hatten ihn angefallen. Es mußte zu einem gräßlichen Kampf gekommen sein, in den Winkeln des riesigen Raumes lagen die Körper von acht toten Chreeans. Der Uleb hatte sie mit der gewaltigen Körperkraft gegen die Wände geschleudert und so getötet. Es hatte ihn nicht retten können. Sie waren stärker gewesen als er. Danta‐Pyrt war einen grauenvollen Tod gestorben, davon zeugten seine Überreste.
»Ich verstehe das nicht«, sagte ich erschüttert. »Warum hat er seine Körperstruktur nicht umwandeln können?« Asparg sah teilnahmslos an, was von Dan‐ta‐Pyrt übriggeblieben war. »Er konnte dies nicht mehr«, sagte er. »Woher weißt du …?« »Wir wissen viel in Shatna«, sagte der Magier; seine Stimme klang ein wenig traurig. »Es sind fünf Uleb, wie du sie nennst, die über Dorkh geherrscht haben. Wie die von ihnen gejagten und gehaßten Lemurer verloren sie ihr Gedächtnis, als sie den Wölbmantel durchschritten. Aber sie waren unsterblich, und so kehrte zumindest ein Teil der Erinnerungen zurück.« Asparg sah auf. Sein Blick ging durch mich hindurch, durch die Wände der Zentrale. »Es kam der Tag, an dem die Uleb den letzten großen Kampf mit den Lemurern austrugen. Die Lemurer schafften es nicht, ihre Feinde zu besiegen, sie selbst wurden vernichtend geschlagen. Die Überlebenden wurden zu Sklaven der Uleb.« »Sie haben sie nicht getötet?« Asparg verneinte. »Sie hatten einen anderen Plan. Sie wollten die Lemurer ein für allemal unschädlich machen. Deshalb veränderten sie deren Erbgut. Immer wieder griffen sie genetisch ein. Die Lemurer sind die unfreiwilligen Ahnen jener Wesen, die im Hordenpferch leben.« Kein Wunder, daß die Uleb sich vor jedem Humanoiden gefürchtet hatten, waren sie doch des größten Verbrechens schuldig, das man sich nur denken konnte. »Wie haben die Uleb das gemacht?« »Wir wissen, daß sie es getan haben, nicht wie das Verbrechen vonstatten ging. Es scheint aber sicher zu sein, daß die Uleb nicht zuletzt wegen dieser Gen‐Manipulationen Teile ihrer besonderen Fähigkeiten einbüßten. Es gelang ihnen nicht mehr, andere Lebewesen körperlich zu übernehmen. Und mit jedem Jahrhundert,
das verging, wurde auch ihre Fähigkeit geringer, den eigenen Körper molekular umzustrukturieren.« Das also war des Rätsels Lösung. »Es geschah aber immer wieder«, setzte Fiothra den Report des Grauens fort, »daß im Hordenpferch normale Menschen geboren wurden, denn die Gen‐Manipulationen der Uleb waren unvollkommen gewesen. Und so lebten sie seither in der steten Furcht, daß eines Tages die Nachfahren der getöteten Lemurer kommen könnten, um die Verbrechen der Vergangenheit zu rächen an denen, die sie angerichtet haben.« »Unsere verbotene Gestalt«, sagte ich unwillkürlich. »Richtig!« bestätigte Fiothra. »Jede Siedlung wurde zerstört, in der sich ein normaler Mensch hatte sehen lassen, jede Stadt erbarmungslos vernichtet, in der ein Mensch Zuflucht gefunden hatte.« »Tirn!« rief Razamon aus. »Die intakte Stadt.« »Sie war es«, sagte Asparg bitter. »Aber vor wenigen Jahrzehnten tauchte dort ein Mensch auf, und die Uleb erfuhren davon. Sie wußten, wie wichtig, ja unersetzlich Tirn war. Ohne die Rechner von Tirn war Dorkh so gut wie funktionsunfähig. Aber der Haß und seine Zwillingsschwester, die Furcht, waren größer. Die Uleb zerstörten auch Tirn.« »Wahnwitz«, murmelte Razamon. »Noch einmal setzte sich Dorkh danach in Bewegung«, sagte Asparg. »Es geschah unkontrolliert, und so geschah es, daß Dorkh in der Schwarzen Galaxis zum Stillstand kam und dort festhängt.« »Hat keiner versucht …« Asparg deutete in die Höhe. »Es hat Versuche gegeben«, sagte er. »Fremde haben versucht, in das SCHLOSS einzudringen, aber es ist ihnen nicht gelungen. Keine Waffe konnte das Schirmfeld aufbrechen, und so sind sie wieder abgezogen.« Jetzt wußten wir endlich mehr über Dorkh und seine Bewohner.
Wir kannten jetzt endlich auch in groben Zügen die Geschichte der Uleb und der Lemurer. Irgendwann einmal waren sie zusammen auf dem Dimensionsfahrstuhl gestrandet. Seither hatten sie in größter wechselseitiger Furcht gelebt, und die Uleb hatten alles getan, was ihnen diese panische Furcht eingegeben hatte. Nichts war ihnen zu häßlich, zu grausam gewesen, um ihre Herrschaft zu sichern. Es hatte ihnen wenig genutzt. Danta‐Pyrt war tot. 9. »Ein Unsterblicher ist hier gestorben«, sagte Razamon kalt. »Wer wird der nächste sein?« Seine Bemerkung brachte mich auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Wir mußten etwas unternehmen, wenn wir Danta‐Pyrts grausiges Schicksal nicht teilen wollten. »Es muß hier irgendwo einen Kontrollmechanismus geben«, sagte ich zuversichtlich. »Die Uleb werden schließlich die Chreeans nicht losgelassen haben, ohne sich gegen Überraschungen abgesichert zu haben.« Razamon wölbte die Brauen. »Bist du sicher?« fragte er. Ich war sicher. Uleb waren vernunftbegabte Lebewesen, und für so närrisch vermochte ich sie nicht zu halten. Oder war ihre Angst vor dem Auftauchen rächender Lemurer so groß gewesen, daß sie selbst dieses Risiko eingegangen waren? Ich machte mich auf die Suche. Die Kontrolle mußte sich irgendwo in der Zentrale befinden. Wenn man die Gatter der Chreean‐Pferche öffnen konnte, ohne das Schiff zu verlassen, dann gab es doch irgendwo auch einen Mechanismus, mit dem man die Tiere in ihre Gehege zurückbefördern konnte. Ich dachte an eine Spezialbrigade
von Robotern, die unempfindlich gegen die Chreeans waren. Ich fand aber nichts, was mir hätte nützen können. Das lag zum Teil daran, daß Danta‐Pyrt sich gegen sein Ende unter den Chreean‐ Kiefern verzweifelt gewehrt hatte. Mochte seine Unverwundbarkeit auch geschwunden gewesen sein, völlig kraftlos war er dennoch nicht gewesen. In seinem Todeskampf hatte er die Zentrale der DANTA schrecklich verwüstet. Überall starrte mir verbogenes Metall entgegen, aufgerissene Platten, geborstenes Glassit. »Sinnlos«, sagte Razamon nach kurzer Zeit. »Hier werden wir nichts finden.« Wir schickten uns an, die Zentrale zu verlassen. Asparg und seine Halbschwester schlossen sich uns an, aus welchem Grund auch immer. Wir rüsteten uns ein wenig aus, nahmen scharfkantige Trümmerstücke zur Hand, die in der Zentrale der DANTA zu Genüge herumlagen. Ob uns das gegen die Chreeans helfen würde, wagte ich nicht genau zu ergründen. Die Nagelprobe kam wenig später. Noch während wir auf der einen Seite die Zentrale verlassen wollten, tauchten auf der anderen Seite neue Chreeans auf. Es gab Dutzende von ihnen in der DANTA, und draußen lauerten weitere Scharen. »Könnt ihr sie aufhalten?« fragte ich die Magier. »Wir werden es versuchen«, sagte Asparg ruhig. »Aber verlaßt euch nicht auf uns.« »Danke für den Hinweis«, giftete Razamon. Ein Chreean, das sich zu nahe an den Pthorer herangewagt hatte, büßte es mit seinem Leben. Razamon war in seinem Element; der Kampf mit den Chreeans lag ihm, und die Tatsache, daß der geringste Fehler ihn Kopf und Kragen kosten konnte, wirkte auf den Berserker wie ein Stimulans. Doch auch er mußte einsehen, daß an einen echten Kampf mit den Mord‐Chreeans nicht zu denken war. Dazu waren die Tiere uns zahlenmäßig zu überlegen, und unsere Körperkräfte
waren naturgemäß begrenzt – früher oder später mußten sie uns zu fassen bekommen. In welcher Weise die beiden Magier in das Geschehen eingriffen, ließ sich für mich nicht feststellen. Mir fiel allerdings auf, daß ihre Gesichter nicht das kleinste Anzeichen von Furcht verrieten. Langsam zogen wir uns aus der DANTA zurück. Mein fotografisches Gedächtnis half mir, den Weg zur Schleuse zurückzuverfolgen. Dort wartete, genau wie ich es erwartet hatte, eine große Zahl von Chreeans auf uns. Offenbar hatten die Tiere die nähere Umgebung des Schiffes bereits gesäubert – und nun witterten sie in den Schiffen selbst Leben. Zu unserem Unglück waren die Gänge der DANTA breit genug für die Bedürfnisse der Uleb – mithin viel zu breit und hoch für uns Menschen. Das gab uns zwar genügend Bewegungsfreiheit, leider aber auch den Chreeans. Wären die Magier nicht gewesen, die es immer wieder auf geheimnisvolle Weise schafften, die Tiere abzulenken oder langsamer werden zu lassen, wir wären nach kurzem Kampf verloren gewesen. Obendrein mußten wir auf Grizzard achten, der als Kämpfer ein glatter Ausfall war. Der Mann entwickelte sich offenbar in immer stärkerem Maß zurück; das hing vermutlich mit der körperlichen und psychischen Belastung dieser Tage und Stunden zusammen. Wir mußten für ihn mitkämpfen und obendrein aufpassen, daß er bei seinen Versuchen, uns zu helfen, nicht unversehens mehr Schaden als Nutzen stiftete. Daß wir es überhaupt schafften, lebend und sogar ohne ernsthafte Verletzung aus der von Chreeans bedrängten Schleusenzone herauszukommen, verdankten wir vermutlich den beiden jungen Magiern, die zwar nicht sichtbar in die Kämpfe eingriffen, deren Wirken aber nicht zu verkennen war – andernfalls wären die Chreeans sicherlich nicht so zögernd, teilweise fast geistesabwesend
gewesen. Es tat gut, wieder frische Luft auf dem Gesicht zu spüren, als wir endlich im Freien waren. Der Kampf um das SCHLOSS schien entschieden – Sieger waren die Chreeans. Von den Dorkhern, die hereingedrängt waren, konnte man nicht viel sehen. Um so augenfälliger waren die anderen Spuren des Kampfes. Überall gab es reglos am Boden liegende Körper, dazwischen die Trümmer zerschossener Roboter. Aus der Stärke des Lärms in einer ganz bestimmten Richtung folgerte ich, daß dort die Dorkher und vor allem die Technos der ehemaligen Wache den Chreeans erbitterte Abwehrkämpfe lieferten. »Wir sollten uns mehr auf das Zentrum des SCHLOSSES zubewegen«, sagte Asparg ruhig. »Hast du dafür einen bestimmten Grund?« Ich wollte wissen, ob es dort vielleicht ein Mittel gab, die umherstreifenden Mordbestien zu bändigen – solange sie frei herumliefen, war auf Dorkh niemand seines Lebens sicher. Und wenn sie es gar schafften, sich vom SCHLOSS zu entfernen und ins weite Land zu verstreuen … ich wollte nicht schuld sein an dieser Katastrophe. Wenn es eine Möglichkeit gab, die Dorkher vor diesem schrecklichen Schicksal zu bewahren, wollte ich es wagen. »Dort sind wir vor den Chreeans sicher«, sagte Fiothra. »Und die anderen?« fragte ich scharf. »Die Bewohner Dorkhs?« Ich bekam keine Antwort. »Unter dem Kristalldach«, sagte Asparg langsam und lächelte mich ein wenig an, »gibt es einen Schacht.« Der Bursche wußte genau, was er wollte. Er dachte gar nicht daran, seine geheimnisvolle Erklärung abzuschließen. Er wartete vielmehr, bis ich ihn nach weiteren Einzelheiten ausfragen wollte. »Und? Was noch?« »Dieser Schacht«, sagte Asparg leichthin, »führt hinab zur Seele von Dorkh.«
Er wußte genau, wie diese Information auf mich wirken mußte. Er hatte die Wirkung genau kalkuliert. Man mußte auf der Hut sein vor diesen beiden, die so freundlich und harmlos aussahen. »Dann vorwärts«, sagte ich. Wir bewegten uns auf das Zentrum der SCHLOSS‐Anlage zu, auf das Kristalldach. Das sagte sich leicht, war aber eine höchst gefährliche Angelegenheit. In der DANTA war es nicht weiter schwierig gewesen, die Chreeans zu beeinflussen – sie hatten einigermaßen eng beieinander gestanden, und sie hatten sich auch nicht so flink bewegen können. Jetzt aber, auf der freien Fläche, wurde die Sache brenzliger. Wir mußten die Beine in die Hand nehmen, wenn wir nicht überfallen werden wollten. Sie kamen von allen Seiten herangeprescht, und ihre Absichten waren eindeutig. Ich konnte nicht abschätzen, ob es Absicht der Magier war oder ob ihre Fähigkeiten tatsächlich bereits erschöpft waren, jedenfalls hatten sie offenkundig alle Mühe, die Tiere einzeln anzupeilen und auf geheimnisvolle Weise zu beeinflussen, daß sie uns in Ruhe ließen. Ab und zu entwischte ihnen ein Chreean, und dann galt es zu laufen, was die Beine nur hergaben, wollte man nicht angefallen und in Stücke gerissen werden. Razamon begleitete unser Absetzmanöver mit einer Serie von Flüchen und Verwünschungen. Er sprach Pthora, und er ließ auch keinen Zweifel aufkommen, daß er nicht sehr viel von Magiern hielt, die nicht einmal in der Lage waren, ein paar Viecher zu bändigen – die beiden jungen Magier aus dem rätselhaften Land Shatna reagierten überhaupt nicht auf diese Tiraden. Unser Weg zum Zentrum der Anlage führte uns fast zwangsläufig an einem der kleineren Schiffe vorbei, die zu der Gesamtanlage gehörten. Ich zögerte an dieser Stelle. Ein Chreean, das in der Nähe gelauert hatte und sich nun fast
ohne einen Laut von sich zu geben vorpreschte und mit weit geöffnetem Maul nach mir zu schnappen versuchte, gab den Ausschlag. Während ich mich zur Seite warf und Razamon mit einem furchtbaren Fausthieb dem Leben der Mordbestie ein Ende setzte, faßte ich den Entschluß. »Wir werden in dieses Schiff eindringen und nach einer Möglichkeit suchen, die Chreeans zu stoppen. Und wenn wir keine finden, werden wir uns mit den anderen SCHLOSSHERREN in Verbindung setzen. Es darf unter gar keinen Umständen dazu kommen, daß sich diese Horde von Bestien über das wehrlose Dorkh ergießt.« Asparg zuckte nur mit den Schultern. »Wie du willst«, sagte er gelassen. Fiothra gab keinerlei Gemütsbewegung zu erkennen. Wir mußten vorsichtig sein, als wir in die PYRT eindrangen. Auch dieses Schiff hatte zu Danta‐Pyrts Befehls‐ und Wohnbereich gehört. Es war möglich, daß es an Bord Geheimnisse gab, die uns gefährlich werden konnten. Die im Freien herumgaloppierenden Chreeans waren ein mehr als deutlicher Beweis für die Geisteshaltung der Uleb, die darauf hinauslief, jedes nur denkbare Risiko einzugehen. Mit größter Vorsicht betraten wir daher die Schleuse des Schiffes. Im Innern war es hell. Die Energieerzeugung funktionierte also noch, sie reichte wenigstens für die Beleuchtung aus. Es reichte auch für den zentralen Antigravschacht. Hintereinander schwebten wir hinauf in die Zentrale des Schiffes. Der Raum war versperrt, aber nach kurzer Zeit gelang es uns, in die Zentrale einzudringen. Vielleicht gelang es von hier aus, sich mit den SCHLOSSHERREN in Verbindung zu setzen. Ich versuchte es, aber diese Anstrengungen mißlangen kläglich. Die Uleb hatten die Technik der Schiffe teilweise recht gründlich nach ihren eigenen Vorstellungen abgeändert, und mit ihrem Denkvermögen war es zum Teil nicht mehr sehr gut bestellt gewesen.
Nach einigen Minuten stellte ich meine Bemühungen ein. Vielleicht konnten die Magier uns weiterhelfen. »Könnt ihr eine Verbindung zu den SCHLOSSHERREN herstellen?« fragte ich Asparg. Er lächelte dünn. Fiothra trat plötzlich vor und ging zu den Geräten hinüber. Ich konnte nicht genau sehen, was sie machte, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen – buchstäblich. Ein großer Bildschirm wurde hell. Er zeigte die Zentrale eines der anderen Schiffe. Das Bild war eindeutig. Es zeigte zwei Chreeans, die sich gerade in diesem Augenblick aus der Zentrale absetzten. Ihr Opfer – besser: das, was davon übriggeblieben war – lag am Boden. Fiothra schaltete um. Eine neue Zentrale, das gleiche Bild. Es fehlten die Chreeans, aber der Rest war eindeutig – auch dieser Uleb war tot. In einem Winkel der Zentrale lag in Fetzen gerissen der sackartige Umhang, den sich der Uleb hatte schneidern lassen. Es war seltsam, wie gewisse Erinnerungen der Uleb das Durchschreiten des Wölbmantels überdauert hatten, während andere Informationen völlig in Vergessenheit geraten waren. So wußten die Uleb offenbar gar nicht, daß ihrem Volk die weitaus größte Gefahr von M‐87 gedroht hatte, nicht von den Menschen. Dies hatten sie vergessen – an ihre erdbraunen Kampfkombinationen hatten sie sich erinnern können. Ein neues Bild. Wieder ein Fehlschlag. Auch dieser Uleb war schon tot. Die letzte Waffe der Uleb hatte sich auf grausige Weise als Bumerang erwiesen. Der letzte der SCHLOSSHERREN lebte noch, als Fiothra ihn auf dem Bildschirm erscheinen ließ, aber auf den ersten Blick war zu sehen, daß das Leben dieses Wesens sich nach Minuten bemaß. Offenbar konnte der Uleb uns nicht sehen. Er stand still in der
Zentrale, fixierte die Optik, die ihn uns zeigte – oder waren magische Dinge im Spiel? – und bewegte sich keinen Millimeter. Dann stieß er einen kaum hörbaren Seufzer aus, und im nächsten Augenblick krachte der gewaltige Körper auf den Boden. »Das ist das Ende«, sagte Asparg. »Jetzt wird der Dunkle Oheim das Land zu sich holen.« »Warum hat er es nicht längst getan?« wollte ich wissen. »Es gibt auf Dorkh einige Ungereimtheiten.« »Wirklich?« fragte Asparg gelassen. Fiothra ließ den Bildschirm wieder dunkel werden. »Ich frage mich«, sagte ich halblaut, »warum unter diesen Umständen, die wir alle kennen, überhaupt intelligente Wesen auf den Dimensionsfahrstühlen mitreisen. Wäre es nicht einfacher, die anfallenden Arbeiten von einer Schar gut ausgebildeter Technos erledigen zu lassen?« »Technos zählen nicht«, sagte Asparg. »Nicht im gleichen Sinn, wie die anderen Bewohner des Dimensionsfahrstuhls. Und es gibt ein Gesetz des Dunklen Oheims, jedenfalls heißt es so. Nach diesem Gesetz müssen zu jeder Zeit intelligente Wesen auf Dorkh leben, und zwar mit einer Mindestzahl von Köpfen.« »Und warum das?« Asparg breitete die Arme aus. »Was weiß ich«, sagte er achselzuckend. »Es heißt so. Technos, so heißt es weiter, zählen in diesem Sinn nicht als Bewohner – der Dunkle Oheim wird wissen, warum.« Dorkh brauchte also stets eine gewisse Mindestbesatzung, das war eine interessante Information. Interessant war in diesem Augenblick der passendste Begriff, denn so wichtig diese Information auch sein mochte, so wenig half sie mir, Zusammenhänge zu erkennen. »Und wie erklärt sich die ungeheure Artenvielfalt auf Dorkh?« fragte ich weiter. Asparg deutete auf die Einrichtungsgegenstände der Zentrale. »Zum einen ist das eine Folge der GenManipulationen der Uleb«,
sagte er. »Zum anderen haben sie stets dafür gesorgt, daß nur sehr wenige Exemplare irgendeines Volkes mitgenommen wurden auf die Reise – sie hatten Angst, daß eines der Völker vielleicht so stark werden könnte, daß es in der Lage war, ihre eigene Machtposition zu gefährden.« »Spalte und walte«, murmelte ich. »Das alte Spiel. Je mehr Gegner einer hat, um so leichter fällt es ihm, sie gegeneinander auszuspielen.« »Die Uleb sind tot«, sagte Razamon. »Wer ist jetzt Herr über Dorkh?« Asparg lächelte vieldeutig. Sehr viel mehr würden wir einstweilen nicht an Informationen bekommen können, jedenfalls nicht an Bord des Raumschiffs, in dem wir uns befanden. Wenn wir einen Fortschritt erzielen wollten, dann konnte es für uns nur ein Ziel geben – die Seele von Dorkh. Ich sprach Asparg darauf an. Er bestätigte, daß sich der Zugang zur Seele im Innern der Kristallkuppel befände. In dem Schiff gab es für uns nichts mehr zu tun. Als wir uns dem Ausgang entgegenbewegten, konnten wir hören, daß sich in anderen Räumen Chreeans auf die Suche nach Beute gemacht hatten. Wir sahen zu, daß wir so schnell wie möglich aus dem Schiff herauskamen. Draußen war es ruhig. Die Chreeans hatten sich teilweise offenbar verstreut – sie konnten aber auch jederzeit wieder herangeprescht kommen. Ich sah mich um. Vor uns lag das Kristalldach. Ich hob gerade den Fuß, um den ersten Schritt zu machen, als der Boden erbebte. Ich wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. Dorkh war erwacht.
10. Aoore stieß einen lauten Schrei aus. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so wohl gefühlt. Das Chreean‐Gepann trabte friedlich, ein leichter Wind strich über das Land und wühlte ein wenig in Aoores Bart. Deela neben ihm lächelte zurückhaltend. »Niemals wieder«, sagte Aoore entschlossen, »niemals wieder werde ich den Rücken krümmen.« Deela sah ihn von der Seite an. »Das ist …«, begann sie, kam aber nicht weiter. Sie fand kein Wort, das Ungeheuerliche auszudrücken, das aus Aoores Worten hervorgeklungen war. »Setz dich auf«, sagte Aoore. »Es ist ein herrliches Gefühl, den Kopf heben zu können.« Deela schluckte heftig. Aoore sah zu, wie sie sich aufzurichten versuchte. Es kostete die junge Puntharenfrau Überwindung. Zu stark waren die Traditionen in ihr verwurzelt, als daß ihr diese fast revolutionäre Geste leichtgefallen wäre. Sie schaffte es aber. Ihr Gesicht wirkte verkrampft, als sie hoch aufgerichtet neben Aoore auf dem Bock des Lastkarrens saß. »Siehst du«, sagte Aoore zufrieden. »Es geht, und es macht sogar Spaß.« Deela lächelte ein wenig verkrampft. Aoore steuerte den Wagen nordwestlich, er wollte die Fläche zwischen dem Wald von Fryg und den Ruinen vom Gojarah erreichen. Dort erhoffte er sich eine leichtere und vor allem sicherere Zukunft für sich und Deela. Das Leben, das Puntharen normalerweise führten, gefiel ihm nicht mehr – er wollte frei und unabhängig sein. Längst lag das SCHLOSS hinter den beiden. Es sollte für sie eine Episode bleiben, wichtig, aber nicht von entscheidender Bedeutung.
Es interessierte Aoore nicht sonderlich, ob es den Dorkhern gelingen konnte, die Chreeans zu vernichten, vor denen Aoore und Deela geflüchtet waren. Es interessierte ihn auch nicht besonders, ob es den Aufständischen im Anschluß an den Kampf mit den Chreeans gelingen würde, die SCHLOSSHERREN zu vertreiben, zu töten oder doch wenigstens zu entscheidenden Zugeständnissen zu bewegen. Aoore wußte, daß sich dadurch an seinem eigenen Leben nichts ändern würde. Er war ein kleiner und unbedeutender Bewohner des großen Landes, und klein und unbedeutend würde er bleiben bis ans Ende seiner Tage. Er war nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem Führernaturen hervorgingen, Helden, Kämpfer, Sieger. Als Punthare war er an ein Leben in Demut und Unterwerfung gewöhnt gewesen, damit sollte es nach Aoores Willen zum Teil ein Ende haben. Zumindest in dem geringen Bereich seiner eigenen Entscheidungsfähigkeit wollte er sich niemals wieder irgend jemandem unterwerfen. Er warf einen Blick zur Seite und lächelte. Deela war wieder in sich zusammengesunken. Nur ihr Rücken war zu sehen, die typische Körperhaltung der Puntharen. Nun, sie würde lernen, den Kopf aufrecht zu halten, den Wind im Gesicht zu spüren, die sanfte Zärtlichkeit einer frischen Brise, den kräftigen Druck des Sturmwinds auf dem ganzen Leib. Das waren Erfahrungen, die ein Punthare nur höchst selten machte – sie hockten meist zusammengekauert in irgendeiner Bodenwelle, eng aneinandergepreßt, eine kompakte Masse geduckter Leiber. Aoore streckte die linke Hand aus. Puntharen konnten ihre Hautfarbe in einem weiten Bereich wechseln, sie der Umgebung anpassen. Dieser Fähigkeit verdankten sie ihr Überleben, die Unsichtbarkeit, in der sie lebten. Ein geschickter Punthare wurde, wenn er sich irgendwo zusammenkauerte, zu einem Bestandteil der Landschaft. Auch damit sollte es aus sein, hatte Aoore entschieden. Daraus erwuchs natürlich die Frage, welche Farbe der Haut er
künftig annehmen sollte. Er betrachtete das Farbenspiel auf der Haut der Hand, dann lächelte er und zuckte mit den Schultern. Was machte er sich Gedanken? Er wollte es ganz einfach dem Zufall überlassen, gar nicht darüber nachdenken. Als die Chreeans müde zu werden begannen, legte Aoore eine Pause ein. Der Umgang mit den Chreeans fiel ihm immer leichter, je länger die Fahrt dauerte. Er war selbst ein wenig überrascht über die vielen verborgenen Fähigkeiten, die offenbar bis zu diesem Tag unentdeckt und unbenutzt in ihm geschlummert hatten. Während er sich um die Tiere kümmerte, nahm sich Deela der Vorräte an. Die Lage der beiden war ein wenig kompliziert, denn sie stand in krassem Widerspruch zu allen Regeln, nach denen sich ein Puntharenleben zu richten hatte. Die beiden hätten unter normalen Umständen niemals beieinander sein dürfen, das war schon ein grober Verstoß gegen die guten Sitten. Und dann auch noch weit entfernt vom Sippenverband, ohne Aufpasser und ältere Gefährten und Freunde. Aoore kümmerte sich nicht lange um solche Dinge. Da er ohnehin dabei war, sehr viele angestammte Regeln über Bord zu werfen, kam es auf ein paar lästige Moralvorschriften auch nicht mehr an. »Wo wollen wir eigentlich hin?« fragte Deela später. Sie hatten ein kleines Feuer angefacht, über dem sie ihre Nahrung brieten. »Hast du einen Wunsch?« erkundigte sich Aoore höflich. Deela sah ihn verblüfft und ratlos an. Sie schüttelte den Kopf. Aoore rief sich das wenige ins Gedächtnis zurück, das er über Dorkh wußte. Er und Deela steckten jetzt irgendwo westlich des Waldes von Fryg. Sich dort anzusiedeln fiel Aoore nicht ein; Wald behagte ihm nicht, er versperrte die Aussicht, die er gerade erst gewonnen hatte.
»Wir könnten versuchen, ins Land der Zukahartos zu reisen«, sagte Aoore. Er war sich bewußt, wie kühn der Vorschlag war. Mit den Zukahartos war nicht zu spaßen, sie waren ein rauhes, kriegerisches Volk. Aber sie waren sehr weit vom SCHLOSS entfernt, auch das hatte Vorteile. Und es hieß auch, daß die Zukahartos kein armes Volk seien – auch das galt es abzuwägen. »Das ist sehr weit entfernt«, sagte Deela leise. Ihre Stimme zitterte ein wenig. Aoore spürte, daß sie noch immer stark in der Tradition verhaftet war. Sie sehnte sich ein wenig nach dem Sippenverband zurück. Aoore konnte das verstehen, aber er selbst hatte nicht die leiseste Lust, sich wieder einzureihen in den Verband der Unterdrückten. Hier draußen, auf dem weiten Land, war er zwar allein, aber er ging aufrecht, und das war das Ziel seines Lebens gewesen. Mehr hatte er nie erreichen wollen. Damals allerdings, als er davon geträumt hatte, war sein Ziel gewesen, zu denen zu gehören, die im Sippenverband aufrecht gehen dürfen – gleichsam der Adelskaste der Puntharen. Jetzt hatte das an Wert verloren. Er wollte nicht in den Verband zurück, er wollte sein Leben selbst in die Hand nehmen und voll verantworten. »Ich werde mit dir kommen«, sagte Deela leise. Sie lächelte. Aoore lächelte zurück. * In den frühen Morgenstunden brachen sie wieder auf. Der Weg führte hinein in ein Gebiet, das Aoore schon kannte – im Südwesten lag Tirn, die intakte Stadt, in Wegrichtung sollte irgendwo der legendäre Sprechpilz zu finden sein, und nordwestlich mußte die Brücke über den Cañon von Fryg zu
finden sein. Dazwischen lag weites Land, karg und dürr. Über dieses Gebiet waren die Puntharen oft gezogen, in diesem hügeligen Gelände konnten sie ihre überragende Tarnkunst voll ausspielen. Viel Leben war nicht zu sehen, als Aoore und seine Gefährtin über das Land zogen. Folgsam schleppten die Chreeans den schwerbepackten Karren, Aoore und Deela gingen daneben, um den Tieren die Arbeit zu erleichtern. Aoore brauchte geraume Zeit, bis er identifiziert hatte, was plötzlich in seinem Blickfeld aufgetaucht war. Puntharen. Ein ganzer Sippenverband bewegte sich durch das Gelände. Was es für Aoore so schwer gemacht hatte, diese Erkenntnis zu gewinnen, war die entsetzliche Tatsache, daß es ihm überhaupt keine Mühe bereitete, den Verband zu erkennen. Von der Seite waren die Puntharen mühelos auszumachen, ein Kinderspiel. Aoore schluckte heftig. Er stieß Deela an. »Siehst du?« fragte er. Die Frau war sehr bleich geworden. »Ja«, sagte sie tonlos. Tarnkunst der Puntharen? Ein Witz, ein Hohn. Kein Wunder, daß man über die Puntharen lachte, wo immer man sie antraf. Aoore hatte nie verstanden, wieso jeder, der ihn sah, ihn sofort als Punthare identifizierte und sich über ihn lustig machte. Jetzt begriff er, und es tat entsetzlich weh zu begreifen. Das ganze Volk der Puntharen lebte seit langer Zeit in einem fürchterlichen Wahn, einem sinnlosen Aberglauben. Es konnte keine Rede davon sein, daß die Puntharen mit der Landschaft gleichsam verschmolzen – jeder konnte sie sehen, es war entsetzlich einfach. Möglich, daß sich Tiere davon täuschen ließen, aber ein intelligentes Wesen konnte auf die Täuschungsmätzchen der
Puntharen niemals hereinfallen. Es war unerhört demütigend, das einsehen zu müssen. »Gehen wir hinüber?« fragte Aoore. Deela zögerte, dann machte sie eine Geste der Zustimmung. Aoore trieb die Chreeans an. Der kleine Zug setzte sich in Bewegung, auf die Puntharen zu, die sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit vorwärtsbewegten. Ihre Rücken waren tief herabgebeugt, damit man nur ihre tarngefärbte Haut sehen konnte. Wesentlich deutlicher aber war der hellglänzende Schweißfilm auf den Rücken, der weithin erkennbar machte, daß sich ein Verband der Puntharen von Ort zu Ort bewegte. Auf einem Hügel ließ Aoore seine Tiere anhalten. Er blieb stehen. »Heda!« rief er. »Wohin geht der Weg?« Die Puntharen hatten ihn gesehen und verharrten. Wer sich täuschen lassen wollte, konnte tatsächlich glauben, es mit einem flachen Felsstück zu tun zu haben. Wer offene Augen hatte, konnte jederzeit sehen, daß sich dort ein Sippenverband der Puntharen zusammendrängte, um nicht gesehen zu werden. Aoore wartete, bis sich aus den Reihen der Puntharen eine Gruppe löste. Eisiger Schrecken durchfuhr ihn, als er die Näherkommenden erkannte. Er hatte seinen eigenen Verband aufgespürt. Die Männer, die ihm entgegenkamen, waren seine Freunde. »Herr«, sagte der Vorgeher mit brüchiger Stimme. »Herr, wir sind nicht in der Lage, die Tribute schon wieder zu zahlen.« Aoore senkte den Blick. Unwillkürlich hatte er die Waffe in der Hand gehalten, die er einem Techno abgenommen hatte. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, daß auch Deela erkannt hatte, mit wem sie es zu tun hatten. »Ich will keine Tribute«, sagte Aoore sanft. »Dann laß mein Volk ziehen«, bat der Vorgeher. Aoore erinnerte
sich, wie er den alten Mann um seine Machtfülle und Größe beneidet hatte. Wie elend sah das alles jetzt aus. »Ihr braucht künftig keine Tribute zu zahlen«, sagte Aoore. »Die Herren des SCHLOSSES werden in diesen Stunden von aufständischen Bewohnern Dorkhs entmachtet.« Er wußte selbst nicht, woher er die Kühnheit nahm, so zu reden. »Künftig werden keine Fremden mehr kommen, um euch euer Eigentum zu nehmen. Mehr noch …« Aoore holte tief Luft. Längst hatte er eingesehen, daß niemand seiner Freunde ihn erkannt hatte. Einen Puntharen, der ein Chreean‐Gespann lenkte und eine Techno‐Waffe in der Hand hielt – einen solchen Puntharen konnte es nicht geben, also konnte man ihn auch nicht wiedererkennen. »Ihr werdet euch nicht länger verstecken müssen«, sagte Aoore. »Die Zeiten, in denen sich die Puntharen verkriechen mußten, sind für immer vorbei.« »Deine Worte klingen gut«, sagte der Vorgeher. Er hielt respektvollen Abstand von Aoore, wahrscheinlich traute er ihm nicht. Zu oft hatten die Puntharen unter scheinheiliger Freundschaft ihrer Feinde zu leiden gehabt. »Erlaube uns, Herr, daß wir weiterziehen«, sagte der Vorgeher. »Verstehst du mich nicht? Ihr seid frei, ihr könnt jetzt alle aufrecht gehen.« Der Vorgeher schüttelte langsam den Kopf. Durch den Block der Puntharen ging ein leises Seufzen. Jeder hatte die Worte hören können. »Vor langer Zeit«, sagte der Vorgeher, »hat man zu uns solche Worte gesprochen, und sie erwiesen sich als Betrug. Erlaube, daß wir unser Leben führen, wie wir es gewöhnt sind, wie es unsere Vorväter getan haben und unsere Enkel tun werden.« »Diese Zeiten sind vorbei«, sagte Aoore drängend. Er begriff aber, daß er vermutlich keinen Erfolg erzielen würde.
Vielleicht hatte der Vorgeher Aoore richtig verstanden, aber wahrscheinlich hatte er nicht die innere Kraft, die peinigende Demütigung hinzunehmen, jahrzehntelang einen Irrweg gegangen zu sein. »Laß uns die Wahl«, sagte der Vorgeher. Aoore spürte, daß der alte Mann an diesem Punkt eisernen Widerstandswillen zeigte – so bereitwillig er sich auch sonst den Befehlen vermeintlich Höherstehender gebeugt hatte. Der Rechtfertigungszwang, der auf dem Vorgeher lastete, war zu groß. Er zog den Weg einer fehlerhaften, aber gewohnten Illusion dem Weg in eine unerfreuliche Wirklichkeit vor. Der Bruch, den Aoore seinem Verband zumuten wollte, war einfach zu stark. »Eines Tages …«, begann Aoore. Er spürte, wie sich der Boden unter seinen Füßen bewegte. Ein Ruck ging durch das ganze Land. Der Horizont tanzte vor Aoores Augen. Unwillkürlich griff er mit beiden Händen um sich. Er suchte Halt. »Herr!« schrie der Vorgeher auf. »Was geschieht?« Offenbar hielt der Mann Aoore für den Urheber des entsetzlichen Phänomens. Aoore selbst wußte nicht, was um ihn herum geschah. Er hörte hinter sich Deela gellend schreien. Unglaubliche Angst überfiel Aoore. Vor einer Feuersbrunst konnte man weglaufen, sie vielleicht gar löschen. Gab es eine Überschwemmung, konnte man sich auf hochgelegenem Land in Sicherheit vor den Fluten bringen. Jetzt aber, da die Erde bebte, gab es nirgendwo eine Zuflucht, keinen Platz, an dem man sich vor den Gewalten der Natur in Sicherheit bringen konnte. Dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit legte sich lähmend auf Aoore und ließ ihn vor Angst erstarren. Das schreckliche Gefühl hielt an, es wurde nicht geringer. Im Gegenteil, das Grauen wuchs noch. »Seht!« schrie jemand. »Seht die Sonne! Sie stürzt herab!«
Blitze zuckten in wildem Stakkato über den Himmel, die Sonne begann hinter formlosen grauen Schleiern zu verschwinden. Aoore brach in die Knie. Die meisten Puntharen lagen flach auf dem Boden, heulten und schrien vor Angst und Entsetzen. Deela lag neben Aoore und wimmerte. Das Zittern und Beben des Bodens schien kein Ende nehmen zu wollen. Aoore hörte sein Herz hämmern, und er ging in Gedanken alle Dämonen und Götzen des Himmels und der Welt darunter durch, bat sie um Gnade und Verzeihung. Das SCHLOSS ist zerstört worden, dachte er, und das ist jetzt die Rache der SCHLOSSHERREN. Wir haben gefrevelt, und jetzt wird ganz Dorkh für den Frevel gezüchtigt. Die Chreeans wurden toll vor Angst. In ihrer Verzweiflung zerbissen sie die Gurte, die sie an den Karren geschirrt hielten, dann stoben sie in wilder ungezügelter Flucht davon, hinein in das tanzende, schaukelnde Land. »Mach ein Ende, Herr!« schrie der Vorgeher. Auch er lag flach auf dem Boden und hatte alle viere von sich gestreckt. »Laß Gnade walten, wir werden tun, was du gesagt hast.« Aoore wußte darauf nichts zu antworten. Am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen, aber das war ausgeschlossen. Jede Erschütterung des Bodens teilte sich seinem Körper sofort und deutlich mit. Es waren Augenblicke puren Grauens. Zu dem gräßlichen Knirschen des Bodens, dem Ächzen der Felsen und der Winde, kam nun ein weiteres Geräusch, ein Brausen wie von einem weit entfernten Wasserfall. Die Puntharen, die nichts anderes glaubten, als daß sie bald für ihre Widerborstigkeit ersäuft würden, schrien noch lauter. Flehentlich hoben sie die Hände. Aoore nahm das alles nur zur Hälfte wahr. Er hatte mehr als genug damit zu tun, die eigene schreckliche Furcht niederzukämpfen.
Nicht länger konnte man sagen, ob es Tag war oder Nacht, eine graue Dämmerung legte sich über das ganze Land. Und noch immer erklang das fürchterliche Brausen. »Ich habe davon sagen hören«, rief der Vorgeher. »Die Herren von Dorkh strafen so ihre ungetreuen Untertanen. Sie nehmen sie mit auf eine lange Reise.« Das Beben des Bodens hörte allmählich auf. Aoore war einer der ersten, der sich faßte. Hastig stand er auf. Sobald er begriffen hatte, daß es ihm und den anderen nicht ans Leben ging, kehrte der alte Mut in ihn zurück. Er raffte alles zusammen, was er an Entschlußkraft aufbringen konnte. »Steht auf«, sagte er. »Erhebt euch. Ich bin Punthare wie ihr, und ich sage euch, daß ihr niemals mehr eure Häupter beugen sollt, vor wem auch immer.« »Wir werden so handeln, wie du es verlangst«, sagte der Vorgeher. Er näherte sich Aoore fast kriechend. »Ich bin Aoore, ich war einer von euch. Jetzt bin ich euer neuer Vorgeher, und ich sage euch, daß ihr die Köpfe erheben sollt. Eine neue Zeit ist angebrochen.« Deela richtete sich neben Aoore auf und griff nach seiner Hand. Aoore sah, wie sich die ersten seiner Sippengenossen langsam erhoben, sehr zaghaft. Langsam und noch voller Furcht wurden die ersten Rücken gestreckt. Aoore sah ein Gesicht, dann zwei, immer mehr. Er lächelte. Er hatte mehr erreicht, als er sich jemals zugetraut hätte. Aoore sah hinauf zum Himmel. Mochte das fahle Grau andere erschrecken, ihn nicht mehr. Von irgendwoher kam Aoore zu der Einsicht, daß die Zukunft für ihn und seine Gefährten voller Verheißungen war. Dorkh war endlich erwacht.
ENDE Weiter geht es in Atlan Band 465 von König von Atlantis mit: Eine Handvoll Freiheit von Detlev G. Winter