Cover Hans Siebe Aktion Januskopf Spionageroman Militärverlag der DDR
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Cover Hans Siebe Aktion Januskopf Spionageroman Militärverlag der DDR
«Besuch wegen Krankheit nicht möglich. Liebe Grüße – Tante Minna.» Alfred Blaschke, Inhaber einer Annoncenannahmestelle in Leipzig, starrt mißvergnügt auf das lakonisch abgefaßte Telegramm. Der verschlüsselte Text fordert ihn auf, eine Nachricht im Toten Briefkasten bei Niemegk abzuholen. Noch immer kann er sich nicht daran gewöhnen, auf diese Art und Weise ständig neue, immer riskanter werdende Aufträge zu erhalten. Dabei fing vor Monaten alles so harmlos an … In seinem Geschäft erschien ein Mann, der verblüffende Ähnlichkeit mit ihm besaß. Noch wußte Blaschke nicht, daß dieser Grindel aus Frankfurt am Main nicht zufällig nach Leipzig gekommen war. Gern nahm er die Gelegenheit wahr, mit «kleinen» Kompensationsgeschäften das große Geld zu machen, verstrickte sich jedoch allmählich immer mehr in die Fänge seiner eigenen Raffgier. Als Blaschke merkte, was dieser Grindel bezweckt, war es zu spät. Der Bundesnachrichtendienst hatte Blaschkes Rolle als Doppelgänger Grindels eiskalt ins Kalkül gezogen, um ein großangelegtes Unternehmen gegen ein militärisches Objekt der DDR zu starten, die Aktion Januskopf.
Hans Siebe
Aktion Januskopf Spionageroman
Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik
1 Der Mann lag reglos im Bett. Sein Kopf dröhnte, als wollte er zerspringen. Sein Körper war in Verbände gehüllt, und auf seiner Brust schien ein Felsen zu lasten und ihm die Lungen zusammenzupressen. Langsam hob der Mann die Lider. Grelles Weiß blendete ihn. Er schloß die Augen. Doch bald blickte er sich wieder um. Die Umgebung bekam Konturen: ein Fenster in der Wand, dahinter, im Nebenraum, ein Frauenkopf mit Schwesternhaube. In der Glasscheibe spiegelten sich hinter dem Bett die Apparate, mit denen er mittels Schläuchen und Drähten verbunden war; über einen Bildschirm huschte eine Zackenkurve, begleitet von einem stereotypen Piepton. Der Mann hob den Kopf. Es kostete Kraft, er fiel auf das Kissen zurück. Langsam ordnete sich der Gedankensturm, der ihn durchtobte. Eduard Gronau, achtundvierzig Jahre alt, Doktor jur., war Ressortleiter einer Institution, die man diskret umschrieb, wenn nicht gar verleugnete, das kam auf die Umstände an. Bruchstückhaft erinnerte er sich. Da gab es das Frühstück mit flackernden Kerzen im silbernen Leuchter, ihm gegenüber Yvonne im Neglige, seine Yvonne, die so exzentrisch und eigenwillig, aber auch so zärtlich verspielt sein konnte. Yvonne stellte keine Ansprüche. Geschenke, die ein bescheidenes Preislimit überschritten, lehnte sie ab wegen des Verdachtes, sich zu prostituieren. Ihre Boutique «Yvonne» in der Nähe des Münchener Stachus, eines der verkehrsreichsten 5
Plätze in Europa, balancierte am Abgrund des Konkurses, seit jene Kundschaft rar wurde, die nicht auf Preisetikette blicken mußte. An zwei Abenden der Woche besuchte ihn Yvonne in seinem Appartement, er ging seltener zu ihr. Das enge Gelaß hinter dem Geschäftsraum diente vor allem Büro- und Atelierzwecken. Die hohe Ladenmiete verschlang so viel vom Ertrag, daß ein separates Domizil ein Wunschtraum blieb. Eine Bewährungsprobe hatte ihre Liebe bestanden, als Yvonne erfuhr, daß das Ressort, das Gronau in München-Pullach leitete, zum Bundesnachrichtendienst gehörte. Yvonne gestand, daß ihr diese Einrichtung unheimlich war. Gronau mußte ihr versichern, daß es dort nur seriöse Mitarbeiter gab, deren Aufgabe es war, die Pullacher Zentrale mit neuen Nachrichten zu versorgen. Gronaus Zustand wechselte. Auf Phasen quälenden Grübelns folgten Stunden, in denen er vor sich hin dämmerte; seine Schmerzen wurden mit Medikamenten erträglich gehalten. Die Beruhigungsmittel erschwerten es ihm jedoch, das Gedankenchaos zu ordnen. Merkwürdig, daß er sich an länger Zurückliegendes besser erinnerte als an jene Vorgänge, die zu seinem jetzigen Zustand geführt hatten. Eigentlich wollte Gronau in den diplomatischen Dienst. Er beherrschte akzentfrei Englisch, ausreichend Französisch und sprach Russisch so, daß er sich ohne Dolmetscher verständigen konnte. Doch während seiner Referendarzeit im Bayerischen Justizministerium stellte ein früherer Regimentskamerad seines verstorbenen Vaters die Weichen. Der im Ausbau begriffene Bundesnachrichtendienst, Nachfolger der Spionageorganisation Gehlen, bot einem aufstrebenden Doktor der Jurisprudenz bessere Chancen als die ministerielle Bürokratie. Gronau starrte grübelnd auf das Fenster. Nebenan, hinter der großen Glasscheibe, saß keine Schwester mehr, die ihn beobachtete. Dort hing jetzt ein weißer Vorhang. Plötzlich erinnerte er sich: Die Türglocke hatte angeschlagen. Sie saßen gerade beim 6
Frühstück, als Bondi vor der Tür stand. Bondi wohnte im selben Hochhaus wie Gronau. Er gehörte in Pullach zu einer Sonderabteilung, geriet oftmals in gefährliche Lagen, besaß aber jenes Quentchen Glück, das notwendig war, um riskante Situationen zu überleben. Bondi stand in gebleichten Jeans, schwarzem Rollkragenpulli und schaffellgefütterter Lederjacke vor ihm, das Bürstenhaar unbedeckt. Gronau fiel ein, daß Bondi von «verdammten Muselmännern» und Rauschgifthändlern gesprochen hatte, denen er «auf der Pelle» bliebe. An den Türken war man nicht interessiert, arbeitete aber der Militärregierung in Ankara zu, die bestimmte Informationen erbeten hatte. Eine Hand wusch die andere. «Die Türken! Bondi!» flüsterte Gronau und spürte, daß er der Lösung des Rätsels näherkam. Gronau schätzte die Einsätze der Sonderabteilung nicht. Er haßte Gewalttaten, schlug aber Bondis Bitte nicht ab, ihre Dienstwagen zu tauschen, da die Türken seinen roten BMW kannten und Gronaus blauer Opel-Rekord weniger auffiel. Die Szene nahm wieder Gestalt an: Bondi hob mit spitzen Fingern die Autoschlüssel und schüttelte sie wie ein Glöckchen. Gronau wurde unruhiger. Auf seiner Stirn perlte Schweiß. Der Vorhang, der die nachfolgenden Ereignisse verhüllte, wurde transparent. Sie tauschten Schlüssel und Fahrzeugpapiere; Bondi stieß ihm kumpelhaft den Zeigefinger in die Rippen, eine idiotische und bei dem Karatekämpfer schmerzhafte Angewohnheit, raste dann mit Dreistufensprüngen die Treppe hinab. Gronau fiel ein, daß Yvonne die Kerzen auf dem Frühstückstisch löschte, als er ins Zimmer zurückkehrte. In seiner Erinnerung klaffte eine Lücke. Doch dann sah er deutlich Yvonne vor sich, die sich in der Fahrstuhlkabine an ihn lehnte. Sie trug den hellblauen Samtmantel. – Die Tiefgarage war noch stark besetzt. Wer hier wohnte, begann seinen Arbeitstag spät. «Großer Gott», murmelte Gro7
nau, von einer furchtbaren Beklemmung gefoltert. Die letzten Schleier rissen. «Großer Gott, was ist mit Yvonne?» Yvonne wollte den roten BMW fahren. Gronau war an die Fahrertür getreten und schloß sie auf. Der Schlüssel drehte sich widerwillig. Das fiel ihm auf. Er öffnete die Tür für Yvonne und lief um den Wagen herum auf die rechte Seite. Yvonne, eine perfekte Fahrerin, glitt hinter das Lenkrad und steckte den Zündschlüssel ins Schloß. Bevor sie ihn drehte, beugte sie sich rechts herüber und entriegelte die Beifahrertür. Plötzlich spürte Gronau, wie sich eisige Kälte seiner bemächtigte. Ein Schüttelfrost packte ihn. Seine Zähne schlugen aufeinander; er schloß die Augen, doch das Geschehen wiederholte sich mit deutlicher Schärfe: Er öffnete die rechte Tür und neigte sich in den Wagen hinein; Yvonnes Mantel teilte sich und entblößte ihr rechtes Bein bis übers Knie, dann drehte sie den Zündschlüssel. Die Kontrollampe hätte rot aufleuchten sollen, statt dessen erfüllte ein feuriger Ball das Wageninnere. Heiße Glut fuhr Gronau ins Gesicht und versengte seine Brauen. Ein Krachen zerriß die Stille, und, wie von einer Titanenfaust ergriffen, wurde er rückwärts geschleudert. Danach wurde es still um ihn. Gronau lag wie erstarrt im Bett. Aus seinen Augenwinkeln rannen Tränen. Es bedurfte keiner Bestätigung. Yvonne war tot! Die Bombe war unter ihrem Sitz explodiert. Die Schwester wich seiner Frage nach Yvonne aus. Vom Stationsarzt erfuhr er: Der Sprengkörper hatte Yvonne beide Unterschenkel zerrissen. Sie war verblutet, bevor Hilfe kam. Gronau war in das Spezialkrankenhaus eingeliefert worden, und in der vertrauten Pullacher Umgebung, in der Heilmannstraße, machte seine Genesung rasche Fortschritte. Schon eine Woche später schaltete sich Gronau mehr und mehr vom Krankenzimmer aus in den Dienstbetrieb ein … Der stellvertretende Ressortleiter Wiese unternahm seinen zweiten Krankenbesuch dienstlich. Statt Blumen brachte er Verschluß8
sachen mit. Wiese war von hünenhafter Figur und besaß beträchtliches Übergewicht. Nach zwanzig Dienstjahren als Offizier bei der Bundesmarine war er zum Bundesnachrichtendienst gekommen. «Bondi läßt sich nicht blicken!», sagte Gronau nach der Begrüßung, als sie sich in den knarrenden Korbsesseln gegenübersaßen. Der Blick schweifte aus dem bis auf den Boden hinabreichenden Fenster über das spätwinterliche waldige Gelände. Ein Laie vermochte kaum zu ahnen, welchen Umfang die Verwaltungsbauten, die EDV-Anlagen in Bunkern, die Labors und die Spezialwerkstätten der BND-Zentrale einnahmen. Ein Tunnel unterquerte die Heilmannstraße und verband die beiden Geländekomplexe miteinander. In Wieses meist ausdrucksloses Gesicht kam Leben. «Sie wissen es nicht?» «Was? Wovon reden Sie?» Gronau blickte fragend auf sein Gegenüber. «Sie haben noch nicht von seiner Kollision gehört?» Gronau schüttelte stumm den Kopf. Er war es gewöhnt, daß Wiese maritime Ausdrücke verwendete. An dem Tag, da in München die Bombe in dem roten BMW hochging, war Bondi zwischen Erlangen und Nürnberg mit einem amerikanischen Armeelastwagen zusammengestoßen, dessen Fahrer unter Rauschgift stand. Bondi lag mit einer Unterschenkelfraktur im Krankenhaus. «Und der Opel?», fragte Gronau ahnungsvoll. «Totalschaden», erklärte Wiese beiläufig und versuchte Gronau wieder einmal davon zu überzeugen, daß die Astrologie eine ernst zu nehmende Wissenschaft sei. Vor riskanten Unternehmungen ließ auch Bondi sein Horoskop stellen; für den Unfalltag war ihm größte Vorsicht empfohlen worden. Gronau beschlich das ungute Gefühl, daß Bondi mit dem Tausch der Dienstfahrzeuge das Schicksal hatte überlisten wollen. «Mann, Wiese, verschonen Sie mich mit dem Stuß! Wechseln wir das Thema!» 9
Wiese öffnete die Mappe. «Zuerst das Wichtigste, den Kleinkram danach», forderte Gronau. «Felix meldet aus Bardenberg: Das NVA-Gelände bekommt einen Maschendrahtzaun und wird elektronisch gesichert!» Wiese nutzte die Pause, in der Gronau nachdachte, um seine feuchte, rosig durch das spärliche weiße Haar schimmernde Kopfhaut mit einem blütenweißen Taschentuch – Wiese nannte es Sacktuch – zu betupfen. Felix gehörte zur Kategorie I der in der DDR etablierten Agenten; seine Berichte wurden in der Datenbank als zuverlässig gespeichert. Dagegen hieß es in der offizielle «Bonner Lesart», daß die Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik von Resignation befallen waren, unter Versorgungsmängeln litten und darauf warteten, von der NATO befreit zu werden. «Was halten Sie von der Meldung?», fragte Gronau endlich. «Die Russen haben ein neues Radar entwickelt.» Wiese berichtete damit nichts Neues. Daß seit Jahren an dieser Entwicklung gearbeitet wurde, war bekannt. Nun schien man am Ziel zu sein, und erstaunlich fand Gronau, daß sie dieses neue System einem Verbündeten in die Hand gaben. «Die Meldung wird überprüft!», befahl er. Wiese nickte. Er hatte es bereits angeordnet, erwähnte es aber nicht. Gronau erhob sich und durchmaß sein Krankenzimmer. Es war sieben Schritte lang und fünf Schritte breit. Mehr als sein Appartement vermißte er seinen Arbeitsraum. Dort hing an der Stirnwand eine Karte des Gebietes zwischen Elbe und Oder. «Sagen Sie, Sie nannten vorhin Bardenberg. War da noch was?» Wiese blätterte in den Meldungen von Felix. In dem Städtchen wurde jetzt Industrie aufgebaut, bisher produzierte nur eine Spielzeugfabrik. Das Netz des BND, das über der Karte der DDR ausgebreitet lag, wies Lücken auf. Die Frage, weshalb in Leipzig kein Resi10
dent, ja nicht einmal ein V-Mann existierte, war Gegenstand eines Vortrages beim Ministerialdirigenten gewesen. Gronau erinnerte sich ungern an diese halbe Stunde. Der dortige VMann war an einem Herzleiden verstorben. Gronau traf der Vorwurf, nicht beizeiten für Ersatz gesorgt zu haben. Einen zweiten Felix hätte er einsetzen müssen. Der hundertfünfzig Kilometer von Leipzig entfernt wohnende «Felix» hatte eine Schlüsselstellung. Er besaß eine solide Ausbildung und arbeitete in günstiger Position. Wiese beendete seinen Rapport mit internen Tagesneuigkeiten aus der Zentrale. Er wußte, daß Gronau sie interessiert zur Kenntnis nahm. Es zahlte sich gelegentlich aus, über den Hausklatsch auf dem laufenden zu sein. «Das war’s, Herr Gronau! Darf man hoffen, daß Sie bald wieder Dienst tun werden?» Gronau musterte seinen Stellvertreter. Das breitflächige Gesicht blieb so ausdruckslos wie immer, dennoch glaubte er, daß es keine Floskel gewesen war. Der Hinweis in der Personalakte des ehemaligen Kapitäns zur See, es mangele ihm an Entscheidungsbereitschaft, stammte von Gronaus Hand. «Da ist noch eine Kleinigkeit», sagte Gronau, als Wiese Anstalten traf, sich zu erheben. «Ich habe die Zeitungen durchgesehen und …» «Die den Vorfall betreffenden Artikel sind erfaßt!», unterbrach Wiese. «Das ist klar», antwortete Gronau. Sein Sekretariat hatte die Schlagzeilen aller Artikel, die sich mit dem Vorfall beschäftigten, rot unterstrichen. Sie unterschieden sich in der Wortwahl nur entsprechend der Seriosität des jeweiligen Presseorgans: «Bombe im roten BMW» – «Anschlag auf Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes» – «Geliebte starb anstelle des vorgesehenen Opfers» – «Bombe zerriß Inhaberin der Boutique ‹Yvonne›»! Die korrekteste Meldung druckte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» auf der Innenseite des Titelblattes: «Bombenattentat auf den Leiter des Ressorts ‹Ostdeutschland› im 11
Bundesnachrichtendienst. Der Beamte wurde erheblich, seine Begleiterin tödlich verletzt!» Gronau zitierte den Wortlaut und schloß: «Ich habe an den folgenden Tagen vergeblich die Berichtigung gesucht, daß der Anschlag nicht mir gegolten hat.» Wiese hob und senkte seine massigen Schultern. Sein Gesicht blieb teilnahmslos. «Weisung vom Chef: kein Dementi!»
2 Der D-Zug 204 von Berlin über Erfurt und Gotha nach Frankfurt am Main und Basel hielt in Bebra, der ersten Bahnstation in der BRD. Zwei Herren mit schmalen Aktentaschen stiegen ein, ehe der Zug anruckte und wieder Fahrt aufnahm. Sie liefen zielstrebig den Gang entlang zum Dienstabteil und begrüßten den Zugbegleiter wie einen alten Bekannten. Der ältere Fahrgast entnahm seiner Tasche eine Zigarrenschachtel, eine gängige Sorte, und reichte sie dem Bahnbeamten, der das Präsent ohne Zieren und mit dem Gestus der Gewohnheit entgegennahm. Die Herren sanken auf die Polster nieder und stellten die gewohnten Fragen. Doch sie erfuhren von dem Beamten der Bundesbahn nichts Neues: Anfang März war der Zug nur spärlich besetzt. Die Hauptreisezeit begann im Mai. «Diesmal interessieren uns Leute von drüben», erklärte der Ältere, «die auf diesen Bahnhöfen zugestiegen sind!» Er reichte dem Zugbegleiter einen Zettel, auf dem etliche Bahnstationen in der Deutschen Demokratischen Republik notiert waren. Der Bahnbeamte las und nickte. «Sie haben Glück.» Er hatte bei Dienstantritt in Bebra einen ersten Kontrollgang unternommen und erinnerte sich eines Reisenden, dessen Fahrkarte auf einem Bahnhof gelöst worden war, der auf dem Zettel notiert war. Er nannte das Abteil. 12
Der passionierte Zigarrenraucher kerbte mit einer Spezialklinge seines Taschenmessers das Mundstück der Tabakrolle. «Wer hätte gedacht», sagte er, «daß man beinahe vierzig Jahre nach dem Krieg noch Vermißte sucht?» «Ja», bestätigte der Ältere, «es gibt noch immer … zig Tausende unaufgeklärte Schicksale!» «Ab und an gelingt es uns, ein solches Geschick aufzuhellen», assistierte ihm sein jüngerer Begleiter. «Ohne Erfolgserlebnisse wäre unsere Tätigkeit deprimierend», schloß der Ältere. Der Rentner Josef Sauer hatte unruhig vor sich hin gedöst. Die ungewohnt lange Bahnfahrt machte müde. Als ein neuer Fahrgast ins Abteil kam und sich ihm gegenüber setzte, reckte sich der alte Mann gähnend. Vielleicht komme ich mit dem ins Gespräch, dachte er. Draußen flogen winterbraune Wiesen vorüber und reizten wenig zum Betrachten. Die Bäume und Sträucher standen melancholisch kahl da und schienen zu frieren. Auf einem Telegrafenmast saß ein Bussard. Der vorbeidonnernde Zug störte ihn nicht. «Sobald einer aus dem Fenster sieht, weiß er, daß er im Westen ist», sagte Josef Sauer zu seinem Gegenüber, «so kleine Äcker gibt es bei uns nicht mehr!» «Sie kommen von drüben?», fragte der Mann. «Ja. Ich fahre zu meinem Bruder!» Der Bann war gebrochen, ein Gespräch kam zustande. Der Mann aus dem Ruhrgebiet steuerte wenig dazu bei, hörte aber interessiert zu. Die Sauers stammten aus Pommern, das jetzt polnisch war. Nach dem Krieg hatte es sie in den Süden der Republik verschlagen. Der ehemalige pommersche Landarbeiter wurde Neusiedler und später Genossenschaftsbauer; Josef zählte die Stationen seines Lebens auf. «Mein Bruder ist als Soldat im Hessischen klebengeblieben. Da gab’s einen Flugplatz, und Albert war bei der Flak. Viele 13
Heimatsoldaten unterhielten ein Bratkartoffelverhältnis, aber Albert heiratete sein Mädel mitsamt der Bäckerei auf’m Dorf!» Nun freute sich Josef auf den Bruder und aufs Schweineschlachten, auf pommersche Blutwurst, die in Gantentin keiner kannte. Ein jüngerer Herr trat ins Abteil, zeigte seinen Ausweis vom Deutschen Roten Kreuz und wandte sich an Josef Sauer. «Der Zugbegleiter sagte, daß Sie Ihre Fahrkarte in Bardenberg gelöst haben?» «Stimmt, mit ’n Personenzug bis Gotha, dann den D-Zug!» Sauer zückte seine Fahrkarte, aber der Herr winkte ab. Der Reisende aus dem Ruhrgebiet verließ das Abteil und suchte den Speisewagen auf. Der DRK-Mann setzte sich auf seinen Platz. Josef erfuhr, daß der Suchdienst um die Aufklärung von Vermißtenschicksalen bemüht war. Es ging diesmal um den Verbleib eines Mädchens, das neunzehnhundertvierundvierzig drei Jahre alt gewesen war und bei der Auflösung eines Kinderheimes Pflegeeltern in Bardenberg übergeben wurde. Josef Sauer meinte, da könnten doch besser die Behörden helfen. «Das haben wir selbstverständlich sondiert», erklärte der Herr vom Suchdienst, «aber in diesem Falle bekamen wir keine Auskunft. Der Antragsteller, der Bruder der Gesuchten, ist Flüchtling, verstehen Sie? Er hat die Zone, ’tschuldigen Sie, die DDR heimlich verlassen! Die Frau ist jetzt dreiundvierzig Jahre alt!» «Ich glaube nicht, daß die Republikflucht ein Grund ist, die Nachforschung zu behindern», sagte Sauer. «Ich würde natürlich helfen, aber wie?» «Wohnen Sie in Bardenberg, Herr …?» «Sauer! Josef Sauer! Nee, in der Stadt nicht, aber im Kreis, in Hellstett, LPG ‹Thomas Müntzer›!» Der Herr vom DRK entnahm seiner Aktentasche ein Foto und reichte es Sauer. «Eine abgelichtete Handzeichnung, auf Grund eines Kinderbildes und nach Familienfotos; so etwa könnte die Frau jetzt aussehen!» 14
Sauer blickte ratlos auf das unnatürlich wirkende Bild und kratzte seinen Schädel. Sein Gegenüber bot ihm eine Zigarre an. «Wie weit liegt denn Hellstett von Bardenberg entfernt, Herr Sauer?» «Sieben Kilometer, aber man muß über Lüsing, da werden’s dann fünfzehn!» «Das Doppelte? Das gibt es bei uns auch. Eine Baustelle?» «Nee, Sperrgebiet, wenn Sie wissen, was ich meine?» «Doch, ja, das ist kein Geheimnis. Wenn man im Transit nach Westberlin fährt, sieht man unterwegs öfter solche Schilder: Fotografieren verboten! Betreten verboten! Meist ist es militärisch. Die Russen?» «Bei uns sind keine», sagte Sauer. Der Mann vom DRK forderte seinen Widerspruch heraus. Der Mitarbeiter des Suchdienstes sprach wieder von dem Foto, und Josef glaubte, das Sperrgebiet interessiere ihn nicht. «In unserer Genossenschaft gibt es zwei Frauen, die so ähnlich aussehen.» «Das ist doch schon was! Reden Sie mit denen! Sie bekommen unsere Anschrift, paar Zeilen genügen!», erklärte Sauers Gegenüber freundlich. «Dann ist da noch die Anna Garbe», sagte Josef, «die arbeitet bei der NVA in der Küche. Was die an Abfällen heimschafft, davon füttern Garbes ’n Schwein! Doch – die Anna hat Ähnlichkeit!» «Da hat Hellstett wohl Garnison?» «Nee, man nicht, nur die Radarstation nach Bardenberg zu!» «Wegen der Sie es doppelt weit haben in die Kreisstadt! Das gibt es hier auch, gesperrtes militärisches Gelände! Aber die Einheimischen wissen, wie man trotzdem den Weg abkürzt!» Josef gab ihm recht und berichtete, daß sein Jagdkollektiv eine Sondererlaubnis bekam. «Aber damit ist es vorbei, wenn erst der Zaun steht. Die Betonpfosten werden schon gesetzt. Nee, die Anna Garbe kann es nicht sein», fiel Josef dann ein, «die hat man längst die Fünfzig hinter sich!» 15
Der junge Mann schien enttäuscht, überließ ihm eine zweite Zigarre und einen Zettel mit der Adresse, an die Josef schreiben sollte, falls er erfolgreich war. Er verabschiedete sich mit herzlichem Händedruck. In der Abteiltür stieß er mit dem Reisenden aus dem Ruhrgebiet zusammen, der mit zwei Bierbüchsen, eine war für Josef Sauer bestimmt, aus dem Speisewagen zurückkehrte. Der Zugbegleiter hatte Irmgard Teichert höflich gefragt, ob sie sich ins Dienstabteil bemühen möchte, wo sie ein Herr vom Suchdienst des Roten Kreuzes erwartete. Nun saß sie dem seriösen älteren Mann gegenüber, der seinen Ausweis zeigte und wortreich erklärte, daß ihm die Aufklärung eines Vermißtenschicksals am Herzen läge. Etwas in seiner Stimme ließ Irmgard Teichert aufhorchen. Die ehemalige Meisterin in einem Porzellanwerk war Mitglied der Konfliktkommission und jahrelang Schöffin gewesen. Sie vermochte echte und falsche Töne zu unterscheiden. Dieser Mensch macht mir falschen Leim warm, dachte sie, was will er wirklich? Die Fragen nach einem neunzehnhundertvierundvierzig verlorengegangenen dreijährigen Mädchen klangen viel zu unbestimmt und waren nicht konkret genug. Sie schienen ein Vorwand zu sein, aber wofür? Der Mitarbeiter des Suchdienstes spürte, daß ihm eine lebenserfahrene Frau gegenübersaß, die seinen Fragen geschickt auswich oder nichtssagende Antworten gab, um danach Fragen an ihn zu richten, die ihn in die Verteidigung zwangen. «Entschuldigen Sie meine Offenheit», sagte der Mann schließlich, «aber ich habe den Eindruck, daß Sie meiner Bitte, bei der Aufhellung eines Vermißtenschicksals zu helfen, ablehnend gegenüberstehen?» «Mit gleicher Offenheit frage ich Sie, was Sie wirklich von mir wollen? Die DRK-Stellen der DDR und der BRD arbeiten seit Jahrzehnten erfolgreich zusammen, wie mir bekannt ist. Sie sind auf so primitive Befragungen nicht angewiesen! Was wollen Sie denn wirklich aus mir herausholen?» Die Verbindlichkeit wich aus dem Gesicht des Mannes. Es 16
wurde abweisend kühl. «Ich weiß mir Ihr Mißtrauen zwar nicht zu erklären und bedaure es im Namen des Betroffenen. Unter diesen Umständen ist aber kein ersprießlicher Kontakt möglich. Betrachten wir das Gespräch als beendet!» Irmgard Teichert nickte und erhob sich; an der Tür des Dienstabteils wendete sie sich zurück und erklärte: «Sie erinnern mich an einen Herrn vom Meinungsforschungsinstitut, voriges Jahr war das, in Hanau! Wie dreckig es uns in der Deutschen Demokratischen Republik geht, wollte er von mir wissen! Sie sind nicht auf dem laufenden, habe ich ihm gesagt, zweieinhalb Millionen Arbeitslose haben Sie und nicht wir! Guten Tag!» Die Abteiltür krachte zu. Der positive Bescheid seines Kollegen zerstreute den Ärger des älteren Befragers nicht. Doch verschwieg er, durchschaut worden zu sein. Ein Vertreter für Haushaltsgeräte pflegte auch nie die vor der Nase zugeschlagenen Türen zu zählen, sondern die getätigten Abschlüsse.
3 Grindel ließ seinen Opel-Rekord in München zurück und nahm den Bus nach Pullach. Den Einlaß ins BND-Gelände, in der Heilmannstraße dreiunddreißig, wollte er unauffällig passieren. Seine Legende als Einkäufer der Im- und Exportfirma «Siering und Fengler» durfte er nicht gefährden. Im Warteraum der Einlaßkontrolle verweilte Grindel einige Minuten. Als Angehöriger der Frankfurter Außenstelle besaß er keinen Hausausweis. Auf dem Monitor des Offiziers vom Dienst erschienen codierte Daten und die Weisung: kann passieren! Doktor Gronau empfing Grindel in seinem Dienstzimmer. Der Frankfurter ahnte nicht, daß dies eine Auszeichnung war 17
und gewöhnlich ein Sprechzimmer benutzt wurde. Gronau trug im Gesicht noch Spuren der Bombenexplosion und benutzte seinen linken Arm unbeholfen. Doch einen Genesungsurlaub hatte er abgelehnt. Auf seinem Schreibtisch stand das Bild einer attraktiven Frau mit dunklem Pagenschnitt und schräggestellten Augen. Ein schwarzes Band bedeckte die linke obere Bildecke. Grindel erinnerte sich, daß Gronau bei einem Bombenanschlag knapp mit dem Leben davongekommen war. «Nehmen Sie Platz, Herr Grindel!», forderte Gronau nach der Begrüßung und drückte einen Knopf der Wechselsprechanlage. «Herr Grindel ist da!» Der Besucher sah sich um. Man wurde selten nach Pullach zitiert, den Kontakt zur Zentrale unterhielt der Prokurist von «Siering und Fengler». Grindel fühlte sich von Gronau gemustert. Es klopfte. Der hünenhafte Wiese trat ein. Gronau machte die Männer miteinander bekannt. Beide begnügten sich mit einem Kopfnicken. «Weshalb wir Sie hergebeten haben, Herr Grindel …» Gronau verstummte, denn eine jüngere Mitarbeiterin brachte ein Tablett mit Kaffeegeschirr herein. Hergebeten ist gut, dachte Grindel, es war ein Befehl gewesen. «Es geht um Ihren Leipziger Bericht, der einen gewissen Blaschke betrifft!», fuhr Gronau fort, nachdem die junge Frau wieder gegangen war. Grindels wachsame Haltung entspannte sich. Erleichtert lehnte er sich in den Klubsessel zurück. Gronau nahm es interessiert zur Kenntnis. Es gab anscheinend Gründe zur Besorgnis, wenn man unvermutet in die Pullacher Zentrale beordert wurde. Grindel fand erfreulich, daß Doktor Gronau um eine gelockerte Atmosphäre bemüht war. Nach einem fragenden Blick auf seinen Chef rauchte Wiese einen Zigarillo an. «Ich bitte Sie um einen umfassenden Bericht, Herr Grindel», fuhr Gronau fort und nickte dem Frankfurter ermunternd zu. «Sie meinen von Anfang an?», fragte dieser ungläubig. Das 18
Verlangen erschien ihm ungewöhnlich. Die Kontakte mit dem Leipziger waren in den Rapporten aktenkundig. Was interessierte Doktor Gronau darüber hinaus? «Von der ersten Begegnung an», bestätigte der. «Die liegt ein halbes Jahr zurück», gab Grindel zu bedenken. Doch er erinnerte sich genau, wie alles anfing. In Frankfurt war er Stammgast in einem Restaurant nahe dem Bahnhofsviertel. Manchmal setzte sich ein Einkäufer aus der Rauchwarenbranche an seinen Tisch, ein voller Anekdoten steckendes Unikum. So auch an diesem, ein paar Monate zurückliegenden Tag … «Stellen Sie sich vor, ich habe Sie vorige Woche im Leipziger Ringmessehaus getroffen!», behauptete der Einkäufer. Da Grindel die Leipziger Herbstmesse nicht besucht hatte, glaubte er, es handele sich um einen Scherz. Sein Tischnachbar versicherte aber ernsthaft, einem Doppelgänger Grindels begegnet zu sein. Blaschke hieß er und war Inhaber einer Annoncenannahme für die DEWAG-Werbung und eines Zettelaushanges in Leipzig-Gohlis. Um auch den letzten Zweifel zu zerstreuen, gab ihm der Einkäufer Blaschkes Geschäftskarte. Blaschke ließ grüßen und lud ein, ihn zu besuchen, falls Herr Grindel einmal in Leipzig zu tun hatte. Doktor Gronau blätterte in der Akte, die vor ihm auf dem Rauchtisch lag. Grindel sah, daß es seine Leipziger Rapporte waren. Gronau entnahm ein Foto. Grindel hatte es ohne Blaschkes Wissen mit einer als Feuerzeug getarnten Minox-Kamera geschossen. Gronau betrachtete das Bild. «Ihre Ähnlichkeit mit dem Leipziger ist groß. Flüchtige Bekannte werden Sie zweifellos verwechseln. Sieht man Sie aber beide nebeneinander, kann man sicherlich unterscheiden, wen man vor sich hat!» Sein Stellvertreter Wiese langte stumm nach dem Bild, erbat Grindels Personaldokument und verglich beide Fotos. Er kam zu dem Schluß, daß Grindel wie auch Blaschke sich unbeanstandet mit den Dokumenten des jeweils anderen auszuweisen vermochten. 19
Gronau und Wiese tauschten einen Blick stummer Übereinstimmung. Grindel bewertete ihn als Schlußpunkt unter eine bereits getroffene Absprache. Zweifellos betraf sie seinen neuen Einsatz. «‹Siering und Fengler› unterhalten geschäftliche Beziehungen zu den Leuna-Werken», erklärte Grindel. «Ich weiß», bestätigte Doktor Gronau, maliziös lächelnd. Die Frankfurter Firma unterhielt zu einigen RGW-Ländern Handelsbeziehungen. «Meist steige ich im Leipziger Interhotel ‹Astoria› ab», berichtete Grindel. Das wußte Gronau, der ja die Rapporte kannte. Grindel schilderte seinen ersten Besuch bei Blaschke. Vor dessen Laden befand sich eine Straßenbahnhaltestelle. Grindel hatte seinen Opel-Rekord mit dem Frankfurter Kennzeichen in einer Nebenstraße geparkt. Eine exquisite Kiste Zigarren sorgte für eine aufgeschlossene Atmosphäre. «Beschäftigt Blaschke Angestellte?», fragte Gronau. «Ja, einen jungen körperbehinderten Mann», antwortete Grindel. Das unbestimmte Gefühl, der ihm so verblüffend ähnliche Leipziger könnte vielleicht einmal von Nutzen sein, bewog Grindel damals zu einem spontanen Entschluß. Auf einem ausgehängten Zettel suchte jemand eine Quarzarmbanduhr zu kaufen. Grindel überließ Blaschke seine Quarzuhr. «Ein paar DDR-Mark extra fand ich gar nicht schlecht», gestand Grindel, verschwieg aber, daß er öfter auf seinen Reisen nebenher Geschäfte tätigte. «Blaschke kam auf den Geschmack?» Gronau wußte es aus der Akte. Grindel lachte. «Das kann man sagen! Er hat sich rasch gemausert. Aus dem kleinen Krämer, der kaum hundert Mark Tageskasse machte und der die Annoncen mit einem Finger auf seiner alten ‹Adler› tippte und in seinen Glaskästen aushängte, wurde ein Kofmich, der mit Tausenden hantiert!» Gronau nickte. Bei «Siering und Fengler» hatte man Grindels Vorschlag akzeptiert und den Schwarzhandel mit Blaschke 20
intensiviert. Der lieferte im Gegenzug Antiquitäten und wertvollen alten Schmuck. Grindel ahnte nicht, daß Gronau bereits im Frühwinter des vergangenen Jahres die Frankfurter Handelsfirma angewiesen hatte, den Leipziger stärker ins Geschäft zu bringen. Doch seit Felix aus Bardenberg gemeldet hatte, daß es in der dortigen Funktechnischen Einheit umfangreiche Veränderungen gab, dachte Gronau weiter. Grindels Schilderungen der mehr als zwei Dutzend Kontakte mit Blaschke überzeugten Gronau. Der Leipziger war längst ein Opfer seiner eigenen Habgier geworden und nicht mehr willens, sich aus der Verstrickung illegaler Geschäfte zu lösen. «Was halten Sie davon, mit Blaschke Tacheles zu reden?» «Doch, ja», erwiderte Grindel, «er ist reif. Seit vier Wochen verständigen wir uns illegal. Ich habe ihm erklärt, daß ich bei meinen Transitfahrten von und nach Westberlin Kontakt mit ihm halte, ohne die Transitstrecke zu verlassen.» «So naiv kann er nicht sein», äußerte Wiese, «um nicht längst zu wissen, woher der Wind weht.» «Kommen wir zur Sache!», forderte Doktor Gronau. Grindel maß ihn erstaunt. Seine bisher vage Vermutung, daß sein Bericht dazu diente, eine längst gefallene Entscheidung zu untermauern, verdichtete sich zur Gewißheit. «Bitte, Herr Wiese!» Gronau wandte sich an seinen Stellvertreter. Der erklärte: «Das neue Angriffsziel ist eine Funktechnische Einheit bei Bardenberg. Ihr Auftrag läuft unter dem Kennwort ‹Hügel›! Fotografieren Sie zunächst an mehreren Werktagen die vor der Dienststelle parkenden PKWs!» Grindel nickte. Der Einfall war nicht neu. Fahrzeuge, die täglich dort parkten, gehörten Offizieren oder zivilen Mitarbeitern dieser Dienststelle. Ein Rattenschwanz komplizierter Erkundungen folgte dann. Die PKW-Besitzer waren zu ermitteln und darauf auszuforschen, ob sich zu einem unter ihnen Kontakte herstellen ließen. Ein langwieriges und riskantes Unternehmen. 21
«Vor militärischen Objekten besteht meist Halteverbot», gab Grindel zu bedenken. «Außerdem fällt es auf, wenn ein westlicher PKW im Schritttempo – anders ist es nicht zu machen – vorbeifährt!» «Sehr richtig», bestätigte Gronau, «deshalb bitten Sie Blaschke, Ihnen seinen PKW zu leihen. Er besitzt doch einen …» Gronau blätterte in der Akte. «Einen weißen Moskwitsch», ergänzte Grindel. «Noch besser wäre, wenn er mir auch seinen Personalausweis borgte für den Fall, daß ich kontrolliert werde. Was halten Sie davon, Herr Doktor?» Gronau sah Grindel nachdenklich an. «Glauben Sie, daß Sie Blaschke dazu bewegen können?» Der Frankfurter schürzte spöttisch die Lippen. «Der kann gar nicht anders!» Unvermittelt beugte Gronau sich vor und klatschte seine Rechte auf den Tisch, daß Grindel erschrak. Wiese hob nur die Brauen, sein Gesicht blieb ausdruckslos. Der ungewohnte Temperamentsausbruch seines Chefs überraschte ihn dennoch. «Janus –!», sagte Gronau. «Herr Grindel – bei Bedarf werden Sie Blaschke! Sie besitzen zwei Gesichter – wie Janus!» Grindel erinnerte sich einer Kreuzworträtselweisheit: Janus war ein altrömischer Gott mit zwei Gesichtern. Die alten Römer hatten ihn als Behüter und Bewahrer von Tür und Tor verehrt. «Jawohl, Sie sind unser Januskopf!» Gronau sprang, begeistert von seinem Einfall, auf. «Also, ‹Aktion Januskopf!›», warf Wiese beiläufig hin. «Gefällt mir übrigens besser als ‹Hügel›!» «Aktion Januskopf?», wiederholte Grindel skeptisch. Doktor Gronau verkündete entschlossen: «Dabei bleiben wir!»
22
4 Die neue Minol-Tankstelle verströmte noch so intensiven Farbgeruch, daß er den Benzindunst verdrängte; acht von zwölf Tanksäulen standen mit Planen verhüllt da, als frören sie, und rotweiße, spitze Hindernishüte sperrten zwei der drei Fahrspuren. Die neue Tankeinrichtung würde bald mit Leben erfüllt sein. Ein weißer Trabant rollte an die Gemischsäule. Eine junge Frau stieg aus, hob die Motorhaube, löste den Tankverschluß und blickte unschlüssig auf den Füllschlauch. Im Aufenthaltsraum der Tankwarte sah Otto fragend auf Alfred, der ein Kreuzworträtsel löste. Otto schob die Integrallektion beiseite – Ingenieurfernstudium drittes Semester –, lief hinaus und betankte den Zweitakter. Die Fahrerin bedankte sich. Sie kenne sich mit der Selbstbedienung aus, sagte sie, fürchte aber, ihren Wildledermantel zu beschmutzen. Rita hatte den Vorgang beobachtet und fand ihre Einschätzung der Kollegen bestätigt: Otto schien hilfsbereit, Alfred, behäbig und träge, erhob sich nur, wenn ein Westfahrzeug an die Intertanksäule rollte. Obwohl Rita Wille erst seit vierzehn Tagen hier arbeitete, wusch sie das Schaufenster schon zum zweiten Male, unbekümmert darum, daß Alfred etwas von neuen Besen brummte, die gut kehren. Er wußte nicht, daß man dort, wo sie herkam, wegen der Luftverschmutzung zweimal in der Woche die Fensterscheiben säuberte. Rita hatte eine Scheidung hinter sich. Das verflixte siebente Ehejahr, sagten jene Bekannte, die nicht wußten, daß die Ehe an Erichs Alkoholsucht gescheitert war. Ab Herbst ging Evchen zur Schule; schon am zweiten Bardenberger Tag spazierten sie zu dem Neubau hin, der auf einem sanft ansteigenden Hang stand. Bardenberg lag in einem Tal, von Hügeln umgeben, an denen die Äcker emporkrochen und deren Kuppen bewaldet waren. Rita wohnte mit ihrer Tochter bei einer freundlichen alten 23
Frau, deren Haus an jener Anhöhe lag, über der auf nacktem Fels wie ein Raubvogelhorst die Bardenburg thronte. Trotz des regnerischen Spätwinterwetters war Rita am dritten Tag mit Evchen hinauf gewandert. Doch das in den Burgräumen untergebrachte Heimatmuseum war geschlossen gewesen. Vom Burgberg aus entdeckten sie, wie lang das Tal sich erstreckte, an dessen Ende Neubauten emporwuchsen. Dort entstand Neu-Bardenberg. Und ein Werk mit weiträumigen Hallen nahm Gestalt an, das Roboter herstellen sollte; dann werden hier Roboter Roboter bauen, witzelte man. Im Zentrum erkannte man das neue, zweistöckige Volkspolizei-Kreisamt und am Markt das Postamt, das in die Baulücke gestellt worden war, die die einzige im Krieg auf Bardenberg gefallene amerikanische Bombe verursacht hatte. Auf dem höchsten der Hügel sahen sie die sich bewegenden Radarantennen. Rita erinnerte sich an Alfreds Bemerkung, daß die besten Pilzstellen mit Pfifferlingen und Maronen im militärischen Sperrgebiet der Volksarmee lägen. Er hatte sich damit gebrüstet, die Verbotsschilder ignoriert und körbeweise Pilze gesammelt zu haben. Damit sei es nun vorbei, denn das Gelände habe einen Maschendrahtzaun bekommen. Rita bearbeitete die Schaufensterscheibe mit einem Lederlappen und entdeckte, daß Alfred statt auf sein Kreuzworträtsel auf ihre Brüste starrte; sie errötete ungehalten. PKWs und zwei Lastkraftwagen vom Konsum rollten an die Tanksäulen. Dann lieferte der Tankwagen Motorenöl, das in Zweihundertliterfässer abgefüllt wurde. Alfred forderte von Rita, den Wartburg zu betanken, der an die Gemischsäule fuhr. Sie fand es seltsam. Sonst betonte er, daß es dem Selbstbedienungsprinzip widerspräche, wenn man der Kundschaft das Betanken abnahm. Der Wartburgfahrer schien nicht darauf aus, seine Hände zu beschmutzen; den Pelzkragen des kognakfarbigen Ledermantels hielt Rita für echten Persianer. «Sehr nett, herzlichen Dank!», sagte er erleichtert, als sie nach dem Füllschlauch griff. Die Stimme klang angenehm. 24
Otto erklärte, das sei Doktor Schubart gewesen, der Leiter des Heimatmuseums auf der Bardenburg. Der Mittsechziger sei über den Bezirk hinaus als Historiker bekannt. Rita wunderte sich über Ottos ungewohnte Gesprächigkeit. Von den Tanksäulen aus sah sie den Tankwagen nicht. Sie ging ein paar Schritte zur Seite und bemerkte, wie Alfred ein volles Faß in die Werkstatt rollte, deren Schlüssel er nie aus der Hand gab. Rita kehrte an die Zapfsäule zurück. «Weshalb rollt Alfred zweihundert Liter Öl in die Werkstatt?» Otto wich ihrem Blick aus, und es schoß ihm rot in die Stirn. Das fand sie sympathisch. «Macht Alfred krumme Geschäfte?», fragte sie und dachte daran, daß der Tankstellenleiter seinen Lada nie an der Säule betankte. Alfred holte stets einen Kanister aus der Werkstatt. Ihre Wißbegierde schien Otto peinlich. «Frag ihn doch selbst», antwortete er. «Das tue ich auch», sagte sie. Der Tanker rollte auf die Straße. Rita sah ihm hinterher, sie kannte den Fahrer, der auch Vergaserkraftstoff und Diesel auslieferte; das Minol-Tanklager befand sich fünfzig Kilometer entfernt. «Sie hat was gemerkt», sagte Otto, als er seine Lehrbriefe zusammenräumte und in der Aktentasche verstaute. Alfred blickte von den Kassenbons auf. «Rita?», fragte er. Mit einer wegwerfenden Handbewegung fügte er hinzu: «Na und? Denkst du, wo sie herkommt, ist alles glatt gelaufen? Vorige Woche ist ein Dacia mit dreißig Liter Extra auf und davon! Wie ständen wir da, wenn wir kein Pölsterchen hätten?» Was Alfred Pölsterchen nannte, verursachte Otto Unbehagen. Er ahnte, daß sein Kollege mehr «Schmu» machte, als er zugab. Das Wort bedeutete eine Verharmlosung von Diebstahl und Betrug, das war ihm noch nie so klar gewesen wie in diesem Augenblick. Und die Sache mit dem Dacia? Otto erinnerte sich eines einzigen Falles von Tankprellerei, vor einem Jahr, in der Autobahntankstelle: Ein Westberliner Mercedes war ihnen 25
mit fünfzig Liter Diesel entwischt, ohne zu bezahlen. Plötzlich erinnerte er sich, daß Alfred allein gewesen war, daß es keinen Zeugen gab, als das mit dem Dacia passiert sein sollte. Er stutzte. Bezweifelte er denn Alfreds Darstellung? «Mich hat noch keiner angeschmiert», sagte Otto, mochte Alfred es deuten, wie er wollte. Jetzt war er froh, daß er die Zwanzigmarkscheine, die Alfred ihm als Trinkgeldanteil zugesteckt hatte, an den Fingern einer Hand herzählen konnte. Als Otto das Büro verlassen hatte, beschloß Alfred, keine Zeit zu verlieren. Rita war seit vierzehn Tagen da, lange genug, um sich einzugewöhnen. Trotz der gescheiterten Ehe würde sie wieder einen Mann haben wollen. Wie eine Nonne sah sie nicht aus – und bei der Figur! «Ich will nicht, daß du dich so abschindest», sagte er, als Rita in den Aufenthaltsraum trat. «Und ich will nicht rot werden, wenn ich meinen Lohn kriege», antwortete sie lächelnd und fügte ernsthaft hinzu: «Ich möchte etwas klären, das unsere Zusammenarbeit betrifft! Einer muß sich doch auf den anderen verlassen können!» «So ist es, Mädchen!», klang es jovial. Rita durchfuhr es siedendheiß. Sie spürte, daß er ihre Worte falsch auslegte. «Denkst du, ich habe kein Vertrauen zu dir?», fragte er. «Du bist ein Kumpel, das wußte ich gleich, als du zur Tür reinkamst! Bei mir kommst du nicht zu kurz, verlaß dich drauf!» Er langte in die Schreibtischlade, holte einen Fünfzigmarkschein heraus, legte ihn mit großartiger Geste vor sich hin und strich ihn glatt; nach sichtbarer innerer Überwindung schob er den Schein zu ihr hin. «Hier, Mädchen, als Anfang!» Rita spürte ihre Knie weich und ihre Kehle trocken werden. Er will mich kaufen, dachte sie, für fünfzig Mark kauft er mich ein, denkt er, zuerst mein Schweigen – und dann mich selbst. «Du hast recht, ich bin ein Kumpel», sagte sie leise, «aber kein Komplize! Was läuft denn hier mit dem Öl?», fragte sie mit ihr selbst fremd klingender Stimme. 26
Es hätte ihn stutzig machen sollen, doch er deutete ihre Frage als pure Neugierde. Rita war clever, wer weiß, vielleicht erfuhr er von ihr einen Dreh? «Wir kommen beide hier zurecht, genügt dir das?» «Doch, ja, ganz und gar!» Sie knüllte den Geldschein und warf ihn Alfred hin, sah sein Gesicht fassungslos werden; er starrte sie ungläubig an. Sie drehte sich um und ging hinaus. Als sie ihr Fahrrad aus dem Abstellraum holte, vertrat er ihr den Weg. «Du, Rita, was hast du vor? Du machst doch keinen Scheiß? Überhaupt, so war das nicht gemeint, hörst du? Das war die Trinkgeldkasse, nicht, was du denkst!» Seine Stimme verriet, wie besorgt er war. «Dann ist’s ja gut», sagte sie, «dann hast du ja nichts zu befürchten. Guten Abend!» Sie schob ihn beiseite und schwang sich aufs Rad.
5 Major Werner stand am Fenster seines Dienstzimmers und blickte hinab. Unten auf dem Vorplatz waren schon junge Bäumchen gepflanzt. Wo im Sommer Rasen sprießen sollte, lag noch blanker Sand. Aber allmählich sah es hier wohnlich aus, und das neue Gebäude war wesentlich besser ausgestattet als der alte Backsteinbau, in dem das Volkspolizei-Kreisamt vorher untergebracht war. Major Werner hörte ein Hüsteln. Er drehte sich um. Auf der Türschwelle zum Nebenzimmer stand Leutnant Faber. Seine Jeans beulten an den Knien, und der handgestrickte Pullover hatte naive folkloristische Motive. Faber trug das Haar streichholzlang wegen der Wirbel, die keine Frisur zuließen. Werner zwang sich ein freundliches Lächeln ab und ließ sich 27
nicht anmerken, daß er von der Erscheinung seines neuen Mitarbeiters wenig angetan war. «Wieviel wiegen Sie eigentlich, Genosse Faber?», fragte Werner. «Sechzig Kilo, Genosse Major!» Werner seufzte. Er kämpfte verbissen darum, seine hundert Kilo nicht zu überschreiten. «Was liegt an?», fragte der Major. Faber hielt ihm die Bezirkszeitung hin und tippte auf eine Annonce. «Hier bietet jemand eine Quarzarmbanduhr an. Wie es scheint, ein Westfabrikat!» «Wie teuer?» «Dreihundert Mark, aber darum geht es nicht, es ist der Wortlaut! Da heißt es: vier Funktionen nebst Weckvorrichtung!» Faber sah Werner fragend an. Der ließ sich an seinem Schreibtisch nieder. «Ich verstehe trotzdem nicht!» Leutnant Faber nickte, als habe er es erwartet, zog sich den Besucherstuhl heran und setzte sich unaufgefordert. «In meiner Leipziger Dienststelle gehörte es zu meinen Aufgaben, Zeitungsanzeigen der Rubrik ‹Verkauf › darauf zu prüfen, ob es private Angebote waren oder ob organisierter Schwarzhandel vorliegen könnte!» Werner erkannte einmal mehr, daß die Kriminalität in einer Großstadt auch Delikte aufwies, die man in einem Städtchen wie Bardenberg nicht kannte. «Der Inhaber eines Zettelaushanges, der gleichzeitig Annoncen für die DEWAG-Werbung annimmt, ein gewisser Blaschke, ist verdächtig, einen Schwarzhandel mit westlichen Industriewaren zu betreiben!» «Beweise?» «Leider keine, aber mein Gefühl sagt mir …» Faber brach ab. Meine Güte, dachte Werner, wenn er einen so ansieht wie jetzt, möchte man ihm die Nase putzen und das Haar kämmen. «Immerhin ist es das Gefühl eines ausgewachsenen Kriminalisten!», erklärte Werner lächelnd. 28
«Na gut, lassen wir mein Gefühl beiseite, Genosse Major, der Wortlaut der Anzeige genügt: vier Funktionen nebst Weckvorrichtung, so stand es auch im ‹Leipziger Volksblatt›. Zuschrift unter Chiffre. Ich habe vor, mich als Interessent zu melden!» «Meinetwegen», antwortete Werner und beschloß, die Tür zu Fabers Dienstzimmer weiterhin offenzuhalten; ein Mitarbeiter, der sich an Gefühlen orientierte und ungewöhnliche Methoden praktizierte, kam vielleicht noch auf andere verrückte Einfälle. Das Telefon läutete. Werner hob den Hörer und meldete sich. Die Verkehrsbereitschaft fragte nach dem Kennzeichen eines gestohlen gemeldeten PKWs. Der Major blätterte in den vor ihm liegenden Akten. «UP – zehn Strich zweiundvierzig», sagte Faber. Major Werner blickte ihn erstaunt an. «Wieso? Ich meine, woher …?» «Ich habe gestern den Vorgang gelesen», erklärte der Leutnant und ergänzte: «Ich habe ein ausgesprochenes Zahlengedächtnis.» Werner legte seine Rechte so auf die Zeitung, daß sie die Annonce bedeckte. «Dann wissen Sie wohl auch die Chiffre der Anzeige?» «H. S. siebzehnzwoeinunddreißig!» Werner zog die Zeitung heran und verglich. Die Zahl stimmte. Er beschloß, den Test bald zu wiederholen. Ein Kriminalist mit einem ungewöhnlichen Zahlengedächtnis, das war schon etwas. Diese Eigenschaft war das erste Positive, das er an Faber entdeckte. «Sind Sie inzwischen untergekommen?», fragte der Major. «Ja, bei einem Postsekretär. Ein hübsches Häuschen mit Garten. Es liegt etwas außerhalb Bardenbergs, fünfhundert Meter vor dem Ortsschild.» Major Werner sah nach einiger Zeit von seinem Schreibtisch auf. Der Anblick, der sich ihm bot, verblüffte ihn. Faber stand am Fenster und beobachtete mit einem Fernglas die ErnstThälmann-Straße. 29
«Observieren Sie?», spöttelte Werner. Faber reagierte weder überrascht noch erschrocken. Er setzte die Optik ab, reichte sie dem Major und fragte ihn, ob er die Bürgerin kenne, die vor dem HO-Geschäft Foto-Optik den Gehweg kehrte? Über Werner siegte die Neugier. Er schob sich neben Faber und stellte das Glas ein. «Aber ja», sagte er, «die Wenzel Karin, Verkäuferin, nettes Mädel!» «Verheiratet?», fragte Faber so beiläufig, daß es gekünstelt klang. Der Major gab ihm das Glas zurück. «Nein.» «Heute morgen um halb neun bin ich ihr wieder beim Laufen begegnet», sagte Faber. «Beim Laufen?» «Dauerlauf, jeden Morgen eine Stunde!» «Machen Sie Witze? Eine Stunde Dauerlauf?», fragte Werner ungläubig. Die Vorstellung, eine Stunde lang mit angewinkelten Armen durch die Landschaft zu traben, fand er ungeheuerlich. «Nein, kein Witz», sagte Faber, «jeden Morgen Dauerlauf zur Bardenburg ’rauf und wieder ’runter! Das muß sein, ich könnte sonst den Rennsteiglauf gar nicht durchstehen!» «Den Rennsteiglauf?» Der Major blickte seinen Mitarbeiter bewundernd an. Der Rennsteiglauf zog alle Jahre Tausende von Läufern aus allen Bezirken der Republik an, dabei wurden mindestens fünfundvierzig Kilometer zurückgelegt, «Sie haben wirklich den Rennsteiglauf mitgemacht?» «Seit drei Jahren – und immer unter den ersten fünfzig!» Faber machte kein Hehl daraus, wie stolz er darauf war. Was Sport anging, fühlte sich der Major unsicher. Er war lediglich passiver Fußballanhänger. Er wechselte lieber das Thema. «Was liegt denn heute noch an?» «Zu vierzehn Uhr habe ich den Bürger Alfred Henzke bestellt!» «Ach den», sagte Werner. Von der Minol-Direktion war Anzeige erstattet worden gegen einen diebischen Tankstellenleiter, ein Bagatellfall. Ein Wunder, daß die Kripo eingeschaltet 30
wurde. Das hätten sie disziplinarisch erledigen sollen, dachte Werner, aber bei Minol waren ungewöhnlich hohe Minusdifferenzen festgestellt worden, und das hatte die Leitung nervös gemacht. Eigentlich wollte der Major an diesem Tag den Abschnittsbevollmächtigten in Hellstett aufsuchen. Doch er änderte sein Vorhaben. Er wollte bei der Befragung Henzkes durch Faber dabeisein. Faber zog seine Lederjacke an. «Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen», warf er so selbstverständlich hin, als könnte der Major nichts dagegen einzuwenden haben. «Grüßen Sie die Wenzel Karin von mir», sagte Werner; in seinen Augenwinkeln knitterten Lachfältchen. Der Leutnant hastete die Ernst-Thälmann-Straße hinunter. Es fehlten nur fünf Minuten an dreizehn Uhr, dann schloß der Foto-Optik-Laden für zwei Stunden. Der Verkaufsstellenleiter nahm seinen Farbfilm entgegen. Faber sah enttäuscht, daß die Verkäuferin eine Vitrine dekorierte. Erich Klein war ein hagerer Mann Ende Dreißig mit dünnem weizenblondem Haar und starker Brille; seit drei Jahren geschieden, lebte er wieder bei seiner Mutter. Seiner Frau waren die beiden Kinder und die Wohnung zugesprochen worden. Anstatt den Laden zu verlassen, trat Faber zur Vitrine. «Wir sind uns heute morgen begegnet, erinnern Sie sich?» Die Verkäuferin nickte lächelnd und warf einen forschenden Blick auf Klein. Faber sah, daß der ihn mit unverhohlener Mißbilligung beobachtete. Sieh an, dachte er, der alte Knabe ist eifersüchtig. Er entdeckte in den Augen des Mädchens blanken Schalk. Karin war keine Schönheit, die Lippen waren zu prall und die Nase zu groß, doch das dunkle Haar und die großen hellblauen Augen gaben ihrem Gesicht etwas Besonderes. Als sie lächelte, entblößte sie zwei Reihen makellos weißer Zähne. «Sie sollten immer lächeln, es steht Ihnen wahnsinnig gut!» flüsterte er. Karin errötete, aber das Kompliment gefiel ihr. «Laufen Sie immer bis zur Burg ’rauf?», fragte sie. 31
«Ja, jeden Tag!» «Ich schaffe nur den halben Hang», sagte sie. Sie stand dicht vor ihm, und er sah, daß sie nur wenige Zentimeter kleiner war als er. «Wir schließen, Karin!», rief der Chef schrill. «Ja, gleich», erwiderte sie gelassen. «Im Jugendklub ist heute Disko», sagte Faber. «Ich habe Handarbeitszirkel im DFD», antwortete sie, «der geht bis neun.» Der Verkaufsstellenleiter kam heran. «Es ist schon drei Minuten nach dreizehn Uhr.» Er fragte den aufdringlichen Kunden: «Sind Sie auch neu in Bardenberg?» «Ja, so ist es», antwortete Faber. Ins VPKA zurückgekehrt, telefonierte der Leutnant mit der Kreisorganisation des Demokratischen Frauenbundes. Der Handarbeitszirkel fand in den Räumen des Veteranenklubs statt. Pünktlich um vierzehn Uhr erschien der Tankstellenleiter Alfred Henzke. Faber gab ihm die Hand und zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Der behäbige Mann setzte sich. Nach einem prüfenden Blick auf den jungen Leutnant huschte Erleichterung über sein Gesicht. Faber trat zur Zwischentür, um sie zu schließen, aber Major Werner schüttelte den Kopf, und Faber zuckte lächelnd die Schultern und wandte sich der Vernehmung zu. Faber belehrte Henzke über seine Rechte und Pflichten, erfragte die Personalien und unterrichtete ihn über den Gegenstand der Vernehmung, eine formaljuristische Notwendigkeit, da Henzke ja wußte, worum es ging. Major Werner fand an der Einleitung nichts auszusetzen, er wäre ebenso verfahren. «Herr Henzke, berichten Sie nun, was Sie gegen die Beschuldigung vorzutragen haben! Das Tonbandgerät hilft, Irrtümer zu vermeiden. Wir hören es später ab, und wenn Sie Einwände haben, werden sie protokolliert!» «Daß so ein Theater um ein paar Liter Öl gemacht wird, verstehe ich nicht!», schnaufte Henzke. 32
«Hören Sie, ein paar Liter? Es sind zweihundert Liter im Werte von siebenhundert Mark!» «Wie soll ich Ihnen das erklären? Die waren einfach über, na und?» In der Stimme des Beschuldigten schwang ein aggressiver Unterton mit. Henzke zog alle Register: Ein an seinem Schreibtisch klebender Kriminalist habe keine Ahnung, wie es im Leben zuginge und im Alltag der Produktion. Sachlich unterbrach Leutnant Faber Henzkes Tiraden. «Sie irren, Herr Henzke, wenn Sie uns für weltfremd halten. Beantworten Sie meine Frage: Wie oft befanden Sie sich in einer ähnlichen Situation, daß ‹auf unerklärliche Weise› Motorenöl im Überbestand war?» «Es war das erste Mal, wirklich!», beschwor Henzke gekränkt, als würde ihm ein Unrecht zugefügt. «Ihre Pflicht wäre gewesen, den Überbestand zu melden, damit der offensichtliche Buchungsfehler korrigiert würde.» «Na ja», Henzke krümmte sich auf seinem Stuhl wie ein Wurm, «andererseits …» Er brach ab und starrte an Faber vorbei auf einen Wandkalender. «Was meinen Sie mit ‹andererseits›?» «Sie glauben gar nicht, wie oft wir angeschmiert werden!», behauptete Henzke. «Neulich ist ein Dacia mit dreißig Liter Extra auf und davon! Fragen Sie Otto, meinen Kollegen Haube!» «Sie wollen sagen, daß das aus dem Verkauf des Überbestandes an Motorenöl erzielte Geld dazu bestimmt war, Verluste aus Tankprellerei zu begleichen?» «Genau so!», klang es erleichtert. «Für wie naiv halten Sie mich? Vor mir liegen die Aussagen Ihrer Kollegen Otto Haube und Rita Wille. Beide führen nichts an, was Sie entlastet. Ihre Kollegin Wille meint, Sie müssen schon gewußt haben, daß zweihundert Liter Öl überständig sind, da Sie ein Zweihundertliterfaß in die Werkstatt gerollt haben!» Henzke wurde zunehmend störrischer und zeigte keine Neigung nachzugeben. Er hatte begriffen, daß der Leutnant in den 33
ausgeblichenen Jeans und dem handgestrickten Pullover keinesfalls so harmlos war, wie er aussah. Für Faber stand fest, daß hier kein einmaliger Buchungsfehler vorlag. Ihm war klar, daß die neue Kollegin in eine lang andauernde Hehlerei einbezogen werden sollte, nur hatte Henzke sie falsch eingeschätzt. Major Werner war ins Zimmer getreten und schaltete sich in das Gespräch ein. «Bei der Einlassung der Bürgerin Wille, daß Hehlerei im Spiele sei, handelt es sich um eine unbewiesene Vermutung, Genosse Faber!», mahnte er. Während Werner nur «dringende Verdachtsgründe» akzeptierte, ging Faber davon aus, daß «hinreichender Tatverdacht» bestand, der sogar eine Untersuchungshaft rechtfertigte. Der Major erinnerte sich seiner eigenen Sturm- und Drangzeit und schrieb Fabers Hartnäckigkeit seinem jugendlichen Eifer zu. Der Leutnant überließ Werner nur ungern die Führung der Vernehmung, das spürte auch der Beschuldigte, dem plötzlich Tränen in den Augen standen. «Ich sehe ein, es war nicht richtig, den Überbestand zu verkaufen, ich hätte ihn melden müssen!» Henzke schneuzte ins Taschentuch. «Warten Sie draußen, Herr Henzke!», forderte Werner. Henzke erhob sich eilfertig und warf dem Major einen tränenverschleierten Blick zu. Als die Tür sich hinter dem Beschuldigten geschlossen hatte, wertete Werner die Vernehmung aus. «Der Vorgang ist sowieso kein Fall für den Staatsanwalt», begann der Major. «Übergabe an die Konfliktkommission, Genosse Leutnant!», ordnete er an. Fabers Miene verriet, daß er mit dieser Entscheidung nicht einverstanden war. Der Leutnant war anderer Meinung. «Die Bürgerin Wille hat ausgesagt, vor ihr sollte geheimgehalten werden, daß ein Zweihundertliterfaß in die Werkstatt gerollt wurde! Das spricht doch dafür, daß es sich um eine länger geübte Praxis handelte. Laut Belegen wurden achthundert 34
Liter geliefert, nach Kollegin Wille waren es aber fünf Fässer à zweihundert Liter!» «Drei Aussagen stehen dem gegenüber: die des Beschuldigten, die des Tankwartes Haube und die des Tankwagenfahrers Schiffer! Demnach sind nur vier Fässer gefüllt worden. Eins blieb leer und nahm nur den Rest auf, der beim Abfüllen durch Luftblasenbildung nicht in die genormten Fässer reingeht!» Faber rollte mit der Handfläche seinen Kugelschreiber auf dem Tisch hin und her, ein Zeichen dafür, daß er erregt war. Er widersprach Werner nicht, das verbot die Disziplin, außerdem hatte Rita Wille bei der in der Tankstelle durchgeführten Befragung eingeräumt, es sei möglich, daß eines der Fässer nur mit dem Rest gefüllt wurde. «Vermutlich ist der Tankwagenfahrer mit von der Partie!», sagte Faber. «Lieber Freund», wandte Werner sich an den Leutnant, «ich verstehe ja, ich kenne das aus meiner Anfangszeit: Als tatendurstiger junger Kriminalist neigt man dazu, in jedem Beschuldigten einen überführten Täter zu sehen! So ist es doch gar nicht! Der Bürger Henzke ist polizeilich nie in Erscheinung getreten. Seine Erklärung des Überbestandes klingt, zugegeben, nicht sehr plausibel, aber die Einlassung der Kollegin Wille beruht ebenso auf Vermutungen wie Ihr Verdacht gegen den Kraftfahrer!» «Sie sind der Erfahrenere, Genosse Major», gab Faber klein bei, «aber bei mir schwirrt es im Hinterkopf! Es gibt bei Minol ungewöhnlich hohe Minusdifferenzen. Der Direktion ist das so in die Knochen gefahren, daß man diesen Bagatellfall, der sonst innerbetrieblich geregelt worden wäre, zur Anzeige brachte!» «In der Hoffnung, daß er die Minusdifferenzen erklärt? Mensch, Faber!», ergänzte Werner ungläubig. Er klopfte begütigend Fabers Schulter, verließ das Dienstzimmer und schloß die Tür hinter sich. Lange vor einundzwanzig Uhr postierte sich Faber gegenüber dem Veteranenklub, der in einem alten Haus Bardenbergs un35
tergebracht war. Das Dach und die Fassade waren mit blauschimmernden Schieferschindeln bedeckt. Die Fenster besaßen kaum Zeitungsformat, und hinter den Vorhängen schimmerte heimeliges, gelbes Licht. Karin verließ das Haus als erste und sah ihn auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Er hob grüßend die Hand, und wie selbstverständlich überquerte sie die Fahrbahn. «Sie haben auf mich gewartet?» Das war keine Frage, sondern eine Feststellung; Faber spürte, daß sie sich darüber freute. «Disko ist nicht drin, sagten Sie. Bleibt es dabei?» «Ja. Meiner Tante geht es nicht gut, sie hat’s mit dem Herzen. Um zehn bin ich zurück, habe ich ihr versprochen», sagte sie und hakte sich bei ihm ein. «Na fein», sagte Faber, «ich war eingeplant, sonst hätten Sie keine Stunde an den Zirkel angehängt! Wo gehen wir hin? Ins Cafe Roseneck?» «Lieber nicht! Ach was, ich sag, wie’s ist: Ich bin keine Kaffeetante, und Kuchen mag ich auch nicht. Lachen Sie mich nicht aus, ich stehe auf Bier und Knackwurst!» «Ein männlicher Geschmack, aber wen wundert’s im Zeitalter der Gleichberechtigung!» Sie liefen mit gleichlangen Schritten und im selben Rhythmus, er sah sie an, und sie blickte ihn an, und beide lächelten, und plötzlich spürte er ihre Finger auf seinem Arm deutlicher. Im «Gasthaus zur Tanne» herrschte Betrieb. Durch die hölzernen Fensterladen drang Gesang rauher Männerkehlen. An den Eingangsstufen zögerte Karin, Mädchen waren in Bardenberg rar, und die Bauarbeiter waren nicht zimperlich mit derben Komplimenten. Vielleicht gab es auch gar keinen Platz mehr? Faber ignorierte ihre Einwände. Sie traten ein und fanden auch noch zwei Plätze. Der Gesang kam aus dem Nebenraum. Dort feierten Betonwerker den Geburtstag ihres Brigadiers. Karin erzählte, daß ihr Verkaufsstellenleiter den ganzen Nachmittag über schlechte Laune gehabt hatte. Er war eifer36
süchtig, obwohl er wußte, daß er auch nach Karins aufgelöster Verlobung keine Chance besaß. «Aufgelöste Verlobung?», fragte Faber. Um sie her brandete der Gaststättenlärm. «Ein Jahr lang war ich verlobt», sagte sie. «Er hatte noch eine andere, von der ich nichts wußte. Statt Alimente zu zahlen, hat er sie lieber geheiratet!» Karins Gesicht verdüsterte sich. Die Enttäuschung schien ihr sehr wehgetan zu haben. Die Betonbauer drängten in die Gaststube und zur Theke. Die erhitzten Gesichter und holprigen Zungen verrieten, daß sie nicht mehr nüchtern waren. «Hallo, Mäuschen!», krakeelte einer mit langem, bis auf die Schulter reichendem Haar und hob Karin sein Glas entgegen. «Prost, Mädchen! Ich bin der Heiner!» «Er ist angetrunken», flüsterte Faber, «tun Sie ihm den Gefallen, dann gibt er Ruhe!» Sie sah ihn enttäuscht an und schüttelte den Kopf. «Betrunkene mag ich nicht», sagte sie so laut, daß Heiner es hörte. Der wollte sich zu ihr hindurchdrängen, doch kräftige Fäuste packten ihn und hielten ihn fest. Dann fand die Aufmerksamkeit der Gäste ein neues Ziel: Eine Wette wurde mit Handschlag besiegelt. Ein stämmiger Mann hob einen der klobigen Stühle mit geschnitzter Rückenlehne mit einer Hand an einem der hinteren Stuhlbeine an und streckte ihn seitlich. Er bekam Applaus, und etliche Nachahmer scheiterten, begleitet von schallendem Gelächter. Nur Heiner tat es dem Stämmigen gleich, packte den Stuhl und streckte ihn seitwärts; sein Gesicht verriet, welche Anstrengung es kostete. «Noch ein Bier?», fragte Faber. Karin nickte. Er stand auf und drängte sich zur Theke durch. Als er mit zwei vollen Gläsern zurückkehrte, fand er seinen Stuhl besetzt, auf dem hockte Heiner, grinste spöttisch und machte keine Miene, sich zu erheben. «Gehen wir?», fragte Karin unsicher. «Weshalb? Der Kollege steht auf und basta!» 37
In der Gaststube wurde es plötzlich still. Da braute sich etwas zusammen. Jeder der Anwesenden spürte es. «Heiner, laß den Blödsinn!», rief drohend der Brigadier, ein Hüne von zwei Metern. Zu Faber sagte er: «Keine Bange, Jungchen, den nehme ich mir vor, wenn er stänkert!» Heiner duckte sich. Mit dem Hünen legte er sich nicht an, aber er versuchte einen imponierenden Abgang. Er stand auf und wiederholte den Stuhltrick. Außer Atem rief er laut: «Mach’s nach, Bubi, dann darfst du dich setzen!» Gelächter. Karins Stirn färbte sich rot, sie fühlte sich als Anlaß der heiklen Situation. Faber zog seine Lederjacke aus und reichte sie Karin, kniete auf den Fußboden nieder, packte eines der vorderen Stuhlbeine dicht am Boden und hob den Stuhl mit einer Hand an, trotz des Übergewichtes der Rückenlehne. Er stand schwankend auf und streckte das rustikale Möbel seitwärts. Die Nackensehnen schwollen an, die Adern an seinem Hals traten heraus, das Zittern seines Armes verriet die Anstrengung. In der Gaststube war es still geworden. Leutnant Faber setzte den Stuhl ab und wischte mit dem Hemdärmel den Schweiß von der Stirn. «Mach’s nach, Bubi!», forderte er von Heiner, der ihn sprachlos anstarrte. Gelächter und Applaus beendeten die Stille. Der Langhaarige drängte zur Theke und verlangte einen doppelten Klaren. Faber zog seine Jacke an und setzte sich wieder. «Sie sind aber stark», flüsterte Karin. «Übung», erwiderte er, «genau wie das Laufen!» Er hob sein Glas, stieß an ihres und sagte leise: «Auf dein Wohl, Karin! Ich heiße Uwe!» «Auf dein Wohl, Uwe!», gab sie zurück. Der Lärm erreichte bald wieder die vorherige Lautstärke, und verstohlene Blicke galten dem schmächtigen Mann mit dem streichholzkurzen Haar, der aus Muskeln und Sehnen zu bestehen schien. Der Brigadier schob sich zu Heiner hin, nahm ihm das Schnapsglas aus der Hand und stellte es auf die Theke zurück. 38
«Der Kollege hat dich herausgefordert, du bist ihm Revanche schuldig, oder bist du ’ne Pfeife?» Heiner kam nicht umhin, der Aufforderung zu folgen, aber er hob das an einem vorderen Bein gepackte Möbel nur wenige Zentimeter vom Boden an und erntete Spott und Gelächter. «Falls Sie ’n Job suchen, bei uns können Sie anfangen!», rief der Brigadier und hob Faber sein Glas entgegen. Der gab dem Hünen Bescheid. Karin musterte ihn bewundernd. «Wo arbeitest du?» «In einer Behörde.» Er sah, daß sie die Antwort nicht befriedigte, aber sie wollte nicht aufdringlich erscheinen und schwieg. «Es ist Zeit, ich muß gehen», sagte sie. Bevor er ihr noch einige Minuten abhandelte, wurde die Gaststubentür geöffnet, und ein Volkspolizist trat herein. Seine Stimme übertönte den Lärm. Draußen stünde ein PKW unter einer finsteren Laterne, rief er. Der kaffeetrinkende Fahrer erhob sich hastig und eilte hinaus. Der Oberwachtmeister entdeckte Faber. «Guten Abend, Genosse Leutnant!» Faber erwiderte den Gruß mit zwiespältigen Gefühlen. Er legte keinen Wert darauf, als Kriminalist bekannt zu sein. Karin starrte ihn verblüfft an. «Sie sind …?» «Karin!», unterbrach er sie mahnend. «Du bist …?» «Ja, ich bin! Komm, gehen wir! Bitte zahlen!» Doch der Wirt winkte ab. Die Bauarbeiter hatten Fabers Zeche beglichen. «Auf die hast du Eindruck gemacht», sagte Karin und lächelte stolz. «Auf dich etwa nicht?», fragte er erstaunt. Sie antwortete nicht, drückte aber seinen Arm.
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6 Messetrubel beherrschte die mit Fahnen, Transparenten und Willkommensgrüßen geschmückte Stadt; die Leipziger ertrugen ihn gelassen. Das Wetter zeigte sich freundlich, Vorfrühling lag in der Luft. Zu den Erschwernissen der Messetage gehörte, daß es in den Gaststätten kaum einen freien Platz gab. Noch schwieriger war es mit Parkplätzen. Der Fahrer des weißen Moskwitsch parkte vor dem Hotel Astoria, stieg aus und verschloß das Fahrzeug. Axel Blaschke trug zum ersten Mal statt des grauen Ledermantels einen beigefarbigen Trenchcoat und eine karierte Mütze. Er durchquerte die Halle und steuerte das Restaurant an. «Ich bin mit Ihrem Kollegen Franke verabredet», erklärte er dem plazierenden Kellner an der Tür. «Ausgerechnet während der Tischzeit?», fragte der. «Sagen Sie ihm, es betrifft seine Zuschrift!» Der Servierer trat in den Vorraum und führte Blaschke hinter einen Blumentisch, der sie vor neugierigen Blicken verbarg. «Haben Sie die Uhr dabei?» «Ja, bitte!» Blaschke holte ein kleines Päckchen aus seiner Manteltasche und wickelte eine chromblitzende Quarzarmbanduhr mit schwarzem Zifferblatt aus dem Seidenpapier. Der Kellner nickte zufrieden. «Wieviel?» «Dreihundert, wie annonciert!», antwortete Blaschke und beobachtete durch die Blumen das Vestibül. Der Kellner entnahm seiner Kassiertasche das Geld, und Blaschke schob die Fünfzigmarkscheine in seinen Mantel. «Hätten Sie auch einen Taschenrechner?» «Ja, ließe sich besorgen! Vierhundert Mark!» Blaschke versprach, in einer halben Stunde wiederzukommen. Er fuhr aus dem Zentrum zurück nach Gohlis und parkte seinen Moskwitsch in der Nebenstraße, von der aus er sein Geschäft sah, das jetzt von einer Straßenbahn verdeckt wurde. Blaschke wartete, bis die Bahn weiterfuhr, und rauchte eine Zigarre an. Dann blickte er stolz auf das Schaufenster, das sei40
nen Namen trug, und auf die vor der Tür herabgelassene Jalousie. Von dreizehn bis fünfzehn Uhr blieb der Laden geschlossen. Doch für den wichtigsten Teil seines Unternehmens gab es keine Pause: An der Giebelmauer hingen sechs flache Glaskästen mit Dutzenden ausgehängten Zetteln, in die Rubriken «Ankauf», «Verkauf», «Tausch», «Wohnungen», «Heiraten» und «Verschiedenes» geordnet. Die an der Haltestelle wartenden Passanten konnten sich die Zeit vertreiben und in Ruhe die ausgehängten Annoncen studieren. Blaschke hatte seine Mutter nie dazu überreden können, den Textilhandel an den Nagel zu hängen und einen Zettelaushang zu eröffnen. Erst nach ihrem Tod, vor drei Jahren, verwirklichte er seinen Plan. Der Rat der Stadt genehmigte das Vorhaben und erteilte ihm das Gewerbe. Nach und nach kamen eine Anzeigenannahme für die DEWAG-Werbung, ein Laufmaschendienst und der Theaterkartenvorverkauf hinzu. Der frühere Sachbearbeiter der Handelsorganisation fühlte sich als erfolgreicher Geschäftsmann. Selbstbewußt schritt er über die Fahrbahn. Verwundert sah er, daß in seinem Geschäft Licht brannte; er wußte, daß er es ausgeschaltet hatte, als er mit seinem Mitarbeiter den Laden verließ. Blaschke neigte zu Mißtrauen, obwohl ihm Kurt Mulewski, den er Mulle nannte, noch nie Anlaß dazu gegeben hatte, er vertraute ihm sogar die Ladenschlüssel an. Er ginge zu Tisch, hatte er zu Mulle gesagt, und führe dann nach Halle, um einen Ölradiator zu kaufen, vor siebzehn Uhr sei er kaum zurück. Blaschkes Mißtrauen wuchs, er hastete in den Hausflur, wollte leise den Laden betreten, doch innen steckte der Schlüssel. Er lief auf den Hof und spähte durchs Fenster. Die Gardine behinderte die Sicht, aber er sah, daß Mulewski am Schreibtisch saß und Briefe öffnete. Blaschke war darauf gefaßt gewesen, den Kollegen mit einem halbwüchsigen Bengel zu überraschen, aber darauf nicht: Mulle riß Kundenbriefe auf! Flüchtig dachte Blaschke, daß Kurt Mulewski selbst annonciert haben könnte und die Zuschriften an ihn gerichtet seien. 41
Er verwarf den Gedanken wieder. Weshalb sollte er das verheimlichen? Mulewski war durch eine gekrümmte Wirbelsäule behindert und nur einen Meter fünfzig groß. Blaschke hatte seinetwegen ein zwanzig Zentimeter hohes Podest hinter dem Ladentisch anbringen lassen. Es schien ein grausamer Scherz der Natur zu sein, daß Mulle ein ausgesprochen hübsches Gesicht, gewelltes dunkles Haar und ausdrucksvolle rehbraune Augen mit seidigen Wimpern besaß. Mulle hätte bestimmt eine Freundin gefunden, aber Mädchen interessierten ihn nicht. Kurt Mulewski schlitzte im Büro wieder einen Umschlag auf und warf den Brief, ohne ihn zu lesen, zu den anderen. Blaschke trommelte wütend an die Scheibe. Mulle schlug die Gardine zurück und starrte entsetzt auf seinen Chef. «Mach auf!», schrie Blaschke und sah, daß Mulle die geöffneten Briefe zusammenraffte und in den Ofen stopfte. Der Flammenschein flackerte über sein angstverzerrtes Gesicht. Es dauerte endlos, dann wurde der Schlüssel gedreht. Blaschke stieß die Tür nach innen und stürmte an Mulle vorbei ins Hinterzimmer. «Was tust du hier? Verbrennst du Kundenbriefe, verdammter Kerl?» Mulles sanfte Augen füllten sich mit Tränen. Er brachte kein Wort über die Lippen. Ein Brief war zu Boden geflattert, Blaschke stürzte sich auf ihn. «Sehr geehrter Inserent», las er, «die angebotene Garage in Leipzig-Tekla würde ich gern kaufen und zahle die dreitausend Mark bar. Mit freundlichen Grüßen – Gustav Hänsel! P. S. Falls Sie sich für mich entscheiden, gehe ich bei gutem Bauzustand über Ihre Forderung hinaus!» Blaschke sank auf seinen Schreibtischstuhl und starrte Mulle ratlos an. «Sag mir endlich, weshalb du die Kundenpost aufmachst?» «Es ist mei-meine», stotterte der Gefragte, der mehr tot als lebendig an der Wand lehnte. «Erzähl mir keinen Mist», drohte Blaschke, «du und eine 42
Garage? Wo hast du denn das Auto dazu? Wenn du auf einen Baum kletterst, gehört dir doch auf der Erde nichts mehr!» Er riß einen ungeöffneten Brief an sich, lief in den Laden und suchte im Kundenbuch die Chiffre. «Du Schwindler! Deine Post! Paul Horstmann; Gohlis, Cöthnerstraße siebzehn! Steht das hier oder nicht?» Kurt Mulewski hatte sich gefangen. «Einen Paul Horstmann gibt es gar nicht! Ich habe die Annonce fingiert, Adresse und PA-Nummer existieren nicht!» Als Zeitungsinserent hatte Mulle eine nicht existente Garage in Tekla zum Kauf angeboten. Hundertelf Zuschriften, vor allem aus dem Neubaugebiet, waren eingetroffen. Die Hälfte hatte Mulle bereits geöffnet. Seine Ausbeute betrug drei Fünfzig- und zwei Hundertmarkscheine, die in der Hoffnung beigefügt worden waren, als erster berücksichtigt zu werden. Blaschke war sprachlos. Diese Raffinesse hätte er seinem Mitarbeiter niemals zugetraut. Er holte die restlichen Zuschriften aus dem Laden. «Du spinnst, da steckt was anderes dahinter! Wer schmeißt denn so mit Geld um sich?» Er riß einen Umschlag auf. Ein Zettel flatterte auf den Boden, zwei Worte waren fett unterstrichen: «Biete viertausend!» «Das sagst du bloß, weil du die Briefe aufmachen willst», stammelte Mulewski trotzig und half widerwillig, die übrigen Zuschriften zu öffnen. Je kleiner der Briefstapel wurde, desto schärfer wurden Blaschkes Spötteleien. Dann aber verschlug es ihm die Sprache. Ein Brief enthielt zwei Hundertmarkscheine. «Es ist nicht zu fassen», flüsterte er, «wie bist du auf die ausgebuffte Idee gekommen?» «Schreiber hat erzählt, daß er es öfter so macht, wenn er unterwegs ist. Er hat einen gefundenen Personalausweis zurechtgefummelt, mit dem weist er sich dann aus.» «Schreiber? Aus Bardenberg?» Der Vertreter der Bardenberger Spielzeugfabrik war ständig auf Reisen. Vor ein paar Monaten war Blaschke mit ihm ins Geschäft gekommen; Schreiber kannte Gott und die Welt, wie er sagte, und handelte 43
mit allem, was beweglich war und in seinem Trabant-Kombi Platz fand. «Weißt du, daß wir in Teufels Küche kommen, wenn das platzt?» «Wie soll das denn rauskommen? Da denkt doch jeder, er hat eben Pech gehabt!» «Wage das nicht noch mal, Freundchen! Denkst du, ich gehe deinetwegen in den Knast?» «Meinetwegen nicht», Mulles Stimme gewann Festigkeit, «höchstens wegen deiner krummen Geschäfte!» Blaschke starrte seinen Mitarbeiter verblüfft an. Der wußte mehr, als er ihm zugetraut hatte. Schreiber, der Quatschkopf, hatte wieder mal geprahlt, dachte er. Mulewski spürte, daß sein Chef verunsichert war, und bekam Mut. Nun war schon alles gleich. Er redete sich von der Seele, was zu sagen er sich so oft vorgenommen hatte, wenn er schlaflos lag und mit seinem Schicksal haderte. «Du hast klug reden», sagte er, «du machst Geld wie Heu, und mir gibst du fünfhundert Mark im Monat!» «Bar auf die Hand, mein lieber, bar auf die Hand! Geht es dir schlecht? Wirst du bei mir ausgenutzt? Du warst froh, aus dem Großbetrieb ’raus zu sein, wo dich mancher gehänselt hat!» «Das Geld reicht gerade fürs Notwendigste», sagte Mulewski. «Für das Geld aus den Umschlägen will ich mir eine Stereoanlage kaufen. Ich sammle doch Schallplatten, aber nicht solche Piratenproduktionen, die du unter der Hand verkauf st, diese Rock- und Punkmusik. Gib es zu, die wird von drüben eingeschmuggelt! Ich sammle Klassiker wie Jean Sibelius.» Blaschke bekam einen trockenen Mund. «Wie kommst du denn auf Piratenproduktionen?» «Denkst du, ich bin blöde? So gut ist dein Kellerversteck nicht. Die Kohlen schleppe ich ja ’rauf! Da unten liegt Zeug für … zigtausend Mark! Quarzuhren, Taschenrechner, Schallplatten …» 44
«Seit wann weißt du’s?», fragte Blaschke sachlich. «Schon lange», antwortete Mulle, «keine Angst, ich bin kein Dieb, ich nehme dir nichts weg!» Blaschke starrte grübelnd auf seinen Mitarbeiter. Mulle log nicht. Es fehlte nichts, er hätte es bemerkt. Wäre er nicht dumm, wenn er dieses Juwel an Ehrlichkeit nicht an sich bände? Blaschkes Stimme klang plötzlich gerührt: «Mensch, Mulle, warum hast du kein Vertrauen zu mir? Warum sagst du nicht, daß du unzufrieden bist? Ich hatte keine Ahnung, daß du von meinen Geschäften weißt. Sollte ich sie dir auf die Nase binden? Na siehst du! Aber jetzt wird alles anders!» Er stand auf und tat, was er noch nie getan hatte, da eine unerklärliche Scheu ihn davon abhielt, den Buckel zu berühren: Er legte einen Arm um die Schultern des kleinen Mannes und zog ihn an sich. «Mensch, Mulle, du kriegst deine Stereoanlage! Ich schenke sie dir!» Mulewski blickte ungläubig zu Blaschke auf. Tränen der Rührung rannen über seine Wangen. «Nu, nu», brummte Blaschke. Meine Güte, dachte er, und bei dem Gedanken schauderte es ihn, wenn der Kerl mich verpfiffen hätte – oder beklaut? «Zweihundert lege ich dir zu pro Monat.» Mulles Kehle war wie zugeschnürt. «Ich wollte schon aufhören und in der Brauerei als Pförtner anfangen, aber ich hänge doch so an dir, Axel!», flüsterte er. Der Gedanke, daß Mulle ihm beinahe gekündigt hätte, jagte Blaschke einen nachträglichen Schrecken ein. Er kannte seine Schwäche zu Übertreibungen, im Guten wie im Bösen. War er sparsam, übertrieb er es bis zum Geiz. Zeigte er sich großzügig, fehlte es ihm an Augenmaß. «Hin und wieder machst du auch ’n kleinen Reibach, Mulle! Alles klar?» Mulewski nickte. Das Telefon läutete. Blaschke hob den Hörer und meldete sich. Eine ihm bekannte Stimme fragte: «Hallo, bei dir alles gesund?» 45
«Alles in Ordnung», antwortete Blaschke und legte den Hörer auf. «Ich fahre nicht nach Halle», sagte er zu Mulle. Dann begann er, das mit alten Möbeln vollgestellte Büro aufzuräumen. Mulewski half ihm dabei. Aus den Zettelangeboten war ein antiker Sekretär aussortiert worden. Er zog viele Interessenten an, aber Blaschke legte die Zuschriften «auf Eis», wie er es nannte, bis er dem enttäuschten Anbieter das Möbelstück deutlich unter dessen Preisvorstellung abzuhandeln vermochte. Diese Taktik wiederholte er immer wieder erfolgreich. Alle Verkäufe wurden darauf überprüft, ob sie ein lukratives Geschäft versprachen. Mulle nahm den Kohleneimer und blickte fragend auf seinen Chef: Da er keine Miene verzog, ging er in den Flur, hob die Kellerklappe und stieg hinab. Er sah scheu auf den schmalen Spind, der den Durchbruch zum Luftschutzkeller der Nebenhausruine verdeckte. Als die Ruine vor Jahren gesprengt wurde, war eine Nische entstanden, die Blaschke als Versteck nutzte. Mulewski schaufelte den Eimer nur halb voll Braunkohlenkoks, keuchte die Stufen hinauf und schüttete den Koks in den Allesbrenner; die verbrannten Briefe waren längst zu dunkler Asche zerfallen. Und dann kam Grindel. Er trug einen hellen Trenchcoat und eine sportliche Mütze wie Blaschke. Mulle zog die Jalousie hoch, als der vermeintliche Kunde auch schon eintrat. Mulle glitt fast der Gurt aus der Hand, der Ankömmling schien ein Doppelgänger seines Chefs. Der kam nach vorn und führte den Besucher ins Büro. «Ich will nicht gestört werden, Mulle!», rief er. Der Gast hängte Mantel und Mütze an die Flurgarderobe und ließ sich in einem der beiden großväterlichen Sessel nieder; aus einem faltigen Beutel stopfte er seine Pfeife. «Kaffee oder Tee?», fragte Blaschke. «Tee, bitte englisch!» Der Wasserkessel summte bald auf der elektrischen Kochplatte; Blaschke holte eine zweibändige Briefmarkensammlung 46
aus dem Sekretär und legte sie auf den Mittelfußtisch mit dem intarsierten Schachbrett. Er hatte sie per Zettelangebot aus einer Haushaltsauflösung erstanden. Da er kein Philatelist war, ließ er sie fachmännisch begutachten. Doch statt der geschätzten dreitausend Mark zahlte er nur zweitausend dafür. «Nicht überwältigend», meinte Grindel beiläufig, «nur die Altdeutschen sind interessant! Der Preis?» «Viertausend West!», forderte Blaschke. Grindel brannte die Pfeife an und schmauchte, bevor er sich äußerte. «Um tausend zu teuer, aber ich feilsche nicht. Akzeptiert!» Verdammt, dachte Blaschke, die Altdeutschen sind wohl doch mehr wert als vermutet? Grindel hätte sonst nicht so rasch zugesagt. Fünf Riesen hätte ich verlangen sollen. «Soll ich sie einwickeln?», fragte Blaschke. «Natürlich nicht. Nächste Woche in Köckern!» Grindel riskierte nichts. Als Messebesucher unterlag er beim Passieren der Grenze der üblichen Zollkontrolle; fuhr er dagegen mit seinem PKW aus der BRD im Transit nach Westberlin, wurde er nicht kontrolliert. Sie bedienten sich meist des Koffertricks: Zur verabredeten Zeit aß Blaschke, die Ähnlichkeit mit Grindel durch eine Sonnenbrille verbergend, im Schnellimbiß der Autobahnraststätte Köckern eine Wurst mit Salat, seinen Handkoffer neben sich, Grindel stellte seinen dazu. Beide glichen sich zum Verwechseln und wurden dann einfach ausgetauscht. Blaschke brühte den Tee und stellte das Tablett vor Grindel hin. Er ließ sich dem Besucher gegenüber nieder und rührte in seinem Kaffee. Ah die vergangene Herbstmesse erinnerte er sich, als sei es erst gestern gewesen. Im Ringmessehaus hatte jemand seine Schulter geklopft und ihn mit «Hallo, Herr Grindel!» angeredet. Es kostete wiederholte Beteuerungen, daß eine Verwechslung vorläge. «Ich war damals neugierig, wie groß die Ähnlichkeit meines Doppelgängers sein mochte», erklärte Blaschke, «und gab dem Frankfurter meine Geschäftskarte!» 47
Grindel lachte. «Sie landete in der Woche darauf bei mir. Schönen Gruß von Herrn Blaschke in Leipzig. Falls Sie mal dort zu tun haben, besuchen Sie ihn! Bei mir war es mehr als Neugier!», gestand Grindel ungeschminkt. Schon nach dem ersten lukrativen Geschäft ahnte Blaschke, daß Grindel nicht nur an einem Warenaustausch interessiert war. Er beschaffte dem Frankfurter Antiquitäten, Briefmarken und Münzen und erhielt Taschenrechner, Quarzuhren und Schallplatten. Aber Grindel handelte auch mit Nachrichten. Blaschke vermutete, daß Grindel sich nur nebenher für einen Nachrichtendienst betätigte. Bei Vertretern war es branchenüblich, das Einkommen durch «Mitnehmer», gut verkäufliche Artikel fremder Firmen, aufzubessern. «Es wird Zeit, daß wir uns eine Legende zulegen», behauptete Grindel. «Ich bin dein mütterlicherseits verwandter Cousin Lutz Grindel aus Frankfurt, okay?» Blaschke nickte und spürte, daß etwas Gewichtiges auf ihn zukam. Bisher hatte er für Grindel Adressen aus der Handelsbranche besorgt, eine harmlose Gefälligkeit. Ungewöhnlich erschien nur, daß sie sich seit kurzem über einen «Toten Briefkasten» verständigten, ein Baumversteck bei einem Rastplatz nahe der Autobahnausfahrt Niemegk. «Erzähl ein bißchen von dir», forderte Grindel. Blaschke tat bescheiden. Was gab es da groß zu berichten? Ein Jahr vor Kriegsbeginn geboren, erinnerte er sich noch an brennende Häuser und daß seine Mutter schwarz gekleidet ging, als der Vater gefallen war. Der Textilkaufmann soll ein stiller, bescheidener Mensch gewesen sein. Er hatte ein Geschäft im Zentrum geführt. Bevor es von amerikanischen Brandbomben zerstört wurde, hatte es die Mutter weitergeleitet. Später eröffnete sie den kleinen Laden in Gohlis, der wie durch ein Wunder unversehrt blieb, obwohl beide Nachbarhäuser brannten. Nach der Zehnklassenschule erlernte Blaschke den Beruf des Textilkaufmannes, die Mutter wollte, daß er den Laden übernähme, der sie knapp ernährte. Als Siebenundzwanzigjäh48
riger, Mitte der sechziger Jahre, leitete Blaschke schon ein großes Textilgeschäft der Handelsorganisation. Er verschwieg, daß er durch Betrügereien ein Vermögen beiseite geschafft hatte, das sich in Nichts auflöste, als er den Schaden ersetzen mußte. Damals war er im dritten Jahr verheiratet gewesen, und seine Frau, Richterin im Kreisgericht Nord, hatte sich von ihm getrennt. Grindel sah Blaschkes düsterem Gesicht an, daß es Dinge gab, über die er nicht sprechen wollte. Durch Intrigen neidischer Kollegen sei er um seine Position gebracht worden, behauptete er, und sei dann als Sachbearbeiter in der HODirektion untergekommen. «Inzwischen hast du dich gemausert, lieber Cousin», erklärte Grindel mit ausholender Geste und schlürfte seinen Tee. Die Möbel stellten in der Tat einen erklecklichen Wert dar. Grindel zückte seine winzige Kamera, die wie ein Feuerzeug aussah, und fotografierte Seite für Seite die Briefmarkensammlung. «Es wäre schade, wenn was verlorenginge», sagte er ungerührt. Als er fertig war, holte der Frankfurter einen zur Kugel gerollten Papierstreifen aus seiner Hosentasche. «Hier, dein Kontoauszug!» Blaschke strich das Papier glatt. Das bei der Frankfurter Kommerzbank auf seinen Namen eingerichtete Konto wies einen Saldo von vierunddreißigtausendsechshundertundzehn Mark aus, den Gewinn von fünf Monaten Schwarzhandel. «Nimm’s mir nicht übel, aber so richtig freue ich mich nicht darüber. Gehört mir denn das Geld wirklich? Du bist ja sicher auch verfügungsberechtigt!» Grindel nahm Blaschke das Mißtrauen nicht übel, im Gegenteil, er stimmte sogar zu. «Eines Tages richtest du dir selbst ein Konto ein!» Blaschke starrte ihn ungläubig an. Grindel erhob sich und zog ihn vor den Wandspiegel mit dem vergoldeten Stuckrahmen; sie standen nebeneinander. «Größe einssiebzig», sagte Grindel. «Stimmt fast!» 49
«Figur athletisch!» «Stimmt auch!» «Augen blau, Gesicht oval, Haarfarbe mittelblond, Nase leicht gekrümmt, besondere Kennzeichen: keine!» «Du meinst, ich könnte an deiner Stelle …?» Er brach ab und starrte seinen Besucher ungläubig an. Grindel nickte gleichmütig. «Gewiß, weshalb nicht? Wenn man uns nicht zusammensieht, könnte man uns verwechseln. Du fährst für zwei, drei Tage nach Frankfurt und ordnest deine Finanzen. Wie stehst du mit dem Buckligen?», fragte er, als sie sich wieder gegenübersaßen. «Vertraust du ihm das Geschäft für ein paar Tage an?» «Na klar, unbedingt! Wann, meinst du, machen wir das?» «Nicht so hastig, lieber Cousin! Zuerst müßtest du etwas für mich tun!» Grindels Stimme machte Blaschke argwöhnisch. Plötzlich wußte er, daß das wirkliche Vorhaben noch gar nicht angesprochen worden war. Er bekam es bestätigt: Es sei an der Zeit, daß er qualitativ bessere Nachrichten beschaffte, forderte Grindel. Doch dazu fehlten ihm einige Voraussetzungen. Einige Tage intensive Schulung würden genügen, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Das war es! Blaschke hatte es längst geahnt. Vermutlich war Grindel ein sogenannter Reiseagent. «Ich – ich soll Agent werden?» «Mensch, Axel», Grindel kicherte, «das bist du doch längst! Stell dich nicht an! Wenn eure Staatssicherheit erfährt, was du bereits an mich geliefert hast, sind dir einige Jährchen Knast sicher!» Blaschke zündete zittrig eine Zigarre an. Etwas zu ahnen war eine Sache, mit der Tatsache konfrontiert zu sein eine andere. Plötzlich wurde er sich seiner aussichtslosen Lage bewußt. «Und wenn ich mich weigere? Ich habe keine Lust, Kopf und Kragen zu riskieren!» «In dem Fall kannst du dein Konto bei der Kommerzbank vergessen!» 50
«Das dachte ich mir! Und wenn ich drauf scheiß?» «Das wäre dumm! Dann beliefert dich auch ‹Siering und Fengler› nicht mehr, schon gar nicht zu Vorzugspreisen. Bist du dir nicht klar darüber, daß die Preise subventioniert sind, damit für dich ein Gewinn drin ist?» «Um mich anzufüttern!» «So kann man es nennen!» «Du hast mich reingelegt», klagte Blaschke düster. «Unsinn! Du kriegst den Hals nicht voll! Stell dir vor; dein Finanzamt oder wie die Stelle bei euch heißt, bekäme einen Hinweis und genaue Unterlagen, welche flotten Umsätze du in den vergangenen Monaten getätigt hast! Auf Steuerbetrug reagieren die sauer! Bei uns übrigens auch!» Als Blaschke schwieg, fuhr Grindel fort: «Du sagtest mal, daß du die Wochenenden im Sommer auf deinem Grundstück verbringst?» «Ja», bestätigte Blaschke einsilbig. Das Sommerhäuschen lag auf einer Waldparzelle im Fläming. Er hatte es von einer Tante väterlicherseits geerbt. Die war aus der Bitterfelder Gegend in die waldige Hügellandschaft gezogen, als sie sich zur Ruhe setzte. «Einige Tage reichen», erklärte Grindel, «das kommt auf deine Auffassungsgabe an, dann hast du das Kleine Einmaleins eines V-Mannes intus!» «Und wann fahre ich nach Frankfurt?», fragte Blaschke mißtrauisch. «Mal sehen, vielleicht schon zum Jahresende!», antwortete Grindel unbestimmt. «Das kommt darauf an, wie du dich bewährst. Erst die Leistung, dann die Belohnung, nicht umgekehrt!» Plötzlich haßte Blaschke das feiste Gesicht, das dem seinen ähnelte. Hilflosigkeit bemächtigte sich seiner. Er dachte daran, daß er vergessen hatte, einen Taschenrechner ins Hotel zu bringen, der Servierer wartete darauf. Doch nun bezweifelte er, daß es noch einen Sinn habe, einen Hunderter auf den anderen zu legen. Die Einsicht, daß andere über ihn verfügten und be51
stimmten, was er zu tun habe, bedrückte ihn. Und für diese anderen war er nicht mehr als eine Chiffre. «Ach ja, bevor ich es vergesse, Axel: Du hast schon morgen Gelegenheit, deine Einsatzbereitschaft zu beweisen!» «Einsatzbereitschaft?», wiederholte Blaschke voll unguter Ahnung. «Ich habe morgen einen Abstecher in die Umgebung vor. Mein Opel mit Frankfurter Kennzeichen fällt auf. Den lasse ich vorm ‹Astoria› stehen. Leih mir bitte deinen Moskwitsch!» Grindels Unverfrorenheit ließ Blaschke das Blut ins Gesicht steigen. «Soll das ein Spaß sein?», fragte er, obwohl er Grindels Ernsthaftigkeit nicht anzweifelte. «Ich spaße durchaus nicht», versicherte dieser dann auch. «Mensch, Lutz, überleg mal: Ein dummer Zufall genügt, und du kommst in eine Verkehrskontrolle. Wie stehst du dann da?» «Du hast recht, dann sähe ich alt aus. Was tut der Bundesbürger Grindel im Moskwitsch des Leipzigers Blaschke? Das wäre die Frage!» «Na eben», bestätigte Blaschke und nickte heftig. «Das Risiko vermeiden wir ganz einfach: Du borgst mir deinen Personalausweis! Dein Foto ist zehn Jahre alt!» Als Blaschke wie von einer Nadel gestochen auf seinem Stuhl emporfuhr, drückte Grindel ihn resolut auf den Sitz zurück. «Du willst mit meiner Fleppe nach Frankfurt reisen, nicht wahr? Und ich soll so lange den Blaschke markieren, nicht wahr? Einverstanden! Wieso stellst du dich dann belämmert an, wenn ich, der Sicherheit wegen, für ’n paar Stunden den Axel Blaschke spiele?» Darauf wußte Blaschke keine Antwort. Er fühlte sich ohnmächtig gegenüber Grindels Verlangen. Schließlich war er von dessen Warenlieferungen abhängig. Blaschke ahnte, daß dies erst der Anfang weiterer Forderungen war. «Keine Bange», versicherte Grindel ironisch, «deinem Schmuckstück passiert nichts. Du kriegst den Schlitten ohne Beule zurück!» 52
Wie eine Erleuchtung huschte es über Blaschkes Gesicht. Seine Stimme klang erleichtert. «Der PA allein genügt nicht, du brauchst auch meinen Führerschein. Das Foto darin ist erst zwei Jahre alt!» Grindel streckte stumm die Hand aus. Blaschke zückte seine Brieftasche und entnahm ihr das Dokument. «Mist!», murmelte der Frankfurter. Das Paßbild in Blaschkes Führerschein ließ keine Täuschung zu; dennoch erklärte er entschlossen: «Macht nichts! Es wird schon schiefgehen!»
7 Doktor Egon Schubart genoß das Frühstück, von dem sein Wohlbefinden für den ganzen Tag abhing. Die Kaffeemaschine gluckste, und der aromatische Duft erfüllte das Zimmer. Schubart saß an einem Tischchen hinter der Gardine, eine Decke über die Knie gebreitet, und beobachtete, ohne selbst gesehen zu werden. Das Fenster im zweiten Stock bot Ausblick auf den Bardenberger Marktplatz, der zu so früher Stunde verlassen dalag. Zwei Verkäuferinnen der Lebensmittel-HO trugen Milchkästen in den Laden. Schubart bestrich eine geröstete Weißbrotscheibe mit Butter, sie schmolz sogleich und wurde vom Brot aufgesogen. Vom Plattenspieler klang Verdis Nabucco-Ouvertüre. Er liebte die Melodien dieser Oper. Mit den ersten Schlückchen Kaffee, den er ohne Zucker und Sahne trank, stellte sich das erwartete wohlige Gefühl ein. Auf dem Marktplatz hielt der Bus mit bullerndem Dieselmotor. Im Rathaus gegenüber brannte Licht, dort werkelten Reinigungskräfte. Schubart blickte über seine Tasse hinweg zur Haltestelle und erschrak. Dort kam Evelin! Sie trug Jeans, eine braune 53
Lederjacke und eine weiße Baskenmütze. Dem Erkennen folgte Besorgnis, da der Busfahrer das Gepäckfach öffnete und zwei Reisetaschen herausstellte. Evelin blickte zum Fenster herauf und überquerte den Platz mit der granitenen Brunnenschale. Die Taschen verrieten, daß sie nicht nur für einen Tag kam. Der Gedanke an einen längeren Aufenthalt war Schubart unangenehm. Nun – er würde zu verhindern wissen, daß sie ungebührlich lange blieb. Es war demnach falsch gewesen, den Satz in ihrem Brief, daß sie vielleicht für einige Zeit wieder in ihr Zimmer einziehen würde, mit einem Achselzucken abzutun. Seit zwanzig Jahren verlief das Leben Doktor Egon Schubarts auf zwei verschiedenen Ebenen, die er sorgfältig voneinander trennte. Erst nach dem Tod seiner Frau verwischten sich die Grenzen und nachdem Evelin zu ihrer Tante nach Dessau übergesiedelt war. Von da an kam es vor, daß er Dinge in die Wohnung mitbrachte, die er vor anderen streng geheimhielt. Das änderte sich nur, wenn Evelin, die er als dreijähriges Kind mitgeheiratet hatte, ihn in den Ferien besuchte. Wie die Zeit verrinnt, dachte er, inzwischen war Evelin dreiundzwanzig. Schubart lief in die Diele. Die Treppenstufen knarrten. Die Glocke schlug an. Aus Gewohnheit blickte er durch das Guckloch, bevor er öffnete. Evelins Wangen waren gerötet, sie atmete heftig, denn die Taschen waren schwer. Er gab vor, erstaunt und zugleich erfreut zu sein. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und küßte ihn auf die Wange. «Tu nicht erstaunt, alter Schwindler! Du hast mich längst gesehen!» «Wahrhaftig nicht!» Schubart spielte den Gekränkten, und seine engstehenden Augen schienen noch näher zusammenzurücken. Er füllte die Kaffeemaschine noch einmal und holte Toastscheiben aus der Küche. «Bist du nicht neugierig, was mein Überfall bedeutet?», fragte sie, als sie ihm gegenübersaß. «Du sagst es mir, denke ich!» Er sah sie abwartend an. Sie 54
sollte mehr aus sich machen, dachte er. Sie besaß eine Figur, nach der Männer sich umsahen, legte aber anscheinend keinen Wert auf ihr Äußeres. Von der Dessauer Schwägerin wußte er, daß es eine Studentenliebe gegeben hatte, die jedoch die Trennung nicht überdauerte. «Ich habe abgewartet, ob es klar geht. Jetzt ist es perfekt!», sagte sie. Schubarts ungute Ahnung vertiefte sich. Auf den angenehmen Tagesbeginn fiel ein Schatten. Evelin hielt nicht länger hinter dem Berg: In dem neuen Bardenberger Werk war sie als Ingenieur für Meßelektronik angestellt worden. Jetzt half sie, ihre künftige Arbeitsstätte aufzubauen. «Du ahnst, was auf dich zukommt? Begeistert bist du wohl nicht? Daß du auf meinen Brief nicht reagiert hast, habe ich als Einverständnis gewertet. Bis ich eine Wohnung bekomme, mache ich mich im heimischen Nest breit. Ist mein Stübchen noch frei?» «Ja, gewiß», antwortete er. Mit Schrecken fiel ihm ein, daß er jetzt wieder beide Lebensebenen voneinander trennen mußte. Doch das war es nicht allein. Er war fast fünfundsechzig Jahre alt und sah den Tag näherrücken, der ihn von seiner Fessel befreite. Es war der Tag, an dem sein Schatten «Felix» starb – sich in Nichts auflöste! Mit der Stieftochter Evelin Schenk, Ingenieur für Meßelektronik in einer der modernsten Produktionsstätten, war daran nicht zu denken. Da ließ man ihn in den Sielen sterben! «Es hätte ja sein können,» Evelin blies in den heißen Kaffee, «daß du eine Hausdame einquartiert hast.» Er wehrte ab, doch ihr Einwand brachte ihn auf einen Gedanken. «Glaubst du nicht, daß es Gerede gibt? Bardenberg ist ein Klatschnest. Bei dem Witwer Doktor Schubart wohnt jetzt ein Fräulein Schenk!» «Sei nicht spießig», sie lachte, «du bist mein Stiefvater!» «Genau das meine ich!» Sie war verstimmt. «Also gut, ich bemühe mich, so rasch wie möglich die Wohnungsfrage zu klären!» 55
Ihr Stiefvater war schon ein merkwürdiger Kauz. Als Mitarbeiter des Schloßmuseums in Gohla hatte er als aussichtsreichster Kandidat für die bald neu zu besetzende Leitung gegolten. Dennoch bewarb er sich um die Direktorenstelle in dem unbedeutenden Heimatmuseum auf der Bardenburg mit deutlich geringerem Gehalt. Er brauche Bewegungsfreiheit, behauptete er, und wolle sein eigener Herr sein. «Lebt der alte Hildebrand noch?», fragte Evelin. Der ehemalige Sparkassenleiter ging auf die Achtzig zu. Als Mitglied des Kulturbundes war er Mitbegründer des Heimatmuseums gewesen. Er verkaufte noch Eintrittskarten und Souvenirs. So wie alle Tage holte Schubart das Fahrrad aus dem Schuppen. Auf seiner Fahrt durch die Stadt wurde er von vielen Menschen gegrüßt. Er war hier bekannt. In den grünen Reithosen, der gleichfarbigen Jacke und dem Jägerhut ähnelte er einem Forstmann. Zur Stadt hinaus trat Schubart kräftig in die Pedale. Von der Hellstetter Chaussee bog er ab und schlug den Weg zur Burg hinauf ein. Bis zum letzten Haus am Hang radelte er, dann stieg er ab und schob das Rad. Vorm letzten Hanghaus harkte eine Frau den winterblassen Rasen. Sie kam Schubart bekannt vor, doch das bedeutete wenig. In der kleinen Stadt begegnete jeder einmal jedem. Als Schubart das Fahrrad über die Burggrabenbrücke schob, fiel ihm ein, daß er der jungen Frau in der Tankstelle begegnet war. Sie hatte wortlos zum Füllschlauch gegriffen, als er mit seinem Wartburg an die Gemischsäule gerollt war. Schubarts Schritte dröhnten hohl im Gang des Torhauses, und die Fahrradklingel klirrte leise. Hildebrand wartete schon auf ihn und grüßte freundlich. Das Untergeschoß der Burg bestand aus Felsgestein. Die Stallungen standen leer und rochen modrig. Die beiden oberen Fachwerkgeschosse krönte ein Spitzdach aus blauem Schiefer. Vom Vestibül führten Türen in die fünf Ausstellungsräume und in Schubarts Büro. Die Fenster lagen nach Süden und 56
Westen und boten Ausblick auf das vom Rathausturm überragte Dächergewirr Bardenbergs. Wer die enge Wendeltreppe erklomm, konnte vom Söller aus auch nach Morden und Osten blicken. Dagegen blieb das obere Turmviertel von einer Bohlentür versperrt, deren Schlüssel Schubart nie aus der Hand gab. In den Museumsräumen roch es nach abgestandener Luft. Hildebrand öffnete die Fenster. Die elektrischen Nachtspeicheröfen spendeten Wärme. In einer Bauernstube konnte man Küchen-, Acker- und Erntegeräte vergangener Zeiten besichtigen und heimische Bauerntöpferei. In historischen Möbeln – von den Museumsgründern aus Bardenberger Böden und Remisen zusammengetragen – prangte Alt-Ilmenauer Porzellan und Silber. In Glasvitrinen lagen mittelalterliche Garderoben. Als besondere Sehenswürdigkeit galt eine Ausstellung mit frühem Kleineisenhandwerk. Schubart trat in sein Büro. Hildebrand respektierte das für diesen Raum geltende Tabu und betrat es nie. Hier empfing Schubart auch keine Besucher. Außer dem Lutherstuhl existierte in dem Stübchen keine Sitzgelegenheit. Schubart öffnete ein Geheimfach des Sekretärs. Er nahm eine Kleinbildkamera heraus, versah sie mit Teleobjektiv und verbarg sie unter seinem Kittel. «Ich geh mal nach oben!», rief er Hildebrand zu. Der Alte lächelte nachsichtig. Er kannte Schubarts Marotte: Es verging kein Tag, an dem der nicht das Turmstübchen erklomm, um über die Hügellandschaft zu blicken. Der alte Mann hörte, daß Schubarts Schritte die steinernen Stufen empor verhallten. Der Leiter des Heimatmuseums trat auf den Söller hinaus, schloß die Bohlentür auf, trat ein und verriegelte hinter sich. Leichtfüßig nahm er die letzten zweiundvierzig Stufen. Im Turmstübchen besaß jede Himmelsrichtung ein Fenster. Im sechzehnten Jahrhundert war es ein zugiger Ausguck gewesen. Die Fenster wurden zweihundert Jahre später eingefügt. 57
Eine Truhe und ein Hocker bildeten das einzige Mobiliar. Schubart stieg auf den Hocker, langte ins Turmgebälk, ertastete ein Fernglas und richtete das Glas auf einen Hügel mit Radarantennen. Zwei von ihnen rotierten horizontal, eine dritte schwenkte vertikal auf und ab. Schubart pfiff leise. Die vierte Antenne fehlte, sie war abgebaut worden. Die Kamera hielt die Veränderungen fotografisch fest. Der Film würde am nächsten Tag im Toten Briefkasten liegen. Das Anlaufen des Kontaktpunktes gehörte zum risikoreichsten Teil seiner geheimen Tätigkeit. Das wußte Felix vom ersten Tage an. Daran änderte auch jahrelange Gewöhnung nichts. Schubart kam nie von der Vorstellung los, daß man ihn eines Tages beobachten würde, wenn er in den Resten der im Kriege zerstörten Autobahnbrücke einen Betonbrocken anhob, um eine Aluminiumkapsel an sich zu nehmen. Meist enthielt sie einen verschlüsselten Auftrag und einen bescheidenen Geldbetrag. Sobald er seinen Wartburg auf dem nahen Rastplatz parkte, bekam er Atembeschwerden. Schubart tat den Feldstecher ins Gebälk zurück. Er trat auf den Söller hinaus und verschloß die Bohlentür. Eine Oberschulklasse verließ lärmend einen Bus. Die Mädchen und Jungen drängten schwatzend über die Burggrabenbrücke. Mittags radelte Schubart nach Hause. Ihm war es, als beträte er eine fremde Wohnung. Evelin hatte Koteletts gebraten. Der Küchendunst schlug ihm im Flur entgegen. Nein, er wollte seine Gewohnheiten nicht aufgeben. Er verzichtete auch künftig nicht auf die kultivierte Atmosphäre des Ratskellers. Evelin wollte, daß sie in der Küche aßen, er bestand aber darauf, am weiß gedeckten Tisch im Zimmer zu speisen. Sie aßen schweigsam. Schubart ließ Evelin merken, daß er sie als Eindringling empfand. «Zwei Neubaublöcke werden als Wohnheime genutzt», erklärte er beiläufig, «dort gibt es allen Komfort!» «Ich habe verstanden», sagte Evelin und schwieg fortan. Nach Tisch benutzte Schubart seinen Wartburg. Er wollte 58
nach Dienstschluß eine Fahrt unternehmen, um den Abend nicht mit seiner Stieftochter verbringen zu müssen und ihren Fragen ausgeliefert zu sein. Die Bardenberger Tankstelle war geschlossen. Ein gelbroter Minoltanker wurde entladen. Der dicke Schlauch verschwand in einer offenen Tankluke am Boden. Schubart stellte seinen PKW ab und betrat den Laden, um ein Poliermittel zu kaufen. Der Verkaufsraum war leer. Die Tür zum Büro nebenan war nur angelehnt. Dort sprachen zwei Männer. «Vor Gericht, das wäre mir lieber, kannste glauben», sagte eine weinerliche Stimme. «Zwei, drei Leute auf den Zuhörerbänken, die einen nicht mal kennen! Konfliktkommission im Klubraum! Stell dir das mal vor! Da kommen doch alle! Der ist gerammelt voll!» Schubart hielt den Atem an und neigte lauschend den Kopf. Der da sprach war der Leiter der Tankstelle. «Na und?», brummte ein Baß. Er gehörte anscheinend dem Tankwagenfahrer. Auf dem Ladentisch lag eine aufgeklappte Ledertasche, wie Kraftfahrer sie benutzen. «Hauptsache, du bleibst dabei: zweihundert Liter und keinen Tropfen mehr! Und du weißt nicht, woher der Überbestand kam, klar?», brummte der Baß. «Der Leutnant bei der Kripo, so ein junger Hüpfer, der hat’s mir nicht abgekauft. Wenn der mich noch länger in der Mache gehabt hätte … Ich weiß nicht, ob ich dann …» Die Stimme brach ab. «Sag bloß, du hättest gesungen? Weißt du, was uns dann blüht? Dann sehen wir die Sonne ’n paar Jahre im Waffelmuster!» Schubart trat behutsam zum Ladentisch. In der offenen Ledertasche lag ein Papier mit dem Firmenkopf von Minol. Es war eine Lohnabrechnung. Der Betrag interessierte Schubart nicht, wohl aber der Empfänger: Schiffer, Hubert, Gohla. Nebenan empörte sich der Wehleidige: «Für dich bestimmt ’n paar Jahre! Du hast ja nicht bloß mich beliefert! Im Lager fehlen … zigtausend Liter Motorenöl!» 59
«Bist du wahnsinnig?», polterte der andere. «Das vergiß mal ganz flink!» Schubart schlüpfte ins Freie. Keine Sekunde zu früh stand er draußen. Die beiden Männer traten in den Laden. Da ging Schubart wieder hinein und grüßte freundlich. Die Gesichter der beiden Kontrahenten waren gerötet. Schubart ließ sich von Henzke ein neues Poliermittel empfehlen. Dabei resümierte er blitzschnell: Es ging um eine Beratung der Konfliktkommission bei Minol. Dort sollte ein umfangreicher Diebstahl vertuscht werden. Der Haupttäter war zweifellos der Fahrer. Der wäre Wachs in seiner Hand, könnte er ihm einen Diebstahl nachweisen. Doktor Schubart fuhr zur Burg zurück. Vor ihm bog ein weißer Moskwitsch mit dem Kennzeichen UP 18-93 auf die Hellstetter Chaussee ein. Schubart stand noch zu sehr unter dem Eindruck des Gehörten, als daß er seiner Umgebung mehr als die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Vielleicht hätte er sonst Grindel erkannt. Der bog links vor ihm ab. Für die hundertfünfzig Kilometer von Leipzig nach Bardenberg hatte Grindel länger als vorausberechnet gebraucht. Er würde entsprechend später zurückkommen. Grindel ging sein Vorhaben routiniert an. Er befuhr die Chaussee in zügigem Tempo. Sie führte in sanfter Kurve um den bewaldeten Hügel. Auf dessen kahler Kuppe bewegten sich die Funkmeßantennen. Grindel hatte sie nur aus der Entfernung ausgemacht. Die Bäume verbargen sie jetzt. An der rechten Straßenseite zog sich ein neuer Maschendrahtzaun hin. Über Isolatoren waren stromführende Drähte gespannt. Nahebei stand ein Wachturm. Zwischen den Bäumen schimmerten die hellen Fassaden von Soldatenunterkünften. Grindel verringerte das Tempo. Neben der Wache mit dem Schlagbaum befand sich ein Parkplatz. Grindel zählte ein Dutzend PKWs unterschiedlicher Typen. In der weiträumigen Anlage war außer der Funkmeßstation sicher noch anderes stationiert, schloß der Frankfurter. Am Ende des silbrig blinkenden Maschendrahtes stand ein weiterer Wachtturm. 60
Nach etlichen Kilometern stoppte Grindel und wendete. Er ließ einige Zeit verstreichen. Obwohl er Zigaretten nicht mochte, hatte er welche gekauft, um unauffällig zu operieren. Der Zaun lag diesmal links der Fahrbahn. Grindel kurbelte die Türscheibe herab und tat, als zünde er sich mit dem Feuerzeug eine Zigarette an. Während er langsam an den parkenden Fahrzeugen vorbeirollte, betätigte er mehrmals den Auslöser der im Feuerzeug verborgenen Minox-Kamera. Die Scheibe wurde emporgekurbelt. Der weiße Moskwitsch beschleunigte sein Tempo. Angewidert zerdrückte Grindel die Zigarette im Ascher. Auf seiner Stirn perlte Schweiß, seine Hände zitterten. Die operativen Einsätze zerrten an seinen Nerven. Seine «geschäftliche» Anwesenheit in Leipzig war noch für zwei Tage vorgesehen. Blaschke ahnte nicht, daß Grindel den Moskwitsch für weitere zwei Exkursionen nach Bardenberg benötigte.
8 Wieses Büro besaß nichts von der Eleganz des Gronauschen Dienstzimmers. Die Zweckmöbel sorgten für ein sachliches Arbeitsklima. Neben einem mit Ordnern gefüllten Regal stand ein wuchtiger Panzerschrank. Doch es deutete nichts darauf hin, daß hier die Fäden einer subversiven Organisation zusammenliefen, deren gefährliche, gegen den Frieden gerichtete Aktivitäten von hier aus gesteuert wurden. Es hätte ebensogut ein Büro des bundesdeutschen Patentamtes oder einer kirchlichen Institution sein können. Der ehemalige Kapitän der Bundesmarine las die Nachricht eines V-Mannes von einem mißlungenen Sabotageanschlag so teilnahmsvoll wie einen Wetterbericht. Daß der Täter gestellt worden war und seiner Bestrafung entgegensah, berührte ihn 61
wenig. Doch da Verluste schwer zu ersetzen waren, ärgerte ihn die Panne. Es käme nicht auf spektakuläre Erfolge an, meinte Gronau. Nicht zu unterschätzen sei die Wirkung kleiner Nadelstiche. Ein wegen Getriebeschaden ausgefallener Bus zum Feierabend. Eine schadhafte Heizung im Reisezug. Ein Stromausfall wegen Transformatorbrandes. Solche Vorkommnisse schufen Verstimmungen. In einzelnen Fällen wirkten sie sich negativ auf die Arbeitsproduktivität aus. Ein Hausbote schob seinen luftbereiften Aktenwagen durch den Flur. Vor Wieses Zimmertür hielt er, klopfte an und trat ein. «Grüß Gott, Herr Kapitän!» Er legte einen großformatigen Brief vor. Wiese hörte gern seinen alten Rang. Er bedankte sich. Ohne Neugierde schlitzte er den nur mit der Zimmernummer beschrifteten Brief auf. Der Umschlag enthielt vier Fotos achtzehn mal vierundzwanzig. Wiese blätterte flüchtig. Das erste präsentierte die Antennen einer Funkmeßstelle. Die übrigen drei zeigten einen Parkplatz neben der Wache eines militärischen Objekts. Diese drei Fotos besaßen geringfügig abweichende Perspektiven. Sie waren aus einem fahrenden Auto heraus fotografiert worden. Wiese legte die Bilder aus der Hand und entnahm dem Umschlag ein mit Zahlenkolonnen bedecktes Blatt. Auf einem angehefteten Zettel befand sich der dechiffrierte Text. Wieses Miene verriet nicht, ob die Nachricht ihn beeindruckte. Er erhob sich schwerfällig, trat an den Panzerschrank, öffnete ihn und suchte einen Aktenordner heraus. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und schlug die Akte auf. Sie enthielt neben kurzen Texten aufgeklebte Fotos von einer Funkmeßstelle. Mit einer Lupe verglich Wiese das neue Bild mit den vorhandenen. Seine Miene verriet nichts. Er drückte eine Taste des Wechselsprechgerätes. «Ja, Herr Wiese?» Doktor Gronaus Stimme klang verzerrt. «Nachricht von Felix», sagte Wiese. «Ich bin frei», erklärte Gronau. Wiese ging zu seinem Chef. Gronau betrachtete das Foto ein62
gehend. «Die Umrüstung auf das neue Gerät scheint abgeschlossen zu sein.» Wiese nickte und sagte: «Ich sehe eine Chance, in der Sache ‹Hügel› Fahrt zu machen!» «Wir haben uns auf ‹Januskopf› geeinigt, Herr Wiese! ‹Aktion Januskopf›!» «Mit Recht! Grindel hat einwandfrei als Blaschke funktioniert! Seine ersten Fotos!» Er reichte Gronau die restlichen Bilder. «In drei Tagen wissen wir, welche PKWs da ständig festmachen!» Gronau hatte sich so an Wieses maritime Ausdrucksweise gewöhnt, daß er sie nicht mehr komisch fand. «Auf welche würden Sie ansetzen wollen?» Wiese hatte die Frage erwartet. «Auf die ältesten Modelle! Den Wartburg dreihundertelf zum Beispiel!» Doktor Gronau nickte. Wieses Überlegung leuchtete ein. Wer so ein altes Fahrzeug fuhr, schwamm wohl nicht im Geld. Sicherlich, es gab drüben lange Wartezeiten für ein neues Auto. Aber wer über das erforderliche Geld verfügte, kam auch aus zweiter Hand zu einem neuwertigen Fahrzeug. Vielleicht ließ sich der Eigentümer des alten Wartburgs korrumpieren? Die Betriebsanleitung der neuen Anlage wären der «Firma», wie die Pullacher Zentrale von ihren Mitarbeitern intern genannt wurde, einen PKW Golf wert. Der Geschenkexport würde die Zuwendung möglich machen. «Sie sprachen von einer Chance, weiterzukommen?», fragte Gronau. «Ja. Felix ist per Zufall auf eine tolle Sache gestoßen. Ein Tankwagenfahrer von Minol hat anscheinend größere Mengen Motorenöl gestohlen. Wenn wir uns den an Land holen?» Wiese sah Gronau abwartend an. Der furchte nachdenklich seine Stirn. Felix war zu wertvoll, um ihn für ein so riskantes Unternehmen einzusetzen. Es genügte, wenn er Augen und Ohren offenhielt. Der Hinweis auf den diebischen Kraftfahrer bewies es. Von Felix stammte schließlich auch die Nachricht, daß das Bardenberger Robo63
terwerk seiner Vollendung entgegen ging. Was vor einem Jahr niemand voraussehen konnte, trat nun ein: Bardenberg wurde Schwerpunkt! «Wozu etablieren wir Januskopf?», erklärte Gronau. «Veranlassen Sie, daß Grindel für weitere Geschäftskontakte im mitteldeutschen Raum eingesetzt wird.» «Das habe ich vorbereitet. Es ist auch notwendig, daß Blaschke von ihm Instruktionen erhält!» «Wo?» «Der Leipziger besitzt irgendwo im Fläming einen Bungalow. Bei Wiesenburg, glaube ich.» «Machen Sie Dampf auf, Herr Wiese! Wie sagen Sie immer so treffend? Große Fahrt voraus!» «Vorläufig heizen wir erst mal die Kessel an, Herr Gronau!» In seiner bedächtigen Art unterbreitete Wiese seine Vorschläge. Die wichtigsten Figuren waren Felix in Bardenberg, der Frankfurter Grindel und der Leipziger Blaschke. Wiese versicherte, daß neben nachrichtendienstlichem Instruktionsmaterial auch ein im Hause gefertigter Personalausweis und ein Führerschein der DDR mit Grindels Foto über die Transitstrecke eingeschleust werden würden. Grindel sollte nicht nur Blaschke unterweisen, sondern auch den Tankwagenfahrer ausforschen. «Eine heikle Aufgabe», gab Gronau zu bedenken. Wiese winkte ab. «Ich habe einen Plan. Falls die Chose auf Grund läuft: Grindel agiert ja als Blaschke!» «Moment mal, Herr Wiese! Als Opferbauer – wie es im Schachspiel heißt – ist mir der Leipziger zu schade!» «Mir auch!», versicherte Wiese rasch. Er schilderte Gronau präzisiert, wie der Angriff auf das Geheimnis der neuartigen Radargeräte zu führen sei. In seinem Plan spielte bereits jener Hubert Schiffer eine Rolle, von dem noch nicht einmal gewiß war, ob er sich aktivieren ließ. «Im großen und ganzen bin ich einverstanden», versicherte Gronau. «Allerdings ist nicht zu übersehen, daß es in unserer ‹Aktion Januskopf› von Unwägbarkeiten wimmelt!» 64
Wiese hob und senkte stumm seine Schultern. Im Begriff, Gronaus Zimmer zu verlassen, wendete er sich an der Tür noch einmal zurück. «Ich habe Herrn Grindel eine Erfolgsprämie in Aussicht gestellt.» «Einverstanden, Herr Wiese!», erklärte Gronau.
9 Die Kurve zur Lüsinger Straße nahm Schreiber zu schnell. Die Reifen des hellblauen Trabant-Kombi kreischten. Fast vor jedem der Reihenhäuschen parkte ein PKW. Freitags gegen achtzehn Uhr traf man die Bewohner zu Hause an. Kehrte Schreiber von mehrtägiger Verkaufsfahrt zurück und bog in die Straße ein, wurde ihm ihre Enge stets aufs neue bewußt. Die verschiedenfarbigen Fassaden erinnerten ihn an die Bienenwagen wandernder Imker. Schreiber litt an einem angeborenen Gehfehler. Das rechte Bein war drei Zentimeter kürzer. Orthopädisches Schuhwerk glich das aber aus. Der Kopf des Vierundvierzigjährigen war mit einem spärlichen Haarkranz bedeckt. Mit der Reisetasche lief er die paar Schritte zur Haustür. Bevor er den Schlüssel hervorkramte, wurde sie geöffnet, und sein Sohn füllte den Eingang. «Hallo, Chef!», grüßte Helmut salopp. Gerade siebzehn, überragte er seinen Vater beträchtlich. «Grüß dich, Junge!», sagte Schreiber. «Sieht man dich nur noch futtern?» Helmut aß eine Leberwurstschnitte, «Dafür bin ich kein so schmales Hemd wie du, gelle?», klang es selbstbewußt. Helmut trat zur Seite. Schreiber kam im engen Flur mit Mühe an ihm vorbei. Der Tisch in der Küche war weiß gedeckt. In einer Vase standen lachsfarbige Nelken. Schreiber setzte sich seufzend und genoß es, wieder zu Hause zu sein. 65
«Essen und Lesen!», nörgelte er. Helmut zeigte sich nicht beeindruckt. Väterliche Autorität hatte Schreiber nie besessen. Das brachte sein Vertreterberuf mit sich. Die Erziehung des Jungen blieb Beate überlassen. «Sieh beim Trabi mal nach der Zündung», bat Schreiber. Helmut lernte im zweiten Jahr Autoelektriker. «Morgen», mümmelte der, «heute ist Volleyball!» «Morgen fahre ich nach Leipzig», wandte Schreiber ein. «Da wird Muttsch sich aber freuen. Die spinnt schon, daß jetzt alles anders wird. Der Mann zu Hause, wie es sich gehört! Ich muß los, tschüs!» Er schlug seinem Vater auf die Schulter und ging. «Tschüs!», erwiderte Schreiber zerstreut. Beate würde enttäuscht sein, daß er das Angebot ablehnte. Die Bardenberger Spielzeugfabrik hatte sich einem Kombinat angeschlossen und brauchte keinen Vertreter mehr. Schreiber seufzte. Zwei Jahrzehnte war er in der Republik unterwegs gewesen, hatte Tausende Bestellblöcke vollgeschrieben. Sein unstetes Leben gefiel ihm. Das Risiko reizte ihn, morgens nicht zu wissen, ob es ein erfolgreicher oder ein schlechter Tag werden würde. Die Umsatzprämie bestimmte seinen Verdienst. Er nahm die in Gohla auf seine Zeitungsannonce eingegangenen Zuschriften aus der Tasche und pfiff überrascht. Ein Brief kam aus Bardenberg. Der Interessent schrieb, daß er sich eine Quarzarmbanduhr wünsche. Schreiber zog seine Schuhe wieder an, schlüpfte in den Anorak und verließ die Wohnung. Der Trabant startete erst nach einigen Fehlzündungen. Er fuhr zur Hellstetter Chaussee und fand das Grundstück fünfhundert Meter hinter dem Ortsschild. Er stoppte an der Gartenpforte, stieg aus und drückte die Klingel. Ein Mann kam zur Pforte und wischte seine Hände an einem Lappen ab. «Guten Abend! Herr Faber?», fragte Schreiber. «’n Abend! Nein, bin ich nicht, er wohnt aber hier! Kann ich was ausrichten?» 66
Schreiber zögerte, meinte dann unschlüssig: «Eigentlich nicht. Er hat auf meine Annonce geschrieben. Ich könnte in einer Stunde noch mal vorbeikommen!» «Zwecklos, er kommt erst nach zehn. Spätdienst!» «Spätdienst?» «Volkspolizei-Kreisamt! Fragen Sie doch bei der Kripo nach Leutnant Faber!» «Ach, ach ja?», stotterte Schreiber. Sein Mund wurde trocken. «Das mach ich», sagte er, aber seine Stimme klang gepreßt. Er lüftete seinen Hut. Selbst im Sommer trug er eine Kopfbedeckung, seiner Haarblöße wegen. Er bedankte sich und stieg in seinen Trabant ein. Der Mann im grauen Kittel lief zum Haus zurück. Schreiber hockte reglos hinter dem Lenkrad. Ob der andere wohl gemerkt hatte, daß ihm der Schreck in die Glieder gefahren war? Was lag denn hier an? War das eine Falle? Aber auch ein Kriminalist hatte Wünsche. Weshalb nicht den, eine Quarzarmbanduhr zu besitzen? Es war ungeschickt gewesen, von der Annonce zu reden. Die Kripo hakte vielleicht in der Gohlaer Anzeigenannahme nach? Schreiber atmete auf. Für diesen Fall hatte er vorgesorgt. Mit einem gefundenen Personalausweis hatte er sich als Herbert Schuster, wohnhaft in Sonneberg, ausgewiesen. Sein Foto war nicht besonders geschickt hineinpraktiziert. Es hielt keiner ernsthaften Prüfung stand, reichte aber, um Anzeigenannahmen zu täuschen. Die Kaufhalle blieb freitags bis neunzehn Uhr geöffnet. Beate konnte erst eine Stunde später, nach dem Umweg zum Nachttresor der Sparkasse, zu Hause sein. Schreiber fand im Kühlschrank drei Buletten und aß sie im Zimmer vorm Fernseher. Der Abenteuerfilm interessierte ihn nicht, er schlief ein und erwachte erst, als Beate kam. Nach einer Woche Getrenntsein begrüßten sie sich zärtlich. Er gratulierte ihr, daß aus der kommissarischen eine endgültige Ernennung als Kaufhallenleiterin geworden war. «Ich bin froh, daß deine Herumreiserei aufhört», sagte sie 67
beim Abendbrot. «Du verdienst zwar weniger, aber in der Buchhaltung …» «Ich gehe nicht ins Büro», unterbrach er sie. Sie starrte ihn ungläubig an. «Hu gehst nicht …?» «Nein. Ich habe einen Aufhebungsvertrag unterschrieben!» «Das ist nicht wahr», sagte sie ratlos. «Im Büro, Beatchen, du – das ist nichts für mich. Da fällt mir die Decke auf den Kopf!» Sie blickte ihn hilflos an. «Aber – was wird denn dann?» Er trank sein Bier und goß das Glas wieder voll. «Alles schon perfekt! Nichts ändert sich, alles bleibt wie bisher! Wehrhahns stellen mich ein!» «Wehrhahns?», fragte sie ungläubig. Er wußte vorher, daß sie es nicht begreifen würde. Der kleine Familienbetrieb produzierte Souvenirpuppen: Spreewälderinnen, den Hauptmann von Köpenick und den Eckensteher Nante, das Altberliner Original. Schreiber verkaufte seit Jahren Wehrhahnsche Erzeugnisse nebenher. Beates Miene drückte Zweifel aus. Der winzige Betrieb produzierte niemals so viel, daß es lohnte, einen Reisenden zu beschäftigen. «Sie stellen mich ja auch nicht als Vertreter ein, herrgottnochmal, sondern als Puppenmacher!» «Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Du sagtest doch, es ändere sich nichts?» «Das tut es auch nicht. Ich reise wie immer. Bloß statt Spielwaren verkaufe ich mehr Mitnehmer!» Er verschwieg, daß der alte Wehrhahn nur widerwillig zugestimmt hatte, ihn einzustellen. Lohnsteuer und Versicherung zahlte Schreiber künftig aus eigener Tasche. Beate kauerte in ihrem Sessel und war ernstlich verstimmt. «Das ist ein Scheinarbeitsverhältnis!», erklärte sie sachlich. «Damit verstößt du gegen das Gesetz! Was ist das für Ware, die du verkaufst?» «Industrieerzeugnisse», wich er aus, «ich fahre morgen nach Leipzig zur Lieferfirma.» 68
«Morgen? Am Sonnabend?» Schreiber nickte und vermied es, Beate anzusehen. Blaschke hatte ihm am Telefon den Termin aufgeschwatzt, da der Bucklige dann nicht störte. «Du, Hansi, sieh mich mal an! Das ist doch nichts Krummes?» Für diesen Abend war die Stimmung zerstört. Doch Schreiber hoffte zuversichtlich, daß sich Beate mit allem abfand, sobald sie einsah, daß er nicht umzustimmen war. «Überlege dir, ob das richtig ist, was du vorhast! Ich möchte so nicht weiterleben, wenn du nur an den Wochenenden da bist!» Er starrte sie verblüfft an. So eindringlich hatte sie noch nie mit ihm geredet. Beate hatte sich verändert, seit sie für sechzig Mitarbeiter und für Hunderttausende Mark Waren verantwortlich war. Leutnant Faber verließ wie jeden Morgen kurz nach sieben Uhr in Trainingsanzug und Laufschuhen das Haus. Der Postsekretär kramte im Schuppen und trat vor die Tür. Er grüßte und fragte neugierig: «Hat der Mann sich bei Ihnen gemeldet?» «Ein Mann?», fragte Faber. «Wann? Und weshalb?» «Er sagte, Sie hätten auf seine Annonce geschrieben.» «Die H. S. siebzehnzwoeinunddreißig!» Faber blickte nachdenklich seinen Wirt an. «Was meinen Sie, weshalb verbergen sich Inserenten hinter einer Chiffre? Das interessiert mich mal!» «Nun ja», sein Hauswirt kratzte den Nacken. «Das kann verschiedene Gründe haben. Als wir unsere Angorakaninchen abschafften, die Fummelei mit der Wolle war uns über, da haben wir auch unter Chiffre annonciert. Wir wollten uns nicht die Rabatten zertreten lassen!» Faber nickte und sah prüfend zum Himmel. «Es gibt Regen! Was ich sagen wollte, hat der Mann seinen Namen genannt?» «Nein. Er kam mit einem hellblauen Trabant-Kombi. Ein Bardenberger. Ich bin ihm schon begegnet. Also ist er nicht gekommen?» 69
«Nein. Ein hellblauer Kombi? Erinnern Sie sich an das Kennzeichen?» «Natürlich nicht. Er stand ja davor. Bloß die Ziffern waren zu sehen, lauter dreien!» «Das ist doch schon was. Wie viele waren es denn?» «Drei», sagte Fabers Wirt, «drei. Strich, drei, drei!» Der Leutnant winkelte die Arme an und nahm den Gartenweg im Laufschritt. Etliche Minuten waren verplaudert, Karin wartete wohl schon. Er lief die Hellstetter Chaussee entlang. Der Wind blies ihm kalten Niesel ins Gesicht. Die Gefälligkeit seines Hauswirtes nützte ihm wenig, überlegte Faber, im Gegenteil! Der hatte den Verkäufer der Quarzarmbanduhr verprellt. Daß der ein Bardenberger war, schien einer jener Zufälle, auf die ein Kriminalist gelegentlich hofft. Von der Hellstetter Chaussee bog der Leutnant zur Bardenburg ab. Die Strecke stieg an. Faber freute sich, daß ihm seine Kondition gestattete, bis zum letzten Haus am Hang ein flottes Tempo anzuschlagen. Hier stiegen selbst trainierte Radfahrer ab. Faber verminderte das Tempo. Aus dem Haus trat eine junge Frau. Der Leutnant erkannte sie und blieb stehen. Frau Wille lief zum Schuppen, kam mit einem Fahrrad heraus und schob es zur Gartenpforte. Faber blickte sich suchend um, von Karin keine Spur; ihre Tante kränkelte wohl wieder. Frau Wille stutzte, als sie den Leutnant sah, trat näher und begrüßte ihn. «Haben Sie es eilig?», fragte er. «Ja, ich übernehme die Schicht für einen Kollegen.» «Mich interessiert, wie die Beratung der Konfliktkommission verlaufen ist. Wir haben den Beschluß noch nicht.» «Laufen Sie mit mir den Hang hinunter?», fragte Frau Wille. «Er ist mir zu steil.» Sie kam von der Vorstellung nicht los, daß die Rücktrittbremse einmal versagen könnte. Karin wartete hinter den Büschen am Hang auf Faber und sah enttäuscht, daß er die Frau begrüßte und den Weg hinab begleitete. Sicher kannte er sie länger. Sie unterdrückte den Wunsch zu rufen und sah ihm verstimmt nach. 70
«Der Klubraum war gerammelt voll», berichtete Frau Wille. «Alfred, der Henzke, meine ich, hat auf die Tränendrüse gedrückt. Den Schaden hat er schon ersetzt. Aber er arbeitet nicht mehr in der Tankstelle, sondern im Tanklager!» «Ist das denn nachteilig für ihn?» «Er bekommt keinen Kundenkontakt mehr und …» «Kein Trinkgeld», ergänzte Faber. Sie nickte. «An vier Wochenenden arbeitet er im Kinderferienlager! Henzke hat alles akzeptiert!» «Was schließen Sie daraus?» «Das möchte ich nicht sagen.» «Sie vermuten, daß hier mehr gelaufen ist. Daß auch der Tankwagenfahrer beteiligt war, dieser Schiffer!» «Ich verdächtige keinen, wenn ich es nicht beweisen kann! Ich habe Ärger genug!» «Ärger?» «Ja.» Rita Wille blieb stehen. Ihre Stimme bebte vor Empörung. «Ich bin jetzt als Leiterin eingesetzt worden. Die Kollegen denken, daß ich darauf aus war …, daß ich Henzke deshalb …» Sie brach ab und kramte nach dem Taschentuch. «Wenn Otto, Kollege Haube, wenn der nicht zu mir hielte, ich hätte schon das Handtuch geschmissen!» Sie trocknete ihre Tränen. Faber legte spontan seinen Arm um ihre Schultern und sprach auf sie ein. «Geben Sie nichts auf das Gerede der Leute. Die sind bloß neidisch. Beweisen Sie den Kollegen durch Ihre Arbeit, daß Sie auf den richtigen Platz gestellt wurden.» Sie nahmen das letzte Stück des Steilhanges. Frau Wille bedankte sich. «Eigentlich habe ich nicht am Wasser gebaut», sagte sie, «aber wenn es an die Ehre geht!» Sie schwang sich aufs Rad. Faber spürte keine Lust umzukehren und bedauerte, daß der Fotoladen sonnabends geschlossen blieb. In Blaschkes Büro war es kalt. Der elektrische Heizlüfter blies machtlos gegen die feuchte Kälte an. Schreiber saß dem Leipziger am Mittelfußtisch gegenüber 71
und nippte am Instantkaffee; als Vertreter war er jede Kaffeesorte gewöhnt. Sie tauschten Neuigkeiten aus. Schreiber erzählte Witze; ein in Rostock erfundener wurde von ihm ein paar Tage später in Suhl unter die Leute gebracht. Er servierte die Pointen unnachahmlich. Auf dem Schreibtisch war die Ware gestapelt. Schreiber erzählte eine Anekdote und überschlug dabei, wieviel Geld er hinzublättern hatte: zehn Taschenrechner ä dreihundert Mark, er bekam vierhundert pro Stück, vierundzwanzig Quarzarmbanduhren zu je zweihundertfünfzig und die im Dutzend gebündelten Schallplatten, fünf Bündel ergaben sechzig Stück ä vierzig Mark. Zusammen kam er auf elftausendvierhundert Mark. In seiner Reisetasche schleppte er eine Kassette mit. Das war unbequem, verhinderte aber, daß Beate oder Helmut erfuhren, mit welchen Summen er hantierte. Blaschke schob ihm einen Zettel hin, auf dem die Endsumme glatte zwölftausend Mark betrug. Der Leipziger hatte den Stückpreis der Schallplatten auf fünfzig Mark erhöht. Schreiber monierte. «Reden Sie kein Blech», wehrte Blaschke ab, «Mann, Schreiber, Sie machen ein Bombengeschäft!» Das stimmte. Die Platten wurden ihm das Stück für hundert Mark aus der Hand gerissen. «Dafür lohnen die Rechner nicht», nörgelte er. «Vierhundert blättert keiner mehr hin. Die Uhren gehen auch mies, seit Ruhlaer und Glashütter zu haben sind!» «Das war schon immer so», behauptete Blaschke ungerührt, «Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis! Geht eins nicht, geht das andere!» Schreiber zerrte die Kassette aus der Ledertasche, Blaschke meinte spöttisch, daß er sich hüten würde, einen Geldschrank mitzuschleppen. Der Bardenberger berichtete beiläufig, daß er seinen Vertreterjob bei der Spielwarenfabrik verloren habe, fügte aber rasch hinzu, daß er für eine andere Firma weiterhin 72
in Spielwaren reiste. Wenn Blaschke wüßte, daß er künftig von ihm abhing, beschnitt er die Verdienstspanne. Schreiber hob den Kassettendeckel und nahm gebündelte Hundertmarkscheine heraus. Zwei Päckchen à fünftausend Mark schob er Blaschke hin, vom dritten zählte er zwanzig blaue Scheine ab und warf den Rest zurück. «Wie sieht’s aus, Herr Blaschke, stocken wir die Beatscheiben auf? Ich könnte das Dreifache absetzen!» «Gut, daß Sie darauf kommen. Sie zu beschaffen ist nicht das Problem. Mein Cousin in Frankfurt am Main ist Einkäufer einer Im- und Exportfirma. Die sind aber mehr an Kompensationen interessiert: Ware gegen Ware! Sehen Sie, da liegt der Hund begraben! Schaffen Sie Ware ’ran, und wir sehen weiter!» Schreiber ließ merken, wie enttäuscht er war. «Husten Sie mal ohne Hals! Wie komme ich an Ware? Und was für Zeug? Spielzeug?» Er war auf eine Spöttelei gefaßt. «Weshalb nicht?» Blaschke blieb sachlich. «Sofern es alt genug ist! Auf altes mechanisches Spielzeug und auf Lederbalgpuppen sind Sammler wild!» Schreiber dachte an das Spielzeugmuseum der Bardenberger Fabrik. Der Gedanke war ihm noch nie gekommen, daß die dortigen Exponate Sammlerwert besaßen. «Ich dachte aber an Antiquitäten, Briefmarken, Münzen, Schmuck und Kristall wie bisher!» Wie sollte Schreiber ständig an solche Dinge herankommen? Noch schwieriger war es, diese Sachen vor Beate und Helmut zu verbergen. «Gehen Sie auf Münzauktionen. Studieren Sie Zeitungsannoncen …» «Und Ihre Zettel in den Glaskästen!», unterbrach Schreiber mit einem Anflug von Galgenhumor. «Mein Cousin deutete an, daß bald nur noch kompensiert wird», sagte Blaschke. Schreiber heuchelte sein Erschrecken nicht, es war echt. Er verstaute die Waren in seinen Taschen, trat auf die Straße hinaus und ertappte sich dabei, daß er sorgfältig prüfte, ob man 73
ihn beobachtete. Auch Blaschke blickte über die Aushänge der unteren Schaufensterhälfte hinweg nach draußen. Der Trabant-Kombi parkte in der Nebenstraße. Schreiber verstaute die Schallplatten und die Reisetasche und schob sich hinters Lenkrad. Wie hätte Blaschke wohl reagiert, dachte er, wenn er ihm gesagt hätte, daß auf die Zeitungsannonce einer von der Bardenberger Kripo geschrieben hatte? Der Leipziger würde vermutlich kalte Füße bekommen haben. Und Beate? Wie würde sie reagieren, falls sie erfuhr, welch riskante Geschäfte er tätigte? Schreiber beschloß, künftig sein Verhalten zu ändern und nicht mehr so unbekümmert auszuplaudern, was ihn bewegte. Bei den kommenden Geschäften wäre so etwas selbstmörderisch. Er fuhr weniger zuversichtlich nach Bardenberg zurück, als er von dort abgefahren war.
10 Bei seinem zweiten Rapport in Pullach bekam Grindel Doktor Gronau nicht zu sehen. Wiese empfing ihn in seinem nüchternen Dienstzimmer. Grindel saß ihm auf einem unbequemen Stuhl an seinem Schreibtisch gegenüber. «Ich brauche von Ihnen eine schriftliche Einschätzung Blaschkes», erklärte Wiese, nachdem sie einige unverbindliche Floskeln ausgetauscht hatten. «Wir führen ihn unter dem Decknamen ‹Ernst›», ergänzte er. «Okay!» Grindel nickte. Der Bericht würde positiv ausfallen. Nachdem die erste Erkundungsfahrt mit Blaschkes Moskwitsch ohne Komplikationen verlaufen war, erhob der Leipziger kaum noch Einwände, als Grindel den Wagen für die beiden folgenden Tage benötigte. Der Hinweis des Frankfurters, daß der Tank randvoll gefüllt sei, gefiel Blaschke sichtlich. Wiese blätterte in einigen großformatigen Fotos und reichte eines seinem Besucher. 74
Grindel erkannte den alten Wartburg dreihundertelf. Im Fotolabor war der Veteran als einziger der zwölf PKWs vergrößert worden. Bis auf zwei Fahrzeuge parkten dieselben Personenwagen wie am ersten auch an den folgenden zwei Tagen neben der Wache. «Wir brauchen alle erreichbaren Auskünfte über den Besitzer des Wartburgs!», forderte Wiese. «Setzen Sie Ernst ein, Herr Grindel! Der soll sich was einfallen lassen. Eine angebliche Kollision auf ’m Parkplatz oder so …» Wiese brach ab. «Sie setzen als selbstverständlich voraus, daß Blaschke», Grindel räusperte und korrigierte sich, «daß Ernst den Auftrag ausführt?» «Sie etwa nicht?», gab Wiese lakonisch zurück. Grindel zuckte die Schultern, obwohl er nicht an Blaschkes Bereitwilligkeit zweifelte. Der Leipziger hatte den Köder geschluckt, daß er in absehbarer Zeit nach Frankfurt reisen könne. Daß er vorher einiges zu leisten hatte, wußte er auch. Doch wenn er Blaschke als allzu beflissen darstellte, schmälerte er in Wieses Augen die eigene Leistung. «Sie haben Wichtigeres zu tun!», erklärte Wiese. Er kramte in einer Akte und reichte Grindel ein weiteres Foto. Das Brustbild eines Mannes erschien trotz beträchtlicher Vergrößerung gestochen scharf. Das Gesicht wirkte energisch, er schien der Typ, der genau wußte, was er wollte. Der Mann stand neben einem Tankfahrzeug mit der Aufschrift Minol. «Dieser Mann», erklärte Wiese, «heißt Hubert Schiffer. Er ist einundvierzig Jahre alt und seit vier Jahren geschieden. Eine sechzehnjährige Tochter lebt bei ihrer Mutter. Schiffer ist Kraftfahrer und fährt diesen Tankwagen von Minol. Das ist, wie Sie wissen, drüben der staatliche Kraftstoffhandel!» Wiese machte eine bedeutungsvolle Pause und schloß: «Dieser Mann ist Ihre Zielperson!» «Der –?», fragte Grindel gedehnt. Wieses Gesicht blieb so ausdruckslos wie immer. Mit sachlich klingender Stimme berichtete er: «Dieser Tankwagenfahrer besitzt am Röbelsee ein Wassergrundstück. Am Steg ist ein 75
Kajütboot vertäut und am Wochenende: Leinen los! Im Augenblick ist er dabei, seinen Bungalow am Wasser aufs feinste herzurichten! Alle Anschaffungen wurden in den letzten drei Jahren getätigt!» «Hat er im Lotto gewonnen?», fragte Grindel. «Davon ist Felix nichts bekannt», versicherte Wiese und verstummte, ärgerlich darüber, daß er den Namen genannt hatte. «Felix?», warf Grindel hin. Endlich ein Lichtblick, dachte er, mit dem Bardenberger hatte er seit Jahren Kontakt. Dann stammte das Foto wohl auch von ihm. War Felix bei der Aktion Januskopf dabei, schätzte er das Vorhaben optimistischer ein. «Dieser Schiffer hat Diebstähle großen Stils begangen», behauptete Wiese. «Alles, was er in den vergangenen Jahren an Land gezogen hat, finanzierte er damit!» «Das verstehe ich nicht», sagte Grindel, «fiel das denn niemand auf? Dieser Lebensstil?» «Anscheinend nicht. Und wo kein Kläger ist, ist kein Richter!» «Und wie macht der Mann die Kohle?», fragte Grindel. «Das herauszufinden ist Ihre Aufgabe!», antwortete Wiese lakonisch. Grindel machte ein bedenkliches Gesicht. «Wie soll ich diesem cleveren Burschen denn auf die Schliche kommen?» «Nutzen Sie den Vorteil, daß Sie sich als angeblicher Bürger der DDR zwanglos bewegen können!» «Auch als DDR-Bürger ließe man mich kaum in das Tanklager ’rein», erklärte Grindel sarkastisch. «Selbst wenn! Was soll ich da eruieren? Der Diebstahl findet vermutlich mit gefälschten Lieferscheinen statt! Da sehe ich doch alt aus!» «Sie haben recht», bestätigte Wiese. Er zündete am Rest eines Zigarillos einen neuen an. «Es gibt wohl nur eine Möglichkeit, diesem Schiffer auf die Schliche zu kommen: Er muß selbst auspacken!» «Was schlagen Sie vor, Herr Wiese? Ein Verhör dritten Grades? Oder gewöhnliche Daumenschrauben?» «Dummer Snack!» Wiese zeigte sich nicht beeindruckt und holte zu einer längeren Erklärung aus. Als blutjunger Matrose 76
war er im zweiten Weltkrieg auf einem Zerstörer gefahren und bei harten Einsätzen in schwerer See tagelang nicht aus den nassen Sachen gekommen. «Damit wir als Rudergänger nicht einschliefen, kriegten wir kleine weiße Tabletten. Pervitin hieß das Zeug!» «Muntermacher?» «Das reinste Teufelszeug! Ließ die Wirkung jedoch nach, war man doppelt kaputt. Um wieder fit zu werden, brauchte man die doppelte Dosis!» Grindel wußte noch nicht, worauf Wiese hinaus wollte. Die Eigenschaften des Pervitins kannte er. Er wußte auch, daß dieses Aufputschmittel süchtig machte. «Weshalb ich das verklare?» Wiese beantwortete seine Frage selbst: «Dieses Pervitin hat eine verdammte Nebenwirkung: Es versetzt nicht nur in euphorische Stimmung. Es macht auch redselig! Und wie!» So, als handele es sich um eine Alltäglichkeit, entwickelte Wiese seine Vorstellung. Grindel sollte die Bekanntschaft des Fahrers suchen. Wiese kramte in seiner Schublade und entnahm ihr ein Glasröhrchen mit winzig kleinen weißen Tabletten. Er versicherte, daß sie sich in jeder Flüssigkeit auflösten und geschmacklos seien. Grindel schob das Röhrchen in seine Tasche. Mit diesem Hilfsmittel und Wieses Anregungen versehen hielt er es für durchaus möglich, hinter Schiffers Geheimnis zu kommen.
11 Am Montagfrüh lief Faber zeitig zur Burg hinauf, um Karin nicht zu verfehlen. Er wartete umsonst. Die Ahnung, daß dies kein Zufall war, wurde zur Gewißheit; Karin mied ihn absichtlich. Aber weshalb? Am Sonnabend war er zweimal an dem Haus vorbeigegan77
gen, in dem sie wohnte. Er hoffte vergeblich, sie zu treffen. Der Sonntag ohne Karin verstimmte ihn. Am Montagfrüh betrat Major Werner sein Dienstzimmer, da läutete Fabers Telefon. Werner ging hinüber und hob den Hörer. Die Kfz-Zulassungsstelle gab eine von Faber angeforderte Auskunft. Werner notierte, daß ein roter Wartburg ein Kennzeichen mit den Ziffern «drei. Strich, drei, drei» besaß. Das Fahrzeug gehörte der Produktionsgenossenschaft des Malerhandwerks in Bardenberg. Ein blauer Trabant-Kombi besaß andere Buchstaben, aber ebenfalls die Ziffern «drei, Strich, drei, drei». «Das ist er!», erklärte der Leutnant nach der Begrüßung, als er Werners Notiz las. Kfz-Halter war der Bürger Hans Schreiber, wohnhaft in Bardenberg, Lüsinger Straße fünfzehn. «Das ist wer?», fragte Werner. «Der Bürger, der die Quarzarmbanduhr per Annonce zum Verkauf angeboten hat! Die Chiffre H. S. siebzehnzwoeinunddreißig! Ich sagte doch, daß ich mich darauf melde!» Der Major erinnerte sich. Faber berichtete, daß der Kontakt nicht zustande gekommen war. Der Anbieter war aber bekannt, dank der Aufmerksamkeit des Postsekretärs. «Mann, Faber, was soll das? Da verkauft jemand eine Quarzarmbanduhr, nicht mal überteuert. Und was weiter?» «Vielleicht sind es ein Dutzend Uhren? Eine einzelne wird man los, ohne zu annoncieren. Da sie aus der BRD stammen, frage ich mich, wie sie bezahlt werden? Mit Mark der DDR? Deren Ausfuhr ist verboten! Mit Ware? Das wäre unstatthafte Kompensation!» «Darüber mehr zu wissen wäre nicht schlecht», sagte Werner. «Was schlagen Sie vor?» «Zunächst will ich feststellen, ob Blaschke und Schreiber miteinander in Verbindung stehen. Wenn ja, haben wir die Quelle für die westlichen Quarzarmbanduhren. Beide Annoncen könnten auch von Blaschke aufgegeben worden sein, und Schreiber besorgt den Verkauf. Damit wäre bewiesen, daß organisierter Schwarzhandel vorliegt!» 78
«Hm!» Der Major verschloß sich dieser Logik nicht. «Und wie weiter?» «Zuerst will ich feststellen, wer in der Gohlaer Anzeigenannahme das Inserat aufgegeben hat. Schreiber oder der Leipziger Blaschke. Ich brauche Schreibers Foto aus der Einwohnerkartei!» Der Major nickte und ging in sein Zimmer hinüber. Es gefiel ihm, wie zielstrebig der Leutnant die Sache verfolgte. Später überraschte er Faber, wie er vor dem leeren Schreibtisch saß und seinen Kugelschreiber hin- und herrollte. «Nervös?» Faber nickte. «Ja. Ich habe ein privates Problem, das mich nervt!» «Kann ich helfen?» «Könnte ich ’ne Stunde außer Haus …?» «Los, haun Sie ab! Und wenn Sie wiederkommen, melden Sie mir, daß das Mädel wieder spurt!» Leutnant Faber sah ihn verblüfft an und bekam rote Ohren. Er schlüpfte in seine Lederjacke und verließ das Zimmer. Karin blickte nur flüchtig auf, als er den Laden betrat. Sie senkte den Kopf rasch wieder und tat, als wäre sie in ihre Arbeit vertieft. Am Kundentisch sitzend, beschriftete sie Preisschilder. Der Verkaufsstellenleiter kam nach vorn. «Sie wünschen?» Faber winkte ab und trat zu Karin. «Ich muß dich sprechen!» «Tut mir leid, ich habe zu tun», sagte sie und vermied es, ihn anzusehen. «Das ist nicht wahr», widersprach er, «es tut dir überhaupt nicht leid!» «Ich weiß nicht, was es noch zu reden gibt!» Karins Lippen zuckten. «Sie sehen doch, daß Kollegin Wenzel arbeitet!», erklärte Klein triumphierend. Faber nickte. «Ich sehe noch mehr! Zum Beispiel, daß Sie sich freuen, wenn wir eine Meinungsverschiedenheit haben! 79
Rechnen Sie sich etwa eine Chance aus? Hier liegt nur ein Mißverständnis vor!» «Mißverständnis?», sagte Karin so leise, daß nur Faber es verstand. «Wie du deine Freundin umarmt hast, das war nicht mißzuverstehen!» Mit ihrer Beherrschung war es vorbei. Sie hielt die Tränen nicht länger zurück und sprang auf. Er vertrat ihr den Weg. Sie stieß ihn zur Seite und lief nach hinten. Er sah ihr ratlos hinterher. Karins Chef errötete und wußte nicht, ob er ihr folgen sollte. Eine Kundin betrat das Geschäft und enthob ihn der Entscheidung. Uwe Faber ignorierte Kleins empörte Blicke und folgte Karin ins Büro. Obwohl sie sich sträubte, nahm er sie in die Arme. «Hör mir zu! Du tust mir Unrecht! Du behandelst mich unfair! Ich habe außer dir nur einer einzigen Frau in Bardenberg den Arm um die Schulter gelegt. Und die brauchte Zuspruch!» Karin stemmte die Arme gegen seine Brust, vermochte aber gegen seine Kraft nichts auszurichten. Er nahm ihren Kopf in seine Hände und küßte die Tränen von ihren Wangen. Karin ließ es geschehen. «Ich habe dich verdammt gern, verstehst du? Morgen habt ihr geschlossen, nicht wahr? Ich fahre nach Gohla. Kommst du mit?» Bevor Karin ein Wort hervorbrachte, stürmte Klein herein und rief empört: «Also, ich muß schon sagen …» «Ruf mich an!», bat Faber beschwörend und ging wortlos an dem Verkaufsstellenleiter vorbei aus dem Laden. Major Werner blickte von seiner Akte auf, als Leutnant Faber auf der Schwelle stand. Der wirkte unsicher, nicht so unbekümmert wie sonst. «Ist was passiert?», fragte Werner. «Ja. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es wäre mir fatal, wenn Sie es ablehnten!» «Mann, Faber, seit wann so umständlich? Was ist los? Wo klemmt die Säge?» «Morgen müßte ich nach Gohla, zur Anzeigenannahme!» «Gohla?», wiederholte Werner. «Verstehe. In der Sache Schwarzhandel.» 80
«Kann Karin mitfahren?» «Wenn das Dienstliche an erster Stelle steht, ausnahmsweise ja.» «Prima! Danke!» Faber zog sich strahlend in sein Zimmer zurück. Es fiel ihm schwer, sich auf eine Diebstahlsache zu konzentrieren. Sobald das Telefon läutete, durchfuhr ihn freudige Erwartung. Um vierzehn Uhr dreißig klingelte es wieder. Der Leutnant hob den Hörer und meldete sich. «Holst du mich ab?», fragte Karin leise. «Na klar! Und morgen?» «Ich freue mich drauf!» «Ich auch!» Er legte den Hörer auf die Gabel zurück und lächelte. Der Trabant fuhr gegen den Wind. Schwere Regentropfen klatschten an die Frontscheibe. Die Wischer hielten mühsam die Sicht frei. Faber schaltete die Beleuchtung ein. Uwe Faber fuhr auf einen Parkplatz, um den Schauer abzuwarten. Der Motor verstummte. Es goß wie aus Kübeln. Die Karosserie dröhnte im prasselnden Regen. So abrupt, wie er begonnen hatte, versiegte der Regen; dem monotonen Rauschen folgte Stille. «Eines machen wir aus, Karin», drängte er, «nie wieder schmollen. Meinungsverschiedenheiten werden offen besprochen! Abgemacht?» Sie nickte lächelnd und befreite sich aus seinem Arm. «Du – so kommen wir nie nach Gohla!» Karin deutete aus dem Fenster. Industriebetriebe reihten sich aneinander. Hohe Schornsteine spien Rauch. Dazwischen drängten sich dreistöckige, um die Jahrhundertwende erbaute Mietshäuser. In den Vorgärten zeigten die Büsche erstes Grün. An einem Haus prangte das Schild des Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei. «Es dauert nicht lange», sagte Uwe. «Ich hole mir nur eine Auskunft!» Der Unterleutnant empfing ihn in seinem Dienstzimmer. 81
Es geht um den Bürger Hubert Schiffer!», erklärte Faber. «Liegt was gegen ihn vor?» «Nicht direkt». Faber wich aus. «Wir haben eine E-Sache an die Konfliktkommission abgegeben. In der Beratung wurde Schiffer als Zeuge gehört. Wie weit ist er zuverlässig?» «Ich dachte schon, da kommt was auf ihn zu», sagte der Unterleutnant. «Der Bürger Schiffer ist polizeilich noch nie in Erscheinung getreten.» Leutnant Faber erfuhr, daß der Abschnitt des Unterleutnants zum dichtbewohntesten Teil Gohlas zählte. Persönlich bekannt waren ihm mehr jene Bürger, mit denen es Probleme gab. «Der Bürger Schiffer fährt bei Minol einen Tanker», erklärte Faber. «Ja, richtig», bestätigte der ABV. «Hat er Probleme mit Nachbarn oder so?» «Davon ist mir nichts bekannt. Die Wochenenden verbringt er auf seiner Datsche am Röbelsee!» Faber lenkte seinen Trabant in die Brauergasse, in der Schiffer wohnte. Sie unterschied sich nicht von den anderen Straßen dieser Gegend. In einem Eckhaus gab es eine Gaststätte. Karin nahm seine Einladung an. Die Wirtin staunte, daß der Kaffee für den Mann und das Bier für das Mädchen bestellt wurde. «Ich wollte einen ehemaligen Arbeitskollegen besuchen», gab Faber vor, «habe aber seine Hausnummer vergessen. Schiffer heißt er.» «Fährt er einen Minol-Tanker?», fragte die Wirtin. Faber nickte. «Da drüben. Brauergasse vierzehn. Der Lada ist seiner! Manchem läuft das Glück hinterher», behauptete die Gastwirtin. «Schiffer hat von seinem Onkel einen Batzen Geld geerbt, dem geht’s nicht schlecht. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe!», schloß sie. Im Auto fragte Karin: «Vermute ich richtig, daß wir jetzt zum Röbelsee fahren?» 82
Faber nickte. «Stimmt. Aber vorher erledige ich noch etwas!» Die Anzeigenannahme lag im Zentrum, in einer Fußgängerzone. Eine schmalspurige Straßenbahn durchquerte sie. Nachdem sich Faber ausgewiesen hatte, führte ihn ein ältliches Fräulein in den hinteren Teil des Ladens. «Ich möchte die Chiffrekundenliste einsehen», erklärte Leutnant Faber. Die Ladeninhaberin holte den Folianten herbei. Der Leutnant überflog einige Dutzend Anschriften von Zeitungsinserenten. «Wenn Sie mir sägen, welches Inserat …?» «Moment», wich Faber aus. Nach zweimaliger Durchsicht war er so klug wie vorher. Das Kundenbuch enthielt weder den Namen Hans Schreiber aus Bardenberg, noch den von Axel Blaschke aus Leipzig. Sein Finger wanderte abermals die Zeilen entlang. Faber suchte nun die Chiffre H. S. siebzehnzwoeinunddreißig und fand sie. Der Inserent hieß nicht Schreiber, sondern Herbert Schuster, wohnhaft in Sonneberg. Der Leutnant ahnte, daß ihm eine Enttäuschung bevorstand. Oder wickelte Schreiber in Bardenberg Geschäfte für Schuster in Sonneberg ab? Faber entnahm seiner Kollegtasche vier Paßfotos von Männern zwischen vierzig und fünfzig. «Kennen Sie einen dieser Herren?», fragte er. Ohne zu zögern tippte die Ladeninhaberin auf eine Fotografie. «Aber ja! Das ist der Herr aus Sonneberg! Wie heißt er gleich?» «Sie meinen Herrn Schuster?», fragte Faber ungläubig. «Richtig! Um den geht es?», fragte sie. Faber nickte stumm. Der so identifizierte Kunde war kein anderer als der Bürger Schreiber aus Bardenberg. Der Leutnant erwog zwei Möglichkeiten. Vorausgesetzt, dem alten Fräulein war kein Fehler unterlaufen und Schreiber hatte sich wahrhaftig als Herbert Schuster aus Sonneberg ausgewiesen. Dann war ein Personalausweis gefälscht worden. Dazu brauchte man aber ein Blankodokument. Und in dem Fall gab es gar keinen Herbert Schuster in Sonneberg. Oder aber, und das klang 83
wahrscheinlicher, Schreiber war irgendwie in den Besitz von Schusters Personalausweis gelangt und hatte diesen mit seinem eigenen Foto verfälscht. Es gab nur eine Schlußfolgerung: Wer sich in dieser Weise tarnte, besaß dafür Gründe! Faber fragte nach Zuschriften für H. S. siebzehnzwoeinunddreißig. Es gab keine mehr; Herr Schuster hatte bereits telefonisch angefragt und kam nicht mehr. «Vielleicht doch», erwog Faber. Er versetzte sich in Schreibers Lage. Den mußte es schockiert haben, daß auf seine Annonce die Zuschrift eines Kriminalisten eingegangen war. Dieser könnte auf den Einfall kommen, den Inserenten zu ermitteln. Schreiber ahnte sicher nicht, daß seine Tarnung bereits durchschaut war. Aber seine Neugier wäre verständlich, erfahren zu wollen, ob die Kriminalpolizei tätig geworden war. Leutnant Faber ermahnte das alte Fräulein, seinen Besuch Herrn Schuster gegenüber weder auf telefonische noch auf persönliche Nachfrage zu erwähnen. Sie mache sich sonst einer Begünstigung Schuldig. Faber fuhr ungern so schweres Geschütz auf, wollte aber sicher sein, daß die Ladeninhaberin nicht plauderte. Anschließend fuhr Faber den Umweg zum Röbelsee. In Form einer riesigen Niere lag er eingebettet zwischen bewaldeten Hügeln. In einer Ausflugsgaststätte mit bescheidenem Vorsaisonangebot aßen sie Wurst vom Grill. Nach Schiffers Datsche fragten sie vergeblich. Nach etlichen Irrfahrten gelangten sie über eine Waldstraße zu jener Bucht, deren Ufer Wochenendgrundstücke säumten. Hubert Schiffers Parzelle besaß einen neuen Maschendrahtzaun auf solidem Betonsockel, eine Einfahrt und daneben eine kleine Pforte. Im Garten täuschten Koniferengruppen eine künstliche Wildnis vor. Das Garagentor aus bernsteinfarbenen, lackierten Brettern protzte mit kunstgeschmiedeten Beschlägen. Die Datsche besaß eine Terrasse mit einem Kamin aus Feldsteinen. 84
«Hübsch!», rief Karin begeistert aus. «Ich tippe auf Künstler, Professor oder Handwerksmeister!» «Falsch», entgegnete Uwe Faber, «Kraftfahrer! Lies mal, was auf dem Messingschild steht!» «Schiffer», buchstabierte sie ungläubig. «Der Tankwagenfahrer?» «Ja, der!» Faber preßte die Lippen aufeinander. Karin ahnte, daß weitere Fragen zwecklos sein würden.
12 Kurt Mulewski schrieb gerade einen Anzeigentext, als der Eilbote kam und ein Telegramm auf den Ladentisch legte; Mulewski schob es achtlos beiseite. In dem Jahr, das er bei Blaschke arbeitete, hatte dieser nie so viele Telegramme bekommen wie jetzt. Vermutlich betrafen sie seine Geschäfte. Die Kundin bezahlte die Annonce und ging. Blaschke kam nach vorn und fand das Telegramm. «Für mich?» Mulewski nickte. Blaschke zerfetzte den Umschlag und las die Nachricht; sein Gesicht lief rot an. «Warum bringst du mir’s nicht hinter?», fuhr er seinen Mitarbeiter an, wandte sich heftig um und schlug krachend die Tür zum Büro zu. Eine gute Nachricht scheint das nicht zu sein, dachte Mulle. Ungewöhnlich fand er, daß der Chef, der sonst seine Korrespondenz achtlos herumliegen ließ, alle Telegramme in den Ofen warf, kaum daß er sie gelesen hatte. Blaschke starrte auf den in Frankfurt am Main aufgegebenen lakonischen Text: «Besuch wegen Krankheit nicht möglich. Liebe Grüße – Tante Minna!» Es war einer von einem halben Dutzend mit Grindel vereinbarter Standardtexte. Blaschke war erleichtert. Es ging nicht um ein Treffen in Köckern, bei dem sie ihre Koffer tauschten und er jedesmal fürchten mußte, daß die Manipulation ent85
deckt werden könnte. Das Telegramm verriet, daß Grindel auf einer Transitfahrt nach Westberlin eine Nachricht in dem TBK bei Niemegk deponiert hatte. Mißvergnügt dachte Blaschke daran, daß er nun das von Grindel getankte Benzin verfahren mußte. Er öffnete die Ofenklappe, warf das Telegramm hinein und sah zu, wie die Flamme das Papier fraß. Eigentlich hatte er nachmittags nach Schkeuditz fahren wollen. Dort wurde der Nachlaß einer Zahnarztwitwe versteigert. Sein Gespür sagte ihm, daß es lohnen würde. Doch die Neugierde siegte über den Erwerbssinn. Er mußte wissen, welchen Auftrag Grindel ihm erteilte. Er seufzte. Seitdem er sich mit Grindel eingelassen hatte, war er vor riskanten Weisungen nicht mehr sicher. Mulewski staunte, daß Blaschke viel zu zeitig mit dem Moskwitsch wegfuhr. Die Versteigerung fand doch erst um siebzehn Uhr statt? Ob das mit dem Telegramm zusammenhing? dachte er. Als er es auf dem Schreibtisch nicht liegen sah, öffnete er die Feuerungsklappe. Auf der Glut lag dunkle, gekrümmte Asche. Das Wortfragment ‹… gramm› war unschwer lesbar. Mit dem Schüreisen versuchte Mulewski, das verbrannte Papier herauszuheben. Doch die Asche zerfaserte wie Spinnengewebe. In Gedanken versunken fuhr Blaschke auf der Dessauer Rennstrecke nach Niemegk. Ein Regenschauer prasselte herab. Die Wischer sorgten mühsam für Sicht. Ob er die Begegnung mit Grindel, die sein Leben verändert hatte, preisen oder verwünschen sollte, wußte Blaschke nicht recht. Zufrieden war er damals gewesen, noch vor einem Jahr, als Porzellane, Münzen und Briefmarken durch seine Hände gingen und die roten Fünfzigmarkscheine und die blauen Hunderter ihn faszinierten. Heute besaßen die mit geübten Fingern gezählten Banknotenbündel etwas von der niederen Wertigkeit kleiner Münzen. Auf seinem Konto bei der Kommerzbank in Frankfurt sammelten sich andere Mark ah. Seit Grindel ihm in Aussicht gestellt hatte, nach Frankfurt reisen zu können, gewann der Gedanke an das Geld Macht 86
über ihn. Bisher war das Konto eine Fata Morgana gewesen, ein Trugbild. Jetzt träumte er am hellichten Tag davon. Und lag er nachts schlaflos, dachte er wieder an das Konto. Es gab nur einen Weg, an das Geld heranzukommen: Er mußte Grindels Weisungen befolgen. Nachdem er die Elbbrücke passiert hatte, versiegte der Regen. Blaschke schaltete die Wischer aus. Zu beiden Seiten der Autobahn dehnten sich Kiefernwälder; erste Bodenerhebungen kündigten den Fläming an. Blaschke spann seinen Gedanken weiter: Es kam nicht nur darauf an, Grindels Weisungen auszuführen. Mit Phantasie und Emsigkeit mußte er sich unentbehrlich machen. Dann kam der Zeitpunkt, da er fordern konnte. Um seinen Eifer zu bestärken, würde man ihm die Reise nach Frankfurt ermöglichen. An seiner Stelle würde Grindel in einem Urlaubsort Ferien machen. Das merkte niemand. Nur flüchtig dachte Blaschke daran, daß er im Begriff stand, Landesverrat zu begehen. Darauf drohte das Gesetz strenge Bestrafung an. Da er mit seinen Geschäften ständig gegen Gesetze verstieß, besaß er kaum noch ein Unrechtsbewußtsein. Die Autobahnausfahrt Niemegk lag hinter ihm. Er lenkte den Moskwitsch auf den nächstfolgenden Parkplatz. Die Raststelle lag verlassen da. Blaschke sah sich dennoch mißtrauisch um; vielleicht lauerten Späher hinter den Bäumen? Unter seinen Schritten knackten Zweige. Er verharrte lauschend, doch nichts rührte sich. Die Buche mit dem Versteck in Augenhöhe war ihm vertraut. Grindel hatte das Loch im Stamm geschickt mit Moos verstopft. Niemand käme darauf, daß der Baum einen Hohlraum besaß. Von der Autobahn drang auf- und abschwellender Motorenlärm herüber. Lastzüge donnerten vorbei. Die Personenwagen summten wie Insekten. Blaschke überlegte, was wohl geschähe, wenn Grindel beim TBK gesehen wurde? Man würde dann pausenlos das Versteck beobachten! Ein Knacken erschreckte 87
ihn. Klang es nicht wie ein Kameraverschluß? Sein Mund wurde trocken. Plötzlich zeterte ein Eichelhäher. Das Schackern zerriß die Stille. Blaschke hielt den Atem an. Häher waren mißtrauische Warner. Die Tiere des Waldes wußten, daß Gefahr im Verzuge war, wenn ein Häher Alarm schlug. An der Schonung entlang schnürte ein Fuchs mit am Boden schleifender Rute. Der Häher folgte ihm schackernd von Baum zu Baum. Blaschke atmete auf. Das Gezeter galt Meister Reineke. Nach einem Blick rundum entfernte Blaschke das Moos und griff in die Höhlung; seine Finger fühlten die metallische Kapsel. Sie enthielt einen gerollten Umschlag. Blaschke schraubte den Verschluß wieder zu, verwischte mit dem Taschentuch seine Fingerspuren und legte die Hülse ins Versteck zurück. Grindel hatte ihn ermahnt, diese Vorsichtsmaßnahme nie außer acht zu lassen. Langsam lief er zum Rastplatz zurück. Größer als sein Verlangen abzufahren war seine Neugier. Er riß den Umschlag auf und fand einen blauen Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik. Das Paßbild darin hatte ihm Grindel abgefordert. Der Ausweis wirkte vertrauenerweckend echt und verwandelte ihn in Albert Schulz, wohnhaft in Magdeburg. Der Ausweis sollte ihn bei bestimmten Aufträgen tarnen, hatte Grindel erklärt. Das Kuvert enthielt einen Führerschein auf denselben Namen und eine gefälschte Zulassung für den Moskwitsch. Das dazu passende Kennzeichen besaß er bereits. Zuletzt entnahm Blaschke einen mit Zahlen bedeckten Bogen Dünnpapier. Es schien ihm, als ginge von den Ziffern etwas Bedrohliches aus. Grindel hatte ihm den Code erklärt. Zu seiner Entschlüsselung diente der Große Duden des Bibliographischen Instituts Leipzig, Ausgabe neunzehnhundertsiebenundsiebzig. In den Laden zurückgekehrt, zog sich Blaschke gleich ins Büro zurück. Er blätterte im Personalausweis und fand darin einen gefalteten Fünfzigmarkschein. Blaschke schürzte spöttisch die Lippen. Das Geld ersetzte knapp die Unkosten und 88
entschädigte keinesfalls für den entgangenen Nachlaß der Zahnarztwitwe. Er begann die Mitteilung zu entschlüsseln, Zeilen und Buchstaben auszuzählen. Mulle unterbrach ihn mit einer belanglosen Frage. Blaschke verbarg die Zahlenkolonnen hastig unter einer Zeitung und fuhr seinen Mitarbeiter heftig an, daß er anzuklopfen habe. Verdattert registrierte Mulewski, daß Blaschke schon wieder eine Neuerung eingeführt hatte. Wußte der Kuckuck, welche Heimlichkeit er trieb. Buchstaben um Buchstaben reihte Blaschke aneinander, fügte sie zu Worten und Sätzen. Er las erstaunt die prägnante Weisung: «Erfragen Sie in der Kraftfahrzeugzulassungsstelle Gohla den Eigentümer des Wartburg dreihundertelf, Kennzeichen FN 87-12. Als Vorwand Beschädigung des eigenen PKW auf Parkplatz. Erforschen Sie umfassend Beruf und Umfeld des Eigentümers!» In dieser Nacht fand Blaschke wenig Schlaf. Die Anweisung ging ihm nicht aus dem Sinn. Welche Absicht stand dahinter? Natürlich war nicht Grindel an der Auskunft interessiert. Der Frankfurter war kaum mehr als ein Bote und Befehlsempfänger; das Sagen hatten andere. Das verriet auch die förmlich abgefaßte Weisung. Immerhin aber beschaffte Grindel die Waren. Undenkbar, daß die Quelle eines Tages versiegen könnte. Das geschah aber, wenn er die Aufträge nicht ausführte. Grindels noch weitergehende Drohungen für den Fall, daß er den Gehorsam verweigerte, blieben unvergessen. Nach einer unruhig verbrachten Nacht fuhr Blaschke am nächsten Morgen nach Gohla. In der Kfz-Zulassungsstelle herrschte lebhaftes Kommen und Gehen. Er mußte warten. Dann trug er einem Leutnant sein Anliegen vor. Der Fahrer des Wartburg habe auf dem Bahnhofsparkplatz seinen Moskwitsch gerammt. Die rechte vordere Tür sei beschädigt. In Wahrheit hatte er die Delle vier Wochen vorher selbst verursacht. «Es ist nicht üblich, derartige Auskünfte zu erteilen», erklärte der junge Offizier, «aber in diesem Falle … Ihren PA bitte!» 89
Blaschke schluckte verblüfft. «Meinen – meinen Ausweis?» Er kam nicht umhin, der Aufforderung zu folgen. Der Leutnant notierte die Personalien auf einem Formular. «Woher kennen Sie denn das Kennzeichen des Schadenverursachers?» «Eine Bekannte saß in meinem Auto. Ich war wegen Zigarren zum Mitropa-Kiosk im Bahnhof!» Meine Güte, dachte er, am Ende will er wissen, wer die Bekannte war? Der Leutnant telefonierte im Nebenzimmer, kam zurück und gab Blaschke einen Zettel. «Hoffentlich einigen Sie sich. Für Parkplatzschäden zahlt die Versicherung selten!» Blaschke bedankte sich und blickte auf das Papier. Der Besitzer des Wartburg hieß Herbert Budach und wohnte in Sinten, Am Hain sechs. Den Ortsnamen hatte Blaschke noch nie gehört. Im Autoatlas fand er ihn erst nach längerem Suchen im bezeichneten Planquadrat; es mußte ein winziger Ort sein. Die nächstgelegene Kreisstadt hieß Bardenberg. Enttäuscht sah Blaschke, daß die Fahrt dorthin ihn noch weiter von Leipzig entfernte. Sinten besaß ein Dutzend schiefergedeckter Fachwerkhäuser, die wie absichtslos an einem Hang hingestreut schienen. Blaschke fuhr langsam durch das Dorf. Drei Logiergaststätten verrieten, daß Sinten ein beliebter Urlaubsort war. Das Haus Am Hain sechs unterschied sich nicht von den anderen. Es war weiß gestrichen mit schwarzem Gebälk und hellen Gardinen hinter den Fenstern. Urlauber spazierten in der seltenen Aprilsonne; auf einer Koppel weideten Jungrinder. Blaschke kehrte im Gasthaus «Zur Tränke» ein. Die Gaststube mit der niederen Balkendecke wirkte behaglich; auf Wandbrettern standen Holzschnitzereien. An den Wänden hingen naive Ölbilder, meist heimische Landschaftsmotive. Die wenigen Gäste schienen Urlauber zu sein. In der Umgebung Sintens gab es Erholungsheime, das verrieten die Hinweisschilder auf der Straße. Der Wirt empfahl Forelle mit Kräuterbutter. Blaschke be90
stellte und versuchte ein Gespräch. Ein Bekannter habe ihm ein Urlaubsquartier bei einem gewissen Budach empfohlen. «Meinen Sie unseren Maler?», fragte der Wirt und deutete auf eines der Bilder, eine romantische Wassermühle. «Herbert Budach, Am Hain sechs!» «Das ist er. Wegen Quartier reden Sie mit seiner Tante. Darum kümmert er sich nicht.» Der Gastwirt erklärte, daß Herbert Budach kein Künstler sei und Malen als Hobby betreibe. Ein Quartier sei bei Budachs kaum zu erhoffen. In Sinten seien alle Betten ausgebucht. Nachdem er die Forelle verspeist und zum Kaffee eine Zigarre geraucht hatte, machte Blaschke sich zu Fuß auf den Weg. Er traf Budachs Tante dabei an, die Haustür abzuseifen. Auf seine Frage nach einem Zimmer winkte sie ab. Die drei Fremdenzimmer waren ein Jahr im voraus bestellt. «Ich habe es mir gedacht», Blaschke seufzte enttäuscht. «Aber was anderes: Kann ich mir mal die Bilder ansehen?» «Die Bilder?» Budachs Tante sah ihn ungläubig an und blies eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie war eine robuste Frau von sechzig oder siebzig Jahren; das faltenlose Gesicht mochte täuschen. «Ich habe in der ‹Tränke› die ‹Wassermühle› bewundert und würde gern ein Bild kaufen.» «Wirklich?» Die Frau trocknete ihre Hände an der Schürze und trat einladend zur Seite. «Kommen Sie!» Blaschke betrat den Flur. An der Wand hingen Bilder, doch eine Wassermühle war nicht darunter. «Ich glaube, im Klubhaus hängt eine Mühle», sagte die alte Frau. «Im Klubhaus?» «Mein Neffe ist Klubhausleiter. Wollen Sie warten? Er müßte bald kommen. Vielleicht bringt er die Mühle mal mit?» Blaschke Winkte ab. «Geben Sie mir die Adresse? Ich fahre hin und sehe mir das Bild an!» Die Frau schüttelte den Kopf. «Das geht nicht. Ins Kasernengelände dürfen Sie nicht rein!» 91
«Ka-kaserne?», stotterte Blaschke verblüfft. Blitzartig wurde ihm klar, weshalb der BND an Budach interessiert war. Vor dem Haus pötterte ein Zweitakter und verstummte. «Das ist er», sagte die Frau. Budach trat in den Flur, küßte seine Tante auf die Wange und blickte den Besucher fragend an. Budach war schlank und mittelgroß. Das blasse Gesicht und die Brille verrieten den Büromenschen, der selten ins Freie kommt. «Der Herr ist wegen einem Bild da!», sagte die Tante. Das blasse Gesicht rötete sich. «Ach, wirklich?» «Mein Name ist Schulz», log Blaschke und folgte der Einladung ins Wohnzimmer. Ohne Zweifel sollte der unscheinbar wirkende Klubhausleiter geködert werden. Er konnte sich ungehindert im Kasernenbereich bewegen, kannte Offiziere und Soldaten. Blaschke dachte schadenfroh, daß Grindel ihn mit irgendeinem Trick hereinlegen würde. Jeder Mensch besäße eine Schwachstelle, an der er verwundbar sei, behauptete Grindel immer. Meine Schwäche war es gewesen, in kurzer Zeit viel Geld machen zu wollen, gestand sich Blaschke ein. Vielleicht war Budach über sein Hobby beizukommen? «Ich habe in der ‹Tränke› Ihre Bilder gesehen», erzählte Blaschke. «Die ‹Wassermühle› gefällt mir. Das Motiv würde ich gern erwerben!» Budach lächelte verlegen und gab zu verstehen, daß er noch kein Bild verkauft habe. Er verschenke sie. «Ich habe nur eins für unseren Solidaritätsbasar gespendet. Hundert Mark hat es gebracht!» «Für die ‹Wassermühle› biete ich dasselbe, Herr Budach!» Blaschke war sicher, daß Grindel die Ausgabe akzeptierte. Budach tat so, als interessiere ihn das Geld nicht. Aber Blaschke durchschaute ihn und spürte, daß die hundert Mark ihn lockten. «Ich habe nächste Woche in Bardenberg zu tun», erklärte Blaschke. «Vielleicht treffen wir uns dort?» «Das wäre günstig», sagte Budach, «meine Dienststelle liegt in der Nähe.» 92
Geschickt fragend versuchte Blaschke Näheres über die Dienststelle zu erfahren, aber Budach wich ihm aus. Blaschke verabschiedete sich. Vor der Haustür stand der alte Wartburg, der viele tausend Kilometer über die Straßen gerollt sein mochte. Blaschke suchte den zweiten Gasthof auf und fand ihn geschlossen. Im dritten aber traf er auf eine geschwätzige Wirtin.
13 Grindel war häufiger Gast des Leipziger Interhotels «Astoria». Die Dame in der Rezeption kannte ihn und warf ihm einen teilnehmenden Blick zu, als er zum dritten Mal mit enttäuschter Miene die Telefonkabine verließ. Wieder hatte er vergeblich versucht, Blaschke zu erreichen. Der Zeiger der elektrischen Uhr an der Stirnwand der Halle rückte lautlos auf die zehnte Stunde. Grindel überschlug in Gedanken die Strecke zum Röbelsee. Es waren an die hundertfünfzig Kilometer. Im TBK der Brückenruine hatte die Nachricht von Felix gelegen: Schiffer golt zwei Werktage lang Überstunden ab und verbrachte die Freizeit in seiner Datsche. Grindel überlegte, ob er gelegentlich Doktor Schubart alias Felix besuchen sollte. Bei ihren Zusammenkünften hatte Schubart nie verhehlt, daß er gern mit einem Vertrauten über das sonst so ängstlich gehütete Geheimnis sprach. Grindel wartete zehn Minuten, betrat dann abermals die Telefonkabine und wählte Blaschkes Anschluß. Diesmal meldete er sich. «Grüß dich, Axel», sagte Grindel forsch, «ich brauche den Wagen!» «Tag, Lutz! Muß das sein?», klang es unfroh. Von Grindels Vorhaben schien er nicht erbaut. Der Frankfurter hatte ihm eingeschärft, niemals lange Gespräche am Telefon zu führen. 93
Sie verabredeten sich an einer Straßenbahnhaltestelle in der Georg-Schumann-Straße. Grindel nahm ein Taxi und wartete auf Blaschke. Der ließ sich Zeit. Grindel blickte immer öfter auf seine Armbanduhr. Endlich nahte der weiße Moskwitsch. Der PKW hielt. Grindel schob sich auf den Beifahrerplatz. Blaschke legte den Gang ein. «Nächste Straße rechts», forderte Grindel. Blaschke nickte stumm und fuhr in die enge Nebenstraße. «Du fährst ja wohl von hier mit der Bahn zurück», schloß Grindel wie selbstverständlich. Blaschke nickte. Mulle würde fragen, wo er den PKW gelassen habe. Er mußte die Werkstatt vorschieben. Manchmal schien es Blaschke, als würde Mulewski von Tag zu Tag neugieriger. Ahnte er, daß mehr vor ihm verborgen wurde als nur der Handel mit Westwaren? «Hast du mir nichts zu sagen?», fragte Blaschke. «Ich bin am Dienstag mit Budach verabredet!» «Ach ja, der Sintener!» Grindel tat uninteressiert. «Warte es ab. Du kriegst Bescheid. Man hat noch nicht entschieden!» Man hat noch nicht entschieden, wiederholte Blaschke in Gedanken ironisch. Grindel vermied stets, seine Institution konkret zu benennen. «Soll ich den Ölschinken kaufen, ja oder nein?» «Doch, ja!», forderte Grindel und drängte ungeduldig auf den Fahrerplatz hinüber. Blaschke stieg aus und beugte sich zu ihm hinab. «Was ist mit der Fleppe?» «Nicht notwendig», sagte Grindel, winkte gelassen ab und legte den Gurt an. «Fährst du weit? Wann kommst du zurück? Vergiß nicht zu tanken!» Grindel nickte und startete. Die Frage des Personalausweises war gelöst. Er besaß ein gefälschtes Dokument. Den Originaldaten des DDR-Bürgers Axel Blaschke war Grindels Paßfoto beigefügt worden. Das galt ebenso für den Führerschein. In Pullach hatte Wiese Gronaus Weisung, Blaschke als Austauschagenten zu etablieren, realisiert. Der Bürger Blaschke besaß nun zwei Gesichter wie Janus, der altrömische Gott. 94
Der Motor heulte auf. Die Reifen kreischten, und der Moskwitsch schoß vorwärts. Blaschke schüttelte ärgerlich den Kopf. Der Wagen wollte weniger sportlich gefahren werden. Der PKW wendete und bog in die Hauptstraße ein. Blaschke störte an Grindel dessen Geheimniskrämerei. Anfangs glaubte er, daß es eine zunehmende Vertraulichkeit geben würde, wenn ihre Beziehung sich enger gestaltete. Doch er wurde enttäuscht. Grindel schottete sich immer mehr von ihm ab. Er behauptete, das sei Prinzip jeder nachrichtendienstlichen Tätigkeit. In Blaschke wuchs der Wunsch, sich auf eigene Faust zu informieren. Es konnte nicht schaden, von Dingen zu wissen, die Grindel vor ihm geheimhielt. Am Bordstein stoppte ein Taxi. Der Fahrgast bezahlte und stieg aus. Mit drei Schritten war Blaschke am Wagen und stieg ein. «Fahren Sie! Bitte rasch!», forderte er. «Zum Bahnhof?», fragte der jüngere Fahrer verständnisinnig, startete und fuhr rasant an. «Nein. Hinter einem weißen Moskwitsch her. Aber unauffällig!», forderte Blaschke und ließ das Fahrzeug wenden. «Rechts in die Georg-Schumann-Straße, bitte!» Der Fahrer musterte seinen Fahrgast im Spiegel und fuhr schneller, als die Straßenverkehrsordnung gestattete. Blaschke äußerte die Vermutung, daß der Moskwitsch in Richtung Schkeuditz und zur Autobahn fuhr. «Kripo sind Sie wohl nicht?», fragte der Taxifahrer. «Nein. Ich will wissen, wer der Kerl ist, der sich heimlich mit meiner Tochter trifft!», behauptete Blaschke. Hinter Schkeuditz holten sie Grindel ein. Der fuhr durch die Ortschaft im vorgeschriebenen Tempo. «Da vorn ist er», sagte Blaschke, «halten Sie bitte Abstand!» «Ich mache das nicht zum ersten Mal», versicherte der Fahrer. «Meist sind es gehörnte Ehemänner, die ihrer Angetrauten hinterherkutschen.» Blaschke beobachtete schweigend seinen vorausfahrenden Moskwitsch. Grindel fuhr an der Autobahnauffahrt zum Berli95
ner Ring vorbei. Er passierte die Brücke über die Bahn hinweg und blinkte links. «Er fährt auf die Bahn in Richtung Hermsdorfer Kreuz!», erklärte der Fahrer. «Bleiben wir dran? Das kann teuer werden, Meister!» Sein Fahrgast überlegte sekundenlang, meinte dann entschlossen: «Ja, fahren Sie ihm nach!» So leicht gab Blaschke nicht auf, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er wollte wissen, wohin Grindel fuhr. Der Taxifahrer hielt weiten Abstand, achtete aber darauf, daß er den PKW nicht aus den Augen verlor. «Tut mir leid, ich muß tanken», erklärte der Taxifahrer kurz vor dem Hermsdorfer Kreuz. «Auf eine Ferntour bin ich nicht eingerichtet!» «Mist!», knurrte Blaschke enttäuscht. Seine Hoffnung, daß auch Grindel tanken würde, erfüllte sich nicht. Der bog in Richtung Eisenach ab. An der Tankstelle wartete ein Dutzend Fahrzeuge vor ihnen. Da gab Blaschke die Verfolgung auf. Mit Felix’ Skizze fand Grindel Schiffers Grundstück am Röbelsee und fuhr langsam an der Pforte vorbei. Er las den Namen auf dem protzigen Messingschild. Ein Stück entfernt hielt ein junger Bursche mit seinem Motorrad. Grindel entdeckte am Waldrand einen Parkplatz und hielt. Bevor er ausstieg, nahm er aus seiner Jackettasche ein «Miniphon». Es war eine Eigenproduktion der Elektronikwerkstätten in der Pullacher Zentrale. Das Tonbandgerät war kleiner als eine Zündholzschachtel und vermochte neunzig Minuten lang jedes bis zwanzig Meter entfernte Geräusch aufzuzeichnen. Grindel drückte auf den Knopf, und die winzigen Spulen drehten sich. Zufrieden spulte er das Band zurück und befestigte das Gerät in der Jackentasche, da das hochempfindliche Mikrofon sonst mit jedem Bewegungsgeräusch alle anderen Laute überdecken würde. Er stieg aus und verschloß das Fahrzeug. Grindel folgte ei96
nem sanft ansteigenden Fußpfad und entdeckte einen Platz am Waldrand, der Ausblick auf die Bucht des Röbelsees bot. Die Grundstücke mit den Datschen darauf genügten gehobenen Ansprüchen. Schiffers Häuschen war kleiner als die der Nachbarn. Anscheinend wurde es erweitert; neben der Terrasse mit einem aus Feldsteinen errichteten Grill stand ein Betonmischer. Da war auch Baumaterial gestapelt und mit einer Plane vor Regen geschützt. Doch der April zeigte sich an diesem Tag freundlich. Zwar jagten Wolken über den Himmel, als segelten sie um die Wette, aber immer wieder brach die Sonne hervor. Vor der Garage stand ein Lada. Aus dem Haus trat ein Mädchen von sechzehn oder siebzehn Jahren. Ihm folgte ein Mann Anfang vierzig. Grindel erkannte ihn von dem Foto, das Wiese besaß. Es war Schiffer. Das Mädchen ähnelte unverkennbar dem Mann. Grindel erinnerte sich an die von Felix beschaffte Charakteristik Schiffers. Die Ehe des Tankwagenfahrers wurde vor vier Jahren geschieden. Vor drei Jahren, hatte Felix eruiert, brach bei ihm der Wohlstand aus. Schiffer hatte eine sechzehnjährige Tochter, die bei der Mutter lebte. Große Sympathie herrschte wohl nicht zwischen Vater und Tochter. Beide verließen die Terrasse und liefen heftig gestikulierend zur Grundstückspforte. Schiffer blieb stehen und hob drohend die Hand. Das Mädchen wich keinen Schritt zurück. Da ließ er die Hand wieder sinken. Grindel schien es, als stünde Schiffer auf unsicheren Beinen. Der Disput zwischen Vater und Tochter wurde heftiger. Grindel horte die Stimmen bis zum Wald herauf. Die Tochter kehrte abrupt um; er hielt sie fest, aber sie riß sich los und stürmte zur Pforte hinaus. Schiffer starrte ihr hinterher, kehrte um und lief schwankend zum Haus zurück. Seine Tochter erreichte den Jüngling mit dem Motorrad und schwang sich auf den Sozius. Beide fuhren davon. Grindel fand, daß er es gut getroffen hatte, um sein schwieriges Vorhaben anzugehen: einem Mann, der sich nach Felix’ 97
Bericht einem Komplizen gegenüber als hartgesotten erwiesen hatte, ein Geheimnis zu entlocken. Grindel tastete in der Tasche nach dem Pervitinröhrchen. Die Tabletten beruhigten ihn. Vor drei Tagen hatte er, von Neugier geplagt, eine der winzigen Pillen in seinen Kaffee getan. Wenige Minuten später hatte er zunehmende Unrast verspürt, war in eine euphorische Stimmung verfallen und hatte laute Selbstgespräche über Januskopf geführt. Ein unbezähmbarer Drang, sich mitzuteilen, schien ihn ergriffen zu haben … Gehen Sie psychologisch geschickt vor, hatte ihm Wiese geraten. Überrumpeln Sie ihn so, daß er gar nicht erst mißtrauisch wird. Wiese hatte klug reden. Doch seinen Plan, sich als Schwager Henzkes, des ehemaligen Tankstellenleiters in Bardenberg auszugeben, fand Grindel gut. Damit war er vermutlicher Mitwisser. Das war geeignet, hatte Wiese versichert, Schiffers Mißtrauen einzuschläfern. Grindel verließ seinen Beobachtungsposten und näherte sich Schiffers Grundstück. Beiläufig dachte er daran, daß seine Zielperson ein gehöriges Quantum Alkohol getrunken haben mochte. Wiese hatte erklärt, daß Alkohol die Wirkung des Pervitins sowohl aufheben als auch steigern könnte. Grindel wischte seine Bedenken beiseite und wollte auf jeden Fall zwei Tabletten verabreichen. Hob der Alkohol die Wirkung dennoch auf, hatte er eben Pech gehabt. Sollte er die Wirkung des Pervitins verdoppeln, hatte Schiffer Pech, und er mochte dann nicht in dessen Haut stecken. Das Aufputschmittel konnte aber auch zu einem tödlichen Kollaps führen. Das durfte auf keinen Fall passieren, denn ein Toter war ja nicht mehr unter Druck zu setzen. Schiffer stand auf der Terrasse und blickte dem Ankömmling fragend entgegen. Grindel schaltete das Miniphon in der Jackentasche ein und sah sich suchend um. «Was denn, ist Alfred noch nicht da? Guten Tag erst mal! Um zwei wollte er hier sein; jetzt ist es drei!» 98
«Alfred? Was denn für ’n Alfred?», fragte Schiffer schwerzüngig. «Mein Schwager, Henzke, Alfred! Ich bin Joachim, Joachim Ziegler. Du kannst aber Achim sagen, und ich sage Hubert, einverstanden?» Schiffer nickte, sank in seinen knarrenden Korbsessel und zeigte einladend auf den zweiten. Grindel setzte sich und fühlte sich mißtrauisch gemustert. Schiffer schien eine ganze Menge getrunken zu haben. Ich muß ihn an die Wand reden, dachte Grindel. «Ich bin mit meinem Trabi liegengeblieben. Dann per Anhalter hierher. Daß aber Alfred noch nicht hier ist? Hat sein Lada auch den Geist aufgegeben?» Nur gut, dachte Grindel, daß Felix gründlich recherchiert hatte. «War das deine Tochter, die an mir vorbei ist wie eine Wilde? Alfred sagte, sie wohnt bei deiner Geschiedenen?» Schiffers Miene verdüsterte sich, aber das Mißtrauen verschwand daraus. «Inge kommt immer mal. Sie will uns wieder zusammenbringen!» «Das sah nicht danach aus. Sie war richtig sauer!» «Weil ich ’n kleinen Zacken weg habe!» Schiffer führte eine imaginäre Flasche an den Mund. «Die ganze Woche über trinke ich nichts. Das hole ich dann nach, verstehst du?» Plötzlich verriet sein Gesicht Neugierde. «Was – was wollt ihr von mir, Alfred und du? Wie heißt du?» «Achim! Joachim Ziegler! Alfred hat nun die Tankstelle abgeben müssen und arbeitet wieder im Lager!» Schiffer nickte und rülpste. «Wülste ’n Bier?» «Ja, gern.» Ehe Schiffer sich erhob, sagte er rasch: «Laß nur, ich hol’s!» Schiffer ließ sich zurücksinken und sagte: «Ve-veranda!» In dem Vorbau stand ein Kasten Bier. Die Hälfte der Flaschen war leer. Auf dem Tisch stand eine Flasche klarer Schnaps, bis auf eine Neige geleert. Grindel behielt Schiffer durch die offene Tür im Auge. Auf dem Tisch lag ein Öffner für Kronenverschlüsse. Grindel öffnete zwei Bierflaschen, langte 99
die beiden griffbereiten Pervitintabletten aus seiner Hosentasche und tat sie in eine der Flaschen. Schiffers Kopf war nach vorn gesunken. Plötzlich hob er ihn wieder. «Achim?» Grindel kehrte auf die Terrasse zurück. Schiffer wollte sich erheben, da trat er zu ihm. «Ich habe Gläser gesucht», sagte er und reichte Schiffer die Bierflasche. «Gläser –!», wiederholte der verächtlich und setzte die Flasche an den Mund. Grindel trank ungern aus einer Flasche; Bier entfaltete sein Aroma erst im Glas. Aber er tat es seinem unfreiwilligen Gastgeber nach. Schiffer trank seine Flasche halb leer. «Was wollt ihr von mir, Alfred und du?» «Es geht um mich», erklärte Grindel, «schließlich kennst du mich ja nicht!» Schiffer nickte, führte die Flasche an den Mund und trank sie leer. «Ich übernehme die Tankstelle in Sassen!» Grindel nannte die nahe bei Bardenberg gelegene Tankeinrichtung und hoffte, daß Schiffer sie belieferte. Der riß verwundert die Augen auf. «Sassen? Du übernimmst Sassen? Ist nicht wahr! Atze hat nichts gesagt, daß er von Sassen wegmacht!» «Vielleicht weiß er es noch nicht», erwiderte Grindel. «Ich glaube, er kriegt was Größeres!» Er fand erstaunlich, daß Schiffer, der stark unter Alkoholeinfluß stand, ihm zu folgen vermochte. Auf Schiffers Gesicht breitete sich erneut Mißtrauen aus. «Davon hat Alfred nie was gesagt, daß er einen Schwa …, daß er einen Schwager hat bei Minol!» «Wir haben uns selten gesehen, weißt du. Ich bin gerade erst von Magdeburg hergezogen. Meine Frau hat in Bardenberg ein Häuschen geerbt!» Schiffers Wangen röteten sich. Auf seiner Stirn stand Schweiß. Auf seinem Gesicht erschien ein pfiffiger Ausdruck; 100
er grinste verständnisinnig. «So, so, geerbt hast du das Häuschen?» «Meine Frau», verbesserte Grindel und erkannte blitzartig, daß Schiffer es für eine Lüge hielt. Der glaubte, daß sein Besucher auf dieselbe Weise dazu gekommen war wie er zu seiner Datsche. Grindel grinste auch und zog mit dem Zeigefinger das rechte untere Augenlid abwärts. Es schien Schiffers Mißtrauen endgültig zu beseitigen. Schiffers Pupillen weiteten sich immer mehr. Seine Hände fuhren auf dem Tisch hin und her. «Noch ein Bier», sagte er. Grindel holte zwei Flaschen aus der Veranda und öffnete sie. «Das wäre mir unangenehm, wenn Alfred nicht kommt», erklärte er düster. «Alfred ist ’ne Pfeife!», behauptete Schiffer. «Dein Schwager ist kein Steher!» Grindel stimmte ihm zu, obwohl er nicht wußte, worauf Schiffer hinaus wollte. Mit schwerer Zunge erklärte der, daß sich erst in schweren Zeiten zeige, ob Verlaß auf einen war. «Hättest du ihm nicht die Meinung gesagt, hätte er vor der Konfliktkommission ausgepackt. Das hat er mir selbst gesagt!» Schiffer tat geschmeichelt und starrte Grindel an. «Hat er das gesagt?» «Ja, hat er! Ich bin kein Steher wie Hubert, hat er gesagt! Mit mir kriegst du solchen Ärger nicht, kannste glauben!» «Mit dir? Wieso?» Schiffers Unruhe wuchs. «Mann, Hubert, begreifst du nicht? Wenn ich an Alfreds Stelle einsteige! Ich meine, sobald ich in Sassen bin. Deshalb sind wir hier verabredet, mein Schwager und ich! Damit er uns bekannt macht!» «Auf Alfred ist kein Verlaß», wiederholte Schiffer hartnäckig. «Wie – wie heißt du?» «Achim! Joachim Ziegler! Falls wir einig würden, wär’s mir fast schon lieber, Alfred wüßte nichts davon!» Schiffer nickte heftig. «Mir auch! Also gut, erst mal zweihundert Liter, halber Preis gegen bar!» Er schob seine Rechte 101
über den Tisch. Grindel ergriff sie, und Schiffer packte kräftig zu. «Keine Mitwisser verstanden?», forderte er. Grindel nickte. «Verstanden. Und bei dir? Hängt da jemand mit drin?» «Nicht einer», versicherte sein Gegenüber. Ich muß ihn provozieren, dachte Grindel, wie komme ich sonst hinter seine Masche? Immerhin hat das Gerät eine erste Absprache aufgezeichnet. Bei dem Gedanken, das Bandgerät könnte versagt haben, bekam er feuchte Hände. «Ich muß mal für kleine Jungs, Hubert!» «Im Flur links», sagte der und wischte mit seinem Pullover das schweißnasse, gerötete Gesicht. Seine Lippen schimmerten blau. Hoffentlich macht er keinen Abgang, er sieht gar nicht gut aus, dachte Grindel, als er das Bad aufsuchte. Es hatte meergrüne Fliesen, und die Einrichtung war darauf abgestimmt. Er sah aber, daß hier selten eine weibliche Hand Ordnung schaffte. Felix hatte berichtet, daß Schiffer öfter seine Liebschaften wechselte; das sei auch der Scheidungsgrund gewesen, Grindel holte das Minigerät aus der Jackentasche. Die Spulen drehten, und ein Teil des Bandes war durchgelaufen. Er atmete erleichtert auf und zog die Spülung. Das Rauschen war auf der Terrasse zu hören. Schiffer hielt es nicht mehr im Korbsessel, er stemmte sich auf dem Tisch empor. Aus seinem Mundwinkel rann Speichel. «Mir – kann keiner – was beweisen!» Ich muß ihn zum Reden bringen, dachte Grindel. «Du hast ’ne tolle Masche», bestätigte er dem anderen. «Alfred hat mir gesagt, wie du die Kohle machst!» Kaum hatte er es ausgesprochen, da wußte Grindel, daß er einen Fehler gemacht hatte. Schiffer reagierte anders als erwartet. Er sank in den Korbsessel zurück und wechselte mehrmals die Farbe. Seine Hände bewegten sich hektisch. «Den Trick mit der Uhr kennt Alfred gar nicht!» Grindel versicherte hastig: «Von einer Uhr hat er nichts gesagt, Hubert!» 102
«Na also», klang es erleichtert. Dann brach es aus ihm heraus, ein nicht aufzuhaltender Redestrom. «Ich habe mich im Betriebswettbewerb verpflichtet, mein Fahrzeug künftig allein zu betanken! Wenn ich Motorenöl tanke … Wie heißt du?» «Das weißt du doch, Hubert! Ich heiße Achim! Was ist, wenn du Motorenöl tankst?» «Dann immer bis in die Frühstückspause!» Plötzlich bekam er Atembeschwerden und rang nach Luft. «Weshalb bis in die Frühstückspause?», fragte Grindel, besorgt, daß Schiffer etwas zustoßen könnte, bevor er seinen Trick verraten hatte. Schiffers Stimme klang heiser. «In der Frühstückspause sitzen alle Kollegen in dem einzigen Raum, in dem geraucht werden darf. Da kommt mir keiner in die Quere.» Sein Kopf sank vornüber. Grindel spürte, daß er dem Geheimnis nahe war. Doch Schiffer lallte Unverständliches. Grindel packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, aber Schiffers Augen starrten glasig ins Leere. Grindel fluchte und ohrfeigte ihn. Das half, er kam wieder zu sich. «Was ist das für ein Trick mit der Uhr?» «Ich po … Ich pole sie um! Dann läuft sie rückwärts!» Grindel starrte Schiffer verblüfft an. Nun war alles klar. Der Tankwagenfahrer ließ die elektrische Zähluhr ein paar Hundert Liter rückwärts laufen und polte sie wieder richtig. In seinem Tanker befanden sich dann außer den an die Tankstellen auszuliefernden Mengen etliche Hundert Liter Motorenöl, die nicht auf den Lieferscheinen standen. Schiffer verfiel in Teilnahmslosigkeit. Die Wirkung der Droge schlug ins Gegenteil um. Grindel bugsierte ihn in die Veranda und legte ihn dort auf die Couch. Über seinen Erfolg vermochte er sich noch nicht zu freuen, noch war nicht sicher, ob Schiffers Kreislauf die Tortur überstand. Man muß abwarten, dachte Grindel und verließ achselzuckend das Grundstück. An der Gartenpforte blickte er sich for103
schend um. Niemand beobachtete ihn. An einem Werktag im April lagen die Gärten verlassen da. Bevor Grindel den Moskwitsch startete, spulte er das Band zurück und hörte es ab. Klar und deutlich klangen seine und Schiffers Stimme. Die Türglocke riß Evelin aus ihrer Lektüre. Sie klappte das Buch zu und erhob sich aus dem Sessel; Doktor Schubart bekam selten Besuch. Die Glocke läutete wieder. Evelin öffnete. Der Mann an der Tür sah sie erstaunt an und lüftete seine Mütze. «Guten Tag! Ich möchte zu Herrn Doktor Schubart!» «Das tut mir leid, er ist nicht da. Ich bin die Tochter!» «Fräulein Schubart?», klang es ungläubig. Offensichtlich kannte der Besucher ihren Stiefvater so gut, daß es ihn wunderte, nichts von einer Tochter zu wissen. Der Ankömmling deutete eine Verbeugung an. «Blaschke! Ihr Herr Vater und ich sind alte Bekannte!» Evelin überlegte dennoch, ob sie ihn einlassen sollte. Der Mann wirkte unsympathisch; sein feistes Gesicht lächelte zwar, doch gefiel ihr nicht, wie er sie anstarrte. «Ich kann ja später noch einmal …» Der Besucher brach ab. «Mein Vater kommt bald», sagte sie, «wenn Sie warten möchten?» Sie trat einladend zur Seite. Der Fremde schob sich in den Korridor und legte den Mantel ab. Sie bat ihn ins Zimmer und blickte bedauernd auf das Buch; statt weiterzulesen mußte sie den Gast unterhalten. «Darf ich fragen, woher Sie meinen Vater kennen?» «Aus Leipzig.» Evelin wunderte sich. Ihr Stiefvater hatte noch nie einen Bekannten in Leipzig erwähnt. Der Besucher deutete auf die Fachbücher über Elektronik, die mit Zetteln gespickt auf dem Tisch lagen. «Sie studieren?» Er schien ihren Fragen zuvorkommen zu wollen. Sie schüttelte den Kopf und erklärte, das Studium abgeschlossen zu haben. 104
«Sie sind Leipziger?», fragte Evelin. «Gewissermaßen schon.» «Das merkt man Ihrer Sprache nicht an.» «Danke für das Kompliment!», lautete die amüsierte Antwort. Der Besucher musterte das Zimmer, als sollte er ein Inventarverzeichnis anfertigen, und studierte die Bücherwand. «Ich bin Büchernarr wie Ihr Herr Vater!», versicherte er, trat ans Regal und blätterte in einem Buch. Sie grübelte, welcher Art Blaschkes Bekanntschaft mit dem sicher zwanzig Jahre älteren Stiefvater sein mochte. Das Telefon läutete. Evelin hob den Hörer. «Ich bin’s, Ev!», sagte die vertraute Stimme. «Ich habe einen Termin bei Doktor Zarge bekommen. Es wird also später!» Nicht jeder bekam bei dem Zahnarzt problemlos eine Behandlung. «Das ist dumm», sagte sie, «du hast nämlich Besuch!» «Besuch?» Täuschte sie sich, oder klang seine Stimme besorgt? «Ein Herr Blaschke aus Leipzig!» Der blätterte in einem Bildband und blickte aufmerksam herüber. «Blaschke –?», klang es gedehnt und gar nicht so, als sei ihm der Name geläufig. Der Leipziger trat neben Evelin und nahm ihr den Hörer aus der Hand. «Hallo, altes Haus! Ich bringe Grüße aus Frankfurt!» «Du –? Lutz –?», klang es aus der Membrane. «Genau, alter Junge!», polterte der Besucher. «Soll ich auf dich warten?» «Ja!», hörte Evelin. Bevor sie den Fremden hindern konnte, legte er auf. «Bitte, entschuldigen Sie mein Temperament», bat er. Grindel, der sich nun Blaschke nannte, wußte, daß er gegen alle Regeln seines Metiers verstoßen hatte. Persönliche Kontakte sollten an neutralen Orten aufgenommen werden und 105
müßten wie Zufallsbekanntschaften wirken. Als er statt von «Felix» von dessen Tochter empfangen wurde, hätte er sich davonscheren sollen. Schubart legte den Hörer auf die Gabel und starrte betroffen auf den Apparat. Grindel war noch nie nach Bardenberg gekommen. Meist hatten sie sich in einer Raststätte getroffen. Doch Gefahr schien der Besuch nicht zu signalisieren. Handelte Grindel eigenmächtig? Was bezweckte er? Wieso behauptete er Ev gegenüber, aus Leipzig zu stammen? Fragen und keine Antworten. Die Begrüßung zwischen beiden Männern verlief herzlich. «Hättest du am Telefon gesagt: ‹Hier spricht Bulli›, wäre mir klar gewesen, wer dran ist!» Schubart klopfte die Schulter seines Gastes. «Du hast recht. Wir kannten fast nur unsere Scherznamen!» Die Erklärung leuchtete Evelin ein. Sie ging in die Küche und richtete einen Imbiß her; dann verließ sie die Wohnung. Grindel und Schubart atmeten auf, als die Tür ins Schloß fiel. «Ist etwas vorgefallen?», fragte Schubart beunruhigt. «Nein, keine Sorge, Egon! Da Erfolgserlebnisse bei uns selten sind, wollte ich dir sagen, daß du in der Sache Schiffer hervorragend recherchiert hast!» «Ich habe mich nur an die Weisung gehalten!» Schubart tat bescheiden. «Worum es geht, weißt du natürlich nicht?» «Nein. Wir erfahren ja immer nur Bruchstücke einer Maßnahme!» «Die liefern wir auch nur. Aus den Mosaiksteinchen, die wir sammeln, setzt die Zentrale ein Bild zusammen!», bestätigte Grindel. Er zählte einige Details auf, verschwieg aber, daß er auf dem Weg hierher das winzige Tonband für einen Sonderkurier in der Brückenruine deponiert hatte. Grindel eröffnete dem Museumsleiter, daß Gronau beabsichtige, zwei V-Männer seiner Regie anzuvertrauen: den Leipziger Blaschke und den Tankwagenfahrer Schiffer. 106
Schubart war darüber gar nicht erfreut. Zwei Neue würden bei der künftigen Arbeit das Risiko vervielfachen. «Ist denn sicher, daß Schiffer mitmacht?», fragte Schubart. «So gut wie!», behauptete Grindel. Er klopfte dreimal von unten gegen die Tischplatte und wechselte das Thema. «Du hast nie gesagt, daß du eine Tochter hast!» «Weshalb auch. Evelin lebte vom zwölften Jahr an überwiegend bei ihrer Tante in Dessau. Sie ist nämlich meine Stieftochter!» «Deine Stieftochter?», wiederholte Grindel. «Ja. Ich habe sie nicht adoptiert. Sie heißt Evelin Schenk!» Er erwähnt mit keinem Wort, daß sie von Beruf ElektronikIngenieur ist, überlegte Grindel. Das war kein Zufall, nur ihres Berufes wegen verheimlichte der alte Fuchs die Stieftochter der Pullacher Zentrale. Schubart stand auf, trat zu einem Wandschränkchen, goß einen Schwenker halb voll Kognak und fragte: «Möchtest du?» «Geht leider nicht. Das Auto!» Schubart schüttete den Alkohol in sich hinein, füllte das Glas noch einmal und setzte sich wieder seinem Gast gegenüber. «Ich will aussteigen, verstehst du? Ich habe einen Anspruch darauf nach all den Jahren!» Worauf du Anspruch hast, das bestimmt die Zentrale, dachte Grindel. Laut sagte er: «Du hast recht, mal muß Schluß sein!» Er erhob sich. «Es wird Zeit für mich, Egon.» «Schade», erwiderte Schubart enttäuscht. «Für eine Nacht würde ich dich schon unterbringen. Wir vernichten eine gute Pulle oder auch zwei, reden über dieses und jenes … Denk an den Imbiß …» «Tut mir leid, Egon», unterbrach Grindel. «Ich wohne in Leipzig im Hotel. Es würde auffallen, wenn ich eine Nacht … Du verstehst?» Ein schwarzer Mercedes mit Frankfurter Kennzeichen fuhr auf der Transitstrecke von Westberlin kommend in Richtung BRD. Der Fahrer beachtete geflissentlich die auf den Autobahnen 107
geltende Höchstgeschwindigkeit; eine Radarkontrolle passierte er unbeanstandet. Die Autobahn führte in sanften Krümmungen durch hügelige Wälder mit dichtem Unterholz. Der Mercedes blinkte rechts, bog auf einen Rastplatz ein und hielt. Der Motor verstummte. Der Fahrer, ein Mann unbestimmbaren Alters, stieg aus. Ein Dutzend PKWs hielten hier, auch Fahrzeuge aus der BRD. Der Mercedesfahrer verschwand im Gebüsch. Der Mann spähte sichernd umher, lief durch das Gestrüpp und vermied es, auf trockene Äste zu treten. Er bewegte sich geschmeidig und zielstrebig. Vor ihm lagen die Reste einer im Krieg zerstörten Autobahnbrücke. Der Kraftfahrer verharrte, bückte sich und hob einen Betonbrocken auf. Darunter steckte im Boden eine Kapsel aus Leichtmetall, einem Zeltpflock ähnlich. Der Mann schraubte sie auf und nahm etwas heraus. Er tat die Kapsel in die Erde zurück, legte den Betonstein darauf und schlenderte lässig wieder zum Rastplatz. Dort waren Fahrzeuge hinzugekommen, andere abgefahren; er schob sich hinter das Lenkrad. In der Raststätte Hersfelder Kreuz, in der BRD, wurde der Mercedes schon erwartet. Der Kurier aus Pullach nahm den Inhalt des Toten Briefkastens, eine winzige Bandkassette, in Empfang.
14 «Machen wir uns nichts vor, meine Herren! Die Bilanz ist niederschmetternd!» Doktor Gronau musterte die Gesichter seiner um den Konferenztisch versammelten Mitarbeiter. Er las auf ihnen widerstreitende Empfindungen. Die an dem Mißerfolg direkt Beteiligten drückten Bedauern aus, andere taten ungerührt. Es gab aber auch die unverhohlene Schadenfreude jener, die 108
selbst einmal Gronaus schonungslose Kritik einstecken mußten. Die Beratung fand im kleinen Konferenzraum statt. Die mannshohe Holztäfelung, die weißen Rauhputzwände mit den Kopien alter Meister und die stuckverzierte Decke erweckten den Eindruck, man befände sich in einem mittelalterlichen Schloß. «Wir müssen also davon ausgehen, meine Herren, daß alle seit einem Jahr eingegangenen Hafenberichte aus Rostock Spielmaterial sind! Was das bedeutet, muß ich wohl nicht erläutern!» Unter seinen Mitarbeitern war nicht einer, der nicht wußte, was dieser Rückschlag bedeutete. Vor einem Jahr war es gelungen, in Kanada den Offizier eines DDR-Frachters als Informanten für den BND anzuwerben. Der Offizier mußte bald aus gesundheitlichen Gründen abmustern und wurde zum Innendienst in die Seereederei versetzt. Er lieferte seither interessante Berichte, die Einblick gaben in die Planung des Seefahrtunternehmens. «Was wir als glücklichen Umstand ansahen», fuhr Gronau fort, «stellt sich nun als Schachzug heraus. Noch ist der Schaden nicht zu übersehen, der durch falsche Schlußfolgerungen auf Grund unserer Fehlinformationen entstanden ist. Tatsache ist, daß die unter den Flaggen der RGW-Länder fahrenden Schiffe auf den Weltmeeren weiter zunehmen! Sie wissen, meine Herren, daß es nicht üblich ist, in größerem Kreise über Pannen zu referieren. Ich weiche von dieser Gepflogenheit ab, um auf die Dringlichkeit hinzuweisen, neue V-Männer intensiver als bisher auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen.» Gronau schloß die Beratung mit dem eindringlichen Appell an die Wachsamkeit jedes Mitarbeiters. In dem allgemeinen Aufbruch wandte sich Gronau an seinen Stellvertreter: «Herr Wiese, bitte bleiben Sie noch einen Moment! Ich brauche ja wohl nicht zu betonen, lieber Wiese, daß meine Mahnung ganz besonders für ‹Januskopf› gilt! Was im Falle Rostock zu vertrackten Fehlschlüssen bei einigen unserer Reedereien geführt 109
hat, könnte bei ‹Januskopf› noch unangenehmer für uns werden!» «Ich verstehe», brummte Wiese. Hinter den gegen die Funkmeßstelle bei Bardenberg gerichteten Aktivitäten stand das NATO-Oberkommando in Brüssel. Der Bundesnachrichtendienst holte wieder einmal für die Amerikaner die Kastanien aus dem Feuer. «Wie weit sind Sie eigentlich mit ‹Januskopf›?», fragte Gronau. Wiese fischte ein schwarzes Notizbuch aus seiner Jackettasche. Er bediente sich eigenwilliger, an Bilderschrift erinnernde Kürzel, «Ernst alias Blaschke hat seine Bewährungsprobe bestanden», verkündete er. «Der Besitzer des ständig vor der Armee-Dienststelle bei Bardenberg parkenden Wartburg dreihundertelf mit dem Kennzeichen FN siebenundachtzig Strich zwölf gehört einem in Sinten wohnhaften Herbert Budach. Lebt in bescheidenen Verhältnissen. Seine Ehe wurde vor zwei Jahren geschieden. Die beiden Kinder und die Wohnung in Bardenberg wurden der Frau zugesprochen. Budach zahlt außer dem Unterhalt für die beiden Töchter auch noch für einen außerehelichen Sohn. Nach der Scheidung zog er zu seiner Tante nach Sinten. Seine finanziellen Möglichkeiten sind trotz eines annehmbaren Gehaltes begrenzt.» «Sind die Informationen verläßlich?», fragte Gronau. «Ernst beruft sich auf eine Gastwirtin in Sinten. Von anderer Seite sind die Auskünfte nicht bestätigt! Aber Sie wissen ja, in kleinen Orten weiß jeder von jedem alles.» Es hieß, Budach sei der einzige Verwandte seiner als geizig verschrieenen Tante. Auf die Erbschaft zu spekulieren schien müßig, denn die alte Dame erfreute sich robuster Gesundheit. Mit Interesse nahm Gronau zur Kenntnis, daß der in engen Verhältnissen lebende Budach sich als Hobbymaler betätigte. «Ernst hat sich als Interessent für eines der Bilder ausgegeben.» «Sehr gut», lobte Gronau, «und wie gedenken Sie weiter vorzugehen?» 110
«Wir ködern Budach mit seinen Bildern, bis wir ihn an der Angel haben!» «Bilder zu malen und zu verkaufen ist nicht verboten!», wandte Gronau ein. «Um den Mann erpreßbar zu machen, muß er zu Gesetzwidrigkeiten veranlaßt werden.» «Zu gegebener Zeit wird Ernst Budach gestehen, daß er weder Schulz heißt noch in Magdeburg wohnt. Er wird erklären, daß er bei einem Bezirksrat für Kultur in einem nördlichen Bezirk tätig sei und Bilder an Kulturhäuser, Institutionen und Betriebe vermittele. Eines Tages verkauft Ernst dann ein Bild in die BRD und honoriert Budach mit Westmark.» «Womit wir beim kritischen Punkt angelangt sind», erklärte Gronau skeptisch. «Ja, das wird die Nagelprobe!» Es war nicht erforderlich, weitere Details zu erörtern. Der Verlauf war immer der gleiche: Gab es handfeste Beweise dafür, daß Budach lukrative Kontakte in der BRD unterhielt, war er massiv unter Druck zu setzen. «Denken Sie daran, Herr Wiese, die Zeit läuft uns davon!» Mit dieser Mahnung entließ Gronau seinen Mitarbeiter. In sein Dienstzimmer zurückgekehrt, fand Wiese im Telefonspeicher eine hauseigene Nachricht. Er spulte das Band zurück und drückte die Abhörtaste; eine ihm vertraute Stimme teilte mit, daß das erwartete Band im Tonstudio eingetroffen sei. Wiese schob die kodierten Chips aus Kunststoff, halb so groß wie eine Spielkarte, in den dafür bestimmten Schlitz. Die Panzertür bewegte sich schmatzend. Hinter Wiese schwenkte die tresorähnliche Tür wieder zu; ein textiler Bodenbelag machte seine Schritte geräuschlos. Der Gang war so eng, daß Wieses hünenhafte Gestalt ihn ausfüllte. An den Wänden milderten Bilder den Eindruck von spartanischer Strenge. Der Gang mündete in ein Vestibül mit gepolsterten Bänken an den Wänden. Wiese trat zum Paternoster und setzte ihn mit einem 111
Knopfdruck in Bewegung; knackend glitten einige Kabinen vorbei. Wiese paßte einen günstigen Augenblick zum Einsteigen ab. Er fand dieses Beförderungsmittel unsympathisch. Es zwang ihn, sich auf das Ein- und Aussteigen zu konzentrieren, als hingen Gesundheit und Leben davon ab. Aus unerfindlichen Gründen blieb der Lift gesperrt. Die Kabine sank in die Bunkertiefe hinab. Vestibüle glitten vorüber und mit codierten Zeichen versehene Stahltüren. Obwohl Wiese seit Jahren zur «Firma» gehörte, wußte er nicht, was sie verbargen. Das Tonstudio lag in der vierten Tiefetage. Wiese drückte einen Knopf und wußte, daß drinnen auf einem Monitor sein Konterfei erschien. Das Studio verfügte über modernste Technik. Ein glatzköpfiger Mann mit einem zerknitterten Gesicht, gegen den Wiese noch größer erschien, gab ihm stumm die Hand und lief voran in seinen Arbeitsraum. «Sie dürfen von mir aus rauchen, Herr Wiese», sagte der Techniker. «Danke, Herr Schüttauf!» Wiese sank in einen Sessel und zückte sein Etui. Der weißkittelige kleine Mann überragte den Sitzenden kaum. «Die Zeit war knapp», gab der Tontechniker zu bedenken und legte ein Band ins Abspielgerät. Wiese nickte. Der Kurier, der es am Hersfelder Kreuz übernahm, hatte das Gelände in der Heilmannstraße noch nicht verlassen, da befand sich der Inhalt des TBKs schon hier unten. Schüttauf galt auf seinem Gebiet als Genie. Man sagte ihm nach, daß er einen auf Band gesprochenen Zeitungsartikel so umzumontieren verstand, daß er Geheimdienste auf die Beine brachte. Der Techniker trat ans Regiepult, eine Taste knackte, und aus dem Lautsprecher drang Grindels Stimme: «Was denn, ist Alfred noch nicht da? Guten Tag erst mal! Um zwei wollte er hier sein; jetzt ist es drei!» «Alfred? Was denn für ’n Alfred?», fragte Schiffer. 112
«Mein Schwager, Henzke, Alfred! Ich bin Joachim! Joachim Ziegler! Du kannst aber Achim sagen, und ich sage Hubert, einverstanden?» Wiese hob die Hand, und Schüttauf stoppte das Band. «Die Stimme von Ziegler über Verzerrer, geht das?» «Gewiß», antwortete der Techniker. «Der andere, war der betrunken?» «Vermutlich angeheitert», antwortete Wiese. An der Art, wie sich Grindel bei Schiffer eingeführt hatte, fand er nichts auszusetzen. Auch daß er eine Panne mit einem Trabant vorgab, klang recht plausibel. Wiese vermochte nachzuvollziehen, wie alles vonstatten gegangen war, und erriet, daß die Pause im Dialog von Grindel genutzt worden war, um eine Pervitintablette ins Bier zu tun. Sogar deren Wirkung registrierte er wenige Minuten später an Schiffers Reaktionen. Mit dieser Aufnahme war der Tankwagenfahrer geliefert! Wiese reichte Schüttauf ein mit Maschinenschrift bedecktes Blatt Papier. «Dieser Speech wird als Vorspann verklart!» Der Tontechniker überflog den Text. «Wollen Sie selbst, Herr Wiese?» Der winkte ab. Er legte keinen Wert darauf, obwohl Schüttauf seine Stimme so verzerren würde, daß seine eigene Frau sie nicht erkannte. «Also ich», sagte Schüttauf gleichmütig. Er bog das Mikrofon herab und räusperte sich. «Guten Tag, Herr Schiffer! Mein Name ist Paul! Ich freue mich, daß Sie die Weisung befolgt und die Kassette in einen Rekorder eingelegt haben! Ich bin Schriftsteller und verfasse ein Werk über die Deutsche Demokratische Republik! Der Arbeitstitel lautet: DDR intim! Mein Buch wird bisher geheime Informationen liefern. Sie werden mir helfen, solche Informationen zu beschaffen. Ich honoriere sie je nach Qualität!» Schüttauf warf Wiese einen anerkennenden Blick zu und las: «Beigefügt als Muster einer diskreten Information die von Ihnen geschilderte Methode, sich auf Kosten Minols die Ta113
schen zu füllen. Weigern Sie sich, mir bei meinen Recherchen zu helfen, sende ich das Band an das Volkspolizei-Kreisamt in Bardenberg! Obwohl das Originalband überspielt wurde, ist die moderne Kriminaltechnik in der Lage, Ihre Stimme zu identifizieren! Hören Sie nun Ihre eigene Einlassung und meinen ersten Auftrag!» Per Tontechniker sah fragend auf Wiese. Als dieser nickte, fuhr Schüttauf das Band noch einmal ab. Wiese lauschte so andächtig, als hörte er seine Lieblingsschallplatte. Schiffers Baß verstummte. Schüttauf schnitt das Band und montierte den Vorlauf. Dann ergänzte er den Text vom Blatt: Schiffer bekam den Auftrag, an einem bestimmten Tag, zu festgelegter Zeit in Bardenberg die Namen und Anschriften jener Tankstellenleiter, die ihm gestohlenes Motorenöl abgekauft hatten, in einer schadhaften Brunnenfigur zu hinterlegen. Wiese wußte, daß das Nixendenkmal in einem Park am Fuße der Bardenburg stand und von Felix beobachtet werden konnte.
15 Major Werner stand am Fenster seines Dienstzimmers. Die Hände in die Hosentaschen vergraben, blickte er auf den Vorplatz hinab. Hinter Werner saß Leutnant Faber auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch und wartete darauf, daß der Major sich äußerte. Der Leutnant konnte nicht verhindern, daß seine Gedanken abschweiften. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln. «Haben Sie im Lotto gewonnen?» Major Werner riß ihn aus seinen Gedanken. Faber schlug verwirrt die Augen nieder, blickte dann aber zu Werner auf und sah, daß in dessen Augenwinkeln die Lachfält114
chen knitterten, die ihn so sympathisch machten. «Doch, ja, im übertragenen Sinne ist es ein Hauptgewinn!» Meine Güte, dachte Werner, er wird tatsächlich rot; es ist nicht zu fassen, Seine anfängliche Zurückhaltung dem neuen Mitarbeiter gegenüber hatte sich längst in Zuneigung verwandelt. Dennoch sind wir ein ungleiches Gespann, dachte der Major. Einen Kaltblüter spannt man nicht mit einem Traber zusammen. Werner arbeitete bedächtig und ohne Hast; der Leutnant zügelte nur mühsam seine Ungeduld. Werner rekapitulierte noch einmal Fabers Bericht: Die Nachfrage im VPKA Sonneberg hatte ergeben, daß der Bürger Herbert Schuster nach dem Verlust seines alten Dokuments einen neuen Personalausweis erhalten hatte. Der Bardenberger Bürger Schreiber war entweder Finder oder auf andere Weise in den Besitz gelangt. Werner unterdrückte die erste Regung, Schreiber vorzuladen. Er stimmte Fabers Schlußfolgerung zu, daß jemand, der einen verfälschten Ausweis benutzte und die Gefahr, entdeckt zu werden, in Kauf nahm, schwerwiegende Gründe dafür besitzen müsse. «Was vermuten Sie, steckt dahinter?» Bevor Faber antworten konnte, läutete das Telefon. Der Major hob den Hörer ab und reichte ihn dann Faber. «Ferngespräch aus Gohla!» Die Inhaberin der Gohlaer Anzeigenannahme teilte aufgeregt mit, daß Herr Schubert aus Sonneberg sich telefonisch erkundigt habe, ob die Kriminalpolizei an seiner Annonce interessiert gewesen sei. Wie abgesprochen, hatte das alte Fräulein die Frage verneint. Der Anruf bestätigte Fabers Hypothese, soweit sie Schreiber betraf. «Ich bin sicher, Genosse Major, daß Schreiber zu einem Schieberring gehört, der westliche Industriewaren vertreibt. Erfahrungsgemäß sind es Kompensationsgeschäfte, Ware gegen Ware …» «Wobei leicht zu erraten ist», unterbrach Werner, «was von hier nach drüben verbracht wird!» 115
«Kleine, kostbare und leicht zu schmuggelnde Dinge!» «Fragen wir uns mal, was für diese Annahme spricht!» «Schreiber ist zwanzig Jahre als Vertreter der Bardenberger Spielzeugfabrik durch die Republik gereist. Die Fabrik hat sich einem Kombinat angeschlossen; nun braucht man keinen Handelsvertreter mehr. In der Buchhaltung zu arbeiten hat Schreiber abgelehnt und einen Aufhebungsvertrag unterschrieben!» Werner wanderte nachdenklich im Dienstzimmer umher. Faber fuhr fort: «Er könnte sich nicht an einen festen Arbeitsplatz gewöhnen, behauptet Schreiber. Im Widerspruch dazu ließ er sich von der Firma Wehrhahn, einem Familienbetrieb, als Puppenmacher anstellen.» «Von Wehrhahns?», wiederholte der Major erstaunt. Er kannte das bescheidene Unternehmen, das Souvenirpuppen herstellte. «Der Witz ist, daß er geäußert hat, auch künftig reisen zu wollen!» «Und womit?» «Das ist die Frage, Genosse Major!» Werner schlug seine Rechte auf Fabers Schulter. «Mann, Faber, gehen Sie mir nicht dauernd mit dem Dienstgrad auf die Nerven! Ich habe einen Namen!» «Jawohl, Genosse Werner! Ich schlage vor, Schreiber im Auge zu behalten. Ich vermute, daß er mit dem Leipziger Blaschke in Verbindung steht.» «Wegen der in beiden Fällen angewandten Anzeigenmethoden?» «Das besagt doch gar nichts.» «Im Falle Schiffer …» Major Werner gab seine Wanderung auf und setzte sich hinter den Schreibtisch. Er schüttelte den Kopf. «Es gibt keinen Fall Schiffer, ist das klar?» «Nicht ganz», widersprach der Leutnant. «Wir sollten uns dafür interessieren, wie der seinen Aufwand bestreitet! An eine Erbschaft und Schenkung glaube ich nicht.» 116
«Auch das würde noch keine Ermittlung rechtfertigen! Wo kämen wir denn hin, wollten wir uns auf Grund vager Vermutungen in private Angelegenheiten unserer Bürger einmischen?» Faber gab nicht auf. «Vielleicht wären wir weiter, hätte ich den Tankstellenleiter Henzke noch ein, zwei Stunden ausquetschen können! Der fing an, weich zu werden!» Werner sah ihn überrascht an. «Wollen Sie damit sagen, daß ich einen Fehler begangen habe? Das beweisen Sie mir mal! Ich mag keine Mitarbeiter, die mir zum Munde reden! Sie glauben also, ich habe mich von Henzke einwickeln lassen?» Faber beantwortete die Frage indirekt. «Vor der Konfliktkommission hat er ebenso erfolgreich auf die Tränendrüse gedrückt!» «Das ist verdammt deutlich», gestand der Major. Faber zählte auf, welchen Luxus Schiffer sich leistete. Da gab es den PKW! Das Grundstück am Röbelsee! Die Datsche und das Motorboot! «Das schafft er alles mit einem monatlichen Bruttolohn von zwölfhundert Mark. Von dem bezahlt er noch den Unterhalt für seine sechzehnjährige Tochter!» «Sie vermuten, Faber, daß die Minusdifferenzen bei Minol mindestens teilweise auf Schiffers Konto gehen? Weshalb hat die Leitung noch keine Anzeige erstattet?» «Weil im Rechenzentrum ein paar Computer verrückt gespielt haben. Solange ein Buchungsfehler nicht auszuschließen ist …» Faber zuckte die Schultern. «Sagen Sie, wieviel E-Sachen liegen in Ihrem Schub?» «Elf», antwortete Leutnant Faber und seufzte. «Suchen Sie die vier aufwendigsten heraus», befahl der Major. «Beim Referat ‹Gesundheit und Lebern› ist man nicht ausgelastet. Die wollen uns unterstützen!» Faber sah darin eine Aufforderung, den «Minolfall» auf seine Weise im Auge zu behalten. Zu jenen E-Sachen, die er keinesfalls aus der Hand geben würde, gehörte der Quarzuhrenfall. Es schien einer jener nicht kalkulierbaren Zufälle zu sein, 117
daß er in seiner neuen Dienststelle wahrscheinlich auf dieselbe Spur stieß. Beate Schreiber beobachtete ihren Sohn beim Mittagessen, Helmut rührte in seiner Kohlrabisuppe herum, die senkrechte Falte über der Nase, wie immer, wenn ihn ein Problem beschäftigte. «Was geht dir im Kopf herum?», fragte sie. Helmut schien unentschlossen. Sie bedrängte ihn nicht. Endlich schob er den Teller fort und stand auf. «Kommst du mal, Muttsch?» Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung. Beate Schreiber nickte, erhob sich und folgte ihm. Helmut lief die Stiege in den Keller hinab. In der Ecke stand eine Buckeltruhe. Helmut hob den Deckel und zeigte stumm auf einen offenen Karton. Beate zählte zwölf Quarzarmbanduhren mit schwarzem Zifferblatt. Sie starrte ratlos darauf. «Westuhren», sagte Helmut. Auf seine Frage, woher der Vater die Uhren aus der BRD bekommen habe, wußte sie keine Antwort. Beate Schreiber wartete, bis Helmut wieder zur Werkstatt radelte. Dann ging sie in den Keller hinunter und nahm die Uhren an sich. Sie wußte, daß Hans nicht zimperlich war, wenn es um eine Verdienstmöglichkeit ging. In Gedanken versunken fuhr sie zur Kaufhalle zurück. Schreiber nahm die Kurve zur Lüsinger Straße wie immer zu schnell. Die Reifen kreischten. Er war unzufrieden mit dieser Verkaufsfahrt. Statt Waren im Werte von … zigtausend Mark zu bewegen, hatte er drei Dutzend Wehrhahnsche Puppen verkauft; sein Anteil wog kaum die Unkosten auf. Blaschkes Uhren gingen auch immer schlechter. Schreiber stoppte den Trabant vorm Haus. Er kramte nach dem Hausschlüssel, unsicher, ob Beate sich freute, daß er zwei Tage früher nach Hause kam. Im Flur schlüpfte er in die Hausschuhe, lief hinkend in die 118
Küche und sah enttäuscht, daß der Tisch nicht gedeckt war. Beate erwartete ihn erst übermorgen. Morgen würde er zu Blaschke fahren und Taschenrechner und Schallplatten holen. Uhren besaß er noch. Er mußte mit Blaschke reden, daß der den Preis herabsetzte. Er nahm die Geldkassette aus dem Reiselord. Die paar tausend Mark würde er auch in seiner Brieftasche unterbringen. Unzufrieden warf er den Deckel zu und trug die Kassette in den Keller, um sie in der Truhe zu verwahren. Das Schloß war nicht zugesperrt; er hob den Deckel und starrte fassungslos auf den leeren Karton. Die zwölf Uhren waren verschwunden! Schreiber wühlte in Fächern und Schüben, die Uhren fand er nicht. Er fuhr zur Kfz-Werkstatt. Aber Helmut begleitete den Meister auf einer Probefahrt. Da fuhr Schreiber zur Kaufhalle. Beate empfing ihn kühl und zeigte zur Bürotür. «Komm ’rein, setz dich!» Er blieb stehen und sagte ärgerlich: «Ein herzlicher Empfang! Hast du die Uhren?» Es klang schroffer als beabsichtigt. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch, der nun wie eine Barriere zwischen ihnen stand. «Ja, ich habe sie in Verwahrung genommen!» «In Verwahrung?», wiederholte er erstaunt. «Ich gebe sie dir zurück, wenn du sie dorthin zurückschaffst, wo du sie herhast! Oder sind sie gestohlen?» «Bist du verrückt?», fuhr er heftig auf. «Die Uhren stammen aus der BRD! Wie kommen sie herüber?» «Denkst du, mein Lieferant bindet es mir auf die Nase? Ich bezahle sie und verdiene pro Stück fünfzig Mark. Ein normaler Handel!» «Schwarzhandel», korrigierte sie. «Reden wir abends darüber. Es geht nicht nur um die Uhren!» Er starrte sie sprachlos an. Es ging nicht allein um seine Geschäfte; Beate verkraftete nicht, daß er die Arbeit in der Buchhaltung ablehnte. 119
«Es gibt nur zwei Möglichkeiten», sagte sie. «Entweder du hältst zu Helmut und mir und bringst die Uhren zu deinem Lieferanten zurück …» «Du bist verrückt!», unterbrach er sie. «… und gibst dein Scheinarbeitsverhältnis bei Wehrhahns auf! Im neuen Werk kannst du sofort anfangen!» Schreiber krachte seine Faust auf den Schreibtisch. «Das kommt nicht in Frage!», schrie er. «Benimm dich! Die zweite Möglichkeit: Du lebst so weiter, aber ohne uns!» «Bist du übergeschnappt?» Er sah sie an, als säße ein fremder Mensch vor ihm. «Die Uhren liegen im Kleiderschrank, im mittleren Wäschefach. Sind sie heute abend nicht aus dem Haus, verständige ich die Kriminalpolizei! Entscheide dich!» «Blödsinn», knurrte er. Sie stand auf, trat ans Fenster und kehrte ihm den Rücken. Er sah, daß ihre Schultern zuckten. Er trat zu ihr und schmeichelte: «Beatchen, reden wir vernünftig! Wo soll ich denn hin?» Sie drehte sich um, und er erschrak vor dem Schmerz in ihren Augen. Er zog sie an sich. Mit ihrer Beherrschung war es vorbei. Sie umschlang seinen Nacken. «Ich will ja, daß du bleibst!», flüsterte sie. Auf seinem Gesicht breitete sich Erleichterung aus. Er wußte, sobald sie ihr Pulver verschossen hatte, wurde sie vernünftig. So war es immer gewesen. Doch es ging noch nie um den Bestand ihrer Ehe. Sie zog seinen Kopf herab und küßte ihn. «Heute abend gehen wir zu Wehrhahns, ja?» Er starrte sie verblüfft an. «Zu Wehrhahns? Wieso?» «Den Arbeitsvertrag aufheben!» «Nun fang doch nicht wieder davon an», sagte er ungeduldig. Aus ihrem Gesicht schwand die Freude. Er lenkte ein. «Also gut, ich hocke mich ein, zwei Tage jede Woche in die 120
Werkstatt. Dann ist es kein Scheinarbeitsverhältnis mehr, nicht wahr?» Sie trat einen Schritt rückwärts und fragte ungläubig: «Ist das dein Ernst?» «Aber ja», sagte er heiter, «das verspreche ich dir!» «Du begreifst nichts, gar nichts! Was wird mit den Uhren?» «Laß doch die Uhren Uhren sein! Na schön, ich schaffe sie aus dem Haus!», fügte er hastig hinzu, als er merkte, daß er sie mißverstanden hatte. Nahm sie denn ernsthaft an, daß er seinen Handel an den Nagel hängte? Beates Gesicht schien zu versteinern. Sie stieß ihn zurück. «Ich verstehe! Ein, zwei Zugeständnisse, meinst du, und sonst wie gehabt? Nein –!» Sie stürmte aus dem Büro. Er sah ihr verbittert nach. Ärger beherrschte ihn, sie falsch eingeschätzt zu haben. Sie wich kein Jota von ihrer Forderung ab, während er ihr Zugeständnisse gemacht hatte. Spürte sie denn nicht, daß sie ihm Unrecht tat? Er wollte ihr zeigen, wie ernst es ihm war, sein Leben nach seinem Willen zu gestalten. Entschlossen verließ er die Kaufhalle und stieg in seinen Trabant. Unterwegs überlegte er, wie alles zu teilen wäre, falls sie sich endgültig trennten. Im Schlafzimmer fand er die Uhren. Zusammen mit Bettwäsche und Anzügen tat er sie in einen Koffer. Wehrhahn führte den Besucher in den Büroverschlag. Schreiber wirkte fahrig. «Was nicht in Ordnung?», fragte der Alte besorgt. «Wie? Ach so, doch, ja! Das heißt, nein! Meine Frau und ich, wir trennen uns! Sie müssen mir helfen, Herr Wehrhahn! Wenn ich bis heute abend nicht das Haus räume, zeigt meine Frau das Scheinarbeitsverhältnis an!» Wehrhahn wurde blaß. «Können Sie mir nicht Ihr Sommerhäuschen als vorläufige Bleibe überlassen?» «Die Hütte hat doch weder Ofen noch Stromanschluß.» 121
Schreiber wischte den Einwurf beiseite. «Bis zum nächsten Winter ist es noch lange hin.» Seufzend streifte der alte Wehrhahn den Kittel ab. «Fahren wir am besten gleich», sagte er.
16 Blaschke begann auf Kleinigkeiten zu achten. Er registrierte Dinge, die ihm sonst nie aufgefallen waren. Neben dem Mittelfußtisch stand am Boden die prall mit Lebensmitteln gefüllte Reisetasche aus Leder. Der Reißverschluß klemmte manchmal und war nur halb geschlossen. Blaschke wußte, daß er ihn zugezogen hatte. Als Mulewski ins Büro kam, um einen Hundertmarkschein zu wechseln, deutete Blaschke auf die Tasche. «Warst du da dran?» Der Gefragte wechselte die Farbe. «Ich – ich …», stotterte er. «Du warst neugierig, was ich da ranschleppe, ja?» Mulewski nickte verdattert. «Ich hause übers Wochenende in der Datsche. Und den Montag und Dienstag hänge ich an! Wirst du die zwei Tage nicht allein fertig, dann sag’s!» Es klang ärgerlich. «Doch, ja, bestimmt», versicherte der Verwachsene. «Es ist nur, ich meine …» Er verstummte. «Was meinst du?» Stockend drückte Mulewski seine Verwunderung darüber aus, daß Blaschke für die paar Tage so viele Lebensmittel mitnahm. Blaschke verwünschte seinen Leichtsinn. Er hätte mit Mulles Neugier rechnen müssen und die Einkäufe im Auto verstauen sollen. «Ich bin eben nicht allein! Das verstehst du wohl nicht, daß ein Mann auch mal eine Frau braucht?»Es klang spöttisch. Mulewski errötete, da Blaschke auf seine Veranlagung an122
spielte. «Kannst du wechseln?», fragte er und hielt ihm den Schein hin. Blaschke zückte seine Brieftasche und tauschte den blauen Schein gegen fünf Zwanziger. Die Lebensmittel reichten für ein Dutzend Kostgänger. Deshalb erklärte Blaschke beiläufig, daß er im Frühjahr immer einen Vorrat für die kommende Saison anlegte. Bevor Mulewski in den Laden zurückkehrte, wo der Kunde auf sein Wechselgeld wartete, sagte er: «Vergiß es nicht, und schreib mir die Adresse auf, Axel!» Das fehlte noch, daß Mulle ihm nachspionierte! «Ich will nicht gestört werden, Mulle», antwortete Blaschke brummig. «Ich rufe Montag oder Dienstag mal an!» Blaschke verabschiedete sich von Mulewski und fuhr zur Garage, die zweihundert Schritte von seiner Wohnung entfernt lag. Blaschke stieg aus, öffnete das Tor und fuhr hinein. Nachdenklich blieb er hinter dem Lenkrad sitzen und grübelte. Die Entscheidung war gefallen. Er konnte nicht mehr zurück. Grindel hatte ihn in der Hand. Unter dem Spind lagen die gefälschten Kennzeichen. Blaschke hatte Grindels Weisung befolgt und die rostigen Schrauben gegen neue getauscht, die sich mühelos drehen ließen. Hastig befestigte er die gefälschten Kennzeichen HL 34-10 des Bezirkes Magdeburg, schlug seine Papiere in Zellophan ein und verbarg sie zusammen mit den echten Kennzeichen UP 18-93 unter der Bodenmatte. Grindel hatte verlangt, daß das Fahrzeug in kürzester Zeit wieder auf «echt» zu trimmen sei. Blaschke blieb noch reichlich Zeit bis zum Treff, doch mit zwei Fahrstunden mußte er rechnen. Er prägte sich die Daten in seinem gefälschten Personalausweis ein. Er war nun der vierundvierzig Jahre alte Albert Schulz, wohnhaft in Magdeburg, Halberstädter Straße neunzehn. Er besaß einen Betriebsausweis des VEB Schwermaschinenbau «Ernst Thälmann» und sollte sich als Technischer Zeichner ausgeben. 123
Er fuhr den Moskwitsch ohne Beleuchtung rückwärts aus der Garage, damit die Kennzeichen nicht zu sehen waren. Grindel hatte ihm eingeschärft, ständig an den unberechenbaren Zufall zu denken. An geringfügigen Unterlassungen waren schon gewiefte Leute gescheitert. Grindel machte kein Hehl daraus, daß die Kontakte auf den Transitstrecken zu den risikoreichsten Unternehmungen gehörten. Blaschke verschloß das Garagentor und startete den Moskwitsch. Die Beleuchtung schaltete er erst auf der Straße ein. Aus Frankfurt kommend, fuhr Grindel mit seinem OpelRekord über die Abfährt Hönebach, die vorletzte vor der Grenze, von der Autobahn. Die Tankstelle am Ortseingang war ihm vertraut; eine grelle Lampe beleuchtete das Schild: «Pannenhilfe – Abschleppdienst – Karl Knopke»! Autos verirrten sich selten hierher, um diese Abendstunde schon gar nicht. Wäre der ehemalige Feldwebel der Bundeswehr auf den Kraftstoffumsatz angewiesen, würde er kaum die Margarine aufs Brot verdienen. Grindel bog ein, rollte an den Zapfsäulen vorbei und hielt vor der Werkstatt. Knopke kam heraus und öffnete das Tor. Der Opel mit dem Frankfurter Kennzeichen fuhr hinein. Die Männer begrüßten sich. «Scheißwetter», sagte Knopke und strich über sein borstiges Haar, das sich am Wirbel lichtete. «Hoffentlich bleibt es so», meinte Grindel. «Wenn Sie was brauchen», erklärte Knopke, «dann drücken Sie da drauf. Sie wissen ja Bescheid hier bei uns!» Er zeigte auf den Klingelknopf an der Wand. «Wann kommt der Mercedes?», fragte Grindel. Knopke sah auf die Uhr. «Viertelstunde!» Bei Knopke liefen alle Unternehmungen nach einem exakten Zeitplan, wie er es von der Bundeswehr gewohnt war. Seine Weisungen bekam er von der Zentrale in Pullach, in Ausnahmefällen von einer Nebenstelle. «Also dann», sagte er, zog sich ins Büro zurück und schaltete Rockmusik ein. 124
Die Rollos vor den beiden Fenstern waren herabgelassen, die Werkstatt von draußen nicht einzusehen. Grindel holte seinen Koffer aus dem Gepäckraum des Opel und betrat die Kammer mit dem Feldbett. Es kam vor, daß ein Durchreisender hier eine Wartezeit verschlief. Er zog sich um, wechselte auch die Wäsche. Der sportliche Anzug, die Schuhe, die Socken, die Unterwäsche, alles stammte von drüben. Ein wetterfester Anorak und eine ebensolche Mütze vervollständigten seine Garderobe. Seine Münchener Kleidung tat er in den Koffer und verstaute diesen wieder im Opel. Grindel kontrollierte den Inhalt seiner Brieftasche. Der Personalausweis mit seinem Paßfoto lautete auf Joachim Ziegler – es war sein bevorzugtes Pseudonym – Riesa, Meißener Straße elf. Als Familienstand war «verheiratet» angegeben. Die Tasche enthielt einen Betriebsausweis des Reifenwerkes, zur Zeit gültige Essenmarken, die Mitgliedskarte der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, eine Kinokarte und den Reparaturschein des Dienstleistungskombinates für einen Staubsauger. Knopke kam wieder in die Werkstatt. Die Verwandlung seines Besuchers beeindruckte ihn nicht. Er legte eine WaltherPistole, Kaliber siebenfünfundsechzig, und fünf Magazine Munition auf den Tisch. Grindel kontrollierte, ob sie gefüllt waren, und quittierte den Empfang. «Retour abliefern», förderte Knopke beiläufig. Grindel widersprach ihm. Die Weisung wich diesmal von der Routine ab. Knopke akzeptierte es achselzuckend. Grindel schob ein Magazin in die Pistole und steckte die Waffe in die Innentasche seines Anoraks. Die Magazine verstaute er in den Hosentaschen. Draußen hupte es. Der Mercedes war da. Knopke öffnete das Werkstatttor, und der PKW rollte herein. Der korpulente Mann am Lenkrad wirkte wie ein erfolgreicher Geschäftsmann. Seine Begleiterin konnte die Tochter oder die Sekretärin sein, die ihren Chef auf der Geschäftsreise nach Westberlin begleitete. 125
Die Begrüßung fiel knapp aus, doch Grindel spürte, daß der Fahrer und Knopke sich kannten. Sie verstanden einander mit wenigen Worten. Um den Dicken schwebte eine Wolke Eukalyptusduft. Die hintere Sitzbank des Mercedes wurde nach wenigen Griffen herausgehoben. Knopke und der Fahrer trugen sie in einen Abstellraum und tauschten sie gegen eine andere mit dem gleichen Bezugsstoff. Der Dicke und Grindel verglichen ihre Uhren; sie differierten nur um zehn Sekunden. Im Autoatlas suchten sie den Zielpunkt. Ihre Instruktionen stimmten überein. «Der Marsch ‹Alte Kameraden› bedeutet: Wir fahren in den Kontrollbereich ein», erklärte der Dicke. «Das heißt, daß Sie möglichst nicht mehr niesen!» Grindel winkte grinsend ab. Der Fahrer tat wichtig, vielleicht machte er es zum ersten Mal? Unternehmungen dieser Art blieben Grindel nicht erspart, wenn eine Geschäftsreise sich nicht arrangieren ließ. «Liegt die Grenzkontrolle hinter uns, spielen wir die ‹Amboßpolka›! Alles klar?» «Wie lange schmore ich dann noch in dem Brillenfutteral?» fragte Grindel. «Ich könnte doch ’raus!» «Tut mir leid, eine Verkehrskontrolle – und wir gehen in die Kanne!», widersprach der Fahrer. «Transitreisenden ist es untersagt, Bürger der DDR mitzunehmen!» «Unverständlich, dieses Mißtrauen», spöttelte die Begleiterin. Grindel sah jetzt, daß sie doch nicht mehr so jung war, wie sie vorzutäuschen suchte. Beide waren unauffällig elegant gekleidet. Grindel hatte vergessen, noch eine Pfeife zu rauchen. Jetzt blieb ihm keine Zeit mehr dazu. Mißgestimmt kroch er in den Container. Es war eine schweißtreibende Prozedur, denn Grindel überschritt den vorgesehenen Leibesumfang. Drei straffe Gurte beengten ihn beim Atmen. Sie waren notwendig, denn er nahm in der aufgerichteten Rückenlehne eine rechte Seitenlage ein. Die Begleiterin warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Grindel 126
zerdrückte einen Fluch zwischen den Zähnen. Der Dicke wickelte einen grünen Bonbon aus dem Papier und schob ihn in den Mund. Um den Transport erträglich zu machen, fuhr Blaschke ihnen drei Viertel der Strecke entgegen. Aus schmerzlicher Erfahrung bestand Grindel darauf, ein Tuch um die Stirn gebunden zu bekommen. Vor Erreichen der Grenzkontrolle würde er schon in Schweiß gebadet sein. Ohne das Tuch lief der ihm in die Augen und verursachte unangenehmes Brennen. Die Zeit, bis der Mercedes rückwärts aus der Werkstatt fuhr, dünkte ihm endlos. Regen prasselte auf die Karosserie herab. Die Fahrt bis zur Grenze dauerte etwa zwanzig Minuten. Der Dicke drehte ziemlich auf, vielleicht schafften sie es schneller? Grindel wurde nicht zum ersten Mal rübergebracht, aber immer wieder befielen ihn düstere Ahnungen. Vor einer Woche hatte ein betrunkener Transitfahrer im Kontrollbereich einen Unfall verursacht. Die Abfertigung war danach für zwei Stunden unterbrochen gewesen. Aus den Reifengeräuschen versuchte Grindel zu schließen, wo sie sich befanden; er kannte die Strecke bis zum Überdruß. Der Rekorder spielte Jazzmusik. Die Begleiterin wechselte die Kassette. Grindel hörte sie unnatürlich schrill lachen. Hoffentlich besitzen die beiden auf den Vordersitzen auch gute Nerven, dachte er. Der Eukalyptusduft verbreitete sich bis in sein Versteck. Der Mercedes verringerte das Tempo und rollte langsam. Auch ohne den Militärmarsch hätte Grindel gewußt, daß sie nun auf der Zufahrt zur Kontrollstelle waren. Der PKW hielt, und der Motor verstummte. Grindel lauschte angestrengt, aber die Marschmusik war zu laut. Der Dicke wollte wohl Geräusche aus dem Container in der Rückenlehne überdecken; manchmal knarrten die Gurte. Der Motor sprang wieder an. Der PKW fuhr einige Meter und hielt abermals. Das wiederholte sich. Sie befanden sich in einer Fahrzeugschlange. Eine der vorderen Türen klappte, Schritte trippelten auf Beton; die Kofferraumklappe wurde an127
gehoben. Grindel hielt den Atem an; eine Zellophantüte knisterte. «Ich schäle dir eine Apfelsine, Heinz», sagte die Beifahrerin. «Es geht ja zügig. Nur noch sechs vor uns!» Den Hinweis nahm Grindel dankbar entgegen. Nun zählte er mit. Die beiden schienen mit allen Wassern gewaschen. Im Blickfeld der Grenzer öffneten sie den Kofferraum, um einen Beutel Apfelsinen herauszufischen. Das signalisierte, man habe nichts zu verbergen. Ob sie vier- oder fünfmal vorgerückt waren, wußte Grindel plötzlich nicht mehr. Dann wünschte jemand «Gute Fahrt». Der Motor startete, und der PKW fuhr, ohne angehalten zu haben. Grindel frohlockte. Die markante Melodie der Amboßpolka erklang. Er atmete auf. Die Reifen verrieten eine nasse Fahrbahn. Der Dicke sollte nicht so rasen. Es gab Geschwindigkeitskontrollen. «Langsamer!», brüllte Grindel, als der Recorder schwieg. Die Beifahrerin kletterte nach hinten. «Was ist?» Grindel hörte ihre Stimme nahe am Polster. «Langsamer! Radar!» Der Dicke fuhr nun weniger schnell. Dann endlich bog der Mercedes auf einen Rastplatz ein. Die Lehne wurde betätigt, Grindel lag nun auf dem Rücken und stöhnte erleichtert. Die Gurte wurden gelöst. Grindel ließ sich auf den Boden gleiten. Die Rückenlehne rastete wieder ein. Der Fahrer schob sich hinter das Lenkrad. «Noch zwanzig Kilometer», sagte er. Grindel kroch auf den Rücksitz und trocknete den Schweiß. Der Fahrer verringerte das Tempo. Der Blinker leuchtete rhythmisch. Schließlich bog der PKW auf einen Rastplatz ein. Ein Streifenwagen der Verkehrspolizei fuhr gerade auf die Autobahn. «Schwein gehabt», flüsterte die Begleiterin. Vor ihnen hielt ein BRD-Lastzug, vor diesem ein Trabant. «Das wär’s dann», sagte der Dicke. «Treffpunkt hier, wie abgemacht, in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch.» 128
Was Grindel in den vier Tagen in der DDR unternahm, interessierte den Fahrer nicht. Ein PKW rollte auf den Rastplatz. Die Scheinwerfer erhellten sekundenlang das Wageninnere. Grindel duckte sich. «Also dann», sagte er, öffnete die Tür und schlüpfte hinaus. «Toi, toi, toi!», rief ihm die Begleiterin nach. Grindel tat drei Schritte, dann schlugen die regennassen Zweige hinter ihm zusammen. Er stand still und lauschte. Die Leuchtziffern seiner Armbanduhr zeigten zweiundzwanzig Uhr sieben. Drei Minuten fehlten an der verabredeten Zeit. Der Motor des Lastzuges donnerte. Der Zwanzigtonner startete, ein Wolga stoppte, und der Trabant fuhr ab. Eine Minute später bog ein weißer Moskwitsch auf den Rastplatz ein. Grindel atmete auf und lief zu ihm hin. Doch jäh stockte sein Fuß. Blaschke war nicht allein, drei Personen saßen in dem Fahrzeug. Dann erschrak Grindel, denn der PKW besaß ein Berliner Kennzeichen. Er verwünschte seinen Eifer und zog sich in die Büsche zurück. Blaschke beobachtete die Gegenfahrbahn; er versuchte den Rastplatz auszumachen. Die entgegenkommenden Fahrzeuge blendeten ihn. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte acht Minuten nach zweiundzwanzig Uhr. Auf dem Mittelstreifen glitt der erwartete Kilometerstein vorüber, danach folgte gegenüber der Rastplatz. Laut Plan lauerte Grindel dort zwischen den Sträuchern. Erst dreizehn Minuten nach zweiundzwanzig Uhr erreichte Blaschke die nächste Ausfahrt, fuhr über die Brücke und gegenüber auf die Autobahn. Sechs Minuten verspätet stoppte er am Treffpunkt hinter einem weißen Moskwitsch mit Berliner Kennzeichen. Blaschke stellte verwundert fest, daß er gar nicht aufgeregt war, nur neugierig, ob Grindel zur Stelle sein würde. An der Beifahrertür erschien ein Schatten. Die Tür wurde aufgerissen, und Grindel glitt auf den Sitz. Sein Anorak triefte vor Nässe. 129
«Von mir aus los», sagte er statt einer Begrüßung und gurtete sich an. «Na denn», erwiderte Blaschke, legte den Gang ein und ließ die Kupplung kommen. Der PKW rollte auf die Autobahn. Gegen Mitternacht erreichten sie den Fläming. Es hatte aufgehört zu regnen; manchmal lugte die halbe Mondscheibe durch dahinjagende Wolken. Blaschke versuchte mit Grindel zu reden, doch der antwortete nur einsilbig. Blaschke hätte gern gewußt, wie der Frankfurter durch die Grenzkontrolle geschmuggelt worden war. Grindel ließ die Frage unbeantwortet. «Wir fahren über Wiesenburg», sagte Blaschke. Grindel brummte Unverständliches, holte aber endlich zu einer Erklärung aus: «Ich heiße Joachim Ziegler und wohne in Riesa, Meißener Straße elf. Ist das klar? Merk dir den Namen. Ich bin Ökonom im Reifenwerk!» Blaschke fand den Wechsel der Identität unbequem; er barg die Gefahr von Verwechslungen in sich. Als erriete Grindel diese Gedanken, sagte er: «Um zu überleben, ist es wichtig, drei, vier Pseudonyme perfekt zu beherrschen. Ein entsprechendes Training gehört zu unseren Lektionen!» Er warf einen forschenden Blick seitwärts, bemerkte Blaschkes spöttisch herabgezogene Mundwinkel und fuhr mit erhobener Stimme fort: «Du bist dir hoffentlich klar darüber, daß ich nicht den halben Arsch riskiere, um dich zu amüsieren? Das schminke dir ab! Man erwartet von uns Resultate!» Wieder einmal «man», dachte Blaschke. Man wollte, man rechnete darauf, man war bereit … Das Städtchen Wiesenburg schlief; nur einige liebeshungrige Katzen streunten durch die Gassen. Blaschke schien hier so gut wie zu Hause; Grindel verfolgte aufmerksam die Strecke. Die Landstraße dritter Ordnung folgte dem Auf und Ab bewaldeter Hügel. «Die Feriensiedlung liegt an der Waldchaussee, die zum Hagelberg hinaufführt», erklärte Blaschke. Als Grindel schwieg, ergänzte er: «Der Hagelberg ist mit stolzen zweihundertundein Meter die höchste Erhebung!» 130
Der Rest der Fahrt verlief schweigsam. Auf einer Kreuzung bog Blaschke nach links ab. Der Moskwitsch rumpelte durch Schlaglöcher. Dann tauchten beiderseits der Straße Zäune mit Pforten und Einfahrten auf. Die Häuschen lagen zwischen den Kiefern versteckt. «Ich hielt meine Tante für ein bißchen verrückt», erinnerte sich Blaschke. «Hier zu kaufen! Eine halbe Stunde mit dem Fahrrad bis zum Dorf!» Die Scheinwerfer tasteten voraus. Die Straße stieg an. Vor der letzten Parzelle auf der rechten Seite hielt Blaschke. «Wir sind da!» Der Staketenzaun war reparaturbedürftig. Dahinter wuchs eine mannshohe Hecke und verwehrte den Blick auf das Anwesen. Die Torflügel der Einfahrt waren mit einer Kette und einem klobigen Vorhängeschloß gesichert. Blaschke kramte in seiner Manteltasche nach dem Schlüssel. Da stand Grindel neben ihm. «Warte, Axel!» Der Frankfurter probierte seinen nachgefertigten Schlüssel; er paßte. Er schwenkte die Torflügel nach innen, und Blaschke fuhr hinein. Grindel verschloß die Einfahrt wieder und lief den sanft ansteigenden Weg zur Garage. Er probierte auch die übrigen Schlüssel und wurde nicht enttäuscht. «Morgen früh wechselst du die Kennzeichen wieder!», forderte Grindel. Blaschke schüttelte ärgerlich den Kopf. «Na höre mal! Wozu habe ich sie dann vertauscht?» «Ist dir das nicht klar? Angenommen, jemand hätte beobachtet, daß ich zu dir eingestiegen bin und es samt dem Kennzeichen der VP gemeldet?» «Die könnten jetzt lange suchen.» Blaschke begriff, daß er noch zuwenig von dem gefährlichen Job wußte, auf den er sich eingelassen hatte. «Hier kennt man dich. Da wäre es falsch, die Tarnung zu verraten!» Das Garagentor schlug zu, sie liefen zu dem Häuschen. Über eine Veranda gelangten sie in die Diele; muffige Luft schlug 131
ihnen entgegen. «Die Peukerten hat lange nicht gelüftet!», sagte Blaschke. «Wer ist das?», fragte Grindel. «Die alte Frau wohnt in der Nähe», erklärte Blaschke, «und sieht ab und an nach dem Rechten.» «Damit ist jetzt Schluß!», forderte Grindel. Sein Gastgeber protestierte, aber Grindel machte ihm klar, daß die alte Frau zu unpassender Zeit erscheinen könnte. Das Häuschen gefiel Grindel, war aber recht klein. Im Parterre gab es ein Zimmer, die Küche, das Bad und eine Abstellkammer; eine Stiege führte nach oben zu zwei Giebelkammern mit schrägen Wänden. «Die Lage scheint hervorragend geeignet», äußerte der Frankfurter. Blaschke fragte nicht, wozu. Aber er ahnte es. Die Waldparzelle lag am höchsten und war von den anderen Grundstücken her nicht einzusehen. Dagegen konnte man die Nachbarhäuschen, soweit es die licht stehenden Kiefern gestatteten, überblicken. Vollends zufrieden war Grindel, als Blaschke erwähnte, man könne das Domizil von der anderen Seite her unbemerkt erreichen. Blaschke schraubte auch die zweite elektrische Sicherung ein, damit der Herd Strom bekam, lief in die Garage und holte die Tasche mit den Lebensmitteln. Mit wachsendem Unmut bemerkte Blaschke, daß Grindel so tat, als sei er der Hausherr. Der Frankfurter behauptete, daß ihm eine unbewohnt wirkende Behausung zuwider sei. In der Küche schälte Grindel Zwiebeln und viertelte sie, tat Schmalz in eine Pfanne und briet sie kroß. Dann lief er, die Pfanne schwenkend, durch alle Räume; danach war nichts mehr von muffiger Luft zu spüren. Es roch appetitlich und bewohnt. Blaschke begoß mit Bier und Kognak die Ankunft. Grindel brühte Tee, verschmähte aber den Kognak nicht. Obwohl es fast zwei Uhr geworden war, bestand er darauf, den Dachboden zu besichtigen. Blaschke holte eine Stehleiter aus der 132
Kammer und trug sie die Stiege hinauf. Dabei verwünschte er den verrückten Einfall. Über dem winzigen Treppenpodest vor den Giebelkammern gab es eine Bodenluke. Grindel erkletterte die Leiter, klappte die Luke hoch und schwang sich hinauf. Unter dem Spitzdach blieb über den Kammern so wenig Raum, daß er nur gebückt stehen konnte. Grindel leuchtete mit der Taschenlampe und fand einen geeigneten Platz im Gebälk für die Pistole und die Magazine. Blaschke erklomm die Leiter und schob sich bis zum Gürtel in die Luke. «Verdammt staubig», brummte er. «Brauchbares Versteck», erklärte Grindel beiläufig. Blaschke kletterte wieder hinunter. Grindel folgte ihm. «Die Leiter bleibt hier oben», forderte er. Blaschke verstand es nicht, willigte aber ein. «Morgen früh fahren wir nach Belzig!», erklärte Grindel. «Unterwegs wechselst du wieder die Kennzeichen! Ich bin verdammt müde. Welche Kammer?» «Ein Wunder, daß du fragst», spottete Blaschke, «mir egal, ich schlafe hier auf der Couch!» Um sechs Uhr erwachte er. In der Küche brutzelten Eier in der Pfanne; es roch nach Kaffee und Toast. Grindel frühstückte mit Appetit. «Ich habe miserabel geschlafen», behauptete er. «Das Bettzeug ist viel zu klamm gewesen. Vom Kammerfenster aus habe ich die Parzellen beobachtet, mindestens zwei sind schon bewohnt.» Während er ein Spiegelei auf Wurstbrot verspeiste, forderte er: «Wir müssen den Nachbarn vortäuschen, du seist allein. Wir lassen uns nie zu zweit sehen! Wer rausgeht, zieht den grauen Kittel an, der an der Garderobe hängt. Wir sind uns so ähnlich, daß die Täuschung gelingen müßte.» «Deine Fleppe ist wohl nicht besonders gut, wie?» «Unsinn! Aber fordere nie das Schicksal heraus! Vielleicht kreuzt dein Abschnittsbevollmächtigter mal hier auf? Weshalb ihn neugierig machen?» Grindel genoß seinen Tee und zündete die Pfeife an. «Während du die Kennzeichen tauschst, erledige ich den Abwasch! Denke dran: Ich existiere gar nicht!» 133
Um acht Uhr schellte es an der Gartenpforte. Blaschke lief in die Veranda und spähte durch die Gardine. «Verdammt, die Peukertsche!», rief er in die Küche. Die alte Frau besaß einen Schlüssel. Mit dem Klingeln signalisierte sie nur ihr Kommen. Grindel lief ins Zimmer und raffte die Kaminuhr an sich, riß seinen Anorak vom Garderobenhaken und hastete die Stiege hinauf. «Sage der Alten, die Uhr ist geklaut worden! Laß sie merken, daß du sie verdächtigst, kapiert?», rief er von oben herunter. Blaschke nickte verdattert; was Grindel forderte, war ihm peinlich, er mochte die alte Frau. Sie klopfte an die Tür, und Blaschke schob den Riegel zurück. «Morgen, Herr Blaschke! Wieder mal im Lande?» Frau Peukert blinzelte vergnügt Sie war immer guter Laune und gehörte zu den beneidenswerten Menschen, die Fröhlichkeit um sich her verbreiteten. «Es regnet und regnet», sagte sie, «aber unsere Sandbüchse hier kann’s brauchen. Bleiben Sie länger?» Blaschke hatte den Gruß brummig erwidert und sagte: «Kommen Sie mal? Ich zeig Ihnen was!» «Ja?» Frau Peukert sah ihn erwartungsvoll an. Verdammt, dachte Blaschke, das paßt mir gar nicht, was Grindel da von mir verlangt. Es half aber nichts, denn bei der Peukerten war man in der Tat vor Überraschungen nicht sicher. Sie tauchte zu unmöglichen Zeiten auf. Er öffnete die Zimmertür und blieb auf der Schwelle stehen; Frau Peukert trat neben ihn. «Sehen Sie?», sagte Blaschke und zeigte auf die leere Wandkonsole. «Sie ist weg!» «Weg? Was ist weg?» «Die Kaminuhr!» Blaschke vermied es, die Frau anzusehen. Das Ganze war ihm peinlich, sein Ärger auf Grindel wuchs. Frau Peukert schluckte und starrte ihn ungläubig an. «Was denn, Sie denken doch nicht etwa, daß ich …?» Sie brach ab. Da aber Blaschke stumm blieb, stieß sie hervor: «Diesen Trödel soll ich …?» 134
«Sie natürlich nicht! Das glaube ich nie und nimmer! Aber Ihr Enkel hatte sie mal in der Hand und wollte wissen …» «Peter?» Es war ein Aufschrei. Ihren Enkel verdächtigt zu wissen, traf sie noch mehr. Sie brach in Tränen aus. «Pfui, daß Sie uns so etwas zutrauen! All die Jahre habe ich mich um alles gekümmert! Nie mehr setze ich einen Fuß hier herein!» Sie warf Blaschke die Schlüssel vor die Füße und stürmte hinaus. Er lief in die Veranda und sah ihr hinterher. So rasch sie es vermochte, verließ sie das Grundstück. Mit der Kittelschürze wischte sie mehrmals über die Augen. Blaschke kam sich mies vor und spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Grindel kletterte die Stiege hinab, trug die Uhr ins Zimmer und stellte sie auf ihren Platz zurück. «Es war gemein», erklärte Blaschke finster. «Sie hat sich immer um alles gekümmert. Und als ich die Nierenkolik hatte, da hat sie nachts sogar …» «Sentimentalitäten schminke dir ab!», unterbrach ihn Grindel. «Ohne sie ist es hier sicherer!» Als Blaschke den Kopf schüttelte, ergänzte er: «Glaub mir, die Frau wäre für uns ein dauerndes Sicherheitsrisiko!» Sie fuhren spät nach Belzig. Grindel lag unter einer Decke verborgen auf dem Rücksitz, ein Beobachter mußte glauben, daß Blaschke allein wegfuhr. Nach einigen Kilometern wechselte Grindel auf den Beifahrerplatz. Vor der Kreisstadt ließ er an einer Bushaltestelle stoppen. «So, mein Lieber, jetzt fährst du allein zur Autobahnauffahrt Niemegk und siehst im Baumversteck nach, ob etwas deponiert ist.» «Mann, Lutz, was soll der Schwachsinn? Du wirst doch wissen, ob du was reingelegt hast oder nicht!» «Ich schon», bestätigte Grindel, eigenartig lächelnd. Blaschke stutzte. Der TBK wurde also nicht nur von ihm und Grindel benutzt? Grindel kam seinen Fragen zuvor. «Ich werde dir mal was sagen: Für alles, was geschieht, trage ich die Verantwortung! Du hast a gesagt und mußt nun, falls erforderlich, das ganze Alphabet herbeten! Wir beide sitzen in 135
einem Boot! Und der Kapitän bin ich, merk dir das. Also tu, was ich dir sage. Es ist ja nicht zu deinem Nachteil. Denk an Frankfurt!» Der Hinweis auf die Reise nach Frankfurt überzeugte Blaschke mehr als alle Argumente. Er brummte entschuldigend, er sei es nicht gewöhnt, gegängelt zu werden, und fuhr weiter. Grindel blieb an der Bushaltestelle zurück. In der Nähe gab es einzelnstehende Häuser und ein Sägewerk. Die Gatter standen still. Wie immer an den Wochenenden waren weniger Lastzüge, aber mehr Personenwagen unterwegs. Auf dem Rastplatz hinter der Auffahrt Niemegk hielten einige PKWs. Blaschke wartete, bis sie abgefahren waren; darüber verging einige Zeit. Dann näherte er sich vorsichtig der Buche, fand enttäuscht eine leere Metallkapsel vor und deponierte sie wieder im Versteck. Als er zur Bushaltestelle zurückkehrte, war eine Stunde vergangen. Grindel saß im Wartehäuschen und rauchte seine Pfeife; neben ihm am Boden stand ein Koffer, der etliche Weltreisen hinter sieh zu haben schien. Daß der TBK leer gewesen war, überraschte Grindel nicht. Und Blaschke verzichtete darauf zu fragen, woher Grindel den Koffer hatte und was darin war. Sie fuhren diesmal von der anderen Seite an das Grundstück heran. Grindel lag wieder unter der Decke auf dem Rücksitz. Doch niemand begegnete ihnen. Mittags aßen sie ein Fertiggericht aus der Büchse, und Blaschke übernahm den Küchendienst. Grindel drängte zur Eile. Die Zeit liefe ihnen davon, behauptete er. Als Blaschke aus der Küche kam, lag ein Teil des Kofferinhaltes auf dem Tisch ausgebreitet. Blaschke sah verblüfft auf die Bildtafeln mit den Uniformen und Rangabzeichen der Sowjetarmee. Er kannte nicht eine. Ebensowenig kannte er die Dienstrangabzeichen der Nationalen Volksarmee, ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Waffengattungen. «Großer Gott», stöhnte Grindel, «du kannst ja nicht mal ei136
nen General von einem Leutnant unterscheiden? Wir müssen ja beim Nullpunkt anfangen!» Blaschke grinste. Ärgerlich gab er zurück, daß er noch nie mit Militär in Berührung gekommen sei. Woher sollte er da einschlägige Kenntnisse besitzen? «Womit habe ich das verdient?», seufzte Grindel. «Deine künftigen Aufgaben erfordern, daß du Uniformen, Rangabzeichen und taktische Zeichen kennst!» Grindel besaß umfangreiches Wissen auf diesem Gebiet. Er kannte sich sowohl bei der sowjetischen Armee als auch bei der NVA in allen Waffengattungen aus, kannte deren Uniformen und Dienstgrade. Grindel stellte jedoch bald fest, daß Blaschke eine gute Auffassungsgabe besaß. Vor der Kaffeepause beantwortete er neun von zwölf Testfragen richtig. Der Erfolg ermutigte ihn, und Grindel versprach, nach der Pause das Thema zu wechseln. Dann kämen Waffen und Gerät an die Reihe. Doch bevor der Frankfurter sich eingehender äußern konnte, schrillte in der Diele die Klingel. Blaschke sprang auf, eilte ans Fenster und spähte durch die Gardine. «Verdammt!», entfuhr es ihm. Grindel trat neben ihn und erschrak ebenfalls. Die Pforte war nicht verschlossen. Ein Offizier der Volkspolizei öffnete sie, schob sein Moped hindurch und bockte es auf. Sie hörten den Ständer einrasten. «Wer ist das? Kennst du ihn?», fragte Grindel. «Na klar, Leutnant Kelm, der ABV!», antwortete Blaschke heiser. «Keine Panik!» Grindel raffte das Instruktionsmaterial zusammen und bewies kaltblütige Umsicht. Während der Leutnant schon auf das Haus zuschritt, nahm Grindel seinem Quartiergeber die qualmende Zigarre aus dem Mund und gab ihm seine brennende Pfeife. «Den Stinktopf riecht er zuerst!» Er warf einen prüfenden Blick umher und schlug sich an die Stirn. Die Kaminuhr von der Konsole an sich nehmend, hastete er die Stiege empor. 137
Blaschke lief zur Haustür, ließ den Abschnittsbevollmächtigten ein und erwiderte unbefangen dessen Gruß. Der Leutnant sah sich im Zimmer um. «Gemütlich hier», sagte er. «Was ist denn an der Geschichte dran? Frau Peukert war bei mir.» Blaschke schluckte entsetzt. Hinter dem Leutnant lag auf der Couch die Tafel mit den Rangabzeichen und den Dienstgraden der Sowjetarmee. Nur nichts anmerken lassen, redete Blaschke sich ein. Er deutete auf die Wandkonsole. «Da hat sie gestanden! Seit Jahr und Tag! Die Kaminuhr! Verdammt warm!», fügte er hinzu, streifte seinen Pullover über den Kopf und warf ihn so auf die Couch, daß er die Tafel bedeckte. Über den gelungenen Trick erleichtert, versicherte er: «Frau Peukert verdächtige ich nicht. Aber oftmals hat sie Besuch von ihrem Enkel, und der bringt wieder andere junge Leute mit. Sie wissen doch, die Jugend heute», schloß er vielsagend. «Ja, Herr Blaschke, Diebstahl ist bin Anzeigedelikt. Eine Ermittlung kann ich erst veranlassen, wenn Sie eine Anzeige erstatten!» «Kommt gar nicht in Frage, Genosse Leutnant! Ich bitte Sie, das Ding war keine zwanzig Mark wert. Soll derjenige, der sie gemaust hat, selig mit ihr werden!» «Sie müssen es wissen, Herr Blaschke. Kann ich der Bürgerin Peukert ausrichten, daß sie nicht von Ihnen verdächtigt wird?» «Aber ja», versicherte Blaschke, «das habe ich ihr selbst schon gesagt!» Der Leutnant verabschiedete sich und schob sein Moped durch die Gartenpforte. Grindel kam die Stiege herab. «Die dämliche Uhr habe ich oben gelassen», sagte er. Blaschke nickte, hob seinen Pullover auf und zeigte auf die Bildtafel. «Ich konnte das Schlimmste gerade noch verhindern», erklärte er vorwurfsvoll. «An derlei Zwischenfälle mußt du dich gewöhnen», meinte Grindel ungerührt. «Du hast dir ja zu helfen gewußt. Das ist 138
schon was! Aber wir müssen natürlich Schlußfolgerungen aus dem Zwischenfall ziehen. Ab sofort wird die Gartenpforte verschlossen gehalten. Das Lehrmaterial kommt besser unter Kontrolle.» Die Kaffeepause fiel knapp aus. Danach setzte Grindel umfangreiches Bildmaterial ein. Blaschke mußte sich mit der Bewaffnung der Sowjetarmee und der Nationalen Volksarmee beschäftigen. Zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr Blaschke technische Daten von Kriegsgeräten. Die moderne Technik beeindruckte ihn. Zum Abschluß der Lektion demonstrierte Grindel Flugzeugtypen. «Leg dir die Erkennungstafeln nachts unters Kopfkissen», riet er gutmütig spottend. «Der morgige Sonntag bleibt den Wiederholungen vorbehalten. Am Montag gehen wir ins Gelände!» «Moment mal. Wieso Erkennungstafeln? Und was heißt, wir gehen ins Gelände?» Beiläufig erklärte Grindel, daß es künftig Blaschkes Aufgabe sein könnte, die Flugbewegungen eines Militärflugplatzes zu beobachten. Sobald er ein abgestelltes, startendes oder landendes Flugzeug nicht zu identifizieren vermochte, verhalf ihm die Erkennungstafel dazu. «Unser Ausflug am Montag gilt einem Flugplatz, auf dem sowjetische MiG-Jäger stationiert sind!», erklärte Grindel so selbstverständlich, als gelte es, die Fahrzeuge auf der Autobahn zu zählen. Blaschke stöhnte. «Mir brummt der Kopf von den vielen neuen Dingen, die ich mir einprägen soll.» Grindel zeigte Verständnis und lockerte die Instruktionen mit einem praktischen Teil auf. Er demonstrierte die als Feuerzeug getarnte Minox-Kamera, mit der er vor einigen Wochen in Leipzig die Briefmarkensammlung fotografiert hatte. Blaschke übte mit einer Pinzette, die winzigen Filmspulen zu wechseln. Am Sonntag verliefen die Instruktionen und Wiederholungen nicht weniger intensiv als am Tage zuvor. Blaschke staun139
te, welche Aufschlüsse auf den ersten Blick belanglos scheinende Erkundungen lieferten. Grindel zeigte ein Foto, einen Schnappschuß aus einem fahrenden Auto: Aus dem Tor einer sowjetischen Kaserne rollte ein Panzer. Grindel nahm die Lupe zu Hilfe und wies auf eine Vorrichtung, die zur Befestigung eines Nachtsichtgerätes diente. Blaschke hatte bisher jene Schilder in der Nähe militärischer Objekte, die das Fotografieren verboten, für ein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis gehalten; jetzt änderte er seine Meinung. «Warum hat unser Informant wohl dieses Foto geschossen?», fragte Grindel und reichte Blaschke ein zweites Bild. Es war in der Rostocker Langen Straße an einem Fußgängerüberweg aufgenommen worden. Zwischen den Straßenpassanten erkannte Blaschke Matrosen. Die Mützenbänder trugen kyrillische Schriftzeichen. «Es belegt den Besuch eines sowjetischen Zerstörers im Rostocker Hafen!», erklärte Grindel, ließ aber unerwähnt, daß dieses Foto drei Jahre alt war und seither Lehrzwecken diente. Ein neueres Bild zeigte einen Frachter an der Pier. Am Kran schwebte ein Sanitätskraftwagen. Grindel erklärte, daß es sich um eine Hilfsgütersendung für Angola handele. Blaschke bewunderte einmal mehr Grindels umfassende Kenntnisse. Wenn du wüßtest, was wir vor Jahren an einer Schule des BND lernen mußten, dachte Grindel. Daran gemessen sind die Instruktionen, die ich dir geben kann, dilettantisches Stückwerk. Grindel erinnerte sich der Härte jener Ausbildung. Sie hatten gelernt, Wachtposten mit einem Nierenstich zu erledigen, erhielten Unterweisungen im Nachrichtenwesen. Er wußte noch, wie schwer es ihm anfangs gefallen war, Texte zu verschlüsseln und einen komplizierten Code zu enträtseln. Am Schluß der dreimonatigen Ausbildung hatte ein Nachtmarsch unter erschwerten Bedingungen gestanden. Grindel versuchte sich vorzustellen, wie Blaschke wohl mit dem Unterrichtspensum fertiggeworden wäre. In den theoreti140
schen Fächern billigte er ihm gute Noten zu, aber in den praktischen? Am Sonntagnachmittag unterwies Grindel seinen Schüler im Umgang mit unsichtbaren Tinten. Danach wiederholte er mit ihm die bisherigen Lektionen. Am Abend provozierte er eine Zecherei, um Blaschkes Verhalten bei Trunkenheit zu testen. Der Leipziger ahnte nicht, daß das mit zu der Charakteristik gehörte, die Grindel über ihn zu liefern hatte. Während Grindel mit Hilfe von Taschenspielertricks nur die Hälfte von dem konsumierte, was Blaschke trank, blieb dieser erstaunlich fit. Als Blaschke ein beträchtliches Quantum überschritten hatte, weigerte er sich, mehr zu trinken. Bei einem bestimmten Grad der Trunkenheit funktioniere in ihm eine Sperre, behauptete er. Dann bekäme er keinen Tropfen mehr über die Lippen. Der Montag begann freundlich. Die Sonne schien, und ein für die Jahreszeit überraschend warmer Tag wurde im Radio vorausgesagt. Sie fuhren vormittags los und hielten die Täuschung aufrecht, Blaschke sei allein. An einem günstigen Platz ließ Grindel halten und half, die Kennzeichen gegen die gefälschten zu wechseln. Für Blaschke war es längst Routine, er verzichtete darauf zu protestieren. Unterwegs fragte Grindel die bisher vermittelten Kenntnisse ab. Blaschke staunte, wieviel ihm von der bis dahin unbekannten Materie schon geläufig war. Er merkte bald, daß Grindel die Gegend kannte. Die Landstraße verband zwei kleine Ortschaften miteinander und war mit Kopfsteinen gepflastert. Grindel ließ halten. «Wir markieren eine Panne!» Blaschke pfiff verständnisinnig, denn über einen großflächigen Acker verlief eine aus schrägstehenden hölzernen Dreiecken markierte Anflugschneise. Grindel stieg aus und hob die Motorhaube. Während er am Motor zu basteln schien, brachte er eine Kleinbildkamera in Position. Aus der Ferne näherte sich ein tiefer Summton, von einem zunehmend lauteren Pfeifen begleitet. Ein Jagdflugzeug schwebte 141
auf die Schneise ein und glitt mit ohrenbetäubendem Donnern niedrig vorüber. Grindel riß die Kamera hoch und drückte den Auslöser. Der Verschluß klickte automatisch dreimal hintereinander. Dann war die Maschine in Richtung Flugplatz verschwunden. «Ein MiG-Jäger! Na und?», äußerte Blaschke spöttisch. «Den Typ kennt ihr doch bis zum ‹Gehtnichtmehr›! Und dafür riskieren wir Kopf und Kragen?» «Eine MiG-zweiundzwanzig», antwortete Grindel. «Auf dem Flugplatz ist NVA stationiert. Du irrst, mein Lieber, wenn du meinst, es gelte, irgendein neues Modell zu erkunden. Auf die kontinuierliche Beobachtung des Flugbetriebes kommt es an! Ist eine neue Staffel stationiert worden? Oder eine alte abgezogen? Wohin verlegt? Aus Dutzenden Beobachtungen rekonstruiert die Zentrale etwaige Veränderungen! Kapiert?» Blaschke nickte stumm. Es dauerte etliche Minuten, dann schwebte die nächste Maschine ein. Diesmal fotografierte Blaschke. Danach wäre er am liebsten Hals über Kopf davongebraust. Aber Grindel hatte es nicht eilig. «Keine Panik!», lautete sein stereotyper Satz. Sie aßen in einer Gaststätte. Grindel drängte bald wieder zum Aufbruch. Mehr als dreihundert Kilometer legten sie zurück. Der Frankfurter wies ständig auf lohnende Kameraziele hin. Blaschke lernte, daß es nicht nur darauf ankam, sie auf den Film zu bannen. Dazu gehörte auch, die Standorte genau zu fixieren. Blaschke sah ein, daß er noch weit davon entfernt war, das komplizierte Handwerk zu beherrschen. Er bedauerte, daß er nie ein Foto zu sehen bekam; die Filme wurden unentwickelt im TBK deponiert. Den Montagabend verbrachten sie mit endlosen Wiederholungen. Blaschke fiel ein, daß er vergessen hatte, bei Mulewski anzurufen. «Na schön», erklärte Grindel, «erledige es morgen, damit der Bucklige nicht auf dumme Gedanken kommt. Im übrigen bist du vor allem für uns da! Alles andere rangiert an zweiter Stelle!» 142
«Erlaube mal», widersprach Blaschke, «schließlich ist das meine Existenz, und wenn …» Grindel schnitt ihm das Wort ab. «Bleib auf dem Boden der Tatsachen! Was heißt denn Existenz? Dein Laden wirft nur einen Bruchteil von dem ab, was du am Schwarzhandel verdienst!» «Die Kohle gehört mir noch gar nicht! So sieht es aus! Oder?», gab Blaschke ärgerlich zurück. «Sei nicht ungeduldig», forderte Grindel. «Ich habe dir versprochen, daß du nach Frankfurt fährst und deine Finanzen ordnest, und dabei bleibt es! Reden wir lieber von dem, was morgen anliegt!» Blaschke lenkte ein. «Von mir aus.» Der Dienstag war der vorerst letzte Tag seiner Einweisung. Aber der Frankfurter ließ keinen Zweifel daran, daß es noch drei bis vier solcher verlängerter Wochenenden bedurfte, bis er über ausreichende Fertigkeiten verfügte. «Dir fehlt vor allem noch der sechste Sinn eines perfekten V-Mannes», behauptete Grindel. «Hier, gleich mal ein Beispiel. Wir sitzen uns in den Sesseln gegenüber. Die Stehlampe ist aber so plaziert, daß wir beide, sobald wir uns erheben, Schatten auf die Gardine werfen. Der Eindruck, du bist allein, wird natürlich damit illusorisch.» Blaschke erhob sich und rückte die Stehlampe ans Fenster. «Morgen vormittag Wiederholungen!», ordnete Grindel an. «Alle Fakten müssen dir so in Fleisch und Blut übergehen, daß du sie selbst im Schlaf aufsagen kannst.» «Ich bin morgen nachmittag in Bardenberg mit Budach verabredet», erinnerte Blaschke und öffnete eine Bierflasche. «Wie geht es mit ihm weiter?» «Du tust alles, um mit ihm ins Geschäft zu kommen. Du darfst sogar mehr bieten. Er soll sich daran gewöhnen, nicht mehr so knapp mit dem Geld zu sein wie bisher. Die Auskunft der Gastwirtin über seine finanzielle Lage hältst du doch für zutreffend?» «Unbedingt!», versicherte Blaschke. 143
«Na gut, füttere ihn an!» «Und dann?», fragte Blaschke. Auch er war mit lukrativen Geschäften geködert worden. Als er es durchschaut hatte, war es zu spät gewesen. «Abwarten», antwortete Grindel, «alles zu seiner Zeit! Noch steht nicht fest, ob er den Köder schluckt. Für dich ist übrigens eine Erfolgsprämie drin, falls du ihn an die Angel kriegst!» Grindel trank ein Bier, stand auf und erklomm die Stiege. Als er kurz darauf wieder herunterkam, schob er Blaschke zehn Fünfzigmarkscheine hin. «Betriebskapital! Du wirst morgen zweimal tanken müssen!» «Zweimal? Wieso denn zweimal?», fragte der Leipziger verblüfft. «Um siebzehn Uhr bist du in Bardenberg verabredet», erinnerte Grindel. «Ich bleibe hier, und du holst mich abends hier ab!» Er verschwieg, daß er den Nachmittag keinesfalls tatenlos verbringen wollte. Er hatte den Holzschuppen besichtigt. Mit einigem Geschick brachte er ein gut getarntes Kofferversteck zustande. «Mir ist eines nicht klar», sagte Blaschke, «angenommen, ich komme mit Budach ins Geschäft, dann wird er wissen wollen, mit wem er es zu tun hat und wie er mich erreicht!» «Alles klar! Du bist Albert Schulz aus Magdeburg, Halberstädter Straße …» «Ja, ja, ich weiß!», unterbrach ihn Blaschke. «Aber er wird mir vielleicht eine Nachricht zukommen lassen wollen, oder …» «Sobald du zwei, drei Geschäfte abgewickelt hast, gestehst du in schöner Offenheit, daß dein Name falsch ist!» «Spinnst du?» Blaschke starrte sein Gegenüber ungläubig an. «Keinesfalls! Soweit solltest du mich kennen, daß ich Nägel mit Köpfen mache! Du mußt nur den richtigen Zeitpunkt erwischen! Es darf keinesfalls zu früh über die Bühne gehen, verstehst du? Er muß Blut geleckt haben, auf den Geschmack gekommen sein, kapiert?» «Nicht ganz!» 144
«Du hast ihm längst weitere Bilderkäufe in Aussicht gestellt. Er fängt an, künftige Einnahmen einzuplanen. Dann sagst du ihm, daß du eine Funktion beim Rat eines Bezirkes hast. Diese Bildergeschäfte wickelst du nur nebenbei ab, da sie nicht ganz astrein sind. Deshalb dein Pseudonym Albert Schulz!» «Du meinst, er läßt sich darauf ein?» «Das hat er doch längst! Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an!» Blaschke nickte. «Ich verstehe! Ich verstehe sehr gut! Meine Geschäfte sind zwar nicht legal, aber trotzdem bin ich ’ne ehrliche Haut. Und ich haue meinen Partner nicht übers Ohr! Ein Bild habe ich an einen Hamburger, Münchner oder Westberliner verscheuert! Und der zahlt in West! Und ehrlich, wie ich bin …» «Alles zu seiner Zeit, Axel! Alles zu seiner Zeit! Aber so ungefähr soll es laufen! Trinken wir noch ein Bier?» «Der Junge macht vor Angst in die Hosen, wenn ich ihm sage: Paß auf, Budach, steck dir die dämlichen Bilder an den Hut! Für die bunte Mark will ich ganz was anderes!» Blaschke beugte sich zu Grindel hinüber. «Ja, was will ich eigentlich von ihm?» Der Frankfurter ging in die Küche und kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Er reichte Blaschke eine und setzte sich wieder. «Ich wiederhole: Alles zu seiner Zeit, Axel! Außerdem schätzt du uns falsch ein! Wir verlangen von dir nicht, daß du Budach gegenüber als Erpresser auftrittst! Du selbst bist das Opfer!» «Das verstehe ich nicht!» Blaschke starrte Grindel verblüfft an. «Ganz einfach», behauptete der. «Du bist für Budach nicht der Bösebold, der ihn unter Druck setzt, sondern sein Leidensgefährte! Der Mann, der für die Bildchen bunte Mark ausspuckt, verlangt von dir militärische Geheimnisse aus der Dienststelle deines Künstlers! Du bist der Erpreßte! Budach soll dir helfen – und damit seine eigene Haut retten!» 145
«Na also! Endlich ist die Katze aus dem Sack!» «Noch nicht ganz», widersprach Grindel, «aber mehr sage ich vorerst nicht. Worum es geht, erfährst du, wenn es soweit ist!» In der Kammer schlug die Kaminuhr elfmal. Grindel gähnte und wünschte eine gute Nacht. «Hau dich auch gleich hin, Axel!», forderte er. «Morgen wird ein verdammt anstrengender Tag!»
17 In der Autobahntankstelle hielt ein rotgelber Minoltankwagen. Der Ablaßschlauch verschwand in einer Luke am Boden, und zwölftausend Liter Dieselkraftstoff flossen in den unterirdischen Tank. Der Fahrer trank im Büro einen Kaffee. So entging ihm, daß ein Wartburg von der Tanksäule fortrollte und neben seinem Fahrzeug stoppte. Der Wartburgfahrer war ein Mann Mitte sechzig mit eng beieinanderstehenden Augen. Er stieg aus und sah sich um. Als er sich unbeobachtet glaubte, warf er ein Päckchen durch das offene Fenster ins Fahrerhaus. «Übermorgen fahre ich Öl», sagte Schiffer. Der Tankstellenleiter wußte, was das bedeutete. Obwohl er nicht beliefert wurde, brachte Schiffer ihm zwanzig Liter Motorenöl gegen Barzahlung. Es war Schiffers «Chausseegeld», eine Mogelei, die der andere augenzwinkernd tolerierte. Niemand nannte es Diebstahl, wenn der Fahrer im Minollager den Tankschlauch leerlaufen ließ. Keiner der Tankstellenleiter wußte, das Schiffer in zehn Tankstellen die gleiche Lüge vorbrachte. Wo gehobelt wird, fallen Späne, hieß es. Wer sah dem Wurstmacher aufs Maul, wenn er kaute? Wer zählte die Kellen Bier, die der Brauer sich einverleibte? Schiffer bekam die Ladung quittiert und verabschiedete 146
sich. Es war die letzte Tour, er freute sich auf den Feierabend, dem ein gemütlicher Umtrunk folgen sollte; ein neuer Kollege gab seine Einstandslage. Schiffer kletterte ins Fahrerhaus und sah das Päckchen liegen, flach und kaum größer als eine Zigarettenpackung. Es war in braunes Papier gehüllt und mit Klebeband verschlossen. Die Umhüllung schien stabil. Schiffer sah den Tankstellenleiter heranschlendern; da legte er das Päckchen zur Seite und fuhr los. Bis zum nächsten Rastplatz zerbrach er sich den Kopf darüber, was es wohl mit der Sendung auf sich haben könnte. Er bog auf den Rastplatz ein und hielt. Mit dem Schraubendreher zerfetzte er das Papier. Eine Tonbandkassette ohne Markenzeichen kam zum Vorschein. Unter einem Gummi klemmte ein Papier. Schiffer entfaltete es und las die maschinengeschriebene Zeile: «OHNE ZEUGEN abzuhören!» Es gab keinen Hinweis auf einen Absender. Schiffer sah ratlos auf das Band und las den Text immer wieder. Das OHNE ZEUGEN beunruhigte ihn. Er dachte flüchtig an einen Scherz; es gab Witzbolde unter den Kollegen. Bevor er ins Tanklager fuhr, unternahm er den Umweg nach Hause. Plötzlich hielt er auch eine Erpressung für möglich. Neidete ihm jemand, was er angeschafft hatte? Der Gedanke schuf ihm Unbehagen. Nach der Scheidung war ihm eine bescheidene Einraumwohnung zugewiesen worden; er hatte sie behaglich ausgestattet, aber man spürte auch hier die fehlende weibliche Hand. Auf der Couch lag noch das ungeordnete Bettzeug. Er setzte sich mit dem Recorder in den Sessel und legte das merkwürdige Band ein. Im Lautsprecher rauschte es, dann quakte eine verzerrte Stimme: «Guten Tag, Herr Schiffer! Mein Name ist Paul! Ich freue mich, daß Sie die Weisung befolgt und die Kassette in einen Recorder eingelegt haben!» Von dem Vorhaben eines Schriftstellers mit dem Pseudonym Paul, der ein Buch über die Deutsche Demokratische Republik schreiben wollte, war die Rede. Er, Schiffer, sollte In147
formationen dafür beschaffen. Das Lachen verging ihm rasch, als er weiterhörte. «Beigefügt als Muster einer diskreten Information die von Ihnen geschilderte Methode, sich auf Kosten Minols die Taschen zu füllen!» Hubert Schiffer zuckte zusammen. Es durchfuhr ihn siedendheiß. Jener mysteriöse Paul drohte, sein Bekenntnis der Volkspolizei in Bardenberg zu übersenden. Das Unfaßbare, nicht Fürmöglichgehaltene geschah! Klar und unverzerrt vernahm er eine Stimme, die er sofort wiedererkannte: «Was denn, ist Alfred noch nicht da? Guten Tag erst mal! Um zwei wollte er hier sein; jetzt ist es drei!» «Alfred? Was denn für ’n Alfred?» Schiffer erkannte seine eigene schwerzüngige Stimme. «Mein Schwager, Henzke, Alfred! Ich bin Joachim, Joachim Ziegler! Du kannst aber Achim sagen, und ich sage Hubert, einverstanden?» Schiffer stöhnte. Das Band rief alles wieder in seine Erinnerung zurück. Er drückte die Taste, als könnte er damit das näherkommende Verhängnis aufhalten. Das Band stoppte. Er ahnte, daß es alles enthüllen würde, was er mit Henzkes Schwager beredet hatte. «Das Schwein!», flüsterte er. «Das Schwein hat alles haargenau aufgezeichnet!» Von wegen Henzkes Schwager! Alfred hatte nie einen Schwager erwähnt, schon gar nicht einen bei Minol! Der Lump war ihm von Paul auf den Hals gehetzt worden! Er erinnerte sich wieder, daß er erst nachts auf der Couch wieder zu sich gekommen war, hundeelend und sterbenskrank. «Das Schwein hatte mich vergiftet! Der hatte mich voll Drogen gepumpt!» Schiffer drückte die Starttaste. Das Band lief weiter. Es war alles gelogen, was der Besucher vorbrachte. Auch die Panne mit seinem Trabi! Aber was er von Inge sagte, das stimmte. Aber von wegen, er übernähme die Tankstelle in Sassen! Alles Lüge! «… meine Frau hat in Bardenberg ein Häuschen geerbt!», klang es aus dem Lautsprecher. Schiffer erinnerte sich wieder. 148
Gerade das machte den angeblichen Schwager Henzkes glaubwürdig. Von wegen geerbt, hatte er gedacht. «Ich po … Ich pole sie um! Dann läuft sie rückwärts!», hörte Schiffer sich sagen. Sein drei Jahre lang sorgsam gehütetes Geheimnis hatte er ausgeplaudert. Es war nicht zu fassen. Wieso drohte Paul, eine Kopie des Bandes – großer Gott, wie viele gab es denn? – an die Polizei in Bardenberg zu senden? Wieso Bardenberg und nicht Gohla? Die Antwort lautete: Weil Paul wußte, daß von der Bardenberger Kripo gegen Henzke ermittelt worden war! Hätte der von Paul geschickte Schnüffler sich sonst als Henzkes Schwager ausgegeben? Ratlos kauerte Schiffer in seinem Sessel. Ausgerechnet Henzke war der einzige Tankstellenleiter, dem er größere Mengen verkauft hatte. Das durfte Paul nie erfahren, denn Henzke war butterweich! Schiffer spulte das Band zurück und hörte Pauls Weisung noch einmal, wann er den Bericht über die in die Hehlerei verwickelten Minolmitarbeiter in den Sockel der Brunnenfigur, es war eine Nixe, zu legen habe. Er ’prägte sich das Datum und die Uhrzeit ein. Danach zerbrach er wütend die Kassette, zerfetzte das Band und warf es in den Müllcontainer, als er zum Auto ging. Budach parkte den Wartburg, nahm die Aktentasche vom Beifahrersitz und klemmte das in braunes Papier gehüllte Bild unter den Arm. Er zeigte dem Posten seinen Ausweis und durfte passieren. Das Klubhaus mit dem säulenflankierten Portal lehnte abseits der Kasernenbauten an jenem Hang, der zur Hügelkuppe mit der Funkmeßstation emporführte. Budach bog in den Weg aus bunten Terrazzoplatten ein. Zwischen dunkelgrünen Koniferen blühten gelbe Forsythien. Er begegnete Offizieren und Soldaten, grüßte und wurde gegrüßt. Im Foyer kam ihm Ilona entgegen. Die Bibliothekarin war erst vor einigen Wochen aus der Bardenberger Kreisbibliothek zu dieser Dienststelle gewechselt. Die Bücherei mit mehr als zwanzigtausend Bänden befand sich im Parterre des Klubhauses. Es verging kein Tag, an dem Budach nicht zu Ilona hinein149
schaute. Es wurde zur Gewohnheit, nachmittags gemeinsam Tee zu trinken. «Ein neues Werk?», fragte Ilona und deutete auf den eingewickelten Gegenstand. Er schüttelte den Kopf. «Neu nicht!» «Für die Bibliothek?» Sie sah ihn erwartungsvoll an. «Was denn, Ilona», er tat erstaunt, «ist das ernst gemeint? Du willst wirklich so ein dilettantisches Produkt hinhängen?» «Na, hör mal! Denkst du, ich schmeichle dir? Deine Bilder im Foyer gefallen mir! Sie verbreiten Atmosphäre!» Sie streckte die Hand nach dem Bild aus. Zögernd überließ er es ihr. Ilona war wenig kleiner als er. Sie trug das dunkle Haar im Herrenschnitt, was ihrem Aussehen Strenge verlieh, die aber von üppigen weiblichen Formen aufgewogen wurde. Ihre Hände waren zart und schmal, und sie besaß große, dunkle Augen. Ilona schlug ohne Hast das Papier auseinander und betrachtete das Bild mit ausgestreckten Armen. Es stellte einen von Birken gesäumten Bach dar. Das Wasser war sehr blau, die Blätter kräftig grün und die Birkenstämme leuchtend weiß. Über Ilonas Nase entstand eine senkrechte Falte. «Nimm es nicht krumm, Herbert, aber da denkt man sofort an Haarwasserreklame!» Budach lachte schallend, legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie spontan an sich. Ilona lachte mit ihm, als sie den Grund seiner Heiterkeit erfuhr: Ein bekannter Maler, der in Sinten seine Staffelei aufgestellt hatte und Budachs Bilder besichtigte, hatte wörtlich dasselbe gesagt. «Sei ehrlich», fragte Budach, «du würdest es nicht in der Bibliothek aufhängen wollen?» «Ich bin immer ehrlich, fast immer!», korrigierte sie. «Nein, ich würde es nicht hinhängen! Was hast du damit vor?» «Es gibt einen Interessenten für die ‹Wassermühle›. Deshalb muß ich beide Bilder austauschen.» «Schade. Die ‹Wassermühle› gefällt mir sehr. Die warmen Brauntöne des Mühlengebälks und das Moosgrün aus dem Wasser ragender Steine mag ich. Das Bild erinnert ein bißchen 150
an Caspar David Friedrich!» Sie trat zur Wand und half, das Bild zu wechseln. «Du, sag mal: Willst du dich nachher meinem Autoveteranen anvertrauen? Ich bin heute nach dem Dienst im Bardenberger Ratskeller verabredet.» «Ja, aber sicher», sagte sie. «Ich fahre gern Auto. Was, glaubst du, bekommst du für das Bild?» Die direkte Frage machte ihn verlegen. Er hatte es bisher vermieden, über den Geldwert seiner bescheidenen Bilder nachzudenken. Dabei wußte er von seinem dienstlichen Umgang mit Künstlern, daß die sich selten zierten, wenn es um Honorare ging. «Der Mann hat das Pendant gesehen und bietet einhundert Mark!» Ilona steuerte die Tür zur Bücherei an. Budach blieb an ihrer Seite. «Es geht mich nichts an», sagte sie beiläufig, «aber das ist doch halb verschenkt! In den Kunstläden haben sie andere Preise.» Er wehrte ab. Ilona ließ sich nicht beirren. «Einhundert Mark für die Mühle sind ein Witz. Du kannst getrost das Doppelte fordern.» «Das kann ich nicht», gestand Budach. «Ich bin gewohnt, Honorare auszuhandeln, aber in eigener Sache fühle ich mich gehemmt.» «Wann bist du verabredet?» «Um siebzehn Uhr, im Ratskeller!» «Wenn es dir eine Tasse Kaffee wert ist», sagte sie, «dann nimm mich doch mit!» «Du, das machen wir», stimmte er erfreut zu, «und wie stelle ich dich vor?» «Wie du willst! Nur nicht als deine Schwester!», sagte sie und wurde ein wenig rot. Der Nachmittag erschien Budach noch nie so lang wie an diesem Tag. Dabei hatte er alle Hände voll zu tun. Telefonate mit der Konzert- und Gastspieldirektion mußten geführt werden. Für den Ersten Mai war ein Estradenprogramm geplant, 151
und ein Künstler hatte absagen müssen. Nun mußte umdisponiert werden. Bei der nachmittäglichen Teepause kam Ilona auf die Verabredung zu sprechen. «Was ist das für einer, dein Kaufinteressent?» «Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß er Schulz heißt!» Die Abfahrt verzögerte sich. Der Kinosaal war für die abendliche Filmvorführung noch nicht hergerichtet. Budach und Ilona Clemens passierten die Wache erst zehn Minuten vor siebzehn Uhr. «Wir schaffen es nicht mehr», sagte er. «Wegen ein paar Minuten Verspätung läuft dein Kunstfreund nicht gleich davon», tröstete sie. Am Bardenberger Ortsschild fiel einer der drei Zylinder aus; lahm kroch der Wartburg zum Markt. «Es ist bestimmt wieder die Kerze», erklärte Budach. «Wenn ich sie jetzt wechsele, kriege ich schwarze Finger! Aber wenn es mit dem Bildverkauf klappt, kaufe ich endlich drei neue Zündkerzen.» Ilona musterte ihn verstohlen. «Du mußt wohl genau rechnen, ja?» «Ja! Ich zahle für drei Kinder Unterhalt. Das reißt ein Loch ins Budget. Ich bin in Bardenberg für eine Wohnung vorgemerkt, aber das dauert noch. Ich fahre dann wie du mit dem Bus und …» Er brach ab, denn der Wartburg erreichte pötternd den Marktplatz. Die Kaffeestube des Ratskellers war gut besucht. Schulz hielt an einem Tisch den zweiten Platz frei. Doch das gewinnende Lächeln, mit dem er dem Eintretenden entgegensah, verschwand aus dem feisten Gesicht, als er Budachs Begleiterin entdeckte. Er stimmte nur ungern zu, noch einen Stuhl heranzurücken. «Es ist viertel nach fünf!», erklärte Schulz vorwurfsvoll. Budach bat, die Verspätung zu entschuldigen. Der Dicke erklärte großartig, daß sie seine Gäste seien. «Ich nehme Nugattorte», sagte Ilona mit einem melancholischen Blick auf ihre Rundungen. 152
«Halten Sie es nicht für unhöflich», bat der Dicke, «daß ich gleich zur Sache komme. Ich bin noch verabredet!» Er blickte unmißverständlich auf das an Budachs Stuhlbein lehnende eingewickelte Bild. Es war Budach peinlich, es vor neugierigen Blicken zu enthüllen. Ilona übernahm es, und Herr Schulz betrachtete es kopf nickend. Budach überkam das Gefühl, daß Schulz mit derselben Miene einen Staubsauger kaufen würde. «Sehr schön», sagte er, «ich nehme es!» «Ohne nach dem Preis zu fragen?» Ilona tat erstaunt. Der Dicke sah irritiert auf Budach und auf die junge Frau. «Ich habe ein Angebot gemacht – und das wurde akzeptiert, nicht wahr?» «Gewiß, das schon, aber …» Budach stockte. «Inzwischen hat mein Kollege einen günstigeren Preis geboten bekommen, Herr …?» «Schulz!» Blaschke nannte noch einmal den falschen Namen. «Kaufen Sie das Bild für sich?», fragte Ilona direkt. Das schien die Sprache zu sein, die der andere verstand. Er grinste und antwortete ebenso offen: «Natürlich nicht! Wo denken Sie hin? Die ‹Wassermühle› wird in irgendeinem Büro oder Wartezimmer hängen. Ein halbes Dutzend verkaufe ich auf Anhieb! Machen Sie mir also einen kulanten Preis!» Bevor Budach etwas sagte, erklärte Ilona: «Unter zweihundert geht es nicht weg! Nicht wahr, Herbert?» Der wollte erschrocken protestieren, aber Ilona legte die Hand auf seinen Mund. «Zweihundert ist mein Preis», behauptete Schulz. «Fünfzig muß ich dran verdienen. Überlegen Sie’s! Einhundertfünfzig!» «Einverstanden», erklärte Budach eilig. Er sah an Ilonas vorwurfsvollem Blick, daß sie unzufrieden war. Dennoch schlug er in die dargebotene Rechte ein. Schulz zählte aus seiner Brieftasche drei Fünfzigmarkscheine auf den Tisch. Budach blickte mit widerstreitenden Gefühlen auf das Geld. So kurz vor der Gehaltsüberweisung trug er 153
selten mehr als einen Zwanzigmarkschein bei sich. Mit drei großen Scheinen im Portemonnaie fühlte er sich beinahe wie ein Krösus. Dennoch tat es ihm leid, daß das Bild nun verkauft war. Schulz blickte auf seine Armbanduhr und beugte sich über den Tisch. «Reden wir nicht drumherum, Herr Budach! Ich komme natürlich nicht wegen eines Bildes nach Bardenberg! Wann kann ich mit den nächsten ‹Wassermühlen› rechnen?» Budach starrte ihn verblüfft an. «Meinen Sie etwa dasselbe Motiv?» Schulz winkte ab. «Was heißt ‹etwa›? Weshalb nicht? Es besteht keine Gefahr, daß jemand eine Dublette zu sehen kriegt. Ich komme in der ganzen Republik herum, von Suhl bis Saßnitz!», log er. Budach schien ernstlich verstimmt. «Sie denken wohl an eine Art Fließbandproduktion? Wofür halten Sie mich?» «Für einen Mann, der mit beiden Beinen auf der Erde steht und einen Nebenverdienst zu schätzen weiß!», antwortete Schulz prompt. Die junge Frau kam ihm zu Hilfe. «Herr Schulz weiß sicher nicht, daß ein Künstler an jede seiner Schöpfungen ein wenig Herzblut verschwendet. Natürlich ist jedes Bild ein unverwechselbares Original, Herbert. Aber es bleibt dir unbenommen, einige Details zu variieren!» Budach sah sie unschlüssig an. «Du meinst, ich soll …?» «Weshalb nicht?» «Ich denk mal drüber nach», versprach Budach. «Wie erreiche ich Sie?» Schulz wehrte ab; er sei ständig unterwegs. «Geben Sie mir die Rufnummer Ihrer Dienststelle, und ich melde mich wieder.» Budach lehnte ab. Private Anrufe nähme er im Dienst nicht entgegen. Ilona wußte einen Ausweg. Ihre Nachbarin besaß ein Telefon, und dort sei sie abends zu erreichen. Schulz notierte die Rufnummer und verabschiedete sich. Ilona Clemens und Herbert Budach sahen ihm nachdenklich 154
hinterher, wie er zielstrebig den Ausgang ansteuerte. Das Bild trug er unter dem Arm wie einen Gebrauchsgegenstand. «Was hältst du von ihm?», fragte Budach. Sie zuckte die Schultern. «Von Kunst versteht er vermutlich weniger als ich von Computern – und das will etwas heißen! Ich glaube, der handelt mit allem, was er in die Finger kriegt!» «Und trotzdem rätst du mir, mich auf seinen Vorschlag einzulassen?», fragte er erstaunt. «Ach, weißt du, das kannst du so und anders sehen!» Sie legte ihre Hand auf seine Rechte und lächelte verschmitzt. «Finde dich damit ab, daß Schulz nur das Geld sieht, das er an den Bildern verdient. Derjenige aber, der sich ein Bild ins Zimmer hängt, empfindet die Freude, die so ein Kunstwerk vermittelt!» «Das hast du hübsch gesagt!» Sie schob die Fünfzigmarkscheine zu ihm hin. «Steck das Geld ein», sagte sie. «Es ist viertel vor sechs, und du willst noch neue Zündkerzen kaufen!» Karins Tante war für mehrere Wochen verreist. Karin und Uwe nutzten es weidlich aus; Uwe besuchte sein Quartier nur noch, um nach Posteingängen zu fragen. Drei Tage hatte er nur gebraucht, um eine leere Besenkammer in eine Duschkabine zu verwandeln. Karin bewunderte sein handwerkliches Geschick. Es fehlten aber noch Fliesen für die Bodenwanne. Sie trat, ihr Haar kämmend, in die Küche. «Höre mal, wenn du in der Baustoffversorgung deinen Dienstausweis zeigst, dann finden die bestimmt in irgendeiner Ecke Fliesen!» Er starrte sie verblüfft an. «Weißt du, mit welchem Gedanken du da spielst?», fragte er. «Du meinst, die spekulieren darauf, mit Leutnant Fabers Nachsicht rechnen zu dürfen, falls mal etwas gegen sie läuft? Nein, Mädchen, das schminke dir ganz schnell ab!» Sie wurde rot und entschuldigte sich. «So hab’ ich’s doch nicht gemeint.» Dann mahnte sie: «Wenn wir uns nicht spu155
ten, kommen wir zu spät!» Der Zirkus Aeros gastierte in Gohla, und Karin hatte von einer Kundin zwei Karten für die Neunzehn-Uhr-Vorstellung bekommen. Es war schon halb sechs Uhr vorbei, als sie an diesem Dienstagabend zum nahen Parkplatz liefen, wo Uwes Trabant abgestellt war. Er hob die Motorhaube, öffnete den Tankverschluß und steckte den Meßstab hinein. «Ich hab’s geahnt», seufzte er, «wir müssen auch noch tanken!» An der neuen Tankstelle war längst mehr Betrieb als noch vor Wochen. «Sieh nur, deine gute Bekannte», sagte Karin spitz und deutete auf die junge Frau im grünen Overall. «Frau Wille, ja», bestätigte Faber. Die Frau blickte herüber und grüßte. Leutnant Faber erwiderte den Gruß zerstreut und beobachtete unauffällig den Fahrer eines weißen Moskwitsch. Der hatte seinen Tank gefüllt und verschloß ihn. «Sieh an», sagte Faber leise, «der Leipziger!» Karin musterte nun auch den stämmigen Mann. «Kennst du ihn?» «Ja, ich kenne ihn. Zum Glück kennt er mich nicht!», gab Faber zurück. Der Leipziger klappte das Kennzeichenschild hoch und schloß die Kofferraumklappe, die zugleich den Tankverschluß sicherte. Er stieg in den Wagen und schob sich hinter dem Lenkrad zurecht. Faber stieß einen leisen Pfiff aus. «Das gibt es nicht!», flüsterte er. «Fahr vor, wir sind gleich dran», mahnte Karin. «Was gibt es nicht?» Faber winkte ab; aber seine Augen hatten ihn nicht genarrt. Der Leipziger fuhr einen weißen Moskwitsch mit dem Magdeburger Kennzeichen HL 34-12. Gehörte der PKW einem Mitglied des Schwarzhändlerringes, von dessen Existenz Major Werner nicht überzeugt war? Karin dachte flüchtig, daß Uwe dem Moskwitsch am liebsten 156
hinterherfahren würde. Frau Wille versuchte beim Kassieren ein Gespräch, aber der Leutnant antwortete zerstreut. Von der Tankstelle fuhr Faber statt zur Gohlaer Chaussee wieder in die Stadt. «Wo willst du denn hin? Wir kommen zu spät!» «Schon möglich, daß wir den Anfang versäumen. Das ist nicht so tragisch!», erklärte er. «Ich muß dringend zur Dienststelle!» «Du hast doch heute frei!» «Was heißt frei», gab er zurück, «ein Kriminalist ist immer im Dienst!» «Das begreife ich nicht», sagte sie, «du mußt doch auch mal abschalten dürfen!» «Du kannst das», erwiderte er und bog in die ErnstThälmann-Straße ein: «Du schließt die Ladentür und gehst nach Hause. Das Geschäft hat dich erst am nächsten Tag wieder. In meinem Beruf kann man nicht so schnell abschalten!» Karin starrte stumm voraus. Es war mit Uwe nicht die erste Erfahrung dieser Art. Er war lieb und zärtlich und tat alles für sie. Passierte aber etwas Dienstliches, dann war er wie ausgetauscht. Uwe bog zum Volkspolizei-Kreisamt ab und stoppte auf dem Parkplatz davor. Die daumendicken Bäumchen entfalteten ihre Blätter. Der Wind bewegte die spärlichen Halme des jungen Rasens, als bliese er auf ein stilles Wasser. Faber löste den Sicherheitsgurt und wendete sich Karin zu. «Sei nicht böse, Schatz! Ich hole nur rasch eine Auskunft ein! Es hängt vielleicht einiges davon ab! Ob mit oder ohne Zirkus, wir hatten einen schönen Nachmittag, nicht wahr? Den nimmt uns keiner!» «Ich verstehe! Dein Dienst ist wichtiger als ich! Heißt das, wir fahren nicht mehr nach Gohla?» Sie hielt ihre Enttäuschung nicht zurück. Als er sie zu trösten suchte, stieß sie seine Hand fort. Er zuckte enttäuscht die Schultern, stieg aus und nahm mit drei Sprüngen die Eingangsstufen. In seinem Dienstzimmer 157
hob er den Telefonhörer und forderte von der Vermittlung auf der direkten Leitung eine Verbindung mit Magdeburg. In der Kraftfahrzeug-Zulassungsstelle war der Dienst längst beendet, aber in dringenden Fällen war es rund um die Uhr möglich, den Namen eines Kfz-Halters zu erfahren. Der Hauptmann versprach zurückzurufen. Leutnant Faber legte den Hörer auf die Gabel und trat ans Fenster. Da unten saß Karin auf dem Beifahrerplatz und knüllte ihr Taschentuch. Sie tat ihm leid, sie hatte sich auf den Zirkus gefreut. Plötzlich kamen ihm Zweifel. Hätte es nicht Zeit bis morgen gehabt zu erfahren, mit wem in Magdeburg Blaschke so liiert war, daß er dessen Fahrzeug benutzte? Vielleicht gab es einen harmlosen Grund dafür? Eine Frau? Sie brauchte gar nichts mit Quarzuhren zu tun zu haben. «Mann, Faber, treten Sie kürzer!», würde Major Werner wieder einmal sagen, wenn er ihm berichtete. Faber lief im Zimmer hin und her. In Magdeburg schien es doch nicht so einfach, um diese Zeit die Kfz-Kartei einzusehen. Die Räume wurden nach Dienstschluß versiegelt. Für das Lösen der Siegel gab es besondere Vorschriften: Faber überlief es siedendheiß. Die Anforderung mußte schriftlich nachgereicht werden. Die Zeit verging so schnell, daß es kaum noch lohnte, nach Gohla zu fahren. Unten schlug eine Autotür. Faber trat ans Fenster und sah, daß Karin ausgestiegen war und eilig davonlief. Er wollte das Fenster öffnen, doch da läutete das Telefon. Er lief zum Schreibtisch und hob den Hörer. Der Hauptmann in Magdeburg meldete sich. «Sagen Sie, Genosse Leutnant, ist das tatsächlich ’ne dringende Fahndung?» Faber schluckte einen im Halse steckenden Kloß hinunter und bestätigte es forsch. «Haben Sie den Kfz-Halter?» «Geben Sie noch mal das Kennzeichen durch!» «HL vierunddreißig Strich zwölf!» «Entweder ihr irrt euch, oder ihr seid verschaukelt worden!», behauptete der Teilnehmer am anderen Ende der Lei158
tung. «Unter diesem Kennzeichen läuft kein weißer Moskwitsch, sondern ein dunkelblauer W-fünfzig-LKW! Hallo –?» Faber schluckte verblüfft. «Ja? Ein W-fünfzig, sagen Sie?» «Jawohl! Fahrzeughalter ist der Kraftverkehr Magdeburg! Reicht das?» «Wie? Ach so, ja! Danke, Genosse Hauptmann!» Faber legte den Hörer auf und starrte nachdenklich vor sich hin. Plötzlich kam Leben in ihn; er verließ hastig das Dienstzimmer und stürmte aus dem Haus. Die Vorderräder drehten kreischend auf der Stelle, dann schoß der Trabant vorwärts. Bei Karin zu Hause läutete er vergeblich; sie meldete sich nicht. War sie aus Trotz fortgegangen? Seine Enttäuschung nahm zu. Wenig später stoppte Faber den Trabant vor einem Haus, in der Hopfengasse. Zwei Fenster führten zur Straße heraus. Die andere Hälfte der Hausfront nahm ein großes zweiflügeliges Tor ein. Der Torflügel schwenkte nach innen. Faber durchschritt den kopfsteingepflasterten Gang und erblickte überrascht eine Idylle: Der Hof wurde von zwei Walnußbäumen beschattet; zwischen den Katzenkopfsteinen wuchs Gras. Dem ehemaligen Stallgebäude sah man die vormalige Bestimmung nicht mehr an. In der freundlichen Fassade ließen breite Fenster Wohnkomfort ahnen; eine Veranda lag im Nußbaumschatten. Aus einem offenen Fenster klang Klaviergeklimper. Faber belächelte nachsichtig die Fingerübungen eines Anfängers. Eine dunkle Frauenstimme sprach, unterbrochen von einigen Akkorden. Danach folgten wieder geklimperte Passagen. Die Frau erteilte Klavierunterricht. Faber trat auf die Schwelle der offenen Verandatür. «Hallo?» Über den Flur näherten sich Schritte. Major Werner erschien. «Sie? Faber? Ist was passiert?» «Ja und nein», antwortete er orakelhaft. Im Dienst trug Werner leger sitzende Anzüge, vorherrschend in Brauntönen, und achtete auf korrekte Bügelfalten. 159
Jetzt trug er an den Knien beulende Hosen, eine kordelbesetzte, tabakbraune Jacke und bequeme Hausschuhe. «Setzen Sie sich!» Werner zeigte auf die rustikale Sitzbank. «Danke, Genosse Major!» Wieder erklangen Klavierakkorde. «Meine Frau gibt Unterricht», sagte Werner. Faber erinnerte sich, daß der Major einmal beiläufig erwähnt hatte, seine Frau sei Musikpädagogin. Es klang, als wolle er die folgenden Mißtöne entschuldigen. «Ich höre das gar nicht mehr! Sie haben doch dienstfrei?» «Ich wollte nach Gohla zum Zirkus», erklärte Faber, «vorher mußte ich tanken!» «Sie hatten vermutlich zwei Karten!» Werner lächelte. «Ja. Karin Wenzel wollte mitfahren. An der Tankstelle hat ein alter Bekannter seinen Moskwitsch aufgetankt. Ich bin jetzt erst davon überzeugt, daß es seiner war!» «Herr, dunkel war der Rede Sinn!» «Der Moskwitsch besitzt das Magdeburger Kennzeichen HL vierunddreißig Strich zwölf!» Der Leutnant schilderte seine Vermutung, der PKW gehöre einem Geschäftspartner des Leipzigers. «Sie sprechen natürlich von Blaschke!» «Natürlich», bestätigte Faber und berichtete, daß er zur Dienststelle gefahren sei. «Es sollte mich auch wundern, wenn Sie nicht Alarm geschlagen hätten! Haben Sie eine Fahndungssache vorgetäuscht?» «So war’s», gestand Faber. «Und nun gehört der Moskwitsch keinem Komplizen, sondern Blaschkes Braut! Und ich soll morgen trotzdem schriftlich die Fahndung bestätigen!» «Das Kennzeichen gehört zu einem W-fünfzig-LKW Vom Kraftverkehr Magdeburg!» «Demnach ist das des Moskwitsch’ gefälscht?», fragte Werner, wieder ernst werdend. «Ja! Blaschke ist mit seinem eigenen PKW unterwegs und hat die Kennzeichen getauscht, um eine krumme Tour zu tarnen!» 160
«Es scheint so», bestätigte der Major und rieb nachdenklich sein Kinn. «Schreiber bei uns in Bardenberg steht mit dem Leipziger Blaschke in Verbindung und benutzt einen verfälschten PA! Blaschke bedient sich gefälschter Kennzeichen und benutzt vermutlich ebenfalls einen verfälschten Personalausweis. Der Fall weitet sich aus!» Werner und Faber zählten die wenigen Fakten auf. Das Klavierspiel war verstummt. Draußen dämmerte es, und unter den Nußbäumen lagen dunkle Schatten. Werners Frau trat mit einem etwa zehnjährigen Mädchen in die Veranda, das sich artig verabschiedete. «Claudia, das ist Leutnant Faber!» Faber erhob sich, gab Frau Werner die Hand und verbarg, so gut er konnte, sein Erschrecken. Frau Werner war gehbehindert Und benutzte einen Stock; ihre rechte Hüfte schien gelähmt. Faber sah sich eigenartig gemustert; es machte ihn verlegen. Claudia Werner trug das schwarze Haar in der Mitte gescheitelt, straff anliegend und im Nacken zum Knoten geschürzt. «Mein Mann hat schon oft von Ihnen gesprochen», versicherte sie. «Natürlich nur Gutes», fügte sie scherzhaft hinzu. «Weniger Gutes hält er von mir fern!» Werner hatte die Veranda verlassen, und Frau Werner fragte Faber: «Haben Sie sich in Bardenberg schon eingelebt? Gefällt es Ihnen hier? Schließlich kommen Sie aus einer Großstadt.» «Ich habe keine Sehnsucht nach Leipzig», versicherte Faber. «Die herrliche Landschaft entschädigt für manchen Großstadtvorteil.» Daß er vor allem Karin sein seelisches Gleichgewicht zu verdanken hatte, verschwieg er. Der Major kam zurück. Er hatte die Jacke gegen einen flotten Pullover vertauscht. Er brachte eine Flasche bulgarischen Weißwein mit und drei Gläser. Seiner Frau reichte er ein Schultertuch. Werner zog den Korken und schenkte ein. Der Wein löste die Zungen. Werners sprachen sonst nie über das Unglück, das sie vor zwanzig Jahren getroffen hatte. 161
Damals war Claudia Werner mit dem Skoda einem betrunkenen Fußgänger ausgewichen und gegen einen Baum geprallt. Der hinter ihr sitzende sechsjährige Jens war tot, ihre rechte Hüfte blieb steif. «Wir wollten keinen PKW mehr», sagte Werner. Nachdem er den Korken einer zweiten Flasche gezogen hatte, sagte er zu Faber: «Deinen Trabant schieben wir nachher auf den Hof, Uwe! So bald kommst du heute hier nicht weg! Ich heiße Erwin, wie du weißt!»
18 Gronau prüfte im Spiegel seinen Smoking und fand nichts an sich auszusetzen. Die letzten von der Bombe herrührenden Schrammen waren geheilt, nur den linken Arm konnte er noch nicht richtig bewegen. Er lief ins Wohnzimmer und musterte den für zwei Personen gedeckten Tisch; seine Zugehfrau hatte auch an langstielige rote, aber duftlose Treibhausrosen gedacht. Es war drei Minuten vor neunzehn Uhr. Gronau riß ein Streichholz an und entzündete die drei Kerzen im Leuchter. Punkt neunzehn Uhr läutete die Glocke, gleichzeitig klappte die Wohnungstür. Bettina besaß längst Yvonnes Schlüssel. Gronau trat in die Diele, ließ ihre laute Begrüßung über sich ergehen und half ihr aus dem Chinchillacape. «Grüß dich, Eddi!» Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn. Gronau verzog das Gesicht; er mochte die Koseform seines Vornamens nicht. Er küßte ihr die Hand und führte sie ins Zimmer. Auf der Türschwelle rief Bettina: «Wie süß! Wie lieb, Eddi!» Er lächelte und ließ sich nicht anmerken, daß ihn ihre laute, sich überhastende Stimme störte. 162
Zwischen der Schildkrötensuppe und den Trüffeln auf Kalbsmedaillons läutete das Telefon. Bettina sah ihn besorgt an und hoffte, daß er das Klingeln ignorierte. Aber Gronau tupfte mit der Serviette den Mund und lief in die Diele. Er preßte den Hörer ans Ohr und vernahm: «Wiese! Lage drei!» «Verstanden!», antwortete er und legte auf. Als er zu Bettina zurückkehrte, blickte er zerstreut über sie hinweg. «Du mußt fort …?» «Ja, es tut mir leid. Ich hoffe, daß es nicht lange dauert. Mach es dir gemütlich, ja?» Er sah ihre Enttäuschung und war froh, daß sie es ruhig aufnahm. Er überlegte, wie lange es her war, daß er einen Urlaub auf Sylt abbrechen mußte, als «Lage drei» angeordnet worden war. Damals war ein Journalistenteam, das in Südpolen eine Agitationszentrale installieren wollte, von der polnischen Miliz festgenommen worden. Das hatte Aufsehen erregt und das Bonner Außenministerium auf den Plan gerufen. Bettina folgte ihm in die Diele. Er warf einen Trenchcoat über den Smoking. «Ist das auch nicht gefährlich, was du vorhast?» Er starrte sie verwundert an. «Gefährlich? Wie meinst du das?» «Nur so, Eddi. Paß auf dich auf!» Er hatte keine Angst. Dennoch dachte er an ihre Worte, als er in der Tiefgarage den Lift verließ. Es brannte nur die übliche spärliche Beleuchtung, und seine Schritte hallten hohl von den Betonwänden wider. Wiese erwartete ihn auf dem internen Parkplatz in seinem zehn Jahre alten Mercedes. Der Hüne stieg aus, kam ihm entgegen und informierte knapp. Vor einer Stunde war ein tschechischer V-Mann ins Pullacher Krankenhaus eingeliefert worden. Er hatte heimlich die Grenze zur BRD passiert. Gronau fragte erstaunt: «Ein Tscheche? Das betrifft doch uns nicht?» 163
Im Krankenzimmer trafen sie den Ressortleiter für EuropaSüdost, Gentöl, am Bett des Patienten an, dessen rechter Fuß in Gips steckte. Der Verletzte starrte mit fiebrigem Gesicht vor sich hin. Gentöl, ein ungewöhnlich großer, hagerer Mensch, sprach mit hartem Akzent, jedoch ausgezeichnet tschechisch. Sie folgten seiner Aufforderung und verließen das Zimmer. «Beim Grenzdurchbruch», berichtete Gentöl, «hat mein Mann sich einen Knöchel gebrochen. Er ist trotzdem durchgekommen!» Gronau machte kein Hehl daraus, daß ihn die vermeintliche Heldentat wenig interessierte. «Der Grenzschutz hat gespurt», verkündete Gentöl, «und für die Überstellung nach hier gesorgt!» Wann der Mann vernehmungsfähig sein würde, war nicht abzusehen. «Ging es um einen Spezialauftrag?», fragte Gronau. Es überraschte ihn, daß Gentöl mit der Antwort nicht hinter dem Berg hielt. «Ja, neuerdings forciert man ja Erkundungen gegen Funktechnische Posten. Im vorliegenden Falle betraf es einen solchen Posten im Raume Rudnice.» In seinem Dienstzimmer trat Gronau an die mit einem Vorhang verdeckte Karte der DDR. Er enthüllte sie und deutete auf die Autobahn Eisenach – Karl-Marx-Stadt – Dresden. Unzufrieden stellte er fest, daß die Firma südlich dieser Linie nicht präsent war. Wiese ließ sich seufzend im Sessel nieder und widersprach: «Sie vergessen Bardenberg!» «Natürlich nicht» Gronau winkte ab, «aber Felix bleibt unser As im Ärmel! Er wird keine Anlaufstelle!» «Jedenfalls kein Kurshafen!» «Wie soll ich das verstehen?» «Er hat pflichtgemäß gemeldet, daß Grindel ohne Auftrag bei ihm war!» Gronaus Stirn rötete sich. Er haßte Disziplinlosigkeiten. Bei Grindel waren sie fast schon die Regel. «Verwarnen Sie ihn! 164
Wo kämen wir hin, wenn wir so etwas einreißen ließen! Wie eignet sich das Grundstück des Leipzigers?» «Wollen Sie Grindel dazu hören? Ich bin nachher mit ihm verabredet.» Wiese schnaufte kurzatmig. Gronau winkte ab. «Erledigen Sie das. Es ändert ohnehin nichts an der Tatsache, daß wir südlich der Autobahn noch niemanden haben. Der Fläming liegt Berlin näher als Leipzig!» Es widerstrebte Gronau, Grindel jetzt zu begegnen, er überließ es Wiese, ihn zu empfangen. Mit der Mahnung, die Aktion in Bardenberg dürfe keinesfalls mit einem Fehlschlag enden, verabschiedete er sich von Wiese. Grindel wartete in einem der Sprechzimmer. Wiese bat ihn in sein Büro. Obwohl es sachlich nüchtern wirkte, fühlte er sich darin heimisch. Wiese erzählte Grindel nichts von dem Vorfall in der CSSR. Das Wissen darum könnte Grindel verunsichern; einen nervösen Mann auf der komplizierten Strecke konnte er nicht gebrauchen. Er las mit ausdrucksloser Miene den Bericht über Blaschke alias Ernst. Grindel hob darin dessen überdurchschnittliche Intelligenz hervor sowie seine Bereitschaft zur Mitarbeit. Wiese studierte aufmerksam die Farbfotografien. Sie zeigten Blaschkes Anwesen von innen und außen. Wiese stand auf, trat an den Panzerschrank und suchte die Akte «Ernst» heraus, um ihr die Fotos anzufügen. Von dem Versteck im Holzschuppen hielt Wiese wenig. Zeigten Verfolger jemals Interesse für das Sommerhäuschen, entging ihnen kein noch so gut getarnter Schlupfwinkel. Die Nische im Schuppen konnte das Unterrichtsmaterial nur eben vor einer Zufallsentdeckung sichern. Ebenso beurteilte er das Waffenversteck. Er wies auf das Foto. «Sehen Sie, was zuerst auffällt, wenn man davorsteht, ist das spitze Dach über den Giebelkammern! Den Raum dort oben riecht man doch förmlich!» Grindel nickte. Es war sinnlos, dies zu bestreiten. Er hoffte, niemals in die fatale Lage zu geraten, auf diese Anlaufstelle angewiesen zu sein. Gab es überhaupt sichere Verstecke? 165
Um Wiese von den Fotos abzulenken, nörgelte er: «Die Fahrten per Container werden immer riskanter! Die Zentrale sollte sich was Besseres einfallen lassen!» «Da Sie von Risiken sprechen,» Wiese griff den Gedanken auf, «es gibt unvermeidbare, die nun mal zum Handwerk gehören! Wir sollten aber die vermeidbaren ausschalten!» Grindel kannte Gronaus Stellvertreter inzwischen gut genug, um zu wissen, daß der mit diesem Satz einen Zweck verfolgte. «Um ein vermeidbares Risiko geht es», grollte Wiese, «wenn Sie eigenmächtige Kursänderungen vornehmen!» «Ich verstehe nicht!», behauptete Grindel. «Natürlich verstehen Sie. Sie besaßen keinen Auftrag, Felix anzulaufen!» Grindel verzog ärgerlich das Gesicht. Wiese war kein Hellseher; er konnte es also nur von Felix selbst erfahren haben. Der hatte es sicherlich aus Furcht gemeldet, daß seine Zuverlässigkeit geprüft wurde. Grindel versuchte es mit einem Scherz abzutun. «Blaschke und ich sehen uns ähnlich! Felix ist nicht von mir, sondern von seinem alten Freund Blaschke besucht worden!» «Geschenkt!», knurrte Wiese. «Blaschkes Enttarnung gegenüber Felix stellt einen weiteren Verstoß gegen die Regeln dar. Ich weiß, Felix ist zuverlässig, trotzdem sollten Sie einen solchen Fehler künftig vermeiden.» «Sind Sie von Felix’ Zuverlässigkeit überzeugt?», fragte Grindel spöttisch. «Sie etwa nicht?» Grindel lehnte sich zurück und sagte beiläufig: «Felix unterschlägt uns seit Jahren seine Stieftochter Evelin Schenk! Sie ist Ingenieur für Meßelektronik! Die Schenk arbeitet in dem neuen Bardenberger Werk für Robotertechnik.» Wiese holte aus dem Panzerschrank die Akte Felix und blätterte in dem Ordner. Er fand die Eintragung, daß die zwölfjährige Stieftochter nach dem Tode ihrer Mutter zu deren Schwester nach Dessau übergesiedelt war. 166
«Im zweiten Studienjahr starb die Tante», berichtete Grindel auf Befragen. «Die Schenk zog wieder zu ihrem Stiefvater, hat aber meist nur die Semesterferien zu Hause verbracht!» Wiese warf die Akte auf den Schreibtisch. «Gut, die bringen wir auf den neuesten Stand. Kommen wir nun zu Budach.» Grindel zog seine Notizen hervor. Er hatte nach Blaschkes mündlichem Bericht ein Gedächtnisprotokoll gefertigt. Daß Budach mit einer Kollegin zur Verabredung gekommen war, weckte Wieses Argwohn, aber Grindel beruhigte ihn. «Blaschke glaubt, daß er ohne die junge Frau gar nicht ins Geschäft gekommen wäre! Sie scheint in Geldangelegenheiten weniger weltfremd zu sein als er.» «Sind ihre Personalien bekannt? In welchem Verhältnis steht sie zu Budach?» Grindel las aus seinen Notizen: «Ilona Clemens! Bibliothekarin! Etwa dreißig Jahre alt. Die Angaben zur Person macht Blaschke mit Vorbehalt. Ob sie intime Beziehungen zu Budach unterhält, weiß er nicht. Befreundet scheinen sie auf jeden Fall zu sein!» «Wir brauchen von der Clemens ein Foto.» «Sie ist keine Schönheit, meint Blaschke, aber ganz passabel! Und ’ne Rubenssche Figur!» Grindel wiederholte Blaschkes Worte und grinste. Wiese winkte ab und äußerte, daß eine häßliche Frau, noch dazu an der Schwelle des kritischen Alters, leichter unter den Einfluß eines Mannes geriete als eine Schönheit! Bestand keine intime Beziehung zwischen der Clemens und Budach, war zu erwägen, ob Blaschke auf sie als Freier angesetzt werden könnte. In der nächsten Viertelstunde gewann Grindel den Eindruck, daß die gegen die Bardenberger Dienststelle gerichtete Aktion einen höheren Stellenwert besaß als jedes Unternehmen vorher. Dafür sprach auch, daß Wiese die im Erfolgsfall zugesagte Gratifikation fünfstellig aufbesserte. Noch niemals vorher hatte Wiese ihn auf ein Vorhaben so ernsthaft, ja fast beschwörend eingestimmt wie dieses Mal. 167
«Der Angriff kann nur von innen geführt werden! Budach scheint der dafür geeignete Mann! Halten Sie Blaschke kurz! Ich habe das Instruktionskonzept geändert! Die nächste Schulungslektion betrifft die psychologische Anleitung eines Informanten!»
19 Schubart trug die Kaffeekanne ins Zimmer. Auf der Türschwelle stockte sein Schritt, denn Ev zog seine Schreibtischschublade auf. «Was suchst du in meinen Sachen?», fragte er heftig. «Guten Morgen», hielt sie ihm vorwurfsvoll entgegen. «Keine Bange, ich bringe dir nichts durcheinander!» Sie schob die Lade zu und trat zum Frühstückstisch. Der Stiefvater wurde immer schrulliger und wachte krankhaft darüber, daß sie seinen Bereich respektierte. «Ich suche einen Rechenschieber», erklärte sie und goß den Kaffee ein. «Wieso bei mir? Ich kenne mich mit solchen Dingern gar nicht aus!», klang es gallig. Evelin bestrich eine Toastscheibe mit Butter und Honig. «Was war das eigentlich für eine Bandkassette dort im Regal?» Schubart wechselte die Farbe. «Bandkassette?», wiederholte er gedehnt. «Ach so, unwichtig!» Er machte eine wegwerfende Handbewegung. «Wo gibt es solche ohne Markenzeichen? So eine habe ich noch nie gesehen!» «Ein für allemal: Meine Sachen gehen dich nichts an!» Das Frühstück verlief von nun an schweigsam. Beide unternahmen keinen Versuch, ein neues Gespräch zu beginnen. Schließlich erhob sich Evelin, flüsterte einen Gruß und verließ das Zimmer. Der letzte Toast geriet zu scharf, Schubart kaute lustlos. Dann 168
fiel ihm ein, daß er einen Fahrradreifen aufpumpen mußte. Es wurde ein verkorkster Tag. Auf der Burg erwartete ihn der alte Hildebrand stockheiser und blaß; er schickte ihn nach Hause. Um fünfzehn Uhr sollte «Felix» das Teleobjektiv auf die Brunnenfigur richten. Damit würde die Zentrale in Pullach ein weiteres Druckmittel gegen Schiffer in die Hand bekommen. Die Kamera nahm auf, wenn er seine Nachricht deponierte. Im Museum befanden sich nur wenige Besucher, aber zu elf Uhr war eine Schulklasse angemeldet. Schubart ging ins Büro, trat ans Fenster und richtete das Fernglas auf die Nixe im Park. Die Schärfe der Optik verriet sogar den losen Sockelstein. Schubart versah die Kamera mit dem Teleobjektiv und richtete es ein. Es war spät geworden bei Werners, doch das hielt Faber nicht von seinem morgendlichen Training ab. Der Postsekretär hatte ihm in aller Frühe aufgelauert, um ihm zu sagen, daß spät abends Fräulein Karin nach ihm gefragt hätte. Faber fiel ein Stein vom Herzen. Nach dem Frühstück lief er im Laufschritt zur Hopfengasse, um seinen Trabant geräuschlos vom Hof zu schieben. Major Werner hatte ihm erlaubt, am Vormittag nach Leipzig zu fahren. Erst auf der Gasse startete er den Motor. Faber widerstand der Versuchung, bei Karin zu halten. In Leipzig-Gohlis parkte er den Trabant in der Nebenstraße, schräg gegenüber von Blaschkes Laden. An der Straßenbahnhaltestelle warteten Passanten; einige lasen die Offerten in den Glaskästen. Leutnant Faber überquerte die Straße und sah, daß es in den Schaukästen keinen ungenutzten Fleck gab. Ein Mann betrat den Laden. Faber folgte ihm. Hinter dem Ladentisch stand Blaschkes Mitarbeiter. Der Kunde fragte nach dem Chef. Der Verwachsene bedauerte, der sei noch nicht da. «Wissen Sie mit den Quarzuhren Bescheid?» 169
«Leider nein.» «Die soll er sich gefälligst an den Hut stecken! Ich will mein Geld zurück!», schimpfte der verärgerte Kunde und verließ den Laden. Faber eilte ihm hinterher. «Sie haben Pech mit einer Quarzarmbanduhr?», fragte er. «Es ist wohl besser, ich kaufe mir keine?» «Lassen Sie die Finger davon! Die Uhr zeigt falsche Zeiten, und kein Uhrmacher repariert das Westfabrikat. Ich hatte auf eine Annonce in der Zeitung geschrieben. Wissen Sie, ich bin Kellner. Blaschke brachte mir die Uhr ins Astoria. Hätte ein Kollege ihn nicht gekannt, dann wäre ich jetzt dumm dran. So verlange ich meine dreihundert Mark zurück!» Faber bedankte sich und bezog seinen Beobachtungsposten im Trabant. Er stellte den Rückspiegel auf Blaschkes Laden ein. Kunden gingen aus und ein. Endlich sah er im Rückspiegel einen weißen Moskwitsch blinkend auf der Straßenmitte halten, um in die Nebenstraße einzubiegen. Der Moskwitsch rollte vorüber und fand eine Parklücke. Faber las das Kennzeichen UP 18-93. Der Mann am Lenkrad war Blaschke. Faber wartete, bis Blaschke in seinem Laden verschwunden war, stieg dann aus und schlenderte zu dem PKW hin. Ein LKW schützte ihn vor Sicht aus dem Laden. Die Befestigungsschrauben der Kennzeichen verrieten, daß die Schilder leicht auszutauschen waren. Die vordere Stoßstange besaß eine Delle, als habe sie eine unsanfte Bekanntschaft mit einem eisernen Pfahl gemacht. Auf der Straßenseite gegenüber lief ein Mann, den Faber vom Foto her kannte. Es war Schreiber aus Bardenberg. Der Bardenberger überquerte die Fahrbahn und steuerte Blaschkes Laden an. In der Reihe der parkenden Autos stand der blaue Trabant-Kombi mit dem Kennzeichen GON 3-33. Schreiber trug in seiner Reisetasche wie gewohnt die Geldkassette bei sich. Blaschke spottete, nachdem er den Besucher ins 170
hintere Zimmer geführt hatte: «Ihren Geldschrank hätten Sie zu Hause lassen können. Ware ist nicht!» Schreiber starrte ihn erschrocken an, «Aber – ich brauche doch welche!» «Sie sind gut. Husten Sie mal ohne Hals! Mein Cousin liefert nur noch Ware gegen Ware!» Schreiber schluckte enttäuscht. «Die Uhren gehen nicht mehr so recht», klagte er. «Sie sind zu teuer. Außerdem habe ich zwei Reklamationen, über die wir reden müssen!» «Wirklich? Müssen wir?», spottete Blaschke und fügte ärgerlich hinzu: «Mann, Schreiber, tun Sie nicht so neu!» Schreiber winkte resigniert ab. Er sah ein, daß er bei Blaschke heute nichts erreichte; die Fahrt hierher hätte er sich sparen können. Faber zeigte seinen Dienstausweis und nahm leichtfüßig die Treppe zum ersten Stock. Major Werner blickte erstaunt von seinem Bericht auf. «Kommst du jetzt erst aus Leipzig?», fragte er. «Nein!» Faber schüttelte den Kopf. Pünktlich zum Ladenschluß hatte er Karin mit einem Nelkenstrauß erwartet. Sie war in seine Arme geeilt und hatte ihn mitten auf der Straße geküßt. «Eigentlich hätte es Zeit gehabt bis morgen», sagte Faber, «aber als ich sah, daß bei dir noch Licht brennt …» Der Satz blieb unvollendet. Werner legte den Kugelschreiber aus der Hand. «Du hast ein Problem?» «Ja, wie soll es jetzt weitergehen?» Er schilderte seinen Besuch in Blaschkes Laden. «Ohne Zweifel betreiben der Leipziger und Schreiber gemeinsame Geschäfte. Schreiber trug eine schwere Tasche in Blaschkes Laden und kam mit ebenso schwerer Tasche wieder heraus!» «Du meinst, es fand ein Warenaustausch statt? Vielleicht hat Schreiber etwas angeboten und ist es nicht losgeworden?», gab Major Werner zu bedenken. 171
«Schreiber ist kein unbeschriebenes Blatt. Außerdem steht fest, daß Blaschke gefälschte Kennzeichen benutzt! Die Frage lautet: Weshalb tut er das?» «Das ist genau der Punkt, Uwe!», bestätigte Major Werner. «Der Schwarzhandel allein macht diese Vorsicht kaum notwendig! Vielleicht geht es um Hehlerei großen Stils?» «Das heißt, weiter beobachten?» «Genau das!», bestätigte Werner. Faber bemerkte ein Lächeln in Werners Gesicht. War die Vermutung, es könne eine großangelegte Hehlerei im Spiele sein, nicht ernst gemeint? Werner lieferte manchmal Beispiele hintergründigen Humors, mit denen man nicht gleich etwas anfangen konnte. «Sag mal, haust du mir etwa die Taschen voll?», fragte Faber mißtrauisch. «Bewahre! Das hieße ja die Energie eines fähigen Genossen vergeuden!» Nun erst verschwanden die Lachfältchen, und Werner erklärte bestimmt: «Es wird Zeit, daß du mit dieser Sache fertig wirst. So oder so! Ich helfe dir dabei, Uwe! Übrigens helfen! Du bist auf der Maschine so richtig schön flink, nicht wahr?» Leutnant Faber nickte und rückte den Hocker vor der Schreibmaschine zurecht.
20 Der Regen prasselte auf das Pappdach, es rauschte einschläfernd. Schreiber rückte das altersschwache Sofa, auf dem er sich nie richtig strecken konnte, vom Fenster weg. Die Einfachheit des Wehrhahnschen Häuschens verleidete ihm den Aufenthalt darin. Er wäre gern in die Lüsinger Straße zurückgekehrt, aber die Tür blieb ihm versperrt. Im flackernden Kerzenschein erschien die im Sessel kauernde Gestalt seltsam lebendig. «He, Fricke, wach auf!», rief Schreiber. 172
Der Alte gab einen Grunzlaut von sich. Fricke wohnte als Dauerbewohner in der Gartenanlage. Es verging kein Abend, an dem er nicht auf einen Sprung hereinkam. Er wußte, Schreiber hatte immer eine Flasche Schnaps stehen. Fricke war vor Jahren am Magen operiert worden. Nun nage der Krebs aufs neue an ihm und sei nur mit Schnaps zu betäuben, behauptete er immer. Die Kerze war bis auf einen Stummel heruntergebrannt. Der alte Wecker auf dem Wandbrett zeigte Mitternacht an. Eigentlich wollte Schreiber jetzt aufbrechen. Deshalb war er nüchtern geblieben. Er trat an das schulranzengroße Fenster. Die Bäume wirkten im Nachtdunkel gespenstisch; bei solchem Wetter jagte man keinen Hund vor die Tür. Das gab den Ausschlag für seinen Entschluß; niemand würde ihn stören. Er mußte die Gelegenheit nutzen und von der Untätigkeit wegkommen. Er brauchte Ware von Blaschke, um wieder reisen zu können. Das Geld in der Kassette schwand dahin. Der alte Fricke rekelte sich stöhnend hoch. «Ich gehe dann. Hast du noch einen auf den Weg?» «Nein. Für heute ist Schluß!», sagte Schreiber. Fricke fand sonst kein Ende, wenn er erneut anfing zu trinken. Der Alte brummte enttäuscht und stolperte nach draußen. Schreiber wartete, bis die Gartenpforte quietschte, dann blies er die Kerze aus und folgte dem alten Mann. Der Trabant-Kombi stand auf dem Hauptweg; er paßte nicht in den schmalen Steg und durch die enge Gartentür. Der Motor zerriß pötternd die Nachtstille, als Schreiber startete. Es hatte aufgehört zu regnen. Rita Wille blickte dennoch mißtrauisch aus dem Fenster auf die tiefhängenden Wolken. Aus dem Boden stieg Nebel auf. Sie traute dem Wetter nicht, zog wieder den Regenmantel an und holte das Fahrrad aus dem Schuppen. Sie schob es durch die Pforte, schwang sich hinauf und radelte den Hangweg hinab. Plötzlich knackte es. Die Kette, durchfuhr es Rita. Ein eisiger 173
Schreck durchfuhr sie. Das Tempo wurde schneller, ihre Finger umkrampften den Handbremsengriff. Doch die Bremse war zu schwach, um das Rad zu stoppen. Instinktiv lenkte sie auf den rechts von ihr ansteigenden Hang. Der Schwung nahm ab, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Rad ins Gras. Mühsam erhob sie sich. Da sah sie eine Gestalt näherkommen. Sie traf morgens sonst nie einen Menschen. Der Mann stand in Nebelschwaden gehüllt. Sein Regenmantel blinkte naß. Er spähte nach allen Seiten. Der tut, als hätte er etwas Verbotenes vor, dachte Rita und duckte sich. Der Mann lief weiter. Der Dunst verschluckte ihn fast. Neben der Brunnenfigur blieb er stehen, bückte sich und verharrte so. Endlich richtete er sich auf und blickte sich forschend um. Dann lief er eilig davon. Rita Wille erhob sich, legte die gebrochene Kette über den Lenker und schob das Rad. Bei der Nixe stockte ihr Schritt. Sie kam ohnehin zu spät zur Tankstelle, ihre Neugier siegte. Was mochte der Mann bei der Figur getan haben? Sie musterte die Sockelsteine; einer schien locker zu sein. Sie hob ihn heraus. Hinter dem Stein gähnte es hohl. Sie wollte ihn schon wieder an seinen Platz legen, da sah sie es silbrig blinken. Sie griff in den Hohlraum und hielt ein Päckchen in der Hand. Hastig wickelte sie es auf. Eine Armbanduhr kam zum Vorschein, eine ungewöhnlich große, runde Sportuhr. Sie schob den Fund in ihre Manteltasche und paßte den Stein wieder in den Sockel ein. Atemlos erreichte sie die Tankstelle. «Ich dachte schon, du bist krank», sagte Otto Haube erleichtert. Rita kam zum ersten Mal zu spät. «Komm ins Büro», sagte sie. «Ich glaube, ich muß gleich wieder los!» Hastig erzählte sie, was geschehen war. Haube pfiff durch die Zähne und wog die Uhr in der Hand. «Mit Stoppvorrichtung», sagte er, «und wasserdicht scheint sie auch zu sein!» Die Uhr wirkte robust. Das Lederarmband war neu. In der Schlaufe steckte Papier. Haube zog es heraus und entfaltete einen dünnen Bogen. «Weißt du, was das ist?» 174
Rita schüttelte den Kopf. Das Papier war mit maschinegeschriebenen Zahlenblöcken bedeckt. Haube schluckte aufgeregt. «Hast du noch nie einen Spionagefilm gesehen?» Rita starrte ihn ungläubig an. «Spionage …?» «Solche Zahlen sind verschlüsselte Nachrichten», behauptete Ritas Kollege. «Derjenige, für den sie bestimmt sind, weiß, was sie bedeuten. Wenn das keine Spionage ist, dann freß ich einen Besen!» «Du meinst wirklich, der Mann war ein Spion?» «Bestimmt! Und der andere, der das Versteck ausräumt, ist auch einer, verlaß dich drauf! Du mußt zur Polizei!» Uwe Faber erwachte, als sein Wirt an die Tür donnerte. «Herr Faber, Telefon!» Der Leutnant erhob sich und ahnte, daß aus dem dienstfreien Tag wohl nichts werden würde. «Tut mir leid, Uwe», sagte Major Werner am anderen Ende, «ich brauche dich. Einbruch in der Spielzeugfabrik!» «Nanu? Was gibt’s denn da zu holen?» «Beeile dich», mahnte Werner. Faber legte die Strecke zum Volkspolizei-Kreisamt im Laufschritt zurück. Dort angekommen, sah er Frau Wille, die aus einem Wartburg stieg und heftig winkte. «Sie wollen zu mir?», fragte er. «Ich habe es eilig. Worum geht es denn?» Rita Wille erzählte. Als sie das Päckchen aus der Tasche zog, sagte Faber hastig: «Lassen Sie es stecken. Bitte kommen Sie mit.» Er führte sie in Major Werners Dienstzimmer. Der blickte fragend auf. «So, Frau Wille, nun erzählen Sie’s dem Genossen Major noch einmal!» Faber drückte auf die Taste des aufnahmebereiten Bandgerätes. Rita Wille berichtete ihr Erlebnis zum dritten Mal und legte die Uhr auf den Tisch. Major Werner deutete stumm auf eine Öffnung, die aussah, als sei eine Schraube vergessen worden. 175
Faber nickte verstehend. Das Uhrengehäuse enthielt eine Kamera. «Ich melde mich ab, Genosse Major!», erklärte der Leutnant förmlich und verabschiedete sich von Frau Wille. «Denken Sie daran, zu niemandem ein Wort!» «Das sagte Otto schon, Kollege Haube, meine ich!» «Ich weiß, wen Sie meinen», sagte Faber und griente so verständnisinnig, daß die junge Frau errötete. Werner wählte einen Anschluß, meldete sich und verlangte mit einem Major Reiter verbunden zu werden. Es dauerte einige Zeit. Rita hörte, wie Major Werner sagte: «Ich habe etwas für euch!» Er legte auf. «Ich kann es Ihnen nicht ersparen, Frau Wille, Sie werden die Geschichte noch einmal erzählen müssen!» Rita Wille saß auf der Bank im Flur und wartete darauf, noch einmal in eines der Zimmer gerufen zu werden, in denen Schreibmaschinen klapperten und Telefone läuteten. Volkspolizisten in Uniform und Zivil eilten vorbei. Endlich klappten die Schwingtüren am Ende des Flures. Ein Mann kam eilig herein. Rita Wille ahnte, daß der Zivilist jener Offizier war, auf den sie wartete. Er war größer als Major Werner und im Gegensatz zu diesem sportlich schlank. Das volle Haar, das er unbedeckt trug, färbte sich unübersehbar grau. Er musterte sie im Vorbeigehen und betrat Werners Zimmer. Es verging noch einige Zeit, ehe der Major sie hereinbat. Werners Besucher saß auf einem Stuhl neben dem Schreibtisch und nickte ihr freundlich zu. «Bitte nehmen Sie Platz, Frau Wille! Darf ich Ihnen Genossen Reiter vom Ministerium für Staatssicherheit vorstellen?» Werner wies auf den Besucherstuhl und setzte sich an seinen Arbeitsplatz. «Wir haben vom Band Ihre Aussage angehört», erklärte Werner. «Trotzdem möchten wir, daß Sie selbst es wiederholen!» «Es könnte sein», ergänzte Werners Besucher, «daß Sie 176
sich, nachdem die Aufregung vorbei ist, an Einzelheiten erinnern, die Sie noch nicht genannt haben!» Rita Wille krauste die Stirn, schüttelte dann den Kopf. «Ich glaube nicht!» Ohne zu stocken berichtete sie, was von dem Augenblick an geschah, als die Fahrradkette brach. «Es war also neblig, Frau Wille», wiederholte Werners Besucher, «können Sie trotzdem den Mann beschreiben? Sind Sie überhaupt sicher, daß es ein Mann war?» Rita sah den Frager erstaunt an, nickte dann. «Doch, ja, da bin ich sicher! Er hatte Ihre Statur!» «Ich bin einen Meter neunundsiebzig groß. So etwa schätzen Sie ihn ebenfalls?» «Genau so!» «Sie haben ihn einige Minuten lang beobachtet. Fiel Ihnen etwas auf? Eine außergewöhnliche Geste?» «Außergewöhnlich?», wiederholte sie. «Ich meine, was man landläufig einen Tick nennt. Wir haben mal eine Fahndung erfolgreich durchführen können, weil der Gesuchte alle paar Minuten einen Finger ins Ohr steckte und ihn schüttelte!» «So was meinen Sie? Nein, da wüßte ich nichts!» Der Major gab noch nicht auf. «Sie sahen den Mann fortgehen! Wie lief er? Langsam oder schnell?» «Er hatte es eilig, das stimmt!» «Aus der Art, wie jemand läuft, lassen sich Schlüsse ziehen. War es ein junger Mensch mit elastischen Bewegungen – oder ein älterer, dem das Tempo Mühe macht?» «Wie ein junger Mann kam er mir nicht vor …» Rita Wille brach ab und starrte vor sich hin. «Er stand gebückt am Denkmalssockel. Jetzt, wo Sie danach fragen, fällt mir ein, daß es so aussah, als käme er schwerfällig wieder hoch. Doch, ja, es muß wohl ein älterer Mann gewesen sein!» Major Werner räusperte sich. «Frau Wille, als Sie zum ersten Mal im Beisein von Leutnant Faber Ihre Schilderung gaben, haben Sie das Wort ‹komisch› verwendet. Später nicht mehr!» 177
«Komisch?» «Was fanden Sie denn komisch?», fragte der Besucher. «Sie meinten den Hut, nicht wahr?», erinnerte Werner. «Ja, das stimmt», erklärte die junge Frau lebhaft. «Die Krempe war heruntergebogen. Dem fehlt nur die Flinte, dachte ich, sonst sieht er aus wie ein Förster!» «Wollen Sie damit sagen, daß der Mann irgend etwas am Hut trug, was für einen Forstmann typisch ist? Zum Beispiel so einen Buschen?» «Sie meinen einen Rasierpinsel?» Rita Wille lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. «Nein, nichts! Er sah halt nur so aus wie ein Förster!» Die weitere Befragung der jungen Frau brachte keine neuen Erkenntnisse. Werner und Reiter verständigten sich mit einem Blick, das Gespräch zu beenden. «Das wäre alles, Frau Wille», erklärte Reiter. «Sie haben sich richtig verhalten. Ihre Beobachtungen werden uns weiterhelfen. Aber das Schwierigste müssen wir Ihnen noch abverlangen: Sie dürfen mit niemand über das Vorkommnis reden!» Als Frau Wille gegangen war, trat Reiter ans Fenster und blickte nachdenklich auf den Vorplatz hinab. «Schön habt ihr’s hier, Erwin», sagte er, «wenn ich an euern alten Backsteinkasten denke.» Werner und Reiter verband die gemeinsame Dienstzeit im Wachregiment «Feliks Dzierżyński». Reiter arbeitete danach beim Ministerium für Staatssicherheit, während Werner auf die Hochschule für Kriminalistik ging. Sie hatten sich nie ganz aus den Augen verloren. Reiter wandte sich ins Zimmer zurück. «Da muß so eine Schweinerei passieren, damit ein paar alte Kumpel wieder mal zusammenkommen!» Werner trat zum Schreibtisch, zog die Lade auf und nahm die Uhr heraus. «Sie muß in den TBK zurück?» «Heute noch! Ich gehe davon aus, daß zwischen Beschickung und Entnahme mindestens vierundzwanzig Stunden liegen. Kurier und Adressat sollen ja nicht aufeinandertreffen. 178
Der Zahlencode wird fotografiert; unsere Experten werden ihn entschlüsseln!», erklärte Reiter zuversichtlich. «Lach nicht», sagte Werner, «aber ich habe so ein Monstrum noch nie in der Hand gehabt. Ich kenne es nur aus dem Mitteilungsblatt!» «Dann habe ich dir einiges voraus, Erwin! Ich habe es schon auseinandergenommen. Auf einem Lehrgang war das. Ab und an muß man die neueste Entwicklung des Gegners ja kennenlernen. Diese als Uhr getarnte Kamera verwendet der Bundesnachrichtendienst. Die Uhr funktioniert sogar, aber mit dem winzigen Werk mehr schlecht als recht. Anstelle von Stoppvorrichtung, Kalender und solchem Schnickschnack ist die Kamera eingebaut. Wir wissen nun, mit wem wir es zu tun haben!» «Besteht nicht die Möglichkeit, daß der TBK beobachtet wird?», fragte Werner. «Möglich ist es», bestätigte Reiter, «das kalkulieren wir ein! Ich verstehe nur eins nicht: Das Nixendenkmal steht frei im Gelände! Sag selbst, würdest du dort etwas ablegen? Da gibt es doch andere, vor Sicht geschützte Objekte?» «Du hast recht», sagte Werner. «Ich komme nicht oft in den Park, aber ich erinnere mich, das Denkmal steht völlig frei!» «Unbegreiflich», wiederholte Reiter, «es stellt alle Erkenntnisse auf den Kopf!» «Was glaubst du, worauf der BND es abgesehen hat?» «Frag mich was Leichteres!», erwiderte Reiter schulterzuckend. «Als feststand, daß in dem neuen Werk Roboter gebaut werden, war mir klar, daß da etwas auf uns zukommt. Das Geheimnis der Nixe muß schnellstens entschleiert werden.» Reiter schob seine Uhr in die Jackentasche und gab Werner die Hand. Rita Wille kam von ihrer Gewohnheit nicht los, einmal in der Woche das Schaufenster zu putzen; daran hielt sie auch als Tankstellenleiterin fest. Sie legte den Schwamm aus der Hand und kassierte. Kollege Haube reparierte in der Werkstatt die Fahrradkette. 179
Beim Pausenkaffee fiel ihr auf, daß Otto Haube ihre Nähe suchte. «Der Major von der Staatssicherheit meinte, ich hätte dich eigentlich gar nicht einweihen dürfen, aber ob ich ohne unser Gespräch zur Polizei gegangen wäre?» Sie blies in den heißen Kaffee. «Du hast recht, man braucht einen Menschen, mit dem man sich austauschen kann!» «Du hast deine Lehrerin!» Sie musterte ihn über die Tasse hinweg. Haube schüttelte den Kopf. «Das ist vorbei! Der neue Sportlehrer liegt mehr auf ihrer Welle, sagt sie.» «Davon hast du nie etwas erwähnt!» Er hörte den Vorwurf heraus. «Ich wußte nicht, daß es dich interessiert.» «Doch, ja», sagte sie leise. Otto Haube legte seine Hand auf ihren Arm. «Du, Rita, wollen wir am Sonntag etwas zusammen unternehmen mit Eva?» «Das wäre schön!» Nach der Pause hatten sie beide alle Hände voll zu tun. Über die Fahrspuren hinweg trafen sich manchmal ihre Blicke. Rita konnte sich von dem Gedanken nicht lösen, daß unter den Tankkunden, älteren und jüngeren, freundlichen und mürrischen, derjenige sein könnte, für den die Uhr und der Zettel mit den Zahlen bestimmt gewesen waren. Mit Gartengeräten beladen fuhr ein Dieselkarren durch den Park. Bei der Nixe hielt er an. Der Fahrer reparierte am Fahrzeug. Daß er nebenher einen losen Stein aus dem Denkmalssockel entfernte und etwas in dem Hohlraum deponierte, sah man nicht. In der Dienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit, in einem Landhaus inmitten eines parkartigen Gartens, besprach Major Reiter in seinem Dienstzimmer den Maßnahmeplan «TBK Nixe». Es war das erste derartige Vorkommnis im Kreis Bardenberg. Doch bevor Major Reiter zu Details kam, wurde an die Tür geklopft, und eine junge Genossin trat ein. 180
«Fernschreiben, Genosse Reiter!» «Ja, danke!» Der Major nahm das mit Textstreifen beklebte Formular entgegen und überflog es. «Das nenne ich prompte Arbeit, Genossen! Die Dechiffrierabteilung hat den Text entschlüsselt: ‹Fotografieren Sie zum Dienstschluß alle weiblichen Zivilbeschäftigten, die die Dienststelle verlassen. Deponieren Sie den Film Friedhof Hilgendorf, Grab Anna Senftleben, unter Konifere!›» Reiter blickte in die gespannt auf ihn gerichteten Gesichter. «Ein guter Start, Freunde! Der Angriff gilt demnach der Funktechnischen Einheit!» Am Nachmittag zog ein Traktor einen Bauwagen zur Hellstetter Chaussee und bog in den Park ab. Neben der Bachbrücke wurde der Wagen abgehängt. Der Traktor donnerte davon. Ein Mann auf einer Parkbank klappte sein Buch zu, erhob sich und schlenderte weiter. Zwei alte Frauen aus dem Feierabendheim vermuteten, daß die Brücke repariert werden sollte. Die Fenster des Bauwagens blieben geschlossen, dennoch war er nicht unbemannt. Zwei Mitarbeiter Major Reiters, die an der Dienstbesprechung teilgenommen hatten, richteten ihren Beobachtungsposten her. Sie stellten das Teleobjektiv einer Kamera auf das zweihundert Meter entfernte Nixendenkmal ein. Das Wageninnere war für den Einsatz hergerichtet worden. Die Verpflegung reichte mehrere Tage; zur Dienststelle bestand Funkkontakt, und zwei Genossen hielten sich dort ständig mit einem PKW bereit. Als Major Werner den Speiseraum betrat, schlug ihm appetitlicher Gulaschduft entgegen. An einem Tisch am Fenster entdeckte er Kriminalmeister Schott, der sich die Spaghetti schmecken ließ. Werner setzte sich zu ihm. «Guten Appetit! Lassen Sie sich nicht stören. Ich wußte nicht, daß Sie schon zurück sind. Wo steckt denn Faber?» Der Trassologe schob den leeren Teller fort und löffelte das 181
Apfelmus. «Es schmeckt nach Büchse», sagte er naserümpfend. «Faber hat sich verkrochen. Der bringt erst den Tatortbefundbericht in Schuß, ehe er Ihnen unter die Augen tritt, Genosse Major!» Der Kriminalmeister griente. «Wie sind Sie mit ihm klar gekommen?», wollte Werner wissen. «Ein Anfänger ist er nicht, dem macht man nichts vor. Der Dieb hatte eine Mauer überklettert und war in ein Blumenbeet hinabgesprungen. Er wußte, wo der Heizer den Schlüssel zum Heizkeller versteckt hielt, und war so bequem ins Treppenhaus gelangt. Im ersten Stock des Bürotraktes befand sich das Spielzeugmuseum, ein saalartiger Raum. Den Schlüssel dazu bewahrte man in einem offenen Aktenschrank im Flur auf. Auch das wußte der Dieb!» «Mann, Schott, das ist ja nicht zu fassen! Und was wurde gestohlen?» «Mechanisches Spielzeug, zum Teil über hundert Jahre alt!» «Dann besitzt es wohl Sammlerwert?» «Genau! Das wußte ich nicht; Faber auch nicht! Direktor Hase hat es uns erklärt. Der Mann hat geweint! Der Schaden beträgt einige tausend Mark, aber die Stücke sind unersetzlich! Fällt Ihnen was auf, Genosse Faber, habe ich gefragt, als ich die Spuren im Blumenbeet ausgegossen habe. Er wird sagen: Das sind alte, geflickte Treter! dachte ich und dann: Ende der Durchsage! Aber nein, er hat ’n Blick! Der Täter hat sich beim Herunterspringen den linken Fuß verstaucht, sagt er! Und das stimmt, Genosse Major! Der rechte Schuheindruck war immer ’ne Winzigkeit tiefer als der linke! Paar Millimeter nur, aber er hat’s gesehen!» «Wissen Sie was, Schott? Lassen Sie ihm die Bulette! Sie brauchen nachher nicht dabeizusein, klar?» Kriminalmeister Schott nickte. Als Werner vom Mittagessen zurückkam, wurde er schon von Faber erwartet. Der Leutnant hielt die Verbindungstür zu seinem Dienstzimmer offen. «Na, Uwe, berichte mal!» 182
«Ich dachte, wir warten auf Schott? Auf sein Konto geht die trassologische Arbeit!» «Der bringt wohl erst seine Zettelwirtschaft auf Vordermann», sagte Werner beiläufig. «Das mit den Zetteln ist gar nicht übel. Sie lassen sich leichter in der Reihenfolge verändern. Auf dem Block gibt es heillos viele Pfeile und Schlangenlinien!» «Ach nee? Du findest seine Methode brauchbar? Wie bist du mit ihm ausgekommen?» «Gut! Schott ist ein alter Hase, der sein Fach versteht!» Faber berichtete, daß er von der Spielzeugsammlung beeindruckt gewesen war. In den Regalen standen Hunderte Exponate. Der Dieb hatte mit sicherem Blick zwei Dutzend der ältesten Stücke ausgewählt. Faber glaubte, daß er gestört worden war, anders sei nicht zu erklären, daß er sich mit der geringen Beute zufriedengegeben hatte. Der Dieb hatte keine Fingerspuren hinterlassen. Doch das rissige Leder seiner Handschuhe hatte charakteristische Abdrücke verursacht. Die Tathandschuhe würden zu identifizieren sein. «Wie ordnest du den Fall ein?», fragte Werner. «Ich vermute den Täter unter den zweihundert Werktätigen des Betriebes!», antwortete Faber überzeugt. Er grenzte den Kreis der Verdächtigen noch weiter ein. «Im Bürotrakt sind es zweiunddreißig Beschäftigte. Nur sie dürften gewußt haben, wo der Schlüssel versteckt wurde!» «Wie groß ist die Beute vom Umfang und Gewicht her?» «Das ist der Punkt, weshalb ich glaube, daß der Täter gestört wurde. Es ist vielleicht ein halber Sack! So etwa zwölf bis fünfzehn Kilo!» «Vielleicht ging es dem Dieb gar nicht darum, sich zu bereichern? Er könnte ein anderes Motiv gehabt haben!» «Du meinst Rache? Wofür? Das müßte ’rauszukriegen sein!» «Klopfe diese Strecke ab, Uwe! Ist jemand in Unfrieden entlassen worden? Fühlt sich wer zu Unrecht gemaßregelt? Sagtest du nicht, der Täter habe sich beim Sprung ins Blumenbeet den linken Fuß verstaucht?» 183
Faber schlug sich an die Stirn. «Ich Trottel! Auf das Nächstliegende komme ich nicht! Die erste Maßnahme: feststellen, ob heute jemand auf dem linken Fuß hinkt!» «Frag nach Krankmeldungen und Fehlschichten! Vielleicht ist unser Mann darunter?», forderte Major Werner.
21 Ilona Clemens sah auf die Uhr; es war zehn Minuten über die übliche Teezeit. Die Kerze flackerte unter dem Teekännchen. Ilona rückte an der Schale mit den Keksen. Es gab nichts zu deuteln, Herbert Budach kam nicht. Es war erst einmal geschehen, daß er den Tee versäumte. Aber da hatte er angerufen und sich entschuldigt. Sie erinnerte sich an kleine Begebenheiten der letzten Tage. Jede für sich war unbedeutend, alle zusammen ließen aber nur einen Schluß zu: Herbert ging ihr aus dem Weg! Die Einsicht schmerzte sie, Ilona wußte keine Erklärung dafür. Sie hob den Telefonhörer und ließ ihn wieder sinken. Sie wollte sein Gesicht sehen, er war ein schlechter Lügner. Sie verließ die Bibliothek und lief in den ersten Stock hinauf. Im Flur kam ihr ein seltsamer Gedanke, als sie den leeren Fleck entdeckte, wo vor zwei Wochen noch das Bild mit den Birken hing. Hatte Herbert es abgenommen, weil sie gesagt hatte, daß es ihr nicht gefiel? Ein Hauptmann verließ Budachs Büro. Das war es also, dachte sie erleichtert; er hatte noch zu arbeiten. Gleich würde er eilig herauskommen. Doch die Tür blieb geschlossen. Sekundenlang verharrte sie, bevor sie anklopfte. Budach stand am Fenster und sah in die greifbar nahen Kiefernwipfel; er wandte sich ihr zu. Ilona Clemens stand neben der Tür. «Hast du unseren Tee vergessen?» 184
«’tschuldige, Ilona, ich hatte bis eben …» Er brach ab. «Oder magst du keinen Tee mehr?», fragte sie. «Habe ich dich irgendwie gekränkt? Du, das täte mir leid!» «Davon ist keine Rede!», versicherte er. «Seit drei Tagen gehst du mir aus dem Weg!» In ihrer Stimme schwang ein Vorwurf mit. «Es täte mir wirklich leid, wenn unsere Freundschaft durch ein Mißverständnis getrübt würde!» Er tat einige Schritte zu ihr hin, blieb aber wieder stehen. «Also gut, ich sage es dir! Ich habe ein Problem! Es hat nichts, rein gar nichts mit dir zu tun! Ehrenwort! Im Gegenteil, ich will dich nicht damit belasten!» «Du machst mir Sorge! Ist es die Krankheit deiner Tante?» «Das ist es nicht, Ilona! Tante hat die Gallenoperation gut überstanden. Die rappelt sich bald wieder auf! Komm, wir trinken jetzt den Tee!» Er täuschte Unbekümmertheit vor, aber sie merkte es. «Ich möchte nur wissen, was du hast. Irgendwie bist du verändert in letzter Zeit. Kannst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?» Er blickte stumm vor sich hin. «Ist es wegen des Bildes? Wegen der ‹Birken am Bach›, die mir nicht gefallen haben?» Budach starrte sie verblüfft an. «Wie – kommst du gerade auf dieses Bild?» «Wieso? Hat es mit deinem Problem zu tun?» «Ja!» Er erhob sich hastig und leerte seine Tasse stehend. «Ich muß telefonieren! Laß mich bitte ’raus!» Erst nach Dienstschluß sahen sie sich wieder. Ilona wartete vor der Wache auf ihn. Er hatte sie eingeladen, mit zu ihm nach Sinten zu fahren. Die Fahrt verlief zuerst schweigsam; jeder hing eigenen Gedanken nach. Ilona lachte verhalten. «Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch, wird man in deinem Dorf sagen!» Sie musterte ihn von der Seite. «In Sinten weiß jeder alles von jedem!», bestätigte er. Je näher sie seinem Heimatort kamen, desto bedrückter erschien er ihr. Ich bin verrückt gewesen, dachte sie. Ich habe mich aufgedrängt! Sie wollte ihm sagen, daß er umkehren sol185
le, falls es ihm lieber sei. Da bog er auf einen Parkplatz ab und hielt; sie musterte ihn erstaunt. «Hier treffe ich mich immer mit Schulz!» «Ich wollte schon fragen, ob du noch mit ihm in Verbindung stehst? Er hat nur zweimal bei meiner Nachbarin angerufen!» «Wir verabreden uns stets fürs nächste Mal!» Budach starrte vor sich hin, sah sie dann eindringlich an. «Ilona, sage es ehrlich! Die ‹Birken am Bach› sind mies – oder?» «Das stimmt! Daraus habe ich nie ein Hehl gemacht!» Sie lachte leise. «Sag bloß, du hast Schulz das Bild angedreht?» «Ja! Nachdem ich jedesmal das Gefühl hatte, dem ist es völlig egal, was er kauft! Sag mal, Ilona! Du hast ihn kennengelernt. Für wie ehrlich hältst du ihn?» «Der und ehrlich? Machst du einen Witz?» «Nein, den hat er sich mit mir geleistet! Er hat die ‹Birken am Bach› an einen Westberliner verkauft! Für zweihundert Westmark! Und die hat er mit mir geteilt!» Sie starrte ihn ungläubig an. «Unmöglich! Ganz ausgeschlossen! Entweder hat er fünfhundert kassiert und dich mit einhundert beteiligt …» «Das kannst du vergessen», unterbrach Budach, «es ist keine hundert Mark wert!» «Dann will er etwas anderes von dir!» «Das stimmt! Ich sollte ihm quittieren, einhundert Westmark empfangen zu haben! Das habe ich abgelehnt!» «Ist das dein Problem? Glaubst du, Schulz will dich in die Hand kriegen? Du meinst, er will dich erpressen? Der will etwas anderes, als mit deinen Bildern Geschäfte machen?» «Er heißt gar nicht Schulz!» «Woher weißt du das?» «Er hat es selbst gesagt. Er wickelt öfter Geschäfte nach drüben ab; deshalb tarnt er sich! Aber in Magdeburg wohnt er, denn sein Moskwitsch hat ein Magdeburger Kennzeichen!» Ilona legte erschrocken ihre Linke auf seinen Arm. «Herbert, hättest du doch in der Dienststelle den Mund aufgetan! Du mußt zu Major Zenker!» 186
«Daran habe ich auch gedacht, als er sagte, er hätte das Bild nach Westberlin verkauft!» «Lieber Himmel, wo bist du da ’reingeraten? Hast du mir auch alles gesagt? Oder gibt es etwas …» «Nein, nichts!», unterbrach er sie. «Wie ist der Kerl auf dich gekommen?» «Zufall! Er hat die Bilder im Gasthaus gesehen und …» «Von wegen Zufall! Daran glaube ich nicht. Du, der macht das doch nicht zum Spaß! Da steckt etwas anderes dahinter!» Budach öffnete das Handschuhfach und nahm einen Zettel heraus. «Das ist das Kennzeichen von seinem Moskwitsch: HL vierunddreißig Strich zwölf!» «Wir sollten auf der Stelle umkehren, Herbert! Aber Zenker ist nicht mehr da. Versprich mir, daß wir gleich morgen früh zu ihm gehen!» «Ja! Du, jetzt ist mir wohler!» Er nahm sie in die Arme und küßte sie. Ilona war von dem Haus und dessen romantischer Lage begeistert. Im Flur verrieten drei helle Flecke auf der Tapete, daß dort Bilder gehangen hatten. Herbert gestand, daß er sie an Schulz verkauft hatte. Es hatte ihm gefallen, plötzlich nicht mehr jede Mark umdrehen zu müssen, ehe er sie ausgab. Sie wollte seinen Arbeitsplatz sehen, aber er machte Ausflüchte. Da sie nicht abließ, ihn zu drängen, führte er sie endlich in die Bodenkammer hinauf. Er nannte sie spöttisch sein «Atelier». Die Schieferschindeln waren entfernt und an deren Stelle Glasfenster eingesetzt worden. Auf der Staffelei standen zwei kleinformatige Bilder nebeneinander, zwei halbfertige Wassermühlen. Ilona sah fragend auf Herbert. Dem war es peinlich, daß sie hinter sein Geheimnis gekommen war. «Er hat geredet und geredet und …» Er brach ab. «Und du bist auf den Geschmack gekommen!», ergänzte sie trocken. «So ein Bild bringt hundertfünfzig bar auf die Hand! Aber jeden Pinselstrich doppelt, sind es dreihundert! Und das läßt sich noch ausbauen! Drei, vier Staffeleien! Und 187
du wanderst mit Pinsel und Palette an den Leinwänden entlang!» «Hör auf!», forderte er und ergriff einen Farbtopf mit lila Farbe. Ehe Ilona begriff, tauchte er einen Pinsel hinein und strich kreuz und quer über beide Motive hinweg. «Das mußte nicht sein», sagte sie bedauernd. Er lachte, doch es klang nicht fröhlich. «Das Schlimme ist, es macht mir keinen Spaß mehr, seit ich weiß, daß bei Schulz …» «Der gar nicht Schulz heißt», warf sie ein. «… nur die Stückzahl zählt!» Am Abend spazierten sie durchs Dorf, gingen Arm in Arm und ließen bei den Beobachtern hinter den Gardinen keinen Zweifel darüber aufkommen, wie sie zueinander standen. In der Nacht erwachte Budach, tastete schlaftrunken neben sich und flüsterte Ilonas Namen, aber seine Hand griff ins Leere. Die junge Frau kauerte im Sessel am Fenster und blickte nach draußen, auf die mondbeschienene Hügellandschaft. «Ilona?» «’tschuldige, ich wollte dich nicht wecken!», flüsterte sie. «Ich kann nicht mehr einschlafen! Ich denke dauernd an diesen Kerl! Wie spät ist es?» «Halb drei! Du wirst dich erkälten! Komm ins Bett! Ich spreche morgen mit Major Zenker!» Sie legte sich zu ihm und schmiegte sich an ihn. Ilona Clemens und Herbert Budach warteten ungeduldig im Stabsgebäude auf den Major. Dann kam er, wie immer in Eile. Zenker löste die Siegel an seiner Dienstzimmertür und bat sie einzutreten. Scherzhaft wandte er sich an die Bibliothekarin: «Was denn, Genossin Clemens, hänge ich etwa mit einem Buch?» «Es ist ein ernster Anlaß, Genosse Major», erklärte Budach. «Setzen wir uns! Worum geht’s?» Zenker hörte aufmerksam zu. Als der Kulturhausleiter schwieg, bestätigte der Major die stichhaltigen Verdachtsgründe. Das Gebaren dieses Mannes, der sich Schulz nannte, merk188
würdigerweise aber einräumte, daß der Name ein Pseudonym war, erschien mehr als zwielichtig. «Sie haben sich beide korrekt verhalten», bestätigte Zenker. «Der Fall scheint alles andere als harmlos. Es war richtig, daß Sie sich an mich gewandt haben! Ich gebe es weiter! Gehen Sie jetzt in Ihre Dienstzimmer, und erwarten Sie dort meinen Anruf!» Es dauerte keine Viertelstunde, da teilte ihnen Major Zenker mit, daß sie ein PKW nach Bardenberg zur Dienststelle der Staatssicherheit bringen würde. Ein junger Genosse führte sie in das Zimmer des Leiters. Major Reiter kam ihnen entgegen und begrüßte sie. «Genosse Zenker hat mich informiert.» Noch einmal beschrieb Budach alle Begegnungen mit Schulz und dessen zunehmend merkwürdiger werdendes Verhalten. Major Reiter stellte Fragen. Seine Miene verriet anfangs Zurückhaltung, wurde aber nach und nach immer aufgeschlossener. «Ich wiederhole, was Genosse Zenker Ihnen gesagt hat», erklärte er schließlich. «Sie haben das Richtige getan, als Sie sich an ihn gewandt haben. Ich teile die Meinung, daß es offenbar um mehr geht als um Geschäftemacherei! Ist das aber der Fall, dann ist dieser Schulz nur eine Marionette. Noch können wir ihm nichts beweisen. Ihn unschädlich zu machen genügt nicht. Wir brauchen auch die, die hinter ihm stehen!» «Schulz ist ein Spion?», fragte Budach und schluckte aufgeregt. «Im Moment sind wir noch dabei, bestimmte Erkenntnisse auszuwerten.» Reiter musterte aufmerksam seine Besucher. «Eine indiskrete Frage: Trifft mein Eindruck zu, daß Sie beide in einem engen persönlichen Verhältnis zueinander stehen?» Die Antwort erübrigte sich. «Doch, ja!», bestätigte Budach und lächelte. «Sehr schön», behauptete Reiter, «das vereinfacht manches!» Der Major wollte wissen, ob sie beide bereit wären, dabei zu 189
helfen, einen gefährlichen Gegner unschädlich zu machen. Man würde alles vermeiden, sie in persönliche Gefahr zu bringen, dennoch verlange die Aufgabe Kaltblütigkeit. Denn beim ersten Verdacht, daß man ihm eine Falle stellte, würde Schulz abspringen. «Da gibt es überhaupt nichts zu überlegen!», versicherte Budach, und Ilona nickte. «Übrigens habe ich das Kennzeichen von seinem weißen Moskwitsch notiert. HL vierunddreißig Strich zwölf. Schulz wohnt im Bezirk Magdeburg.» Reiter notierte die Zahlen. «Wir werden es überprüfen.» «Soll ich weiter Kontakt mit ihm halten?», fragte Budach. «Jawohl – und nicht nur das! Gehen Sie darauf ein, wenn er weitere Bilder von Ihnen zu kaufen wünscht. Tun Sie es mit gewisser Zurückhaltung. Mimen Sie den Mann mit zwei Seelen in der Brust, Genosse Budach. Sie sind zwar scharf auf das Geld, fürchten aber um Ihre Position! Irgendwann wird er mit seiner wahren Absicht herauskommen. Dann sehen wir weiter!» «Und was kann ich dabei tun?», fragte Ilona. «Ich habe doch richtig verstanden», erklärte Major Reiter, «daß dieser Schulz vor allem Ihnen verdankt, daß er ins Bildergeschäft eingestiegen ist? Er weiß also, daß Sie nicht ohne Einfluß auf Genossen Budach sind und wird es nutzen wollen! Warten wir es ab und entscheiden von Fall zu Fall!» Major Reiter gab Budach eine Telefonnummer, die den sofortigen Kontakt ermöglichte. Als er Ilona Clemens und Herbert Budach verabschiedete, ermahnte er sie noch einmal zur Vorsicht. Die ersten Stunden im Bauwagen vergingen wie im Fluge. Es galt, die Installation zu vollenden. Wolfgang übernahm den ersten Posten an der Optik und entdeckte am Denkmal nur einen Schäferhund. Es regnete wieder, und der Park lag wie ausgestorben da. Am Abend schob sich die Sonne durch die Wolken, Spaziergänger wagten sich heraus, aber sonst geschah nichts. 190
«Morgen abend bin ich verabredet!» Peter hatte den Posten an der Optik übernommen und seufzte. Der vierundzwanzigjährige Athlet mit dem rötlichen lockigen Haar und den nicht zu übersehenden Sommersprossen schloß: «Sie stammt aus Gera, ist Laborantin im neuen Werk. Das Mädel hat genau meine Kragenweite!» «Das sagst du jedesmal», erinnerte Wolfgang ihn spöttisch. «Stell dir vor, der Kerl käme erst in vier Wochen?», äußerte Peter besorgt. «Wir werden regelmäßig abgelöst», tröstete Wolfgang. Der Postenwechsel erfolgte jede zweite Nacht mit angemessener Absicherung. Eine blaue Signallampe brannte. Wolfgang streifte den Kopfhörer samt Kehlkopfmikrofon über und schaltete. «Hier Habicht, Adler kommen!» «Adler an Habicht. Wie ist der Empfang?» «Einwandfrei!» «Ab zweiundzwanzig Uhr alle zwei Stunden melden! Ende!» «Habicht, verstanden! Ende!» Wolfgang legte den Kopfhörer ab. Peter meldete ein Liebespaar in der Nähe der Nixe. Er ließ es nicht aus den Augen. Es war möglich, daß der Uhrenempfänger sich tarnte. Das Nachtsichtgerät lieferte leider keine Paßfotos. Peter versah den Posten bis null Uhr; Wolfgang streckte sich auf dem Feldbett aus und versuchte zu schlafen. Um dreiundzwanzig Uhr machte Peter einen streunenden Hund aus. Um null Uhr meldete er wieder an Adler, daß es keine Vorkommnisse gäbe, und rüttelte Wolfgang wach. Der erhob sich gähnend; Peter kroch unter die Decke und schlief sofort ein. Gegen vier Uhr wurde es hell. Um fünf Uhr dreißig begann für Peter die letzte halbe Stunde an der Optik. Draußen herrschte ein trüber Morgen. Plötzlich gab es Peter einen Ruck. Wie aus dem Boden gewachsen stand bei der Nixe ein Mann. Er war mittelgroß und stämmig, hatte den Anorakkragen hochgeschlagen und die Mütze ins Gesicht gezogen. Er 191
holte eine Zündholzschachtel hervor, riß ein Hölzchen an und hielt es an seine erloschene Zigarre. Dabei spähte er aufmerksam umher: «Wolfgang, das ist er – oder ich freß einen Besen!», rief Peter und drückte auf den automatischen Auslöser der Kamera; von nun an klickte es jede Sekunde. Wolfgang sprang hellwach vom Feldbett, streifte den Kopfhörer über und legte den Schalter um. «Habicht für Adler!» «Adler! Habicht kommen!» «Waldbrand!» Das Codewort löste Alarm aus. Zwei Genossen rannten aus dem Bereitschaftsraum zum fahrbereiten Lada. Das Gartentor schwang auf, und der PKW schoß auf die Straße hinaus. Der Beifahrer schaltete das Funkgerät auf die Frequenz von Habicht und Adler. «Hier Adler! Bussard, hören Sie mit?» «Hier Bussard! Wir hören!» «Habicht für Adler und Bussard! Person ist mittelgroß, stämmig, etwa Mitte vierzig. Der Mann tut noch unschlüssig und geht um den Sockel. Bekleidung: Schirmmütze, dunkler Anorak, dunkle Hose!» «Adler verstanden! Bussard, haben Sie mitgehört?» «Bussard verstanden!» «Adler an Habicht! Berichten Sie weiter!» «Hier Habicht! Person wirft Zigarre weg, kehrt um, steht vor Objekt, bückt sich und entfernt den Stein!» Sachlich und minutiös schilderte Wolfgang, was er beobachtete. Auch Peter ließ jetzt keinen Blick von dem Mann. Der steckte etwas silbrig Blinkendes in seine Tasche und fügte den Stein wieder ein. Er lief nicht etwa hastig davon, sicherte vielmehr nach allen Seiten und ging ohne Eile in Richtung Hellstetter Chaussee. Das Klicken der Kamera verstummte. Habicht blieb auf Empfang. Wolfgang fühlte Peters derben Handschlag auf der Schulter. «Mensch, der heutige Abend ist gerettet!» «Warte es ab!», riet Wolfgang skeptisch. 192
Der PKW erreichte die Hellstetter Chaussee und stoppte; zweihundert Meter voraus hielt ein Lada. Vom Park her kam ein Mann näher, und Bussard meldete an Adler, daß die Person erkannt sei. Der Beifahrer hob die Kamera mit dem Teleobjektiv und schoß ein Foto, als die Person die Fahrertür öffnete.
22 Faber traf den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei, einen älteren Meister der VP, in seinem Garten. «Es betrifft den Bürger Schreiber, Lüsinger Straße fünfzehn», sagte Faber. «Etwas Bestimmtes?» «Nein, ganz allgemein», erklärte Faber. Er las täglich die Zeitungsannoncen, Quarzarmbanduhren wurden nicht mehr angeboten; vielleicht waren Schreiber und Blaschke auf andere Artikel umgestiegen? «Ist es, weil er von zu Hause weg ist?» «Schreiber ist von seiner Familie fort?», wiederholte Faber. «Mit Sack und Pack, wie man so sagt. Wo er jetzt wohnt, weiß ich nicht. Er arbeitet bei der Firma Wehrhahn.» Faber fuhr zu Wehrhahn. Dort wußte man sicher, wo Schreiber wohnte. Die fünfköpfige Belegschaft saß beim Frühstück. Auf Tischen und Bänken lagen Puppenköpfe, Arme und Beine. Es wirkte wie die Kulisse eines Gruselfilms. Der einzige nicht zur Familie gehörende Mitarbeiter war nicht anwesend. Die Frage nach Schreiber schien dem Chef unangenehm. «Hat er was angestellt?», fragte Wehrhahn besorgt. «Es ist privat», erwiderte Faber, «in der Lüsinger Straße wohnt er ja nicht mehr.» Der Alte erklärte, daß Schreiber nach einem Streit mit seiner 193
Frau ins Wehrhahnsche Gartenhaus umgezogen sei. Faber ließ sich die Gartenkolonie beschreiben. Auf dem kleinen, von Fachwerkhäusern umgebenen Platz parkte neben Fabers Wartburg Schreibers blauer TrabantKombi. Suchend blickte sich Faber um. Da sah er, wie Schreiber mit einem Beutel in der Hand die orthopädische Schuhmacherei verließ und seinen Trabant ansteuerte. Faber entdeckte in dem Beutel ein Paar hohe Schnürschuhe und sah unwillkürlich auf Schreibers Füße. Der frühere Vertreter trug Spezialschuhe, die einen Gehfehler ausgleichen sollten. Der rechte Schuh besaß eine viel dickere Sohle als der linke. Schreiber öffnete die Trabanttür und warf den Beutel auf die hintere Sitzbank. Der Leutnant trat zu ihm. «Herr Schreiber? Guten Tag! Ich heiße Faber. Sie werden sich kaum erinnern. Es ist etliche Wochen her, da habe ich auf Ihre Annonce geschrieben!» «Ja?» Schreiber dachte nach. «Sie kamen zu mir, zur Hellstetter Chaussee, trafen mich aber nicht an. Mein Wirt empfahl Ihnen, im VolkspolizeiKreisamt nachzufragen. Sie kamen aber nicht!» Schreiber wurde rot und wieder blaß, fing sich aber und nickte. «Ja, ich weiß, an dem Abend klappte es nicht mehr, und am andern Tag ging die Uhr weg.» «Das dachte ich mir», sagte Faber, «hatten Sie nur die eine?» «Ja. Woher kennen Sie mich denn?» «Ich habe Sie noch nie gesehen», behauptete Faber, «aber ein blauer Trabant-Kombi mit einem so auffälligen Kennzeichen! War die Uhr ein westdeutsches Fabrikat?» «Ja, ein Geschenk von meinem Cousin. Ich mag aber keine Digitaluhren!», klang es gleichmütig. Wenig später berichtete Faber in der Dienststelle Major Werner. «Du, Erwin, bei mir ist der berühmte Groschen gefallen! Ich habe vorhin Schreiber getroffen. Die orthopädischen Schuhe!» «Was denn für orthopädische Schuhe?» 194
«Schreiber trägt rechts einen Spezialschuh mit dicker Sohle, der seinen Gehfehler ausgleicht!» «Na und?», fragte Werner. «Schreiber gehörte zwanzig Jahre als Vertreter zur Spielzeugfabrik und wußte sicher, wo der Schlüssel zur Sammlung versteckt wurde! Und sauer war er auch, da er seinen Job verloren hat! Seine Spezialschuhe hätten Schreiber verraten, deshalb beschaffte er sich normales Schuhwerk!» «Und darin hinkt er auf dem rechten Fuß! Ein verstauchter linker Fuß und ein zu kurzes rechtes Bein, beide hinterlassen einen tieferen rechten Abdruck! Also gut, wir fordern vom Staatsanwalt einen Durchsuchungsbefehl für Wehrhahns Laube an!» Kurz vor der Mittagspause, Mulewski war schon essen gegangen, kam Schreiber. Er trug die Reisetasche bei sich, aber, wie es schien, ohne die Geldkassette. Er setzte sich auf den Kundenstuhl und sah auf seine Armbanduhr. Blaschke schrieb gerade einen Anzeigentext. Er ließ merken, daß er von dem Besuch nichts hielt. «Sie gehen mir langsam auf die Nerven», sagte er, «ich kann nichts ranzaubern!» «Vielleicht doch», erwiderte Schreiber und lächelte vielsagend, «ich bringe was!» «Ach ja?» Blaschke musterte die beulende Tasche. «Nicht hier», sagte er. Die Jalousie vor der Ladentür war nicht herabgelassen. Blaschke lief ins Büro, Schreiber folgte ihm und öffnete die Reisetasche. Er nahm ein Spielzeug heraus, zog das Federwerk auf und stellte einen Schutzpolizisten mit Tschako und in der Uniform der zwanziger Jahre auf den Schreibtisch. Der Schupo regelte mit eckigen Bewegungen einen imaginären Verkehr. Schreiber beobachtete sein Gegenüber, vermochte aber von dessen Gesicht nichts abzulesen. «Haben Sie noch mehr?», fragte Blaschke und rauchte eine Zigarre an. «Gewiß», sagte Schreiber und stellte einen Schmied am Amboß dazu und ein Huhn, das Körner pickte. 195
Blaschke tat gleichmütig und paffte. Schreiber schnüffelte genießerisch. Obwohl Nichtraucher, mochte er den Duft guter Zigarren. Daß Blaschke nicht reagierte, enttäuschte ihn. Doch dann erhob sich der Leipziger, trat an den Sekretär und kramte zwischen Zeitungen. Er kam mit einem Exemplar an den Schreibtisch zurück und blätterte darin. Dann schob er Schreiber die Zeitung hin und zeigte auf einen Bericht. Schreiber sah nur flüchtig darauf und winkte ab. Er kannte die Reportage. «Sie sind wahnsinnig», flüsterte Blaschke, «hier mit heißer Ware aufzukreuzen! Egal, ob Sie das Ding gedreht haben oder ein anderer. Was ist das Zeug denn wert? Und was riskieren Sie dafür?» «Dreck ist es nicht!», sagte Schreiber und hoffte, daß der andere nur den Preis drücken wollte. «Verschwinden Sie bloß mit dem Mist!», grollte der Leipziger. Schreiber spürte, daß Blaschke nicht scherzte, und sah seine Felle davonschwimmen; Resignation überkam ihn. Blaschke dachte nach. Grindels Hinweis fiel ihm ein. Der hatte einmal gesagt, daß es eine gute Provision brächte, einen V-Mann zu tippen. Das geschah auf verschiedene Weise. Einmal blieb der Tipper anonym, und ein Reiseagent nahm den Kontakt auf. Oder aber der Tipper holte bereits das Einverständnis der Zielperson ein; das setzte aber gegenseitiges Vertrauen voraus. Hatte er Vertrauen zu Schreiber? Schreiber war einerseits ein biederer Kaufmann, für den ein Handschlag verbindlich war, andererseits aber nicht zimperlich, wenn es eine Verdienstmöglichkeit gab. Allein auf Vertrauen zu bauen wäre riskant, fand Blaschke, aber Vertrauen gepaart mit Furcht, das war eine Verbindung, die hielt! «Erinnern Sie sich, daß ich angedeutet habe, etwas für Sie zu wissen?», begann Blaschke umständlich. Schreiber blieb nur an dem Spielzeug interessiert und winkte ab. «Erledigen wir erst das eine. Wieviel bieten Sie?» «Nichts! Heiße Ware faß ich nicht an!» 196
Schreiber starrte ihn ungläubig an. Blaschke hielt die Zeit für gekommen, offen mit ihm zu reden. «Wovon ich spreche, das ist kein Bombengeschäft, aber ein Zubrot!» Auf dem Gesicht des Bardenbergers erschien der Anflug eines Interesses. «Ich rede, falls Sie einverstanden sind, mit meinem Cousin darüber!» «Mit dem Frankfurter? Der Ihnen keine Ware mehr liefert?» Die Anteilnahme auf Schreibers Gesicht erlosch. «Was sollte ich denn für ihn tun?» «Nichts Weltbewegendes, eigentlich nicht mehr, als die Augen offenhalten!» «Das verstehe ich nicht.» «Mein Cousin ist Journalist, und …» «Ich denke, Kaufmann?», unterbrach Schreiber. «Das auch.» Blaschke geriet aus dem Konzept und sagte gereizt: «Sie ahnen nicht, wie es drüben langgeht! Da muß man wendig sein! Wer nicht in mehreren Sätteln fest ist, wird an die Wand gequetscht!» «Ihr Cousin wohl kaum! Lassen Sie schon die Katze aus dem Sack!» Einen Herzschlag lang zögerte Blaschke,’ es könnte falsch sein, Schreiber einzuweihen. Doch er unterdrückte die mahnende innere Stimme. «Mein Cousin ist an Nachrichten aus der DDR interessiert! Nicht an solchen, die er sich offiziell beschaffen kann, vielmehr an internen!» Schreiber erschrak. Eine Faust schien sein Herz zusammenzupressen. Hatte er Blaschke richtig verstanden? Er zwang sich, gleichmütig zu fragen: «Darunter kann ich mir nichts vorstellen. Was denn für interne Nachrichten?» «Mein Cousin würde jeweils mitteilen, was er wissen will», antwortete Blaschke, als spräche er von einer alltäglichen Sache. «Es sind wirklich nur Kleinigkeiten. Zum Beispiel könnte er über einen bestimmten Mann wissen wollen, welchen Aufwand er treibt, ob er im Ausland Verwandte besitzt, wie seine finanzielle Lage ist und welche Hobbys er hat.» 197
«Aha, das schreiben Sie dann Ihrem Cousin nach Frankfurt?» Schreiber tat naiv. «Aufschreiben ja, aber zustellen nicht per Post», erklärte Blaschke harmlos. «Mein Cousin fährt oft im Transit nach Westberlin. Die Nachrichten für ihn deponiert man an einer verabredeten Stelle!» «Einen Toten Briefkasten nennt man das!», erklärte Schreiber trocken. Blaschke spionierte für seinen Cousin in Frankfurt; wahrscheinlich bekam er dafür die Quarzuhren und das andere Zeug. Schreiber wartete gespannt, wie weit sein Gegenüber die Karten aufdecken würde; er hatte ihn cleverer eingeschätzt. «Und was kriegt man dafür?», fragte er. «Das kostet doch Zeit und macht Laufereien!» «Das hängt von der Aufgabe ab», wich Blaschke aus. «Ihr Cousin soll Journalist sein? Das glaube ich nicht», erklärte Schreiber. «Ist er überhaupt mit Ihnen verwandt? Für welche Firma arbeitet er denn? Ich staune über Ihre Kaltblütigkeit, Herr Blaschke. Wieso setzen Sie eigentlich voraus, daß ich Sie nicht in die Pfanne haue?» Blaschke erwiderte: «Nun halten Sie mal die Luft an, Schreiber! Sie haben’s nötig! Sie haben ein perfektes Ding gelandet – oder nicht? Sie werden sich hüten, mich zu verzinken!» «Das sehen Sie falsch, Blaschke!» Der Leipziger zuckte wie von einer Ohrfeige getroffen zusammen. Er starrte Schreiber verblüfft an. «Sehen Sie, als guter Staatsbürger würde ich jetzt zur Polizei gehen und sagen, so und so, der Blaschke spioniert. Zwar hat er mich in der Hand: gemeinsamer Schwarzhandel! Und ich blöder Kerl dachte, auf einen grünen Zweig zu kommen, wenn ich mir Spielzeug unter den Nagel reiße!» Blaschke wurde blaß, schluckte und sah beunruhigt, daß Schreiber das alte mechanische Spielzeug in seine Tasche packte. Das Schloß schnappte laut, Blaschke erschien es wie ein Schuß. «Es ist alles noch vorhanden, sage ich», fuhr Schreiber immer überlegener fort, «und da kein Schaden entstanden ist, käme tätige Reue zum Zuge – und Bewährung!» 198
Blaschke donnerte seine Faust auf den Tisch. «Hören Sie auf, Sie sind ja verrückt!» «Schon gut, schon gut», beschwichtigte Schreiber. «Ich sage ja, das täte ich, wenn ich ein guter Staatsbürger wäre. Leider bin ich keiner», er seufzte theatralisch, «sondern nur ein armes Luder, das, zugegeben durch eigene Schuld, im Dreck steckt! Noch ein paar Wochen, dann bin ich blank! Dann ist mir alles Wurscht! Ehrlich! Dann schon lieber gesiebte Luft als leere Taschen!» Blaschke wischte über den Tisch. «Sie reden puren Mist, Schreiber! Sprechen Sie erst mal mit meinem Cousin, dann sehen wir Weiter!» «Sagen Sie ihm, daß er was ’ranschaffen soll, sonst darf er sich hier nicht mehr sehen lassen! Und Sie gehen mit ihm hoch!» Blaschke unterdrückte mühsam die in ihm aufsteigende Wut. Er beobachtete Schreiber aus den Augenwinkeln. Der zahlte zurück, was er bisher einstecken mußte, wenn er die Preise diktiert bekam. Er zeigte auf die Reisetasche. «Packen Sie aus, ich zahle einen vernünftigen Preis!» Schreiber schüttelte den Kopf. «Nein, nicht für tausend Mark das Stück! Wissen Sie, was ich mache? Ich tu’s in zwei Schließfächer und schicke die Schlüssel an die Kripo! Was geben Sie mir denn heute mit?» Die Frage klang ultimativ und war auch so gemeint. Blaschke verwünschte seine Einfalt, Schreiber falsch eingeschätzt zu haben. Dem würde nicht viel passieren, wenn er das Spielzeug zurückgäbe. Für ihn selbst bedeutete es das Ende. Blaschke überlegte fieberhaft. Zeit gewinnen, dachte er, ich muß Zeit gewinnen. Er würde Grindel verständigen, welche Panne passiert war, würde sagen, daß er erpreßt wurde. «Siering und Fengler» mußten ihn dann in die BRD ausschleusen! «Also gut», sagte er und zwang sich zur Freundlichkeit, «ich glaube Ihnen, daß Ihre Lage nicht rosig ist. Machen Sie erst mal wieder ein paar Mäuse, dann sehen wir weiter!» 199
Blaschke stand auf und ging in den Flur. Schreiber hörte die Kellerklappe knarren; als er zurückkam, schleppte der Leipziger einen Karton voll Ware. Es war mehr, als er erwartet hatte. «Handeln Sie jetzt auch mit Bildern?», fragte Schreiber und zeigte auf einige ungerahmt an der Wand lehnende Gemälde. Blaschke verzog spöttisch die Mundwinkel. «Sind Sie daran interessiert? Darüber können wir reden!» Die Angst lähmte Schiffer. Sie nagte an ihm wie eine schleichende Krankheit, machte seinen Blick stumpf und kerbte Falten in sein Gesicht. Nachts wachte er schweißgebadet auf und lag stundenlang wach. Wie das Päckchen mit der Tonbandkassette, so hatte auch ein Brief auf der Sitzbank gelegen mit der Weisung, wie die Kamerauhr zu handhaben war. Es erschien einfach. Schwieriger dagegen war es, mit dem Codeschlüssel, dem der Duden zugrunde lag, umzugehen. Es dauerte Stunden, bis er die Zahlenblöcke entschlüsselt hatte. Weshalb wurde ihm die Nachricht nicht ebenso zugestellt wie die Anleitung? Die Antwort war einfach: Er sollte üben, mit codierten Nachrichten umzugehen. Schiffer hatte einen Urlaubstag genommen und war mit dem Lada zur Lüsinger Chaussee gefahren. Auf einem Feldweg stellte er den PKW ab und lief eine knappe Stunde durch den Wald, bis er das Gehölz gegenüber der NVA-Dienststelle erreicht hatte. Auf Händen und Füßen kroch er zum Straßenrand. Es war zeitiger Nachmittag. Schiffer wußte nicht, wann die Zivilbeschäftigten ihren Dienst beendeten. In dem Gesträuch herrschte feuchte Schwüle. Aus dem vermoderten Laub stiegen Mückenschwärme und kleine Fliegen empor. Hilflose Wut überkam ihn, auf sich und auf den Unbekannten, der so riskante Dinge von ihm forderte. Wer war denn Paul wirklich? An den Schriftsteller glaubte er nicht. Sicher hatte er es mit keiner Einzelperson zu tun. Vielleicht war Paul auch nicht besser dran als er und bekam Befehle? Die Unge200
wißheit, welche Aufträge er künftig auszuführen hatte, bedrückte Schiffer am meisten. Er schätzte die Entfernung bis zur Pforte auf fünfzig Meter und stellte die Kamera entsprechend ein. Die Bedienungsanleitung war verständlich abgefaßt, aber wie vermied er, daß das Laub der Sträucher nicht die Optik verdeckte? Er durfte sich ja nicht zu weit vorwagen. Öfters trat ein Wachtposten vor die Pforte und blickte herüber. Schiffers Hände zitterten. Er trocknete mit dem Taschentuch das schweißnasse Gesicht. Die Gier zu rauchen setzte ihm stärker zu als die Insekten. Gesicht, Nacken und Hände waren zerstochen. Er hätte an Mückenspray denken sollen. Schiffer lauerte schon zwei Stunden in den Sträuchern. Ab und an wurde das Gittertor geöffnet und der Schlagbaum angehoben, Kraftfahrzeuge fuhren heraus oder bogen in die Dienststelle ein. Der Posten vollzog jedesmal dieselbe Prozedur: öffnete das Tor und schloß es hinter dem Fahrzeug, prüfte die Dokumente und hob den Schlagbaum. Zwei Frauen kamen heraus, eine ältere und eine jüngere. Schiffer drückte den Auslöser. Ein Windhauch bewegte die Zweige, und Schiffer war nicht sicher, ob nicht die Blätter die Optik verdeckt hatten. Nacheinander passierten jetzt Männer und Frauen in Zivil die Pforte. Zuletzt verließen eine junge Frau und ein Mann die Dienststelle. Sie sprachen vertraut miteinander; Schiffer drückte den Auslöser. Die beiden liefen zu den geparkten PKWs. Der Mann öffnete einen alten Wartburg und setzte sich hinter das Lenkrad. Die üppige junge Frau stieg zu ihm ein. Schiffer kroch rückwärts. Es dauerte eine Stunde, bis er seinen Lada erreicht hatte. Schiffer beschloß, gleich nach Hilgendorf zu fahren und die lästige Aufgabe hinter sich zu bringen. In einem Ort vor Hilgendorf hielt er bei einer Gärtnerei und kaufte einen Nelkenstrauß. Dann fuhr er weiter. Vor dem Friedhof parkte er den Wagen auf der dafür vorgesehenen Schotterfläche. «Er ist da», sagte Peter und richtete sein Fernglas auf den 201
PKW. Im Hilgendorfer Landambulatorium hatte ihnen die leitende Ärztin ein Zimmer im ersten Stock des alten Fachwerkhauses überlassen. Wolfgang trat ans Fenster, übernahm das Glas und bestätigte Peters Meldung. Der Mann verschloß die Tür des Ladas und trat mit einem Blumenstrauß in der Hand durchs Friedhofstor. Schiffer folgte dem Hauptweg, an dessen Ende sich die Kapelle aus roten Klinkersteinen erhob. Der versandete Kies knirschte kaum unter seinen Füßen, Schiffer schritt durch die Grabreihen. Die vierte war es, er blieb stehen und sah sich um. Irgendwo klirrte ein Spaten, da hob man wohl eine frische Grube aus. Die jahrzehntealten Gräber waren dicht bewachsen. Anna Senftleben war im gesegneten Alter von vierundachtzig Jahren verstorben; ihr Grab war mit Efeu bedeckt; eine Konifere beschattete den Stein. Schiffer spähte umher, bückte sich, legte die Blumen ab und tastete unter dem Lebensbaum im Efeu. Das Versteck schien ihm sicherer als der Denkmalssockel. Er fand eine Blechschachtel und öffnete sie; ein Zwanzigmarkschein in Westwährung lag darin. Schiffer steckte ihn ein, großzügig war der Unbekannte nicht. Die winzige Filmspule tat er in die Schachtel und legte einen Zettel dazu, den er mit Druckbuchstaben beschrieben hatte: «Bis auf weiteres krank!» Er wußte nicht, wie der Unbekannte darauf reagieren würde und schob die Schachtel unter die immergrünen Ranken. Wenig später bekam die vor zwanzig Jahren Verstorbene erneut Besuch. Wolfgang sicherte, Peter fotografierte den Zettel, öffnete die Spule und belichtete damit den Film. In der BND-Zentrale würde man die Panne sicher der Ungeschicklichkeit des neuen V-Mannes zuschreiben.
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23 Major Werner legte das vom Staatsanwalt unterschriebene Formular auf Fabers Schreibtisch und sagte eindringlich: «Damit es kein Mißverständnis gibt, Uwe: Die Verdachtsgründe sind mager! Der Meinung ist auch Staatsanwalt Winkler!» «Ich weiß», bestätigte Faber seufzend, «wenn du nicht mit deinem Prestige dahinterstündest …» «Das stimmt zwar zum Teil», unterbrach Werner, «es hat mitgezählt, aber Winkler und ich haben alles Für und Wider erwogen. Den Ausschlag gab, daß Schreiber einen verfälschten PA benutzt hat! Das ist ein Fakt! Ich lasse dir freie Hand, aber denke daran, daß es zwei verschiedene Delikte sind! Der Diebstahlsverdacht besteht rein hypothetisch …» «Aber die Indizien!», warf Faber ein. Werner winkte ab. «Ich weiß, worauf du spekulierst. Findest du nichts, was den Diebstahlsverdacht erhärtet, wirst du vielleicht in der Sache Schwarzhandel fündig!» Faber griente, weil er sich durchschaut sah. Major Werner hatte wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen. Doch wichtiger erschien ihm, was der Major nicht erwähnte: Es gab keinen Zweifel mehr an der engen Beziehung zwischen Schreiber in Bardenberg und Blaschke in Leipzig. Wenn auch offen blieb, wer von beiden der Dominierende war, so stand doch außer Zweifel, daß der Leipziger für seinen Moskwitsch gefälschte Kennzeichen verwendete. «Wie gehst du vor? Wen nimmst du mit?» Faber beantwortete die zweite Frage zuerst. «Genossen Schott!» «Dem entgeht so leicht kein Versteck! Du brauchst einen Zeugen, hast du daran gedacht?» «Es regnet ausnahmsweise mal nicht», erwiderte der Leutnant zuversichtlich, «in irgendeinem Garten wird man sich mit Hacke und Spaten beschäftigen, denke ich!» «Das Umgraben sollte Mitte Mai vergessen sein», erinnerte Werner. 203
«Und was passiert mit Blaschke?» «Komm schon heraus mit der Sprache! Ich habe den Eindruck, daß alles, was du im Falle Schreiber unternimmst, mit Blick auf Blaschke geschieht! Der war deine Entdeckung. Bei deiner Hartnäckigkeit, die ich durchaus zu schätzen weiß, wärst du drangeblieben, aber da kam deine Versetzung hierher!» Major Werner schob die Hände in die Hosentaschen und wanderte im Zimmer auf und ab. Faber widersprach ihm nicht. «Wenn es nach mir ginge», erklärte er, «würde zur gleichen Zeit bei Blaschke eine Durchsuchung stattfinden!» «Einmal sind wir für Leipzig nicht zuständig», erklärte Werner, «und zweitens besitzen wir gegen Blaschke keine Handhabe!» «Zählen die gefälschten Kennzeichen nicht?» «Könnten wir ihn mit den Dingern am Wagen stellen oder würden sie bei einer Durchsuchung gefunden, dann ja! Was aber, wenn er sich ihrer längst entledigt hat? Dann bestreitet er, jemals andere als die echten besessen zu haben! Dann steht deine Aussage gegen seine! Er muß ja nicht beweisen, daß er unschuldig ist! Wir müssen ihn der Straftat überführen! Verlaß dich darauf, Uwe», tröstete Major Werner, «sobald ein handfester Beweis für die Komplizenschaft Schreibers mit Blaschke vorliegt, bin ich am Fernschreiber, und die Leipziger Genossen sehen sich seinen Laden an!» Der Major blickte auf seine Armbanduhr und sagte: «Der Barkas steht fahrbereit!» In Werners Zimmer läutete das Telefon; er ging hinüber und hob den Hörer. Reiter meldete sich. «Ich will nur wissen, ob du im Hause bist. Bitte, warte auf mich!» Ohne eine Bestätigung abzuwarten legte er auf. Faber und Schott saßen im Barkas und warteten auf den Fahrer. Der Kriminalmeister bemängelte, daß der Leutnant keinen Diensthund angefordert hatte. «Einsatz im Freien nie ohne Hund!», verkündete Schott einen seiner Grundsätze. «Was hoffen Sie denn zu finden?» 204
«Eigentlich sollten Sie drauf kommen!», antwortete Faber. «Wir haben Schuhabdrücke und Spuren der verschlissenen Tathandschuhe.» «Ja, ich weiß!» Schott winkte ab. «Die alten Treter und die Handschuhe hat der Täter bestimmt in den nächsten Müllcontainer geworfen!» «Warten wir’s ab!» Endlich kam der Oberwachtmeister, der den Barkas fahren sollte. Doch bevor er sich auf dem Fahrerplatz zurechtrückte, wurde er aus dem Fenster der Fahrbereitschaft zurückgerufen. Mit einem leisen Fluch stieg er wieder aus und lief ins Dienstgebäude zurück. Während Faber und Schott warteten, beobachtete der Leutnant nur mäßig interessiert, daß ein weißer Lada auf dem Parkplatz des VPKA stoppte, ein sportlich gekleideter Mittvierziger ausstieg und eilig dem Eingang zustrebte. Reiter klopfte an Werners Tür und trat ein. Der Major sah ihm erstaunt entgegen. «Bist du hergeflogen?», fragte er und zeigte einladend auf einen Stuhl. «So ungefähr», antwortete Reiter und setzte sich, «’tschuldige, Erwin, daß ich gleich mit der Tür ins Haus falle. Die Sache brennt mir unter den Nägeln!» «Den Eindruck habe ich auch! Ist die Kreissparkasse ausgeraubt worden? Oder was ist sonst passiert?» Major Reiter ignorierte den Scherz. «Hör mal, Genosse Faber, dein Laufwunder, hat vor vierzehn Tagen, abends nach Dienstschluß war das, wegen einer überbezirklichen Fahndung in der Kfz-Zulassungsstelle Magdeburg einen Fahrzeughalter ermittelt!» «Ja, ich weiß», bestätigte Werner. «Ich weiß, daß du es weißt», erklärte Reiter, «du hast ja die Anfrage am nächsten Tag fernschriftlich bestätigt!» «Siehst du, bei uns herrscht Ordnung! Es hat seine Richtigkeit! Wie war doch gleich das Kennzeichen? Schade, Faber ist nicht hier, der hat so was im Kopf. Ich suche es ’raus!» «Nicht nötig. Vielleicht erinnerst du dich? Das Kennzeichen war vierunddreißig Strich zwölf!» 205
«Richtig, HL vierunddreißig Strich zwölf!» Major Werner nickte. «Es gehörte angeblich zu einem weißen Moskwitsch! In Wahrheit läuft unter diesem Kennzeichen ein blauer Wfünfzig-LKW vom Kraftverkehr Magdeburg!» «Es bedeutet, daß das Kennzeichen des Moskwitsch gefälscht ist!», erklärte Major Reiter. «Warte mal», bat Werner, «verkalkt sind meine Gehirnwindungen noch nicht. Das richtige Leipziger Kennzeichen des Moskwitsch war UP. Jawohl, UP achtzehn Strich dreiundneunzig!» Reiter starrte seinen Freund verblüfft an. «Mensch, Erwin, sage bloß, du bist deiner Sache sicher? Wenn das Kennzeichen stimmt, dann haben wir den Kunden!» «Bemühe dich nicht weiter», sagte Werner, «er heißt Blaschke, Axel Blaschke, und betreibt in Leipzig-Gohlis einen Laden: Anzeigenannahme für die DEWAG-Werbung, Zettelaushang, Theaterkartenvorverkauf! Frag mal Faber, der kennt ihn von Leipzig her. Was läuft denn gegen ihn?» Reiter rieb sein Kinn, musterte Werner unschlüssig, wie es schien, und überwand sichtbar eine Hemmschwelle. «Vergiß, was ich dir jetzt sage! Die Sache ‹TBK-Nixe› zielt auf die Funktechnische Einheit. Der Mann mit dem weißen Moskwitsch HL vierunddreißig Strich zwölf nennt sich Schulz und interessiert sich für dasselbe Ziel! Vermutlich für die gleiche Firma! Weshalb habt ihr ihn denn im Visier?» «Faber vermutet organisierten Schwarzhandel mit westlichen Industriewaren, zum Beispiel Quarzarmbanduhren!» Reiter sprang auf und lief umher. «Das paßt zueinander, Spionage und Schwarzhandel!» «Übrigens taugen die Uhren nichts. Aber darüber unterhalte dich mal mit Faber. Der kennt Blaschke schon länger.» «Das tue ich. Ist dein Laufwunder im Hause?» «Nein, du kommst ein paar Minuten Zu spät. Er ist gerade in dieser Sache unterwegs, eine Durchsuchung!» Reiter blieb verwundert stehen. «Durchsuchung! Machst du Spaß? Eine Durchsuchung in Leipzig?» 206
«In Leipzig natürlich nicht», korrigierte Werner. «Hör zu! Laßt die Finger von diesem – wie heißt er?» «Blaschke! Axel Blaschke!» «Erwin, ich bitte dich dringend, mach mir den Blaschke nicht kopfscheu! Der darf nicht verunsichert werden! Vermutlich ist er eine Schlüsselfigur in der Spionagesache gegen die Funktechnische Einheit der NVA. Wir brauchen den ganzen Verein. Wieso ist Faber in derselben Sache tätig? Wo findet die Durchsuchung denn statt?» «Draußen in der Gartenkolonie. Ein Bardenberger, ein gewisser Schreiber, scheint Blaschkes Komplize zu sein!» «Ein Komplize von …? Wann ist Faber los? Womit?» «Mit dem Barkas. Vor etwa zehn Minuten!» «Ihr habt zwei von den Dingern, stimmt’s?» «Ja, aber einer steht in der Werkstatt.» «Dann war er’s! Als ich kam, stand unten einer abfahrbereit! Komm mit, Erwin! Du weißt Bescheid! Wir müssen ihn stoppen! Alles abblasen! Unser Mann darf nicht verprellt werden!» Major Werner wurde von Reiters Eifer angesteckt; beide stürmten die Treppe hinunter, aus dem Dienstgebäude hinaus und zum Lada. An die Fahrt zur Gartenkolonie erinnerte sich Werner noch lange. Vor dem Haupteingang stoppten Barkas und Lada gleichzeitig. Faber erkannte den Mittvierziger und seinen weißen Lada, aus dem nun auch Werner herauskletterte. Faber stellte sich auf die neue Lage ein, unverrichteter Dinge zum VPKA zurückzufahren. Er folgte Werners Aufforderung und fuhr im Lada mit. Reiter trat noch einmal zum Fahrer und zu Schott und erklärte, daß sie den Einsatz und den Namen des Betroffenen aus ihrem Gedächtnis streichen sollten. «Es geht um eine schwerwiegendere Straftat als bisher vermutet, Genossen!», schloß er. Der Barkasbus fuhr zum VPKA zurück. Reiter folgte ihm ein Stück, bog dann auf einen Feldweg ein und stoppte. Er 207
beschloß, Werner und Faber soweit einzuweihen, wie es erforderlich war, damit beide ihre eigenen Erkenntnisse beisteuern konnten. Die Genossen vom Volkspolizei-Kreisamt Bardenberg erfuhren, daß der Zahlencode entschlüsselt worden war und den Hinweis auf den Hilgendorfer Friedhof gebracht hatte. «Wir gingen davon aus», erklärte Major Reiter, «daß bei den erheblichen Entfernungen nur ein motorisierter Kurier in Frage kommen würde. Zwei erfahrene Genossen sind dort eingesetzt», versicherte er. «Nach jedem verdächtigen Besucher haben sie das Grab kontrolliert! Als der Fahrer eines weißen Moskwitsch mit dem Kennzeichen HL vierunddreißig Strich zwölf weggefahren war, fanden sie auf dem bezeichneten Grab eine Blechschachtel mit zwanzig Westmark!» Major Reiter erklärte spöttisch, daß es ein recht magerer Lohn war, für den der Besitzer des Ladas GC 17-06 zur Lüsinger Straße fuhr und seinen Spionageauftrag erfüllte. «In der BND-Zentrale wird man feststellen, daß der neue VMann mit der Kamera nicht klarkommt», erklärte Reiter, «denn der Film ist schwarz!» Reiter nahm aus dem Handschuhfach ein Foto und reichte es Werner. «Das ist der Mann, für den die Uhr und die codierte Nachricht bestimmt waren! Hier steigt er in seinen Lada ein. Teleobjektiv, Entfernung zweihundert Meter!» «Hubert Schiffer», sagte Faber, «ein Tankwagenfahrer von Minol!» «Mensch, Faber», Reiter machte aus seiner Verwunderung kein Hehl, «das wissen Sie auch?» Leutnant Faber berichtete, daß er Schiffer des Öldiebstahls verdächtige. Die Minol-Direktion hatte noch keine Anzeige erstattet, weil ein Kurzschluß im Computerzentrum für ein Chaos gesorgt hatte und deshalb ein Buchungsfehler möglich schien. «Ab sofort werden weder der Leipziger Blaschke noch der Gohlaer Schiffer einen unbeobachteten Schritt tun», versicherte Reiter. «Unternehmt nichts gegen die beiden und auch 208
nichts gegen Personen, die mit ihnen Kontakt aufnehmen, ohne daß wir uns vorher abgestimmt haben!», forderte er. Im Lada ertönte ein Rufzeichen. Reiter hob den Hörer des Sprechfunks. Am anderen Ende meldete sich seine Dienststelle. «Was gibt es?», fragte Reiter. Werner und Faber hörten eine Nachricht mit, für die sie keine Erklärung wußten: Ein gewisser Budach hätte angerufen, um mitzuteilen, daß er für den nächsten Tag zu einem Treff bestellt worden sei. Reiter legte den Hörer auf. «Dieselbe Angelegenheit. Da kommt etwas ins Rollen, Es ist nicht mehr aufzuhalten!»
24 Blaschke tauschte in seiner Garage die echten Kennzeichen an seinem Moskwitsch gegen die falschen aus. Das Risiko, überrascht zu werden, erschien ihm hier geringer als auf irgendeinem Waldweg. Die geölten Schrauben ließen sich ohne Anstrengung drehen. Dennoch hantierte Blaschke widerwillig, er war keine manuelle Tätigkeit gewöhnt und besaß weiche Hände. Er lauschte, glaubte Schritte zu hören und merkte, daß er sich getäuscht hatte; seine Nerven reagierten immer empfindlicher. Blaschke sah auf die Uhr. Es war Zeit abzufahren, um Budach zu treffen. Diesmal waren sie in einer Raststätte an der Fernstraße verabredet. Sie wurde von LKW-Fahrern bevorzugt. Das versprach gute Speisen und aufmerksame Bedienung. In dem Lokal herrschte immer lebhaftes Kommen und Gehen. Niemand achtete auf den anderen. Es war die Voraussetzung für eine ungestörte Unterhaltung. Blaschke legte die echten Kennzeichenschilder unter die Bodenmatte, fuhr aus der Garage heraus und verschloß sie. Im 209
Rückspiegel kontrollierte er, ob ihm jemand folgte. Er atmete erleichtert auf. Er machte kein verdächtiges Fahrzeug aus. Hinter Schkeuditz fuhr er auf die Autobahn in Richtung Hermsdorfer Kreuz. Doch er bog bald wieder ab. In Gedanken bereitete er sich auf das Gespräch mit Budach vor. Grindel hatte ihm am vergangenen Sonntag im Fläming neue Anweisungen gegeben. Der Frankfurter war diesmal auf der normalen Transitstrecke in die DDR eingereist. Blaschke dachte daran, was Grindel gesagt hatte: Budach mußte in Blaschkes Abhängigkeit manövriert werden. Auf dem Parkplatz vor der Rastgaststätte hielten mehrere Lastzüge, Traktoren mit Hängern und Versorgungsfahrzeuge des Nahverkehrs. Zwischen einem Dutzend verschiedener PKWs parkte Budachs Wartburg. Blaschke stellte seinen Moskwitsch so ab, daß Budach, falls sie die Gaststätte gemeinsam verließen, nicht die Nummernschilder sah. Die parkenden Fahrzeuge ließen ahnen, daß die Gaststätte gut besucht war. Budach saß allein an einem Tisch Und hob grüßend die Hand. Am Nebentisch aß ein sportlich wirkender junger Mann mit rötlichem Haar und Sommersprossen einen Broiler. Blaschke gab Budach die Hand und setzte sich. «Tag! Wie geht’s?» «Danke, nicht schlecht! Und Ihnen?» Blaschke murmelte Unverständliches. «Herr Schulz, wenn Sie erwartet haben, daß ich etwas mitbringe, dann muß ich Sie enttäuschen! Ich kann nicht zaubern! Und von allen Stücken trenne ich mich nicht! Hatten Sie einen Boten geschickt, oder waren Sie selbst …?» Blaschke ließ die Frage offen. Es stimmte, er war nach Sinten gefahren und hatte die Nachricht in Budachs Briefkasten eingeworfen. «Immer klappt es so kurzfristig nicht», sagte Budach. «Ich habe mich nur schwer loseisen können.» Die Serviererin nahm die Bestellung entgegen; Blaschke wünschte Apfelkuchen mit Sahne. Budach hatte bereits gegessen und bestellte noch ein Kännchen Kaffee. 210
Nachdem die junge Frau gegangen war, fühlte sich der Leipziger wieder erwartungsvoll gemustert. Er wich dem Blick aus, beobachtete aber den Sintener verstohlen. Der Klubhausleiter war nicht gerade elegant, aber solide gekleidet. Der sportliche Sakko schien einige Jahre alt, wirkte aber gepflegt. «Sehen Sie, Herr Budach», begann Blaschke umständlich, «wir haben einige Geschäfte abgewickelt. Sie haben verdient, und ich bin auch zufrieden! Trotzdem wissen wir eigentlich wenig voneinander!» «Das liegt nicht an mir», antwortete Budach. «Sie kennen meinen Namen, wissen, wo ich wohne und wo ich tätig bin! Von Ihnen weiß ich praktisch nichts! Sie heißen ja nicht mal Schulz, wie Sie anfangs behauptet hatten, und …» «Sie haben recht», unterbrach ihn Blaschke. «Das ist der Grund, weshalb ich darauf komme. Ich möchte, daß wir Vertrauen zueinander haben. Sehen Sie, ich muß auf Sicherheit bedacht sein. Meine Geschäfte sind von der Art, daß …» «Ja, ich weiß, das sagten Sie schon!» «Das ist genau der Punkt! Wie weit kann ich mich auf Sie verlassen?» «Wenn ich Sie anschmieren wollte, würde ich doch selbst in der Tinte sitzen», erklärte Budach, «wegen des Westgeschäftes! Ich habe von Ihnen Westmark angenommen!» Budach blickte sich ängstlich um, als fürchte er Lauscher. «Na und?», sagte Blaschke und grinste. «So eine Verbindung ist gar nicht so übel, nicht?» Er stieß Budach vertraulich mit dem Ellenbogen an, vermochte aber dessen Reaktion nicht auszumachen, da die Serviererin das Bestellte brachte. Blaschke war nicht unzufrieden und wollte einen Schritt vorwärts tun. «Nur ein Beispiel», sagte er, «mein Cousin ist Journalist, drüben in Frankfurt am Main. Derselbe, dem Sie die hundert Westmark verdanken!» «Ach, wirklich?» Budach tat erstaunt. «Ich denke, mein Bild hat ein Westberliner …?» «Stimmt! Aber eingerührt hat es mein Cousin. Der ist ständig auf Achse, mal in Westberlin, mal in Frankfurt!» 211
«Ich verstehe, dann sehen Sie sich wohl öfter?» Blaschke ging darauf ein. «Natürlich soll das nicht sein, aber wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter! Sehen Sie, drüben können Journalisten jedes heiße Eisen anpacken! Aber beinahe aussichtslos ist es für einen westlichen Journalisten, über uns hier zu schreiben, weil er dazu authentisches Material braucht!» Blaschke schwieg und beobachtete Budach. In dessen Kopf schrillte eine Alarmglocke. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Major Reiter und sagte unbestimmt: «Das geht nicht nur den Journalisten von drüben so! An authentisches Material heranzukommen ist manchmal schwierig.» «Sehen Sie!», bekräftigte Blaschke-Schulz düster. Plötzlich war Budach sicher, daß sein Gegenüber darauf aus war, mit ihm weiterzukommen. Er erinnerte sich an Reiters Mahnung, sich vor Übertreibungen zu hüten. Der Mann schien mit allen Wassern gewaschen. Das feiste Gesicht drückte Biederkeit aus. Die Augen aber registrierten nicht nur jeden Gast, der das Lokal verließ oder neu hinzukam; er beobachtete vor allem seinen Gesprächspartner. «Ja, ja», erklärte Budach beiläufig, «Journalist zu sein ist schon ein hartes Brot!» «So ist es!» Blaschke-Schulz nickte heftig. «Ich helfe meinem Cousin, wo ich kann, daraus mache ich kein Geheimnis. Er ist auch nicht kleinlich!» Blaschke-Schulz aß mit Appetit den Apfelkuchen. «Er schreibt eine Artikelserie über die kulturelle Betreuung der Bundeswehr! Es war nicht einfach, das Material zu bekommen, sagt er, aber jetzt hat er’s im Kasten! Doch damit beginnt die Schwierigkeit. Der Chefredakteur wünscht ein paar Hinweise auf die Kulturarbeit in der Nationalen Volksarmee. Überlegen Sie das mal, Herr Budach!» Das Tempo, das der andere vorlegte, erschien Budach unheimlich. «Sie helfen ihm aus der Klemme, sagen Sie?» Budach konnte nicht verhindern, daß in seiner Stimme ein ironischer Un212
terton mitschwang. Über der Nase seines Gegenübers entstand eine senkrechte Falte. «Eigentlich geht es um eine Lappalie!», behauptete Blaschke-Schulz. «Eine Lappalie?» Budach tat interessiert. «Es muß aber authentisches Material sein! So was werfen Sie vermutlich alle Tage in den Papierkorb: alte Veranstaltungspläne, Programme, Künstlerverträge …» Budach tat erschrocken. «Sind Sie verrückt? So was will er haben?» Der Kulturhausleiter fand es erschreckend, wie genau Reiters Vorhersage eintraf. Jetzt durfte er keinen Fehler begehen. So sagte er ablehnend: «Nein, um Himmels willen, nein! Wissen Sie denn, was Sie verlangen? Ich verstehe Sie doch richtig? Sie wollen von mir solche Unterlagen haben? Da gehe ich doch für den Rest meiner Tage in den Knast! Nee, niemals!» Sein Gegenüber schien von der Ablehnung beeindruckt. «Schade», sagte Blaschke-Schulz. «Denken Sie nicht, daß ich mir keinen Kopf gemacht habe, wie es risikolos ginge!» «Ach ja?» Blaschke war unsicher, ob nicht in den zwei Worten blanker Sarkasmus mitschwang. Er musterte Budach nachdenklich. Hatte der nicht beim ersten Treffen ein Parteiabzeichen getragen? Jetzt trug Budach keins. Ich frage ihn, ob er Mitglied der SED ist, überlegte Blaschke-Schulz. Hat er keinen Hinterhalt im Sinn, gibt es für ihn keinen Grund, dies zu leugnen. Will er mich aufs Kreuz legen, bestreitet er vermutlich seine Mitgliedschaft, um mich in Sicherheit zu wiegen. «Sie wissen, wie man es risikolos …?» Budach brach ab. Wieso interessiert es ihn, wenn er nicht dafür zu haben ist? dachte Blaschke. «Richtig», sagte er, «man braucht keinen Fussel eines Beleges, ein Foto genügt!» Budach verzog keine Miene. BlaschkeSchulz überraschte ihn mit der Frage: «Sind Sie eigentlich Mitglied der SED?» Der Klubhausleiter senkte rasch seinen Blick und wirkte unsicher, als er ihn wieder hob. «Ich? Sie meinen, ob ich …?» Er 213
schluckte verlegen und räusperte sich. «Nein! Wieso? Ich meine, weshalb fragen Sie?» Also doch, dachte Blaschke. Fast tat ihm sein Gegenüber ein wenig leid. Bestimmt zum ersten Mal in seinem Leben hatte der seine Parteizugehörigkeit verleugnet. Man sah ihm an, wie peinlich ihm das war. Blaschke pries seine Ahnung. Er hatte wieder einmal den richtigen Riecher gehabt. Die Frage war, ob Budach bereits Kontakt zur Staatssicherheit aufgenommen hatte! Der Gedanke verursachte Atembeklemmung. Oder hatte Budach diesen Schritt erst noch vor? Noch passiert mir nichts, dachte Blaschke. Für Budach bin ich ein Magdeburger Bürger, der sich den falschen Namen Schulz zugelegt hat. Was tat es, wenn er gar das Kennzeichen des Moskwitsch notiert hatte? Ihn überkamen purer Galgenhumor und das Verlangen, seine Rolle zu Ende zu spielen. «Herr Budach, ein abgelichteter Veranstaltungsplan nützt meinem Cousin nichts, wenn er nicht den gewissen Ruch von Authentizität besitzt!» «Ich verstehe nicht!» Budach hüstelte. «Hören Sie mal, ein abfotografiertes Estradenprogramm wirkt erst echt, wenn es mitsamt dem ‹Schwarzen Brett› einer Kompanie aufgenommen wird!» Budach schien ernstlich entsetzt. «Sagen Sie, sind Sie verrückt? Wissen Sie, was Sie von mir verlangen? Wie stellen Sie sich das vor?» «Warum sollten Sie es nicht? Mann, Budach, das merkt doch kein Mensch! Übrigens, habe ich schon gesagt, daß ich mir demnächst einen neuen Wagen anschaffe? Sind Sie an meinem Untersatz interessiert? Ich mache Ihnen einen kulanten Preis. Das heißt, wenn wir auch sonst einig werden!» «Im Ernst?» Budach brachte kein weiteres Wort über die Lippen. «Für meinen Moskwitsch fünftausend! Nicht gleich, auf langsam! Was sagen Sie dazu?» «Darüber können wir reden», sagte der Klubhausleiter, vermied es aber, sein Gegenüber anzusehen. 214
Diese Reaktion lieferte Blaschke den letzten Beweis, daß er im Begriff gewesen war, in eine Falle zu laufen. Budach war der Situation nicht gewachsen. Die Rolle, zwischen Bereicherungssucht und Furcht vor Entdeckung zu schwanken, überforderte ihn. Blaschke legte einen Zehnmarkschein auf den Tisch, stand auf und nickte Budach zu. «Bleiben Sie noch ein bißchen sitzen!» Bevor Budach wußte, wie ihm geschah, war Schulz gegangen. Niedergeschlagenheit überkam Budach. Er erkannte, daß er Schulz nie wiedersehen würde. Wie sollte er Major Reiter sein Versagen erklären? Daß er versagt hatte, daran gab es nichts zu deuteln! Er wußte ja nicht einmal, wer sich hinter dem Pseudonym verbarg. Plötzlich wurde Budach von Panik ergriffen. Schulz durfte nicht entkommen! Wer weiß, ob man jemals wieder des Verbrechers habhaft wurde? Hinter dem Magdeburger schlug die Tür zu. Budach sprang auf und rief: «Schulz! Warten Sie! Haltet ihn!» Im Gastraum verstummten die Geräusche, selbst das Klirren der Bestecke erstarb. Es wurde totenstill. Alle Augen starrten Budach an, der im Begriff war, dem Davoneilenden zu folgen. Da spürte er seinen Arm in festem Griff gehalten. Der junge Mann vom Nebentisch mit dem rötlichen Haar und den Sommersprossen sagte leise: «Bleiben Sie hier, Genosse Budach!» Der Klubhausleiter starrte den Sprecher verblüfft an. Der lächelte augenzwinkernd und flüsterte: «Keine Sorge, der entkommt uns nicht!»
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25 Es war ein ungewöhnlich warmer Maitag. Budach fuhr den Wartburg in den Schatten des Holunderstrauches. In den weißen Blütendolden summten Hummeln. Trotz herabgedrehter Türscheiben war es im Auto sehr warm. Er war eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit auf dem Parkplatz eingetroffen; es war derselbe, auf dem er sich bisher mit Schulz verabredet hatte. Fünf Minuten später bog der weiße Lada ein und stoppte. Reiter stieg aus. Der Major zückte ein Röllchen Pfefferminzbonbons und hielt es Budach hin, aber der wehrte ab. «Ersatz für eine Zigarette», sagte Reiter, «ich. gewöhne mir das Rauchen ab. Sind Sie Raucher?» Budach schüttelte den Kopf. «Seit Jahren nicht mehr.» «Und wie haben Sie’s geschafft, vom Glimmstengel loszukommen?» «Allmählich reduziert bis zum Nullpunkt», antwortete Budach. Reiter seufzte. «Das schaffe ich nie! Wenn ich rauche, dann richtig! Sonst lieber gar nicht!» «Schaffen Sie es denn?», fragte Budach skeptisch. «Es funktioniert eigentlich immer», versicherte Reiter und ergänzte auf Budachs erstaunten Blick hin: «Ich praktiziere es alle Jahre zwei- dreimal! Sie glauben, Schulz hat Witterung bekommen? Den sehen wir nicht wieder?», fügte er übergangslos hinzu. Ein Lastzug fuhr auf den Parkplatz und hielt. Der Fahrer stieg aus und kontrollierte die Reifen. Budach schilderte den Treff mit Schulz. Besonders eingehend fragte Reiter nach dem Cousin, der so erpicht war auf authentisches journalistisches Material. «Irgendwann habe ich wohl etwas falsch gemacht», erklärte Budach bedauernd, «denn plötzlich wurde Schulz mißtrauisch!» «Andersherum, Genosse Budach! Wir haben den Mann un216
terschätzt! Der Fehler lag bei mir! Ist Ihnen klar, wie es nach seiner Vorstellung weitergehen sollte?» «Sicher bin ich nicht. Meinen Sie wirklich, Genosse Reiter, ich hätte einen Fotoapparat bekommen?» «Auf jeden Fall! Wir spielen es mal durch! Sie sind also von dem halb geschenkten Moskwitsch angetan und bereit, das ‹Schwarze Brett› einer Kompanie zu fotografieren!» Budach fuhr auf. «Sie glauben doch nicht, daß ich …» «Natürlich nicht», unterbrach ihn der Major. «Ich unterstelle nur, Sie hätten es mit meiner Zustimmung getan. Ahnen Sie den nächsten Schritt?» «Nein! Was kann er damit schon anfangen? Dafür schenkt sein Cousin ihm doch keinen Golf!» «Kaum», stimmte Reiter zu, «aber das Foto genügte, um Sie mit der Drohung zu erpressen, eine Kopie werde an Ihre Dienststelle geschickt mit dem Hinweis, wer das Foto geschossen hat, falls Sie nicht handfesteres Material beschaffen!» Budach nickte. «So etwas habe ich mir gedacht! Aber was konnte er denn von mir fordern?» «Die alten Geräte sind abgebaut worden und dafür wurden neue installiert, zum Beispiel!» Budach starrte Reiter betroffen an. «Ich gehe davon aus», erklärte der Major, «daß dieser Schulz kaum darauf Spekuliert hat, von Ihnen Einzelheiten über das neue Gerät zu erfahren. Denkbar wäre aber, daß er von Ihnen die Namen von jenen Offizieren und Soldaten zu erfahren versucht, die damit zu tun haben!» Budach erklärte, selbst davon überrascht, daß er in der Tat Offiziere namentlich kannte, die mit den neuen Geräten hantierten. Von einigen wußte er den Familienstand und die Wohnadresse. Zwei Zivilbeschäftigte waren ihm bekannt, die technische Wartungsaufgaben versahen. Reiter klopfte Budachs Schulter. «Sehen Sie nun ein, welche Fundgrube Sie für Schulz gewesen wären?» «Sie glauben doch nicht», sagte Budach ablehnend, «daß ich seine Fragen beantwortet hätte?» 217
«Natürlich nicht!»besänftigte ihn Reiter. «Schulz hätte aber auch nie direkt gefragt, sondern hübsch verklausuliert! Wir dürfen übrigens die Möglichkeit nicht außer acht lassen, daß Sie ihn falsch einschätzen, daß er sich noch gar nicht endgültig verabschiedet hat! Vielleicht versucht er, in Ihrer Dienststelle eine andere Kontaktperson zu finden. Halten Sie Augen und Ohren offen!» Blaschke erging es an diesem Tag wie den meisten: Er war auf die Hitze nicht vorbereitet und zu warm gekleidet. Echauffiert betrat er seinen Laden und trocknete die schweißnasse Stirn. Mulewski kauerte auf dem Stuhl hinter dem Ladentisch und sortierte die spärliche Post. Als Blaschke so eilig hereinkam, beobachtete Mulle erstaunt seinen Chef. Der lief ins Hinterzimmer, kam mit einem Fernglas wieder nach vorn, trat zum Schaufenster und richtete das Glas auf die Nebenstraße, in der sein Moskwitsch parkte. Dabei sprach er kein Wort, aber seine Nervosität übertrug sich auf Mulewski. Der musterte ihn immer besorgter. «Er sitzt noch drin», sagte Blaschke und schnaufte. Eine Kundin kam und gab einen Zettelaushang auf. Sie suchte einen Käufer für ihre Nähmaschine. Blaschke wartete ungeduldig, bis sie bedient war. Mulle spürte es und verschrieb sich. Als die Frau gegangen war, gab Blaschke seinem Mitarbeiter das Fernglas. «Siehst du den grünen Wartburg? Ich fahre jetzt mit dem Moskwitsch wieder los! Paß mal auf, ob der mir nachfährt. Wir schließen solange!» Blaschke drehte den Schlüssel. Mulewski nickte stumm und kletterte auf einen Hocker, um über die Plakate im Schaufenster hinwegzuspähen. Blaschke verließ das Geschäft durch den Hausflur; Mulle sah, wie er die Straße überquerte und in die Nebenstraße einbog. Ein Mann klinkte an der Ladentür und ging schimpfend davon. Von dem Moskwitsch war nur das Heck auszumachen. Das Rücklicht blinkte links, der Auspuff spie eine blaue Wolke, dann entschwand das Fahrzeug. 218
Mulewski starrte durch das Fernglas. Der Fahrer des Wartburgs startete ebenfalls und fuhr ab. Einige Minuten verharrte Mulewski untätig. Es gab keinen Zweifel, Axel fürchtete den Mann im Wartburg. Weshalb wohl? Betraf es seine Geschäfte? Und dann kam Blaschke wieder, noch aufgeregter als zuvor. Auf derselben Stelle – der Zufall reservierte den Platz – parkte der grüne Wartburg. «Ich werde beobachtet», erklärte Blaschke düster und überlegte, was sich an Ware im Keller befand. Hinter dem Spind lagen zwei Dutzend Schallplatten. Die Titel standen längst nicht mehr auf den westlichen Hitlisten, er mußte wohl die Preise senken. Vier Quarzarmbanduhren besaß er und fünf Taschenrechner. Was noch nie vorgekommen war: Jetzt wünschte er Schreiber herbei, um ihm die Ware auszuhändigen. Blaschke lief ins Hinterzimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch und versank in dumpfes Brüten. In seinem Hirn nistete sich der Gedanke ein, daß sein Beobachter von Schreiber alarmiert worden war! Hatte der seine Drohung wahrgemacht? Im Laden ließ Mulle die Jalousie herunter. Kurz darauf steckte er seinen Kopf in den Türspalt. «Ich gehe, Axel! Guten Abend!» «’n Abend!» Mulewski zögerte, meinte dann: «Vielleicht ist es wegen der Reklamation? Ich meine, daß der Mann, der sich wegen der Uhr aufgeregt hat, am Ende die Polizei …?» Mulle verstummte. «Du redest Blödsinn!», fuhr Blaschke auf. Mulewski schwieg erschrocken und ging. Als die Flurtür klappte, zuckte Blaschke zusammen. Ich kriege einen Nervenschock, wenn das so weitergeht, dachte er. Ich muß Grindel verständigen, überlegte er, daß Schreiber mich erpreßt! In der Nebenstraße parkten nur noch wenige PKWs; den grünen Wartburg sah er nicht mehr. Er atmete erleichtert auf. In Blaschkes Jackentasche klimperten die Markstücke aus der Ladenkasse. Er nahm die Straßenbahn zum Hauptbahnhof; ein 219
Motorradfahrer trat seine Maschine an und folgte der Linie sechs. Im Bahnhof steuerte Blaschke eine Telefonzelle auf dem Querbahnsteig an. Vom eigenen Apparat aus habe er unter keinen Umständen mit der Kontaktstelle zu telefonieren, hatte ihm Grindel eingeschärft. Blaschke sah sich mißtrauisch um, doch niemand interessierte sich für ihn. Die sieben Ziffern der Vorwahl für Frankfurt am Main hatte er sich eingeprägt und die sieben des Teilnehmers notiert. Er achtete darauf, die Wählerscheibe zu verdecken. Das Rufzeichen kam an, dann sagte eine bekannte, sonore Stimme: «Siering und Fengler, guten Abend!» Blaschke räusperte sich. «Guten Abend! Hier spricht Ernst in Leipzig!» Am Automat leuchtete es rot, und Blaschke steckte ein Markstück in den Zahlschlitz. Aus der Hörmuschel klang es erfreut, als spräche ein naher Verwandter: «Hallo, Ernst! Wie geht es dir?» «Danke, gar nicht gut! Ich habe nur ein paar Markstücke zum Einwerfen», log er, «eine schlechte Nachricht: Oma ist krank!» Es entstand eine Pause, dann die Frage: «Gibt es Anlaß zur Sorge?» «Leider ja!», behauptete Blaschke beschwörend. «Karlchen wollte euch nächste Woche besuchen!» Blaschke steckte wieder ein Markstück in den Zahlschlitz. «Ich fürchte, es könnte zu spät sein. Der Arzt hat es durchblicken lassen!» Es entstand erneut eine Pause, die zwei Markstücke kostete. Der Gesprächspartner bedeckte vermutlich die Sprechmuschel und beriet mit einem dritten. «Hallo, Ernst? Karlchen versucht morgen zu kommen. Wir wünschen gute Genesung und …» Was «Siering und Fengler» noch wünschten, erfuhr Blaschke nicht. Das Gespräch brach ab, da er die rotleuchtende Zahlungsaufforderung ignoriert hatte. Blaschke fuhr mit der Straßenbahn zurück nach Gohlis, und wieder folgte der Linie sechs ein Motorradfahrer. 220
Erst nach Mitternacht war Blaschke in einen unruhigen Schlaf gefallen. Morgens wachte er übel gelaunt auf. Es gab kaum noch Tage mit einem Erfolgserlebnis; er lebte in ständiger Sorge vor riskanten Unternehmungen. Mulewski protestierte, daß er ihn wieder allein lassen wollte. Um ihn zu besänftigen, ordnete Blaschke die Posteingänge. Um neun Uhr zog Mulle die Jalousien hoch und öffnete den Laden. «Du schaffst es schon», tröstete ihn Blaschke und verließ das Geschäft. Der weiße Moskwitsch durchfuhr Schkeuditz und bog auf die Autobahn in Richtung Berliner Ring ein. Der ihm folgende Lada wurde bald von einem Wartburg abgelöst, und in der Raststätte Köckern übernahm schon wieder ein Motorradfahrer den Moskwitsch. Der schien aber am Ziel, denn der Fahrer suchte das Restaurant auf. Blaschke trank die vierte Tasse Kaffee, dann erst kam Grindel. Der Gastraum war dicht besetzt, ein verstohlenes Gespräch sehr schwierig. «Holt mich ’raus!», flüsterte Blaschke. Grindel hob erstaunt die Brauen. «Ein Geschäftsfreund erpreßt mich! Er läßt mich hochgehen, wenn er keine Ware kriegt!» Er steckte Grindel etwas zu. Der Frankfurter flüsterte zurück, daß er erst einmal Zeit gewinnen solle. «Keine Panik!», beschwor ihn Grindel. «Du kriegst Ware! Halte ihn solange hin!» In diesem Jahr begann die Reisewelle früher als sonst. Die Parkplätze der Autobahnraststätte Michendorf quollen über. Grindel verabredete sich gern in Michendorf. Die Raststätte war groß und konnte seiner Meinung nach nicht so gut überblickt werden. Das quirlige Treiben in der Mitropaeinrichtung gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Grindel fuhr einen roten VW-Passat, der ebenfalls «Siering und Fengler» gehörte. Er fand endlich einen Parkplatz, von 221
dem aus er den Zeitungskiosk beobachten konnte. Schubart alias Felix war nicht zu entdecken; es fehlten einige Minuten an der verabredeten Zeit. Grindel würde Schubart spüren lassen, daß er wegen seiner Meldung an die Zentrale verärgert war. Dabei hatte sie ihm für den Hinweis auf Evelin Schenk eine achtbare Gratifikation eingebracht. Felix überquerte auf der Brücke die Fahrbahnen. Er trug einen hellen Staubmantel, doch Grindel erkannte ihn von weitem an seinem Hut mit der herabgebogenen Krempe. Er stieg aus, verschloß den Passat, schlenderte zum Kiosk und wartete dort auf Felix. Sie standen an einer Ecke des Verkaufshäuschens und taten so, als seien sie sich fremd. Grindel teilte seine Aufmerksamkeit scheinbar zwischen den ausgelegten Broschüren und seiner Tabakpfeife, in Wahrheit beobachtete er Felix. Die ersten Qualmwölkchen stiegen aus der Pfeife empor, und Grindel raunte nach der geflüsterten Begrüßung: «Du hast mir verdammten Stunk eingerührt, lieber Egon!» Schubart warf Grindel unter der Hutkrempe hervor einen lauernden Blick zu. «Ich verstehe dich nicht!» «Natürlich verstehst du! Mein Besuch hatte rein privaten Charakter. Weshalb hast du ihn nach Pullach gemeldet?» Schubart lachte bitter. «Seit wann unterscheiden wir offizielle von privaten Angelegenheiten?» Im stillen gab Grindel ihm recht. Zwischen beiden Dingen gab es keine Trennung. Die Grenzen waren fließend. «Woher sollte ich denn wissen, daß es kein Zuverlässigkeitstest war?», ergänzte Schubart. Grindel wartete, bis einige interessierte Betrachter der Buchauslage weitergingen, ehe er erwiderte: «Du hast natürlich recht! Vor Routineüberprüfungen ist man nie sicher. Bevor man es begreift, hat man sich Minuspunkte eingehandelt!» Auf den Fahrbahnen in Richtung Westberlin und Schönefelder Kreuz donnerten zwei Lastzüge vorbei; Kunden traten zum Kiosk und kauften Zeitungen. Die Sonne spendete fast 222
sommerliche Wärme. Wie bei früheren Gelegenheiten wechselten Schubart und Grindel von Zeit zu Zeit die Plätze; entfernten sich voneinander und strebten an anderer Stelle wieder aufeinander zu. «So ist es», bestätigte Felix erleichtert. «Ich mache dir keinen Vorwurf», versicherte Grindel. «Ich befand mich ja in derselben Lage, als Wiese wissen wollte, ob es aus Bardenberg nichts Neues zu berichten gäbe!» Er ließ keinen Blick von dem Museumsleiter. In Schubarts Miene trat ein besorgter Ausdruck. «Wie meinst du das? Was denn Neues?» «Der Kapitän macht mir mit seinem Pokergesicht nichts vor», behauptete Grindel. «Seine Frage klang verdammt hinterhältig. Ich hätte darauf geschworen, daß er über deine Stieftochter im Bilde war!» «Du hast doch nicht etwa …? Woher sollte der denn wissen, daß Evelin …?» Grindel unterbrach ihn. «Von dir natürlich», sagte er grinsend. Ein Autobus aus Hannover hielt ah. Schüler drängten heraus. Sie umlagerten das Verkaufshäuschen. Grindel und Schubart gaben ihre verdeckte Position auf und standen sich gegenüber. Das Gesicht des Museumsleiters war mit hektischen roten Flecken übersät. «Von mir?», fragte er verblüfft. Mit harmloser Miene erzählte Grindel, daß er geglaubt hätte, Felix habe nach seinem Besuch in Bardenberg von Evelin Schenk berichtet. Deshalb hatte er es für besser gehalten, ihm zuvorzukommen. «Hättest du sein Gesicht gesehen», behauptete Grindel, «wärst du ebenso überzeugt gewesen, daß der Dicke informiert ist!» «Verdammt noch mal», flüsterte Schubart, «du hast also …?» Er brach ab. Sein Gesicht verriet die widerstreitenden Gefühle, die ihn bewegten. Der Zwang, weiter für die Zentrale zu arbeiten, würde kein Ende nehmen. Der Traum von einem Rentnerdasein mit annehmbarer Pension in irgendeinem Bun223
desland schwand dahin. Statt dessen begann vermutlich eine neue, intensive Einsatzphase! Als wollte er diese Ahnung bestätigen, erklärte Grindel: «Die Zentrale braucht alle Arbeitsunterlagen deiner Stieftochter. Lichte sie ab!» «Du hast mich in die Pfanne gehauen!», zischte Felix und warf Grindel einen wütenden Blick zu. «Dann wären wir ja quitt!», stellte Grindel ungerührt fest und sog so heftig an der Pfeife, daß der Inhalt glühte. «Sonst noch etwas?», fragte Schubart kühl und bohrte seine Fäuste in die Manteltaschen. «Nein, das war’s!», antwortete Grindel freundlich. «Hat dein Wortbruch sich wenigstens ausgezahlt?» Schubart spie auf den Boden und wandte sich ab. Grindel hustete. Er sah Schubart hinterher. Der strebte der Brückentreppe zu, ohne sich umzusehen. Schubart überquerte die Brücke mit eiligen Schritten. Zwei Gedanken bewegten ihn: Die Tatsache, daß er den Beruf Evelins und ihre Tätigkeit verheimlicht hatte, mußte Gronau und Wiese anscheinend bewogen haben, darauf zu verzichten, ihm zwei neue V-Männer anzuvertrauen. Das war gut. Zweitens wußte man in der Zentrale nicht, daß Grindel ihm von der «Aktion Januskopf» mehr berichtet hatte, als es gestattet war. Und der würde sich hüten, es verlauten zu lassen.
26 Auf einem Rastplatz nahe der Autobahnausfahrt Niemegk hielt am frühen Morgen ein Barkas mit unauffälligem Kennzeichen. Ein Streifenwagen der Verkehrspolizei sperrte die Einfahrt. Über dem Fläming stieg die Sonne empor und versprach einen heiteren Tag. Im Barkas saßen zwei Männer einander gegenüber. Zwi224
schen ihnen am Boden lag ein Schäferhund. Der Sattel des Tieres glänzte schwarz, Flanken, Bauch und Läufe waren hellbraun; statt eines Halsbandes trug das Tier ein Brustgeschirr. «Am besten, Sie schildern mir den Vorgang zusammenhängend», bat der Hundeführer. Der jüngere Genosse nickte. «Wir sind ihm gestern von Leipzig aus nachgefahren. Die letzte Etappe per Motorrad war meine. Der Moskwitsch bog auf diesen Rastplatz ab, und der Fahrer verschwand im Wald.» Der Motorradfahrer hatte abgewartet, bis der Mann wieder auftauchte. Dann war ihm jenes Quentchen Glück beschieden, ohne das kein Ermittelnder auskommt. Der stämmige Moskwitschfahrer hatte ein Papiertaschentuch gezückt. Bevor er in den PKW eingestiegen war, hatte er seine Hände abgewischt und das geknüllte Tuch in den Abfallkorb geworfen. «Sie haben es also ’rausgefischt?», fragte der Hundeführer. «Nein, noch nicht! Das tat ich erst, als der Moskwitsch in der nächsten Abfahrt wendete und in Richtung Leipzig zurückfuhr. Da fiel bei mir der Groschen! Der Mann war nicht nur mal so in die Büsche gegangen! Hier war sein Fahrtziel gewesen! Als mir das klar wurde, habe ich die Observation abgebrochen und bin zum Parkplatz zurückgefahren. In der Abfalltonne lag nur ein Taschentuch aus Papier; ich habe es mit einem Stöckchen in die Zellophantüte getan.» «Wann war das gestern?» «Gegen siebzehn Uhr etwa. Meinen Sie, daß der Hund …?» «Unterschätzen Sie Senta nicht!»Die Hündin stellte die Lauscher auf, als sie ihren Namen hörte. Der Hundeführer nahm die Tüte mit dem Taschentuch, vertauschte die Führleine mit der langen Suchleine und verließ mit Senta den Barkas. Die Hündin nahm Witterung an dem Tuch, zog die Leine straff und lief mit der Nase am Boden voraus. Die Spur führte einhundert Meter in den Mischwald hinein, dort verbellte Senta eine Buche. «Hier muß etwas sein, Genosse Oberleutnant!», meldete der Hundeführer einem der beiden herantretenden Begleiter. 225
In Schulterhöhe besaß der Baumstamm eine geschickt getarnte Öffnung. Darin fand man eine Metallhülse mit Schraubverschluß. Oberleutnant Conrad postierte den MZ-Fahrer an dem Baum. Es galt, möglichst rasch den vorherigen Zustand wiederherzustellen! Im Barkas schraubte Conrad die Hülse auf. Sie enthielt zwanzig Mark der DDR und zwanzig Mark Westwährung, dazu einen gerollten Brief. «Kamera fertig?», fragte Conrad. «Ja, alles klar!» Auf dem Briefumschlag standen mit Maschine getippte Zahlen. Der Leutnant fotografierte sie und entnahm einem Kästchen, das eine Spurensicherungsausstattung enthielt, ein Fläschchen; mit dem Inhalt befeuchtete er den Briefverschluß. Das Kuvert ließ sich jetzt leicht öffnen. Der Oberleutnant zog ein Foto aus dem Kuvert und legte es auf den Klapptisch. Das Blitzlicht zuckte. «Umdrehen!» Auf der Rückseite des Fotos standen ebenfalls Zahlen. Noch einmal erhellte das Blitzlicht das Wageninnere. Conrad schob das Bild in den Umschlag zurück. Der Verschluß klebte noch. Das gerollte Kuvert schob er wieder in die Metallhülse, die im Baum deponiert wurde. Wenige Minuten später hob man die Sperre des Rastplatzes auf. Der Barkas und der Streifenwagen fuhren davon. Blaschke mußte viel Zeit aufwenden, um die Aufgaben für seinen Auftraggeber zu erfüllen. Inzwischen hatte er das System durchschaut. Er sah sich als Zwischenglied in einer Kette. Noch immer benutzte er das Baumversteck bei der Ausfahrt Niemegk. Grindel durfte von der Transitstrecke nicht abweichen und deponierte deshalb seine Sendungen für einen Empfänger, den Blaschke nicht kannte, bei Niemegk. Blaschke holte hier das Material ab und brachte es zum Hilgendorfer Friedhof. Blaschke fuhr mit seinem Moskwitsch an dem blauen Schild vorbei, das die Ausfahrt ankündigte. Die Organisation klappte 226
nicht immer; am Vortag war er vergeblich hergefahren, die Metallhülse war leer gewesen. Und gestern verspürte er wieder das unangenehme Gefühl, als begleiteten ihn wachsame Augen. Seine Nerven spielten ihm wohl einen Streich. Er sah in den Rückspiegel. Das Gefühl, beobachtet zu werden, stellte sich heute nicht ein. Drei Kilometer nach der Ausfahrt lenkte er den PKW auf den Parkplatz. Bevor er ausstieg, musterte Blaschke die haltenden Fahrzeuge. Ein jüngerer Mann mit einem blauen Trabant benutzte sein Sprechfunkgerät und kündigte den Leipziger an. Am Rande einer Kiefernschonung erhob sich ein Posten aus dem Gras und richtete sein Fernglas auf eine Buche. Nach allen Seiten sichernd, näherte sich Blaschke dem Baum. Ein Versteck bei einem Autobahnrastplatz barg immer das Risiko einer Begegnung. Der Baum war ihm längst so vertraut, daß er ihn ohne zu suchen fand. Die Metallhülse lag heute anders, als er sie gestern hineingetan hatte, demnach war Grindel dagewesen. Blaschke schraubte sie auf. Die Geldscheine entlockten ihm ein spöttisches Lächeln. Sie deckten kaum die Unkosten, wenn er die gestrige vergebliche Fahrt mitrechnete. Anscheinend betrog ihn Grindel. Am Rande der Kiefernschonung vertauschte der Beobachter das Fernglas mit einer Kamera. Der Brief weckte Blaschkes Neugier, er schob ihn zusammen mit dem Geld in seine Jackentasche, schraubte die Hülse zu und legte sie wieder in den Baum. Die auf dem Brief befindlichen Zahlen galten ihm, das wußte Blaschke. Die Sendung war sicher für Hilgendorf bestimmt. Im Hinterzimmer des Ladens hielt Blaschke den Brief über Wasserdampf. Vorsichtig löste er den Verschluß und zog ein Foto aus dem Umschlag. Es war aus einer eigenartigen Perspektive aufgenommen, von einem Baum herab oder aus einem Fenster. Blaschke grübelte, ob er das Standbild schon gesehen hatte. Dem Fotogra227
fen ging es aber offensichtlich nicht um die Bronzefigur, sondern um den Mann, der am Sockel kauerte. In der linken Hand hielt er einen Stein, mit der rechten schob er etwas in eine Vertiefung. Blaschke kannte den Mann nicht. Er notierte die Zahlenblöcke der Bildrückseite und schob das Foto in den Umschlag zurück. Danach entschlüsselte er zuerst die beiden für ihn bestimmten Worte: Anna Senftleben! Ein Uneingeweihter vermochte nichts damit anzufangen. Wer ahnte denn, daß damit ein Grab gemeint war? Mit Hilfe des Dudens enträtselte Blaschke die Ziffern auf der Fotorückseite. Mulle sah erstaunt, daß sein Chef in dem Rechtschreibebuch blätterte. Der reihte die ermittelten Buchstaben zu einem seltsamen Text aneinander: «Ersten Auftrag wiederholen! Schwarzer Film! Tod entschuldigt, Krankheit nicht! Foto ergänzt Tonband!» Blaschke grübelte nach dem Sinn der Nachricht. Ersten Auftrag wiederholen! Schwarzer Film! Das konnte nur bedeuten: Ein V-Mann hatte ein Objekt fotografiert, und der Film war unbrauchbar gewesen. Er sollte also den Auftrag noch einmal ausführen! Blaschke suchte eine Erklärung für den Satz: Tod entschuldigt, Krankheit nicht! Der Empfänger hatte vielleicht eine Verabredung nicht eingehalten und dies mit Krankheit begründet? Für «Foto ergänzt Tonband» wußte er keine Erklärung. Er erinnerte sich an Grindels Lektion über Sicherheitsvorkehrungen im Umgang mit Spionagematerial und warf die mit Zahlen beschriebenen Zettel sowie den entschlüsselten Text in den Ofen. Er zündete das Papier an und zerstampfte mit dem Schüreisen die Asche. In dem anspruchslosen Landhaus inmitten des parkartigen Gartens waren nur wenige Fenster erleuchtet: im Souterrain ein Bereitschaftsraum, im Hochparterre das Fernschreibzimmer und im ersten Stock Reiters Büro. Es war dreiundzwanzig Uhr. Der Major war erst spät aus Gohla gekommen und hatte seinen Freund Werner und Leut228
nant Faber zu sich gebeten. Beide saßen an dem Beratungstisch, der mit der Stirnseite an Reiters Schreibtisch stieß. Der verließ seinen angestammten Platz und setzte sich zu den Gästen. «Um im Fall Blaschke weiterzukommen, brauche ich eure Hilfe», erklärte er. Es wurde an die Tür geklopft, und ein jüngerer Genosse brachte einen Imbiß. «Ich habe eine Kleinigkeit anrichten lassen», erklärte Reiter, «wenn ich euch schon um den Schlaf bringe, kann ich euch nicht noch verhungern lassen!» Reiter berichtete, was die Observation Blaschkes durch die Leipziger Dienststelle an den Tag gebracht hatte. «Anfangs unterlief den Leipziger Genossen ein Irrtum», erklärte Reiter. «Sie glaubten, Blaschke habe am Vortag einen TBK bei Niemegk beschickt, den sie am Morgen darauf mit einem Spurenhund fanden. Blaschke wollte aber etwas holen und war vergeblich gekommen. Erst am Tage darauf übernahm er den inzwischen deponierten Inhalt!» «Von wem deponiert?», fragte Werner. «Wir vermuten, von einem Kurier des BND. Und nun das Kuriose!» Reiter zeigte auf ein achtzehn mal vierundzwanzig Zentimeter vergrößertes Foto, das anscheinend bei ungünstigen Lichtverhältnissen aufgenommen worden war: die Nixe unterhalb der Bardenburg. «Morgens, fünf Uhr dreißig, Teleobjektiv, Entfernung zweihundert Meter», erklärte Reiter. «Wieder mal der Tankwagenfahrer Schiffer», sagte Faber. Reiter nickte. «Er war mit seinem Lada gekommen!» Werner und Faber blickten auf eine Serie von drei Dutzend Aufnahmen. Schiffer hatte einen Stein aus dem Sockel entfernt und hielt in der Hand einen Gegenstand. «Hier nimmt er die Uhr an sich», erläuterte Reiter. «Unternehmt gegen Schiffer nichts wegen des Öldiebstahls!», fuhr Reiter fort. «Der soll sich sicher fühlen! Schiffer hat in den vergangenen drei Jahren Anschaffungen von rund 229
fünfzigtausend Mark pro Jahr gemacht. Wir werden feststellen, woher das Geld stammt!» Reiter legte ein weiteres Foto auf den Tisch, wieder am Standbild im Park aufgenommen. Schiffer hielt in der linken Hand einen Sockelstein und etwas Weißes in der Rechten. Der Hohlraum gähnte offen. Dieses Bild war bei Tageslicht fotografiert worden. Major Reiter erklärte, es sei von jenem Foto abgelichtet worden, das Blaschke aus dem TBK bei Niemegk geholt und für Schiffer auf dem Hilgendorfer Friedhof deponiert hatte. «Versteht ihr das? Überlegt das mal: Von drüben – vermutlich aus der Pullacher Zentrale – spielt man Schiffer das Foto zu, das ihn selbst als Agent in Aktion zeigt! Vermutlich wurde es allein zu diesem Zweck angefertigt!» Reiter erklärte den entschlüsselten Text: Schiffer war in der Tat krankgeschrieben und suchte sich wohl vor neuen Einsätzen zu drücken! «Da heißt es: ‹Ersten Auftrag wiederholen! Schwarzer Film!› Für uns ist es eine wichtige Information. Es war demnach Schiffers erster Einsatz gewesen. Daß der Film schwarz war, dafür haben wir gesorgt! Dann heißt es: Foto ergänzt Tonband! Das ist zweifellos eine Drohung! Anscheinend besitzt der BND ein Tonband, das Schiffer irgendwie kompromittiert! Und dieses Foto ergänzt es!» Reiters Schlußfolgerungen waren logisch. «Nun zur Hauptsache», fuhr Reiter fort, «weshalb ich euch hergebeten habe. Vorausgeschickt sei, daß dieses Foto mit Tageslicht älter ist als das von uns frühmorgens aufgenommene. Schiffer hat den TBK zum zweiten und letzten Mal benutzt, als er die Kamerauhr holte. Wir müssen klären, aus welcher Perspektive, von welchem Standort es aufgenommen worden ist. Es müßte von einem Baum herab fotografiert worden sein! Aber dort steht keiner so, daß er in Frage käme. Bliebe nur noch ein Hubschrauber!», erwog er ironisch und schloß: «Das ist der Punkt!» «Ich laufe fast jeden Morgen zur Burg hinauf! Von dort oben mit einem Teleobjektiv fotografiert …», überlegte Faber. 230
«Aber die Fenster aller Ausstellungsräume liegen nach Süden. Das bedeutet, daß die Nixe im Park nicht von dort zu sehen ist!», entgegnete Reiter. «Zur Ostseite hin gibt es drei Blindfenster, aber auch eins, das manchmal abends erleuchtet ist!», beharrte Faber. «Stimmt», sagte Major Werner, «das Büro von Doktor Schubart. Das ist der Museumsleiter!» «Als ich ihn zum ersten Mal auf seinem Fahrrad traf, dachte ich, er sei ein Förster», sagte Faber. Major Reiter sah den Leutnant verblüfft an, wandte sich dann an Werner: «Hast du das gehört, Erwin?» Und zu Faber: «Sag das noch mal!» «Sie meinen, daß er wie ein Förster …?» Faber brach ab. «Ich heiße Horst! Das gilt auch für dich! Weshalb dachtest du, er sei ein Förster?» «Seine ganze Erscheinung: grüne Breeches, Wickelgamaschen, Janker aus grünem Lodenstoff und der grüne Hut!» «Und die Krempe?», warf Reiter ein. «Die Krempe? Die Krempe wie beim Schlapphut!» «Ist dir Doktor Schubart mal im Regen begegnet?», wollte Reiter wissen. «Doch, ja, mit Regenmantel», bestätigte Faber. «Aber der grüne Hut, die derben Schnürschuhe und die Wickelgamaschen! Wer trägt denn heute noch Wickelgamaschen?» «Frau Wille beschreibt den Mann, der die Uhr im Toten Briefkasten bei der Nixe deponiert hat, folgendermaßen: Dem fehlte nur die Flinte, dann sähe er aus wie ein Förster», sagte Reiter. «Das stimmt!», entfuhr es Faber. «Das paßt auf Doktor Schubart wie …, wie …» «Die Faust aufs Auge!», ergänzte Reiter und fügte hinzu: «Vorsicht, keine übereilten Schlüsse!» Er stand auf und lief im Zimmer herum. «Unterstellen wir mal, daß Schiffer am Denkmal von Schubarts Büro aus fotografiert wurde!» «Das bedeutet, daß dieser den Zeitpunkt wußte, an dem man den TBK leert!», erklärte Werner. 231
«Den er vermutlich selbst beschickt hat!», ergänzte Faber. «Dann wäre der Kreis geschlossen», erwog Reiter. «Das heißt, wir müssen den Ausgangspunkt unserer Überlegung klären und feststellen, ob Schubarts Büro in Frage kommt!» Reiter drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. Wenig später wurde an die Tür geklopft und diese gleichzeitig geöffnet. Auf der Schwelle stand, sichtlich aus dem Schlaf geschreckt, ein Athlet mit rötlichem lockigem Haar im Trainingsanzug. «Tut mir leid, Peter», sagte Reiter, «es geht nicht anders, mach dich fertig, und sag Wolfgang Bescheid. Wir nehmen den Wolga. Die beiden Genossen klemmen sich mit rein. Meldung, wenn ihr bereit seid!» Peter nickte und verschwand. Reiter erklärte seinen Besuchern, daß er sie zu Hause absetzen würde. «Du willst jetzt, mitten in der Nacht, los?», fragte Werner verwundert. «Wir haben keine Zeit zu verschenken», antwortete Reiter,«außerdem haben wir Vollmond; weshalb sollen wir das nicht ausnutzen?» «Wird Schubart nicht gewarnt, wenn du die Schlüssel …» Reiter ließ Faber nicht ausreden. «Wir brauchen seine Schlüssel nicht. Beim Rat der Stadt sind von allen öffentlichen Gebäuden Zweitschlüssel vorhanden!» Der blaue Trabant-Kombi hielt auf dem Kolonieweg. Schreiber räumte im Schuppen das auf das Diebesgut gehäufte Gerumpel beiseite und legte die mechanischen Spielzeuge behutsam in zwei Kartons. Nach langer Zeit beherrschte ihn wieder einmal das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und die Lethargie der vergangenen Tage zu überwinden. Schreiber trug die Kartons zum Wagen. Er hatte das Vorhaben, das Spielzeug zurückzugeben, mit derselben Unentschlossenheit von einem Tag auf den anderen verschoben, die ihn davon abhielt, eine Verkaufsfahrt anzutreten. Als er sich am Morgen in der Spiegelscherbe angesehen hatte, erschrak er. 232
Ein schwammiges Gesicht mit tagealten Bartstoppeln und trübe blickenden Augen starrte ihm entgegen. Und wie ein Schlag traf ihn die Einsicht, daß er in dem Zustand keine Kunden aufsuchen konnte. Vormittags hatte er im Garten unter den abgeblühten Obstbäumen gesessen und gegrübelt. Es durfte so nicht weitergehen, es mußte etwas geschehen. Er hatte sich in einem Irrgarten verlaufen und mußte den Ausgang finden. Er sehnte sich nach seinem früheren Leben, nach Sauberkeit, Ordnung und nach Beate. Und so hatte er den Entschluß gefaßt, das Spielzeug zurückzuschaffen und die Sache mit Beate ins reine zu bringen. Der Trabant-Kombi stand bis abends beladen da, die beiden Kartons unter einer Decke verborgen. Zum Frühstück hatte er trockenes Knäckebrot gegessen, mittags eine kalte Gulaschkonserve, denn er besaß keinen Spiritus mehr für den Kocher. Am Abend verspürte er Hunger. Als er annahm, daß Beate aus der Kaufhalle zurück war, fuhr er los. Von seiner morgendlichen Euphorie spürte er kaum noch etwas, steigerte sich aber in eine verzweifelte Entschlossenheit hinein. Er wußte, wenn er es heute nicht packte, dann tat er es nie mehr. Er fuhr die Kurve zur Lüsinger Straße zum ersten Male ohne kreischende Reifen. Je näher er dem schmalbrüstigen Reihenhaus kam, um so mehr reduzierte er das Tempo. Die letzten Meter rollte der Trabant lautlos. Fast vor jedem der Häuschen stand ein PKW. Die Enge störte ihn heute nicht wie früher, wenn er von einer Verkaufstour kam. In Wehrhahns Gartenhaus hatte er die Annehmlichkeiten in der Lüsinger Straße zu schätzen gelernt. Schreiber musterte sich im Rückspiegel. Das Glas zeigte ihm, wie unvorteilhaft er sich verändert hatte. Hoffentlich ist Beate da, dachte er. Er lief zur Haustür und drückte auf den Klingelknopf, hörte drinnen Schritte. Es war Helmut, der ihm öffnete. Der Junge starrte ihn an und schluckte. «Vater?» «’n Abend, Junge!», sagte Schreiber. Es wäre ihm lieber ge233
wesen, wenn Helmut ihn mit seinem schnoddrigen «Hallo, Chef!» begrüßt hätte. «Ist Muttsch da?» «Nein.» Helmut rührte sich nicht und füllte den Eingang. «Sie kommt erst nach neun. Versammlung! Ich muß auch gleich weg!» «Läßt du mich deshalb nicht ’rein?» Helmut trat verlegen beiseite. Schreiber schob sich an ihm vorbei. Er öffnete die Küchentür und verharrte auf der Schwelle. Alles blitzte so sauber wie immer. «Du stinkst», sagte Helmut, «muffig, meine ich!» Die lakonische Feststellung traf Schreiber wie ein Schlag. Trotzdem tat er gelassen. «Kein Wunder, ich kampiere in einem Gartenhaus!» «Ich weiß», sagte Helmut, «in Wehrhahns Bruchbude. Das habe ich auch dem Typ gesagt, der nach dir gefragt hat!» Ohne Pause fügte er hinzu: «Kommst du nur so – oder …?» «Oder –! Ich habe ’ne Menge Mist gebaut, Junge! Es hat gedauert, bis ich es eingesehen habe! Jetzt ist es damit vorbei! Oder habt ihr mich abgeschrieben? Von wegen neues Türschloß und so?» «Muttsch grämt sich echt! Sie denkt, ich merke es nicht, wenn sie morgens verweinte Augen hat!» Schreiber überkam Rührung. «Ich mach’s wieder gut, Junge! Ohne euch ist’s kein Leben!» «Mann, Chef!», sagte Helmut und schlug ihm seine Rechte auf die Schulter. «Ich würde erst mal baden», fügte er sachlich hinzu, «ich muß zum Judo!» Schreiber lief durch alle Räume; nichts war verändert. Es gab aber wenig, das an ihn erinnerte. War es nicht schon immer so gewesen? Im Schlafzimmer roch er Beates Parfüm. Auf ihrem Nachttisch stand das Hochzeitsfoto, das früher im Wohnzimmer seinen Platz hatte; er schluckte gerührt. Es war zwanzig Uhr fünfzehn; Beate kam erst nach einundzwanzig Uhr: Schreiber kramte im Schrank in der verbliebenen Wäsche, nahm den Sommeranzug heraus und trug alles ins Wohnzimmer hinunter. Er lief in den Keller ins Bad, riß seine 234
muffig riechenden Sachen vom Leibe; während heißes Wasser in die Wanne rauschte, rasierte er sich mit Helmuts Apparat. Merkwürdig, er wußte nicht, seit wann sich der Junge rasierte. Er genoß das Bad, und ihm schien es, als spülte er mit dem Schmutz von seiner Haut auch die Unreinheiten aus seinem Innern fort. Wie früher duschte er kalt und frottierte sich und erschrak bei dem Gedanken, daß er jetzt eine Verkaufstour fahren könnte. Nach dem Terminkalender wäre der Bezirk Magdeburg an der Reihe. So rasch der Gedanke aufkam, so schnell verwarf er ihn wieder. Er schlang ein Tuch um die Hüften, schlüpfte in die Hausschuhe und lief ins Wohnzimmer hinauf. Als er eintrat, stand Beate vor ihm. Er tastete nach dem Lichtschalter. «Bitte nicht!», bat sie. Beate lehnte an der Schrankwand, ihr Gesicht war ein heller Fleck, dunkel darin die Augen. «Helmut hat mir gesagt, daß du bleiben willst. Ist das wahr?» «Ja, Beate!» Sie trat zu ihm, umschlang seinen Nacken, zog seinen Kopf herab und küßte ihn. Ihre Hände streichelten seinen Rücken. Auf der Straße gingen die Lampen an und warfen Zwielicht ins Zimmer. Sie lag bei ihm. Er spürte ihre Haut. «Ich muß dir etwas beichten, Beatchen!», flüsterte er. «Nicht jetzt!» «Ich war es! Ich bin ins Spielzeugmuseum eingestiegen!» «Nein», sagte sie erschrocken und richtete sich auf. «Das Zeug ist draußen im Trabi. Es fehlt nichts, ich bringe es zurück!» Schreiber erzählte seiner Frau, was er von Blaschke wußte und daß der ihn unter Druck setzen wollte. «Das ist ja furchtbar», flüsterte Beate, «das darfst du doch nicht für dich behalten. Und das Spielzeug, wohin schaffst du es noch heute?» «Wo es hingehört. Und morgen früh sorge ich dafür, daß der Kerl geschnappt wird!» Kurz vor Mitternacht verließ Schreiber das Haus. Beate versuchte ihn zurückzuhalten; es sei doch unsinnig mitten in der 235
Nacht. Er packte ihre Schultern. «Ich weiß nicht, ob ich morgen noch den Mut dazu habe!» Da ließ sie ihn gehen. Schreiber bog mit dem TrabantKombi in die Straße am Wall ein und fuhr an dem parkartigen Garten vorbei. Auf dem Dach des Landhauses blinkte im Mondlicht die Parabolantenne. Er fuhr durch eine schmale Allee. In den gepflegten Gärten standen Einfamilienhäuser. Aus einem von ihnen drangen Musik und Gelächter. Bei Direktor Hase wurde gefeiert. Der Hausherr öffnete ihm selbst und bat ihn in die Diele. «Mann, Schreiber, Sie? Ein verspäteter Geburtstagsgast! Wollen Sie mir gratulieren? Fünfzig wird man nur einmal im Leben!» Direktor Hase war strahlender Laune, doch etwas an Schreiber irritierte ihn. «Ist was passiert?» «Ich bringe ein Geburtstagsgeschenk!» Schreiber deutete nach unten. «Können wir in die Garage?» Hase nickte und legte seine Zigarre in einen Ascher; seine Frau durchquerte die Diele. «Ach, der Herr Schreiber? Wußten Sie, daß mein Mann …?» «’tschuldige, Mutti, laß uns mal», unterbrach Hase sie und ahnte etwas Außergewöhnliches. Er lief in die Kellergarage hinab und öffnete sie von innen. Schreiber stand mit den beiden Kartons vor ihm. «Was bringen Sie denn da?» «Das Spielzeug, alles komplett! Ich war’s, ich bin eingestiegen! Morgen früh gehe ich zur Polizei und stelle mich!» «Menschenskind, Schreiber? Es ist nicht zu fassen! Sie – der Dieb –?» Hase starrte ihn an. Schreiber stellte die Kartons ab. Hase sah ihm fassungslos zu, Schreiber vermied es, ihm in die Augen zu sehen. «Ich werde sagen, ich hab’s getan, weil ich wütend darüber war, nach zwanzig Jahren meine Arbeit zu verlieren. Das stimmt den Staatsanwalt milde!» Er drehte sich um und lief zum Auto. Hase folgte ihm und ergriff seine Hand. «Schreiber, bleiben Sie dabei! Sie haben es aus Enttäuschung getan! Und das stimmt ja dann wohl auch!» 236
Schreiber wandte sich ab und stieg in seinen Trabant. Hase lehnte am Zaunpfosten und blickte ihm kopfschüttelnd nach. Statt zur Lüsinger Straße abzubiegen, fuhr Schreiber zur Gartenanlage. Der Gedanke an den Fremden, dem Helmut die Adresse gegeben hatte, beunruhigte ihn. Blaschkes Ware und die Kassette mit dreitausend Mark befanden sich in dem wurmstichigen Schrank, dessen Schloß keinem Dietrich widerstand. Der Wolga bog von der Hellstetter Chaussee ab und fuhr den Hangweg zur Burg hinauf. Major Reiter saß neben Peter, dem Fahrer, Wolfgang hinten im Fond. Die Steigung nahm zu. Peter schaltete auf den zweiten Gang hinunter. Die Scheinwerfer tasteten voraus, man hätte auf sie verzichten können, denn der Mond spendete fast taghelles Licht. – Im letzten Haus oben am Hang schimmerte es heimelig hinter dem Giebelfenster. Vor der Burggrabenbrücke stoppte Peter. Die drei Männer stiegen aus und schlossen leise die Türen. Ihre Schritte hallten hohl im Tordurchgang. Major Reiter übergab Wolfgang das Schlüsselbund. Der lief voraus in den Oberstock, Reiter und Peter folgten. Die Museumstür besaß ein Sicherheitsschloß, knarrend schwang sie nach innen; dumpfe Luft schlug den Eintretenden im Vorraum entgegen. Der Stand mit der Kasse und den Souvenirs befand sich neben der Tür. Die Dielen knackten bei jedem Schritt. Wolfgang betrat einen der Ausstellungsräume und ging ans Fenster. Der Blick schweifte den in silbriges Licht getauchten Hang hinab bis zur Hellstetter Chaussee; unten stand neben der Burggrabenbrücke der Wolga. Reiter trat neben Wolfgang. «Es stimmt, nur vom Büro aus sieht man den Park und das Denkmal!» Sie durchquerten die Diele. Wolfgang drückte vergeblich auf die altertümliche Klinke. In das klobige Kastenschloß war ein 237
Zylinderschloß eingefügt worden. Wolfgang suchte am Ring den Schlüssel. Doktor Schubarts Büro wirkte spartanisch, als einzige Sitzgelegenheit diente ein Lutherstuhl. Der Schreibtisch schien erst wenige Jahrzehnte alt, doch der Sekretär war ein historisches Möbel. Reiter trat ans Fenster und blickte auf den Park am Fuße der Burg hinunter. Vom Mondschein übergossen stand dort die Nixe auf ihrem Sockel. «Seht es euch an!» Der Major wies das Foto vor. Die Perspektive des Bildes stimmte. Von hier herab war mit einem Teleobjektiv fotografiert worden. Hinter dem Park erblickten sie Bardenbergs friedlich verschlafenes Dächergewirr. «Sehen wir uns mal um!», forderte Reiter. «Und Vorsicht mit den Lampen», mahnte er, «man sieht sonst den Schein unten in der Stadt. Und keine Spuren, bitte ich mir aus!» Peter kauerte vor dem Schreibtisch, untersuchte die Schublade mit der Lupe und pfiff leise. «Horst, sieh mal!» Reiter kniete neben ihm und nahm die Lupe. «Das spricht allerdings für einen Profi!» Über die Schubritze hinweg war ein Perlonfaden geklebt; Peter entfernte ihn behutsam mit einer Pinzette aus dem Spurenkoffer. Wolfgang öffnete vorsichtig das Schloß. Im Schub fanden sie Akten und einen bescheidenen Briefwechsel, eine Rolle Eintrittskarten und in ein Tuch eingewickelt eine Kleinbildkamera mit Teleobjektiv. Peter und Wolfgang blickten abwartend auf Reiter. Der drehte den Fotoapparat nachdenklich in den Händen. «Wenn mehrere Ereignisse zusammentreffen, steckt meist mehr als ein Zufall dahinter. Erstens: Die Zeugin Wille beobachtet einen älteren Mann, der etwas in einem TBK deponiert. Sie schätzt den Mann etwa einsachtzig groß, und er sei wie ein Förster gekleidet gewesen. Zweitens: Der Mann am TBK, für den die Kamerauhr bestimmt war, wird in dem Augenblick fotografiert, als er etwas deponiert! 238
Drittens: Im Büro des Museumsleiters, von dessen Fenster aus das Foto geschossen worden sein könnte, finden wir eine Kamera mit Teleobjektiv! Viertens: Auf Doktor Schubart paßt die Beschreibung des TBK-Beschickers!» «Nicht zu vergessen», ergänzte Peter, «daß Doktor Schubart Grund zu der Annahme haben muß, daß man sich für den Inhalt seiner Schreibtischschublade interessieren könnte! Weshalb sonst der Trick mit dem Faden?» «Stimmt», bestätigte Reiter lakonisch. Wolfgang interessierte sich für den Sekretär. Von zwei abgeblendeten Handlampen angestrahlt, wirkte er wie das Requisit in einem Gruselfilm. «Anscheinend eine echte Antiquität, also vor achtzehnhundertdreißig angefertigt, vor dem Beginn des Maschinenzeitalters!» «Sieh ihn dir genau an, Wolfgang!», forderte Reiter. Peter legte alles so in die Schublade zurück, wie er es vorgefunden hatte. Wer sich des Fadentricks bediente, wußte auch, wie der Inhalt geordnet war. Vorsichtig klebte er den Faden an die alte Stelle. Eine ähnliche Falle fand Wolfgang an der Tür des Sekretärs. Er begann die mit allerlei Broschüren angefüllten Fächer abzuklopfen und fand ein Geheimfach; länger dauerte es, bis er den Federmechanismus entdeckte. Die drei Gesichter wirkten im Schein der verdeckten Handlampen gespenstisch. Sie verrieten Enttäuschung, denn in dem Fach lag lediglich ein Schlüssel. «Immerhin für ein Sicherheitsschloß», spottete Wolfgang. «Suchen wir es!», befahl Reiter. Sie gingen methodisch vor, ließen keinen Raum aus und wußten nach kurzer Zeit, daß das dazu passende Schloß sich außerhalb des Museums befinden mußte. «Vielleicht in Schubarts Wohnung?», äußerte Peter. «Nehmen wir uns erst mal die übrigen Türen vor», entschied Reiter. Nachtgetier schreckte auf, als sie durch die ungenutzten 239
Räume der Burg liefen. Peter stieg die Wendeltreppe empor und trat auf den Söller hinaus. Unter ihm breitete sich eine dicht bewaldete Hügelkette aus. Über ihm blinkten die Fenster des Turmstübchens. Von dort oben mußte der Ausblick noch schöner sein; aber er klinkte vergeblich an der Tür und beleuchtete mit der Handlampe das Schloß. Er stieß einen Pfiff aus und sah sich nach Reiter und Wolfgang um. «Ich habe das Schloß gefunden!», behauptete Peter. Wolfgang steckte den Schlüssel ins Schloß. Er paßte. Bevor er die Tür bewegte, untersuchte er sie. In der rechten oberen Ecke klebte ein hauchdünnes Zellophanblättchen und ließ sich nicht unbeschädigt ablösen. Zum Glück enthielt der Spurenkoffer Zellophantüten. Die Tür schwang auf. Kalte Zugluft drang ihnen entgegen. Zwei Stufen auf einmal nehmend lief Reiter voraus. Die Bohlentür zur Turmstube besaß nur ein einfaches Schloß, und der Schlüssel lag auf dem Balken darüber. Sie traten nacheinander ein und blieben beobachtend stehen. Der erste Eindruck vermittelte Erkenntnisse, die später nicht mehr nachzuempfinden waren. Ein Hocker und eine Truhe waren das einzige Mobiliar. Die in alle Himmelsrichtungen weisenden Fenster ließen soviel Mondhelle ein, daß nur eine Handlampe benötigt wurde. «Horst, sieh mal!» Peter stand an einem der Fenster und deutete hinaus. Reiter trat neben ihn. Auf dem höchsten der Hügel standen unbeweglich die Antennen. Wolfgang erklomm den Hocker, leuchtete ins Dachgebälk und fand ein Fernglas. Er reichte es Reiter. Der ermahnte ihn, sich den Ablageplatz einzuprägen. Dann fand Wolfgang eine in Ölpapier gewickelte Pistole der Marke «Beretta» mit drei Magazinen Munition. Es ließ sich nicht vermeiden, daß der Staub auf dem Ölpapier abgestreift wurde; er verriet, daß Schubart diese Dinge seit Monaten nicht angerührt haben konnte. Das Fernglas dagegen war staubfrei. «Langen wir hin?», fragte Peter. 240
«Natürlich nicht», antwortete der Major. «Erst müssen wir den ganzen Verein beisammen haben!» Reiter befahl, die Waffe funktionsunfähig zu machen. Reiter hoffte, daß Schubart keines der Päckchen aus dem Gebälk holte. Der fehlende Staub würde ihn stutzig machen. Schreiber fühlte sich von einer Last befreit, seit er das Spielzeug zurückgebracht hatte. Bevor er nach Hause fuhr, wollte er seine paar Habseligkeiten aus Wehrhahns Hütte abholen. Und am nächsten Morgen wollte er dann sofort das andere hinter sich bringen. Der Trabant bog auf den Kolonieweg ein und hielt. Die Hütte wirkte selbst im Mondlicht baufällig. Die Gartenpforte knarrte, und eine Katze zwängte sich durch eine Öffnung im Zaun. Zum ersten Mal, seit er hier hauste, überkam Schreiber ein furchtsames Gefühl. Auf dem Balken über der Tür tastete er umsonst nach dem Schlüssel. Dabei hatte er die Tür zugesperrt. Auch im Schloß steckte der Schlüssel nicht. Spielte ihm jemand einen Streich? Ärgerlich darüber, daß Zeit verloren ging, lief er zum Schuppen, suchte einen Spaten und schob ihn neben dem Schloß in den Türspalt. Er brauchte nur geringe Kraft anzuwenden, dann brach es heraus. Schreiber tat ein paar Schritte ins Finstere und stieß gegen etwas am Boden Liegendes. Er bückte sich, fühlte einen Körper und zuckte zurück. Sein Herz klopfte bis zum Halse. Er tastete auf dem Wandbrett nach den Zündhölzern und nach dem Lichtstummel. Seine Hände zitterten, mehrere Hölzchen brachen, ehe eines brannte. Die innere Hitze wich von ihm, jetzt fröstelte er. Die winzige Flamme flackerte, wurde größer und heller. Schreiber leuchtete am Boden. Da lag ein Mann auf dem Gesicht. Die angewinkelten Arme waren nach vorn gestreckt, das linke Bein angezogen. Der Mann war tot! Schreiber spürte eisige Kälte in sich aufsteigen; er tat dennoch einen Schritt vorwärts. Im Kerzenschein sah er, 241
daß der Tote in einer Blutlache lag. Schreiber wurde es übel, er wankte hinaus und erbrach sich. Langsam wurde er ruhiger und begann zu überlegen. Er ahnte, wer der Tote war, und wollte Gewißheit, doch der Lichtstummel erlosch. Auf dem Wandbrett lagen neue Kerzen. Er zündete eine an und klebte sie nahe an die Tischkante. So fiel der Schein auf den Boden, Schreiber überwand seine Scheu und drehte den Kopf des Toten. «Fricke – Albert Fricke!», flüsterte er. Das Gesicht des Toten war nun mit Blut verschmiert. Schreibers Hand war voll davon; ein neuer Brechreiz würgte ihn. Mit einem Handtuch säuberte er seine Hände und sank kraftlos auf das Sofa nieder. Fricke war sicher gekommen, um einen Schnaps zu schnorren. Er kannte das Schlüsselversteck auf dem Türbalken und saß öfter schon wartend auf dem Sofa. Wieso war Fricke tot – ermordet? Hatte der Mörder ihm hier aufgelauert? Plötzlich spürte Schreiber einen Eisklumpen in der Brust. Der Mörder wollte gar nicht Fricke umbringen, sondern ihn! Der Gedanke nistete sich in seinem Hirn ein.
27 Die Autobahn lag wie ein graues Seidenband im Mondschein da. Die Tannenwipfel glichen einer Scherenschnittsilhouette, und selten teilten Scheinwerfer die Nacht. Ein Streifenwagen fuhr in mäßigem Tempo unter der Eisenbahnbrücke hindurch, die die Autobahn überquerte. In der darauffolgenden Kurve tasteten die Scheinwerfer an einer Kiefernschonung entlang. «Noch ein Jahr», sagte Oberwachtmeister Tierbach, «dann kennst du das Häuschen nicht wieder! Du, da drüben hockt einer neben der Bahn!» 242
«Schien mir auch so», brummte Wachtmeister Wolter. «Fahr weiter – und hinter der nächsten Kurve wenden wir!» Wolter beschleunigte das Tempo. «Wie schaffst du das eigentlich», fragte er, «nachts Dienst und am Tage schwingst du die Maurerkelle?» Tierbach hatte von seiner Großmutter ein kleines Anwesen geerbt. «Ich schlafe einfach schneller!», antwortete der Oberwachtmeister. Sie durchfuhren die nächste Kurve. Wolter wendete über den Mittelstreifen hinweg. Sekunden später kam die Stelle in Sicht, die ihnen aufgefallen war. «Licht aus und rechts von der Bahn ’runter und halten!», befahl Tierbach. Er brachte das Nachtglas an die Augen und suchte den Rand der Kiefernschonung ab. Ein Fuchs schnürte über die Fahrbahnen hinweg, Tierbach beobachtete ihn. Meister Reineke jagte nicht, der war vergrämt worden; ihm folgte hakenschlagend ein Hase. Er erreichte knapp vor einem Lastzug den Feldrain. «Komisch», sagte Tierbach, «erst türmt ein Fuchs, danach ein Hase!» «Der Hase war ein Karnickel», widersprach Wolter, der nun ebenfalls sein Glas, benutzte. «Na gut», stimmte der Oberwachtmeister zu, der ehemalige Forstarbeiter war sachkundiger. «Der Schatten ist immer noch da! Hundert Meter vor der Eisenbahnbrücke!» Wolter suchte den Fahrbahnrand ab. «Ziel erkannt!» «Der Schatten bewegt sich», ergänzte Tierbach. «Da liegt einer in den Kusseln und beobachtet die Autobahn!», bestätigte Wolter. Das Sprechfunkgerät knackte. «A neun für A eins kommen!» Tierbach nahm die Sprechmuschel. «Hier A neun, wir hören!» «Ausfahrt Durbach ein Verkehrsunfall; ein holländischer Lastzug ist von der Fahrbahn abgekommen. Unterstützen Sie A vier! Kommen!» 243
«A neun verstanden, Ausfahrt Durbach A vier unterstützen! Wir beobachten zur Zeit nahe der Eisenbahnbrücke bei ‹Wald sechs› eine unbekannte Person! Anscheinend ist ein Treff geplant! A eins kommen!» Es dauerte einige Zeit, ehe die Leitstelle sich wieder meldete und den Einsatzbefehl zurücknahm. Der neue lautete, weiter zu beobachten. Es geschah jedoch nichts. Der Schatten lag unter den Kusseln am Boden und schien eins mit der Finsternis. «Soll ich mich ’ranpirschen?», fragte Wolter. «Du hast wohl Karl May gelesen? Das hier ist kein Indianerspiel! Der Befehl lautet: weiter beobachten!» «Er steht auf! Der wird wohl nervös?», meinte Wolter. «Wir bleiben abwechselnd am Objekt!», befahl Tierbach. Alles deutete auf eine getroffene Absprache hin. Die verabredete Zeit schien überschritten; wie war die Unruhe des Wartenden sonst zu erklären? Die Zeit verging schleppend. Die Leitstelle verlangte eine Lagemeldung. Tierbach gab den Bescheid, daß die unbekannte Person weiterhin den aus Richtung Berliner Ring kommenden Verkehr anvisierte. Je weiter die Zeit vorrückte, um so ungeduldiger wurde der Wartende. Er erhob sich in immer kürzeren Abständen. Zwei Stunden waren vergangen, seit der Unbekannte entdeckt worden war, da näherten sich im linken Außenspiegel des Streifenwagens, der etwa dreihundert Meter rückwärtige Fahrbahn erfaßte, die Scheinwerfer eines großen PKWs. Der verringerte seine Geschwindigkeit und rollte vorüber. «Ein Mercedes», raunte Wolter. «Frankfurter Kennzeichen», ergänzte Tierbach. Die Bremsleuchten des Mercedes blinkten mehrmals. Der Fahrer bremste in Intervallen und lenkte in der Nähe der Eisenbahnbrücke hart an den Fahrbahnrand. Der Schatten sprang aus den Kusseln heraus und gab ein Stoppzeichen. Der PKW hielt. Alles Weitere geschah sekundenschnell: Die Heckklappe schwang empor. Die Schattengestalt schlüpfte in den Koffer244
raum, und der Deckel fiel herab. Der Fahrer gab Gas, und der Mercedes beschleunigte. Wolter startete den Streifenwagen, und Tierbach verständigte die Leitstelle. Sie sollten dem Mercedes folgen und nach fünf zig Kilometern abgelöst werden. Wolter lenkte auf die Bahn und trat das Gaspedal durch. Der Lada erreichte rasch seine Höchstgeschwindigkeit. Der Abstand zum vorausfahrenden Mercedes wurde bald geringer. Kriminalmeister Schott versah in dieser Nacht Kriminaldauerdienst, von einem Helfer der Volkspolizei assistiert, einem älteren Genossen des städtischen Bauamtes. Schott bewunderte Gruber, der sich so manche Nacht um die Ohren schlug, um für die Gesellschaft tätig zu sein. In Bardenberg war es jetzt unruhiger als vor zwei Jahren, ehe die Baustellen eingerichtet wurden. Die Bauarbeiter verursachten zwar nur Kleinkram, auch mal eine tätliche Auseinandersetzung, aber selten so ernsthaft, daß die Abteilung «Gesundheit und Leben» tätig werden mußte. Vorübergehend leitete Major Werner auch dieses Dezernat. Das Telefon läutete. Die Eingangswache meldete den Bürger Schreiber, der dringend zur Kriminalpolizei wollte. Schott wies an, ihn heraufzuführen. In Begleitung eines Wachtmeisters trat Schreiber ein; Schott erinnerte sich, ihm in der Stadt schon begegnet zu sein. «Sie wohnen in der Lüsinger Straße, nicht wahr?», fragte Gruber und nippte an seinem Tee. Schreiber nickte abwesend. Er nahm auf dem Stuhl vor Schotts Schreibtisch Platz und drehte die Mütze nervös in den Händen. Der Kriminalmeister musterte ihn, betrunken war der nicht, aber total verwirrt. Dabei wirkte er gepflegt. «Worum geht es, Herr Schreiber?» Der kehrte mit seinen Gedanken anscheinend aus weiter Ferne in die Gegenwart zurück. «In Wehrhahns Gartenhaus liegt ein Toter! Erstochen!» Schott wurde blaß, drückte die Taste des Tonbandgerätes 245
und ließ die Worte von Schreiber wiederholen. «Kennen Sie den Toten?» «Ja. Fricke – Albert Fricke aus der Kolonie!» Kriminalmeister Schott staunte. «Der alte Fricke?» Der eigenbrötlerische Sonderling, der mit seinem Handwägelchen Flaschen, Altpapier und Schrott sammelte und zur Aufkaufstelle schaffte, war stadtbekannt. Schott deutete auf Schreibers Jacke. «Ist das Blut?» Schreiber nickte. «Ja, das ist alles blutig, überall Blut!» Kriminalmeister Schott entdeckte auch Schmierblut auf Schreibers Handrücken und beugte sich zu Gruber hinüber. «Nimm seine Personalien auf – und laß dir Zeit!» Laut sagte er: «Wir schreiben ein Protokoll, dann sehen wir weiter!» Schott verließ das Dienstzimmer, um von einem anderen Apparat aus zu telefonieren. Auf dem Nachttisch läutete das Telefon. Der Major fuhr aus dem Schlaf. «Werner!» Claudia sah, daß er erschrak. Werner hörte ungläubig an, was Schott von dem Mord in der Schreberkolonie berichtete. «Genosse Major, ich wette, daß Schreiber die Tat begangen hat. Sein verwirrter Zustand, das Blut an seiner Kleidung und an den Händen sprechen dafür», sagte Schott aufgeregt. Major Werner unterdrückte einen Fluch; seit Jahren hatte es im Kreisgebiet keinen gewaltsamen Todesfall gegeben. Ausgerechnet jetzt passierte so etwas. «Ich komme, Genosse Schott! Faber soll auch ’ran! Sie wissen, wo er wohnt?» Zugleich meldete sich in ihm die in vielen Dienstjahren erworbene Skepsis. «Sind Sie sicher, daß es kein blinder Alarm ist?» «Das Blut an seinem Anzug ist jedenfalls echt!», antwortete Schott. Der Major zögerte, meinte dann: «Informieren Sie den Tatortstaatsanwalt! Die MUK in Gohla aber erst, wenn wir uns überzeugt haben!» 246
«Geht klar», versprach Schott, «ich nehme Faber gleich mit. Die Stellwache übernimmt Genosse Gruber. Unser Streifenwagen ist eben aus Hellstedt zurück, da war Disko! Soll ich ihn rufen?» «Ja, einverstanden.» Werner legte auf. Er kleidete sich hastig an. Claudia musterte ihn fragend. «Ein – ein Toter?» «Ja, Liebes! Das muß ausgerechnet mir passieren!» «Du hast kaum geschlafen. Soll ich dir rasch einen Kaffee …?» «Keine Zeit! Mit Schlafen wird es heute nichts mehr!» Werner seufzte enttäuscht. Der Dienstwagen hielt an der Bordsteinkante. Die Haustür war offen. Kriminalmeister Schott rannte zum ersten Stock hinauf. Er drehte den altmodischen Klingelwirbel unter dem Namensschild «Reinke». Es schnarrte blechern. Überraschend schnell wurde geöffnet; eine junge Frau blickte ihn mit verweinten Augen an. «Volkspolizei, Kriminalmeister Schott! Ich möchte zu Leutnant Faber!» Die junge Frau schluckte. «Er – ist nicht hier, er telefoniert. Meine Tante …» Sie brach ab, Tränen rannen ihr die Wangen hinab. Schott erklärte, er sei in Eile, Das fehlte noch, dachte er, daß der Tatortstaatsanwalt früher am Ereignisort ist als die K. «Sagen Sie ihm bitte, es sei ein dringender Einsatz in der Schreberkolonie! Das Gartenhaus von dem Puppenmacher Wehrhahn! Behalten Sie es auch?», fragte er besorgt, denn die junge Frau lauschte in die Wohnung hinein. Schott murmelte eine Floskel und ging. Karin kehrte ins Zimmer zurück. Die Tante lag mit entstellter linker Gesichtshälfte in den Kissen und atmete flach. Faber kam zurück. Die erste Telefonzelle war defekt gewesen, er mußte eine zweite aufsuchen. Und der Trabant stand auf dem Grundstück des Postsekretärs. «Sie schicken die dringende medizinische Hilfe», versicherte er. 247
«Ich habe Angst, daß sie stirbt», flüsterte Karin und umfing ihn, «laß mich nicht allein!» «Natürlich nicht», beruhigte er sie. Der Krankenwagen traf ein, und die junge Ärztin wirkte selbstsicher. Hoffentlich verbarg sie dahinter nicht ihre Unerfahrenheit, dachte Faber. Er ging ins Wohnzimmer und versuchte sich im Sessel zu entspannen. Er schrak auf, als Karin verstört auf der Türschwelle stand. Sein erster Gedanke war, daß die Tante verstorben sei. Ein Wachtmeister der Funkstreife drängte an Karin vorbei. «Major Werner schickt uns, Genosse Leutnant, wo Sie denn bleiben? Wir sollen Sie holen!» «Wo ich bleibe? Wieso?» Der Wachtmeister schüttelte erstaunt den Kopf. «Wissen Sie’s denn nicht? Genosse Schott wollte Sie holen, vor ’ner Stunde schon. Sie waren nicht da. Ein Mord in der Schreberkolonie, in Wehrhahns Gartenhaus!» Faber sprang empör. «Schreiber –?» «Nee, aber der hat den Toten gefunden, einen gewissen Fricke!» «Das kann doch nicht wahr sein?», flüsterte Faber. «Es ist nicht zu fassen! Und ich sitze hier und.. » Er hastete zur Tür und blieb vor Karin stehen. «Und du – du sagst mir kein Wort, daß Schott hier war?» Karin sah ihn erschrocken an, aus ihrem Gesicht wich die letzte Spur von Farbe. «Lieber Himmel, auch das noch! Verzeih mir, Uwe! Ich bin so durcheinander, ich kann an gar nichts mehr denken. Ich hab es vergessen!» «Kommen Sie!», sagte Faber zu dem Wachtmeister, der im Flur wartete. «Uwe –!», rief Karin. Faber hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme und lief noch einmal zurück. Er nahm sie in die Arme und streichelte sie. Beruhigend redete er auf sie ein. «Ich verstehe dich ja», flüsterte er, «erst die Tante und nun so etwas 1 Ich muß los! Bitte, begreif das!», sagte er eindringlich und löste sich von ihr. Dann schlug die Wohnungstür hinter ihm zu. 248
«Machen Sie mir nur nicht schlapp, Kindchen», sagte die Ärztin zu Karin. «Wir können jetzt. Kommen Sie mit? Es wäre gut, wenn Sie bei ihr sind, sobald sie aufwacht!» «Ja, ich komme mit», sagte Karin. Der Mercedes war der Grenzkontrollstelle gemeldet worden. Nicht zum ersten Male wurde das Ausschleusen einer Person mit Hilfe eines präparierten PKWs versucht. Das Fahrzeug war seit der Aufnahme der Person observiert worden und hatte nicht mehr angehalten. Der Offizier ermahnte die Soldaten, sich nicht provozieren zu lassen, ruhig und bestimmt zu handeln. Der Fahrer des Mercedes lenkte den PKW in die freie Fahrspur. Der Oberleutnant trat an den Wagen und grüßte, gab aber das Reisedokument des Fahrers nicht zurück, sondern forderte ihn auf, den Kofferraum zu öffnen. «Wie kommen Sie dazu?», protestierte der Fahrer. Er war klein und untersetzt, seine Begleiterin schien wesentlich jünger. Der Mann sprach unverkennbaren Frankfurter Dialekt. «Es besteht begründeter Verdacht, daß in Ihrem Fahrzeug eine Person gesetzwidrig in die BRD ausgeschleust wird», erklärte der Oberleutnant. Der Fahrer reagierte blitzschnell, schaltete und gab Gas. Der Wagen schoß mit kreischenden Reifen vorwärts. Ein Grenzsoldat sprang zur Seite, um nicht überfahren zu werden. Die Trillerpfeife des Offiziers schrillte. Vor dem Mercedes rollte ein Hindernis auf die Fahrbahn. Der Fahrer stoppte den Wagen knapp, bevor die vorderen Pneus von den eisernen Dornen zerfetzt wurden. Soldaten umringten das Fahrzeug mit der MPi im Anschlag. Der Fahrer und seine attraktive Begleiterin gaben auf und wurden abgeführt. Der Kofferraum wurde geöffnet, er war aber leer. Doch der herbeigeholte Diensthund verbellte hartnäckig die Rückenlehne der Sitzbank. Der Mann, der darin festgegurtet lag, verließ steifbeinig den Container. Er mochte Mitte Dreißig sein, wirkte sportlich und 249
trug das Haar im Bürstenschnitt. Laut Personaldokument war er der fünfunddreißigjährige in München wohnhafte Eberhard Körber. «Ihre Unterstellung, daß ich ein DDR-Bürger sei, der ausgeschleust werden soll, ist absurd», behauptete er. «Ich wähle den ungewöhnlichen Weg auszureisen nur, weil ich mein Reisedokument verloren habe!» «Das Argument überzeugt mich nicht», antwortete der Oberleutnant, «wie erklären Sie, daß der Mercedes genau dort hielt, wo Sie im Gebüsch warteten?» Der angebliche Münchner versicherte wortreich, daß man seines Mißgeschicks wegen an jener Stelle verabredet gewesen sei. Die beiden Männer und die Frau folgten den Grenzsoldaten in das Dienstgebäude, Der Streifenwagen bog zur Schreberkolonie ein. Faber sah von weitem das grelle Licht der Standleuchten; sie erinnerten ihn an eine Baustelle bei Nachtschicht. Etliche Dienstfahrzeuge blockierten den Hauptweg. Der Streifenwagen stoppte, und die Türen krachten, daß es von den Hängen widerhallte. «Wo bleibst du denn», fuhr Major Werner Faber an, «hat Karin dich nicht munter gekriegt?» Werner stand auf dem Gartenweg, etwas entfernt wartete Schreiber zwischen zwei Wachtmeistern. «Ich habe nicht geschlafen», antwortete Faber. «Karins Tante hatte einen Schlaganfall. Ich mußte nach dem Rettungswagen telefonieren – und ehe der kam …» Er verstummte. Daß Karin eine Weisung nicht weitergegeben hatte, verschwieg er. Werner sah ihn erschrocken an. «Tut mir leid, das konnte ich nicht wissen. Schott hat nichts davon gesagt.» Neben der Gartenpforte stand der Spurenkoffer. Werner hob den Deckel; Faber nahm einen Spurenmarkierer heraus und streifte das elastische Zackenband über seinen rechten Schuh, damit seine Fußspuren von den anderen Eindrücken zu unterscheiden waren. 250
Schott versah als Trassologe inzwischen vierzehn verschiedene Tatortspuren mit Nummern. Die Blitzlichte zuckten im Gartenhaus. «Bevor die Genossen der Mord- und Unfalluntersuchungskommission aus Gohla anrücken, vergeht noch eine Stunde. Wir sichern schon das Wichtigste», erklärte Werner. Faber folgte ihm zu der Hütte. Neben einer Markierung mit der Nummer acht verhielt Werner und zeigte auf den Abdruck eines rechten Schuhs mit gerippter Sohle. Hier war jemand vom Betonweg abgekommen; die Schuhspitze zeigte zur Gartenpforte. «Weder Schreibers noch die Schuhe des Toten haben solche Sohlen», erklärte Werner. Leutnant Faber war es beklommen zumute, als er von der Veranda aus in die hell ausgeleuchtete Stube und auf die am Boden liegende Gestalt blickte. Schott markierte einige Stellen auf dem Tisch mit dem schäbigen Wachstuch und erklärte, daß es überall Blutspuren gäbe. Außer der Lache am Boden handelte es sich um Wischblut. Faber sah sich zum ersten Mal mit einem Mordfall konfrontiert. Er wunderte sich nur, daß Werner ihn hinzuzog. Als errate er Fabers Gedanken, erklärte der Major: «Schreiber hat übrigens den Diebstahl im Spielzeugmuseum gestanden!» Faber schluckte verblüfft. «Und wo hat er das Zeug?» «Gestern abend zu Direktor Hase geschafft!» «Am Abend? Wie spät?», wandte Faber sich an Schreiber, der zögernd nähertrat. «Wie spät war es, als Sie bei Direktor Hase waren?» «Halb zwölf», antwortete Schreiber. «Mitten in der Nacht?» Faber staunte. «Das verstehe ich nicht!» «Er wird es uns erklären», versicherte Werner. Von der Landstraße klang Motorengeräusch herüber. Ein Scheinwerferpaar schwenkte auf den Hauptweg der Kolonie ein. Der Motor verstummte, zwei Männer stiegen aus. Die Autotüren klappten. 251
Major Werner kannte Busse, den Tatortstaatsanwalt des Bezirkes Gohla, und seinen Begleiter, den Gerichtsmediziner Doktor Bausch. Beide wandten sich nach einer kurzen Begrüßung dem Gartenhaus zu. «’n Abend, Schott», grüßte Bausch, «richtiger ‹guten Morgen›! Wie weit sind Sie?» «Alles im Kasten. Kommen Sie ohne die MUK?» «Ja. Im Kraftfutterwerk gab’s ’ne Havarie; dorthin ist die Einsatzgruppe!» Staatsanwalt Busse, untersetzt, aber beweglich, trat mit Werner in die Tür. Das einräumige Häuschen wirkte mit dem alten Sofa, dem wackligen Tisch und ebensolchen Stühlen ungemütlich. Der Mahagonischrank mochte einmal das Prunkstück in Wehrhahns guter Stube gewesen sein. Doktor Bausch ließ den Tisch wegrücken, den Toten auf eine Plastdecke legen und begann ihn zu untersuchen. «Sie kommen bestimmt auch ohne die Gohlaer klar, Genosse Werner», erklärte Busse, «den Hut habe ich ja auf.» «Darum beneide ich Sie nicht», versicherte Werner. «Das ist Leutnant Faber!» Der fühlte sich gemustert und tauschte einen Händedruck. «Halten die Lampen durch?», rief Busse. «Die Akkus sind voll!», behauptete Schott. Doktor Bausch richtete sich auf. «Würgemale am Hals! Der Täter fiel ihn von hinten an, denn die Daumenabdrücke sind im Nacken! Als der alte Mann sich wehrte, stieß er ihm das Messer in die rechte Niere!» «Das kann ich mir nicht vorstellen! Entschuldigen Sie», sagte Faber. «Wie funktioniert denn das? Der Täter würgt sein Opfer, und das wehrt sich. Dann erst zieht er das Messer und sticht zu?» «Das Messer hielt er vermutlich zwischen den Zähnen», sagte Werner, «eine typische Rangermasche!» «Zeitpunkt des Todes, Doktor?», fragte Busse. «Mit Vorbehalt: zwischen neunzehn und zwanzig Uhr, keinesfalls später!» 252
Auf dem Hauptweg stoppte der Leichenwagen. Zwei Männer in grauen Kitteln trugen den Transportsarg herbei und betteten den Toten hinein. Faber beobachtete Schreiber. Der stand mit unbewegtem Gesicht da. Major Werner fragte ihn: «Woran denken Sie?» Schreibers Antwort überraschte: «Daß wohl ich darin liegen sollte!» Werner und Faber tauschten einen erstaunten Blick. Schott wies ein Paar strapazierte Halbschuhe vor. «Diese Treter, Genosse Faber, haben die Spuren im Blumenbeet der Spielzeugfabrik hinterlassen. Stimmt es nicht, mache ich mir ’n Gulasch draus!» «Guten Appetit. Vermutlich stimmt es aber, wenn Sie es sagen. Der Einstieg geht ja auf Schreibers Konto!» Der Streifenwagen kam und brachte den alten Wehrhahn. «Es handelt sich nur um eine Formalität, Herr Wehrhahn», versicherte Faber. Der Tatortstaatsanwalt hatte das Häuschen nach der Spurensicherung freigegeben. Da der Bewohner festgenommen wurde, sollte der Eigentümer das Gartenhaus übernehmen. Auf der Türschwelle zögerte Wehrhahn. Die dürftige Ausstattung war ihm noch nie so augenfällig geworden wie jetzt im grellen Licht der Standleuchte. Er blickte verwirrt auf den Sand am Boden, «Hier muß gründlich gesäubert werden, Herr Wehrhahn!», sagte Faber. «Kannten Sie Fricke? Er wohnte hier in der Kolonie!» «Doch, ja, flüchtig!» Wehrhahn nickte. Faber öffnete den Mahagonischrank. Der Inhalt war von Schott protokolliert worden. Wehrhahn zeigte auf die Geldkassette. «Die gehört Schreiber! Was hat der denn mit dem Mord zu tun? Und was hatte Fricke hier zu suchen?» «Das wird Schreiber uns erklären!», antwortete Faber. Neben der Kassette lagen vier Taschenrechner und drei Quarzarmbanduhren. Im untersten Fach standen zwei Paar Schuhe, deren rechter jeweils eine dickere Sohle als der linke besaß. 253
Faber zählte vierzig Schallplatten. Es waren fünf verschiedene Rockplatten. Er schloß daraus, daß Schreiber kein Sammler war und daß die Platten zum Verkauf bestimmt waren. «Schreiber handelt damit», sagte Wehrhahn, «vielleicht wollte Fricke was kaufen?» «Vielleicht», wiederholte Faber. «Bleiben Sie hier?» Wehrhahn hob erschrocken die Hände. «Lieber Himmel, nein!» Ein Wachtmeister der Funkstreife vernagelte die aufgebrochene Tür. Auf der Fahrt in die Stadt schaltete der Fahrer die Scheinwerfer aus; es tagte. Faber trug die Asservaten, darunter den Schallplattenstapel, in sein Dienstzimmer. Nebenan redeten Busse und Werner miteinander; er klopfte an die Zwischentür und trat ein. Staatsanwalt Busse erklärte, es gelte vor allem die drei Sachverhalte voneinander zu trennen: Schreibers Schwarzhandel mit westlichen Industriewaren, den von ihm eingestandenen Diebstahl im Spielzeugmuseum sowie die Rückgabe des Diebesgutes an Direktor Hase und die Frage, in welcher Weise Schreiber in den Mordfall verstrickt war. «Ich halte ihn für den Täter», erklärte Faber. «Es ist eine alte Erfahrung, daß der Täter eine geringere Straftat eingesteht, um das schwerere Delikt um so glaubhafter leugnen zu können!» «Ein alter Hut», bestätigte Busse. «Wie lauten Schreibers erste Einlassungen?» Faber setzte sich neben Werners Schreibtisch. Der Major studierte seine Zettel. «Schreiber will sich bereits vor Tagen entschlossen haben, das Spielzeug zurückzugeben; aber gestern erst hätte er sich dazu durchgerungen. Mir schien, daß er die Wahrheit sagte. Er hatte seiner Frau den Diebstahl gestanden, und sie hätte ihm verziehen, behauptet er. Gestern abend wäre es zur Versöhnung gekommen, und vor Mitternacht hätte er das Spielzeug dann zu Direktor Hase gebracht!» «Das stelle man sich mal vor», meinte Busse, «den nachts aus dem Bett zu holen und …» 254
«Hase feierte seinen Geburtstag», äußerte Werner. «Es ist dein Fall, befrage Hase!», forderte er Faber auf. «Ja, das geht klar!» «Halten wir mal fest», verlangte Busse, «daß Schreiber bis dahin nicht wußte, daß im Gartenhaus ein Toter lag! Da er mit seiner Frau versöhnt war, gab es für ihn keinen Grund, dorthin zurückzukehren!» «Das stimmt. Darüber muß er sich äußern», pflichtete Werner bei. «Ich meine aber, hätte er Fricke umgebracht, gegen neunzehn Uhr also, bevor er seine Frau aufsuchte, dann hätte er das Häuschen nicht mehr betreten!» «Seine Jacke war blutig», erinnerte Busse, «das wäre seiner Frau aufgefallen!» «Er könnte die Tat begangen haben, ohne sich zu beschmutzen», erwog Faber, «und sich die Blutflecke erst später beigebracht haben, um damit zu beweisen, daß er nicht der Mörder sein kann! Seine Frau kann ja bezeugen, daß die Jacke gleich nach der Tatzeit nicht mit Blut beschmutzt war!» Busse winkte ab. «Hören wir auf zu spekulieren. Ich rechne mit baldigen Laborergebnissen. Und jetzt könnte ich einen Kaffee vertragen!»
28 Schubart hatte eine schlechte Nacht verbracht; er träumte verworren und erwachte davon, ohne sich an Einzelheiten zu erinnern. Danach schlief er nicht mehr ein. Um halb vier wurde es hell, da stand er auf und ging ins Bad. Es gab zwei Gründe, heute auf das Frühstück am Fenster zu verzichten: Erstens wollte er Evelin nicht begegnen. Sie hatte vielleicht schon entdeckt, welches Mißgeschick ihm passiert war. Während er sich rasierte, musterte er sich im Spiegel. Ev 255
behauptete scherzhaft, je älter er werde, desto enger würden seine Augen zusammenrücken. «So ein Quatsch!», murmelte er. Am Abend vorher hafte er heimlich aus Evelins Aktentasche einen Hefter genommen, um die Blätter darin abzulichten. Die Feder des Hefters war defekt. Die drei Dutzend Blätter flatterten heraus und ließen sich nicht wieder einordnen, da sie nicht numeriert waren. Zweitens verzichtete er auf das gemütliche Frühstück am Fenster, weil er sich um so sicherer fühlte, je früher er den TBK an der gesprengten Autobahnbrücke aufsuchte. Sein Haß auf Grindel wuchs. Allein ihm war es zuzuschreiben, daß ihn die Zentrale in Pullach auf seine Stieftochter angesetzt hatte. Dennoch hoffte Schubart, daß Grindel nicht enttarnt würde. Dann wäre auch er erledigt. Schubart verließ leise das Bad. Behutsam schloß er die Wohnungstür und schlich leise die Treppe hinab. Aus der Garage auf dem Hof fuhr er den Wartburg auf den Marktplatz hinaus. Der lag noch verlassen da; nur eine Katze schlich an den Häusern entlang. Schubart wählte die Richtung zur zwölf Kilometer entfernten Autobahn. Im Rückspiegel entdeckte er dann bald einen weißen Lada, der einen gleichbleibenden Abstand einhielt. Schubart verspürte Unbehagen. Hinter einer Kurve stoppte Schubart, stieg aus und hob die Motorhaube. Der Lada hielt hinter ihm, und Schubart sah erleichtert, daß es ein Kennzeichen des Bezirkes Leipzig war. Hätte er gewußt, daß der Leiter der Bardenberger Dienststelle die Leipziger Genossen, die ihm als Verstärkung zugeteilt worden waren, zur Observation eingesetzt hatte, wäre Schubart beunruhigt gewesen. Der Fahrer, ein sportlich wirkender junger Mann, trat, näher und fragte, ob er helfen könne. Schubart wehrte ab. «Der Motor ist plötzlich nur auf zwei Zylindern gelaufen, ein Kabelstecker ist lose gewesen.» Der Lada fuhr weiter und wurde von einem Motorrad abgelöst. Der Verkehr nahm zu. Schubart fuhr der aufgehenden Son256
ne entgegen. Es kam jedoch keine Freude an der Fahrt in ihm auf, solange er sein Vorhaben nicht hinter sich gebracht hatte. Schubart fuhr an den zerstörten Brückenpfeilern vorbei und nutzte die nächste Ausfahrt zum Wenden. Über eine Straßenbrücke hinweg gewann er die Gegenfahrbahn; ein Motorradfahrer wendete hinter der nächsten Kurve über den Grünstreifen hinweg. Schubart sah erleichtert, daß der Rastplatz leer war, und hielt. Bevor er im Gebüsch verschwand, lenkte ein Lastzug auf den Rastplatz und hielt mit zischender Druckluftbremse. Daß dichtauf ein Motorrad folgte, dessen Fahrer eilig in den Wald lief, bemerkte er nicht. Schubart pirschte den vertrauten TBK an und vermied behutsam, auf trockene Zweige zu treten. Plötzlich zuckte er zusammen. Seitwärts von ihm knackte Holz. Er lauschte. Es regte sich nichts. Der Fernfahrer schlug sich wohl in die Büsche, dachte er. Vor ihm lag die Brückenruine mit den Betonbrocken; er suchte den, der einem kauernden Gartenzwerg ähnelte. Schubart fuhr längst wieder in Richtung Bardenberg, da irrte der Motorradfahrer, der bisher Blaschke in Leipzig observiert hatte und ausgetauscht worden war, noch immer zwischen den Trümmern herum. Die Entfernung war zu groß gewesen, um den Stein zu erkennen, den der Wartburgfahrer aufgehoben hatte. Die Betonstücke waren feucht vom Tau. Der Motorradfahrer tastete sie ab und fand unter einem der Trümmerbrocken die vermutete Metallhülse. Major Reiter hatte geahnt, daß Schubart irgendwann einen TBK mit einem Film beschicken würde und für diesen Fall eine Kollektion belichteter Filme aller gängigen Sorten mitgegeben. Die Hülse enthielt in der Tat einen Kleinbildfilm mit sechsunddreißig Aufnahmen. Der Motorradfahrer besaß auch dieses Fabrikat und tauschte die Filme aus. Schreiber fühlte sich in dem Drillichanzug und mit den viel zu großen Schnürschuhen, die Kriminalmeister Schott ihm gege257
ben hatte, unbehaglich; seinen Anzug und seine Schuhe hatte man ihm abgenommen, alles wurde untersucht. Am bedrückendsten empfand er, daß man sogar den Schmutz unter seinen Fingernägeln entfernt und in eine Zellophantüte getan hatte. Die glauben bestimmt, ich habe Fricke umgebracht, dachte er, als er auf dem Stuhl vor Major Werners Schreibtisch saß. Der beachtete ihn vorerst gar nicht und tat so, als sei wichtiger, was er von verschiedenen Zetteln auf ein Formular übertrug. Nutzlos dazusitzen nervte Schreiber. Warum fragte der Offizier denn nichts? Wartete er darauf, was die Laboruntersuchung ergab? Das konnte er sich sparen, Schreiber wollte sagen, was gewesen ist. Die Tür ging auf, und der Staatsanwalt und der junge Leutnant, der ihm auf seine Annonce geschrieben hatte, traten herein. Sie nahmen rechts und links neben dem Major Platz. Wie alt mochte der Leutnant wohl sein? überlegte Schreiber. Der sah so jung aus. «So, nun schildern Sie mal, wie Sie den gestrigen Tag verbracht haben!», forderte der Major. Die Frage verriet, daß man in ihm nicht einen Zeugen, sondern den Tatverdächtigen sah. «Sie denken wohl, ich habe Fricke umgebracht?», fragte Schreiber bitter, «Haben Sie es denn?», fragte der Staatsanwalt. «Nein, natürlich nicht!», antwortete Schreiber heftig. Der Major wiederholte seine Aufforderung, und Schreiber schilderte seine Unternehmungen am Vortage. Der Leutnant legte ein neues Tonband ein. Staatsanwalt und Major nahmen es geduldig hin, wenn er seine Schilderung unterbrach, um nachzudenken. «Hat Fricke Sie öfter besucht?», fragte der Leutnant. Schreiber nickte. «Ja, fast jeden Tag!» «Und was wollte er?» Der Staatsanwalt sah ihn forschend an. «Er hauste allein, genau wie ich!» 258
«Wollen Sie damit sagen, daß er Kontakt suchte, nur mit jemandem sprechen wollte?», fragte Werner. «Ja, das auch. Fricke hatte ’ne Menge erlebt, der war ’rumgekommen in der Welt; jahrelang mit einem Zirkus gereist. Und daß ich meist einen Schnaps spendierte, wußte er auch!» Major Werner lächelte verstohlen. «Wie kam Fricke?», fragte Staatsanwalt Busse: «Zu Fuß? Oder mit einem Fahrzeug?» «Zu Fuß», antwortete Schreiber. «Als der Tote geholt wurde», erinnerte Major Werner, «da sagten Sie, daß Sie in dem Transportsarg hätten liegen sollen! Wie war das gemeint?» Schreiber senkte den Kopf und schwieg. Aber Werner und Busse beharrten darauf, daß er sich erkläre, «Wenn Sie eine so schwerwiegende Äußerung tun, muß es doch Gründe geben. Wer hätte Ihnen denn nach dem Leben trachten sollen und weshalb?», fragte der Staatsanwalt ziemlich scharf. «Ich verstehe Sie nicht, Herr Schreiber», erklärte Major Werner, «anscheinend wollen Sie den Mann, der Ihnen nach dem Leben trachtet, schonen?» «Das will ich nicht. Ich wäre heute sowieso hergekommen und …» Schreiber verstummte, als habe er ein letztes Hemmnis zu überwinden. Endlich hob er den Kopf, sah den Major fest an und sagte: «Es ist ein gewisser Blaschke in LeipzigGohlis! Er hat einen Laden, Zettelaushang und so! Er wollte mich erpressen!» Der Major und der Leutnant verrieten keine Spur Überraschung, im Gegenteil, der Name schien ihnen geläufig. Der Major flüsterte mit dem Staatsanwalt. «Ich habe nämlich von Blaschke westliche Industriewaren bezogen!», offenbarte Schreiber endlich. Der Major reichte ihm die Liste der sichergestellten Gegenstände, und Schreiber bestätigte, die Waren von Blaschke bekommen zu haben. «Blaschke wollte Sie erpressen? Wie denn? Er war doch selbst an dem Schwarzhandel beteiligt?» 259
Stockend berichtete Schreiber von seinem Diebstahl im Spielzeugmuseum. «Blaschke wußte sofort, woher ich das Zeug hatte. Es stand ja in der Zeitung. Er drohte, mich anzuzeigen; es sei denn, ich arbeite für ihn!» Schreiber atmete geräuschvoll und stieß dann hervor: «Blaschke spioniert für die drüben.» Schreiber wunderte sich, daß seine Enthüllung die Kriminalisten kaum zu überraschen schien. Ihren Mienen war nichts anzumerken. «War das der Anlaß für Sie, das Diebesgut zurückzugeben?», fragte der Major. «Ja, genau!» Schreiber nickte. «Ich bin aus dem Tritt gekommen, das stimmt, aber spionieren? Nee!» Faber schob Werner einen Zettel hin, der las ihn und nickte. «Wie kamen Sie zu dem Personalausweis des Bürgers Herbert Schuster in Sonneberg?», fragte der Leutnant. Schreiber durchfuhr es siedendheiß. Selbst das wußte die Kripo? Er senkte resignierend den Kopf und gestand, den Ausweis im Gohlaer Bahnhofsrestaurant gefunden zu haben. «Sie sahen also nur eine Möglichkeit, sich Blaschkes Erpressung zu entziehen», wiederholte der Staatsanwalt, «indem Sie das Spielzeug zurückgaben! War es so?» «Ja», bestätigte der Gefragte. «Wo hatten Sie das Diebesgut gelassen?», wollte Major Werner wissen. «Im Schuppen!», antwortete Schreiber. «Sie trugen es also vom Schuppen zum Trabant – und dann kam Fricke!», behauptete der Leutnant. «Wie? Was?», stotterte Schreiber. «Fricke sah, was Sie da fortschafften», ergänzte der Major,«und hat sofort zwei und zwei zusammengezählt!» Schreiber schluckte. «Ich habe Fricke weder gesehen noch gesprochen!», behauptete er. «Drohte Fricke Sie anzuzeigen?», fragte Werner. «Kam es darüber zum Streit?», ergänzte der Leutnant die Frage. 260
«Sie meinen, dabei habe ich Fricke …?» Das Telefon unterbrach Schreiber. Der Major nahm den Hörer und reichte dem Staatsanwalt die zweite Hörmuschel. Schreiber registrierte unbehaglich die vielsagenden Blicke, die beide tauschten. Sie legten die Hörer auf und schwiegen sekundenlang. Endlich räusperte sich der Major und wandte sich an Schreiber: «Das Blut an Ihrem Anzug und unter den Fingernägeln stammt von dem Toten!» Ohnmächtige Verzweiflung befiel den Verhafteten. «Den Mord können Sie mir doch nicht anhängen! Weshalb sollte ich den alten Mann denn umbringen?» Schreiber schnaufte erregt. «Fricke wurde aus Versehen umgebracht! Man hatte es auf mich abgesehen!» «Das sagten Sie schon», erinnerte Werner. «Sicher kam der Täter mit der Absicht zu töten! Ein unhandliches Messer trägt man gewöhnlich nicht bei sich.» «Mir ist eins nicht klar», sagte der Leutnant, «weshalb sollte Blaschke Ihnen nach dem Leben trachten? Er war es doch, der Sie erpressen wollte und nicht umgekehrt?» «Ich habe ihm auch gedroht, ihn anzuzeigen», antwortete Schreiber leise. «Feine Geschäftemacher sind Sie», erklärte der Staatsanwalt, «jeder erpreßt jeden!» «Sie behaupten im Ernst, daß Blaschke Sie mit Fricke verwechselt hat?», fragte der Major ungläubig. «Sie besitzen auch nicht die geringste Ähnlichkeit!», stellte der Leutnant fest. «Blaschke hat es bestimmt nicht getan», räumte Schreiber ein. «Er sagte mal, in der BRD gäbe es Profi-Killer. Die erledigen das für fünf Mille! Und wo Blaschke drüben ein Konto hat?» «Aha, der berühmte Unbekannte», erklärte Busse sarkastisch, «niemand kennt ihn, keiner hat ihn gesehen!» «Doch! Helmut hat ihn gesehen, mein Sohn. Er hat ihm auch meine. Adresse in der Schreberkolonie gegeben.» 261
Busse und Werner verständigten sich flüsternd. Schreiber wurde wieder in die Untersuchungshaft überstellt und nahm es anscheinend gelassen hin. Werner wandte sich an Faber. «Hol Helmut Schreiber her», befahl er. «Versteht bei euch jemand, mit dem Porträtmontagegerät umzugehen?», fragte Busse. Bevor Werner verneinte, antwortete Faber: «Ich habe schon damit hantiert!» Werner staunte. «Davon hast du nie etwas gesagt.» «Du hast noch nie danach gefragt», behauptete Faber. Die Schienen auf der Brücke über die. Autobahn glänzten in der Morgensonne wie silberne Fäden. Unten hielt neben den Kiefernkusseln ein Barkas. Oberwachtmeister Tierbach, übernächtig und unrasiert, berichtete Oberleutnant Conrad vom MFS, daß hier der inzwischen Festgenommene mehr als zwei Stunden gelauert habe, ehe der Mercedes kam. Die Hündin Senta wurde eingesetzt. Der Hundeführer setzte sie dort an, wo niedergedrücktes Gras und geknickte Zweige die Lagerstatt verrieten. Senta zog die Leine straff und verbellte bald einen Fund. Tierbach hob ein Moospolster an. Darunter lag ein Ausweis der Deutschen Demokratischen Republik, ausgefertigt für den. in Dresden wohnhaften Peter Hagen. Conrad, der schon den Einsatz bei Niemegk geleitet hatte, blätterte in dem Dokument. Das Paßbild zeigte den Fünfunddreißigjährigen mit bürstenkurzem Haar. «Der hat seinen Ausweis hier verbuddelt», erwog Tierbach, «weil im Mercedes schon eine andere Fleppe für ihn lag!» «So könnte es sein», stimmte der Oberleutnant zu. Senta verfolgte mit der Nase am Boden weiter die Spur. Die führte durch eine mannshohe Kiefernschonung. Die betauten Bäume näßten die Männer wie ein Regenschauer; in den Spinnenweben glitzerten die Tropfen wie Diamanten. Der Hund verbellte eine Stelle zwischen engstehenden jungen Kiefern, wo Hagen wohl eine längere Zeit verbracht hatte; 262
im niedergedrückten Gras lagen sechs Zigarettenkippen «Ernte 23» und eine zerdrückte leere Packung. Oberleutnant Conrad glättete die Zigarettenhülle, und Tierbach äußerte, daß sie wohl aus dem Intershop sei. Conrad schüttelte den Kopf. «Nein. Die Steuerbanderole verrät, daß sie in der BRD verkauft wurden!» Senta umkreiste den Lagerplatz und scharrte eine leere Bierbüchse des Dortmunder-Aktien-Bräu aus dem Moos. Tierbach roch daran. Die Dose lag noch nicht lange dort. Die Hündin fand noch eine Papierhülle von «Vasa-Knäckebröd». «Der Kerl raucht nicht nur BRD-Zigaretten und trinkt Dortmunder Bier, er ißt auch Knäckebrot, das von drüben stammt», äußerte Oberleutnant Conrad verwundert. Der Hund führte aus der Schonung hinaus in einen Mischwald mit licht stehenden Bäumen Und spärlichem Unterholz. Senta zerrte den Hundeführer in ein Haselgesträuch, lief suchend im Kreis und fand keine Fährte mehr. Faber bediente das Porträtmontagegerät. Neben ihm saß Helmut Schreiber. Er war größer und stämmiger als sein Vater, wirkte offen und sympathisch. Faber hatte ihn aus der Werkstatt abgeholt. «Wie spät war es gestern, als Ihr Vater kam?», fragte der Leutnant beiläufig. «Viertel nach acht, also zwanzig Uhr fünfzehn! Ich Weiß es genau, weil ich zum Judo mußte!» «Und wann kam der Mann, der nach ihm fragte?» Helmut brauchte nicht zu überlegen. «Halb sechs, siebzehn Uhr dreißig. Da kam ich aus der Werkstatt. Der Typ hat mir aufgelauert. Kaum war ich im Haus, da klingelte es.» «Nun konzentrieren Sie sich!» «Na klar.» «Kam Ihnen der Mann bekannt vor? Sind Sie ihm schon mal begegnet?» «Überhaupt nicht», versicherte Helmut. Leutnant Faber merkte bald, daß sein Zeuge nicht nur eine 263
gute Beobachtungsgabe, sondern auch ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen besaß. Er schilderte einen sportlich wirkenden Mann Mitte Dreißig. «Ein energischer Typ, ein richtiger Macker. Mit dem sucht man keinen Streit!» «Wie meinen Sie das?» «Gefühlsmäßig! Der fackelt nicht lange und haut einem die Handkante ins Genick! Ich wette, der trainiert Karate!» «Als Ihr Vater um Viertel nach acht kam, fiel Ihnen da etwas an seiner Kleidung auf?» Helmut griente. «Und ob! Du stinkst muffig, habe ich ihm gesagt. Er hat dann gebadet und sich umgezogen!» «Umgezogen?», fragte Faber gedehnt. «Ja, er hat den guten Sommeranzug angezogen, seine alten Sachen liegen noch im Keller. Sie glauben doch nicht, daß er etwas mit dem Mord zu tun hat?» Helmuts Stimme klang besorgt. «Woher wissen Sie von dem Mord?» «Der alte Wehrhahn erzählt’s doch in der Stadt», antwortete Helmut. Faber sah ein, daß Schreiber nicht als Täter in Frage kommen konnte. Wenn er den mit Blut besudelten Anzug erst nach zwanzig Uhr fünfzehn angezogen hatte, konnte er nicht der Mörder sein. Schreibers Vermutung, der Mordanschlag habe ihm gegolten, verdichtete sich. Auf dem Porträtmontagegerät lag ein Gesichtsoval. Helmut schüttelte den Kopf und forderte ein breiteres Kinn. Die Bürstenfrisur wurde gar viermal getauscht, ehe er sich zufrieden gab. Mit dem Vorrat an Gesichtselementen ging Faber sehr geschickt um; schwierig erschien es, den passenden Mund zu finden. Helmut musterte kritisch das fertige Gesicht. Es befriedigte ihn nicht. Faber bestärkte ihn in seiner Skepsis. Wie alle aus Gesichtselementen erstellten Porträts wirkte es linolschnittartig, drückte aber brutale Entschlossenheit aus. «Dieser Mann ist vermutlich der Mörder», erklärte Faber, verschwieg aber, daß der Anschlag wahrscheinlich Helmuts Vater gegolten hatte. 264
«Der sah irgendwie anders aus, nicht so brutal! Im Gegenteil, man mußte glauben, der könne auch richtig lustig sein!» «Ein wichtiger Hinweis», versicherte Faber. Helmut schlug an seine Stirn. «Das Kinn! Am Kinn war ein Grübchen!» Faber brauchte Geduld, ehe er Helmut zufriedenstellte. Das tiefe Kinngrübchen veränderte das Gesicht überraschend. Es wirkte nun weniger brutal. Helmut bemängelte nur noch, daß in den Augenwinkeln die Fältchen fehlten. Nachdem Faber dies korrigiert hatte, erklärte er zufrieden: «Genau so sah der Typ aus, der nach meinem Vater gefragt hat. Was passiert denn nun mit dem Bild?» «Es kommt auf die Fahndungsliste! Der Mörder hat keine Chance!»
29 «Oberst Brockmann erwartet Sie im Trainingsraum», sagte die Sekretärin. Major Reiter lief in den Keller hinunter. Der Oberst war Anfang sechzig und tat seit zwei Jahrzehnten hier im Süden der Republik Dienst. Seine unverwüstliche Berliner Mundart klang aber manchmal noch an. Brockmann stieg vom Trainingsgerät, gab Reiter die Hand und trocknete Gesicht und Nacken. «Wir haben den Verein jetzt beisammen, Genosse Oberst! Mit einer Einschränkung!» «Laß hören!» «Die Dreiergruppe Schubart-Blaschke-Schiffer ist enttarnt», erklärte Reiter. «Vermutlich ist Schubart der Resident! Sie scheinen voneinander abgeschottet zu sein. Mit Ausnahme Schubarts, der Schiffer kennt und ihn fotografiert hat. Uns fehlt nur noch der Verbindungsmann nach drüben!» Sie nahmen nebeneinander auf einer Massagebank Platz: 265
«Du willst wohl grünes Licht?», fragte Brockmann. «Nur unter einer Bedingung, daß uns der Kurier nicht durch die Maschen saust!» «Verlaß dich drauf, Walter!», versicherte Reiter. «Worum es mir geht: Ich bin nicht mehr so sicher, ob wir es nur mit der Dreiergruppe und einem Kurier zu tun haben, ob da nicht noch ein Killer mitspielt! Die Struktur scheint mir klar: Der Kurier beschickt zwei TBKs an der Transitstrecke. Der Leipziger Blaschke ist das Zwischenglied und bringt die Sendungen aus Pullach nach Hilgendorf. Dort holt Schiffer sie ab. Der Rückweg funktioniert umgekehrt. Wie ist aber der Killer einzuordnen?» «Du meinst den Mord in Bardenberg?» «Ja. Ich habe mich mit Genossen Werner ausgetauscht. Schreiber hat zwar den Diebstahl in der Bardenberger Spielzeugfabrik begangen, aber er hat es abgelehnt, für den BND zu spionieren. Für ihn stand das Risiko in keinem Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen. Die Rückgabe des Diebesgutes war also weniger tätige Reue, vielmehr Ausdruck einer realistischen Einschätzung der Lage. Schreiber war ja auch nicht davor zurückgeschreckt, Blaschke zu erpressen und eine Warenlieferung zu erzwingen.» «Du glaubst, daß Blaschke ein Notsignal gegeben hat?», fragte Brockmann. «Da bin ich sicher. Vermutlich telefonisch. Er ist zum Bahnhof gefahren und hat aus einer Zelle auf dem Querbahnsteig telefoniert. Es war ein teures Ferngespräch, denn er warf in kurzen Abständen Münzen ein. Am nächsten Vormittag traf er sich in der Raststätte Köckern mit einem Transitreisenden, nachdem er fast eine Stunde auf ihn gewartet hatte. Unser Mann glaubt, daß Blaschke ihm einen Kassiber übergeben hat! Noch interessanter scheint mir, daß Blaschke und der Westdeutsche sich verblüffend ähnlich sind!» «Etwas in der Art haben auch die Leipziger ermittelt! Blaschke hat einen Sonntag mit einem Mann in seiner Datsche im Fläming verbracht, der ihm erstaunlich ähnelt!» 266
«Langsam kommt Licht ins Dunkel! Der BND-Mann kann also legal als Tourist oder Geschäftsmann einreisen und sich mit Blaschkes Papieren versehen ungehindert in der ganzen Republik tummeln!» «Das wäre eine Erklärung für ‹Januskopf›!», sagte Brockmann. «Januskopf?», wiederholte Reiter erstaunt. «So ’n oller römischer Jott mit zwei Jesichter! Die gegen die Bardenberger Dienststelle gerichtete Aktivität läuft in Pullach unter der Tarnbezeichnung ‹ Aktion Januskopf ›!» «Dann sind sie wohl noch bei der Vorbereitung? Schiffer beschafft jedenfalls erst Hintergrundmaterial! Siehst du es auch so?» «Ja, so scheint es zu sein.» Nach einer Pause ergänzte er: «Januskopf! Jetzt geht mir ein Licht auf! Der Leipziger und sein Doppelgänger sind austauschbar! Offensichtlich wollte die BND-Zentrale die gegen Bardenberg gerichtete Aktion nicht von Schreiber gefährden lassen und schreckte deshalb auch vor einem Mord nicht zurück.» «Blaschkes Doubel wird den Auftrag bekommen haben, Schreiber zu erledigen», vermutete Reiter. «Nee, das globe ick wiederum nicht!», versicherte Brockmann. «Blaschkes Doppelgänger wird als Kurier und Reiseagent arbeiten. Bei der weitgehend spezialisierten Gliederung des BND gibt es für so heikle Aufgaben Spezialisten.» «Bei der Tatwaffe handelt es sich vermutlich um ein Kappmesser. Die Fallschirmjäger tragen es in einer Knietasche», überlegte Reiter, «um mit ihm, falls sie in einem Baum landen und zwischen Himmel und Erde baumeln, die Fangleinen des Schirmes zu kappen.» «Die Ranger sind ebenfalls mit solchen Messern ausgerüstet», ergänzte Brockmann. Sie erhoben sich und gingen in Brockmanns Büro hinauf. Die Sekretärin brachte ihnen Kaffee. Brockmann dankte. «Übrigens warte ich noch immer auf deine Einschränkung! Du glaubst, wir haben den Verein beisammen – mit einer Einschränkung!» 267
Reiter blies in den heißen Kaffee., «Schubart hat heute morgen auf der Transitstrecke in einem TBK an einer im Kriege gesprengten Brücke über die Autobahn einen Film hinterlegt. Wir haben ihn gegen einen belichteten ausgetauscht.» Brockmann krauste die Stirn. «Ein zweiter schwarzer Film? Da werden die doch stutzig.» «Bei Schiffer kaum, der ist neu, bei Schubart allerdings …» Reiter zuckte die Schultern. «Wir haben den Film entwickelt. Es sind die Schaltpläne für das Zentrallabor im Roboterwerk!» «Wie ist der dazu gekommen?» «Im Roboterwerk arbeitet Schubarts Stieftochter als Ingenieur für Meßelektronik. Ich fahre von hier aus hin und kläre, ob sie zu dem Komplott gehört!» «Ja, hoffentlich gelingt das ohne Zeitverlust.» «Sobald das Ereignis im Roboterwerk geklärt ist – grünes Licht?», fragte Reiter. «Grünes Licht!», bestätigte Brockmann. In der Grenzkontrollstelle brachte die Vernehmung des Mercedesfahrers eine Überraschung. Nach anfänglichem Leugnen gestand der wie ein seriöser Geschäftsmann auftretende Paul Genzler, daß er weder Grundstücksmakler und schon gar nicht Eigentümer des PKW sei. Seine Begleiterin gab sich als die sechsunddreißigjährige berufslose Elvira Graf aus, die mit Genzler in eheähnlicher Gemeinschaft lebte. Der Mercedes dreihundert gehörte einem Frankfurter Restaurantinhaber, der nebenher eine kriminelle Bande leitete. In Genzlers pfiffiges Gesicht trat ein verschlagener Ausdruck. Er beugte sich zu dem hinter dem Schreibtisch sitzenden Oberleutnant hinüber. «Ich habe da mal ’ne Frage, Herr Offizier!» «Bitte!» «Wenn ich von mir aus, sozusagen aus freien Stücken, dazu beitrage, daß die Zusammenhänge aufgeklärt werden, ich meine, wirkt sich das dann strafmildernd für mich aus?» «Da kann ich Ihnen keine verbindliche Zusage machen. Es 268
ist Sache des Gerichtes, nach der Feststellung des Schuldanteils über die Strafzumessung zu entscheiden», belehrte der Oberleutnant den Inhaftierten. «Nur eines kann ich Ihnen versichern: Ihr Verhalten in der Voruntersuchung und Ihre Bereitschaft, zur Aufklärung der Straftat beizutragen, werden auf jeden Fall vom Gericht berücksichtigt!» Der untersetzte Mann auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch mit dem Habitus eines erfolgreichen Geschäftsmannes, hinter dem sich ein kaum mittelmäßiger Ganove verbarg, schien zufrieden. Er senkte seine Stimme zu einem Raunen: «Immer, wenn der Stützpunkt in Hönebach angefahren wird, dann läuft die Sache für den BND!» «Woher wollen Sie denn das wissen? Sie haben doch ausgesagt, daß Sie noch niemals vorher an der illegalen Ausreise von DDR-Bürgern beteiligt waren?» Genzler biß sich auf die Lippen und meinte dann: «Das stimmt ja auch! Trotzdem weiß ich, was da gelaufen ist! Die Tankstelle in Hönebach, Abschleppdienst und Pannenhilfe, gehört einem gewissen Karl Knopke! Aber in Wahrheit gehört sie dem Bundesnachrichtendienst!» «Nun gut, ich nehme es zur Kenntnis! Wer ist der Mann, den Sie über die Grenze bringen wollten?» «Keine Ahnung. So was erfährt man doch nie!» «Wo und wie haben Sie ihn aufgenommen?» «Das habe ich doch schon gesagt. Hundert Meter vor der Eisenbahnbrücke. Da ist er in den Kofferraum geklettert!» Bereitwillig schilderte der Mercedesfahrer, daß seine Begleiterin dem Mann den Umschlag mit dem Personaldokument ausgehändigt, die präparierte Rückenlehne umgelegt und ihn während der Fahrt in dem Container verborgen hatte. «Wir sollten ihn zu Knopke nach Hönebach bringen!», schloß Genzler. Inzwischen war Oberleutnant Conrad in der Grenzkontrollstelle eingetroffen. Körber wurde in das Sprechzimmer geführt. Conrad bat einen Offizier, der Befragung beizuwohnen. Körber sah sich zu269
nächst gründlich um und musterte das Fenster, als suche er nach einer Fluchtmöglichkeit. Die. dicken Eisenstäbe davor machten jedoch den Gedanken daran illusorisch. Betont lässig setzte er sich und schlug ein Bein übers andere. «Oberleutnant Conrad vom Ministerium für Staatssicherheit! Sie sind verhaftet und werden in Untersuchungshaft überstellt!», erklärte der Offizier sachlich. «Ich verlange, mit meinem Münchner Anwalt zu sprechen!», klang es kühl. «Wäre da nicht eher ein Dresdner Anwalt zuständig?», fragte Conrad, entnahm seiner Schultertasche einen blauen Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik und legte ihn auf den Tisch. «Sie sind der Dresdner Bürger Peter Hagen!» Die Augen des Verhafteten verengten sich zu Schlitzen, er preßte die Lippen aufeinander und schwieg. «Bevor Sie in den Gepäckraum des Mercedes gekrochen sind», erklärte Conrad, «haben Sie Ihren Ausweis vergraben, Sie wußten, daß Sie im Mercedes einen BRD-Ausweis auf den Namen Körber ausgehändigt bekommen würden!» Der Festgenommene zeigte nicht, ob er beeindruckt war, doch der erfahrene Oberleutnant spürte, wieviel Energie es ihn kostete, Gelassenheit vorzutäuschen. «Wie sind Sie von Dresden an die Transitautobahn gereist?», fragte der Oberleutnant. Er bekam keine Antwort und wandte sich an den Offizier. «Ist er schon erkennungsdienstlich behandelt worden?» Conrad spielte mit dem Gedanken, die übrigen Fundstücke auf den Tisch zu legen. Er verwarf ihn wieder. Er ahnte, daß er es mit einem komplizierten Fall zu tun hatte. «Na schön, wie Sie meinen! Sie haben noch Zeit genug, sich auszuschweigen!», schloß Conrad die Befragung ab. Der Verhaftete hob und senkte gelangweilt die Schultern. Major Werner war froh, daß die Gohlaer MUK es ihm abgenommen hatte, der Autopsie beizuwohnen, wie es die Vorschrift 270
verlangte. Das rote Backsteingebäude im Stile der Gründerjahre mutete ihn bei den wenigen Besuchen düster und abstoßend an; Grund genug, den Gohlaer Hauptmann Kienast besonders freundlich zu empfangen. An der Zuständigkeit der Bezirksbehörde gab es keinen Zweifel. Doch in Gohla ging man davon aus, daß es sich um einen Beziehungstäter handelte; da war der in Bardenberg ansässige Genosse im Vorteil. Daß der Fall einen schwerwiegenden Aspekt besaß, wollte Werner ohne Reiters Zustimmung noch nicht erwähnen. «Sie sehen alle mächtig geschafft aus», behauptete Kienast, dem man nachsagte, daß er besonders erfolgreich mit hartnäckig leugnenden Straftätern umgehen konnte. Faber trank einen Kaffee. «Du verschwindest nachher nach Hause!», befahl Werner. Der Leutnant nickte. Er sehnte sich nach einem Bett, denn Schlafmangel bereitete ihm schon immer Schwierigkeiten. Doch der Gohlaer Genosse brachte das Resultat der Autopsie! Kienast breitete die großformatigen Farbfotos auf Werners Schreibtisch aus. Sie hielten mehrere Phasen der Autopsie fest. Es klang entschuldigend, als Kienast gestand, daß es ihm nichts ausmache, dem Sezieren eines Leichnams beizuwohnen. «Ist einmal das Leben aus einem Körper entwichen», erklärte er, «wird aus einem Individuum eine Sache!» «Ich weiß nicht», widersprach Werner und besah mit Überwindung die Fotos. Meist wurde Kienast zu den bei unklaren Todesfällen obligatorischen Autopsien geschickt. Mit der Zeit hatte er sich ein umfassendes medizinisches Vokabular angeeignet. Werner kannte sich darin weniger aus, und Kienast übersetzte in die Umgangssprache. Es interessierte Werner nicht, welche Sehnen, Nerven und Gefäße beschädigt worden waren; er wollte nur den Tathergang rekonstruiert wissen. «Zwei Fakten sind klar», berichtete Kienast. «Erstens fand vor der Tötung kein Kampf statt. Zweitens – und das scheint mir noch wichtiger – lag von Anbeginn die Absicht zu töten 271
vor! Fricke wurde von hinten angefallen; zuerst wurde ihm der tödliche Stich in die rechte Niere beigebracht. Danach erst würgte der Mörder den Hals seines Opfers, um das Todesröcheln zu ersticken!» «Entsetzlich», flüsterte Werner. Kienast nickte. «Es liegt einige Jahre zurück, da wurde im Grenzabschnitt Gerstungen ein Grenzsoldat auf diese Weise ermordet. Doktor Bausch fordert die Akte an, denn er erinnert sich derselben Fakten!» «Wir werden noch einiges in dem Fall aufzuklären haben», sagte Werner. Evelin Schenk legte den Hefter in den stählernen Aktenschrank und bemerkte, daß die Blätter nicht so akkurat wie sonst geschichtet waren. Sie schlug den Hefter auf und sah, daß die Schaltpläne heillos durcheinandergeraten schienen. Sie saß wie erstarrt da. Das Büro befand sich in einer Baracke. Das im Rohbau befindliche Direktionsgebäude war noch nicht bezugsfertig. Evelin hatte vom Chefingenieur den Auftrag erhalten, die Schaltpläne zu prüfen; es betraf eine Kontrollmaßnahme. Verboten war, irgendwelche Pläne mit aus dem Werk zu nehmen. Doch Evelin Schenk war ausgelastet und sah keine andere Möglichkeit, die zusätzliche Aufgabe zu bewältigen, als einige Abendstunden zu opfern. In der stickigen Baracke den Abend zu verbringen schien ihr aber wenig verlockend. Sie erinnerte sich wieder: Bevor sie gestern um zwanzig Uhr die Friseur-PGH zum Spätschichttermin aufsuchte, hatte sie das Portemonnaie aus der Kollegtasche genommen. Da lagen die Pläne noch ordentlich im Hefter. Es war kein Zweifel möglich, ihr Stiefvater hatte in der Tasche geschnüffelt, als sie beim Friseur war! Weshalb? Er wurde stets wütend, sobald sie seine Sachen nur anrührte. Das Telefon schreckte sie auf. Der Technische Direktor bat sie zu sich, seine Stimme klang besorgt. Evelin erschrak, als er forderte, sie solle die Schaltpläne des Zentrallabors mitbrin272
gen. Die waren noch nicht sortiert! Sie warf einen Blick in den Spiegel über dem Handwaschbecken. Die Frisur kleidete sie, aber sie sah blaß aus. Evelin verschloß das Büro, das stets zum Feierabend versiegelt wurde. Sie überquerte den Platz, auf dem ein Chaos aus Betonfertigteilen und Aggregaten herrschte, betrat die Direktionsbaracke und klopfte an Zimmermanns Tür. Der Technische Direktor war nicht allein. An dem Beratungstisch saßen ein schlanker Endvierziger mit vollem, grau schimmerndem Haar und neben ihm ein jüngerer Mann mit rötlichblonden Locken. «Das ist Kollegin Schenk», erklärte Zimmermann, «und die beiden Genossen vertreten die Staatsmacht!» Er versuchte, humorig zu sein. Evelin spürte, daß man über sie gesprochen hatte. Obwohl die Besucher vertrauenerweckend wirkten, kam sie von dem Gedanken nicht los, daß sie von beiden nichts Angenehmes zu erwarten hatte. «Es liegt ein ernster Anlaß vor, Kollegin Schenk», begann Zimmermann so umständlich, wie sie es von ihm nicht gewohnt war. «Ich muß Sie mit der Frage konfrontieren: Halten Sie die Sicherheitsbestimmungen ein?» «Ja, das tue ich!» Ihre Stimme klang belegt. «Konkret meine ich die Bestimmungen über den Umgang mit dienstlichen Unterlagen, zum Beispiel mit Schaltplänen!» Er deutete auf die Mappe in ihrer Hand. Sie wurde abwechselnd rot und blaß und sah sich forschend gemustert. Sie glaubte, daß dem Älteren kein Gedanke verborgen blieb. Trotz ihrer wachsenden Besorgnis kam Ärger in ihr auf. Sie fühlte sich in die Rolle einer Beschuldigten gedrängt. Weder Zimmermann noch einer der beiden Genossen forderte sie auf, Platz zu nehmen. Als erriete der ältere Genosse ihre Gedanken, wies er auf den Stuhl ihm gegenüber und förderte sie zum Setzen auf. Zögernd tat sie es, auf irgendeine schlimme Eröffnung gefaßt. 273
Er entnahm seiner Aktentasche einen Packen Fotos und reichte sie ihr. «Wissen Sie, was die darstellen?» Evelin spürte einen Kloß im Halse. «Schaltpläne!», flüsterte sie und erkannte auf den ersten Blick, daß es die aus ihrer Mappe waren. «Sind es diese?» Der Ältere zeigte auf ihren Hefter. «Wollen Sie vergleichen?» Sie schüttelte den Kopf. «Das sind sie, ich sehe es!» «Na gut», sagte der Ältere. «Hatten Sie die Pläne mit nach Hause genommen, Kollegin Schenk?», fragte Zimmermann. Sie raffte allen Mut zusammen und bestritt es. Dabei durchraste sie ein Gedankensturm. Großer Gott, dachte sie, wie sind die Fotos zustandegekommen? Die auf sie einstürmenden Fragen ließen ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie blieb dabei, die Pläne nie mit nach Hause genommen zu haben. «Wie erklären Sie dann, daß die Ihnen anvertrauten Pläne abgelichtet wurden?», fragte der ältere Genosse. «Ich weiß es nicht!», klang es ratlos. «Kollege Zimmermann, lassen Sie uns bitte allein!» Der Technische Direktor erhob sich verblüfft und verließ das Büro. «Fräulein Schenk! Sie wohnen doch bei Ihrem Stiefvater Doktor Schubart?» «Zur Zeit noch, aber ich bekomme im nächsten Monat …» «Heute morgen wurde ein Film mit diesen Fotos in einem Versteck an der Transitautobahn abgelegt. Wußten Sie davon?» «Lieber Himmel, nein!», flüsterte sie mit kalkweißem Gesicht. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Die eine und andere Begebenheit bekam plötzlich einen Sinn. Zum Beispiel der merkwürdige Besucher, der mit Frankfurter Akzent sprach. «Fragen Sie!» «Haben Sie die Pläne mit nach Hause genommen?» «Ja. Wie sollte ich sonst die Überprüfung schaffen. Bis abends um acht habe ich daran gesessen, dann bin ich zum Friseur gegangen und …» 274
«Ja? Berichten Sie weiter!» Der jüngere Genosse bediente das Bandgerät. Evelin Schenk erzählte, daß Schubart vor zwanzig Jahren aus Paderborn in die DDR gekommen sei und bald darauf ihre Mutter geheiratet habe, Sie ließ die beiden Jahrzehnte mit dem Stiefvater an sich vorüberziehen und schilderte, daß es zwischen ihnen eigentlich schon immer eine Trennlinie gegeben hatte, die schwer zu überschreiten war. Sie erinnerte sich der Kinderjahre, als ihre Mutter noch lebte. Was sie damals nicht als Besonderheit begriff, wurde ihr jetzt, nach so langer Zeit, verständlich. Die Mutter hatte ebenfalls darunter gelitten, daß Schubart sich auch vor ihr abgegrenzt hatte und nicht alle Bereiche seines Lebens mit ihr teilte. Der Gedanke machte Evelin fassungslos, daß der Stiefvater schon vor zwei Jahrzehnten mit der Absicht aus Paderborn gekommen sein mochte, der DDR zu schaden und sie zu bekämpfen. Ein Gefühl von Scham, Trauer und Erbitterung erfüllte sie. Soviel Hinterlist über eine so lange Zeit, das ging über ihr Begriffsvermögen. Sie weinte. «Ich verstehe es einfach nicht», schluchzte sie. «Nun verhaften Sie ihn, nicht wahr?» «Haben Sie etwas anderes erwartet?», fragte der jüngere Genosse. «Nein, natürlich nicht.» «Sie werden heute und morgen jeden Kontakt mit Ihrem Stiefvater vermeiden», forderte der ältere Genosse. «Sind Sie einverstanden, die beiden Tage in unserem Ferienheim zu verbringen? Der Genosse hier fährt Sie hin. Dort befinden Sie sich in angenehmer Gesellschaft! Einverstanden?» Evelin Schenk nickte wortlos.
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30 Als die Vollzugsmeldung ausblieb, telefonierte Wiese von München aus mit der Pension «Elvira» in der Westberliner Augsburger Straße und erfuhr, daß Genzler mit seiner Begleiterin pünktlich aufgebrochen war, um die Transitfahrt anzutreten. Vierundzwanzig Stunden waren vergangen, ohne daß der Mercedes im Stützpunkt Hönebach eintraf. Wiese sah seine dunkle Ahnung bestätigt. Es gab für ihn keinen Zweifel mehr, Genzler und seine Mitfahrerin waren «verschütt» gegangen. Offen blieb nur, welches Schicksal den «Spezialisten» getroffen hatte. Wiese erwog alle in Frage kommenden Varianten: Der Mercedes konnte in eine Kontrolle geraten sein, ehe der Mann aufgenommen wurde. Die als Container präparierte Rückenlehne lieferte dann den Beweis, wofür das Fahrzeug eingesetzt werden sollte. Wiese war überzeugt, daß Genzler ohne zu zögern aussagen würde, wenn er einen Vorteil für sich darin sah. Das bedeutete, daß der Treffpunkt bekannt geworden war. Am wahrscheinlichsten für Wiese erschien, daß der Treff mit dem Mercedes beobachtet worden war. Genzler konnte aber auch mit dem PKW bei der Ausreise in der Grenzkontrolle hängengeblieben sein. Nur für die erste Variante räumte er dem Spezialisten eine Chance ein, den Rückweg zu schaffen. Für diesen Fall lief die übliche Rettungsmaßnahme: Vierundzwanzig Stunden später hielt auf dem nächsten Rastplatz in Richtung Westen ein Münchner Lastzug. Er bedeutete für den BND-Mann die letzte Möglichkeit, in einem Container ausgeschleust zu werden. Da auch diese Gelegenheit ungenutzt blieb, zog Wiese den einzig möglichen Schluß: Der Mann teilte Genzlers Schicksal. Für Knopke, den Inhaber der Hönebacher Tankstelle, bedeutete es nichts Aufregendes, wenn ein Fahrzeug ausblieb. Im Laufe der Jahre gingen öfter Fahrzeuge verloren. Meist waren es arme Teufel, die für eine magere Erfolgsprämie mit einem 276
Wrack auf die Reise geschickt wurden. Die Bosse solcher Unternehmungen blieben zu Hause und strichen die Vorauszahlung ein. Die Chance, die Grenzkontrolle unbehelligt zu passieren, blieb in diesen Fällen gering. Der Mercedes war jedoch kein solches Wrack, sondern ein Nobelauto, und Genzler mimte glaubwürdig den gutbetuchten Grundstücksmakler. Mochte der Teufel wissen, was ihm zum Verhängnis geworden war. Knopke erschien sicher, daß die von ihm verwahrte originale Rückenlehne des Mercedes nicht mehr gebraucht werden würde. Am Nachmittag des zweiten Wartetages kam Wiese selbst nach Hönebach. Knopke bediente gerade einen Kunden, da stoppte der PKW vor der Werkstatt. Knopke erkannte den Boß aus Pullach, den schwergewichtigen Hünen mit dem spärlichen weißen Kopfhaar. Wiese folgte Knopke ins Büro und nahm die Einladung zu einem Kaffee an. «Der Mercedes ist aufgebracht worden!», verkündete Wiese sachlich. «Demnach muß Genzler abgeschrieben werden?» Knopkes Frage klang so, als bedurfte sie keiner Bestätigung. Wiese nickte mit unbewegtem Gesicht, aber Knopkes verkniffene Miene veranlaßte ihn zu der Frage: «Trauern Sie um Genzler?» «Um den weniger», antwortete Knopke, «aber um meine fünfhundert Mäuse, die er mir schuldig geblieben ist!» «Sie werden sich einige Jährchen gedulden müssen», erklärte Wiese unbewegt. «Kommen wir zur Sache: Der Betrieb hier wird einige Zeit stillgelegt!» Knopke sah seinen Besucher überrascht an. Daß mit «einige Zeit» ein längerer Zeitraum gemeint war, schloß Knopke daraus, daß alle speziellen Einrichtungen entfernt und an einen neuen Einsatzort verbracht werden sollten. Für Knopke brachte es Unannehmlichkeiten: einen Umzug und für seine Kinder einen Schulwechsel. Von der Tankstelle aus telefonierte Wiese mit Gronau, der einen verlängerten Wochenendurlaub am Starnberger See ver277
brachte. Auf Gronaus verschlüsselte Frage, ob «unser Mann» vor oder nach Ausführung seines Auftrages hochgegangen war, wußte Wiese keine Antwort. In der Bezirkspresse der DDR hatte es keinen Hinweis auf ein Tötungsverbrechen gegeben. Gronaus Auftrag, dies umgehend in Erfahrung zu bringen, nahm Wiese gleichmütig entgegen.
31 Schiffer wollte das Risiko, entdeckt zu werden, so gering wie möglich halten und scheute den beschwerlichen Fußweg durch den Wald auch diesmal nicht. Er mied die mit Halteverbot belegte Chaussee und bog mit dem Lada auf einen Waldweg ein. Obwohl es ihn entsetzlich anstrengte, lief er wieder in Sichtkontakt zur Straße durch das Unterholz. Die trockenen Äste knackten unter seinen Schritten, und Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Schiffer bedrückte am meisten, daß er mit niemandem über seine Situation reden konnte. Das Geheimnis lastete auf ihm wie ein Alp. Er blieb stehen und lauschte: Knackte da nicht etwas? Folgte ihm da jemand durch den Wald? Doch es blieb still. Vielleicht ein streunender Hund? Auf der nahen Chaussee brummte ein Lastzug, Für zwei Wochen war er krankgeschrieben, sein Blutdruck, um den er sich noch nie gekümmert hatte, sei zu hoch, behauptete die Ärztin. Er dachte an Pauls lakonische Mitteilung: «Tod entschuldigt, Krankheit nicht!» Der hetzte ihn sicher von einem Unternehmen ins andere. Vorsichtig näherte sich Schiffer der Chaussee; zwischen Bäumen hindurch sah er Fahrzeuge, die, wie Insekten summend, vorbeihuschten. Aus dem Moos stieg schwüle Wärme auf und trieb den Schweiß aus allen Poren; Mückenschwärme überfielen ihn wie bei seinem ersten Unternehmen. Zwanzig 278
Meter trennten ihn nur noch von der Fahrbahn. Gegenüber sah er das Tor und den Schlagbaum, daneben den Parkplatz. Auf ihren angestammten Plätzen standen ein grüner Wartburg, ein weißer Lada und ein roter Moskwitsch. Schiffer holte die Uhr aus der Hosentasche und stellte mit der vermeintlichen Stoppvorrichtung die Bildschärfe auf einhundert Meter ein. Die Brombeersträucher schützten ihn vor Sicht vom Wachtturm. Schiffer bemühte sich, ordentliche Bilder zu machen; nicht Ehrgeiz trieb ihn, sondern die Furcht, von seinem Auftraggeber als unbrauchbar angesehen zu werden. Nacheinander knipste er die zivilen Mitarbeiterinnen, die das Objekt verließen, aus zwei verschiedenen Perspektiven. Die üppige junge Frau und der Fahrer des alten Wartburg befanden sich diesmal unter den ersten, die Feierabend machten. Endlich trat Schiffer den Rückweg an. Er beeilte sich, wegzukommen von diesem Ort, der ihm Angst einflößte. In Schweiß gebadet und von den Mücken zerstochen erreichte er seinen Lada. Als er die Autoschlüssel aus der Jackettasche holen wollte, klang hinter ihm eine energische Stimme: «Halt! Stehenbleiben! Hände hoch!» Schiffer fuhr herum und blickte in eine Pistolenmündung; ein athletischer junger Mahn mit rötlichem Haar trat hinter einem Baum hervor. Schiffer hob die Arme, fühlte eine Hand auf seiner Schulter und hörte hinter sich eine zweite Stimme: «Ministerium für Staatssicherheit! Sie sind verhaftet!» Schiffer war wie gelähmt. Seine Taschen wurden geleert, und die Handfessel schnappte zu. Ein dritter nahm wortlos die Autoschlüssel und setzte sich in den Lada. Nichts machte Schiffer eindringlicher bewußt, daß dies das Ende seiner bisherigen Lebensweise bedeutete. Er hatte es geahnt, von Anfang an, daß es nur so und nicht anders enden konnte. Aber schon so bald? «Steigen Sie ein, Schiffer!», forderte der Athlet und zeigte auf seinen weißen Lada. Ein schmächtiger, dunkelhaariger Begleiter nahm die Uhr und betrachtete sie. 279
«Entfernung einhundert Meter war zu wenig», sagte er, «es sind einhundertzwanzig! Die Fotos werden unscharf sein!» Schiffer schluckte. Als Faber am Nachmittag in der Dienststelle erschien, wartete dort Major Reiter mit einer Neuigkeit auf. In einer Grenzkontrollstelle war der Dresdner Bürger Peter Hagen aus einem präparierten Mercedes herausgeholt worden. Auf ihn paßte verblüffend das Fahndungsbild von Frickes Mörder. Hagen befand sich bereits auf dem Wege nach Gohla. «Ich möchte, daß du bei Hagens Vernehmung dabei bist», sagte Reiter zu Werner, «die Mordsache ist eure Angelegenheit!» «Das geht in Ordnung», antwortete Werner. Er hoffte, während der Fahrt in die Bezirksstadt ein wenig schlafen zu können. «Ich komme nicht allein deshalb», erklärte Reiter. «Der letzte Akt hat begonnen! Schiffer ist geständig! Den Schubart kaufen wir uns erst morgen, damit der gefährlichste Mann, Blaschkes Doppelgänger, uns nicht entkommt! Als nämlich Schreiber den Leipziger unter Druck setzte, telefonierte der mit der Zentrale und forderte Hilfe an! Am nächsten Tag fand ein Treff in Köckern statt, dem dann der Mordanschlag folgte …» Das Telefon unterbrach ihn. Werner reichte ihm den Hörer. «Für dich!» Major Reiter nahm eine Nachricht entgegen und erläuterte danach: «Dresden meldet, daß es unter der im Personalausweis angegebenen Adresse keinen Peter Hagen gibt. Die Seriennummer ist außerdem falsch. Das bedeutet im Klartext: Die von uns für echt angesehenen Personaldokumente sind falsch und umgekehrt, die vermeintlich falschen der BRD sind echt! Es wird in Gohla eine interessante Vernehmung werden!» Reiter lief ruhelos umher und durchdachte noch einmal sein Vorhaben. Werner unterdrückte ein Gähnen, stützte den Kopf in die Hände und kämpfte gegen die Müdigkeit an. Faber lehn280
te in der Zwischentür. «Man müßte Blaschke noch einmal in eine bedrohliche Situation bringen, damit er einen neuen Hilferuf absetzt», erklärte Reiter. Der Major spekulierte darauf, daß der BND, um seine Aktion in Bardenberg nicht zu gefährden, versuchen würde, Blaschke per Identitätstausch auszuschleusen. «Was meint ihr, ob Schreiber mitspielt?» «Ich glaube schon», antwortete Werner. Faber nickte. Daß das Montageporträt zum Erfolg geführt hatte, erfüllte ihn mit Genugtuung. In dem zu weiten Drillichzeug und Schuhen, in denen er hinkte, wirkte der aus der Haft vorgeführte Schreiber kläglich; sein Anzug und die Schuhe befanden sich im Labor des Kriminaltechnischen Institutes. «Setzen Sie sich!» Major Werner zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Schreiber befolgte die Aufforderung; auf seinem Gesicht erschien ein Hoffnungsschimmer, denn die Stimme des Kriminalisten klang nicht unfreundlich. «Ihre Vermutung, daß Sie an Frickes Stelle sterben sollten, bestätigt sich», erklärte Werner. «Wir haben einen Tatverdächtigen festgenommen, auf den die Beschreibung Ihres Sohnes paßt. Wollen Sie uns helfen, eines weiteren Verbrechers habhaft zu werden?» Schreibers Gesicht verriet ungläubiges Staunen. Er schluckte. «Ja, gewiß, aber wie?» «Sie müßten mit Blaschke in Leipzig telefonieren», erklärte der am Fenster lehnende Major Reiter an Werners Stelle. «Sie sollen ihn in Panik versetzen!» «In – Panik –?», wiederholte Schreiber ratlos. «Ja», bestätigte Reiter und reichte ihm einen Zettel mit dem Text, der als Orientierung dienen sollte. Schreiber las ihn und nickte, meinte dann aber bedenklich: «Die hetzen mir dann wieder einen Mörder auf den Hals!» Reiter schüttelte den Kopf. «Dazu bleibt denen keine Zeit mehr. Sie haben hier ja auch nichts zu befürchten, nicht wahr?» 281
Schreiber seufzte und grinste schief. Es schien aber, als wollte er die Kriminalisten zufriedenstellen. Reiter wies Faber an, am Telefon postiert, die Verbindung zu unterbrechen, falls Schreiber versuchen sollte, Blaschke zu warnen. Der ehemalige Vertreter der Bardenberger Spielzeugfabrik kannte die Telefonnummer. Werner wählte die Ziffern, die er nannte, und reichte ihm den Hörer, als das Rufzeichen ertönte. Faber stand neben dem Apparat. Reiter hielt die zweite Hörmuschel ans Ohr. Blaschke meldete sich. «Schreiber hier, in Bardenberg! Staunen Sie nicht, daß ich noch lebe? Ihr BND hat mir einen Killer auf den Hals gehetzt!» Aus der Membrane drang es hysterisch: «Schreiber! Sind Sie wahnsinnig? So was am Telefon …?» Doch der unterbrach ihn: «Der Mörder hat einen Bekannten von mir erstochen! Daß ich hoch lebe, verdanke ich dem Spielzeug, das ich zurückgegeben habe. Man hat mich daraufhin eingesperrt! Eben hat man mich entlassen! Und nun rechnen wir ab!» «Sie hirnverbrannter Idiot!», brüllte Blaschke am anderen Ende. «Das ist nicht wahr! Sie irren, damit habe ich …» Reiter nickte Schreiber zu, und der brüllte zurück: «Ich gehe jetzt zur Staatssicherheit und zeige Sie an! Aber ich bin nicht so mies wie Sie! Von mir aus verduften Sie, wenn Sie’s können!» «Schreiber, hören Sie? Hallo –? Schreiber –?» Major Reiter drückte auf die Gabel. «Sie waren gut!», erklärte er zufrieden, Faber räusperte sich. «Schreiber, Sie kennen Blaschke, was glauben Sie, tut der jetzt?» Werner schüttelte den Kopf. «Andersherum: Glauben Sie, daß Blaschke Ihre Drohung ernst nimmt?» «Ja, wenn ich wütend bin, dann spaße ich nicht, das weiß er!» Blaschke würde die ihm gebotene Chance nutzen und glauben, daß ihm noch etwas Zeit bliebe.
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Blaschke kauerte am Schreibtisch und grübelte. Er bezweifelte nicht, daß Schreiber seine Drohung wahr machen würde. Der hatte das gestohlene Spielzeug wahrhaftig zurückgebracht; logisch, daß er zunächst inhaftiert wurde, ebenso aber auch, daß man ihn heute wieder entließ. Was hatte Grindel in Köckern gesagt? Zeit gewinnen! Der Erpresser würde ausgeschaltet! Er hätte wissen müssen, daß «ausschalten» unter anderem auch Mord bedeutete. Der erste Schrecken klang ab. Blaschke staunte, daß er nicht in Panik geriet, sondern kühl überlegte. Die Galgenfrist mußte er nutzen und mit «Siering und Fengler» telefonieren. Diesmal gab es keine andere Variante, als ihn an Grindels Stelle nach Westberlin ausreisen zu lassen. Wie man Grindel dann ausschleuste, ließ ihn kalt. Anscheinend gab es mehrere Möglichkeiten. Grindel hatte ihn instruiert, stets einen Fluchtkoffer bereit zu halten mit Dokumenten, Antiquitäten und Bargeld. Blaschke achtete seither darauf, daß sein Geschäftskonto niedrig blieb. Zehn Minuten waren bereits nutzlos verstrichen. Zum ersten und, wie er meinte, auch zum letzten Mal verstieß er gegen Grindels Weisung, niemals von seinem Apparat aus in Frankfurt anzurufen. Die Vorwahl nach Frankfurt war besetzt, Blaschke versuchte es immer wieder. Endlich kam er durch und wählte den Anschluß von «Siering und Fengler». Das Rufzeichen ertönte. Es knackte aber, und die Leitung wurde schlechter, das Rufsignal schwächer. In Frankfurt meldete sich die bekannte Stimme. «Hier ist Ernst in Leipzig», sagte Blaschke hektisch, «eine traurige Nachricht: Oma ist verstorben!». «Um Gottes willen, Ernst! Wie ist das möglich? So plötzlich? War sie denn krank?» «Sehr krank, ja!» Doch dann war es mit Blaschkes Beherrschung vorbei. Er schrie hysterisch: «Schreiber lebt noch! Ihr habt den falschen erwischt! Ich tauche unter!» «Karlchen kommt morgen mit dem Fünfzehn-Uhr-Zug!», klang es eisig. Dann wurde aufgelegt. 283
Blaschke hatte bemerkt, sein Gesprächspartner war verärgert. Grindel würde morgen um fünfzehn Uhr in der Raststätte Hermsdorfer Kreuz sein, das signalisierten die Codeworte. Inzwischen waren dreißig Minuten seit Schreibers Anruf vergangen. Blaschke blickte umher und bedauerte, den antiken Sekretär, den Mittelfußtisch und den Spiegel mit dem vergoldeten Stuckrahmen zurücklassen zu müssen. Er hastete in den Flur und hob die Kellerklappe. Mulle würde es sicher im Laden hören, aber kaum wagen, ihn zu stören. Blaschke stieg in den Keller hinunter, holte die restlichen Taschenrechner und schnaufte die Stiege wieder hoch. Die Klappe krachte zu. Im Türspalt erschien Mulles verdattertes Gesicht und blickte ihn fragend an. Blaschke ignorierte es, betrat den Laden und nahm die Geldscheine aus dem Kassenschub an sich. «Ich fahre nach Halle», sagte er, «bin aber zum Ladenschluß zurück!» «Ist gut, Axel», sagte Mulewski; es war ein ruhiger Tag, da kam er allein zurecht. Aus der Wohnung holte Blaschke den Koffer. Er war froh, daß Frau Jakobi ihn nicht mit Fragen bedrängte. Die alten Leutchen waren nicht da. Er bedauerte sehr, nicht mehr Gepäck mitnehmen zu können, doch das fiele auf, wenn er morgen in Grindels roten VW-Passat umstieg. Mit dem Koffer in der Hand verließ er das Haus. In einem blauen Wartburg benutzte ein Mann sein Sprechfunkgerät; aus einer Nebenstraße bog ein Lada und folgte dem Moskwitsch. Der Raum strahlte im hellen Lampenschein. Auf dem Tisch lagen von einem Tuch verdeckte Gegenstände; daneben stand ein Tonbandgerät. Hinter dem Tisch saßen Major Reiter und Oberleutnant Conrad, an einem seitlichen Tisch Oberst Brockmann. Reiter drückte auf einen Knopf. Es verging einige Zeit, dann näherten sich auf dem Flur Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und zwei Männer in Uniform führten den Festgenommenen 284
herein. Sie setzten sich mit ihm auf die Bank vor dem Tisch. Major Werner sah den Mann zum ersten Mal und staunte, wie gut das Montageporträt gelungen war. Die Mundwinkel spöttisch herabgezogen, musterte der Verhaftete seine Umgebung und schlug lässig ein Bein übers andere. Statt der Wanderschuhe, die auf dem Tisch unter dem Tuch lagen, trug er jetzt Turnschuhe. Major Reiter begann: «Zu Ihrer Person: Sie sind der am zwanzigsten März neunzehnhundertachtundvierzig in Nürnberg geborene Eberhard Wolfgang Körber, wohnhaft in München, Passauer Ring neunzehn!» Körber verriet mit einer unbeherrschten Regung, wie erstaunt er war, daß man nicht länger darauf bestand, den im Wald gefundenen Ausweis als Sein Personaldokument anzusehen. «Nach unseren Erkenntnissen sind Sie als Angehöriger des Bundesnachrichtendienstes zur Ausführung eines Auftrages gesetzwidrig in die Deutsche Demokratische Republik eingereist! Äußern Sie sich dazu!» «Meine Personalien stimmen, alles andere ist purer Unsinn!» «Sie sind mit dem Auftrag herübergekommen, einen Bardenberger Bürger zu töten, der einem V-Mann einer BNDSpionagegruppe angedroht hatte, ihn den Sicherheitsorganen namhaft zu machen!» Der Münchner wurde blaß, und an die Stelle von Arroganz in seiner Miene trat deutliche Besorgnis. Mit ruhiger Stimme erklärte Reiter: «Sie warteten in der Lüsinger Straße auf den Bürger Schreiber. Statt seiner kam um siebzehn Uhr dreißig dessen Sohn und gab Ihnen auf Befragen die Adresse in der Kleingartenanlage, wo Sie seinen Vater finden würden. Wie genau der Junge Sie beschrieben hat, beweist unser Fahndungsbild!» Oberleutnant Conrad wies Körber das Bild vor. Erstaunen zeigte sich auf dessen Gesicht. Er schluckte beeindruckt und fragte heiser: «Könnte ich eine Zigarette …?» 285
Conrad sah zu Brockmann hinüber. Der Oberst nickte. «Mit ‹Ernte dreiundzwanzig› können wir nicht dienen», sagte Conrad und hielt Körber eine Packung «Duett» hin. Der Verhaftete nahm eine Zigarette und rauchte sie mit zittriger Hand an dem Feuerzeug des Oberleutnants an. «Von Schreibers Sohn», fuhr Reiter fort, «erfuhren Sie, wo Sie seinen Vater in der Gartenkolonie finden würden. Sie begaben sich dorthin. Schildern Sie nun selbst, was dann geschah!» «Ich war nie in einer Gartenkolonie!», behauptete Körber und rauchte gierig. Reiter beharrte: «Abstreiten ist sinnlos, Körber! Die Indizien überführen Sie!» Er hob das Tuch, wies den mit Silikonkautschuk ausgegossenen Abdruck vor und hielt Körbers rechte Schuhsohle dagegen. Die Übereinstimmung war hundertprozentig. «Sie traten neben den Betonweg! Es geschah nach dem Mord, denn die Schuhspitze zeigte zum Gartentor!» Oberleutnant Conrad demonstrierte die Tatortfotos. Körbers Gesicht wurde fahl, von seiner Überlegenheit war nichts mehr zu spüren. «Sie begaben sich dann zur zwölf Kilometer entfernten Autobahn», fuhr Werner fort, «und suchten eine weiter entfernte Stelle auf, weil mit dem Mercedesfahrer die Eisenbahnbrücke als markanter Treffpunkt vereinbart worden war. Die Zeit war so kalkuliert, daß Sie es bequem zu Fuß schafften!» Der Münchner fand keine Lücke mehr. Seine Miene verriet Resignation. Conrad wies Körber nach, daß er etliche Stunden an einer Stelle im Wald zugebracht hatte, ehe er an den vereinbarten Treffpunkt geschlichen war. Auf dem Tisch lagen als Beweisstücke: die Zigarettenreste, die leere Packung «Ernte 23», die Bierbüchse und das Knäckebrotpapier. «Es liegt bei Ihnen, unsere Angaben zu ergänzen», erklärte Reiter sarkastisch. «Kommen wir zur Tatausführung! Wo haben Sie die Tatwaffe gelassen?» Körber preßte die Lippen aufeinander. «Sie haben übrigens an Schreibers Stelle den Bürger Fricke 286
niedergestochen, einen ahnungslosen Mann, der selbst auf Schreiber wartete!» Wie in Zeitlupe und mit marionettenhaften Bewegungen erhob sich Körber. Sein Gesicht wurde noch weißer; er stand mit weichen Knien da und flüsterte so leise, daß es kaum verstanden wurde: «Herr Schreiber? habe ich gerufen. Ja? hat er geantwortet!» «Das genügte Ihnen?», fragte Reiter ungläubig. «Und dann stachen Sie zu!» «Den Falschen ermordet zu haben, das vergißt Ihnen Ihre Firma nie!», äußerte Oberst Brockmann. «Aber, was tut’s, zunächst werden Sie sich nach unseren Gesetzen zu verantworten haben!» «Das einzige, was Ihre Lage verbessert, ist ein Geständnis», erklärte Reiter. Körber rang sich zu dem Entschluß durch, die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten; seine Vernehmung dauerte lange. Das Licht im Vernehmungszimmer erlosch erst nach Mitternacht. Zur selben Zeit, da Körber in Gohla sein Schweigen brach, fand in der BND-Zentrale in München-Pullach in Barhaupts Dienstzimmer eine Beratung statt, an der Doktor Gronau und sein Stellvertreter Wiese teilnahmen. Gronau registrierte befriedigt, daß Barhaupts Überheblichkeit ihm gegenüber wegen der Panne mit Blaschke einen Dämpfer erhalten hatte. Die Nachricht von Körbers Verhaftung hätte Barhaupt kaum veranlaßt, mit Gronau und Wiese zu beraten. Das beschloß er erst, als von «Siering und Fengler» die Nachricht kam, daß Körber in Bardenberg den falschen Mann getötet hatte. Wiese äußerte sein Unverständnis. «Ich begreife nicht, wie das möglich war.» Barhaupt erklärte es mit der Hast, in der dieser Auftrag erteilt wurde; es gab ja nicht mal ein Foto von Schreiber. «Es bringt nichts ein, darüber weiter zu reden», sagte Gronau, «Blaschke wird morgen ausgeschleust.» 287
«Grindel fährt im Transit nach Westberlin und tauscht mit ihm am Hermsdorfer Kreuz Fahrzeug und Papiere. Ich sehe darin kein Problem. Grindel taucht in Bardenberg bei Felix unter, bis wir ihn herausholen können!» «Wenn das nur gut geht», murmelte Wiese mit unbewegtem Gesicht. «Sie sitzen beide im selben Boot. Die müssen zusammenhalten, ob sie wollen oder nicht», sagte Gronau. Barhaupt thronte hinter seinem Schreibtisch und sah ungläubig auf Gronau und Wiese. «Glauben Sie denn ernsthaft, daß die Aktion Januskopf weiter vorangetrieben werden kann?» «Aber ja», versicherte Gronau. «Felix funktioniert noch. Ihm droht weder von Blaschke noch von Schiffer eine Gefahr. Gegen beide ist er abgeschottet. Der Tankwagenfahrer bekommt seine Weisungen künftig von Schubart.» Gronau verschwieg, daß ihm Felix für künftige Aufgaben wichtiger war, und er dachte an dessen Stieftochter im Roboterwerk. Einsätze nach Barhaupts Art verabscheute er. Er fand seine unblutigen Aktionen auch effektiver. «Die einzige unwägbare Komponente stellt Ihr Spezialist dar», behauptete Gronau. «Für Körber verbürge ich mich!», eiferte Barhaupt. «Ach, wissen Sie, ich bin da nicht so sicher», hielt Gronau entgegen. «Körber singt nicht!», behauptete Barhaupt. «Selbst nicht unter einem Galgen! Aber mir ist nicht klar, weshalb Sie erst so umständlich einen Austausch vornehmen? Grindel wird wohl per Container ausgeschleust? Weshalb nicht gleich dieser Blaschke?» «Dafür gibt es Gründe! Die Vorbereitung einer Containerschleusung dauert länger und ist riskanter. Wird der Leipziger verhaftet, schätze ich, daß er erzählt. Passiert es Grindel, denke ich, daß der dicht hält. Außerdem bleibt Grindel nicht passiv, er kann sich drüben frei bewegen!» «Aber nicht als Blaschke», widersprach Barhaupt. 288
«Natürlich nicht», bestätigte Gronau. «Was mich mal interessiert: Hat Körber eigentlich ein Horoskop stellen lassen?» «Keine Ahnung», antwortete Barhaupt, der wußte, daß der Hieb Wiese treffen sollte. Wieses meist ausdrucksloses Gesicht wurde verkniffen. «Die Sterne lügen nicht», versicherte der ehemalige Kapitän. «Die Sache Januskopf ist ein stinkiger Fisch geworden! Damit saufen wir ab!» Barhaupt klopfte dreimal auf den Schreibtisch. «Beschreien Sie es nicht!» Gronau lächelte spöttisch. Zweimal im Monat besuchte Schubart den Klub des Kulturbundes. Es gab dort interessante Veranstaltungen. Schubart bevorzugte jedoch eine Skatrunde älterer Klubmitglieder. Am gestrigen Abend blieb er noch in den behaglichen Räumen, nachdem gegen dreiundzwanzig Uhr der letzte Grand gespielt worden war. Er trank mit einem nach Bardenberg neu zugezogenen Ingenieur eine Flasche Rotwein und hoffte, Evelin schliefe schon, wenn er heimkehrte. Sie mußte die Unordnung der Schaltpläne inzwischen entdeckt haben. Er fürchtete ihre Fragen. Am Morgen erwachte er später als sonst und gab dem Rotwein die Schuld. In der Wohnung war es noch still. Er warf den Bademantel über und trat auf den Korridor. «Ev?» Er bekam keine Antwort. Das Bad war leer, ebenso ihr Zimmer. Das Bett schien unberührt. Unbemerkt fortgegangen war sie ohnehin nicht, denn in der Wohnungstür steckte von innen der Schlüssel. Er vermißte Evelins Aktentasche – und Ev blieb selten über Nacht fort. Mit grüblerischer Miene tat er seine Verrichtungen wie an jedem Morgen, dabei sinnierte er über Evs merkwürdiges Gebaren. Das Frühstück am Fenster, mit dem Blick auf den Markt, schenkte heute keine Behaglichkeit. Und dann läutete das Telefon. «Seiffert! Guten Morgen, Herr Doktor! Könnte ich Evelin sprechen? Sie ist doch noch da?» 289
«Nein, das ist sie nicht! Tut mir leid! Ich weiß nicht, wann meine Tochter das Haus verlassen hat.» «Ev und ich sind befreundet», erklärte der Anrufer, Schubart fand seine Stimme angenehm. «Wir waren gestern abend verabredet, sie kam aber nicht!» Es klang besorgt. «Vielleicht ein dienstlicher Auftrag?», versuchte Schubart zu beruhigen. Er selbst glaubte nicht daran und wußte nur eine Erklärung: Evelin hatte ihn in letzter Zeit manchmal seltsam forschend angesehen und sich hartnäckig für alles interessiert, was er tat. Hatte sie ihn durchschaut? War sie darüber ratlos und wußte nicht, was sie tun sollte? Mochte sie ihm auf keinen Fall begegnen? «Nein, Herr Doktor», sagte Seiffert, «ich habe schon im Werk angerufen. Die taten dort recht komisch!» Es entstand eine Pause, und Schubarts Mund wurde trocken. Seiffert bat, später noch einmal anrufen zu dürfen, und legte auf. Schubart stand in Gedanken versunken da. Der Appetit auf ein zweites Toastbrot war ihm vergangen, nicht einmal seinen Kaffee trank er aus. Die Umsicht erforderte, für den schlimmsten denkbaren Fall gewappnet zu sein, für den Fall, daß Ev den Kopf verloren und ihn angezeigt hatte. Er suchte die Betriebsnummer heraus und wählte sie an. Die Vermittlung bedauerte, Kollegin Schenk sei nicht zu erreichen. «Weshalb nicht? Ich muß meine Tochter dringend sprechen!» Es blieb sekundenlang still, dann sagte die Frau in der Vermittlung: «Moment, ich verbinde Sie mit dem Technischen Direktor!» Der erklärte knapp, daß Kollegin Schenk zur Zeit dienstlich unterwegs wäre; er tat eilig und legte auf. Der Bescheid war nicht geeignet, Schubarts Befürchtungen zu verringern. Er tat dennoch so, als sei es ein Tag wie jeder andere, zog den grünen Anzug an und radelte zur Burg hinauf. Im Tordurchgang kam ihm Hildebrands Tochter entgegen, 290
eine adrette Frau Mitte Vierzig, und sagte, daß ihr Vater krank sei. Es schien diesmal mehr als eine Unpäßlichkeit. Schubart nahm es als neuen Schicksalsschlag hin und hängte das Schild «Wegen Krankheit geschlossen» an die Tür. Er riegelte sich ein und durchstreifte ruhelos die Räume, trat immer öfter an eines der Fenster und blickte hinab. In einer halben Stunde sollte er öffnen, aber Schubart fühlte sich außerstande, Besuchern die Exponate zu erklären. Er wurde zwischen schlimmer Ahnung und vager Hoffnung, daß sich alles harmlos aufklärte, hin- und hergerissen. In seinem Büro kontrollierte er den Faden am Schreibtischschub. Der klebte unversehrt über dem Ritz. Auf der Burg fühlte er sich stets geborgener als in der Wohnung, besonders seit Evelin bei ihm wohnte. Er langte ein Fernglas aus der Schublade. Vom Bürofenster sah er den Hangweg nicht, sonst störte es ihn kaum. Der Blick auf den Park und über die Bardenberger Dächer entschädigte dafür. Heute beunruhigte es ihn, nicht zu sehen, wer zur Burg heraufkam. Er lief hinüber in den Raum mit den bäuerlichen Trachten und trat ans Fenster. Von der Hellstetter Chaussee bog ein weißer Lada auf den Hangweg ein. Schubart wurde hektisch betriebsam. Er stürmte ins Büro und holte den Schlüssel aus dem Geheimfach des Sekretärs, lief auf den Flur, verschloß die Museumstür und hastete die Wendeltreppe im Turm hinauf. Oben trat er auf den Söller hinaus. Unten klappten Autotüren. Schubart lief geduckt zur Bohlentür, verschloß sie von innen und eilte die zweiundvierzig Stufen zum Turmstübchen empor. Er bezweifelte nicht, daß man seinetwegen kam; zittrig langte er den Schlüssel vom Türbalken. Aus, alles ist aus, dachte er, aus und vorbei! Diese Einsicht ließ ihn nicht mehr los. An eines der Fenster wagte er sich nicht; um auf den Söller hinabzublicken hätte er es öffnen müssen. Noch hoffte er, man würde sich mit dem Hin291
weis auf das geschlossene Museum zufrieden geben und ihn in der Wohnung vermuten. Dabei wußte er gar nicht, wie er die damit gewonnene Zeit nutzen sollte. Schubart starrte ins Dachgebälk hinauf, von dem Verlangen beseelt, die Beweisstücke, die ihn der Spionage überführten, zu beseitigen. Öffnete er das Nordfenster, wurde es unten kaum bemerkt. Nach Norden fiel der Burgberg lotrecht ab, und tief unten wogten Tannenwipfel, Er kletterte auf den Hocker, ergriff die in Ölpapier gewickelte Pistole samt den Magazinen und schob sie in seine Hosentaschen. Wie gelähmt stieg er herab und sank auf den Hocker nieder. Major Reiter klinkte an der Museumstür und musterte unschlüssig das Schild. «Bist du sicher, Wolfgang?», wandte er sich an den einen seiner beiden Begleiter. «Ganz sicher! Zehn Minuten vor halb neun kam er mit dem Fahrrad und hat seither den Bau nicht verlassen!» «Der hat sich bestimmt dort oben verkrochen.» Peter nickte zur Turmtür hin. «Bleib hier, falls er doch drin ist», befahl ihm Reiter und lief zum Söller hinauf, von Wolfgang gefolgt. Der drehte mit einer Spezialzange den innen steckenden Schlüssel. Die Bohlentür ging knarrend auf. Reiter stürmte mit gezogener Pistole die Stufen nach oben, Wolfgang folgte ihm auf dem Fuße. Die Tür flog nach innen. Schubart saß auf dem Hocker, die Augen auf die Tür gerichtet. Sein Blick verriet Resignation. «Hände hoch, Schubart! Sie sind verhaftet!», rief Reiter. Nachdem ihn Wolfgang durchsucht und ihm die Pistole abgenommen hatte, wurde Schubart die Handfessel angelegt. Reiter schob seine Waffe ins Achselhalfter zurück. Das Turmstübchen wurde für die Spurensicherung versiegelt. Für Schubart war es der endgültige Beweis, daß es nichts mehr zu verbergen gab. Die Nacht hatte Blaschke in Jena bei einer Frau reifen Alters verbracht, mit der ihn von früher her, als sie noch in Leipzig 292
wohnte, eine Liebschaft verband. Die Wohnung lag in einem der Hochhäuser an der Autobahn. Blaschke gefiel der Ausblick vom Balkon im achten Stock hinab auf die wie bunte Käfer vorbeikriechenden PKWs. Wie immer bei einem Liebesabenteuer hatte er sich nicht kleinlich gezeigt und alles für einen gemütlichen Abend mitgebracht. Die von Männergunst kaum verwöhnte Frau hatte es mit Zärtlichkeit gedankt. Daß das sein letzter Abend in Freiheit gewesen war, ahnte Blaschke nicht. «So können wir es immer haben, Axel», flüsterte die Frau an seiner Seite, und als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: «Woran denkst du?» «An die Zukunft!» Noch war nichts verloren. Er hatte zwar sein Geschäft in Gohlis geopfert. Doch wenn er die Nerven behielt, war er am Ende der Gewinner. Dabei gab er sich keiner Illusion hin; Grindel wurde nicht seinetwegen zum Identitätstausch befohlen. Der BND wollte nur auf jenen Agenten nicht verzichten, für den er die Nachrichten zum Hilgendorfer Friedhof schaffte. Blaschke ließ sich gern zum Mittag einladen, und die Sachbearbeiterin in der Universitätsregistratur versäumte zum ersten Mal ihren Dienst. Um dreizehn Uhr dreißig stieg Blaschke in seinen Moskwitsch, satt und frisch rasiert, um die letzte Etappe als V-Mann hinter sich zu bringen. Er glaubte zuversichtlich, daß er sicher nach Westberlin gelangen würde. Der Genosse, der ihm mit einem blauen Dacia folgte, fühlte sich nicht weniger frisch. Er hatte die Besatzung des Wartburg abgelöst. Obwohl Blaschke unterwegs eine Pause eingelegt hatte, kam er viel zu früh in der Raststätte an; doch auf dem Parkplatz stand schon Grindels roter VW-Passat. Blaschke legte sein Portemonnaie und die Brieftasche mit dem Personalausweis zu der Zulassung ins Handschuhfach seines Moskwitsch. In der Gaststätte traf er Grindel im Gang zu den Waschräumen. Beide tauschten wortlos die Autoschlüssel. Grindel trug eine schmale Reisetasche, Blaschke einen Koffer. 293
Der Mann, der nun in den roten VW-Passat einstieg, interessierte den Dacia-Fahrer nicht mehr, obwohl er ihn als Fahrer des Moskwitsch wiedererkannte. Er wartete, bis der andere mit dem weißen Moskwitsch UP 18-93 startete. Ab Hermsdorfer Kreuz wurde Blaschke nicht mehr observiert. Sein Ziel war bekannt. Aus dem Handschuhfach nahm er Grindels Papiere und schob sie in sein Jackett. Der Passat war angenehm zu fahren, und die Stunden verrannen. Blaschke überlegte, welchen Job der BND ihm wohl übertragen würde; denn daß er die Grenzkontrolle unbeanstandet passiere, bezweifelte er keinen Augenblick. In Drewitz warteten vor ihm einige Westberliner PKWs. Die Abfertigung erfolgte zügig. Blaschke sah erleichtert, daß der kontrollierende Offizier die Dokumente stets rasch zurückgab. Dann stand er neben dem herabgelassenen Fenster, legte grüßend die Hand an die Mütze und nahm das herausgereichte Personaldokument entgegen. Statt den Paß zurückzugeben, den er ohne eine Miene zu verziehen ansah, deutete er auf die Wartespur. «Fahren Sie dort hinüber!» Blaschke erschrak. Vor Aufregung legte er den falschen Gang ein, und der Passat stuckerte auf die gewiesene Stelle. «Steigen Sie aus, und folgen Sie mir zur Feststellung eines Sachverhaltes!», forderte der Oberleutnant. «Hören Sie mal, das verstehe ich nicht! Wieso …?» Blaschke verstummte. Hinter ihm lief ein Soldat mit einer MPi. Im Dienstzimmer hörte er wie von weit her eine Stimme. In seinem Kopf dröhnte es, und alles Blut drängte unter die Schädeldecke. «Sie sind der Bürger Axel Blaschke, wohnhaft in LeipzigGohlis! Sie sind vorläufig festgenommen!» «Mist, verdammter!», murmelte Blaschke und sank auf eine Bank nieder. Grindel war nicht sicher, ob der blaue Dacia bereits seit Hermsdorfer Kreuz hinter ihm fuhr. In letzter Sekunde bog er auf einen Rastplatz ab und sah erleichtert, daß der Dacia wei294
terfuhr; einen Motorradfahrer, der nach ihm einbog, beachtete er nicht. Der Rollentausch mit Blaschke paßte ihm gar nicht, noch weniger die Weisung, bei Felix unterzuschlüpfen. In Bardenberg parkte er den Moskwitsch auf dem Markt. Er nahm die Reisetasche und schritt auf das Haus zu, nicht sicher, ob er Schubart um diese Zeit antraf; vielleicht mußte er zur Burg hinauffahren? Grindel drückte den Knopf an der Wohnungstür. Drinnen schrillte eine Glocke. In der Wohnung spielte ein Radio. Er klingelte noch einmal. Die Tür wurde geöffnet, und ein schmächtiger junger Mann sah ihn fragend an. «Ja? Sie wünschen?» «Ich – möchte zu Doktor Schubart!», sagte Grindel. Der junge Mann trat einladend zur Seite und rief: «Onkel Egon –! Besuch für dich –!» Grindel fühlte sich im Korridor von zwei kräftigen Armen umfangen, hing in ihnen hilflos wie in einem Schraubstock. Peter hielt ihn fest, Wolfgang durchsuchte die Taschen, dann schnappte die Handfessel. «Nein, Frau Schreiber», versicherte Major Werner, «Ihr Mann hat mit dem Mord nichts zu tun, der Täter hat bereits gestanden!» Auf Beate Schreibers Gesicht breitete sich Erleichterung aus. Werner ersparte ihr die schockierende Tatsache, daß der Anschlag ihrem Mann gegolten hatte; mochten Schreiber und der Sohn entscheiden, ob sie es ihr sagten. «Er wird morgen entlassen!» Daß es zu Schreibers Schutz noch nicht geschehen war, verschwieg er ebenfalls. «Und der Diebstahl?», fragte sie besorgt. «Dafür muß er einstehen», erklärte Werner, «aber daß er alles zurückbrachte, ist ein mildernder Umstand. Schwerer wiegt der Schwarzhandel, Frau Schreiber!» «Auch für den muß er einstehen, ich weiß, aber ich helfe ihm dabei!», erklärte sie entschlossen. 295
«Er hat eine reelle Chance, glimpflich davonzukommen, Frau Schreiber», versicherte der Major. «Auf jeden Fall kommt für ihn strafmildernde ‹tätige Reue› zum Zuge!» Eisiger Schneeregen klatschte an die Fensterscheiben. Uwe und seine Frau Karin saßen am Frühstückstisch. Sie liebten diese Morgenstunde, den Duft von frischem Kaffee und geröstetem Toastbrot. Nach dem Frühstück blätterte Uwe in der Zeitung. «Du, hör mal», rief er, «was ich hier grad lese! ‹Vor dem Bezirksgericht Gohla begann der Prozeß gegen Egon Sch., der unter der Maske eines Biedermannes Spionage für den BND betrieben hat!› Er ist der letzte aus der Gruppe», sagte Uwe. «Die anderen sind bereits abgeurteilt. Erinnerst du dich? Körber erhielt wegen Mordes und Spionage eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, Blaschke wegen Spionage und Wirtschaftsverbrechen acht Jahre und Schiffer wegen Spionage und Diebstahl von Volkseigentum zwölf Jahre Freiheitsentzug. Auch Blaschkes Doppelgänger Grindel wurde wegen Spionage zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Sie alle haben die verdiente Strafe bekommen.»
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1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) • Berlin, 1985 Lizenz-Nr. 5 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Druckerei des Ministeriums für Nationale Verteidigung (VEB) Berlin – 3 0346-4 Lektor: Helge Paulus Umschlaggestaltung: Jürgen Wagner Typografie: Ingeburg Zoschke Scan & Ebook by *MM* LSV: 7004 Bestellnummer: 7467054 00620