Hansjorg Gutberger Bevolkerung, Ungleichheit, Auslese
Hansjorg Gutberger
Bevolkerun^, Ungleichheit Auslese Perspekti...
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Hansjorg Gutberger Bevolkerung, Ungleichheit, Auslese
Hansjorg Gutberger
Bevolkerun^, Ungleichheit Auslese Perspektiven sozialwissenschaftlicher Bevolkerungsforschung in Deutschland zwischen 1930 und 1960
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibiiothek Die Deutsche Bibliotiiek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natlonalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im internet uber abrufbar.
1. Auflage Mai 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mulhausen / Marianne Schultheis Der VS Verlag fur Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBllch aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur vervielfaltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, ScheBlitz Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14925-3 ISBN-13 978-3-531-14925-7
Vorwort Der demographische Wandel wird nun auch in der nicht-wissenschaftlichen Offentlichkeit zunehmend als Problem westlicher Industriegesellschaften erkannt. Gleiches gilt ftir die wachsenden sozialen Ungleichheiten innerhalb dieser Gesellschaften. Beide Problemkreise sind nicht getrennt voneinander zu diskutieren, sondem sie stehen in enger Wechselwirkung zueinander. Die Geburtenentwicklung in einer Gesellschaft resultiert selbstverstandlich aus einem komplexen Biindel an Ursachen. Zu diesen Ursachen zahlt unter vielen anderen auch die Frage des Erhalts des sozialen Status der (potentiellen) Eltem. Wo auf Kinder verzichtet wird, hat das auch etwas mit erhofften (tatsachlichen oder vermeintlichen) Distinktionsgewinnen in kapitalistischen Marktgesellschaften zu tun. Diese Problematik ist wiederum nicht losgelost davon zu diskutieren, wieviel Mobilitat und welche Formen von sozialer Mobilitat in einer Gesellschaft moglich sind und wie diese von den Betroffenen wahrgenommen werden. Die vorliegende Untersuchung nimmt sich dieser hochkomplexen Problematik von allgemeiner gefaBt - sozialer Ungleichheit, sozialer SchlieBung und demographischem Wandel hier in wissenschaftshistorischer Perspektive an. Allerdings nur insoweit, als sie sich mit der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung zwischen den 1930er und 1950er Jahren in Deutschland kritisch auseinandersetzt. In damaligen Forschungen glaubten viele, dass die quantitative und die "qualitative" Bevolkerungsentwicklung auch liber die Planung sozialer Positionen beeinflussbar sei. Sozialtechniken waren inharenter Bestandteil dieser Demographic. Hier sollen einzig die damaligen Denkstile iiber den Zusammenhang zwischen Bevolkerungsentwicklung und Sozialstruktur^ vorgestellt werden, nicht aber die tatsachlichen soziodemographischen Vorgange innerhalb des genannten Zeitraums. Nicht die soziale Realitdt, auch nicht tatsachliche sozialpolitische Mafinahmen und deren ungleichheitshemmende^ oder ungleichsfordemde Wirkungen sind hier Gegenstand der Untersuchung, sondem ausschlieBlich die Wahmehmung von "Bevolkerung, Ungleichheit, Auslese" im Fokus der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung. Diese Rekonstruktion erscheint notwendig, weil mit der Renaissance der Problematik in Vergessenheit zu geraten droht, welche Irrwege in Deutschland auf diesem Gebiet schon einmal beschritten worden sind. Die wissenschaftshistorische Aufbereitung dient insofem der Wegbereitung einer sich dieser Gefahren bewuBten Bevolkerungssoziologie. Das vorliegende Buch ist ein erstes Resultat meiner Mitwirkung am DFG-Schwerpunktprogramm "Das Konstrukt 'Bevolkerung' vor, im und nach dem 'Dritten Reich'",^ das im Jahr 2001 angelaufen ist. Die Studie baut in keiner Weise auf friihere Veroffentlichungen von mir auf und ist vollig aus sich heraus zu verstehen. Die vor einigen Jahren vorgelegten Resultate zur Geschichte der empirischen Sozialforschung im NS-Staat erganzen das hier zu Papier Gebrachte gleichwohl dennoch."^
"Sozialstruktur" meint hier soziale Stratifikation und soziale Differenzierung. Vgl. Aly 2005. Vgl. dazu Mackensen, Reulecke ed. 2005. Vgl. Gutberger ^ 1999 (auf die raumliche Dimension sozialer Ungleichheit wird dort sehr vieler intensiver eingegangen).
VI
Vorwort
Recht herzlich bedanken mochte ich mich bei alien Kolleginnen und Kollegen des o.g. Schwerpunktprogramms flir den kooperativen und freundlichen Umgang miteinander. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Carsten Klingemann, der das Projekt iiberhaupt erst moglich gemacht hat und der es unermudlich in Wort und Tat unterstiitzte. Bin groBes Dankeschon auch an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der "Forschungsgruppe Bevolkerungsfragen" an der TH Berlin flir wichtige Diskussionen und die zuganglich gemachten Texte. Dr. Ursula Ferdinand verdanke ich wesentliche Hinweise in Sachen Karl Valentin Miiller. Von den Initiatoren und Gutachtem des Schwerpunktprogramms habe ich besondere Hilfe erfahren: Prof. Dr. Rainer Mackensen (Berlin) hat sich in mancher Diskussion vor mich gestellt. Prof. Dr. Josef Ehmer (Universitat Wien) hat meinen Blick flir die Sichtweise der Historiker gescharft. Prof. Dr. Bemhard Schafers (Universitat Karlsruhe) hat mich ermutigt, in meinen Bemiihungen um eine bessere Durchdringung des Themas nicht nachzulassen. Fiir wichtige Ermutigungen und Hinweise mochte ich mich auch bei Prof. Dr. Robert Lee (University of Liverpool), Dr. Sybilla Nikolow (Universitat Bielefeld), Patrick Henssler (Universitat Bamberg), Sonja Schnitzler (Universitat Osnabriick), Dr. Heike Petermann, Dr. Michael Wedekind (beide Universitat Miinster), Dr. Ingo Haar (Universitat Berlin), Werner Lausecker (Universitat Wien) und Dr. Alexander Pinwinkler (Universitat Salzburg) bedanken. Heike Gorzig hat mir bei den abschlieBenden Formatierungsarbeiten entscheidend geholfen. Vielen Dank auch an die Migrantlnnen aus uber 16 Nationen in den "Internationalen Garten Gottingen e.V.", die mir in dieser Zeit deutlich gemacht haben, dass Wissenschaft stets aufgefordert bleibt, an unserer aller Menschwerdung mitzuarbeiten. Ihnen ist diese Studie gewidmet.
Gottingen, im November 2005 Hansjorg Gutberger
Inhaltsverzeichnis Vorwort Inhaltsverzeichnis
V VII
Einfiihrung in die Thematik
1
I. Bevolkerungsfrage und gesellschaftliche Organisation II. Exkurs zur sozialen Ungleichheit III. Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung IV.Wissenschaft in einer totalitaren Gesellschaft V. Reflexion des Forschungsstandes
1 3 6 8 10
Methodische Annaherungen an die Texte
17
I. Der Einbezug der Fleckschen Wissenschaftstheorie in die Untersuchung II. Bevolkerung, 'Rasse' und soziale Rangordnung III. Die Bevolkerung und die Ordnung des Raums IV. (Soziale) Mobilitat unter demographischen Aspekten betrachtet
17 20 27 28
Denkstile
35
I. Die 'soziale Frage' im Fokus der Bevolkerungs- und Sozialstatistik II. Bevolkerungs- und Sozialstatistik als Sozialdemographie III. Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung in Leipziger Tradition IV. "Bevolkerungslehre" und Bevolkerungssoziologie in Kiel V. Zu den Forschungsarbeiten der Breslauer Schule
35 38 75 104 149
Schlussfolgerungen I. Einleitung II. Vergleichende Darstellung der Denkstile III. Abstract der Schlussfolgerungen und Ausblick
157 157 159 166
Literatur
169
Anhang
189
I. Chronologisch geordnete Daten zur Biographic von Gerhard Mackenroth
Personenindex
189
195
Einfiihrung in die Thematik I. Bevolkerungsfrage und gesellschaftliche Organisation Nach dem Ende des 2. Weltkriegs bestand besonders in den angelsachsischen Landem ein (weiterhin) ausgepragtes Interesse an "demography" oder "population studies". In Deutschland wurde die Behandlung bevolkerungswissenschaftlicher Themen, wenn tiberhaupt, dann nur im Schatten einer Leitdisziplin geduldet. Die sich nach 1945 entwickelnde Bevolkerungssoziologie war ein Resultat und ein Ausdruck dieser Situation. Als der Soziologe Karl Martin Bolte im Jahr 1961 die Frage nach dem Verhaltnis zwischen Bevolkerungswissenschaft und Soziologie aufwarf und sich rein rhetorisch beim Leser erkundigte, wo sich die Soziologie fur demographische Aspekte interessiere, gab er folgende Antwort: "Sobald sich der Soziologe mit konkreten, iiber langere Zeit bestehenden 'sozialen Systemen' beschaftigt, interessiert er sich u. a. flir den Emeuerungsprozefi dieser Gebilde. (...) Handelt es sich dabei um 'Gesellschaften', so wird er fragen, welche Bedeutung einerseits die natiirliche Bevolkerungsvermehrung und andererseits Ein- und Auswanderungsbewegungen haben. Seine Analyse wird sich weiterhin auf die Vorstellungen, Verhaltensweisen, Regelungen, Institutionen und Organisationen erstrecken, die mit diesem ProzeB zu tun haben. Daruber hinaus wird er sich aber vor allem mit den intemen Differenzierungen der Bevolkerungsbewegung befassen. Schichtenoder berufsspezifisch differenzierte Fruchtbarkeits- und Sterbewerte, schichten- und berufsspezifische Ein- und Auswanderungen sind haufig eine wesentliche Ursache sozialen Wandels. In Verbindung mit schichtenspezifischen Vorstellungen bezuglich Fortpflanzung, Geburtenkontrolle, Heiratsalter und iiber 'standesgemaBe' Heiratspartner beeinflussen oder bedingen sie verschiedene soziologisch bedeutsame Mobilitatsprozesse. Binnenwanderungen, die zu einer standigen Vermischung der Bevolkerung fiihren, charakteristische Land-Stadtbewegungen, Ballungen der Bevolkerung oder der voriibergehende Auszug der erwerbsfahigen Altersgruppen aus bestimmten Gebieten (...) sind Ereignisse, welche Folge, Ursache oder charakteristische Begleiterscheinung bestimmter Gesellschaftsstrukturen oder ihrer Umwandlung sein konnen."^ Damit wurden empirische Beobachtungen der "intemen Differenzierungen" der Bevolkerung (sowie die Mobilitatsprozesse dieser Subpopulationen untereinander) in den Mittelpunkt einer soziologischen Annaherung an demographische Fragestellungen gerlickt.^ Soweit sich Soziologen fur Bevolkerungsvorgange interessierten, taten sie dies mit der Absicht, etwas uber die Bedeutung demographischer Vorgange fur den Emeuerungsprozess einer Gesellschaft zu erfahren; es ging ihnen, so Bolte, letztlich immer um die Ursachen sozialen Wandels. Die Soziologisierung der Bevolkerungswissenschaft richtete sich einerseits gegen die sogenannten "Gesinnungstheorien", die vor allem durch individualpsychologische Erklarungen demographische Entwicklungen verstandlicher machen wollten, aber auch gegen rein
Bolte 196 l:260f. Bolte zeigte in diesem Zusammenhang auch, dass Rene Konig (mit Bezug auf Emile Durkheim), die Soziologie als "soziale Morphologie" starker flir die "Bevolkerungsfrage" offnen wollte. Im Zuge dieser Annaherung hatten dann "die Demographic, die Okologie und die Soziogeographie (...) aus ihrer relativen Isolierung befreit und bewusster der Soziologie zugeordnet" werden konnen (ebd., 261).
Einflihrung in die Thematik naturwissenschaftlich-medizinische Deutungen der Geburtenentwicklung und anderer demographischer Phanomene. So war der Bevolkerungsprozess auch fiir den Kieler Bevolkerungssoziologen Gerhard Mackenroth - so Bolte - ein nicht ausschlieBlich naturaler "Lebensvorgang (...) innerhalb dessen sich ein unendlich differenziertes Verhalten der Menschen aufbaut. Dem biologisch nicht mehr greifbaren Phanomen solcher Differenzierung kann man nach Mackenroth nur mit typisch soziologischen Kategorien und Methoden nahekommen. Hiermit nahem wir uns nun aber Zusammenhangen, die deutUch iiber die bisher aufgewiesenen Beziehungen zwischen Demographic und Soziologie hinausgehen. Es handek sich nicht mehr um eine einfache Bezugnahme auf soziale Bedingungen, um die Ursachen der Entwicklung demographischer Werte darzulegen, noch um eine Auffassung von der Demographic als Hilfswissenschaft zur Aufdeckung der AuBenseiten soziologischer Strukturen, sondem um eine charakteristische Verbindung, die beide Wissenschaften eingehen. H. Linde spricht in diesem Zusammenhang von Bevolkerungssoziologie und G. Mackenroth von soziologischer Bevolkerungslehre."'^ Von "sozialer Ungleichheit" war hier nicht unmittelbar die Rede. Wandten sich Sozialwissenschaftler Bevolkerungsfragen und dem (damit in Zusammenhang stehenden) sozialen Wandel zu, kamen sie jedoch um die Frage der Deutung der sozialen Unterschiede in einer Gesellschaft nicht herum. Noch in den 1920er Jahre bestand fiir diese Zusammenhange in der deutschen Bevolkerungsforschung ein deutlich artikuliertes Bewusstsein; allerdings gab es auf diesem Feld von jeher politisch weit rechts stehende, meist biologistisch und sozialdarwinistisch argumentierende Deuter der 'sozialen Ungleichheit'. Wie immer man zur Funktion und zur politischen Beeinflussbarkeit sozialer Ungleichheit steht:^ flieBt die Thematik erst einmal in die Bevolkerungswissenschaft ein, so bleiben davon scheinbar 'rein' demostatistische Fragen, wie z.B. die der Entwicklung der BevolkerungsgroBe nicht unberiihrt: "Aus soziologischer Sicht ist vor allem die Feststellung bedeutsam, dass bevolkerungstheoretische Modelle und Analysen in starkem MaBe von den jeweilig vorherrschenden sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen beeinflusst sind. Die gesellschaftliche Entwicklung beriihrt nicht nur den Zusammenhang von demographischen und sozialem Wandel, sondem auch die Wahmehmung und Interpretation demographischer Prozesse."^ So auch im Europa der Zwischenkriegszeit. Die Mobilisierung der Sozialstrukturen war hier seit der Jahrhundertwende eine ganz zentrale Erscheinung. Durch sozialokonomische Umschichtungsprozesse veranderten sich die Gesellschaften in Europa extrem, neue Schichten bildeten sich heraus und die Fluktuationen zwischen ihnen nahmen deutlich zu; vielleicht ahnlich stark, wie wir es in unserer Zeit seit dem Ende des Kalten Krieges erleben. Die Zunahme von geistigen Tatigkeiten und Angestelltenberufen eroffnete - wenn auch nur fiir wenige - die Moglichkeit, aus 'unteren' Schichten in privilegiertere iiberzutreten. Es ist darauf hingewiesen worden, dass wahrend der Zeit des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft wohl ein fundamentaler Wandel im Schichtungssystem seinen Abschluss fand: Die traditionellen Schichtungssysteme, die durch Besitz-, Identitats- und Statusiibertragung Bolte 1961:264. Vgl. dazu den Exkurs zur sozialen Ungleichheit auf der nachsten Seite. Hopflinger 1997:16.
Exkurs zur sozialen Ungleichheit in der Generationenfolge und die Fokussierung auf die Familie gekennzeichnet waren (die Familie braucht den 'Erben'!), wurden in Folge der Industrialisierung immer starker durch die staatlich organisierte Sukzession von Geburtsjahrgangskohorten durch das Bildungsund Beschaftigungssystem abgelost.^^ D.h. aber auch, dass die (quantitative) "Bevolkerungsfrage" von der Frage nach den Ausbildungs(moglichkeiten), den Berufen, der Zahl und der 'Qualitat' der Arbeitsplatze usw. nicht mehr zu losen war. Aus diesen Grlinden war z.B. fur den Leipziger Bevolkerungswissenschaftler Gunther Ipsen die sogenannte "Bevolkerungswelle" kein demostatistischer Befund, sondem ein sozialer Vorgang. ^ ^ Ftir den Genealogen und Soziologen Johann Hermann Mitgau, der als Abteilungsleiter in dem geplanten "Reichsinstitut fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" wirken soUte und der wahrend des Krieges dort an der Seite von Elisabeth Pfeil arbeitete, war bereits 1928 die (quantitative) Bevolkerungsfrage die treibende Kraft fur den sozialen Schichtungsprozess.^^ Die variable BevolkerungsgroBe innerhalb eines Raumes hatte in dieser Sicht gleichsam unmittelbare Auswirkungen auf den Mechanismus der Verteilung sozialer Positionen. Mitgau meinte deshalb auch spater immer wieder einen Zusammenhang zwischen der (familiaren) Generationenfolge und der sozialen Stratifikation, d.h. den Schichten und den Schichtbildungsprozessen in einer Gesellschaft erkennen zu konnen. Wie wir spater genauer sehen werden, iibemahm die 'sozialwissenschaftliche' Bevolkerungswissenschaft hier zwar partielle Kenntnisse aus der empirischen Soziologie, antizipierte diese aber in spezifischer Weise. In der vorliegenden Studie soil deshalb untersucht werden: Wie wurde 'soziale Ungleichheit' in der Bevolkerungsforschung seit den 1930er Jahren deskriptiv gefasst? Wie wurde 'Ungleichheit' in der zeitgenossischen Bevolkerungswissenschaft wahrgenommen? Wie wirkten in diesen 'Denkstilen' (Ludwik Fleck) als 'Ungleiche' bezeichnete Kollektive aufeinander ein, wo verliefen ihre Grenzen? Was verstand man in der deutschen Bevolkerungsforschung unter sozialer Mobilitat? Zum besseren Verstandnis des nachfolgend prasentierten Materials sei hier zunachst ein kurzer Exkurs zu den damit zusammenhangenden soziologischen Fragen vorangestellt.
II. Exkurs zur sozialen Ungleichheit Welche Form der Beschreibung fur die Darstellung sozialer Ungleichheit in der Bevolkerungswissenschaft gewahlt wird, ist auch abhangig von den je vorherrschenden Klassifikationsgrundlagen in der Gesellschaft. In standischen Gesellschaften waren es weitgehend "askriptive Merkmale, die in der Gesellschaft so weitgehend institutionalisiert und standardisiert waren, dass praktisch jedem Normalmitglied ein eindeutiger und legitimer Ort in der Gesellschaftsstruktur zugeordnet war".^^ Hingegen verlangte das modeme Leistungsprinzip, "daB die gesellschaftliche Stellung von Individuen sich an der Leistungsqualifikation, der erreichten beruflichen Position und der auf diese Weise erzielten materiellen Belohnung bemiBt."^^ Askriptive Kriterien - Herkunft, Geschlecht, 'Rasse' - spielten zwar de facto 10 11 12 13 14
Vgl. Mayer 1989:272. Vgl. Mackensen 1985:68f. Vgl. Mitgau 1928:24. Kreckel 1987:102. Ebd.
Einfiihrung in die Thematik weiterhin eine Rolle bei der Bestimmung von Lebenschancen - nach einer (soziologischen) Modellvorstellung wurde aber mit ihrem zunehmenden Verschwinden gerechnet. In dieser Perspektive wurde demnach zwischen den durch individuelles Verhalten gewahlten und den rein zugeschriebenen Bedeutungen unterschieden. Askriptive Zuschreibungen waren in dieser Sicht gewissermaBen Abweichungen von einem 'objektiven', weil fur alle Menschen zuganglichen BeurteilungsmaBstab. Die Grenzen zwischen askriptiven und erwerbbaren Merkmalen sind aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit keineswegs so rigide, wie in diesem Modell unterstellt, denn wie das Beispiel "Bildung" zeigt, konnen an sich erwerbbare Eigenschaften in einem Umfeld, das durch soziale Segregation, Verdrangungskonkurrenz sozialer Milieus untereinander und die Kanalisierung sozialer Pfade gepragt ist, zu quasi askriptiven Merkmalen werden.^^ Problematisch wird die Anwendung des Leistungsbegriffs erst recht dort, wo behauptet wird, dass das individuelle Leistungsprinzip iiber die Zuweisung gesellschaftlicher Platzierungen entscheide. Andere Verteilungskriterien, z.B. Prozesse sozialer SchlieBungen,^^ die durch ein Versagen politischer und/oder sozialer Eliten toleriert werden, bleiben dann auBen vor: "Das individuelle Leistungsprinzip hat immer groBere Teile der Bevolkerung ins Elend gesttirzt Oder darin festgehalten. Die Entwicklung der Sozialgesetzgebung ist der sichtbarste Ausdruck dafiir, daB sich in der geschichteten Gesellschaft die Gewahrleistung von Grundbedurfnissen als zweite Legitimationsgrundlage durchgesetzt hat (...) Die beiden Prinzipien stehen also in einem Konkurrenzverhaltnis zueinander. Dies bedeutet, daB die Durchsetzung des einen Prinzips immer nur auf Kosten des anderen moglich ist."^^ Zudem sind die Motivationen aller Gesellschaftsmitglieder etwas zu 'leisten' ungleich verteilt, und zwar zuallererst nicht, weil hier 'angeborene' Faktoren wirken wtirden, sondem weil in der Praxis - heute wieder verstarkt - de facto nicht alle partizipieren (diirfen): "Wer am Rande der Gesellschaft steht und resigniert feststellen muss, dass ihm kaum Moglichkeiten zum Wettbewerb um Belohnungen geboten werden, wird sich der Gesellschaft gegentiber wenig loyal und anpassungsbereit zeigen."^^ Ein auf individuelle 'Leistung' bezogenes Modell sozialer Schichtung geht mindestens implizit von der pessimistischen Vorstellung aus, dass Talente knapp sind und diese nur auf Grund ihrer Knappheit eine besondere Belohnung erfahren. Dem liegt ein fragwiirdiges Menschenbild zugrunde, das besagt, dass nur durch die (An)reize materieller Belohnungen Menschen zur Aktivitat angehalten werden konnen. ^^ Eine solche (besitzburgerliche) Vorstellung wirkt dort sozial desintegrativ auf eine nationale Gesellschaft, wo diese so organisiert ist, als ob materielle Anreize (Konsumgtiter, Reisen, ein an Geldeinkommen gebundener Status) die Entwicklung der in jedem Menschen liegenden Fahigkeiten sicherstellen wurde. Das schlieBt zwangslaufig diejenigen aus, die nicht oder nur zu einem gewissen Grade werden konkurrieren konnen. Die Kopplung sozialer Anerkennung mit materiellen Wer-
Vgl.Schatz 2005:130. Vgl. zum Diskussionsstand der Theorie sozialer SchlieBung: Mackert 2004. Zingg,Zipp 1979:76. Zingg, Zipp 1979:118. Vgl.Zingg,Zippl979:116f.
Exkurs zur sozialen Ungleichheit ten forciert zudem die sozialen Abstiegsangste derjenigen, die untereinander konkurrieren mit entsprechend negativen psychosozialen Folgen fur alle. Und da heute in vielen Berufen im globalen MaBstab konkurriert wird und fur einige Berufsgruppen sehr dynamische 'Wirtschafts- und Sozialraume' entstehen, nehmen im nationalen MaBstab diejenigen Gruppen rasch ab, die liberhaupt noch untereinander 'in Sichtweite' in Konkurrenz treten. Das so missverstandene 'Leistungs'-Modell baut (auch global) als Zielperspektive auf die Kraft und die Talente kleiner Gruppen und entwickelt kein Vertrauen in die Kraft und die Talente aller in den Gesellschaften vorhandenen Menschen (one World). Die offene Leistungsgesellschaft ist zwar eine ideologische Legende,^^ aber sie wird dort geglaubt (und wird so Teil der sozialen Wirklichkeit), wo allein die individuelle Anstrengung den Ausweg aus den bedriickenden soz\2i\Qn Ahstiegsdngsten suggeriert. Modeme Gesellschaften sollten zwar bestrebt sein soziale Ungleichheit abzubauen, soziale Ungleichheit ist aber vor den Erfahrungen mit Massengesellschaften mit politischen Argumenten (nicht mit okonomischen oder soziologischen!) auch positiv bewertet worden. Hannah Arendt machte - und man muss ihr darin nicht folgen - die politische Gleichheit von dem Vorhandensein sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft abhangig: "Demokratische Freiheiten grtinden zwar auf der Gleichheit aller Burger vor dem Gesetz; aber diese Gleichheit hat nur dann einen Sinn und kann nur dort funktionieren, wo die Burger zu bestimmten Gruppen gehoren, in denen sie reprasentiert werden konnen, oder wo sie innerhalb einer sozialen oder politischen Hierarchic leben. Gerade Gleichheit vor dem Gesetz kann es nur far Ungleiche, also, politisch gesprochen, nur fur Menschen geben, die entweder von Geburt oder durch ihren Beruf oder durch ihren politischen Willen sich in Gruppen scheiden und differenzie-
Diese Aussage traf Hannah Arendt vor dem Hintergrund massengesellschaftlicher Abwege in Nazi-Deutschland und der Sowjetunion; beide Staaten hatten eben nicht nur klassenlose Gesellschaften sondem 'atomisierte Massengesellschaften' hervorgebracht. Arendt ging es also immer um die Beeinflussbarkeit, die Funktion und die Bedeutung sozialer Organisation, nicht um individuelle Unterschiede oder gar um Analysen zur Korrektur der menschlichen Natur. Ein an sich banales Faktum in der Debatte um Ungleichheit, das aber zu Beginn der 1930er Jahre auch auBerhalb Deutschlands noch keineswegs selbstverstandlich war, wie folgende Richtigstellung der Ungleichheitsdiskussion in den angelsachsischen Landern von Richard Henry Tawney (Equality, 1931) zeigt: "Wer Ungleichheit kritisiert und Gleichheit fordert, verfallt keineswegs, wie gelegentlich behauptet, der romantischen Illusion, die Menschen seien im Blick auf Charakter und Intelligenz gleich. Er glaubt vielmehr, dass die Menschen zwar in ihrer naturlichen Begabung groBe Unterschiede aufweisen mogen, dass es aber einer zivilisierten Gesellschaft geziemt, Ungleichheiten zu beseitigen, die ihren Ursprung nicht in individuellen Unterschieden, sondem in der (sozialen) Organisation haben."^^
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Vgl. Meyer 2004:22; Wilsmann 2004:67ff. mit Bezug auf Rainer GeiBler bzw. Theodor Geiger. Arendt 1955:465f. So hatte in den 1920er Jahren bereits der Soziologe Emil Lederer argumentiert. Tawney 1931:101 (zit. nach der Ubersetzung ins Deutsche in Sennett 2002:316). Nach Ralf Dahrendorf war R.H. Tawney fiir das Verstandnis der kapitalistischen Gesellschaft in der englischen Soziologie so pragend, wie Karl Marx es fur die kontinentale Soziologie gewesen ist (vgl. R. Dahrendorf in Bemsdorf 1959:561).
Einfuhrung in die Thematik
III. Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung Der Nationalsozialismus mit seiner spezifischen Mischung aus modemisierenden Effekten und antimodemen Ideologien bildet nun die Folie, vor dem hier die Entwicklung einer 'sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung' betrachtet werden soil. Wollen wir - unserem Thema 'soziale Ungleichheit' entsprechend - die Forschungen iiber die "internen Differenzierungen der Bevolkerungsbewegung" (K.M. Bolte) vor wie nach 1945 genauer beobachten, kommen wir zunachst zu den Wissenschaftsstandorten Leipzig (Konigsberg), Berlin/Miinchen, Frankfurt/M., Kiel und Breslau, genauer gesagt: zur Leipziger Bevolkerungsforschung, zur Frankfurter (Sozial)-Statistik, zur durch Sozialwissenschaftler getragenen Kieler Demographic, zur Gruppe um Friedrich Burgdorfer im Statistischen Reichsamt / Bayerischen Statistischen Landesamt^^ und schlieBlich zur Breslauer anthropologisch-sozialbiologischen Forschung um Egon Freiherr von Eickstedt. Die bestehenden 'Schulen'^"^ oder Forschergruppen reklamierten fur sich, (auch) die 'soziale' Seite von Bevolkerungsvorgangen in den Blick genommen zu haben. Teilweise bedingt durch Selbstzuschreibungen,^^ teilweise bedingt durch das vor allem der Fachdisziplin Soziologie nahestehende Personal,^^ aber insbesondere durch die inhaltliche Konzentration auf Fragestellungen, Methoden und Theorien aus dem Bereich der Sozialwissenschaft. In die zeitgenossische Bevolkerungswissenschaft drangen bekanntlich biologistische und rassenmythologische Interpretationen sozialer Sachverhalte ein. Auch zeichneten sich viele Schriften durch eine soziale Gruppen normativ klassifizierende Sprache aus, eine (frei nach Klemperer) Lingua Tertii Imperii (LTI) des Wissenschaftsbereichs. Charakteristisch fur diese Sprache war, dass vermeintliche Sachgesetzlichkeiten es notwendig machten, Bevolkerungsgruppen erst zu benennen und dann in ihrem Wert zu relativieren. "Soziale Bewahrung", "Auslese",^"^ "Arbeitsbrache", "Sozialwert", "soziale Brauchbarkeit", "soziale 23
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Friedrich Burgdorfer (1890-1967), 1907 Assistent des Statistikers Friedrich Zahn im Koniglich Bayrischen Statistischen Bureau, 1912 (!) Abitur in Munchen, 1912-1916 Studium der Staatswissenschaften, 1916-1919 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, 1920 Stadtamtmann, 1921 Vorsteher des Stadtischen Mehlamtes in Miinchen, seit Mai 1921 als Regierungsrat im Statistischen Reichsamt Berlin, seit 1925 Generalreferent fiir die Volkszahlung 1925, seit 1929 (bis 1939) Direktor der Abteilung Bevolkerungs-, Betriebs- und Kulturstatistik, 1933-1939 Dozent an der Staatsakademie des ofFentlichen Gesundheitswesens und der Deutschen Hochschule fiir Politik (Berlin), 1934 an der Wirtschaftshochschule (Berlin), Mitglied der "Forschungsabteilung Judenfrage" des 1934 gegriindeten "Reichsinstituts fiir Geschichte", Mitherausgeber des "Archivs fur Bevolkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevolkerungspolitik" (Schriftleitung: Elisabeth Pfeil), 19371939 Honorar-Professur fiir Bevolkerungspolitik an der Universitat Berlin, ab 1939 an der Universitat Mtinchen, von 1939-1945 President des Bayerischen Statistischen Landesamtes Munchen, zahlreiche Publikationen, darunter: "Volk ohne Jugend" (1932) - Geburtenschwund und Uberalterung des deutschen Volkskorpers - Ein Problem der Volkswirtschaft und Sozialpolitik, der nationalen Zukunft, ^1934, M935; "Die Juden in Deutschland und in der Welt" (1938) - Ein statistischer Beitrag zur biologischen, beruflichen und sozialen Struktur des Judentums in Deutschland, in: Forschungen zur Judenfrage 3, Hamburg, 152-198; trotz des Verlustes seiner Amter nach 1945 wurde Friedrich Burgdorfer 1956 Ehrenmitglied der Deutschen Akademie fiir Bevolkerungswissenschaft (vgl. vom Brocke 1998:415f). Vier der fiinf genannten "Denkkollektive" sind keine nachtraglichen Konstrukte, sondem sie haben sich iiber die Diskurse in der Fachwelt als solche konstituiert. Auch wenn sich m.W. fiir die Miinchener (resp. Berliner) Gruppe nicht der Begriflf der 'Schule' eingebiirgert hat - was fiir alle anderen Denkkollektive zutrifft -, so kann doch die um die Zentralfigur Friedrich Burgdorfer gruppierte "Forschungsgemeinschaft fiir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" als ein vergleichbarer Wissenschaftsverbund angesehen werden. Wie im Falle der Frankfurter Statistik, die sich als 'sozialwissenschaftlich' defmierte. Rudolf Heberle und Gunther Ipsen seien hier beispielhaft genannt.
Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung Abwegigkeit", "sozial differenzierende Knappheit", "mengenmaBig genau begrenzte 'Stellen'", "gesellschaftlicher Nutzwert", "immunisierte Familien", "soziale Andersartigkeit" sind typische Begriffe aus dem Arsenal der zeitgenossischen Bevolkerungswissenschaft gewesen. Dennoch (oder gerade deshalb) stellt sich angesichts der von verschiedener Seite betonten 'Modemitat' der Arbeiten (s. den Exkurs zur Diskussion um 'Braune Wurzeln' weiter unten) die Frage, ob die Diskurse in der Bevolkerungswissenschaft wahrend des Nationalsozialismus nicht auch vor dem Hintergrund realer sozialer Entwicklungen - um genauer zu sein: realer sozialer Ungleichheiten - gefuhrt wurden. Der krude Sprachstil allein bietet noch kein Indiz dafur, dass dies nicht der Fall gewesen ist. Der Osnabrucker Soziologe Carsten Klingemann ist fiir den Bereich der empirischen Soziologie sogar zu der Ansicht gelangt, dass "trotz oder gerade wegen vielfacher terminologischer Anleihen bei volkischem Vokabular und nazistischer Brutal-Sprache" in der damaligen Zeit Bedingungen und Folgen sozialen Wandels erfasst wurden.^^ So sei auch der 'Rassegedanke', den wir auch in zahlreichen 'bevolkerungswissenschaftlichen' Schriften fmden, kein Hinweis auf eine (im weitesten Sinne) naturwissenschaftlich defmierte Ordnung von Teilen einer Bevolkerung oder von Volkem (oder 'Rassen'), sondem lediglich "die terminologische Umsetzung wahrgenommener sozialer Wertigkeiten und tradierter popular-rassistischer Vorurteile" gewesen.^^ Derartige Konstruktionen fmden wir auch dann, wenn es nicht lediglich um ein Abbild sozialer Ungleichheiten ging, sondem auch um die Beschreibung von 'Bewegungen' innerhalb gesellschaftlicher Hierarchien. Hier spielte dann haufig ein 'Leistungs'-Begriff mit hinein.^^ Ich nenne hier vorab ein Beispiel aus der Anthropologic (Use Schwidetzky): "Neben den KorpergroBenmerkmalen zeigt auch der Rassenaufbau Beziehungen nicht nur zur Standeshohe, sondem auch zur sozialen Bewegung. Sowohl fur Breslau wie fiir die umfangreichen Erhebungen an der schlesischen Landbevolkerung ergab sich namlich, daB die sozial Aufsteigenden, zwar wiederum nicht stark, aber deutlich hohere nordische Anteile aufweisen als der Durchschnitt ihrer Berufsgruppe: eine wissenschaftliche Bestatigung des nordischen Gedankens als Auslese- und Zuchtideal, aber kein AnlaB zu individuellem Rassenhochmut. Gelten doch auch die Leistungsunterschiede der Rassen nur fur groBere Gruppen, wahrend der Einzelne immer wieder erst beweisen muB, ob er liber oder unter dem Durchschnitt steht."^' Was auch immer 'nordisch' sein sollte: Der 'Kampf eines Vereinzelten fand hier vor dem Hintergrund von bereits vorab defmierten 'sozialen Rangen' und 'Standen' statt, in die einzutreten er sich anschickte. 'Rasse' zeigte sich in dieser Terminologie durch die Konkurrenz groBerer Kollektive in Systemen unterschiedlicher sozialer Schichtung, aber auch durch die
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Besonders dann, wenn der BegrifF so benutzt wurde, als verbiirge dieses Prinzip durch seine offensichtliche Relevanz in der gesellschaftlichen Praxis zugleich schon "Gerechtigkeit". Das Ausleseprinzip ist in diesem Fall sozial akzeptiert. Vgl. Klingemann 1996:220. Vgl.Klingemann 1987b: 19. Vgl. dazu z.B. den mit "Rasse" verkniipften "Leistungs"-BegrifF in der NS-Arbeitswissenschaft: Raehlmann 2005:141-148. Voraussetzung fiir den gebotenenen Schutz der "Volksgemeinschaft" war dort die Kraft zur vollstandigen Leistungshergabe und Dynamik, zu der aber nur der "nordische Mensch" fahig sei. In einer Awl-Publikation wurde das auf die Formel gebracht: "Leistung ist Sinn des Daseins" (ebd., 144). Schwidetzky 1942:75f
Einfuhrung in die Thematik Durchsetzungsfdhigkeit eines Einzelnen auf einer imaginaren gesellschaftlichen Stufenleiter. (1) 'Rasse', eine die (2) Konkurenzverhaltnisse zwischen Individuen in den Vordergrund riickende soziale Mobilitat und die Bevolkerungsdichte eines (meist administrativ) definierten (3) 'Raumes' korrespondierten miteinander. Wie wir sehen werden, wurde der Bevolkerungsvorgang nach 1933 empirisch als eine Frage behandelt, die an ein Modell einer neuen "Gesellschaft" - wie vage auch immer formuliert, und wie inkoharent auch immer gebunden schien.^^ Da aber die politische Fiihrung sich konkurrierende Politikmodelle sehr schnell verbat und auf ihrer Definitionsmacht hinsichtlich 'neuer Ordnungen' bestand, konnten Bevolkerungsvorgange und die damit in Zusammenhang stehende soziale Mobilitat von Bevolkerungsforschem tatsachlich noch nicht als "integrierter und in sich strukturierter Teil der gesamten Sozialstruktur begriffen und analysiert" werden.^^ Dennoch ware es zu einfach, daraus nun im Umkehrschluss zu folgem, dass Beschreibungen sozialer Ungleichheit und sozialer Mobilitat entweder iiberhaupt keine Rolle gespielt oder diese ausschliefilich in Form 'biologischer' Interpretationen in der Bevolkerungswissenschaft des Nationalsozialismus verarbeitet worden seien. Der President des Bayerischen Statistischen Landesamts, Friedrich Zahn,^"^ umriss im Jahr 1935 die "Aufgaben der Statistik im Dienste der wirtschaftlichen und sozialen Neuordnung des Reichs" dahingehend, dass die "Statistik den Menschen mehr noch als bisher in den Vordergrund ihrer Betrachtungsweise zu riicken (habe), und zwar nicht den Menschen als freies Individuum, sondern den Menschen in der Gemeinschaft, den in dieser sozialen, wirtschaftlichen Gefahrengemeinschaft gebundenen Menschen. "^^ Der konservative Topos von der sozialen Organisation der Gesellschaft als eine (sich nach 'auBen' abzuschlieBende) "Gefahrengemeinschaft"^^ wurde bei Zahn mit der empirischen Aufgabenstellung der Statistik verbunden. Die Thematik "soziale Ungleichheit" tauchte in den Studien zu den Berufen, Begabungen, den Statuswechseln in der Generationenfolge, dem "sozialen Auf- und Abstieg", den "sozialen Siebungen" und der "sozialen Auslese" einzelner Bevolkerungsgruppen in spezifischer Weise wieder auf. Hier wurde 'Bevolkerung' nicht ausschlieBlich als ein Erbgefuge verstanden, sondern biologische, sozialanthropologische und soziologisch-historische Deutungsmuster wurden eng miteinander verwoben.
IV. Wissenschaft in einer totalitaren Gesellschaft Um hier gleich zu Beginn jenem Missverstandnis entgegenzutreten, dass da behauptet, es sei das wissenschaftliche Denken gewesen, dass das politische System des Nationalsozialismus 32 33 3"*
35
Vgl. Klingemann 1996:277ff.; Raphael 2001a. Vgl. Boltel955,2l969:113f. Friedrich Zahn (1869-1946), Statistiker, seit 1896 Mitarbeiter des Bayerischen Statistischen Landesamts, ab 1907 bis 1939 Leitung dieses Amtes als Nachfolger Georg v. Mayrs, 1913 Honorar-Prof. fiir Statistik und Sozialpolitik an der Universitat Miinchen, Herausgeber des "Allgemeinen Statistischen Archivs" seit 1914. Zahn flihrte in der Weimarer Republik die klassische Richtung der Bevolkerungswissenschaft (Nationalokonomie, Statistik) fort, 1931/1936 Prasident bzw. Ehrenprasident des "Intemationalen Statistischen Instituts". Weitere detaillierte Angaben zur Biographic in vom Brocke 1998:14, 49, 67,443. Zahn 1935:99.
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Ebd.
Wissenschaft in einer totalitaren Gesellschaft sttitzte Oder gar den Holocaust auf die geschichtliche Agenda setzte,^*^ sei an eine fundamentale Einsicht von Hannah Arendt zum Wesen der Propaganda erinnert: "Gerade weil diese Art der Propaganda von den totalitaren Bewegungen nicht erfunden worden ist und weil die Sehnsucht der modemen Massen nach wissenschaftlichen Beweisen eine so groBe RoUe in der modemen Politik iiberhaupt spielt, ist man auf die Idee gekommen, das ganze Phanomen als ein Symptom jener Wissenschaftsbessenheit zu erklaren, die die westliche Welt seit dem Aufkommen der neuzeitlichen Mathematik und Physik befallen habe. In diesem Zusammenhang scheint das totalitare Phanomen nur das letzte Stadium eines Prozesses anzuzeigen, in dessen Verlauf'Wissenschaft zum Gotzen geworden ist, der magisch alle Ubel des Lebens beseitigen und die Natur des Menschen selbst verandem wird'. (...) Was immer die Unzulanglichkeiten und Bomiertheiten des Positivismus, Pragmatismus und Behaviorismus sein und welche Rolle sie in der Formation des fiir das neunzehnte Jahrhundert typischen 'gesunden Menschenverstandes' gespielt haben mogen: die Massen, mit welchen es die totalitare Propaganda zu tun hat, leiden in keiner Weise an einer 'krebsartigen Wucherung des utilitarischen Sektors der menschlichen Existenz.' Sie leiden umgekehrt an einem radikalen Schwund des gesunden Menschenverstandes und seiner Urteilskraft sowie an einem nicht minder radikalen Versagen der elementarsten Selbsterhaltungstriebe. Die Hoffnungen der Positivisten, in einer vemiinftig geregelten Welt die Zukunft vorherbestimmen und den Zufall ausschlieBen zu konnen, beruhte auf der noch selbstverstandlichen Voraussetzung, dafi Geschichte durch ein immerwahrendes Spiel von Interessen geschehe und dafi Machtgesetze in diesem Spiel ausschlaggebend und objektiv feststellbar sind. (...) Keine dieser wissenschaftlichen Theorien aber hat je behauptet, dafi es moglich sei, 'die Natur des Menschen zu verandem'; im Gegensatz zu alien totalitaren Theorien bemhen sie vielmehr auf der stillschweigenden Annahme, dafi die Menschennatur sich stets gleichbleibt und dafi es daher nur darauf ankommt, die Umstande zu andem, um automatisch die Aktionen und Reaktionen einer ewig gleichen Menschennatur in erwiinschte und voraussehbare Bahnen zu lenken. Wissenschaftlichkeit und Wissenschaftsaberglauben im Sinne des Positivismus, Pragmatismus und schliefilich Sozialismus behielten immer die menschliche Wohlfahrt als Ziel aller Politik im Auge, und dies Ziel und Vorhaben ist den totalitaren Bewegungen ganz und gar fremd."^^ Unter den politischen Fuhrem gab es jedoch dQnfaustischen Anspruch, "die Gesetze des Lebens iiberhaupt" erkennen und beherrschen zu konnen. In diesem Anspruch ahnelten sie der Wissbegier technokratischer Wissenschaftsapparate,^^ die glaubten, die Schopfung aus eigenen Impulsen und eigenmachtig generieren oder verbessem zu konnen: "Tocqueville kannte bereits die grofie aberglaubische Kraft, die von 'absoluten Systemen' ausgeht, 'die alle Ereignisse der Geschichte von primaren grofien Ursachen abhangig machen und sie so in eine Kette der Notwendigkeit binden, die es erlaubt, die Menschen gleichsam aus der Geschichte des Menschengeschlechts zu eliminieren'. Insofem die totalitaren Fuhrer an diese mogliche Elimination der Menschen aus der Geschichte des Menschengeschlechts glauben, die zugleich Elimeniemng des Zufalls und des Unvorhersehbaren aus allem geschehen bedeuten wiirde, sind sie mehr als Demagogen, namlich wirkliche Reprasentanten der Massen. Satze wie die folgenden gehoren zweifellos in das Arsenal der nicht sehr zahlreichen Klischees, von denen die 37 38 39
Vgl. Peukert 1988; Aly/Heim 1991 Arendt 1955:515ff; siehe auch ebd., 506. Zahlreiche Arbeiten in der Raumforschung des Nationalsozialismus sind ein Beleg fiir dieses technokratische Wissenschaftsverstandnis, das, um es noch einmal zu betonen, nicht mit Positivismus, Pragmatismus etc. gleichzusetzen ist (vgl. Gutberger ^1999).
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Einfuhrung in die Thematik Nazis bis herauf in die oberste Fuhrerschaft wirklich liberzeugt waren: 'Je besser wir die Gesetze der Natur und des Lebens erkennen und beobachten, ... desto mehr passen wir uns dem Willen des Allmachtigen an. Je mehr Einsicht wir in den Willen des Allmachtigen gewinnen, desto groBer werden unsere Erfolge sein.' '"^^
Soweit wir also im Folgenden nicht Indizien dafiir finden, dass Wissenschaftler gleichsam unmittelbar auf diesen 'lebensgesetzlichen' Zug der politischen Ftihrung mit aufgesprungen sind,^^ geht es hier eher um die Defizite einer Wissenschaft, die eher in herkommlich staatsautoritaren als in totalitaren Kategorien dachte. Die darauf aufbauende Kontinuitatsdiskussion ist meines Erachtens auch nur in dieser Hinsicht fruchtbar, denn welche prekaren Traditionsstrange im Wissenschaftsbereich auch immer vom Hitler-Regime in die Nachkriegszeit reichen: totalitarer Art im beschriebenen Sinne waren sie nicht.
V. Reflexion des Forschungsstandes V. 1 Die Diskussion um *Braune Wurzeln* der Bevolkerungssoziologie Seit den spaten siebziger Jahren hat sich die Bevolkerungswissenschaft in Deutschland im Rahmen von Arbeitsgruppen, Colloquien und Publikationen mehrfach mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt.'*^ Wiederholt wurden auch die Entwicklungen in der Bevolkerungswissenschaft wahrend der NS-Zeit thematisiert. Es ist weitgehend unumstritten, dass die Vorgeschichte der Bevolkerungssoziologie in Deutschland nicht erst mit dem Jahr 1945 begann. Soweit dieses wissenschaftliche Erbe nicht in Abrede gesteUt wird, wird es haufig als ambivalent eingestuft. Seine Ambivalenz zeichne sich dadurch aus, dass die Bevolkerungswissenschaft und (die damit eng) im Zusammenhang stehende Soziologie im NS-Staat einerseits methodisch fortschrittlich, andererseits aber theoretisch unterbelichtet oder - noch haufiger - ideologisch kontaminiert gewesen sei. Der wichtigsten bevolkerungswissenschaftlichen Zeitschrift der NS-Jahre, dem "Archiv ftir Bevolkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevolkerungspolitik" (AfBB), wurde nachgesagt, dass es wahrend des Nationalsozialismus sein "wissenschaftliches Niveau weithin zu wahren wuBte."^^ Die wohl meist unausgesprochene Kontroverse hinter dieser Aussage lautet, ob in der Bevolkerungswissenschaft wahrend der Diktatur 'normale' Erkenntnis- und Anwendungsformen vorlagen und wie dieser Umstand ggf zu bewerten ist. In Ernst Noltes zutiefst pessimistischer Weltsicht 'beweisen' wissenschaftliche Standards ihre Objektivitat gerade dadurch, dass sie auch in der Diktatur Anwendung fmden konnen. Doch wie 'objektiv' waren die gangigen Standards, welche sozialen Bewertungen transportierten sie stillschweigend immer mit? Arendt 1955:514. Ich beschreibe im Kapitel zur Soziologisierung der Raumforschung in "Volk, Raum und Sozialstruktur", dass es solche Modelle unter Sozialwissenschaftlem ebenfalls gegeben hat (Vgl. Gutberger ^1999: 177ff.). Auch unter den hier behandelten Bevolkerungswissenschaftler finden sich Anschauungen wie die folgende: "Eher der Planer nicht eine sehr lebhafte und plastische Vorstellung auch von der Gesellschaft hat, fur die er plant und baut (...) so lange wird er nicht in der Gnade wahrhaften Schopfertums stehen." (vgl. Muller, Pfeil 1950:1). Siehe den Uberblick in den "Vorgeschichten" bei Mackensen 1998:247-262.
Reflexion des Forschungsstandes
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Die Scheu sich diesem Thema bisher anzunehmen, hangt wohl auch damit zusammen, dass das 'sozialwissenschaftliche' Denken in der Bevolkerungswissenschaft vor 1945 immer auch eine Nahe zur Bevolkerungs- und Sozialpolitik und hier besonders zu stark repressiven Formen sozialstaatlicher Intervention aufwies: Im Unterschied eines auf den grundsatzlichen Abbaujeder sozialen Sicherung angelegten, sozialaristokratisch ausgerichteten 'bedingten Antinatalismus',"^"^ schlossen die Konzepte des 'bedingten Pronatalismus' (Friedrich Burgdorfer, Hans Harmsen, Friedrich Zahn u.a.) Grundformen der sozialen Sicherung fiir groBere Bevolkerungsgruppen mit ein. Diese fursorgerischen Grundformen sollten gleichwohl nicht nur an eugenische Kontrollen gebunden werden, sondem es soUte auch zwischen Forderungswtirdigen und Forderungsunwiirdigen ('differenzierte Ftirsorge') selektiert werden. Die Unterschiede zwischen Pro- und Antinatalismus erklaren sich daraus, dass fur Burgdorfer und seine Mitarbeiter "das erste Ziel jeder Bevolkerungspolitik ein quantitatives sein (sollte). Zwar sei auch auf Qualitat zu achten, doch erst im Sinne eines zweiten Ziels.'"^^ Andererseits sind in dem Bemiihen um die Aufrechterhaltung einer positiven Traditionslinie des eigenen Faches zeitgenossische Untersuchungen in der Sozialgeschichte in methodischer Hinsicht kritisiert worden. So wurde u.a. fur die damalige Sozial- und Bevolkerungsgeschichte beklagt, dass sie zur "trivialpositivistischen Kategorienbildung" (Lutz Raphael) geneigt hatte. Selbst wenn unterstellt wird, dass eine derartige Verflachung auch fur die sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung zutraf, ware zu fragen, welche Ursachen dieser Entwicklung zugrunde lagen. War hier nur ein allgemeiner Verfall einer Wissenschaftskultur in der Diktatur zu verzeichnen oder hatte dies auch etwas mit den (von den administrativen Apparaten gewiinschten) Praxisbeziigen (Bevolkerungslenkung und Bevolkerungskontrolle) zu tun? Die Beschaftigung mit der sozialen Ungleichheit in der anwendungsnahen Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik setzte ein entsprechendes Instrumentarium voraus. Gab es ein solches? Wer sich der Thematik "Ungleichheit" sozialwissenschaftlich naherte, fur den konnten weder Interpretationen demostatistischer Aggregate noch (wie auch immer geartete) Geschichtskonstruktionen"*^ wirklich forschungsleitend sein. Anders ausgedrlickt: das "Volk" als numerische oder bloB ideelle GroBe in den Blick zu nehmen, ware far eine an der Organisation sozialer Ungleichheit interessierte Bevolkerungsforschung eher kontrapro^•^
^^ 45 46
vom Brocke 1998:104f. Bemhard vom Brocke griff hier allerdings eine Formulierung auf, die wir so wortlich schon bei Helmut Schelsky (1955) und Hans Harmsen (1976) fmden. Die Ansicht der methodischen Fortschrittlichkeit vertrat er auch an anderer Stelle: "Ich kann nur sagen, dal3 sie methodisch fortschrittlich war, dafi die Volkstumssoziologie des Dritten Reiches - das habe ich auch erst seit der Arbeit an der Bevolkerungswissenschaft entdeckt - methodisch so hochmodem war, dafi wir davon bis heute zehren. SchlieBlich ist das dann in der Dortmunder Sozialforschungsstelle weiter bearbeitet worden, siehe Mackensen und die Arbeiten, die daraus hervorgegangen sind. Das ist ein eigenstandiger Zweig der Bevolkerungswissenschaft geworden, der sich von der braunen Vergangenheit teilweise gelost hat, vielleicht noch nicht inharent, das miifite halt aufgearbeitet werden, aber Ergebnisse gebracht hat, die man davon losen kann. So ist es also sehr schwierig fiir mich, da ein Urteil zu fallen." (vgl. Bemhard vom Brocke in Mackensen 1998:lOOf) Carsten Klingemann qualifizierte Werner Conzes empirische Arbeiten als "methodisch elaborierte Realanalysen" (vgl. Klingemann 1996:223). Fiir Alfred Ploetz, Hans F.K Giinther, Max Hirsch, Wilhelm Schallmayer oder Fritz Lenz wirkten sozialstaatliche Sicherungen generell als 'nonselectorische Systeme' (vgl. Breuer 2001:238ff.). Breuer 2001:243. Bspw. "Gemeinschaften", die durch (gemeinsam zugeschriebene) kulturelle (Volk), politische (Staat) oder 'biologische' (Rasse) Pramissen entstehen.
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Einfuhrung in die Thematik
duktiv gewesen; es mussten im Gegenteil empirisch auffindbare Teilgruppen wahrgenommen werden; diese Gruppen mussten qua der ihnen zugeschriebenen (demographischen oder sozialen) "Funktionen" wiederum als Teil eines okonomisch-sozialen Systems wahrgenommen werden. Thomas Sokoll hat deshalb schon 1992 die Vorstellung, dass sich die Bevolkerungswissenschaft in Westdeutschland nach 1945 "in systematischer Abgrenzung von den durch ihre Nahe zur 'Rassenbiologie' kompromittierten Vorlaufern" konstituiert habe, als eine Selbsttauschung bezeichnet.'*'^ Tatsachlich sei es - so Sokoll - "eher umgekehrt" gewesen und die Konstituierung der Bevolkerungswissenschaft in der jungen deutschen Nachkriegsdemokratie hatte starker in Anlehnung an personelle Vorlaufer aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus stattgefunden."*^ In allgemeinerer Form und im Sinne eines Forschungsdesiderats formulierte auch Rainer Mackensen: "Die Denkweisen und Intentionen jedoch, welche sich im NationalsoziaUsmus so verheerend breit machten, waren nicht erst 1933 in Deutschland entstanden (...) Und es ist nicht von vomherein ausgemacht, daB solche Tendenzen nicht auch in denjenigen Traditionen enthalten sind, auf welche sich 'die Bevolkerungswissenschaftler' gegenwartig mit Stolz und in dem beruhigenden BewuBtsein eines reinen Gewissens zu berufen pflegen.'"^^ Thomas Sokoll ging noch einen Schritt weiter und spezifizierte, dass er bei seiner kritischen Stellungnahme auch an methodologische Vorformen einer als moderne Sozialwissenschaft angelegten Bevolkerungswissenschaft gedacht hatte. Unter Berufung auf die Resultate der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Soziologie und der Geschichtswissenschaft zu Beginn der 1990er Jahre sowie unter Verweis auf die von Hans Linde (1989) und Karl Ulrich Mayer (1989) vorgelegten Aufsatze im Rahmen einer fachgeschichtlichen Debatte zur Geschichte der Bevolkerungswissenschaft vermerkte Sokoll, dass der "methodologische Durchbruch, der nach 1945 die soziologische Neuorientierung" der Bevolkerungslehre erleichtert habe, fniher zu verorten sei: "So wie die moderne deutsche Sozialgeschichte nicht ohne die Linie von Freyer und Brunner zu Conze, so ist die moderne deutsche Bevolkerungslehre nicht ohne die Linie von Ipsen zu Mackenroth und von dort wieder zu Bolte denkbar."^^ Gerade weil sich Personal wie Wissensformen der Nachkriegs-Bevolkerungswissenschaft durch eine uniibersehbare Kontinuitat bzw. Nahe zur Vorgeschichte ausgezeichnet haben, mtlsse eine auch "methodologisch reflektierte Wissenschaftsgeschichte der Demographic zur schonungslosen historischen Selbstkritik ihrer erkenntnisleitenden Begriffe, Fragestellungen und Theorien bereit sein. (...) Wollen wir hoffen, daB die Demographic als systematische Sozialwissenschaft diesen historischen Fehdehandschuh nun endlich aufnimmt."^^ Diese These von der Konstruktion einer aufsteigenden Linie von der "Volkssoziologie" zur Bevolkerungssoziologie ist nicht unwidersprochen geblieben, so beklagte Axel Fliigel eine zu "formale Sichtweise" in der Diskussion: 47 48 49 50
Vgl. Sokoll 1992:424. Sokoll 1992:424. Mackensen 1998:14. Sokoll 1992:424.
Reflexion des Forschungsstandes
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"Der Ubergang von Ipsens 'Gattungsvorgang' zur 'Bevolkerungsweise' ist nicht nur eine Modernisierung des Vokabulars, sondem ein grundlegender konzeptioneller Bruch. Immerhin beansprucht die These von der industriellen Bevolkerungsweise, aus den verfugbaren statistischen Daten, denen das Handeln individueller Manner und Frauen zugrunde liegt, abgeleitet zu sein. Ipsens Bevolkerungslehre ist dagegen der Versuch, den Bevolkerungsbegriff gegen den 'liberalen Gesellschaftsbegriff und gegen die Vorstellung einer in 'freie Individuen aufgelosten Gesellschaft' 'umzudenken', da 'diese Vorstellung erstens der Wirklichkeit unangemessen ist' und 'zweitens unserer politischen Zielsetzung widerspricht'.^^ Nicht minder obskur bis verquast ist Ipsens Behandlung der Bevolkerungsstatistik, die vollstandig unter dem Gesichtspunkt des 'Volkskorpers' als 'Subjekt des Gattungsvorgangs' zugerichtet wird und sich in technokratischen Phantasien uber den 'Daseinswert der Geburt', den 'Gattungswert der Geburt', den 'Leistungswert des Erwachsenen', den 'Gebarwert der Erwachsenen' und den 'wirklichen Mutterstock eines Volkskorpers, der im Verhaltnis zum idealen gebarfahigen Tragkorper ausgedrtickt werden kann', ergeht."53 SchlieBlich kam Axel Flugel - unter Zentrierung auf die die Sozialhistorie betreffenden Aspekte - zu dem Schluss, dass in der Leipziger Bevolkerungsforschung die "demographischen Teile hinter den differenzierten, eine Vielzahl regionaler, sozialer und kultureller Faktoren abwagenden Stand der Bevolkerungswissenschaft" zuriickgefallen seien und also auch keine Kontinuitat zu einer spateren Bevolkerungswissenschaft begriinden konnten. Wie kam es zu dieser bemerkenswert unterschiedlichen Wahmehmung der beiden Autoren? In Folgenden soil die von Sokoll beklagte und bisher nicht realisierte Form wissenschaftsgeschichtlicher Auseinandersetzung mit diesem Teil des 'Erbes' der deutschen Bevolkerungswissenschaft emeut gesucht werden. Diese, die Sozialgeschichte wie die Soziologie, die Bevolkerungswissenschaft wie die Volkskunde umfassende, groBe Forschungsfragestellung kann hier gleichwohl nur fur einen exemplarisch zu verstehenden Teilbereich der Bevolkerungswissenschaft angegangen werden: fur die Wahmehmung und Verarbeitung sozialer Ungleichheit in bevolkerungswissenschaftlichen Kontexten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil auch dieser Ausschnitt bereits Gegenstand der Diskussion gewesen ist. Der fruhen deutschen Bevolkerungsforschung wurde namlich vorgeworfen, dass sie von der Vorstellung eines individuellen 'Besetzens'^'* von sozialen Positionen ausgegangen ware; einer solcher Zugriff wurde als soziologisch 'naiv' bezeichnet. So hat Karl Ulrich Mayer in kritischer Auseinandersetzung mit der Behandlung sozialer Ungleichheit in der Mackenrothschen Bevolkerungssoziologie gezeigt, dass seiner Meinung nach hier 'Sozialstruktur' "nicht als normativ bestimmte Positionsdifferenzierung, als sinnhaft konstituierte Ordnung oder als durch kollektive Akteure organisierte Interessenartikulation gedacht (worden war), sondem
^'
^^ 53 ^^
Ebd., 425. Am intensivsten ist iiber diese Fragen bisher in der Aufarbeitung zur Fachgeschichte der Sozialgeschichte diskutiert worden: "Ipsen setzte sein bevolkerungssoziologische Arbeit im Gewande einer Sozialprognostik der Bevolkerungsentwicklung Westdeutschlands fort, im Auftrag der Regierung. (...) Kann man da wirklich die Methode von ihren Beziigen zum Nationalsozialismus losen, wie Rainer Mackensen das bewuBt getan hat? Hat Conze wirklich nur die 'wissenschaftliche Kemsubstanz der Ipsenschen Soziologie' tibemommen und sich 'von dessen (Ipsens) ideologischer Bedenklichkeit' freigehalten?" (Vgl. Etzemiiller 2001:69). Ipsen, Bevolkerungslehre, 424f. zit. nach Flugel 2000:669. Flugel 2000:669. In der englischen Sprache schwingt die doppelte Bedeutung bei 'occupation' mit.
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Einfuhrung in die Thematik als bloBe Aggregation von Individuen oder Familien mit bestimmten sozialen Merkmalen. Individuen bewegen sich nicht in einem von ihnen ganzlich unabhangig gedachten Positionsgefiige, sondem Sozialstrukturen werden gebildet durch Strome von Individuen. Bevolkerungsweise und soziale Siebung sind identisch mit Schichtenbildung. Es ist leicht einsichtig, warum eine solche Gesellschaftsdeutung fur die Soziologie nicht attraktiv gewesen sein kann, verlangert sie doch nur das Modell der Aggregatdatendemographie auf die Soziologie."^^
Die funktionalistisch-soziologischen Ansatze sozialer Stratifikation, die Karl Ulrich Mayer hier beschrieb, bezogen sich also auf ein "system of positions, not the individuals occupying those positions."^^ Davis und Moore stellten die Frage "how certain individuals get into those positions" damit sozusagen an die zw^eite Stelle zuriick^^ - zugunsten der Frage, wie ein soziales Positionsgefiige arrangiert sein muss, damit Menschen in dieses hinein 'absorbiert'^^ werden konnen bzw. wie die Aufrechterhaltung von 'social order' ermoglicht wird.^^ So sind es Belohnungen, Fflichten und Rechte gewesen, die in diesem Denkstil eine Schlusselrolle eingenommen haben. Sozialwissenschaftlern in Deutschland, etwa Wilhelm Brepohl, Ludwig Neundorfer Oder auch J.H. Mitgau, ging es jedoch gerade um den Widerstand gegen wirklichkeitsfeme 'Systeme'.^^ Sie verfielen leicht in die Rolle von Anklagem gegen die reine Kopfgeburt; sie machten sich aber - positiv gesprochen - fiir eine empirische Sozialwissenschaft stark, in deren Systematik lebende Menschen doch noch irgendwie vorkommen sollten. Dass das weniger mit Aggregatdatendemographie, schon gar nicht mit einer missverstandenen Sozialanthropologie, sondern mit einer Sozialforschung interpretativer Methoden gelingen kann, steht dabei auf einem anderen Blatt. In dem sozialplanerischen Kontext der 1930er Jahre, in dem vor allem die Lokalisierung und Identifizierung sozialer Gruppen im Mittelpunkt stand, schien der personenbezogene Zugriff aber zunachst mehr Sinn zu machen, als die Vorstellung, dass jenseits des (raumlich verortbaren) Einzelnen ein unabhangig von ihm gedachtes Konstrukt gesellschaftlicher Funktion und Stratifikation existiere. Und es schloss nicht aus, dass auf diese Weise auch (tatsachliche oder zugeschriebene) soziale Merkmale ganzer Gruppen erkannt oder konstruiert werden konnten. Nehmen wir den Stand der intemationalen Sozialforschung bis zur Mitte der 1930er Jahre zum MaBstab, dann waren die dazugehorigen empirischen Erhebungen allenfalls erste Gehversuche; das gilt dann aber auch fur eine groBe Zahl der Arbeiten im angelsachsischen Raum. Die kritisch-reflexive Form empirischer Arbeit war auch dort nicht gefragt, wo groBe Masterplane und Bilder selbstablaufender Systeme verhinderten, dass ein echtes Interesse an der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufkommen konnte. Es ist im Detail nicht hinreichend geklart, ob und in welcher Weise die damaligen Annaherung an "soziale Ungleichheit" in die Bevolkerungssoziologie und Bevolkerungsgeschichte 55 56 57
Mayer 1989:258. Davis, Moore 1945:242. dazu auch Berger 2004:365. Zur Kritik am 'statischen Denkstil' des soziologischen Funktionalismus, der sozialen Wandel nur in 'eingefrorener' Form darstelle Elias 1939,1997:20-30 (Einleitung zur 2. Aufl., 1969). Vom spatlateinischen "absorptio" = das Verschlingen. "Their absorption into the positional system must somehow be arranged and motivated." (Davis, Moore 1945:242). Vgl. zu dieser Kritik bspw. Brepohl 1967.
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der Nachkriegszeit hineinreichte. Und, ob sie nicht neben den unbestritten sozialtechnischen und 'rassistischen' Implikationen auch Impulse enthielt, die eine soziologische Ungleichheitsforschung heute dort befruchtet, wo sich raumbezogene und sozialstrukturelle Phanomene der 'Ungleichheif eng iiberschneiden. Allemal sind Kenntnisse iiber die historischen Pfade und die Irrtumer auf diesem Gebiet von Nutzen.
Methodische Annaherungen an die Texte I. Der Einbezug der Fleckschen Wissenschaftstheorie in die Untersuchung Weiter oben war bereits mehrfach von 'Denkstilen' und 'Denkkollektiven' die Rede - und damit von den beiden Saulen der Theorie des polnischen Arztes und Wissenschaftstheoretikers Ludwik Fleck.^^ Es ist schon wiederholt versucht worden, diese Fleckschen Kategorien auf die Analyse der Geschichte der Humanwissenschaften anzuwenden.^^ Obwohl Fleck wesentliche Erkenntnisse seiner Theorie durch die Beobachtung einer anwendungsbezogenen Disziplin, der Medizin, gewonnen hat, richtete er sein Interesse auf die Genese und Entwicklung des wissenschaftlichen Erkennens. Nun ist aber gerade fur die Bevolkerungswissenschaft nach 1933 kennzeichnend, dass sie in allgemeintheoretischer Hinsicht stagnierte. Selbst rein gesellschaftsbiologische Theorien in den Bevolkerungswissenschaften, die den Machthabem in ihren ideologischen Gehalten entgegenkamen und in denen "Gesellschaft" nur als "ein Teilphanomen innerhalb der Rasse" (Alfred Phetz) behandelt wurde, waren dann nicht opportun, wenn sie die Definitionsmacht der politischen Ftihrung untergruben. Stattdessen war "der (angloamerikanische) Ansatz, empirische Methoden zur Losung konkreter Probleme ohne allgemeinen theoretischen Anspruch zu erheben, (...) fur die Karriere im Nationalsozialismus geeigneter als die umfassenden Entwtirfe der (sozialwissenschaftlichen/okonomischen) Bevolkerungswissenschaft von vor 1933."^^ Wenn wir die Prozesse der Wahmehmung sozialer Ungleichheit in den Bevolkerungswissenschaften beobachten, kann die Flecksche Wissenschaftstheorie dennoch aus mehreren Griinden hilfreich sein. Einerseits hilft sie die soziologischen Voraussetzungen bei der Entstehung von Denk-'Schulen' in der Wissenschaftslandschaft generell besser zu verstehen. Fleck band schon in den dreiBiger Jahren des 20. Jahrhunderts die Beschreibung modemer Forschung an die Arbeitsteiligkeit und die Koordinierungsleistungen einer groBeren Gruppe von Wissenschaftlem, andererseits wurde bei ihm das KoUektiv selbst (und nicht mehr nur das Individuum) Trager wissenschaftlichen Erkennens.^"^ Gerade weil wissenschaftliche Produktion 'koUektiv' betrieben wird, wirken (auch) auBerwissenschaftliche und kulturell gepragte "Praideen" um so starker - und vielfach ftir die Mitglieder der Kollektive nicht wahmehmbar - auf die Wissensproduktion ein. Wissen wird durch ein Denkkollektiv generiert, es kann ein 'stilgemaBer Denkzwang' und ein eigenstandiges, in sich stimmiges und abgeschlossenen Meinungssystem entstehen.^^ Damit eng verbunden ist das Flecksche Argu61 62 63
Vgl. Fleck ^1999, 1983. Vgl. z.B. Etzemuller 2001, Hummel 2000. Das Thesenpapier des Projekts Mackensen / Ferdinand / Gorzig in Lausecker, Pinwinkler 2002:8. Diese Einschatzung von Ursula Ferdinand fiir die Bevolkerungswissenschaft deckt sich mit den Resultaten aus der Soziologie- und Psychologiegeschichtsschreibung der 1980er Jahre (vgl. u.a. Rammstedt 1986; Geuter 1988). Obwohl Flecks aus diesem Ansatz heraus konsequent schlussfolgerte, dass "gewisse Elemente des aktuellen Gedankeninhalts (...) verfasserlos sein" konnen (vgl. Fleck 1936:96), ist die Genese und Fortentwicklung wissenschaftlicher 'Denkstile' immer auch auf Individuen zuriickfiihrbar. Fleck zeigte an kollektiven Denkstilen die sozialen Mechanismen der Wissensproduktion auf; er bot aber keinen Freibrief ftir eine verantwortungslose Wissenschaft/Wissenschaftler.
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Methodische Annahemngen an die Texte
ment der "gleichgerichteten Bereitschaft", der selektiven Wahmehmung empirischer Materialien im Hinblick auf ideal entworfene Bilder (des 'Volkes', der 'Gesellschaft'). In der Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu den Humanwissenschaften im Nationalsozialismus ist dieses Phanomen bereits als 'Gestalt-Sehen' am Beispiel der Leipziger Schule beschrieben worden.^^ Die Arbeitsteiligkeit und hohe Ausdifferenzierung modemer Wissenschaften beeinhaltet mit anderen Worten nicht nur die Chance groBerer Wissensakkumulation, sondem auch die Gefahr des kollektiven Irrtums. Ludwik Fleck ging gleichwohl nicht von einer kumulativen und fortschrittlichen Entwicklung der Erkenntnisgewinnung aus, sondem von einer kontinuierlichen Veranderung verschiedener 'Denkstile'. "Entwicklung" wird damit nicht als zielgerichtet verstanden. Wissen kann also auch 'verloren' gehen, irrelevant oder nicht mehr 'wahmehmbar' werden, weil sich die Vorannahmen stetig andem oder sich die Aufmerksamkeit auf andere Probleme verlagert hat. Mit Fleck konnen wir deshalb eher formale BeurteilungsmaBstabe zur Entwicklung einer Disziplin (beispielsweise, unter welcher Fragestellung eine Disziplin betrieben wird oder welche Terminologien benutzt werden) sinnvoll erweitem, denn Wissen geht nicht nur verloren, es konnen andererseits abgelagerte DQnkstile unter veranderten Fragestellungen implizit wirksam bleiben. Wir wissen heute vom dem groBen Einfluss, den etwa die Jugendbewegung und andere Sozialformationen auf die Sozialisation deutscher Bevolkerungswissenschaftler ausgeiibt haben. Mit Fleck lassen sich in diesem Zusammenhang auch die Wirkungen von "Kollektivstimmungen", die bei der wissenschaftlichen Begriffsbildung eine RoUe gespielt haben, besser erklaren. Fleck erlauterte dies u.a. an dem fur die Biologic und die Bevolkerungswissenschaft relevanten technischen Terminus der "Gattung": "Keiner dieser Termini laBt sich restlos durch eine logische Explikation ersetzen, denn die Tradition der betreffenden Disziplin, ihre historische Entwicklung haben sie mit jener eigenttimlichen sakramentalen Kraft umhuUt, die die Mitglieder des Kollektivs starker anspricht als der logische Inhalt. Gabe es nicht die Kraft des Terminus "Gattung", ware der Kampf um den Evolutionismus und Darwinismus nicht moglich gewesen..."^*^ Ein weiteres Element der Fleckschen Wissenschaftstheorie, das bei der Analyse der (sozialwissenschaftlichen) Bevolkerungswissenschaft gewinnbringend Verwendung fmden kann, ist sein Konzept der 'Abweichung' bzw. der Pathologic. Fleck hat seine Wissenschaftstheorie, wie gesagt, in der Medizin entwickelt. Er betonte, dass in der Medizin nicht naturwissenschaftliche GesetzmaBigkeiten, sondem Ubergangs- und Grenzzustande die Kegel sind, diese wiederum erscheinen haufig nur mittels wissenschaftlich-technischer Konstruktionen in der wissenschaftlichen Praxis als fixierbar. Auch richte man in der Medizin den Blick auf Pathologien und versuche aus ihrer Analyse ideale 'Normalzustande' zu konstruieren.^^ Diese Konstruktion von Normalitat (unter dem Einbezug staatlicher Regelungsmacht) ist aber 65
Vgl. Fleck 1999:40-53.
66 67 68
Vgl. dazu schon die retrospektive Beurteilung durch einen 'Leipziger', namlich H a n s Linde (1988). Fleck 1983:111. Ludwik Fleck demonstrierte dies iiberzeugend an der Entwicklung des Syphilisbegriffs (vgl. Fleck 1935, 21993,3-29).
Der Einbezug der Fleckschen Wissenschaftstheorie in die Untersuchung
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auch fiir 'Denkstile' in den zeitgenossischen Sozialwissenschaften und in der 'Bio-Politik' der Weimarer Republik typisch gewesen: "Nichts illustriert die Dominanz des naturwissenschaftlich-medizinischen 'Denkstils' in den Jahren zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus besser als die soziobiologische Interpretation der Gesellschaft als Wechselspiel von 'Staatsorganismus' und 'Gesellschaft'- oder 'Volkskorper', deren Funktionsfahigkeit - 'Gesundheit' genannt - sich durch das geregelte Zusammenwirken der zum Bestandteil einer iibergeordneten Entitat herabgewiirdigten Individuen gleichsam naturhaft von selbst einzustellen versprach. Das Konzept der Krankheit wurde so zum kulturellen Ausdruck sozialer Exklusion."^^ Daran lieBe sich in unserem Zusammenhang die Frage anschlieBen, mittels welcher 'Denkstile' Differenz, Abweichung und Krankheit in den Arbeiten der DenkkoUektive sozialwissenschaftlicher Bevolkerungswissenschaft vor, im und nach dem Nationalsozialismus konstruiert wurde."^^ Bei einem der bekanntesten Bevolkerungswissenschaftler der Nazi-Jahre und wichtigen Protagonisten der Bevolkerungsw^issenschaft der jungen Bundesrepublik, Hans Harmsen,'^^ finden wir ein um "soziale Haltlose", "antisoziale Personen" sowie "fremdvolkische Schmarotzer" zentriertes Denken."^^ Diskriminierung erschien hier als inharenter und tolerierter Bestandteil des wissenschaftlichen Denkens iiber soziale Differenz. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion iiber den Nationalsozialismus ist deshalb auch die These formuliert worden, dass der Schliissel zum Verstandnis dessen was geschah, weniger in den Kopfen der Wissenschaftler zu fmden war, sondem in dem feinen Mechanismus zwischen dem, was im wissenschaftlichen Diskurs an Unter- und Einordnung von ethnischen und sozialen Gruppen akzeptiert und respektiert wurde, und dem, wie diese Diskriminierung in der Kultur des Nationalsozialismus legitimiert wurde.^^ Auch hinsichtlich des Aufspurens dieser Zusammenhange fur die Bevolkerungswissenschaft(en) kann m.E. mit Ludwik Flecks Theorie gewinnbringend gearbeitet werden. Die Aufstellung sozialer Rangordnungen gehoren ganz eng zur Geschichte der Sozialwissenschaft(en) - und dies nicht erst seit dem Nationalsozialismus. SchlieBlich gab es historische Vorlaufer (hier wird im Folgenden Francis Galton als Beispiel genannt), die liber die Zuschreibung sozialer Eigenschaften den qualitativen Wert eines Menschen (fiir die Gesellschaft) glaubten dauerhaft bestimmen zu konnen. "Galton hatte seine Uberzeugung, daB 'jedes Individuum iiber eine fixierte Menge sozial bedeutsamer Eigenschaften verfiigt, welche seinen Zivilwert bestimmt' (und gegebenenfalls auch seinen 'zivilen Unwert'), bereits 1865 erklart und seither vielfach untermauert; 1901 hatte er sie vor dem 69 70
Planert 2000:562f. Dies war auch eine wichtige Ausgangsfragestellung des o.g. Salzburger Workshops: "Wer schreibt sich welchem Kollektiv zu und wer wird welchen Kollektiven zugeschrieben? Welche Identifikationsprozesse werden dabei lesbar? Wer soil 'mehr' und wer soil 'weniger' werden? Welche wechselseitigen Relationen werden zwischen verschiedenen Zuschreibungen und Differenzkonstruktionen lesbar?" usw (Lausecker, Pinwinkler 2002:2). Harmsen war nach dem Krieg u.a. der erste Prasident der "Deutschen Akademie fiir Bevolkerungswissenschaft" an der Universitat Hamburg. Vgl. bereits Harmsen 1933:212. So die sinngemaBe Ubersetzung aus Biagioli 1992:194, der diese These aus Robert N. Proctors Studie (Racial Hygiene: medicine under the Nazis. Cambridge, Mass.; London: Harvard University Press, 2000) bezog.
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Methodische Annaherungen an die Texte Anthropologischen Institut wirkungsvoll vorgetragen. Er iibersetzte die sozialen Kategorien der beriihmten London-Studie von Charles Booth in Naturkategorien und trug die britische Sozialstruktur auf einer Haufigkeitsskala ein, die er nach dem 'genetischen Wert' der Individuen differenzierte; die unterste Kategorie war diejenige der 'Unerwunschten', der Kriminellen, der 'paupers' etc. Diese waren die Zielgruppe der 'negativen Eugenik', welche deren ProHferation unterbinden woUte, wahrend die 'positive Eugenik' die Fertilitat der hoheren sozialen Schichten zu heben trachtete. Gerade die negative Eugenik setzte strategisch die 'individuelle Selektion' der Zielgruppe voraus..."'^'^
Galton verstand damit unter Sozialstruktur eine Rangskala, die 'Eigenschaften' von Individuen kumuliert und kategorisiert.
II. Bevolkerung, 'Rasse' und soziale Rangordnung Nach 1933 gab es im Umfeld der Bevolkerungsforschung zahlreiche Schriften, die im Jargon der Rassenlehre soziale Gegensatze in der Gesellschaft in einer "Blutsgemeinschaft aller Deutschen" aufgelost sehen wollten. Auch an sich neutrale Daten und Fakten sollten nun im Sinne der NS-Volksgemeinschaftsideologie "die enge Verbundenheit der verschiedenen sozialen Schichten des deutschen Volkes zahlenmaBig bestatigen" helfen."^^ Es ware jedoch ein Fehlschluss, aus der Verktindung der "Volksgemeinschafts"-Ideologie durch die NSMachthaber zu schlieBen, dass sich die (selbst)-gleichgeschaltete Wissenschaft - auch und gerade die Bevolkerungswissenschaft - in den Jahren des Nationalsozialismus gar nicht mit der Thematik der sozialen Ungleichheit und der sozialen Mobilitat habe auseinandersetzen miissen. Es gab gleichwohl unterschiedliche Formen der Herangehensweise an die soziale Ungleichheit und den sozialen Wandel. Ein erster Blick darauf fuhrt uns in die statistische Wissenschaft. In der Statistik wurde das Gelingen der generationellen (sozialen) Mobilitat gegen die 'Klassenspaltung' der Gesellschaft in Anschlag gebracht. Ein Mitarbeiter von Friedrich Zahn formulierte dies 1934 folgendermaBen: "Die Zugehorigkeit zu einer sozialen Schicht kann bereits im Leben eines Menschen ein- oder mehrmals wechseln, jedenfalls besteht aber die Wahrscheinlichkeit, daB dieses im Laufe mehrerer Generationen geschieht. Unter diesem Gesichtspunkt verliert der Kampf der sozialen Schichten gegeneinander seinen Sinn und es erscheint als ein Wuten gegen sein eigenes Fleisch und Blut, wenn ein Volksgenosse andere soziale Schichten bekampft, denen zwar nicht er angehort, aber seine Eltem oder GroBeltem angehort haben und denen seine Kinder oder Enkel moglicherweise wieder angehoren werden."^^ Hier wurde zur Unterstiitzung der Volksgemeinschaftsideologie also kein totalitares Modell einer atomisierten Massengesellschaft prasentiert, sondem ein herkommliches Modell sozialer Schichtung, welches gleichsam im Langsschnitt ausgedehnt schien; erst der Einbezug ge-
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Mackensen 2000:409. So die Interpretation in einer Untersuchung zum "sozialen Auf- und Abstieg im deutschen Volk", die in der Mitte der zwanziger Jahre von dem Statistiker Friedrich Zahn initiiert worden war (vgl. Nothaas 1934:473). Nothaas 1934:477.
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nerationeller Linien garantierte hier soziale Mobilitat. Der zweite Aspekt in diesem Denken betraf die Fokussierung auf das Individuum, das in geschichtlich-generativ begriindeten Traditionslinien der immergleichen sozialen Ordnung verwurzelt schien. Sybilla Nikolow hat in ihren Arbeiten zur Geschichte der Statistik in Deutschland gezeigt, dass dieses sozialharmonische "Gemeinschaftsdenken" ein Spezifikum der deutschen Statistik war und bis tief ins 19. Jahrhundert zuriickreichte: "Wie die Wissenschaftsgeschichte der Statistik zeigt, setzten sich aber statistisches Denken und statistische Techniken im 19. Jahrhundert gerade in Deutschland durch. Bemerkenswert ist, daB hier im Unterschied zu anderen Kulturkreisen die Idee der Wesenhaftigkeit sozialer Gemeinschaften immer prominent blieb und vermutlich gerade deshalb die Erforschung statistischer 'Massenerscheinungen' besonders vorangetrieben wurde. Als wahrend der 'Probabilistischen Revolution' in den statistischen Bureaus nach RegelmaBigkeiten im sozialen Leben gesucht wurde, setzte sich ein holistisches und antiatomistisches Verstandnis von Gemeinschaften durch, das sich in der Vorstellung manifestierte, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Telle. Ftir die Kontinuitat dieses Gedankens im deutschsprachigen Raum spricht zudem, daB alle Versuche, biologische Konzeptionen fur die Gesellschaftsanalyse zu nutzen - so unterschiedlich sie im Einzelnen auch ausfielen -, in diesem einen Punkt ubereinstimmten."'''^ Mit den Themen "Masse", "Gemeinschaft" usw. begab sich die statistische Wissenschaft auf das Terrain der zeitgenossischen Soziologie.^^ Schon fur Friedrich Zahn zeichneten sich 1913 die statistischen Erhebungen im Rahmen der Staatswissenschaft riickblickend dadurch aus, dass sie "wichtige Einblicke in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustand des Deutschen Reiches und zugleich Begrundungen fur die 'Erhaltungswurdigkeit' der gesellschaftlichen Verhaltnisse bzw. deren Veranderungen durch Reformen (boten....). Sie vermittelten Weltbilder von dem 'inneren Gefuge des Volkes' und zeigten kunftige Entwicklungen in der deutschen Volksgemeinschaft auf "^^ Offensichtlich ging es in alien die Bevolkerungsfrage beruhrenden Wissenschaften spatestens seit der Jahrhundertwende nicht mehr nur um individuelle Selektion (s. Galton oben), sondem um die Wahmehmung von Gruppen im soziologischen Sinne, und vor allem um die (politisch beeinflussbaren) Moglichkeiten, zwischen sozialen 'Schichten' zu wechseln - denn die Form der sozialen Mobilitat in einer Gesellschaft schien nicht zuletzt die quantitative Bevolkerungsentvv^icklung zu beeinflussen. Diese Vorgange fanden auch in den Naturwissenschaften ihren Niederschlag. Wenn wir uns jedoch die Defmitionen des Begriffs "Rasse" zeitgenossischer Autoren zu Beginn des Jahrhunderts anschauen,^^ so wird deutlich, dass soziale Prozesse wie Migration Oder Landflucht durch 'naturwissenschaftliche' Rassenkonstrukte nattirlich nicht erfasst werden konnten. Folgen wir Carsten Klingemann, so kann dies auch kaum liberraschen, denn fur "volkstumspolitische Selektionsstrategien" brauchte man Ordnungsschemata der
Nikolow 2002b:240f. Der sie ja generell nahe stand, denn die "Deutsche Statistische Gesellschaft" war 1911 als Abteilung aus der Deutschen Gesellschaft fiir Soziologie hervorgegangen. Erst 1928 wurde die "Deutsche Statistische Gesellschaft" selbststandig (vgl. Schubnell 1967:242). Jochen Fleischhacker in Mackensen 1998:135. Vgl. Petermann 2005.
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Methodische Annaherungen an die Texte
Sozialwissenschaft. Er erlauterte dies an den spateren "nationalsozialistischen Rassentheoremen": "De facto laufen alle nationalsozialistischen Rassentheoreme auf sozialtheoretische Argumentationen hinaus. Denn die erbbiologische Qualitat von Individuen und Gruppen oder gar Ethnien wurde konkret immer iiber soziale Tuchtigkeit und Erwiinschtheit operationalisiert. Auch der scheinbar biologische Naturbegriff der Philosophischen Anthropologic war fiir volkstumspolitische Selektionsstrategien wenig hilfreich, da sie den Menschen als Gestalter seiner eigenen 'nattirlichen' Umwelt definierte."^* Die Rassedefinitionen blieben ungenau oder erschopften sich in politischer Weltanschauung, weil sich die Frage nach der sozialen Stratifikation / Differenzierung nicht mit (wie auch immer erbbiologisch begrundeten) Konstrukten von "Rassen" beschreiben oder gar erklaren lieB. D.h. nun aber nicht, dass Bevolkerungsforscher generell der Beschreibung von Hierarchien der "Sozialw^elt" (und den Bewegungsmustem in ihr) aus dem Wege gingen. Allerdings nur im Sinne der Errichtung von Sozialkontrollstratgien. Rassismus ist nie nur ein ideologisches Konstrukt, sondem er verweist immer auch auf real bestehende, sozial produzierte Ungleichheiten, die einer Kontrolle unterworfen werden sollen: "Ganz gleichgtiltig jedoch, wie unzutreffend und pseudowissenschaftlich auch immer 'Rasse' von den Rassisten auf Rassen, Volker, ethnische, religiose, kulturelle oder soziale Gruppen bezogen wurde, damit der Fetisch 'Rasse' ideologisch praktikabel wurde, muBte jeder Rassismus an unleugbare vorhandene und sinnlich wahmehmbare Unterschiede der Menschen ankniipfen. Die regulierte Ungleichheit muB erlebbar sein. (...) Eine ideologische Verfalschung der Wirklichkeit kann in bezug auf deren Beherrschung bzw. Regulierung sehr eindeutige Funktionen haben, ohne daB ihre Aussagen wahr sein muBten."^^ Die Wahmehmung von Unterschieden wird zum Beispiel daran deutlich, dass wir bei den Naturwissenschaftlem fast immer ein diffuses sozialaristokratisches Leitbild fmden. So verwies Wilhelm Schallmayer, Schiller von Wilhelm Wundt und Albert Schaffle, beeinflusst durch Herbert Spencer, in Zusammenhang mit der Eugenik auf die "soziale Leistungen hoher stehenden Personen, insbesondere die hoher Gebildeten."^^ Diese waren fiir ihn zugleich die generativ Wertvolleren. Bei Alfred Grotjahn zielte Eugenik auf Personen, die als gesellschaftlich zusammengehorig defmiert wurden. In der anthropologischen Tradition wurden mittels korperlicher und sozialer Merkmale, "Gruppen", bei Egon Freiherr von Eickstedt heiBen sie dann auch "Rassen", konstruiert. Nur, wir kann man, wie auch der Arzt Ludwig Woltmann dies tat, "Rasse" als "physiologische Grundlage des sozialen Lebens" bezeichnen, wenn man gar keinen Begriff davon hatte, was soziale Hierarchien und soziale Kollektive iiberhaupt sind geschweige denn wie sie entstehen? Mit anderen Worten, die vertretenen Mediziner, Hygieniker, Biologen, Arzte und Anthropologen thematisierten soziale Positionen in einem vertikal verstandenen Gesellschaftsmodell, batten fiir das Koordinatensystem selbst und seine Funktionsweisen aber nur unzu8' 82 8^
Klingemann 1996:228f. Rohr 1992:32f. Vgl. bei Petermann 2005:7 (zit. nach dem unveroffentlichen Manuskript des Beitrags). Ich danke Heike Petermann fiir den Aufsatz.
Bevolkerung, 'Rasse' und soziale Rangordnung
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reichende Kategorien. Damit fehlte ihnen aber zugleich auch der Zugang zur modemen Sozialpolitik. Was sie hatten, waren AUtagstheorien bzw. biologische Erklarungsansatze, die beispielsweise den Prozess einer sozialen Deklassierung als Prozess korperlicher oder geistiger 'Degeneration' von Individuen oder Gruppen deutete. Wenn er auch nicht politisch folgenlos blieb, so deutete sich wohl spatestens in der Weimarer Republik an, dass dieser Ansatz im Sinne einer Beherrschung der gesamten Bevolkerungsfrage politisch irrelevant sein wiirde. Die positive Zukunftsvision einer im Kern 'individualistisch' bleibenden Eugenik und Rassenhygiene war von vomherein auf Sand gebaut. Ein Faktum, auf das schon Theodor Geiger in seiner ansonsten hochst problematischen Stellungnahme zur Eugenik im Jahr 1933 hingewiesen hatte: "Fast durchweg finden wir in eugenischen Schriften - und ubrigens auch in den genannten 'Leitsatzen' - die ausgesprochene oder stillschweigend gesetzte Gleichung zwischen sozialer Stellung und Erbwertigkeit. Das ist ein Symptom flir eine Abneigung - vielleicht nicht direkt gegen Sozialpolitik, wohl aber indirekt gegen jene Volksschichten, auf die sich im wesentlichen Sozialpolitikbezieht."^^ Aus soziologischer Sicht wurde differentielle Fruchtbarkeit auf jeden Fall nicht als eine rein mengenmaBige Ungleichverteilung der Geburtenraten in verschiedenen sozialen Schichten verstanden, sondem sie schien ursachlich mit den komplexen sozialokonomischen Wandlungen und sozialen Umschichtungsprozesse in Zusammenhang zu stehen.^^ Hier kommen auch Formen von 'Mobilitat' mit in die Betrachtung. Kinder von Familien in verschiedenen sozialen Lagen haben unterschiedliche Chancen, in gunstigere soziale Positionen zu gelangen. Dass also die Chancen zur sozialen Mobilitat (auch in historischen Langsschnitten betrachtet) differieren, konnen wir als jene Formen sozialer Ungleichheit bezeichnen,^^ die in der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungswissenschaft bedeutsam wurden. An dieser Stelle liegen enge Berlihrungspunkte zur Soziologie; einer Soziologie, die empirisch beschreibt und (gleichzeitig) in historischen Kategorien denkt. Eine wissenschaftliche Behandlung der Bevolkerungsfrage kam, wenn sie denn brauchbare Ergebnisse abliefem woUte, nicht mehr ohne die empirische Beschreibung sozialer Ungleichheit aus. Carsten Klingemann hat iiberzeugend gezeigt, dass sich "iiber Leerformeln wie Rasse und Volksgemeinschaft die neuen aus der Unvereinbarkeit von Notwendigkeiten einer staatlich dynamisierten Industriegesellschaft und der proklamierten regressiven Ideologic hervorbrechenden Sinnfragen nicht auffangen lieBen."^'' Er betonte auch eine unabhdngig von politischen Systemen erkennbare Ordnungsfunktion (sozial)wissenschaftlicher Produktion als solche. Klingemanns Argument zielte darauf ab, dass eine solche technokratische und zudem staatsfixierte Sozialwissenschaft versuchte, die Kontinuitat politischer
Geiger 1933:356. Dazu Theodor Geiger kritisch: "Wer soziale Schichten direkt oder indirekt in die eugenische Rechnung einbezieht, kommt in Gefahr, den alten Gedanken der erblich geschlossenen Stande in die Gegenwart zu iibertragen, deren Gesellschaftsstruktur grundsatzlich darauf beruht, dass der Sozialstandort des Einzelwesens veranderbar ist." (Geiger 1933:387) Von dieser Form der sozialen Ungleichheit ist die Form zu unterscheiden, die die Unterschiede zwischen den Positionen (z.B. haben Mitglieder der privilegierteren Schichten ein hoheres Einkommen, eine bessere Wohnsituation, einen groBeren Einfluss) thematisiert. Klingemann 1996:220.
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Methodische Annaherungen an die Texte
Ordnung und - wie ich meine - auch die der Regulation von Privilegien und sozialen SchlieBungsprozessen,^^ die durch gesellschaftliche Modemisierungs-, Ausdifferenzierungs- und Egalisierungsprozesse permanenter Bedrohung ausgesetzt sind, sicherzustellen: "Im Gegenteil, mir geht es um die Frage, ob Sozialwissenschaftler trotz der scheinbar dogmatisch-opportunistischen Fremd- oder Selbstbindung ihres Tuns an nationalsozialistische Vorgaben quasi seismographisch die Bestandssicherungsprobleme einer politischen Ordnung spurten, die mit den Anforderungen eines der fortschreitenden funktionalen Differenzierung unterliegenden gesellschaftlichen Systems konfrontiert war. Gab es hinter (...) den Attacken (...) Entwicklungen, die als wissenschaftliche Reflexion der von momentanen politischen Konstellationen relativ unabhangig ablaufenden Veranderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur erkannt werden konnen? Fur den Fall, daB solche Tendenzen feststellbar sind, konnte die Rede von den inhaltlichen Kontinuitaten sozialwissenschaftlicher Wissenschaftsprogramme oder die schlichte Konstatierung personeller und terminologischer Kontinuitaten uberwunden werden zugunsten der Einsicht, daB relative Autonomic sozialwissenschaftlicher Arbeit und partielle Integration in undemokratische oder diktatorische Strukturen kein Widerspruch an sich darstellen. (...) Es werden somit ganz bewuBt jene Ansatze zuriickgewiesen, die auch heute noch das Phantom einer genuinen Nazi-Wissenschaft dingfest machen mochten."^^ Das Argument lauft also darauf hinaus, dass die zeitgenossische Wissenschaft gerade dort, wo sie nicht biologistisch oder auch nur stark normativ argumentierte, ihre Niitzlichkeit bewies: durch eine Aufnahme der 'social facts' unterschiedlicher Lebensverhaltnisse und durch steuerungsrelevante Analysen des Ungleichheitsgeschehens. In diesem Sinne ist die Bevolkerungswissenschaft gerade als 'Normalwissenschaft' anfallig fiir autoritare und inhumane Zwecke gewesen: Und zwar dort, wo in ihrer Empirie soziale Barrieren zwischen Menschen als mechanistisch, starr und hierarchisch erschienen. Nur durch diese Fixierungen schien die infolge der funktionalen Differenzierung einer Gesellschaft auftretende Ungleichheit^^ noch kontrollierbar?^ Ob dann Forschungsergebnisse und Vorschlage tatsachlich von den NaziMachthabern in der Bevolkerungspolitik genutzt wurden, stand auf einem ganz anderen Blatt. Diese Frage ist aber auch fiir eine Rekonstruktion der kognitiven Konnotationen der Bevolkerungswissenschaft von geringerer Bedeutung. Das Bewusstsein fur (die in unserem Fall) 'soziale' Problematik der Bevolkerungsfrage und ihre methodisch elaborierte Verarbeitung sind jedoch zweierlei. Was niitzt die Erkenntnis iiber soziale Ursachen von Bevolkerungsvorgangen, wenn diese mit dem Instrumentarium der Sozialwissenschaft des 19. Jahrhunderts wahrgenommen werden? Untersucht wird hier deshalb, welche Form sozialwissenschaftlichen Denkens in der Nahe der Demographic eigentlich gepflegt wurde, in welchen disziplinaren Traditionslinien wurde diskutiert und schlieBlich, welche genuin 'sozialwissenschaftlichen' Argumentationen spielten in die Bevolkerungspolitik und Bevolkerungsplanung mit hinein. In den folgenden Kapiteln sollen deshalb ausgewahlte Texte der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungswissenschaft darauf-
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Vgl. zum Zusammenhang von SchlieBung und ethnischer Gemeinschaft bei Max Weber: Weber 2001:168190; zum neueren Forschungsstand siehe: Mackert 2004, 1999. Klingemann 1996:220f. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Stratifikation und sozialer Differenzierung jetzt: Schwinn 2004. Vgl. dazu bereits Gutberger 21999:33-72; 143-216.
Bevolkerung, 'Rasse' und soziale Rangordnung
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hin untersucht werden, wie sie sich mit Phanomenen sozialer Ungleichheit innerhalb des Bevolkerungsgeschehens auseinandersetzten. Schon Julius Wolf thematisierte 1931 die Bevolkerungsfrage als eine Frage sozialer Konkurrenzen unter KoUektiven und als eine Frage des innergesellschaftlichen sozialen Aufstieges und des sozialen Ansehens. Julius Wolf schloss seinen Aufsatz zur Bevolkerungsfrage mit den Worten, dass "die Bevolkerungsfrage von heute in ihrem tiefsten Grunde eine Frage der Ordnung der Welt ist."^^ Diese sehr groBzugige Perspektive deckte sich auch mit den Ansprlichen anderer Bevolkerungswissenschaftler an ihre Disziplin, denn ob "einem die Erkenntnis gefallt oder nicht, man wird akzeptieren miissen, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft in der Weimarer Republik und dem Dritten Reich unter dem Begriff Bevolkerungswissenschaft etwas anderes verstand und darunter etwas anderes subsumierte, als wir es heute tun! So breit und vielschichtig das Spektrum der Referenten und der von ihnen vertretenen Disziplinen allein auf diesem intemationalen KongreB fur Bevolkerungswissenschaft von 1935 war, so breit und vielschichtig wird man auch eine historische Untersuchung uber die Disziplinen und deren Vertreter anlegen miissen,... "^^ Besonders anhand der von Rainer Mackensen und Bemhard vom Brocke vorgelegten Quellensammlungen bzw. Tagungsberichte^'* wurde nun deutlich, wie groBziigig das Spektrum einer sich mit "Bevolkerungsfragen" im 20. Jahrhundert auseinandersetzenden Wissenschaft zu veranschlagen ist. Dies gih auch fiir die im naheren Sinne 'sozialwissenschaftlichen' Beitrage. Bei der Einarbeitung der Problematik 'soziale Ungleichheit' in ihre Fragestellungen war die Bevolkerungsforschung gewissermaBen immer auf 'Anleihen' aus angrenzenden Wissenschaftsdisziplinen angewiesen. So gih heute wie damals, dass eine Bestimmung von Teilbevolkerungen mit rein demographischen Verfahren nicht moglich ist, sondem nur unter Einbezug soziologischer Unterscheidungskriterien: "Also ist die im Zusammenhang einer Gesamtbevolkerung gesonderte Behandlung von Teilbevolkerungen kein genuin demographisches Verfahren, sondem vielmehr eine Folgerung aus der bevolkerungssoziologischen Grundthese, daB demographische Merkmale sich gegenuber soziologischen als dependente Variable verhalten. Dabei ist die hier herangezogene Art sozialer Kriterien von der qualitativen, also klassifikatorischen Form (...) Es ergibt sich, daB diese Richtung einer Verfeinerung der Grundgleichung den demographischen Bevolkerungsbegriff nicht verandert, sondem seine Koeffizienten als von soziologischen Klassenbegriffen abhangig behandelt. (...) Welche qualitativen Kriterien im bevolkerungssoziologischen Sinne klassenbildend sind, wird noch zu untersuchen sein. DaB die Zugehorigkeit zu Rassen, Volkem, Konfessionen, Sozialschichten und Siedlungsformen als klassenbildend angesehen wird, wurde schon angedeutet."^^ Rainer Mackensen sprach hier nur offen aus, was bis in die 1960 Jahre hinein den Mainstream der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung in Deutschland bildete, eben unter soziologischen Klassifizierungen lediglich 'Merkmale' von 'Rassen', von 'Volkern',
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Vgl. Wolfl931:66. Vgl. dazu die Anmerkungen von Niels C. Losch in Mackensen 1998:161. Vgl. Mackensen 1998; vom Brocke 1998. Mackensen 1967:48f.
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Methodische Annaherungen an die Texte
von 'Siedlungsformen' usw. zu verstehen. In der Folge bemiihte sich Rainer Mackensen dann, eben diesen weiten Begriff klassifikatorischer Formen fur die Bevolkerungssoziologie als irrelevant darzustellen. Er hob dabei - und dies kann man auch als Abgrenzung zu Vertretem der Gesinnungstheorie lesen - auf das Verhalten und auf gemeinsame Konventionen als Klassenmerkmale ab. Wenn wir die Inhalte der im Anhang als Quellen aufgefuhrten Studien im Zusammenhang betrachten, so fallt auf, dass das Bevolkerungsthema in zwei parallel verlaufenden Formen bearbeitet wurde, namlich zum einen als eine in Zusammenhang mit der Ordnung des 'Sozialen' stehende Bevolkerungsforschung. Die mit der Fertilitat und der Bewegung der "Bevolkerung" / Bevolkerungen stehende Schlusselthemen, also die eher klassischen demographischen Topoi, bilden dann den zweiten (demographischen) Kembereich. In den ersten Themenbereich fallen die Themenspektren Gemeinschaft und Gemeinschaftskonzepte, Massenkonzepte, 'Siebungs'-Prozesse, Schichtungsbilder, Berufsbilder, Mobilitatsprozesse. In den zweiten Themenbereich geht es eher um generationelle Reproduktion, Familien als reproduktive Einheiten (im NS: 'Sippen'), Wanderungen (Migration), Bevolkerungsbewegungen / Bevolkerungsdichte u.a. Diese (hier aus analytischen Griinden getroffenen) Zuordnungen waren in der Forschungspraxis gleichwohl immer untrennbar miteinander amalgamiert. Ein Beispiel fur diese Gemengelage bot der Blick auf die Unselbstandigen und die proletarisierten Gruppen innerhalb des landlichen Raums. Ihnen wurde eine bevolkerungspolitische Schltisselstellung zugesprochen - ob nun in die Stadt ziehend oder auf dem Lande verbleibend. Die in der Gesellschaft ablaufenden sozialokonomischen Umschichtungsprozesse konnten in der NS-Zeit generell auf dem Felde der landlichen Sozialformationen unverfanglicher diskutiert werden. Selbst Friedrich Burgdorfer plante sein sonst ganz auf stadtische Bevolkerungen ausgerichtetes Reichsinstitut (fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik) urspriinglich mit einem Abteilungsleiterposten fur einen agrarsoziologischen Fachmann (Karl Seller) zu besetzen.^^ Die (unterstellte) Stadt-Land-Disparitat wird aber auch die bevolkerungswissenschaftlichen Arbeiten nach 1945 noch lange begleiten. So differenzierte auch Gerhard Mackenroth (1955) in Zusammenhang mit seinem 'Siebungsbegriff zwischen demographisch unterschiedlich bedeutsamen landlichen und stadtischen 'Schichten' (z.B. der "Intelligenz"). Die Migrations- und Mobilitatsprozesse zwischen diesen beiden 'Spharen' wurden weiter diskutiert. Die Benennung des o.g. zweiten Kembereichs dient hier auch der Abgrenzung zu jenen empirischen Arbeiten der Sozialwissenschaft im Nationalsozialismus, die sich nicht mit Bevolkerungsfragen im engeren Sinne befassten. Im Unterschied zu den Studien der Soziologen / Soziographen Andreas Walther (Fokus: Gemeinschaft/sunfahige) und Ludwig Neundorfer (Fokus Sozialstrukturplanung in Regionen) schlossen die Arbeiten der 'sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung' dieses zweite Themenspektrum immer auch mit ein. Die empirische Soziologie hat mit dieser Form der Bevolkerungswissenschaft im 'Dritten Dies kann hier gleichwohl nur aus den Selbstzeugnissen Johann Hermann Mitgaus entnommen werden. Friedrich Burgdorfer erklarte gegenuber J.H. Mitgau, dass Karl Seller, der "sehr gem gekommen ware", von der Hindenburg-Hochschule fiir Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Niimberg nicht freigegeben wurde. Nun konne Mitgau den vakanten (zweiten) Abteilungsleiterposten einnehmen (vgl. Mitgau, Munchener Tagebuch, Teil IV, 6 Eintrag vom 27.8.1941). Karl Seller traf spater auch auf einer Tagung der Reichsarbeitsgemeinschaft fiir Raumforschung (im Marz 1944 in Pretzsch an der Elbe) mit Johann Hermann Mitgau und Elisabeth Pfeil zusammen (ebd., 73).
Die Bevolkerung und die Ordnung des Raums
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Reich' zwar Uberschneidungen aufgewiesen, sie war aber mit ihr weder in den Methoden noch in den Fragestellungen identisch. Die o.g. Zuordnung erleichtert nicht zuletzt eine derartige Unterscheidung auf dem weiten Feld der 'Sozialforschung' im NS-Staat.
III. Die Bevolkerung und die Ordnung des Raums Bevolkerungsfragen wurden im "Dritten Reich" immer eng in Zusammenhang mit der Neuordnung des Raums, mit dem Raumbegriff generell diskutiert.^'^ Andererseits war die Demographic seit langem um eine Abbildung des generativen Verhaltens einzelner sozialer Gruppen bemiiht. Eine Gemeinsamkeit der sozialwissenschaftlichen Forschungsgruppen ist nun darin zu sehen, dass sie in der praktischen Arbeit alle "soziographisch" vorgingen und z.T. administrativ defmierte Raume (Gaue, Stadtbezirke, regionale Gebietskorperschaften, Landkreise, Dorfer u.a.) auswahUen, z.T. "Sozialraume" eigener Ordnung defmierten. Fiir die diversen "Soziographien" war generell kennzeichnend, das sie bewusst von Bevolkerung(en)^^ und von deren raumliche Situierung(en) her Soziales beschreiben woUten. Die Leipziger Bevolkerungsforscher betonten immer wieder, dass sie nicht iiber abstrakte Bevolkerungskonstruktionen sprachen, sondem "echte Lebensgruppen" in politisch handhabbaren Raumen abbildeten.^^ Zwischen den Methoden der geographischen Wissenschaft und der der empirischen Soziologie bestanden in dieser Fruhphase der Sozialforschung deshalb auch enge Berlihrungspunkte. Bevolkerungssoziologen bezogen sich u.a. auf die ersten empirischen Forschungsansatze, die damals in der Human- und Sozialgeographie entwickelt wurden. ^^^ Es wird deshalb auch versucht zu klaren, welchen Einfluss raumbezogene Perspektiven auf die Diskussion um das generative Verhalten "sozial Ungleicher" im Rahmen der Bevolkerungsforschung hatten. Gab es auch schon vor 1945 ein soziologisches Verstdndnis der Bevolkerung/Bevolkerungsprozesse? Wie wirkten Raumkategorien auf die Beschreibung von sozialer Ungleichheit und sozialer Mobilitat ein? Vor dem Hintergrund der o.g. Einteilung in eher demographisch orientierte und eher soziologisch ausgerichtete Themenspektren der Bevolkerungswissenschaft wurden - zentriert auf die Ungleichheitsthematik - Feinanalysen des Untersuchungsmaterials durchgefuhrt. Die Dimensionen der vergleichenden Analyse der Denkstile ergeben sich aus folgenden Fragestellungen:
Vgl. dazu die ausfiihrliche Darstellung in: Gutberger ^1999. Auf diese Arbeit baut die hier gelieferte Analyse auf. Der niederlandische Sozialforscher Sebald Rudolf Steinmetz hatte als Erster den Begriflf "Soziographie" benutzt. In seinem (ethnographischen) Sinne umfasste die Soziographie (im Gegensatz zu der auf die Untersuchung von Beziehungen zielenden Soziologie) die Untersuchung von " Vdlker{n) und ihre(r) Teile in ihrer konkreten Eigenheif (vgl. Steinmetz 1926:222; Hervorhebung, H.G.); vgl. dazu auch Mackensen 2003a:488f. Wenn Raume zum Thema bevolkerungswissenschaftlicher Fragen wurden, dann haufig im Sinne von 'Regionen'; also Territorien, die sich weitgehend von der landschaftlichen Grundlage gelost haben (vgl. hier Mackensen 1967a:6a mit Bezug auf Pfeil 1937:126). Gleichwohl mache es nur Sinn von 'Bevolkerung' zu sprechen, wenn auch von "Gebieten" gesprochen werde (vgl. hier Mackensen 1967a:22a mit Bezug auf Pfeil 1937:124). Andererseits gehore "Regionaltheorie" aber eher systematisch in den Bereich der Raumforschung; im gleichen Verhaltnis, wie die Demographic zur Bevolkerungswissenschaft gehore (ebd., 7b). Vgl. Beispiele in Gutberger 2005.
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Methodische Annaherungen an die Texte
(1) Wer geriet in welcher Form in den Blick der fiinf Forschergruppen?^^^ (Untersuchung des Blicks auf Subpopulationen) Bereiche bzw. Begriffe / Kategorien: Individuen, Gemeinschaft(en), Familien, "Sippen", Generationen, ethnische Gruppen, das (Auslands)-'Volkstum', Gruppen mit zugeschriebenen sozialen Eigenschaften, "Masse/Elite" usw. (2) An welchen Subpopulationen und in welcher Weise wurden soziale Prozesse im Rahmen der Bevolkerungsfrage empirisch / theoretisch jeweils wahrgenommen? (reflektierte soziale Prozesse) Bereiche bzw. Begriffe / Kategorien: Mobilitat, soziale Stratifikation, soziale Differenzierung, schichtspezifische Normen, soziale SchlieBungen, Wanderungen / Migration, Inklusion, Exklusion, Berufsbilder, Begabung und 'Siebung', Zahl und Qualitat der Arbeitsplatze, 'Tragfahigkeit' etc. (3) Wie wurde die 'Raumkategorie' in die ungleichheitsrelevante Bevolkerungsforschung jeweils integriert? (Wahmehmung und Verarbeitung der Raumkategorie) Bereiche bzw. Begriffe / Kategorien: Bevolkerungsbewegungen im Raum, horizontale Mobilitat, Umsiedlungen, Arbeitskraftelenkung, 'Landflucht', "Verdichtung", "Tragfahigkeit", Raumforschung, Raumordnung
IV. (Soziale) Mobilitat unter demographischen Aspekten betrachtet IV. 1 Eine kleine Begriffskunde In diesem Kapitel sollen einige Begriffsklarungen vorgenommen werden, die notwendig sind, um die zeitgenossischen Texte vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung der ungleichheitsrelevanten 'Denkstile' in der Bevolkerungswissenschaft und der Soziologie besser einordnen und beurteilen zu konnen. Unter (1) ^'sozialer Mobilitat** soil im Folgenden "die aufwarts oder abwarts verlaufende Bewegung innerhalb der sozialen Hierarchic", also eine vertikale Bewegung innerhalb sozialer Stratifikationen, verstanden werden.^^^ Diese vertikale Form sozialer Mobilitat wird hier insoweit behandelt, als sie fur bevolkerungswissenschaftliche und demographische Themen relevant war und ist, also etwa in Zusammenhang mit der GroBe oder (damals: der vermeintlichen) "Eigenschaft" einer Bev6lkerung(sgruppe). Sie beriihrt natiirlich auch den gesamten Problemkreis der Migration(en). Vgl. Einfiihrung, Kapitel 3. oben. "In vielen Fallen ist es schwer zu entscheiden, ob eine soziale Bewegung als Aufstieg oder als Abstieg zu bewerten ist, z.B. wenn aus dem Landarbeiter oder Bauem mit sehr kleinem Besitz ein Hilfsarbeiter wird. Aus diese Grund ist es ratsam, mit den Begriffen Aufstieg und Abstieg vorsichtig umzugehen." (Vgl. Andorka 2001:192).
(Soziale) Mobilitat unter demographischen Aspekten betrachtet
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Eine ''intergenerationelle Mobilitdf liegt nach heutiger Definition dann vor, wenn sich die soziale Lage einer Person im Vergleich zur Generation der Eltem verandert hat. Dabei ist zu berticksichtigen, dass die soziale Lage nicht mit der Schichtzugehorigkeit identisch ist, denn es wird - seit Theodor Geiger - zwischen der "objektiven sozialen Lage" und der rein statistisch nicht erfassbaren Schichtungsmentalitat unterschieden.^^^ "Bildungsexpansion und Tertiarisierung haben zu einer Zunahme der absoluten Intergenerationen-Mobilitat gefuhrt. Insbesondere die Aufstiege in Bildung und Beruf haben zugenommen. Entsprechende Abstiege wurden seltener: Von 100 Arbeiterkindem erreichen heute ca. 15 die Universitat und nicht mehr nur 5, wie in der Nachkriegszeit. Von den Mannem (Frauen), die in den 40-er Jahren in den Beruf eintraten, haben 27% (35%) einen Aufstieg im Vergleich zu ihren Vatem erreicht, 35% (40%)) mussten absteigen. (...) Die Aufstiege konzentrierten sich jedoch auf Kinder der Arbeiterelite' (Meister, Vorarbeiter), teilweise der Bauem sowie der einfachen Angestellten und Beamten. In der weniger qualifizierten Arbeiterschaft einerseits und der hochqualifizierten Angestellten- und Beamtenschaft andererseits dominierte der Statuserhalt. Auch die Daten zur relativen Inter-Generationenmobilitat zeigen, dass sich die Aufstiegschancen ungleich verteilen und dass seit Jahrzehnten keine durchgreifende Veranderungen stattgefunden haben, jedenfalls was die Chancen der Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten betrifft. Die Bildungschancen der Kinder aus der Unterschicht (bzw. Arbeiterschaft) haben sich, wie gezeigt, zwar absolut erhoht. Relativ zu den der mittleren und oberen Schichten (bzw. zu Angestellten und Beamten) haben sich die Bildungschancen von Unterschicht-(bzw. Arbeiter-)Kindem jedoch nur wenig verbessert."^^"^ (2) Der Begriff der "Heiratsmobilitdt'* beschreibt den Vorgang, bei dem eine Person durch EheschlieBung in eine andere soziale Lage wechselt. (3) Zu den wichtigsten Mobilitatsformen unseres Zusammenhangs zahlen auch die '*strukturelle'* und die **zirkuldre'^ Mobilitat. Die strukturelle Mobilitat und die intergenerationelle Mobilitat korrespondieren eng miteinander und beriihren sich im Falle, dass demographische Entwicklungen mit in die (soziologische) 'Mobilitatsfrage' hineingenommen werden: "Die gesamte Mobilitat wird iiblicherweise in strukturelle und zirkulare Mobilitat aufgeteilt. Unter struktureller Mobilitat versteht man den Anteil derer, die gemessen an der Differenz zwischen Verteilung der Herkunftsposition und erreichter sozialer Position zwangsweise mobil waren - mit anderen Worten: mobil werden muBten, weil die Zusammensetzung der Generation der 'Vater' von der der 'Sohne' abweicht. Dem liegt ein Wandel der Sozialstruktur zugrunde, aber auch die unterschiedliche Kinderzahl der einzelnen sozialen Kategorien. Wenn z.B. Bauemvater im Durchschnitt zweimal so viele Kinder hatten wie die Arbeiter, ruft dies zwangsweise eine Mobilitat aus der Bauem- in die Arbeiterschaft hervor. Die strukturelle Mobilitat wird so errechnet, daB man die zwei Randverteilungen voneinander abzieht und die Summe der positiven (oder dementsprechend negativen) Differenzen als strukturelle Mobilitat betrachtet. (...) Die Differenz zwischen Gesamtmobilitat und struktureller Mobilitat wird im allgemeinen zirkulare Mobilitat genannt. (...) Die nach der beschriebenen Methode errechnete zirkulare Mobilitat enthalt jedoch auch die sukzessiv erreichte strukturelle Mobilitat. Dahinter steht, daB die durch Strukturanderungen hervorgerufene Mobilitat zum Teil realisiert 103 104
Vgl. Geiger 1932 (1987). Hradil 2002:371.
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Methodische Annaherungen an die Texte wird, indem 'alle einen Schritt vorwarts' kommen: Aus den Sohnen der Bauemvater werden Arbeiter und aus den Arbeitersohnen Intellektuelle. Aus diesem Grunde ist es genauer, von 'minimal notwendiger struktureller Mobilitat' und von 'sonstiger Mobilitat' zu sprechen. Die Begriffe strukturell und zirkular sind jedoch einfacher und anschaulicher."'^^
(4) Das Phanomen der ''sozialen Mobilitaf umfasst sowohl individuelle (aber sozialstrukturell wirkende) als auch soziologische Faktoren. In einem Teil der Schichtungsforschung werden besonders "Merkmale" oder "Eigenschaften" des Einzelnen als maBgebende Zuordnungskriterien fur die "Zuordnung zu einer Schicht" in den Vordergrund geschoben. "Soziale Mobilitat" erscheint hier zudem als ein von politisch-okonomischen Beziigen befreiter Wert, denn - so der Denkstil - in der Industriegesellschaft als Leistungsgesellschaft miisse soziale Mobilitat 'optimiert' v^erden:^^^ "Soziale Folge der Zugehorigkeit zu einer bestimmten Schicht ist insbesondere ein jeweils entsprechend unterschiedlicher Zugang zu sozialen Ressourcen, Lebenschancen und Lebensstilen. Entscheidend bei dem Modell ist, dass der Einzelne durch Veranderung seiner konstitutiven Schichtungskriterien auch seine abhangigen Schichtungskriterien (mit-)bestimmen kann, so dass soziale Mobilitat in hohem MaBe auf personlicher Entscheidung beruht und prinzipiell unbegrenzt, individuell gestaltbar und nicht lebenslang oder gar iiber Generationen sozial determiniert ist, wie etwa beim Modell der Stande- und Kastengesellschaft."^^'^ Der historische Ursprung dieser Form der Betrachtung von "Schichtung" ist im sogenannten amerikanischen "Stratifikationsparadigma" zu sehen, das wesentlich darauf griindete, dass soziale und berufliche Positionen letztlich vor allem von Bildungskriterien abhangig zu machen sind. Demgegeniiber ist aber zu betonen, dass soziale Mobilitat nicht nur von strukturellen Ruckwirkungen auf 'individuelles' Verhalten abhangt, also von der Forderung der Rahmenbedingungen fur das Fortkommen des Einzelnen, sondem immer auch durch die Gegebenheiten der Sozialstruktur selbst bedingt ist, z.B. von SchlieBungsmechanismen und Prozessen der Statussicherung. Die gegebenen GroBen einzelner sozialer Schichten bzw. ihre Verhaltnisse zueinander konnen gerade deshalb ihrerseits wieder von der beruflichen Struktur abhangen:^^^ "Es ware aber ein Irrtum aufgrund dessen, daB immer mehr Jugendliche eine hohe Schulbildung (z.B. einen UniversitatsabschluB) erwerben, darauf zu schlieBen, daB dann der Anteil der Zugehorigen zu privilegierten Schichten (z.B. Akademiker) im gleichen MaB wachst. Die Anzahl bzw. der Anteil der verschiedenen sozialen Positionen hangt namlich von der okonomisch-beruflichen Struktur ab." 109
105 '06 107
Andorka 2001:198. Endruweit, Georg 2002:469. Vgl. Endruweit, Georg 2002:467. Ein Interesse an einer Festschreibung sozialer Positionen und einer sozialen SchlieBung gibt es aber gerade auch in modemen Gesellschaften. Nur lauft dies nun vermittelt tiber Interessenverbande ab. Berger zeigt, dass sich in einer Marktgesellschaft die Berufsverbande als Erben standestaatlicher Standessicherung entpuppen und in erster Linie die "einmal erreichte Position" absichem helfen: vgl. Berger 2004:37 If. Vgl. Andorka 2001:200. Andorka 2001:214.
(Soziale) Mobilitat unter demographischen Aspekten betrachtet
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Dieser Sichtweise liegt insofem ein anderes Verstandnis sozialer Ungleichheit zugrunde, da sie die Wandelchancen einer Gesellschaft nicht allein an die Mobilitatsimpulse der Einzelnen wie iiberhaupt an die Mobilitat bindet.^^^ Zudem sind die Folgen okonomischer Krisen (Massenarbeitslosigkeit) entscheidende Variablen ftir Mobilitatschancen, denn "neugeschaffene Arbeitsplatze ziehen Kettenreaktionen beruflicher Fluktuation nach sich, abgebaute Arbeitsplatzenicht."^^^ (5) Ftir unsere Fragestellungen ist auch von Bedeutung, ob die Ursachen von 'Mobilitat' mit der demographischen Reproduktion einzelner 'Schichten' in Zusammenhang stehen. Dies konnte von der Bevolkerungswissenschaft nur im historischen Riickblick und unter Beachtung langfristig wirkender demographischer Trends untersucht werden. Einig sind sich die Bevolkerungswissenschaftler darin, dass insgesamt das Volumen der Mobilitat^ ^^ von den Agrar- bin zu den Industriegesellschaften stark zugenommen hat, wobei sich die Richtung der Mobilitat im historischen Verlauf umkehrte, das heiBt, dass eine 'Abstiegs'-Mobilitat durch eine 'Aufstiegs'-Mobilitat ersetzt wurde. Andorka fasste die damit verbundenen historischen Uberlegungen wie folgt zusammen: "Die Theorien, die die Auswirkung struktureller Faktoren betonen, weisen darauf hin, daB die soziale und berufliche Struktur der sich wirtschaftlich nicht entwickelnden Gesellschaften unverandert bleibt und es somit fur die Mitglieder unterer Klassen, Schichten oder Stande keine Moglichkeiten gibt, infolge eines Strukturwandels in groBen Massen in sich eroffnende neue Positionen der hoheren Klassen, Schichten oder Stande zu gelangen. Bis zum Anfang des demographischen ijbergangs war die demographische Reproduktion der Schichten in giinstigerer Lage erweitert: Sie vermehrten sich schneller als arme Schichten, weil ihre Sterberate gunstiger war, sie mehr Kinder bekamen und von diesen bis zum Erreichen des Erwachsenenalters mehr am Leben blieben. Unter diesen Umstanden war Mobilitat nach unten haufiger als ein Aufstieg. Mit der Zerstuckelung des GroBgrundbesitzes sind Kinder der Aristokratenfamilien allmahlich abgestiegen und der Kleinadel wurde verbauerlicht. Die Kinder armer Klassen, die keinen eigenen Grundbesitz erwerben konnten, verarmten in hohem MaB, wurden zu Landstreichem, lebten vom Betteln. manchmal von Verbrechen, konnten keine Familien griinden und in erster Linie waren sie es, die Epidemien und Hungersnoten zum Opfer fielen. Nach Beginn der Industrialisierung anderten sich diese Tendenzen der Mobilitat: Die soziookonomische Struktur anderte sich schnell, der Anteil der in der Landwirtschaft Arbeitenden nahm ab, die Schicht der Arbeiter und geistig Tatigen wuchs an. Somit kehrte sich die grundlegende Richtung der Mobilitat um: Der Anteil der Schicht der landwirtschaftlichen Arbeiter ohne Bodenbesitz und der Bauem mit sehr kleinem Besitz auf der niedrigsten Stufe der sozialen Hierarchic nahm ab. Wenn auch die Proletarisierung zu Industriearbeitem fiir Mitglieder dieser Schichten mit groBem Elend verbunden war, verbesserte sich doch auf lange Sicht die Lage der Arbeiter. Die Zunahme von geistigen Tatigkeiten und Angestelltenberufen eroffnete - wenn auch nur fur wenige - die Moglichkeit, aus unteren Schichten in privilegiertere iiberzutreten. Gleichzeitig verbreitete sich die GeburtenkontroUe zuerst in den oberen Schichten. So begannen sich die unteren Schichten schneller zu vermehren. Das ging damit einher, daB in den anwachsenden oberen Schichten die Anzahl der Positionen, die mobilen Personen aus unteren Schichten offen standen, nur langsam zunahm.""^ 110
ill 112
Vgl. zur gegenteiligen Position: Endruweit, Georg 2002:469. Vgl.Hradil 2002:371. Zur Epochenspezifik des Volumens sozialer Mobilitat vgl. bereits Sorokin 1927.
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Methodische Annaherungen an die Texte
(6) Unter "Sozialer Ungleichheif soil hier einerseits die (vertikale) Ungleichheit sozialer Positioner! und andererseits die Differenzierung der Chancen zur sozialen Mobilitat verstanden werden. Wie wir z.B. an den Arbeiten von K.V. Miiller sehen werden, wurde der Problemkreis der "Mobilitatschance" auch in der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungswissenschaft des 'Dritten Reiches' thematisiert; allerdings im Sinne einer sozialbiologischen Argumentationskette, die eine mogliche 'Mobilitat' des Einzelnen nur im Rahmen von zuvor erfolgten sozialen Zuschreibungen fur ganze Bevolkerungsgruppen 'gestattete'. Hier ist es zunachst nur wichtig festzuhalten, dass in der heutigen Ungleichheitsforschung die soziale 'Zuschreibung' und die individuelle "Leistung" in der Regel ein Gegensatzpaar bilden. Hier werden also noch einmal die Anmerkungen aus Kapitel II oben aufgegriffen: "Im Problemkreis der Gleichheit bzw. Ungleichheit der Mobilitatschancen verwendet man im allgemeinen das Begriffspaar Zuschreibung (ascription) und Leistung (achievement). Das Prinzip der 'Zuschreibung' bedeutet, daB angeborene Eigenschaften (Geschlecht, Hautfarbe, Kasten- und Klassenzugehorigkeit) die soziale Position festlegen. Das Prinzip der 'Leistung' hingegen bedeutet, daB es von der individuellen Leistung eines jeden abhangt, in welche soziale Position er gelangt. Einige Soziologen und Kulturanthropologen meinen, daB die Gesellschaft nach beiden Prinzipien funktionsfahig sein kann (Linton 1936). Andere betrachten das Leistungsprinzip als unentbehrliche Anforderung der modemen Gesellschaft und sogar, wie bereits ausgefiihrt, als ein Kennzeichen der 'guten Gesellschaft'. Als Meritokratie wird eine Gesellschaft bezeichnet, in der die soziale Position des Individuums ausschlieBlich von seiner Leistung, seinen Fahigkeiten, seinem Wissen, mit einem Wort: von seinen 'Verdiensten' abhangt."^'"^ Wenn aber askriptive Merkmale nurmehr nur als "Modemisierungsriickstande" bezeichnet werden, so kann das dazu fuhren kann, dass sie eher im Verborgenen weiter wirken. Der Umstand, dass Menschen qua Geburt einem Nationalstaat zugerechnet werden, kann auch eine Mobilitatsbarriere bedeuten. Hier macht sich negativ bemerkbar - wie Anja WeiB gezeigt hat -, dass bis heute in der Ungleichheitsforschung Raumrelationen eine untergeordnete Rolle spielen.^^^ (7) Hingewiesen sei deshalb auch noch auf eine demographische Theorie, die - nach dem Muster der Theorie des demographischen Ubergangs - Mobilitat nur in historischer Perspektive erfasste: die Theorie des Ubergangs der rdumlichen Mobilitat. Danach unterliegen Wanderungsvorgange verschiedenen Perioden der Modemisierung. Nach der Theorie des Ubergangs der raumlichen Mobilitat werden z.B. die Variabilitaten des Lebensstandards in Stadt-Land-Wanderungen, die Abhangigkeit des Auswanderungsgrads von der Geburtenrate^^^ Oder die zirkularen Wanderungen zwischen Stadten untersucht. In den Bereich dieser Fragestellungen fallt auch der Begriff der "regionalen Mobilitat". Er beinhaltet den "Wohnortwechsel mit Uberschreitung der Ortsgrenze) und Unterprobleme (Pendeln, Migrationsbilanzu.a.)"i^'7
'1^ "4 i'5 116
Andorka 2001:204. Vgl. Andorka 2001:208. Vgl. WeiB 2002:79ff. Vgl. z.B. Chesnais 1986.
(Soziale) Mobilitat unter demographischen Aspekten betrachtet
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"Im 17. und 18. Jh. wurde regionale und soziale Mobilitat infolge der MaBnahmen absolutistischer Fursten zum systematisch herbeigeflihrten Phanomen: 'Peuplierungspolitik' forderte Einwanderungen in groBem Stil; Auswanderungen besserten die Kasse von Landesherren auf; 'Freimeister' erhielten Privilegien zur Grundung von 'Verlagen' (Organisation von Heimarbeit) und Manufakturen; Adelstitel wurden z.T. kauflich. Im 19. Jh. machten Industrialisierung, Gewerbefreiheit und das Ende der Leibeigenschaft raumliche M. zum Massenphanomen. Uberbevolkerung und Not auf dem Lande sowie die langsam entstehenden neuen industriellen Erwerbsmoglichkeiten auBerten sich in Landflucht und Verstadterung. Wahrend des 19. Jhs. wanderten, wegen Armut, Hungersnoten und politischer Unterdriickung, ca. 5 Mio. Menschen aus Deutschland aus, meist in die USA, aber auch nach Siidamerika. Andererseits wanderten Polen und Masuren in das Ruhrgebiet, Russen nach Berlin. Der Ausbau der Eisenbahn, die Verbesserung von StraBen und Briicken sowie der Abbau von Standes- und Landesgrenzen kleiner Herrschaften machten das Reisen fiir viele moglich. Die zuriickgelegten Wegstrecken und die Geschwindigkeiten stiegen. Auch die soziale Mobilitat wuchs: Viele Landarbeiter, Handwerker, Fuhrleute, Kleinhandler wurden zu Fabrikarbeitem. Sie waren der industriellen Konkurrenz nicht gewachsen. Aber die Mobilisierung verlief nicht uberall so schnell, wie oft vermutet (...) Mobilitat war jedoch mittlerweile zum Anspruch einer modemen Gesellschaft geworden. Die Moglichkeit des 'Weggehen-Konnens' gait den Menschen immer mehr als Wesensmerkmal ihrer Freiheit in Familie, Betrieb, Staatetc."ii^
117
Andorka 2001:194f Die raumliche Mobilitat ist also nicht mit der der horizontalen Mobilitat zu verwechseln, unter der ein Wechsel innerhalb des gleichen "Rangs" verstanden wird. Hradil 2002:369f
Denkstile I. Die 'soziale Frage' im Fokus der Bevolkerungs- und Sozialstatistik Fangen wir zunachst einmal mit den Nachwirkungen einer statistisch orientierten sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung in der jungen Bundesrepublik an. 1983 wurde von Karl Lenz in einem Beitrag zur Geschichte der Bevolkerungswissenschaft im Dritten Reich die These vertreten, Friedrich Burgdorfers Bevolkerungsstatistik sei "vor allem auf ein exaktes statistisches Erfassen ausgerichtet" gewesen und sie habe sich "nahezu ausschlieBlich auf eine Komponente der Bevolkerungsentwicklung, eben auf den Geburtenvorgang" konzentriert.^ ^^ So richtig es ist, dass diese Statistik weit von theoretischen Einsichten iiber Bevolkerungsgleichgewichte, demographische Ubergange usw. entfemt betrieben wurde, so sehr ist doch zu bezweifeln, dass Versuche, (einseitige) Einblicke in die sozialen Bedingungen zu gewinnen, uberhaupt keine Rolle in der Burgdorferschen Vorstellung von Bevolkerungswissenschaft gespielt hatten. Sie war weder nur reine Statistik noch lasst sie sich als eine rein biologische Konzeption eines Bevolkerungsmodells erklaren. Zwar lassen sich in Burgdorfers zahllosen Schriften viele Belege dafiir finden, dass bei ihm die Sicherheit vorab postulierter (pseudo-naturwissenschaftlicher) GesetzmaBigkeiten die dezidierte Untersuchung sozialer und politischer Bedingungen fur menschliches Handeln verdrangte^^^, doch traf dies auch in dieser AusschlieBlichkeit auf die Beitrage seiner Mitarbeiter (Elisabeth Pfeil, Johann Hermann Mitgau) in seinem Umfeld und auf die Bevolkerungs- und Sozialstatistik des Statistischen Reichsamts^^^ generell zu? SchlieBlich gab es in der deutschen Statistik liber den Zeitraum seit Ende der 1920er Jahre zahlreiche Datensammlungen und Interpretationen zur sozialen "Gliederung" der Erwerbsbevolkerung. Angefangen bei Friedrich Zahns "Die beruflich-gesellschaftliche Gliederung des deutschen Volkes" (1924)^^^ bzw. "Die Entwicklung der raumlichen, beruflichen und sozialen Gliederung des deutschen Volkes seit dem Aufkommen der industriell-kapitalistischen Wirtschaftsweise" (1929)^^^ und Paul Flaskampers "Die Bedeutung der Zahl fur die Sozialwissenschaften"^^"^, iiber Burgdorfers Arbeiten zum "Aufbau und Bewegung der Bevolkerung"'^^ und die Beitrage in "Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand",^^^ bis hin zu Deneffes "Soziale Topographic der GroBstadt"^^'^ oder Kurt Horstmanns^^^ Berichten liber "Die Gliederung der Bevolkerung in der Bundesrepublik Deutsch19 2^ ^'
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Vgl. Lenz 1983:131. So demonstriert dies Rainer Mackensen an der Paulinus-Burgdorfer Kontroverse: vgl. Mackensen 2003b: 1 Of. Vgl. z.B. die Publikation eines "Referenten" des Statistischen Reichsamts von 1939: Manfred Dittrich (1939): Die Entstehung der Angestelltenschaft in Deutschland. (Schriften der Deutschen Wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft, Bd. 5, Abt.; Sozialpolitik. Bd. 1) Stuttgart und Berlin: Kohlhammer. Rezensiert von Ludwig Heyde im Kieler "Weltwirtschaftlichen Archiv" (vgl. Heyde 1942). Vgl. Zahn 1924. Vgl. Zahn 1929. Vgl. Flaskamper 1934. Vgl. Burgdorferi 935. Vgl. Burgdorferi 940a. Vgl. Deneffe 1949.
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Denkstile
land nach der sozialen Stellung auf Grund der Berufszahlung"^^^ bzw. zur "Horizontalen Mobilitat".^^^ In diesem Zusammenhang ist auch die Beteiligung von Statistikem an der Migrationsforschung der 1930er Jahre zu sehen. So beschaftigten Josef Griesmeier^^^ "vor allem die weiten und vielseitigen Zusammenhange mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, insbesondere der fortschreitenden Industrialisierung. Als Beispiel dafur konnen angeftihrt werden seine Beitrage tiber: 'Bevolkerungsentwicklung in Wiirttemberg' (Bericht des intemationalen Kongresses fiir Bevolkerungswissenschaften in Berlin, 1935); 'Die Pendelwanderung in Wiirttemberg' (Wiirtt. Jahrbticher fiir Statistik und Landeskunde, 1929); 'Wanderungsvorgange, Landflucht und Verstadterung in Wiirttemberg seit der Bauernbefreiung' (Reichsplanung 1936^^^) sowie iiber 'Statistische RegelmaBigkeiten bei politischen Wahlen' (Allg. Stat. Archiv, 1933)."^^^ Auf dem Intemationalen Bevolkerungskongress in Berlin (1935) war Josef Griesmeier unter dem Schwerpunktthema "Differenzierte Fortpflanzung" mit einem Referat uber den Zusammenhang von Geburtenhaufigkeit und Beruf/sozialer Stellung vertreten.^^^ SchlieBlich ist zu bedenken, dass es zeitgleich auch in anderen Landem Entwicklungen gab, in denen 'biologische' Grundannahmen und reflexiv-soziologische und empirisch gestiitzte Analysen Hand in Hand gehen konnten. Und dies trifft gerade fiir jene Gebiete der Bevolkerungswissenschaft zu, die in die administrative Sozialplanung hineinreichten.^^^ Die Frage lautet also eher, wie soziale Zusammenhange interpretiert wurden oder welche Formen soziologischer Vorannahmen ihnen zugrunde lagen. Noch 1950 versuchte Burgdorfer gemeinsam mit Elisabeth Pfeil seinen friiheren Arbeiten ein Image sozialwissenschaftlicher Reflexion zu verleihen, denn es sei ihm in erster Linie um den Einbezug "sozialer Faktoren" in die Statistik gegangen:
133
'3"* •3^
Kurt Horstmann (1909-1986) war 2. Vizeprasident (neben Hans Harmsen und Hermann Muckermann) der 1953 gegriindeten Deutschen Akademie fur Bevolkerungswissenschaft an der Universitat Hamburg e.V. (vgl. vom Brooke 1998: 29If.) und ebenso 2. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft fiir Bevolkerungswissenschaft. (gegr. 1952) (ebd., 315) sowie Vizeprasident der Intemationalen Union fiir das wissenschaftliche Studium von Bevolkerungsfragen (vgl. Fiirst 1979:179). Horstmann hatte Geographic und Geschichte in Gottingen und Berlin studiert; nach Gerhard Fiirst erhielt er nach der Promotion einen ersten Forschungsauftrag in "Standortkunde und Volksforschung", 1935 Eintritt in die Abteilung Burgdorfers im Statistischen Reichsamt (ebd., 178). Vgl. Horstmann 1952. Vgl. Horstmann 1969. Josef Griesmeier, geboren am 5. Marz 1891 in Wallersdorf (Landau), 1920 Mitarbeiter von Friedrich Zahn am Bayerischen Statistischen Landesamt, 1929 Eintritt in das Wiirttembergische Statistische Landesamt Stuttgart, insbesondere Arbeiten zur Wanderungsforschung und zur Entwicklung der Gemeinde-, Kreis- und Bezirksstatistik in Deutschland; ab 1936 Dozent fiir Statistik (ab 1941) Honorar-Professur der Universitat Tubingen, Leitung des Wurttembergischen Statistischen Landesamtes von 1939-1945, nach 1945 Leiter des Gebietes Bevolkerung und Kulturstatistik des Statistischen Amtes Baden-Wiirttembergs (bis 1956), nach 1945 Lehrauftrag fiir Statistik an der TH Stuttgart, u.a. Mitglied der Deutschen Akademie fiir Bevolkerungswissenschaft, Hamburg (vgl. Ander 1961, vom Brocke 1998). Zum Hintergrund der "Akademie fiir Landesforschung und Reichsplanung" siehe auch Gutberger ^1999: 59ff.,227ff.,321flf. Ander 1961:75. Vgl. Griesmeier 1936b. Zu diesem Themenschwerpunkt referierten bis auf eine Amerikanerin und einen Tschechen nur Deutsche (darunter: K.V Muller; H.W. Kranz, Siegfried Koller u.a. vgl. Harmsen/Lohse 1936). Vgl. hierzu die Planologie und Soziographie in der niederlandischen Tradition: Mackensen 2003b: 1 If
Die 'soziale Frage' im Fokus der Bevolkerungs- und Sozialstatistik
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"Erst bei der nachsten groBen Zahlung, die ich als Leiter der bevolkerungsstatistischen Abteilung des Statistischen Reichsamtes fiir das Jahr 1930 wieder vorzubereiten hatte, gelang es, ein ziemlich umfassendes Programm einer biologisch-soziologisch orientierten familienstatistischen Bestandsaufnahme durchzusetzen. Die Durchfuhrung des Zahlungswerkes muBte allerdings wegen der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise von einem auf das andere Jahr verschoben werden und kam dann endlich 1933 zu Durchfuhrung. (...) Bei der Ausarbeitung des familienstatistischen Programms fiir die Volkszahlung 1933 waren wir uns von Anfang an dariiber im klaren, daB in der Auswertung das Schwergewicht bei der Untersuchung der sozialen Faktoren der ehelichen Fruchtbarkeit liegen miisse; denn im Zeitalter der Geburtenbeschrankung, der willentlichen Kleinhaltung der Familien spielen die wirtschaftlich-sozialen Gegebenheiten und die daraus resultierenden Uberlegungen der Eheleute eine schlechtweg entscheidende Rolle fiir die Begrenzung der Kinderzahl. (...) Bei der Volkszahlung 1939 wiederholten wir die gleichen familienstatistischen Fragen."^^^ Friedrich Burgdorfer bot jenes wahrend des Nationalsozialismus im Statistischen Reichsamt zusammengetragene Material der bundesrepublikanischen Raumforschung zur Auswertung an. In diesen ersten Nachkriegsjahren diente die bundesrepublikanische Raumforschung als ein strategischer Brtickenkopf einer sogenannten "anthropologisch-soziologischen" Richtung der Soziologie:^^'^ "In landschaftlicher Hinsicht wurden die Ergebnisse nach 42 Gebietsteilen des damaligen Deutschen Reichs (Lander, preuBische Provinzen, bayerische Regierungsbezirke) aufgegliedert. AuBerdem wurden die Ergebnisse auch fiir die einzelnen 29 GroBstadte von liber 200 000 Einwohnem, und zwar jeweils in voller sachlicher Aufgliederung, d.h. in der gleichen Kombination der verschiedenen biologischen und sozialen Merkmale wie fiir das Reichsganze, ausgezahlt. Die Ergebnisse dieser auBerordentlich arbeitsreichen Auszahlung sind wahrend des Krieges vom Statistischen Reichsamt in einem umfangreichen Tabellenband - dem Band 554 der 'Statistik des Deutschen Reichs' - veroffentlicht worden. Zu einer textlich-kritischen Darstellung und Auswertung der Ergebnisse ist das Statistische Reichsamt - abgesehen von einigen Aufsatzen in 'Wirtschaft und Statistik', z. B. Jahrgang 1942, Heft 2 und 5 - infolge des Kriegs leider nicht mehr gekommen." (...) "Damit bin ich an dem Punkt angelangt, auf den es mir ankommt: Sie hinzuweisen auf dieses Quellenwerk und die in ihm ruhenden, noch nicht gehobenen Schatze fiir die anthropologisch-soziologische Raumforschung, im besonderen auch fiir die GroBstadtforschung und ganz allgemein fiir die volksbiologische Seite der Raumforschung."'^^ Burgdorfer versuchte nun im Rahmen des Arbeitskreises "Raum und Gesellschaft"^^^ der Hannoveraner Akademie fiir Raumforschung und Landesplanung seine empirischen Arbeiten zur Bevolkerungs- und Familienstatistik zu reanimieren:
138 139
Burgdorfer 1952:1 If Burgdorfer betonte, dass auch biologische Faktoren bei den Volkszahlungen "nicht vernachlassigt" wurden, diese seien aber von den "sozialen Faktoren" getrennt erhoben worden (ebd.). Vgl. Gutberger 2l999:467ff; dazu auch: Pinn/Nebelung 1990. Burgdorfer 1952:12. Zudem erganzte er diese Einbettung durch eine besondere Hervorhebung der sozialanthropologischen Begabungsforschung des Karl Valentin Muller (vgl. Burgdorfer 1952:18).
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Denkstile "Ich selbst hatte in den Jahren 1941/42 aufgrund des mir zunachst im Bayerischen Statistischen Landesamt vorliegenden Materials fiir Bayem eine erste Auswertung im Archiv fiir Rassen- und Gesellschaftsbiologie^'*^, Band 36, Heft 6, und eine von Oberregierungsrat W. Henninger bearbeitete amtliche Auswertung in der 'Zeitschrift des Bayerischen Statistischen Landesamts' 1942 veroffentlicht. Nach dem Erscheinen des Tabellenbandes mit den Reichsergebnissen bereitete ich eine groBere Schrift vor, die unter dem Titel 'Die unterschiedliche Fortpflanzung nach den Ergebnissen der deutschen Familienstatistik' in J. F. Lehmanns Verlag erscheinen sollte, die aber kurz vor der Fertigstellung in der Druckerei dem Krieg zum Opfer fiel. Einige Karten und graphische Darstellungen sind gerettet. Ein Teil davon wird hier wiedergegeben, um wenigstens an Hand einiger Beispiele zu zeigen, welche Auswertungsmoglichkeiten die deutsche Familienstatistik fiir die Zwecke der anthropologisch-soziologischen Raumforschung und der GroBstadtforschung etwa bieten konnte."*"^'
In diesen Selbstzeugnissen Burgdorfers iiber seine Tatigkeit wahrend des Nationalsozialismus fmdet sich auch einer der seltenen Hinweise auf die von ihm ins Leben gerufene "Forschungsgemeinschaft fiir Bevolkerungswissenschaft": "Neben dieser zusammenfassenden Darstellung bereiteten wir in der von mir geleiteten Forschungsgemeinschaft fiir Bevolkerungswissenschaft, der auch unsere verehrte Vorsitzende Frau Dr. Elisabeth Pfeil und Prof Dr. Mitgau angehorten, die weitere Auswertung dieses Stoffes in Form von Monographien vor. Wir dachten an zwei oder drei Reihen, namlich a) fiir die einzelnen Landschaften, b) fiir die einzelnen GroBstadte und nach GroBstadttypen geordnete Gruppen von GroBstadten, c) fiir einzelne Berufsgruppen und wichtige Einzelberufe"i42
Doch die Arbeiten der genannten Mitarbeiter, auf die wir spater im Detail eingehen werden, haben eine langere Vorgeschichte, die zunachst dargestellt w^erden soil. Diese Vorgeschichte beginnt mit der empirischen Sozialstrukturforschung des Statistischen Reichsamts wahrend der Weimarer Republik.
II. Bevolkerungs- und Sozialstatistik als Sozialdemographie II. 1 Miinchener Bevolkerungs- und Sozialstatistik In der Studie von Stefan Breuer zu den 'Ordnungen der Ungleichheit', die sich auch mit bevolkerungswissenschaftlichen Denkstilen deutscher 'Rechter' der Zwischenkriegszeit auseinandersetzte, gewinnt man den Eindruck, die 'Ordnung der Ungleichheit' sei eine "Bevolkerungsfrage" gewesen und eben keine der Organisation einer Gesellschaft. Nicht iiber sozialpolitische, sondem iiber bevolkerungspolitische MaBnahmen, so seine Analyse, sollte das 'Gesicht' einer Gesellschaft verandert werden: eugenische MaBnahmen und eine 'qualitative' Bevolkerungspolitik zielten auf die Trennung von 'WertvoUen' und 'Wertlosen' und fiihrten so zu einer ausgrenzenden Gesellschaftspolitik mit entsprechenden sozialen Folgen; eine quantitative Bevolkerungspolitik implizierte eine bestimmte Einstellung zu den sozialen Si"' ^^ Friedrich Burgdorfer war Mitherausgeber dieser Zeitschrift. '4' Burgdorfer 1952:12. '42 Burgdorfer 1952:17.
Bevolkerungs- und Sozialstatistik als Sozialdemographie
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cherungssystemen und schaffte so mehr oder weniger Handlungssicherheit fur einzelne Gruppen, eine bestimmtes bevolkerungspolitisches Ziel bedingte einen sozialen Lastenausgleich und griff so in den Prozess sozialer Stratifikation ein usw. ^^^ Es macht jedoch auch Sinn, gerade umgekehrt die Bevolkerungspolitik (und die sie stiitzende Demographie, Bevolkerungs- und Sozialstatistik) viel unmittelbarer als Ausdruck eines bestimmten sozialstratifikatorischen Denkens zu deuten. Einen Eindruck davon, was darunter zu verstehen ist, gewinnen wir, wenn wir nun die empirischen Arbeiten im Umfeld der Sozialstatistik um Friedrich Zahn betrachten. Nach der "Machtergreifung" verband Friedrich Zahn die Ergebenheitsadresse der administrativen Statistik an die neue politische Fiihrung mit der Betonung des Werts "einwandfreie(r) statistischer Erkenntnisse".^'*'^ Es sollte also Sachkompetenz sein, die den Bestand der administrativen Statistik im neuen Staat hatte sichem sollen. Charakteristisch war aber auch die Aufnahme der Rede von den generativen Bedingungen sozialer "Gemeinschaft", die die Statistik nun untersuchen sollte, beispielsweise im Rahmen der sogenannten Sippenstatistik. Der "einzelne Volksgenosse" bilde in Zusammenhang mit Familie und "Sippe" das Glied einer "biologischen Kette".^"^^ Die in der (geplanten) "Reichssippenkartei" erhobenen Daten sollten u.a. fur die eugenische Eheberatung eingesetzt werden. Wichtiger fur unsere Fragen nach einer "sozialen Demographie" ist hier aber ein anderer Aspekt: Diese Sippenstatistik setzte Zahn in einen deutlichen Kontrast zur "Statistik der Einzelfamilie", weil sie im Gegensatz zu letzteren auf die Aufklarung des "inneren Gefuge(s) des Volkskorpers" zielte. Gerade diesen Ansatz, ein "Gefuge" zu untersuchen und "Gemeinschaften" abzubilden, wurde aber wenig spater von Zahn auch bei der Beschreibung der "Soziologie der Landschaft" hervorgehoben: Auf Initiative von Reichsinnenminister Frick, so Friedrich Zahn, sollten die politischen Gebietseinheiten zukiinftig wirtschaftlich und landschaftlich "in geschlossene Gemeinschaften" gegliedert werden. ^"^^ Zahn griffin diesem Zusammenhang den Vorschlag von Rudolf Heberle^"^^ und Hans Pflug^'*^ auf, die in der Zeitschrift "Soziale Praxis" den raumlichen Aspekt neuer Gemeinschaftsbildung besonders hervorgehoben hatten. "Die Landschaft als der Lebensraum des Volkes und seiner Stamme gewinnt um so groBere Bedeutung in einem Volke, je enger dieser Lebensraum aus inneren und auBeren Griinden wird, und je dringlicher deshalb die Neuordnung des wirtschaftlichen und sozialen Gefuges zur Aufgabe gestellt ist. Der 'Mensch in der Landschaft', das 'Volk im Raum' wird dann Gegenstand einer umfassenden Gesamtfragestellung, eben der 'Landschaftsforschung, die eine Art 'Soziologie der Landschaft' darstellt. Allein bereits die Totalitat der Fragestellung macht es notwendig, die Statistik zur Landschaftsforschung weitgehend heranzuziehen. ZweckmaBig wird sich der Arbeitsplan nach der in den Statistischen Jahrbiichem gegebenen Art der Staatsbeschreibung richten und sich auf Land und Volk, Wirtschaft und soziale Verhaltnisse, materielle und geistige Kultur erstrecken. Es ist notwendig, daB nach einem solchen Arbeitsplan ein bestimmtes geographisches Gebiet in moglichst weitgehender Untergliederung nach kleineren Verwaltungsgebieten im gan143 144 145 146 147 148
Vgl. Breuer200L Vgl. Zahn 1935:202. Vgl. Zahn 1935:100f. Vgl. Zahn 1935:135. Vgl. Heberle 1934. Vgl. Pflug 1934.
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Denkstile zen und nach Teilen, vor allem auch in der Beziehung und Wechselwirkung, der aktiven und passiven Erganzung der Telle unterelnander, tabellarlsch, kartographlsch und textllch untersucht wird. (...) Elne solche Darstellung wlrd zeigen, wle welt die polltischen Gebletselnheiten auch In wlrtschaftllcher und landschaftlicher Hlnsicht geschlossene Gemelnschaften slnd, welches die Elgenwerte des flachen Landes, der Klein-, der GroBstadte slnd."^^^
Die amtliche Statlstik wurde damit von Zahn in den Rahmen einer "samtliche Lebensbereiche des Volkes umfassende(n) Planungswissenschaft und Planungspolitlk" geriickt.^^^ Neben Untersuchungen zum "Geldwert des Menschen" (u.a. Erziehungskosten) zahlten zum Modell dieser Planungswissenschaft^^^ umfassende Statlstiken der Lebenshaltungskosten und der Ernahrung. Das Programm beinhaltete zuglelch sozial-, bevolkerungs-, und blldungspolitische Intentlonen. Friedrich Zahn stellte heraus, dass Untersuchungen zur sozialen Lage von Sozialschlchten einerseits Daten zur Erhaltung der "biologlschen Existenz des Volkes" (Bestandserhaltung) lieferten; die Untersuchungen seien aber auch deshalb notwendig, urn den "nach dem Privatinteresse (...) fehlgeleiteten sozialen Aufstlegswillen" ausschlieBlich in die Hande des totalen Staates iibergehen zu lassen, um "hochstqualifizierte Arbeitskrafte" zu selektieren und die "negative Auslese" zu minimieren. Auch wenn bereits in der merkantilistischen Bevolkerungs- und Wirtschaftspolitik unter "Bevolkerung" nicht Personen, sondem planmaBige Vorgange der Ansiedlungspolitik verstanden wurden, so hatte der hier vertretene Planungsansatz m.E. viel weiterreichende sozialpolitische Implikationen, namlich die der Steuerung sozialer Ungleichheit und sozialer Mobilitdt. Die Entwicklung eines solchen Programms hatte sich bereits in der Endphase der Weimarer Republik angedeutet. Um dies naher zu erlautem, soil hier zunachst ein Mitarbeiter von Friedrich Zahn, Josef Nothaas, kurz vorgestellt werden. Josef Nothaas zahlte zu den wenigen Wissenschaftlem in der Weimarer Republik, die sich empirisch mit der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft auseinandersetzen: Josef Nothaas wurde am 25. Oktober 1891 in Rotz / Oberpfalz geboren. Nach einem Studium (ab 1910) der Philologie und Volkswirtschaft an den Universitaten Mtinchen, Berlin und Wurzburg wurde Nothaas 1914 Kriegsteilnehmer. Er promovierte 1920 mit einer Studie des Titels "Die Kriegsbeschadigtenfiirsorge unter besonderer Beriicksichtigung Bayems" zum Doktor der Staatswissenschaften an der Universitat Munchen. Seit demselben Jahr war Nothaas als Mitarbeiter des Bayerischen Statistischen Landesamts "hauptsachlich mit sozialstatistischen Arbeiten beschaftigt"; mit der Griindung des Landesarbeitsamtes Bayem (1928) wurde er "mit seinem Hauptaufgabengebiet von diesem (dem Landesarbeitsamt^^^) iibemommen". Zuvor hatte Nothaas im Auftrag der Arbeitsgruppe 1,2 des Reichs-Enquete-Ausschusses (=Untersuchung der Erzeugungsund Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft)^^^ in den Jahren 1926 /1927^^"^ das "Pro-
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Zahn 1935:135. Vgl. Zahn 1935:135. Den Ausdruck Planungswissenschaft bzw. Planungsforschung finden wir auch bei einer Arbeitsgruppe zur Gemeinschaftsarbeit OstpreuBen - Wiirttemberg. Daran beteiligt: Gunther Ipsen (vgl. zu den Hintergrunden Gutberger ^1999:8,117, 335. Paul Flaskamper, ein Vertreter der 'sozialwissenschaftlichen' Statistik, bezog sich ebenfalls auf Arbeiten aus der "Planungswissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft", die gleichnamige Zeitschrift wurde vom Siedlungsbeauftragten der NSDAP herausgegeben (vgl. Flaskamper 1937:49). Etwaige Beziige zu dem Begabungsforscher Albert Huth, der ebenfalls in dieser Zeit als "Referent fur Berufspsychologie" im Landesarbeitsamt Bayem beschaftigt war, konnen nicht belegt werden (vgl. zu Huth, K.V. Muller und Wilhelm Hartnacke auch: Drewek 1989, hier: 198).
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blem der sozialen Wanderungen, d.h. der Wanderungen von einer sozialen Schicht zur anderen und hier insbesondere wieder mit dem sozialen Auf- und Abstieg im deutschen Volk" untersucht.^^^ Diese Formulierung zeigt, dass Nothaas unter "sozialen Wanderungen" nicht nur Migrationsbewegungen, sondem Prozesse sozialer Mobilitat verstand. Genauer gesagt, schienen bei Nothaas die quantitative Bevolkerungsentwicklung verschiedener "sozialer Gruppen", Migrationsprozesse und die Vorgange der sozialen Stratifikation auf ein und derselben begrifflichen Ebene zu liegen. Der schlieBliche Erkenntnisgewinn der Arbeiten sollte in der Feststellung der (je beweglichen) GroBe von "Bevolkerungsgruppen", d.h. ihrer Quantifizierung liegen: "Die wirkliche Entwicklung einer beruflichen oder sozialen Gruppe wird einmal durch ihre biologische Entwicklung (Geburten, Sterbefalle), dann aber auch, wenn man von der fur Deutschland nicht sehr ins Gewicht fallenden Wanderung uber die Landesgrenzen absieht, durch die Abwanderung nach anderen beruflichen oder sozialen Schichten bzw. Zuwanderung aus solchen bestimmt. Erst durch die Erforschung dieser Entwicklungsfaktoren ist ein Bild von dem Werden und Wachsen bestimmter Bevolkerungsgruppen zu gewinnen."'^^ Nothaas fiihrte im Rahmen der Enquete umfangreiche empirische Arbeiten durch; die eigenen Erhebungen betrafen die soziale Herkunft "von rund 20 000 bekannten Zeitgenossen, die in einer biographischen Sammlung aufgefiihrt waren und eine Untersuchung des beruflichen Schicksals des Nachwuchses der Further Arbeiterschaft, auf Grund des Urmaterials der Volks- und Berufszahlung von 1925."'^^ Der spatere Burgdorfer-Mitarbeiter und Genealoge Johann Hermann Mitgau, der 1932 die Nothaasche Untersuchung in der Zeitschrift "Sociologus" rezensierte, stellte die zu den Erhebungen zusatzlich herangezogenen Quellen wie folgt dar: "Zugrundegelegt werden sollten bereits vorhandene Erhebungen, die mittelbar oder unmittelbar Material bieten zur Feststellung der sozialen Herkunft einzelner Bevolkerungsgruppen, so z.B. der Schiiler und Studierenden aus der Schul- und Hochschulstatistik, zur Feststellung des 'sozialen connubiums' aus der spezifisch bayerischen Statistik der EheschlieBungen, Ergebnisse aus der Arbeitsnachweis- und Berufsberatungsstatistik und unmittelbar zahlreiche private Sonderarbeiten
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"Aufgrund eines Reichsgesetzes wurde 1926 ein Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft eingesetzt. Die unter dem Namen Reichswirtschaftsenquete bekanntgewordene Institution hatte in fiinf Unterausschiissen insbesondere die Wandlungen in der Struktur der deutschen Wirtschaft von 1913 bis 1926 zu untersuchen" (vgl. Nothaas 1948:19). Unter einer Enquete verstand Nothaas jene Untersuchungsform, die "zur Erforschung wirtschaftlicher und sozialer Tatbestande, insbesondere von Notstanden" benutzt wurde. Methodisch stelle sie eine "Kombination von Statistiken und textlichen Darstellungen, Befragungen von Einzelpersonen, Gutachten anerkannter Autoritaten auf dem betreffenden Gebiet usw." dar (ebd.). Die erste Abhandlung wurde 1927 abgeschlossen und unter dem Titel "Sozialer Auf- und Abstieg im deutschen Volk" von Nothaas 1930 veroffentlicht. Vgl. Nothaas 1930. Nothaas 1934:473. Nothaas 1948:60. Im Vergleich zu den "Sippschafts"-Untersuchungen wahrend des Nationalsozialismus waren dies eher geringe GroBen. So wurden z.B. in den Sippschaftsuntersuchungen in Thiiringen 22 000 Bauem, 12000 Beamte und Angestellte der Staatsregierung, 14 000 Handwerker usw. erfasst (vgl. HoBfeld 2004).
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Denkstile wie z.B. die des Vereins fur Sozialpolitik iiber das Berufsschicksal der Industriearbeiterschaft ('Schriften' 133, 135, 153, 1910-15)."i58
Die "Initiative zur Erforschung dieses bisher wenig beachteten, aber sehr bedeutsamen Problems" ^^^ sei damals von dem Statistiker Friedrich Zahn ausgegangen. In den nachfolgenden Jahren wurden "verschiedene neue Untersuchungen" auf demselben Gebiet durchgefuhrt.^^^ 1931 sollten die sozialanihropologischen Arbeiten von K.V. Mtiller zum Auf- und Abstieg der Arbeiterklasse auch mit dem Argument begriiBt werden, dass seine Resultate schlieBlich bereits durch die Reichsenquete bestatigt worden seien.^^^ Die Bedeutung Reichsenquete iiber die Struktur des deutschen Volkes fur den nationalsozialstischen Staat^^^ sah Nothaas im Riickblick von 1934 nun gerade darin, dass "im neuen Reich, in dem die Blutsgemeinschaft aller Deutschen die wirtschaftlichen und sozialen Gegensatze innerhalb des deutschen Volkes ausgleichen und iiberwinden soil, eine Untersuchung wieder aktuell wird, deren Ergebnisse die enge Verbundenheit der verschiedenen sozialen Schichten des deutschen Volkes zahlenmaBig bestatigen."^^^ "Bei dem starken Wechsel zwischen den sozialen Schichten, und zwar nicht bloB zwischen sozial gleichstehenden, sondem auch zwischen hoheren und niedrigeren kann von einer kastenmaBigen AbschlieBung der sozialen Schichten gegeneinander im deutschen Volke heute zweifellos nicht mehr die Rede sein. Angesichts der engen Blutsverbundenheit aller sozialen Schichten untereinander erscheint es femer geradezu widemattirlich, die in den einzelnen Schichten des Volkes bestehenden Verschiedenheiten hinsichtlich Besitz, Einkommen, Bildung usw. als ausschlaggebend fiir die Entwicklung eines Volkes anzusehen. Die Zugehorigkeit zu einer sozialen Schicht kann bereits im Leben eines Menschen ein- oder mehrmals wechseln, jedenfalls besteht aber die Wahrscheinlichkeit, daB dieses im Laufe mehrerer Generationen geschieht. Unter diesem Gesichtspunkt verliert der Kampf der sozialen Schichten gegeneinander seinen Sinn und es erscheint als ein Wiiten gegen sein eigenes Fleisch und Blut, wenn ein Volksgenosse andere soziale Schichten bekampft, denen zwar nicht er angehort, aber seine Eltem oder GroBeltem angehort haben und denen seine Kinder oder Enkel moglicherweise wieder angehoren werden. Noch ein Wort zum Problem des sozialen Aufstiegs. Zweifellos stellt der soziale Aufstieg einen gewissen AusleseprozeB dar. AUerdings ist seine Auslese nicht so streng, daB immer nur physisch und psychisch hochwertige Elemente in die Hohe gelangen. Vielmehr sind es im weitesten Sinne die fur die jeweilige Situation im Gesellschaftsleben begabten oder anpassungsfahigen Elemente, wobei es sehr wohl vorkommen kann, daB diese Begabung sich nicht mit physischer und psychischer Hochwertigkeit deckt. Es sei nur als Beispiel an manche der durch geschickte Ausnutzung der Kriegs- und Inflationskonjunktur Reichgewordenen erinnert. Immerhin mag in der Mehrzahl der Falle diese Begabung zum Aufstieg mit physischer oder psychischer Hochwertigkeit oder wenigstens Uberdurchschnittlichkeit zusammenfallen. Ist dem aber so, so ist es auch wahrscheinlich, daB in den Oberschichten der Prozentsatz der hochwertigen Elemente groBer ist als in den unte-
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^2 63
Mitgau 1932b:93. Vgl. Nothaas 1934:473. Friedrich Zahn veroffentlichte ebenfalls entsprechende Beitrage: vgl. u.a. Zahn 1924, 1929, 1930. Vgl. hierzu Ferdinand 2005:25, die auf entsprechende Stellen bei Lenz (1931) verweist. Im Mai 1930 wechselte Nothaas schlieBlich ins Reichsarbeitsministerium nach Berlin (dortige Aufgabengebiete: Auswertung der Statistiken der Arbeitsvenvaltung, sozialstatistische Arbeiten). An dieser Institution erreichte er 1934 die Position eines Regierungsrats. Nothaas 1934:473.
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ren. Verfehlt ware jedoch, hieraus die Minderwertigkeit der unteren Schichten zu folgem. Dem widerspricht schon die Tatsache, daB der AusleseprozeB kein einmaliger oder abgeschlossener ist, sondem ununterbrochen fortdauert, also immer noch Begabte in den unteren Schichten vorhanden sein miissen. Und zwar sind die Aufstiegsfalle, wie wir gesehen haben, so haufig, daB man hierin eine normale Erganzung der oberen Schichten sehen kann. Die unteren Schichten sind also, wenigstens bei gesunden und unverbrauchten Volkem, keineswegs das Produkt einer negativen Auslese, sondem das groBe Reservoir des Volkes. Es ist auch nicht so, daB alle Hochwertigen aus den unteren Schichten auch wirklich einmal emporsteigen."'^^ Die Untersuchung der sozialen 'Verbundenheit' sollte also anhand dessen untersucht werden, was wir heute als intergenerationelle und intragenerationelle Mobilitat, als Auf- oder Abstiege im Verlaufe der eigenen Berufskarriere^^^ bezeichnen. Die 'unteren' Schichten stellten das Bevolkerungsresevoir fur die positive Auslese innerhalb einer vertikal aufgebauten Ordnung. Ein Bevolkerungsreservoir wurde einerseits zur Aufrechterhaltung der Ordnung vorausgesetzt, andererseits erschien die prinzipielle Partizipation an diesem Austauschprozess als verbindendes Element sowohl zwischen den 'Schichten' als auch zwischen den Generationen. Nothaas betonte deshalb auch zusatzlich die 'generationelle' Randbedingung dieser sozialen Prozesse. Hier lag der Bezugspunkt zum 'Blut', zu einer "Blutsgemeinschaft" aller Deutschen; obwohl mit "Rasse" nicht in Verbindung stehend, lieB sich eben diese Tonung fur semantische Anpassungen an die NS-Ideologie (wie wir es spater in J.H. Mitgaus Beitragen zur "Sippenforschung" sehen werden) nutzen. Diese 'generationelle' Randbedingung war zudem eine, die die wissenschaftliche Beobachtung und Einordnung erleichterte, die aber die soziale Realitat auf der Handlungsebene des Individuums gar nicht mehr beruhrte. Vielmehr erschien das Individuum nach der Geburt gleichsam sukzessive und unaufhaltsam auf dem Wege, sich aus den sozialen Verhaltnissen der Eltem zu losen. Nothaas sprach deshalb von einer 'passiven Schichtzugehorigkeit' von Kindem bzw. Jugendlichen. Erst deren spatere soziale Mobilitat mache dann die generationell verstandene Vergemeinschaftung moglich: "Die Zugehorigkeit zu einer sozialen Gruppe wird jedem Volksgenossen als mehr oder minder befriedigendes Geburtstagsgeschenk bereits in die Wiege gelegt. SchicksalsmaBig wird jeder in eine soziale Schicht hineingeboren und gehort ihr zunachst gewissermaBen passiv an. Erfolgen Anderungen in der sozialen Zugehorigkeit der Eltem, so wird auch das Kind hiervon mitbetroffen. Erst im weiteren Lebensverlauf wird der Mensch dann allmahlich aktives Mitglied entweder der gleichen sozialen Schicht wie seine Eltem oder er wandert in andere soziale Schichten ab.'"^^ "Das vorhandene statistische Material ermoglicht noch keinen Itickenlosen Uberblick iiber Umfang und Richtung der sozialen Wandemngen. Immerhin zeigen zahlreiche Erhebungen die Haufigkeit der Ubergange von einer sozialen Schicht in die andere und die sich hieraus zwangslaufig ergebende Blutsverbundenheit der verschiedenen sozialen Gmppen untereinander. Einige der hauptsachlichsten sozialen Wandemngen im deutschen Volk seien im folgenden kurz skizziert."'^^
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Nothaas 1934:477. Vgl. Hradil 2002:368. Nothaas 1934:473.
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Denkstile
Aktuell blieben die Ergebnisse auch nach dem Nationalsozialismus. In seiner Funktion als "Oberregierungsrat im Bayerischen Staatsministerium fur Arbeit und soziale Fiirsorge"^^^ veroffentlichte Josef Nothaas 1948 eine als Heft 4 in der Schriftenreihe "Neue Soziale Praxis" herausgegebene "Einfahrung in die Sozialstatistik". In dieser Einfiihrung bezog er sich auf die "Hauptergebnisse" der alten Schichtungsuntersuchung von 1926/27, wobei er besonders die noch einmal gewachsene soziale Mobilitat zwischen den "Schichten" hervorhob: "Im deutschen Volk vollzieht sich zwischen den einzelnen sozialen Schichten ein starker Wechsel, und zwar nicht bloB zwischen sozial Gleichstehenden, sondem auch zwischen hoheren und niedrigen Schichten. Von einer kastenmaBigen AbschlieBung der einzelnen sozialen Schichten gegeneinander kann also nicht die Rede sein. Gegeniiber fruher hat in der Gegenwart der Klassenwechsel unverkennbar zugenommen. Der Grund hierfiir liegt darin, daB die Momente, die friiher die Zugehorigkeit zu den einzelnen Schichten bestimmenden Momente wie z.B. standische Gebundenheit verschwunden sind. Heute ist die Wahl des Berufes, die in erster Linie die Klassenzugehorigkeit begriindet, prinzipiell jedermann freigestellt, tatsachlich aber, auBer von der personlichen Eignung, vorwiegend von den gegebenen wirtschaftlichen Verhaltnissen abhangig (...) Im iibrigen ist die Erganzung der sozialen Schichten, insbesondere Art, AusmaB und Richtung des Wechsels zwischen den sozialen Schichten und Klassen stark abhangig von der jeweiligen Struktur und Entwicklung der Bevolkerung und Wirtschaft. So hat sich z.B. die Erganzung der Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten nicht unwesentlich geandert. Ein und zwei Menschenalter vor dem ersten Weltkrieg erganzte sich die Arbeiterschaft noch stark uberwiegend (70-80%) aus der bauerlichen Bevolkerung und dem Handwerk, den sogenannten traditionellen Schichten, die Erganzung aus der eigenen Klasse sowie aus hoheren Schichten kam erst in zweiter Linie in Betracht.'"^^ Aus der im Jargon eines "Blutsflusses" scheinbar nahegelegten biologischen Fundierung sozialer Mobilitat war wieder ihr sachlicher Gehalt hervorgekehrt worden. Namlich, dass sich GroBe und Zusammensetzungen von "Schichten" auch durch die beruflichen Herkiinfte der sie tragenden Bevolkerungsgruppen bestimmen lassen. Auch hier zeigte sich: Soziale Schichtung nicht aber 'Rasse' war das Thema der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungswissenschaft - daran konnten auch die zeitweiligen semantischen Umbauten wenig andem. II. 2 Die Frankfurter Schule der sozialwissenschaftlichen Statistik Die "Frankfurter Schule der Sozialwissenschaftlichen Statistik" war insoweit mit den Zahnschen Ansatzen verwandt, als sie den umfassenden Anspruch eine soziale Arithmetik zu betreiben, teilte. Anhand der Schrift "Bedeutung der Zahl fiir die Sozialwissenschaften" (Paul Flaskamper) konnen wir Einblicke gewinnen, auf welche Weise "Sozialwissenschaft" zu Beginn der 1930er Jahre von jenen Fachvertretem der Statistik wahrgenommen wurde, die spater die "Frankfurter Schule der sozialwissenschaftlichen Statistik" bildeten. Zunachst
Nothaas 1934:474. Nothaas konkretisierte dann, dass "Bauemblut" in andere Schichten "eingedrungen" sei; dass eine Umschichtung von den selbstandigen in die unselbstandigen Schichten stattfinde und dass das "Streben nach sozialem Aufstieg" zugenommen habe (ebd., 475). In seinem Lebenslauf bezeichnete er die Tatigkeit im Bayerischen Staatsministerium als "Referent fiir Statistik". Zwischenzeitlich (Herbst 1943) war Nothaas an das Versorgungsamt in Landshut versetzt worden (vgl. den "Lebenslauf des Verfassers" in Nothaas 1948:164). Nothaas 1948:60f
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zeichnete ihr Hauptvertreter wahrend des Nationalsozialismus, Paul Flaskamper,^'^^ die Kontroverse zwischen "Vitalisten" (bei ihm wurden darunter Anhanger einer faktisch geringen Quantifizierbarkeit biologischer Daten verstanden) und den "Mechanisten" (die Vorstellung, eine irgendwann endgiiltige Quantifizierung aller biologischen Vorgange zu erbringen) in der Biologic nach.^^^ Flaskamper, der bereits 1913 ein Werk zur Lebensphilosophie^^^ veroffentlicht hatte, bettete diese Auseinandersetzung nun in sein Konzept einer "sozialwissenschaftlichen" Statistik ein. Er sah sich ganz auf der Seite der "Vitalisten": Die Sozialwissenschaft verfolge, so seine Definition, einen "ganzheitlichen" Ansatz und suche nach "organischen Sinnzusammenhangen". Auf spezifische Weise rekurrierte er auf die Diskussion in der Soziologie bzw. in der Soziographie, namentlich auf Theodor Geiger und auf Ferdinand Tonnies.^^^ Doch wichtiger war ihm Geiger. Theodor Geiger hatte sich bckanntlich mit jcnen Fragen der sozialen Schichtung auseinandergesetzt, die nun - im Jahr 1934 auch die administrative Statistik problematisierte.^'^'^ Sozialwissenschaftliche Statistik habe sich aus praktischen Erwagungen diesen Fragen zuzuwenden, aber in bloBer Untersuchung mengenstatistischer Zuordnungen in historischen Ldngsschnitten. Flaskamper: "Das Wesen dieser Dinge ist niemals in einer mathematischen Formel ausdrlickbar, und zwar nicht wegen der Kompliziertheit der Tatbestande, die vielleicht gar nicht einmal immer vorhanden ist, sondem grundsatzlich. Das sozialwissenschaftliche Denken (und vielleicht schon das biologische) ist grundsatzlich anderer Art wie das der anorganischen Naturwissenschaften. (...) Ganzheitliche Begriffe sind eben, worauf Geiger in seinem oben erwahnten Buch immer wieder hinweist, keine rechenbaren GroBen (...) So konnen wir doch, auch wenn die Begriffe der sozialen Erscheinungen kein quantitatives Element enthalten, die Verwirklichungen der Begriffe im sozialen Leben zahlen, und diese Zahlen sind ein, wenn auch noch ganz primitiver, aber doch schon wesentlicher AufschluB, namlich iiber die Machtigkeit, iiber das Mengengewicht (Geiger) der Erscheinung. Wenn wir z. B. den Begriff der sozialen Schicht defmiert haben als die Gesamtheit von Personen einer bestimmten Mentalitat (deren genauere Beschreibung Aufgabe der Soziologie ist), so ist es doch zweifellos eine wichtige und wesentliche, der Erkenntnis gestellte Aufgabe, das groBenmaBige Gewicht der einzelnen Schichten durch Zahlung der zu ihnen gehorigen Personen festzustellen, ihren absoluten und relativen Anteil an dem gesamten Volkskorper zu messen. So ist es weiterhin eine wichtige Aufgabe, die eine wesentliche Seite des Phanomens
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Daten zu Person und Werk: Paul Flaskamper, geboren 1886 in Leipzig, Studium der Biologie, Philosophic und Sozialwissenschaften in Berlin und Mtinchen, 1910 Promotion in Miinchen, akademischer Lehrer: Hans Driesch, in den 1920er Jahren Mitarbeiter im Hamburgischen Statistischen Landesamt (1923-25), seit 1925 am Statistischen Seminar der Universitat Frankflirt/M., 1928 Habilitation bei Franz Zizek mit einer Studie zur "Theorie der Indexzahlen", 1933 wurde Flaskamper Nachfolger von August Busch im Stadtischen Statistischen Amt der Stadt Frankfurt/M., im Marz 1933 Eintritt in die NSDAP, 1935 Teilnahme am Intemationalen Kongress fur Bevolkerungswissenschaft in Berlin, zahlreiche Veroffentlichungen, darunter "Mathematische und nichtmathematische Statistik" in dem von Friedrich Burgdorfer hrsg. Band "Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand". (1940), "Allgemeine Statistik" (erganzt 1949 mit dem Untertitel: Theorie, Technik und Geschichte der Sozialwissenschaftlichen Statistik. Berichtigter Nachdr. d. 2., durchges. u. erg. Aufl., 1941-1957 ordentlicher Prof, fur Statistik in Frankfurt/M., 1962 "Bevolkerungsstatistik", u.a. Ehrenmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft und Mitglied des Intemationalen Statistischen Instituts. Flaskamper starb 1979 (vgl. Grohmann 1979:401ff.; vom Brocke 1998, Wietog 2001, Pinwinkler 2003). Vgl. Flaskamper 1934:60. Vgl. Flaskamper 1913. Vgl. Flaskamper 1934:58f Es geht mir hier nicht darum, die Geigersche Schichtungssoziologie zu diskreditieren, sondem zu zeigen, wie Geigers Erkenntnisse in der Sozialstatistik des NS-Staates verarbeitet wurden.
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Denkstile beleuchtet, zu wissen, in welchem AusmaB die sozialen Schichten sich im Laufe der Zeit vergroBert Oder verkleinert haben, wie die soziale Struktur der Bevolkerung sich zahlenmaBig verandert hat. Denn das laBt Rtickschliisse zu auf die in den sozialen Schichten wurzelnden Entwicklungskrafte. Aber selbst, wenn es gelingen sollte, die zahlenmaBige Entwicklung der sozialen Schichten in eine exakte Formel zu bringen (was grundsatzlich durchaus moglich ist), so sind damit, so wichtig die Einsicht auch sein konnte, die entscheidenden Begriffe doch nicht quantifiziert."^"^^
Die Untersuchung des groBenmaBigen Gewichts einzelner sozialer Schichten lasse gleichwohl dann auch "Riickschlusse (...) auf die in den sozialen Schichten wurzelnden Entwicklungskrafte" zu. Die Quantifizierung verschaffe dem Forscher generell "genauere Vorstellungen tiber GroBe, Struktur und Wachstum der sozialen Massenerscheinungen und hilft uns, soziale GesetzmaBigkeiten zu erkennen."^''^ Eben deshalb zerfielen fiir Flaskamper "die Begriffe der statistischen Methodenlehre (...) in sachlogische und zahlenlogische. Wahrend zu letzteren die rein mathematischen Begriffe wie Mittelwert, StreuungsmaB usw. gehoren, umfassen die ersteren einmal die Begriffe, die dazu dienen, die an und fur sich nicht restlos quantifizierbaren sozialen Tatbestande erst zdhl- und messbar zu machen.''^'^'^ Dieses geschehe "durch Ziehen scharfer begrifflicher Grenzen in dem von flieBenden Ubergangen erfiillten Bereich der sozialen Tatsache."^'^^ In der Schichtungsforschung betraf dies den Versuch der Eingrenzung 'sozialer Schichten'. Das Problem blieb dabei der Rekurs auf eine naturwissenschaftliche Vorstellung sozialer Klassifikation bzw. Variation. Die "Entwicklungskrafte" des Sozialen - so Flaskamper seien dynamischer Natur, so dass sich die statistische Wissenschaft zu ihrer Beschreibung nicht auf das Modell der anorganischen Naturwissenschaft oder der Mathematik^"^^" beziehen konne, die dahin strebe "jede Qualitat in Quantitat aufzulosen", sondem auf eine 'Lebenswissenschaft' (womit besonders die Biologic, aber auch eine soziobiologisch und eugenisch argumentierende Soziologie) gemeint war. In der Ablehnung des "Pharisaismus der Zahl" sah Flaskamper sich mit Friedrich Zahn einig, der dafiir pladiert habe, von "der 'Statik' der Statistik zur Dynamik der realen Tatsachen uberzugehen."^^^ So fehlte dann auch nicht der Hinweis auf Hans Freyers Versuch der Abbildung sozialer "Wirklichkeit": "Und zwar hangt die grundsatzliche Schwierigkeit zusammen mit dem kontinuierlichen Charakter der sozialen Tatsachen und Begriffe. Alles Quantitative ist starr und unelastisch, die Tatsachen des sozialen Lebens aber sind flieBend. Die Gesamtheit der einer Sphare der sozialen Wirklichkeit angehorigen Begriffe bilden immer oder fast immer ein qualitativ abgestuftes Kontinuum, aus dem sich die Teilbegriffe nur gewaltsam herauslosen oder, bildlich gesprochen, herausschneiden lassen. Es besteht die Schwierigkeit, daB, wie Freyer sich ausdriickt, 'die gesellschaftlichen Zusammenhange zum groBen Teil keine fest begrenzten, randmaBig abgeschlossenen Gebildesind.'"i8i 175 176 177 178 179
Flaskamper 1934:6 If. Vgl. Flaskamper 1934:65. Vgl. Flaskamper 1934:70 (Herv. d. H.G.). Vgl. Flaskamper 1940a:39. Im Unterschied zu diesem Ansatz trat der Statistikers Wilhelm Winkler gerade fur eine "Gesellschaftsstatistik" auf der Grundlage mathematischer Modellbildung ein. Zum Verhaltnis Winklers zur "Frankfurter Schule" vgl. Pinwinkler 2003:262flf. Vgl. Flaskamper 1934:63. Vgl. Flaskamper 1934:64.
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Auf dem Intemationalen Bevolkerungskongress in Berlin zeigte sich, dass Flaskamper die Bevolkerungsstatistik zu einer empirischen Sozialstrukturforschung weiterentwickeln wollte und bei diesem Unterfangen auch die Nahe zu Soziologen und anderen Sozialwissenschaftlem^^^ suchte. Interessant ist, dass Flaskamper sich nun aber gerade jenen sozialen Gruppen aus demographischen Interesse zuwandte, die tiber eine ihrer auBeren Berufsorganisation geschuldeten Homogenitat verfugten: den Beamten generell wie besonders dem verbeamteten Erziehungspersonal: "Eine weitere Forderung, die ich hier aufstellen mochte, geht dahin, die groBen statistischen Massenbeobachtungen zu erganzen durch statistische Sonderuntersuchungen, die es ermoglichen, mehr in die Tiefe zu gehen, als das bei Massenuntersuchungen natumotwendig moglich ist. Ich denke dabei an monographische oder enquetemaBige Untersuchungen iiber die Fruchtbarkeit verschiedener, scharf abgegrenzter sozialer Schichten oder Gruppen wie Volksschullehrer, Lehrer hoherer Schulen, HochschuUehrer, untere, mittlere und hohere Beamte, vielleicht auch Arbeiter verschiedener Wirtschaftszweige usw. Besonders die beamteten Berufe lassen sich scharf abgrenzen und sind verhaltnismaBig gut zu erfassen (...) Es ware aber notig, sie (derartige Untersuchungen, H.G.) zur Gewinnung vertiefter Aufschliisse iiber die Psychologic der Geburtenriickgangstendenzen und der differenzierten Fortpflanzungen moglichst weitgehend auszugestalten. Auch die amtliche Statistik muBte sich dieser Dinge in groBerem Umfange als bisher annehmen. Genaue Fragebogen, die in viele Einzelheiten eindringen konnten, waren hierbei in Zusammenarbeit mit Psychologen und Soziologen auszuarbeiten. Hierdurch waren zuverlassigere Anhaltspunkte zu gewinnen fiir die Verursachung des Geburtenriickgangs als auf anderem Wege. Ebenso waren hierdurch Aufschliisse dariiber zu gewinnen, in welchem AusmaBe die geburtenpolitischen MaBnahmen der Regierung auf steuerlichem oder sonstigem Gebiete (Ehestandsdarlehen usw.) sich in den einzelnen Schichten ausgewirkt haben. In vielen Fallen konnte man diesen Fragebogen auch erweitem durch Fragen nach der Kinderzahl der vorhergehenden Generation oder Generationen und so noch tiefere Einblicke vermitteln. Auch mehr qualitative Fragen, die in den groBen Massenerhebungen schwer oder gar nicht eingefiigt werden konnen, mogen hier gestellt werden, so solche nach Erbgesundheit, rassischen Merkmalen usw."'^^ Im voUigen Kontrast zum bisher Dargestellten distanzierte sich Paul Flaskamper nach 1945 in seinem Werk "Bevolkerungsstatistik" (1962) von jeder Form der Schichtungsforschung. Er bezeichnete sie nun - im Unterschied zum weiter angelegten Sozialwissenschaftsbegriff seiner Bevolkerungsstatistik - als eine dezidierte "Lehre von den sozialen Schichten und den Beziehungen zwischen ihnen, eine Disziplin, die mit der Soziologie verwandt oder teilweise sogar identisch ist".^^^ Auch handelte die Bevolkerungsstatistik fur ihn nun nicht mehr von "organischen Gemeinschaften", sondem von aggregathaften Begriffen ("Summe von Individuen").^^^ Flaskampers Vorstellungen des Sozialen erschienen gleichwohl weiterhin der Entsprechende Versuche gab es in der Kommunalwissenschaft und in zahlreichen weiteren sozialwissenschafdichen Einzeldiszplinen: vgl. Gutberger ^1999. Flaskamper 1936b:416f Ziel war es, bevolkerungspolitische Politikberatung zu betreiben: "Denn die statistische Zahl ist das MaB des organischen und sozialen Geschehens, sie vermittelt sichere Urteile und bildet zuverlassige Grundlagen fiir das zielsichere Handeln des Politikers iiberhaupt und des Bevolkerungspolitikers im besonderen" (ebd., 417). Flaskamper 1962:6; vgl. dazu auch Flaskamper 1959:13. Vgl. Flaskamper 1962:37. Wilhelm Winkler betonte dann auch in seiner Rezension der "Bevolkerungsstatistik", dass Flaskamper nun "im Einklang mit der modemen AufFassung (unter Bevolkerungsstatistik..) 'eine reine Formalwissenschaft' verstehe" (vgl. Pinwinkler 2003:426).
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Tradition der "Biopolitik" verhaftet^^^, wobei fur ihn allerdings zur "Bevolkerungsstatistik als Glied der Sozialwissenschaftlichen Statistik nur solche biologischen Tatbestande (gehorten), die eine sozialwissenschaftliche Tragweite haben."^^^ Durch die Schilderung dieser Hintergriinde sollte auch verdeutlicht werden, warum Heinz Grohmann, ein Schuler Flaskampers, auf der Bad Homburger Tagung zur Geschichte der Bevolkerungswissenschaften (1997) einerseits die Nahe der akademischen Bevolkerungsstatistik in Frankfurt/M. zur administrativen Statistik betonte, andererseits ihre enge Beriihrung mit sozialstatistischen Fragen herauskehrte: "Worauf es mir hier ankommt, ist dies: Die in Frankfurt gepflegte Statistik stand traditionsgemaB stets in enger Beziehung zur amtlichen Statistik. Flaskamper war nebenamtlich Leiter des Statistischen Amtes der Stadt Frankfurt. Blind war Leiter des Statistischen Amtes der Stadt Saarbriicken, spater des dortigen Statistischen Landesamtes und wahrend der Verhandlungen uber die wirtschaftliche Rtickgliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland saarlandischer Finanzminister. Auch ich habe Beziehungen zur amtlichen Statistik aller drei Ebenen (....) immer gepflegt. Unsere wissenschaftlichen Arbeiten waren (...) eng verbunden mit den Methoden und Ergebnissen der amtlichen Statistik. (...) Flaskamper war gar nicht in dem MaBe Bevolkerungsstatistiker, wie er in der Literatur noch erscheint. Er war ein Methodiker der Sozialstatistik im weitesten Sinne."^^^ Diese Annaherung Flaskampers an die Methoden einer /S'oz/a/statistik wies gleichwohl Starke Bezuge zur geographischen Wissenschaft und zur Geigerschen Soziographie auf. Noch 1962 bemiihte sich Flaskamper um die Akzentuierung gerade dieser disziplinaren Verbindung, indem er auf seine Schrift "Geographic und Statistik" aus dem Jahr 1936 verwies.^^^ Die um spezifisch raumliche Aspekte erweiterte soziographische Methode a la Geiger sollte den Frankfurter Statistikem in den 1930er Jahren gewissermaBen zur Interpretationshilfe ihrer Daten dienen: "Bei Benutzung der statistischen Ergebnisse muB dieser SchematisierungsprozeB, der allem statistischen Arbeiten zugrunde liegt, gebiihrend beriicksichtigt bzw. wieder riickgangig gemacht werden. Sehr treffend druckt sich Geiger aus: 'Hat man als Statistiker das Papier fein sauberlich in Spalten eingeteilt und Zahlen rechts und links vom Strich gesetzt, so muB man als Soziograph das Handgelenk lockerer halten: Das Leben zieht keine klaren Grenzen, sondem verspielt sich in tausend Zwischenformen.' "*^^ Wie in den spateren Arbeiten der Burgdorfer-Gruppe, der Eickstedt-Gruppe aber auch den Arbeiten von K.V. Mtiller gait das Interesse insbesondere der GroBstadtbevolkerung. In seinem oben erwahnten Vortrag auf dem Berliner Bevolkerungskongress von 1935 hatte Flas-
Vgl. dazu die 'sozialwissenschaftliche' Auseinandersetzung mit den Begabungsunterschungen von K.V. Miiller und die von K.H. Grundmann 1949 in einer Reihe der SFSD herausgegeben Schrift "Begabung im Zahlenbild" (Flaskamper 1962:168f). Zu den nicht zur Bevolkerungsstatistik zahlenden Teilen der Biologie zahlten ftir ihn u.a. anthropometrische Messungen (vgl. Flaskamper 1962:39). Grohmann in Mackensen 1998:235f Vgl. Flaskamper 1937. Flaskamper 1934:65.
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kamper speziell die "bessere statistische Durchforschung der GroBstadtbevolkerung"^^^ angeregt: "Meine Forderung geht nun dahin, daB sowohl die Daten fur die Bevolkerungsstruktur als auch diejenigen fiir die Bevolkerungsbewegung in moglichst weitgehender Gebietsgliederung geboten werden (...) Die Notwendigkeit einer solchen gebietlichen Aufgliederung der Volkszahlungsergebnisse ist bisher noch nicht gebiihrend gewurdigt worden. Erst hierdurch wurden wir exakte Unterlagen erhalten fur eine eingehende Soziologie der GroBstadt. Als Leiter eines Kommunalstatistischen Amtes habe ich das Fehlen solcher Unterlagen ganz besonders schmerzlich empfunden. Der Erkenntniswert einer solchen Verfeinerung der Volkszahlungsergebnisse kommt aber erst dann voll zur Geltung, wenn die ebenfalls gebietlich gegliederten Nachweisungen iiber die Bevolkerungsbewegung, besonders iiber Geburten und Sterbefalle mit jenen liber den Bevolkerungsstand zusammengebracht werden (...) Die immer wieder erorterten Fragen nach der verschiedenen Hohe der Fruchtbarkeit in den einzelnen sozialen Schichten wiirde sehr viel besser gestiitzt und belegt werden konnen. Erst so wird es moglich sein, Fruchtbarkeitsziffem fur einigermaBen homogene Bevolkerungsteile zu bilden."'^^ In "Geographic und Statistik" legte er seine Methode genauer dar. Zunachst zeichnete er die historische Entwicklung der 'sozialwissenschaftlichen' Statistik nach und hob besonders die Universitatsstatistik hervor, vor der er behauptete, man konne sie "zu einem groBen Teil geradezu als politische Geographic bezeichnen."^^^ "Je mehr der beschreibende Charakter der Statistik in den Vordergrund trat, umso mehr wurden die Wechselbeziehungen zwischen beiden Wissenschaften lebendig"- diesen Zug sah Flaskamper auch durchgangig bei den Arbeiten Georg von Mayrs angclcgt:^^"* "Den Nachweis statistischer Ergebnisse nach natiirlichen Gebieten bezeichnet der Altmeister der deutschen Statistik, Georg von Mayr, der immer wieder den hohen Wert der geographischen Ausgliederung betont, geradezu als geographische Methode. Daneben kennt er noch die statistisch-geographische Methode. (...) Das Verfahren ist folgendes: die Ergebnisse mussen fur moglichst kleine Gebietsteile vorliegen (...) Die Ergebnisse (Bevolkerungsdichte, Sauglingssterblichkeit, Anteil des Waldes oder des Ackerlandes an der gesamten Flache, Anteil der in der Landwirtschaft Tatigen an der Gesamtzahl der Erwerbstatigen usw. usw.) werden dann in der bekannten Weise in Kartogrammen veranschaulicht: je nach dem Grad der Erscheinung werden die Teilgebiete mit entsprechenden Farb- oder Schraffurabstufungen gekennzeichnet (...) Solche Gebiete nannte Georg von Mayr statistische Provinzen. (...) Wenn sich auf obige Weise gewonnene Kartogramme fur verschiedene Erscheinungen (Bevolkerungsdichte, Sauglingssterblichkeit, Geburtenziffer usw.) in der Verteilung der Abstufungen weitgehend ahneln, so kann geschlossen werden, daB die beiden Erscheinungen in einem ursachlichen Verhaltnis stehen und zwar entweder in der Weise, daB die eine Erscheinung die Ursache der anderen ist oder aber daB beide auf eine gemeinsame zuriickgeflihrt werden konnen. "'^^ In Flaskampers Sicht war es die amtliche und nicht allein die universitare Statistik, die enge Beziehungen zur Geographic bzw. zur Landeskunde aufbautc. So entstand in Frankfurt/M. '91
Vgl. Flaskamper I936b:414.
'92 '93 '94 '95
Flaskamper 1936b:415f. Alle Hervorhebungen durch Paul Flaskamper. Vgl. Flaskamper 1937:39. Vgl. Flaskamper 1937:39. Flaskamper 1937:43.
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der "Verein fiir Geographic und Statistik" (bzw. der "Frankfurter Geographische Verein"), dem Flaskamper zusprach, dieser habe fur das erst spater (1865) errichtete Statistische Amt der Stadt Frankfurt a. M. "den Keim (ge)bildet."^^^ Zusatzlich erwahnte er als ein weiteres Beispiel einer solchen Starthilfe durch einen Statistisch-Landeskundlichen Verein die Entstehungsgeschichte des Sachsischen Statistischen Landesamts. Eine praktische Anwendungsmoglichkeit dieser geographischen 'Wurzeln' der Statistik sah Flaskamper in der (sozialen) "Geographic der GroBstadt" wahrend des Nationalsozialismus. Es waren im besonderen die kommunalen statistischen Amter, die zur Beschrcibung raumlicher und sozialer Merkmale von Bcvolkcrungcn schritten (namentlich in Frankfurt/ M. und Saarbriicken)^^'^ und dieses wohl auch als eine Profilierungsmoglichkeit hinsichtlich des Statistischen Reichsamts bzw. den Statistischen Landesamtem begriffen.^^^ Gerade auf der kommunalen Ebene der Statistik agicrten in einigen Stadten soziologisch geschulte Fachkrafte.^^^ Die Untersuchungen sollten sowohl demographische als auch soziologische Aspekte umfassen. Ziel dieser Bevolkerungsstatistik war es, sowohl sozial 'homogene' Bezirke abzubilden als auch soziologische "Gruppen" zu identifizieren: Die Statistik "soil uns dabei helfen, eindeutige Aufschlusse iiber den Altersaufbau, die Fruchtbarkeit, die Berufsgliederung und andere Dinge in den einzelnen Stadtgebieten zu erhalten. Voraussetzung hierfiir ist allerdings, daB die Zahlen nach moglichst kleinen und in sich gleichartigen Stadtteilen oder Stadtbezirken vorUegen. (...) Viel ist schon gewonnen, wenn bei der vielleicht bestehenden Unmoghchkeit, fur alle interessierenden sachlichen Aufschliisse gebietlich hinreichend aufgeteilte Zahlen zu erhalten, wenigstens fur einige charakteristische Bezirke eingehende Zahlen gehefert werden konnen, z.B. fur eine Stadtgegend mit Arbeiterbevolkerung, fiir eine Gegend mit sozial gehobener Schicht, fur ein Geschaftsviertel und fur eine Vorortsgegend mit landlicher Eigenart. Bei solchen Untersuchungen ist wieder eins zu beachten: einheitliche in sich in gewissem AusmaBe geschlossene Stadtteile sind nicht immer in alien ihren Teilen gleichartig hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Bevolkerung nach Alter, Konfession, Beruf usw. Es kann durchaus sein - und solche Falle sind besonders interessant -, daB in einer Stadtgegend zwei 196 19"^
Vgl. Flaskamper 1937:39. Zur Rolle des Statistischen Amtes der Stadt Saarbriicken bei der 'sozialen Sanierung' wahrend der NS-Zeit: vgl. Gutberger ^1999:254f. In der Stadt Frankfurt befasste sich das Soziographische Institut von Ludwig Neundorfer mit "Problemen der sozialen Umschichtung der Frankfurter Altstadt" (vgl. Klingemann 1991:187). Die Beziehungen zwischen dem Frankfurter Institut und dem Statistischen Amt der Stadt bediirfen noch der Aufarbeitung. Peter Josef Deneffe, 1949 Direktor des Statistischen Amtes der Stadt bezog sich jedoch ausdriicklich auf die Methodiken Ludwig Neundorfers (vgl. Deneffe 1949). 198 Vgl. Flaskamper 1937:44 und Flaskamper 1936b:415. '99 Neben den eben Genannten und Andreas Walther (vgl. Gutberger ^1999:256ff.) ist hier auch auf Heinz Herz und Otto Kuhne hinzuweisen: Der 1907 in Chemnitz geborene Herz promovierte 1932 in Leipzig zum Dr. rer pol. und war 1942 Direktor des Statistischen Amtes in Stettin. In der NS-Zeit aufierte er sich auch zu demographischen Fragen, u.a. mit einem Beitrag "Uber die Methoden der Bevolkerungsfortschreibung" im "Deutschen Statistischen Zentralblatt" (1943). Seit 1944 war Herz gleichzeitig Lehrbeauftragter an der Universitat Greifswald, dort seit 1946 Dozent fiir Sozialwissenschaften, 1947 o. Prof und Direktor des Instituts fur Soziologie und Geschichte der sozialen Bewegung in Rostock. Seine Arbeitsschwerpunkte lagen bei der Bevolkerungs- und Sozialstatistik sowie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Lt. Soziologenlexikon von 1959 arbeitete Herz "vorwiegend auf den Grenzgebieten zwischen Statistik und angewandter Soziologie (Soziographie im Sinne von Steinmetz, Tonnies, Heberle); als Wirtschaftshistoriker vertritt er einen undogmatischen historischen Materialismus" (vgl. Bemsdorf 1959:218). Der Nationalokonom und Statistiker Otto Kuhne war zwischen 1940 und 1945 Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Potsdam, ab 1943 auch Dozent fiir Soziologie an der TU Berlin (ab 1952/1954 Privatdozent fur Nationalokonomie und Soziologie an der TU; vgl. ebd., 285).
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oder auch mehr sozial ganz verschiedene Gruppen nebeneinander wohnen, verteilt z.B. auf Voider- und Hinterhaus oder auf die verschiedenen Stockwerke, wobei in Keller- und DachgeschoB die sozial tieferstehende Schicht wohnt. Soziologisch ergeben sich dabei auBerst wichtige Proble-
In welchem Kontext derartige Uberlegungen gestanden haben, wird aber erst deutlich, wenn wir in die Arbeiten des Statistischen Amtes der Stadt Frankfurt/M. nach 1945 schauen. In der bereits erwahnten Studie von Peter Josef Deneffe iiber die "Soziale Topographie der GroBstadt"^^^ fmden wir Hinweise auf die einschlagigen Arbeiten zur sozialstrukturellen GroBstadtplanung seit dem Ende der Weimarer Republik: angefangen von Freudenbergs Publikation iiber "Fruchtbarkeit und Sterblichkeit in den Berliner Verwaltungsbezirken in Beziehung zu deren sozialer Struktur" (1929), iiber die Gottfried Feders ("Die neue Stadt, Versuch der Begriindung einer neuen Stadtplanungskunst aus der sozialen Struktur der Bevolkerung, 1939), uber die Untersuchung Rudolf Heberles und Fritz Meyers ("Die GroBstadte im Strome der Binnenwanderung",1937) bis hin zu den soziographischen Arbeiten Ludwig Neundorfers und den Ergebnissen der Frankfurter Konferenzen fiir medizinisch-naturwissenschaftliche Zusammenarbeit (= de Rudder / Linke: "Biologie der GroBstadt", 1940^^^). Deneffe, der nach dem Krieg auch gemeinsam mit Flaskamper publizierte,^^^ war wahrend des Nationalsozialismus nicht mit einer (sozial)geographischen oder statistischen, sondem durch eine Arbeit mit einer demographischen Fragestellung in Erscheinung getreten. Als Band 3 der "Frankfurter wirtschaftswissenschaftlichen Studien" erschien 1938 der Titel "Die Berechnungen iiber die kiinftige deutsche Bevolkerungsentwicklung: Eine vergleichende Darstellung".204 In seinem 1950 auf der Tagung der Deutschen Statistischen Gesellschaft in Freiburg i. Br. gehaltenen Referat (14.9.1949) "Soziale Topographie der GroBstadt" wurde das Sammelwerk "Biologie der GroBstadt" (s.o.) als statistische und soziologische Untersuchung iiber die "sozialen Verhaltnisse einer Gemeinschaft" in der GroBstadt bezeichnet; sie hatte gezeigt, dass der Stadtbezirk eine sich "enger verpflichtende soziale Gemeinschaft als die GroBstadt im ganzen" beherberge.^^^ "Es werden hier sozusagen die LebensauBerungen des sozialen Zusammenlebens der GroBstadt erforscht und zur Darstellung gebracht. Viele Untersuchungen uber die Lebensverhaltnisse in der GroBstadt sind diesem Zwecke gewidmet und haben eine groBe Zahl von Erkenntnissen iiber die Begriindung festgestellter statistischer Haufigkeiten aus den allgemeinen Bedingungen der GroBstadt als ganzem oder einzelner Bezirke gezeitigt."^^^ Diese Verhaltnisse soUten noch erweitert untersucht werden, und zwar hinsichtlich der besonderen "Verbundenheit des GroBstadters mit seinem Stadtbezirk", den "Eigenarten" der einzelnen Stadtbezirke und der damit in Zusammenhang stehenden jeweiligen "Stellung der
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Flaskamper 1937:44. Vgl. Deneffe 1949. Uber die Frankfurter Tagung berichtete Elisabeth Pfeil im "Blauen Archiv" (vgl. Pfeil 1940). Vgl. Flaskamper, Deneffe 1950. Vgl. Deneffe 1938. Vgl. Deneffe 1949:463. Deneffe 1949:463.
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Bezirke im Gesamtbild der Stadt".^^^ Im Anschluss an Ludwig Neundorfer sah Deneffe in der "Uniiberschaubarkeit" der Stadt das groBte Problem der "Heimatlosigkeit des GroBstadters". Der Statistik soUte deshalb die Aufgabe zufallen, eine vertikale (hierarchische) Ordnung "durch die bezirksweise Abstufiing der sozial charakteristischen Merkmale zu erarbeiten": "Das Ziel dieses Teils der Arbeit ist die Ermittlung von Sozialindizes, die uns in die Lage versetzen, den Sozialwert eines Bezirkes in einer Zahl zum Ausdruck zu bringen und an Hand dessen die verschiedenen Bezirke hinsichtlich ihrer sozialen Abstufung miteinander vergleichen zu konnen."208
Bei Deneffe finden wir dann auch erste Anklange an eine Art soziologischen Funktionalismus, der allerdings noch ganz der Sprache des 'organischen' Raums verhaftet war: "Wir sprachen hier von 'statistischen' Bezirken, deren Charakteristikum es ist, wie gesagt, moglichst homogen zu sein. Diese statistischen Bezirke sind nur zu einem kleinen Teil Endziel, zum iiberwiegenden Teil Arbeitsmittel der Bezirksstatistik. Man spricht namlich noch in einem zweiten Sinne von statistischen Gebieten und gebraucht in diesem Falle oft auch die Bezeichnung 'organische' oder auch 'natiirliche Gebiete'; diese Gebiete stehen am Ende einer bezirksstatistischen Arbeit, sie sind das Ziel und das Ergebnis der Forschungen und Feststellungen. Ihr Charakteristikum ist nicht mehr die homogene Struktur, sondem d i e f u n k t i o n e l l e Zusammeng e h o r i g k e i t d e r B e z i r k e , die gegenseitige Erganzung der zusammengefaBten Bezirke zu einem auf moglichst vielen Bereichen des sozialen Lebens selbststandigen Stadtteil. Es werden hier Bezirke zusammengefaBt, die ihrer eigenen Struktur nach verschiedenen Sozialtypen angehoren, die aber wegen ihrer gegenseitigen Bezogenheit zusammenzuordnen sind. Fiir diese hoheren gebietlichen Einheiten wird neuerdings im groBeren Rahmen der Lander auch die Bezeichnung 'organischer Raum' verwendet."^^^ Bei Erstellung der statistischen Reihen fur die Stadtbezirke w^urden demographische und soziale Merkmale verv^endet: Bevolkerungsagglomeration, Wohnverhaltnisse, Erwerbsverhaltnisse, Wohlhabenheitsverhaltnisse usw. Diese "standen untereinander in einem bestimmten Zusammenhang",^^^ denn so w^tirden Daten fur medizinische Zwecke (Haufigkeit von Tuberkuloseerkrankungen) oder zur Feststellung von innerstadtischen Wanderungsbewegungen zeigen, dass diese jeweils von der sozialen Struktur eines Bezirks abhingen. Die 'Entdeckung' des Zusammenhangs zwischen der sozialen Struktur der Bezirke zu den fur die Demographic relevanten Daten (Deneffe erwahnte die Sauglingssterblichkeitsrate, die Unehenlichenquote sowie Medizinaldaten) gehe bereits auf Georg von Mayr zuruck.^^^ Bei Erarbeitung der Zahlenreihen zur Darstellung der Bevolkerungsagglomeration verwies Deneffe jedoch besonders auf vorgangige Untersuchungen wahrend des Nationalsozialismus - und zwar auch aus dem Bereich der Agrar- und Regionalforschung, die bekanntlich
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Vgl. Deneffe 1949:445. Deneffe 1949:447. Deneffe 1949:467f (Hervorhebung im Original) Die von Deneffe zitierte Literatur zeigte an, das die Diskussionen uber den Raum Ende der 1940er Jahre starker im administrativen Rahmen, besonders in der gemeindlichen Statistik geftihrt wurden, vgl. diverse Beitrage in der Zeitschrift "Die Selbstverwaltung". Vgl. Deneffe 1949:463. Vgl. Deneffe 1949:463f
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im Rahmen der Raumforschung besonders forciert betrieben worden war. Wichtig fur unseren Zusammenhang ist hier, dass vorgeschlagen wurde, die Familien (in Kombination mit dem Kriterium 'Haushalt') nach ihrem "sozialen Wert" zu kategorisieren: "In den Richtlinien ftir den Auf- und Ausbau von Dorfem des Soziographischen Instituts der Universitat Frankfurt a.M. wird als soziales Kriterium z.B. eine Unterteilung der Zahl der Haushalte in 'aufsteigende', Voll entwickelte', 'alte' und 'halbe Familien' gefordert."^'^ Dieser letzte Hinweis aus der "Sozialen Topographie der GroBstadt" leitet liber zu den Arbeiten der beiden sozialwissenschaftlich geschulten Mitarbeiter von Friedrich Burgdorfer im Statistischen Landesamt in Miinchen, Elisabeth Pfeil und Johann Hermann Mitgau. Beide widmeten sich wahrend des Nationalsozialismus in unterschiedlicher Weise den Fragen der sozialstrukturellen Bedingungen demographischer Entwicklungen. Ausgangspunkt war die Familie als die (in ihrer Sicht) entscheidene soziale Einheit der quantitativen Bevolkerungsentwicklung. II. 3 'Sozialwissenschaftliche' Denkstile im Umfeld der Bevolkerungsstatistik des Statistischen Reichsamts bzw. des Bayerischen Statistischen Landesamt 11.3.1 Das BeispielJohann Hermann Mitgau 1937 erschien in dem vom nationalsozialistischen "Hauptamt fiir Volkswohlfahrt" herausgegebenen "Handworterbuch der Wohlfahrtspflege" ein Artikel von Friedrich Burgdorfer zur "Bevolkerungspolitik und Bevolkerungsstatistik". Burgdorfer ordnete in dieser Schrift die Familienstatistik der allgemeinen Bevolkerungsstatistik zu.^^^ Die Thematik 'soziale Ungleichheit' beriihrte Burgdorfer in diesem Aufsatz insofem, als er in einer groBeren Kinderzahl der Familie eine wichtige Ursache fur ein "Absinken" aus der jeweils "uberkommenen sozialen Schicht und Lebenshaltung"^^'^ erblickte. Diese Entwicklung trafe nicht nur armere Bevolkerungsgruppen, sondern tendenziell jede Familie in "jeder Gesellschaftsschicht."^^^ Die Entscheidung fur oder gegen Kinder wurde hier gleichsam als eine Schlusselfrage in der zentralen Auseinandersetzung um die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen wahrgenommen. Dennoch soUen an dieser Stelle nicht Burgdorfers ebenfalls in diesem Artikel prasentierte bevolkerungspo/Z/i^c/z^ SteuerungsmaBnahmen (die Einfuhrung einer "Reichsfamilienkasse" u.a.) diskutiert werden, sondern der 'Denkstil', der in der Burgdorferschen Bevolkerungsstatistik und ihrem Umfeld zu den Fragen sozialer Mobilitdt, soziale Schichtung und Familie gepflegt wurde. Hermann Mitgau war der exponierteste Vertreter dieser 'sozialstrukturellen' Familienforschung in Friedrich Burgdorfers Umgebung. Der eine genealogische Familienforschung als Bevolkerungswissenschaft betreibende Mitgau ordnete sein eigenes Forschungsfeld am
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Deneffe 1949:456, der an gleicher Stelle auch noch auf den Aufsatz von Hans Werner Eichler im "Archiv fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" (1941) verwies: "Unterschiede zwischen deutschen GroBstadten mit hoher und niedriger Geburtenzahl" (vgl. "Archiv fiir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" 11. Jg. [1941], Heftl, Iff.). Vgl. Burgdorfer 1937:160ff. Vgl. Burgdorfer 1937:173. Ebd.
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Ende seiner akademischen Laufbahn "einem sozialwissenschaftlichen Zwischenfelde" zugehorig zu: Es habe "zwischen demographischer Soziologie und Gesellschafts- und Kulturgeschichte" gelegen.^^^ Schon 1931 hatte er betont, dass er zwar genealogisch arbeite, aber "als Sozialwissenschaftler, der etwas von der Genealogie erwartet und nicht als Genealoge, der Ihnen nun etwa soziale Einzeltatsachen, die den Hintergrund der Familiengeschichtsforschung ausmachen, naher vorfiihrt."^^^ J. Hermann Mitgau begriff seine "Bevolkerungslehre" als eine interdisziplinare Humanwissenschaft, die das Bevolkerungswachstum aus "sozialen Lebensbedingungen und sozialen Umweltgegebenheiten" erklaren wolle.^'^ Das Verhaltnis der Bevolkerungswissenschaft zur Soziologie definierte er dahingehend, "daB alle Bevolkerungswissenschaft induktiv nach dem konkreten Inhalt der historischen, sozialen Erscheinungen fragt, alle Soziologie nach dem Gesetz der Gefiige und Ablaufe und nach dem (abgezogenen) Typus, z.B. Idealtypus, nicht Durchschnittstypus."^^^ Seine Studien hatte er in den Krisenjahren der Weimarer Republik mit Aufsatzen und Publikationen zu Themen wie "Familienschicksal und soziale Rangordnung" (1928)^^^, "Grundlagen des sozialen Aufstieges (1930) oder "Familienforschung und Sozialwissenschaft" (1931) begonnen. Bereits in diesen Schriften entfaltete er seinen Forschungsansatz in seinen Grundziigen; er wird ihn in seinen spateren Arbeiten lediglich variieren. Mitgau bezog sich in seinen Schriften vor 1933 besonders auf Paul Momberts und Max Webers Arbeiten iiber Klassenbildung, auf die einschlagigen Arbeiten von Alexander Elster und Adolf Giinther, auf Werner Sombarts "Volkswirtschaftslehre", auf Josef A. Schumpeters "Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu"^^^ sowie auf die altere Studie des Sozialbiologen Georg Hanssen "Die drei Bevolkerungsstufen" (1889). Die gerade erschienene Studie von Pitirim Sorokin zur sozialen Mobilitat nahm er wahr und bezeichnete sie 1931 als des Soziologen "grundlegendes Werk" zum "Aufstiegsproblem".^^^ Der soziale Aufstieg wiirde hingegen durch "die soziologische Literatur Deutschlands bisher kaum bearbeitet."^^^ All diese biographischen Bruchstiicke waren nicht sonderlich interessant, wenn es nicht Mitgau gewesen ware, den Friedrich Burgdorfer schlieBlich an sein in Planung befmdliches bevolkerungswissenschaftliches Institut wahrend des Krieges holte. Warum nun ausgerechnet Mitgau, den etwas weltfemen Sozialwissenschaftler mit seiner Theorie von der Familie als einer Mobilisierungsinstanz im "Schichtbildungsprozess"? Mitgau hat weite Teile seiner wissenschaftlichen und privaten Aktivitaten in zahlreichen Tagebiichem dokumentiert. Bevor wir zur Beschreibung seines Denkstils im einzelnen iibergehen, soil anhand der in den Tagebiichem auffmd- und nachprufbaren Fakten erlautert werden, wie dieser junge Wissenschaftler wissenschaftlich sozialisiert wurde und wie er zur Burgdorferschen Forschungsgemeinschaft gelangte. 2'^ 217 2'8 219 220 221 222
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Vgl. Biidinger Vortag "geschlossene Heiratskreise sozialer Inzucht" (vgl. Mitgau 1977:VIII 68). Mitgau 1931:6. Vgl. Mitgau 1956:70. Mitgau 1956:70. Untertitel: "Untersuchungen iiber den sozialen Aufstieg und Abstieg". Vgl. Schumpeter 1953:147-213. Vgl. Mitgau 1931:228. An gleicher Stelle verwies Mitgau auch auf Ginsberg, Morris (1929): Interchange between Social-Classes, in: "Economic Journal", Vol. 39, 554flf. In seinem Riickblick aus dem Jahr 1965 betonte Mitgau hingegen, die "Formel" der "vertikalen sozialen Mobilitat" sei ihm "damals noch nicht bekannt" gewesen (vgl. Mitgau 1965:5). Ebd. und vgl. die Reproduktion von "Grundlagen des Sozialen Aufstieges" (1928) in Mitgau 1977:IX 79.
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Nach einem Studium der Padagogik war Mitgau 1921 zum "Syndikus der Deutschen Studentenschaft" in Gottingen berufen worden. Zwischen 1923 und 1927 promovierte er und arbeitete als "Studentensekretar und Leiter der Studentenhilfe e.V." in Heidelberg. In diesem Rahmen beteiligte er sich aktiv an der studentischen und universitaren Pressearbeit. Nach seiner bei Alfred Weber in Heidelberg erfolgten Habilitation ("Das Soziale Generationsschicksal. Untersuchungen zur Frage der Klassenbildung und des sozialen Aufstieges", phil. Diss. 1929/30) erging an Mitgau ein Ruf an die Padagogische Akademie Frankfurt/ Oder. 1930 wurde er in dieser Stadt zum planmaBigen Professor fur "Soziale Volkskunde" emannt. In diese Jahre fiel auch sein Kontakt zu den Leipziger Soziologen und Bevolkerungswissenschaftlern, denn Mitgau nahm an jenen studentischen 'Dorfwochen' teil, die vom "Boberhauskreis" und Gunther Ipsen (Leipzig) um 1930 organisiert wurden. Da die Padagogische Akademie 1932 schlieBen musste, wechselte Mitgau im Herbst 1932 fur ein Jahr an die "Hochschule fur Politik" in Berlin. Hier erhielt u.a. einen Lehrauftrag am "Seminar fiir Erwachsenenbildung" der (umbenannten) "Deutschen Hochschule fur Politik". Im Herbst 1933 erfolgte die Ruckkehr zur Privatdozentur an die Universitat Heidelberg. Im Wintersemester 1933/1934 wollte er Vorlesungen und Ubungen an der Universitat Heidelberg zu den Themen "Sozialstatistik", "Familienkunde" und "Stand und Klasse" halten. Doch wurde ihm nach seinen Selbstzeugnissen die Sozialstatistik-Vorlesung als "Nichtparteigenosse" verweigert. Von Ostern 1934-1942 arbeitete Mitgau an der "Hochschule fiir Lehrerbildung" in Cottbus. Da er sich aber ganz seinem genealogischen Forschungsansatz im Rahmen der Bevolkerungswissenschaft widmen wollte und weiterhin eine ordentliche Professur anstrebte, suchte er seine Verbindungen zum akademischen und administrativen Bereich zu intensivieren. Im August 1941 wollte sich Falk Ruttke (1894-1955), u.a. Direktor des "Reichsauschusses fur den Volksgesundheitsdienst" beim RMI sowie Mitherausgeber des "Archivs fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" fur Mitgau verwenden. Dieser bot ihm an, "sich in Posen beim Kurator der Universitat (Streit) fur eine ordentliche Prof" einzusetzen. Unklar ist, in welche Institution der RUP Mitgau hatte eingebunden werden sollen.^^^ 1942 erhielt Mitgau dann tatsachlich zwei parallel verlaufende Beruflingen. Zum einen wurde ihm einer der beiden Abteilungsleiterposten^^^ in der von Friedrich Burgdorfer initiierten "Forschungsgemeinschaft fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" in den Raumlichkeiten des Statistischen Landesamts in Munchen angeboten. Zum zweiten erfolgte eine "Berufung als Oberregierungsrat in ein bevolkerungsbiologisches Institut des Reichsgesundheitsamtes in Berlin-Dahlem."^^^ Da aus den Tagbuchaufzeichnungen hervorgeht, dass Mitgau nach einer langeren Wartezeit "Ritter und das Reichsgesundheitsamt endgiiltig abgeschrieben habe", kann es sich nur um die Dahlemer "Rassenhygienische und Erbbiologische Forschungsstelle am Reichsgesundheitsamt" gehandelt haben. Die dortige Ab-
Vgl. zur bevolkerungswissenschaftlichen und sozialdemographischen Forschung an der Reichsuniversitat Posen die Ausfiihrungen in Gutberger ^1999:434-442. Eine weiterer Abteilungsleiterposten, der fur den (Agrar-)Soziologen Karl Seiler vorgesehen war, konnte wegen Sellers Unabkommlichkeit von der Hindenburg-Hochschule fiir Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Niimberg nicht besetzt werden. SchlieBlich sollte der Biologe Wiilker den Abteilungsleiterposten iibernehmen, dieser starb aber - bereits Mitarbeiter in der Forschungsgemeinschaft - im Fruhjahr des Jahres 1942. (vgl. Munchener Tagebuch, Vierter Teil 1942 bis 1945, Mitgau 1950:43). Vgl. Munchener Tagebuch, Dritter Teil 1930-1941, Mitgau 1942:137.
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Denkstile
teilung fiir Erb- und Rassenpflege leitete der Psychiater und "Zigeunerforscher" Robert Ritter (1901-1951).^^^ Die Forschungsstelle widmete sich der "vorbeugenden" VerbrechensbekampfUng durch die Erfassung genealogischer Daten der Zigeuner.^^^ Die aus diesen Gruppen selektierten Personen wurden als "Asoziale" stigmatisiert und damit den Sterilisierungen und Deportationen iiberantwortet. Mitgau, in genealogischer Erhebungsarbeit bereits ausgewiesen, entschied sich jedoch gegen Dahlem und fiir Miinchen, weil Burgdorfer ihm gleichzeitig eine "Honorar-Professur fiir Volkssoziologie" in Aussicht stellte; bis zur Aufhebung der laufenden Stellensperre soilten Mitgau Lehrauftrage angeboten werden. Es war geplant, die o.g. Forschungsgemeinschaft in ein "Reichsinstitut fiir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" zu iiberfuhren. Dieses 'Reichsinstitut' sollte nach Mitgaus Zeugnissen "mit den Stellen eines Prasidenten und Stellvertreters, zwei Abteilungsleitern mit dem Titel Professor und zwei Ober-Reg.-Ratstellen" ausgestattet werden.^^^ Mitgau schrieb zudem zu den inhaltlichen und organisatorischen Strukturen folgendes: "Das ganze Untemehmen untersteht dem Reichs-Innenminister^^^ - also nicht dem Reichs-Erziehungsminister -, (was mir nicht unrecht ist, was aber vermutlich die Gehaltsiibemahme erschweren wird. Aufgabe sei: groBere bevolkerungswissenschaftliche Untersuchungen durchzufuhren, mehr noch zu organisieren (70.000.- RM Forschungsstipendien stehen jahrlich z.Vfg.) in Hinblick auf aktuelle Staatsaufgaben (Siedlung, Wohnungsfragen, Steuerangelegenheiten u.a.), dazu auch bevolkerungsgeschichtl. Probleme anzupacken, also auch etwa meine Volkskorperforschungen, die aber zunachst nicht als vordringlich in Angriff genommen werden konnten."^^^ Diese Miinchener Zeit war durch einen engen Austausch mit Elisabeth Pfeil gepragt, die ebenfalls an der Forschungsgemeinschaft teilnahm. Ebenso verkehrte Mitgau in Miinchen aber auch privat eng mit dem Soziologen Max Rumpf. Einiges spricht dafur, dass es Elisabeth Pfeil war und nicht in erster Linie Friedrich Burgdorfer, die - nachdem Karl Seller nicht kam - Mitgau in Munchen sehen wollte, weil sich sein Forschungsansatz mit ihren eigenen Arbeiten verbinden lieB.^^^ Mitgau berichtete auf jeden Fall iiber Pfeils Vermittlerrolle bei seinem ersten Treffen mit Burgdorfer: "Mit Burgdorfer traf ich mich durch Vermittlung von Dr. Elisabeth Pfeil bereits sommers in Berlin, als er von Planen seines 'Reichsinstituts fiir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik' berichtete und mir eine der beiden Abteilungsleiterstellen antrug."^^^ Mit Elisabeth Pfeil hatte Mitgau "taglich durch den Englischen Garten einen gemeinsamen schonen Weg zum Statistischen Landesamt", was nicht nur fur einen engen personlichen
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Vgl. Lucassen 1996; Zimmermann 1992. Es ist umstritten, ob Ritters Erhebungen oder bereits die Datensammlungen der bayerischen "Zigeunerpolizieistelle" (auf die sich Ritter bezog) fiir die Etikettierung und Einstufung von Personen als "Zigeuner" verantwortlich zu machen ist (vgl. Lucassen 1996:207f.). Vgl. Munchener Tagebuch, Vierter Teil 1942 bis 1945, Mitgau 1950:5. Wie bei den fruheren (sozialstatistischen) Untersuchungen aus Munchen (Friedrich Zahn, s.o.) ging die Initiative auf das Innenministerium zuriick. Munchener Tagebuch, Vierter Teil 1942 bis 1945, Mitgau 1950:6. Vgl. Abschnitt 2.3.5. unten. Munchener Tagebuch, Dritter Teil 1930-1941, Mitgau 1942:137.
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Kontakt zwischen den beiden spricht, sondem auch dafiir, dass die aus zwei (bzw. drei) Personen bestehende Torschungsgemeinschaft' vorlaufig in den Raumlichkeiten des Statistischen Landesamts untergebracht war.-^^"^ Auch Friedrich von Klockes spatere AuBerung in einer Festschrift zu Mitgaus 60. Geburtstag, Mitgau habe "bevolkerungsstatistische Arbeit im Bayer. Statist. Landesamt Munchen 1942/46 (Burgdorfer)" geleistet,^^^ lasst sich auf diese Weise auslegen. Im April 1942 wurde Mitgau schlieBlich mitgeteilt, dass er ab dem WS 1942/43 zum "Honorarprofessor fur Sozialwissenschaft und Sippenkunde" an der Universitat Munchen emannt werden sollte. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen, u.a. weil er mehrfach Einberufungsbefehle erhielt, darunter im Januar 1945 den Einberuflingsbefehl fur das "bayerische Volkssturmbataillon zur besonderen Verwendung". Il.S.IIJohann Hermann Mitgaus Denkstil Die zentralen, sich wechselseitig bedingenden Kategorien sind fur Mitgau "Stand", "Klasse" und "Familie" gewesen. Sie scheinen fur ihn auch in methodologischer Hinsicht auf der gleichen Ebene gelegen zu haben: in der "Familie" sah Mitgau - und hier bezog er sich auf Ferdinand Tonnies - eine "Gemeinschaftsperson", die den Kategorien "Stand" und "Klasse" zugeordnet schien.^^^ Uber Stand, Klasse und Familie werde gleichermaBen "gesellschaftliche Geltung" und "Prestige" akkumuliert. AUe genannten Kategorien wurden hinsichtlich ihrer Funktion fur das "Bevolkerungsganze" betrachtet und zugleich als "Glieder" einer "sozialen Rangordnung" wahrgenommen.-^^^ Eine "Rangordnung" entstehe immer auch im "sozialen Wettbewerb" der Familien untereinander.^^^ Mitgau interessierte sich fur 'biologische' und reproduktive Funktionen von Familien also nur insoweit, als diese wiederum Ruckwirkungen auf die Auf- oder Abwartsbewegung einer Familie im 'sozialen Gefuge' zeitigte. "Familie" wurde als ein dem "Stand" und der "Klasse" mindestens ebenbtirtiges Teilgebilde sozialer Stratifikation in den Blick genommen. Einerseits ganz auf der Linie der Rassen- und Gesellschaftsbiologie argumentierend, gait Mitgau dabei die Familie als eine Einheit, die iiber bestimmte vererbare Eigenschaften ftir ihr historisches Fortbestehen im "sozialen Wettbewerb" innerhalb einer Klasse oder Schicht verfuge. Andererseits - so schrieb er 1930 noch wesentlich weniger auf die Biologic bezogen werde soziale Mobilitat in Deutschland uber die schiere Zahl des Nachwuchses (Bevolkerungsdichte) reguliert, denn erst durch je schichtenspezifische und harmonisch aufeinander abgestimmte 'BevolkerungsgroBen' sei es moglich, alle gesellschaftlichen Positionen durch geeignete Bewerber / Bewerberinnen zu besetzen: "...entscheidend ist die Bevolkerungsbewegung im Ganzen und innerhalb der sozialen Schichten. So wird z.B. der Aufstieg grundlegend beeinfluBt von der Tatsache, daB eine in sich geschlossene
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V g l . dazu auch Mitgau 1950:3,11. V g l . Klocke et. al. 1955:171. Vgl. Mitgau 1928:10f., 14. Vgl. Mitgau 1928:34fF. Vgl. Mitgau 1928:27. Wobei eine Familie entweder abhangig oder unabhangig von der Gesellschaftsschicht steigen oder fallen konnte, der sie in einer 'ersten Generation' angehorte. (ebd. 24ff.).
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Denkstile soziale Schicht rein zahlenmaBig nicht in der Lage ist, den Nachwuchs fur die Trager hoher gewerteter Sozialfunktionen zu stellen..."^^^
Diese Aussage ging jedoch mindestens implizit von dem MiBverstandnis aus, dass ein Gleichgewicht zwischen Personen und gesellschaftlichen Aufgaben hergestellt werden musse, ja mehr noch, dass jeder "Sozialfunktion" eine personliche Besetzung entspreche (entsprechen miisse). Wohl weniger um diesen Vorwurf zu entgehen, sondern eher aus den o.g. erbiologischen Aspekten heraus, bildeten die "in Langsschnitten" betrachteten Familien die Basiseinheiten in Mitgaus Denken. Nicht Individuen oder 'Rassen' konkurrierten in diesem Ansatz untereinander, sondern Familien und "Sippen" stritten um ihre Chancen zur Teilnahme an der (vertikal strukturiert und historisch vorgestellten) sozialen Welt. Dieser Ansatz war vergleichbar mit dem Denken, wie wir es etwa bei Wilhelm Brepohl fmden. Auch Brepohl bezeichnete die "nach wie vor entscheidenden und fuhrenden Familien" als eine "unveranderte Schicht."^^^ Einerseits bildeten Familien in sich geschlossene "Schichten" gegenuber anderen Familien, andererseits waren sie als "Schichten" Teil einer vertikalen sozialen Ordnung. Sie verfugten uber spezifische raumliche und soziale Mobilitatspotentiale, die sie wiederum von Familien anderer "Schichten" unterscheiden wiirden.^"^^ Aus dieser Sicht erschien die quantitative Bevolkerungsentwicklung immer auch als treibende Kraft fiir die historisch herausgebildeten Formen der gesellschaftlichen Schichtungen, waren es doch nach Mitgaus Einschatzung Familien(schicksale), die auf die gesellschaftliche Strukturierung maBgeblichen Einfluss nahmen. Die Rangordnung der Schichtung und die Abstande zwischen den Schichten waren bei Mitgau statische Gebilde. Eine soziale Dynamik kam in dieses "Gerust" allein liber die Familienkonkurrenz. Ein soziales Modell also, das eher der Beschreibung einer Stammesgesellschaft entsprach. Im Wettbewerb behaupten sich Familien und sichem ihre Rangposition entweder als "Glieder" eines Standes bzw. einer Klasse oder als (autonom verstandene) Trager von positiven oder negativen Eigenschaften. Unter einer Eigenschaft verstand Mitgau zum Beispiel (die nicht weiter operationalisierte) "Zielstrebigkeit": "Sie gehort zur Kategorie der Durchschnittstiichtigkeit ("general ability"), einer 'erworbenen', nicht angeborenen Eigenschaft des Charakters. Doch ist diese Durchschnittstiichtigkeit durch Tradition mittelbar zu Vererben'."^"^^ "Die Reihe der Durchschnittstiichtigkeit findet ihren Ausdruck nicht im Einzelnen als Trager, sondern erst in einer durch Tradition hergestellten und iiber Generationen zusammengehaltenen Vergemeinschaftung. "^"^^ Die Vergemeinschaftung war in dieser Perspektive, wie schon bei Nothaas gezeigt, ohne das verbindende Element des historisch wirkenden Zusammenschlusses der Generationen gar nicht denkbar. Insofem enthielt es durchaus Betrachtungsweisen, die heute wieder an Aktualitat gewinnen konnten - freilich ohne die biologistische Schlagseite und unter Neubestim239
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Mitgau 1977:1X72 (1930:3). Vgl. Brepohl 1938. Vgl. Brepohl 1938; Braunschadel 1998:129.
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Mitgau 1928:29. Mitgau 1930:8.
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mung des Gemeinschaftsbegriffs. Die Familie wirkte in diesem Modell noch als unumstrittene Sozialisationsinstanz. Die den Familien zugeschriebenen Eigenschaften vergegenstandlichen sich am "Berufsschicksal" von - vor allem - Vatem und Sohnen. Darum ermoglichte fiir Mitgau erst eine Erfassung beruflicher Positionen - zentriert auf (ausgewahlte) Familien^"^"^ und iiber Generationen hinweg - ein exaktes Bild von der beruflich-sozialen Bevolkerungsentwicklung in Deutschland insgesamt.^"^^ Mitgau wandte sich an dieser Stelle gegen christliche und marxistische Erklarungsansatze, denen er vorhielt, den "Auswechselprozess" zwischen Schichten, also Vorgange sozialer Mobilitat, zugunsten von entweder - gottgewollten Standesbindungen oder unubersteigbaren Klassenschranken - nicht wahmehmen zu woUen.^"^^ In Zusammenarbeit mit dem Gottinger Soziologischen Seminar und der Ostfalischen Familienkundlichen Kommission entstand zu Beginn der 1930er Jahre eine "Anleitung zur Abfassung von Lebensbildem in Selbstdarstellungen", die "sich an die Kreise der Arbeiter" wandte.^'^'^ Mitgau ging es hier besonders um die Erforschung sogenannter "sozialer Flattformberufe", die einen moglichen sozialen Aufstieg in der nachsten Generation vorbereiten sollten. Die so auf der Mikro-Ebene betrachtete Mobilitat in sozialen Schichten sah Mitgau aber, wie gesagt, stets in Abhangigkeit zur Entwicklung der allgemeinen BevolkerungsgroBe. Noch von der Tatsache des Geburtensruckganges in Deutschland vollig unberuhrt, formulierteer 1928: "Die standige Bevolkerungsvermehrung aus dem SchoBe der Familie ist die treibende Urkraft, die den SchichtungsprozeB innerhalb der Gesellschaft fortwahrend in natiirlicher Bewegung und Spannung erhalt. Je geringer die 'Lebenschance' im Verhaltnis zur Dichte der Bevolkerung wird, umso starker ist die ubereinandergelagerte (arbeitsteilige) Schichtung der Bevolkerung (an Stelle eines urspriinglichen Nebeneinander). Das erklart die natiirliche Konkurrenz. Je differenzierter die Gesellschaft wird, umso ineinander verflochtener und uniibersehbarer werden die Abhangigkeitsverhaltnisse, die Uber- und Unterordnungen. Das erklart (z.T.) heute die voUige Auflosung alter Rangverhaltnisse, an deren Stelle personliche wie koUektive Abhangigkeitsbeziehungen getreten sind. (So gibt es starke Abstufungen in der (proletarischen) Arbeiterschaft, oder im Bauemtum usw.''^"^^ Hier kam die soziologische Intention Mitgaus starker als in den bisher aufgefuhrten Uberlegungen zum Ausdruck. Die soziale Differenzierungen konnten fiir ihn nicht (in erster Linie) Resultat der "Gesetze der Auslese" sein, weil historisch gewachsene Klassenbildungen in (kapitalistischen) Gesellschaften die soziale Ungleichheit begriindeten und nicht etwa die "naturliche Ungleichheit der Menschen" untereinander eine Sozialordnung schaffe.-^"*^ In diesem Sinne blieb fiir Mitgau die mit der Bevolkerungsentwicklung in Zusammenhang stehende soziale Mobilitat eine "soziale Frage", die von der "naturwissenschaftlichen Seite des ^^^ 245 246 247 248 249
Mitgau unterschied zwischen verschiedenen familiaren Funktionen und "Familientypen" (vgl. Mitgau 1928:20ff.)V g l . Mitgau 1928:10. Ebd., 30f. Ygj "Vorbemerkung" von Rudolf Borch in Mitgau 1931, ohne Seitenangabe. Mitgau 1928:24f. U m g e k e h r t erwartete Mitgau, dass gerade der 'klassenlose' sozialistische Staat "eine Gesellschaftsschichtung nach den Gesetzen der Auslese (hervorrufe), wenn zwar nach anderen Gesichtspunkten, so doch immer in einer Rangordnung der sozial jeweils unentbehrlichen Funktionen" (ebd., 56).
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Phanomens" zu scheiden sei.^^^ D.h. allerdings nicht, dass wir in Mitgaus fiiihen Arbeiten iiberhaupt keine Anleihen aus einem biologistisch-selektionistischen Denken finden konnen.^^^ Diese standen aber neben non-selektorischen Erklarungsmustem sozialer Ungleichheit. Gerade die Phanomene der 'mobilen' Gesellschaft wurden in non-selektorischer Form in den Blick genommen. Sowohl Erbanlagen als auch "objektive Umweltfaktoren" (z.B. Milieuwirkungen) konnen, wie Mitgau betonte, soziale Mobilitatsprozesse ("Steigen und Sinken als soziales Problem") nicht hinreichend erklaren. Mitgau hob die Bedeutung der freien Willensentschliisse der Individuen und die spezifische Rolle des - im heutigen Jargon - sozialen und kulturellen Kapitals der Familien hervor. Sozialpsychologische Faktoren und nachwirkende sozialstrukturelle Bindungen friiherer Generationen^^^ seien auf diese Weise mitentscheidend fiir die Prozesse des sozialen Auf- und Abstiegs. Mitgau wies hier zwar auf die wachsende Bedeutung (immer neuer) gesellschaftlicher "Schichtungen" und Differenzierungen im (vertikal verstandenen) Sozialgefiige hin, die "Familien" bildeten jedoch ihre Grundlage.^^^ Soziale Schichten entstehen und verandem sich vor allem, weil "Familien" in ihnen wirken, die fur eine begrenzte Zeit die Kontinuitat sozialer Positionen sichem konnen. Deshalb hatte fur Mitgau jede Gesellschafts^c/i/c/z/ auch "eine durchschnittliche soziale Lebensdauer."^^^ Schon 1931 traten terminologische Anderungen ein. Johann Hermann Mitgau bemtihte sich nun starker von "Geschlecht" oder "Geschlechterverbanden" statt von Familien zu sprechen^^^ - und half damit den Weg zur Ubertragung seiner Forschungsansatz an den "Sippengedanken" zu vereinfachen (s. dazu den nachsten Abschnitt unten). Die durch den generationellen Zusammenhang sichergestellte soziale Ordnung erschien in dem Moment bedroht, wo - wie Mitgau am Beispiel des "bolschewistischen RuBland" zeigte, die "Positionsverschiebungen ganzer Bevolkerungsschichten" politisch erzwungen werden konnen oder sich "die Funktionen"^^^, auf denen die soziale Hierarchic beruht", durch okonomische Prozesse dramatisch und in rascher Folge verschieben.^^^ Mitgaus Forschungsinteresse gait aus diesen Griinden auch der Bedrohung der Familie in kapitalistischen Gesellschaften. Sie wurde als in Konkurrenz zu anderen moglichen Organisationsformen stehend verstanden: 250 251 252
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Vgl. Mitgau 1930:8. Vgl. z.B. zum Begriff der "sozialen Auslese" bei Mitgau 1930:8-14. "Sowohl Personlichkeitsleistungen wie gewisse materielle Voraussetzungen der Familie, die Mittel namlich zum Studium, aufzubringen, wirken an diesem ProzeB zusammen. Sozial in Beziehung gesetzt werden kann aber diese Einordnung der jungen Generation immer nur auf eine jeweils zuriickliegende Zeit und soziale Schicht, namlich diejenige, die durch die 'Herkunft' bestimmt wird, d. h. auf eine gesellschaftliche Bezeichnung, die aus der beruflich-sozialen Stellung des Vaters und Eltemhauses zu gewinnen ist und die,- wenn man genau vorgehen will - auf einer entsprechenden Stufe im allgemeinen etwa 30 Jahre zuriickzuliegen pflegt" (Mitgau 1941a:354). "Familie ist das unmittelbarste Gesellschaftsgebilde, in das der Einzelne eingebettet ist. Von ihr als Plattform' starlet er und erfahrt so seine soziale Einordnung in den Gesellschaftskorper; sie bestimmt das soziale Milieu fiir den Heranwachsenden" (Mitgau 1931:11). Vgl. Mitgau 1928:32,46. Vgl. Mitgau 1931:16. "Der ursprunglich ganze gesellschaftliche Lebensraum ist nach und nach zerlegt worden in einzelne, auf das Funktionieren eines Gesellschaftsganzen abgestellte dringliche (weil unentbehrliche) Teilfunktionen." (Mitgau 1931:13). Vgl. Mitgau 1928:42f "Ganze Bevolkerungsschichten werden 'entwurzelt', werden nach dem Ausdruck Sombarts Flugsand" (ebd.).
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"Doch gegenwartig ist es nun wohl so, daB man bereits anfangt zu befurchten: diese 'naturlichste' Tatsache (die Familie; H.G.) unseres taglichen Lebens kann einmal abgelost werden von neuen Kraften und Organisationsformen in der Gesellschaft, deren Wirken und Wesen wir heute allerdings noch nicht genug erkennen konnen, um irgendwie zu sehen, daB sie Ersatz fiir die grundlegenden Funktionen der Familie im Gesellschaftskorper zu bieten imstande sind."^^^ Die Rolle der Familie als Garant sozialer Kontinuitat schien durch die Veranderungen der traditionellen Schichtungssysteme bedroht; das, was die Familie bisher - in Mitgaus Sicht in Eigenregie sicherstellte, namlich die Besitz- Berufs- und Statusiibertragung zu gewahrleisten, trat in Konkurrenz zu den beruflichen und schulischen Erziehungs- und Distributionsaufgaben. Mit Bezug auf Malthus und Darwin zeigte Mitgau, dass Familienfunktionen tendenziell von iibergreifenden Gesellschaftsfiinktionen abgelost wurden.^^^ Dazu werden in Mitgaus spateren Analysen die Erwahnung kriegsbedingter Effekte hinzutreten, die zur Erosion der alten Schichtungssysteme beitragen. Wahrend der Kriegsjahre, im Sommer 1942, wird Mitgau seinem Tagebuch anvertrauen: "Der nationalsozialistische Weg GroBdeutschlands, Vierjahresplan und Krieg, haben zunachst in einem bisher nicht gekannten AusmaB Familientrennungen, Wanderungen, Auslandermassierungen usw. zurFolgegehabt."260 ILS.IIIJohann Hermann Mitgaus Denkstil im Nationalsozialismus "Was ist empirisch - gesellschaftlich 'Volk'?" Mitgau setzte nach 1933 - ganz dem Credo der "Volkskorperforschung" und der "vergleichenden Volksforschung" folgend - die Suche nach den "Wachstumsgesetzen eines Volkes" auf die Tagesordnung. "Volk" erschien bei ihm als eine selbstandige soziale Kategorie, die nach eigenen soziologischen GesetzmaBigkeiten funktioniert. Seine Gesetze lieBen sich - so die Frontstellung, die sich besonders gegen die etablierte akademische Soziologie richtete "weder mit abgeleiteten sozialen Theorien noch mit isolierend-abstrakter Statistik" erfassen.-^^^ Das "Volk" erschien aber nur in seinen Subpopulationen und sozialen Einheiten als empirisch sichtbar. Wie die Leipziger Bevolkerungsforscher suchte Mitgau bei den empirischen Analysen den historischen Langsschnitt: "Wie sieht die 'Gemeinschaft Volk' als Lebenseinheit im Wuchse der Generationenzusammenhange aus? Was waren empirisch 'Stande', tiber deren Funktion und Wesen so schone Theorien aufgestellt worden sind? Was wissen wir uberhaupt vom eigentlichen Volksaufbau mehr als quantitative Querschnitte und qualitative Bevolkerungsdaten?"^^^ Auch bei seinen methodologischen Uberlegungen bezog er sich ausdriicklich auf seine Erfahrungen mit den 'Dorfwochen' von Gunther Ipsen und auf die "Gegen wartskunde" Wilhelm Heinrich Riehls:
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Mitgau 1931:7. Nach seinen Tagebuchaufzeichnungen habe er in den 1920er Jahren "den Volkskonservativen einmal etwas naher gestanden" (Vgl. Miinchener Tagebuch, Dritter Teil 1930-1941, Mitgau 1942:43). Vgl. Mitgau 1928:23. Munchener Tagebuch, Dritter Teil 1930-1941, Mitgau 1942:136. Vgl. Mitgau 194lb: 169. Munchener Tagebuch, Dritter Teil 1930-1941, Mitgau 1942:43.
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Denkstile "Ich war seinerzeit in Schlesien an den studentischen 'Dorfwochen' beteiligt, die vom Boberhaus und Prof. Ipsen-Leipzig ausgingen. Fur das leider nicht mehr zustande gekommene S.S. 1932 hatte ich in Frankfurt/0, eine KoUektivuntersuchung meines gesamten Seminars (arbeitsteilig) vor: Geschichte der Bauemhofe in verschiedenen Dorfem der mittleren Ostmark. Mir kommt es bei allem auf die soziale Gegenwartkunde an, doch nicht statistisch-beschreibend, sondem dynamisch als Stufe eines Gesamtablaufes und vom Ganzen (nicht vom Einzelnen) aus gesehen und erfaBt (...) Mit Systemen, in die die soziale Wirklichkeit hineinpassen soil, kann ich nichts anfangen. Die vergleichende Genealogie benotige ich, um damit die organischen uberindividuellen Ablaufe wie sozialen Aufstieg, Entwicklung von Standen und Klassen usw. empirisch zu erfassen (ohne irgend eine der vielen Sozialtheorien vorauszusetzen! (...) Von solchen, noch ganz unerschlossenen Material aus kame man vielleicht einmal dahinter, was e m p i r i s c h - gesellschaftlich 'Volk' ist. Und man wird erstaunt sein, dafi so viele geistreiche Sozialtheorien deswegen nicht stimmen, weil ihre Voraussetzungen nicht zutreffen, weil es z.B. kein Proletariat gibt, das mit jeder Generation von Vater-Sohn-Enkel wieder von vom anfangt. GewiB gibt es das Proletariat als Klasse, aber nicht notwendig als genealogisches Berufsschicksal, d.h. innerhalb bestimmter Geschlechter!"^^^
Mitgau sah sich als Reformer der traditionellen Bevolkerungsstatistik, denn diese erfasse den "genealogischen Tiefenzusammenhang gelebten Lebens" nicht: "Denn das ubliche statistische Urmaterial wie z. B. die Fragebogen der allgemeinen Volkszahlungen, die ja bis 1933 nur die Einzelperson, nicht die Familie zum Gegenstand hatten, boten daflir keine Anhaltspunkte. Es kam darauf an, planmaBig an Stelle des unorganischen, willkiirlichen Querschnittverfahrens mit zeitlichen Langsschnitten zu arbeiten, um diesen in sich zusammenhangenden Ablauf einer langst vergangenen Bevolkerungsentwicklung zu erfassen, uberhaupt erst nach und nach wiederzufmden."^^"* Die "Sozialstruktur" war fur all diese Wissenschaftler etwas gleichsam handfest Gegenstandliches und an der Bevolkerung Abbildbares - mindestens soUte sie es sein. Dieser induktiv verfahrende Ansatz war es auch, der Mitgau mit Wilhelm Brepohl (dessen Arbeiten er haufig zitierte) und den ebenfalls rein induktiv verfahrenden Leipziger "Realsoziologen" verband. Nach 1945 waren in dieser Hinsicht keine semantischen Umbauten notwendig. Auch in der jungen Bundesrepublik glaubte Mitgau weiterhin an die Moglichkeit eines ausschlieBlich induktiv beschreibbaren "Gesellschaftsgebildes". So schrieb er im Jahr 1952 noch ganz im Duktus seiner Beitrage far das "Blaue Archiv": "Heute scheint die Wissenschaft diese Aufgabe empirischer Soziologie und historischer Volksforschung allgemeiner zu sehen. Mit Hilfe von Kirchenbuchdaten geht man zunachst an eine sippenkundliche Bestandsaufnahme und untersucht auf dieser Grundlage den Tiefenbau irgendeines ortlichen Ausschnittes aus dem Volkskorper, etwa eines Dorfes oder einer sozialen Schicht, z. B. des Honoratiorentums einer Stadt. So versucht man, soziologisch das Gefage und die Wachtumsgesetze von 'Gemeinschaften' im Sinne der Tonniesschen Begriffsfestlegung auf dem Untergrunde ihrer Bluts- und Uberlieferungsbahnen, d.h. aus diesen drei verschiedenen Vererbungseigenschaften des Generationsschicksals kennenzulemen. Man wird dann einmal in der Lage sein, das Modell eines solchen gewachsenen konkreten Gesellschaftsgebildes induktiv aufzubauen und 263 264
Miinchener Tagebuch, Dritter Tell 1930-1941, Mitgau 1942:42f. Mitgau 1941a:345.
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nicht mehr wie bisher deduktiv aus irgendwelchen abgeleiteten Sozialtheorien oder nur quantitativ-'demographisch' zu umschreiben aus der statistischen, isolierenden Erfassung etwa von Einzelpersonen. Hierher gehoren gegenwartsnahe Gesellschaftsfragen wie die des sozialen Aufstieges und Abstieges, der aus der Erbfolge erst zu erklarenden 'Akkumulation des Kapitals' - des bedeutsamen Hintergrundes fur das Zustandekommen des Hochkapitalismus - der Voraussetzungen fur Stand-, fiir Herrschafts- und Gemeinschaftsbildung und deren Selbstbehauptung wie des Verfalles von Fiihrungsschichten, der These von der 'Verelendung des Proletariates', der 'Generationsreihen' (Jugendreihen) als Fragen der Kunst- und Geistesgeschichte (dazu Pinder, Scheidt, K.V. Miiller u. a.), von Wanderungsvorgangen und von Fragen der Verstadterung, der Landflucht, der Bodenstandigkeit, ganz dabei abzusehen von den drangenden Problemen unserer Nachkriegszeit, die mit Umsiedlung, den Fliichtlingsvorgangen, dem Wiederaufbau der Familien usw. zusammenhangen."^^^ Doch zuruck in die Zeit des Nationalsozialismus. Die richtige Einsicht, namlich dem Faktum intergenerationeller sozialer Mobilitat empirisch zu folgen, schloss Mitgau den nationalsozialistischen Gedanken biologisch ungleichwertiger Sippen an. Er hielt seine sozialempirisch-genealogische Rekonstruktion dann auch - ohne dies freilich naher zu begriinden - in "erbbiologischer" Hinsicht fur relevant, denn "aus den genealogischen Gefiige der Generationen (lieBe) sich zugleich biologisch ein 'Modell des deutschen Erbstromes' gewinnen und der bevolkerungspolitische Bestand des Gesamtvolkes einmal aufnehmen, wenn nach einer miihevoUen Kleinarbeit von Jahrzehnten das riesige Gesamtmaterial erforscht sein wird."^^^ Der Bevolkerungswissenschaftler Mitgau hatte nichts weniger als eine das Soziale am Bevolkerungsprozess aufzeigende umfassende Modellbildung im Sinn. Dieser Endzweck seiner induktiven Forschung wurde erst durch seine AuBerungen nach 1945 deutlich. Vor dem groBen modelltheoretischen Entwurf stand aber tatsachlich die ganz praktische Nutzlichkeit personenbezogener Daten im Rahmen der Stadt- und Siedlungsplanung: "Die Geschlechterverbande soUten angesichts der Verstadterung wie Umsiedlungs- und Wanderungsbewegungen im neuen Raume GroBdeutschland lebendige Volkskeme innerhalb geschlossener Landschaften bilden (...) Unter diesem Gesichtspunkt sind die bestehenden Verbande umzuformen und zu Tragem einer Familienpolitik und -erziehung zu machen."^^^ Neben dem "Wanderungsgefalle vom Lande zur Stadt und seiner Auslesewirkungen" untersuchte Mitgau die "biologische Bestandigkeit wie soziale Festigkeit der GroBstadtfamilien". Anhand der Daten aus 565 "Familienverbanden" - er hatte diese 1940 in einer postalischen 265 266 267
Mitgau 1952:6. Munchener Tagebuch, Dritter Teil 1930-1941, Mitgau 1942:105. Munchener Tagebuch, Dritter Teil 1930-1941, Mitgau 1942:135f.; siehe auch Mitgau 1941b: 169f. Nicht ohne Melancholie wird er zu seiner Arbeit in der Forschungsgemeinschaft notieren: "Statt mit jungen Menschen habe ich jetzt mit hochst niichtemen und praktischen Mal3nahmen und eigentlicher Forschungsarbeit zu tun, hinter denen eine Lehrtatigkeit an der Universitat zurticktreten wird. Bevolkerungswissenschaft wie Bevolkerungspolitik stehen im Mittelpunkt - wie ich meine - unseres Aufbaues, sobald wir einen gesicherten Frieden haben werden. Es gibt nichts Bedeutungsvolleres als die Nachwuchsfrage nach Zahl, Eigenschaften und Auslese. Bis jetzt habe ich mich zwar nicht unmittelbar um Politik, aber ihr nahestehend um Erziehung und Einordnung der jungen Generation bemiiht." (Vgl. Munchener Tagebuch, Dritter Teil 1930-1941, Mitgau 1942:135).
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Befragung angeschrieben^^^ - versuchte er "die Annahme, dass Stadtgeschlechter nicht alt werden, nach kiirzerer oder langerer Dauer verbraucht zu sein pflegen und aussterben"^^^, zu iiberprufen. Hier wurden deutliche Unterschiede zu Mitgaus friiheren Arbeiten sichtbar. Nun war es nicht mehr eine "Schicht", die uber eine begrenzte "soziale Lebensdauer" verftigte, sondem in deutlichen Anklangen an die Rassen- und Gesellschaftsbiologie^^^ waren es natiirliche Personen und Familienverbande, die drohten "auszusterben". Alfred Weber wird dann auch in einem Briefwechsel sein Unverstandnis liber die 'erbbiologische' Schlagseite in Mitgaus Arbeiten auBem, und Mitgau darauf hinweisen, worin die tatsachliche Bedeutung seiner Arbeiten liegt: in einer sozialpolitisch ins Werk zu setzenden Neubildung von "Gemeinschaft" (besonders in der dorflichen Gesellschaft): "Ich halte die Generationsforschung, wie Sie sie treiben, fiir sehr wertvoll, bedauere aber, wenn sie sich allzusehr mit Erbbiologischem vermischt oder gar gleichsetzt. Die gesamte Erbbiologie ist meiner Ansicht nach heute auf Fehlwegen (...) Ihre Generationensstufen geben einen viel richtigeren Hinweis, namlich den auf s o z i a l e Einheiten. Heute ist das schlechthin Wichtigste die soziale und geistige Einheit des D o r f e s , wo es noch eine solche gibt, zu erhalten und so weit es geht, neu zu pflanzen. Nur von da auf dieser sozialen Stufe kann man meiner Ansicht nach beginnen. Weiter oben und schon bei den Arbeitem wird alles wieder anders..."^^' Mitgaus "standische Geschlechterkunde" hat nach 1945 weder in der Bevolkerungswissenschaft noch in der Fachdisziplin Soziologie Wirkung entfalten konnen. Trotz positiver Rezensionen in der Soziologie (mit Ausnahme einer Besprechung durch die von Wiese-Schiilerin Hanna Meuter) haftete den Arbeiten wohl der starke Bezug zur Volkskunde und zur Genealogie an. In seinem Aufsatz zur "Vertikalen Mobilitat" im Handbuch der empirischen Sozialforschung erwahnte Karl Martin Bolte^"^^ Mitgaus Arbeiten (neben der Arbeit von Nothaas, s.o.) nur kurz. Bolte nutzte hier die Gelegenheit, Theodor Geiger als Vertreter einer vergleichbaren, aber doch etwas anders gelagerten hevolkerungssozioiogischQn Vorgehensweise zu rezipieren: "Die Untersuchung der in einer bestimmten Zeitspanne ablaufenden Berufswechsel schneidet im Grunde genommen aus einer Vielzahl uber viele Generationen laufender Familiengeschichten bestimmte Teilabschnitte heraus. Eine Bereicherung des Wissens iiber Inter-Generationenbewegung ist deshalb dadurch zu erlangen, daB man sie unter dem Aspekt von Familiengeschichten sieht. Wegen der Problematik der Materialbeschaffung wird eine Untersuchung dieser Zusammenhange im allgemeinen nicht zu quantitativen Ergebnissen fiihren, wohl aber ist es moglich, aus Familienschicksalen bestimmte Bewegungstypen herauszuarbeiten. Im deutschen Bereich ist diese Frage in mehreren Arbeiten insbesondere von Mitgau (1928,1952) beachtet worden. Er hat folgende Bewegungstypen hervorgehoben... (Und Karl Martin Bolte erklarte dann kurz das "personlichkeitsbetonte Generationenschicksal, das "traditionsbezogene Generationenschicksal" und das "milieubezogene Generationenschicksal")."^^^
26^ 269 270
Falk Ruttke und der "Reichsbund Deutsche Familie" unterstutzten diese Befragung (vgl. Mitgau 194lb: 175). Vgl. Mitgau 1941 a:342. Er verweist u.a. auf "Die rassenbiologische Bedeutung des sozialen Aufsteigens und das Problem der immunisierten Familien, Gottingen 1920". Brief von Alfred Weber an Hermann Mitgau vom 8. 12. 1942, Vgl. Munchener Tagebuch, Vierter Teil 1942 bis 1945, Mitgau 1950:31f Vgl. dazu Mitgau 1965:13f
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"Statt nach den Berufswechseln sowie nach den Auf- und Abstiegen der Angehorigen einer Familie im Generationenwechsel zu fragen, kann man den Blick auf eine bestimmte Bevolkerungsgruppe richten und sich dafiir interessieren, woher die zugehorigen Personen kommen und wohin ehemalige Angehorige dieser Gruppe bzw. deren Nachkommen gehen. Es handelt sich hier um die kombinierte Beobachtung der Zu- und Abstrome, die Theodor Geiger (1955) immer wieder empfohlen hat." ^^^ Il.S.IVZum Leben und Werk von Elisabeth Pfeil - Wissenschaftliche Stationen Die Auseinandersetzung mit den biographischen und wissenschaftsbiographischen Aspekten des Lebenswegs von Elisabeth Pfeil war und ist bereits Gegenstand einer anderen Untersuchung im Rahmen des Schwerpunktprogramms^^^, so dass hier zugunsten der Darstellung ihres Denkstils nur noch einmal kurz auf die wichtigsten Stationen im Leben der Bevolkerungswissenschaftlerin eingegangen werden soil. Elisabeth Pfeil wurde am 9. Juli 1901 geboren und wuchs als Kind eines Direktors der Berliner Siemens-Werke auf. Nach dem 1921 abgelegten Abitur studierte sie Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universitat Marburg. Sie promovierte 1929 in Berlin mit einer Dissertation zur Thematik "Die Frankische und Deutsche Romidee im friihen Mittelalter" und war zur gleichen Zeit Assistentin bei dem Historiker und Direktor der PreuBischen Staatsarchive Albrecht Brackmann. "Uber Albrecht Haushofer und den Verleger Kurt Vowinkel, die sie im Hause Harmsen kennenlemte, gewann sie Interesse an der Geopolitik und an der Bevolkerungswissenschaft."^'^^ Seit 1934 war Pfeil Schriftleiterin des 1931 gegrtindeten "Archivs flir Bevolkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde" (spater: "Archiv fiir Bevolkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevolkerungspolitik"). 1941 wurde sie unter Friedrich Burgdorfer Mitarbeiterin der o.g. Forschungsgruppe am Bayrischen Statistischen Landesamt in Miinchen. Nach dem Krieg war Elisabeth Pfeil emeut am Bayerischen Statistischen Landesamt beschaftigt.^''^ Von Februar 1946 an gab Pfeil zusammen mit Martin Komrumpf den "Statistischen Informationsdienst" heraus.^-^^ Ihren guten Ruf in der Soziologie verdankte sie ihren empirischen GroBstadt- und Familienforschungen, die sie seit 1952 an der Sozialforschungsstelle in Dortmund durchfiihrte. Elisabeth Pfeil gehorte neben Johann Hermann Mitgau und Karl Valentin Mtiller auch zum "mitverantwortlichen engeren Mitarbeiterkreis" (Mitgau) der Zeitschrift "Familie und Volk. Zeitschrift far Genealogie und Bevolkerungskunde", die im Januar 1952 aus der Zusammenlegung der Zeitschriften "Genealogie und Heraldik" und den "Gottinger Mitteilungen" entstanden war. Ab 1955 war Elisabeth Pfeil als wissenschaftliche Referentin fur Soziologie an der Hamburger Akademie fur Gemeinwirtschaft sowie als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministers fur Familie, Jugend und Gesundheit in der Berichtskommission zur Erarbeitung des 1. Familienberichts fur den Deutschen Bundestag tatig. Pfeil gehorte dem 273 274 275 276 277 278
Bolte 1969:5f. Bolte 1969:6. Siehe dazu bereits als neueste Veroffentlichung Schnitzler 2005. Harmsen 1976. Vgl. Friedrichs 1975 und J. Friedrichs in Wafiner 1986:105ff. Vgl. Harmsen 1976.
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Prasidium der Deutschen Akademie fiir Bevolkerungswissenschaft an und berichtete 1957 liber die Lage der Demographie in Deutschland, Osterreich und der Schweiz auf dem Pariser Bevolkerungskongress.^^^ Seit den 1950er Jahren war Elisabeth Pfeil ordentliches Mitglied der "Akademie fiir Raumforschung und Landesplanung" sowie Mitglied im Griindungsausschusses fur die Universitat Dortmund (Abteilung "Raumplanung"). Sie starb am 25. Juni 1975.280 II.3. V Elisabeths Pfeils 'sozialwissenschaftlicher' Denkstil in der Bevolkerungsforschung Der von Elisabeth Pfeil wahrend des Nationalsozialismus bevorzugte Bevolkerungsbegriff lasst sich am besten anhand ihrer einschlagigen Studie "Bevolkerung und Raum" (1937) nachvollziehen.281 Hjej- gj^g sie auch dezidiert auf ihre Vorstellung einer Bevolkerungsforschung ein. Die in dieser Studie entwickelten Gedanken waren im Sinne der Autorin nicht als tiefgriindige (wissenschafts)theoretische Reflexionen, sondem als Prasentationen von Zusammenhangen fur den Bevolkerungspolitiker und Praktiker (Bevolkerungsstatistiker) zu verstehen. Die zentralen Gedanken nannte sie gleich zu Beginn: Die (1) "menschliche Bevolkerungslehre" hatte es ihrer Meinung nach immer mit bewussten Willenshandlungen des Menschen zu tun; (2) demographische Prozesse konnen nicht nur tiber die Einwirkung auf den Menschen und die von ihm geschaffenen soziale Systeme, sondem durch die Gestaltung des Raums beeinflusst werden; (3) 'Bevolkerung', 'Raum' und soziale Welt erschienen ihr als ineinander verschrankte und gleichwertige Faktoren der 'Bevolkerungslehre'. Zuerst fiihrte Pfeil einen (zunachst) nicht weiter ausgearbeiteten naiven Begriff des 'sozialen Raums' ein: "Es ist klar, daB die menschliche Bevolkerungslehre nicht auf der allgemeinbiologischen stehen bleiben kann, wo sie es mit der aktiven Raumgestaltung durch den Menschen zu tun hat, mit bewuBten Reaktionen und Willenshandlungen. Im Bereiche des Menschen sind Raume nicht mehr die von der Erde gegebenen Landschaftsraume, wie sie Pflanze und Tier erleben, sondem die aktiv gestaltete Landschaft, die Kulturlandschaft, ja dariiber hinaus Raume, die sich weitgehend von der landschaftlichen Grundlage gelost haben, soziale und geistige Raume."^^^ Pfeils Bevolkerungsbegriff war gepragt von der Unterscheidung zwischen "Art" (lies: biologisch-soziale Kollektive) und "Organismus" (lies: Einzelwesen, Korperbiologie).^83 Nach biologischer Definition ist eine Art (oder Spezies) eine Gruppe von Lebewesen, die miteinander fruchtbare Nachkommen zeugen konnen - eine "Fortpflanzungsgemeinschaft". Neue 279 280
281
282 283
Vgl.Schubnell 1959:266. Vgl. Mitgau 1961, Friedrichs 1975, Harmsen 1975,1976. Weitere Angaben zu Pfeils Biographie (unter besonderer Beriicksichtigung ihrer Verbindungen zur Raumforschung) unter Gutberger^l999:546f. Vgl. Pfeil 1937 bzw. 1939b. Pfeill937:114. "Entsprechend dieser Bedeutung (gemeint ist die Herstellung einer Harmonie, eines Gleichgewichts, H.G) der Art fiir die Anpassung im Raum mussen wir, wenn wir uns von der Biologie her an die Bevolkerungsfrage heranzutasten suchen, von der Art ausgehen, nicht etwa vom Organismus. Sie wissen ja, wie beliebt Vergleiche des Volkskorpers mit dem Organismus sind, der Staat als Organismus usw. Wenn dies in der vorsichtigen Form geschieht, wie es etwa Kjellen tut, indem er den Staat als Lebensform sieht, so kann der Vergleich sehr fruchtbar sein. Gewisse Lebensprinzipien, die fiir das Einzellebewesen, den Organismus, gelten, haben auch im staatlichen und gesellschaftlichen Leben Geltung. Dennoch ist der Weg von der Art her ergiebiger als der vom Einzelorganismus her" (Pfeil 1937:116).
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Arten entwickeln sich, wenn zum Beispiel eine Tierpopulation raumlich getrennt wird. In Pfeils Blick auf "Bevolkerung" ging es natiirlich nicht um die Fortpflanzungsfahigkeit der Angehorigen der Art Homo sapiens untereinander, sondem um soziale Unterschiede, genauer gesagt, um fur die quantitative Bevolkerungsentwicklung entscheidende Besetzung sozialer und beruflicher Positionen in Gesellschaften.^^'* Es sei hier vorweggenommen, dass in ihrem Verstandnis nur 'Arten' sozial ungleich sein konnten, nicht aber die Einzelwesen in ihrem Verhaltnis zueinander. Von 'sozialer Ungleichheit' zu sprechen hatte fur Pfeil nur nach dieser Abstraktion einen Sinn gemacht. Uns soil im folgenden interessieren, ob bei ihr 'Arten' nicht vielmehr als 'Schichten' in einem soziologischen Sinne verstanden wurden. Ob also die Rede von 'Arten' nur eine terminologische Anpassung an die "biologische Sozialinterpretation" (Gerhard Mackenroth) darstellte, Pfeil aber tatsachlich schon im Sinne einer nicht-biologistischen Ungleichheitsforschung argumentierte. Zunachst einmal ist festzuhalten, dass sich fur Pfeil die beiden Kategorien "Art" und "Organismus" auch in ihrem Verhaltnis zum Raum unterschieden. Wahrend der "Organismus" auf den Raum eindimensional reagiere (Anpassung gemaB 'Anlage' = objektiver Raum), wtirden 'Arten' untereinander viele eigene Raume und Umwelten ausbilden. Daraus folgte fur Pfeil auch, dass die "Art" elastischer als der Organismus auf Umweltanderungen reagieren konnte: die 'Art' hat verschiedene Moglichkeiten der Anpassung, die Anpassung ist nicht durch die Natur vorgegeben, sondern sie erfolgt durch einen auch menschlicher Einwirkung zuganglichen Prozess der "Siebung". "Hier nun zeigt sich die Bedeutung der Art flir die Anpassung (eine Tier- oder Pflanzenart umfafit Lebewesen, die miteinander Nachkommen hervorbringen konnen). Die Grenzen ihrer Anpassungsfahigkeit sind weiter gezogen als die des Individuums: die Art besteht nie aus voUig gleichen Individuen, sie besitzt daher jedes Merkmal nicht nur in einer punkthaften GroBe, sondem in einer gewissen Schwankungsbreite; noch dazu treten die Merkmale in den verschiedensten Kombinationen auf Dadurch ist die Art befahigt, auf Umweltanderungen elastischer zu antworten, als der Organismus es kann. Wenn Raumanderungen eintreten, z. B. bei einem Klimawechsel, Oder weil eine Art sich auf Wanderschaft begibt und in fremde Raume kommt, so werden die Trager derjenigen Eigenschaften, die auch im neuen Raume lebensfahig sind, iiberleben und sich vermehren, die nicht passenden dagegen aussterben. Die Art wird, wie wir sagen, gesiebt. Siebungsvorgange an mehreren aufeinanderfolgenden Generationen schaffen eine Auslese in der betreffenden Richtung. Die Anpassung durch Siebung und Auslese ermoglicht den Fortbestand der Art in Fallen, wo das Einzelwesen versagen muB. Natiirlich sind auch dieser Anpassung Grenzen gezogen: Die Raumfremdheit darf nicht zu groB werden. Je reiner durchgezuchtet, je einheitlicher also eine Art ist, desto enger ist sie ihrem Heimatraum verbunden, desto gefahrdeter bei weitgehenden Umweltanderungen, denn an der Ungleichheit setzt ja gerade die Anpassung durch Auslese an."^^^ Pfeil ging es also um die Vielfalt der Zusammensetzung einzelner Arten. In Pfeils Denkstil tauchte an dieser Stelle auch eine dezidierte Vorstellung von Harmonic auf; in ihrer (hier ge-
2^"* 285
Pfeil wusste, dass in Amerika seit langerem dariiber diskutiert wurde, dass gesellschaftliche Bedingungen und die Motive von Gesellschaftsmitgliedem den "demographic trend" wesentlich beeinflussen (vgl. Pfeil 1942a:210). Pfeil 1937:114f.
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opolitisch beeinflussten) Denkweise waren es die (historisch und politisch kontingenten) 'Raume', die diese Harmonie erzeugen: "Der Raum also - konnen wir sagen - ziichtet die Art um. Er ziichtet Sie so lange um, oder anders gesehen, sie paBt sich so lange an, bis sie sich miteinander in Harmonie gesetzt haben."^^^ Das postulierte Gleichgewicht war fur Pfeil durch die in einem Raum bereits eingepassten 'Arten' leichter zu erhalten als durch neu in ihn einzupasssende 'Arten'. Dem Denkstil lag nicht nur hier ein Sozialkonservatismus zugrunde. Dass dem 'Raum' - verstanden als ein raumlich hegrenztes Territorium eigener sozialer Harmonie^^^ - eine entscheidende Funktion als Ordnungsfaktor eingeraumt wurde, begrlindete Pfeil damit, dass es in der quantitativen Bevolkerungsfrage gar nicht um den Genbestand von Bevolkerungen gehe (also um Zuchtung im biologischen Sinne), sondem um die durch die gesellschaftliche Organisation bedingten Auslesemechanismen. Eine Kontrolle des quantitativen Bevolkerungsbestandes erscheint hier nur dann als moglich, wenn auch die Auslesebedingungen (die Mechanismen, die die vertikale Organisation einer Gesellschaft sicherstellen) kontroUiert werden konnen. Um auf diese stabilisierend einzuwirken, gelte es sich dem 'Raum' zuzuwenden, denn der Raum (bzw. die Raumplanung) wurde hier gleichsam als Schliissel fiir die Neuorganisation bzw. Wiederverankerung gesellschaftlicher Auslesemechanismen betrachtet: "Auch die menschliche Bevolkerung setzt sich mit ihren Raumen in Harmonie durch Modifikation, Variation (also Siebung und Auslese) und Mutation. Auch hier spielt die Variation eine untergeordnete Rolle, sie setzt eben nur am Einzelwesen an. Da bei menschlichen Bevolkerungen der Genbestand gewohnlich noch viel ungleichartiger ist als im Tier- und Pflanzenreiche, spieh die Auslese eine noch viel groBere Rolle. Siebung und Auslese, die an der Verschiedenartigkeit und geeignetheit der Merkmale und der Merkmalskombinationen ansetzen, haben in den starker durchmischten menschlichen Gruppen eine ausgezeichnete Angriffsflache. Auch die menschliche Bevolkerung wird durch den Raum umgezuchtet."^^^ "Gegen die Unordnung im deutschen Raume - wenn man es so nennen darf - aber ist reaktiv ein Antrieb zur Neuordnung entstanden. Geopolitik, Raumforschung und Raumordnung - Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik, Erbkunde und Erbpflege, Rassenkunde und Rassenpflege, alle diese Zweige der Forschung und Politik gehoren dahin. Sie haben gesehen, wie wir eigentlich iiberall nur Fragen haben, noch keine Antworten. Aber die richtigen Fragestellungen zu haben, ist schon viel. Der ganze Gestaltungswille des Nationalsozialismus steht nun hinter diesen Bemtihungen um die neue Ausbalancierung im vereinheitlichten deutschen Raum. Was hier stattfmdet, ist eine groBe Selbstbesinnung auf das eigentlich deutsche Wesen, wie es sich aus Rasse und Raum, im Wechselspiel von Bewirktheit und Wirkung, von Spannung und Ausgleich entfaltet und wie es Form fmden will im neugeordneten Raume, in wohlgegliederter lebensfahiger Bevolkerung, die aus sich heraus die deutsche Kultur entfaltet. "^^^
286 287
Pfeil 1937:115. Als ein Beispiel nennt Pfeil, ohne sich dezidiert auf Gunther Ipsen (vgl. Ipsen 1937) zu beziehen, den Ostseeraum (vgl. Pfeil 1937:116). Raume wirken hier wie Lahore, in die willkiirlich 'Gesellschaften'je eigener Ordnung hinein gesetzt werden konnen. Pfeil 1937:116. Pfeil 1937:129.
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Es ging Pfeil in keiner Weise um 'Menschenztichtung' im Sinne einer Neuschopfung einer neuen 'Art' oder 'Rasse', sondem vielmehr um die 'Pragung' der bereits erkennbaren Differenzierungen zwischen Bevolkerungsgruppen; und diese waren vor allem sozialer Natur. Die dahinter liegende Harmonievorstellung war aber nicht 'der Natur' entnommen, sondem ein soziales Leitbild der Zeit, das ja auch heute noch sowohl positive wie negative Implikationen umfasst. In diesem Zusammenhang bezog sich Pfeil auch auf die Resultate der amerikanischen Wanderungsforschung, wobei sie diese Diskussion nur in wenigen Satzen wiedergab. Zudem parallelisierte Pfeil diese Migrationsforschung in den USA mit den Untersuchungen der Binnenwanderungsforschung in Deutschland. Es ginge auch der US-amerikanischen Migrationsforschung darum zu zeigen, dass sich "aus dem groBen Einwanderergemisch (...) ein amerikanischer Typ herausbildet".^^^ So wie Wilhelm Brepohl nach dem "Ruhrvolk" suche, so untersuche man in den USA "eine vereinheitlichende Wirkung (des Raumes) auf seine Bevolkerung."^^^ Tatsachlich zeigen aber gerade Brepohls Arbeiten, wie voreingenommen und mit wie wenig soziologischem Sachverstand in Deutschland an dieser Frage gearbeitet wurde. Brepohl fragte "Baut sich das Ruhrvolk aus kulturfahigen Sippen auf oder nicht?"^^^ Die Antwort bestand wiederum in Konstruktionen von beeindruckender Schlichtheit, in der zwar die Bedeutung von Umweltwirkungen hervorgehoben wurden, diese Wirkungen aber durch ihre Verkniipfung mit generativen Erbfaktoren emeut eng determiniert erschienen Brepohl demonstrierte das am Beispiel der 'Mobilitat': "Wir stoBen hier also auf die alte Frage nach der Bedeutung von Umwelt oder Milieu und Rasse. Grundsatzlich ist vorweg festzulegen, daB das Bleibende aus der Rasse stammt. Aus dem Blute kommen: die Einstellungen, die Bereitschaften, der 'Grundton' des Lebensgefuhls. Anderes kommt nicht aus der Umwelt, sondem gehort zu ihr, ist ein Teil in diesem Gewebe. Hier baut die Umweh ebensowenig wie sonst von sich aus einen inneren Menschen auf, aber sie bietet an, sie legt nahe, sie zwingt oder ruft hervor, was im Menschen angelegt ist. Wofiir kein Anhalt in der Umwelt geboten ist, das kann auch im Blut nicht wachwerden. Dafiir gibt der Vergleich des Verhaltens der Menschen der Industrie gegeniiber (es ist keineswegs einheitlich) geniigend Beispiele. Wahrend die einen gewissermaBen mit beiden Beinen in diese neue Umwelt hineinspringen und sich in ihr wohl fiihlen, lassen sich andere alles nur unter Druck abringen, und nur zwangsweise lassen sie ihr Leben umwandeln. Wahrend die einen bald zu Herren der Maschinen werden, bleiben die anderen ihr Leben lang die unsicheren Getriebenen, ja noch ihre Nachkommen legen die Scheu und Unsicherheit nicht ab."^^^ Problematisch ist hier nicht die Feststellung, dass unterschiedliche Grade der Auspragung von Selbstbewusstsein und Vertrauen existieren, sondem die Deutung dieser sozialpsychologischen Phanomene in einem erbbiologischen Begrlindungszusammenhang geborener 'Herren' und 'Knechte'. Elisabeth Pfeil, die in ahnlicher Weise wie Brepohl Wandemngsprozesse aus der historischen Fortfiihmng der Generationenfolge (in zunachst) gehobenen sozialen Schichten^^"^ und den raumlichen AusmaBen von 'Heiratskreisen' erklarte^^^, bezog sich in der Beobach290 291 292 293 294
Vgl. Pfeil 1937:118. Vgl. Pfeil 1937:118. Vgl. Brepohl 1938:353. Brepohl 1938:354. Vgl. Pfeil 1937:126.
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tung der Migration auf die Resultate damaliger Bevolkerungshistoriographie. Und diese arbeitete mit einem schlichten Bild sozialer Stratifikation. Die Rede von "auf- und absteigenden Stadtgeschlechtem" und einem "kulturellem und blutmaBigen Austausch in der fiihrenden Schicht" setzte ein Bild von Gesellschaft voraus, indem wie in einem formstabilen Gerust der Bevolkerungsnachwuchs auf stets gleichbleibend verstandene, vertikal angeordnete Segmente verteilt wird. Die Bevolkerung(en) bewegen sich, nicht aber soziale Verhaltnisse. Auch die gesellschaftlichen Zwecksetzungen erscheinen als immergleiche. Um es plastisch auszudriicken: In dieser Sichtweise mussen die Menschen in die als unveranderlich verstandenen sozialen Verhaltnissen 'eingepasst' werden - auch unabhangig davon, ob diese sozialen Verhaltnisse den Menschen (noch) gemaB sind. Doch Elisabeth Pfeil reflektierte iiber die sich abzeichnenden sozialen Umbruche sehr wohl bereits in den 1930er Jahren, sie verband ihre Uberlegungen aber stets mit den Essentials und Vomrteilen einer biologischen Sozialinterpretation, wie wir an ihren Bemerkungen zur Stadt-Land-Wanderung sehen konnen: "Demgegenuber ist geltend gemacht worden, daB man die stadtischen MaBstabe flir Begabung nicht unbesehen als WertmaBstabe far die Landbevolkerung verwenden darf Es ist wahr: die Untemehmungslustigen, die Gewandten, die Wagemutigen tun eher den Schritt in die Feme, und die intellektuell gut Begabten zieht es in die Stadt. Aber fur die Bewahrung in der bauerlichen Lebensgemeinschaft sind andere Eigenschaften wichtiger. Es sind groBenteils Menschen, die in den bauerlichen Lebensraum nicht paBten, die abgewandert sind. Immerhin konnte die bauerliche Bevolkerung als Quell fur die Intelligenz der Stadte allmahlich versiegen, wenn immer die geistig Regsten abwanderten. Es ist aber so, daB mit dem Anerbenrecht eine ganze Gruppe, die namlich der Erben, der Auslese von vomherein entzogen ist, so daB eine restlose Auskammung nicht erfolgen kann. Weiter hat man festgestellt, daB der negativen Auslese durch die Abwanderung der Begabten eine positive gegeniibersteht: die Minderbegabten namlich kamen auf dem Lande gewohnlich nicht zur Familiengrundung. Sie wagten den Schritt nicht in die Fremdheit des stadtischen Lebensraumes, sondem blieben als unverheiratete Knechte auf den Hofen der erbenden Briider. Damit wurden sie aus der Fortpflanzung ausgeschaltet. Erst jetzt beginnen auch diese Gruppen stadtwarts zu ziehen. Das hangt damit zusammen, daB die Stadt als Lebensraum nicht mehr die totale Fremde ist. Langst sind Verwandte dort ansassig und gesichert, die die jiingeren Familien- und Sippenangehorigen nachziehen. Nun wagen es auch diejenigen, die vorher sich nicht zutrauten, den Lebenskampf in der Stadt aufzunehmen mit der Abwanderung. Auch sie kommen damit zur Familiengrundung. Von der Stadt her gesehen, stellen sie eine Verschlechterung des stadtischen Erbgutes dar."^^^ Man soil sich nun nicht tauschen, obwohl solche Passagen mit einem biologistisch gefarbten Vokabular wie scheinwissenschaftliche Rationalisierungen daherkamen, enthielten sie doch Elemente, die fur soziologische Analysen und Sozialtechniken in der 'Bevolkerungsfrage' wichtiger wurden. Pfeil lemte hier gewissermaBen von den Arbeiten der amerikanischen Sozialeugenik, die begonnen batten soziologisches Know-How in ihre Studien zu integrieren. Deutlich wird dies an Pfeils Bericht iiber das von dem amerikanischen Bevolkerungswissenschaftler Frank Lorimer^^^ u.a. herausgegebene Buch "Foundations of American Policy". Dort gab sie einen Uberblick uber den Forschungsstand und nannte zentrale auBer-bio295 296
Vgl. Pfeil 1937:120. Vgl. Pfeil 1937:121.
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logische Ursachen demographischer Entwicklung und Migration: die Bevolkerungszunahme der arbeitenden Alterklassen, der Zusammenhang zwischen Konsum und Bevolkerungsentwicklung, die Bedeutung des Bildungs-, Beschaftigungs- und Sozialsystems usw. Gerade in diesem Artikel wurde aber auch deutlich, in welche Richtung die Forschung bei Friedrich Burgdorfer laufen sollte. Florence Vienne hat anhand Burgdorfers "Volk ohne Jugend" gezeigt, wie dieser eine "vertikale Blutsgemeinschaft" anstatt einer "horizontal comradeship" der Nation konstituierte.^^^ Da dies aber eine imaginierte Gemeinschaft war, die keinerlei Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit hatte, taugte sie zur ideologischen Legitimation, aber nicht fiir planerische Zwecke. Es sei denn, man tibersetzte 'Blut' in Kategorien sozialer Stratifikation. Und genau dort scheint mir Pfeils Intention gelegen zu haben. Wahrend Pfeil die Amerikaner mit der AuBerung "Gleiche auBere Bedingungen fur alles heranwachsende Leben" zitierte, setze sie das Credo zahlreicher Bevolkemngs- und Sozialwissenschaftler im NS-Staat299 dagegen: "Denn wie die eine Pflanze anderen Boden und anderes Klima braucht, um sich voll zu entfalten als die andere, so bedarf es auch fur die verschiedenen Menschen und Menschengruppen verschiedener Wachstums- und Entfaltungsbedingungen. Eine Ungleichheit voller Gerechtigkeit an Stelle einer wahllosen Ungleichheit - dahin lauft die Entwicklung, wenn sie lebensgesetzlich gerichtet ist/'^^o Zugleich kann man darin aber auch eine Angst vor der 'Ungleichheit' sehen, und zwar dann, wenn sie denn nun nicht die Formen zeigte, die das 'Lebensgesetz' angeblich immer schon bereit hielt. Anhangem des heute so modischen Gerechtigkeitsdiskurses sollte gelegentlich zu denken geben, dass im demokratischen Roosevelt-Amerika Planung unter dem Aspekt materieller Verteilung diskutiert wurde, im nationalsozialistischen Deutschland aber unter dem vollmundigen Banner der planbaren "Gerechtigkeit" durch die Organisation des Raums. Sozialer Segregation sollte in dieser Perspektive nur deshalb entgegengewirkt werden, weil dies die Wahmehmung der Unterschiedlichkeit der Menschen untereinander erhohe und - als Resultat dieser Wahmehmung - die Mechanismen sozialer Auslese besser funktionieren wtirden: "Die Wirkungen der Stadt als Raum liegen nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet. Sie wirkt vielmehr wie jeder Raum umztichtend auf die Bevolkerung. (...) Als sozialer Raum zeigt die Stadt bestimmte Eigenschaften, z.B. daB die Menschen einander raumlich nahe und zugleich fremd sind. Durch Trennung der Stadtviertel in solche der armen und der reichen Bevolkerung fehlt das Bild des voUstandigen Sozialaufbaues im Erlebnis der Heranwachsenden. Ein solcher Raum (und jeder seiner so unterschiedlichen Teilraume) hat die starksten Auslesekrafte."^^^
29"^
Frank Lorimer, geboren am 1.7.1894 in Bradley (Maine), studierte an der Columbia Universitat, seit 1938 ordentlicher Professor der Bevolkerungswissenschaft an der American University und seit 1947 administrativer Direktor der International Union for the Scientific Study of Population (vgl. Bemsdorf 1959:331). Zum Zeitpunkt der Veroffentlichung des Artikels von Pfeil war er zudem "Vorsitzender des Committees on Population Studies and Social Planning."
298 299 300
Ygi Vienne 2002: Volk ohne Raum - Volk ohne Jugend. Zur Entstehung einer bevolkerungswissenschaftlichen „vertikalen Blutsgemeinschaft", siehe: www.dggmnt.de/tagungen/vortraege2002.html. Vgl. Gutberger 21999. Pfeil 1942a:216.
301
Pfeil 1937:123.
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Denkstile
Im Jahr 1948, als Elisabeth Pfeil im Rahmen der Fliichtlingssoziologie tatig war, deutete sie an, was das eigentliche Thema der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung schon im 'Dritten Reich' gewesen war. Trotz aller Beziige auf die Bedeutung von 'Sippen' und Erbgangen hatte man eigentlich in maskierter Form versucht, die Dynamik in der Veranderung des Gesellschaftsaufbaus einzufangen: "Eine Abwandlung der Sozialordnung etwa lag ja langst in der Luft. Was wir die soziologische Offenheit der Fliichtlingssituation nannten, dies, daB der Fliichtling im sozialen Leben nicht mehr gilt durch ererbte oder erworbene Stellung, sondem einzig durch das, was er leistet und ist, es hebt das alte gesellschaftliche Gefiige auf. Er muB bereit sein, von seinem Beruf elastisch uberzuwechseln in einen anderen. Die Fltichtlingsjugend findet keine durch Erbe oder Beziehungen vorgezeichneten Berufsbahnen vor. Sie muB ihren Weg selbst bahnen."^^^ Freilich besaBen weder Elisabeth Pfeil noch Johann Hermann Mitgau fur eine Untersuchung dieser Prozesse vor 1945 ein hinreichend ausgebildetes Instrumentarium. Doch hinterlieB die Nahe der Bevolkerungswissenschaft zur administrativen Raumforschung und Bevolkerungsstatistik ironischerweise insoweit ihre Spuren, als es gerade Elisabeth Pfeil war, die nun den (sozial) statistischen Kategorien in der Ungleichheitsforschung miBtraute. Pfeils Aufsatze zur Fliichtlingsforschung sind deshalb wohl tatsachlich Beispiele fur "eine friihe Selbstreflexion nach wie vor aktueller methodologischer Probleme einer empirischen Soziologie mit theoretischem Anspruch. Diese kommt eben nicht mehr 'mit alten Begriffen von Stand und Klasse' aus. Tradierte soziologische Kategorien sind zwar 'brauchbare Instrumente erster Analysen', aber heute wird bestatigt, was Pfeil schon 1951 aussprach, dass 'am Gegenstande selbst das Instrument neu bestimmt werden muB'."^^^ IL3. VIZum Leben und Werk von Charlotte Lorenz Die Arbeiten von Charlotte Lorenz erscheinen fur unsere Fragestellung als erwahnenswert, weil sie zusammen mit anderen 'sozialwissenschaftlichen' Bevolkerungswissenschaftlem bzw. Wissenschaftlem im Umfeld des Statistischen Reichsamts (u.a. Mackenroth, Edding, Mitgau) mit Hochschul-, Bildungs- und Konsumforschung befasst war. Auch entstand eine Arbeit zur Lenkung des Berufsnachwuchses.^^'* Charlotte Lorenz wurde am 26. Juli 1895 in Oschersleben geboren, die Eltem siedelten jedoch schon wahrend ihrer Kindheit nach Berlin iiber. Seit dem Kriegsausbruch studierte sie in Berlin und promovierte Anfang 1919 bei Heinrich Herkner mit einer Dissertation zur "Frauenfrage im osmanischen Reich mit besonderer Beriicksichtigung der arbeitenden Klasse". Lorenz legte zudem in dieser Zeit eine Dolmetscherprufung in turkischer Sprache ab. Im Februar 1919 trat sie als "wissenschaftliche Hilfsarbeiterin" (bis Marz 1920) in die wissenschaftliche Kommission des ehemaligen Kriegsministeriums unter Max Sering ein. Hier war sie mit einer Arbeit zur Thematik "Die gewerbliche Frauenarbeit wahrend des Krieges" befasst. Von April 1920 bis Ende Mai 1921 arbeitete Lorenz als Btirohilfsarbeiterin und Lektorin im Reichswirtschaftsministerium (Arbeiten zur "Intemationalen Preisstatis302 303 304
Pfeil 1948:160. Klingemann2004b:116. Vgl. Lorenz 1942/43
Bevolkerungs- und Sozialstatistik als Sozialdemographie
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tik"). Im Juni 1921 fand sie schlieBlich als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin und Hilfsreferentin Eingang in das Statistische Reichsamt, dem sie fast 20 Jahre bis 1940 (ab September 1925 als Referentin der Sachgebiete "Besteuerung der Verbrauchswirtschaft, Besteuerung der Landwirtschaft und Statistik des Hochschulwesen (Abt. IV, Sozialstatistik)" angehoren sollte.^^^ Bemhard vom Brocke bezeichnete sie als "Referentin (Friedrich) Burgdorfers."^^^ Im Anschluss an ihre Habilitation an der Berliner Universitat (1927) mit einer Studie des Titels "Der GroBhandelspreisindex in der Wirtschaftspraxis und Wirtschaftstheorie" wird sie an der Friedrich-Wilhelms-Universitat Privatdozentin^^'^ und 1937 schlieBlich nichtbeamtete auBerordentliche Professorin. Am 1. Mai 1933 trat sie in die NSDAP ein.^^^ Es folgten weitere Lehrauftrage, Veroffentlichungen (z.B. "Die Statistik in der Kriegswirtschaft", 1936) und Einladungen zu internationalen Tagungen. Im September 1938 nahm sie (zusammen mit Ernst Wagemann) am Kongress des Intemationalen Statistischen Instituts in Prag^^^ teil. 1939 veroffentlichte Lorenz Arbeiten zu einer "allgemeinen Verbrauchskennziffer, die im "AUgemeinen Statistischen Archiv" erschienen; gleichzeitig lieferte sie aber auch Beitrage fur die "Braune Wirtschaftspost".^^^ Neben den Arbeiten zur Steuerstatistik und zur Konsum- und Verbrauchsforschung beschaftigte sich Lorenz sehr intensiv mit der Hochschulstatistik und der damit zusammenhangenden 'Nachwuchsgestaltung'. Olaf Boustedt schilderte ihre Arbeiten auf diesem Gebiet wie folgt: "Mit der Deutschen Statistischen Gesellschaft und auch dieser Zeitschrift, als deren offiziellem Organ, ist sie besonders eng verbunden, denn sie hieh einen der Festvortrage bei der Wiedergriindungsversammlung im Jahre 1949 in Munchen und steht so mit ihrem Beitrag tiber den 'Werdegang und gegenwartigen Stand des statistischen Hochschulunterrichts' (...) mit an der Spitze des nach dem zweiten Weltkriege aufs neue fortgefiihrten 'AUgemeinen Statistischen Archivs'. Auf Grund ihrer langjahrigen Arbeiten auf dem Gebiete der Hochschulstatistik war sie zu diesem Referat besonders berufen. Hatte sie doch in ihrer zweibandigen 'Zehnjahresstatistik des Hochschulbesuchs und der akademischen AbschluBpriifungen' (1942/43) anhand der vom seinerzeitigen Reichserziehungsministerium durchgeflihrten Erhebungen und Untersuchungen die Statistik der akademischen AbschluBpriifungen in Verbindung mit Ermittlungen liber die Nachwuchsgestaltung in einer Reihe akademischer Berufszweige erstmalig als geschlossene Gesamtiibersicht vorgelegt. Jahre spater erscheint sie als Verfasserin einer unter dem Titel 'Entwicklung und Lage der weiblichen Lehrkrafte an den wissenschaftlichen Hochschulen Deutschlands' (1953) veroffendichten Schrift, in der sie die Ergebnisse einer von ihr im Auftrage des Deutschen Akademikerinnenbundes durchgeflihrten Enquete auswertet."^''
306 307
Vgl. Bescheinigung des Prasidenten des Statistischen Reichsamts vom 18. Juli 1940, PA Lorenz, UK 216 und PA Lorenz, UK 216, Bd. I, Bl. 14 (Archiv der Humboldt-Universitat, Berlin). Vgl. vom Brocke 1998:44. Die Lehrbefugnis wurde fiir das Gebiet der Staatswissenschaften erteilt. (vgl. das Schreiben von Charlotte Lorenz an den Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultat der Berliner Universitat, Hans Weigmann, vom 15. Mai 1939, PA Lorenz, UK 216, Bd. I, Bl. 13 (Archiv der Humboldt-Universitat, Berlin). Schreiben des Verwaltungsgerichtes an den SpruchkammerausschuB Zehlendorf vom 22. Oktober 1949, PA Lorenz, UK 216 (Archiv der Humboldt-Universitat, Berlin). PA Lorenz, UK 216: Abschrift des Reichsministeriums fiir Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 8. Juli 1938 betreflF KongreB des Intemationalen Statistischen Instituts in Prag vom 12. bis 19.9.1938. (Archiv der Humboldt-Universitat, Berlin). Vgl. dazu auch ein von Lorenz verfasstes "Verzeichnis der Schriften und Beitrage 1937/39" in PA Lorenz, UK 216, Bd. 1, Bl. 16f. (Archiv der Humboldt-Universitat, Berlin).
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Denkstile
Bei den genannten hochschulstatistischen Arbeiten wahrend des 'Dritten Reiches' handelte es sich um eine im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgefiihrte "groBere Untersuchung uber die Entwicklung des Hochschul-Studiums von 1932-1941."^^^ Die Forschungsergebnisse sollten als "Unterlage fiir die akademische Nachwuchs- und Berufslenkung nach dem Kriege dienen."^^^ Am 7. September 1939 wurde Charlotte Lorenz zur auBerordentlichen Professorin^^"* emannt. Sie behielt jedoch zunachst ihre Tatigkeit als Referententatigkeit bei Burgdorfer im Statistischen Reichsamt bei. Nach einer undatierten Aktennotiz aus ihrer Personalakte verdiente Lorenz als Referentin im Statistischen Reichsamt 7390 RM im Jahr; das Einkommen aus der Lehr- und Priifungstatigkeit belief sich hingegen auf 600-800 RM jahrlich.^^^ Im September 1940 ktindigte sie ihr Dienstverhaltnis im Statistischen Reichsamt, um ab dem 1. Oktober 1940 eine bewilligte Diatenstelle (auBerplanmaBige Prof.) an der Uni Berlin anzutreten.^^^ Charlotte Lorenz befasste sich in dieser Zeit nicht allein mit statistischen und verbrauchsokonomischen Fragen ("Das Gesetz in der Verbrauchswirtschaft", 1944) im engeren Sinne, sondem rezensierte z.B. sozialtheoretische Arbeiten, wie die Studie "Theorie blickt in die Zeit" des osterreichischen Sozialokonomen Gottl-Ottlilienfeld.^^^ Nach Kriegsende (ab 1947) setze Charlotte Lorenz ihre Lehrtatigkeit (zunachst wieder als Privatdozentin) an der Universitat Gottingen fort. In Gottingen erfolgte spater auch ihre Umhabilitierung zur Professorin fiir "Volkswirtschaftslehre, Bevolkerungs-, Sozial- und Hochschulstatistik" (1956-1960). In der zweiten Halfte der vierziger Jahre und in den fiinfziger Jahren gewann die 'sozialwissenschaftliche' Bevolkerungsthematik in ihren Arbeiten an Bedeutung. Von Charlotte Lorenz stammt ein Standardwerk iiber Bevolkerungsstatistik (1948), ein Buch iiber die "Forschungslehre der Sozialstatistik" (1950)^^^ und der Artikel uber "Bevolkerungslehre" im von Werner ZiegenfuB herausgegebenen Handbuch der Soziologie. Unter "Bevolkerungslehre" verstand sie eine weit ausgreifende sozialokonomische und sozialbiologische Hinwendung zur "Bevolkerungsfrage."^^^ Ihre "Bevolkerungslehre" wurde wiederholt als in der Fragestellung zu unklar und als allgemein viel zu umfassend kritisiert: "Die Bevolkerungslehre ist nicht allein eine Lehre von der Bevolkerung oder vom Volkskorper in seinem organischen Sein und Werden, sondem eine Lehre, welche das Leben eines Volkes und das Leben der Volker, in ihren Daseinsformen und Daseinsraumen in der unendlichen Fulle der daraus resultierenden Beziehungen und Verflechtungen zum Gegenstand hat."^^^
313
^'4
Boustedt 1960:320f. Schreiben von Lorenz vom 19. Mai 194Ian den Dekan, PA Lorenz, UK 216, Bd. II, Bl. 51 (Archiv der Humboldt-Universitat, Berlin). Ebd. Vgl. dazu auch Lorenz 1942/43. RMWEV an den Rektor der Universitat Berlin, vom 7.9.1939, PA Lorenz, UK 216 (Archiv der HumboldtUniversitat, Berlin). PA Lorenz, UK 216 (Archiv der Humboldt-Universitat, Berlin). Charlotte Lorenz an Universitatskurator Biichsel vom 9.7.1940, PA Lorenz, UK 216 (Archiv der HumboldtUniversitat, Berlin). Vgl. ASA 1940:341. Vgl. auch Lorenz 1956a. Vgl. Lorenz 1956b; zur Biographic siehe auch: Boustedt 1960, Stowe 1970; vgl. Brocke 1998:44,54; Mackensen 1998:250; Gutberger^ 1999:344. Lorenz 1956b:397.
Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung in Leipziger Tradition
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Auffallig war ihre stete Bezugnahme auf ein lebensphilosophisches Vokabular.^^^ Erwahnenswert ist hier noch, dass sich Lorenz fur eine Unterscheidung zwischen biologischer und raumlicher Bevolkerungsstatistik einsetzte und ihre Tragfahigkeitslehre mit einem Rekurs auf die Geographie begriindete (Penck).^^^
III. Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung in Leipziger Tradition III. 1 Die Bevolkerungsfrage und die Sehnsucht nach dem ehernen Mali der ^sozialen Ordnung' In den letzten zwanzig Jahren ist eine schon fast untibersehbare Anzahl an wissenschaftshistorischen Aufsatzen und Monographien zu den verschiedensten Aspekten der Leipziger Sozialwissenschaft erschienen, darunter Arbeiten iiber die Leipziger Beitrage zur Bevolkerungslehre, zur Agrarsoziologie, zur Raumforschung, zur Volks- und Sozialgeschichte sowie zahlreiche biographische Annotationen zu einzelnen Angehorigen dieser Gruppe.^^^ Bevor nun auf die 'soziale Ungleichheit" betreffenden Teile der Leipziger Bevolkerungslehre genauer eingegangen werden soil, soil hier zunachst etwas ausfiihrlicher von Karl Valentin Mtiller und seinem Denkstil die Rede sein. Der Sozialanthropologe, Soziologe und Bevolkerungswissenschaftler wird nun gemeinhin nicht zur "Leipziger Schule der Soziologie" gezahlt und er stand der 'Konservativen Revolution' in politischer Zielrichtung als 'rechter' Sozialdemokrat in der Tat fern. Auch lag der Schwerpunkt seines Schaffens wahrend des Nationalsozialismus in Dresden bzw. in Prag (s.u.). Fur eine Beschreibung und Beurteilung seines Denkstils in 'sozialstrukturellen' Bevolkerungsfragen sind jedoch seine wissenschaftlichen Beziehungen zum Leipziger Soziologen- und Historikerkreis zu beriicksichtigen. Obwohl Ursula Ferdinand im Rahmen des Projekts "Methoden und Theoreme sozialwissenschaftlicher Bevolkerungsforschung in Deutschland 'um 1930'" (ein benachbartes Projekt im DFG-Schwepunktprogramm zur Erforschung der Geschichte der Bevolkerungswissenschaften) mit Recht betont, dass unmittelbare Kontakte zwischen K.V. Mtiller und Hans Freyer vor dem Nationalsozialismus nicht nachzuweisen sind,^^"^ erscheint doch ein Vergleich zwischen Miillers 'sozialwissenschaftlicher' Bevolkerungsforschung zu jener Forschung der Gruppe um Ipsen^^^ und Freyer (und auch der der Leipziger Bevolkerungshistoriker) reizvoll - und zwar unabhangig von der Be-
321
Vgl. Lorenz 1959:276,283.
322
Vgl. Lorenz 1959:274f., 290. Eine (notwendig) unvollstandige und kleine Auswahl aus der deutschsprachigen Literatur: Vgl. Linde 1981, Mackensen 1985, Weyer 1986, Koselleck 1987, Linde 1988, 1989, Pinn/Nebelung 1990, Schafer 1992, Fleischhacker 1992, Oner 1992, Ehmer 1993; HeB 1995, Klingemann 1996, Gutberger 1996, Fliigel 2000, Oner 2000, Klingemann 2002b, Raphael 2001b, 2002, Etzemtiller 2 0 0 1 , 2002, Klingemann 2004a. Die Quellen ergeben, so Ursula Ferdinand, dass K.V. Mtiller in der Zeit nach seiner Promotion zunachst keinen Kontakt zu Hans Freyer hatte. Freyer war gleichwohl einer der Kopfe der 'Leipziger Richtung' der Volksbildung, und leitete in der Nachfolge Theodor Litts das "Seminar fiir freies Volksbildungswesen" (vgl. Ferdinand 2005:4). Hier ist flir die Bevolkerungssoziologie vor allem sein Assistent Helmut Haufe zu nennen.
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antwortung der Frage, ob nun K.V. Miiller von dem rechtskonservativen Leipziger 'Denkstir vor dem Nationalsozialismus beeinflusst wurde oder ob dies nicht der Fall war. Wer war Karl Valentin Muller?^26 Nach einem Studium der Nationalokonomie, Geschichte und Statistik hatte der im Marz 1896 in Bodenbach/Bohmen geborene Miiller 1922 in Leipzig promoviert.^^'^ Miiller blieb jedoch nach eigenen Angaben bis 1924 an der Universitat Leipzig eingeschrieben.^^^ Seit 1927 wirkte er als wissenschaftlicher Referent im sachsischen Ministerium fiir Volksbildung, um schlieBlich im Jahr 1937 in Leipzig von Hans Freyer habilitiert zu werden. Nach einer weiteren Zwischenstation in Leipzig (Miiller erhielt 1938 die Gelegenheit an der Leipziger Universitat als Dozent fiir "Bevolkerungswissenschaft und Soziologie" zu arbeiten), wechselte er 1939 an die Technische Hochschule nach Dresden (ao. Prof, kommis. Verwalter des Lehrstuhls fur Soziologie), um schlieBlich 1941 eine Professur fur "Sozialanthropologie, Soziologie und Volksbiologie" an der "Deutschen Universitat Prag" anzutreten.^^^ Zudem wurde Miiller im selben Jahr Direktor des an die Prager Universitat angeschlossenen "Instituts fur Sozialanthropologie und Volksbiologie."^^^ Fiir seine Mitwirkung an der Bevolkerungswissenschaft waren nicht zuletzt die Pragungen in der Weimarer Zeit entscheidend. Damals noch SPD-Mitglied^^^ stand er der Anwendung einer eugenischen Praxis 'sozialistischer' Pragung ("Aufartung des Proletariats") nahe.^^^ Davon zeugen seine Schriften aus dieser Zeit, u.a. "Arbeiterbewegung und Bevolkerungsfrage" (1927), "Sozialismus und Eugenik" (1929) oder "Rassenhygiene und soziale Bedeutung" (1930); nach Antritt der Nationalsozialisten konnte er Studien sozialbiologischen Inhalts zur "Zur Rassen- und Gesellschaftsbiologie der Industriearbeiterschaft" (1935) oder zum "Aufstieg des Arbeiters durch Rasse und Meisterschaft" (1935) publizieren. Nach 1945 war Karl Valentin Miiller eine feste GroBe in der friihen bundesdeutschen Bevolkerungswissenschaft und auch in dieser Zeit rissen die Kontakte zu den ehemaligen 'Leipzigem' nicht ab. Miiller war nicht nur Generalsekretar der deutschen Sektion des Institut International de Sociologie (IIS, s. auch weiter unten), er arbeitete auch als der deutsche "Obmann" der Europaischen Forschungsgruppe fur Fliichtlingsfragen und war Mitglied der "Union intemationale pour I'etude scientifique de la population". Fiir die Geschichte der Bevolkerungswissenschaft ist er hier nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil er (neben Elisabeth Pfeil, Gabriele Wiilker, Erich Keyser und Martin Kornrumpf) die Griindung der "Deutschen Gesellschaft fur Bevolkerungswissenschaft" betrieb.^^^
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Die neuesten und quellenkundigsten Uberblick zur Biographic Miillers bietet nun Ferdinand 2005. Ursula Ferdinand hat nun gezeigt, dass die Angaben tiber seine Facherkombinationen wahrend seiner Studienzeit an der Universitat Leipzig variieren. In Miillers Personalakte des Universitats-Archivs Erlangen-Numberg werden auch 8 Semester Soziologie genannt, wobei zu beriicksichtigen ist, dass Freyers SoziologieLehrstuhl erst 1925 eingerichtet wurde (vgl. dazu Ferdinand 2005:1). Vgl. Ferdinand 2005:1. Vgl. dazu auch vom Brocke 1998:434. Vgl. zur Tatigkeit Miillers in Prag auch die Darstellungen uber die SD-Forschung in: Klingemann 1996:305316; Ders. 2001a:22-25; Gutberger 21999:459-463. SPD-Mitgliedschaft von 1922-1930 (vgl. Ferdinand 2005:5). AUerdings nicht in der Tradition von Alfred Grotjahn, sondem, wie jetzt Ursula Ferdinand zeigen konnte, unter Einbezug der 'ausmerzenden', der negativen Eugenik (vgl. Ferdinand 2005:20-23). Vgl. dazu die Darstellung in Klingemann 2004b:90f.
Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung in Leipziger Tradition
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III. 2 Soziale Stratifikation und soziale Mobilitat in Karl Valentin Miillers Denkstil IIL2.I Einleitung Sehen wir uns im Folgenden Karl Valentin Miillers Denken anhand einiger zentraler Kategorien und Konstrukte etwas genauer an. Aus dieser Denkstilanalyse wird immer ersichtlich werden, wann Miiller welche Begriffe benutzte. Gleichwohl sei vorweggenommen, dass die 'Ungleichheit' und soziale Auslese betreffende Argumentationslinie Miillers weder durch das Jahr 1933 noch durch das Jahr 1945 eine wesentliche Anderung erflihr. Da Miillers Argumentationsfiguren und sein Duktus pragnante Beispiele der Lingua tertiii imperie des 'sozialwissenschaftlichen' Bevolkerungsforschung waren, wird er hier in aller Ausfiihrlichkeit vorgestellt. Die Prasentationen menschenverachtender Scheinrationalisierungen dienen hier als mahnende Beispiele, denn die Demographic bzw. Bevolkerungssoziologie wird sich auch zukiinftig dem Thema 'soziale Ungleichheit' stellen miissen. "Bevolkerungen" setzten sich in K.V. Mullers Vorstellung aus unterscheidbaren Populationen ("Varianten") zusammen; die Entstehung und Ausbreitung dieser "Varianten" resultierten - so Miiller - von ihren erbbiologisch divergenten Ausstattungen her. Fiir die erbbiologischen Details selbst interessierte sich der Soziologe jedoch kaum; er bezog seine Erkenntnisse aus zweiter Hand, aus den schon zum damaligen Zeitpunkt umstrittenen Resultaten der erbbiologischen Zwillingsforschung.^^^ Von K.V. Muller, der seit seiner freiberuflichen Mitarbeit in der Arbeiter- und Erwachsenenbildung (ab 1923) die 'soziale Frage' mit einer Rassenlehre verkniipfen wollte, ist nicht bekannt, dass er als Sozialwissenschaftler iiber Qualifikationen naturwissenschaftlicher oder medizinischer Art verfiigte. In seinen 'sozialanthropologischen' Untersuchungen ging es ihm auch gar nicht um naturwissenschaftlich relevante Sachverhalte, sondem er kombinierte (in zudem wissenschaftlich nicht kontroUierbarer Weise) lediglich Umfragedaten zu korperlichen Merkmalen und entsprechende Daten der beruflichen Zusammensetzung von 'Schichten' mit Daten iiber familiare bzw.verwandschaftliche Beziehungen in der Generationenfolge.^^^ Miiller war deshalb auch nicht als Vertreter einer erbbiologisch argumentierenden "Rassenlehre" satisfaktionsfahig, wohl aber als Prediger der Bewegungslosigkeit und der Unentrinnbarkeit aus der 'eisemen Faust' sich immer wieder reproduzierender Abstande und Scheidelinien zwischen 'Schichten'. Seine kaum verklausulierte 'Botschaft' war, dass das (spatere) "soziale Gewicht" eines Menschen von vomherein im Erbgut verankert sei. Eine Besonderheit der Miillerschen Argumentation lag nun darin, mit einer derartigen Nomenklatur Phanomene der sozialen Stratifikation und der sozialen Ungleichheit diskutieren zu wollen. Im besonderen ging es ihm um die Grenzen sozialer Mobilitat zwischen "Varianten" einer Bevolkerung.^^^ Sein Erkldrungsansatz (- ein Zirkelschluss!) argumentierte aber lediglich von der bloBen Evidenz sozialer Ungleichheit her. Er glaubte zudem, von vomherein die Zielrichtung und Folgewirkung sozialer Mobilitat erkennen zu konnen: namlich die Konti^^"^ 3^^ ^^^
Vgl. Muller 1935:14ff.; Muller 1959b:313; zur zeitgenossischen Kritik an der Zwillingsforschung vgl. z.B. Lenz 1935. Vgl. dazu die Darstellung von Ursula Ferdinand iiber seine ADGB-Untersuchung zur "sozialen Abstammung der Arbeiterschaft" (vgl. Ferdinand 2005:5-7). In Mullers Nomenklatur gab es "aufstiegsunfahige Varianten", vorzugsweise fanden sich diese ftir ihn unter den Ungelemten (vgl. Muller 1941:134f.).
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nuitat der Struktur der Ungleichheit.^^^ Resultat des Wettbewerbs unter selektiven Wettbewerbsbedingungen war per se eine stratifizierte Gesellschaft mit gleichsam immer schon bereit stehenden iiber- und untergeordneten Aufgaben. Individuelle 'Leistung' (Leistungshergabe) bewirkte in diesem Denkstil soziale Ungleichheit. Dass Auslese und Mobilitat aber auch die Persistenz der Ungleichheit selbst beriihren kann, kam nicht in Miillers Blickfeld: "Fur das, was ich hier kurz die geschichtUche Potenz eines Volkes nennen will, kommt es unmittelbar auf bestimmte sozial positive Leistung seiner einzelnen Varianten und deren Zusammenspiel an, so wie ja auch die rational geleitete Leistungs- und Berufsauslese wertet (...) Seine ererbte korperseelische Verfassung, am entscheidendsten wohl seine geistige allgemeine oder besondere Begabung lassen ihn von vomeherein fiir die Bewahrung an bestimmten Leistungsplatzen besonders geeignet erscheinen und schlieBen die Bewahrung an andersartigen Platzen oder in anderer Hohenlage des gesellschaftlichen Wirkens praktisch aus. Auch ohne organisierte Berufslenkung wird daher die einzelne menschliche Variante durch das unablassig ruttelnde Siebwerk der gesellschaftlichen Wettbewerbs- und Auslesevorgange mit einiger Wahrscheinlichkeit einem Leistungsplatze zugesiebt,^^^ der wenigstens annahemd ihrer angelegten Begabungsrichtung entspricht."^^^ Hier zeigte sich unverhohlen der Sozialtechnologe Muller, der den Gewerkschaften empfahP"*^, schon deshalb mehr iiber das ihnen anvertraute "Menschenmaterial" zu erfahren, um die "soziale Zielsicherheit" zu erhohen, um iiber den "Erfolg und MiBerfolg sozialer Bewegungen" besser urteilen zu konnen.^"^^ Die Berechenbarkeit gesellschaftlicher Vorgange, ein darauf abgestimmtes Eingreifen und ein meritokratisches Gesellschaftsbild bedingten bei Miiller einander; der 'neue Mensch' sollte - dank menschlicher Einwirkungsmoglichkeiten auf die Selektionsbedingungen - aktiv 'herbeiselektiert' werden.^"^^ Die 'wahren' Naturkrafte bediirfen in diesem Denkstil gewissermaBen der Unterstiitzung durch den Menschen; erst die menschlicher Kontrolle unterworfene Natur zeigt (wieder) ihr 'wahres' Gesicht: den Aufstieg der 'Starken', den Untergang der 'Schwachen'. Der Glaube, dass nach diesem Prinzip auch Gesellschaft fiinktioniere, trifft dort auf einen fruchtbaren Boden, wo bereits Abstiegsangste grassieren. Defmiert er doch eine Linie zwischen denen, die Angst haben miissen (da iiber 'asoziale' und 'antisoziale' Anlagekombinationen verfiigend) zu jenen, die mit der notwendigen Anstrengung und einer stets zu beweisenden Integrationsfahigkeit zu den Erretteten gezahlt werden konnen.
33"^ ^^^
339 3"*^ 34' 3-^2
Bereits seine Studie "Der Aufstieg des Arbeiters durch Rasse und Meisterschaft" begann Muller mit einem Kapitel zum "ehemen Gesetz der Ungleichheit" (vgl. Miiller 1935:11-25). Im Zusammenhang mit seinem SiebungsbegrifF bezog K.V. Muller gegen Rudolf Heberle / Fritz Meyer (1937) Stellung, die bestritten hatten, dass mit '•Siebungs"-Kategorien uberhaupt Prozesse der Stadt-LandMigration angemessen zu beschreiben seien. Muller glaubte hingegen die Relevanz der Siebungskategorie schon dadurch zu belegen, dass ein iiberproportionaler Anteil Landgebiirtiger sich in der Stadt in unteren sozialen Positionen wiederfande (vgl. Muller 1942:2ff.). Einzelne Befunde aus den Studien von Hermann Mitgau (hier: die 'Elite' des tiberzahligen Landnachwuchses zieht in der Stadt in hohere Schichten ein) wurden von K.V. Muller zur Bestatigung seiner Siebungsthese herangezogen. (Vgl. Muller 1942:13f mit Bezug auf Mitgau 1941b). Muller 1937:328f Trotz seiner unermudlichen Versuche eugenisches und sozialtechnologisches Gedankengut in der Gewerkschaftsbewegung zu verankem, blieb er weitgehend erfolglos (vgl.Ferdinand 2005:16). Muller 1926 zitiert nach Ferdinand 2005:14. Vgl.Ferdinand2005:16.
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Neben dem durch "Begabung" konstituierten "Sozialgefiige" (auf das wir weiter unten noch genauer eingehen werden) spielten jedoch auch demographische Aspekte in Miillers Bevolkerungsforschungen mit hinein. Generell ging Muller davon aus, dass die Entscheidung der Eltem fur ein Kind von deren Schichtzugehorigkeit abhangig sei, weil je nach der sozialen Schicht auch die "soziale Auftriebsstarke, d.h. dem Grade, in dem die Eltem die ihnen vorschwebenden Kulturgiiter hoher schatzen als die Freuden unkontrollierten oder auch ungeztigelten Geschlechtslebens" variiere.^"^^ Es gebe in "aufstiegsfrohen Kreisen" jenen "sozialen Ehrgeiz, der mit moglichst kleiner Familie ein moglichst hochfliegendes Lebensziel zu verwirklichen strebt". Deshalb wiirden "nicht alle Schichten der Bevolkerung (...) gleichmaBig an diesem Kulturopfer" - der Vermehrungsmoglichkeit: so Muller mit Bezug auf den Rassenbiologen Fltigge - teilnehmen.^"^^ "Der Mittelstand, sowohl der noch unabhangige wie der abhangig gewordene, proletarisierte Mittelstand bringt also die groBten Kinderopfer (...) Es sind also die Kreise mit starkstem sozialem Auftriebsinstinkt, die sich in der Geburtenbeschrankung ein letztes Ventil geschaffen haben."^"^^ Zusatzlich verwies Muller auf den gleichzeitigen Effekt einer "Verknappung des Lebensraumes" und die fur ihn damit einhergehende Bedrohung der "weiBen, nordischen Arbeiterschaft".^"^^ Halten wir hier jedoch zunachst einmal nur fest, dass Muller im schichtspezifischen Streben nach Aufstieg einen Regulationsmechanismus fiir die quantitative Bevolkerungsentwicklung erblickte. Und widmen wir uns nun seinem Begabungsbegriff IIL2.II "Begabung" in K. V. Miillers Denkstil Mit "Begabung"^'^'^ im "soziologischen Sinne" verband Muller die Idee der Interpretation von "Forderungswiirdigkeit" (bzw. der Beurteilung von Forderungsunwiirdigkeit) durch autorisierte Personen. "Begabung" sei - so Mullers aus dem Strafrecht entliehene Diktion eine von Padagogen zu erkennende "Anlage zu sozialer Bewahrung": "Nicht wer in einem padagogischen Utopien unter optimalen, aber heute und hier nicht realisierbaren Erziehungsumstanden bestimmte Ausbildungsziele erreichen konnte, wird gefragt. Der Soziologe durchmustert den Nachwuchs nach den verschiedenen Graden der hie et nunc realisierbaren Ausbildungsfahigkeit fiir verschiedenartige Karrieren, verschiedenartige und unterschiedlich schwierige gesellschaftliche Funktionen. Nur wer in der heutigen, niichtemen Wirklichkeit von den zu diesem Berufe bereitstehenden, hierfiir besonders geschulten und vorbereiteten und dazu von Staat und Gesellschaft autorisierten padagogischen Beamten als hinlanglich leistungsversprechend erkannt zu werden vermag und entsprechende Ermutigung erfahrt - ganz abgesehen davon mit welchem praktischen Erfolg - kann in diesem Sinne als 'begabt' angesehen werden."^"^^
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Vgl. Muller 1927:35. V g l . Muller 1927:35. Muller 1927:36. Vgl. Muller 1927:36f, 152f.
34"^
Muller bezog sich in seinen Untersuchungen auch auf die Ergebnisse von Albert Huth: vgl. u.a. Muller 1959b:319.
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MUller 1950b:50f.
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Denkstile
Der evidente Prozess der Auslese in den padagogischen Institutionen ersetzte so eine nahere Auseinandersetzung mit tatsachlichen 'Begabungen' bzw. Begabungsunterschieden. Die als Funktion der Auslese verstandene "Begabung" diskutierte Miiller in Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung. Er, und auch andere Begabungsforscher glaubten, dass die Fruchtbarkeitsraten zwischen "Schichten" unterschiedlicher "Begabung" ("Begabungsschichten") differierten, das also der konstatierte allgemeine Geburtenriickgang und ein ebenso vermeintlicher "Begabungsriickgang" in einem Wechselverhaltnis zueinander gestanden hatte. Miiller nannte dies mit Bezug auf entsprechende Untersuchungen der Fabian Society in England den "unmittelbaren Zusammenhang zwischen Begabung und Nachwuchsergiebigkeit."^"^^ In MUllers Diktion fielen gerade in den unteren sozialen Schichten in zunehmenden MaBe die notwendigen "Begabungstragerfamilien" aus, weil der Bedarf an Begabungen in der Industriegesellschaft immer weiter gestiegen, die Geburtenrate in den "unteren Standen und dem Mittelstand" mit dem wachsenden Bedarf aber nicht mehr mithalten konnte ("Unterfruchtbarkeit der Begabungstragerfamilien"). Die gewachsenen beruflichen Anforderungen seit der Industrialisierung bedeuteten - in Miillers Vorstellung - eine "Anderung der Siebevorrichtung der Gesellschaft"^^^ und eben diese Anderung bewirkte einen Angriff auf die 'natiirliche' vertikale Ordnung der Sozialstruktur, die Prozesse sozialer Mobilitat waren nun kaum mehr zu kontrollieren. Noch wahrend des Nationalsozialismus sah Miiller in der Bedrohung der sozialen Stellung der "Sippen" gleichzeitig eine Bedrohung der gesellschaftlichen Stabilitat iiberhaupt: "Ganze Biindel von Sippen (seien) hinauf- und hinuntergefiihrt gemaB dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein spezifischer Begabungen oder Begabungskombinationen, die vordem irrelevant waren, numehr aber entscheidende Prufsteine des gesellschaftlichen Erfolgs wurden. GewiB ist die in den Sippen auch bei gleichbleibendem Erbcharakter auspragbare Begabung weitgehend elastisch und kann sich in ein bis zwei Geschlechterfolgen auf die neue Anforderung eingespielt haben. Die Anderung kann aber auch so grundlegend sein, daB der erblich angelegte Sippencharakter bei aller erscheinungsbildlichen Biegsamkeit die voile Anpassung an die neuen Anforderungen der gesellschaftlichen Bewahrungspriifling versagt, oder aber es stehen dank gewandelter Mengenverteilung der Rangplatze nicht genugend breite Bahnen zum sozialen Aufstieg zur Verfugung. Im ersteren Falle sehen wir die zunachst gesellschaftlich abgeschleuderten, aus der traditionellen Stellung verdrangten Sippen sich eine gleichwertige Stellung wieder hinaufarbeiten; im zweiten Falle wiirden etwa noch haufiger - wegen mangelnder objektiver Aufstiegsmoglichkeit zu ihrer spezifisch sozialen Ebene in unterwertiger Sozialumwelt ausharren. Dies bringt - u.a. wenn es Massenschicksal gleichwertiger Sippen wird - soziale Unrast, soziale Spannung mit sich - ganz ahnlich dem Problem: Volk ohne Raum."^^'
350 351
Vgl. Muller 1947:10. Kurz nach dem Krieg - hier: in der von Adolf Grimme herausgegebenen Zeitschrift "Die Schule. Monatsschrift fur geistige Ordnung" - publizierte K.V. Muller unter dem Namen "Ernst Muller". Dass K.V. Muller eine Forderung durch Adolf Grimme erfahren hat, ist umstritten (vgl. Drewek 1989:213f.). Muller berichtete allerdings, dass "auf Anregung des Niedersachsischen Kultusministers (...) eine Leitstelle fur Begabtenauslese und -forderung im Zonenbeirat beschlossen" wurde (Vgl. Muller 1947:8). Vgl. MUlIer 1936:542. Muller 1936:542f.
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Nicht Reformen im Bereich des Bildungswesens, sondem "eine eugenisch fruchtbare Familiengesittung" und eine "Schwerpunktverlagerung unserer nachwuchspolitischen MaBnahmen" versprach in Miillers Denkstil Abhilfe.^^^ In seinem Sinne bedingte die Losung der "Begabungsfrage" eine unmittelbare Einflussnahme des Staates auf die Gesellschaft, die sich nicht auf Bildungspolitik allein zu beschranken habe, sondem die qua einer selektierenden Bevolkerungs- und Sozialpolitik die Organisation gesellschaftlicher Ungleichheit selbst in die Hand nehmen sollte. III. 2. Ill Zu den "Grenzziehungen" in K.V. Miillers Vorstellung vom "SozialgefUge" Dies fuhrt uns wiederum zu einer genaueren Beobachtung Ansicht Miillers von der sozialen Stratifikation und den 'sozialen Bewegungen'. Das "SozialgefUge" bildete in MuUers Denkstil lediglich ein "Gelander" ftir den ablaufenden Wettbewerb der Varianten untereinander; die Konstruktion dieses "Gelanders" jedoch zeichnete sich durch eine hohe Stabilitat aus. Wir finden diese Vorstellung bereits in seinen Studien wahrend des Nationalsozialismus: "Den Rahmen fiir diesen Wettbewerb stellt zunachst das objektive, historisch bedingte SozialgefUge dieses Volkes dar: Das Volk halt gleichsam in jedem geschichtlich gegebenen Zeitpunkt je eine Anzahl von Leistungsplatzen, Berufsbahnen, Sozialumwelten, Karrieren in bestimmter, nicht allzu elastischer Gliederung bereit, fUr deren AusfUUung es bestimmte, wiederum nur beschrankt vertretbare, erblich geeichte menschliche Varianten braucht. Dieser vom Volksganzen her gesehenen Nachfrage nach derart spezifischen Leistungsvarianten, nach einer so oder so gegliederten Berufsarmee steht nun das - biologisch bedingte, durch Erziehung und Ausbildung nur im engen Rahmen der biologischen Angelegtheit modifizierbare - Angebot gegeniiber: die tatsachlich vorhandenen und nachwachsenden, erblich in ihrer sehr verschiedenartigen und verschiedenwertigen spezifischen Leistungskapazitat fest geeichten Glieder des Volkes."^^^ Der Begriff der "sozialen Schicht", der diesem Denken zugrunde lag, war sozialanthropologisch getont, schloss den Sippengedanken mit ein und betonte die "Artgleichheit" nicht die "Umweltgleichheit".354 "Eine soziale Bewegung hat immer eine sozialanthropologische Tatsache zur Voraussetzung, namlich das Vorhandensein von Sippen mit gleicher erblich angelegter, rassisch bedingter Reaktionsrichtung auf eine gleiche Umwelt, die durch gemeinsames Massenschicksal verbunden sind. Jede soziale Stromung und Bewegung ist daher im letzten Grunde Rassenkampf, nicht Klassenkampf."355 Muller koppelte die Fragen der differentiellen Fruchtbarkeit direkt an eine (in seinen Augen schadliche) "Erleichterung" des sozialen Aufstiegs, die er "seit Generationen" beobachtet haben woUte.^^^ Es ging ihm immer auch um die Konkurrenz sozialer Positionen und deren Neuarrangement. Damit wurde mindestens implizit unterstellt, dass es als Alternative dazu ein besseres, ein 'planbares' Modell sozialen Aufstieges und sozialer Stratifikation gabe, das sich auf seinen Begabungsbegriff sttitzen sollte.^^'^ Die nach Aggregatdaten akkumulierten 352 353 354 355
V g l . Muller 1950c:300. Muller 1937:329. V g l . Muller 1936:544. Muller 1936:543.
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Denkstile
Bevolkerungsgruppen wurden nach der fur sie vorgesehenen Tauglichkeit' fur gesellschaftliche Zwecke gedanklich sortiert: "Die so drohende Diskrepanz zwischen geistiger Anforderung an die erwerbstatigen Glieder der Bevolkerung einerseits und Stagnation oder gar allmahlicher Minderung entsprechender geistiger Krafte in der Bevolkerung andererseits wird durch die technische Entwicklung (Automation) eher verstarkt als vermindert. (...) Der gesellschaftliche Nutzwert des Drittels schwach Begabter in unserer Bevolkerung verringert sich damit zusehends."^^^ Nach 1945 anderte sich diese Diktion nicht - der Stabilitat der "Gliederung" entspracht v^eiterhin die Flexibilitat der 'Begabungsreserve': "Nicht alle Begabten konnen ja eine ihre Begabung voll ausschopfende soziale Stellung erhalten. Es ist gut und kommt dem Volksganzen wie seinen einzelnen Leistungs- und Sozialschichten zugute, wenn ein deutlicher UberfluB an Gutbegabten, zu noch hoheren Verrichtungen Fahigen, zum weiteren Aufstieg Bereiten und Wurdigen da ist - solange die Spannung zwischen Lebensstellung und Strebensziel nicht allzu groB ist: solche Spannung des nicht-vollig-erreichten Strebenszieles bedingt ja zum groBen Teil den gesunden Wettbewerb und die soziale Leistungsdynamik. Normalerweise sind immer mehr berufen als auserwahlt; wir sprachen ja von den Begabungsreserven, die fur notwendig werdende weitere Aufstiegsvorgange gleichsam in Bereitschaft stehen."359 Auch hier erschien ausschlieBlich ein elitares und auf 'Uberfluss' an individualisierten Existenzen angelegtes Konkurrenzprinzip als ein unhintergehbares gesellschaftliche Organisationsprinzip der naturlich in jeder Gesellschaft vorhandenen sozialen Ungleichheit. Miillers 'wissenschaftliche' Konstruktion ist in Zeiten, in denen der gesellschaftliche Diskurs nach W\Q vor (und wieder deutlicher) von der Akzeptanz des Leistungsprinzips in Fragen sozialer Ungleichheit^^^ beherrscht wird, kritisch im Gedachtnis zu behalten. Der 'Leistungsbegriff ist auch heute in der Soziologie nicht vv^eniger umstritten als in der Gesellschaft insgesamt.^^^ Es gibt also keinen Konsens dariiber, ob 'Leistung' iiberhaupt und w^enn, welche 'Leistung' in welcher Form fur die Bewertung sozialer Ungleichheit relevant ist oder relevant sein sollte. Nicht zuletzt an K.V. Miillers Denken wird aber deutlich, dass wir in den NS-Jahren in den Humanwissenschaften ein Denken vorfinden, indem einerseits die Ideolo-
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3^"^
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Vgl. Mulier 1947:9. Miiller wortlich: "Durch den zunehmenden Mangel an Begabtennachwuchs bei gleichzeitig wachsendem Bedarf wurde der soziale Aufstieg seit Generationen mehr und mehr erleichtert, mit dem Erfolg, dass in immer wachsender Beschleunigung nun auch ziemlich die letzten Begabungsreserven zu gehobenen Leistungsplatzen emporgeschleust wurden, und entsprechend die Begabungstragerfamilien in den unteren Standen und dem Mittelstand (vor allem auf dem Lande) zusammenschrumpften." (ebd.) Mulier sah sich dann auch in der empirischen Unterfiitterung einer "Begabungsplanwirtschaft" seine eigentliche Aufgabe (vgl. Mulier 1947:3). Diese Position zeugt von einer modemisierten Form des Konservatismus als der Konservatismus eines Wilhelm Hartnacke. Dieser hatte noch 1915 den "Aufstieg iiber mehrere Generationen hinweg (als) erstrebenswerter (gefunden) als ein 'kampflos durch Eingreifen des Staates gefordertes Individuum" (vgl. Ingenkamp 1989:191). Mulier 1959b:319. Mulier 1950d:362. Die Untersuchung des Legitimitdtsglaubem sozialer Ungleichheit gehort zu den Essentials soziologischer Ungleichheitsforschung: vgl. zur Untersuchung dieses Glaubens hinsichtlich der Variablen Beruf, Bildung und Intergenerationenmobilitat u.a. Mayer / Mulier 1976. Vgl. z u m Begriff der "Leistungsgesellschaft" Papathanassiou 2002:32If.
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gie einer permanenten 'Leistungssteigerung' postuliert und andererseits die Vorstellung, Leistungssteigerung vollziehe sich ausschlieBlich iiber einen selektiven Wettbewerb, gepflegt wurde. Die "Sozialstmktur" und die "biologische Gliederung des Variantenbestandes" waren fur K.V. Mtiller trotz ihrer gegenseitigen Verschrankung keineswegs deckungsgleich. Sie standen vielmehr in einem permanenten Spannungsverhaltnis zueinander und gehorchten je "verschiedenen Gesetzen".^^^ Auf die soziale Stratifikation konne prinzipiell eingewirkt werden, allerdings suggerierte Mtiller, dass jede soziale "Schicht" iiber eine limitierte Anzahl an besetzbaren "Leistungsplatzen" verfiige. Per Definition schloss Miiller auch die Besetzung nicht 'artgemaBer' Platze aus. Den menschlichen Einwirkungsmoglichkeiten auf die Gesellschaft sah er auch insoweit Grenzen gesetzt, als die "menschlichen Varianten" prinzipiell einem naturgesetzlichen Verhalten folgten: Sie begeben sich automatisch in den Wettlauf um "artgemaBe Wirkensumwelten". Flir Miiller waren gesellschaftliche Ideale (z.B. das des individuellen sozialen Aufstieges) letztlich individualistische Abwege, denn sie hielten die "Varianten" von der zwangslaufigen Suche nach "artgemaBen" Umwelten ab, was wiederum in seinem Denkstil nicht selten zu "Fehlleitungen" in der Besetzung gesellschaftlicher Positionen^^^ und zu Kinderarmut und Kinderlosigkeit^^"^ fiihrte. In diesem Sinne war fiir Miiller die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts eine Fehlallokation sozialer Ressourcen aus biologischer Ursache.^^^ Das AufstiQgsstreben nahm er aber, wie auch die anderen 'sozialwissenschaftlichen' Bevolkerungsforscher, vor allem aus Leipzig und Kiel, durchaus als einen in demographischen Fragen zu beriicksichtigenden Faktor zur Kenntnis. Doch letztlich sollten fiir Miiller die 'forderungswiirdigen' Teile der 'unteren Sozialschichten' ihrer bevolkerungs- und staatspolitischen Pflicht zur Stellung des Begabtennachwuchses fiir hohere Sozialschichten nachkommen; dort, wo dieser Austausch nicht mehr in angemessener Weise gewahrleistet war, sollte - nach 'wissenschaftlichen' Kriterien - steuernd eingegriffen werden.^^^ Zum Beispiel im stadtischen Umfeld. Wie sehr K.V. Muller sich daruber im Klaren war, dass nicht agrarische, sondem groBstadtische Bevolkerungen den NS-Staat (auch nach dem ins Auge gefasten 'Endsieg') tragen sollten, zeigt folgende AuBerung: "Es ist ja eben das tragische Verhangnis, daB selbst ein so stark in lebensgesetzlichem Denken wurzelnder Staat wie das Dritte Reich sozusagen wider das eigene Gewissen die VergroBstadterung und Industrialisierung mit Riesenschritten betreiben muBte, um sich in der abendlandischen Weh als Meister bewahren zu konnen."^^"^ Und gerade deshalb gah den Bevolkerungswissenschaftler und Soziologen die GroBstadt als soziales Experimentierfeld; auch auf dem Feld der 'negativen' Auslese, denn die "groBstadtische Zuchtumwelt" beforderte fiir Miiller dann noch im besonderen die ebenso unbemerkte
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Dies schloss nicht aus, dass Miiller in einem Artikel die "Sozialpyramide" als deckungsgleich mit der "biologischen Begabungspyramide" bezeichnete (vgl. Muller 1950d:357). Vgl. Muller 1937:329f. Vgl. Muller 1942:2. Vgl. Muller 1937:330. Vgl. Muller l950d:358-360. Muller 1942:21, FuBnote 1.
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Denkstile
wie unkontrollierbare Ausbreitung des "Geziichts des wendigen, charakterlosen, bindungsarmen, gefuhlskalten, egoistoischen Herdenmenschen."^^^ III.2.IVDie
'Rasse' und das Soziale: "soziale Bewdhrung"
Mtillers Begabungsbegriff und sein Verstandnis von "Rasse" waren nicht voneinander zu trennen. Der Begriff der "Rasse" war bei Miiller von Anfang an sozialanthropologisch getont. Fiir ihn induzierte die "soziale Bewahrung" respektive die "vollmenschliche Bewahj^j^g"369 einer Bevolkerungsgruppe immer auch die Qualitat ihrer "Rasse".^"^^ Wir fmden diese "Bewahrungs"-Rhetorik wiederholt auch bei Hans Joachim Beyer.^^^ Der gelemte Historiker und Soziologe Beyer war der Sonderbevollmachtigte der vom Sicherheitsdienst 1942 installierten "Reinhard-Heydrich-Stiftung", an die auch K.V. Mullers Prager "Institut fur Sozialanthropologie und Volksbiologie" angeschlossen wurde. So konnte geschlossen werden, dass sich Miiller erst in Prag einer Terminologie befleiBigte, die in diesen technokratischen Zusammenhangen der Siedlungs- und Umvolkungspolitik entstanden ist.^^^ Tatsachlich handelte es sich aber um einen (nattirlich fragwiirdigen) Wissenschaftscode. Wie wir oben gesehen haben, benutzte Miiller den Jargon bereits 1937. So erscheint eher Miiller denn Beyer als Schopfer dieser Nomenklatur. Nach dem 2. Weltkrieg gab es ftir Muller - im Zuge seiner Arbeiten iiber "Begabung" - weiterhin und unwidersprochen eine "soziale Bewahrung". In einem 1950 auf dem 14. Soziologenkongress in Rom gehaltenen Referat "Zur Umweltlabilitat der sozialen Bewahrung" spezifizierte er noch einmal, wie denn "soziale Bewahrung" veranschaulicht werden konne: durch Messungen der Konzentrationsfahigkeit, der Begabungseigenart, der Umweltwirkungen und des sozialen Verhaltens der Probanden (hier: der Schiiler).^"^^ Doch zuruck in die Zeit des Nationalsozialismus. An Miillers Rassenterminologie war kennzeichnend, dass sie ohne Beziige zur Korperkonstitution (Physiognomic) auskam sollte. Stattdessen wandelte sich bei ihm unter der Hand der (der politischen Steuerung gegenuber viel offenere) Begabungsbegriff zum Angelpunkt erbbiologischer und demographischer^'^'^ Fragen. Stets hob Miiller die menschlichen Einwirkungsmoglichkeiten auf durch Menschen geschaffene 'Umwelten' hervor: "Nun ist zwar ein deutlicher Zusammenhang zwischen Rasse und sozialer Bewahrung sichergestellt, sowohl nach der allgemeinen Leistungshohe als auch nach der besonderen Eigenart der Leistung; da aber auch innerhalb der einzelnen Rassen sich bedeutsame Auslesevorgange vollziehen, andererseits jede Rasse weitgehende Streuungen hinsichtlich der sozialen Bewahrung
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373
Vgl. Muller 1942:23. So fand Muller analog dazu die Bezeichnung der (minderbegabten) "Teilmenschen", die (leider?) medizinisch unauffallig seien und darum "wiederum Teilmenschen erzeugen" (vgl. Muller 1942:25). Vgl. Muller 1942:5f. Vgl. Z.B.Beyer 1942. Vgl. zum Hintergrund der Sozialforschung des Sicherheitsdienstes der SS: Gutberger ^1999:443-463. Vgl. Muller 1950a: 10. Auf dem Titelblatt des Sonderdrucks wurde vermerkt: "Karl Valentin Muller, fruher Deutsche Universitat Prag, Direktor des Instituts fur empirische Soziologie, Hannover" (vgl. das Exemplar des Sonderdrucks in der Bibliothek der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultat der Universitat Gottingen, 14 : Sa 2/ 50, Magazin). So setzte Muller, die differentielle Fortpflanzung betrachtend, jene (sich stark vermehrenden) Bevolkerungsgruppen von "niederen Begabungsstufen" in Relation zur Gesamtbevolkerung (vgl. Muller 1942:24).
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und Begabungshohe ihrer Varianten aufweist, so ist es fiir das Studium der Sozialsiebung erbbedingter Leistungstragerschichten unerlaBlich, neben, ja vor die Frage nach der Rassensiebung jene nach der Begabungssiebung ohne Riicksicht auf das korperliche Erscheinungsbild zu stellen. Die einheitliche primitive Umwelt, die die heute sichtbaren Rassencharaktere durch jahrtausendelange gleichsinnige Auslesewirkungen ausgelesen hat, ist ja heute ganzlich verschwunden und abgelost durch eine ganz andere, vieldeutige, raschem Wandel unterworfene 'ZiviUsationsumweh', deren extremste Form wir gerade in der GroBstadt studieren konnen (...) Daher ist es fur die Verbindung unserer Wissenschaft mit dem Strome des volkischen Lebens und Handelns unerlafiUch, unmittelbarer als die Rasse an die tatsachliche Siebung gekniipfte, erbUche Gegebenheiten als Ausgangspunkt zu wahlen. Hierfiir biete sich als besonders tauglich eben jener Begriff der Begabung an..."^"^^ Hier sollte lediglich von den auffalligen Grenzziehungen zwischen den "Schichten" im Mullerschen Modells sozialer Mobilitat die Rede sein. Im politischen Anwendungsfeld war sein brachialer Denkstil ein Angebot an die NS-Machthaber, "Umvolkung" wahlweise als politisch steuerbare Einverleibung oder AbstoBung sozialer Gruppen zu verstehen.^^^ So entsprach fiir K.V. Muller der "Volksraum" nicht langer dem "Staatsraum", da sich die spezifischen Sozialumwelten fiir die eigenen Varianten mit zunehmender "Kulturstufe" nur auBerhalb des eigenen Staatsraums auffmden lieBen.^'^^ Zudem legten die konstatierten "Ubersetzungen der Wirkensraume bestimmter Variantengruppen"^"^^ einen "Variantenaustausch in spezifischen Sozialebenen" (Bevolkerungsosmose) nahe. "Umvolkung" war fur Muller in erster Linie ein Mittel zur Begradigung einer als in Unordnung befmdlich defmierten, sowohl vertikal wie horizontal verstandenen Stratifikation sozialer Gruppen. Miillers "Rassismus" - so Carsten Klingemann - bestand aus dem Glauben, dass Sozialhierarchien wohl erblich bedingt waren, dass aber diese Sozialhierarchien eben in alien 'Rassen' gegeben seien und daher prinzipiell deren "Schichten" auch untereinander ausgetauscht werden konnten.^^^ Dass Muller "die 'Uberlegenheit des deutschen Blutes' belegen" wollte, um "die Ausrottung fremder Rassen wissenschaftlich zu legitimieren",^^^ trifft die Sache deshalb nicht. Muller benutzte aber sehr wohl die in den zeitgenossischen Humanwissenschaften gdngigen Muster sozialer Uber- Unter- und Einordnung um einen (auch mit nationalsozialistischer Bevolkerungspolitik kompatiblen) "Rassebegriff' zu kreieren. Erst diese ordnungspolitischen Beztige erleichterten die Fortsetzung der Arbeit in einer von 'rassebiologischen' Anklangen weitgehenden freien Umgebung. Nach 1945 verschwand dann auch fast vollstandig der Begriff der "Rasse" aus K.V. Miillers Arbeiten - zugunsten seines spezifischen "Schichtungs"-Begriffs. 1956 operierte er mit einer 10 Schichten-Skala.^^^
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Muller I942:5f. Vgl. dazu die Darstellung in Klingemann 1996:312ff.; Ders. 2001a. Vgl. Muller 1937:331. K.V. Muller wahlte bewusst den Terminus der 'Ubersetzung' und stellte damit Beziige zur sozialen Deklassierung des Handwerks seit der Industrialisierung her. Bereits 1926 kampfte K.V. Muller in der Schrift "Volk, Stand, Rasse" fur die "Erhaltung des Mittelstandes" (vgl. Springer, Muller 1926). Vgl. Klingemann 2002a: 191 f. Vgl. Weyer 1986:295. Vgl. Muller 1956a.
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Denkstile III.2. V K. V. Mullers Werdegang und Denken nach dem Nationalsozialismus
Noch im Jahr 1945 gelang Miiller die Einrichtung des "Instituts fur Begabtenforschung" in Hannover. Aus dieser Einrichtung wurde im Jahr 1950 das bis zu 20 Mitarbeiter umfassende "Institut ftir empirische Soziologie". Ein weiteres (auBeruniversitares) Betatigungsfeld ergab sich fur Miiller, als sich in Hannover die "Akademie fur Raumforschung und Landesplanung" niederlieB. Dieser Rechtsnachfolger der Reichsarbeitsgemeinschaft fiir Raumforschung richtete Ende der vierziger Jahre einen Forschungsausschuss "Raum und Gesellschaft" ein, den Karl Valentin Miiller ebenfalls leitete.^^^ Doch Miiller bemiihte sich auch weiterhin um einen Wiedereinstieg in den soziale Anerkennung versprechenden akademischen Lehrbetrieb. Tatsachlich gelang ihm dieser 1952 an der Theologischen Hochschule in Bamberg mit einem Lehrauftrag iiber "Die hauptsachlichsten Menschenrassen der Erde" und seiner schlieBlichen Berufung zum Professor fiir Soziologie und Sozialanthropologie an der Hochschule fiir Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Erlangen-Niimberg (1955). In dieser Zeit erschienen Schriften des Titels "Der Zusammenhang zwischen FamiliengroBe, Familienzusammenhalt, sozialem Schicksal und Begabung (bzw. Schultiichtigkeit der Kinder)" (1952/53) oder "Das soziale Konnubium zwischen Sozialschichten und Schicksalsgruppen in der Bundesrepublik" (1952/53). Wie diese Titel schon zeigen, gewann Miiller seine MaBstabe fiir die Bestimmung der "Schichten" neben der empirischen Aufnahme von Begabungsunterschieden^^^ zwischen Berufsgruppen auch aus unterschiedlichen Formen des "Konnubiums".^^^ MaBgebend bei dieser Begriffswahl war fiir Miiller die bereits bei Mitgau erwahnte Arbeit von Joseph A. Schumpeter iiber "Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu" (1927).^^^ In dieser Studie hatte Schumpeter die Familie und nicht das Individuum als eigentliches Subjekt ('wahres Klassenglied') der Klassenbildung ausfmdig gemacht.^^^ 'Gleichgeordnete Familien' wiichsen aufgrund erfolgreicher Innovationen^^^ und des gewonnenen Prestiges zu 'Klassen' zusammen. Trotz der Hervorhebung der RoUe der Familie ging fiir Schumpeter der Impuls fur soziale Mobilitat letztlich vom Individuum aus; wobei er unterstellte, dass im Normalfall jedes Individuum der "eingefahrenen Bahn" (familiarer Erwartungen und Konventionen) folge. Erst diejenigen, die, um im Bild zu bleiben, die Weiche auf die Spur nicht-vorgedachter familiarer Lebensweise nehmen, und etwas Neues wagen, konnen Klassengrenzen iiberwinden. Dies schlieBt allerdings nicht aus, Schumpeter auch kritisch im Bourdieuschen Sinne zu lesen, namlich im Sinne einer ererbten Akkumulation sozialer und kultureller Guter in den Handen derjenigen, die aus machtvoller(er) Position uber die Bedingungen von Konkurrenz und Selektion (mit) entscheiden. Auch ist die Fahigkeit, selbstbewusst(er) zu handeln, ein Akt individueller Reife, der seinerseits durch sozialen Bedingungen nicht determiniert, aber beeinflusst wird. Karl Valentin Muller popularisierte und verfalschte Schum-
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Uber diese Arbeiten habe ich bereits an anderer Stelle berichtet: vgl. Gutberger ^1999:469f. V g l . die bereits mehrfach aufgearbeitete Geschichte der Mullerschen Begabungsforschung, u.a. in Weyer 1986; D r e w e k 1989; Klingemann 2004b: 105f. Vgl. u.a. Muller 1951, Muller 1956a, Miiller 1963. Vgl. Schumpeter 1953:147-213. Ebd., 158 Ebd., 178f.
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peter gleichwohl dahingehend, dass er erbbiologische Automatismen gemeint hatte, diese aber nicht beim Namen genannt wissen wollte.^^^ Der auf den Kopf gestellte Ansatz Schumpeters wurde so in Miillers sozialbiologischen Begrundungzusammenhang der sozialen Differenzierung der Arbeiterschaft eingebettet.^^^ Mtiller verstand unter Konnubium die "Verschwagerungs-Intensitat", also einen Indikator, der "Abstandsveranderungen" zwischen (sozialen) Gruppen anzeigen sollte: in der "Gattenwahl" - so Miillers ehemes Gefangnis strikter sozialer Grenzen - reproduziere sich immer wieder die soziale Schichtzugehorigkeit, denn die Wahl beschranke sich stets "auf den engeren Kreis Gleichartiger."^^^ Mtiller ging also von der These aus, dass der 'Kampf um sozialen Status immer zwischen Familien ausgetragen wird und nicht zwischen Individuen oder nach gesellschaftlichen Funktionen, Macht oder Eigentum abgegrenzten 'Klassen'. Eigentiimlich war aber dabei, dass sich die Familie bei diesem 'Kampf gewissermaBen auf exterritorialem, auf einem gesellschaftsfreien Gelande bewegte, denn das 'soziale Kapital' einer Familie lag fiir Mtiller ausschlieBlich in ihren Erbanlagen. Die 'Gesellschaft' kam in seinem Denken erst in einem zweiten Schritt zur Geltung: Sie schafft 'Siebeeinrichtungen' nach ihren Erfordemissen; in der 'richtigen' Justierung der 'Siebeeinrichtungen' lag fur Mtiller deshalb auch der Schlussel fur die Regulation gesellschaftlichen Auf- oder Abstiegs. In der Konsequenz erschienen bei Muller Familien wie Einzelpersonen fur den Prozess der Gesellschaftsbildung kaum mehr (mit-)verantwortlich. Weiterhin ging es Mtiller um einen "Nachweis" gleich bleibender Relationen in gesellschaftlichen Hierarchien. Die 'naturgesetzliche' Selektion bestatigte fur Mtiller die 'eigentliche' Sozialhierarchie stets aufs Neue. Eine (soziale) "Nivellierung" der Mittelschichten sah er als unmoglich an, da - wie er per Konnuptial-Index glaubte festzustellen - die "Arbeiterschaft" gem unter sich bliebe.^^^ Mit einem "Konnuptial-Index (ahnlich Attraktions-Index Beninis)" untersuchte Mtiller in den Nachkriegsjahren auch den "physisch-sozialen Eingliederungsvorgang von Heimatvertriebenen verschiedener Gruppen und verschiedener Herkunfts- oder Niederlassungsgebiete."^^^ Carsten Klingemann hat nun gezeigt, dass Miillers Konnuptialindex sogar in der amerikanischen Assimilationsforschung Anwendung fand.^^^ Eng verwandt mit dem Begriff des Konnubiums war fur Mtiller der Begriff des Kolludiums, der "Spielkameradschaftsneigung von Kindem im schulpflichtigen Alter", an der in Miillers Denkstil ebenfalls bereits der Grad der "Eingliederung" beobachtet werden konnte.^^"^ AbschlieBend sei noch einmal auf den die gegebene Statushierarchie stiitzenden Begabungsbegriff eingegangen. Ein Blick in die Geschichte des modemen Begabungsbegriffs zeigt uns, wie ambivalent dieser im 19. und im 20. Jahrhundert rezipiert worden ist. Peter Drewek sah hier eine "Gleichzeitigkeit von konservativer Funktion und kritischer Destruktion": ^^^ ^^^ 390 391 392 393 394
Vgl. u.a. Muller 1951, Muller 1956a, Muller 1963. Siehe zur Schumpeter-Rezeption durch K.V. Muller auch Ferdinand 2005:27. J.A. Schumpeter ging gerade umgekehrt von zunehmender Homogenitat der Arbeiterschaft aus: vgl. Schumpeter 1929:223 Vgl. Muller 1936:544. Vgl. Muller 1963:332f. Vgl. Muller 1963:331. Carsten Klingemann bezog sich auf einen Aufsatz zweier amerikanischer Mitarbeiter des "United States Bureau of Census" im "Population Bulletin" von 1952 (vgl. Klingemann 2004b:93f.). Vgl. Mtiller 1963:331.
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Denkstile "Der Begabungsbegriff soUte sowohl dazu dienen, den Zugang zu hoheren Schulen und hoheren Berufspositionen durch Begabtenauslese zu demokratisieren als auch die innere Gliederung des Schulsystems in neuer Differenzierung zu bestimmen, aber auch umgekehrt dazu, die jeweils bestehenden institutionellen Strukturen der Schule und Gesellschaft zu rechtfertigen und soziale Privilegien als naturbedingt erscheinen zu lassen."^^^ "Die Absicht der padagogischen Produktion des neuen Menschen gehort wohl insgesamt zum Programm der politischen und padagogischen Modeme, dessen sie sich nicht durch Zuschreibung an einen Wissenschaftstypus entledigen kann."^^^
Doch nach dem Krieg iiberwog ganz offensichtlich die konservative Variante des 'neuen Menschen' - nicht zuletzt machte sich hier wohl auch die Popularisierung der Ergebnisse (Begabtenschwund!) durch umtriebige Multiplikatoren a la K.V. Muller oder Albert Huth bemerkbar. In der Nachkriegszeit finden wir zunachst "einen politischen Konsens konservativen Begabungsdenkens iiber alle Lager hinweg."^^"^ Dennoch hat Peter Drewek zeigen konnen, dass Mlillers Begabungsuntersuchungen schon in der friihen Bundesrepublik umstritten waren; u.a. wurde die Zuverlassigkeit der Lehrerurteile in Frage gestellt, die mangelhafte Nachvollziehbarkeit des gesamten Untersuchungsaufbaus kritisiert und Mullers weitgehend unklarer Umwelt- und Milieubegriff hinterfragt.^^^ III. 3 Die Leipziger "Bevolkerungslehre" Im Anschluss an Muller sollen nun im Vergleich die Grundzuge der Ipsenschen Konstrukts einer "Bevolkerungslehre" dahingehend untersucht, wie in ihr soziale Ungleichheit und soziale Stratifikation operationalisiert wurde. Gleich zu Beginn des Aufsatzes definierte Ipsen seinen Anspruch, den gangigen "Bevolkerungsbegriff umzudenken."^^^ Diese Intention richtete sich in erster Linie gegen die (individual)-statistischen Methoden der Bevolkerungsstatistik, die in ihrer Methodik - in Ipsens Sicht - den liberalen Gesellschaftsbegriff einer in freie Individuen aufgelosten Gesellschaft vorwegnahm."*^^ Die deutsche Bevolkerungswissenschaft sollte hingegen gerade von Ipsens (bzw. Freyers) Konzept einer im Kern dem standischen Gesellschaftsbild verhafteten (Volks)-Soziologie profitieren. Ipsen wollte schlicht "die Kemgedanken der 'deutschen Soziologie' auf ein weiteres Wissensgebiet, eben die Bevolkerungstheorie und - geschichte" ausdehnen."^^^ Das es sich dabei um einen zweifelhaften Abweg handelte, sowohl was die 'Soziologie' als auch was die Bevolkerungswissenschaft betraf, lag an der Zentrierung auf das in demographischer Hinsicht als ein "Kollektiv" betrachtete "Volk":
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401
Vgl. Drewek 1989:197. Vgl. Tenorth 1989:150. Vgl. Tenorth 1989:151. Vgl. Drewek 1989:208ff. Vgl. Ipsen 1933a:425. Vgl. Ipsen 1933a:425, 456; Freyer 1930:235. Zu Beginn der 1930er Jahre gerieten Statistik, Liberalismus und Demokratie generell "in den gemeinsamen 'Individualismus-Verdacht', dem das Interesse an Gemeinschaft und Volk gegeniibergestellt wurde" (vgl. Mackensen 2003a:494). Vgl. Ehmerl993:63f.
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"Gerade diese Ordnung fordert allerdings zur Kritik heraus. Ipsens Versuch, 'Bevolkerungsweisen' als prozeBhaft-dynamische Beziehungssysteme zu konstruieren, macht uberhaupt nur Sinn, wenn man gesellschaftliche GroBgruppen wie 'Volk' oder 'Rasse' als ganzheitliche Subjekte generativen Verhaltens betrachtet, ihnen einen iiberindividuellen 'Willen' zuspricht und staatliche Politik als Medium dieses Willens defmiert. Akzeptiert man den 'Bestand der Rasse' nicht als Sinn oder innere Logik aller demographischen Ereignisse und Beziehungen, bricht Ipsens System in sich zusammen. 'Soziologisch' kann man seine Bevolkerungstheorie nur dann nennen, wenn man von einem Gesellschaftsbegriff ausgeht, der in der 'Volkheit' den Inbegriff des 'gesellschaftlichen Daseins' sieht und die 'chaotische (...) industrielle Klassengesellschaft' ftir eine zu Uberwindende kurzfristige Verirrung des 19. Jahrhunderts halt."^^^ Trotz seiner riickwartsgewandten gesellschaftlichen Intention, gingen in die "Bevolkerungslehre" jedoch argumentative Versatzstiicke ein, die den in der Gesellschaft zu beobachtenden Prozess fortschreitender sozialer Ungleichheit und 'Unubersichtlichkeit' nicht ignorierten. Man kann der Leipziger Bevolkerungsforschung sicher viel vorwerfen, aber man kann ihr nicht vorwerfen, dass sie nicht spiirte, dass die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen fiir alle zukiinftige quantitative Bevolkerungsentwicklung ein entscheidender Faktor sein w^tirde. Nur begriindet allein dieses Gesptir noch keine modeme Bevolkerungssoziologie. Ich mochte zunachst hier drei Urteile aus der vorliegenden Literatur herausgreifen, die mir fur das Verstandnis der Leipziger 'sozialwissenschaftlichen' Bevolkerungsforschung ganz wesentlich scheinen. Rainer Mackensen bemerkte 1985 zum 'Ordnungsdenken' in Gunther Ipsens Bevolkerungslehre, dass der Leipziger Wissenschaftler "die Fragestellung von Marx auf den Bevolkerungsvorgang angewendet'"^^^ wissen woUte. So erinnerte Ipsens Formel von der "Trennung von Arbeitsdasein und Gattungsleben"^^^ nicht zufallig an alte Marxsche Einsichten zum Verhaltnis von Familienleben und Unterhaltsarbeit. In einer etwas anderen Form fmden wir eine ahnliche Einschatzung zur verdeckten Marx-Rezeption in dem neueren Beitrag von Thomas Etzemliller: Die Gruppe um Hans Freyer und Gunther Ipsen habe die als gesellschaftliche Krise wahrgenommene soziale Differenzierung in der Gesellschaft"^^^ zum Ausgangspunkt ihres Denkens gemacht und dabei gesellschaftskritische (meist marxistische) Erkenntnisse ausschlieBlich instrumentell genutzt: "Die Vertreter der 'historischen Soziologie' bildeten gewissermaBen den soziologischen Zweig der 'Konservativen Revolution'. Sie machten die 'Krise der Gegenwart' zum Ausgangspunkt ihrer diagnostischen, empirischen fundierten Arbeit (die Bezeichnung 'Realsoziologie' sollte diesen Anspruch unterstreichen). Soziologische Theorien und systematische Begriffe lehnten sie nicht ab (wohl aber - entschieden antimarxistisch - die Auffassung, daB Geschichtsprozesse gesetzmaBig verlaufen), doch sie beanspruchten, sie ausschlieBlich als Instrument zu benutzen, mit dem sie die eigentliche Basis der soziologischen Arbeit, das reichhaltige historische Datenmaterial, aufschlusselten. (...) Zuerst kommt fiir den Realsoziologen die empirische (historische) Arbeit mit Hilfe systematischer Begriffe. Dann destilliert er aus dem Material konkrete soziologische Begriffe heraus, die eine Analyse der Gesellschaft ermoglichen.'"^^^
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Ehmer 1993:64. Vgl. Mackensen 1985:82. Vgl. Ipsen 1933a:458. Vgl. hierzu konkret Ipsens Anmerkungen zur Bedeutung des 'neuen Mittelstandes' in Ipsen 1933c:7f. Etzemuller 2001:61.
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In dieser Destination erblickte Josef Ehmer geradezu die eigentliche Leistung nicht nur des Soziologen, sondem auch des Bevolkerungswissenschaftlers Ipsen. Habe dieser doch die Bevolkerungswissenschaft lediglich darin bereichert, "die Fiille vorhandener Daten und Diskussionsansatze im Sinne seiner 'Volkslehre' in eine systematische Ordnung zu bringen und mit einer entsprechenden Terminologie auszustatten."^^^ "Die erkannten und konstruierten 'Ordnungen' oder 'Strukturen' wurden in diesem Denkstil zu Substanzen und Wesenskraften hinter den Erscheinungen; der standige EinfluB der politischen Sprache des Regimes verstarkte noch diese Tendenz zu einem substantialistischen Denken sozialerKonstellationen.'"^^^ Diese begriffliche Ordnung war auch die eines Versuches der systematischen Ordnung der (sozialen) Welt - die Suche nach dem Halt gebenden "Rahmen" in den sozialen Institutionen einer industriellen Gesellschaft: "Der Siedlung (industrielle Ballung) und der Familie (Geburtennickgang) sind seither kein Mafi mehr gesetzt. Dieses nachzuweisen, aber auch: ein solches MaB immer wieder zu suchen, war das wissenschaftliche Streben von Gunther Ipsen. Er hielt nicht fur 'Fortschritt', was in den 20er Jahren fast alle, heute noch viele so nennen wiirden - die Erweiterung des Lebensraums durch industrielle Produktivitat und Betriebsorganisation. Sie waren es ihm nur gewesen, wenn er darin auch den Rahmen hatte entdecken konnen, dessen der Mensch seiner Ansicht nach bedarf und den er in der Beschreibung alterer Bevolkerungsweisen aufzuweisen suchte/"^^^ Dass Gunther Ipsen tiberall eheme 'Gefiige' ausmachte war kein Zufall, sondem griindete auf der Freyerschen Erklarung von "standische(n) Gebilden, die noch diuiechten Leistungen beruhen"."*^^ Gegen den als uberhoh und unrealistisch abqualifizierten Gemeinschaftsbegriff von Ferdinand Tonnies^^^ setzten die Leipziger eine als technokratische Aufgabe gedeutete Revitalisierung verlorengegangener "Gemeinschaft". Die standischen Gebilde der vorindustriellen Gesellschaft batten, so Hans Freyer, nur deshalb eine gediegene Festigkeit und Dauerhaftigkeit als Gesellschaftsform besessen, weil mit dieser Gesellschaftsform Ungleichheit ("naturhaft gegebene Unterschiede der Menschen'V und die durch alle Gesellschaftsmitglieder zu erbringende "sachlich notwendige Leistung" austariert wurden. Beide Faktoren batten - anders als in der modemen Gesellschaft - noch "in einer klaren Beziehung" zueinander gestanden."*^^ Die Dauerhaftigkeit und "Ziichtungskraft" dieser Gesellschaftsform bewirkte dann auch, dass der "Stand" sich von einer (der menschlichen Einwirkungsmoglichkeit weitgehend entzogenen) "biologischen Angelegenheit" (Vererbung) zu einer (politisch beeinflussbaren) "geschichtlichen Tradition" entwickelte."^^^ Die Anerkennung dieses, bis in die 1920er Jahre des 20. Jahrhunderts reichenden Wandels bedingte in Freyers Augen gleichzei-
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Vgl. Ehmer 1993:63f. Raphael 2002:25. Mackensen 1985:82. Vgl. Freyer 1930:262 (Herv. d. H.G). Rudolf Heberles bevolkerungswissenschaftliche Arbeiten sind deshalb auch vor dem Hintergrund eines ganzlichen andem Verstandnisses von "Gemeinschaft" in Kiel bzw. in Leipzig zu interpretieren. Vgl. Freyer 1930:262. Vgl. Freyer 1930:270.
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tig, dass uber "Sozialstruktur" kiinftig nur normativ, und zwar im Sinne einer politischen Korrektur geredet werden konne: "Jeder Strukturbegriff der gegenwartigen Gesellschaftsordnung setzt voraus, daB ein bestimmter Wille, diese Sozialstruktur kiinftig umzubilden, ihr diese oder jene Entwicklungsrichtung zu geben, als geschichtlich gtiltig gesetzt oder anerkannt werde."^^"^ Wir finden in diesen Gedankengangen zwei wesentliche Kennzeichen der "Konservativen Revolution": Zum einen die Verklarung der Vergangenheit zu einer Welt, in der Kontrolle und Einverstandnis ein selbstverstandlicher Teil der sozialen Verhaltnisse war - was historisch falsch ist - und zum anderen die Absicht, das verlorengegangene Einverstandnis des ganzen "Volkes" wiederzuerwecken. III. 4 Die Leipziger Soziographie und die Bevolkerungsfrage Die "soziographische Methode" war in Deutschland - im Unterschied zur starker sozialreformerisch und der Aufklarung verpflichtenden Soziographie in den Niederlanden"*^^ - immer auch als eine Schau auf das 'innere Gefiige' von (standischen) 'Gemeinschaften' verstanden worden. Dies jedoch nicht im Sinne einer quantitativ-statistischen Datenerhebung zur Erforschung der formalen Zusammensetzung von 'Gemeinschaften', sondern als teilnehmende Beobachtung der in 'Gemeinschaften' wirkenden 'sozialen Krafte'. Nicht zuletzt ging es dabei um die Untersuchung der (zunehmend prekar gewordenen) Stabilitat hierarchischer Strukturen."^^^ So verstand der Leipziger Soziologenkreis unter "Soziographie" eine tiber teilnehmende Beobachtungen erfolgte Untersuchung der Gemeinschaftskrafte in Dorfgemeinschaften.'^^'^ Ipsen konstatierte einen "unerhorten Abbau und Verfall an Ordnungen des Gemeinschaftslebens auf dem Lande", der "nicht nur ein Verlust an Ordnung des Ganzen, sondern auch eine Schwachung des Einzelnen zu ohnmachtiger Preisgegebenheit" bedeute."*^^ Rtickwartsgewandte Vorstellungen tiber das freizulegende Gesicht 'sozialer Ordnung"^ ^^ statt eines realistischen Wissens um Klassen und Schichten bestimmten diese fruhe Soziographie. Seitens der empirischen Soziologie wurde ihr deshalb spater auch ihre Unprofessionalitat und Theorielosigkeit hinsichtlich der Methoden empirischer Sozialforschung vorgehalten."^^^ Ein Vorwurf, der zur Halfte an der Sache vorbei ging, weil die Leipziger Bevolkerungswissenschaftler und Soziologen - wie gesagt - empirische Daten weder zur Theoriebil414 415 416 41"^
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Freyer 1930:304. V g l . Z i e m a n n 2003:438. V g l . Z i e m a n n 2003:434f. Von der Leipziger "Soziographie" ist deshalb eine weitere Spielart abzugrenzen, die schon in ihrer Konzeption viel starker auf Raumlichkeit, Praxistauglichkeit und technologische Nutzlichkeit angelegt war: die sehr viel starker administrativ und territorial ausgerichtete Soziographie des Frankfurter Soziographen Ludwig Neundorfer (vgl. Ziemann 2003:413,428 und Darstellungen der Methode bei Klingemann 1991). Vgl. Ipsen 1938:248. Stefan Breuer zeigte mit Blick auf den amerikanischen Kommunitarismus, dass der Topos der Gemeinschaft nicht notwendigerweise regressiv gemeint sein muB (vgl. Breuer 2002:355). Einer in diesem Sinne von Partizipation und Solidaritat getragenen Vorstellung von "Gemeinschaft" hangen die Leipziger Wissenschaftler jedoch bekanndich nicht an. Vgl. Ziemann 2003:436.
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dung noch zur deskriptiven Beschreibung formaler Strukturen einzusetzen gedachten. Fur ihre eigentliche Absicht jedoch, namlich - um es im Vokabular der "Chicago School of Urban Sociology" auszudriicken - die "social construction of community" zu untersuchen, fehlten ihnen gleichermaBen die Kategorien wie auch die angemessenen qualitativen Methoden sozialwissenschaftlicher Forschung. An ihre Stelle traten die von Freyer und Ipsen freihandig postulierten historischen 'Gesetze' eines geschlossenen Gleichgewichts-Modells von Bevolkerungszahl, sozialer Ordnung und hierarchisch gestaffelten 'Lebensraumen'. Fiir Hans Freyer waren dabei Gemeinschaft und Raum zwei komplementare GroBen: "Fiir die Gemeinschaft ist der Raum etwas qualitativ Eigenes und Unverwechselbares. Er ist 'Schicksalsraum': geschlossenes, unausweichliches System von Schicksalsbedingungen. [Gemeinschaft] ist ein Korper, der sich zwar im Wechsel seiner Elemente, insbesondere im Wechsel der Generationen bestandig emeuert, der aber in diesem Wechsel als einer und derselbe besteht."42i
Der Raum erschien bei Freyer als unabanderlicher 'Behalter', in dem sich lediglich der 'Inhalf (der relational verstandene Gemeinschaftskorper) erneuerte."^^^ Demgegeniiber hob Gunther Ipsen im Zuge seiner Arbeiten um die "Verdichtung" des Raums ein Argument hervor, das in der heutigen Diskussion um Sozialraumgestaltung unter ganz anderen - namlich partizipativen - Vorzeichen wieder aktuell wird: das namlich Raume nicht in geographischen Koordinaten fassbar und damit auch nicht eingrenzbar sind.'*^^ Fiir Ipsen gab es deshalb schon damals nur zwei Auswege aus der von ihm konstatierten Krise der "Gemeinschaft", namlich zum einen den Geburtenruckgang und zum anderen die Wanderung.'^^'^ Einen methodisch elaborierten Begriff des "Sozialraums" haben die Leipziger Bevolkerungsforscher aber nie entwickeln konnen. III. 5 Das *Gefuge' als Zentrum der Leipziger Bevolkerungslehre Im Zentrum des Leipziger Konstrukts von den Bevolkerung(en), Bevolkerungsweisen usw. stand vielmehr das "Gefiige" der Bevolkerung. Die Berechnungen von Bevolkerungszahlen"^^^ machte in diesem Denken nur dann einen Sinn, wenn vorab Sicherheit iiber die Zuordnungen von sozial Ungleichen zu den von ihnen auszufuhrenden Arbeitsleistungen - sowohl in temporarer ("mittlere Leistungsdauer der Manner"), raumlicher ("Fassungsvermogen des konkreten Lebensraums fiir einen bestimmt beschaffenen und bemessenen Volkskorper"^^^) als auch in lebensweltlicher Hinsicht (nach 'Lebensweise' (spater bei Mackenroth "Sozialstif"^^^) unterschiedene Bevolkerungstypen'^^^) - bestand. So gehorte fur Ipsen der "Leistungswert (...), d.h. die voile Auswertung der menschlichen Arbeitsfahigkeit"^^^ in eine jede ^^^
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Freyer 1930:242f. "Gemeinschaft (war fiir Freyer; H.G.) keine GroBe der Zeit und der Geschichte, sondem eine GroBe des Raums". "Sie war deshalb uberall dort moglich, wo ein 'Schicksalsraum', ein 'geschlossener Horizont', eine Gruppe von Menschen zusammenflihre, und in sich selbst zusammenhalte. Aus dieser 'Einheit des Schicksalraums ' erwachse die 'Einheit des geistigen Gehalts, der in alien Gliedem der Gemeinschaft lebendig ist' sowie die 'Ausgliederung dieses Gehalts zu einem Lebenszusammenhang von bestimmtem Gefiige', womit Freyer die drei Momente bestimmt zu haben meinte, durch die sich der 'Strukturbegriff der Gemeinschaft' auszeichne" (Vgl. Breuer 2002:360). Vgl. zur Vorstellung des Raums als 'Behalter' in der Soziologie: Low 2001:35ff Vgl. Mackensen 1985:78f Ebd., 79f
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Berechnung quantitativer BevolkerungsgroBen. Was ein "Leistungswert" sei, wie dieser zu messen und wie die o.g. Zuordnungen aus dem empirischen Material zu gewinnen seien, wurde jedoch nie operationalisiert, sondem willkiirlich gesetzt; zudem wurde das ganze Modell auf eine isoliert betrachtete Gesellschaft eines Raumes begrenzt. Ipsen ging es bei seiner "Gefuge"-Theorie auch nicht um die Entwicklung soziologischer Kategorien im heutigen Sinne (die im Prinzip auf jede Gesellschaft anwendbar sein miissen), sondem ausschlieBlich um den (deutschen) "Volkskorper". Ipsen nahm das deutsche "Volk" als ein in sich gegliedertes, vielfach "geschichtetes" und raumlich organisiertes Ganzes wahr. Er unterschied hinsichtlich der inneren Ordnung des "Gefuges" zwischen der organischen "Schicht" (gekennzeichnet durch traditionale Lebensformen, agrarische Lebensweise, familiare Gebundenheit usw."^^^), der pluralischen "Schicht" (gekennzeichnet durch modeme Arbeitsteilung, industrielle Arbeitsweise, 'gesellschaftliches' Denken) und der politischen Elite (die politische "Schicht"):"*^^ Ein weiteres Charakteristikum der Leipziger Bevolkerungsforschung ist darin zu erblicken, dass das mit der Bevolkerungsanalyse verbandelte Modell der "Schichtung" als eine neue raumliche Ordnung verstanden wurde. Die empirischen Arbeiten der Leipziger Bevolkerungsforschung standen unter dem Einfluss einer von Hans Freyer als "raumgebunden" verstandenen empirischen Soziologie. Freyers Soziographie zielte auf die "empirische Aufnahme eines konkreten gesellschaftlichen Gesamtzustandes innerhalb eines bestimmen Raumes, innerhalb einer Stadt, einer Landschaft, einer politischen oder kulturellen Einheit".'^^^ Man konnte also von der Beschreibung einer isoliert verstandenen Gesellschaft sprechen, derer raumliche Grenzen als variabel und deren innere soziale Ordnungen durch 'starre' Ungleichheitsrelationen analog einer standischen Gesellschaft gepragt schienen. Dieser Denkstil Freyers wurde unter demographischen Aspekten in der Bevolkerungslehre weiter "^^^ Diese Arbeit lag immer auch in den Handen seines Assistenten Helmut Haufe (1906-1943). Haufe promovierte 1931 in Leipzig mit der Studie 'Die geographische Struktur des deutschen Eisenbahnverkehrs'; 1936 folgte die Habilitation bei Ipsen ("Die Bevolkerung Europas. Stadt und Land im 19. Jahrhundert", vgl. Haufe 1936); 1939 dann die Monographic: "Die Volksordnung im rumanischen Altreich". Haufe verfiigte - so der Leipziger Soziologe Pfeffer - iiber "besonders gute Kenntnis Rumaniens." (vgl. Notiz von Karl Heinz Pfeffer ftir Prof Berve und Prof Schadewaldt bzgl. der Vertretung des Lehrstuhls fur Politische Wissenschaften, PA 806/80, in: Universitatsarchiv Leipzig, Personalakte Karl Heinz Pfeffer, PA 806/80) Aus dem Jahr 1939 stammt ein AfBB-Artikel von Haufe iiber die "Methoden der Wanderungsforschung in USA", in dem er den Untersuchungen von Dorothy Swaine Thomas und Jane Moore bescheinigte, dass sie "beachtenswerte Versuche (darstellen), die Wanderungs- und damit die Verstadterungsfrage als gesellschaftlichen Prozess soziologisch zu fassen." (Vgl. Haufe 1939b:56). Haufe soUte zudem einen weiteren Beitrag far das Affe verfassen, namlich einen Aufsatz fiir das geplante Sammelwerk zur GroBstadtfrage. Auf einer Tagung des Siidosteuropa-Instituts (Leipzig) im Rahmen des 4. Siidosteuropa-Ferienkurses vom 20.7 bis 7.8.1939 hielt Haufe am 23.7.1939 einen Vortrag zum Thema ' Zur mittel- und siidosteuropaischen Bevolkerungsentwicklung'. Weitere Referenten auf dieser Tagung waren u.a.: H.G. Gadamer, K.H. Pfeffer, H. Raupach und H.J. Seraphim, (vgl. Universitatsarchiv Leipzig, Akten Phil. Fak. Bl :14, 57, Bd. 1 Blatt 43; vgl. zur Biographic Haufes auch vom Brocke 1998:423f, Gutberger 2l999:531f). 426 Vgl. Ipsen 1933a:428. 427 Vgl. Mackenroth 1953:327; Mackenroth (bearbeitet von K.M. Bolte) 1959. 428 Vgl. Ipsen 1933a:431ff. 429 Vgl. Ipsen 1933a:458. 4^0 "ich nenne diese Art der Bevolkerung 'organische Bevolkerung', weil daran vorwiegend nur der organische Kern des Volkskorpers, die Familienverfassung beteiligt ist, zum Unterschied von einer 'sozialen Bevolkerung' durch vermehrten Stellenwert des Lebensraums" (vgl. Ipsen 1933a:431). 431 Vgl. Ipsen 1933a; Ipsen 1933c:8. 432 Vgl. Utermann 1955 (1979):791.
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'popularisiert'. Im "GroBen Brockhaus" von 1953 umriss Gunther Ipsen den Inhalt der "Bevolkerungslehre" wie folgt: Die Bevolkerungslehre "geht aus von dem unaufhebbaren Grundverhaltnis von Lebensdrang und Lebensraum. Sie untersucht das menschl. Gattungsleben im zugehorigen Raume, Gebiirtigkeit und Absterbeordnung (Sterbetafel) und deren Ergebnis, den Volkskorper. Sie untersucht femer Aufbau und Stellenwert des 'sozialen Raumes', indem sich die natiirlichen Bedingungen der Landschaft mit menschl. Zwecktatigkeit, Nutzung, Erfmdung und Gestaltung verbinden. Sie untersucht drittens als Resultat der Auseinandersetzung von Lebensdrang und Lebensraum die soziale Mobilitat (sozialer Aufstieg, Binnenwanderung, Wanderung) und die sozialen 'Strukturen' als geschichtlichen Bestand, der tradiert und reproduziert wird. Daher verkntipft die B. biologische, soziologische und historische Elemente. Die Bevolkerungsstatistik ist eine ihrer wichtigsten Methoden.'"^^^ Dies klang sehr viel sachlicher als noch 1933 und von "Ztichtung" war nun in der Tat nicht mehr die Rede. Aber Ipsen ging es naturlich weiterhin nicht um soziale Mobilitat in dem Sinne, dass er eine Analyse sich tatsachlich vollziehender Gesellschaftsveranderungen ins Auge fasste. Das Bild von der raumlichen (An)-Ordnung der Bevolkerung war immer eng mit einer im Kern agrarisch gepragten Vorstellung von der Distribution gesellschaftlicher Ressourcen verknupft. Selbst in dem von Ipsen postulierten "Gesetz des doppelten Stellenwerts" schlug dies noch durch, wenn fiir ihn Prinzipien der "Nahrungsgemeinschaft" zwischen Produzenten und Konsumenten noch beim "Bevolkerungsaufbau der industriellen Ballung" - wenn auch unter erweiterten Bedingungen - fortwirkten: "Der Bevolkerungsaufbau der industriellen Ballung steht unter dem Gesetz des doppelten Stellenwerts: jede neue Stelle, die durch ihre Leistung Unterhaltsmittel von auBerhalb beschafft, gibt in der modemen GroBstadt einer zweiten Stelle Nahrung auf Grund von Anspriichen oder Diensten fur die erste. Wir unterscheiden danach im AnschluB an Sombart u. Gassert zwei Telle der Einwohnerschaft; jene nennen wir den Tragkorper der Stadt, diese den Mantel. Den Tragkorper bildet in der Regel vor allem die Mehrzahl der industriellen Belegschaften, den Mantel die ortlichen Verkehrs- u. Versorgungsbetriebe u. Amter, vor allem aber Kleingewerbe handlerischer oder handwerklicher Art. Das Gesetz des doppelten Stellenwerts ist offenbar eine Folge der erwahnten Trennung von Erwerbstatigkeit u. Haushalt im modemen Betrieb; denkt man sich diese verallgemeinert (u. das ist sie in der industriellen Ballung), dann wird die Versorgung des Haushalts u. die Aufhebung jener Trennung zu einer erganzend notwendigen u. gleichwertigen Aufgabe. Damit aber wird das Gesetz des doppelten Stellenwerts nicht nur grundlegend ftir das gesellschaftliche Gefiige der industriellen Ballung (dem sonach ein annahemdes Gleichgewicht der Massen von Lohnarbeitem u. Kleinburgem zugrundeliegt), sondem ebenso bestimmend fiir ihren Bevolkerungsgang. Denn eben das, was Malthus nicht fmden konnte - einen Lebensraum, der nicht nur wiichse, wie das Nutzland, sondem sich vermehre, wie die Individuen im ungehemmten Gattungsvorgang: eben dies stellte die modeme GroBstadt dar. Wenn sich die Industriebeschaftigung verdoppelte, gab sie der vierfachen Menge Raum; stieg jene aufs Dreifache, emahrte sie sechsmal so viel Einwohner, wie ehedem - kurzum, ihr Fassungsvermogen stieg mit dem industriellen Aufbau nicht nur in gleichem Schritt, sondem in doppeltem AusmaB; der industrielle
Ipsen 1953:77. Carsten Klingemann hat aufgedeckt, dass dieser ohne Autorenangabe aufgefuhrte BrockhausArtikel von Gunther Ipsen verfasst wurde: vgl. Klingemann 2004c.
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AnstoB pflanzte sich verstarkt fort. Freilich blieb auch dieses vermehrte Stadtewachstum an die Zunahme der industriellen Beschaftigung gebunden.'"*^"^ Trotz der hier deutlich werdenden sprachlichen Anleihen aus dem Marxismus (Lohnarbeiter, Kleinbiirger usw.) verstand Ipsen unter "Schichten" keine unabhangig voneinander bestehenden Klassenlagen"^^^ mit je spezifischen generativen Verhaltensweisen. Ja mehr noch, Ipsen Begriffe waren uberhaupt keine wirklich soziologisch begrundeten Begriffe zur Klassifikation von 'Bevolkerungen' gleichen 'sozialen Schicksals'^^^ - eben gerade weil er versuchte, diese Klassifizierung aus der angeblichen sozialen und demographischen Aufgabe einer Bevolkerungsgruppe fur das 'Volkganze' herzuleiten."^^^ Alle "Schichten" unterstanden dabei dem gleichen Populationsgesetz bzw. einer "Bevolkerungsweise", wobei sich in Ipsens Vorstellung von sozialer Stratifikation starke Einfltisse der 'ganzheitlichen' Gestaltspsychologie bemerkbar machten."*^^ Wenn Ipsen von "Gliedem" und "Schichten / schichten" sprach, dann verstand er darunter Elemente einer 'Gemeinschaftsordnung': "Glieder sind also Besonderungen eines Ganzen, die zugleich moglichst den voUen Gehalt des Ganzen in sich tragen und darin dem Ganzen 'gleich' sind, wahrend sie doch als Besonderungen andre und eigentumliche sind. Gliederung erzeugt so stets ein Ineinander von 'Gleichheit' und 'Anderheit' (...) Ordnung ist im Grunde Entzweiung eines Ganzen in Glieder; Glieder sind Besonderungen eines Ganzen. Damit erzeugt Ordnung ein Relief, worin iibergeordnete Glieder die andem tragen, nebengeordnete sich schichten. Diesen Sachverhalt vor Augen, hat man die Ordnung von Gestalten seit Platon mit einem Bilde wiederholt 'Gemeinschaft' genannt." "^^^ Hier kam eine morphologische Sicht auf die soziale Welt zum Ausdruck und aus eben diesen Grtinden spielte in Ipsens Bevolkerungslehre die Klassenlagen beeinflussende schulische und berufliche Qualifikation - anders als in der abstrusen Form der Verarbeitung dieser Problematik bei K.V. Mliller ('Begabung', s.o.) - auch keine Rolle. Ohne die RoUe Ipsens als einen umtriebigen Strategen des Wissenschaftsbetriebs zu unterschatzen: Die Ironie der "Realsoziologie" lag gerade darin, dass Ipsen eher an seinem Bild von der 'Gestalt' der Weh als an der noch komplizierten w^irklichen Welt interessiert war.^^^ Sprach Freyer noch abstrakt von "geschichtlichen Traditionen", so konstruierte Gunther Ipsen als Soziologe und Demograph 'soziale Gruppen' und 'ftigte' Familien der landlichen Bevolkerung zu "Schichten" zusammen."^"^' Wie nach 1945 noch an Ipsens "Theorie des regionalen Leistungsgefiiges" zu erkennen war, war fiir Ipsen - wie Rainer Mackensen betonte - diese "Gefiige-Theo-
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Ipsen I933a:437. Vgl. dazu auch Klingemann 2004a:200f. Vgl. Mackensen 1967a:47ff, 55, 63-79. 1967 distanzierte sich Rainer Mackensen von diesem Irrweg mit der Formulierung: "Was Grosse und Struktur von Bevolkerungen seien und inwiefem sie sich aus sich selbst heraus verandem, das war als Thema der Demographic festgestellt worden. Soweit solche Veranderungen nicht aus der Struktur der Bevolkerung herzuleiten sind, miissen auBere Bedingungen herangezogen werden; sind sie soziologisch fafibar, so sollte dies als Aufgabe einer speziellen Soziologie der Bevolkerung gelten" (vgl. Mackensen 1967a:82). Nach Rainer Mackensen erwarb Ipsen seine methodischen Qualifikationen hauptsachlich in der Ganzheitsbzw. Strukturpsychologie: vgl. zu Ipsens Sozialisation in diesem Kreis: Mackensen 2003a:487f Die Passage ist Ipsens Theorie des Erkennens (vgl. Ipsen 1926:445f) entnommen. So handelt "Die Analyse des Volkskorpers" vor allem von der Entwicklung einer "Leitform", eines als unerreichbar verstandenen "Modells" (vgl. Ipsen 1960:6f). Vgl. hierzu auch Breuer 2002.
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rie'"^"^^ lediglich "Grundmuster und MaBstab, die er in realen Situationen wiedererkannte und mit deren Hilfe er die Besonderheiten und Abweichungen einer bestimmten Wirklichkeit herauszuarbeiten vermochte":'^'*^ "Doch wurde die Konzeption nicht axiomatisch, sondem empirisch entwickelt. Das verleiht ihr den Charakter unmittelbarer Operationalitat: die verwendeten Begriffe und ihre Verknupfungen sind 'realsoziologisch' gedacht und lassen sich direkt in wirklichen Verhaltnissen aufsuchen, zumeist mit Hilfe der Definitionen und Gliederungen amtlicher Statistik.'"^'^'* Dass in Gunther Ipsens "Bevolkerungslehre" eine nicht "auf den biologischen Aspekt beschrankte Sicht gepflegt" wurde"^"*^ und dass sie in dieser Hinsicht bspw. auch von der Bevolkerungs- und Familienstatistik des Statistischen Reichsamts (Friedrich Burgdorfer) abwich,"^"^^ ist also nicht falsch, es unterschlagt aber, dass die "realsoziologische" Bevolkerungslehre in der empirischen Praxis ganz in der Nahe des Begriffsapparats der amtlichen Statistik operierte.'^'^^ Wieso allein eine nicht-biologistische Behandlung der Bevolkerungsthematik bereits das Fundament einer soziologischen Bevolkerungstheorie hatte liefem konnen, wie Hans Lindes"^"^^ spater immer wieder kolportierte Bemerkung von 1951'^^^ nahelegte, ist aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbar. Der anthropologische Bevolkerungsbegriff, dem Linde zugute hielt, er berticksichtige, dass es "weder eine Konstanz der Lebensbedurfnisse, noch eine Konstanz der Umweltbedingungen'"*^^ gabe, konnte keine Bevolkerungssoziologie begriinden: Fur eine Untersuchung der "Variabilitat" (Linde) historischer und soziologischer Erscheinungen waren die Begriffe der "Bevolkerungslehre" einerseits viel zu unklar^^^ und andererseits die empirischen Datenerhebungen viel zu nahe an den Kategoriebildungen der Sozialstatistik.
'*'*2
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Rainer Mackensen betonte, dass eine derartige Theorie, ohne das sie von Ipsen j e explizit entwickelt worden ware, nicht nur in die "Bevolkerungslehre", sondem auch in "Standort und Wohnort", in "Sozialfragen der industriellen Ballung" und in weitere stadtsoziologische Beitrage von Ipsen eingeflossen ware (vgl. Mackensen 1967b:82). Vgl. Mackensen 1967b:81.
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Vgl. Linde 1959b:240. Vgl. Linde 1959a:346f Vgl. hier vor allem Haufe 1936. Hans Linde, geb. 1913 in Jessnitz/Anhalt, 1932 Studium der Sozialwissenschaften in Leipzig und Konigsberg, 1937 Dr. phil. In Leipzig bei Hans Freyer und Hans Jurgen Seraphim, 1936-1938 Forschungsassistent am Institut fiir landwirtschaftliche Betriebslehre in Leipzig, 1949 bis 1956 wissenschaftlicher Sachbearbeiter und Referent im Niedersachsischen A m t fiir Landesplanung und Statistik, 1957-1959 Forschungsgruppenleiter an der Sozialforschungsstelle Dortmund (vgl. weitere Angaben zur Person in Gutberger ^1999:532f.). "Mit seiner verbreiteten Bevolkerungslehre (1933) befreite Ipsen die iiberkommene Problematik des Bevolkerungsgeschehens aus der Enge einer vorwiegend auf den biologischen Aspekt beschrankten Sicht und legte den Grund zu einer historisch-soziologischen Theorie des Bevolkerungsprozesses" (vgl. Linde 1959b:240). Vgl. Linde 1959a:346f. Vgl. Klingemann 2004a: 198f A n anderer Stelle wurde die Unklarheit von Ipsen u m der 'Lebendigkeit' des Gegenstandes willen zur Methode geadelt: "Unter P^/A: verstehen wir jene Struktur, die zugleich der tragende Grund und das unendlich reiche Resultat unserer wirklichen Geschichte ist: Trager als die Sozialstruktur der organischen Schicht des Geschehens; Resultat, soweit und wie Gang und Gehalt unserer geistigen und politischen Geschichte in jene Schicht transponiert sind. Diese Struktur entzieht sich um ihrer Lebendigkeit und Gediegenheit, um ihrer Fiille und ihrer Innigkeit willen der unmittelbaren Erkenntnis durch Begriffe. Wir vermogen sie jedoch zu erkennen auf Grund der wesentlichen Beziehungen der Schichten des Geschehens." (vgl. Ipsen 1933c: 11, Hervorhebung H.G.).
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Wenn sich aber Ipsens Bevolkerungslehre fur tatsachlich soziologische Fragestellungen nicht operationalisieren lieB,"^^^ so muB seine Wirkung auf zahlreiche deutsche Sozialwissenschaftler nach 1945 wohl durch etwas Anderes zu erklaren sein: In den Sozialwissenschaften ging es in den Wiederaufbaujahren, ob aus 'linker' oder 'rechter' Sicht, um die Beschreibung des gesellschaftlichen Ist-Zustandes. Soil sagen, mit empirischen Analysen wurde auch bezweckt, die gesellschaftliche Wirklichkeit der jungen Bundesrepublik ein wenig mitzudefmieren, um auf sie im Sinne politischer Steuerung besser Einfluss nehmen zu konnen. In der entstehenden pluralen Gesellschaft lieBen sich aber die aus 'rechtskonservativer' Sicht drohenden sozialen Verwerfungen nicht mehr ausschlieBlich in eine volkische Rhetorik gieBen, statistische 'Fakten' und Zahlen wurden im politischen Meinungskampf zunehmend wichtiger. 'Rechte' Sozialwissenschaftler mussten - unabhangig von einer etwaigen Parteien- oder Gewerkschaftszugehorigkeit - fur diese neue Situation erst eine eigene Sprache fmden, ohne ihre gleichsam ureigensten Themen - das 'volkische' Denken und das Dogma, dass aus der nattirlichen Unterschiedlichkeit der Menschen notwendigerweise eine zugespitzte Form sozialer Ungleichheit folgen musse - fallenzulassen. Dieser Versuch einer Kontinuitatsstiftung war m.E. ein wichtiger Grund dafur, dass die Bevolkerungswissenschaft in Deutschland nach 1945 zunachst mit einer anthropologischen 'Soziologie"^^^, einer naiven Sozialstatistik und mit einer auf Sozialtechnik hoffenden Raumforschung koalierte. Ipsens Konzept konnte in den 1950er Jahren auch als ein (allerdings sehr vages) Modell zur Beschreibung 'verewigter' sozialer Undurchlassigkeit zwischen Schichtgrenzen gelesen werden, so dass eben nicht das Konstrukt eines "homogenen Volkskorpers", sondem lediglich die Einfugung statistisch defmierter Bevolkerungs(gruppen) in ein vertikal verstandenes Ordnungsschema der Gesellschaft als das Wesentliche an Ipsen Bevolkerungslehre erschien. Nicht in dem postulierten inhaltlichen Bild eines einheitlichen Volkes oder gar einer "Rasse", sondem in dem Konzept 'geordneter' Banal-Empirie lebte der Ur-Ipsen weiter. Ipsens "Schichtungen" hatten mit den soziologischen Kategorien des "Standes" und der "Klasse" wenig zu tun, der Ansatz wurde aber sehr lange so rezipiert als sei dies tatsachlich der Fall gewesen. Obwohl Ipsen nie selbst explizit eine eigene Theorie 'sozialer Schichtung' fur die Bevolkerungswissenschaft entwickelt hat, wurde die rudimentar gebliebene "Gefage-Theorie" aus der Bevolkerungslehre von Schiilem und Schtiler-Schulem (u.a. Hans Linde, Werner Conze, Gerhard Mackenroth, Rainer Mackensen und Karl Martin Bolte) bis in die 1960er Jahre hinein nie ganz fallengelassen, sondem eher den wechselnden Semantiken soziologischer Fachsprache angepasst, so dass am Ende wirklich nicht mehr zu unterscheiden war, was als Methode noch von Ipsen her kam, und was vom soziologischen Stmkturfunktionalismus, der franzosischen Sozialmorphologie, der Amsterdamer Schule oder der Sozialdemographie angelsachsischer Pragung. Obwohl hier die Ansicht von Zeitzeugen, dass Ipsen das Denken seiner Schiller nicht in erster Linie durch "einzelne seiner Schriften oder Vortrage" pragte,^^"^ nicht bestritten werden soil, ist die zentrale Bedeutung des Textes von 1933"^^^ ja nicht zu ubersehen. Es fragt sich, ob es nicht bedenklich stimmen muB, dass gerade das 452 ^^^ 454
Vgl. Klingemann 2004a: 188. Erinnert sei dabei schon an dieser Stelle (s. weiteres Details bei der Vorstellung der Kieler Arbeiten) an die Verbindung zwischen demographischer Forschung und "Asozialenforschung": vgl. u.a. Jiirgens 1957, 1958, 1959, 1961, 1963a, 1963b. Vgl. Mackensen 1984:231.
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(eben nur imaginierte) Methodikergespann Ipsen/Haufe ein so hohes Ansehen bei seinen Schiilem genossen hat. Und welche Auswirkungen hatte dies auf die methodische Fortentwicklung der Bevolkerungssoziologie? Anders herum gefragt: Was ging der Bevolkerungssoziologie durch die Virulenz Ipsenscher Modellbildungen in den 1950er Jahren an soziologischen Methoden verloren? Die damalige Dominanz der Leipziger Interpretationslinie zeigte sich schon darin, dass Hans Linde Ipsens Bevolkerungslehre nach 1945 (falschlicherweise) so auslegte, als sei Ipsen der Erste gewesen, der sich der Bevolkerungsfrage nicht nur rein statistisch-rechnerisch naherte, sondem den Eintrittszeitpunkt eines gruppenspezifisch differenzierten Nachwuchses in den "generativen Zusammenhang der Gesellschaft" ftir die weitere demographische Entwicklung verantwortlich machte. Der also soziologische Argumente und soziologisches Denken in demographischen Berechnungen beriicksichtigt sehen wollte. Linde argumentierte dann auch, man musse im Geburtenriickgang "nicht nur das Negative" sehen, sondem der positive Sinn der neuen Weise des Bevolkerungsvorganges lage gerade darin, dass die Sozialpolitik gleichsam die bessere quantitative Bevolkerungspolitik sei. Quantitative Bevolkerungentwicklung, so konnte man zusammenfasssen, geschieht nicht nur vor dem Hintergrund der Kenntnisse iiber ungleiche, schichtspezifische Bedingungen, sondem sie ist beeinflusst durch Einblicke in den Prozess der sozialen Durchlassigkeit zwischen Schichten. Die Leipziger erkannten (in der Nachfolge vom Marx) zwar die Bedeutung sozialer Mobilitat fur den Prozess der demographischen Entwicklung und verbanden diesen Aspekt mit der raumlichen Situiemng von Sozialschichten. Doch ihnen fehlte die begriffliche Klarheit, um soziale Mobilitat tatsachlich zu beschreiben. Bei Linde wurde postuliert, dass es regulierbare Grenzen zwischen Sozialschichten in einer Region gabe, die wiedemm ein spezifisches generatives Verhalten vemrsachten. Doch auch dieses Denken spiegelte bei Linde auch nur dessen vertikale Vorstellung sozialer Ordnung und traditioneller Geschlechterverhaltnisse wider, denn die "generativen Leistungen der Familien einer sozialen Gmppen" wurden normativ gesehen; sie wurden danach bewertet, ob sie die 'richtige' vertikale Organisation der Gesellschaft gewahrleisten ("echte Auslese") oder eben nicht."^^^ Auch die Ausrichtung auf das soziale Leitbild eines patriarchalisch verstandenen (Familien)-Bauemtums blieb bei Linde erhalten und beeinflusste beispielsweise die Schwerpunktsetzung in der bundesdeutschen Agrarsoziologie.'^^'^ Eine davon abweichende Form der 'Wiederaufnahme' Ipsens sei hier hervorgehoben. Karl Martin Bolte unterschied in "Soziologie und Demographic" (in der Antizipation des Begriffs der "generativen Stmktur" von Hans Linde"^^^) zwei Formen der Untersuchung der sozialstmkturellen Bedingungen demographischer Entwicklung: einerseits "die Ausformung "^^^
456 4" ^^^
Als ein Beispiel dieser treuen Anhangerschaft an Ipsens "Bevolkerungslehre" sei hier Werner Conze genannt: "Conze stand immer im Banne Ipsens, methodisch wie personlich, und er lobte in den Briefen an seinen Lehrer dessen Arbeiten iiberschwenglich. Ipsens Demographie-Aufsatz war ihm eine Bibel, noch 1975 pries er ihn als unverzichtbar. Ipsen wurde selbstverstandlich Mitglied in Conzes 'Arbeitskreis fiir modeme Sozialgeschichte'. 1959 erlangt er in gewisser Weise seinen Professorenstatus wieder, in Form seiner Emeritierung als 'Professor zur Wiederverwendung' in Munster. Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultat hatte ihn wie Freyer auf Initiative Andreas Predohls wieder durch die Tore der Universitat hereingeholt, um beide als Emeriti 'ad majorem gloriam der Fakultat wirken' zu lassen" (Vgl. Etzemilller 2001:67). Vgl. dazu Linde 1952:25-39. Vgl. Vonderach 2001:96ff. Den dieser wieder aufbauend auf Ipsen entwickelt hatte.
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der fiir die Bevolkerungsentwicklung relevanten, statistisch fassbaren 'AuBenseite' der allgemeinen Sozialstruktur" und andererseits "die die spezifische Ausformung der 'AuBenseite' bedingenden Sozialverhaltnisse" i"*^^ "Damit ware u. E. der 'generativen Struktur' eine eigenstandige Bedeutung im Rahmen und gegeniiber der sie einbettenden und pragenden allgemeinen Sozialstruktur und ihren einzelnen Teilbereichen gegeben, ohne ihre unmittelbare Verbindung hierzu zu zerstoren."^^^ Hatte Karl Martin Bolte damit endgiiltig die Wurzeln zur 'realsoziologischen' Demographie gekappt Oder aber im Gegenteil diese lediglich weiter transportiert, in dem weiterhin auf einer Untersuchung der ''spezifischen Ausformung der AuBenseite" bestand?^^' War das nun Ipsen Oder Durkheim? Hat sich eine Bevolkerungssoziologie, die natiirlich empirisch betrieben werden muB, nicht auf andere Fragen als auf die nach den "Formen" (und deren Ursachen) zu konzentrieren? Diese Fragen lassen sich anhand des Materials nicht beantworten, aber die geschilderten Zusammenhange zeigen doch, wie erst nach und nach jener Denkstil aus der "Bevolkerungslehre" in der Bevolkerungssoziologie geglattet wurde. Gleichwohl reicht die Rezeption des technokratischen Gehalts der Ipsenschen Bevolkerungsforschung in der BQvoXkQvung^geschichte unreflektierterweise bis in die jtingere Zeit: "Sein (Ipsens) Verstandnis des Bevolkerungsgeschehens in seinem raum-zeitlichen und gesellschaftlichen Beziehungsgefuge fuhrte zur Konsequenz 'geschichtlicher' Bevolkerungsgesetze, die zugleich Ausdruck raumbezogener sozio-okonomischer Strukturen und Prozesse waren.'"*^^ Und damit noch einmal zurlick zum Anfang dieses Abschnittes, in dem ja von der Annahme einer bestehenden Sicherheit der Zuordnung von sozial Ungleichen zu den von ihnen auszufiihrenden Arbeitsleistungen die Rede war. An der "agrarischen Bevolkerungsweise" soUte beispielhaft demonstriert werden, dass Bevolkerungs-"Gesetze" nur dann einen Sinn machen, wenn von biologisch ungleichen, in soziologischer Hinsicht vertikal und zudem raumlich angeordneten Gruppen ausgegangen werde. Nur wenn also die 'Platze', die Verteilung der Aufgaben in einer Volkswirtschaft usw. fur konkrete Personen immer schon vorab feststehen wiirden, lieBe sich die demographische Entwicklung prognostizieren bzw. sozialtechnisch beeinflussen. Die stete Reproduktion der sozialen Schichten aus sich heraus war also eher eine Voraussetzung dieses Denkstils als ein Gegenstand der empirischen Untersuchung. Und dort, wo Gesellschaft tatsachlich noch genauso 'autoregulativ' funktionierte, wurde dies als empirischer Beleg fur die Richtigkeit des eigenen Modells angesehen.
"^^^ 460 "^6'
462
Vgl. Bolte 1961:266. Zuvor war Bolte auf die franzosische Sozialmorphologie (Durkheim, Mauss u.a.) eingegangen (ebd., 26If.), die eben der Untersuchung der 'AuBenseite' ein groBes Gewicht in der soziologischen Forschung beimaB. Bolte 1961:266. Im Artikel "Bevolkerung" des Handworterbuch der Sozialwissenschaften (Mackenroth in Bearbeitung durch Karl Martin Bolte) blieb 'Struktur' die 'Gefiigtheit von Elementen': "Die Struktur, die Gefligtheit von Elementen, ist etwas Qualitatives, jedoch sind die Elemente, aus denen eine generative Struktur gefugt ist, statistisch quantifizierbar (Bevolkerungsstatistik) (...) "Die Bevolkerungsweisen enthtillen sich in ihrer sinnhaften Gefiigtheit nur dem kritisch geschulten und die Zusammenhange knupfenden Blick des Sozialwissenschaftlers" (vgl. Mackenroth (Bolte) 1959:153f.). Kollmann 1988:31.
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Gunther Ipsen lieB sich mit anderen Worten - und in seiner Nachfolge dann auch Gerhard Mackenroth - von der Annahme eines harmonischen Ausgleichs zwischen okonomischen Ressourcen, sozialer Stellung und generativem Verhalten leiten. Dieses Gleichgewichtsmodell ist wiederum ein Konzept, das bis in die deutsche Bevolkerungswissenschaft des 18. Jahrhunderts (SuBmilch) zuruckreicht.'^^^ Interessant fur die Beurteilung der Behandlung 'sozialer Ungleichheit' in der Bevolkerungsforschung bleibt in unserem Zusammenhang jedoch Josef Ehmers Hinweis auf die Nahe dieses Konzeptes zum soziologischen Strukturfunktionalismus des 20. Jahrhunderts: "Auf neues Interesse stieB dieses Konzept allerdings, als in den funktionalistisch orientierten Sozialwissenschaften der 1960er und 1970er Jahre von der Biologie Modelle selbstregulierender Systeme iibemommen wurden. Insbesondere in der intemationalen Historischen Demographie fanden Konzepte 'autoregulativer' oder 'homoostatischer demographischer Systeme' weite Verbreitung (Dupaquier 1972) Die 'agrarische Bevolkerungsweise' wurde dabei zeitweilig sogar zum zentralen Paradigma der europaischen Bevolkerungsgeschichte - bevor eine wachsende Zahl empirischer Studien Zweifel an seinem Realitatsgehalt hervorrief "^^^ (....) Innerhalb der Demographie stellen die neueren 'biographischen Theorien der demographischen Reproduktion' (Birg et. al. 1991"^^^) einen radikalen Bruch mit alien Konzepten koUektiver Subjekte des generativen Verhaltens dar: 'Generatives Verhahen ist also als ein spezifisch menschliches Verhalten ein Individualverhalten. dessen theoretische Erklarung auf der Ebene des Individuums (...) ansetzen muB."'^66
Eine Bevolkerungssoziologie, die sich aber ob dieser unheilvoUen Nahe zur Biologie, zur 'Volkssoziologie', Kybemetik usw. in biographischen Ansatzen erschopft, kann andererseits Gefahr laufen, die tatsachlichen sozialstrukturellen Bedingungen demographischer Entwicklungen aus den Augen zu verlieren. Damit soil natiirlich nicht gesagt sein, dass es Sinn macht von einem generativen Verhalten von Kollektiven zu sprechen, sondern lediglich, dass demographische Fragen immer auch als Verteilungsfragen zwischen sozialen Kollektiven zu behandeln sind. Die in der Bevolkerungsfrage steckenden klassischen 'sozialen Fragen' - bspw. hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit der Arbeitszeiten und den materiellen Ressourcen oder den schichten(ubergreifenden) Konsumnormen in Wohlstandsgesellschaften sind ja nicht hinfallig. Sozialwissenschaftler, die nicht nur fur 'volkisches' Denken, sondern vor allem fur soziale Besitzstandswahrung und die scheinwissenschaftliche Begriindung sozialer Privilegien standen, haben seinerzeit versucht, die Thematik demographische Entwicklung und soziale Stratifikation zu besetzen. Denn die aus dem Leipziger Umfeld stammenden Bevolkerungswissenschaftler mutierten in den 1950er Jahren flugs von volkischen Vordenkem der 'neuen sozialen Ordnung' zu strukturkonservativen Schichtungsforschem:
463 464 465 466
Vgl. Ehmer 1993:67. Vgl. Ehmer 1993:68. Gemeint w a r Herwig Birg et.al.: Biographische Theorie der demographischen Reproduktion. Frankfurt/M. 1991 (vgl. Ehmer 1993:68, FuBnote 25). Ehmer 1993:68.
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III. 6 '*Schichtungsforschung" in Leipziger Tradition nach 1945 Karl Valentin MuUer und andere vormals auf dem Gebiet der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungswissenschaft tatige Wissenschaftler glaubten nun tatsachlich in der soziologischen Schichtungsforschung reussieren zu konnen. So zahlte K.V. Muller neben Gunther Ipsen, Hans Wilhelm Jurgens, Kurt Weichselberger u.a. zur "21. Arbeitsgruppe Soziale Schichtung'"^^^ des XVIII. Intemationalen Soziologenkongresses in Numberg (1958).^^^ Der Ntirnberger Kongress markierte den Hohepunkt einer langeren Auseinandersetzung unter westdeutschen Soziologen, fiir die Gunther Ipsen die martialische Bezeichnung eines "Burgerkriegs in der Soziologie" gefunden hatte.^^^ Dazu sei hier kurz die Vorgeschichte dargestellt: Auf Betreiben des italienischen Soziologen und Bevolkerungswissenschaftlers Corrado Gini wurde 1949 in Konkurrenz zur gerade ins Leben gerufenen "International Sociological Association" (ISA) eine Gegenorganisation revitalisiert, namlich die an das Institut International de Sociologie gebundene (und bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs einzige Internationale Soziologenorganisation) des IIS. Da Gini als Unterstiitzer der faschistischen Bevolkerungspolitik in Italien hervorgetreten war, wandte sich ein Teil der westdeutschen Soziologen (u.a. Rene Konig und Helmuth Plessner) vehement gegen die Wiederbelebung dieser intemationalen Standesorganisation. Dennoch grundete sich mit Untersttitzung des Bundesinnenministeriums auch eine deutsche Sektion der IIS; dieser gehorten viele ehemalige 'Leipziger' an. Zur Sektion zahlten u.a. Karl Valentin Miiller, Gunther Ipsen, Wilhelm Brepohl, Arnold Gehlen, Kurt Stegmann und (als Sprecher der Vereinigung) Hans Freyer. Karl Valentin Muller war zeitweise Generalsekretar der ISS. In seinem Artikel "Bevolkerungslehre" im Staatslexikon (1957) deutete Muller Ginis Ansatz als einen mit demographischen Mitteln untemommenen Versuch, den "Aufgang und Niedergang von Gesellschaften und Kulturkreisen" zu erklaren. "Hierher gehort etwa die Lehre von C. Gini (erganzt durch Cadi), die eine demographische GesetzmaBigkeit als Schllissel des Auf- und Niedergangs von Gesellschaften zur Erklarung heranzieht, namlich insbesondere die Abnahme der Fruchtbarkeit bei (relativer) Ubervolkerung und die Verstarkung der Stadtwanderung und der Aufstiegsvorgange ('sozialer Metabolismus') in die demokratisierte und sich verwasserende Fiihrungsschicht, die der wachsenden sozialen Spannung nicht mehr Herr werden kann. Einen guten kritischen Uberblick liber diese Problemkreise gibt 1. Schwidetzky."4'70 Muller bezog sich hier auf Use Schwidetzkys'^''^ Studie "Grundziige der Volkerbiologie" (1950). Einlassungen von Schwidetzky zu dieser Problematik fmden wir aber auch im Kapitel "Das Aussterben von Eliten" in ihrer Studie "Das Problem des Volkertodes" (1954).^"^^ Der bereits oben erwahnte Soziologenkongress in Rom (1950) wurde von Gini organisiert. Der Kongress in Nlirnberg hingegen wurde "in deutlicher Frontstellung" gegen die "^^^ ^^^ "^^^ 470 ^'^^ 472
Weitere Referate dieser Arbeitsgruppe stammten von Jose Ros-Jimeno, Raffaele Salvatori und Erich Werner. Vgl. Akten des XVIII. Intemationalen Soziologenkongresses, ed. H. Freyer, H. Klages, H.G. Rasch 1963. Vgl. dazu die Darstellung des Streits in Weyer 1986. Muller 1957a: 1228 A u f die Arbeiten der 'Breslauer Schule der Ganzheitsanthropologie', zu der Schwidetzky zahlte, wird weiter unten ausfiihrlich eingegangen. Vgl. Schwidetzky 1954b: 110-121.
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"Deutsche Gesellschaft fiir Soziologie" (DGS) durchgeftihrt und DGS-Mitglieder mussten ggf. ihre Teilnahme rechtfertigen. So geriet auch das DGS-Vorstandsmitglied Elisabeth Pfeil in Verdacht, da Mitarbeiterin von Gunther Ipsen an der Sozialforschungsstelle Dortmund, den Niimberger IIS-Kongress mit vorbereitet zu haben.'^'^^ Was sie allerdings bestritt ohne jedoch direkt gegen die IIS zu argumentieren, um so eine (ihrer Meinung nach) drohende Spaltung der bundesdeutschen Soziologenzunft abzuwehren. In unserem Zusammenhang ist diese soziologische Tagung von Bedeutung, da sich neben einer "Arbeitsgruppe Raumforschung'"*'^'^ auf dem Kongress zudem auch eine Arbeitsgruppe "Demographie" bildete, an der auch zahlreiche Bevolkerungswissenschaftler resp. ausgewiesene Mitglieder der Deutschen Gesellschaft fiir Bevolkerungswissenschaft teilnahmen. Der Arbeitsgruppe gehorten an: Friedrich Burgdorfer, Hans Wilhelm Jiirgens, Sabin Manuila, Stuart I. Hannon, Ferdinand Oeter, Doris Pfeifer, Hermann Schubnell, Use Schwidetzky, Roderich von Ungem-Stemberg, Ph. J. Idenburg und Hans Harmsen. Gunther Ipsen zahlte nicht zur Arbeitsgruppe 'Demographic', sondem beteiligte sich, wie gesagt, gemeinsam mit K.V. Miiller und Hans Wilhelm Jiirgens an der Schichtungsforschung. Aber auch als "Schichtungssoziologe" war er weiterhin auf der Suche nach dem Schliissel zur 'sozialen Ordnung'. In seinem Artikel zur "Sozialen Rotation" wurde nun die "Ebenbiirtigkeit" im Sinne einer "sozialen Naherung" zwischen den Ehepartnern die entscheidende Dimension 'sozialer Ordnung'. Ein Denken, das sehr stark an die Konstruktion "gleichartiger" Ehepaare bei K.V. Miiller erinnerte, denn erst durch die erfolgte Partnerwahl kame der tatsachliche 'soziale Status'jeder Person 'verbindlich' zum Ausdruck: "In diesem Sinne haben wir 1952 begonnen, das soziale Connubium in einer industriellen GroBstadt wie Dortmund iiber einen langeren Zeitraum hin vergleichend zu untersuchen. Die Antwort auf die Frage 'wer heiratet wen?' soUte das Gattungsgefuge erkenntUch machen und in ihm die Dimensionen der jeweils geltenden sozialen Ordnungen des Daseins."^"^^ Ipsens Mitarbeiter Weichselberger anderte Ipsens Ansatz dann insoweit ab, als er zusatzlich einen Index iiber die soziale Stellung von Vatem und Sohnen in 14 Positionen (Hilfsarbeiter, Bergarbeiter, Facharbeiter, angelernte Arbeiter, Bauhandwerker usw.) einfiigte. Die Grundintention Ipsens lag wohl darin, auch anhand dieses Berufsgruppenindex wiederum zu zeigen "daB nur eine Minderzahl moglicher Berufswechsel in der Generationenfolge auf 'Fortbewegung' abzieh.'"*'^^ Ipsen glaubte, "daB mit dem Begriff der sozialen Rotation und ihrer Messung durch Rectionsindex ein Zugriff auf die Probleme der 'vertikalen Mobilitat' gelingt, der weiterfiihrt und die Befunde wissenschaftlich sichert."^'^'^ 473 "^"^"^
475 476
Ygi Weyer 1986:299. Zunachst hatte sich auch K.V. Miiller u m eine Aufnahme in die D G S bemiiht, der er 1949 beitreten konnte. Es hatte thematisch nahegelegen, da sich die Referate u m Siedlungsplanung, regionale Entwicklungsplane und Sozialgeographie drehten, gerade an dieser Arbeitsgruppe auch niederlandische Soziographen zu beteiligen; doch trotz Einladung beteiligten sich keine Niederlander a m Kongress. In der Liste der "16. Arbeitsgruppe: Raumforschung" fmden sich die N a m e n Hermann Bausinger, Ziyaeddin Fahri Findikoglu, Joseph B . Ford, Benjamin Gil, R. Hengstenberg, Rainer Mackensen und Ernst Weigt (vgl. Akten des XVIII. Intemationalen Soziologenkongresses). K.V. Miiller vermutete in einem Brief an Gunther Ipsen, dass Rene Konig in der intemationalen scientific community der Bevolkerungswissenschaft darauf eingewirkt habe, "dal3 die Hollander ungefahr alle absagen" (vgl. dazu den Brief vom 14.7.1958 in Weyer 1986:301). Ipsen 1963:313. Vgl. Ipsen 1963:315.
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Ein weiteres Beispiel fiir die Hinwendung zur Schichtungsforschung bot K.V. Miiller. Hier seien einige zentrale Ausziige aus MuUers Untersuchung "Die Angestellten in der hochindustrialisierten Gesellschaft" zitiert. In der Untersuchung, die eine "vorbehaltlose Forderung" durch den Hauptvorstand der Deutschen Angestelltengewerkschaff*^^ erfuhr, brachte Miiller seine wahrend des Nationalsozialismus entwickelte Nomenklatur zur Beschreibung einer 'Leistungsgesellschaft' emeut zur Anwendung: "Die soziologische Grundvorstellung ist dabei etwa die folgende: Jede arbeitsteilig differenzierte Wirtschaftsgesellschaft weist notwendigerweise eine hierarchische Sozialordnung auf. Haufig nicht immer - geht diese parallel mit der Ordnung gewisser Vorrechte und Vorteile bei der Verteilung des Sozialproduktes."^^^ "Diese Grundtatsache der Verbindung von Leistungsfunktion und Geltung in der Sozialordnung wird heute vielfach verkannt.""^^^ "Damit ging aber auch meist der Blick fiir bestimmte Grundgesetze und Voraussetzungen einer Sozialordnung verloren: z.B. die Grundeinsicht, dal3 jede Sozialordnung einer arbeitsteiligen Gesellschaft eine naturliche Hierarchic nach vcrschiedenen Sozialfunktionen bildet, daB es fiir ihren Bestand darauf ankommt, und zwar je gegliederter die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist, um so unbedingter darauf ankommt, daB dieser vielschichtige gemeinsame LeistungsvoUzug auch klaglos funktioniere, daB sich also die Funktionstrager eines komplizierten Leistungsvollzugs immer spezialisierter und differenzierter gegeneinander abheben und in ihrem Anteil am Sozialprodukt gemaB ihrer Funktion und deren menschlichen Voraussetzungen differenziert behandelt werden miissen, daB ganz naturgemaB auch die soziale Geltung sich differenzieren muB, statt sich in eine einfache bipolare Kampfstellung aufzulosen und in eine unterschiedslose Einklassigkeit auszumunden/'-^^i "Keiner glaubt mehr daran, daB sich - ganz abgesehen vom soziologischen Elementarerfordemis einer gediegenen Ftihrungsschicht - ohne sehr spezialisierte, nach geistiger Fahigkeit ausgelesene und charakterlich besonders disziplinierte Funktionsschichten mittlerer Lage das Wunderwerk der modemen Volkswirtschaft in Gang halten laBt."'^^^ "Auch hier (in Theodor Geigers Studie die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, H.G.) wird moglicherweise die Funktionsqualitat unterbewertet und die entscheidende Bedeutung der gesellschaftlichen Auslese verkannt. Gerade an dieser Stelle aber muB meines Erachtens die Soziologie einsetzen, wenn sie ohne Scheuklappen vorgefaBter Ideologien die Wirklichkeit unserer Sozialordnung und die wirklichen sozialen Ordnungsgruppen erkennen will, davon ausgehend, daB die Funktionsbedeutung einer Gruppe deren Geltung und Wertung in der Sozialordnung auf lange Sicht in der Tat bestimmt.""^^^
Vgl.Ipsen 1963:319. Vgl.Muller 1957b: Vorwort. 479 Muller 1957b:2. Miiller 1957b:2. Muller 1957b:4. 482 Muller 1957b:4. 483 Muller 1957b:6. 477
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Die "Auslese" bestatigte fiir K.V. Miiller stets die vorab bereits hineinprojezierte Vorstellung von sozialer Ordnung einerseits und ihre vermeintliche Dauerhaftigkeit andererseits. Prozesse raschen sozialen Wandels und sozialer Mobilitat, und damit die Dynamik moderner Gesellschaften (und ihrer Okonomien'^^'^), kamen in dieser Schichtungsanalyse praktisch nicht vor. Wer den Bestand einer als 'natiirlich' verstandenen sozialen Hierarchie und den "klaglosen Leistungsvollzug" aller an der gesellschaftlichen Arbeitsteilung teilnehmenden Gruppen fur den Kern jeder sozialen Ordnung ansah, der predigte das Ideal des gesellschaftlichen Stillstands. Dass Hans Linde noch 1981 versuchte, die Bedeutung des Leipziger Hintergrunds fiir die wissenschaftliche Sozialisation von Karl Valentin Miiller herunterzuspielen"^^^, scheint mir also damit zusammenzuhangen, dass nicht allzu genau auf mogliche Konvergenzen in Ipsens und Miillers Denkstilen geschaut werden sollte. Dass es solche - bei alien offensichtlichen Unterschieden - gegeben hat, ist hoffentlich durch die vorangegangenen Darstellungen deutlich geworden.
IV. "Bevolkerungslehre" und Bevolkerungssoziologie in Kiel IV. 1 Gerhard Mackenroth und die Tradition Kieler Bevolkerungssoziologie Wenn von der Kieler Tradition der Bevolkerungssoziologie die Rede ist, fallen unweigerlich die Namen Gerhard Mackenroth, Rudolf Heberle und - mit Abstrichen - Theodor Geiger.^^^ Soweit also die Denkweisen dieser Wissenschaftler in Zusammenhang mit einer demographischen Problematik gestanden haben und diese damit das Thema 'soziale Ungleichheit' verbanden, werden sie auf den folgenden Seiten vorgestellt. Eine Auseinandersetzung mit ihren Biographien und wissenschaftlichen Stationen wird jeweils bei der Analyse der Texte gesucht, wobei ich hier zu Beginn auf den biographischen Hintergrund von Gerhard Mackenroth nur knapp eingehe und stattdessen auf die tabellarische Darstellung wichtiger Stationen seines wissenschaftlichen Lebens im biographischen Anhang verweise.'^^'^ Gerhard Mackenroth wurde am 14. Oktober 1903 in Halle an der Saale geboren. Nach einem Studium der Volkswirtschaft, Philosophic und der Psychologic in Jena schloss er 1926 das StudiSelbstverstandlich ist damit nicht die Chimare eines beliebig 'flexiblen Menschen' im Neo-Liberalismus gemeint (vgl. dazu Sennett 1998). Vgl. Linde 1981:115. Karl Valentin Muller verfasste seinerseits den Eintrag uberHans Linde im Intemationalen Soziologenlexikon von 1959 (vgl. Bemsdorf 1959: 320f.). Der ebenfalls in Kiel wissenschaftlich sozialisierte Theodor Geiger ist zwar in erster Linie als Soziologe und Empiriker sozialer Schichtung bekannt geworden, er auBerte sich aber auch in mehreren Schriften zur 'Bevolkerungsfrage' und zur Eugenik. Deshalb soil er hier nicht ausgeklammert werden. Bei einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bevolkerungssoziologie sind seine Arbeiten schon allein deshalb zu beriicksichtigen, weil sich eine komparative Darstellung mit Rudolf Heberles Schriften anbietet. Heberle wollte wie Geiger 'Bevolkerungfragen' soziologisch behandelt wissen. Auch der erste Direktor (1974-1979) des Wiesbadener Bundesinstituts fur Bevolkerungsforschung, Hans Wilhelm Jurgens, gehorte - obwohl kein Soziologe - zur 'sozialwissenschaftlichen' Bevolkerungsforschung Kieler Provenienz, weil der Kieler Anthropologe eine (seiner Vorstellung nach) auf 'Sozialtypen' und die Identifizierung von 'Asozialen' abzielende Soziologie innerhalb der Bevolkerungswissenschaft betrieben haben will. Zudem begann Jurgens seine Laufbahn mit einer Untersuchung iiber 'soziale Schichtung' und 'Begabung' in Kiel. Neben Jurgens wird hier auch kurz auf Hilde Wander als weitere Vertreterin der 'zweiten' Generation Kieler Bevolkerungswissenschaftler eingegangen. Vgl. Anhang unten.
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um als Diplom-Volkswirt ab und promovierte (Dr. rer. Pol.) noch im selben Jahr an der Universitat Halle. In den Jahren von 1926-1928 arbeitete der junge Wissenschaftler zunachst als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter beim Magistral in Halle. Dieser Ubergangszeit schlossen sich in der Zeit von 1928-1931 Studienaufenthalte als Fellow der Rockefeller Foundation in Schweden und England (Stockholm, London, Cambridge) an. Zuruck in Deutschland, habilitierte sich der erst 29jahrige im Fruhjahr 1932 in Halle und erhielt eine Privatdozentur fiir "Theoretische Nationalokonomie, Sozialpolitik und Statistik" - zunachst in Halle, 1933 erfolgte die Umhabilitation an die Universitat Marburg (1932-1934). Am 1. Mai 1933 trat Mackenroth der NSDAP bei und nahm spater in der Partei auch die Funktion eines Blockleiters wahr. Mackenroth gehorte zu den Unterzeichnem des Bekenntnisses deutscher Hochschullehrer fiir Adolf Hitler. Im Dezember 1934 zum auBerordentlichen Professer an der Kieler Universitat emannt, hielt er ebendort zusammen mit dem Kieler Soziologen und Bevolkerungswissenschaftler Rudolf Heberle Vorlesungen liber Bevolkerung und Bevolkerungspolitik. 1940 wurde die auBerordentliche Professur in eine ordentliche Professur fur "Wirtschaftliche Staatswissenschaften" umgewandelt. Seit 1942 wirkte Gerhard Mackenroth an der 'Reichsuniversitat StraBburg' und fungierte dort auch als Leiter der ortlichen "Hochschularbeitsgemeinschaft fiir Raumforschung.'"*^^ IV. 2 Gerhard Mackenroths "Bevolkerungslehre" (1953) Wie die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der "Bevolkerungslehre" bis in die 1980er Jahre zeigt,"^^^ war Mackenroths 1953 erschienene Monographic fiir die bundesdeutsche Bevolkerungssoziologie von zentraler Bedeutung. Mackenroth ging es nach den NS-Jahren darum zu belegen, dass Bevolkerungsvorgange aller Art (Bevolkerungsweise, Fertilitat, Mortalitat, Fortpflanzungsverhalten, Geburtenrtickgang, Migration usw.) generell mit sozialstrukturellen Entwicklungsbedingungen und nicht mit selbstablaufenden Naturgesetzen korrespondieren. So wurde seine "Bevolkerungslehre" in den 1950er Jahren wie folgt knapp und korrekt wiedergegeben: "Es ist nicht leicht, die These des Verfassers in wenigen Worten zusammenzufassen. Negativ abgrenzend kann man zunachst sagen, daB das Fortpflanzungsverhalten der Menschen sicher nicht aus einem eingeborenen konstanten Verhalten, aus einer in geschichtlichen Zeitraumen unveranderlichen biologischen Grundlage flieBt, ganz zu schweigen aus einer 'guten' oder 'schlechten' (Familien)Gesinnung. Damit erledigen sich zugleich alle Theorien, die das generative Verhalten als Rassenmerkmale deuten woUen. Es ist gerade eine Hauptthese dieses Buches, daB die Bevolkerungsweise eben nicht mit der Rasse oder Hautfarbe zu tun hat, sondem in einer kausal unableitbaren Weise im gesamten SozialprozeB wurzelt. Im insgesamt des Sozialprozesses ist die Bevolkerungsweise, das Fortpflanzungsverhalten, ein Strukturelement, das (bei Strafe des Unterganges) mit den ubrigen Elementen zu einem sinnerfullten, aber, das sei noch einmal betont, kau-
Vgl. Aus der Reichsarbeitsgemeinschaft fiir Raumforschung. Aufstellung der Hochschularbeitsgemeinschaften, ihrer Leiter und Stellvertreter, in "RuR", 6 (1942), Heft 6/7, 231 u. 7 (1943), H.3/4, 127. Vgl. die Beitrage in Schmid 1985. Rainer Mackensen bezeichnete Mackenroths "Bevolkerungslehre" 1967 als das - bei alien Defiziten - gedanklich umfassendeste, thematisch am weitesten angelegte und methodisch grundlichstes Werk der Bevolkerungssoziologie. Und dieses Urteil betrafe nicht nur die Literatur in deutscher Sprache (vgl. Mackensen 1967a:Vorwort).
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Denkstile sal unerklarbaren Zusammenhang durchstrukturiert. Das wird deutlich, wenn man die Bevolkerungsweise des Mittelalters gegen die des modemen Industrialismus absetzt (...) Die dem modernen Industrialismus innewohnenden Rationalisierungstendenzen haben diese Rationalitat des generativen Verhaltens zum Individuum hin verlagert, wobei Rationalitat nur in bezug auf individuelle Lebensplane hin verstanden, nicht aber als ein Absolutes aufgefaBt werden kann. (...) Das modeme individuelle rationale Bevolkerungsverhalten ist aber kein logisches Korrelat des Industrialismus, sondem ein ihm strukturverwandtes Element des Sozialprozesses, und gerade in dieser These unterscheidet sich die soziologische von der naturalistischen Sicht.'"*^^ IV. 3 Der Blick auf *soziale Ungleichheit* in Mackenroths "Bevolkerungslehre"
Der Gedanke, dass keine Kausalgesetzlichkeiten, sondem "historisch-relative Strukturgesetze" von Mackenroth gesucht wurden, wurde auch in einer Besprechung seiner "Bevolkerungslehre" in der "Deutschen Universitats-Zeitung" (Gottingen) hervorgehoben: Das Entstehen der Bevolkerungswelle des 19. Jahrhundert hatte der Autor als "Uberschichtungsphanomen" gedeutet."^^^ Dies fuhrt hier zu der Frage, welche Kategorien, Modelle, Denkmuster iiber 'soziale Ungleichheit' in die "Bevolkerungslehre" eingingen. Ging es Mackenroth um soziale Schichten im Sinne einer Beschreibung der Gesellschaft in vertikaler Anordnung? Was verstand er unter "Uberschichtung"? Bevor wir in die Zeit des Nationalsozialismus zuriickgehen und die damalige Auseinandersetzung Mackenroths mit sozialer Ungleichheit beschreiben, soil zunachst von den Arbeiten nach 1945 die Rede sein. Das Entstehen und die Wirkung von demographischer Entwicklung begriff Mackenroth nie abgekoppelt von den Prozessen sozialer Integration. Menschen entwickeln und verandem ihr generatives Verhalten, weil soziale Normen und Werte diese Veranderung - fruher oder spater - erzwingen. Diese Blickrichtung wurde schon an seiner Betrachtung der 'Bevolkerungsfrage' der vorindustriellen Gesellschaft deutlich. Mackenroth ging - vereinfacht gesagt - von der Annahme aus, dass vor der Industrialisierung die "Wirtschafts- und Sozialwelt" Arbeitsplatze bereitstellte, die eine Garantie far das lebenslange Emahren einer Familie boten und gleichzeitig auch einen 'standesgemaBen' Status garantierten.'*^^ Obwohl sich wahrend des 19. Jahrhunderts die okonomischen Bedingungen der Familienbildung dramatisch anderten und es solche 'Stellen' in immer geringerer Anzahl gab - so Mackenroth - verhielten sich die Menschen in generativer Hinsicht noch lange Zeit so, als hatte es diesen grundsatzlichen Wechsel der okonomischen Rahmenbedingungen nicht gegeben. Im Hintergrund fuhrte Mackenroth unausgesprochen die Vorstellung ein, dass Menschen aus zwei Motiven heraus ihr Leben gestalten; beide hangen eng mit sozialer Ungleichheit zusammen: namlich einerseits einen sozialen Abstieg zu verhindern, andererseits gestiegene Konsumnormen zu realisieren."^^^ Wenn nun das o.g. Standesinteresse - wie im Industriesystem - nicht mehr iiber 'Stellen' realisierbar ist - so Mackenroth - so verbleibe nur noch die Moglichkeit, die Familie klein zu halten bzw. ihre GroBe den jeweiligen okonomischen Bedingungen anzupassen.^^^ Die Entscheidung fur Kinder erfolgte fur Mackenroth also aus rationalen Motiven"^^^ heraus, ratio-
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Rezension in der "Schleswig-Holsteinische Volkszeitung", Kiel, Nr. 43, 20. 2.1954 (Quelle: Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fiir Weltwirtschaft, Kiel). Vgl.Vollmerl955. Vgi. Mackenroth 1955c:8fr. Vgl. Mackenroth 1955b:80. Vgl. Mackenroth 1955b:81.
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nal jedoch nur in Bezug auf die Mittel, die Mitgliedem sozialer Schichten angesichts der okonomischen und sozialen Zwange verbleiben: "Der Wilie zur Kleinhaltung der Familie wurzelt in gewissen Eigentiimlichkeiten der Industriegesellschaft, ihren Real- und Idealfaktoren, und er wirkt schichtenspezifisch, d.h. die Wirkungsketten sind in den verschiedenen Sozialschichten andere, und soweit sie sich gegenseitig im Zuge der modemen nivellierten Mittelstandsgesellschaft angleichen, immer noch zeitlich gegeneinander verschoben.'"^^^ Im Anschluss an die Arbeiten von Rudolf Heberle betonte Mackenroth die Bedeutung eines soziologischen Arguments bei der Betrachtung der demographischen Entwicklung: den "Aufstiegswillen" in den unteren und mittleren sozialen Schichten. Dieser Wille sei jedoch in der Industriegesellschaft an den materiellen Erwerb gebunden und werde damit zu einer Frage der Abwdgung von Gtitem. Es komme also gar nicht auf die bloBe soziale Lage einer Familie an, sondem auf die von ihr verfolgten Aufwandsnormen'. Die sozialen Normen sind gleichsam nicht mehr selbstverstandlich vorgegeben (wie in der 'standischen' Gesellschaft), sondem jede Familie ist aufgerufen, diese Normen fur sich zu fmden, um sich dann jedoch in die weiterhin hierarchisch verstandene soziale Rangskala einzuordnen. Das wissenschaftliche Konstrukt, die Gesellschaft in sozialen Schichten zu beschreiben, machte deshalb auch fur Mackenroth nur noch dann einen Sinn, wenn nicht Schichten durch Produktionsverhaltnisse und soziale Lagen defmiert, sondem "Schichten" nach "ihrem Aufwand gegeneinander" abgegrenzt wiirden. Damit - so Mackenroth - wiirden aber auch die Schranken des 'alten' Schichtungsgefiiges wegfallen. Um Aufwandsnormen konne nur in einem "Schichtengefiige" konkurriert werden, deren Schichtgrenzen offen seien. Diese "Offenheit" meinte bei Mackenroth jedoch nicht einen Abbau sozialer Ungleichheit und eine Erleichtemng sozialer Mobilitat, sondem lediglich die Forciemng der Konkurrenz zwischen sozialen Schichten. Die "Schichten" wiirden auf das Basis der nun stsukQY gemeinsam erfahrenen okonomischen Ziele (materieller Wohlstand/wr alle) in einer Marktgesellschaft in einen Wettbewerb'*^^ eintreten: "Der Aufstiegswille, wie er heute in weiten Bereichen der stadtischen Schichten der Industriegesellschaft herrscht, kann sich in den immer unpersonlicher werdenden Verhaltnissen nur liber das Halten einer ganz bestimmten schichtentypischen Aufwandsnorm verwirklichen." (...) Die Zahl der Kinder ist indifferent, aber der Aufwand fiir die vorhandenen Kinder ist starkstens konventionell gebunden, besonders in Kleidung und Ausbildung. Die fiir die Kinder gesteckten Berufsund Ausbildungsziele sind geradezu eine Indikation der sozialen Selbsteinschatzung. Schon in dieser Tatsache liegt ein Antrieb, die Rationalisierung gerade in Richtung auf die Kleinhaltung der Familie zu Gunsten einer guten Ausbildung fiir die vorhandenen Kinder voranzutreiben. Die verschiedenen Sozialschichten sind nun in unseren demokratischen Lebensformen nicht mehr standisch gegeneinander abgesetzt, sondem gerade in den stadtischen Verhaltnissen der In"^^^ Er wandte sich deshalb auch gegen die Gesinnungstheorien (vgl. Mackenroth 1955b:82). 496 Mackenroth 1955b:85. ^^"^ Mackenroth pladierte generell fur eine (Wieder-)Verankerung der Soziologie in die (National-)Okonomie (vgl. Mackenroth 1955a). Heute spielen die von Mackenroth gemeinten schichtenspezifischen 'Guterabwagungen' unter dem Stichwort "Opportunitatskosten" in den politischen Diskussion um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Rolle. Familienplanung und die Entscheidung fiir ein Kind erscheinen hier als ein Rechenexempel.
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Denkstile dustriegesellschaft in engstem Kontakt miteinander. Alle Ubergange sind grundsatzlich offen und die Grenzen flieBend. Der Aufwand entscheidet iiber die Einreihung in eine der Sozialschichten; diese sind iiberhaupt nicht mehr nach ihren Produktionsverhaltnissen, sondem nur noch nach ihrem Aufwand gegeneinander abgrenzbar. So entsteht eine alle Schichten durchsauemde Aufwandskonkurrenz, von ihr geht ein standiger Druck aus auf die sozial nicht gebundenen und damit rationell noch beschrankbaren Aufwandteile, darunter vor allem die Kinderzahl. Die standig steigende Konsumnorm liberschieBt sogar die doch auch nicht unbetrachtliche materielle Wohlstandssteigerung. Es Uegt in der Ordnung unserer Gesellschaft eine Tendenz, einen groBen Teil der materiellen Wohlstandssteigerung in einer sozial teilweise sogar unerwunschten Aufwandsstandardisierung zu absorbieren und dafiir den sozial erwiinschten und vordringlichen Aufwandsbereichen immer groBere Einkommensteile zu entziehen. Materiell war der Lebensraum fniher uberall viel enger, bei hoheren Kinderzahlen, materiell ist der Lebensstandard iiberall gestiegen, nur die Konsumnorm noch dariiber hinaus, so dass auch ein materiell hoherer Lebensstand nicht ausreichend erscheint fur eine groBere Kinderzahl. Diese Entwicklung hat freilich auch sehr positive bevolkerungspoHtische Seiten. Nicht aller Aufwand ist bevolkerungspolitisch sinnlos sterilisiert. Ein groBer Teil kommt den vorhandenen Kindem zugute: die Menschen wollen heute nur noch Kinder haben, die sie anstandig emahren und kleiden und denen sie eine anstandige Wohnung bieten konnen. Das ist ein Fundament, auf dem sich bevolkerungspolitisch bauen lasst. Sie miissen namlich in die Lage versetzt werden, diese Bedingungen einer groBeren, sozial erwunschten Kinderzahl bieten zu konnen."^^^ IV. 4 Zum strukturkonservativen Verstandnis sozialer Mobilitat in Mackenroths Bevolkerungslehre
Mackenroths (eingeschranktes) Verstandnis von sozialer Mobilitat zeigte sich auch an seinem Begriff der Siebung. Den Siebungsbegriff tibemahm Gerhard Mackenroth von Wilhelm Emil Muhlmann."^^^ Miihlmann wiederum bezog sich stark auf den Schichtungsbegriff der (historischen) Psychologie,^^^ von dem auch Gunther Ipsen stark beeinflusst war. "Siebung" setzte fur Mackenroth (im Gegensatz zur biologistisch verstandenen 'Auslese') zwar die Moglichkeit von Ubergangen zwischen sozialen Schichtgrenzen voraus, die "Neuverteilung des Bestandes jeder Generation" bedeutete fur Mackenroth jedoch nicht, dass das "Schichtengeflige" selbst neu entstand. Die bekannten Formen der Verteilung sozialer Positionen blieben, sie wurden nur mit jeder Generation - und das auch nur bei einem offenen 'Gefiige' durch andere Menschen besetzt: "Mit dem Auslesevorgang verzahnt sich ein ganz anderer Vorgang, den wir, als Siebung bezeichnen. Auslese hat immer zu tun mit differenzierter Fortpflanzung, sie kann auch bei geschlossenen Sozialgruppen stattfmden. Siebung dagegen hat zu tun mit der Verteilung eines gegebenen Bevolkerungsbestandes auf funktionell verschiedene Sozialschichten. Auslese kann nur stattfmden im Generationenwechsel, Siebung dagegen auch innerhalb der Lebenszeit einer Generation. Im geschichtlichen ProzeB ist Siebung die Neuverteilung des Bestandes jeder Generation auf die funktionell geschiedenen Sozialschichten, sie setzt voraus die Moglichkeit solcher Ubergange zwischen den einzelnen Sozialschichten, also ein Schichtengefuge, das offen ist. Die Ubergange zwischen den nach Beruf, Einkommen und Bildung abgegrenzten Schichten werden als Aufstieg 498 499 500
Vgl. Mackenroth 1955b:85flf. Vgl. M u h l m a n n 1950. Vgl. M u h l m a n n 1956:193ff.
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Oder Abstieg gewertet und vollziehen sich in der heutigen Gesellschaftsordnung westeuropaischer Pragung in zwei hauptsachlichen Formen: 1 .durch Berufswahl oder berufliche Leistung, 2.durch Heirat. Die Berufssiebung ist bei der heutigen Ordnung der Berufswelt immer noch der typisch schichtbestimmende Faktor fur den Mann und sein Aufstiegsweg in hohere Schichten; erst jlingst wird auch der personliche Berufsaufstieg der Frau haufiger. Bei gegebenem Schichtengefuge gibt es ftir die Berufssiebung eines Sozialkorpers zwei Grenzfalle. Das eine Extrem ist das voUig geschlossener Gruppen, im anderen Extremfall wird mit jeder Generation das biologische Material liber die gegebenen Berufsschichten voUig neu verteilt, bestehen also gar keine Schranken rechtlicher oder faktischer Art fiir den Aufstieg oder Abstieg der nachwachsenden Generation. Dann miissen sich die Sohne die Positionen ihrer Vater immer wieder neu erkampfen auf Grundlage ihrer eigenen geistigen oder korperlichen Leistungen. Die Wirklichkeit liegt meist irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen."^^^ Die "Siebung" fungierte bei Mackenroth als Korrekturinstanz fur die irreversibel verstandene biologische "Auslese", denn durch "Siebung" erganzten obere soziale Schichten ihren Bedarf an Nachwuchs nach eigenem Gutdilnken. Entscheidend fur den zahlenmaBigen Bestand einer sozialen Schicht sei - so Mackenroth - die Assimilationsfahigkeit der Neuhinzukommenden: "Tut sie das aber (erganzt sie ihren Bestand aus anderen sozialen Schichten; H.G.) so bleibt alles beim Alten, wenn die Neueintretenden durch die Pragekraft der schichtenspezifischen Lebensformen in den Oberschichten voll assimiliert werden. Die nachste Generation wurde sich zwar mehr aus den Nachkommen der Unterschichten rekrutieren, das soziale Leben konnte aber unverandert weiterlaufen, wenn nur die Assimilation der Ubergetretenen voUstandig ist. Die Lage wird sogleich anders, wenn die These vertreten wird, daB sie nicht voll assimilierbar seien, well sie in ihren erbfesten Merkmalen anders zusammengesetzt und diese fiir die Ausbildung der von ihnen darzulebenden Verhaltenskonstanten das Entscheidende seien. Dann laBt sich die differenzierte Fortpflanzung der Oberschichten nicht korrigieren; dann vollziehen sich durch Auslese endgultige und nicht durch Siebungsvorgange zu kompensierende Anderungen im biologischen Material, denn die erbfesten Qualitaten der Oberschichten konnen die Neueintretenden dann unter keinen Umstanden erwerben."^^^ Den Begriff der Siebung verstand Mackenroth als wertfrei. Wertfrei war dieser Begriff fiir ihn deshalb, well der damit beschriebene Prozess der Anpassbarkeit bzw. Assimilation an eine 'soziale Lebensform' nur dann problematisch sei, wenn die in Rede stehende Lebensform als wertvoll bzw. wertlos beurteilt wiirde.^^^ Ob Anpassbarkeit bzw. Nicht-Anpassbarkeit an sich einen positiven oder negativen Wert darstelle, sah er auBerhalb des Zustandigkeitsbereich der Sozialwissenschaft. Der Ruckzug in die Neutralitat in dieser Frage bedeutete aber faktisch, dass Mackenroth das Verhalten sozialer Gruppen unter den Zwdngen von Macht- und Ungleichheitsverhaltnissen zu edelmtitigen Haltungen stilisierte. Jene Machtund Ungleichheitsverhaltnisse, die die 'Haltung' und die 'Wiirde' beispielsweise der indigenen Volker erst erzwungen batten, wollte er nicht zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse machen: 501 502
Mackenroth 1953:239f Mackenroth 1953:244.
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Denkstile "Wir miissen uns abgewohnen, im Vorgang des sozialen Aufstiegs oder Abstiegs einen prima-facie Beweis fiir sozialen oder gar personlichen Wert im objektiven Sinne zu sehen. Es kann sozial wie personlich mehr Wert und Wurde darin liegen, auf Aufstieg zu verzichten und sich selbst treu zu bleiben, wenn die Lebensform, in die aufzusteigen ware, ungemaB ist. Die Wertungen, die die Sozialschichten und ihre Lebensformen erfahren, sind im geschichtlichen ProzeB wandelbar, sie 'gelten' nur im Sinne einer psychologischen Massentatsache von wechselnder Haufigkeit, sie haben keine irgendwie objektive Geltung; die konnen sie naturlich auch haben, aber das ist nicht die Ebene, auf der wir als Sozialwissenschaftler uns mit ihnen zu befassen haben. Dasselbe gilt gegenwartig wie geschichtlich. Es kann mehr Wiirde und Haltung und Leben darin liegen, in gewissen Fallen nicht anpaBbar zu sein, unter Umstanden den Willen zur Anpassung ganzlich abzuschreiben, ein Dasein im Rahmen der noch gegebenen Moglichkeiten zu fiihren, oder wenn gar keins mehr moglich ist, auch darauf zu verzichten. Ich kann personlich jenen Volkem der pazifischen Inseln und des indianischen Amerika die Achtung nicht versagen, die da lieber zugrundegingen, sich der Fortpflanzung enthielten, als sich den ihnen aufgezwungenen europaischen Lebensformen anzubequemen."^^"^
Wenn es um die deutsche Bevolkerung ging, argumentierte Mackenroth hingegen sehr viel politischer. Aus den o.g. kritischen Einsichten in die antisozialen Wirkungsmechanismen kapitalistischer Okonomien heraus pladierte Mackenroth in den funfziger Jahren fiir den Ausbau der Politik der sozialen Sicherung. Allerdings schwebte ihm dabei wohl das Modell allein staatsautoritarer Regulierung sozialer Ordnung^^^ vor, wie sein vorsichtiges Lob iiber die bevolkerungspolitische Wirkung der Sozialpolitik der 1930er Jahre zeigte: "Die Elastizitat unserer dynamischen Wirtschaft ist bis in die allerjiingste Zeit im wesentlichen dadurch erkauft worden, daB Arbeiter- und Angestelltenmassen periodisch brotlos wurden und mit dem Risiko einer neuen Arbeitsplatzsuche belastet wurden. Das hort erst heute allmahlich auf mit dem Ausbau der Politik der sozialen Sicherung. Gegeniiber solcher einmal nachhaltig erlebten Unsicherheitssituation wird eine groBere Beweglichkeit in bezug auf Ortsgebundenheit und Ausgabengebarung angestrebt, die mit einer groBen Familie nicht vereinbar ist. So wird gerade auch in den industriellen Arbeiter- und Angestelltenschichten ein Wille zur Kleinhaltung der Familie erzeugt, letztlich dadurch, daB die Gesellschaft das Risiko ihrer Dynamik auf sie abzuwalzen versucht und sie sich durch Geburtenbeschrankung diesem Druck entziehen. (...) ...zu einer aktiven Sozialpolitik und zu einer Politik der Wirtschaftsstabilisierung tibergegangen. Es ist kennzeichnend, daB genau vom gleichen Zeitpunkt an sich auch die Geburtenkurven wieder stabilisieren. Es sei hier die Frage aufgeworfen, ob sich der allgemein beobachtete Umschwung der Tendenz der demographischen Kurven nicht aus diesem Ubergang zum Sozialstaat ^^^
Uber die inneren Widerspriichlichkeiten des ganzen Konstrukts von der "Siebung" war sich Mackenroth stets im Klaren. Riickblickend zur NS-Zeit: "Wie brave Subaltembeamte zu Leuteschindem, Menschenqualem und Sadisten werden konnten, haben wir doch alle erlebt. Heute sind sie vielleicht wieder brave Burger. Hier versagt iiberhaupt die Vorstellung der Siebung (...) Die Tatkraft mancher Zeitgenossen und ihr Triumph des Willens' waren wahrhaftig vom Ubel. Und die Betriebsamkeit unserer durchschnittlichen Erfolgsjager scheint mir auch kein sozialer Gewinn. Es bleibt also kein Raum fiir ein allgemeines Werturteil iiber den sozialen Siebungs- und Auslesevorgang als Ganzes. Weder ist das, was nach oben aussieht, noch ist das, was iiberlebt, zu alien Zeiten gut, noch zu alien Zeiten schlecht; es sei denn, daB man in einer evolutionistischen Harmonievorstellung die Tatsache des Siebens und Uberlebens als solche schon als sozial wertvoll ansehen wolle, womit der SchluB aber zu einer petitio principii wird. Dieser Zirkelschluss liegt aber dem sog. Sozialdarwinismus zugrunde." (vgl. Mackenroth 1953:294ff.). 504 Mackenroth 1953:242. 505 Zum Begriff siehe: Mackenroth 1953:256. Vgl. dazu auch die Abschnitte zu Gerhard Mackenroth als Vordenker sozialer Neuordnung weiter unten.
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erklart. Die Frage kann aus dem geschichtlichen Material noch nicht schlussig beantwortet werden, weil sich in den 20 Jahren andere Einbruche damit iiberlagert haben. Immerhin ist beachtlich, daB die sakularen Tendenzen der Fruchtbarkeitsentwicklung nicht in und nach den Kriegen umbrechen, sondem gerade in der Mitte der 30er Jahre."^^^ Doch auch nach 1945 glaubte Mackenroth an die unbedingte Notwendigkeit "staatlicher Neuordnung im Sozialen" unter strukturkonservativen Vorzeichen: "Nach seiner (Mackenroths, H.G.) Uberzeugung gibt es in der Gegenwart eine ahnliche Situation wie in der zweiten Halfte des vorigen Jahrhunderts, als Professoren vom Katheder der Horsale aus die staatliche Neuordnung im Sozialen verlangten. Von ihren Widersachem als Kathedersozialisten verschrien, wurden sie dennoch durch den Erfolg der Bismarckschen Sozialgesetzgebung gekront. Auch heute wiederum konnte nur die vorurteilslose und politisch ungebundene Wissenschaft durch den FleiB ihrer Forschung den wirklichen Beweis fur die Notwendigkeit und Art einer umfassenden Reform erbringen."^^"^ Dass fur Mackenroth die Themenkomplexe Bevolkerung, Sozialstruktur und Sozialleistungen nicht getrennt voneinander diskutiert werden konnten, zeigte sich auch als er zu Beginn der fiinfziger Jahre mehrere Forschungsgruppen am Soziologischen Seminar in Kiel einrichten lieB. Die Forschungsgruppe Bevolkerung widmete sich in Einzelarbeiten den Themen "Bevolkerungsentwicklung und Leistungspotential (K. M. Bolte)^^^", "Die Sexualproportionen der Geborenen" (M. Teichert) und "Russische Familie, Heimkehrerbefragung" (M. Bischoff). Unter der Leitung von Karl Martin Bolte entstanden in der "Forschungsgruppe Wandlungen der deutschen Sozialstruktur" u.a. Arbeiten zu "Soziale Schichtung und vertikale Mobilitat"^^^; "Soziale Heiratskreise", "Berufsprestige", "Konsumgewohnheiten", "Schichtbilder von 280 Gemeinden", "Soziale Herkunft Kieler Berufsschuler".^!^ Die "Forschungsgruppe Landbevolkerung" (Leitung: Erik Boettcher) widmete sich hingegen der "Vertikalen Mobilitat (in einem ausgewahlten Bezirk)", "Herkunft der Fabrikarbeiter vom Lande", ("Struktur von Handwerksbetrieben auf dem Lande"; "Erfolge der Umsiedlung". SchlieBlich entstanden in der "Forschungsgruppe Verflechtung der Sozialleistungen"^^^ Arbeiten des Titels "Studium der Sozialgesetze", "Stichprobe B unter 6200 Sozialleistungsempfangem (Sozialleistungskombinationen)", "Auswartige Sozialsysteme", "Die Sozialfinanzen im volkswirtschaftlichen Kreislauf."^^^
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Mackenroth 1955b:87f. "Mackenroth, ein Soziologe aus Berufung", in: "Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung", Kiel, Nr. 78, 2. April 1955 (Quelle: Personalmappe Mackenroth, Wirtschaftsarchiv Archiv des Instituts fiir Weltwirtschaft, Kiel). Vgl. Bolte 1954. Vgl. dazu auch Karl Martin Boltes Habilitationsschrift Bolte 1959a. Vgl. dazu auch eine entsprechende Kieler Untersuchung an Volksschiilem des Bevolkerungswissenschaftlers und Sozialanthropologen Hans Wilhelm Jiirgens, der der o.g. Forschungsgruppe nicht angehorte: Jurgens 1957. Zusammen mit 20 Studierenden untersuchte Mackenroth 8000 Aktenfalle hinsichtlich verflochtener Sozialleistungen. In den "Gewerkschaftlichen Monatsheften" wurde diese Untersuchung als "Soziographie" bezeichnet (vgl. die Rezension von Mackenroth 1954 durch "W.D." in "Gewerkschaftliche Monatshefte", Nr. 5, Mai 1955) Vgl. dazu auch den Aufsatz von Peter Josef Deneffe (s. auch Denkstile, 2.2. oben) gleichen Titels: Deneffe 1955.
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Denkstile
Zuvor hatte die "Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Institute", der Mackenroth angehorte, ein Schwerpunktprogramm mit sozialpolitischen Forschungsvorhaben angeregt. Die Forschungsgruppe zur Verflechtung der Sozialleistungen und zur Landbevolkerung zahlte zu diesem Schwerpunktprogramm. IV. 5 Mackenroths Auseinandersetzung mit der "biologischen Sozialinterpretation" Gerhard Mackenroth setzte sich fur die Partizipation aller sozialen Schichten an der Kultur und am gesellschaftlichen Leben ein - allerdings nur im Sinne einer sehr 'breiten' Suche nach den geeigneten Tragem' gesellschaftlicher Funktionen.^^^ Diese Suche und Auswahl machte er von (historisch wandelbaren) gesellschaftlichen Erfordemissen abhangig; den Grad, den eine Gesellschaft ihren Mitgliedem an sozialer Partizipation gestattet, sah Mackenroth in den jeweils geltenden 'Gemeinschaftzwecken' begrundet. Fixr ihn entschieden - mit anderen Worten -jeweils geltende gesellschaftliche Zwecke iiber den Grad der Gleichheit bzw. die Ungleichheit der Mitglieder einer 'Gemeinschaft' - keine iibergeordneten (z.B. religios begriindeten) Werte oder Naturprinzipien. GroBe Telle von Mackenroths "Bevolkerungslehre" galten deshalb der kritischen Auseinandersetzung mit der biologischen Sozialinterpretation, die ja Ungleichheit fur ein (auch sozialpolitisch zu fordemdes) Wirkungsprinzip der Natur hielt. Gegen eine auf 'rassische' Homogenitat ausgerichtete Position brachte Mackenroth einen auf biologische Vielfalt setzenden soziologischen Funktionalismus zur Geltung. Sozialschichten setzen sich fur ihn gerade durch die Zusammenfassung ungleichen biologischen Materials zusammen. Ausgehend von seiner Vorstellung sozialer Stratifikation in Form einer "sozialen Pyramide", begriff Mackenroth jedoch soziale Auf- und Abstiege als selektierende "Siebungsprozesse" zur Aufrechterhaltung der Funktionen eines gesellschaftlichen Ganzen. Die Natur - so Mackenroth - stelle nur noch die Anlagen, die sozialen Systeme tibemehmen dann ihre (unterstellte) Ordnungs- und Selektionsfunktion.^^"^ Das soziale Milieu trat an die Stelle der 'natiirlichen' Umwelt und ubemahm auch eine analoge RoUe: eine selektierende Begiinstigung oder Benachteilung. Dem Individuum als Teil einer Sozialgruppe verblieb als Handlungsmoglichkeit allenfalls die "Anpassung" (oder die Nicht-Anpassung) an rational ablaufende (Selektions)-Prozesse. Die Verwendung des Begriff der "Siebung" determinierte den Mackenrothschen Ansatz von vomherein, und zwar dahingehend, dass untereinander unverhunden gedachte Individuen soziale Kollektive konstituieren. Dem Mackenrothschen Ansatz des Auslesegedankens fehlten sozial handelnde Akteure. Soziale Beziehungen, auch solidarisieren^'^
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Alle zu den Forschungsgruppen gegebenen Hinweise in "Ubersicht iiber laufende Forschungsarbeiten, Stand 1. September 1953", Soziologisches Seminar der Universitat Kiel, Direktor: Gerhard Mackenroth, Quelle: Personalmappe Mackenroth, Wirtschaftsarchiv des Instituts fiir Weltwirtschaft, Kiel. Vgl. Mackenroth 1953:297f. Zugleich grenzte er sich vom "Sozialdarwinismus" ab, der flir ihn dadurch gekennzeichnet war, dass dieser die "ganze Sozialwelt von einer Art 'hinterweltlichen Utilitarier' gesteuert" sieht, in Richtung immer grofierer Perfektion. Sozialdarwinismus sei lediglich "ins Wissenschaftliche iibersetzte angelsachsische Erfolgsethik" (vgl. Mackenroth 1952:70). In einer Besprechung seiner Bevolkerungslehre in den "Population Studies" wurde festgestellt: "His views on human reproductive behaviour are diametrically opposed to Sir Charles Darwin's." (vgl. Grebenik 1954: Rezension Mackenroth 1953, in: Population Studies. A Journal of Demography, Vol. VIII, No. 1, July 1954:92f., Quelle: Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fur Weltwirtschaft, Kiel).
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de Effekte innerhalb von 'Gemeinschaften', traten in den Hintergrund. Mackenroths "Sozialgruppen" waren keine handelnde Akteure (ausgestattet mit Sozialbeziehungen), sondem, wenn auch nicht mehr der Natur, so doch den sozialen Krdften weitgehend ausgeliefert. Gleichwohl wehrte er sich gegen den naiven Glauben, dass der Wandel biologischen Materials sozialen Wandel bewirke, denn die pragenden Wirkungen der "Sozialwelt" batten die der "Natur" an Geschwindigkeit langstuberholt:^^^ "Es gehort gerade zu einer lebensfahigen Sozialform, dafi in ihr nicht gleichartiges biologisches Material sozial zusammengefaBt wird, anschaulich: Wenn man lauter 'Herrenmenschen' hat, kann man gar nicht die in einer sozialen Lebensform entwickelterer Art unentbehrlichen untergeordneten Posten der sozialen Pyramide besetzen. Man braucht also gerade unterschiedliches biologisches Material, das, uber die verschiedenen Sozialschichten ausgesiebt, in der sozialen Lebensform zu einem harmonischen Einklang kommt. (...) Diese Richtung von Auslese und Siebung ist selbst wieder sozial bestimmt. Es sind die in den einzelnen Sozialschichten, Berufen, Klassen, Volkem, in Ubung stehenden Kulturformen im weitesten Sinne, die sozialen Lebensformen, denen sich der einzelne anpassen muB, wenn er in diese Sozialgruppe eingehen will. Oder wenn er in sie hineingeboren wird - schon daB man in eine Sozialgruppe hineingeboren werden kann, ist ein soziales Phanomen - so entscheiden sie dartiber, ob seine biologischen Moglichkeiten, wenn diese schon fur sein Schicksal bestimmend sein soUen, ihm ein Verbleiben in der Schicht gestatten oder nicht. Sie entscheiden dariiber, welches biologische Material denn nun begiinstigt oder benachteiligt wird, welches sich durchsetzt und welches untergeht. Im Begriff der sozialen Fortpflanzungsauslese sind die sozialen Lebensformen und iiberhaupt die Milieubedingungen begriffsnotwendig enthalten und auch in den die individuelle Fortpflanzungsauslese bestimmenden psychischen Faktoren stecken sie indirekt drin. Der einzelne will ja nicht von ungefahr oder nur aus seiner biologischen Veranlagung heraus Kinder haben oder seine Kinderzahl beschranken, sondem darin sind ja wieder liber psychologische Zwischenglieder die sozialen Milieubedingungen enthalten. Die sozialen Lebensformen, die man aus dem Wandel des biologischen Materials erklaren will, bestimmen also selbst wieder uber Auslese und Siebung."^'^ In diesem Zusammenhang griff Mackenroth auch noch einmal die Diskussion um die Kategorie der 'Anpassung' auf. Diese Kategorie war fur ihn - wie weiter oben bereits dargestellt nicht nur 'wertfrei', sondem letztlich auch fur eine soziologische Fragestellung unfruchtbar. In Zusammenhang mit seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Sozialdarwinismus spitze er seine Aussagen insoweit zu, als er nun die 'Anpassung' generell nicht als soziologische Kategorie gelten lassen wollte: "Er (der Sozialdarwinismus; H.G.) sieht sie (die Wirklichkeit) vom Individuum her, neigt zu einer monokausalistischen Verabsolutierung des biologischen Faktors und iibersieht, daB die Umwelt des Menschen anders als die von Pflanze und Tier nicht von auBen gesetzt ist. Die Menschen setzen selbst die Umweh, der sie sich anpassen soUen. Die Behauptung vom 'survival of the fittest' wird inhaltslos, wenn die Menschen selbst bestimmen, wozu sie 'fit' sein sollen. GewiB ist der Beitrag des einzelnen nur unendlich klein, aber insgesamt setzen eben doch Die "biologische Sozialinterpretation" unterschatze "die unendliche ModuHerbarkeit einer gegebenen biologischen Substanz fur den Angriff pragender sozialer Lebensformen. (...) Diese aber unterliegen ihren eigenen soziologischen Entwicklungsgesetzen und emanieren nicht aus der biologischen Substanz. Was kann sich schon in 2-3 Menschenaltem biologisch viel geandert haben? Aber die Sozialwelt ist von Grund auf verandert." (Vgl. Mackenroth 1953:246). Mackenroth 1952:53f
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Denkstile die Menschen die MaBstabe. Daher ist mit der These von der 'Anpassung' soziologisch und kulturgeschichtlich im Grunde gar nichts gesagt, denn in Soziologie und Kulturgeschichte steht der Wandel der Lebensformen selbst zur Erorterung, denen sich anzupassen dem einzelnen gesetzt ist. Welche 'Anpassung' sollte den europaischen Menschen veranlaBt haben, den Kapitalismus zu entwickeln, welche ZweckmaBigkeit sollte sich darin ausdrucken? Man wird zugeben miissen: er hatte ebenso und vielleicht gliicklicher in seinen vorkapitalistischen Formen weiterleben konnen. Der geschichtsphilosophische Evolutionismus sieht dann auch die sozialen Lebensformen, denen sich anzupassen den Menschen gesetzt ist, in einer zeitlichen Folge zu immer hoherer VoUkommenheit sich entwickeln, sieht die innere Ordnung von Sozialschicht zu Sozialschicht in einer gleichen Rangordnung von unten nach oben zu immer hoherer Wertigkeit ansteigen. Die 'Anpassung' bekommt dann unwillkurlich einen positiven Wertakzent, ebenso 'Siebung' und 'Aufstieg' und Auslese."^^^
Hier wurde also nocheinmal Mackenroths spezifische Sieht auf soziale Ungleichheit deutlich; genau die eben besehriebene positive Wertakzentuierung warf er dem "Evolutionismus" vor,^^^ zugleich stutzte er sich aber auf das dort iibliche Modell zuv Deskription sozialer Ungleichheit als Ergebnis eines Auslesevorgangs. Hier bedingte allein die Auslese soziale Mobilitat. So erklart sich auch Mackenroths ambivalenter Umgang mit den Arbeiten von Karl Valentin Mtiller und Use Schwidetzky, die er zunachst lobend als "emst zu nehmende Forscher" bezeichnete,^^^ die nicht mehr im Sinne der alten Sozialbiologie argumentieren wiirden, spater jedoch bemangelte er bei K.V. Mtiller dessen (normative) Zirkelschliisse.^^^ Die zahlreichen Hinweise auf die Bedeutung des Erhalts des sozialen Status und der sozialen Achtung bei der Migration,^^^ der Venveis auf die schichtenspezifische Wirkung des sozialen Milieus in alien generativen Fragen,^^^ die Aufdeckung der Legenden von geschlossenen 'Heiratskreisen' oder siedlungstypischen Formen generativen Verhaltens^^^ trugen sicherlich zur Entmystifizierung der biologistisch orientierten Bevolkerungsforschung unmittelbar nach dem Krieg bei. Der Weg in die Bevolkerungssoziologie war aber von Mackenroth erst angestoBen worden, er war noch nicht beschritten.
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Mackenroth 1953:296. Deutlich wurde dies auch bei den sozialbiologischen Denkschemata, von denen Mackenroth sich energisch distanzierte: "Die sozialbiologische These des Werteschwundes kann etwa so formuliert werden: Die sozialen Oberschichten ziehen aus den Unterschichten laufend die sozial wertvollen Elemente an, in ihnen sammeln sich also die Blutstrome und Erbstamme mit den sozial positiven Merkmalen. Allein schon die Tatsache, daB jemand zur Oberschicht gehort, beweist ja seine iiberdurchschnittliche Lebensleistung, die nur auf der Grundlage hochwertiger erblicher Anlagen moglich ist. In den Oberschichten ist die Fortpflanzung unterdurchschnittlich, oft nicht einmal zur Bestandserhaltung ausreichend. So wird laufend der Sozialkorper mit sozial minderwertigem Erbgut relativ angereichert. In extremen Fallen stirbt das hochwertige Erbgut fortschreitend aus. Der soziale ZirkulationsprozeB bewirkt eine fortschreitende Gegenauslese. Der rassische Bestand des Sozialkorpers wird fortschreitend verschlechtert, unterliegt einem fortlaufenden biologischen Werteschwund." (vgl. Mackenroth 1953:277). Vgl. Mackenroth 1953:274, 290ff.
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Vgl. Mackenroth 1953:296.
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Vgl. Mackenroth 1953:248.
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Vgl. Mackenroth 1953:248. Vgl. Mackenroth 1953:249, 2 7 4 f ,279f.
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IV. 6 Gerhard Mackenroth als Vordenker sozialer Neuordnung Die Wurzeln des eben geschilderten Denkens in der "Bevolkerungslehre" liegen aber nicht in den fiinfziger Jahren der Bundesrepublik Deutschland, sondem sie liegen sehr viel weiter zuriick und hatten etwas mit den Hoffnungen zu tun, die Bevolkerungswissenschaftler der Generation Gerhard Mackenroths mit dem neuen Regime des Nationalsozialismus verbanden. Gerhard Mackenroths fruheste Zeugnisse zu der eben geschilderten Verklammerung der Bevolkerungsfrage mit dem (auslesenden) "Sozialprozess" fmden sich in einer erst vor kurzem aus dem Schwedischen ruckubersetzten Schrift des Jahres 1933.^^^ Sie trug den programmatischen Titel "Deutschlands Jugend revoltiert".^^^ Der von der okonomischen Krise der akademischen Jugend gepragte Mackenroth hielt auf seinen Reisen nach Schweden - unmittelbar vor dem Ubergang zum Nationalsozialismus in Deutschland - Vortrage zur sozialen und politischen Situation in seiner Heimat. In Schweden lemte Mackenroth bei dieser Gelegenheit das Ehepaar Alva und Gunnar Myrdal kennen. Die in Schweden publizierte Untersuchung "Deutschlands Jugend revoltiert" ist schlieBlich ein Resultat eines Stockholmer Vortrags,^^^ in dessen Vorwort der Verfasser einerseits betonte, dass die Myrdals ihn ermutigten, seine Gedanken zu Papier zu bringen, in dem er andererseits aber mitteilte, dass beide "keinesfalls in allem meine Sichtweise der behandelten Probleme teilen."^^^ In dieser Schrift gab sich Mackenroth als Verfechter einer neuen "sozialen Ordnung" zu erkennen. Demographische Aspekte spielten hier vordergriindig betrachtet nur mittelbar eine RoUe; dennoch ist die spatere "Bevolkerungslehre" ohne dieses hier prasentierte gedankliche Geriist kaum in angemessener Weise nachzuvollziehen. Es sei noch darauf hingewiesen, dass hier wiederum lediglich Einblicke in die "Denkstile", die argumentativen Muster und Semantiken des Bevolkerungswissenschaftlers gegeben werden soUen, dass an dieser Stelle aber nicht der Wirklichkeitsbezug der getroffenen soziologischen Sachaussagen untersucht werden kann. Das Kemargument dieser Schrift besagte, dass sich nach 1918 "Deutschlands wirtschaftlich-soziale Struktur (...) grundlegend gewandelt"^^^ habe. Mackenroth verstand darunter die sozialen Deklassierungsprozesse der akademischen Jugend und eines Teils der (alten und neuen) Mittelschichten. Er reflektierte mit der sozialen Deklassierung des akademischen Nachwuchses offenbar subjektiv auch ein Geschehen aus seiner eigenen Biographic. Parallel zu dem Wandel der sozialokonomischen Bedingungen sozialer Schichten verzeichnete er Bewusstseinsanderungen in der Bevolkerung, die einen "ganz neuen Menschentyp" generiert hatten.
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Sie erschien unter dem Originaltitel "Tysklands ungdom i revolt" im Stockholmer Albert Bonniers Verlag. Ich danke Patrick Henssler (Universitat Bamberg) fiir die Uberlassung dieser Studie recht herzlich. Vgl. Mackenroth 1933. Die Studie erschien 1933, entstand aber aus einem Vortrag auf einer Vortragsreise in Schweden im Jahr 1932. Im Text fmden sich zustimmende, aber auch distanzierende AuBerungen (Antisemitismus!) zur NSDAP (vgl. ebd., 3). Vgl. Mackenroth 1933:3. Vgl. Mackenroth 1933:4.
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Denkstile
Werner Bachmann^^^ zahlte Mackenroth 1935 in der Zeitschrift "Die deutsche Volkswirtschaft" zu dem illustren Kreis der Kieler Vertreter einer "nationalsozialistischen Wirtschaftswissenschaft": "In Kiel herrschte schon langere Zeit ein reges Leben in den nationalsozialistischen Fachschaften. Durch die Berufung der Professoren Mackenroth, Bente und Predohl hat die Kieler Universitat der nationalsozialistischen Wirtschaftswissenschaft die Tore weit geoffnet."^^^ Dies fiihrt uns zu der Frage nach den Spezifika dieser nationalsozialistischen Wirtschaftswissenschaft, die im Falle Mackenroths immer auch soziologisches Denken bertihrte. Wichtig waren fur den Bevolkerungswissenschaftler noch vor Antritt der Nationalsozialisten, dass sich die Bedingungen fur soziale Aufstiegsprozesse in der krisengeschiittelten ersten deutschen Demokratie veranderten. Er betonte in seiner o.g. Schrift eine zeitliche und eine 'horizontale' Bedingung sozialen Aufstiegs. Gegen diese Veranderung der Bedingungen wurde die (vermeintliche) soziale Harmonic kontrastiert, mit der notwendige soziale Mobilisierungsprozesse im Kaiserreich bewaltigt wurden: "In zwei Generationen konnte man im alten Staat die soziale Flierarchie durchlaufen".^^^ Mackenroth idealisierte die Wilhelminische Gesellschaft deshalb als eine Gesellschaft, in der ein vergleichsweise rascher sozialer Aufstieg in der Generationenfolge moglich war. "Der GroBvater ist Bauer, der erste Sohn erbt den Hof, der zweite wird Soldat. Seinen korperlichen und charakterlichen Voraussetzungen entsprechend konnte er nach der Bewahrungszeit 'kapitulieren', das hiel3 sich zu einer zwolflahrigen Dienstzeit verpflichten. Wahrend dieser Zeit durchlief er alle Unteroffiziersgrade bis hin zum Feldwebel und konnte nach zwolf Jahren mit seinem Zivilversorgungsschein verabschiedet werden, der ihm besondere Berucksichtigung und Moglichkeiten garantierte, wenn er sich um eine niedere Beamtenstelle bewarb. Die Sohne solcher Beamten konnten dann studieren und in die hochsten akademischen Berufe aufsteigen, besonders in hohere Beamtenposten."^^^ Der den Bauem aus seinem angestammten sozialen Milieu hinausfiihrende Militardienst erschien hier nicht nur als Eintrittsbillet in die urbane Lebenswelt und als ein Gewinn an (raumlicher) Mobilitat, er diente gleichzeitig auch als Mittel dazu, um fur "den Einfluss der 'herrschenden Schicht' im Staat" empfanglich zu werden.^^^ Fiir Mackenroth bestand eine Folge dieser Annaherung darin, dass auch die aus der Landbevolkerung stammenden prole-
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Bachmann, Werner, geb. 1890 in Plauen, Mediziner an der Universitat Kiel (1937-1945, em. 1951), Vorsitzender der deutschen Gesellschaft fiir Rassenhygiene, Leiter des Rassenpolitischen Amtes Schleswig-Holstein (vgl. Raehlmann 2005:211). Bachmann 1935. Hermann Bente und Andreas Predohl gaben zu dieser Zeit gemeinsam mit Ernst Rudolf Huber die "Zeitschrift fiir die gesamte Staatswissenschaft" heraus. Vgl. Mackenroth 1933:11. Mackenroth 1933:11. Wenige Jahre zuvor beschaftigte sich die Arbeitsgruppe 1,2 des Reichs-Enquete-Ausschusses mit ebendieser Frage. Die Arbeitsgruppe "hatte die Aufgabe, die Wandlungen der sozialen Struktur des deutschen Volkes zu untersuchen. Daraus entstand die wichtige Sonderfrage, wie sich die sozialen Aufund Abstiegsverhaltnisse der Nachkriegszeit gegenuber der Vorkriegszeit verandert haben." (vgl. Mitgau 1932b:92, vgl. auch Abschnitt 2.1. oben). Ebd., 12. Dass der Militardienst "Anreiz zur Stadtwanderung" gewesen sei, war ein gangiges Argumentationsmuster in der 'sozialwissenschaftlichen' Bevolkerungswissenschaft. Es fmdet sich sowohl bei Heberle / Meyer 1937 als auch in K.V. Miiller 1942:15.
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tarisierten Schichten burgerlichstddtische Werte (etwa den Erwerb sozialen Ansehens iiber Bildungsgratifikationen zu erlangen), einzuiiben begannen. Bildung - und auch "Begabung" - soUte fur moglichst groBe Bevolkerungsgruppen zu einem Schichtungs- und vor allem zu einem ^'/a/w^kriterium werden. Die Sozialdemokraten, die nach dem Krieg die politische Fiihrung iibemahmen, hatten (entgegen der allgemeinen Erwartung) diesen schon bekannten Mechanismus sozialen Wandels nicht wiederaufnehmen konnen: "Nunmehr konnen wir ein Stocken dieser aufwarts gerichteten Dynamik fxir die Unterklasse beobachten. Die Mittelklassegruppen werden auf sich selbst zuruckgeworfen. Die Kommunikation zwischen den sozialen Schichten hort auf, ihre Grenzen erstarren. Dies ist zumindest im Augenblick die Tendenz, die andauem wird, wenn nicht bewusste RegulierungsmaBnahmen ergriffen werden. "^^"^ Das Argument eines "Erstarrens" der sozialen 'Grenzen' zwischen Schichten, der 'Statik' in einer prinzipiell auf Auftausch angewiesenen sozialen Ordnung, forcierte die Bereitschaft, sozialpolitisch steuemd eingreifen zu mussen. Als Ursache der 'Krise' erschien bei Mackenroth zunachst nicht die mangelnde Bereitschaft in unteren Bevolkerungsschichten 'biirgerliche' Kriterien des sozialen Ansehens zu iibemehmen, sondem verantwortlich waren seiner Meinung nach die begleitenden okonomischen Krisen in dieser Zeit sowie soziale SchlieBungstendenzen in den etablierten Bildungsschichten: "Das groBe Schlagwort der Nachkriegszeit war: "Freie Bahn fiir die Begabungen!" Man hatte nun erwarten konnen, dass das Proletariat, nachdem es nun an der politischen Macht teilhatte, die Hochschulen von unten erobert hatte, dass es durch einen Ausbau des Stipendienwesens seiner Elite den Weg zur Universitat geebnet und schlieBlich auch den allgemeinen sozialen Konservatismus der Hochschulen gebrochen hatte. Die Entwicklung ist indessen eine ganz andere gewesen. (....) war es dieselbe soziale Schicht wie zuvor, die ihre Sohne an die Hochschulen schickte. Dies geht aus der Statistik iiber die soziale Herkunft der Studenten hervor."^^^ Dieser Prozess vertikaler sozialer SchlieBung bekam aber bei Gerhard Mackenroth zusatzlich noch eine 'horizontal-raumliche' Dimension: die Rekrutierung des Nachwuchses blieb auf die Stadte beschrankt. Die Stadt-Land-Disparitat erschien hier als Hemmschuh sozialer Entwicklung, als aufzuholender Riickstand. Die "Provinz" drohte abgehangt zu werden. Es ging Mackenroth offenbar um eine (auch raumlich) gleiche Verteilung sozialer Ressourcen (Menschen mit Aufstiegschancen): "Das auffalligste und beunruhigendste Zeichen ist die beinahe voUstandige Hinausmanovrierung der Provinz. Bei einem naheren Studium fmdet man, dass die Isolierung vor den Hochschulen beginnt, mit den Oberschulen, die ja an die Stadte gebunden sind. Auch die Schicht, die okonomisch dazu in der Lage ist, ihre Kinder auf hohere Schulen zu schicken, kann nur in Stadten mit liber 50 000 Einwohnem vollstandig vom hoheren Schulwesen versorgt werden. AuBerdem werden dort auch verschiedene weniger bemittelte Begabungen betreut. Die Rekrutierung der Universitaten geschieht also zunehmend aus den Stadten. Aber sie ist weiterhin auf ganz bestimmte Schichten der Stadtbevolkerung eingeschrankt, namlich auf Mittel- und Oberklasse. Durch dieses
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Mackenroth 1933:84. Mackenroth 1933:81f.
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Denkstile Privilegium der sozialen Aufwartskurve des akademischen Weges wird die Mittelklasse als isolierende Schicht zwischen die breiten Massen der arbeitenden Bevolkerung und all diejenigen Schichten geschoben, die oberhalb der Mittelklasse liegen. Nun gibt es indessen nur sehr kleine Moglichkeiten fiir die unterhalb liegenden arbeitenden Bevolkerungsschichten, sich auch in diese Mittelklasse hochzuarbeiten. Auch wenn zum Teil die Anstellungen innerhalb dieser Mittelklasse keine Hochschulausbildung erfordem, fiihrt einzig der Weg liber die Oberschulen in diese Klasse hinein - dies dank des "Berechtigungswesens", wovon bereits die Rede war, und dank der Konventionen, die sich zunehmend entwickeln. Und die hohere Schule wird ihrerseits fast ausschlieBlich von Jugendlichen aus derselben Mittelschicht besucht. Soweit Zahlen vorliegen (fiir Sachsen), kann man feststellen, dass von den Schiilem der Oberschulen nur 2,27% aus dem Bauemstand kommen und nur 7,7% aus der Arbeiterklasse. Man kann also heutigentags behaupten, dass sich diese Mittelklasseschichten in den Stadten aus sich selbst rekrutieren."^^^
Wenn Theodor Geiger spater von Stadt-Land-Migrationen als "Seitenbewegungen ohne merkbare Niveauveranderung"^^^ sprach, so unterlegte Mackenroth diesen Wanderungsprozessen noch einen ganz anderen Sinn. Die "Provinz" war fiir Mackenroth ein Ort, der von sozialen SchlieBungstendenzen besonders betroffen wurde; und jede weitere (Ab)-Wanderung konnte diesen Effekt nur verstarken: "Die Konsumnorm hat sich gleichfalls gehoben, die industrielle Arbeiterschaft hebt sich von der fruheren Mittelschicht weder in Einkommen noch in Konsumgebaren mehr ab. Die Wirkungsketten sind heute auch bei der industriellen Arbeiterschaft im wesentlichen die gleichen, ja die Angestelltenschaft ist heute teilweise sogar starker gefahrdet als die Arbeiterschaft, denn auch die Angestelltenschaft ist heute nicht mehr durch Besitz und Vermogen gesichert, und die Biiroarbeit ist teilweise fungibler als hochspezialisierte Handarbeit."^^^ "Den Arbeitem und Angestellten als den typischen 'neuen' Sozialschichten der Industriegesellschaft stehen die stationaren Sozialschichten des alten Mittelstandes: Handwerker, Kleingewerbetreibende und landliche Besitzerschichten, gegenuber. Diese hatten schon friiher ein gemessenes Fortpflanzungsverhalten, das sie nach den sich eroffnenden Erwerbsmoglichkeiten fiir ihre Kinder ausrichten. Sie taten es in einer Zeit raschen Ausbaues der Stadte durch Erhohen ihrer Fruchtbarkeit, als sich fur ihre nachgeborenen Kinder geniigend Moglichkeiten in gleichgestellten Oder besseren Positionen auBerhalb der engeren Heimat boten. Nachgeborene Kinder aus landlichen Besitzschichten gingen vomehmlich in Beamtenlaufbahnen oder Handwerksberufe ein, wahrend stadtische Arbeiterberufe von Landarbeitersohnen eingenommen wurden."^^^ "Heute kommt der Nachwuchs der stadtischen Mittelschichten immer mehr aus der eigenen Schicht, und die Stadt-Land-Zirkulation nimmt ab. Sicher hat so das Nachlassen lohnender Erwerbseroffnungen fiir nachgeborene Sohne vom Lande in einer der landlichen Sozialschicht gleich geachteten Soziallage entscheidend zum landlichen Geburtennickgang beigetragen. Dieser ist jedoch im Verhaltnis zu ruckhaft erfolgt, als daB hierin die alleinige Ursache gesehen werden diirfte. Da in der Stadt die neue Bevolkerungsweise bereits herausstilisiert war, haben wir es sicher mit einer von dort reflektierten Verhaltensangleichung zu tun..."^"^^ 536 537 538 539 540
Mackenroth 1933:83. Vgl. Geiger 1951. Mackenroth 1933:88. Ebd. Ebd.
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Am Beispiel des "Hochschulproblems" wurde dann deutlich, welche Griinde Mackenroth in der Frage der Sozialstruktur antrieben: Es ging ihm darum, die konstatierte Erstarrung der Gesellschaft durch eine Zirkulation^"*^ der sozialen Schichten untereinander zu tiberwinden. Ausgangspunkt blieb das ebenfalls postulierte Scheitem der Bildungspolitik in der "Begabungsfrage". Die Begabungs-'Leistung' fand fur Mackenroth im etablierten Schichtbildungsund Mobilisierungsprozess offensichtlich nicht geniigend Widerhall. Nationalsozialismus bedeutete fiir Mackenroth auch, dass Auslesewirkungen, die auf sozialer Herkunft griinden, gegeniiber einer planwirtschaftlich organisierten Berufsauswahl in den Hintergrund treten sollten. Ein Charakteristikum dieses Denkens scheint mir zu sein, dass die Betonung des Leistungskriteriums mit der zielgerichteten 'Lenkung' dieser Leistung Hand in Hand gehen sollte: "GroBer wird das Hochschulproblem indessen insoweit, als man festhalten kann, dass es, um es zu losen, nicht allein darum gehen kann, einigen tausend Menschen mit Hochschulausbildung eine Anstellung zu verschaffen, sondem dass stattdessen wieder eine Zirkulation in den sozialen Schichten oder zumindest eine Auswahl der Begabten in alien Klassen in Gang gesetzt werden muss; dies ganz unabhangig von den eigentlichen Bildungsproblemen, die mit der Frage zusammenhangen. DaB eine gewisse Starrheit in der sozialen Schichtung unter keinen Umstanden vermieden werden kann, ist offenbar. Aber genauso offenbar ist es, dass die Bewegung und die Auswahl, die es in Gang zu bringen gilt, keine kapitalistische Auswahl nach Einkommen und Wohnort der Vater sein darf. Der bildungspolitische Liberalismus ist also in Deutschland in zweifacher Hinsicht gescheitert: Er hat 'die Bildung' verfalscht und inflationiert, und er hat keine gesunde soziale Standes- und Berufsmobilitat in Gang halten konnen. Hier muss das Ruder ganz und gar herumgerissen werden. Man muss die Bildung von den Berufen trennen. Bildung fiir alle, die sie haben wollen, aber die strengste planwirtschaftliche Berufsauswahl auch fur die akademischen Berufe."542 Mackenroth ordnete das "Hochschulproblem" in die "allgemeine soziale und politische Problemlage" ein und kam zu der soziologischen Analyse, dass "die Arbeiter diesen Anspruch auf soziale Differenzierung nicht (kannten), welcher das treibende Motiv fur die Mittelklasse gewesen war, als sie ihre Kinder auf die Hochschulen schickte". Da es an dieser "Einsicht" in die Mechanismen sozialer Distinktion in den unteren Bevolkerungsschichten (noch) mangelte, war die soziale Differenzierung planwirtschaftlich ins Werk zu setzen. Und dennoch ware es verkehrt, diesen frlihen Mackenroth nun zu einem Sozialtechnologen reinsten Wassers zu stilisieren: "Aber gerade fiir das politische und soziale Leben, das dieses Buch hauptsachlich schildem wollte, gilt, dass es doch letztlich die Menschen sind, die mit ihrem Geist die Institutionen und Organisationen erfiillen, die sie vorfmden. Und so wird wohl auf die Veranderung des nationalen Menschentyps eine Veranderung der sozialen Ordnung folgen - die letztere hat die erste zur Voraussetzung."^'*^ Ein "Zirkulationsbegriff' wird auch heute noch in der deutschen Bevolkerungsgeschichte als Komplementarbegriff zu "Migration" benutzt. So definiert Sieglerschmidt Migration als "langerfristiges Verlassen des bisherigen sozialen Raumes" und stellt dieser Definition unter dem Aspekt der Mobilitat folgende Definition von "Zirkulation" gegeniiber: "Zirkulation als wiederkehrende (tagliche, wochentliche, saisonale) Abwesenheit vom Wohnplatz" (vgl. die "Definitorische Einteilung der Arten der Mobilitat" in Sieglerschmidt 2004:196). Mackenroth 1933:84.
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Denkstile
Die jungen Nachwuchskrafte in den Humanwissenschaften setzten auf Praxisbeziige, auf eine veranderte Rollenzuweisung fiir die Sozialwissenschaften insgesamt. Ftir diese 'Ordnungs'-Wissenschaft, im Falle Kiel zwischen Soziologie, Nationalokonomie und Demographie oszillierend, war kennzeichnend, dass sie sich auch auf soziale Verhaltnisse einlassen musste; auf Verhaltnisse also, die allein mittels medizinischer, hygienischer oder biologischer (rassischer) Kategorien gar nicht zu beschreiben waren. Und gerade deshalb muB auch eine Auseinandersetzung mit der Bevolkerungswissenschaft dort einsetzen, wo (auch im 'Dritten Reich') mit Standards der empirischen Sozialwissenschaften gearbeitet werden konnte. ^^"^ IV. 7 Theodor Geiger zur Eugenik: Differentielles Bevolkerungswachstum und ^soziale Zirkulation* Ahnlich wie wir es bei Gerhard Mackenroth gesehen haben, trieb auch Theodor Geiger in der Endphase der Weimarer Republik das Problem der "Zirkulation in den sozialen Schichten" um, auch ihm ging es um den als fehlerhaft interpretierten "Aufstiegsmechanismus" in der Gesellschaft. Dass erst ein nach sozialen Schichten differenziertes Bevolkerungswachstum die (notwendige) "soziale Zirkulation" in Gang halte, erinnert an einen Denkstil, den wir in seiner 1933 veroffentlichten "Soziologischen Kritik der eugenischen Bewegung" fmden.^"^^ Geiger pladierte dafur, die "gesellschaftliche Funktionenteilung" bei der Beurteilung der Erbwertes des "Bevolkerungsmaterials" zu berucksichtigen.^"^^ Dies hatte zur Folge, dass Geiger die quantitative Bevolkerungsfrage von der Seite der Niitzlichkeit einer Bevolkerungsgruppe hinsichtlich ihrer (zugeschriebenen) gesellschaftlichen Funktion betrachtete: "Schichten, deren Angehorige sich zureichend, das heiBt mit einem gewissen Uberschuss fortpflanzen, geben in jeder Generation kleine Teile ihres Nachwuchses an einen Berufsstand ab, der sich standig durch Auslese aus andem Schichten erganzt. Unter eben diesen Voraussetzungen hatte die Kinderarmut der sozial gehobenen Schichten sogar einen beachtlichen sozialen Sinn."^^^ Der Insektenstaat bildete fur Geiger das Vorbild dieses Modells sozialer "Zirkulation": "Staatenbildende Insekten bringen in letzter Konsequenz der Funktionenteilung organisch sterile Exemplare hervor, Individuen also, die einen an ihr Leben und ihre Generation gebundenen Leistungs-, aber keinen unmittelbaren Regenerationswert haben. Durchaus moglich ware die gedankliche Konstruktion, daB in den menschlichen Gesellschaften hinsichtlich bestimmter Sozialfunktionen etwas cum grano salis Ahnliches vorliege. Priesterschaften, Schamanen und Weise sind in vielen Kulturen familienlos und es fragt sich, ob diese 'soziale Sterilitat' nicht ein Opfer und Tribut sei, von der Gesellschaft fiir die Sonderleistungen bestimmter Berufstrager dargebracht. Bei sonst normalem Stand der Bevolkerungsreproduktion hat eine solche Erscheinung nichts Beunruhigendes, und zwar gerade dann nicht, wenn man mit der Nationalbiologie das gesamte Volk, nicht aber die einzelnen Individuen im Auge hat. Ein sich im Durchschnitt normal regenerierendes Volk leistet sich gewissermaBen den Luxus der Sterilitat oder geringeren Frucht-
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Mackenroth 1933:136. V g l . Klingemann 1996; Gutberger 21999. V g l . Geiger 1933. Vgl. Geiger 1933:373. Geiger 1933:383.
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barkeit einer kleinen Auslese um der anderweitigen Hochstleistung willen, die von den Mitgliedem dieser Auslese erwartet werden. Sinnvoll ist diese Konstruktion nur dann, wenn nachgewiesen werden kann, daB die beruflichen Sonderfunktionen die Befreiung von Familienanhang und Familiensorgen bedingen oder mindestens dadurch gefordert werden. Das trifft wohl auf geistigkulturelle Spitzenleistungen zu; wir sprechen nicht umsonst von einer Gelehrtenaskese, die auch das Moment des Familienverzichts in der einen oder anderen Form in sich schlieBt. Darin kann eine tiefe bevolkerungspolitische Spekulation liegen: DaB namlich Hochstbegabungen Geschenke des Zufalls sind, und daB der Spitzenwert eines Individuums keinen SchluB auf seinen Z u c h t w e r t (Erbwert) zulaBt. Eine menschliche Gesellschaft bedarf solcher zu Spitzenleistungen fahiger Individuen, aber sie verlaBt sich darauf, daB jedem Zeitalter aus dem Nachwuchs des guten Durchschnittes der vorigen Generation jene kleine Auslese aufs neue zuwachse, deren sie zur Fortfuhrung ihrer Kulturbestande bedarf. Diese Auslese wird um ihrer personlichen Leistung willen gleich Drohnen 'gehalten', wird von der moralisch-sozialen Verpflichtung zur Fortpflanzung und Nachwuchsaufzucht in ahnlicher Weise freigesetzt, wie der akademische Gelehrte heute, der vom Hof stipendierte Kiinstler oder Gelehrte friiher von der Pflicht zu marktwertiger gesellschaftlicher Nutzleistung ganz oder uberwiegend freigesetzt ist."^"^^ Die Funktion, die hier nach Geigers Meinung der quantitative!! Bevolkerungsentwicklung zu kam, war die ein Regulativ der sozialen Mobilitat in der eigenen Gesellschaft zu sein. Gleichwohl wandte er sich ausdrucklich gegen erbbiologische Deutungen - soweit sie als Ursache der "Zirkulation" herhalten sollten. Er machte aber gleichwohl die soziale Mobilitat gewissermaBen von den Bewegungen des quantitativen Bevolkerungsbestandes abhangig. Geigers Argumentation in dieser Frage war insofem kurios und ambivalent, da sie auf dem Feld der Erklarung der quantitativen Bevolkerungsentwicklung den Weg einschlug, den er in seiner Analyse der sozialen Schichtung gerade kritisierte: "Man soil nicht Bevolkerungsmassen als eine Schicht, Klasse oder einen Stand bezeichnen, weil man ihnen eine geschichtskonstruktiv geforderte Funktion im gesellschaftlichen LebensprozeB zuschreiben mochte. Der nachste Schritt ist dann notwendig: wer zur Schicht gehort, und der ihr zugeschriebenen Funktion nicht geniigt, verhalt sich inadaquat. Welche Menschen eine Schicht bilden, bestimmt sich aber aus ihnen. Der Begriff der Schicht muB autogenetisch gewonnen werden, nicht subsumptiv."^"^^ Aber besteht nicht die Gefahr, dass die in dem oben Modell dargestellten Gruppen ebenfalls "geschichtskonstruktiv geforderte Funktionen" ubemehmen (mlissen), namlich jeweils sozial erwiinschte Quantitdten des Bevolkerungsnachwuchses zu stellen? Der VoUstandigkeit halber muB hier aber gesagt werden, dass Geiger nur die negative Eugenik fiir "sozial notwendig" hielt. Generell beftirchtete er, dass bevolkerungspolitische MaBnahmen, wenn sie nicht sozialpolitisch flankiert wurden, gesellschaftspolitisch ins Leere laufen wlirden. Das funktionalistische Schichtmodell, das nur eine bestimmte Anzahl freier 'Platze' in jeder 'Sozialschicht' suggerierte, erschien modem.^^^ Geiger demonstrierte deshalb auch seine Modernitat sogleich daran, dass erst eine angemessene quantitative "Nachwuchsverteilung" die 'kastenmaBige' SchlieBung sozialer Schichten verhindere. Geburtenziffem, Bevol-
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Geiger 1933:382. Geiger 1967 (1932):125.
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Denkstile
kerungsgroBe, Mortalitatsraten usw. wurden von Geiger also nicht aus okonomischen oder machtpolitischen Grunden fur wichtig gehalten, sondem als Regulativ sozialer Mobilitat in der eigenen Gesellschaft. Hier finden wir Parallelen zum Denken Gerhard Mackenroths: "Insbesondere die akademisch geschulten Berufe zeigen bekanntlich denkbar geringe Neigung, ihren Nachwuchs in niedrigere Schichten iibergehen zu lassen. Bei einer zur Regeneration ausreichenden Fruchtbarkeit der Schichtangehorigen bestande also die Gefahr, daB diese Berufe sich durch Besetzung aller Platze mit eigenem Nachwuchs k a s t e n m a B i g abschlossen; das ware angesichts der an sich bestehenden 'Berufsgefahr' der Entfremdung gegenuber dem Gesamtvolk hochst bedenkUch. Das dem Kastentyp nahestehende preuBische Beamtentum der Vorkriegszeit illustriert diese Gefahr und ihre pohtisch unerfreuUchen Folgen. Die Kinderarmut der Akademiker garantiert also in jeder Generation die Unterbringung eines Nachschubs aus andem Schichten und damit ein MindestmaB an sozialer Zirkulation."^^^ "Es bleibt, daB unser sozialer Aufstiegsmechanismus zweifellos und nachweisbar Begabungen durch Erschopfling am Widerstand in den unteren Soziallagen festbannt, die den Begabungsdurchschnitt der sozial gehobenen Schichten erheblich iiberragen; sie bilden eine Erbreserve, deren Werte in der lebenden Generation brachliegen, fiir eine folgende vielleicht durch pemiziose Lebensbedingungen verlorengehen. "^^^ Die von der politischen "Linken geforderten MaBnahmen zur Forderung des Begabtenaufstiegs" - gemeint waren hier die Sozialhygieniker - hielt der Kieler Soziologe deshalb auch ftir verfehlt, weil eine positive Eugenik nicht an sozialen Schichten, sondem allenfalls an Familien ansetzen konnte. Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen "Schichtung", "Zirkulation" und "Erbwert" (dessen MaBstab mit sozialen Funktionen verkniipft erschien!) konnte fur Geiger auch nur in den Bereich der Anthropologic fallen, nicht in den der "Biopolitik" oder der Eugenik. Die "soziale Differenzierung (sei) den biopolitischen Zielen inadaquat"553: "Es ist berechtigt und notwendig, daB wissenschaftlich eine Anthropologic der Gesellschaftsschichten betrieben werde, um den Grad der Konkordanz zwischen sozialer Stellung und Erbwert wirklich zu ermitteln. In den Satzen der Biopolitik sollte aber an derartige Relationen nicht einmal geriihrt werden. Es schleicht sich sonst auf diese Weise ein gerade im Sinne der Eugenik verkehrtes Grundmotiv ein: Wenn namlich da von 'den Beamten', 'der Intelligenz', 'den ungelemten Arbeitem' usw. die Rede ist, so gewinnt es den Anschein, als habe es die Eugenik mit sozialen Schichten zu tun. Gegenstand der Eugenik sind aber nicht soziale Schichten, sondem die gesamte Bevolkerung, und nicht soziale Schichten, sondem Einzelwesen in Paaren pflanzen sich fort. In welchen sozialen Schichten die Eltem stehen, die Kinder dereinst landen, steht auf einem andem Blatt als alle erbbiologischen Erwagungen. Wer soziale Schichten direkt oder indirekt in die eugenische Rechnung einbezieht, kommt in Gefahr, den alten Gedanken der erblich geschlossenen
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Die "Zahl der Vakanzen in der Zielschicht" seien dann begrenzt, wenn von einem "als beharrend angenommenen Schichtgeftige" ausgegangen werde (vgl. Geiger 1951:21). Zu Beginn dieser Untersuchung traf Geiger die Unterscheidung zwischen zwei Formen der "Bewegungen im Schichtungsbild": (1) die Platzveranderungen von Personen in einer stationar gedachten Schichtstruktur; (2) die "dynamische Umbildung der Schichtstruktur" selbst (ebd., 9). Geiger 1933:383f
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Geiger 1933:384. Siehe im Vergleich dazu die Arbeiten von K.V.Miiller oben. Vgl. Geiger 1933:388.
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Stande in die Gegenwart zu iibertragen, deren Gesellschaftsstruktur grundsatzlich darauf beruht, daB der Sozialstandort des Einzelwesens veranderbar ist."^^"^ Die schiere Tatsache des Riickgangs der Fruchtbarkeit betraf a//e Schichten gleichermaBen ganz unabhangig von der Relevanz des Nachwuchses fur das Funktionieren des "Aufstiegsmechanismus": "Beunruhigend ist an sich nicht die geringere Fruchtbarkeit des Beamtentums, der Intelligenz usw. gegeniiber der ungelemten Arbeiterschaft, sondem gerade die Tatsache, daB nicht einmal mehr das platte Land und die ungelemten Arbeiter in alien Reichsteilen den genugenden Nachwuchs liefem. Das oben kritisch erorterte Thema der angeblich mit steigendem Sozialrang sinkenden Fruchtbarkeit ist mithin im Grunde veraltet und iiberholt. Die bevolkerungspolitische Gefahr liegt heute nicht mehr bei der rangmaBig ungleichen Fruchtbarkeit, sondem bei der allgemeinen Unfmchtbarkeit der Bevolkemng. Angesichts dieser Stagnationserscheinungen wird der Nachwuchs der Minderwertigen, sofem er iiber den Reproduktionsquotienten liegt, als Entartungsgefahr erst hochaktuell und diese Gefahr rechtfertigt scharfste prohibitive MaBnahmen. Positiv dagegen handelt es sich nicht um zuchterische Bevorzugung irgendwelcher Volkskreise und Sozialschichten, sondem um Steigemng der Fmchtbarkeit unserer erbgesunden Bevolkemng uberhaupt."^^^ Theodor Geiger legte die Grunde, die aus soziologischer Sicht gegen eine positive Eugenik sprachen erbarmungslos offen, um dann ebenso vehement fur die negative Eugenik Stellung zu beziehen. Dass nur noch negative Eugenik in der Bevolkerungsfrage 'helfe', stellte Geiger so dar, als sei dies unter den gegebenen Umstanden (dem 'heroischen Kollektivismus' und Utilitarismus) aus logischen Grunden zwingend gewesen. Geigers Begrundungen sollen an dieser Stelle der Dokumentation halber - und ohne jeden wertenden Kommentar, denn Geiger kannte zu diesem Zeitpunkt naturlich noch nicht die Praxis nationalsozialistischer Sterilisation und Euthanasie - wiedergegeben werden. Besonders hervorgehoben sei lediglich der Schulterschluss zwischen Sozialwissenschaft und Eugenik, der Geiger angesichts der konstatierten Bedrohung durch die Existenz 'Minderwertiger' angezeigt schien: 'Aus der bisherigen Kritik der Ziele und Voraussetzungen der Eugenik folgt zwingend, daB praktisch der Hauptakzent auf die negative Eugenik zu legen ist, daB aber dafiir hierin aufs scharfste durchgegriffen werden muB. (...) Im allgemeinen soil nur in schweren Fallen sterilisiert werden, dann aber zwangsweise, weil es sozial notwendig ist. (...) Die juristischen Bedenken gegen den Sterilisiemngszwang halte ich nicht flir angebracht."^^^ "Die Besorgnis um die personliche Freiheit bemht auf einem liberalistischen Ideal der personlichen Selbstbestimmung, einem Ideal, das faktisch und rechtlich schon zu vielfach durchlochert ist, um es als Gmndsatz aufrechtzuerhalten. Der heroische Kollektivismus setzt sich gegen diese Lebensauffassung erfolgreich durch und laBt sie heute iiberholt erscheinen. Ist eine MaBnahme als sozial notwendig und niitzlich erkannt, so hat es keinen Sinn, sie mit solchen Argumenten zu kritisieren. Wer es tut, schadet der Sache, weil er dem MiBtrauen der Eugeniker gegen die Ver-
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Geiger 1933:386f Geiger 1933:388. Geiger 1933:390f.
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Denkstile standnislosigkeit der Sozialwissenschaftler Nahrung gibt und Fronten, die sich um der Sache willen vereinigen mlissen, noch weiter distanziert."^^^ "Im katholischen Ideenkreis wird bekanntlich die Sterilisierung, auch die freiwillige, abgelehnt, weil sie gegen die gottgewollte Naturordnung verstoBe. Wenn aber der Eingriff in das Walten der Natur verboten ist, so ware es ja auch die kiinstliche Erhaltung kranken Lebens. 1st aber diese Art von Eingriff gottgefallig, so ist nicht einzusehen, warum die Gesellschaft sich nicht gegen die daraus erstehenden Gefahren soil sichem diirfen. Die Sterilisierung Minderwertiger ist geradezu jene MaBnahme, die es der Gesellschaft auf die Dauer allein ermoglicht, auch dem Minderwertigen und Anbriichigen die christliche Liebe in voUem Umfang angedeihen zu lassen."^^^ IV. 8 Rudolf Heberle und die Kieler Bevolkerungssoziologie
Da mit der Heberle-Biographie von Rainer WaBner^^^ bereits eine einschlagige Studie zum Weg und Werk des Kieler Soziologen und Bevolkerungswissenschaftler vorliegt, soil hier nur insoweit auf Heberles Werdegang eingegangen werden, als es ftir die Auseinandersetzung mit der Thematik "soziale Ungleichheit" in seinen bevolkerungswissenschaftlichen Beitragen angezeigt scheint. Das Kieler "Institut fur Weltwirtschaft" war fur den Lebensweg von Rudolf Heberle in mehrfacher Weise pragend. Hier lemte er nicht nur Ferdinand Tonnies kennen, hier traf er auch 1920 erstmals dessen Tochter Franziska, die ein Jahr spater seine Frau werden sollte. Auch Rudolf Heberle, wie Jahre spater Gerhard Mackenroth, sollte seine Kieler Zeit mit einem Forschungsaufenthaft in Schweden (1921)^^^ beginnen. Der politisch den Sozialdemokraten nahestehende Heberle schrieb bei dem Nationalokonomen Bernhard Harms eine Doktorarbeit uber die schwedische Arbeiterbewegung. Ftir diesen Zweck hatte er reichhaltiges empirisches Material in Schweden gesammelt. Neben der personlichen Bekanntschaft mit Tonnies und Harms, beeinflussen den jungen Wissenschaftler die Schriften von Georg Simmel, Max Weber und Werner Sombart. Gelegentlich der regelmaBigen Treffen im Hause Tonnies lemte Heberle in seinen ersten Jahren in Kiel auch Hans Freyer kennen, der damals eine Professur fiir Philosophic in Kiel innehatte.^^^ 1925 entstand eine Arbeit iiber die "Volkische Bewegung"^^^, in der sich Heberle kritisch mit dem Gemeinschaftsdenken der volkischen Gruppierungen auseinandersetzte. 1980 auBerte er sich in einem Rtickblick noch einmal zu dieser Studie: "The critique was especially directed against the idea of Gemeinschaft in their version. The main idea, I think, was that you could not create a Gemeinschaft in a modem state, in modernization not in the sense of Ferdinand Tonnies's concept. That, I think, was the essence of it."^^^ Da - wie wir sehen werden - der Gemeinschaftsgedanke auch in seinen bevolkerungswissenschaftlichen Beitragen eine Bedeutung gewann, ist es wichtig hier zu zeigen, dass er eine 557 558 559
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Geiger 1933:392. Geiger 1933:392. Vgl. dazu auch entsprechende Ansichten Geigers beziiglich der "Erbpflege": Geiger 1934. Vgl.Wa6nerl995. Ygi (jazu auch die daraus resultierende Studie zur Arbeiterbewegung in Schweden: Heberle 1925a. Vgl. Heberle 1976:199. Vgl. Heberle 1925b. Aus einem Interview mit David Lindenfeld vom 17.5.1980 zit. nach WaBner 1995:61.
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technokratische Konzeption von "Gemeinschaft" flir abwegig hielt, wenn sie die Bedingungen der Modeme ignorierte. In die Mitte der zwanziger Jahre fiel auch die mit einer Assistentenstelle (bei Fritz Karl Mann, 1883-1979) in Konigsberg verbundene Litauen-Studie von Heberle.^^"* Amerika-Besuche schlossen sich an, wobei die Teilnahme an der Jahrestagung der American Sociological Society (1927) ihn wohl besonders beeindruckte: "Eine anerkennenswerte Folge dieser Tendenz (der ausgepragten Konzentration auf Forschungstechniken; H.G.) schien mir die groBe Lebensnahe, eine nachteilige aber das Vorwalten von Werturteilen, die meist einem naiven Fortschrittsglauben entsprangen."^^^ Zwischen 1927 und 1929 verbrachte Heberle zwei Jahre an der "Brookings School of Economics and Political Science" in Washington.^^^ In den USA erlemte Heberle in erster Linie die Methoden und Techniken empirischer Wanderungsforschung, dazu zahlten im iibrigen auch Erkenntnisse uber selektive Wirkungen der Wanderung, denn auch in den Staaten wurde dartiber diskutiert, ob Abwanderung mit einer "Auslese" von Bevolkerungsgruppen einhergehe.^^"^ Heberle, der sich mehr ftir die Chicagoer GroBstadtsoziologie begeisterte, sich langere Zeit in Chicago aufhielt und in dieser Zeit Jtirgen Kuczynski (1904-1997) und Robert E. Park (1864-1944) kennen lemte, interessierte sich starker fur die entstehende genuin soziologische Auseinandersetzung mit der "Mobilitat". Park ging davon aus, dass "Beweglichkeit (mobility) (....) die okologische Grundlage gesellschaftlicher Wandlungen in der modemen Welt" sei.^^^ Die (fruhe) Sozialokologie behauptete, dass "alle Lebewesen in nattirlichen Raumen und in symbiotischer Gemeinschaft, welche die Vorausetzung sozialer Gemeinschaft ist, zusammenleben. Jedoch wird die mechanische Ordnung im Raum durch den Consensus in der sozialen Ordnung erganzt, und den okonomischen Regeln des Marktes ^^^
Heberle arbeitete in dieser Zeit am "Institut ftir Ostdeutsche Wirtschaft" (Konigsberg) unter Fritz Karl Mann, Die Studie erschien in einer Reihe des Deutschen Ausland-Instituts (Stuttgart) und wurde in Verbindung und mit Unterstiitzung der "Stiftung fur deutsche Volks- und Kulturbodenforschung" (Leipzig) herausgegeben.
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Vgl. dazu WaBner 1995:44. Vgl. Mackensen 2003a:490. Heberle rezipierte die Diskussion wie folgt: "Es ist haufig die Ansicht vertreten worden, daB die aus einem bestimmten Gebiete A b w a n d e m d e n eine Auswahl von Individuen mit besonders 'guten' Qualitaten darstellen, so daB also durch die Wanderungen eine 'soziale Auslese' stattfmde, die den Abwanderungsgebieten nachteilig sei, den Zuwanderungsgebieten aber z u m Vorteil gereiche. Dieser Gedanke, der in der europaischen Literatur besonders im Hinblick auf die Wanderung v o m Lande in die Stadte sich fmdet, hat in den Vereinigten Staaten eine dreifache A n w e n d u n g erfahren. Erstens namlich wird von einigen Autoren die Ansicht vertreten, daB die amerikanische Nation, als eine Nation von A u s w a n d e r e m oder deren N a c h k o m m e n , als Ganzes eine besonders giinstige Auslese darstelle in bezug auf die korperliche Konstitution u n d die Eigenschaften des Charakters; selbst ein so kritischer und vorsichtiger Beurteiler des amerikanischen Lebens wie G. Santayana glaubte, auf diese Weise einen Schliissel fur gewisse hervorstechende Ziige des amerikanischen Wesens gefunden zu haben: 'Alle (!) Kolonisten, mit Ausnahme der Neger, waren freiwillig in die Fremde gezogen. Die Erfolgreichen, die fest Verwurzelten und die Tragen blieben zu Hause; andere wurden durch ihre wilderen Instinkte oder Unzufriedenheit iiber den Horizont hinausgetrieben. D e r Amerikaner ist folglich der Unternehmungslustigste oder der N a c h k o m m e der u n t e m e h m u n g s - und abenteuerlustigsten Europaer. Es steckt ihm im Blute, sozial ein Radikaler zu sein, jedoch vielleicht nicht intellektuell.' Eine zweite Version des Auslesegedankens besagt, daB die aus den alteren Landesteilen nach d e m Westen Gewanderten, insbesondere die eigentliche Grenzbevolkerung, ebenfalls eine Auswahl der physisch kraftigsten, der energischsten und unabhangigsten Individuen ihrer jeweiligen sozialen Schicht dargestellt hatten, woraus dann gewisse Eigenschaften der westlichen Bevolkerung erklart werden. Endlich wird auch in Amerika, u. a. von E. A. Ross, die Hypothese vertreten, daB die A b w a n d e r u n g v o m Lande in die Stadte eine Ursache okonomischer und allgemein sozialer Dekadenz in gewissen landlichen Gebieten sei, indem namlich die intelligentesten, ehrgeizigsten Teile namentlich der jiingeren Altersklassen, das flache Land verlieBen" (vgl. Heberle 1929:135). Vgl. C a h n m a n n 1959:433.
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stehen die personlichen und moralischen Beziehungen, die im Familienleben ihren klassischen Ausdruck finden, als Anti-Typ gegeniiber."^^^ Ob sich Heberle uber diese doppelte Perspektive der amerikanischen Sozialokologie im Klaren war und ob er auch wusste, dass Park wichtige Begriffe (okologische Nachfolge) von Ratzel und Haeckel iibemommen hatte, lasst sich aus seinen Arbeiten nicht eindeutig erschlieBen. Wie wir gleich jedoch noch genauer sehen werden, interessierte sich Heberle stets fiir die sozialen Ursachen dieses oder jenes demographisch relevanten Verhaltens. Robert E. Park forderte den Deutschen jedenfalls auf, die soeben erschienene bahnbrechende Studie von Pitirim A. Sorokin uber "Social Mobility" im "American Journal of Sociology"^'^^ zu besprechen. Park begutachtete auch ein Forschungs-Expose^^^ das spater zu Heberles Habilitationsschrift fiihren sollte: "Wahrend ich also von dem erkenntnistheoretischen und methodologischen Niveau der amerikanischen Soziologie keine hohe Meinung hatte, war ich jedoch von dem, was Park und seine Schuler in Chicago an Forschung betrieben, sehr beeindruckt. Die vielen 'case studies' (The Hobo u.a.), sowie die als 'urban ecology' bezeichneten GroBstadt-Studien kamen dem, was ich unter Soziographie verstand, nahe; ich verstand diese 'Schule' als eine Parallele zu dem damals aufkommenden 'Institutionalismus' in der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft. Beide Richtungen entstanden als Reaktion gegen die alteren geschichtsphilosophisch gerichteten soziologischen Theorien."^^^ Angesichts des wachsenden Renommees Heberles in den Vereinigten Staaten kann man fragen, warum der politisch bis dato links eingeordnende Heberle nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten nicht nach Amerika gegangen ist - die Rockefeller-Foundation hat ihm 1933 ein entsprechendes Angebot unterbreitet. Folgen wir hier Rainer WaBner, der in Abwagung der Argumente zu dem Schluss kam: "Doch trennt ihn von der damaligen amerikanischen Soziologie ein wichtiger Punkt. Zwar hat er sich, als empirisch arbeitender Fachsoziologe, von einer transzendental- und einer geschichtsphilosophischen Konzeption einigermaBen gelost (besser gesagt, er hat sie nie gepflegt), doch nicht von einer generellen Theorie des Sozialen, die ein essentieller Bestandteil Heberleschen Schaffens ist."573 Wieder zuriick in Deutschland, schloss Rudolf Heberle im Dezember 1928 seine Habilitationsschrift ("Uber die Mobilitat der Bevolkerung in den Vereinigten Staaten") ab. Zu seinen wichtigsten Erkenntnissen in diesem Werk zahlte, dass "Wanderungsmobilitat" und "soziale Mobilitat" nur als eng miteinander verknlipft betrachtet werden konnen;^^"^ schon hier spielten die "Wirkungen der Mobilitat mxf den Aufbau der Gesellschaft" eine Rolle.^"^^ Im Riick-
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^'^^ 573 574
Ebd. (Herv. d. H.G.). "Die Review erschien im Juli-Heft 1928 und gewann mir den Respekt des Verfassers, obwohl ich seinen Begriff von 'social mobility', als zu viele heterogene Erscheinungen umfassend, kritisiert hatte" (vgl. Heberle 1976:203). Vgl. Heberle 1976:204. Heberle 1976:206. Wie diese Diskussion auf Heberles bevolkerungswissenschaftliche Arbeiten wahrend des Nationalsozialismus zuriickwirkte, soil etwas spater dargestellt werden. WaBner 1995:50. Vgl. Heberle 1929:87.
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blick betonte Heberle, dass es ihm weniger um eine deskriptive Nachzeichnung von Wanderungsvorgangen gegangen sei, sondem dass er eine Untersuchung der "Ursachen und vor allem (der) Folgen der Mobilitat, d.h. die Wirkungen auf soziale Verhaltnisse und Gruppen, sowie auf die Normen und soziale 'Kontrolle' "^^^ bezweckte. Die Untersuchungsabsicht reichte also weit in die Thematik einer (immer auch an Raumbildungsprozessen) interessierten Sozialokologie hinein - jedoch weniger im Sinne des pragmatischen Interesses der USAmerikaner: "Es lag z.B. nahe anzunehmen, daB ortsgebundene Gruppen mehr affiziert wiirden als solche, bei denen es nicht darauf ankam, wo die Mitglieder wohnten, da 'gemeinschaftsartige' Verhaltnisse und Gruppen mehr 'leiden' wiirden als 'gesellschaftsartige' usw. "^'^'^ In der Folgezeit widmete sich Heberle zunachst mit groBer Intensitat der Lehre. Im Wintersemester 1929/30 bot er eine Veranstaltung mit dem Thema "Die Bevolkerung des Deutschen Reiches in soziologischer Betrachtung" an. Eine weiteres Seminar zu einer bevolkerungswissenschaftlichen Thematik folgte im Sommersemester 1932 (Ubungen "Wanderungen im Zeitalter des Kapitalismus"). In der Zeit des Nationalsozialismus folgte auf bevolkerungswissenschaftlichem Gebiet die Vorlesung "Die Bevolkerung des Deutschen Reiches" (Wintersemester 1934/35), "Wirtschaft und Raum" (Wintersemester 1935/36) sowie im Sommersemester 1936 Ubungen zur Bevolkerungsstatistik, -lehre und -politik^'^^ (zusammen mit Gerhard Mackenroth). In der theoretischen Ausrichtung blieb Heberle ganz seinem Schwiegervater Ferdinand Tonnies verhaftet. Vor 1933 bezog er sich in seiner Mobilitatsstudien auf die Kategorie der "Sozialen Wesenheit", die in Anlehnung an den Begriff der "sozialen Gruppe" bei Ferdinand Tonnies entstanden war. Fiir Heberle bedeutete die "Gliedschaft in einer sozialen Wesenheit" die Anerkennung bestimmter Werte und eines normengeregelten Verhaltens. Darunter fiel auch der Familienbegriff Heberle grenzte diese 'soziologische' Perspektive bei der Beurteilung des Bevolkerungsproblems von einer sozialbiologischen, sozialpsychologischen und soziographischen Herangehensweise ab: "Die sozialbiologische und sozialpsychologische Ansicht sind jedoch fur die Empirische Soziologie nicht gleichgiiltig. So interessieren z. B. Zahl und zeitlicher Abstand der von einer verheirateten Frau vollzogenen Geburten als natiirliche Tatsachen den Sozialanthropologen, besonders den Eugeniker, aber insofem, als sie etwa fiir die Form der Familie von Bedeutung sind, auch den Soziographen."^^^ Wichtig fur unsere Fragestellung ist deshalb auch seine Initiative zur Einrichtung einer Untergruppe "Soziographie"^^^ in der Deutschen Gesellschaft fur Soziologie um 1930. Ferdin-
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Vgl. Heberle 1929:128 (Herv. d. H.G.). V g l . Heberle 1976:204. Heberle 1976:204.
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Vgl. WaI3nerl995:51f., 85. Heberle 193 l:565f. Vgl. dazu seine Artikel Heberle 1930,1931.
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and Tonnies und Andreas Walther, die an dieser Initiative ebenfalls beteiligt waren, batten je eigene Konzepte einer Soziographie. Fur Rudolf Heberlejedoch waren die "beiden Hauptzweige der Soziographie (die) Ethnographie und (die) Demographic, soweit sie sozialwissenschaftlich relevante ('soziale') Merkmale zeigen."^^^ "Soziographie" war also fur Heberle ausdriicklich an die Analyse von Bevolkerungen gebunden. Er richtete sich zusammen mit Andreas Walther, Hans Speier und anderen jungen Soziologen gegen die etablierte, geisteswissenschaftlich orientierte und empiriefeme Soziologie im Deutschland der 1920er Jahre. Ausgangspunkt aller Soziographie konnte deshalb nicht eine geschichtsphilosophische Konstruktion oder ein abstrakt-formales Denken sein, sondem die Soziographie drangte zur empirischen Aufnahme des sozialen Lebens "konkreter Gruppen"; eben deshalb operierte Heberle mit einem Bevolkerungsbegriff in der Soziologie und bezog sich auch auf Demographen. Nur bedurfte die stark durch statistische Methoden gepragte Demographic einer Erganzung durch cinen genuin soziologischen 'Blick' auf das Bevolkcrungsgeschchcn: "Die Aufgaben der Soziographie liegen gerade in der Erforschung und Darstellung des Gesamtzusammenhanges des sozialen Lebens konkreter Gruppen. Die gesamte Betrachtung wird zweckmaBigerweise ausgehen von den Tatsachen der 'Bevolkerung'. Lassen sich doch z. B. die Wandlungen der Sitte, der Verwaltungsorganisation, das 'Versagen' alter und das Aufkommen neuer 'Institutionen' ohne Kenntnis dieser Tatsachen, z. B. der Wanderungen zwischen landlichen und stadtischen Gemeinwesen, gar nicht verstehen. Umgekehrt ist die gesamte Ordnung des Sozialen Lebens fur die Gestaltung der Bevolkerungsverhaltnisse von EinfluB: 'man kann sogar von einer ausgesprochenen Parallelitat beider in dem Sinne sprechen, daB die Entwicklung der einen nach einer ganz bestimmten Richtung hin unmoghch ist, ohne daB die andere gleichfalls einen bestimmten Gang nimmt' (P. Mombert, Bevolkerungslehre, GrundriB der Sozialokonomik, 11. 1914,34). Die Soziographie greift hier also in die Arbeitsgebiete der 'Bevolkerungslehre' und 'Bevolkerungsstatistik' ein, und in der Erforschung und Darstellung des geistig sittlichen Lebens konkurriert sie mit den im System der 'Statistik im materiellen Sinne' als 'Bildungsstatistik' und 'Moralstatistik' umschriebenen Bestrebungen. Es ist oben schon angedeutet, inwiefem die Idee der Soziographie eine Kritik dieses Begriffs der 'Statistik' darstellt. Keine der drei Disziplinen weist eine arteigene Problematik auf, die Probleme gehoren vielmehr stets einer Realwissenschaft an, die durch besondere Methoden ihnen gerecht zu werden sucht (Fr. Eulenburg, Die Statistik in Deutschland, Deutsche Literatur-Ztg. XXXIII. 25. 1912, 1544 f); dies gilt auch von der 'Bevolkerungsstatistik', die in der Mechanik des Bevolkerungswechsels ein verhaltnismaBig selbstandiges Objekt besitzt, sie kann nur im Rahmen der Bevolkerungslehre fruchtbar betrieben werden (Mombert), die in ihren monographischen Forschungen als ein besonderer Teil der Soziographie bezeichnet werden darf Auch die vielseitig verwendbaren Daten, z. B. liber den Altersaufbau der Bevolkerung, sind doch nur im Hinblick auf kriminologische, bevolkerungswissenschaftliche oder sonstige bestimmte Erkenntniszwecke von Interesse und die Methoden der Gewinnung und Auswertung miissen sich nach diesen Zwecken richten. Das 'Statistische Interesse' als primares Motiv (Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre I. 2. Aufl. Tubingen 1914, S. 55 f) erweist sich also als eine Chimare: sachliche Probleme und Kenntnis des Gegenstandes sind Voraussetzung richtiger Ermittelung und Auswertung statistischer Daten."^^^
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Vgl.WaBner 1995:59. Heberle 1931:567.
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Der Kieler Bevolkerungswissenschafter stand der 'sozialwissenschaftlichen' Statistik ebenso fern wie der Leipziger Variante der Soziographie, der "Realsoziologie". Auch von niederlandischen Soziographie a la Steinmetz grenzte er sich ab, und doch finden wir bei Rudolf Heberle gewisse Anklange an die geographische Wissenschaft. So berichtete er im Rtickblick, dass er in Kiel mit den Geographen Leo Waibel, Oskar Schmieder und Wilhelm Credner^^^ eng kooperierte.^^^ Diese Kooperation - die wir ja auch in Leipzig und Frankfurt/M. beobachten konnten - wird verstandlicher, wenn man berucksichtigt, dass die Auseinandersetzung mit der raumlichen Dimension sozialer Ungleichheit Heberles bevolkerungswissenschaftliche Beitrage nach 1933 kennzeichnete. Doch alles hatte sich nun einem gegenstandlichen 'Raumdenken' unterzuordnen. Und dennoch glaubte Heberle sein (im Ansatz gerade nicht mechanistisches) Konzept empirischer Soziologie auch unter den neuen politischen Bedingungen aufrechterhalten zu konnen. IV. 9 Rudolf Heberles bevolkerungswissenschaftliche Aktivitaten wahrend des Nationalsozialimus In einem Aufsatz aus dem Jahr 1934 in der Zeitschrift "Soziale Praxis" bescheinigte Heberle der US-Soziologie nun, dass sie sich - entgegen seinen friiheren, weitaus differenzierteren Einschatzungen - durch einen "Empirizismus von hochster Naivitat" auszeichne.^^^ In diesem Artikel uber die "Aufgaben und Anwendung der Soziologie in der Landschaftsforschung" stellte Heberle heraus, dass nur eine um Objektivitat bemiihte empirische Sozialforschung auch politisch ntitzlich sein konne. Er schloss dabei an seine kritischen Bemerkungen aus dem Jahr 1925 zur technischen Herstellbarkeit von "Gemeinschaft" an. Diese AuBerungen sind auch in Abgrenzung zur Leipziger Soziologengruppe, insbesondere in Opposition zu Hans Freyer und Gunther Ipsen zu lesen, denen er noch vor Antritt des Nationalsozialismus vorwarf, eine volkische, rassistische, normative, ausgrenzende und 'kleinbiirgerliche' Gemeinschaftskonzeption zu predigen. Die Gedanken aus der Endphase der ersten deutschen Republik aufnehmend, war wieder in diesem Artikel vom "Neubau der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft die Rede",^^^ doch sah er wohl auch die Ambivalenzen einer Planung am ReiBbrett, die den herbeigewlinschten Gemeinsinn eher erstickt denn befordert hatte. Heberle suchte offensichtlich in dieser Etablierungsphase des Regimes seine eigene Rolle neu zu defmieren. Er war natiirlich kein "Deutscher Soziologe", er passte mit seiner steten Betonung einer notwendig antikapitalistischen Ausrichtung der Bevolkerungs- und Sozialpolitik^^"^ auch gar nicht zu den volkischen 'Gemeinschaftssoziologen' des Jenaer Soziologentages. Unabhangig davon, welche Motive seinem Eintritt in (die in kapitalismuskritischer Hinsicht noch nicht befriedete) SA im Dezember 1933 zugrunde lagen^^^ - seine wissenschaftliche Aufgabe sah er vor allem in einer auch soziale Mobilitatsprozesse untersuchenden Wanderungsforschung:
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Vgl. seine Stellungnahme zur Aufgabe der Geographie in der nationalsozialistischen Raumforschung: Credner 1942. Vgl. Heberle 1976:207. Vgl. Heberle 1934:1419. Heberle war mit Werner Bohnstedt befreundet, der im Biiro fiir Sozialpolitik arbeitete und zeitweise die "Soziale Praxis" mit herausgab (vgl. WaBner 1995:61). Vgl. Heberle 1934:1421.
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Vgl. besonders Heberle 1937a. Vgl. die dazu vorliegenden Materialien in WaBner 1995:77.
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Denkstile "Ein weiteres Gebiet, das zu beackem die Soziologie in erster Linie berufen sein diirfte, ist das der sozialen Prozesse: namlich der Wanderungen, des sozialen Auf- und Abstiegs und der Zusammenhange zwischen diesen beiden 'Bewegungen', der mit ihnen verknupften Auslese- und Anpassungsvorgange. Auch die Untersuchung des Grades der 'Bodenstandigkeit' und 'SeBhaftigkeit' einer Bevolkerung in ihren verschiedenen Schichten, die Bedingungen und Wirkungen groBerer oder geringerer Frerndgebiirtigkeit und Mobilitat fallt, da keine andere Wissenschaft ein primares Interesse daran hat, in den Bereich des Soziologen..."^^^
Ist es nur politische Naivitat, wenn Heberle noch im Sommer 1934 die Herausgabe einer Schriftenreihe tiber "Sozialfragen des gegenwartigen Deutschland" plante? Rainer WaBner erwahnte die sich andeutende Zusammenarbeit zwischen Rudolf Heberle, Andreas Walther und Carl Brinkmann in dieser Zeit. Tatsache ist, dass er erst jetzt im groBen Stil publizierte - und zwar insbesondere auf dem Gebiet der Migrationsforschung und zur Thematik des Geburtenriickgangs. In seiner biographischen Riickschau aus dem Jahre 1976 schob er dem Bevolkerungswissenschaftler Hans Harmsen eine Schliisselrolle zu. Dieser habe ihn in seiner Funktion als (damaliger) Mitherausgeber des 'Blauen Archivs', einer fur Heberle "noch nicht vollig 'gleichgeschalteten'" Fachzeitschrift^^^, dazu aufgefordert, bevolkerungswissenschaftliche Beitrage zu produzieren. Sein dann auf dem Internationalen Kongress fur Bevolkerungswissenschaft (Berlin 1935) gehaltenes Referat fiel aus dem Rahmen der weitgehend eugenisch und sozialbiologisch ausgerichteten Beitrage der anderen deutschen Teilnehmer.^^^ In Vorbereitung des Kongresses bzw. als Varianten des Vortrages publizierte Heberle in sozialpolitischen, medizinischen und bevolkerungswissenschaftlichen Fachzeitschriften.^^^ Die in Zusammenarbeit mit Fritz Meyer 1936/1937 durchgefuhrte empirische Untersuchung der "GroBstadte im Strome der Binnenwanderung" wurde von der Rockefeller-Foundation und der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gefordert, das Kieler Institut fur Weltwirtschaft stellte in "groBztigiger Weise seine Einrichtungen fur unsere Arbeit zur Verfiigung."^^^ In der Einftihrung erlauterte Heberle die generelle Zielsetzung der Arbeit, wobei er ihren politikberatenden Nutzen darin sah, dass sie "Tatsachen" aufzeige, mit denen sowohl im Rahmen der "Neuordnung des deutschen Volksraum" als auch bei der "Lenkung des Arbeitseinsatzes" gerechnet werden mtisse. Einen durch die politischen Zielsetzungen des NS-Staates bedingten, d.h. begrenzten "Spielraum" fur die Abwagung praktischer MaBnahmen setzte Heberle voraus.^^"^ Gleichzeitig verstand der Kieler Bevolkerungswissenschaftler seine Uberlegungen als erweiterten Teil einer "systematischen soziologisch-okonomischen Lehre von den Wanderungen". Wortlich hieB es: "Die vodiegende Untersuchung tiber den Wanderungsumschlag in deutschen Stadten ist einesteils gedacht als Beitrag zu einer systematischen soziologisch-okonomischen Lehre von den Wanderungen, deren Grundzuge ich an anderer Stelle entworfen habe;^^^ auBerdem aber wird sie 589
Heberle 1934:1420. Vgl. Heberle 1976:208f. 591 Vgl. Ferdinand 2004a:79. 592 Vgl. u.a. Heberle 1935a, 1935b, 1937a. 593 Vgl. Heberle, Meyer 1937:Vorwort. ^^"^ Vgl. dazu auch den Aufsatz Heberle 1937b. 590
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fur eine Reihe von praktischen Mafinahmen in Verbindung mit der Neuordnung des deutschen Volksraums und der Lenkung des Arbeitseinsatzes von Nutzen sein konnen, insofem namlich, als sie Tatsachen herausstellt, mit denen bei derartigen Bestrebungen - innerhalb des durch die politische Zielsetzung gegebenen Spielraums - gerechnet werden muB. Der Gegenstand der Binnenwanderung wird hier zum ersten Male unter einem bisher kaum beachteten Gesichtspunkt behandelt, namlich im Hinblick auf den 'Wanderungsumschlag' in den groBen Stadten und die darin zum Ausdruck kommende raumliche Mobilitat der Bevolkerung. Die Untersuchung (Teil B) beschrankt sich dabei hauptsachlich auf die volkswirtschaftlichen und bevolkerungswissenschaftlichen Fragestellungen, wahrend die soziologische Auswertung spateren Arbeiten vorbehalten bleibt."596 Heberle war es nicht allein, der seine Aufgabenbereich nun in einer Tatsachenanalyse' im Vorfeld politischer MaBnahmen glaubte gefunden zu haben. Nicht nur das Institut fiir Wehwirtschaft, auch die Universitat stiitzte diese anwendungsnahe Ausrichtung. Nur musste er sich dazu von seiner Soziologie (resp. den Arbeiten tiber politische Parteien) weg und stattdessen zur Bevolkerungswissenschaft (die fur ihn Teil der Soziographie war, s.o.) hin bewegen: Nachdem es bis Mitte der dreiBiger Jahre den Anschein hatte, dass Rudolf Heberle die neuen politischen Verhaltnisse bedrlickten, ergab sich mit seiner (abermaligen) Hinwendung zur Fragestellungen der Bevolkerungswissenschaft "plotzlich ein anderes Bild" - so Rainer WaBner in seiner Heberle Biographie^^^: "Das Arrangement mit den Verhaltnissen gelingt Heberle so weit, daB ihn die Fakultat zum nichtbeamteten auBerordentlichen Professor vorschlagt. Schon am 4.2.1935 berat eine Fakultatskommission seine Emennung (...) Der Brief an den Minister in Berlin vom 10.5.1935 enthalt folgende Begriindung: Heberle 'hat eine Reihe griindlicher, solider, besonnener und objektiv niitzlicher Arbeiten iiber soziographische Probleme verfaBt, die von einer klaren, genauen und durchdachten Fiihrung der Untersuchungen, von wohlgeordnetem Denken, gediegenem Wissen und sauberer Methodik zeugen. Er vertritt mit einigen wenigen anderen Forschem zusammen eine eigene Richtung in der heutigen deutschen Soziologie: nicht eine abstrakte, sondem eine induktive spezielle Soziologie, die Soziographie. AUe seine Arbeiten sind unmittelbar und methodisch der Erforschung der sozialen Tatsachen des volklichen Daseins gewidmet.' "^^^ Eben weil Heberle auch im Rahmen einer Bevolkerungswissenschaft "soziale Tatsachen" in den Blick nehmen woUte, wurde die Problematik der Migration gleich zu Beginn der Binnenwanderungs-Untersuchung in einen Kontext gestellt, in dem ein "Wandem in Vereinzelung" (als Kennzeichen der "Neuzeit") einer Wanderung in "gemeinschaftsmaBigen Verbanden" gegenubergestellt wurde. Die Stadt-Land-Disparitat spielte fur Heberle hier mit hinein: so sah er - in Anlehnung an Max Webers "Die landliche Arbeitsverfassung" (1894) - auch das Land diesem Rationalisierungsprozess unterworfen, etwa dort, wo eine "Auflosung naturalwirtschaftlich bedingter Gemeinschaftsbindungen zwischen Grundbesitzer und Arbei-
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V g l . Heberle 1936b. Heberle, Meyer 1937:1. Vgl. WaBner 1995:83. Rainer WaBner bezog sich dabei auf die Tagebuchaufzeichnungen Heberles, die von einem starken Skeptizismus durchzogen waren. Dagegen steht die immense Aktivitat Heberles in Forschung und Lehre gerade in dieser Zeit. Rainer WaBner begegnet deshalb auch den Selbstzeugnissen Rudolf Heberles, der sich "zum unbedingten Regimegegner" stilisierte, mit Skepsis (vgl. ebd., 84). WaBner 1995:83.
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ter" zu verzeichnen war. Die 'Landflucht' sei deshalb auch kein Verteilungsproblem im Sinne einer optimalen Verteilung von Menschen im Raum gewesen. Mit Zustimmung zitierte Heberle deshalb eine agrarokonomisch^^^ argumentierende Analyse von Theodor Oberlander, die ebenfalls auf dieses banale MiBverstandnis aufmerksam machte: '"Nicht die Abnahme der landwirtschaftlichen Bevolkerung an sich ist Landflucht, sondem ihre Abnahme iiber die in einer bestimmten Wirtschaftslage zulassige Arbeitskapazitat hinaus. Denn es ist aussichtslos, in einer kapitalistisch entwickelten Wirtschaft gegen den Ausgleich der Produktivitat der Arbeit in Industrie und Landwirtschaft anzukampfen und mehr Menschen in der Landwirtschaft beschafligen zu wollen als unter gegebenen natiirlichen und wirtschafthchen Verhaltnissen und unter einem gegebenen Stande der Technik zur Ausnutzung von Boden und Kapital notwendig sind' (Theodor Oberlander, Die Landflucht in Deutschland BiiL XVIII,S. 5).' Wir konnen hinzufiigen: in dem Augenblick wo nicht mehr die Ausnutzung von Boden und Kapital', sondem die volksbiologisch beste Verteilung der Menschen im Raume Ziel der Wirtschaftspolitik wird, sind die genannten Voraussetzungen aufgehoben, und andere MaBstabe fur die Beurteilung der Landflucht und andere Mittel fiir ihre Bekampfung gegeben. Aber irgendwelche Grenzen wirtschafl:licher Arbeitskapazitat der Landwirtschafl: sind auch dann und zwar durch das Interesse der Volksgemeinschaft an wirtschafl:Uchster Verwendung der Produktionsmittel, gegeben."6oo Dass Heberle hier auch auf die veranderten Wirkungsbedingungen in einer "raumwirtschaftlich" organisierten Menschenokonomie rekurrierte, ist kein Zufall. In der Raumforschung wurde gerade zu diesem Zeitpunkt ein entsprechendes Programm aufgelegt.^^^ Wichtig waren fur Heberle immer die Prozesse sozialen Wandels. So wies er nicht nur auf wachsende okonomische Unterschiede zwischen Stadt und Land hin, auch "lebensweltlich" entwickelten sich fur ihn landliche und stadtische Zonen weiter auseinander. Gerade dieser Umstand hatte Folgen. Heberle sah eine der Ursachen einer erhohten Migration zwischen Stadt und Land darin, dass sich auch das hergebrachte lebensweltliche Umfeld veranderte. Abweichend von Gerhard Mackenroth jedoch, der aus einer 'Vogelperspektive' eine 'Erstarrung' der Schichtgrenzen festgestellt sehen woUte, hob Heberle auf die soziologischen Ursachen des Verhaltens des Einzelnen ab. Dieses Verhalten zeichne sich durch einen Zuwachs an Handlungsmoglichkeiten aus, weil sich das soziale "Gefiige" 'lockert' und Bindungen weniger restriktiv wirken wiirden: "Da nun der Einzelne im Vergleich zu friiheren Zeiten im sozialen Gefiige sozusagen 'lockerer' sitzt, darf angenommen werden, daB die Wanderungsbereitschaft der Menschen im groBen Ganzen verstarkt ist, und daB daher die Einzelnen mit groBerer Leichtigkeit und Schnelligkeit auf ortliche Verschiedenheiten wirtschaftlicher Erfolgsmoglichkeiten reagieren (...) Die Untersuchung dieser Abhangigkeit der Wanderungsbewegungen in den groBen Stadten vom Konjunkturverlauf und von der wirtschaftlich-sozialen Struktur der Stadt und ihres Einzugsgebietes war die unmittelbare Aufgabe der folgenden Abhandlung."^^^
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Wie schon bei Gerhard Mackenroth finden wir auch bei Rudolf Heberle Bezuge zur Agrarwissenschaft, insbesondere zur Agrarsoziologie. 1936 nahm Heberle auf Einladung von Max Sering (Begrtinder des Deutschen Forschungsinstituts fiir Agrar- und Siedlungswesen in Berlin) an der Intemationalen Agrarwissenschaftlichen Konferenz in St. Andrews (Schottland) teil (vgl. WaBner 1995:110). Heberle, Meyer 1937:4; vgl. dazu auch Heberle 1937b:346. Vgl. Gutberger2l999.
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Was aber verstand Heberle in diesem Zusammenhang unter raumlicher Mobilitat auf der einen Seite und unter sozialer Mobilitat auf der anderen? Diese Thematik wurde im Verlauf der Studie unter der Kapiteltiberschrift "Die soziale und biologische Bedeutung der Wanderung und Mobilitat. Mobilitat und Fruchtbarkeit, Wanderung und Volkswachstum" aufgegriffen. In Abgrenzung zu Untersuchungen, die ein Bevolkerungswachstum in Zusammenhang mit Binnenwanderungsprozessen untersuchten oder die die 'Auslesewirkungen' der Abwanderung vom Land thematisierten, ging es Rudolf Heberle (in Zeiten gewachsener Mobilitat) immer um die genuin soziologische Problematik einer gelingenden "Vergemeinschaftung" von Bevolkerungen.^^^ Als Vorbild dienten hier die Arbeiten der amerikanischen GroBstadtsoziologie, mit denen Rudolf Heberle (ebenso wie Andreas Walther), wie gesagt, seit den zwanziger Jahren^^"^ vertraut war: "Dagegen sind die Wirkungen der durch Wanderungen bedingten Mobilitat auf das Zusammenleben, auf die menschlichen Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen bisher wenig beachtet und kaum empirisch untersucht worden. Namentlich fiir deutsche Stadte fehlen jegliche empirischen Forschungen, wahrend die amerikanische GroBstadtsoziologie recht beachtenswerte Leistungen aufzuweisen hat. Es sollen deshalb hier nur kurz die wichtigsten Gesichtspunkte theoretisch dargelegt werden. Es empfiehlt sich, zu unterscheiden zwischen den Wirkungen auf die Individuen und den Wirkungen auf die betroffenen Gemeinwesen oder raumlichen Gruppen."^^^ In Anlehnung an Ferdinand Tonnies unterschied Heberle zwischen "gemeinschaftsartigen" und "gesellschaftsartigen" Verbindungen und "Schichten" unterschiedlicher Mobilitat, wobei er darauf anspielte, dass bestimmte Bevolkerungsgruppen 'mobilitatsempfmdlicher' seien als andere, weil schon die "Erwartung baldigen Wiederfortzugs" den Aufbau stabiler sozialer Beziehungen verhindem wiirde. Auch die konstatierte Stadt-Land-Disparitat wurde in das Konstrukt mobiler bzw. immobiler "Schichten" eingewoben.^^^ Unmittelbar im Anschluss an diese Feststellung wurde deutlich, dass Heberle seine Erkenntnisse ausdrucklich als aktive Politikberatung auf dem Feld der Lenkung des Arbeitseinsatzes des NS-Staates verstanden wissen wollte. So wog er das Fiir und Wider eines Personalwechsels unter Betriebsbelegschaften und die mit hoher Mobilitat verbundenen soziologische Wirkungen gegeneinander ab. Auffallig waren hier die Verbindungen, die von Heberle zwischen raumlicher und sozialer Mobilitat hergestellt wurden:
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Heberle, Meyer 1937:6. Von seinen USA-Aufenthalten her war Heberle bekannt, dass es in den Staaten ganz wesentlich die protestantischen Kirchengemeinden waren, die dem gesellschaftlichen Verkehr Impulse verliehen. Heberle nahm dabei die USA als ein Land wahr, in dem "nicht nur die Fiktion sozialer Gleichheit einen wesentlichen Bestandteil der nationalen Ideologie bildet, sondem tatsachlich die Mittel und Wege der Differenzierung und Distinktion beschrankter sind als in europaischen Gesellschaften" (vgl. Heberle 1929:152f.). Vgl. Heberle 1927. Heberle, Meyer 1937:51. "Die mobilen Schichten der groBstadtischen Bevolkerung bleiben daher im allgemeinen in einem Zustande weniger enger sozialer Verbundenheit als die seBhafteren Bevolkerungsschichten, und da jene in den GroBstadten breiter sind - im Verhaltnis zur Gesamtbevolkerung - als in kleineren Stadten und Dorfem (wo eine hohe Mobilitatskennziffer durch sehr starken Umschlag einer kleinen Schicht hervorgerufen zu werden pflegt), so wird das gesamte groBstadtische Gemeinwesen einen weniger festgefiigten Charakter haben. Dazu kommt, daB hohe Mobilitat die soziale Willensbildung und die soziale Kontrolle erschwert." (vgl. Heberle, Meyer 1937:52; siehe zur Messung der Mobilitat von Berufsgruppen und sozialen Schichten auch ebd., 104ff., 120ff.).
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Denkstile "Die Herstellung eines kameradschaftlichen Verhaltnisses zwischen Gefolgschaftsmitgliedem, des BewuBtseins gemeinschaftsmaBiger Verbundenheit gegeniiber der Betriebsleitung wird selbstverstandlich mehr Schwierigkeiten machen, wenn auch nur ein Teil der Belegschaft oft wechselt, als wenn die Mobilitat gering ist. Andererseits zeigt gerade die Untersuchung von Meyer, daB die beweglichen Schichten in der Arbeiterschaft ihre bestimmten, volkswirtschaftlich unentbehrlichen Funktionen haben. Eine vollige, dauemde Bindung an einen bestimmten Wohnort kann auch wegen der damit verbundenen Hemmung des sozialen Aufstiegs nicht einmal theoretisch als Ideal gesetzt werden. Es ist daher eine wichtige Aufgabe der Planung des Arbeitseinsatzes, den Grad der Mobilitat und die Breite der mobilen Gruppen mit den Gesichtspunkten des volkswirtschaftlichen und des individuellen Interesses in Einklang zu bringen."^^^
Wie schon in seinen Beitragen zur Geburtenbeschrankung, bezog Heberle tendenziell zugunsten der abhangig Beschaftigten Stellung. Immer aber unter der Pramisse, dem Regime die wissenschaftlichen Erkenntnisse "fiir wirksames Planen der Verteilung der Arbeitskrafte im Raume" zu liefem.^^^ Ahnlich abwagend wie in der Frage der soziologischer Wirkungen der Mobilitat verfuhr Heberle bei der Nachzeichnung der Zusammenhange zwischen Mobilitat und Fruchtbarkeit.^^^ Auch wenn ein "unmittelbarer Zusammenhang zwischen Mobilitat und Fruchtbarkeit der wandemden Personen nicht eindeutig" sei, empfehle es "sich zu unterscheiden zwischen den Wirkungen der Mobilitat und den Wirkungen der Wanderung. Jene (seien) allerdings in vielen Hinsichten ein Spezialfall von den letzteren."^^^ Heberle argumentierte gegen die simple Formel, dass eine Sperre der Abwanderung vom Land die Fortpflanzungsrate der Gesamtbevolkerung automatisch hebe. Vielmehr seien die "Erwerbsgelegenheiten" in der Stadt giinstiger; die Moglichkeit, eine Familie zu griinden, dort mindestens ebenso wie auf dem Land gegeben. Die Stadtwanderung erschien bei ihm an dieser Stelle jedoch nicht als zusatzliche Option landlicher Bevolkerungsgruppen, das Leben in die eigenen Hande zu nehmen, sondem als notwendiges Element volkswirtschaftlicher Rationalisierung. Es gelte, die "auf dem Lande iiberzahligen Menschen" an den "volkswirtschaftlich giinstigsten Punkten" einzusetzen. Der iiberschtissige Nachwuchs aus der Landbevolkerung hatte zur Mehrung des Sozialprodukts beizutragen, "anstatt im wesentlichen als betriebswirtschaftlich tiberflussige Esser auf dem elterlichen Hofe mit durchgefiittert zu werden."^^^ Andererseits hob er im direkten Anschluss aber auch hervor: "Volkspolitisch bedenklich wird die Binnenwanderung aber dann, wenn der Nachwuchs der landlichen Bevolkerung nicht mehr zur Besetzung aller Arbeitsstellen (Produktionsplatze) auf dem Lande ausreicht, und dennoch die Dauerabwanderung - infolge fortbestehender wirtschaftlicher und sozialer Gefalle - weiterlauft (Landflucht i. e. S.)-"^^^
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Heberle, Meyer 1937:52f Vgl. Heberle 1937b. Vgl. Heberle, Meyer 1937:53ff. Heberle, Meyer 1937:53. Heberle, Meyer 1937:58. Heberle bediente sich mit der Redewendung von den 'iiberflussigen Essem' des Sprachgebrauchs der LTI in der Bevolkerungsokonomie des NS-Staates: vgl. zur Diskussion Aly/Heim 1991:102flf. Heberle, Meyer 1937:58.
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Auf die damals '"vielumstrittene" Frage, ob der groBstadtische "Bevolkerungsbestand" bedroht sei, gingen Heberle/Meyer^^^ - mangels empirischer Daten - lediglich am Rande ein. Sie unterschieden in diesem Zusammenhang zwischen den seit dem Mittelalter in den Stadten ansassigen Gruppen (Familien), zu jenen, die vor allem in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts zuwanderten. Im (1) "Willen zum sozialen Aufstieg"^^"^, in den (2) Unsicherheiten der Einkommensgestaltung sowie (3) schlieBlich in der prekaren sozialen Stellung sahen die Autoren die Hauptursachen moglicher Geburtenbeschrankung.^^^ Die Tatsache eines Geburtenriickgangs interpretierten die Kieler Bevolkerungswissenschaftler generell jedoch zugunsten eines okonomisch sinnvollen Gewinns an 'mobilen' Schichten, denn man habe "stets mit dem Vorhandensein mobiler, ftir die Fortpflanzung ganz oder in erheblichem MaBe zeitweilig oder dauemd ausfallenden Volksteile zu rechnen."^^^ SchlieBlich wurde unter der Uberschrift "Auslese und Anpassung der GroBstadtbevolkerung" dann doch die Frage verhandelt, "ob und in welchem Sinne durch die Wanderung vom Lande in die Stadte eine Auslese" zu verzeichnen gewesen sei - die Frage nach einer durch Wanderung bewirkten Selektion zahlte fur Heberle "zu den umstrittensten Problemen derBevolkerungswissenschaft."^^^ Nach einer knappen Darstellung der Auseinandersetzungen um eine durch Wanderung bedingte 'Auslese'^^^, bemangelte Rudolf Heberle die fehlende Beriicksichtigung soziologischer Argumente in der Debatte: "Die berufliche und soziale Zusammensetzung der aus einem bestimmten Gebiet in eine GroBstadt Zugewanderten hangt in erster Linie von der wirtschaftlichen und sozialen Struktur des Abwanderungsgebietes ab. Die groBe Masse der vom Lande in die Stadte Ziehenden erscheint jedoch stets in der Stadt als Arbeiter'. Diese Tatsache laBt aber keinen RiickschluB auf die Erbanlagen der Abgewanderten zu."^^^ Heberle zeigte damit vor allem, dass die Debatte von einer ausgesprochenen oder stillschweigend gesetzten Gleichung zwischen "sozialer Stellung" und Erbwertigkeit beherrscht wurde, ohne dass die Beteiligten Hygieniker, Mediziner und Anthropologen fur die Prozesse sozialer Stratifikation angemessene Kategorien bereit stellen konnten. Etwa fur eine soziale Differenzierung innerhalb 'unterer sozialer Schichten'. Explizit wandte sich Heberle deshalb ^•^
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Da der zweite Teil der Studie, die Vorstellung der empirischen Ergebnisse (ab 67) von Fritz Meyer bearbeitet wurde, sind strenggenommen alle nachfolgend aufgeflihrten Zitate der hoheren Seitenzahlen Meyer zuzuschreiben. Doch sind weder inhaltlich noch stilistische Bruche zu erkennen, so dass hier davon ausgegangen wird, dass Heberle und Meyer gemeinsam fur alle Telle verantwortlich zeichneten. Vgl. dazu Heberle, Meyer 1937:70f. Vgl. dazu auch Heberle 1937a. Heberle, Meyer 1937:60. Heberle, Meyer 1937:60. In kurzen Stichworten hier die seit der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts verbreitete Deutung: Die Zuwanderung ziehe einerseits 'intelligente', 'tatkraftige', 'fleiBige' Gruppen und andererseits sich dazu spiegelbildlich verhaltende Schichten an: "Wahrend nun der Strom der Hochwertigen in die mittleren und oberen Schichten der stadtischen Bevolkerung einmiinde und infolge unzulanglicher Fortpflanzung versickere, erganze sich aus dem Strome der Minderwertigen die unterste Schicht der Arbeiterschaft, die nun dank ihrer starken Vermehrungstendenz die ktinftige Zusammensetzung der grofistadtischen Bevolkerung zu bestimmen drohe. Gleichzeitig wird eine allmahliche Auslaugung der hochwertigen Sippen der Landbevolkerung angenommen." (Heberle, Meyer 1937:61). Heberle wies an gleicher Stelle auch auf die Argumente der Kritiker (unklare Wertbegriffe, keine empirischen Daten) hin. Heberle, Meyer 1937:60.
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auch dagegen, wie auch immer messbare 'Begabung' und 'Intelligenz' zu einem Mobilitatskriterium^^^ zu erheben - stattdessen wurden die "wirtschaftlichen und sozialen Zustande am Abwanderungsort" in ihrer 'auslesenden' Wirkung thematisiert. SchlieBlich schwache - und Heberle hielt sich dieses Argument als bisher unbeachtetes Argument in der Debatte um die 'Auslese' zugute - eine zur "sozialen Gewohnheit" werdende Migration ihre auslesende Wirkung.^^^ Er war hier also eher der soziologische Rahmen und nicht die unterstellten personlichen Qualitaten, die Heberle interessierten. Mobilitat sollte nicht als individuelle (Rasse)Eigenschaft, sondern als eine soziale Aktivitat untersucht werden. Deutlich wurde das auch in dem 1936 erschienen Aufsatz tiber "Die Bedeutung der Wanderungen im sozialen Lebender Volker": "Uber die charakterlichen und intellektuellen Eigenschaften - mogen sie erblich sein oder nicht der abwandemden Individuen laBt sich also selbst bei Kenntnis vieler bedingender Umstande wenig Eindeutiges aussagen. Wohl aber lassen sich gewisse, soziologisch wichtige Richtungen der Auslese vermuten. Der EntschluB zum dauemden Verlassen der Heimat wird um so leichter gefaBt werden, je geringer die subjektive seelische Gebundenheit an Familie, Sippe, Nachbarschaft und alle sonstigen Gemeinschaftsbildungen ist. (...) Die massenhafte und dauemde Abwanderung setzt offenbar bereits eine beginnende Auflockerung der Gemeinschaftsbildungen in der Heimat voraus. (...) Die abwandemden Individuen werden sich im allgemeinen durch eine mehr 'gesellschaftlich-kiirwillige' Haltung von den mehr gemeinschaftlich gebundenen, wesenwillig eingestellten SeBhaftbleibenden unterscheiden. Das setzt aber voraus, daB die Abwanderung fiir die Bewohner des in Rede stehenden Gebietes noch nicht zu einer sozialen Gewohnheit geworden ist. Sobald die Pionierzeit eines Auswanderungsstromes voriiber ist, fallen die Voraussetzungen dieser sozialpsychologischen Auslese fort. Sind namlich erst einmal eine Anzahl Individuen aus einem bestimmten Gebiet abgewandert, so veranlassen sie durch ihre Mitteilungen, auch durch direkte Aufforderung, andere Verwandte und Bekannte zum Nachziehen, fmanzieren auch wohl ihre Reise oder helfen ihnen bei der ersten Arbeitssuche. Dadurch verlieren Aus- und Abwanderung fiir die spateren Wanderer viel von dem anfanglichen Schrecken und Risiko - ja, sie wird flir junge Leute in manchen Gebieten zu einer selbstverstandlichen Erscheinung."^^^ Das Mobilitatsverhalten schien nicht zuletzt schichten- und berufsgruppenbezogen zu differieren. Rudolf Heberle und Fritz Meyer wiesen deshalb bei der Vorstellung der empirischen Resultate darauf hin, "daB die Mobilitat in Richtung von den unqualifizierten und von den unselbstandigen Berufspersonen zu den Qualifizierten und den Selbststandigen hin stark abnimmt."^^^ Der Darstellung schicht- und berufsgruppenbezogener Mobilitdtstypen w^urde in diesem Abschnitt der Studie generell viel Platz eingeraumt. Die Frage nach einer 'Auslese' wurde damit in spezifischer, nicht-naturalistischer Weise verbunden. Ein Beispiel: Im allgemeinen sei die "soziale Struktur der Gewanderten aus einer Herkunftszone an einem Ort im wesentlichen ein Abbild der heimischen Sozialstruktur. Wer sich aber unter gleichen Ausgangsbedingungen im sozialen Aufstieg durchsetzen will, wird weit weniger Beharrungsvermogen haben miissen und, weil er auch im ubrigen sicherlich rationaler denkt, ein mobi-
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Die Arbeiten von K.V. Miiller, der eben dies tat, fanden zwar Beriicksichtigung, sie wurden aber in ihrer Ambivalenz dargestellt. Auch K.V. Miiller woilte den "sozialerblichen" Wert einer Bevolkerungsgruppe nicht an dem aktuellen 'sozialen Stande', in dem sich eine Bevolkerungsgruppe befmdet, festmachen. Vgl. Heberle, Meyer 1937:64. Heberle 1936b: 172f Heberle, Meyer 1937:123.
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lerer Typus sein/'^^"^ Eine zu hohe Mobilitat - so Heberle - wirke allerdings okonomisch wie sozial kontraproduktiv: "Ein zu haufiger Ortswechsel der Einzelnen bedeutet aber Verschwendung von Geld und Kraften, und ein zu groBer Bevolkerungsumsatz ist fiir ein Gemeinwesen von Nachteil. Denn eine sehr hohe UnseBhaftigkeit oder Mobilitat eines groBen Teils der arbeitenden Bevolkerung ist mit Storungen des Gemeinschaftslebens verbunden, die zwar noch nicht systematisch untersucht, aber deswegen nicht unbedenklicher sind."^^^ Obwohl der Kieler Bevolkerungswissenschaftler der Auslese- und Siebungsthese - wenn sie biologistisch benutzt wurde - kritisch gegeniiberstand, betonte er jedoch, dass die durch die 'rationale' Organisation der Gesellschaft bewirkte Bevorzugung eines 'rechenhaften Typus' das soziale Ideal einer Gesellschaft nachhaltig verschieben konnte. In Heberles Augen bedeuteten nicht 'hoherwertige' oder 'minderwertige' Erbeigenschaften eine Gefahr flir die (zukiinftige) gesellschaftliche Organisation, sondem die (kapitalistische) Form der Organisation der Gesellschaft selbst stellte diese Gefahr dar. Sie begunstigte eine einseitige Auswahl tendenziell anti-sozialer Fahigkeiten. Hier sah er wohl auch politischen Handlungsbedarf; und so formulierte er kurz vor seiner Emigration: "In einem Punkte allerdings diirfen Auslese, Siebung und Anpassung durch Land-Stadt-Wanderung zu einem eindeutigen Ergebnis zusammenwirken: am leichtesten werden auf den 'Zug' der groBstadtischen Arbeitsmarkte diejenigen Individuen reagieren, die, wie wir eingangs sagten, in ihrer heimischen Gemeinschaft 'locker sitzen', insbesondere Menschen, die sich durch eine gewisse sachliche Kiihle im Verhaltnis zu ihren Mitmenschen auszeichnen. Dieselben Typen werden sich im allgemeinen auch im verscharften Konkurrenzkampf groBstadtischen Lebens am erfolgreichsten durchsetzen; es sind vor allem die zielstrebigen, berechnenden Typen, bzw. Menschen, bei denen das Leben in der GroBstadt diese Eigenschaften zur Entfaltung bringt, nicht die gefuhlsbetonten, impulsiveren und naiveren Naturen, welche in den GroBstadten wirtschaftlichen und sozialen Erfolg haben und dadurch flir die groBe Masse das Vorbild setzen. Wenn dieses Vorbild zum anerkannten sozialen Ideal wird und durch die Riickwanderung oder Gegenwanderung auf dem Lande Verbreitung findet, kann auf diese Weise die Zunahme der groBstadtischen Bevolkerung tiefgreifende Wandlungen im Charakter eines Volkes hervorrufen, Wandlungen, die weder der Gemeinschaftsordnung des Zusammenlebens an sich giinstig sind, noch eine Fortdauer schopferischer Kultur gewahrleisten und die durch eine neue Idee der Gemeinschaft wieder ausgeglichen werden miissen."^^^ Die quantitative Bevolkerungsentwicklung stand fiir Heberle immer in einem engen Zusammenhang mit sozialer Kontrolle. Die Ursache des Geburtenriickgangs erblickte er in der (unter veranderten Bedingungen fortwirkenden) Einhaltung von Konventionen, mittels der sich soziale Schichten untereinander differenzieren. Unter kapitalistischen Verhaltnissen wiirden die alten Konventionsregeln beibehalten bzw. so modifiziert, dass nun die negativen Auswirkungen auf alle Gesellschaftsmitglieder (z.B. durch eine negative Geburtenentwicklung) uberwiegen wiirden. Besonders betroffen seien davon unterere und mittlere Sozialschichten, weil diese nun zunehmend in 'gesellschaftliche', also moderne Verhaltnisse, mit anderen 624 625 626
Heberle, Meyer 1937:129. Heberle 1937b:346. Heberle, Meyer 1937:65f.
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"Spielregeln" eintreten wtirden. Die Effekte auf die Geburtenentwicklung seien allein schon deshalb grofi, weil nun wesentlich groBere Bevolkerungsteile ihr Verhalten entsprechend anpassen miissten. Diese Einschatzung soil hier noch etwas genauer durch folgende Zitate illustriert werden: "Die Starke der Fortpflanzung ist also, indem sie von dem menschlichen Willen abhangt, wesentlich mitbedingt durch die Gesamtheit der Lebensumstande insbesondere durch die Ordnung des Zusammenlebens. Je vielfaltiger eine menschliche Gemeinschaft gegliedert und geschichtet ist, um so mannigfaltiger sind auch die Tatsachen, welche zur Beschrankung des Nachwuchses Anlai3 geben konnen. Es ist deshalb nicht angangig, in der Art naturwissenschaftlichen Denkens, nach einer einzigen und letzten Ursache des Geburtenruckganges zu suchen, wie es z.B. die Wohlstandstheorie tat."^^? "Wir werden nun im folgenden zeigen, daB mit der Ausbildung der industrie-kapitalistischen Wirtschaft g a n z n e u e S c h i c h t e n entstanden sind, deren Lebenslage gekennzeichnet ist durch Herabminderung der Bedeutung der Familie als Lebensvollzugsgemeinschaft, durch unzulangliche Anpassung des Einkommens an den - gesellschaftlich geregelten - Bedarf einer wachsenden Familie und durch Unsicherheit des Einkommensbezuges uberhaupt."^^^ "Die Beweggrunde flir die Beschrankung des Nachwuchses konnen in diesen Schichten nicht dieselben sein wie im Bauemtum oder in den oberen Schichten des Burgertums, denn sie haben kein Grund- oder Kapitalvermogen, auf dessen Zusammenhaltung in wenigen Handen sie Wert legen konnten."^^^ "Weshalb haben nun die durch Geburtenbeschrankung kinderarmen oder kinderlosen Ehepaare nicht auf diese oder jene Bestandteile ihrer Lebenshaltung verzichtet, um dadurch die Aufzucht einer hinreichend groBen Kinderzahl zu ermoglichen? Die Erklarung liegt zunachst darin, daB die Lebenshaltung eine durch soziale Konvention festgelegte GroBe ist, die der Einzelne nicht willkurlich andem kann, ohne sich selbst, seine Angehorigen und Nachkommen sowie seine Berufsgenossen der gesellschaftlichen MiBbilligung auszusetzen. Es ist aber nicht treffend, diese schichtmaBige Vereinheitlichung der materiellen Lebenshaltung als eine AuBerung des 'Individualismus' zu deuten. Im Gegenteil: die Verbrauchskonventionen der burgerlichen Gesellschaft erhalten ihre zwingende Kraft erst durch die 'Vermassung', d.h. durch die Auflosung gemeinschaftsmaBiger sozialer Verbundenheiten und Ersatz derselben durch gesellschaftsmaBige Bindungen, in denen viel mehr Gewicht auf das auBerlich wahmehmbare Verhalten gelegt wird. Wenn heute in Deutschland schon Anfange einer Wandlung zu bemerken sind, so wird doch in dem hier betrachteten Entwicklungsabschnitt die 'Lebenshaltung' fur jede soziale Schicht von den kaufkraftigsten Einkommenslagen innerhalb derselben her bestimmt, die sich wiederum an dem Beispiel der nachsthoheren sozialen Schicht ausrichten. Und zwar unterscheiden sich die verschiedenen sozialen Lebenshaltungsniveaus hauptsachlich durch die Hohe der Aufwendungen fiir Wohnung, Kleidung und Berufsausbildung."^^^
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Heberle 1937a:2f Heberle 1937a:4. Heberle 1937a: 12. Heberle 1937a: 17.
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"Der Zwang dieser Konvention ist um so starker geworden, je mehr die Schichtung nach Einkommens- und Vermogenshohe sich gegeniiber den alten standischen Gliederungen durchgesetzt hat, und je mehr die Bevolkerung entwurzelt und beweglich geworden ist. Er war zunachst am starksten in groBeren Stadten, dann allmahlich auch in den kleineren, iiberall wo in sehr beweglichen Volkskreisen der Einzelne seine soziale Geltung nur nach seinem Verhalten und Erscheinen, nicht nach dem Ansehen seiner Familie, wie in Dorf und standisch geordneter Kleinstadt bei seBhafter Bevolkerung, empfangt. Da nun die RichtmaBe der Lebenshaltung in der kapitalistischen Gesellschaft von den im gesellschaftlichen und beruflichen Verkehr benachbarten nachsthoheren Schichten her bestimmt werden, wird etwa ein fur seine soziale Schicht gering bezahlter kaufmannischer Angestellter verhaltnismaBig mehr representative Aufwendungen zu machen haben, wenn er seine Arbeitsstelle und sein soziales Ansehen wahren will, als ein verhaltnismaBig gut bezahlter Fabrikarbeiter. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Kleidung als auch der Wohnung. Wer sich durch keine Standeskonvention zu reprasentativen Aufwendungen in der taglichen Kleidung genotigt sieht, kann sich schwer vorstellen, wie stark die soziale Notigung in jenen Schichten ist."^^^ In dieser Deutlichkeit hat Heberle die 'soziale Frage' in der Bevolkerungsfrage spater nie wieder thematisiert. Angesichts der von Heberle hier offensiv vertretenen sozialpolitischen Positionen lasst sich schon fragen, ob nicht auch ein mit Fakten und Argumenten gestutzter Antikapitalismus - und nicht allein, W\Q Heberle im Rtickblick selbst meinte, der fehlende 'Bluts'-Gedanke und ein bei passender Gelegenheit negativ ins Gewicht fallender jiidischer UrgroBvater^^^ ihn ins Abseits des NS-Staates fuhrte. Dabei ist zu beriicksichtigen, dass sich Heberles Positionen signifikant von den Ansichten der nationalsozialistischen 'Kritik' am Kapitalismus unterschieden. Ein Beispiel fur diesen Denkstil bietet hier gerade Gerhard Mackenroth. In seiner Schrift die "Grundztige planmaBiger Wirtschaftsgestaltung in Deutschland" (1934) setzte der frischgebackene Nationalsozialist allein auf die von Argumenten freigehaltenen Phrasen der Parteifuhrung ("Profitmachen ist ein unmoralisches Motiv", "Gemeinnutz geht vor Eigennutz", Wandel der Wirtschaftsgesinnung, "nur wer durch Arbeit Werte schafft, soil Werte zu verzehren haben", kapitalistische Regellosigkeit usw.)^^^, um kapitalistische Okonomien lediglich zu denunzieren. Anlass fiir den Entzug der Lehrerlaubnis ftir Heberle war auf jeden Fall eine personliche Denunziation eines Studenten, der angab, Heberle hatte in seinen Vorlesungen Ausdrucke wie "Bourgeoisie" oder "Proletariat" gebraucht. Inkriminiert wurde jedoch nicht seine Wortwahl, sondem sein methodischer Ansatz im Ganzen. In einem Brief an die Redaktion des "Archivs fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" (namentlich Elisabeth Pfeil) berichtete Heberle, dass Rektor Dahm^^"* (Brief vom 1. Dezember 1936 an Heberle) in seiner Methode "eine letzten Endes marxistische Haltung" erkannt haben wollte.^^^ Offensichtlich wurden seine im Kern unveranderten Arbeiten - bis zum Start des Vierjahresplans - eben gerade nicht in dieser Weise ausgelegt. Als sich dies anderte, mag auch die 631 632
Heberle 1937a:19. Zur Darstellung der Auseinandersetzungen u m Heberles Abstammung: vgl. WaBner 1995:115fF.
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Vgl. Mackenroth 1934 (= Referat, gehalten auf der Okonomischen Konferenz des Weltstudentenwerks in Cambridge v o m 24. Bis 28. Marz 1934). Dieser Jurist sollte 1937 von einem weiteren Juristen, Paul Ritterbusch, als Rektor der Kieler Universitat abgelost werden. Zur Rolle Ritterbusch in der nationalsozialistischen Raumforschung, vgl. Gutberger 2l999:152ff.
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Vgl. dazu diese und weitere Quellen in WaBner 1995:111 ff.
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Furcht eine Rolle gespielt haben, dass mit dem Beginn der Kriegsokonomie besonders von den proletarisierten Gruppen im Prinzip hatte durchschaut werden konnen, dass die 'Gemeinschaft' (KDF, Film, Olympiade u.a.) bei den unterschiedlichen Arbeitsbedingungen, den Lohnen und dem Zugang zur Bildung doch wieder rasch aufhorte und an den "Arbeitswillen" und die Leistungshergabe fiir das Vaterland appelliert wurde. Trotz der enormen Wirkung, trotz des unbestreitbaren Sex-Appeals des NS-Staates fur alle gesellschaftlichen Gruppen: Die inszenierte Gemeinschaft und das Versprechen solidarischer sozialer Beziehungen stellen - bei genauerer Betrachtung - einen Widerspruch jeder Massengesellschaft dar, ist doch das durch die Identifikation mit dem 'Fiihrer', der "Bewegung", "dem GroBdeutschen Reich" gewahrleistete Massenerlebnis nur um den Preis weiterer Entsolidarisierung und durch den Entzug tatsachlicher Nahe in den sozialen Beziehungen im realen Leben zu haben.^3^ Heberle war in seinen Arbeiten nicht weit von der Aufdeckung dieser Widerspriiche entfemt. Um seine Erkenntnisse wie andere Soziologen (s. Andreas Walther, Otto Ohlendorf u.a.) dem NS-Staat geradezu zu FiiBen zu legen, lieB er sich - nicht zuletzt bedingt durch die lockende Alternative Amerika - wiederum jedoch zu wenig in die entstehenden Forschungsgruppen^^"^ (Volksdeutsche Forschungsgemeinschaften; Raumforschung; Awl) in Deutschland einbinden. Elisabeth Pfeil antwortete auf jedem Fall dem Kieler Bevolkemngswissenschaftler in einem freundschaftlichen Ton: "Woriiber regt man sich denn auf, iiber die Schrift selbst?"^^^ Doch Heberle korrespondierte auch mit den Herausgebem des "Archivs fiir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik". Walter Gross und Falk Ruttke gingen deutlich auf Distanz zu Heberle: "Sehr geehrter Herr Doktor, wenn wir uns entschlossen, trotz gewisser Bedenken im Einzelnen, Ihre Arbeiten in unsere Zeitschrift und in die Beiheftreihe aufzunehmen, so geschah es weil wir in ihnen fruchtbare Beitrage zur wissenschaftlichen Erorterung der Fragen Auslandsvolkstum' und 'Geburtenriickgang' sahen. DaB in beiden Fallen das Problem von Ihnen nicht in seiner ganzen Breite sondem nur unter soziologischer Fragestellung behandelt wurde, haben Sie selbst betont. Wir sehen in der Einseitigkeit der Ausgangsstellung keinen Mangel, sofem nur die Ausrichtung auf das ganze gewahrt ist und solange sich die soziologische Fragestellung als eine nur teilhafte bekennt. Beides ist in Ihren Arbeiten der Fall. Wir sind daher der Meinung, daB sie, zusammen mit andem Arbeiten, die die Probleme von andrer Seite her angreifen, zur Erkenntnis der Lebensvorgange im Volkskorper dienen. Heil Hitler! Fiir die Herausgeber gez. Gross, Ruttke"^^^ Hier war von Soziologie, nicht aber von einer marxistischen Tendenz die Rede. Folgen wir der Frage, ob Heberles Schriften nicht auch wegen eines ausgewiesenen Antikapitalismus mehr und mehr unter Beschuss gerieten, so bot der Artikel uber "Wirtschaftliche und gesellschaftliche Ursachen des Geburtenriickgangs" sicherlich mehr Anlass den Daumen zu sen-
^^^ ^^^
Ob daraus Formen des Widerstands oder der Renitenz folgen, steht freilich auf einem anderen Blatt. So kannte Rudolf Heberle natiirlich die Kreise um das "Handworterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtum" und zitierte auch aus ihren Arbeiten. Heberle bezog sich positiv auf den Sprachinselforscher Walter Kuhn, der eine "soziologisch-kulturwissenschaftliche Theorie" entwickelt hatte (vgl. Heberle 1936a:5).
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WaBner 1995:114. Vgl. die Wiedergabe der Quelle in WaBner 1995:114 (Ruttke war Mitunterzeichner dieses Briefes; Hinweis von Carsten Klingemann an den Verfasser).
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ken als seine in dieser Beziehung nicht zu beanstandende Studie liber die Auslandsdeutschen. Heberle stellte gleichsam nach wie vor die langst abgehakte "Systemfrage" nach einer (nicht marxistischen, aber doch) antikapitalistischen Form des Zusammenlehens der sozialen Schichten. Dabei erschien ihm nicht das "Gemeinschaftsleben" selbst, wohl aber die Form der vertikalen Stratifikation in einer Gesellschaft neu organisierbar: und zwar vor allem durch eine rigide Verbrauchs- und Arbeitskraftelenkung. Die nationalsozialistischen Machthaber hingegen beforderten derartige LenkungsmaBnahmen bekanntlich in erster Linie zum Zwecke des Machterhalts, der raumlichen Expansion und der Forderung der Kriegsokonomie. Gerade vor diesem Hintergrund sei noch einmal auf den zweiten Kieler Bevolkerungssoziologen und sein Verhaltnis zu Heberle kurz eingegangen: Gerhard Mackenroth, von dem wir gesehen haben, wie er um 1933/34 dachte, kam in Heberles Riickblick auf sein wissenschaftliches Leben erstaunlicherweise so gut wie gar nicht vor. Zwar berichtete Heberle, dass er zusammen mit Gerhard Mackenroth 1936 eine Vorlesung iiber "Bevolkerung und Bevolkerungspolitik" hielt, doch erwahnte er Mackenroth ansonsten nur in seiner RoUe als untersttitzender Heifer wahrend des Entlassungsverfahrens. Der 1976 fur Mackenroth ausgestellte Persilschein ("aus romantischer Veranlagung schon fruh in die NSDAP eingetreten"^'*^) diente offenbar nicht zuletzt der Tabuisierung und Verdrangung der eigenen, doch sehr ambivalenten Rolle; und er verhinderte eine kritische Auseinandersetzung mit den Methoden in den Untersuchungsansatzen nach 1933. Die von Heberle in diesem Aufsatz zu seinen "Soziologische(n) Lehr- und Wanderjahre(n)" gewahlte Form der (rein personlichen) Thematisierung der "Bevolkerungssoziologie" im NS-Staat verhinderte dariiber zu reflektieren, ob und in wieweit die eigenen sozialen Ordnungsvorstellungen nicht doch etwas mit der Praxis der Bevolkerungssortierung im NS-Staat zu tun gehabt haben konnten - vielleicht gerade, weil er sich Mitte der dreiBiger Jahre mit seiner sozialwissenschaftlichen Bevolkerungswissenschaft im intemationalen Trend befand. Als Heberle bereits in Baton Rouge in der Emigration weilte, schob er noch einen Artikel im "Deutschen Statistischen Zentralblatt" (Mitherausgeber: Friedrich Burgdorfer) nach. Doch der befasste sich - ganz im Geist der Zeit - nur noch mit Verfahrensfragen. So als gabe es ein stillschweigendes Abkommen, die Ziele bevolkerungspolitischer MaBnahmen aus dem Diskurs im intemationalen Wissenschaftsbereich nun herauszuhalten. Heberle lobte "das neue hollandische System der Personal- und Familienkarten", dass es gestatte, "die Individuen und Familien auf ihren Wanderungen zu verfolgen und anderseits an jedem Orte und zu jeder Zeit einen Querschnitt durch die Bevolkerung zu legen und ihre Herkunft und Mobilitat festzustellen."^"^^ Und dann setzte er dieses System in Beziehung zu vergleichbaren Arbeiten in Schweden: "Die Karten konnen grundsatzlich alle objektiven, statistisch eindeutig erfaBbaren Angaben, welche flir die Wanderungsforschung benotigt werden, aufnehmen. - Das schwedische System unterscheidet sich nicht grundsatzlich von dem hoUandischen; es gestattet wenn das Urmaterial benutzt werden kann, eine ebenso weitgehende Aufgliederung der Wanderungsfalle in einer Ge640 641
Vgl. Heberle 1976:209. Heberle 1938:7f. Heberle verwies hier auf H.W. Methorst / J.L. Lentz: Die Volksregistrierung und das neue in den Niederlanden eingefiihrte einheidiche System, in: "Allgemeines Statistisches Archiv" (1936), 26.Bd., 5984.
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Denkstile meinde. Es erlaubt auch die Ausgliederung derjenigen Individuen, die in einem bestimmten Zeitraum wiederholt an einem Orte zu- und abwandem. In einem Punkte ist das hollandische System tiberlegen. Es gestattet, auf sehr einfache Weise die gesamten Wanderungen im Laufe des Lebens eines bestimmten Individuums zu verfolgen, wahrend dies bei dem schwedischen System technisch erheblich schwieriger ist."^'^^
Im Folgenden beschrieb er die "Leistungsmoglichkeiten des deutschen Systems", wobei er aber eher auf dessen Defizite hinwies, denn "diese Angaben^^^ pflegen bisher nicht so bestimmt und zuverlassig zu sein, dass sie eine sehr weitgehende Analyse der Berufsgliederung der Wandemden zulieBen, aber in Zukunft konnten die Arbeitsbiicher eine Kontrollmoglichkeit bieten, wenn diese bei der Anmeldung vorgelegt werden muBten."^"*^ Im Unterschied zum hollandischen System konne mit dem deutschen System auch (raumliche) Mobilitat deshalb nicht gemessen werden, weil diesbeztigliche Individualangaben noch nicht beriicksichtigt worden waren. Dass Heberle sich nun ausgerechnet von den NS-Arbeitsbtichem Abhilfe versprach, zeigt nur, wie selbstverstandlich burgerliche Zivilrechte auch von integren Forschern dann zur Disposition gestellt wurden, wenn diese der 'Modernisierung' statistischer Systematik im Wege standen. Der statistische Blick gait ja auch nicht den Angehorigen der eigenen sozialen Gruppe, sondem der Berufslenkung der Arbeiter. Es hatte sich sehr deutlich gezeigt, dass "gewisse Arbeitergruppen erheblich mobiler sind als andere. Insofem diirfte also unter Gesichtspunkten des Arbeitseinsatzes ein Interesse an der Bereitstellung des statistischen Materials fiir die Berechnung von Mobilitatskennziffem bestehen."^"*^ Der Artikel zum "Auslandvolkstum",^^^ der nach Heberles Zeugnissen zu seiner Emigration fiihrte, verkniipfte noch einmal die Mobilitats- mit der (quantitativen) Bevolkerungsfrage. Seine Einschatzungen betrafen mittelbar auch eine pronatalistische Politik. Die Bedingungen fur ein (ethnisch homogenes) Bevolkerungswachstum und die Bedingungen fiir die Prozesse sozialen Aufstiegs lagen bei Heberle jedoch gewissermaBen quer zueinander. Nicht nur raumlich gesehen kamen fiir Heberle "die beweglichen Bestandteile fiir die Fortpflanzung weniger in Betracht (...) als die Sesshaften."^'^'^ Andererseits war es fiir Heberle gerade die fiir eine Volksgruppe je spezifische soziale Schichtung, die ihren Zusammenhalt und ihren zahlenmaBigen Bestand gewahrleistete. Sowohl den Zusammenhalt als auch den Bestand gait es zu verteidigen. "Volksgruppen" traten fur ihn nicht aufgrund ethnischer, sprachlicher oder 'rassischer' Eigenschaften in Auseinandersetzungen mit 'fremden' Umwelten, sondem aufgrund ihrer (iiberlegenen oder unterlegenen) Formen der sozialen Organisation: "Selbst in den wenigen Fallen, wo in den Vereinigten Staaten GroBstadte ihr Geprage zeitweise im wesentHchen durch eine Volksgruppe, wie Milwaukee durch die Deutschen, erhielten, hat der
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Heberle 1938:8. Gemeint waren hier Daten (iber den Wohnort, (raumliche) Mobilitat, Beruf und Stellung im Beruf. Heberle 1938:9. Heberle 1938:12. Vgl. Heberle 1936a. Die Untersuchung wurde von Franz Sigl, ein Mitarbeiter von Karl C. Thalheim in Leipzig, im "Weltwirtschaftlichen Archiv" von 1939 (Bd. 50, II, 152-155) rezensiert (vgl. zur Rolle Sigls in der empirischen Sozialstrukturforschung Gutberger ^1999:448ff.). Vgl. Heberle 1 9 3 6 a : l l .
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Zustrom anderer Gruppen und der soziale Aufstieg die Angleichung beschleunigt. Es ist eben in einer GroBstadt sehr viel schwieriger, eine Volksgruppe mit vielfacher sozialer Schichtung beisammenzuhalten als in der raumlichen Enge einer kleinen oder mittleren Stadt, wo die personlichen und beruflichen Beziehungen leichter von einer sozialen Schicht in die andere ubergreifen. Schon das regelmaBige Fortziehen der wohlhabend gewordenen Familien aus der ursprlinglichen Wohngegend der Einwanderer in entfemtere Stadtteile bedeutet eine Schwachung der Gruppe. Der Zusammenhang durch die Kirchen, durch Vereine und nachbarliche Geselligkeit leidet darunter, selbst dann, wenn die Bewohner der Kolonie 'zweiten Grades' noch die Fuhlung mit den im ursprlinglichen Einwandererviertel verbliebenen Landsleuten aufrechtzuerhalten suchen. Zu der raumlichen Trennung tritt die soziale, klassenmaBige Unterscheidung. Die neue Wohngegend wird in der Kegel auch nicht mehr ethnisch gleichartig sein, sondem eine starke Beimischung fremder Volksgruppen aufweisen."^"^^ "Deshalb hangt die kulturelle Widerstandsfahigkeit einer Auslandvolksgruppe wiederum von ihrer sozialen Schichtung ab. Je vollkommener die Auslandvolksgruppe in ihrem sozialen Aufbau, sei es durch Herausstellung einer Oberschicht aus eigenem Bestande, sei es durch standigen Nachschub aus der Heimat, um so groBer die Aussicht auf Erhaltung - ceteris paribusl"^"^^ "Die deutschen Volksgruppen in Osteuropa haben sich zum Teil deswegen so gut erhalten, well sie - zumal in den landlichen Siedlungsgebieten - eine organische soziale Schichtung herausgebildet haben. In andem Fallen beobachten wir, wie sowohl das Fehlen einer eigenen Oberschicht (Litauen) als auch die Heranziehung von Arbeitskraften aus anderen Volkem (Baltikum, Banat) zu einer Gefahr fiir die Volksgruppe geworden sind. Eine bruchstiickhaft aufgebaute Volksgruppe wird regelmaBig nur in landlichen Siedlungen sich auf die Dauer erhalten konnen. In Stadten und namentlich in GroBstadten wird sie verhaltnismaBig schnell aufgesogen werden, also bei starker Nachwanderung sich zwar zahlenmaBig halten konnen, aber nur auf Grund eines sehr hohen Umsatzes im Personalbestand. Denn gesetzt, es handle sich um eine vorwiegend aus Arbeitem und Handwerkem bestehende Gruppe, so wird der soziale Aufstieg - das immer erstrebte Ziel - zur Entvolkung fuhren; oder es handle sich um Individuen, die im wesentlichen der Oberschicht angehoren, so ist wiederum keine geniigend breite Erwerbsgrundlage in der eigenen Volksgruppe vorhanden, nicht genug Kunden fiir die Handler, nicht genug Heilbediirftige fur die Arzte, nicht genug Kinder fiir die Schulen usw., so daB jeder, der einen groBeren Tatigkeitsbereich sucht, genotigt ist, in engere Beziehungen zu anderen 'Volksgruppen' oder zum Staatsvolk zu treten."^^^ Heberle beschrieb das Verhaltnis zwischen den "Volksgruppen", analog zu den innergesellschaftlichen Schichtungen, als ein Verhaltnis unterschiedlicher sozialer "Range". Er nutzte damit eine aus der Schichtungsforschung stammende und zur Beschreibung sozialer Stratifikation gedachte Kategorie auch zur Deutung kultureller und zivilisatorischer Verhaltnisse. Zudem begleiteten fur Heberle soziale Auf- und Abstiege der Einzelnen nicht nur Assimilations- und Dissimilationsprozesse, sie bildeten vielmehr den Kern dieser Vorgange. Berufserfolg, soziale und horizontale Mobilitat sowie eine selbstbewusste Einstellung zur Herkunft (Identitat) bildeten fiir Heberle eine Einheit. Die Ursachen dieses Befundes erklarte Heberle aber nicht allein aus den sozialen Rahmenbedingungen: Es waren fur ihn individuelle Tu-
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Heberle 1936a:13. Heberle 1936a:20. Heberle 1936a:21.
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genden ("Ttichtigkeit"; "praktische Lebensklugheit"), die dafur verantwortlich zeichnen, wie die soziale Welt beschaffen ist. Gleichwohl betonte Heberle, dass die Selbstbewusstsein vermittelnden Tugenden (aus sozialen Griinden!) nicht alien Bevolkerungsgruppen gleichermaBen zuganglich seien: "Auch die historisch-politischen Umstande, unter denen die Bildung des altesten Kernes der Auslandgruppe erfolgt ist, konnen weittragende Bedeutung fur ihre spatere Entwicklung und Erhaltung haben. DaB die Deutschen in Osteuropa oft als besonders privilegierte Kolonisten ins Land kamen und sofort in eine angesehene soziale Stellung einruckten, wahrend die altesten deutschen Einwanderer in den Vereinigten Staaten vielfach als 'Schuldknechte' (indentured servants), ganz liberwiegend als arme Leute ohne irgendwelche Privilegien einwanderten, ist sicher nicht ohne EinfluB auf Ansehen, SelbstbewuBtsein und Geschick dieser beiden groBen Gruppen des Auslanddeutschtums geblieben. Die Tatsache, daB die Deutschen in Texas starken Anteil an der Eroberung und ErschlieBung des Landes gehabt haben, daB sie also z. T. zu den Pionierfamilien, zu der Aristokratie Amerikas, gehoren, ist fiir ihre Bestandserhaltung gUnstig gewesen. Immer kommt es darauf an, in welchem sozialen Rangverhaltnis die betreffende Volksgruppe zu den ubrigen Gruppen der Gesellschaft zur Zeit der ersten Ansiedlung gestanden hat. Fiir die volkische Selbstbehauptung wie fur die soziale, d.h. wirtschaftliche, kulturelle und politische Stellung einer Auslandvolksgruppe ist von entscheidender Bedeutung das Verhaltnis zwischen Mutterland und Ausland in kultureller und zivilisatorischer Hinsicht. Je groBer das Gefalle des kulturell-zivilisatorischen Unterschiedes zwischen Mutterland und dem Staatsvolk, dem die Auslandgruppe angehort, um so gUnstiger ist im allgemeinen die Stellung der Auslandvolksgruppe..65i
"Dies schnelle Aufgehen in der fremden Nation ist keineswegs ein bewuBter Vorgang, sondem nur die unvermeidliche Nebenwirkung derselben Ttichtigkeit und praktischen Lebensklugheit, welcher diese Menschen ihre beruflichen Erfolge verdanken. Ihnen gegeniiber stehen die Erfolglosen oft als diejenigen, welche ihr Volkstum am auffalligsten betonen. Namentlich in den GroBstadten des Auslandes sind es oft diese gescheiterten oder doch enttauschten Einwanderer, welche mit besonderem Eifer am Vereinsleben und anderen Veranstaltungen ihrer Kolonie teilnehmen. Das ist dann fiir die Gesamtwirkung des Volkstums im Auslande keineswegs gunstig und vertieft auBerdem nur den Abstand zwischen den assimilierten und den nichtassimilierten Volksgenossen. Ganz anders voUzieht sich der Verlust des eigenen Volkstums, wenn die Auslandvolksgruppe kulturell und zivilisatorisch eine iiberlegene Stellung einnimmt; dann ist die Entvolkung regelmaBig nicht mit sozialem Aufstieg sondem mit sozialem Abstieg verbunden: die gescheiterten Existenzen, die sich unter ihren Volksgenossen nicht mehr sehen lassen konnen oder mogen, bei den Fremden aber..."^^^ "Unter dieser Voraussetzung kommt es nun darauf an, wie fest die verschiedenen Telle der Auslandgruppe ihre eigene Kultur ergriffen haben und wie stark der Glaube an Uberlegenheit oder Gleichwertigkeit der eigenen Kultur in ihnen ist. Es haben namlich nicht alle Schichten eines Volkes (oder einer Nation) gradmaBig gleichen Anteil an der eigenen Kultur, auch nehmen die verschiedenen Schichten an verschiedenen Gebieten der Kultur teil; im allgemeinen nimmt die Teilhaftigkeit von 'unten' nach 'oben' zu."^^^ 651 652 653
Heberle 1936a:15. Heberle 1936a:32. Heberle 1936a:20.
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IV. 10 Rudolf Heberles Weg in die Emigration Im Juli 1938 siedelte Heberle nach Louisiana liber. Nachdem ab 1936 die Absicherung seiner akademischen Laufbahn in Deutschland durch die Auseinandersetzungen um seinen jtidischen UrgroBvater immer unsicherer geworden war, hatte sich Heberle verstarkt um eine Revitalisierung seiner Amerika-Kontakte bemiiht. Der entscheidende Einstieg gelang ihm dank Dorothy Swaine Thomas.^^"^ Die amerikanische Bevolkerungswissenschaftlerin hatte Heberle zusammen mit ihrem Mann 1936 in Kiel besucht und ihn dazu eingeladen, sich an der Wanderungsforschung des "Social Sciene Research Council Committee on Migration Differentials"^^^ zu beteiligen. Heberle reiste daraufhin im Laufe des Jahres 1937 in die USA und arbeitete dort bis Dezember desselben Jahres. Die Thematik seiner damaligen Arbeiten wich nach Heberles Zeugnissen nicht von denen in Deutschland ab, sondem sollte den Amerikanern einen Eindruck uber den Forschungsstand in der Bevolkerungswissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland vermitteln: "Es handelte sich um die Frage, ob und in welcher Hinsicht Wanderung ein sozialer Auslesevorgang sei. Meine Aufgabe war hauptsachlich, die deutschsprachige Literatur kritisch zu bearbeiten und eine Bibliographie mit Kommentaren anzufertigen. (...) Mitten in diese Zeit platzte die Nachricht, das Ministerium habe die Zahlungen meines Privatdozentenstipendiums und der Lehrauftragsvergiitung eingestellt, da die Soziologie nicht mehr gefordert werden solle. Bis dahin hatte ich nicht die Absicht gehabt, auszuwandem; nun muBte ich meinen amerikanischen Bekannten von dieser Wendung Kenntnis geben (...) Als ich im Dezember nach Deutschland zuruckkehrte, hatte ich noch keine Aussicht auf eine Anstellung in den Vereinigten Staaten. Aber im Laufe der nachsten Monate gelang es befreundeten amerikanischen Kollegen mit Hilfe der Rockefeller Foundation, mir eine Position als 'full' professor an der Louisiana State University in Baton Rouge zu beschaffen, wo ich am 4. Juli, dem Nationalfeiertag, 1938 eintraf."^^^
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Thomas, Dorothy Swaine (*1899), amerikan. Soziologin und Demographin, lehrte u.a. in New York und Stockholm, T. "leitete sozialstatistische Untersuchungen an der Yale University (1930-39), nahm an der von der Carnegie Foundation unterstiitzten Untersuchung tiber die amerikanischen Neger unter der Leitung von Gunnar Myrdal teil, leitete Studien iiber die Ausweisung und Neuansiedlung der Bevolkerung japanischer Abstammung an der amerikanischen Westkiiste (1942-47); war Prasidentin der American Sociological Society (1954)", seit 1948 Prof der Soziologie an der Univ. Pennsylvania und Leiterin der Study on Population Redistribution and Economic Growth. Hauptarbeitsgebiete: Sozialstatistik und Untersuchung der Bevolkerungsbewegung im Sinne einer Verbindung von Volkswirtschaftslehre und Gesellschaftswissenschaft. Hauptwerke: Social and Economic Aspects of Swedish Population Movements (1941), The Spoilage (1946), The Salvage (1951) (vgl. W. J. Cahnmann in Bemsdorf 1959:563). D.S. Thomas war "Chairman" dieser Vereinigung. Heberle 1976:209f Die Emigration hinderte Heberle jedoch nicht daran, weiterhin Kontakt zum Kollegenkreis in Deutschland zu halten, denn die "Schriftleitung des Archivs fiir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" (Elisabeth Pfeil) stellte 1941 eine Untersuchung Heberles fur das "Sammelwerk zur Erforschung der GroBstadtfrage" in Aussicht. Die Idee zum Sammelwerk entstand 1939 (vgl. AfBB 1941, 11. Jg., 337f.).
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Denkstile IV. 11 Nachwirkungen von Rudolf Heberle bzw. Gerhard Mackenroth auf weitere Kieler Bevolkerungsforscher: IV. I LI - die Beispiele Hilde Wander und Hans Wilhelm Jilrgens -
Der Vollstandigkeit halber sei zum Abschluss der Prasentation der Denkstile sozialwissenschaftlicher Bevolkerungsforschung in Kiel auch noch kurz auf eine wichtige Schiilerin von Rudolf Heberle und Gerhard Mackenroth eingegangen: Hilde Wander. Die im Marz 1915 in Kiel geborene Wissenschaftlerin absolvierte ihr Studium der Volkswirtschaftslehre an den Universitaten in Frankfurt/M. und wiederum in Kiel, wo sie 1944 auch examiniert wurde und schlieBlich 1949 den Doktorgrad (Dr. sc. pol.) erwarb. Von September 1944 bis zu ihrer Pensionierung im Marz 1980 war Hilde Wander in der Forschungsabteilung des Instituts fiir Weltwirtschaft in Kiel tatig.^^^ Sie sei dort jedoch - so Charlotte Hohn - die "einzige Mitarbeiterin" gewesen, "die sich mit Bevolkerungsfragen befasste."^^^ Die Anregungen far ihre bevolkerungswissenschaftliche Forschung holte sie sich deshalb auch von auBerhalb des Instituts bzw. durch Lehrer, die lediglich einst dem Institut angehort hatten. Zu ihren akademischen Lehrem in Kiel zahlten Walther G. Hoffmann, August Losch und nicht zuletzt Gerhard Mackenroth, den sie aber erst nach seiner Riickkehr von der "Reichsuniversitat StraBburg" nach Kiel, und damit nach dem Ende des Krieges kennenlernen sollte. Nach dem Zeugnis von Charlotte Hohn hat besonders der damalige Direktor des Kieler Soziologischen Seminars, eben Gerhard Mackenroth, ihre bevolkerungswissenschaftlichen Arbeiten nachhaltig beeinflusst.^^^ "Unmittelbarer AnlaB fur Hilde Wander, sich mit Bevolkerungsfragen zu befassen, waren die politischen Ereignisse der Nachkriegszeit. Das Institut fur Weltwirtschaft war 1944 von Kiel nach Ratzeburg evakuiert worden. In Ratzeburg ergab sich die unmittelbare Konfrontierung mit dem Fliichtlingsproblem, verlief doch die Hauptroute der Trecks aus dem Osten durch Ratzeburg. Viele der Ankommlinge liefien sich zunachst in und um Ratzeburg nieder. So entstand dort die erste Monographic zum deutschen Fliichtlingsproblem. Die Frage der Eingliederung der Fliichtlinge blieb dann mehrere Jahre lang Hauptgegenstand von Hilde Wanders Forschungstatigkeit im Institut (...). Praktisch alle Arbeiten bis 1951 sind durch die damals aktuellen Probleme der Beschaftigung und des Arbeitspotentials, die Wohnungsfrage, die Berufsausbildung der Jugendlichen (hier ubrigens eine ahnliche Problematik wie heute) sowie zur Auswanderung angeregt worden."^^^ Daran schloss sich eine Zeit an, in der sie Internationale Erfahrung sammeln konnte: als Fulbright Scholar an der Universitat von Pennsylvania in Philadelphia (1953/54) beschaftigte sie sich schwerpunktmaBig mit dem Thema Binnenwanderung. Eine Thematik, zu der die
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Vgl. Hohn 1997:537. Vgl. Hohn 1985:135. Vgl. Hohn 1985:134. Hohn 1985:134. Zu den Studien in dieser Zeit zahlen auch Arbeiten, die sie zusammen mit d e m Bildungsokonomen Friedrich Edding veroffentlichte: Friedrich Edding, Hans-Erich H o m s c h u , Hilde Wander: D a s deutsche Fliichtlingsproblem. Neue Unterlagen zur Beurteilung der Bevolkerungsstruktur und der regionalen Lastenverteilung. Kiel 1948; Friedrich Edding und Hilde Wander. Bessere Ausbildung des Nachwuchses als Bedingung wachsenden Wohlstands in Westeuropa, in: "Die Weltwirtschaft", Kiel, 1953, H. 1. Vgl. Angaben zu Eddings Biographic in Ehmann 2003.
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Kieler Bevolkerungswissenschaft durch die Studien von Rudolf Heberle bzw. Fritz Meyer aus den 1930er Jahren bereits explizite Beitrage geliefert hatte. Internationale Anerkennung erlangte Hilde Wander in der Folge dieses USA-Aufenthalts durch ihre Arbeiten fur die UN. Dazu zahlten Tatigkeiten als "Demographie Advisor" fur das staatliche Planungsbiiro der indonesischen Regierung (1958-1960), als "Educational Economist" im Erziehungsministerium der Regierung von British Guayana (1962/63) sowie als "UN Demographic Advisor" im Statistischen Zentralburo in Jordanien (1966) und in gleicher Funktion in Westsamoa (1970/ 71). Die Bevolkerungsokonomin gehorte in den Jahren 1973-1988 zu den wissenschaftlichen Kuratoriumsmitgliedem des "Bundesinstituts fur Bevolkerungswissenschaft"; zudem hatte sie langere Zeit einen Sitz im Vorstand der "Deutschen Gesellschaft fur Bevolkerungsforschung" bzw. der "Europaischen Gesellschaft flir Bevolkerungswissenschaft (EAPS)" inne. Nach ihrer Pensionierung war Hilde Wander bis zum Wintersemester 1992/93 als Lehrbeauftragte im Interdisziplinaren Lehrfach "Bevolkerungswissenschaft" der Universitat Kiel tatig. Sie setzte sich insbesondere fur die Schaffung der "Zeitschrift fiir Bevolkerungswissenschaft" ein. Wie so viele ihrer KoUeginnen und Kollegen in der 'sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung' verstand sich Hilde Wander als aktive "Politikberaterin". So gehorte sie dem "Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesminister fur wirtschaftliche Zusammenarbeit" an und nahm als Expertin u.a. an Hearings des Bundesinnenministeriums zur Bevolkerungsentwicklung teil.^^^ Die Kieler Bevolkerungsokonomin starb 1997. Hans Wilhelm Jtirgens^^^ bevolkerungswissenschaftliche Beitrage beschaftigten sich vor allem mit schichtenspezifischen Geburtenraten, wobei in den Untersuchungen vor allem sozial benachteiligte und sozial abweichende Gruppen (von Jiirgens bereits vorab als 'Asoziale' normativ stigmatisiert) das Hauptkontingent der Untersuchten stellten. In SchleswigHolstein wurden tausende Schtilerinnen und Schiller, besonders jene aus den Volks- und 'Hilfsschulen', Objekte der Kieler Bevolkerungsforschung. Fiir die Untersuchung differentieller Geburtenraten erschien Jiirgens stets die "soziale Charakterisierung" von Bevolkerungen und Bevolkerungsgruppen als unerlasslich. Dazu setzte er zunachst den Begriff der sozialen Schicht weitgehend mit dem einer "Begabungshohenschicht" gleich.^^^ Anders ausgednickt: Die Angleichung der "Schichtenskala fiir die sozialanthropologische Arbeit" an die (soziologische) "Soziales-Prestige-Skala" war ein wichtiges Anliegen Jurgenscher Bevolkerungsforschung: "Die Notwendigkeit, die Schichtenskala fiir die sozialanthropologische Arbeit unter dem Gesichtspunkt der geistigen Begabungshohe aufzustellen, konnte schon friiher dargestellt werden. Es ist damit die Moglichkeit gegeben, die Skala zu objektivieren, ohne sie von einer durchschnittlichen Soziales-Prestige-Skala weiter zu entfemen."^^"^ 661
Vgl.Hohn 1985:135.
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Hans Wilhelm Jiirgens, geb. 1932, Prof. Dr. rer. Nat. 1957 (Kiel), Dr. agrar. (sozial) 1959, 1960 Privatdozent an der Universitat Kiel, Titel der 1961 veroffentlichten Habilitationsschrift: "Asozialitat als biologisches und sozialbiologisches Problem". Seit 1966 apl. Prof, fiir Anthropologie an der Universitat Kiel, 1974-1979 Direktor des Bundesinstituts fiir Bevolkerungsforschung in Wiesbaden, 1979 ordentlicher Prof. Universitat Mainz, Direktor des Anthropologischen Instituts der Universitat Kiel (vgl. v o m Brooke 1998:426f.; vgl. zu Jiirgens auch bereits altere wissenschaftshistorische Beitrage, vor allem WeB 1986, 1995).
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Vgl.Jurgens 1963a:61f.
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Jurgens 1963b:323; Jurgens 1958.
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Jiirgens ubemahm die o.g. 10-Schichtenskala, die von K.V. Miiller entwickelt worden war und stellte seine Begabungsuntersuchungen auch generell in diese Traditionslinie bzw. in die der Breslauer Sozialanthropologie.^^^ Der Anthropologe suchte spater den Schulterschluss mit gleichgesinnten Vertretem anderer Disziplinen, wie wir auch an AuBerungen in seiner Arbeit als erster Direktor des Bundesinstituts fur Bevolkerungsforschung sehen konnen. Gerade weil Jiirgens hinsichtlich eines bevolkerungswissenschaftlichen Schliisselthemas, der Migration, rigide Ordnungsabsichten pflegte, suchte er seine Interessen in Kooperation mit Psychologen, Soziologen und Nationalokonomen durchzusetzen: "Der stetige Zustrom von Gastarbeitem, der nicht zu einer Zunahme der Bevolkerung in der BundesrepubUk fiihrt und der auch durch EheschUefiungen und Geburten kiinftig von zunehmender Bedeutung sein wird, wirft zahlreiche Probleme auf. Die Frage, wie sich eine Integration oder eine Durchsetzung des Rotationsmodells der auslandischen Arbeitnehmer auswirken wird, laBt sich nur in enger Zusammenarbeit der Bevolkerungswissenschaftler mit Soziologen und Sozialpsychologen auf der einen Seite und mit Nationalokonomen auf der anderen klaren."^^^ Ludger WeB hat betont, dass Jiirgens "in Kiel durch Gerhard Mackenroth und dessen Mitarbeiter Karl Martin Bolte" in die Bevolkerungswissenschaft eingefiihrt worden sei.^^^ Dies mag insoweit richtig sein, als Jiirgens durch die Nachwirkungen der o.g. empirischen Bevolkerungsuntersuchungen des Soziologischen Seminars iiberhaupt erst mit der Thematik 'soziale Ungleichheit' und Bevolkerungsfrage in Kontakt geriet. Dennoch lassen sich jedenfalls in den veroffentlichten Studien von Jiirgens keine Belege dafiir fmden, dass dieser in inhaltlicher Hinsicht an Gerhard Mackenroths 'Bevolkerungslehre' ankniipfte. Mackenroths oben dargestellte Sichtweise war auch mit Jiirgens sozialbiologischem Ansatz nicht vereinbar. Gleichwohl war auch Jurgens im Zweifelsfall die nahere Erlauterung des Begabungsbegriffs weniger wichtig als eine Einordnung der Untersuchten (hier Schiilerinnen und Schiiler) in ein Schema vertikal verstandener Stratifikation. Dazu rekurrierte er dann aber weder auf 'Begabung', Intelligenz oder eine nahere Erklarung vermuteter erbiologischer Zusammenhange^^^, noch auf Prestige^^^, sondem - analog zu K.V. Miiller - auf das 'auslesende' Bildungssystem als eine Instanz der Regulation sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft. Das Besondere daran war, dass bei Jiirgens nicht nur soziale Gruppen, sondem auch die Bildungseinrichtungen selbst in Form vertikal angelegter Hierarchien erschienen. Die einer Bildungseinrichtung zugeschriebene padagogische Funktion markierte gleichsam ihren Standort in der Hierarchic der Bildungseinrichtungen und gleichzeitig ihren 'Sozialraum' in der Gesellschaft: auf der 'untersten' Stufe rangierten die "Volks- und Hilfsschulen". Besonders die "Hilfsschulen" reprasentierten fiir Jiirgens mehr oder weniger bildungsfreie Aufbewahrungsrdume fiir "Gruppen von sozial abwegigen, von debilen Personen."^^^ In den 1950er
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6"^^
Vgl. Jurgens 1963b:324f. Jurgens 1975:15. V g l . WeB 1986:122. V g l . Jurgens 1963a:61. H.W. Jurgens hatte zwar Kenntnis von Karl Martin Boltes z u m Zeitpunkt des Niimberger Kongresses (1958) noch unveroffentlichte Kieler Habilitationsschrift (vgl. Bolte 1959a); er bezog sich aber nicht auf den dort vertretenen soziologischen Ansatz (Vgl. Jurgens 1963b:330). Zur LTI der Kieler Bevolkerungswissenschaft in den 50er Jahren gehorte der stigmatisierende Begrifif der 'sozialen Abwegigkeit'. Jurgens fasste darunter die Straffalligkeit.
Zu den Forschungsarbeiten der Breslauer Schule
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Jahren lieB sich Jurgens Denkweise die Formel bringen: In einer Demokratie verfestige die "Unterschicht" ihre Position in der als vertikale Rangskala wahrgenommen sozialen Welt gleichsam von allein, und zwar, weil nun alle "Aufstiegswilligen" aus ihr herausfanden. Was 'unten' ubrig bleibe, hatte gerade wegen dieses Verlustes weder die Kraft noch den Willen (fehlendes 'Erbgut'!) etwas an den Verhaltnissen zu andem.^^^ Es kommt zu einer vollstandigen Segregation. Damit erubrigt sich dann auch politisches Handeln, denn in dieser herrschaftlichen 'Ordnung' gibt es keine sich begegnende Akteure mehr. Man lebt buchstablich in getrennten Welten. Ein Ansatz also, der zwar soziale Vorurteile bediente und der der bestehenden sozialen Ungleichheit Legitimation verschaffen wollte, der aber fur die politische Steuerung sozialer oder demographischer Fragen irrelevant war, weil er den Verlust des Politischen gleichsam mit im Gepack trug. In eine ahnliche Richtung gingen auch die nachfolgend vorgestellten Arbeiten der "Breslauer Schule der Ganzheitsanthropologie".
V. Zu den Forschungsarbeiten der Breslauer Schule V. 1 Einleitung Egon Freiherr von Eickstedt^^^, ab 1929 Direktor des Anthropologischen und Ethnologischen Instituts an der Universitat Breslau^^^ und Use Schwidetzky, von Eickstedts Assistentin und spatere Nachfolgerin, sind als wissenschaftliche Zentralfiguren der 'Breslauer Schule der Ganzheitsanthropologie' zu bezeichnen. Die Arbeiten der "Breslauer Schule" nehmen eine Sonderstellung in der Presentation der 'sozialwissenschaftlichen' Konstruktion von "Bevolkerungen" ein, denn in ihnen wurde von vomherein und ganz offensiv mit einem 'Rassebegriff operiert. Ftir uns sind sie hier interessant, weil in den anthropologischen Studien 'soziale Ungleichheit' auf eine ahnliche Weise operationalisiert wurde, wie in den bereits vorgestellten soziographischen Forschungsansatzen. Sie waren mit diesen banalen Ungleichheitsforschungen vergleichbar, allerdings nicht gleichsetzbar. Zudem gab es Uberschneidungen beziiglich der raumlich und administrativ ausgerichteten Verfahren bei den Datensammlungen. Fuhrende Eugeniker des 'Dritten Reiches' kritisierten deshalb an der phanotypischen 'Rasseforschung' Breslauer Machart auch die dort praktizierte "geographische Gestaltverbreitung" der "Rasse": "GewiB wird sich die Population jedes Gaues irgendwie von der jedes anderen unterscheiden. Aber das tun auch die Populationen kleinerer Verwaltungseinheiten. Man konnte demnach auch einen Gemeinde-, einen Kreis- und einen Bezirkstypus erforschen" (Friedrich Lenz).^'^^ Dieser Einwand zeigte an, dass die Breslauer 'Rasse'-Forscher biologische und soziale Daten sammelten, um auf einer der administrativen Steuerung noch leichter zuganglichen regionalen Ebene 'Bevolkerungen' bzw. Bevolkerungsbewegungen zu beeinflussen.^^^ Eickstedts
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Vgl. Jurgens 1965. Ausfuhrliche Angaben zur Biographic finden sich in: Schwidctzky/Kandlcr-Palsson/Knussmann/Rosing 1992:4ff. Vgl. vom Brocke 1998:417. Lcnz 1941:398.
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"Rassenbegriff wie auch seine Rassenverbreitungskarten (tauschten) ein klares raumliches Nebeneinander von konstanten und einheitlichen Rassen vor."^'^^ Die Breslauer hatten ein ausgepragt praktisches Interesse daran, etwas tiber die Zusammensetzung und den 'Ort' von Subpopulationen und "Typen" einer vorab als 'Rasse' eingefuhrte Bevolkerungsgruppe zu erfahren. Sie hatten keine theoretischen Ambitionen zu eruieren, was 'Rasse' oder Rassen uberhaupt seien bzw. ob diese Begriffe iiberhaupt Sinn machen. In der NS-Zeit lagen drei groBere wissenschaftliche Untemehmungen des Breslauer Denkkollektivs: die Herausgabe der Zeitschrift fiir Rassenkunde (seit 1935), die Rassenuntersuchungen Schlesiens (RUS., seit 1934) und die ersten zwei Bande der "Forschung am Menschen".^^^ Egon Freiherr von Eickstedt und Use Schwidetzky wirkten ab 1946 am Anthropologischen Institut der Universitat Mainz, das von von Eickstedt bis 1960 geflihrt wurde. Zur Gruppe war auch Werner Klenke zu zahlen, der als Doktorand an den Rassenuntersuchungen in Schlesien beteiligt war und ab 1947 in das Mainzer Anthropologische Institut eintrat. Im Rahmen der o.g. Rassenuntersuchungen Schlesiens, die im Krieg von der Reichsarbeitsgemeinschaft fiir Raumforschung (RAG) gefordert wurden^'^^, wurden sogenannte "rassenkundlich-volksbiologische Bestandaufnahmen" durchgefiihrt: "An 70 000 Personen wurden in der 'Rassenuntersuchung Schlesiens' bisher auf ihren rassischen Typus und die Beziehungen zu den raumlichen Gegebenheiten, historischen Ablaufen, sprachlichen oder volkskundlichen Erscheinungen sowie zu Berufsgliederung, Berufsleistung und Standesschichtung festgestellt".^^^ Die dabei eingesetzte "flachenhafte Untersuchungsmethode"^^^, d.h. das Absehen von einzelnen Dorfmonographien und Stichproben, setzte sich im Rahmen des Kriegsforschungsprogramms generell bei den von der RAG durchgefiihrten Sozial- und Bevolkerungsuntersuchungen fort.^^^ In den zweiten Halfte des Krieges wandelte sich die Ganzheitsanthropologie zunehmend zu einer sozialbiologischen Wanderungs- und Migrationsforschung: "In Erweiterung der 'Stadtanthropologie Breslau' und ihrer Aufgaben sind wir daher darangegangen, zunachst Erhebungen tiber die menschliche Durchleusungskapazitat der Stadt Breslau anzustellen. Diese Arbeiten - ein Ausschnitt aus der anthropologischen Wanderungsbiologie - laufen zur Zeit. Ihre Leitung liegt in den Handen von Frau Dozentin Schwidetzky. Bisher wurden die Befunde an rund 5000 ansassigen Breslauer Familien erhoben. In einem weiteren Stadium der Materialsammlung, das soeben begonnen hat, soUen etwa ebensoviel abgewanderte Familien erhoben werden, da erst dadurch die Durchschleusung der Wandemden voll erfaBt werden kann. Erganzend wird eine Erhebung fiir ganz Schlesien tiber die Abwanderung nach Breslau und anderen Stadten durchgefiihrt. Daflir werden in den friiher rassentypologisch untersuchten rund 800 Dorfem die bisher abgewanderten Personen mit Datum und Ziel der Abwanderung festgesteUt. Ergebnisse deuten sich bereits insofem an, als Unterschiede zwischen den Personen auftreten, die nach den anderen landhchen Gemeinden und denen, die nach den Stadten abwandem, und zwar ^''^ 676 677 678
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Spater wird H.W. Jiirgens, der sich auch in der Tradition Eickstedts stehend begriff, die "regionale Begrenzung der Giiltigkeit" seiner Schichtenskala besonders betonen (vgl. Jurgens 1963b:326). Schafer 1986:51 (Herv. durch H.G). Vgl. Schwidetzky/Kandler-Palsson/Knussmann/Rosing 1992:14f. Die Untersuchungen erfolgten im Rahmen der Hochschularbeitsgemeinschaft fiir Raumforschung an der Universitat Breslau (vgl. Rossler 1990:144). von Eickstedt 1943:135. Vgl. Schrepfer 1944/45:29. Vgl. Gutberger 21999.
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in dem Sinn, daB die GroBstadtwanderer gegeniiber den Kleinortwandereren im Rahmen der liberalen Wirtschaftsentwicklung mehr die Typenzusammensetzung der verantwortungstragenden und aufsteigenden sozialen Schichten zeigen. Die weitere statistische Aufarbeitung soil dann das Einzugsgebiet verschiedener Stadtteile und Berufsgruppen einschlieBlich ihrer durchschnittlichen Herkunftsradien nachweisen, femer auch das gleiche fiir die Abwanderung und Ansassigkeitsdauer im Hinblick auf Breslau selbst. Daran wird sich fiir Breslau im einzelnen auch erweisen, ob es in Hinblick auf die differenzierte Fortpflanzungsbiologie etwa ahnlich gunstig dasteht als andere GroBstadte. (....) Die genannten drei Beispiele des Einsatzes einer ganzheitlich arbeitenden Anthropologic fur die Raumplanung mogen gentigen. Es durfte hinreichend klar sein, das sowohl die Gauuntersuchung wie die Stadtanthropologie und Wanderungsbiologie Fragen angehen, die der Raumforscher bald hier, bald da ftir seine Zwecke zum Einsatz bringen kann. Vor allem aber durfte deutlich geworden sein, daB nicht Merkmalszahlen und Merkmalsspekulation, sondem daB nur cine Methodik iiber atomistische Statistik hinaus und zu einer lebensnahen Ganzheitsschau hin seinen Zwecken wie denen jeder praktischen Fragestellung uberhaupt nahekommen kann."^^^ Use Schwidetzky hob nach dem Krieg im Rahmen des bereits mehrfach erwahnten Arbeitskreises "Raum und Gesellschaft" der Hannoveraner Akademie fiir Raumforschung und Landesplanung besonders hervor, dass der Untersuchungszuschnitt entlang administrativer Gebietskorperschaften aufgebaut worden war: "Der sonst in Deutschland iibliche Typus der anthropologischen Erhebung war namlich die Dorfuntersuchung, bei der moglichst viele Einwohner eines Siedlungspunktes moglichst eingehend studiert wurden. Die schlesischen Erhebungen legten dagegen ein Netz von Untersuchungsstationen iiber die besiedelte Flache - bis zum Anfang des Krieges wurden in 37 Verwaltungskreisen rund 800 Einzelorte crfaBt - wo dafur aber nur bestimmte reprasentative Bevolkerungsgruppen, namlich vor allem die erwachsene mannliche Bevolkerung, herangezogen wurde. Es war also eine Massenuntersuchung mit alien Eigenheiten einer solchen, besonders mit dem Verzicht auf Spezialfragen zugunsten eines ersten, raumlich weiten und raumlich geschlossenen Uberblickes. Erstes Ziel war die anthropologische Ubersichtskarte, und es ist klar, daB sich damit viel engere Beziehungen zu Fragen der Raumforschung ergeben muBten, als bei weit verstreuten, wenn auch noch so intensiven Lokaluntersuchungen."^^^ Egon Freiherr von Eickstedt wollte "noch mehr als (nur) die Rassenzusammensetzung der schlesischen Bevolkerung ergrunden. Auch die Korperbautypen, die Sozialtypen und andere typologische Gruppen sollten festgestellt werden".^^"^ Fiir die Ganzheitsanthropologie war geradezu charakteristisch, das sie immer auch glaubte, andere sozialbiologische (jedoch nicht-'rassische') Phanomene erfassen zu konnen. Egon Freiherr von Eickstedt unterschied zwischen (einfachen) "sozialprogressiven Merkmalen" (mittels derer 'Sozialtypen' konstruiert wurden) und "sozialprogressiven Merkmalen rassentypischerNatur".^^^ Seine Mitarbeiterin Use Schwidetzky glaubte ebenfalls ein "selbststandiges sozialtypisches Variieren" feststellen zu konnen:
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von Eickstedt 1943:136. Schwidetzky 1950b:54. Vgl. Schrepfer 1944/45:30. Vgl. von Eickstedt 1941b:20.
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Denkstile "Die Unterschiede zwischen den Standesgruppen sind aber nicht nur durch die Unterschiede der Rassenzusammensetzung zu erklaren, sondem mehrere Korpermerkmale zeigen ein selbstandiges sozialtypisches Variieren. Einige Berufsgruppen fallen femer in bestimmten Merkmalen deutlich aus ihrem Standestypus heraus, zeigen also einen speziellen 'Berufstypus', der vom 'Standestypus' zu unterscheiden ist."^^^
Der inflationare Gebrauch von 'Stand' und 'Beruf legt es nahe, sich mit dem Gesellschaftsbild in dieser Breslauer Anthropologic zu befassen. Obwohl es in der Breslauer Schule vorrangig immer um (angebliche) Wechselwirkungen zwischen Korpermerkmalcn (Korpcrgro13c, Augenfarbe, Haarfarbe etc.) und gcsellschaftlichcn Phanomenen (z.B. beruflichcn Positionen) ging, - also Sozialcs 'biologisicrt' wurde - ist es wichtig, auch auf die 'Breslauer' Vorstcllung von sozialer Stratifikation und sozialcn Wandel etwas naher einzugehen. Dazu mtissen wir uns die Methoden der Ganzheitsanthropologic genauer anschen. V. 2 Das Breslauer Denken iiber soziale Hierarchic und soziale Ungleichheit Eickstedt "Ganzheitsanthropologic" richtcte sich gegen die altere atomistische Anthropologic. Das bedcutcte, dass sich fiir den Breslauer Anthropologen 'Rassen' nicht durch die Addition von Einzclmcrkmalen der Individuen oder durch Querschnitte statistischer Daten, sondem nur durch die Suche nach "Formengruppen" identifizieren licBcn.^^^ Wenn es auch noch an hinreichenden empirischen Kenntnissen dieser "Formengruppen" mangelte, so stand fiir Eickstedt ihre pragende Kraft von vomherein fest. Individuen gehorten dann einer 'Rasse' an, wenn sic als 'formtypisch' erkannt werden konnten. Deshalb richtete von Eickstedt sein Interesse auch nicht auf Einzel-Mcrkmale, sondem auf die "kennzeichnenden MQvkmahverbmdungen''.^^^ Gleichwohl sollten - im Unterschied zum populationsgenetischen Denken - anhand individueller Merkmalskombinationen "Typen" herausprapariert werden. Auch hier blieben also allein "Merkmale" schichtungsrelevant: Die Ordnung der sozialcn Welt spiegelte sich in dieser Sicht bereits in den 'Merkmalen' (seien sic physischer, psychischer oder sozialer Natur). Auffallig ist die 'Statik' in dieser Methode. Das klassifikatorische System selbst, das der Typenbildung zugmnde lag, war fiir von Eickstedt unwandelbar: "... nur unsere klassifikatorischen Gliedemngen, die die typischen Bilder im FluB der Erscheinungen zu erfassen suchen, sind und mlissen starr sein."^^^ Gerade dieses starre Element gestattete - so Use Schwidetzky im Rahmen des Arbeitskreises "Raum und Gesellschaft" - seine Ubertragbarkeit auf beliebige andere 'Bevolkemngen': "Gerade die fiir Raumforschungsfragen wichtigsten Ergebnisse waren nur dadurch zu gewinnen, daB die exakten Merkmalsbefunde mit der Einordnung der Individuen in ein standardisiertes Typensystem in Beziehung gebracht wurden. Die ideelle Norm der Typen wurde zu dem festen Hintergrund, auf dem die Vielfalt der realen Typenauspragungen und Typenabwandlungen erst sicht-
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Schwidetzky I941c:377f. Die Sehnsucht des Freiherrn nach "Ganzheit" kam vor allem in seinem Artikel "Ganzheits-Anthropologie" zum Ausdruck: vgl. von Eickstedt 1936b. Vgl. von Eickstedt 1937, Bd. 1:429. von Eickstedt 1937, Bd. 1:47.
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bar wurde. Bei den Schlesien-Erhebungen wurde die Typendiagnose nur in Form der Rassendiagnose gehandhabt. Bei zuktinftigen Untersuchungen wurde es...."^^^ Diese konstanten Merkmalsverbindungen glaubte Eickstedt durch die Konzentration auf das auBere Erscheinungsbild, das (soziale) Verhalten und die gesellschaftlichen Funktionen von Individuen^^^ morphologisch und 'intuitiv' erfassen zu konnen. Im Falle des von im postulierten "Gesetzes der radiaren Ausbreitungstendenz der Hoherspezialisierten"^^^ kamen noch raumliche Beziige hinzu. Die Rassenterminologie tauschte hier allerdings iiber die Tatsache hinweg, dass immer auch soziographische Daten (im Langsschnitt) gesammelt bzw. Berufsgruppen zu 'sozialen Herkunftsgruppen' oder Gruppen sozialen Aufstiegs zusammengefasst und in ihrer raumlichen Situierung wiedergegeben wurden.^^^ Die Erbbiologen hielten von Eickstedt deshalb auch, wie gesagt, entgegen, ihm wtirden - trotz gegenteiliger Absicht - lediglich 'homogene Bevolkerungen' bzw. Merkmalskorrelationen in beliebig definierten Raumen in den Blick geraten, er widme sich also gar nicht emsthaft erbbiologischen Fragen.^^"^ Use Schwidetzky wird dann auch spater mit Blick auf die Schlesien-Untersuchung diese als "Typendiagnosen, (die) keine Gen- oder Abstammungsanalyse der Person dar(stellen)", umschreiben. Stattdessen habe man "eine besondere Art der Deskription, namlich eine deskriptive Kennzeichnung eben des Individuums, allerdings aufgrund erblicher Merkmale und somit doch genetisch verankert" geleistet.^^^ Ein Nachweis der 'genetischen Verankerung' der untersuchten Merkmale unterblieb jedoch - es handelte sich um eine bloBe willkiirliche Setzung. Interessant ist in unserem Zusammenhang auch etwas anderes. Wahrend beispielsweise fur Fritz Lenz die Steuerung der Erbanlagen (nicht weiter defmierter) 'sozialer Schichten' Vorrang hatte, befand sich Eickstedt gleichsam weiterhin auf der Suche nach den Adressaten staatlicher Bevolkerungspolitik und Eugenik in administrativ definierten Raumen ("Gautypus"). 'Auslese' sollte bei Lenz nur iiber Fortpflanzungsgemeinschaften stimuliert werden (konnen); es sollen erbbiologische MaBnahmen an Populationen sein, die die (angeblich) aus dem Gleichgewicht geratene 'nattirliche Auslese' wiederherstellen. AuBerbiologische Fakten spielten hier gar keine Rolle. Eickstedt arbeitete hingegen - wie die Gilde der 'alten' Biologen der Palaontologen, Taxonomen oder Naturforscher - auf die deskriptive Untersuchung der 'organischen' Vielgestaltigkeit hin. Und er erwies sich als Anhanger einer standisch-aristokratischen Gesellschaftsform, etwa, wenn er eine immergleiche Reproduktion gefundener Tormengruppen' postulierte: "Das naturliche Gegenstiick des Gesetzes zur Verhiitung erbkranken Nachwuch690 691
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Schwidetzky 1950b:54. In diesem Zusammenhang erklart sich auch von Eickstedts Interesse am indischen Kastensystem. Eine 'eindeutige' Abgrenzung sozial Ungleicher erschien ihm nicht nur als Folge, sondem geradezu als Konstitutionsbedingung von Gesellschaft. Die Verschiedenheiten zwischen den Menschen waren ihm generell "wirkende Ursache" (vgl. von Eickstedt 1937, Bd.l:3). Vgl. von Eickstedt 1934a:80. Vgl. z.B. die Tabellen 1, 2, 11,12, und 13 in Schwidetzky 1941c. Eugen Fischer hielt ihm vor, sich auf seine Ausbreitungshypothese und Wanderungen zu konzentrieren: "Die Rassen selbst sind immer schon vorher da" (vgl. Fischer 1936:460). Diesem Argument ist insoweit zu folgen, als Eickstedt anstatt "Rassenfragen" zu behandeln, Daten zu korperlichen und sozialen Ungleichheiten sammelte. Nach 1945 wird von Eickstedt eine Mitverantwortung der Anthropologic (am NS-Rassismus) gerade mit dem Argument zuriickweisen, gar nicht in eugenischen Zuchtkategorien gedacht zu haben. Vgl. Schwidetzky 1950b:54.
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Denkstile
ses ist daher ein Gesetz zur Erhaltung der ausgelesenen Erblinien des Kulturfiihrertums".^^^ Fiir von Eickstedt drohte mit anderen Worten die Auflosung der 'ausgelesenen' Gruppen. Um es mit den Worten der Bevolkerungssoziologie auszudrticken: der demographische Ubergang bedeutete in Eickstedt Denkstil nicht nur einen Bevolkerungsriickgang, sondem zugleich einen Einschnitt in die relationalen Grenzen zwischen den "Schichten". Dies erschien ihm deshalb als bedrohlich, weil er zwar jeder sozialen Gruppe einen Wert fur die Aufrechterhaltung der Gesellschaft zu sprach, gleichwohl nur einen Wert je 'eigener Art'^^^: "Nur eine Verantwortung hat diese vor kiinftigen Geschlechtem, vor dem Leben des ewigen Volkes: das gesunde Erbgut rein zu bewahren, ein jeder in seinem Kreis"^^^ Jede Gesellschaftsschicht verfiigte in dieser Sichtweise iiber ein je spezifisches Repertoire "ausgelesener Eigenschaftskomplexe", die sich von Generation zu Generation verfeinem wiirden. In diesem Sinne war Eickstedts Schichtungsbegriff nicht aus der Soziologie oder Anthropologic, sondem cher aus der kulturhistorischen Ethnologie^^^ entlehnt und bezeichnete so etwas wie Ablagerungen und Sedimentierungen unterschiedlicher Kulturkreise. Der standische Aufbau der vorindustriellen Welt - so postulierte Eickstedt - griindete nicht auf Regularien der Politik oder des Rechts, sondem auf den Prozessen sozialer 'Auslese' und sozialer 'Siebung'. Den seit der Industrialisiemng unvermeidlich auftretenden "Mischungen" ob nun hinsichtlich von Volkem, 'Rassen' oder Schichten - gait deshalb die ganze Aufmerksamkeit des Freiherm; er unterschied zwischen solchen Mischungen harmonischer und disharmonischer Art. Die gegebenen Sozialhierarchien erfuhren durch von Eickstedt eine Begiinstigung; gait ihm doch nicht zuletzt die "Standes- und Leistungshohe" seiner eigenen sozialen Schicht, die des "Kulturfiihrertums", als Beleg, dass dort auch ein hoher "Anteil der nordischen Rasse" zu fmden sei7^^ Wichtiger war den Breslauem jedoch der Bestand eines als 'statisch' verstandenen Aufbaus des "Volkskorpers' insgesamt. In ihren Augen drohten demographische Verandemngen stets 'Verwischungen' der Schichtgrenzen nach sich zu ziehen: "Die soziale Siebung fahrt innerhalb des Volkskorpers zu einer Zusammenordnung erbahnlicher Individuen zu Gruppen ahnUcher Leistung in der Gemeinschaft. Eine Veranderung des Gesamtgefiiges des Volkes findet aber erst dann statt, wenn diese erbverschiedenen Gruppen in verschiedenem MaBe zur Erhaltung des Volksbestandes beitragen. Die 'unterschiedliche Fortpflanzung' im Sinne der Gegenauslese, d.h. der geringeren Vermehrung der erbhochwertigen Gruppen, ist geradezu das hervorstechendste Merkmal der Bevolkerungsbiologie der abendlandischen Kulturvolker. Wieweit ihr AusmaB nach Gauen oder Stammen verschieden ist, ist aber noch wenig bekannt, so daB es nicht uberfltissig ist, weiteres Material dazu zu sammeln. Die durch unterschiedliche Fortpflanzung bedingten Verandemngen des Volkskorpers sind in ihrem AusmaB davon abhangig, wieweit die sozialen Unterschiede durch Heiraten der erbahnlichen Individuen einer Schicht untereinander verfestigt oder wieweit sie durch Heruber- und Hiniiberheiraten immer 696 697 698 699
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Vgl. von Eickstedt 1933:328. Vgl. Schafer 1986:97. von Eickstedt 1934b: 58. Vgl. Schafer 1986:72. Use Schwidetzky wies zudem auf den "Schichtgedanken" der Humanbiologie bin. Dieser hatte sich auf das "Bild der geologischen Schichtung" und den Gedanken der "Hoherentwicklung" gestutzt (vgl. Schwidetzky 1956b:209). Vgl. von Eickstedt I941b:20.
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wieder verwischt werden. Die Paarungssiebung ist also ein nattirlicher Ausgangspunkt fiir Ausleseuntersuchungen." "^^' Use Schwidetzky sah noch 1992 in den damals erprobten Verfahren "Vorstufe(n) der multivariaten Methoden", von denen im nachhinein vor allem die Bevolkerungsgeschichte profitiert hatte. Sie "beeindruckten auch andere Breslauer Dozenten und Professoren, mit denen ein Seminar iiber Ergebnisse Kreis fur Kreis abgehalten wurde. Das schonste Ergebnis der Schlesien-Untersuchungen war, daB ein Breslauer Historiker (H. Aubin) und ein Breslauer Geograph (H. Schlenger), die an diesem Symposion teilgenommen batten, nach dem Kriege und nach ihrer Verpflanzung nach Westfalen dort ahnliche Untersuchungen anregten und durchsetzten. Von Eickstedt war nicht mehr daran beteiligt, aber sein ureigenstes Projekt, die Rassenuntersuchung Schlesiens, stand an der Wurzel des westfalischen Untemehmens."^^^ Wahrend sich ftir von Eickstedt Volker durch die bewahrenden Elemente der kulturellen Uberlieferungen, der gemeinsamen Geschichte und der genealogischen Zusammenhange auszeichneten, verband er 'Rasse' mit gegensatzlichen Eigenschaften: Schopfung, permanente Ausbreitung im Raum, eine sich verandemde Typen'-Bildung in den Bevolkerungen. Praktische Anwendung fand die Ganzheitsanthropologie im Rahmen der Raumforschung. Als Erganzung der bereits o.g. Rassenuntersuchungen, freilich mit einem anderen Schwerpunkt, ist die sogenannte empirische Stadtanthropologie Breslau zu sehen: "Die Stadtanthropologie Breslau ist absichtlich aus dem Rahmen der RUS. herausgelost worden, da sie (...) ihre eigenen Fragestellungen besitzt. Stadtbiologische Untersuchungen lassen in viel starkerem MaBe die soziologischen Momente heraustreten als das Land."^^^ V. 3 Soziale Schichtung und 'Rasse' In der Praxis wurden ausgewahlte Berufsgruppen und Sozialschichten untersucht: "Es sollen Typenzusammensetzung und Typenverschiebung, es sollen Siebungs- und Auslesevorgange, das Fluktuieren und Uberschichten und Unterwandem studiert werden, um das biologische Leben und Sichzusammenfligen der vielen stadtischen Gruppen in Ursache, Wesen und Wirkung zu erkennen."^^^ Fiir Schwidetzky war "die wichtigste Frage jeder speziellen Stadtanthropologie die nach der Beziehung zwischen Erbgut und sozialem Aufbau, nach den biologischen Grundlagen der unterschiedlichen beruflichen Leistungen oder umgekehrt, nach den Auswirkungen des sozialen Systems auf das uberindividuelle Leben stadtischer Berufsgruppen. Einen verhaltnismaBig leicht und exakt fassbaren Ausschnitt aus der Erbstruktur von Individuum und Gruppe stellt der Rassetypus dar. Rassenkorperkundliche Untersuchungen sind daher der gegebene Ausgangspunkt auch fiir die Sozialanthropologie: sie konnen wichtige Vorgange im Volkskorper sichtbar machen, und sie erschlieBen mit
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Schwidetzky 1941c:372. Schwidetzky/Kandler-Palsson/Knussmann/Rosing 1992:15f, von Eickstedt 1939:434. von Eickstedt 1939:434f.
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Denkstile der sozialen Bewdhrung^^^ den wesentlichsten Ausdruck rassischer Leistungsunterschiede liberhaupt."706
Use Schwidetzky fasste ftir diesen Zweck Berufsgruppen "nach der Leistungshohe der Berufe" in mehrere "Stande" zusammen; diese Merkmalsgruppen korrelierte sie mit den Daten iiber Wanderungsorte sowie mit den Daten iiber die Berufe der Vater bzw. GroBvatergeneration. Die Relationen zwischen den "Standen" wurden als stabil und fixiert betrachtet - und zwar nicht nur hinsichtlich der sozialen Stratifikation zum Erhebungszeitpunkt, sondern iiber die Generationenfolge hinweg. Dieses Modell zeigte aber Riickwirkungen auf Schwidetzkys Interpretation der Prozesse des sozialen Aufstiegs: die Prozesse des Aufstiegs voUzogen sich anhand messbarer Leistungen Einzelner; messbar waren diese aber nur, weil sie sich im Rahmen eines gleichsam formstabilen Gerustes vollzogen. Zur Bewertung des Kampfes "Leistungsfahiger" brauchte es abgrenzbare Stufen, die sozusagen die Leiter des sozialen Erfolges bildeten und die sich nach 'oben' in Form einer Pyramide immer weiter verengten: "Denn zweifellos stellt es eine hohere Leistung dar, wenn beispielsweise ein Arbeitersohn den Beruf des Lehrers erreicht, als wenn dies ein Lehrersohn tut. Die sozial Aufsteigenden haben ja nicht nur den Anforderungen ihres Berufes zu entsprechen, sondern ein Teil ihrer Fahigkeiten und Energien muB fur die Uberwindung der Widerstande, die jedem Aufstieg entgegenstehen, verbraucht werden. In ihrer Gesamtleistung stehen die sozial Aufsteigenden damit tatsachlich iiber dem Durchschnitt ihrer Berufsgruppe."^^^ Der Mensch als ein Sozialwesen erschien hier fast wie ein funktioneller Roboter, der iiber typenspezifisch unterscheidbare Quanten an Energie verfiigt. Nicht (gesellschaftlich definierte) Intentionen, Machtpotentiale, mobile sozialstrukturelle "Gehause" beeinflussen die soziale Stratifikation: Es sind physische Voraussetzungen, die den Menschen in den Augen Schwidetzkys aufstiegsfahig machen. Konsequenterweise schrieb sie deshalb auch, dass die individuelle "KorpergroBe (....) nicht Folge, sondern gewissermaBen Voraussetzung fiir die Erreichung eines gehobenen Berufes" sei."^^^ Es ist jedoch hoffentlich deutlich geworden, dass der Denkstil der 'Breslauer Schule' nicht nur einen 'phanotypischen' Biologismus beinhaltete, sondern ebenso auch die Gewissheit, dass sich die sozialen Verhaltnisse und Ungleichheitsrelationen als menschlicher Einflussnahme nicht zugdngliche Verhaltnisse niemals andern werden. Auch der Breslauer Denkstil war gepragt von dem Muster eines statisch vorgegebenen 'Gefuges', welches Menschen nach (okonomischen und sozialen) Funktionen sortierte. Die 'Gestalt' des Sozialaufbaus erschien auf ewig irreversibel fixiert und unhintergehbar. 'Dynamisch' erschienen jedoch 'homogene Bevolkerungen', die in politisch-administrativen Raumen 'wandem' und die nach sozialtechnischen Ordnungsmustem 'auf ihre Platze' verwiesen werden konnten.
Diesen einschlagigen Begriff aus der Lingua Tertii Imperii damaliger Sozialwissenschaft finden wir, wie weiter oben dargestellt, auch bei Hans Joachim Beyer und K.V. Muller. Schwidetzky 1941c:351. Schwidetzky 1942:76. Vgl. zum 'Widerstand' bei Prozessen des sozialen Aufstiegs auch die Argumentationen in den Darstellungen der Denkstile von Theodor Geiger und K.V. Muller weiter oben. Vgl. Schwidetzky 1942:76.
Schlussfolgerungen I. Einleitung Rekapitulieren wir zum Schluss noch einmal die wichtigsten Einsichten, die aus dem bisher Dargestellten gewonnen werden konnen. Generell kann fur alle untersuchten 'Denkstile' festgehalten werden, dass demographische Untersuchungen zur GroBe, dem Bestand oder der Entwicklung von Bevolkerung(en) nicht von der Untersuchung einer sozial stratifizierten Gesellschaft getrennt wurden. In der Periode des Nationalsozialismus setzten sich Bevolkerungswissenschaftler mit einer bestimmten Motivation mit 'sozialer Ungleichheit' auseinander: erst die Aufnahme sozialer Unterscheidungsmerkmale zwischen Subpopulationen versprach die Steuerungsfahigkeit des Staates auf die demographische Entwicklung zu erhohen. Die Intention der Bevolkerungssoziologie nach 1945 wurde dann nach und nach, wie wir gesehen haben, eher eine umgekehrte, namlich etwas liber die Bedeutung demographischer Vorgange fur den Emeuerungsprozess einer Gesellschaft zu erfahren. Die These jedoch, dass in der NS-Zeit gesellschaftliche Unterschiede angeblich deshalb nicht offentlich thematisiert werden durften, weil sie der Ideologic einer egalitaren "Volksgemeinschaft" widersprochen hatten, wird hier fur den Bereich der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungswissenschaft nachdriicklich widersprochen. Gleichwohl ist damit aber noch nichts darliber gesagt, ob denn das Bild, das sich Bevolkerungswissenschaftler von der sozialen Welt machten, Wirklichkeitsbezuge aufwies oder dieses sich in reinen Phantasien erschopfte - wie zuletzt an der Breslauer Gruppe besonders deutlich gezeigt. Dort, wo die pseudowissenschaftliche Produktion sozialer Vorurteile und die Herstellung scheinbar 'homogener' Gruppen im Namen der Wissenschaft vorherrschte, war dies allerdings, auch das zeigen die Ergebnisse, kein Spezifikum der NS-Zeit. Wo zuvor bereits in Termini einer "sozialen Bewahrung", der "Auslese", der "Arbeitsbrache", dem "Sozialwert", der "sozialen Brauchbarkeit", dem "sozialen Auftriebsinstinkt", der "sozialen Abwegigkeit", der "sozial differenzierenden Knappheit" oder ahnlichen Konstruktionen gedacht wurde, entfielen semantische Anpassungen, weil in den ersten Jahrzehnten nach 1945 offenbar nur ein offen NS-spezifisches "Rassen"-Vokabular ("Arier", "Herrenrasse", "artfremd", "jiidisch versippt" u.a.) als anruchig gah7^^ Die Sozialdemographie ist aufgrund ihrer starken Fixierung auf messbare Daten ('social facts') als die wahre Erbin des Positivismus des 19. Jahrhunderts bezeichnet worden.^^^ Die Vorstellung, die (sozialwissenschaftliche) Demographic reproduziere doch nur 'Fakten', statistische Aussagen oder demographische Trends und konne deshalb den Ungleichheitsverhaltnissen gleichsam neutral gegenliberstehen, ist jedoch politisch w«J methodisch naiv."^'' Sobald auch nur implizit Ungleichheitsproblematiken in ihren Blick geraten - und das geschah nicht nur wahrend des Untersuchungszeitraums - , ist sie immer Teil des Ungleich''^^
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Deshalb war es auch nicht ein biologisch-genetischer Rassenbegriff, der in die sozialwissenschaftHch orientierte Bevolkerungsforschung derNachkriegsjahre hineinreichte, sondem der Begriff "Rasse" wurde mit einer alteren, einer genealogischen Vorstellung des Ein- bzw. AusschlieBens von Bevolkerungen verbunden. Diese Forschung arbeitete stark mit Taxonomien und war in erster Linie merkmalsorientiert. Vgl. Dahrendorf 1985:784-785. Vgl. dazu auch die Diskussion in der Soziologie: Barlosius 2004
15 8
Schlussfolgerungen
heitsgeschehens. Dort, wo die deutsche Demographie zur Reproduktion uberkommener Sozialhierarchien beigetragen hat, waren ihre Kategorien nicht unbedingt als (partei)politisch konnotierte oder normative Kategorien erkennbar. Gerade deshalb konnten diese Kategorien iiber politische Systemumbriiche hinweg ihre Bedeutung bei der Interpretation wissenschaftlicher Sachverhahe behalten. Dieser soziologisch-demographische Blick 'autoritarer Ordnung' blieb nun nach 1945 allerdings insoweit poHtisch folgenlos, als es den gesellschaftsordnenden Staat, den er sich erhoffte und den er voraussetzte, bald nicht mehr gab. Doch gerade die o.g. Konstruktionen sozialer Unter- und Uberordnung sowie die Generierung angeblich sozial homogener Gruppen dienten dazu, soziale Vorurteile der Wissenschaftler in eine in der Bevolkerungswissenschaft lange Zeit nicht als vorurteilsvoll erkannte Wissenschaftssprache zu iibersetzen.'^^^ Man kann insgesamt nicht eindeutig sagen, dass an jener Stelle intrinsische Motive der Wissenschaftler vorherrschten und an jener 'objektive' Standards eines Fachs. Ihre unauflosbare Verklammerung scheint gerade ein herausragendes Kennzeichnen der friihen Bevolkerungsforschung gewesen zu sein. Ob es vor 1945 in Deutschland bevolkerungswissenschaftliche Arbeiten gab, die als bQwolkcmngssoziologische bezeichnet werden konnen, hangt also auch davon ab, ob wir davon ausgehen, dass Projektionen, Vorurteile und autoritare Sozialtechniken als solche erkannt und aus der Sozialwissenschaft herausgehalten werden konnen. Die wichtigste Instanz eben dies zu erreichen, ist die Etablierung einer (nicht nur wissenschaftsintemen) Offentlichkeit, in der iiber die Folgen, aber auch tiber die Instrumentarien von Wissenschaft diskutiert werden kann. Diese Form Offentlichkeit hat es, soweit ich sehe, weder im NS-Staat noch in den Nachkriegsjahren gegeben. Dieser (noch kaum eingeloste) kritisch-selbstreflexive Wissenschaftsbegriff sollte nun nicht dahingehend instrumentalisiert werden, sich der Vergangenheit zu entledigen: 'Pseudowissenschaft' ware dann namlich alles, was sich diesem strengem Kriterium entzoge - und iiber das sich folglich nicht mehr zu reden lohnte. Damit wiirde uns aber auch der Blick darauf verstellt, was lange Zeit als anerkannte und geforderte Wissenschaft betrieben worden ist. Unbestritten ist, dass gerade auch die Sozialwissenschaft in den NS-Jahren durch die erzwungene Emigration ihrer wichtigsten Exponenten erheblich geschwacht wurde, die Fachoffentlichkeiten auf 'technische' Fragen eingegrenzt wurden und die bereitwillige Postulierung pseudo-naturwissenschaftlicher GesetzmaBigkeiten die Untersuchung sozialer Ursachen verstellte. Wir haben aber auch gesehen, wie hinter der Zuschreibung (pseudo-)biologischer Eigenschaften ('Blutfluss' u.a.) von "Bevolkerungen" berufliche und soziologische Indikatoren zum Vorschein kamen. Es lieBen sich in der Praxis keine naturwissenschaftlich begriindeten Unterscheidungsmerkmale zwischen Bevolkerungen auffmden; und dies war im Sinne einer Steuerung der 'Bevolkerungsfrage' auch gar nicht intendiert, denn diese Frage war langst als eine komplexe, vor allem sozialpolitischer Steuerung zuganglich zu machende Problemstellung erkannt. Der soziologische Zugang war immer dort moglich, wo im 'Dritten Reich' vermittels eines Reflexionswissen komplexe soziale Sachverhalte besser durchschaut und der Einsatz dieses Wissens fur die Verfolgung der Zwecke des NS-Re-
"^'^
Die Debatte iiber angeblich 'innovative' Ansatze in der Geschichtswissenschaft der 1930er Jahren haben vor allem gezeigt, wie virulent dieses Denken immer noch ist. Virulent sind sie wohl auch deshalb, weil es wieder die gleichen Abstiegs- und Verlustangste in den Mittelschichten sind, die zu einem Denken in diesen Kategorien (ver)fuhren.
Vergleichende Darstellung der Denkstile
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gimes geradezu schmackhaft gemacht wurde. Zum Beispiel auf dem Feld der Berufslenkung, die bei fast alien der hier vorgestellten Ansatze eine wichtige Rolle spielte. Einen einheitlichen "Denkstil" sozialwissenschaftlicher Bevolkerungsforschung hat es gleichwohl nicht gegeben, dennoch drangten alle Beteiligten auf eine Empirisierung der Bevolkerungsfrage und die Erprobung von Sozialtechnologien. Wir wollen uns an dieser Stelle deshalb die Denkstile noch einmal im Zusammenhang anschauen:
II. Vergleichende Darstellung der Denkstile Sozialdemographie als soziale Ordnungswissenschaft"^^^: Die 'soziale Selektion' als Schlusselkategorie einer statisch und hierarchisch wahrgenommenen Sozialstruktur, die den Bevolkerungsbestand gewahrleisten soil Den Anfang soil hier die Sozialstatistik machen, soweit diese mit der demographischen 'Bevolkerungsfrage' verklammert war. Generell stoBen wir bei der Betrachtung der Sozialstatistik auf die Problematik, ob Deskriptionen losgelost von Interpretationen betrachtet werden konnen oder ob sie gleichsam immer schon ein Modell der Erklarung sozialer Sachverhalte transportieren. Es wird mittels einer Beschreibung bereits etwas (scheinbar) erkldrt, das eigentlich eines weiteren Interpretationsrahmens bediirfte. Dass Personen nach Merkmalen gruppiert und die entstehenden Kollektive durch numerische Werte reprasentiert werden, ist dann zu kritisieren, wenn diese Konstruktionen dazu dienen, soziale Vorurteile zu transportieren. Diese Kritik ist auch dort angebracht, wo komplexe soziale Vorgange deshalb stark reduziert werden, weil der administrative Zugriff auf diese Prozesse dies scheinbar erfordert. Das war allerdings kein deutsches Phanomen. In einem amerikanischen Werk der Bevolkerungssoziologie galten die im bevolkerungsstatistischen Material auffmdbaren "components of changes" u.a. bereits als Ausdruck von "social mobility (change of status)."^i4 Wie 'soziale Mobilitat' auch zum Thema der statistischen Bevolkerungsforschung wurde, haben wir am Beispiel der Miinchener Sozialstatistik gesehen: In der von Friedrich Zahn angestoBenen und von Josef Nothaas empirisch umgesetzten Sozialstatistik stellten die 'unteren' Schichten das Bevolkerungsresevoir fur die positive Auslese innerhalb einer vertikal verstandenen Ordnung der Gesellschaft. Ein disponibles Bevolkerungsreservoir wurde einerseits zur Aufrechterhaltung der Ordnung vorausgesetzt, andererseits erschien die prinzipielle Partizipation an diesem Austauschprozess als verbindendes Element sowohl zwischen den 'Schichten' als auch zwischen den Generationen. Nothaas betonte deshalb auch zusatzlich die 'generationelle' Randbedingung der Gesellschaftsentwicklung. Hier lag der Bezugspunkt zum 'Blut', zu einer "Blutsgemeinschaft" aller Deutschen. Diese 'generationelle' Randbedingung war aber bereits eine, die die wissenschaftliche Beobachtung und Einordnung erleichterte, die die soziale Realitat auf der Handlungsebene des Individuums gar nicht mehr
^'3 "^'"^
Vgl. dazu bereits Gutberger 2005 Vgl. Mackensen 1967:14b mit Bezug auf Hauser / Duncan 1959
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Schlussfolgerungen
beriihrte. Vielmehr erschien das Individuum nach der Geburt gleichsam sukzessive und unaufhaltsam auf dem Wege, sich aus den sozialen Verhaltnissen der Eltem zu losen. Nothaas sprach deshalb von einer 'passiven Schichtzugehorigkeit' von Kindem bzw. Jugendlichen. Erst deren spatere soziale Mobilitat mache dann die generationell verstandene Vergemeinschaftung moglich. In der Frankfurter Sozialstatistik dominierte ebenfalls eine sozialmorphologische Hinwendung zur Bevolkerung. Hier herrschte ein Verstandnis von sozialwissenschaftlicher Demographie vor, das sich auf die Erfassung der zahlenmaBigen Relationen zwischen "scharf' abgrenzbaren Berufsgruppen (sowie deren raumliche Identifikation) beschrankte. Es ging dabei nicht um sozialwissenschaftliche Erklarungen von Fertilitatsentwicklungen, sondem um die Presentation von gruppenbezogenen "Fruchtbarkeitsziffem", die ihrerseits suggerierten, dass der Bevolkerungsriickgang durch das administrative Einwirken auf die quantitative GroBe einer "Schicht" handhabbar wurde. "Soziale Schichten" waren hier mit Gesamtheiten von Personen identisch, weil diese Forschungen im Anschluss an die Volkszahlungen erfolgten; sie soUten das Volkszahlungsverfahren lediglich verfeinem. Der Briickenschlag zur Soziologie (wahrend des Nationalsozialismus) sollte nur insoweit vollzogen werden, als diese bereit ware, sich auf die stark selektive Wahmehmung der Bevolkerungsfrage durch Amter und Burokratien einzulassen. In Deutschland trennten sich die Wege der 'sozialwissenschaftlichen Statistik' von der der empirischen Soziologie folglich nach 1945 wieder. Das gait gleichwohl nicht fiir alle Bevolkerungsstatistiker. Elisabeth Pfeil war auch nach 1945 nicht aus der empirischen Soziologie wegzudenken. Ihr spaterer biographischer Werdegang ist auch daraus zu erklaren, dass Voraussetzungen fiir ihre Annaherung an die empirische Sozialwissenschaft bereits in der Arbeitsgruppe um Friedrich Burgdorfer, also in der Bevolkerungsstatistik, gelegt wurde. Elisabeth Pfeil und Johann Hermann Mitgau problematisierten die Frage des sozialstrukturellen Wandels der Gesellschaft (schon wahrend des NS) mit deutlich starkeren Beziigen auf eine soziologische "Schichtungsforschung" als dies in der starker auf die Geographic hin orientierten Frankfurter Sozialstatistik der Fall war. Sie verstanden sich dabei in doppelter Frontstellung stehend; einerseits gegen die als "undifferenziert" und empirisch gehaltlos apostrophierte Klassenanalyse marxistischer Pragung, und andererseits gegen jede Form volkischer Romantik und Ignoranz, die nicht bereit war, sich der erkennbaren sozialen Dynamik in der Gesellschaft zuzuwenden. Eine Ankniipfung an das "bevolkerungssoziologische" Denken Leipziger Provenienz war schon aus diesen Grtinden nicht moglich. Beide Wissenschaftler (Pfeil und Mitgau) waren aber gerade deshalb auch dem 'modemen' selektionistischen Paradigma der Biologic gegeniiber offen. Dieser Denkstil wurde aber charakteristischerweise mit Elementen aus der noch jungen empirischen soziologischen Ungleichheits- und Mobilitatsforschung (Geiger, Sorokin) angereichert und vermengt. Mindestens Mitgau ging bei seinem Blick auf die "Bevolkerungsfrage" von dem MiBverstandnis aus, dass demographische Prozesse erst dann prognostizierbar (und somit steuerbar) sein wiirden, wenn eine Gesellschaft existiere, in der es zu einem Gleichgewicht zwischen Personen und gesellschaftlichen Aufgaben kame, in der zudem eine "Sozialfunktion" durch eine Person reprasentiert werde. Die (abnehmende/zunehmende) Bevolkerungsdichte bestimmte deshalb auch in Mitgaus Denkstil tiber die "Lebenschancen" von Mitgliedern einer Gesellschaft; auch die Entwicklung gesellschaftlicher Arbeitsteilung konnte er sich nur so vorstellen, dass diese mit einer immer weiter zunehmenden vertikalen Organisation der Gesellschaft einher gehe. Gleichwohl wurden jetzt die "kollektiven Abhan-
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gigkeitsbeziehungen" der Menschen untereinander zu einem Thema der Bevolkerungsforschung. Mitgau reflektierte zwar uber die Inter-Generationen-Berufsmobilitat, aber der soziale Wandel erschien in erster Linie als Resultat innergesellschaftlichen "Bevolkerungsdrucks". Die Gesellschaft stabilisierte sich in diesem Denken erst durch eine gleichmaBige Abstimmung der Nachwuchsrelationen zwischen sozialen "Schichten". Im Unterschied zum sozialeugenischen Denken Karl Valentin Miillers zielte Mitgau aber nicht auf Elitenauswahl eines 'begabten' Nachwuchses fur die 'hoher' bewerteten Aufgaben in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Das Interesse der Gruppe um Friedrich Burgdorfer richtete sich ja auch nicht auf das Individuum, sondem auf die Familie als Kemeinheit sozialer Stratifikation. Hier war eher problematisch, dass die soziale Mobilitat innerhalb von Generationen an der Setzung des sozialen Status einer 'ersten Generation' gebunden wurde. Der gesellschaftliche Aufund Abstieg unterlag einer Zuschreibung, die Jahrhunderte in die Vergangenheit reichen konnte. Eine Perspektivenwahl also, die nur attraktiv fur diejenigen sein konnte, die schon langere Zeit an den gesellschaftlichen "Spielen" um Status und Einkommen teilnahmen. Elisabeth Pfeil richtete hingegen ihr Interesse sehr viel starker auf die Bedeutung der Auslesebedingungen - soweit sie die Kontrolle des quantitativen Bevolkerungsbestandes zu beeinflussen schienen. Die Absicht, raumlich begrenzte Territorien eigener sozialer Harmonic zu schaffen, scheint mir der Versuch gewesen zu sein, die AuslQSQbedingungen besser zu kontrollieren. Karl Valentin Miiller sah hingegen ein mogliches Einwirken auf die Rahmenbedingungen sozialer Auslese als begrenzt wirksam an, weil er vorab den Prozess sozialer Mobilitat an den vermeintlich abgrenzbaren Eigenschaften zwischen Gruppen festmachte. Miillers Versuch, iiber die Indizierung des "Menschenmaterials" etwas tiber "soziale Zielsicherheit" politischer MaBnahmen und den "Erfolg und MiBerfolg sozialer Bewegungen" zu erfahren, lief deshalb ins Leere. Da Miillers Thema die Anderung der "Mengenverteilung der Rangplatze" - bedingt durch den Bevolkerungsriickgang und die gewachsenen Qualifikationsniveaus von Arbeitsplatzen - blieb, konnte er sich auch "Gesellschaft" nicht anders als in "Rangen" geschichtet vorstellen. Die Messung des "gesellschaftlichen Nutzwerts" (K.V. Muller) eines Individuums setzte nicht nur eine Ubereinkunft dariiber voraus, welche gesellschaftlichen Zwecke verfolgt werden sollten, sondem auch, wie das Positionsgefiige einer Gesellschaft beschaffen sein sollte. Natiirlich kann dieser Bevolkerungssoziologie vorgehalten werden, dass sie auf ein Gleichgewicht zwischen Personen und gesellschaftlichen Aufgaben aus war, dass jeder Sozialfunktion eine personliche Besetzung zugeordnet werden sollte - nur hielten sich die Biirokraten in den administrativen Apparaten nicht an fortgeschrittene Sozialtheorien zur gesellschaftlichen Differenzierung, sondem sie dachten genau in diesen 'Siebungs'-Kategorien. Sozialtechnologen suggerieren immer einfache Losungen und kniipfen an den common sense 'eindeutiger' (messbarer) Sozialhierarchien an. Sozialtechnik wird nur dort moglich, wo vorab von den politischen Auseinandersetzungen um soziale Hierarchien abstrahiert wird bzw. wo die sozialen Ausdmcksformen von Hierarchien immer schon als bekannt vorausgesetzt werden. 11.1 Exkurs: 'Rankings' An dieser Stelle sei deshalb ein kleiner Exkurs erlaubt. Gerade im Zeitalter der 'Rankings' sollte die popularisierende Wirkung von Methoden, die hierarchische Klassifiziemngen ver-
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Schlussfolgerungen
sprechen, nicht unterschatzt werden. Im Anschluss an Hannah Arendt, Benedict Anderson und Gisela Bock sollten wir in Erinnerung behalten, das die Ideologien, in denen die Phantasien des Rassismus ihren Ursprung haben, in Wirklichkeit eher solche der Klasse als der der Nation sind7^^ Auch mogen in Landem, in denen die soziale Mobihtat traditionell einen hoheren Stellenwert hat, merkmalsorientierte Systematiken eher etwas Spielerisches an sich haben. In Deutschland ist das aber aufgrund der historischen Entwicklung der gesellschaftlichen Verhaltnisse (standische Reste!) nicht der Fall. Die Intergenerationen-Mobilitat und die relative Berufsmobilitat sind in Deutschland (immer noch) geringer als in vielen anderen Landem: "Der Grund fur die hohe berufliche Stabilitat liegt im hochdifferenzierten und breit ausgebauten deutschen Berufsausbildungswesen, insbesondere in der 'dualen Berufsausbildung'. Die meisten Berufe haben klare formale Qualifikationsvoraussetzungen. Dadurch ist die Koppelung zwischen Qualifikation und beruflicher Position besonders eng. Einerseits sind dadurch die Berufstatigen gut qualifiziert, andererseits ist die Karrierestruktur wenig durchlassig." ^^^ Geschlossene Systeme vertikaler Klassifizierung faszinierten Wissenschaftler gerade wegen ihrer scheinbaren Plausibilitat noch Jahrzehnte nach dem 'Dritten Reich'. So hatte auch die vorgestellte Systematik von Egon Freiherr von Eickstedt und Use Schwidetzky eine langere Wirkungsgeschichte: "Noch seltsamer mutet es an, wenn VogeF^^ die 'klassischen' Rassensystematiken ftir wissenschaftlich uberholt erklart, im gleichen Atemzug eine gewisse Plausibilitat aber durchaus anerkennt und ausgerechnet ein Klassifizierungssystem, das bestimmte Merkmalskomplexe jeder Rasse nach einem Punktesystem bewertet, lobend hervorhebt.""^'^ Der in diesem Buch gewonnene Uberblick iiber die zeitgenossischen Studien hat gezeigt, dass - iiber alle Denkstile hinweg - die wichtigste Gestaltungsabsicht der Bevolkerungswissenschaftler unmittelbar vor und wahrend des Nationalsozialismus darin lag, den "fehlgeleiteten sozialen Aufstiegswillen" (Friedrich Zahn) 'wissenschaftlicher' Kontrolle zu unterwerfen. Dass dieses Denken keineswegs durch die totalitare NS-Staatsmacht seine Impulse erhielt, zeigen nicht nur die Schriften, die vor der "Machtergreifung" durch die Nationalsozialisten (erinnert sei an Mackenroth und Mitgau) verfasst wurden, sondem der Umstand, dass in der intemationalen Demographic in eine ahnliche Richtung gedacht wurde. Es war zunachst nicht klar, in wessen Interesse Sozialtechniken Anwendung fmden sollten - von daher liebaugelten sowohl 'rechte' wie 'linke' Wissenschaftler mit ihnen; dass sie Anwendung zu fmden batten, war grundsatzlicher Konsens zu Beginn der 1930er Jahre. Das Bemtihen um die Bestandserhaltung (aufgrund des Geburtenruckgangs) bzw. die mengenmaBige VergroBerung der Bevolkerung und die beabsichtigte Lenkung der sozialen Stratifikation gehorten fiir die Wissenschaftler zusammen wie die zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Vgl. Arendt 1955; Anderson 1988; Bock 1986 Hradil 2002:372. Gemeint sind Ausfiihrungen des Heidelberger Anthropologen Friedrich Vogel in einem Aufsatz zum Thema "Sind Rassenmischungen schadlich?" (vgl. Vogel 1983:9f.) Finn/Nebelung 1992:25f.
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Dabei ist in Erinnerung zu rufen, das es um die antizipierten Herrschaftstechniken eines totalen Staatsapparates ging; von derartigen 'Laborbedingungen' absoluter Macht hatten Generationen von Sozialwissenschaftlem nur traumen konnen^^^ In den vorgestellten Denkstilen spielten dann in der Tat okonomische Argumente eine untergeordnete Rolle, sondern eher soziologische Einsichten, insoweit sie als Mittel zur sozialen Kontrolle der Bevolkerung den Machthabem unterbreitet werden konnten. Obwohl sich die Leipziger Bevolkerungssoziologen von vomherein Illusionen tiber den Charakter des (dann tatsachlich totalitaren) NS-Staates im Sinne einer 'konservativen Revolution' machten, bahnten sie den Weg fiir die technokratische Zurichtung der empirischen Sozialwissenschaft. Gegen den als liberholt und unrealistisch abqualifizierten Gemeinschaftsbegriff von Ferdinand Tonnies, setzten die Leipziger eine als technokratische Aufgabe gedeutete Revitalisierung verlorengegangener "Gemeinschaft" uber die Ordnung des Raums. Eine Zielsetzung, die in den SS- (Konrad Meyer) und SD-Forschungsstaben (Hans Joachim Beyer u.a.) dann spater auf ganz eigene Weise und viel radikaler verstanden wurde.^^^ Die Hinwendung zur demographischen Entwicklung und anderen bevolkerungswissenschaftlichen Themata blieb der Leipziger Forschung immer sekundar. Zwar war noch vor 1945 eine instrumentelle Adaption der Marxschen Einsichten in die Bevolkerungsvorgange fiir die Leipziger Forschung typisch, doch suchten Ipsen und seine Wegbegleiter nach 1945 nicht zufallig den Strukturfunktionalismus amerikanischer Pragung in die eigenen Modelle 'sozialer Ordnung' des "Volkes" zu integrieren. Mit einem Karl Valentin Miiller, der aus der Sozialeugenik herkommend ursprunglich ganz andere Interessen verfolgte, blieb man sich einig, dass "jede Sozialordnung einer arbeitsteiligen Gesellschaft eine naturliche Hierarchic nach verschiedenen Sozialfunktionen bildet" (K.V. Miiller). Nicht nur Karl Marx, auch Joseph Schumpeter wurde dann gnadenlos in Anspruch genommen ("soziales Connubium"), wenn es der Verbreitung des politisch opportunen Gesellschaftsbildes dienlich war. Die Stabilitat der gesellschaftlichen Strukturen resultierte in diesem Denken aus einer immer wieder aufs Neue ins Werk zu setzenden "richtigen" (funktionalen) Zuordnung der Berufsgruppen, denn Gesellschaft funktioniere nur dann, wenn diese auch auf das "klaglose Einverstandnis" (K.V. Miiller) ihrer (benachteiligten) Akteure setzen konne. Um den Benachteiligten das Einverstandnis zu erleichtern, wurden gegebene Hierarchien als "natiirliche" Abstufungen und soziale Selektionen als "natiirliche" Resultate gesellschaftlichen Miteinanders ausgewiesen. Hier lag aber auch die Achillesferse dieser "Schichtungsforschung". Die Prozesse raschen sozialen Wandels und sozialer Mobilitat, und damit die Dynamik modemer Gesellschaften, konnten auf diese Weise kaum eingefangen werden. Die Gruppe um Ipsen verstellte sich obendrein durch eine im Kern agrarisch gepragte Vorstellung von der Distribution gesellschaftlicher Ressourcen den Blick auf eine modeme Bevolkerungssoziologie. Wenn wir nun zu den Kieler Arbeiten von Gerhard Mackenroth und Rudolf Heberle kommen, so stellen wir einerseits erhebliche Uberschneidungen mit den bisher vorgestellten Denkstilen fest, aber auch signifikante Abweichungen. Theodor Geigers Diktum, dass der Begriff der Schicht - wenn er denn iiberhaupt Sinn mache - "autogenetisch gewonnen werden (miisse), nicht subsumptiv",^^^ nahmen sowohl Gerhard Mackenroth wie auch Rudolf ^'^ 720 721
Vgl. zur Selbstmobilisierung der Wissenschaft unter NS-Bedingungen auch: Herbert 2004. Vgl. Gutberger2l999 Vgl. Geiger 1967 (1932): 125.
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Schlussfolgerungen
Heberle im Unterschied zu den Leipziger Bevolkerungssoziologen sehr emst. Doch auch Mackenroth ging es um die Erklarung des Zusammenhangs zwischen der BevolkerungsgroBe und der Organisation des gesellschaftlichen 'Geriistes'. Die die BevolkerungsgroBe beeinflussenden okonomische Indikatoren des Wohlstands sind nur dann sinnvoll zu gebrauchen, wenn sie in den soziologischen Rahmen schichtspezifischer Konsumnormen diskutiert werden. Zur Erfiillung der Konsumnormen sei eine immer groBere Zahl von Familien dazu gezwungen, die FamiliengroBe einzuschranken. Mackenroth pladierte dafur, mindestens Teile der materiellen Wohlstandssteigerung aller fiir eine sozialere Gestaltung der Gesellschaft zu verwenden. Nur so sei der "Bevolkerungsbestand" zu halte: "Es liegt in der Ordnung unserer Gesellschaft eine Tendenz, einen groBen Teil der materiellen Wohlstandssteigerung in einer sozial teilweise sogar unerwunschten Aufwandsstandardisierung zu absorbieren und dafur den sozial erwiinschten und vordringlichen Aufwandsbereichen immer groBere Einkommensteile zu entziehen." Mackenroths Gesellschaftsbild war jedoch nicht dynamischer Natur, sondem setzte an eine statische und vertikale Vorstellung (der Gesellschaft) an, wobei er die "Siebung" jedes Einzelnen ftir ein evidentes Prinzip gesellschaftlicher Organisation hielt. Die Verwendung des Begriff der "Siebung" determinierte den Mackenrothschen Ansatz von vomherein, und zwar dahingehend, dass untereinander unverbunden gedachte Individuen soziale Kollektive konstituieren, die konkurrieren, nicht kooperieren. Nicht das generationsweise vermittelte biologische Erbgut bewirke sozialen Wandel, wohl aber das von Mackenroth als unhintergehbar ausgegebene Prinzip der Konkurrenz der Menschen untereinander. Den "Siebungs"-Begriff libernahm Gerhard Mackenroth von Wilhelm Emil Mtihlmann. Mtihlmann wiederum bezog sich stark auf den Schichtungsbegriff der (historischen) Psychologic, von dem auch Gunther Ipsen stark beeinflusst war. "Siebung" setzte fiir Mackenroth (im Gegensatz zur biologistisch verstandenen 'Auslese') zwar die Moglichkeit von Ubergangen zwischen sozialen Schichtgrenzen voraus, die "Neuverteilung des Bestandes jeder Generation" bedeutete fur Mackenroth jedoch nicht, dass das "Schichtengefuge" selbst neu entstand. Die bekannten Formen der Verteilung sozialer Positionen blieben, sie wurden nur mit jeder Generation - und das auch nur bei einem offenen 'Gefage' - durch andere Menschen besetzt Die "Siebung" fungierte bei Mackenroth als Korrekturinstanz fur die irreversibel verstandene biologische "Auslese", denn durch "Siebung" erganzten obere soziale Schichten ihren Bedarf an Nachwuchs nach eigenem Gutdtinken. Entscheidend fur den zahlenmaBigen Bestand einer sozialen Schicht sei - so Mackenroth - die Assimilationsfahigkeit der Neuhinzukommenden. Umgekehrt wurde der Geburtenriickgang in den 'hoheren' gesellschaftlichen Gruppen als soziales Regulativ (wie wir das auch bei Theodor Geiger gesehen haben) fiir die 'Ordnung' der gesamten Gesellschaft wahrgenommen. Eine sozialordnerische Intention ist auch in den Arbeiten von Rudolf Heberle nicht zu iibersehen, da auch er immer "eine neue Idee der Gemeinschaft" (im Sinne seines Schwiegervaters Tonnies) durch seine bevolkerungswissenschaftlichen Arbeiten zur Migration transportiert wissen woUte. Den durch okonomische Modemisierungsprozesse ausgelosten sozialen Wandel beurteilte er in den 1930er Jahren eher pessimistisch, er trat aber fiir eine unbedingte empirische Bestandsaufnahme der sozialen Folgen (Soziologie des Verhaltens 'konkreter Gruppen') kapitalistischer MaBnahmen ein. Im Unterschied zu den Leipziger 'Bevolkerungssoziologen', im Unterschied aber auch zu Gerhard Mackenroth, folgte Heberle in seinen bevolkerungswissenschaftlichen Analysen nicht dem Ideal einer streng sozial stratifi-
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zierten Gesellschaft. Er bemlihte sich stattdessen um die Aufklarung der soziologischen Ursachen des Verhaltens Einzelner, soweit dieses flir die Migration und die demographische Entwicklung relevant war. Fiir Heberle war die politische Formung einer "Gemeinschaft" (nicht ihre 'Schopfung') nur via detaillierter Kenntnisse liber soziologische Phanomene moglich. Die biologische Bedingtheit der Menschen (obwohl Bestandteil seiner bevolkerungswissenschaftlichen Forschungen) war bei ihm nie wirkende Ursache eines sozialen Vorgangs. Explizit wandte sich Heberle dagegen, wie auch immer messbare 'Begabung' und 'Intelligenz' zu einem Mobilitatskriterium zu erheben - stattdessen wurden die "wirtschaftlichen und sozialen Zustdnde am Abwanderungsort" in ihrer 'auslesenden' Wirkung thematisiert. Auslese und Konkurrenz waren hier nicht der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung - im Gegensatz zu einigen der o.g. Denkstile (vgl. Mtiller, Mackenroth) -, sondem Heberle bemiihte sich zu zeigen, unter welchen soziologischen Umstanden sie auftreten kann und welche soziale Folgen dies hat. Auch finden wir bei Heberle Reflexionen zum Zusammenhang zwischen raumhcher MobiHtat und demographischer Entwicklung. Heberle betonte, dass nicht von "Bevolkerungen" eine wie auch immer geartete Gefahr fiir zuklinftige gesellschaftliche Entwicklungen ausgehe, sondem die (kapitalistische) Form der Organisation der Gesellschaft selbst stellte fur ihn diese Gefahr dar, weil mit der okonomischen Rationalisierung und der Bildung einer Wohlstandsgesellschaft die Durchsetzung tendenziell anti-sozialer Leitbilder fur eine wachsende Zahl gesellschaftlicher Gruppen attraktiv werde - mit entsprechenden Rlickwirkungen auf die Entwicklung der Bevolkerungszahl. Doch trotz alledem: Heberle entwickelte kein Bedrohungsszenario der Modeme, sondem zeigte ganz ntichtem, wie sich bspw. das Verhalten von Migranten durch einen Zuwachs an Handlungsmoghchkeiten auszeichne, weil sich das soziale "Gefuge" 'lockert' und Bindungen weniger restriktiv wirken wurden. Andererseits waren Einsichten in die Prozesse der Migration in "gemeinschaftsmaBigen Verbanden" (Kettenwandemngen) wohl auch eine stete Versuchung, diese Erkenntnisse mit soziaUechnologischen Zwecken zu verbinden, wie wir an seinen Ausflihmngen zur Wandemngsstatistik und zu den 'mobilen Schichten' gesehen haben. Gerade hier ist aber das Bild, das wir von Heberle gewonnen haben, sehr ambivalent. Obwohl sich Heberle sicher liber die Irrelevanz einer 'optimalen Verteilung der Arbeitskrafte im Raum' flir die Gemeinschaftsbildung im klaren gewesen ist, entzog er sich dieser Form der 'Okonomisiemng' der Bevolkemngsfrage im Dritten Reich erst durch seine Emigration. Von den eben dargestellten soziologischen Einsichten in die Bevolkemngsprozesse waren die sozialmorphologischen Arbeiten der Breslauer Gruppe weit entfernt. Parallelen zu den bereits dargestellten Denkstilen fmden wir hier eher, wo es um die Identifikation und die Suche nach den Adressaten staatlicher Bevolkemngspolitik ging. Die Suche nach standischaristokratischen 'Formengruppen' erinnert durchaus an das diffuse Schichtungsmodell von Gunther Ipsen, wobei sich von Eickstedt seine Ungleichheitskategorie aus der Ethnologic entlieh - und nicht wie Ipsen, aus der Psychologic oder gar der Soziologie. Auch fmden wir bei Eickstedt / Schwidetzky wieder das Repertoire der stigmatisierenden Bevolkemngssoziologie a la Karl Valentin Mliller (soziale Bewahrung, Sozialtypus etc.). Prozesse sozialer Mobilitat wurden als Resultate der Auseinandersetzung konkurrierender Individuen bestimmter Erbeigenschaften gedeutet. Hier zeigt sich noch einmal, dass in der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung die Schichtungs- und Mobilitatsbegriffe aus unterschiedlichen Disziplinen (neben der Soziologie vor allem aus der Geographic, der Psychologic, der Volkskunde, der Ethnologic und der Geschichtswissenschaft) stammten. Auch der
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Schlussfolgerungen
Breslauer Denkstil war gepragt von dem Muster eines statisch vorgegebenen 'Gefiiges', welches Menschen nach (okonomischen und sozialen) Funktionen sortierte. Die 'Gestalt' des Sozialaufbaus erschien auf ewig irreversibel fixiert und unhintergehbar. 'Dynamisch' erschienen jedoch 'homogene Bevolkerungen', die in politisch-administrativen Raumen 'wandem' und nach soziahechnischen Ordnungsmuster 'auf ihre Platze' verwiesen werden konnten. An dem iibergreifenden Ziel, namlich uber eine "empirisch-sozialwissenschaftliche" Bevolkerungsforschung der beschriebenen Formen etwas liber die Zusammenhange zwischen der gesellschaftlichen Organisation und der quantitativen Bevolkerungsentwicklung zu erfahren, scheiterten die Bevolkerungswissenschaftler vor 1945. Fiir eine sich nach 1945 demokratisierende Gesellschaft blieben die Einsichten auch zu partiell und die gesellschaftliche Differenzierung war bereits zu komplex - auch fehlte schlicht der notwendig theoriegeleitete Zugang. Gleichwohl wurde an einigen Beispielen aus dieser Forschung nach 1945 erlautert, wie virulent sozialordnerisches Denken blieb. So bleibt zum Abschluss nur, auf die (moglichen) besseren Traditionen einer sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung auBerhalb Deutschlands in den 1930er, 1940er und 1950er Jahren zu verweisen. Erst in der Auseinandersetzung mit ihnen wird erkennbar, welchen Stellenwert die Bevolkerungsforschung in Deutschland tatsachlich hatte - und zwar sowohl hinsichtlich des Niveaus der Methoden als auch hinsichtlich sozialordnerischer Instrumentalisierungen. Erst eine vergleichende Analyse iiber die Wahmehmung von (sozialer) Ungleichheit/Mobilitat durch die angelsachsische Bevolkerungsforschung wird uns daruber naheren Aufschluss geben konnen.
III. Abstract der Schlussfolgerungen und Ausblick Dort, wo sich Sozialwissenschaftler wahrend des Nationalsozialismus mit Fertilitat, differenziellen Geburtenraten oder den sozialen Ursachen des Geburtenriickgangs befassten, geschah dies in einem engen Zusammenhang mit Ordnungsentwiirfen fur die neue Gesellschaft. Diese ruhte - entgegen der offiziosen Sprachregelung - zunachst auf dem Fundament der sozialen Stratifikation der 'alten' Gesellschaft. So divergent das sozialeugenische Denken eines Karl Valentin Miiller auch zu den sozialkonservativen Vorstellungen eines Gunther Ipsen oder Gerhard Mackenroth gewesen sein mag; einig war man sich doch darin, dass weiterhin klar sein musste, dass eine Gesellschaft nur in vertikalen Kategorien gedacht werden kann und das sich im unteren Drittel dieser Vertikalen diejenigen befmden, die die Gemeinschaft unter Umstanden allein durch ihre Existenz belasten. Gemeinsam war den Vertretem der deutschen Bevolkerungslehre auch, dass sie das NS-Rassenvokabular dazu benutzten, um sozial defmierte Grenzen und Statusunterschiede zwischen Menschen als 'natiirliche' Hierarchien auszuweisen. Deshalb fmden wir in der damaligen Bevolkerungsforschung immer wieder Arbeiten, die gerade nicht von einer Legitimationsbeschaffung fur die nationalsozialistische Rassen-Ideologie oder fur spezifische Sozialutopien der Nationalsozialisten zeugen, sondem von dem Versuch angeleitet wurden, der sozialen Ungleichheit in Gesellschaften generell Legitimation zu verschaffen oder die soziale Statussicherung 'ethnischer' Gemeinschaften sozialtechnisch zu regulieren. Soziale Ungleichheit wurde von den deutschen Wissenschaftlem zwar als 'natUrliche' Ungleichheit z.T. der wissenschaftlichen Betrachtung generell entzogen, aber eben nicht
Abstract der Schlussfolgerungen und Ausblick
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dort, wo das Analysepotential einer soziologisch-demographischen Betrachtung fur sozialtechnologische Zwecke - eben die Steuerung sozialer Ungleichheit - ntitzlich erschien. Wiederholt ist in der gesamten vorliegenden Untersuchung auf die politische Steuerung der Berufswahl als wichtiges Anwendungsfeld sozialwissenschaftlicher Bevolkerungsforschung in Deutschland hingewiesen worden. Der "Beruf' (occupation) und daran ankniipfend die "Bildung" (education) und die "Leistung" (achievement) waren aber auch ganz zentrale Kategorien der amerikanischen und britischen Sozialwissenschaften der 1930er und 1940er Jahre. Die vorgelegten Resultate lassen vermuten, dass die neueren Theorien zur sozialen SchlieBung auch bei der international vergleichenden Aufarbeitung der Geschichte empirischer Sozialwissenschaft sinnvoU anzuwenden sind. Diese komplexe Aufgabe lieBe sich aber gleichwohl nur in einer eigenstandigen Untersuchung angemessen bewaltigen.
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Anhang
(September) Vortrag auf der Konferenz "Synthetische Anthropologic, Mainz. Vortrage zum Thema "Die sozialen und kulturellen Folgen der groBen Bevolkerungsvermehrung des 19. Jahrhunderts" (zusammen u.a. mit Use Schwidetzky, Hans Freyer, Peter Rassow, Paul Reiwald) 1950 Das "Jahrbuch fiir Sozialwissenschaft (mit Bibliographie der Sozialwissenschaften)" (Hrsg. Andreas Predohl) erscheint mit einem Aufsatz ("Bevolkerung und Wirtschaft") von Gerhard Mackenroth Vortrag auf dem 14. Internationalen Soziologenkongress, Rom: "Einige soziologische Probleme der Bevolkerungsprognose" 1951 Aufsatz Bevolkerungswissenschaft ohne Bevolkerungstheorie? (Weltwirtschaftliches Archiv Jg. 66,1, 49-55 Beginn der Untersuchungen zu den Wirkungen der Sozialgesetzgebung Teilnahme an der "Aussprache der Auslandswissenschaftlichen Gesellschaft zum Thema 'Der Neumalthusianismus als Mittel der Aussenpolitik", Hamburg, 15.6.1951, Esso-Haus. Leitung: Prof Hans Harmsen. Mackenroth beteihgt sich mit einem Referat, in dem er erlautert, "das der Kern der 'Ubervolkerung' im unproduktiven, iiberhohen Arbeitsaufwand technisch ruckstandiger Agrargebiete stecke."^ (?) unter Mackenroths Direktion: Einrichtung der "Forschungsgruppe Bevolkerung" am Soziologischen Seminar der Universitat Kiel. Die Arbeitsgruppe besteht aus den Einzelarbeiten "Bevolkerungsentwicklung und Leistungspotential (K. M. Bolte)^"; "Die Sexualproportionen der Geborenen" (M. Teichert); "Russische Familie, Heimkehrerbefragung" (M. Bischoff); Einrichtung der "Forschungsgruppe Wandlungcn der deutschcn Sozialstruktur" am Soziologischen Seminar der Universitat Kiel (Leitung Karl Martin Bolte, darunter Arbeiten zu "Soziale Schichtung und vertikale Mobilitat"^; "Soziale Heiratskreise"; "Berufsprestige"; "Konsumgewohnheiten"; "Schichtbilder von 280 Gemeinden"; "Soziale Herkunft Kieler Berufsschiiler^ u.v.a.m. Einrichtung der "Forschungsgruppe Landbevolkerung" am Soziologischen Seminar der Universitat Kiel (Leitung: Erik Boettcher, darunter Arbeiten zu "Vertikale Mobilitat (in einem ausgewahlten Bezirk)"^ "Herkunft der Fabrikarbeiter vom Lande"; "Struktur von Handwerksbetrieben auf dem Lande"; "Erfolge der Umsiedlung" Einrichtung der "Forschungsgruppe Verflechtung der Sozialleistungen"J am Soziologischen Seminar der Universitat Kiel (darunter Arbeiten zum "Studium der Sozialgesetze"; Stichprobe "B" unter 6200 Sozialleistungsempfangem (Sozialleistungskombinationen); "Auswartige Sozialsysteme"; "Die Sozialfmanzen im volkswirtschaftlichen Kreislauf''^ MitgHed in der "Arbeitsgemeinschaft der sozialwissenschaftlichen Institute" 1952 "Etat actuel des recherches demographiques en Allemagne" veroffentlicht in "Population" (Paris) (Sommer) Vortrag vor dem Verein fiir Sozialpolitik: "Die Reform der deutschen Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan"
Chronologisch geordnete Daten zur Biographie von Gerhard Mackenroth
191
1953 (Februar) "Fuhrende Bevolkerungswissenschaftler aller Fakultaten von zwolf deutschen Universitaten haben sich als Mitglied der Deutschen Akademie fiir Bevolkerungswissenschaft an der Universitat Hamburg eingetragen. Die Kieler Universitat ist durch Prof. Mackenroth (Nationalokonomie) vertreten. Die Aufgaben der Akademie bestehen in der Durchftihrung von groBeren Forschungen auf bevolkerungswissenschaftlichem Gebiet, die nach dem Kriege noch kaum angelaufen sind, sowie aus der Koordinierung der wissenschaftlichen Arbeit unter den Mitgliedem. Zum Prasidenten wurde der Hamburger Professor Dr. Harmsen und zum Verbindungsmann zur deutschen Forschungsgemeinschaft der Hamburger Kultursenator Landahl gewahlt. Professor Mackenroth erklarte gestem auf einer Arbeitstagung in Hamburg, ein umfassender Familienlastenausgleich soUte dafiir sorgen, dass das Kind aufhort, ein reiner Kostenfaktor in der Familie zu sein."^ Else Bohnsack, Mitarbeiterin von Mackenroth am Soziologischen Seminar Kiel (Projekt Sozialstruktur Schleswig-Holstein) nahm zusammen mit dem Fltichtlingsausschuss des Schleswig-Holsteinischen Landtages an einer Tagung "Europaische Forschungsgruppe fiir Fluchtlingsfragen in Strassburg" teil'" Veroffentlichung "Bevolkerungslehre - Theorie, Soziologie und Statistik der Bevolkerung" ("die letzte deutschsprachige enzyklopadische Einfiihrung in das Fach" v. Brocke) empirische Untersuchung der Sozialstruktur Schleswig-Holstein Artikel von Heinrich Guthmann im Flensburger Tageblatt daruber: Schleswig-Holsteinische Landkreise in den Untersuchungen der Frankfurter Soziographischen Geseilschaft - Stadtisch-landliche Mischform als neuer Siedlungstyp: "Um fiir unsere Darstellung die Bindung an die ortlichen Gegebenheiten zu sichern, wurde mit dem Soziologischen Seminar der Kieler Christian-Albrecht-Universitat Fiihlung aufgenommen, dessen Direktor, Professor Dr. Mackenroth, die enge Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Forschungskreis bestatigt und dessen Leitsatze grundsatzlich anerkannt hat"" Aufsatz "Bevolkerungslehre" in "Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde" (Gehlen/Schelsky). Aufsatz "L'importance de la limite d'age dans le rapport de population active- population inactive" 1954 (Juni) Berufung in den "Beirat fiir die Neuordnung der sozialen Leistungen" des Bundesarbeitsministeriums Berufung in den "ArbeitssauschuB fiir Grundsatzfragen" des Bundesarbeitsministeriums°;
192
Anhang
1954/ "Nach seiner (Mackenroths, H.G.) Uberzeugung gibt es in der Gegenwart eine ahnli1955 che Situation wie in der zweiten Halfte des vorigen Jahrhunderts, als Professoren vom Katheder der Horsale aus die staatliche Neuordnung im Sozialen verlangten. Von ihren Widersachern als Kathedersozialisten verschrien, wurden sie dennoch durch den Erfolg der Bismarckschen Sozialgesetzgebung gekront. Auch heute wiederum konnte nur die vorurteilslose und politisch ungebundene Wissenschaft durch den FleiB ihrer Forschung den wirklichen Beweis fiir die Notwendigkeit und Art einer umfassenden Reform erbringen. (...) Die Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Institute regte ein Schwerpunktprogramm mit sozialpolitischen Forschungsvorhaben an, mit denen im Herbst vergangenen Jahres uberall in der Bundesrepublik begonnen wurde. Zwei Arbeiten davon nahm Mackenroth in das Soziologische Seminar: Eine Untersuchung iiber die Sozialfmanzen im volkswirtschaftlichen Kreislauf (Dr. Hansen), die jetzt vor der Veroffentlichung steht, und eine Untersuchung iiber Kommulation von Sozialleistungen und Arbeitseinkommen in landlichen Haushalten (Dr. Boettcher), mit deren ersten Ergebnissen im Sommer zu rechnen ist. Auch die Forschungsgesellschaft fiir Agrarpolitik und Agrarsoziologie beteiligte sich und stellte ihre jahrlichen Untersuchungen zum ersten Male unter ein Spezialthema: Die soziale Sicherung auf dem Lande. Eine dieser Untersuchungen wurde wiederum an das Soziologische Seminar vergeben."P 1955 (September) Vortrag "Wandlungen der Sozialstruktur in Deutschland" in Alpach bundesweite angelegte Sozialenquete "Die Verflechtung der Sozialleistungen" (aus: Zeitschriftenarchiv , "Industriekurier, Nr. 8, 19.1.1954) Diese Untersuchung gab den AnstoB "zu der dann vom Gesetzgeber beschlossenen Bundessonderstatistik iiber die sozialen Verhaltnisse der Renten- und Unterstutzungsempfanger, die sogenannte Sozialenquete oder "L-Untersuchung" (Quelle: Zeitschriftenarchiv, "Der Arbeitgeber", 20. April 1955, 279) "In einer Zeit, in der die sozialpolitisch interessierten Gemiiter durch die Schlagworte 'Doppelrentner' und 'StaatsnutznieBer' beunruhigt wurden und in der kein Fachmann der Sozialpraxis eine wirklich befriedigende Antwort auf die Fragen des Forschers geben konnte, schuf er durch mutiges Eindringen in sozialwissenschaftliches Neuland einen klaren Uberblick. Diese erste Bestandsaufnahme fand in der Berufung zweier seiner Assistenten in das Statistische Bundesamt zur Mitarbeit an den Vorbereitungen der Sozialenquete 'L' ihre offentliche Anerkennung."^ 1955 17.Marz,TodinKiel (Nachruf von Ludwig Neundorfer in "Soziale Weh" 6 (1955), Heft 1, 68 (posthum) Aufsatz "Die generative Struktur von Bevolkerungen und Sozialschichten", in: WeltwirtschaftHches Archiv 75, 1-17 a. b. c. d. e. f g.
Die Angaben zum Jahr 1934 beruhen auf einer telefonischen Auskunft durch Carsten Klingemann, 28.7.2004 Quelle: Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fiir Weltwirtschaft, Kiel. Vgl. Wolff 1938:161ff. Vgl. "Frankfurter Zeitung", Nr. 610, 29.10.1942; "Rumanischer Wirtschaftsspiegel", Bukarest, Nr. 10, 20.1.1943 (Quelle: Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fiir Weltwirtschaft, Kiel.) Vgl. Notiz vom 6. Januar 1952 in Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fiir Weltwirtschaft, Kiel, Vgl. Bolte 1954 Vgl. dazu auch Karl Martin Boltes Habilitationsschrift Bolte 1959a.
Chronologisch geordnete Daten zur Biographie von Gerhard Mackenroth h. i.
j.
k. 1. m. n. 0. p. q.
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Vgl. dazu eine entsprechende Kieler Untersuchung an Volksschiilem des Bevolkerungswissenschaftlers und Sozialanthropologen Hans Wilhelm Jiirgens, der der o.g. Forschungsgruppe nicht angehorte: Jlirgens 1957. Vgl. dazu auch eine entsprechende Kieler Untersuchung zur geographischen und sozialen Mobilitat bei der "Abwanderung vom Lande" ebenfalls durch Hans Wilhelm Jiirgens: vgl. Jiirgens 1959. Von ihm wurden des weiteren Untersuchungen zur "Asozialitat als biologisches und sozialbiologisches Problem" (vgl. Jiirgens 1961) und "Sozialanthropologische Untersuchungen in Schlewig-Holstein zur Frage der sozial differenzierten Fruchtbarkeit" (vgl. Jiirgens 1963a) verfaBt. Zusammen mit 20 Studierenden untersuchte Mackenroth 8000 Aktenfalle hinsichtlich verflochtener Sozialleistungen. In den "Gewerkschaftlichen Monatsheften" wurde diese Untersuchung als "Soziographie" bezeichnet (vgl. die Rezension von Mackenroth 1954 durch "W.D." in "Gewerkschaftliche Monatshefte", Nr. 5, Mai 1955) Alle zu den Forschungsruppen gegebenen Hinweise in "Ubersicht iiber laufende Forschungsarbeiten, Stand 1. September 1953", Soziologisches Seminar der Universitat Kiel, Direktor: Gerhard Mackenroth, (Quelle: Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fiir Weltwirtschaft, Kiel). Vgl. Artikel "Akademie fiir Bevolkerungswissenschaft" in: "Kieler Nachrichten", Nr. 46, 24. Februar 1953 (Quelle: Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fur Weltwirtschaft, Kiel). Quelle: Personalmappe Mackenroth, Info vom 2.11.1953, Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fiir Weltwirtschaft, Kiel. Quelle "Flensburger Tageblatt", 7. April 1954, Nr. 52 Vgl. den Nachruf in "Artzliche Mitteilungen", 40. Jg., Heft 12 vom 21. April 1955:368 (Quelle: Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fiir Weltwirtschaft, Kiel). Vgl. "Mackenroth, ein Soziologe aus Berufung", in: "Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung", Kiel, Nr. 78, 2. April 1955 (Quelle: Personalmappe Mackenroth, Wirtschaftsarchiv des IfW Kiel.) Vgl. den Nachruf in "Bundesarbeitsblatt", Nr. 13, 1955:513 (Quelle: Personalmappe Mackenroth, Archiv des Instituts fur Weltwirtschaft, Kiel).
Personenindex
Aly,GotzV, 9, 134, 169 Ander, Albert 36, 169 Anderson, Benedict 162, 169 Andorka, Rudolf 28, 30, 31, 32, 33, 169 Arendt, Hannah 5, 9, 10, 162, 169 Aubin, Hermann 155 B Bachmann, Werner 116, 169 Barlosius, Eva 157, 169 Bauermeister, W. 189 Bausinger, Hermann 102 Bente, Hermann 116, 125, 179 Berger, Johannes 14, 30, 169 Berger, Peter A. 30, 169 Bemsdorf, Wilhelm 5, 50, 71, 104, 145, 169, 171, 178, 186 Beveridge, William Henry 189 Beyer, Hans Joachim 84, 156, 163, 169 Biagioli, Mario 19, 169 Birg,Herwig 100, 169 Bischoff,M. I l l , 185, 190 Bock, Gisela 162, 169 Boettcher, Erik 192 Bohnsack, Else 191 Bohnstedt, Werner 129 Bollenbeck, Georg 169, 174, 178 Bolte, Karl Martin 1,2, 6, 8, 12, 64, 65, 93, 97, 98, 99, 111, 148, 169, 170, 180, 184, 190, 192 Booth, Charles 20 Borch, Rudolf 59 Bourdieu, Pierre 86 Boustedt,01af73,74, 170 Brackmann, Albrecht 65 Braunschadel, Wolfgang 58, 170 Brepohl, Wilhelm 14, 58, 62, 69, 101, 170 Breuer, Stefan 11, 38, 39, 91, 92, 95, 170 Brinkmann, Carl 130 Brocke, Bemhard vom 6, 8, 11, 25, 36, 45, 73, 74,76,93, 147, 149, 170, 191 Brunner, Otto 12 Budge, Siegfried 170
Burgdorfer, Friedrich 6, 11, 26, 35, 36, 37, 38, 41, 45, 48, 53, 54, 55, 56, 57, 65, 71, 73,74,96,102,141,160,161,170,173 Busch, August 45
Cahnmann, Werner Jacob 125, 145, 171 Chesnais, Jean-Claude 32, 171 Conze, Werner 11, 12, 13, 97, 98, 172, 178 Credner, Wilhelm 129, 171 D Dahm, Georg 139, 183 Dahrendorf,Ralf5, 157, 171 Darwin, Charles 2, 18,61, 110, 112, 113 Davis, Kingsley 14, 171 Deneffe, Peter Josef 35, 50, 51, 52, 53, 111, 171, 173 Dittrich, Manfred 171 Drewek, Peter 40, 80, 86, 87, 88, 171 Driesch, Hans 45 Duncan, Otis Dudley 159, 175 Durkheim, Emile 1, 99 E Edding, Friedrich 72, 146, 171 Ehmann, Christoph 38, 146, 171 Ehmer, Josef VI, 40, 75, 88, 89, 90, 100, 130, 148, 171 Eichler, Hans Werner 53, 171, 179 Eickstedt, Egon Freiherr von 6, 22, 48, 149, 150,151,152,153,154,155,162,165, 171,172, 181,184,185 Elias,Norbert 14, 172 Elster, Alexander 54 Endruweit,Gunter30, 31, 172, 176, 183 Etzemuller, Thomas 75, 89, 90, 98 Eulenburg, Franz 128
Fahlbusch, Michael 172 Feder, Gottfried 51 Ferdinand, Ursula VI, 17, 42, 75, 76, 77, 78, 87, 130, 172
196 Findikoglu, Ziyaeddin Fahri 102 Fischer, Eugen 153, 172 Flaskamper, Paul 35, 40, 44, 45, 46, 47, 48, 49,50,51,172,173,174 Fleck,Ludwik3, 17, 18, 19, 173 Flugel,Axel 12, 13,75, 173 Fliigge, Ludwig 79 Ford, Joseph B. 102 Freyer, Hans 12,46, 75,76, 88, 89,90,91,92, 93, 95, 96, 98,101,124,129,173, 176, 177,178, 182, 184,186,190 Frick, Wilhelm 39 Friedrichs, Jtirgen 65, 66, 173 Flirst, Gerhard 33, 36, 173
Gadamer, Hans-Georg 93 Galton, Francis 19,20,21 Gehlen, Arnold 101, 178, 179, 191 Geiger, Theodor 5,23,29,45,48, 64, 65, 103, 104, 118, 120,121,122,123,124,156, 160, 163, 164, 173, 174, 187 GeiBler,Rainer5, 180, 187 Georg, Werner 30, 31, 172 Geuter, Ulfried 17, 174 Gil, Benjamin 102 Gini,Corrado 101, 182 Ginsberg, Morris 54 Gorzig, Heike VI, 17 Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich von 74 Grebenik, Eugene 112, 174 Griesmeier, Josef 36, 169, 174 Grimme, Adolf 80 Grohmann, Heinz 45, 48 Gross, Walter 140 Grotjahn, Alfred 22, 76 Grundmann, Karl Heinz 48 Gunther, Adolf 54 Gunther, Hans F.K. 11 Gutberger, Hansjorg V, 9, 10, 24, 27, 36, 37, 40, 47, 50, 55, 66, 71, 74, 75, 76, 84, 86, 93, 96, 120, 132, 140, 142, 150, 159,163,174 Guthmann, Heinrich 191
Personenindex H Haar,IngoVI, 152 Haeckel, Ernst 126 Hannon, Stuart L 102 Hanssen, Georg 54 Harms, Bemhard 124, 187 Harmsen, Hans 11, 19, 36, 65, 66, 102, 130, 172, 174, 175, 177, 181, 190, 191 Hartnacke, Wilhelm 40, 82 Haufe, Helmut 75, 93, 96, 98, 174 Hauser, Philip M. 159, 175 Haushofer, Albrecht 65 Heberle, Rudolf 6, 39, 50, 51, 78, 90, 104, 105,107, 116,124,125,126, 127, 128, 129,130, 131, 132,133,134, 135, 136, 137,138, 139, 140,141,142, 143, 144, 145,146, 147, 163,164,165, 175, 186, 189 Heim, Susanne 9, 134, 169 Hengstenberg, Rolf 102 Henninger, Wilhelm 38 Henssler, Patrick VI, 115 Herbert, Ulrich 22, 163, 175, 179, 181 Herkner, Heinrich 72 Herz, Heinz 24, 50, 95, 115 Heyde, Ludwig 35, 175 Hirsch, Max 11 Hoffmann, Walther G. 146 Hohn, Charlotte 146, 147, 175, 176, 178 Hopflinger, Francois 2, 176 Homschu, Hans-Erich 146, 171 Horstmann, Kurt 35, 36 HoBfeld,Uwe41, 176 Hradil, Stefan 29, 31, 33, 43, 162, 176 Huber, Ernst Rudolf 116 Hummel, Diana 17, 176 Huth, Albert 40, 79, 88, 171 I Idenburg, Philip J. 102 Ingenkamp, Karlheinz 82, 176 Ipsen, Gunther 3, 6, 12, 13,40, 55, 61, 62, 68, 75, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 108,129, 163, 164, 165,166, 170, 171, 173, 176, 178, 180
Personenindex
Jahn, Georg 179 Jurgens,HansWilhelm97, 101, 102, 104, 111, 146, 147, 148, 149, 150, 170, 177, 180, 187, 193 Just, Gunther 177
197 Lorenz, Charlotte 72, 73, 74, 75, 170, 179, 186 Lorimer, Frank 70, 71 Losch, August 146 Losch, Niels C. 25 Lucassen, Leo 56, 179 M
K Keyser, Erich 76 Kjellen, Rudolf 66 Klages, Helmut 101, 173, 176, 177, 182 Klemperer, Victor 6 Klenke, Werner 150, 185 Klingemann, Carsten VI, 7, 8, 11, 21, 22, 23, 24, 50, 72, 75, 76, 85, 86, 87, 91, 94, 95,96, 97,120,140,177,178,183,192 Klocke, Friedrich von 57, 178 KoUer, Siegfried 36 KoUmann, Wolfgang 99 Konig,Rene 1, 101, 102, 170, 176, 179 Komrumpf, Martin 65, 76 Koselleck, Reinhart 75, 178 Kranz, Heinrich Wilhelm 36 Kreckel,Reinhard3, 178 Kuczynski, Jurgen 125 Kuhn, Walter 140 Kuhne, Otto 50
Lausecker, Werner VI, 17, 19, 178 Lederer, Emil 5 Lee, Robert VI Lentz, Jacobus Lambertus 141, 180 Lenz, Friedrich (Fritz) 11, 42, 77, 149, 153, 178 Lenz, Karl 35 Linde, Hans 2, 12, 18, 75, 96, 97, 98, 104, 170, 178, 179, 180, 184 Lindenfeld, David 124 Linke, Franz 51 Linke, Wilfried 176, 178 Linton, Thomas E. 32 Lohse, Franz 36, 172, 174, 175, 177, 181
Mackenroth, Gerhard 2, 13, 26, 67, 72, 92, 93, 97, 99, 100, 104, 105, 106, 107, 108, 109,110,111,112,113,114,115,116, 117,118,119,120,122,124,127,132, 139, 141, 146, 148, 162,163, 164, 165, 166, 170, 174, 179, 180, 184, 186,189, 190, 191, 192, 193 Mackensen, Rainer V, 3, 10, 11, 12, 13, 17, 20, 21, 25, 26, 27, 35, 36, 48, 74, 75, 88, 89, 90, 92, 95, 96, 97, 102, 105, 125, 159, 170, 172, 174, 176, 178, 179, 180,182, 183, 184,186 Mackert, Jurgen 4, 24, 180 Malthus, Thomas Robert 61, 94, 190 Mann, Fritz Karl 125 Manuila, Sabin 102 Marx, Karl 5, 59, 89, 95, 98, 139, 141, 160, 163 Mauss, Marcel 99 Mayer, Karl Ulrich 3, 12, 13, 14, 82, 180 Mayr, Georg von 8, 49, 52, 128 Methorst, Henri Willem 141, 180 Meuter, Hanna 64 Meyer, Fritz 78, 116, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 147, 175, 180 Meyer, Hansgunter 173, 184 Meyer, Konrad 5, 163, 189 Meyer, Michael 186 Meyer, Thomas 180, 187 Mitgau, Johann Hermann 3, 14, 26, 35, 38, 41, 42, 43, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 72, 78, 86, 116, 160, 161, 162, 178, 181 Mombert, Paul 54, 128 Moore, Jane 14, 93 Moore, Wilbert E. 14,93, 171, 174 Muckermann, Hermann 36 Muhlmann, Wilhelm Emil 108, 164, 178, 181
198 Muller, Karl Valentin VI, 10, 13, 17, 32, 36, 37, 40, 42, 48, 63, 65, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 95, 101, 102, 103, 104, 114, 116, 122, 136,148,156,161,163,165,166,170, 171,172,173,178,180,181,182,185, 186 Myrdal, Alva 115 Myrdal, Gunnar 115, 145 N Nebelung, Michael 37, 75, 162, 183, 184 Neundorfer, Ludwig 14, 26, 50, 51, 52, 91, 192 Nikolow, Sybilla VI, 21, 182, 183 Nolte, Ernst 10 Nothaas, Josef 20, 40, 41, 42, 43, 44, 58, 64, 159, 160, 181, 183 O Oberlander, Theodor 132 Oeter, Ferdinand 102 Ohlendorf, Otto 140
Papathanassiou, Vassilios 82, 183 Park, Robert E. 125, 126, 171 Paulinus, Gottfried 35 Penck, Albrecht 75 Petermann, Heike VI, 21, 22, 183 Peukert, Detlev J.K. 9, 183 Pfeffer, Karl Heinz 93, 179 Pfeifer, Doris 102 Pfeil, Elisabeth 3, 6,10,26,27, 35, 36,38, 51, 53, 56, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 76, 102, 139, 140, 145, 160, 161, 170, 173,174, 176, 178, 179, 182,183,184, 185 Pflug,Hans39, 183 Pinn, Irmgard 37, 75, 162, 183, 184 Pinwinkler, Alexander VI, 17, 19, 45, 46, 47, 178, 184 Planert,Ute 19, 184 Plessner, Helmuth 101
Personenindex Ploetz, Alfred 11, 17 Predohl, Andreas 98, 116, 189, 190 Proctor, Robert N. 19 R Raehlmann, Irene 7, 116 Rammstedt, Otthein 17, 184 Raphael, Lutz 8, 11, 75, 90, 184 Rasch, Hans Georg 101, 173, 176, 177, 182 Rassow, Peter 190 Ratzel, Friedrich 126 Raupach, Helmut 93 Reiwald,Paul 190 Reulecke, Jurgen V, 9, 174, 180, 183, 184 Riehl, Wilhelm Heinrich 61 Ritter, Robert 55, 56, 187 Ritterbusch, Robert 140 Rohr, Werner 22, 184 Roosevelt, Theodore 71 Ross, Edward Alsworth 125 Rudder, Bemhard de 51 Rumpf, Max 56 Ruttke,Falk55,64, 140
Salvatori, Raffaele 101 Santayana, G. 125 Schafer, Bemhard 184 Schafer, Gerhard 75, 184 Schafer, Lothar 173 Schafer, Manfred 150, 154, 184 Schafers, Bemhard VI, 184 Schaffle, Albert 22 Schallmayer, Wilhelm 11, 22 Schatz, Holger 4, 184 Scheldt, Walter 63 Schelsky, Helmut 11, 179, 191 Schlenger, Herbert 155 Schmid, Josef 105, 170, 180, 184 Schmieder, Oskar 129 Schnitzler, Sonja VI, 65, 184 Schrepfer, Hans 150, 151, 185 Schubnell, Hermann 21, 66, 102, 185 Schulz,Ema 189 Schumpeter, Josef A. 54, 86, 87, 163, 185
199
Personenindex Schwidetzky, Use 7, 101, 102, 114, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 162, 165, 185, 190 Schwinn, Thomas 24, 185 Seller, Karl 26, 55, 56 Sennett, Richard 5, 104, 185 Seraphim, Hans Jiirgen 93, 96 Sering, Max 72, 132 Sieglerschmidt, Jom 119, 185 Sigl, Franz 142 Simmel, Georg 124 SokoU, Thomas 12, 13, 185 Sombart, Werner 54, 60, 94, 124 Sorokin, Pitirim A. 31, 54, 126, 160 Speier, Hans 128 Spencer, Herbert 22 Springer, Martin 85, 186 Stegmann, Kurt 101 Steinmetz, Rudolf Sebald 27, 50, 129, 186 Stowe, Heinz 74, 186
Tawney, Richard Henry 5, 186 Teichert,M. I l l , 190 Tenorth, Heinz-Elmar 88, 186 Thalheim, Karl C. 142 Thomas, Dorothy Swaine 12, 89, 93, 145, 172, 173, 174, 180, 185, 187 Tocqueville, Alexis de 9 Tonnies, Ferdinand 45, 50, 57, 62, 90, 124, 127, 128, 133, 163, 164, 175, 186 U Oner, Elfriede 75, 186 Ungem-Sternberg, Roderich von 102 Utermann, Kurt93, 186
Vienne, Florence 71, 186 Vogel, Friedrich 132, 162, 177, 183, 186 Vollmer,Hildegardl06, 186 Vonderach, Gerd 98, 186 Vowinkel, Kurt 65
W Wagemann, Ernst 73 Waibel,Leo 129 Walther, Andreas 26, 50, 128, 130, 133, 140, 146 Wander, Hilde 171, 175, 176 WaBner, Rainer 65, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 139, 140, 186 Weber, Alfred 24, 54, 55, 64, 124, 132 Weber, Max 24, 54, 55, 64, 124, 132, 181, 186 Wedekind, Michael VI Weichselberger, Kurt 101, 102 Weigt, Ernst 102 Weifi, Anja 32, 79, 187 Werner, Erich 101 WeB,Ludgerl47, 148, 187 Weyer, Johannes 75, 85, 86, 101, 102, 187 Wiese, Leopold von 64 Wietog,Jutta45, 187 Wilsmann, Stefan 5, 187 Winkler, Wilhelm 46, 47, 182, 184 Wolf, Julius 25, 170, 176, 178, 186, 187, 192 Wolff, G. 187, 192 Woltmann, Ludwig 22 Wiilker, Gabriele 76 Wulker, Heinz 55 Wundt, Wilhelm 22
Zahn, Friedrich 6, 8, 11,20,21,35, 36,39,40, 42, 44, 46, 56, 159, 162, 170, 173, 187 ZiegenfuB, Werner 74, 179 Ziemann, Benjamin 91, 187 Zimmermann, Michael 56, 184, 187 Zingg, Walter 4, 187 Zipp, Gisela 4, 187 Zizek, Franz 45