Ullrich Bauer · Andreas Büscher (Hrsg.) Soziale Ungleichheit und Pflege
Gesundheit und Gesellschaft Herausgegeben von Ullrich Bauer Uwe H. Bittlingmayer Matthias Richter
Der Forschungsgegenstand Gesundheit ist trotz reichhaltiger Anknüpfungspunkte zu einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Forschungsfelder – z. B. Sozialstrukturanalyse, Lebensverlaufsforschung, Alterssoziologie, Sozialisationsforschung, politische Soziologie, Kindheits- und Jugendforschung – in den Referenzprofessionen bisher kaum präsent. Komplementär dazu schöpfen die Gesundheitswissenschaften und Public Health, die eher anwendungsbezogen arbeiten, die verfügbare sozialwissenschaftliche Expertise kaum ernsthaft ab. Die Reihe „Gesundheit und Gesellschaft“ setzt an diesem Vermittlungsdefizit an und systematisiert eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf Gesundheit. Die Beiträge der Buchreihe umfassen theoretische und empirische Zugänge, die sich in der Schnittmenge sozial- und gesundheitswissenschaftlicher Forschung befinden. Inhaltliche Schwerpunkte sind die detaillierte Analyse u. a. von Gesundheitskonzepten, gesundheitlicher Ungleichheit und Gesundheitspolitik.
Ullrich Bauer Andreas Büscher (Hrsg.)
Soziale Ungleichheit und Pflege Beiträge sozialwissenschaftlich orientierter Pflegeforschung
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1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15621-7
Inhalt
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Inhalt
Einführung Soziale Ungleichheit in der pflegerischen Versorgung – ein Bezugsrahmen Ullrich Bauer und Andreas Büscher
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Konzeptionelle und theoretische Zugänge Pflege in Figurationen – ein theoriegeleiteter Zugang zum ,sozialen Feld der Pflege‘ Klaus R. Schroeter
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Pflege und Ungleichheit: Ungleiche Citizenship rights im internationalen Vergleich Ursula Dallinger und Hildegard Theobald
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Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung Martin W. Schnell
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Geschlechterungleichheiten in der Pflege Gertrud M. Backes, Martina Wolfinger und Ludwig Amrhein
132
Gibt es eine Unterfinanzierung in der Pflege? Bernhard J. Güntert und Günter Thiele
154
Ökonomisches, soziales und kulturelles „Kapital“ und die soziale Ungleichheit in der Pflege Johann Behrens
180
Empirische Zugriffe I – Kontext und Ausgangsbedingungen von Pflege Soziale Einflüsse auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit älterer Männer Lars Borchert und Heinz Rothgang
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2 Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen vor dem Hintergrund von Bedarf und Chancen Baldo Blinkert und Thomas Klie
Inhalt
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Empirische Zugriffe II – Häusliche Pflegearrangements Töchter pflegen ihre Eltern: Traumatisierungspotenziale in der häuslichen Elternpflege – Indizien für geschlechtstypische Ungleichheit? Melanie Deutmeyer
259
Leben mit einem behinderten Kind: Betroffene Familien in sozial benachteiligter Lebenslage Christa Büker
282
Der Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit, Selbstbestimmungschancen und Pflegeorganisation in häuslichen Pflegearrangements älterer Menschen Josefine Heusinger
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Warum Kinder und Jugendliche zu pflegenden Angehörigen werden: Einflussfaktoren auf die Konstruktion familialer Pflegearrangements Sabine Metzing und Wilfried Schnepp
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Empirische Zugriffe III – Spezielle Zielgruppen und Versorgungsprobleme Der Einfluss sozialer Faktoren auf den Umgang mit komplexen Medikamentenregimen – (k)ein Thema? Anja Ludwig
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Zur Rolle von Ungleichheits- und Machtverhältnissen in der Interaktion zwischen Pflegenden/Ärzten und verschiedenen Patientengruppen im Krankenhaus Verena Dreißig
363
Pflege und Wohnungslosigkeit – Pflegerisches Handeln im Krankenhaus und in der aufsuchenden Hilfe Heiko Stehling
375
Inhalt
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Pflege türkischer Migranten Petra-Karin Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum
396
Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion und Produktion sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit? Bernhard Borgetto und Nicole Kolba
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
447
Inhalt
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Einführung
Soziale Ungleichheit in der pflegerischen Versorgung – ein Bezugsrahmen
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Soziale Ungleichheit in der pflegerischen Versorgung – ein Bezugsrahmen Ullrich Bauer und Andreas Büscher
Eine große Anzahl an Publikationen verdeutlicht international das große Interesse an der Diskussion um soziale bedingte gesundheitliche Ungleichheiten. Mittlerweile erlebt die Thematik auch in Deutschland eine rasant nachholende Entwicklung (Richter/Hurrelmann 2006; Tiesmeyer et al. 2007; Bauer/Bittlingmayer/Richter 2008a). Damit verdichten sich auch die Hinweise darauf, dass Fragen sozialer Ungleichheit Auswirkungen auf die Versorgungsgestaltung haben. Ressourcen- und Verteilungsungleichheiten treten demnach nicht nur als rahmende Bedingungen im Sinne des sozialen Gradienten gesellschaftlich ungleicher Inzidenz- und Prävalenzraten auf, wenn in der genuin epidemiologischen Tradition nach der Verteilung von Krankheits- und Todesrisiken gefragt wird. Soziale Ungleichheiten sind omnipräsent. So offenbar auch dann, wenn die Diagnose und Therapie von Krankheiten in den Blick genommen wird. Die politische Diskussion bestätigt dies inzwischen. Das 2007er Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR 2007) befasst sich mit den Folgen sozialer Ungleichheit für die gesundheitliche Versorgung und verweist dabei durchgehend auf die Notwendigkeit, einer Zunahme von Versorgungsungleichheiten so schnell wie möglich gegenzusteuern. Der Sachverständigenrat sieht hier also bereits erheblichen Handlungsbedarf. Wo aber steht heute die eigentliche Fachdiskussion zur Thematik? Wo lassen sich tatsächlich bereits so viele Kenntnisse verdichten, dass wir mit anwendungsorientierter Absicht auf die Kernproblematik soziale Ungleichheit in der Versorgung antworten können? Wie viel wissen wir eigentlich über Ungleichheiten in der Versorgung? Der hier vorliegende Band soll erste Antworten auf diese Fragestellungen entwickeln. Er nimmt einen Impuls auf, der in der deutschsprachigen Public Health Debatte relativ jung ist. Wie mit einem Paukenschlag kehrte hier in nur wenigen Jahren die Problematik sozialer Ungleichheit in den engeren Aufmerksamkeitsradius zurück. Die Ungleichverteilung gesundheitlicher Lebenschancen wurde in den vergangenen Jahren ebenso sensibel aufgenommen wie kurz zuvor der sogenannte PISA-Schock mit seiner Kerndiagnose der Ungleichverteilung von Bildungschancen. Eine kleine Wissenschaftlergemeinde und mehr oder
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weniger versprengte Forschungseinheiten, die das Thema auch in Deutschland beharrlich auf ihrer Forschungsagenda führten, bekamen hieraufhin auch im Gesundheitsbereich schnell Zuwachs. Natürlich befindet sich die deutschsprachige Diskussion noch immer in einem Prozess der nachholenden Entwicklung. Weit reichen die Versäumnisse einer Wissenschaftspolitik in den 1980er und 90er Jahren, als der Ungleichheitsfokus der sozialwissenschaftlichen Grundlagendiskussion aus dem Blick geriet und damit wichtige Einsichten der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung auch den „neuen“ Nachbardisziplinen wie den Gesundheits- und Pflegewissenschaften nicht mehr zur Verfügung standen (Bauer 2006). Die deutsche Diskussionslandschaft nimmt in dieser Bewegung, die durchaus international beobachtbar ist, sicher noch einmal eine Sonderstellung ein. Kein Wunder also, dass die wichtigsten Bemühungen allein innerhalb der Sozial-Epidemiologie und der Versorgungsforschung gerade dann eine besonders intensive internationale Orientierung aufweisen, wenn sie soziale Ungleichheiten thematisieren. Heute befindet sich das Zentrum dieser Debatten im angloamerikanischen Sprachraum. Und dennoch wäre der Eindruck verkürzt, nach dem die deutschsprachige Debatte nur in einer Aufhol- und Rezeptionsbewegung feststecken würde. Inzwischen liegen zahlreiche Erkenntnisse vor, die es notwendig machen, den Diskussionsstand in der Debatte über soziale Ungleichheiten in der Versorgung – und hier mit besonderem Augenmerk auf die Situation in der pflegerischen Versorgung – systematisch aufzubereiten. Die Vielzahl der Einzeldebatten lässt dies, nicht nur zu unserer Überraschung, längst zu. Der vorliegende Band sieht demnach in dieser Sichtungs- und Systematisierungsarbeit seine besondere Aufgabe. Aufgabe der hier einführenden Ausführungen soll zunächst sein, jenen Zugang zu beschreiben, den wir in konzeptionell-theoretischer Absicht als Rahmen für den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Formen sozialer Ungleichheit und dem Geschehen in der pflegerischen Versorgung gewählt haben. Im Vordergrund (1) steht der Überblick über die aktuellen Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung. Auf eine ausführliche Darstellung hierzu legen wir Wert, damit auch pflegewissenschaftliche Zugänge eng genug an die theoretische und empirische Ungleichheitsdiskussion herangeführt werden können. Im Anschluss (2) erörtern wir die wichtigsten Veränderungen in den Bedingungen, der Struktur und den Auswirkungen pflegerischer Versorgung, die die Eröffnung einer Ungleichheitsperspektive so virulent machen. Dass gerade hier der Schwerpunkt der Auseinandersetzung liegen muss, wird dann (3) mit der noch einmal eigenständigen Erörterung der Problemlage sozialer Ungleichheit im Alter und den damit verbundenen Anforderungen an die pflegerische Versorgung deutlich gemacht. Abschließend skizzieren (4) wir zum einen den Diskussionsrahmen, mit dem für die künftige Forschungsdebatte ein
Soziale Ungleichheit in der pflegerischen Versorgung – ein Bezugsrahmen
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Strukturierungsvorschlag gemacht wird; zum anderen wird ein Überblick über die Einzelbeiträge im Band gegeben.
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Was heißt heute soziale Ungleichheit?
In der deutschsprachigen Sozialstrukturanalyse und Ungleichheitsforschung hatte mit Beginn der 1980er Jahre eine grundlegende Revision eingesetzt, die für die Diskussion in zahlreichen Nachbardisziplinen einen wegweisenden Charakter annahm. Mit dieser Revision wurden Annahmen zur Strukturierung moderner Gesellschaften entlang der Hierarchie ungleicher Güter und Ressourcen zurückgewiesen. Dem so genannten Stratifikationsmodell starrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit wurde das Entvertikalisierungsmodell einer pluralisierten und enthierarchisierten Sozialstruktur gegenübergestellt. Der sozialwissenschaftliche Mainstream der 1980er und 90er Jahre hatte damit einen bedeutsamen Wechsel von der Annahme vertikal-strukturierter Klassengesellschaften (der dominierenden Annahme zuvor) zur Vorstellung enthierarchisierter, horizontal-differenzierter Lebenslagen vollzogen. Diese Vorstellung einer nivellierten Sozialstruktur ist im erweiterten sozialwissenschaftlichen Diskussionskontext nicht folgenlos geblieben (Bauer 2006). In den gesundheitswissenschaftlichen Disziplinen erfährt sie eine hohe Resonanz dadurch, dass Fragen gesellschaftlicher Chancenverteilung und Chancengerechtigkeit im Gesundheitswesen über lange Zeit hinweg kaum berücksichtigt wurden (Bauer et al. 2005). Das Sozialraummodell Mit dem Ende der 1990er Jahre setzte indes zunächst in der soziologischen Sozialstrukturanalyse ein Gegentrend ein (Winkler 2000). Die Annahme einer gesellschaftlichen Neutralisierung strukturierter sozialer Ungleichheiten wurde mehr und mehr kritisch hinterfragt. Als Hauptgrund hierfür diente primär, dass sich die so genannten Entstrukturierungsansätze empirisch nicht bewähren konnten. Vielmehr bestätigen die verfügbaren Befunde zur gesellschaftlichen Ungleichverteilung Hinweise darauf, dass sich die Ungleichheitsstruktur moderner Gesellschaften nicht aufgelöst, sondern allenfalls transformiert hat. Aus sozialstruktureller Perspektive sind die Hauptkennzeichen dieses Transformationsprozesses der neuerliche Trend zur gesellschaftlichen Restrukturierung und zu sozialen Schließungsprozessen (Vester et al. 2001; Geißler 2002). Mit seinen Untersuchungen zur sozialen Ungleichheitsreproduktion stellen die Annahmen Pierre Bourdieus (1982, 1987) den wahrscheinlich am stärksten rezipierten Sozialstrukturansatz in der deutschsprachigen Diskussion dar (Bittlingmayer et al. 2002). Bourdieus Zugriff ist zunächst als eine Theorie der indi-
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viduellen Handlungspraxis anzusehen. Diese geht von dem einzelnen Handelnden und seinen verfügbaren Ressourcen aus. Diese bestimmen – und das macht sie für den Bereich der Ressourcenstärkung in der Gesundheitsförderung so attraktiv – sowohl handlungsermöglichende als auch handlungsblockierende Strukturen in der Lebenswelt der Subjekte. Nach diesem Modelldenken verfügen die sozialen Akteure, also die einzelnen handelnden Subjekte, über ein durch sozialstrukturelle Ausgangsbedingungen vermitteltes Dispositionssystem individueller Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. Die Studie „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1982) analysiert sozialstrukturell erstmals umfassend die Reproduktionsmechanismen ungleicher Lebenschancen. Bourdieu entwirft dabei ein Sozialstrukturmodell, in dem der Raum der ungleichen sozialen Positionen primär durch die ungleiche Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen strukturiert ist. Bourdieu spricht von der ungleichen Verfügbarkeit unterschiedlicher Kapitalressourcen oder Kapitalformen. Dabei ist die Differenzierung zwischen drei primären Kapitalformen entscheidend. Bourdieu unterscheidet:
ökonomisches Kapital, das durch die Verfügung über finanzielle Ressourcen gekennzeichnet ist kulturelles Kapital, das sowohl a) in einem inkorporierten (verinnerlichten, körpergebundenen) Zustand der Fähigkeiten und Kompetenzen, b) in einer institutionalisierten, das heißt, zumeist durch den Bildungstitel legitimierten Form und schließlich c) in einer objektivierten, kurz: vergegenständlichten Form des Kulturkonsums (Güter wie Bilder, antike Möbel etc.) existiert soziales Kapital bezeichnet das Netz der für persönliche Zwecke instrumentalisierbaren Kontakte und Beziehungen (Bourdieu 1997).
Das sozialstrukturelle Ordnungsraster des Sozialraums arbeitet dabei mit einer zweifachen Raumkonzeption: Zum einen existiert ein Raum der sozialen Positionen (z.B. der Berufszugehörigkeit), zum anderen existiert ein symbolischer Raum der Alltagsexistenz, genauer der Lebensstile, die Abstände zu anderen Formen der Lebensführung markieren. Bei Bourdieu ist damit eine Vielzahl von Handlungsweisen, die häufig nur den Nuancen unterschiedlicher Geschmacksmuster, Präferenzen, Mentalitäten und Lebensstilen zugerechnet werden, an der Hervorbringung und Stabilisation von Ungleichheitsmustern beteiligt (ausführlich hierzu Bauer/Vester 2008). Ergebnisse der epidemiologischen Diskussion über die Bedeutung gesundheitsrelevanter Lebensstile machen die enge Orientierung an einer von Bourdieu vorgezeichneten Forschungsperspektive inzwischen immer attraktiver (Williams 2003). Somit besteht zumindest innerhalb der Sozial-Epidemiologie weitreichendes Einvernehmen darüber, dass die Varianten gesundheitsförderlicher Verhal-
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tensmuster als ein Bestandteil individueller Lebensstile aufzufassen sind, die wiederum selbst nach den zur Verfügung stehenden Lebensbedingungen und Ressourcen, folglich nach der sozialstrukturellen Positionierung variieren (Abel 2008; Elkeles/Mielck 1997; Niemann/Abel 2001; Richter 2005, Sperlich/Mielck 2003; Steinkamp 1999; Winkler 2000). Epidemiologische Lebensstilkonzeptionen operationalisieren in enger Anlehnung an die Sozialraumlehre Bourdieus die Ebene des Individualverhaltens als eine Art Zwischenglied der Vermittlung von gesellschaftlichen Lebensbedingungen (Position im System sozialer Ungleichheit und damit verbundener Belastungen) und dem Outcome auf der Ebene des Organismus in Form unterschiedlicher Krankheits- oder Gesundheitsrisiken (Steinkamp 1999: 130; Sperlich/Mielck 2000: 36ff.). Der Lebensstil synthetisiert hiernach Fähigkeiten und Eigenschaften, Einstellungen und Kompetenzen, die mit einer bestimmten sozialen Lebenslage verbunden sind. Er bildet andererseits ein „Auswahlreservoir“ für die tatsächlichen Reaktionsweisen und Handlungsmuster, die das gesundheitliche Gleichgewicht beeinflussen; das gilt für Distresserfahrungen, gesundheitsabträgliche Verhaltensweisen, die Kumulation von verhaltensbedingten Risikofaktoren, die Kompetenz zur angemessenen Versorgungsnutzung sowie für die Empfänglichkeit bzw. den Widerstand gegenüber Angeboten der Gesundheitsförderung gleichermaßen (Bauer/Bittlingmayer 2006). Das Milieumodell Das Sozialraummodell Bourdieus und sozial-epidemiologische Erkenntnisse überschneiden sich heute bereits in einer zentralen Diagnose: Lebensstiltypen sind mit der Struktur sozial ungleicher Lebensumstände eng verknüpft, individuelle Handlungsdispositionen sind das Ergebnis sozialstrukturell variierender Möglichkeiten der Aneignung von Kompetenzen. Dies ist durchaus konkordant mit einer Sichtweise in der Sozial-Epidemiologie, innerhalb der schon seit geraumer Zeit auf die langen biografischen Linien der Entstehung gesundheitsförderlicher Verhaltensmuster und ihre Verwobenheit mit der Struktur von Umweltbzw. Umfeldbedingungen verwiesen wird (Davey Smith 2008). Das Milieukonzept der Hannoveraner Arbeitsgruppe interdisziplinäre Sozialstrukturanalyse (AgiS) könnte in diesem Sinne eine durchaus plausible Möglichkeit darstellen, in analytischer Hinsicht die Grundüberlegungen des Sozialstrukturmodells Bourdieus weiterzuführen, dabei in empirischer Hinsicht aber durchaus aktueller und detailreicher vorzugehen.
12 Abbildung 1:
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Abbildung 1 gibt das AgiS-Milieumodell als eine Milieulandkarte wieder, die für den westdeutschen Bezugsrahmen insgesamt zehn einzelne Milieus unterscheidet. Die sozialen Milieus der Oberklasse unterscheiden sich nach zwei Traditionslinien (hier wie im Folgenden Vester et al. 2001: 37ff.; Bauer/Bittlingmayer 2006): Die Traditionslinie Macht und Besitz symbolisiert das gehobene bürgerliche und kleinbürgerliche Milieu, das einen exklusiven Stil sowie ein klares Elite-, Erfolgsund Machtbewusstsein kultiviert. Davon scharf abgegrenzt ist die Traditionslinie der Akademischen Intelligenz, die sich noch einmal als bildungsbürgerliches Milieu (Orientierungen einer progressiven Bildungselite, mit humanistischer Tradition) und als gehobenes Dienstleistungsmilieu unterscheiden lässt. Ihre Angehörigen entstammen einer gut situierten akademischen Führungsschicht, sind leitende oder höhere Angestellte, Beamte und Freiberufler. Das Avantgardemilieu definiert sich vor allem durch moralisch-idealistische Orientierungen, tritt als kulturelle Avantgarde auf (wie in der 68er Bewegung) und rekrutiert sich aus „Ablegern“ sowohl des liberal-intellektuellen als auch des konservativ-technokratischen Milieus. In der milieutheoretisch so bezeichneten Mittelklasse lassen sich insgesamt sechs Milieus bündeln. Der historischen Traditionslinie der Facharbeit und praktischen Intelligenz folgen das traditionelle Arbeiternehmermilieu, das jüngere leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu sowie die jüngste Altersfraktion im modernen Arbeitnehmermilieu, bestehend aus einer hochqualifizierten Arbeitnehmerintelligenz in technischen, sozialen und administrativen Berufen. Alle drei Milieus orientieren sich an hohen Ausbildungsabschlüssen, sind leistungsorientiert, wenig hierarchiegläubig, betonen Eigenverantwortung und Gleichberechtigung. Hiervon durchaus unterschieden lassen sich die übrigen Milieufraktionen der Mitte beschreiben, die wie das moderne kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu und das traditionelle kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu eher konservative Orientierungen vertreten sowie noch immer ein geringeres Maß an Aufstiegs- und Bildungsorientierung zeigen. Am gegenüberliegenden linken Rand der Abbildung beschreibt das hedonistische Milieu so etwas wie ein Durchgangsmilieu. Dieses umfasst vor allem junge Erwachsene, die sich – bei mitunter sehr unterschiedlicher Milieuherkunft – in den verlängerten beruflichen Ausbildungsbereichen oder vorrangig sogar auf dem Weg der akademisierten Aus- und Weiterbildung und des Hochschulstudiums befinden. Diese bilden zusammengenommen den späteren Nachwuchs der mittleren und oberen Milieus. Der bedeutsamste Beitrag zu einer Aktualisierung des deutschen Sozialraummodells aus der Milieuperspektive besteht in der empirischen Beschreibung der Traditionslinie der Unterprivilegierten. Die traditionslosen Arbeitnehmermilieus konstituieren sich nach Prosperitätsschüben der Nachkriegszeit und damit vorübergehenden sozialen Abfederungseffekten gegenwärtig wieder als eine
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„Unterklasse“ unterhalb der großen Arbeitnehmermitte (Vester 2004). Die Lebenslage der Unterprivilegierten ist durch einen Teufelskreis aus niedrigem Qualifikationsniveau und Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnsektor charakterisiert oder gar durch eine vollkommene Abhängigkeit von Transferleistungen. Den prekären Lebensverhältnissen korrespondiert die Mentalität der Resignation. Von einer Orientierung an langfristigen Lebensentwürfen, dem Ethos planmäßiger Lebensführung, schließt sich das traditionslose Arbeitnehmermilieu selbst aus. Ihre primäre Handlungsorientierung ist mit dem bereits von Bourdieu bezeichneten Habitus der Notwendigkeit charakterisiert. Diese Orientierung ist von der Habitusstruktur der darüber liegenden sozialen Milieus (strebend, arriviert etc.) durch das dominierende Lebensführungsmuster der spontanen Situationsbewältigung unterschieden. Die „Gefahren einer Anomie“ (Vester et al. 2001: 359) erfasst vor allem die nachwachsende Generation der traditionslosen Arbeitnehmermilieus. Dazu gehört das Aufwachsen in und die Reproduktion von gestörten Familienverhältnissen. Während sich noch das moderne, leistungsorientierte, kleinbürgerliche und traditionelle Arbeitnehmermilieu (die vier Milieus der Mitte) in ihren Wertorientierungen stets durch ein hohes Maß an Eigenverantwortung, Selbstdisziplin, Leistungsorientierung und Leistungsmotivation charakterisieren lassen, bilden die Orientierungsmuster des traditionslosen Arbeitnehmermilieus hierzu ein Gegenmodell. Ihr Lebensstil ist nicht zielgerichtet, sondern eher von „Gelegenheitsorientierungen“ abhängig (Vester et al. 2001: 523). Entsprechend setzen sie weniger auf planmäßige Lebensführung, stattdessen auf die „Anlehnung“ an Stärkere. In den unterprivilegierten Milieus hat sich somit seit Generationen die Erfahrung sozialer Ohnmacht verfestigt. Diese Milieus hatten in der alten Bundesrepublik wie auch in der DDR erstmals dauerhafte, wenn auch körperlich belastende, Beschäftigungen finden können. Heute sind viele dieser Arbeitsplätze in andere Länder verlagert. Als gering Qualifizierte finden die Angehörigen des Milieus schwer neue Jobs. Viele sind dauerarbeitslos bzw. stärker in prekären Wirtschaftszweigen aktiv. Milieus und Gesundheit Der Milieublick beinhaltet zum einen die strikt hierarchische Dimension sozialer Ungleichheit, die Beachtung eines Unten und Oben. Zum anderen tauchen in der Milieuperspektive jene bedeutsamen horizontalen Differenzierungen auf, die auf die unterschiedliche Ausprägung von Mentalitäten und Lebensstilen verweisen, ohne die eine Vorstellung über das gesellschaftliche Gefüge sozialer Ungleichheit heute nicht mehr auskommen kann. Gerade in dieser Beachtung der Komplexität sozialer Ausdrucks- und Handlungsformen scheint damit auch die große Überlegenheit der Milieuperspektive gegenüber älteren Modellen des sozioöko-
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nomischen Status begründet zu sein, die offensichtlich immer zu stark und zu einseitig an wenigen „objektiven“ Indikatoren (wie dem sozioökonomischen Status) orientiert waren (Bauer/Vester 2008). Für den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit ist dies von hoher Bedeutung, weil somit nicht nur unterschiedliche Positionen in der Sozialstruktur bezeichnet werden. Vielmehr lässt der Milieuzugang die Identifikation von Typen der Lebensbedingungen, Lebensweise und Lebensführung zu, die als direkte und indirekte, proximale und distale Einflussfaktoren auf die Gesundheit fungieren. Der Blick auf milieuspezifische Mentalitäten und Lebensstile ist hiernach also immer schon der Blick auf Bedingungen und Möglichkeitsräume von Gesundheit (Davey Smith 2008). Milieus fungieren als Kontexte, milieuspezifische Unterschiede als Ressourcenungleichheiten. Damit kann ein komplexes und dynamisches, über die vereinfachte Vorstellung viel zu grob verfahrender Schichten- und Klasseneinteilungen hinausgehendes Sozialstrukturmodell angeboten werden. Gerade mit Blick auf empirisch besonders auffällige Phänomene wie die relativ stabile Reproduktion ungleicher gesundheitlicher Lebenschancen scheint mit der Milieuperspektive ein wichtiges Erklärungsinstrument zu entstehen. Milieus sind demnach eine Art Sozialisationsgemeinschaften, die spezifische, auf generationenübergreifende Erfahrungen zurückgehende und in den Mentalitäten verfestigte „Strategien“ weitergeben, mit denen Anforderungen wie die des Bildungserwerbs oder der Gesundheitssicherung bewältigt werden. Die Subjektvorstellung, die im Milieuansatz primär durch die Verbindung mit dem Habituskonzept Bourdieus gekennzeichnet ist, nimmt zwar zum einen eine grundsätzliche Elastizität und Veränderbarkeit menschlicher Persönlichkeitsentwicklung an. Im Hinblick auf die Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit aber sind vor allem Effekte von Relevanz, die zur „sozialen Vererbung“ spezifischer Habitus-, Lebensstil- und Mentalitätstypen führen, die also eine Art bleibende Bindung an die Grenzen milieuspezifischer Kontexte bewirken. Jedes Milieu verfügt demnach über ein anderes ganzheitliches Handlungsmuster, das auf komplexe Situationen abgestimmt ist und sich aus entsprechend komplexen Geschmacks-, Bewertungs-, Moral- und Handlungsmustern bis hin zu ganz verschiedenen Strategien des Umgangs mit der eigenen Gesundheit, den Möglichkeiten, der Bewahrung und Wiederherstellung von Gesundheit, zusammensetzt. Was aber bedeutet dies für eine Analyse von Ungleichheiten in der Versorgung? Kann der vorgestellte Zugang zu Ressourcenungleichheiten, mit dem an unterschiedliche Lebensbedingungen, soziale Milieus, Mentalitäten und Habitus angeknüpft wird, mit den Niveaus ungleicher gesundheitlicher, speziell pflegerischer Versorgung in Verbindung gebracht werden? Auf diese Fragen wird zum einen eine Vielzahl der Beiträge im Band erste Antworten geben können. Zum anderen existiert bereits eine durchaus rege Diskussion, die die hohe Relevanz
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von sozialen Ungleichheiten in der Versorgung schon jetzt bestätigen kann. Hierüber soll im Folgenden ein Kurzüberblick gegeben werden.
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Ungleiche Gesundheit durch ungleiche Versorgung?
Obwohl die Diskussion um soziale Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung ihren Schwerpunkt bisher im angloamerikanischen Sprachraum hatte, ist heute offensichtlich, dass es sich dabei keineswegs nur um eine dort angesiedelte Problemstellung handelt. Das Problem Versorgungsungleichheit stellt sich international und spielt in allen entwickelten Gesundheitssystemen eine zunehmend bedeutsame Rolle. Auch im deutschen Gesundheitswesen, in dem egalitäre Zugangs- und Teilhaberechte immer besonders hervorgehoben wurden, wird zusehends offensichtlich, dass Ungleichheiten in der Versorgung bestehen. Dafür, dass die Qualität der erbrachten Leistungen im Gesundheitswesen von der Verteilung und Verfügbarkeit spezifischer Güter und Ressourcen abhängig ist, sprechen verfügbare Daten der Versorgungsforschung seit vielen Jahren übereinstimmend.1 Die wenigen verfügbaren Erkenntnisse für Deutschland weisen – wenn auch noch auf schmaler empirischer Grundlage – in eine ähnliche Richtung (Tiesmeyer et al. 2007; Janßen et al. 2007). Für die Versorgungsproblematik bedeutet dies in einer ersten Annäherung, dass durch bestehende Ungleichheitsverhältnisse eine Zuweisungs- und Selektionsdynamik in Gang gesetzt wird, die durch die zur Verfügung stehenden Ressourcen gesteuert wird. Die Nutzung und Inanspruchnahme scheint also ungleichheitsrelevant zu sein. Offen bleibt hingegen – wiederum auch mit Blick auf den internationalen Forschungsstand – warum der Zusammenhang zwischen der Ressourcenverfügbarkeit und der Versorgungsnutzung besteht. Eine genuin sozial-epidemiologische Perspektive schaut an dieser Problematik bisher vorbei. Der epidemiologische Zugriff visiert bei der Frage des Zusammenhangs von sozialer Ungleichheit und Gesundheit lediglich die Outputseite an. Sozial-epidemiologische Ansätze können also sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheiten nur statistisch belegen (weniger Geld führt zu früherem Tod etc.). Die Aufgabe, die dahinter liegenden Mechanismen aufzudecken und damit entsprechende Ungleichheiten zu verstehen (warum also weniger Geld, Bildung etc. die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Krankheit oder des vorzeitigen Totes erhöhen) bleibt indes ausgespart. Dem Verweis darauf, dass für die Beantwortung dieser zentralen bisher offen Frage, nämlich probate Erklärungsansätze für die Reproduktion gesundheitlicher 1
Als jüngere Auswahl: Bao et al. 2007; Brady et al. 2007; Dixon et al. 2007; Farley Ordovensky Staniec/Webb 2007; Hanratty et al. 2007; Hanratty et al. 2007; Prentice/Pizer 2007; SVR 2007; Theobald 2005
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Ungleichheiten zu entwickeln, der Versorgungs- und Pflegefokus eine bedeutsame Rolle spielen kann, ist dann viel Gewicht beizumessen (Bauer et al. 2008b; Mielck 2007). Die Folgen von Rationalisierung und Rationierung in der Versorgung Wenn heute dem Versorgungssektor mehr Aufmerksamkeit zukommt, muss damit die Analyse zentraler Struktur- und Funktionsprinzipien im Gesundheitswesen verbunden werden, die die Basis von Versorgungsbeziehungen darstellen. Ein solch analytischer Zugriff verweist auch auf die Transformation zentraler Organisationsprinzipien im Gesundheitswesen. Diese werden heute mehrheitlich als Prozesse der Ökonomisierung diskutiert (Überblicke u.a. in Bauer 2007; Hensen/Hensen 2008). Ein entsprechender Politikwechsel, der mit Rekurs auf die Unterscheidung sozialstaatlicher Paradigmen als ein schleichender Übergang vom konservativen zum wirtschaftsliberalen Modell bezeichnet werden kann, ist auf seine weiteren Implikationen bisher jedoch kaum untersucht. Allein der Blick auf Gesundheitssysteme, die wie das US-amerikanische prototypisch für einen neo- oder ultraliberalen Zuschnitt stehen (Navarro 2007), kann als erster Orientierungspunkt für eine Trendanalyse dienen, um nicht nur primär wirtschaftliche, sondern in umfassenderer Hinsicht allgemeine gesellschaftliche Folgen des Ökonomisierungsprozesses im Gesundheitswesen zu antizipieren. So findet mit Blick auf das, was unter der Ökonomisierungschiffre als Veränderungstendenz im deutschen Gesundheitswesen diskutiert wird, der Trend zu einer wirtschaftsliberalen Orientierung deutliche Bestätigung. Im Kern lässt sich so die Umwidmung der Idee der Sozialstaatlichkeit und damit der schleichende Übergang von der Solidar- zur Selbstverantwortung diagnostizieren (Dahme et al. 2005; Schmidt 2008). Auf diese Weise aber wird die Selbstverständlichkeit sozialstaatlicher Versorgung mehr und mehr vakant, sie ist vor dem Hintergrund ökonomischer Imperative selbst begründungspflichtig geworden (Butterwegge 2006; Maucher 2005). Mit Blick auf die Versorgungssituation lassen sich inzwischen mehr und mehr internationale, vor allem US-amerikanische Trendaussagen verallgemeinern, nach denen der Versorgungssektor auf wachsenden Ökonomisierungsdruck mit Verknappungsstrategien reagiert (De Geest 2005; Jacobs/Schulze 2006). Dies ist jedoch nur vordergründig eine „bloße“ Rationalisierungsproblematik. Sie muss bereits heute als Problematik der Rationierung von wichtigen Versorgungsleistungen ernst genommen werden. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass mit der veränderten Finanzierungslage Versorgungsengpässe und Versorgungsversäumnisse eingetreten sind, von denen aber wiederum nicht alle Nutzer gleich betroffen sind (IQWiG 2006; Bauer et al. 2005).
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Die heute in Deutschland, trotz unterschiedlicher politischer Konjunkturen, dominierende sozial-, gesundheits- und wirtschaftspolitische Konzeption der Nachkriegszeit wurde lange Zeit als konservatives Modell der kontinentaleuropäischen Länder (neben Deutschland u.a. auch Frankreich, Österreich, Italien) bezeichnet. Dieses konservative Modell ist primär durch die mehr oder weniger gleichgewichtige Integration ordnungsstaatlicher wie privatwirtschaftlicher Strukturen geprägt, die sich von einem dominierenden Staatsinterventionismus im so genannten skandinavischen Modell (strenge Ausrichtung auf Egalitätsnormen) und dem marktorientierten wirtschaftsliberalen Modell (eine wie in den USA weitgehend passive Rolle des Staates) über eine lange Dauer hinweg erkennbar unterschied (Rosenbrock/Gerlinger 2006). Heute sind die Konturen des skandinavischen, aber auch des konservativen Modells undeutlicher geworden, womit eine trennscharfe Abgrenzung zu den marktorientierten Konzeptionen schwerer fällt. Entsprechende Anleihen an einem wirtschaftsliberalen Modell werden international als Tendenzen des Neoliberalismus befürwortet wie kritisiert (Bittlingmayer 2006; Dixon 2000; Friedman 2002; Galbraith 2005; Hayek 2003). In Deutschland werden mit dieser Entwicklung generelle Akzentverschiebungen in der Sozialpolitik verknüpft, die gemeinhin als Trend zur Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sowie als Entbindung einer staatlichen Bereitstellungs-, Ordnungs- und Kontrollpflicht auftreten (Strodtholz 2005; Butterwegge 2006; Weizsäcker et al. 2006). Tabelle 1: Krankenhäuser (KH) und Trägerschaft im Zeitvergleich. Entwicklung zwischen 1990 und 2004. Quelle: Deutsche Krankenhausgesellschaft 2006: 16. Eigene Darstellung und Berechnungen.
Jahr 1990 2004 Trend
Öffentliche Krankenhäuser InsgeBetten samt 1 043 387 207 671 255 775 - 36 % - 34 %
Freigemeinnützige Krankenhäuser InsgeBetten samt 843 206 936 712 179 682 - 16 % - 13 %
Private Krankenhäuser InsgeBetten samt 321 22 779 444 53 976 + 38 % + 137 %
Entsprechende Strukturveränderungen lassen sich an der Entwicklung der Krankenhausträgerschaften abbilden (Tab. 1). Diese zeigt bezüglich der Trägerstrukturen eine deutliche Verschiebung vom öffentlichen und frei-gemeinnützigen zum privaten Pol im Versorgungssektor an. Mit dem exemplarischen Blick auf die Entwicklung im Krankenhausbereich lassen sich weitgehend parallele, also trägerunspezifische Veränderungen beschreiben. Diese verweisen indes auf eine
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allgemeine, keine bereichsspezifische Ökonomisierungslogik (etwa nach der Vorstellung, dass Effekte einer Gewinnlogik nur dort auftreten, wo tatsächlich Kliniken in eine private Trägerschaft übergehen). Es kommt bisher, soweit empirische Verallgemeinerungen möglich sind, in den stationären Versorgungseinrichtungen zu einem allgemeinen quantitativen wie qualitativen Stellenabbau, die Fluktuation unter den Beschäftigten steigt signifikant an, Arbeitsunfälle passieren häufiger, die Arbeitszeitverdichtung und psychische Belastungen sowie die Burnout-Rate nehmen aufgrund der Unsicherheit des Arbeitsplatzes zu (Arbeitsgruppe Public Health 2001; Schubert et al. 2005). Entsprechende Entwicklungen galten bisher nur als US-amerikanisches Phänomen, sie stellen mittlerweile aber auch in Deutschland eine gut sichtbare Folge voranschreitender Rationalisierungstendenzen dar (SVR 2005: 321, Ziffer 410). Einem Review des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zufolge (IQWiG 2006), verweisen die Ergebnisse internationaler Untersuchungen (verlässliche deutsche Studien existieren bislang nicht) mehrheitlich auf den engen Zusammenhang zwischen der Personalausstattung und Versorgungsqualität im Krankenhausbereich. Vor allem die Tendenz zur Ausdünnung der Personaldecke führt demnach häufiger zu Qualitätsverlusten. Dass dabei ökonomische Verknappungstendenzen die hervorgehobene Rolle spielen, muss als einflussreicher Faktor angesehen werden. Die Einführung von Fallpauschalen in der Vergütung von Krankenhausleistungen – nach der so genannten DRG-Systematik (Kretschmer/Nass 2005) – steht auch in Deutschland in der Kontinuität solcher, über viele Jahre zunehmenden Verknappungstendenzen. Untersuchungen zur Einführung der Fallpauschalen im stationären Sektor diagnostizieren aus Sicht der Beschäftigten die sukzessive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Ergebnisqualität (Buhr/Klinke 2006a, b; Bauer 2007; Manzeschke 2006).2 2 Die Folgen veränderter Finanzierungsbedingungen in der Versorgung werden demgegenüber aus rein ökonomischer Perspektive nahezu durchgehend positiv bewertet (Greiner 2006; Jacobs/Schulze 2006; Loss/Nagel 2004). Deutlich separiert erfolgt eine Diskussion, die umfassender zu evaluieren versucht, welche Folgen sich tatsächlich ergeben, wenn Arbeitsabläufe durch einsetzende finanzielle Knappheit nicht nur verschlankt und vereinfacht, sondern notwendige Leistungen durch Personalmangel und Mittelverkappung einfach nicht mehr erbracht werden können. Zur allgemeinen Diskussion darüber, was als Personal- und Mittelverknappung tatsächlich abgebildet werden kann, existiert eine Vielzahl zumeist vereinzelter Daten, die längst einer vereinheitlichenden Aufbereitung bedürfen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2005) weist die Personalentwicklung im stationären Versorgungssektor nunmehr seit vielen Jahren eine rückschrittliche Tendenz auf, wenn allein die Beschäftigten im Pflegebereich berücksichtigt werden (die Personalentwicklung im Ärztebereich hierzu invers). Das ist vor dem Hintergrund einer seit der DRG-Einführung deutlich verkürzten durchschnittlichen Verweildauer in den Krankenhäusern problematisch, da die noch verbleibenden Patientenpopulationen häufiger einen höheren Pflegebedarf haben und sich damit Arbeitsbelastungen beim pflegerischen Personal potenzieren. Repräsentative Daten zur Personalssituation und den damit
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Als Folge einer deutlichen Ressourcenverknappung allein im stationären Versorgungssektor werden Formen der Leistungsrationierung inzwischen offen thematisiert (Gericke/Busse 2005; Gerlinger 2004; Simon 2000). Diese ist – so weit der Diskussion bisher zu folgen ist – durch unterschiedliche Varianten gekennzeichnet: einerseits eine generelle, also alle Leistungsempfänger betreffende Leistungsverknappung und/oder -verweigerung, zum anderen die Praxis der selektiven Leistungsvergabe. Die generelle Leistungsverknappung wird zwar am häufigsten als Ausgangspunkt der Rationierungsdiskussion angenommen (Kliemt 1997; Oberender/Zerth 2005). Nach allen verfügbaren Erkenntnissen stellt jedoch die unspezifische, alle Patientengruppen gleichermaßen (also unabhängig von sozialen Merkmalen) betreffende Leistungseinschränkung in der Realität einen Sonderfall dar. Die Rationierungsproblematik ist somit im engeren Sinne nicht als die der generellen, sondern als die der selektiven Leistungsallokation aufzufassen. Die Zuteilung medizinischer Dienstleistungen folgt demnach Kriterien, die sich mit Normen universalistischer Verteilungsgerechtigkeit nicht oder zumindest immer weniger vereinbaren lassen (Manzeschke 2005). Solche Formen der ungleichen Leistungszuweisung (oder Leistungsallokation) erfolgen einerseits offen, wie im Fall der Privilegierung von Privatpatienten, oder als verdeckte Form der Rationierung (IQWiG 2006; Gericke/Busse 2005). Die zweite Rationierungsvariante, die verdeckte Form, ist allen vorliegenden Erkenntnissen zufolge durch eine sozial ungleiche Vergabepraxis charakterisiert (De Geest 2005; Simon 2000). Hiernach können sich Patientengruppen, die über ausreichende Ressourcen (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) verfügen, in der Auseinandersetzung um knappe Gesundheitsgüter zum einen leichter durchsetzen, zum anderen werden sie – offenbar durch soziale Homogamie-Effekte ermöglicht – im Versorgungsgeschehen bevorzugt (Dreißig 2005). Rationalisierungs- und Rationierungsdynamiken erfahren im Hinblick auf die Problematik einer zunehmend sozial selektiven Leistungsvergabe eine bedeutsame Zuspitzung. Sie provozieren die Gefahr einer weiteren Polarisierung gesundheitlicher Lebenschancen. Diese weisen schon jetzt einen anhaltend stabilen sozialen Gradienten im Hinblick auf die Verteilung von Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken auf (Mielck 2000). Im Zuge einer entsprechend beschleunigten Ökonomisierungsdynamik ist indes die Verschärfung gesundheitlicher Ungleichheiten wahrscheinlicher als deren Verringerung. Für eine solche Dynamik stehen bereits jetzt Erfahrungen anderer Gesundheitssysteme, die eine ultra- oder neoliberalistische geprägte Systemtransformation bereits vollzogen haben (Kühn 1993).
verbundenen Auswirkungen sind noch seltener (Überblicksdarstellungen hierzu bei DIP 2007; Kälble 2005 und Schubert et al. 2005).
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Strukturen sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit bestehen – so weit die bisherigen Erkenntnisse hier zusammengefasst werden können – in der mehrfachen Benachteiligung ressourcenschwacher Gruppen (Bauer et al. 2008b): Erstens, das Risiko der Gesundheitsschädigung wird sozial ungleich getragen. Die Verteilung gesundheitlicher Risiken erfolgt ungleich, Krankheitsfälle treten häufiger, Todesfälle früher ein. Von schweren und chronischen Erkrankungen, die einen erhöhten Versorgungsbedarf erforderlich machen, sind sozial benachteiligte Gruppen überproportional häufig betroffen. Zweitens, Ressourcenungleichheiten führen zu Ungleichheiten in der Versorgungsnutzung. Milieuspezifische Handlungsbefähigungen bedingen den Umgang mit Versorgungsangeboten und die Ausgestaltung von Versorgungsbeziehungen. Drittens, in der gesundheitlichen Versorgung existieren ungleiche Teilhabechancen. Nicht nur milieuspezifische Muster des Nutzungsverhaltens, sondern auch Formen der institutionellen Diskriminierung von Angehörigen sozial unterprivilegierter Gruppen führen zu sozial selektiven Effekten bei der Vergabe von Versorgungsleistungen.
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Ungleiche Risiken in der Versorgung – der Altersfokus
In der sozialstaatlichen Versorgung mit öffentlichen und weitgehend frei zugänglichen Gütern bildet sich, wenn wir vorliegende Erkenntnisse ernst nehmen, immer mehr ein Paradox heraus (hierzu ausführlich Bauer 2008). Güter wie der weitgehend barrierefreie Zugang zu gesundheitlichen Dienstleistungen werden von Gruppen, die ein erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko aufweisen, nur unzureichend genutzt. Demgegenüber sind Gruppen, deren Erkrankungsrisiko niedriger ist, weit kompetenter bei der Nutzung und Inanspruchnahme von Versorgungsangeboten. Diese Ergebnisse, die sich auch international bestätigen, geben zwei wichtige Hinweise, die eine vertiefende Beschäftigung mit der Thematik erforderlich machen. Zum einen ist offenbar der Reproduktionsmechanismus gesundheitlicher Ungleichheit eng an die Nutzung und Inanspruchnahme des Versorgungssystems gekoppelt (was überrascht, da bisherige Erklärungsansätze zum sozialen Gradienten gesundheitlicher Ungleichheit die Nutzungsebene nur randständig betrachten). Zum anderen verweist ein entsprechendes Nutzungsungleichgewicht (mangelnde Inanspruchnahme durch die besonders bedürftigen Gruppen und vice versa) auf ein grundsätzliches Dilemma sozialstaatlicher Versorgung. Hiernach ist die öffentliche Bereitstellung wohlfahrtsstaatlicher Güter kein Garant für die tatsächliche egalitäre Nutzung. Vielmehr sehen sich die modernen Wohlfahrtssysteme nicht nur im Gesundheitswesen der Problematik ge-
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genüber, dass Angebote, die zwar universell, also für alle gesellschaftlichen Gruppen ausgerichtet sind, immer noch selektiv, also zielgruppenspezifisch angeeignet und genutzt werden und damit Ungleichheitslagen eher vergrößern anstatt verringern. Wählt man einen Zugang, der gerade mit Blick auf die pflegerische Versorgungssituation sensibel darauf reagiert, wo künftig Ungleichheitsrisiken entstehen könnten, fällt die besondere Situation älterer und alter Zielgruppen auf (Kuhlmey/Schaeffer 2008). Die zur Verfügung stehenden Erkenntnisse lassen eine eindeutige Diagnose zur sozioökonomischen Lebenssituation älterer und alter Menschen zwar bisher nicht einheitlich zu (Lampert et al. 2007; Motel-Klingebiel 2006; Schulz-Nieswandt 2006). Einkommensunterschiede in den höheren Altersgruppen werden danach in den vergangenen Jahren als relativ unauffällig angesehen. Ältere und alte Menschen werden bisher im Vergleich mit den übrigen Altersgruppen nicht per se als ökonomisch oder sozial benachteiligt angesehen. Mitunter wird sogar eine Tendenz zur Nivellierung von Ungleichheitslagen konstatiert, mit der insgesamt eher die Angleichung anstatt das Auseinanderdriften der Lebensbedingungen in den späteren Altersphasen behauptet wird. Deutliche Einschränkungen dieser sehr allgemeinen Diagnose betreffen indes zum einen die Lebenssituation spezifischer Gruppen (wie die Lebensumstände allein lebender Frauen in höheren Alterstufen), die in ökonomischer Hinsicht als besondere Risikogruppe angesehen werden müssen (DZA 2004; BMFSFJ 2002: 78). Zum anderen die hohe Quote der „verdeckt“ und „verschämt“ Armen, die ab der Altersgruppe der über 60-Jährigen immer noch überproportional zunimmt (Groh-Samberg 2004; BMFSFJ 2001: 35; BMFSFJ 2002: 81). Zusätzliche Einschränkungen der Nivellierungs- oder Angleichungsannahmen im Alter betreffen die Differenz zwischen der aktuellen Situation und den Prognosen für eine künftige sozialstrukturelle Spreizung in den höheren Alterslagen. Mit Blick auf die Einkommensverteilung in den Alterskohorten werden weitgehend übereinstimmend solche Veränderungen vermutet, die nicht weiter zu einer Angleichung der Ungleichheitsrelationen (SVR 2007), sondern vielmehr zu einer Verschärfung und damit zu dem übergreifenden Phänomen der Altersarmut führen. Die Gründe hierfür werden u.a. mit der demographischen und wirtschaftlichen Wandlungssituation assoziiert. Sie werden mit Tendenzen zur Privatisierung der Altersabsicherung begründet, die damit einen selektiveren Charakter erhält (Bridgen/Meyer 2005) sowie mit der Verringerung der Beschäftigungsquoten im Erwerbsverlauf nachrückender Altersgruppen, wodurch die Ansprüche auf Leistungen der Alterssicherungssysteme nach unten reguliert werden. Künftig sind damit – auch bedingt durch eine zunehmende Einkommensspreizung in den Erwerbsverläufen der heute Erwerbstätigen – kumulative Effekte wachsender Einkommensungleichheit zu erwarten (Becker/Hauser
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2003), damit aber auch eine höhere Variabilität in den Einkommen und eine wachsende Gruppe der Altersarmen (BMFSFJ 2002: 77) Kernannahmen zur sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheit im Alter fallen – wenn wiederum die aktuelle Beschreibung mit künftigen Prognosen verglichen wird – ähnlich uneinheitlich aus. Bisherige Forschungserkenntnisse legen nahe, dass Mortalitäts- und Morbiditätsunterschiede im Alter auch weiterhin einen sozialen Gradienten aufweisen, der sich aber in den höheren Alterstufen abschwächt Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen kommt in seinem Gutachten 2007 zu dem Ergebnis: „Die mit dem sozioökonomischen Status verbundenen relativen gesundheitlichen Unterschiede scheinen mit steigendem Alter geringer zu werden, aber erst in sehr hohem Alter, wenn überhaupt, ganz zu verschwinden. […] ebenfalls scheinen im Alter etwas veränderte Indikatoren der je aktuellen sozioökonomischen Situation (etwa Vermögen und Hausbesitz statt Bildung und Einkommen) die gesundheitlichen Unterschiede besser zu erklären, bzw. abzubilden.“ (SVR 2007: 689)
Wie weit somit zusammenfassend tatsächlich von einer Abschwächung des sozialen Gradienten gesundheitlicher Lebenschancen im Alter gesprochen werden kann, ist nicht genau zu prognostizieren. Noch existieren erhebliche Unklarheiten bezüglich krankheits- und altersspezifischer Variationen, der sehr unterschiedlichen Abhängigkeit von den Versorgungsstrukturen (und deren Qualität), des unklaren Einflusses der Statuspassage vom Beruf in den Ruhestand (noch vor allem vorzugsweise ein männlich konnotiertes Problem) sowie hinsichtlich der methodischen Schwierigkeit, dass sich die ungleiche Krankheitslast im Lebenslauf (selektive Sterblichkeit) am Ende so weit abschwächt (Überleben der Resistenten), dass soziale Faktoren keinen bedeutsamen Einfluss mehr zeigen. Gegen die Uneinheitlichkeit in den altersbezogenen Befunden spricht hingegen wiederum recht eindeutig – auch nach Einschätzung des Sachverständigenrates – die Einzelbetrachtung besonders belasteter Gruppen. Unter den von Einkommensarmut Betroffenen (insbesondere wiederum den allein lebenden alten Frauen und den älteren MigrantInnen) schwächt sich der soziale Gradient gesundheitlicher Lebenschancen nicht ab. Morbiditäts- und Mortalitätsunterschiede bleiben hier stabil oder nehmen im Alter sogar noch zu. Die Ergebnisse internationaler Studien unterlegen diese durchaus stabile Form der Reproduktion sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten im Alter, selbst wenn sehr unterschiedliche Morbiditätsaspekte (Frakturrisiken, Zahl chronischer Erkrankungen, Mundgesundheit, subjektive Lebensqualität, mentale Gesundheit, physische Leistungsfähigkeit, Einschränkungen in Aktivitäten des täglichen Lebens etc.) Berücksichtigung finden (hierzu ausführlich SVR 2007: 685ff.).
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Unabhängig davon legen Szenarien künftiger Entwicklung des sozialen Gradienten gesundheitlicher Lebenschancen nahe, dass sich gesundheitliche Ungleichheiten weiter in die höheren Altersstufen verlagern und dort nicht weiter abnehmen (Huisman 2008). Gründe hierfür werden in der Kumulation unterschiedlich begünstigender bzw. benachteiligender Einflussfaktoren auf die Gesundheit gesehen, die durch formelle wie informelle Sicherungssysteme immer weniger Abfederung erfahren (Davey Smith 2008). Wenn auch noch erheblicher Forschungsbedarf dazu besteht, wie die ursächliche Verbindung von sozialen und gesundheitlichen Ungleichheiten im Alter aufgeschlüsselt werden kann (SVR 2007: 689), so besteht kein Zweifel an der hohen Relevanz, die die Lebensphase Alter für die künftige Health-Inequalities-Debatte haben wird. Mit der proportionalen Zunahme der höheren Altersgruppen – demographischer Wandel – und der Verschiebung im Krankheitsspektrum hin zu den meist lebensbegleitenden, chronischen Erkrankungen – epidemiologischer Wandel – erhält das Alter einen herausragenden Stellenwert für die Bemühungen um Gesundheitssicherung und Gesundheitsförderung. Dass spätere Altersphasen dann sowohl absolut (mehr alte als junge Bevölkerungsgruppen) als auch relativ von Krankheit betroffen sind („Alterskompression“), macht den Problemdruck deutlich, von dem gerade auch die pflegerische Versorgung betroffen sein wird. In dem Maße, in dem bereits jetzt von chronischen Erkrankungen (letal wie nicht-letal verlaufenden) die unteren Sozialschichten in höherem Maße betroffen sind als übrige Bevölkerungsgruppen, lässt sich ein stark ausgeprägter sozialer Gradient gesundheitlicher Lebenschancen künftig auch für die späteren Lebensphasen vermuten. Höhere Krankheitsrisiken in den Unterschichten spiegeln sich dann besonders im Alter wieder und machen die Versorgungssituation zu einem besonders sensiblen Scharnier bei der Verringerung bzw. Erhöhung gesundheitlicher Altersrisiken. Veränderungen der Versorgungssituation im Krankenhausbereich geben hierzu einen ersten Überblick (Abb. 2).
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Abbildung 2: Veränderung der Fallzahl und der durchschnittlichen Verweildauer im Krankenhaus 1994-2004 (1994 = 100). 160
140
120
100
80
60 1994
1995
Fälle unter 65 Jahre
1996
1997
1998
Verweildauer unter 65-Jähriger
1999
2000
Fälle 65 Jahre und älter
2001
2002
2003
2004
Verweildauer 65-Jähriger und Älterer
Quelle: Statistisches Bundesamt, 2006, S. 4.
Die alterspezifischen Angaben verdeutlichen eine Entwicklung, bei der gerade die Altersgruppe der über 65-jährigen den Anstieg der Fallzahlen im Bereich der stationären Versorgung verzeichnet, der vor dem Hintergrund des demographischen Wandels nicht überrascht. Gleichzeitig aber verhält sich die Angabe zur Verweildauer entgegengesetzt. Mehr Fälle im Zeitraum zwischen 1994 und 2004 bedeuten gleichzeitig eine, nicht erst DRG-induzierte, kontinuierliche Abnahme der Verweildauer. Diese Scherenbewegung (mehr Fälle bei geringerer Verweildauer) im stationären Versorgungsbereich überrascht zunächst. Dass sie indikationsübergreifend erfolgt, bestätigt einen allgemeinen Trend, nicht lediglich einen Effekt abnehmender Akuterkrankungen, die im Krankenhausbereich versorgt werden müssen. Vielmehr verdeutlichen die Daten zur Verweildauer einen umfassenderen Prozess, in dem die Zunahme chronischer Erkrankungen mit einer gänzlich anderen Versorgungssituation verknüpft ist. Der vielfach konstatierte Wandel in der Patientenrolle (von passiv-erduldenden zum aktiv-bewältigenden Patienten) spiegelt sich hier darin wieder, dass auch die Versorgung der höheren Altersgruppen mehr und mehr aus dem stationären Versorgungssetting ausgegliedert wird. Dieser Prozess ist international wahrnehmbar (Schaeffer 2004; Bury 2003). Darüber, dass damit eine aus ökonomischer und politischer Perspektive gewollte Bewegung der Einbeziehung des Einzelnen in den Prozess der Krankheitsvorbeugung und -behandlung verbunden ist, besteht kein Zweifel. Offen bleibt hingegen, welche Auswirkungen damit auf die Patienten tatsächlich
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verbunden sind: Inwieweit die erweiterte Patientenautonomie und Potenziale der Übernahme von Eigenverantwortung tatsächlich von allen Patienten gleich genutzt werden können und ob sie zu einer Verringerung oder Verschärfung von gesundheitlichen Ungleichheiten führen (Bauer et al. 2005). Jüngere Untersuchungen zeichnen hierzu ein zurückhaltendes und skeptisches Bild. Mittlerweile existiert eine rege Diskussion dazu, dass die bloße Forderung nach mehr Selbstverantwortung nicht grundsätzlich nur positiv einzuschätzen ist. Vielmehr kann sie – wie empirische Erkenntnisse untermauern – zu einer Überforderung des Einzelnen führen, wenn die Ressourcen zu einem eigenverantwortlichem Handeln in der gesundheitlichen Versorgung nicht oder in keinem ausreichenden Maße vorhanden sind (Schmidt 2008; Schmidt/Kolip 2007). Dass damit die Bedeutung von vorhandenen Ressourcenungleichheiten höher eingeschätzt werden muss, wenn diese die Versorgungsnutzung beeinflussen und somit vielfach zu einer Verschärfung gesundheitlicher Ungleichheit führen, zeigen analoge Versuche, die die Übernahme von Selbstverantwortung im Kontext der Bewältigung chronischer Krankheit und der pflegerischen Versorgung thematisieren (Bury et al. 2005; Ewers/Schaeffer 2005a, b; Haslbeck/ Schaeffer 2007). Eine entsprechende Kontinuitätsannahme, nach der Ressourcenungleichheiten Ungleichheiten in der Versorgung bedingen und damit zur Erhaltung gesundheitlicher Ungleichheiten beitragen, scheint gerade im Bereich der gesundheitlichen Versorgung in den höheren Altersphasen viel Plausibilität beanspruchen zu können (Bauer/Büscher 2007). Anknüpfungspunkt hierfür sind die komplexen Bewältigungserfordernisse chronisch und/oder multimorbid Erkrankter (Schaeffer 2006; Maaz et al. 2007). Diese unterschiedlichen Erfordernisse bedingen ein komplexes Bewältigungshandeln und damit verbundene komplexe Versorgungsanforderungen (Schaeffer/Moers 2008). In dem Maße jedoch, wie auch hier der Übergang zu einem aktiven Patienten gefordert ist, wird das Bewältigungshandeln anfällig für die Beeinflussung durch individuelle Differenzen in der Ausstattung mit unterschiedlichen personalen (Fähigkeiten, Kompetenzen, Selbstwirksamkeits-, Kontrollüberzeugen etc.), sozialen (Unterstützungsmöglichkeiten, -netzwerke etc.) und materiellen Ressourcen (finanzielle Möglichkeiten der zusätzlichen Hilfe etc.). Zwar kann mit Blick auf die aktuelle Forschungssituation konstatiert werden, dass für die Thematik differenzierter Fähigkeits- und Kompetenzprofile im Alter bereits eine erkennbare Sensibilität ausgebildet wurde, so im Bereich der Lebensqualitätforschung in den späteren Phasen des Lebenslaufs (Borg et al. 2006; Levkoff et al. 1988) sowie bezüglich der Bedeutung von biographischen Transitionsprozessen wie dem plötzlichen Angewiesensein auf pflegerische Hilfe, dem Heimeinzug oder der Rückkehr aus dem Krankenhaus (Baldwin/Shaul 2001; Bowles et al. 2002; Caplan et al. 2004; Cleary et al. 2005). Die konsequen-
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te Fokussierung auf die Bedeutung von Ressourcenungleichheiten in der Versorgung steht jedoch noch aus. Im Sinne einer analytischen Unterscheidung können ressourcenabhängige Barrieren der Versorgungsnutzung im Alter in zweifacher Hinsicht unterschieden werden: Zum einen als funktionale Barrieren in dem Sinne, dass die Fähigkeit, das eigene krankheits- bzw. gesundheitsrelevante Handeln zu verändern, auf Grund von alters- und krankheitsbedingten Funktionseinschränkungen (u.a. das Denk-, Seh- und Hörvermögen betreffend) beeinträchtigt ist (Maaz et al. 2007). Als Folge funktionaler Einschränkungen zeigen sich in der Gruppe älterer und alter Patienten vermehrt Zugangsprobleme zur Versorgung, Komplikationen in der Arzt-Patienten-Kommunikation und der Patientencompliance (Safeer/Keenan 2005; Koo et al. 2006). Von den rein funktionalen Einschränkungen sind zum anderen Informationsbarrieren zu unterscheiden, die durch die unterschiedliche Ausstattung mit ökonomischen und vor allem kulturellen Ressourcen verbunden sind. Hierin drückt sich der zumeist hemmende Einfluss sozialstruktureller Ungleichheiten aus, die in der deutschsprachigen Diskussion bisher kaum Widerhall gefunden haben (Bauer et al. 2005; Walker 1999). Nahezu ausschließlich im angloamerikanischen Forschungskontext wird auf die Besonderheiten und Schwierigkeiten der Informationsaneignung im lebensweltlichen Setting chronisch erkrankter älterer und alter Patienten und ihrer Angehörigen hingewiesen (Popejoy 2005). Hieraus ergibt sich die hohe Relevanz, die der ungleichen Verfügbarkeit über ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen zukommt (Beverley et al. 2004; Borders et al. 2004; Collie et al. 2005; Cotten/Gupta 2004; Horch/Wirz 2005; Neame et al. 2005; Rutten et al. 2006). Mit Rekurs auf die Lebenslaufperspektive (Baltes 1999) kann auch hier davon ausgegangen werden, dass sich entsprechende Positiv- bzw. Negativkonstellationen der individuellen Ressourcenausstattung in den späten Lebensphasen eher potenzieren als nivellieren. Eine entsprechende Verknüpfung der Ressourcenperspektive mit der ungleichheitsund sozialstrukturanalytischen Diskussion liegt dabei nahe und ist vielfach zumindest implizit bereits hergestellt. Ebenso exemplarisch erlaubt dies der Detailblick auf den Bereich der pflegerischen Versorgung und die Situation der Pflegebedürftigkeit. Der Teilkaskocharakter der Pflegeversicherung, die mangelnde Dynamisierung der Leistungen seit Versicherungseinführung und die damit verbundene, sich ständig vergrößernde Differenz zwischen Leistungen und Kosten machen das System von Beginn an anfällig für Ungleichheiten in Qualität und Umfang der pflegerischen Versorgung. Noch steht eine explizit ungleichheitsorientierte Empirie hierzu aus. Dass hingegen Bedarfshaltungen im Pflegebereich, die Kompetenzen der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen und der Ausgestaltung von Pflegearrangements milieuspezifisch variieren, kann mit Verweis auf
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bereits zugängliche Untersuchungen festgehalten werden (Blinkert/Klie 2007; Heusinger/Klünder 2005). Das Gleiche gilt für zu vermutende Zugangsbarrieren und damit verbundene Gefahren der Unterversorgung, wenn nicht entsprechende Ressourcen zur Durchsetzung der eigenen Interessen oder zur Kompensation von Unterversorgung existieren (zu unterschiedlichen Detailaspekten s. auch die Beiträge von Schroeter, Okken et al., Güntert/Thiele und Stehling in diesem Band).
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Soziale Ungleichheit in der Pflege – der Diskussionsrahmen
Die pflegerische Versorgung ist bislang nicht explizit im Fokus einer Diskussion gewesen3, die soziale Ungleichheit in den Mittelpunkt stellt. Zwar gelten die Erkenntnisse zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit gewiss auch für viele Bereiche der Pflege, allerdings sind Differenzierungen notwendig, die die besondere Situation der pflegerischen Versorgung aufnehmen. Hierbei muss künftig Berücksichtigung finden, dass pflegerische Versorgung über die Grenzen des Gesundheitswesens hinausgeht und sich entsprechend auch einigen der typischen Logiken des Gesundheitswesens entzieht. Ein großer Teil der pflegerischen Versorgung findet im Rahmen der Langzeitpflege statt, für die in Deutschland das SGB XI mit der Pflegeversicherung den gesetzlichen Rahmen bildet. In internationaler Perspektive wird die langzeitpflegerische Versorgung sowohl dem Gesundheits- als auch dem Sozialwesen zugeordnet. Von Bedeutung ist daher, ob und in welcher Art und Weise sich Fragen sozialer Ungleichheit hier manifestieren? Mit welchen institutionellen Bedingungen, in welchen spezifischen, auch nationalen, Konstellationen sie korrespondieren? Die weitere Strukturierung des Forschungsfeldes, die auf diese Fragen reagiert, muss sehr genau darauf achten, wie an bisherige Forschungsthemen und stränge (auch benachbarter Disziplinen) anzuschließen ist. Ein erster Zugang, der an Ansätze der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung ankoppeln soll (s. oben), muss dabei die Ebenen der Produktion und Reproduktion von Ungleichheiten unterscheiden: Die Ebene der Produktion von Ungleichheiten beschreibt einen Mechanismus, bei dem Unterschiede in der Versorgung unabhängig von sozialen Einflussfaktoren entstehen. Hierzu gehören primär schlechte Zugangsbedingungen sowie eine unzureichende oder falsche Behandlung, das heißt, Versorgungsbedingungen, bei denen, vor allem im ambulanten Bereich, von Qualitätsunterschieden auszugehen ist. Im Sinne der Produktion von Ungleichheiten ist die Entstehung mehr oder weniger zufällig. Ungleichheiten entstehen ohne Ansehen der Person, individuelle oder soziale Bedingungen spielen qua Definiti3
Das ist um so überraschender, als gerade durch die WHO regelmäßig auf die Bedeutung sozialer Faktoren in der Pflege hingewiesen wird (WHO 1994, 1996, 2000, 2002).
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on keine Rolle. In dem Moment aber, in dem diese Bedingungen in der Versorgungswirklichkeit Bedeutung erlangen, ist im engeren Sinne nicht mehr von der Produktion von Ungleichheiten, als einem zufälligen Prinzip, zu sprechen. Das heißt, wenn individuelle oder soziale Unterschiede bereits vor dem Versorgungseintritt existieren und somit das Versorgungsgeschehen systematisch beeinflussen, ist die Entstehung von Ungleichheiten i.d.R. nicht mehr als unbeeinflusst zu bezeichnen. Versorgungsungleichheiten sind dann nicht durch akzidentielle, also zufällige Bedingungen determiniert, sondern folgen einer sozialen Typik. Die Ebene der Reproduktion von Ungleichheiten umfasst also das Weiterwirken von Ressourcenungleichheiten, die bereits mit Eintritt in das Versorgungsgeschehen auf die Ausgestaltung von Versorgungsbeziehungen Einfluss nehmen. Unterschiedliche Aspekte des Zusammenhangs von Ressourcenungleichheiten und pflegerischer Versorgung soll Abbildung 3 veranschaulichen. Zunächst entscheidet hierbei – so weit lassen epidemiologische Erkenntnisse eine Verallgemeinerung zu – die Ressourcenverfügbarkeit (der Faktor „Ungleiche Ressourcen“) über das relative Risiko, mit dem ein Pflegebedarf eintritt. Sozial-epidemiologischen Befunden zufolge sind von schweren und chronischen Erkrankungen ressourcenschwache Gruppen überproportional häufig betroffen. Sie verfügen über ein im Vergleich zu allen übrigen Bevölkerungsgruppen erhöhtes Risiko, pflegebedürftig zu werden und damit verbunden einer häufigeren und längeren Abhängigkeit von personellen Hilfeleistungen formeller und informeller Art. Die beiden darunter befindlichen Analyseebenen sind weit komplexer zu fassen als die gut konstatierbare Ausgangsbedingung eines sozial ungleich verteilten Pflegerisikos. Beide Analyseebenen beziehen sich auf das konkrete Versorgungsgeschehen. Zum einen auf die Akteursebene (1), womit der einzelne Handelnde, hier in der Regel der/die Pflegebedürftige und das dazu gehörige Umfeld der Angehörigen gefasst wird. Zum anderen auf die Strukturebene (2), womit auf die Perspektive der Leistungserbringer – zumeist in einem institutionenbezogenen Zugang – gezielt wird.
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Abbildung 3: Die analytische Unterscheidung zwischen der Akteurs- und Strukturebene beim Zugang zum Einfluss ungleicher Ressourcen auf das Pflegegeschehen.
Ungleiches Nutzungshandeln – die Akteursebene Der mikrosoziologischen Handlungstheorie folgend werden als Akteure in diesem Bezugsrahmen die Nutzer von Pflegeleistungen und nicht, wie häufig üblich, die Versorgungsinstanzen und professionellen Akteure, bezeichnet. Die Akteursebene bezieht sich also auf die pflegebedürftige Person bzw. den/die Empfänger/in pflegerischer Hilfe. Hier spielen zuerst einmal Fragen der Bestimmung und Aushandlung von Pflegebedürftigkeit und Pflegebedarf eine Rolle. Nach Wingenfeld (2003) ist Pflegebedürftigkeit ein personenbezogenes Merkmal, dass den Umstand bezeichnet, dass ein Mensch aufgrund gesundheitlicher Problemlagen pflegerische Hilfe benötigt. Demgegenüber ist der Pflegebedarf das Ergebnis eines Beurteilungs- und Entscheidungsprozesses über einen Teil oder die Gesamtheit der Interventionen zur Bewältigung pflegerisch relevanter Problemlagen. Versteht man Pflegebedürftigkeit in einem weiteren Sinne als es derzeit durch die Definition des Pflegeversicherungsgesetzes geschieht, so sind Menschen als pflegebedürftig zu bezeichnen, die
infolge fehlender personaler Ressourcen, mit denen körperliche oder physische Schädigungen, die Beeinträchtigung körperlicher oder kognitiver/psychischer Funktionen, gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen kompensiert oder bewältigt werden könnten, dauerhaft oder vorübergehend zu selbständigen Aktivitäten im Lebensalltag, selbständiger Krankheitsbewältigung oder selbständiger Gestaltung von Lebensbereichen und sozialer Teilhabe
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nicht in der Lage und daher auf personelle Hilfe angewiesen sind (Wingenfeld et al. 2007).
Pflegebedürftigkeit in diesem Sinne ist also eine Konsequenz aus Krankheit und funktioneller Beeinträchtigung. In diesem Sinn ist davon auszugehen, dass für den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit, der Entstehung von und dem Umgang mit Pflegebedürftigkeit analoges gilt wie für den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Krankheitsentstehung: Der soziale Gradient ungleicher Wahrscheinlichkeiten und Risiken beeinflusst den Eintritt in eine Versorgungsbeziehung und die Möglichkeiten ihrer Ausgestaltung. Wie im gesamten Versorgungssektor, so ist auch mit Blick auf den Pflegebereich der Einfluss unterschiedlicher individueller und sozialer Ressourcen auf Bedingungen von Pflegearrangements als hoch relevant einzuschätzen (Schroeter 2005, siehe auch den Beitrag von Schroeter in diesem Band). Mit Rekurs auf die im angloamerikanischen Sprachraum lang anhaltende Debatte zum Nutzungsverhalten, existiert heute eine Vielzahl von Erkenntnissen, die eine Art soziale Determination des Versorgungs- und speziell des Pflegegeschehens nahe legen (u.a. Andersen/Newman 1973; Porter 2000). Das Nutzungs- und Inanspruchnahmeverhalten variiert nach der Verfügbarkeit über ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital (Heusinger/Klünder 2005, siehe auch den Beitrag von Heusinger in diesem Band), wobei gerade ressourcenschwache Gruppen Anpassungsprobleme an komplizierte Versorgungsabläufe speziell im Pflegebereich aufweisen.4 Entsprechende Ressourcenungleichheiten sind folglich nicht nur als die ungleiche Verfügbarkeit über ökonomisches Kapital und andere materielle Ressourcen zu operationalisieren (wiewohl diesen, wie beispielsweise der Zukauf von Diensten in der ambulanten Versorgung zeigt, stets eine besonders hervorgehobene ungleichheitsgenerierende Bedeutung zukommt). Sie scheinen aber zumindest immer auch parallel als Fähigkeits-, Mentalitäts- und Kompetenzunterschiede Bedeutung zu erlangen, die für das Agieren in und den Umgang mit den Instanzen der pflegerischen Versorgung als unverzichtbare Quelle fungieren (Dixon et al. 2007). Die jüngere Agency-Forschung (Emirbayer/Mische 1998; Grundmann et al. 2006) betont, wie eng solche Kompetenzunterschiede mit den Lebensbedingungen, speziell den milieuspezifischen Herkunftsungleichheiten verknüpft sind (Bauer/Vester 2008). Die Betrachtung von Ressourcenunterschieden im Kontext der Analyse von gesundheitlichen Ungleichheiten legt nahe, dass Unterschiede in der Ausstattung 4 Wie z.B. die Überwindung bürokratischer Hürden bei der Beantragung von Sach- oder Geldleistungen aus der Pflegeversicherung oder Mehrfachkonsultationen in ambulanten Versorgungssettings (Bauer/Schaeffer 2006; Bauer 2007).
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mit ökonomischem (Geld), kulturellem (Mentalitäten, Kompetenzen etc.) und sozialem Kapital in der Situation, in der die Abhängigkeit von Leistungen der pflegerischen Versorgung einsetzt, nicht ab-, sondern eher noch an Relevanz zunimmt (Heusinger/Klünder 2005; Bauer/Schaeffer 2006). Wenn die Analogie zum Bildungssystem auch hier weiter trägt, dann kann der Mechanismus der Ungleichheitsreproduktion im Gesundheitsbereich nur zum Teil über rein ökonomische Barrieren und Ausschlussbarrieren erklärt werden (was durch die Vielzahl der unentgeltlichen, weil versicherungsgebundenen Leistungen verständlich ist). Vielmehr scheinen die Ursachen für Unterschiede bei der Inanspruchnahme und Nutzung – mit einem technischen Begriff aus der Forschung zur Entstehung von Bildungsungleichheiten – auf den Modus der Selbsteliminierung zurück zu gehen, also auf Effekte mangelnder Nutzungskompetenzen, auf Nicht-Wissen oder soziale Scham (Bauer/Vester 2008). Ungleiche Leistungsvergabe – Die Strukturebene Im Unterschied zu dem, was als Ungleichheiten der Nutzung und Inanspruchnahme auf der Akteursebene skizziert wurde, fokussiert der Aspekt der ungleichen Leistungsvergabe die Strukturebene. Wenn auch hier der mikrologische Zugang ebenso erforderlich wird (um etwa die spezifische Interaktion zwischen Nutzern und Leistungserbringern zu erfassen, vgl. Schaeffer 2004), liegt das Hauptinteresse auf der Analyse struktureller Bedingungen institutioneller Gleichbzw. Ungleichbehandlung. Der analytische Zugriff verschiebt sich also – wenn man zunächst polarisiert – von der Nutzerseite auf die Seite der Leistungserbringer. Primäres Ziel ist damit, sozial ungleiche Formen der Leistungsvergabe zu erfassen, so weit diese durch bestehende Strukturen und Reglementierungen – politischer, aber auch ökonomischer Art (Navarro 2007) – bedingt sind. Solche Praktiken der Ungleichbehandlung sind nicht unmittelbar verständlich. Gemeinhin werden sie in der institutionellen Selbstbeschreibung als nicht existent wahrgenommen (Rosenbrock/Gerlinger 2006; für Großbritannien Dixon et al. 2007). Diese Form der Invisibilisierung von Verteilungsungleichheiten ist um so überraschender, als frühere Untersuchungen bedarfsinadäquate Versorgungsstrukturen, die soziale Ungleichheiten verstärken und nicht kompensieren, durchaus diagnostizieren konnten (Graham/Kelly 2004; Hall/Dornan 1990; Kasper 2000).5 Dieser Strang einer viel versprechenden Debatte wird heute allerdings kaum noch bedient. Dabei liefern auch die heute verfügbaren empirischen Erkenntnisse durchaus verlässliche Hinweise darauf, dass die institutionelle Selbstbeschreibung, die die egalitäre Praxis der Leistungsvergabe voraussetzt, kontrafaktisch erfolgt. 5
So Tudor Harts (1971) Inverse Care Law: „[…] the availability of good medical care tends to vary inversely with the need to it in the population served.“
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Praktiken der Ungleichbehandlung sind ein sektorenübergreifendes Phänomen (s. oben) und spielen auch im Bereich der pflegerischen Versorgung eine hervorgehobene Rolle. Erste explorative Studien zur Situation in der ambulanten und stationären Pflege bestätigen das übereinstimmend (Hart/Freeman 2005 sowie die Beiträge von Dreißig, Okken/Razum und Stehling in diesem Band). Auch hier gilt, dass ökonomische Kriterien eine hohe Bedeutung haben (Güntert/Thiele in diesem Band), aber nicht notwendigerweise den alleinigen Ausschlag für die sozial ungleiche Leistungsvergabe geben müssen. Vielmehr wirken soziale Ungleichheiten offenbar auch unterhalb der Schwelle finanzieller Zugangsbarrieren eigenständig fort. In dieser Hinsicht lassen sich Ausschlussmechanismen im Gesundheitswesen wiederum sehr passend in Analogie zur Situation im Bildungswesen beschreiben: Finanzielle Barrieren erfüllen zumeist nur eine sekundäre Selektionsfunktion. Primär führt eine sozial normierende Praxis zum potenziellen Ausschluss von Leistungen (Bittlingmayer/Bauer 2007; Davidson et al. 2006). In der Bildungsforschung wird dieser Mechanismus – wiederum ganz analog – als „institutionelle Diskriminierung“ beschrieben (Gomolla/Radtke 2002). Dem oben so bezeichneten Modus der Selbsteliminierung (mangelnde Nutzungskompetenzen etc.) entsprechend, müssten Ausschlussmechanismen, die auf einer sozial normierenden oder diskriminierenden Praxis beruhen, als Modus der Fremdeliminierung in der gesundheitlichen Versorgung zusammengefasst werden können. Die soziale Selektion funktioniert dann also über Barrieren, die zum einen explizit und sichtbar existieren: Hierzu gehört die Vorzugsbehandlung der privat Versicherten gegenüber den gesetzlich versicherten Patienten (Lungen et al. 2007) sowie eine generell steigende finanzielle Selbstbeteiligung, bei der der Teilkaskocharakter der sozialen Pflegeversicherung und damit verbundene steigende Kostenbeteiligungen bei den Gesundheitsausgaben der privaten Haushalte nur einen Ausschnitt darstellen. Allein die private Kostensteigerung im Bereich der pflegerischen Langzeitversorgung macht dies deutlich (Bauer/Büscher 2007). Aber auch unabhängig davon, dass finanzielle Belastungen als Ausschlussmechanismus wirksam werden, lassen sich Phänomene der sozialen Sortierung und Polarisierung erkennen. Motor hierfür scheint die vielfach geforderte Zunahme von Selbst- und Eigenverantwortung in der Gesundheitsversorgung zu sein (Schmidt/Kolip 2007). Hiervon ausgehend stellt sich die Versorgungssituation, speziell in der Pflege, für bestimmte Gruppen und Milieus schon jetzt als Überforderung dar. Somit ergibt sich mehr und mehr die Schwierigkeit, dass heutige Angebote auch in der pflegerischen Versorgung nicht zielgruppenspezifisch auf die Bedürfnisse derjenigen ausgerichtet sind, die nach dem sozialen Gradienten gesundheitlicher Lebenschancen ein erhöhtes Risiko der Versorgungsabhängigkeit und damit häufig auch der Pflegebedürftigkeit haben. Soziale Ungleichhei-
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ten vergrößern sich somit. Das gilt sowohl für Versorgungsungleichheiten als auch für Ungleichheiten im Gesundheitsstatus.
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Die Beiträge im Band
Diese unterschiedlichen Perspektiven finden sich in den unterschiedlich akzentuierten Beiträgen des Bandes wieder. Im ersten Teil werden konzeptionelle und theoretische Zugänge zum Thema vorgestellt. Den Anfang macht ein Beitrag von Klaus R. Schroeter, in dem die Grundzüge des sozialen Pflegefeldes dargelegt werden. Es wird ein Bezug hergestellt zur Bourdieuschen Theoriebildung und das Feld der Pflege wird expliziert auf einer personalen, interaktiven, organisatorischen und gesellschaftlichen Ebene. Die Frage sozialer Ungleichheit wird mit Rückgriff auf den Blick und das Credo der Pflege anhand des pflegediagnostischen Diskurses aufgegriffen, der zur Aufrechterhaltung und Erweiterung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen beiträgt. Ursula Dallinger und Hildegard Theobald diskutieren soziale Ungleichheit und Pflege vor dem Hintergrund sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Politikgestaltung. Dabei stehen Fragen nach den Rechten pflegebedürftiger Menschen im Mittelpunkt. Ungleichheit in der Pflege wird als Fortsetzung bestehender Ungleichheit angesehen und die Pflege in den Kontext egalisierender Politik eingebettet. In internationaler Perspektive wird betrachtet, ob und wie sozialpolitische Entscheidungen zur Produktion von Ungleichheit beitragen. Vorliegende Erkenntnisse zu diesem Bereich gibt es bislang nur wenige. Daran anschließend betrachtet Martin Schnell aus einer philosophischen Perspektive den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung. Dabei steht die Frage der Verteilungsgerechtigkeit im Zentrum der Betrachtung. Anhand der Zuteilungsmechanismen von Pflegeleistungen, dem Assessment und der Klassifikation, werden Fragen der Ethik und Gerechtigkeit diskutiert. Das personenbezogene Budget wird als eine Möglichkeit zur Erreichung von Verteilungsgerechtigkeit in der pflegerischen Versorgung angesehen. Pflegen und gepflegt werden können als ein gendered process betrachtet werden. Diese Perspektive machen sich Gertrud Backes, Martina Wolfinger und Ludwig Amrhein zu eigen und befassen sich mit Geschlechterungleichheiten bezogen auf die Altenpflege. Geschlecht, Altern und Pflegebedürftigkeit werden als Auslese- und Ausschließungsprinzipien dargelegt, die eine zusätzliche Dimension sozialer Ungleichheit bilden. Auch hier wird konstatiert, dass es an qualitativen und quantitativen Daten, vor allem in Längsschnittperspektive, mangelt. Bernhard Güntert und Günter Thiele kommen in ihrem Beitrag zu der Aussage, dass der gesamte Pflegesektor unterfinanziert ist. Sie problematisieren,
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dass mit Marktmechanismen versucht wird, eine öffentliche Aufgabe zu bewältigen und regen an, Verfahren zu entwickeln, mittels derer eine Folgenabschätzung sozialpolitischer Entscheidungen mit Bezug zur Pflege vorgenommen werden kann. Im abschließenden Beitrag dieses ersten konzeptionellen und theoretischen Teils des Bandes befasst sich Johann Behrens aus soziologischer Perspektive mit der Ungleichheit in der Pflege. Ausgehend von der Pflegeversicherung und der Internationalen Klassifikation der Funktionseinschränkungen (ICF) werden Anfälligkeiten für Ungleichheit in der pflegerischen Versorgung aufgezeigt. Der zweite Teil dieses Buches ist empirischen Arbeiten zum Thema Pflege und soziale Ungleichheit gewidmet. Im ersten Abschnitt geht es dabei um den Kontext und die Ausgangsbedingungen von Pflege. Den Anfang macht der Beitrag von Lars Borchert und Heinz Rothgang, der soziale Einflüsse auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit älterer und alter Männer untersucht. Auf der Grundlage von Daten einer Pflegekasse zeigt sich, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Entstehung von Pflegebedürftigkeit und sozialstrukturellen Merkmalen gibt, dieser sich jedoch differenziert in den einzelnen Pflegestufen darstellt. Baldo Blinkert und Thomas Klie schlagen den Bogen zwischen milieubedingten Entscheidungsfaktoren, die bei der Entstehung von häuslichen Pflegearrangements eine Rolle spielen, zu Entwicklungen und Optionen auf der Ebene der Politikgestaltung, für die diese Entscheidungen und die Präferenzen pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen eine hohe Bedeutung haben. Der Bezug zu häuslichen Pflegearrangements setzt sich im zweiten Abschnitt der empirischen Zugriffe fort. Mehrere weitere Beiträge in diesem Buch geben einen Einblick in häusliche Pflegearrangements und in die Komplexität und Vielschichtigkeit dessen, was unter informeller Pflege zu verstehen ist. Melanie Deutmeyer befasst sich mit der häuslichen Elternpflege durch Töchter und fragt nach geschlechtsspezifischer Ungleichheit. Der Beitrag schließt einerseits an die grundlegenden Ausführungen von Backes, Wolfinger und Amrhein zu Geschlechterungleichheiten in der Pflege an und verdeutlicht andererseits die Komplexität häuslicher Pflegesituationen in der Einzelfallperspektive. Die Bedeutung familialer Strukturen in der Pflege ist auch Thema des Beitrags von Christa Büker zum Leben mit einem behinderten Kind und den damit verbundenen Folgen für den Lebensalltag. Der Beitrag zeigt eindrücklich auf, wie eine solche Situation Unterschiede und Ungleichheiten bedingt und verstärkt. Das Zusammentreffen mehrerer Faktoren (Pflege eines behinderten Kindes durch Alleinerziehende) stellt ein akutes Armutsrisiko dar. Der Beitrag verdeutlicht die Notwendigkeit familienorientierter Hilfs- und Pflegeangebote, die es neben den auf das Individuum bezogenen Interventionen zu entwickeln gilt. Josefine Heusinger hat den Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit und Selbstbestimmung in häuslichen Pflegearrangements untersucht und unter-
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streicht, dass vorhandenes soziales und kulturelles Kapital über Bewältigungsstrategien und Möglichkeiten in häuslichen Pflegearrangements entscheidet. Gleichzeitig zeigt der Beitrag allerdings auch Grenzen des Milieuansatzes auf. Ebenfalls in der häuslichen pflegerischen Versorgung angesiedelt, aber aus einer ganz anderen Perspektive, beleuchten Sabine Metzing und Wilfried Schnepp die Frage, warum Kinder und Jugendliche zu pflegenden Angehörigen werden. Dieses bislang vollkommen vernachlässigte Thema zeigt eindrücklich auf, welche Pflegearrangements in Deutschland trotz einer relativ umfassenden Absicherung des Pflegerisikos entstehen können. Die Situation für Kinder und Jugendliche ist in verschiedener Hinsicht prekär, da sie häufig keine Leistungen in Anspruch nehmen können und die Pflegesituation sich im Verborgenen abspielt. Die Studie ist daneben allerdings ein erneutes Beispiel der Bedeutung familiärer Faktoren bei der Entstehung von Pflegearrangements. Im letzten Abschnitt der empirischen Zugriffe geht es um spezielle Zielgruppen und Versorgungsprobleme. Im ersten Beitrag geht es dabei um die Medikamentenversorgung. Anja Ludwig weist darauf hin, dass soziale Faktoren in der Complianceforschung nur eine untergeordnete Rolle spielen und regt eine erweiterte Forschungsperspektive an. Auch wenn noch keine empirisch eindeutigen Zusammenhänge zwischen Adhärenz und Sozialstatus existieren, so zeigt Ludwig sehr eindrucksvoll auf, wie brisant diese Thematik in kommenden Forschungsdebatten behandelt werden wird. Die kommunikativen Aspekte der Pflege stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Verena Dreißig. Ihre Studie zeigt eindrücklich die ungleichen Kommunikationsvoraussetzungen verschiedener Patientengruppen. Auf diesen ungleichen Ausgangsniveaus aufbauende Kommunikationsprozesse können – wie Dreißig eindrucksvoll aus einer ethnologisch motivierten Perspektive zeigt – zur Manifestation und Steigerung von Ungleichheit beitragen. Exemplarisch wird die Problematik an der Kommunikationssituation von Menschen mit Migrationshintergrund im Setting Krankenhaus dargestellt. Heiko Stehling hat sich mit der pflegerischen Versorgung wohnungsloser Menschen im Krankenhaus und in der ambulanten Pflege befasst. Dabei zeigt sich, dass die Pflege wohnungsloser Menschen mit Irritationen in den Normen und Wertvorstellungen individueller Pflegekräfte einher geht und dass diese ihre Rolle einerseits in einer Schutzfunktion für die wohnungslosen Menschen sehen, gleichzeitig aber auch einen erzieherischen Auftrag verfolgen. Die gesundheitliche und pflegerische Situation türkischer Migranten ist Gegenstand des Beitrags von Petra Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum. Ausgehend von einer umfassenden Darstellung der Lebenssituation türkischer Migranten werden Anzeichen für einen schlechteren Sozialstatus dargestellt. Anhand vorliegender Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Westfalen-Lippe wird ein differenzierteres Bild zu Fragen der pflegerischen Versorgung türkischer
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Migranten gezeichnet. Die besondere Rolle der Selbsthilfe und insbesondere von Selbsthilfevereinigungen bei der Krankheitsbewältigung steht im Beitrag von Bernhard Borgetto und Nicole Kolba im Zentrum der Aufmerksamkeit. Da offensichtlich ein höherer sozialer Status den Zugang zu Selbsthilfemöglichkeiten erleichtert, wird der Frage nachgegangen, ob vor diesem Hintergrund die Förderung der Selbsthilfe noch adäquat ist oder nicht vielmehr kritisch hinterfragt werden muss, inwiefern sie zur Manifestierung sozialer Ungleichheit beiträgt.
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Soziale Ungleichheit in der pflegerischen Versorgung – ein Bezugsrahmen
Konzeptionelle und theoretische Zugänge
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Pflege in Figurationen
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Pflege in Figurationen – ein theoriegeleiteter Zugang zum ,sozialen Feld der Pflege‘ Pflege in Figurationen
Klaus R. Schroeter
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Einleitung
Im Rahmen einer allmählich an Kontur gewinnenden ,Soziologie der Pflege‘ (Schroeter/Rosenthal 2005) gewinnen neben systemtheoretischen Ansätzen (Bauch 2005; Hohm 2002) in letzter Zeit auch jene Theorieangebote an Bedeutung, die in Anlehnung an Foucault macht- und diskursanalytische Zugänge (Armstrong 1983; Fox 1993; Friesacher 2004; Lupton 1992; Powers 1999; Schroeter 2003a, 2005b; Thompson 1985) oder im Rückgriff auf Bourdieu konflikt- und ungleichheitstheoretische Dimensionen (Amrhein 2002, 2005; Gatrell et al. 2004; Rhynas 2005; Williams 1995) in die Debatte einziehen. In diesem Kontext sind jüngst auch Vorschläge unterbreitet worden, das Pflegegeschehen unter dem „Vergrößerungsglas einer feld- und figurationssoziologischen Betrachtung“ (Schroeter 2000, 2002, 2004) ins Visier zu nehmen und die Pflege als ,soziales Feld‘ zu konzipieren (Roth 2007; Schroeter 2003b, 2005a, 2006, 2007d; Wallenszus 1998). Dieser Beitrag greift auf bereits verschiedentlich publizierte Überlegungen des Autors zurück und umreißt (in einer freilich äußerst lakonisch-kursorischen Art) zunächst einmal die Grundzüge des ,sozialen Pflegefeldes‘ (Kap. 2). Dem schließen sich einige Ausführungen zum ,Blick der Pflege‘ (Kap. 3) an, in denen die Aufgaben und Funktionen der Pflege approximativ formuliert werden. Sodann gilt die Aufmerksamkeit der Doxa im Feld der Pflege, die hier anhand des Credos an die lebensweltorientierte Pflege diskutiert wird (Kap. 4). Fernerhin wird im Anschluss an Foucault unter dem Stichwort des Pflegedispositivs das Zusammenspiel von Diskurs und Praxis im sozialen Feld der Pflege behandelt (Kap. 5). Abschließend wird anstelle einer Zusammenfassung eine epistemologische Schlussfolgerung gezogen (Kap. 6).
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Klaus R. Schroeter Das Feld der Pflege
Auf der Folie der Bourdieu’schen Feldtheorie lässt sich das soziale Feld der Pflege als ein in sich differenzierter (und in eine Vielzahl von Subfeldern untergliederter) gesellschaftlicher Teilbereich im Gesundheitssystem mit spezifischen und spezialisierten Akteuren umreißen, der über eigene materiale und soziale Ressourcen verfügt und nach eigenen Regeln und Logiken funktioniert. Soziale Felder sind nicht als bloße räumliche Eingrenzungen misszuverstehen, sondern immer auch als relationale Handlungsfelder zu denken, in denen Strukturen, Verflechtungen und Abhängigkeiten geschaffen werden. Insofern sind soziale Felder zugleich auch immer figurative Felder (Schroeter 2004). Diese in Anlehnung and Elias und Bourdieu gewählte Bezeichnung soll zum Ausdruck bringen, dass sich in den sozialen Feldern immer auch Verkettungen von Handlungen finden, die zugleich Reaktionen auf vorgefundene Bedingungen wie auch Bedingungen für folgende Reaktionen sind und die sich wechselseitig bedingen und durchdringen und damit ein eigenartiges Geflecht wechselseitiger und veränderbarer Abhängigkeiten (Interdependenzgeflechte, Figurationen) erzeugen.1 Der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts konstituierende Pflegeberuf stand von Beginn an unter der Domäne der Medizin und unter der Ideologie des „idealen Frauenberufs“ (Bischoff 1997). Das Verhältnis von Medizin und Pflege in dieser Phase lässt sich als ein Zusammenspiel von „männlicher Wissenschaft und weiblicher Zuarbeit“ (Robert-Bosch-Stiftung 1992: 59) beschreiben. Dienerschaft, Folgsamkeit und weibliche Fürsorge waren die Attribute des frühen Krankenpflegeberufes, die in abgeschwächter Form bis in die heutigen Tage nachwirken. Die verschärften Ausbildungsregularien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zielten zwar darauf, das Berufsprestige anzuheben und den Krankenpflegeberuf attraktiver zu gestalten, doch in der öffentlichen Meinung halten sich stereotype Vorstellungen, dass Pflege „eigentlich kein richtiger Beruf“ sei. Dort steht die Pflege noch immer unter dem Dünkel der so genannten „Jederfraufähigkeiten“. Pflege gilt als eine Art „Halbberuf“, der mit einem Schuss guten Willen und Einfühlungsvermögen von „jeder Frau“ geleistet werden kann (Voss 1990: 34). 1 Der Figurationsbegriff stammt von Norbert Elias und wird vor allem in seinem Buch „Was ist Soziologie“ ([1970] 1991) elaboriert, wo er als eine gedankliche und begriffliche Präzisierung dessen erscheint, was er zuvor als „Verflechtungsfigur“ bezeichnet hat. Mit diesem Begriff versucht er die „vertrackte Polarisierung“ von Individuum und Gesellschaft aufzubrechen (Elias 1984: 62ff.). Damit erscheinen die sozialen Interaktionen als auf mehreren Ebenen verlaufende und komplementär verknüpfte Beziehungen. Gesellschaftliche Strukturen, soziale Deutungsmuster, individuelle Selbsterfahrung und individuelles Handeln werden als komplementäre Erscheinungen behandelt.
Pflege in Figurationen
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Die Pflege hat in den zurückliegenden Jahren zwar deutlich an Profil gewonnen und den Prozess der Professionalisierung eingeschlagen, doch der Weg vom Beruf zur Profession ist weit. Im Rahmen der gesellschaftlichen Differenzierung und Spezifizierung vollzog sich nicht nur der gesellschaftliche Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, es wandelten sich auch die Charaktere und Anforderungen der Berufe. Das gilt auch für den Pflegeberuf, der zunächst einmal auf eine solide berufliche Ausbildung gestellt und im weiteren Verlauf funktionsspezifisch ausdifferenziert wurde und in den letzten Jahren nun auch in Deutschland sukzessive akademisiert wird. Doch die Eigenständigkeit der Regeln stößt an ihre Grenzen: Denn die Pflege befindet sich zwar in einem Stadium, in dem sie sich ganz langsam aus der Umklammerung des medizinischen Feldes zu lösen beginnt, doch allem Verlangen nach größerem Eigengewicht zum Trotze, hat sie es bislang noch nicht vermocht, ein eigenes selbstreferenzielles Regelsystem zu etablieren (Bauch 2005). Gleichwohl sind die Strukturen und Regelungen im Feld komplex und differenziert. Soziale Felder lassen sich zuweilen in eine Vielzahl von Unterfeldern differenzieren, wobei jedes Unterfeld seine eigene Logik, seinen eigenen Spielraum und seine eigenen spezifischen Regeln und Regulatorien hat (Bourdieu/ Wacquant 1996: 135).2 Die sozialen Felder stützen sich auf eine stille und als selbstverständlich erfahrene Übereinkunft, auf eine feldspezifische Hintergrundüberzeugung und Wirklichkeitsannahme (Doxa) und erschließen sich über den habituell gesteuerten praktischen Sinn der Akteure. Der ist gewissermaßen das „Eintrittsgeld“ in ein jedes Feld, ohne dessen Anerkennung das Feld gar nicht funktioniert (Bourdieu 1987: 124ff., 1993: 190). Auch das Feld der Pflege lässt sich in verschiedene und nach eigenen Logiken verfahrende Subfelder unterteilen, so z.B. in die der Gesundheitspflege, der Pflege bei Gesundheitsproblemen und der Altenpflege.
Die Logik der Gesundheitspflege zielt auf die Erhaltung und Förderung der Gesundheit, die Verhütung von Krankheit, die Hinleitung zu gesundheitsförderlichem Verhalten sowie auf die Befähigung zu angemessener Selbstund Laienpflege bei Menschen aller Altersgruppen. Die Logik der Pflege bei Gesundheitsproblemen zielt auf eine Hilfeleistung an Menschen unterschiedlichen Alters in den Phasen ihres Behindertseins, Krankwerdens, Krankseins, Gesundwerdens, Krankbleibens und Sterbens. Die konkreten Zielsetzungen sind das Wiedererlangen von Gesundheit, die
2 Bourdieu (1993: 110) hat darauf hingewiesen, dass es als „eines der sichersten Indizien für das Bestehen eines Feldes“ anzusehen ist, wenn eine ganze „Zunft von Konservatoren“ auftritt, „lauter Leute, die ein Interesse an der Erhaltung dessen haben, was im Feld produziert wird, die also ein Interesse daran haben, zu erhalten und sich selbst als Erhaltende zu erhalten.“
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Klaus R. Schroeter Neuorientierung und Selbstständigkeitssteigerung bei bleibender Krankheit oder Behinderung, die Befähigung zu angemessener Selbst- und Laienpflege sowie die Erreichung eines würdevollen Sterbens. Die Logik der Altenpflege zielt auf die Hilfestellung und Unterstützung bei der Bewältigung der Lebensaktivitäten alter Menschen, deren Selbstständigkeit aufgrund von Altersprozessen und damit einhergehenden Ressourcenverlust eingeengt ist. Die konkreten Zielsetzungen sind hier die Neuorientierung und größtmögliche Selbstständigkeitserhaltung, die Erhaltung und Förderung von Gesundheit, die Befähigung zu angemessener Selbst- und Laienpflege sowie das Ermöglichen eines würdevollen Sterbens (Kellnhauser et al. 2000: 92f.).
Diese Unterfelder lassen sich wiederum in weitere Unterfelder differenzieren, wie z.B. in kurative, präventive oder rehabilitative Pflege oder auf anderen Differenzierungsebenen in Selbstpflege, Laienpflege oder beruflicher (professioneller) Pflege oder in stationäre, teilstationäre oder häusliche Pflege. Auf einer anderen Unterscheidungsebene lässt sich z.B. das Praxisfeld Krankenhaus aufgrund seiner verschiedenen Zielkomplexe in die funktionalen Felder der Medizin, pflegerischen Versorgung, Forschung, Aus- und Weiterbildung, administrative Selbsterhaltung und Weiterentwicklung (Rohde 1973) unterteilen. In Analogie dazu lässt sich das Praxisfeld Pflegeheim in die Unterfelder der Pflege, Betreuung, Versorgung, Verwaltung und Technik differenzieren (Schroeter/Prahl 1999: 136ff.). Wenn man nach der Logik der Bourdieu’schen Theoriebildung ein Feld konstruieren will, so muss man die in ihm wirksamen Formen des spezifischen Kapitals bestimmen. Jedes Feld ist zugleich auch Entstehungsort einer besonderen Kapitalform, die „in Verbindung mit einem bestimmten Feld, also in den Grenzen dieses Felds, einen Wert hat und nur unter bestimmten Bedingungen in eine andere Art Kapital konvertierbar ist“ (Bourdieu 1993: 108). Und das ist im Feld der Pflege eben das Pflegekapital. Dieses spezifische Kapital „beruht nicht zuletzt auf der Anerkennung einer sachlichen Befähigung, der Erkenntnisse, die sie hervorbringt, aber auch einer durch sie verliehenen Autorität, die dazu beiträgt, nicht nur die Regeln des Spieles festzulegen, sondern auch die Regelmäßigkeiten des Spiels, die Gesetze etwa, nach denen die Spielgewinne verteilt werden.“ (Bourdieu 1998: 23)
Wenn ein Kapital oder eine Kapitalsorte das ist, „was in einem bestimmten Feld zugleich als Waffe und als umkämpftes Objekt wirksam ist, das, was es seinem Besitzer erlaubt, Macht oder Einfluß auszuüben, also in einem bestimmten Feld zu existieren (...)“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 128), so haben wir es im Feld der
Pflege in Figurationen
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Pflege mit zwei zentralen Pflegekapitalien zu tun: zum einem mit dem biologischen und psycho-sozialen Vulnerabilitätskapital (Schroeter 2002, 2004: 135 ff., 2005a) als eine spezifische Form des korporalen Kapitals (Shilling 1997; Schroeter 2007a-c) der hilfsbedürftigen Menschen und zum anderen mit dem im weitesten Sinne kulturellen Kapital der Hilfe und Pflege gewährenden Menschen und Institutionen (u.a. Know-How, Pflege- und Sachkompetenz). Beide Kapitalien, wie auch die jeweiligen Kapitalbesitzer, bzw. die über die Kapitalien Verfügenden, bedingen sich gegenseitig und stehen in einem Komplementärverhältnis zueinander. Diese spezifischen Kapitalien stützen sich auf die Kompetenzen und Erkenntnisse der Feldakteure. Es ist eine Art verliehene Autorität, die ihren Anteil daran trägt, die Regeln und Regelmäßigkeiten des Feldgeschehens festzulegen und damit auch die Feldregeln, nach denen die Gewinne und Verluste des Geschehens im Felde verteilt werden. Insofern weisen Umfang und Verfügung über diese Pflegekapitalien den einzelnen Akteuren eine spezifische Feldposition zu: sowohl den im Pflegefeld involvierten Individuen als auch den dort agierenden Institutionen. Gleichzeitig unterliegt aber jeder individuelle wie auch kollektive Akteur des Feldes den spezifischen Feldzwängen. Somit sind die einzelnen Teilnehmer des Pflegefeldes zwar bis zu einem gewissen Grad für die Feldgestaltung und für die Formierung der Feldstrukturen verantwortlich, aber immer nur von ihrer spezifischen Stellung im Feld aus, die gleichzeitig auch immer die Handlungsund Dispositionsspielräume begrenzt. Es liegt in der Logik der mehrdimensionalen Feldstruktur, dass, sofern ein Element bzw. ein Subfeld oder eine Beziehung innerhalb dieses sozialen Subfeldes verändert werden soll, das Auswirkungen auf alle anderen Elemente oder unter- bzw. nebengeordneten Felder haben wird. Das soziale Feld der Pflege erweist sich damit als ein multilaterales Beziehungs- und Bedingungsgefüge mit wechselseitigen Abhängigkeiten. Brandenburg hat mit dem handwerklich-technischen, dem kommunikativen, dem organisatorischen und dem institutionellen Aspekt vier Differenzierungsebenen vorgeschlagen (Brandenburg/Dorschner 2003: 39 ff.), die noch um den makrosoziologischen gesellschaftlichen Aspekt zu ergänzen wären. Damit lässt sich das Feld der Pflege im Groben in das konzentrisch ineinander geschachtelte Arrangement der personalen, interaktiven, organisatorischen und gesellschaftlichen Ebene unterteilen (Richter 1995; Schroeter 2004, 2005a), auf denen die einzelnen Akteure als personale Systeme immer in einem interpersonalen System interagieren und in Beziehung zur organisatorischen und gesellschaftlichen Umwelt stehen.
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Klaus R. Schroeter Auf der personalen Ebene erscheinen die Akteure (etwa: Patienten, Bewohner, Pflegepersonal) als Persönlichkeiten mit einem spezifisch organisierten Gefüge von Merkmalen, Gefühlen, Eigenschaften, Einstellungen, Werthaltungen, Fähigkeiten und Handlungskompetenzen, das sich aus einer ständigen Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Realität entwickelt (Hurrelmann 2001). Auf der interpersonalen Ebene erscheint der Patient bzw. der Bewohner als Interaktionspartner verschiedener Akteure. Diese Ebene umspannt in erster Linie das Interaktionsverhältnis von Patient bzw. Bewohner zum medizinischen und pflegerischen Personal. Dazu gehören sowohl das Arzt-PatientVerhältnis als auch die Beziehungen zwischen Patient bzw. Bewohner und therapeutischem bzw. pflegerischem Personal. Auf der interaktiven Ebene sind aber ebenso die face-to-face-Kontakte der Patienten/Bewohner untereinander, deren Beziehungen zu ihren Angehörigen, wie auch die Beziehungen der Angehörigen zum Pflegepersonal und die Beziehungen des Personals untereinander anzusiedeln. Die interpersonale Ebene kennzeichnet das nähere soziale Umfeld von Patient und Bewohner und umschließt damit die personale Ebene. Auf der organisatorischen Ebene erscheint der Patient bzw. der Bewohner als (zeitweiliges) Mitglied der Organisation Krankenhaus bzw. Pflegeheim. Als solcher tritt er vor allem als Rollen- und Symptomträger in Erscheinung, dessen Aktionsradius durch gesundheitliche Einschränkungen und organisatorische Rollenanforderungen eingeschränkt ist. Da sowohl das Krankenhaus als auch das Pflegeheim ihre organisationsinternen Kommunikations- und Interaktionsprozesse auf – freilich verschiedenartige – strategisch wichtige Vorgänge und Abläufe zentrieren und auf bestimmte Aufgaben festlegen, übernehmen sie – systemtheoretisch formuliert – funktional gesehen eine besondere Form der Reduktion sozialer Komplexität, insofern sie allgemeine Handlungen einengen und diese kalkulierbar und erwartbar machen. Das gilt sowohl für ihre Mitglieder (Patienten/Bewohner, Mitarbeiter) als auch für die Nicht-Mitglieder (z.B. Angehörige, externe Kräfte) der Organisation. Die organisatorische Ebene steckt den weiteren Rahmen der interaktiven Optionen innerhalb eines gesellschaftlich vorstrukturierten Handlungsraums ab und umschließt somit die personale und interpersonale Ebene. Auf der gesellschaftlichen Ebene erscheinen die am Pflegegeschehen beteiligten Akteure als abstrakte Rollen- und Funktionsträger, die in ihren unmittelbaren Interaktionen von den durch die organisatorische Ebene gefilterten feldexternen Einflüssen anderer sozialer Felder (u.a. Politik, Ökonomie, Recht, Öffentlichkeit/Medien) mittelbar gelenkt oder beeinflusst werden. Die gesellschaftliche Ebene stellt mit ihren ideologischen und kulturellen
Pflege in Figurationen
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Werten, den politischen und rechtlichen Vorgaben, ökonomischen Bedingungen und wissenschaftlichen Kenntnissen den äußeren Rahmen des gesamten Pflegegeschehens und umschließt damit alle vorgenannten Ebenen. Diese idealtypische konzentrische Anordnung der einzelnen Ebenen soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen diesen Ebenen auch direkte und indirekte Verwebungen gibt. Die einzelnen Ebenen sind keine monolithisch geschlossenen Einheiten. Sie besitzen vielmehr eine Fülle von Einfallstoren, die eine gegenseitige Durchlässigkeit erlauben, sodass es immer wieder zu komplementär verknüpften Beziehungen kommt. Pflege ist also immer eine komplexe Konstruktion mit vielschichtigen und z.T. divergierenden Sinnzusammenhängen. Und so wird Pflege auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen, gedeutet und konstruiert. Dass dies auch Konflikte in sich birgt, zeigt sich z.B. bei pflegerischen Großorganisationen, wie dem Krankenhaus, das eine eigentümliche „Kombination von Bürokratie und professioneller Organisation“ aufweist, die nach unterschiedlichen Logiken verläuft. Die Folge dieser doppelten Zielgerichtetheit ist dann ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem Sachziel der Bedürfnisbefriedigung der Patienten und dem Formalziel einer zweckoptimierten Betriebsführung. Aber auch auf der Interaktionsebene im unmittelbaren Pflegebereich kann es zu verschiedenen Denk- und Sichtweisen kommen, z.B. über unterschiedliche Behandlungstechniken oder über die Angemessenheit arbeitsorganisatorischer Vorgehensweisen. Problematiken und Konflikte entstehen dann, wenn die Akteure auf der Grundlage ihrer hintergründigen Deutungsrahmen ein verschiedenartiges Rahmungswissen über Pflege aktivieren. Man denke nur an die Schwierigkeiten der Umsetzung einer biografie- und lebensweltorientierten Pflege, an die unterschiedlichen Verständnisse und Praktiken der Patientenorientierung (Wittneben 1990) oder an die leidvolle Diskussion über die Vor- und Nachteile von Funktions-, Bereichs- und Bezugspflege. Die Feldunterteilung in die verschiedenen Ebenen geschieht hier zwar in Analogie zu den von Luhmann (1984) differenzierten Systemebenen, doch das Feld und seine integralen Bestandteile werden nicht als geschlossene, autopoietische Systeme, sondern als offene und veränderbare Sozialfigurationen verstanden, die sich wechselseitig ineinander verschränken. Und zum anderen handelt es sich bei den Feldern nicht nur um Orte von Sinnverhältnissen, sondern vor allem um Stätten konflikthafter Auseinandersetzungen, in denen die agierenden Akteure um ihre sozialen Positionen ringen. Während die autopoietischen sozialen Systeme lediglich in einer „strukturellen Kopplung“ zueinander stehen, können die Erträge des einen Feldes in das eines anderen übertragen und konvertiert
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Klaus R. Schroeter
werden. Das gilt jedoch nicht uneingeschränkt, es hängt vielmehr vom Grad der Autonomie und „Brechungsstärke“ des Feldes ab. Bourdieu betrachtet die Felder als „relativ autonome Mikrokosmen“ bzw. „autonome Sphären“ mit eigenen Regeln. Je größer die Autonomie eines Feldes ist, desto eher ist es in der Lage, äußere Anforderungen und Strukturen zu brechen, umzugestalten und in eine eigene feldspezifische Form zu bringen. Und im umgekehrten Falle zeigt sich die Heteronomie eines Feldes darin, dass feldexterne Anforderungen und Zwänge stärker oder „halbwegs ungebrochen“ in das Feld stoßen (Bourdieu 1998: 19). Für das soziale Feld der Pflege lässt sich das im Rahmen der Professionalisierungsbestrebungen beobachten, wenn dort um Definitionsmonopole, Zuständigkeits- und Autonomiebereiche gerungen wird, um sich von dem sozialen Feld der Medizin abzugrenzen. Systemtheoretisch formuliert, stellt sich damit die Frage, ob sich die Pflege zu einem eigenständigen funktional differenzierten Sozialsystem entwickeln wird. Nun wird durch die Akademisierung und Verwissenschaftlichung spezifischer Pflegefunktionen gegenwärtig versucht, das Eigengewicht der Pflege zu stärken und sie damit vom Sozialsystem der Medizin abzugrenzen. Wenn das gelingen soll, so muss sie ein eigenständiges selbstreferenzielles Regelsystem aufbauen und sich von anderen Feldern abgrenzen. Solange das nicht geschieht, bleibt sie ein heteronomes Feld. Doch der Weg zu einem autonomen Feld scheint – nicht zuletzt durch die schwerpunktmäßige Verlagerung von den Akutkrankheiten zu den chronisch-degenerativen Erkrankungen und durch den sich damit verändernden durchschnittlichen Krankheitscharakter von einer provisorischen zu einer persistenten Erscheinung – vorprogrammiert zu sein (Bauch 2005; Hohm 2002).
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Der Blick der Pflege
Der Begriff der Pflege ist weitreichend. Er bezeichnet „im allgemeinen das thun und treiben, die übung, beschäftigung, das benehmen, die sitte und gewohnheit“ und impliziert „eine beaufsichtigende oder fürsorgende, (körperliches oder geistiges) gedeihen und wolbefinden bezweckende beschäftigung“ (GDW 7: 1733). Die wortgeschichtlichen Ursprünge von mhd. phlëge bzw. phlëga und aengl. plƝon liegen im Dunkeln. Sinngemäß war damit „für etwas einstehen, sich für etwas einsetzen“ gemeint, woraus sich dann im Weiteren die Bedeutung von „sorgen für, betreuen, hegen“ wie auch von „sich mit etwas abgeben, betreiben, gewohnt sein“ entwickelte. In der substantivierten Form findet sich das dann zum einen in der Gepflogenheit und Gewohnheit, aber auch in der Pflicht (ahd. phliht, niederl. plicht, engl. plight) und zum anderen in der Pflege, im Sinne von
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Sorge, Obhut und Betreuung (mhd. pflege, spätahd. pflega), sowie im Pfleger, im Sinne von Fürsorger und Betreuer (mhd. pflegære, spätahd. flegare) wieder (Duden 1999: 2910f.; vgl. auch Krippner et al. 1997). Im Kontext der Gesundheits- und Krankenpflege bezieht sich der Begriff auf das Verhältnis zwischen „gesund“ und „krank“ bzw. auf die Praxis zwischen Helfenden und Hilflosen. Die Pflege ist damit eine Reaktion auf Pflegebedürftigkeit, die als eine rein deskriptive Kategorie „ganz allgemein den Umstand (bezeichnet), dass ein Mensch infolge eines Krankheitsereignisses oder anderer gesundheitlicher Probleme auf pflegerische Hilfen angewiesen ist.“ (Wingenfeld 2000: 339) In einem engeren Sinne definiert das Pflegeversicherungsgesetz (§ 14 Abs. 1 SGB XI) all die Personen als pflegebedürftig, „die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen.“
In diesem Verständnis richtet sich die Pflegebedürftigkeit nicht nach dem Grad der (noch) vorhandenen individuellen Ressourcen und Kapitalien, sondern nach dem Pflegebedarf, nach dem Umfang der für die Sicherstellung grundlegender Lebensaktivitäten als erforderlich angesehenen Hilfeleistungen. Wenn sich die Pflege auf die Diagnostik und Behandlung menschlicher Reaktionen auf gesundheitliche Probleme bezieht (ANA 1980), so ist der Fokus pflegerischen Handelns primär auf das Kranksein bzw. auf die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die zum alltäglichen Leben notwendigen Fähigkeiten gerichtet. Entsprechend wird zwischen Selbstpflege, Laienpflege und beruflicher Pflege unterschieden.
Selbstpflege bezeichnet „die Sorge für sein eigenes Wohlbefinden“ und „umfasst alle Aktivitäten, die der Mensch in Wechselwirkung mit seiner Umgebung ausübt, um sich wohl zu fühlen.“ Als Laienpflege wird jene Hilfe bezeichnet, „die auf Erfahrung beruht und sich an den Bedürfnissen eines anderen Menschen orientiert“ und „auf freiwilliger Basis geleistet (wird)“. Berufliche oder professionelle Pflege „bedarf einer umfassenden und intensiven Ausbildung zur Vermittlung von theoretischen und praktischen Kenntnissen und Kompetenzen, basierend auf den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung.“ (Kellnhauser et al. 2000: 86)
Als explizites Pflegeziel taucht Gesundheit bereits in den Schriften von Florence Nightingale (1946) auf, als sie in ihren Notes on Nursing den Aufgabenbereich
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der Krankenpflege auf die Verbesserung der Umwelt zur Förderung von Heilung und Gesundheit zu lenken versuchte. Seither ist die Pflege in verschiedenen theoretischen Bezügen thematisiert und definiert worden (vgl. die Zusammenstellung verschiedener Pflegedefinitionen bei Juchli 1997: 54f. oder bei Brandenburg/Dorschner 2003: 37f.). Nach der inzwischen vielfach rezipierten Aufgabendefinition von Virginia Henderson besteht die Funktion der Pflege darin, „dem kranken oder auch gesunden Individuum bei der Verrichtung von Aktivitäten zu helfen, die seiner Gesundheit oder Wiederherstellung (oder auch einem friedlichen Sterben) förderlich sind und die er ohne Beistand selbst ausüben würde, wenn er über die dazu erforderliche Stärke, Willenskraft oder Kenntnis verfügte.“ (Henderson 1997: 42)
Als allgemeines Ziel der Pflege gilt die Erlangung, Bewahrung und Wiederherstellung von Gesundheit und Wohlbefinden bzw. die Betreuung, Umsorgung und würdevolle Begleitung unheilbar Kranker und Sterbender (King 1971: 84). Die „Förderung und Erhaltung der Gesundheit sowie Verhinderung von Krankheiten“ wie auch die „Einbeziehung der Einzelpersonen, Familie und Gemeinde in das Pflegewesen“ und die „Schaffung von Bedingungen, die es ihnen ermöglichen, mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen“ (WHO 1990: 22) gehören zu den expliziten Zielrichtungen der Pflege. Insofern ist das pflegerische Handeln „eine helfende und unterstützende Tat, die primär darin besteht, dem Kranken bei seinen alltäglichen Aufgaben, die ein Erwachsener innerhalb seiner Kulturgesellschaft normalerweise selbstständig und unabhängig durchführen und in einer kompetenten Weise erfüllen kann, beizustehen.“ (Schröck 1988: 86) Die Pflege als eine „Kunst, [...] Personen mit Einschränkungen spezielle Unterstützung [...]“ (Orem 1997: 7) zu gewähren, wird von Peplau (1995: 39) als ein „edukatives Instrument“ verstanden, das „darauf abzielt, die Vorwärtsbewegung der Persönlichkeit in Richtung auf ein kreatives, konstruktives, produktives, persönliches und gesellschaftliches Leben zu bewirken“ (zur Kritik am Begriff der Patientenedukation vgl. Behrens 2005). Insofern ist auch die „(Wieder)Erlangung von Unabhängigkeit“ (Bartholomeyczik 1992: 828) ein zentrales Anliegen der Pflege. Auch wenn in der neueren Pflegeforschung der Pflegebegriff mit den drei Kategorien der Gesundheitspflege, der Pflege bei Gesundheitsproblemen und der Altenpflege mit jeweils spezifischen Zielorientierungen eine Differenzierung erfährt, so wird die Pflege unter der weitgehend einigenden Klammer einer holistischen Betrachtung des Person-Umwelt-Verhältnisses im Pflegekontext als ein in verschiedenen Phasen verlaufendes interpersonales Beziehungsgefüge (Peplau 1995) verstanden, in dem der Mensch – als ein adaptives biopsychosoziales Wesen – in ständiger Interaktion mit einer sich verändernden Umwelt steht (Roy
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1976). Pflege wird als eine externe regulative Kraft (Johnson 1997) angesehen, als ein „umfassend organisierter Strukturzusammenhang (...), in dem die einzelne Pflegekraft Klienten, die als offene Systeme betrachtet werden, zu optimalem Wohlbefinden unter allen nur denkbaren Situationen befähigt.“ (Neuman 1997: 198) Pflege ist kein eindeutig definierbarer Begriff, zu unterschiedlich sind die jeweiligen Erscheinungsformen (z.B. Selbstpflege, Laienpflege, Pflege als Erwerbstätigkeit), theoretischen Denkschulen der bedürfnis-, interaktions- und ergebnisorientierten Pflegemodelle (vgl. zusammenfassend Meleis 1999) und praktischen Umsetzungen (bzw. Nicht-Umsetzungen) der verschiedenen Konzepte. Beinahe lautlos haben sich in den zurückliegenden Jahren die bereichsspezifisch getrennten Pflegeberufe (Krankenpflege, Altenpflege, Heilerziehungspflege) unter dem gemeinsamen Terminus der „Pflege“ zusammengefunden. In der vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBFK) verfassten Berufsordnung wird sodann auch auf die Unterscheidung zwischen Kranken- und Altenpflege verzichtet. Auch sind potenzielle Anknüpfungspunkte an das salutogenetische Denken erkennbar, wenn es unter dem grundlegenden Credo der „Achtung vor der Würde und Einzigartigkeit menschlichen Lebens“ in den vom DBFK (1992: 3f.) formulierten Berufszielen heißt: „Pflege dient der Förderung der Gesundheit, Verhütung von Krankheit, Wiederherstellung von Gesundheit, Linderung von Leiden und der Begleitung sterbender Menschen.“ Die einstigen Grenzen verwischen. So wie sich die strikte Unterscheidung zwischen dem Sozialwesen und dem Gesundheitswesen immer mehr auflöst, wenn z.B. die Krankenkassenfinanzierung über die ambulante ärztliche Versorgung und Medikation schon weit in den Bereich der Pflege hineinwirkt, bewegen sich auch Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege – nun vor allem auch im Gefolge der reformierten Berufsausbildung – stärker aufeinander zu. Auch in der Medizin zählt längst nicht mehr der alleinige Erfolg der kurativen Medizin, sondern Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation werden zunehmend als gleichgewichtige Anliegen anerkannt. Da ist es nur folgerichtig, wenn falsche Dichotomien abgebaut werden und Kooperation angestrebt wird. Und so versuchen die einzelnen Fachpflegen, „sich im zunehmend multidisziplinären Miteinander zu positionieren und ihre eigene Handlungsrationalität darzulegen, wenn sie im ,Konzert‘ der Disziplinen und Professionen ihren Platz einnehmen wollen.“ (Entzian/Klie 1996: 404) Da fällt es schwer, einen einheitlichen Pflegebegriff finden zu wollen. Der kleinste gemeinsame Nenner wird sich wohl in dem Bemühen verorten lassen, den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden zu fördern und dabei eine größtmögliche Lebensqualität zu erhalten. Daraus abgeleitet ergibt sich auch das Leitmotiv der Pflege, die Hilfe zur Selbsthilfe, sowie das allgemeine Ziel, die
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Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Eigenständigkeit der zu Pflegenden so weit wie möglich zu erhalten. Diese Zielvorgaben zu erreichen, verlangt nach professioneller Pflege, deren Merkmale a) in der stellvertretenden Deutung der Pflegesituation, b) im Ineinandergreifen wissenschaftlicher und verstehender (hermeneutischer) Kompetenzen, c) im professionellen Habitus, d) im Schutz der Autonomie und in der Erhaltung größtmöglicher Selbstbestimmung sowie e) in der Einhaltung von Regeln des Verhaltens im Umgang mit der Privatsphäre und in den Regeln der beruflichen Nähe und Distanz gesehen werden (Entzian 1999: 50ff.).
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Das Credo der Pflege
Im Feld der Pflege laufen verschiedene Diskurse zusammen. Die unterschiedlichen Zielsetzungen, etwa die Erhaltung, Förderung und das Wiedererlangen von Gesundheit, die Neuorientierung und größtmögliche Steigerung von Selbstständigkeit bei bleibender Krankheit oder Behinderung, die Befähigung zu angemessener Selbst- und Laienpflege oder das Ermöglichen eines würdevollen Sterbens (Schroeter 2005c), stehen für das als richtig vorausgesetzte Denken, für die Doxa (Bourdieu) im Feld der Pflege. „Die Doxa bildet jenes Ensemble von Thesen, die stillschweigend und jenseits des Fragens postuliert werden und die als solche sich erst in der Retrospektive (…) zu erkennen geben.“ (Bourdieu 1979: 331) Das weist darauf hin, dass (professionelle) pflegepraktische Handlungen keine unmittelbare Umsetzung pflegewissenschaftlicher Konzepte und Modelle sind. Vielmehr haben sich im Habitus der Pflegekräfte auch aus eigenen inkorporierten Erfahrungen, Einstellungen, Überzeugungen amalgierte Pflegeauffassungen eingelagert, die im wechselseitigen Zusammenspiel mit den routinisierten und zuweilen auch reflektierten Praktiken des Pflegealltags die Doxa der Pflege stets neu beleben. Die Doxa ist der Glaube an die natürliche und selbstverständlich vorgegebene Welt. Sie wirkt als stillschweigende Übereinkunft im Verborgenen. Aus dieser Selbstverständlichkeit speist sich die illusio (Bourdieu) des Pflegefeldes, die von den verschiedenen Feldakteuren weitgehend geteilte Grundüberzeugung von der Richtigkeit und Wichtigkeit der praktizierten Pflegestrategien. Sie steht für den „praktischen Glauben“ des Feldes, liefert Sinnmuster, erzeugt Handlungsstrategien und stellt gewissermaßen das „Eintrittsgeld“ und die Zugangsberechtigung für das Pflegefeld dar, ohne deren Anerkennung das Feld gar nicht funktioniert. Auf diese Weise werden auf der Grundlage hintergründig und unterschwellig wirkender Überzeugungen Klassifikationen und Evaluationen vorgenommen und in die allgemeine Doxa integriert.
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Ein solcher „praktischer Glaube“ ist im Pflegefeld das Credo der patientenoder gar lebensweltorientierten Pflege. Das aus der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls hergeleitete und durch die Studien von Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann sowie von Jürgen Habermas soziologisierte Lebensweltkonzept findet nunmehr auch Eingang in die Pflegeforschung (Braun/ Schmidt 1997; Düx 1997; Scheffel 2000). Dort wird die alltägliche Lebenswelt, ganz im Duktus von Schütz, als die im Modus der Selbstverständlichkeit eingebettete alltägliche Wirklichkeit begriffen, in der der Mensch intuitiv vertraut handelt und lebt. Der Lebensweltbegriff bezieht sich auf die gemeinsam erlebte und gedeutete soziale Wirklichkeit in einem ganz spezifischen Lebenszusammenhang. Die Pflegebeziehung ist ein solcher spezifischer Lebenszusammenhang. Pflegeorte (ob zu Hause, im Krankenhaus oder im Heim) sind Lebenswelten. Und das Pflegeheim ist nicht nur ein Ort der Pflege, sondern immer auch ein Ort des Wohnens, Lebens und Erlebens. Es ist der Lebensraum (Lewin) des stationär versorgten pflegebedürftigen Menschen, der den für diesen mit seinen jeweiligen Bedürfnissen, Wünschen und Antrieben relevanten Bereich darstellt. Nach der in Anlehnung an Lewin von Zeman aufgestellten Arbeitsdefinition ist die Lebenswelt „der symbolisch und praktisch gestaltete, soziale und sozialräumliche Bereich des Alltags, in dem sich das Leben der Menschen abspielt, und in den die Steuerungsprinzipien der Institutionen, z.B. des sozialen und gesundheitlichen Versorgungssystems und die Orientierungen ihrer professionellen Akteure zwar hineinwirken, den sie aber nicht unmittelbar zu steuern vermögen“ (Zeman 1998: 114). Eine lebensweltorientierte Pflege verlangt also nach Kenntnis und Verständnis der Lebensmuster der Akteure und hat dabei auch die sinnhaft vorstrukturierte soziale Welt in Rechnung zu stellen. Sie hat ihre Aufmerksamkeit sowohl auf die gesellschaftlich bzw. institutionell vorgegebenen Opportunitätsstrukturen als auch auf die individuell wahrgenommenen Dispositionsspielräume im Pflegefeld zu richten. Denn die individuellen Entscheidungen im pflegerelevanten Lebensraum sind ja nicht beliebig, sondern immer an gesellschaftlich vorgegebene Prioritäten und Opportunitäten gebunden (z.B. Pflegeeinstufungen, Versorgungspfade). Und so verwandeln sich die gesellschaftlichen Opportunitätsstrukturen auch im mikrokosmischen Handlungskontext der Pflege stets in konkrete Dispositionsspielräume. Die Lebenswelt akualisiert sich immer im jeweiligen Lebensraum. Und der bezieht sich auf die vom Individuum wahrgenommene Umwelt. Wie aber werden die hintergründigen Deutungsmuster figurationsspezifisch aktualisiert? Eine Antwort darauf gewährt uns Goffman (1977), der in seiner Rahmenanalyse zeigt,
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wie die Menschen sich in ihren alltäglichen Situationen zurechtfinden, wie sie Wirklichkeitsbereiche voneinander abgrenzen und mit Sinn versehen. Dabei konzentriert er sich vorrangig auf die Struktur der persönlichen Erfahrung, die er jedoch stets im Kontext ihrer Rahmen (frames) und Rahmungen (framing) analysiert. Denn die sind es, die den sozialen Interaktionen ihren Sinn verleihen: die Rahmen als vorgegebene Strukturen des sozialen Sinns und die Rahmungen als sinnaktualisierende Praxis. Dieser Einsicht gerecht zu werden, erfordert eine radikale Umorientierung in der Pflegepraxis. Die auf die Überwindung der herkömmlichen Pflegebeziehung von dominanten Pflegeexperten und passiven Klienten ausgerichtete lebensweltorientierte Pflege proklamiert einen solchen Schritt. Sie erklärt die individuelle Lebensführung des hilfeabhängigen Menschen zum Ausgangspunkt für a) die Gestaltung des Umgangs miteinander, b) die Bestimmung der Pflegeaufgaben und Pflegeziele und c) für die Art, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Dabei hat eine biografieorientierte Pflegeplanung die komplexe Pflegesituation unter der „Berücksichtigung des objektiven Hilfebedarfs, des sozialen Lebensraumes und der Lebenszeit“ zu analysieren (Entzian 1999). Der Anspruch klingt gewaltig und ein wenig illusionär: Eine lebensweltorientierte Pflege verlangt nach Kenntnis und Verständnis der Lebensmuster der zu pflegenden Menschen. Das Pflegepersonal muss versuchen, sich in deren Lebenswelt hineinzufinden und einzufühlen, wenngleich der „Erlebnisstrom“ der Pflegebedürftigen auch nur in „diskontinuierlichen Segmenten“ erfasst werden kann (Schütz [1932] 1981:146f.). Dabei muss es sein pflegerisches Handeln sowohl mit den Augen des pflegebedürftigen Menschen (des „signifikanten Anderen“) als auch mit den Augen der organisierten Umwelt Heim (des „verallgemeinerten Anderen“) wahrnehmen. Im Schnittpunkt dieses Perspektivenwechsels erwächst der interpretative Bedeutungszusammenhang der pflegerischen Praxis. Nur auf diesem Wege wäre eine individuell zugeschnittene Hilfe und Pflege möglich. Das freilich ist ein Spagat, der erst noch zu meistern ist. Denn die hier zu aktualisierenden Rahmungskomponenten verweisen auf ganz unterschiedliche Verständigungshintergründe. Auf der einen Seite muss eine biografie- und lebensweltorientierte Pflege mit den Sozialisationserfahrungen der zu pflegenden Menschen vertraut, zumindest über diese informiert sein, um die Bedeutung des Lebensraumes und der Lebensumwelt reflexiv überhaupt erfassen und in die pflegerische Betreuung einbinden zu können. Und auf der anderen Seite ist ein Rahmen zu aktualisieren, der immer auch einer ganz anderen Logik zu entsprechen hat. Denn die organisierte Pflegeumwelt (Krankenhaus, Pflegeheim, ambulante Pflegedienste) ist ja nicht nur dem pflegerisch-betreuerischen Sachziel
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verpflichtet, sondern immer auch von dem Formalziel einer zweckoptimierten, organisatorisch und ökonomisch vertretbaren Betriebsführung geleitet. Führt man das Ideologem der biografie- und lebensweltorientierten Pflege konsequent weiter, so müssten die Pflegekräfte in der Lage sein, sich ein Bild von dem Klima und dem „geistigen Gehalt“ der Generation der pflegebedürftigen Menschen zu machen. Sie hätten über deren Handlungs- und Wahrnehmungsspielräume im Gefüge ihrer Lebensgeschichte im Bilde zu sein. Das jedoch ist nur sehr beschränkt möglich. Denn die Generationen von Pflegepersonal und pflegebedürftigen Älteren leben in verschiedenen Lebenswelten. Und es ist nur sehr begrenzt möglich, über Vermittlung und Tradierung einen Zugang zu vergangenen Zeiten herzustellen, denn die „Vorwelt ist endgültig abgeschlossen“ (Schütz/ Luckmann 1988: 120), ein direkter Zugang bleibt versperrt. Die Erfahrungen und Erlebnisse, die „Generationenzusammenhänge“ (Mannheim), „Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften“ (Lepsius) der älteren Generation bleiben für das zumeist jüngere Pflegepersonal außerhalb der „Welt aktueller Reichweite“. Nun gehören sowohl professionell Pflegende als auch pflegende Angehörige zur Lebenswelt des pflegebedürftigen Menschen und partizipieren mit ihm auf einer bestimmten Ebene an relevanten Alltagsstrukturen. Doch gibt es in den Deutungssystemen der lebensweltlichen und professionellen Pflege gravierende Unterschiede in der Wahrnehmung und Beurteilung der Pflegesituation. Zeman (2000) hat diese Unterschiede ausführlich herausgearbeitet, ich begnüge mich damit, sie hier kursorisch zusammenzufassen:
Lebensweltliche Pflege ist immer nur ein Teil der gesamten Alltagssituation und muss folglich „mit anderen Handlungen konkurrieren, die ebenfalls zur Bewältigung des Alltags erforderlich sind.“ Professionelle Pflege konzentriert sich hingegen primär auf die optimale Lösung der Pflegeaufgabe, „notfalls auch zu Lasten anderer Aspekte der Situation.“ Lebensweltliche Pflege ist „alltagsorientierte Sorgearbeit“ und damit ein besonderer Handlungsrahmen, der von den Pflegepersonen in einem Balanceakt zwischen den zur Bewältigung des normalen Alltagslebens erforderlichen und den durch die Pflege bedingten Anforderungen im Rahmen einer familialen Unterstützung und affektiven Solidarität interaktiv hergestellt wird. Professionelle Pflege ist eine berufliche Erwerbstätigkeit, die gleichsam „mit moralischen Erwartungen der Lebenswelt und fachlich-berufsethischen Selbstansprüchen besetzt ist,“ wobei das professionelle Pflegepersonal immer auch an „Probleme betriebswirtschaftlicher Bestandserhaltung und individueller Arbeitsplatzsicherung, an rechtliche und finanzielle Vorgaben, zugewiesene Zeitstrukturen und Verpflichtungen kollegialer Wechselseitigkeit“ gebunden bleibt.
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Klaus R. Schroeter Lebensweltliche Pflege ist in erster Linie durch Beziehungsaspekte geprägt und durch biografische Bezüge auf- und manchmal überladen. Im Vordergrund des pflegerischen Handelns steht „der Kranke als Person“. Professionelle Pflege ist zwar auch durch Beziehungsaspekte geprägt, definiert die Beziehung aber nicht primär persönlich. Im Vordergrund des pflegerischen Handelns steht „die Person als Kranker“. Der Hauptfokus ist auf „Aspekte der Wiederherstellung, Flankierung und Kontrolle körperlich-organischer Funktionen“ gerichtet. Die Identität des Menschen und sein Wohlbefinden werden nur dann zum Thema, „wenn sie in erkennbarem Wirkungszusammenhang damit stehen und soweit solche Zusammenhänge im Pflegekontakt überhaupt zugänglich sind.“ Lebensweltliche Pflege bezieht sich auf ein lebensweltliches „Situationswissen“, auf Beziehungs- und Biografiewissen, auf Alltagskompetenz und Alltagssprache. Professionelle Pflege stützt sich auf spezifisches Fachwissen, auf fachlich spezialisierte Handlungskompetenz und auf eine eigene Fachsprache, „die in der Lebenswelt dann häufig nicht mehr verstanden wird.“
Diese gewiss idealtypische Differenzierung von Zeman verweist implizit auf eine Kritik an dem in der beruflichen Pflege immer wieder herangezogenen Regelkreislauf des Pflegeprozesses.3 Denn dieser bleibt als systematische Problemlösungsstrategie unvollständig, sofern er nur medizinische Standards nachzuahmen versucht und den verstehenden lebensweltorientierten Ansatz nicht konzeptionell einbindet. Die „bedürfnisorientierten“ Pflegemodelle, die sich auf die „Aktivitäten des täglichen Lebens“ (ATL) bzw. auf die „Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens“ (AEDL) konzentrieren, werden einer solchen lebensweltorientierten Pflege jedenfalls nicht gerecht. Diese Modelle sind an einer krankenhausorientierten Pflege ausgerichtet und gehen von einer temporären stationären Behandlung aus. Doch solange im Bereich der stationären Pflege aufgrund der arbeitsteiligen Spezialisierung der arbeitsorganisatorische Ablauf primär an der funktionalen Pflege (Elkeles 1988) orientiert ist und der Wohn- und Häuslichkeitsaspekt vollständig ausgeblendet bleibt, ist es schwierig, einen lebensweltorientierten Zugriff zu erlangen. 3 Der Pflegeprozess wird gemeinhin als ein problemlösungsorientierter Beziehungs- und Entscheidungsprozess verstanden und in Form eines Regelkreises dargestellt. Dieser unterteilt sich in sechs Schritte: 1) Pflegeanamnese bzw. Informationssammlung, 2) Problemdefinition und Ressourcenklärung, 3) Zielvereinbarung und Zielformulierung, 4) Ableitung von Pflegemaßnahmen und Planung von Pflegehandlungen, 5) Pflegeintervention bzw. Durchführung der Pflegemaßnahmen, 6) Reflexion und Evaluation der Pflege. Bei Nichterreichen der Pflegeziele sind die Pflegediagnosen und Pflegemaßnahmen neu zu bewerten. Zur Funktion und Kritik des Pflegeprozesses vgl. u.a. Needham (1990) und Stratmeyer (1997).
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Die Umsetzung eines solchen Konzeptes steckt jedenfalls noch in den Anfängen. Routinen und Rituale (Ford/Walsh 2000; Weidmann 2001) des Pflegealltags und organisatorisch-strukturelle Hemmnisse der Einrichtungen stehen einer solchen Umsetzung noch entgegen. Und so erfahren die Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen in ihrer „Lebenswelt Heim“ noch immer „Ausgrenzung, Isolation, Anonymität und Entfremdung“ (Düx 1997).
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Das Dispositiv der Pflege
Pflege ist eine Chiffre für verschiedene Sinnzusammenhänge. Pflege steht sowohl für berufliches wie auch für laienhaftes, für professionelles und auch für fürsorgliches Handeln. Pflege steht aber auch für einen funktional differenzierten Teilbereich der Gesellschaft. Mit dem Begriff der Pflege verbinden sich also unterschiedliche Sinn- und Verwendungskontexte. Doch auf welche man sich im konkreten Betrachtungsfall auch konzentriert, stets bedeutet Pflege ein Zusammenspiel von Diskurs und Praxis, von Wissen und Macht. Damit wird die Pflege zu einem Dispositiv,4 zu einer strategischen Verknüpfung der heterogenen Pflegeelemente (Schroeter 2005 b). Pflege als Dispositiv zu denken, heißt Pflegediskurs und Pflegepraxis in ihrer komplementären Beziehung zu sehen und dabei stets im Auge zu haben, wie sich Macht und Wissen auch hier in originärer Weiser ineinander verschränken. Die Bedeutung der Pflege, sowohl im fachlichen und wissenschaftlichen Diskurs wie auch in der unmittelbaren Praxis an der Bettkante, stützt sich, so mag man in Anlehnung an Foucault formulieren, weniger auf den pflegerischen Wissensfundus, sondern in erster Linie auf die pflegerischen Methoden. Und das betrifft vor allem die durchdringende Form der Beobachtung, kurz den pflegerischen Blick (Schroeter 2003a). So wie andere Wissenssysteme kennt auch die Pflege eine eigene Ordnung von Wahrheit und „akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt“ (Foucault 1978: 51). Die Pflege hat sich nicht nur in vielerlei Hinsicht organisatorisch und inhaltlich an das Medizinalsystem angepasst, sondern auch methodisch. Und so hat sie sich zu einer Disziplin entwickeln können, die Wissen und Techniken produziert
4 Ein Dispositiv, so erklärt uns Foucault (2003: 392), ist „eine entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philantropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.“
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und verbreitet, um Gesundheit zu erhalten und den Umgang mit Krankheiten zu bewältigen. Auch wenn sich die Pflege in ihren Theorien als „ganzheitlich“ versteht, die Körper, Geist und Seele gleichermaßen bedient, so ist ihr Blick in der Praxis doch primär auf den Körper gerichtet. Der „durchdringende Blick“ auf den Körper ist auch in der Pflege ein effektives Instrument, für die Formierung und Akkumulation fachspezifischen Wissens. Dieser Blick diktiert die Beobachtungsmethoden, die Techniken der Registrierung und die Formen der Untersuchung und Behandlung. In der Medizin, so hat uns Foucault (1981) gezeigt, wird der Körper im Wesentlichen als ein pathologisches Objekt wahrgenommen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede von Krankheiten zu beobachten und zu klassifizieren. Hier steht nicht die kranke Person, sondern das verallgemeinerbare und reproduzierbare „pathologische Faktum“ im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Krankheit zeigt sich in Symptomen und Zeichen, die darauf hindeuten, was eintreten wird (prognostisch), was vorausgegangen ist (anamnetisch) und was sich gerade abspielt (diagnostisch). Der medizinische Blick registriert Häufigkeiten und Abweichungen, Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten. Alles wird sorgsam erfasst und in einem medizinischen Tableau dokumentiert. Aber auch in der Pflege findet sich dieser verobjektivierende und klassifizierende Blick. Ärzte, Pflegepersonal und Gesundheitsberufe kollaborieren gewissermaßen, um einen sorgsamen Dokumentationsprozess einzusetzen, der den Körper in messbare physische Komponenten zerlegt (Armstrong 1983; Henderson 1994). Unter Verwendung medizinischen und pflegerischen Wissens werden nicht nur Krankheiten und Behinderungen typisiert und klassifiziert,5 auf der Grundlage des Sammelns und Abgleichens von Informationen über einzelne Körper werden auch Pflegeziele, Pflegezeiten und Pflegeorte strukturiert und kontrolliert. Durch die Vergleiche von Patientendaten werden „Normalitäten“ definiert, in deren Folge die von der Normalität abweichenden Patienten zur Zielscheibe von Überwachung und Interventionen werden (Gastaldo/Holmes 1999: 235; Heartfield 1996; Holmes 2001; Powers 1999). War der pflegerische Blick in der Funktionspflege noch primär auf den „defizitären“ Körper des Patienten gerichtet und wurden hier die arbeitsorganisatorischen Pflegeverrichtungen noch nach tayloristischen Grundsätzen partialisiert, so richtet sich der „neue“ pflegerische Blick der patientenorientierten Bereichs- und Bezugspflege auf den ganzen Menschen in seiner unteilbaren Einheit aus biolo5 So z.B. anhand der International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) bzw. der aktualisierten Version als International Classification of Impairments, Activities and Participation (ICIDH-2).
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gischen, psychologischen und psycho-sozialen Aspekten. Doch wenn der Patient als ein zu beobachtendes zu beschreibendes Objekt dargestellt wird, konterkariert das die in der modernen Pflegewissenschaft behandelten Formen des New Nursing (Porter 1994; Salvage 1992) mit seinen holistischen Ansprüchen. Der pflegerische Blick macht die Pflegestätte zum „Panopticon“ (Foucault 1977), zu einem Überwachungssystem, in dem der Patient vollständig erfasst, geprüft und unter pflegerische Kontrolle gestellt wird. Patienten im Krankenhaus und Bewohner im Pflegeheim leben hier – so ließe sich in Anlehnung an Goffman (1996, 1973) formulieren – total inkludiert in einer „Lebenswelt ohne soziale Hinterbühne“ (Schroeter 2002). Hier werden sie beobachtet, versorgt, behandelt und sozial diszipliniert. Das augenfälligste Instrument dabei ist die Pflegedokumentation, in der ggfs. unter Bezugnahme auf allgemeine Pflegestandards die wichtigsten pflegerischen Maßnahmen dokumentiert werden. Mit ungebrochener Emsigkeit werden die internationalen Pflegeklassifikationen ins Deutsche übertragen. Es gilt das Motto „If you cant’t measure it, you can’t manage it“. Und so werden eifrig verschiedene Klassifikationssysteme, sowohl für die Pflegediagnosen als auch für Pflegemaßnahmen und Pflegeresultate entwickelt.6 Pflegediagnostik wird heute überall gelehrt, in der Praxis aber nicht immer systematisch angewandt. Gleichwohl wird auch hier registriert und dokumentiert. Zuweilen noch auf Stammblättern und Dokumentationsformularen, doch zunehmend auch im Rahmen computergestützter Dokumentationsverfahren werden individuelle Daten erfasst und gespeichert. Dort finden sich nicht nur Angaben zu den so genannten Statusdaten, Krankheitsverläufen, Medikationen und eingeleiteten Pflegemaßnahmen, sondern auch biografische Daten über wichtige Lebensereignisse, alltägliche Gewohnheiten, persönliche Fähigkeiten, Vorlieben und Interessen. Ein weiteres „Beurteilungsinstrument“ in der Pflege ist das in den USA entwickelte und auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern erprobte Resident Assessment Instrument (RAI), mit dem die Situation der älteren Menschen in der Langzeitpflege präzise erfasst werden soll. Das System besteht u.a. aus einem Minimum Data Set (MDS), in dem 250 Einzelangaben zu den Ressourcen und Pflegebedürfnissen älterer Menschen erhoben werden,7 einer Risikoerkennungstafel, anhand der sich typische Pflegeprobleme ablesen lassen und 6 So z.B. die International Classification for Nursing Practice (ICNP), die Nursing Intervention Classification (NIC), die Nursing Outcomes Classification (NOC), die Home Health Care Classification (HHCC), das Omaha System oder das Patient Care Data Set (PCDS). 7 Erhoben werden u.a. Daten zu den individuellen Lebensgewohnheiten, kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, körperlichen Funktionsfähigkeiten in den Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL), Krankheitsdiagnosen und Gesundheitszustand, Ernährungsstatus, Medikamentationen, zum psychosozialen Wohlbefinden, zu Stimmungslage und -verhalten
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verschiedenen Resident Assessment Protocols (RAP), mit denen verschiedene Pflegeprobleme identifiziert werden. Ein anderes Beobachtungsinstrument ist das in Kanada entwickelte und seit einigen Jahren auch in der Westschweiz eingesetzte PLAISIR-System,8 das den von Pflegeexperten für erforderlich gehaltenen individuellen Pflegezeitbedarf minutiös ermittelt (KDA 2003). Dazu wurde ein fünfstufiges Verfahren entwickelt, bei dem die in der ersten Stufe konstruierten zehn Pflegebereiche (Atmen, Essen und Trinken, Ausscheidung, Körper- und Schönheitspflege, Mobilisation, Kommunikation, Medikamente, intravenöse Therapie, Behandlungen, diagnostische Maßnahmen) dann in der zweiten Stufe in weitere Unterbereiche und auf der dritten Stufe in spezifische Pflegebedürfnisse unterteilt werden. Diesen werden dann auf der vierten Stufe spezifische Pflegeaktivitäten zugeordnet, die wiederum auf der fünften Stufe in insgesamt 170 so genannte Pflegeinterventionen aufgeteilt werden. Auf diese Weise wird mit Hilfe von vereinbarten Richtwerten und Leistungsstandards die nach dem Expertenurteil erforderliche Pflegezeit und Pflegeleistung bestimmt, die der Bewohner zu jeder Stunde eines Tages erhalten soll. Damit, so heißt es in einer Pressemitteilung des KDA (2001), könnten „erstmals die Fähigkeiten, Defizite und Bedürfnisse jedes Bewohners präzise, einheitlich und transparent erfasst werden und genau die Leistungen in Heimen erbracht werden, die ältere Menschen etwa bei der Körperpflege, Ernährung, Kommunikation oder Rehabilitation benötigen.“ Eine auf den ganzen Menschen ausgerichtete Pflege (Bischoff 1996) scheint zwangsläufig von dem Wunsch nach einer vollständigen Erfassung ihrer Patienten beseelt zu sein. Dazu reicht der Blick auf den „defizitären Körper“ nicht mehr aus. Mit der Lebenswelt, Lebensführung und Lebensqualität der Patienten geraten zusätzliche „Beobachtungsareale“ in das pflegerische Blickfeld. Idealiter soll also die komplexe Lebenswelt, die objektive Lebenslage und die subjektive Lebensweise des Patienten eingeschätzt werden, um auf der Grundlage dieser umfänglichen Daten und Informationen einen angemessenen, bedarfsorientierten individuellen Versorgungsplan zu erstellen. Eine auf die Erhaltung bzw. Verbesserung der Lebensqualität zielende biografie- und lebensweltorientierte Pflege steht nicht nur vor der Frage, wie man der kontextgebundenen Individualität der Patienten gerecht werden kann, sondern auch, wie diese Individualität zu messen und zu „objektiveren“ ist. Das dazu gehörige „Zauberwort“ lautet Assessment. Das Assessment ist die Voraussetzung für das gesamte weitere Procedere. Hier soll die Gesamtheit der gesundheitlich relevanten Daten eines Patienten erfasst und bewertet werden – 8
Das Akronym PLAISIR steht für Planification Informatisée des soins Infirmiers Requis en milieux des soins prolonges (Informatisierte Planung der erforderlichen Pflege in Langzeit-Pflegeeinrichtungen).
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und dazu zählt nicht nur der somatische und psychische Bereich, sondern auch das individuelle und soziale Umfeld, die personalen und sozialen Ressourcen wie auch die dinglich-materiale Umwelt. Das Assessment ist die klassische Form einer Prüfung. Die Prüfung, so lehrt uns Foucault, „ist ein Mechanismus, der eine bestimmte Form der Machtausübung mit einem bestimmten Typ der Wissensformierung kombiniert.“ So auch im Pflegebereich, in dem pflege- und hilfebedürftige „Subjekte“ im Assessment als „Objekte“ zur Beobachtung, Dokumentation und Beurteilung vorgeführt werden, um sie als unterstützungsbedürftige Menschen zu erkennen. Die durch die Prüfung ermittelten individuellen Daten werden sorgsam dokumentiert. Der hilfe- und pflegebedürftige Mensch wird zu einem beschreibbaren und analysierbaren Gegenstand, zum einem handhabbaren Fall (case) gemacht, ein „Fall“, der gleichermaßen Erkenntnisgegenstand wie auch Zielscheibe für eine Macht ist, den man „beschreiben, abschätzen, messen, mit anderen vergleichen kann – und zwar in seiner Individualität selbst; der Fall ist aber auch das Individuum, das man zu dressieren oder zu korrigieren, zu klassifizieren, zu normalisieren, auszuschließen hat usw.“ (Foucault 1977: 246). In der Pflege wird viel über Programme, Modelle und Strategien zur Verbesserung der Pflege- und Lebensqualität nachgedacht. Weniger intensiv wird dabei hingegen der Frage nachgegangen, welche Rolle das Pflegepersonal in diesem Prozess spielt. In den Pflegetheorien werden einige der zentralen Handlungen des Pflegepersonals – wie z.B. die auf Dauer gestellte Patientendokumentation oder die Befürwortung der Patienten-Compliance nicht weiter hinterfragt. In der Pflegewissenschaft wird die Pflegekraft als eine humanistische Person konstruiert, als ein patientenorientierter Praktiker, als ein neutraler professioneller Beobachter. Würde man die disziplinierungstheoretischen Ansätze von Weber, Elias und Foucault pflegesoziologisch einbinden, so würden sich auch die Macht- und Herrschaftsverhältnisse erschließen lassen, die vom pflegediagnostischen Diskurs aufrecht erhalten oder sogar erweitert werden.
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Epistemologischer Schluss
Wenn uns die philosophische Anthropologie lehrt, dass der Mensch seine Umwelt stets vermittelt wahrnimmt und Beobachtungs- und Wahrnehmungsprozesse selber auch immer Formungsprozesse sind (Plessner, Cassirer), so heißt das eben auch, dass die Pflege erst durch den Beobachter ihrer Form erhält und das ein wie auch immer gefasster Begriff – nicht nur der der Pflege – stets mehr bedeutet als das, was er zu sein vorgibt. Ausgangspunkt der vorstehenden Überlegungen
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war, dass ein jeder Organismus nur in Relation zu der ihm spezifischen Umwelt gedacht und beurteilt werden kann. Plessner hat darauf hingewiesen, dass sich der Mensch als „exzentrisch organisiertes Wesen“ erst zu dem machen muss, was er schon ist. Um überhaupt zu erkennen, muss der Mensch tätig sein, sodass durch erste Erfahrungsbewegungen im Chaos der Reizüberflutung Symbole entstehen, „an denen das einsetzen kann, was Erkenntnis zu nennen ist.“ (Gehlen [1940] 1986: 51) Und auf dieser Grundlage werden dann alltägliche Handlungsmuster, Gewohnheiten, Routinen, Rituale, Institutionen – eben Alltagsbildungen geschaffen. Eine entscheidende Funktion fällt dabei der Sprache zu. Jeder, der „von der Umwelt eines anderen spricht, konstruiert, er beschreibt also nicht eine »tatsächliche« Umwelt des anderen, sondern das, was er selbst beobachtet.“ (Voss 2005: 106) Radikal formuliert wäre auch davon zu sprechen, dass ein Beobachter seine Umwelt beobachtet, ohne wirklich zu begreifen, was er beobachtet (ebd.). Er mag seine Umwelt erahnen und diese Ahnung mit Begriffen und Symbolen belegen. Doch bereits im Moment der begrifflich-symbolischen Bearbeitung des Beobachteten wechselt das Beobachtete seine Form. Das dynamische Geschehen gerinnt zur vergegenständlichten Form. Es wird nicht das Ganze, sondern allenfalls die Summe seiner Teile wahrgenommen und weiter bearbeitet. Es bleiben „blinde Flecken“, die dann nur aus einer Beobachtung höherer Ordnung erkennbar sind, aber wiederum ihre eigenen „blinden Flecken“ hinterlassen. Kurzum: Es ist grundsätzlich unmöglich, eine „Ganzheit erster Ordnung“ reflexiv zu erfassen. Das hat notwendigerweise Konsequenzen für die Begriffsbildung: Auch wenn man von konkreten Erscheinungen abstrahiert und Substanzbegriffe durch Kunstbegriffe (z.B. Patientenkarrieren, Pflegebedürftigkeit, Pflegesystem, Pflegefeld) ersetzt, so laufen sie doch Gefahr, durch ihre ständige Verwendung verdinglicht und als identische und real existierende Phänomene betrachtet zu werden. Doch das Problem bleibt, denn es lässt sich kein Begriff finden, der tatsächlich ist, was er zu sein vorgibt. Nun wusste schon Friedrich Engels (1972: 578), dass „Definitionen (...) für die Wissenschaft wertlos, weil stets unzulänglich (sind)“, doch Wissenschaft kommt zumindest nicht ohne Begriffe aus, auch wenn man mit ihrer Hilfe nicht die Ganzheit des Geschehens einfangen kann. Und so lässt sich weder im Alltag noch in der Wissenschaft die Bedeutung der Beobachtungen exakt bestimmen. Man mag noch so klug definieren oder fein operationalisieren, das Bedeutende lässt sich weder durch Begriffe noch durch Zahlen einfangen. Vielmehr lässt sich durch Begriffe und Zahlen allenfalls auf Bedeutendes hinweisen. Pflegesoziologisch gewendet bedeutet das eben, dass relationale Wechselwirkungen zwischen Menschen und Umwelten durch mehr oder weniger statische Begriffsfestlegungen (Pflegebedürftigkeit, Pflegeprozess, Pflegefeld usw.) substantialisiert und damit als objektive und invariante Tatbestände suggeriert
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werden. Durch das begrifflich Fixierte und/oder empirisch Gemessene wird zwar etwas für den (wissenschaftlichen) Beobachter Bedeutungsvolles erfasst, doch es bleibt stets ein Bedeutungsüberschuss. Und schon Husserl (1985: 132) wusste, dass das aktuell Wahrgenommene „von einem dunkel bewußten Horizont unbestimmter Wirklichkeit“ durchsetzt und umgeben ist. Nun sind weder Begriffe noch Zahlen, weder Definitionen noch Theorien bedeutungslos. Sie verweisen ja geradezu auf etwas für bedeutend Erachtetes, über das dann weiter kommuniziert und das auch weiter beobachtet wird. Und so entsteht ein wissenschaftlicher Diskurs, in dem wissenschaftliche Beobachter über ihre wissenschaftlichen Beobachtungen kommunizieren und dabei gleichsam ein wissenschaftliches Artefakt konstruieren, das für die Beteiligten durchaus real erscheint. Doch diese „künstliche Realität“ ist eine reduzierte Realität mit „blinden Flecken“, geschaffen aus der verengten Perspektive eigener Beobachtungen. Das Beobachtete wird durch Erfahrungsakte – also empirisch – und Begriffsbildungen – also symbolisch – geformt und von anderen Formen abgegrenzt. Das Ergebnis ist dann der wissenschaftlich vermittelte Eindruck von Formen mit real existierender Konstanz – so auch bei der Pflege.
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Pflege und Ungleichheit: Ungleiche Citizenship rights im internationalen Vergleich Pflege und Ungleichheit
Ursula Dallinger und Hildegard Theobald
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Einleitung
Wie Wohlfahrtsstaaten mit der Etablierung sozialer Rechte das Zusammenspiel von Pflegebedürftigkeit und sozialer Ungleichheit beeinflussen, ist systematisch noch ein weitgehend unterbelichtetes Thema. Der demografische Wandel führte seit den 90iger Jahren des letzten Jahrhunderts in vielen europäischen Gesellschaften zu einer Einführung sozialer Rechte für das Risiko der Pflegebedürftigkeit, die in der Regel Geldleistungen oder professionelle ambulante Dienste bzw. institutionalisierte Versorgung einschließen. Der Trend zu einer verstärkt öffentlich finanzierten Pflege ist – abgesehen davon, dass man die insbesondere durch die schrumpfende jüngere Generation knapper werdenden Pflegepotentiale stützen will – auch ein Ausdruck der Absicht, das Risiko der Pflegebedürftigkeit und dessen Folgen gleicher auf viele Schultern zu verteilen. Gleich ob man steuerfinanzierte oder durch Sozialversicherungen finanzierte Leistungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen betrachtet, sie bilden einen kollektiven Pool, der partiell die privaten Pflegerisiken und Ressourcenausstattungen an Einkommen und Vermögen angleicht. Über die horizontale Gleichheit hinaus, die ein sozialstaatlich organisierter Absicherungspool bietet, stand bisher die geschlechtsspezifische Ungleichheit in der Pflege und ihre wohlfahrtsstaatliche Einbettung im Fokus der sozialwissenschaftlichen Debatte. Aber welche Möglichkeiten der sozialen Ungleichheit gibt es überhaupt in der Pflege und welche Rolle spielen dabei Wohlfahrtsstaaten mit den von ihnen definierten sozialen Rechten? Ungleichheit in der Pflege kann aus der Fortsetzung der schon vorher bestehenden sozialen Ungleichheit resultieren. Von einer Reproduktion von Ungleichheit könnte man nur dann sprechen, wenn Pflege ausschließlich privat finanziert würde, was in den westlichen, industrialisierten Ländern nicht der Fall ist. Unterschiede in den Einkommen und Ressourcen werden daher nicht direkt, sondern vermittelt durch staatlich finanzierte Leistungen für die soziale Ungleichheit relevant. Private Ungleichheiten des Einkommens und Vermögens und des Sozialkapitals Familie machen sich v.a. dann bemerkbar, wenn staatliche Leistungen
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eine Art Zuschuss zur insgesamt nötigen Pflegeleistung sind und der Rest mit den Ressourcen der Pflegebedürftigen und ihrer Familie bewältigt werden. Die Lücke zwischen eigentlichem Pflegebedarf und dem durch staatliches Recht wie die Pflegeversicherung aufgefangenen Bedarf ist der Raum, in dem private finanzielle und familiäre Ressourcen zum Tragen kommen. Eine Lücke kann auch für einzelne Bevölkerungsgruppen entstehen, wenn diese unterschiedliche Zugangschancen zu Geld- und Dienstleistungen haben. In den meisten Ländern bildet zunächst der Bedarf die Basis für die Gewährung von Leistungen. Durch das Hinzukommen weiterer Allokationskriterien wie der familiären Situation oder der Einkommenssituation können neue Ungleichheiten resultieren (Hill 2000). Soziale Rechte, die der Wohlfahrtsstaat an Pflegebedürftige vergibt, beeinflussen Ungleichheit, indem sie zum ersten den Raum, in dem es auf die private Ressourcenausstattung ankommt, mehr oder weniger breit abstecken und Bevölkerungsgruppen unterschiedlich einbeziehen. Zum zweiten kann ihnen selbst Ungleichheit erzeugende Mechanismen der Finanzierung oder der Allokation von Pflege innewohnen, etwa wenn die Beiträge zu einer Pflegeversicherung (das gleiche gilt für steuerfinanzierte Leistungen) nicht einkommensproportional oder durch die Form der Finanzierung der Pflegeleistungen niedrigere Einkommen stärker belastet wären. Dann wären geringere Einkommen überproportional mit der Vorsorge und der Finanzierung der Versorgung im Falle von Pflegebedürftigkeit belastet. Diese Form der Genese von Ungleichheit im Rahmen wohlfahrtsstaatlicher Regelungen wird uns in diesem Beitrag beschäftigen. Er fragt nach dem Ausbau der sozialen Rechte für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen und analysiert die Implikationen der unterschiedlichen Formen der Gewährung von sozialen Rechten auf die soziale Position älterer Pflegebedürftiger und der Pflegenden. Dies geschieht im internationalen Vergleich, denn Pflegepolitiken variieren hinsichtlich der sozialpolitischen Instrumente, die sie zur Unterstützung der Pflegebedürftigen einsetzen. An den Länderunterschieden wird besonders gut deutlich, dass Care-Arrangements, also die Gesamtheit familiärer und öffentlicher Ressourcen und Regeln, implizite ‚Entscheidungen‘ über den Zugang zu Leistungen in einer bestimmten Qualität und Quantität, darüber wer sie (nicht) bekommen soll, darüber, wer sie (nicht) finanzieren soll, darstellen, die wiederum Lebenschancen prägen. Institutionen und Organisationen für die Pflege Älterer treffen „equity choices“ (Österle 2001), sie enthalten Gerechtigkeitsideen, die Folgen haben für die Inklusion Pflegebedürftiger. Das Verhältnis zwischen privaten und öffentlich finanzierten Anteilen in Pflegearrangements muss besonders interessieren, da aus dem Einsatz von privaten Ressourcen größere Ungleichheiten resultieren als aus dem Einsatz von Ressourcen, die durch den Filter Wohlfahrtsstaat gegangen sind. Denn Sozialpolitik tritt mit dem Ziel an, Lebenschancen anzugleichen gerade auch bei Risiken, die –
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bei allein privater Finanzierung – starke, die Potentiale Einzelner oft übersteigende Belastungen bedeuten würden, wie bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und auch Pflegebedarf. Sozialpolitik will eine Versorgung wenigstens partiell abkoppeln von den Markteinkommen. Wohlfahrtsstaaten bedienen sich i.d.R. Formen der Finanzierung und der Verteilung von Geld- und Dienstleistungen, die eine gewisse Gleichheit fördern.1 Außerdem wird in neueren Analysen der Pflegepolitiken europäischer Länder die Tendenz zur Förderung von (Quasi-)Märkten und umfangreicherer privater Anteile an der Versorgung mit sozialen und pflegerischen Dienstleistungen intensiv diskutiert. Es werden Vermarktlichung und Privatisierung festgestellt und auf die ambivalenten Folgen für Pflegebedürftige und Anbieter hingewiesen. Die Erwartung, mit der Förderung von Wohlfahrtsmärkten positive Effekte wie eine verbesserte Pflegequalität und Bedürfnisorientierung sowie eine größere Effizienz des Angebots zu schaffen, mehr Wahlfreiheit der nun zu Kunden werdenden Pflegebedürftigen zu gewährleisten, wird kritisch hinterfragt (Bode 2005; Kremer 2006; Rostgaard 2006). Die Frage nach den Wirkungen der neuen Pflegepolitiken auf soziale Ungleichheit wurde selten gestellt, liegt aber nahe. Denn Kundensouveränität hat notwendigerweise dort eine Grenze, wo die finanziellen Ressourcen aufhören. Dieser Beitrag führt zunächst das Konzept der Citizenship Rights von T.H. Marshall ein (Kap. 2), da es den Zusammenhang zwischen einer partiellen Gleichheit durch soziale Rechte und Ungleichheit thematisiert. Es ist ein Instrument, mit dem sich Ungleichheit in Form von Inklusion oder Exklusion, die vom Staat gewährte soziale Rechte schaffen, erfassen lassen. Wir zeigen kurz, dass sich das Konzept sozialer Rechte mit einer neueren institutionentheoretischen Perspektive verbinden lässt, wonach institutionelle Arrangements – hier solche zur Bewältigung von Pflegebedarf – sich als ‚Wahl‘ einer bestimmten Allokation von Belastungen und der Verfügbarkeit kollektiver Güter mit Folgen für die Lebenschancen der Bürger begreifen lässt. Daraus ergeben sich folgende Fragen für diesen Beitrag: Wie weitreichend inkludieren westliche Wohlfahrtsstaaten die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen und der mitbetroffenen Angehörigen? Geben sie ein Recht auf finanzielle Ressourcen, auf formelle Dienstleistungen und in welchem Grad? Welche Auswirkungen haben Quantität und Qualität der Rechte auf die Inklusion der Pflegebedürftigen wie auch der Pflegeperson? Weiter skizzieren wir wichtige Resultate der international vergleichenden Forschung zu Wohlfahrtsstaaten, Pflegearrangements und -politiken. Dabei gehen wir besonders auf die neueren Entwicklungen der Vermarktlichung und der ‚new poli1
Auch aus der Forschung zur materiellen Alterssicherung ist bekannt, dass unterschiedlich hohe private oder staatliche Rentenbestandteile sich auf Ungleichheit auswirken, weil die private Komponente größere Ungleichheit aufweist als die staatliche. (vgl. etwa Pedersen 2003; Förster 2005).
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tics of welfare‘ mit ihren Folgen im Bereich der Pflege ein. Es zeigt sich, dass der Zuschnitt privater oder öffentlicher Verantwortung für die Inklusion der Pflegebedürftigen besonders relevant ist. Daher stützen wir uns auf die Unterscheidung in Länder mit einer familialistischen oder aber de-familialisierenden Pflegepolitik, die den Blick auf diese unterschiedlich gestaltete Beziehung zwischen familialer und öffentlicher Verantwortung richtet (Kap. 3). Wir zeigen im Anschluss daran, ob familialistische Länder ihre Bürger mit einem geringeren Zugang zu sozialen Anrechten ausstatten und welche ungleichheitsrelevanten Konstellationen die neuen Pflegepolitiken in den verschiedenen Ländertypen entstehen lässt (Kap. 4). Ein Fazit resümiert die Ergebnisse (Kap. 5).
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Soziale Bürgerrechte und Ungleichheit: ein theoretischer Rahmen
2.1 Bürgerrechte, Ungleichheit und Inklusion Dieses Kapitel soll zunächst das Konzept der Staatsbürgerschaft von T.H. Marshall (1992) und die mit ihm eröffnete Perspektive auf soziale Ungleichheit verdeutlichen. Außerdem werden wir zeigen, wie man das Konzept der Staatsbürgerrechte für die Analyse von Pflegepolitik und der sozialen Rechte für Pflegebedürftige fruchtbar machen kann. Der Begriff der sozialen Bürgerrechte hat Eingang gefunden in die vergleichende Sozialpolitikforschung und wird dort als ein Konzept diskutiert, das v.a. die Formen der Ungleichheit jenseits der Erwerbssphäre begreifen kann und damit verspricht, auch einen Zugang zur Frage der Ungleichheit durch Pflegepolitik zu bieten. Diese erscheint dann in Form der Inklusion von Personengruppen. Das Konzept der sozialen Bürgerrechte passt außerdem gut zur Diskussion um einen postmodernen Wohlfahrtsstaat (EspingAndersen 1999), der nicht mehr nur auf die klassische ‚soziale Frage‘ reagieren muss, sondern der sich wegen des Wandels der Familienformen und dem demografischen Wandel quer dazu liegenden Problemlagen wie der Frauen- und Familienpolitik, der Kinderbetreuung oder eben der Pflege zuwenden muss. Staatsbürgerschaft basiert auf dem Prinzip, dass für rechtlich als solche definierte Bürger in einer bestimmten, ebenfalls rechtlich definierten Hinsicht Gleichheit zu erlangen sei. Staatsbürgerrechte entstanden, wie die in den 50er Jahren geschriebene Arbeit des britischen Soziologen T.H. Marshall (1992) zeigt, in einem historischen Prozess, in dem das naturrechtliche Egalitätsprinzip immer wirkungsmächtiger wurde, was dazu führte, dass zuerst im 18. Jahrhundert die bürgerlichen Rechte des Schutzes der Unversehrtheit der Person und des Eigentums sowie der rechtlichen Gleichheit verankert wurden, dann im 19. Jahrhundert die politischen Teilhaberechte aller Bürger und schließlich im 20. Jahr-
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hundert die sozialen Rechte der Bürger zur Verwirklichung gleicher materieller Teilhabe. Wichtiger als die historische Analyse ist aber, wie Marshall die Bedeutung der Staatsbürgerrechte für soziale Ungleichheit verstand: Die Citizenship Rights institutionalisierten für ihn eine Gleichheit als Bürger, die gleichzeitig mit sozialer und materieller Ungleichheit in den modernen Gesellschaften existiert. Die fortbestehenden Ungleichheiten werden gerade wegen der gewährten Staatsbürgerrechte akzeptabel (Marshall 1992: 38). Denn Bürger erhalten den Status als rechtlich Gleiche, in ihren politischen Beteiligungs- und Einflusschancen Gleiche und schließlich ermöglichten soziale Rechte die Angleichung der Lebensverhältnisse und inkludierten durch die Möglichkeit zu materieller Teilhabe. In dieser auf mehreren Ebenen geschaffenen Inklusion durch Rechte als Bürger lag für Marshall die integrative Leistung der Staatsbürgerrechte. Staatsbürgerrechte inkludieren durch die durch sie verliehene Mitgliedschaft von Menschen in einem (abstrakten) ‚Kollektiv‘ und die damit verbundenen Rechte und Pflichten. In der Regel ist es der Nationalstaat, der sie gewährt.2 Eine Analyse des Zusammenhangs zwischen Wohlfahrtsstaat, Ungleichheit und Pflege kann sich auf die sozialen Rechte beschränken. Bürgerliche und politische Rechte für die Bürger eines Nationalstaats sind wenig umstritten und heute selbstverständlich.3 Demgegenüber sind soziale Rechte strittig und weit davon entfernt, Gleichheit zu schaffen. Denn ihre Umsetzung geht Kompromisse ein mit wirtschaftlichen Knappheiten, politischen Mehrheitsverhältnissen und mit den Wertvorstellungen einer Gesellschaft, die mit dem Prinzip ‚Gleichheit‘ konkurrieren. Dabei kann es sich um das Leistungsprinzip oder das insbesondere im Bereich der Gesundheits- oder pflegerischen Versorgung wichtige Prinzip ‚Selbstverantwortung‘ sowie den ‚Familialismus‘ handeln (s.u.). Für Marshall mildern soziale Anrechte zum einen die soziale Ungleichheit zwischen den Klassen, zum anderen schaffen sie ein Recht auf Einkommen, das sich nicht nach dem ‚Marktwert‘ der Beanspruchenden bemisst.4 Der moderne Wohlfahrtsstaat widmet sich längst ‚postmodernen‘ Problemlagen quer zur ‚sozialen Frage‘, wie der Familienpolitik, der Kinderbetreuung 2
Allerdings ist im Zuge der Transnationalisierung von politischen Prozessen und staatlichen Hoheitsbefugnissen durch die Globalisierung eine Diskussion um die Erosion nationalstaatlich verfasster Bürgerschaft und um Formen von transnationaler Citizenship Rights entstanden. 3 In der Diskussion um die Integration von Migranten hingegen sind auch diese Formen ein Thema. In diesem Bereich erkennt man noch, dass Staatsbürgerrechte ein Mittel der Inklusion und Exklusion sind. 4 Die Funktion der sozialen Angleichung erfüllen Wohlfahrtsstaaten auch tatsächlich in mehr oder weniger großem und über die Zeit variablen Umfang (Birkel 2005). Zu ergänzen ist, dass Marshall zu idealistisch war hinsichtlich der Frage, ob soziale Rechte von der Stellung auf dem Markt abkoppeln. Das ist lediglich bei universalistischen Sozialstaaten der Fall. Hingegen koppeln soziale Rechte, die durch Sozialversicherungen organisiert sind, Leistungen durchaus an die Arbeitsmarktstellung der Einzelnen.
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zur Förderung der Erwerbschancen von Frauen und eben der Versorgung Pflegebedürftiger. Auch in dem letztgenannten Feld wurde durch soziale Rechte ein Zugang auf Dienst- und Geldleistungen unabhängig von den Marktpotentialen der Bedürftigen geschaffen. Auch soziale Rechte für Pflegebedürftige wollen ungleiche private Ressourcen ausgleichen und inkludieren. Länderunterschiede zeigen sich darin, wer in solche Programme eingeschlossen wird und wo die Grenze zwischen kollektiver Verantwortung auf der Basis von sozialen Rechten, Selbstverantwortung oder familiärer Verantwortung gezogen wird. Zwar schaffen solche Programme keineswegs Gleichheit, da sie partielle Leistungen bereitstellen. Grundsätzlich wird aber eine zuvor weitgehend privat bewältigte soziale Lage (die vom familiären Hilfenetz und von eigenen finanziellen Ressourcen geprägt ist) nun verrechtlicht. Damit wird nun nach öffentlichen Maßstäben reguliert, wer was und wieviel bekommen soll. Das heißt nicht, dass diese öffentlichen Maßstäbe von allen als gerecht oder ausreichend akzeptiert werden. Aber die Wohlfahrt Pflegebedürftiger hängt nun weniger von privaten ‚Zufälligkeiten‘ ab. Wie weit Pflegebedürftige und die sie versorgenden Angehörigen tatsächlich durch sozialstaatliche Programme unabhängiger von ihrer eigenen privaten Einkommenslage werden, wird selbstverständlich von der jeweiligen nationalen Pflegepolitik beeinflußt. Wenn ‚care goes public‘, tritt ein egalisierender Risikoausgleich ein und private Ressourcen werden weniger ausschlaggebend, wenngleich sie dort, wo die öffentlichen Leistungen aufhören, weiterhin wichtig sind. Denn die Wohlfahrtsposition Pflegebedürftiger und ihrer Angehöriger wird in einem „Wohlfahrtsdreieck“ bestimmt (Evers 1990; Esping-Andersen 1999), in dem Staat, Markt und Familie zur Versorgung beitragen. Anders als bei den umfassend durch kollektive Sicherungsformen abgefederten Risiko des Einkommensverlustes bei Exklusion aus dem Arbeitsmarkt prägen bei Pflegebedarf das private Einkommen und das Sozialkapital familialer Pflegepersonen immer noch stark die Wohlfahrt des Einzelnen. Wenn individuelle Risiken wie Pflegebedürftigkeit zu Situationen werden, von denen viele betroffen sind, ist die Entwicklung eines kollektiven Risikomanagements wahrscheinlich. Ein solches ‚kollektives Management‘ verändert aber die Art der Ungleichheit, die damit verbunden ist: Während bei privatem Management eben privates Familieneinkommen und Vorhandensein des Sozialkapitals Familie (Ehepartner, Kinder) die soziale Situation der Pflegebedürftigen prägen, werden dann, wenn Pflege zur öffentlichen Aufgabe wird, die staatlichen Kriterien der Allokation von Pflegeleistungen für die soziale Situation entscheidender. Sozialstaatliche Kriterien der Finanzierung und Allokation von Pflege sind gleicher als die Marktverteilung der Einkommen und Konsumchancen von Pflegeleistungen. Diese egalisierende Wirkung sozialstaatlicher Intervention in private Pflege schwankt aber zwischen Ländern und darf nicht überschätzt werden, da
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ihr Volumen im Vergleich zu anderen Programmen klein ist. Dennoch erhält man mit dem Konzept der Citizenship Rights einen Zugang zu einer Form der sozialen Ungleichheit, der auf die Inklusion oder Exklusion bestimmter Problemlagen und Personengruppen durch staatliche Regulationen abstellt (Theobald 2005). Damit haben wir die generellen Folgen von sozialen Rechten für soziale Inklusion skizziert. Jedoch werden social Citizenship Rights in bestimmte Institutionen und Organisationen umgesetzt. Auch diese sind nicht ungleichheitsneutral in Hinblick auf die Finanzierung und Allokation von Pflege. Dies möchten wir kurz mit dem Begriff der ‚equity choices‘ umreißen, bevor danach die Forschung zu sozialen Rechten für Pflegebedürftigkeit skizziert wird.
2.2 Die „Wahl“ von Institutionen und des Zugangs zu Rechten Die vergleichende Forschung über Wohlfahrtsstaaten basiert auf der Annahme, dass sich die institutionellen Arrangements verschiedener nationaler politischer Ökonomien einerseits auf das Wohlbefinden der Bürger, die Ungleichheitsstrukturen und die Verfügbarkeit kollektiver Güter auswirken und andererseits die ökonomische Leistungsfähigkeit beeinflussen (der letzte Aspekt wird in diesem Beitrag nicht berücksichtigt). Die diese Unterschiede erzeugenden Institutionen – in unserem Fall sozialpolitische Institutionen – werden von institutionentheoretischen Ansätzen und in der politische Ökonomie als ‚choices‘ für eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung begriffen (Hall/Soskice 2001). Der Begriff der ‚Wahl‘ meint im Diskurs um Bildung und Wandel von Institutionen weder eine explizite, noch individuelle und einmalige Entscheidung. Vielmehr resultieren die jeweiligen Arrangements sozialpolitischer Organisationen aus einer allmählichen Evolution. Die Verwendung von ‚choice‘ betont jedoch, dass auch evolutionär entstehenden Institutionen kollektive, u.U. langwierige Entscheidungen über die Verfügbarkeit bestimmter kollektiver Güter und zumutbare Ungleichheiten immanent sind. Demnach kann man auch die formellen Institutionen und die daraus abgeleiteten Rechte, Geld- und Sachleistungen für Pflege in Hinblick auf die ihnen immanenten Gestaltungsprinzipien befragen, die die Inklusion oder Exklusion der Pflegebedürftigkeit fördern. Denn die sozialpolitische Bewältigung des Pflegebedarfes basiert auf ‚equity choices‘. „Choices made in public policies with regard to the object (what?), the subject (who?) and the principles of allocation (how?) are shaping equity approaches in the welfare state.“ (Österle 2001: 160). Diese Wahl von bestimmten Optionen geschieht vor dem Hintergrund von Kriterien dafür, was als gerecht oder fair betrachtet wird. Bei der Pflege ist das (wie bei anderen Programmen) die Reduzierung von Armut und das Schaffen eines gewissen Ausgleichs des Risiko der Pflegebedürftigkeit und der damit ver-
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bundenen finanziellen Belastungen und Bedarfe. Institutionen verteilen Leistungen und Belastungen in spezifischer Weise (Österle 2001: 3). Daher fragen wir: Wie ist die Belastung der Finanzierung verteilt und wie wirkt sich das auf die soziale Inklusion aus? Wie ist der Zugang zu (Geld- und Sach-) Leistungen gestaltet und welche Folgen hat dies für Ungleichheit? Welche ‚equity choice‘ steht hinter der überwiegend unbezahlten privaten Pflege?5
2.3 Soziale Rechte für Pflegebedürftige Die Inklusion durch soziale Citizenship Rights, also die Ausweitung der Inhalte und die Ausstattung weiterer Gruppen mit sozialen Rechten, ist dynamisch. Rechte für Pflegebedarf expandierten sogar in einer Phase, in der der Wohlfahrtsstaat eigentlich auf Schrumpfungskurs war und andere klassische Bereiche der Sozialpolitik von Kürzungen betroffen waren. In europäischen Wohlfahrtsstaaten unterstützen zunehmend Geld- und Sachleistungen die informelle Pflege (Knijn/Krämer 1997; Daly 1997). Der Zugang zu formellen (ambulanten oder stationären) Dienstleistungen bei Pflegebedarf wie auch die Geldleistungen für informelle Pflege im Rahmen der Familie wurden ausgeweitet, und machten Pflege zu einem Teil von ‘citizenship’. Das besondere der sozialen Anrechte bei Pflegebedarf ist, dass erst einmal die Zuschreibung der Versorgungsaufgabe an die Familie gelockert werden muss. Erst wenn Pflege nicht mehr selbstverständlich der Familie zugewiesen wird, wird sie überhaupt Gegenstand der öffentlich-sozialpolitischen Regulation. Die Definition als wohlfahrtsstaatlich zu organisierende Aufgabe und das dann etablierte Ausmaß und die Art der sozialen Anrechte entscheiden über die Grenze zwischen den Exkludierten und Inkludierten. Eine an die häusliche Sphäre verwiesene Pflege ist die Basis ihrer Exklusion aus den Staatsbürgerrechten (Knijn/Kremer 1997). Die scharfe Grenze zwischen privater, staatlich nicht subventionierter Pflege und öffentlichen Dienstleistungen hat sich aber verwischt mit der Entwicklung hin zur Bezahlung für informelle Pflege. Das Modell sozialer Staatsbürgerrechte wurde von der vergleichenden Sozialpolitikforschung aufgegriffen und der Analyse von ‚weiblichen‘ Tätigkeiten wie der Pflege, Erziehung und Versorgung zugrunde gelegt (Lewis 1992; Antonnen 1997; Lister 1997; Siim 2005). Denn die Wohlfahrtsproduktion im Haushalt paßte nicht in Konzepte, die den Sozialversicherungsstaat, der Einkommensaus5 Wir behaupten mit dem Begriff der ‚equity choices‘ nicht, dass Arrangements in der Pflege nur von Gerechtigkeitserwägungen geformt werden. Ebenfalls prägt der fiskalische Druck auf den Wohlfahrtsstaat im Zuge der Alterung der Gesellschaft und der Druck auf soziale Standards im globalen Wettbewerb, welche institutionelle Wahl getroffen wird.
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fälle des männlichen Ernährers bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter kompensiert, analysieren. So wurde auch der Schlüsselbegriff der Dekommodifizierung, den Esping-Andersen dem Verständnis des Wohlfahrtsstaates zugrunde legte (1990), als ungeeignet abgelehnt. Denn Dekommodifizierung bezeichnet die Tatsache, dass Wohlfahrtsstaaten die soziale Lage von Erwerbstätigen von ihrem Arbeitsmarktstatus unabhängiger machen bzw. den Warenstatus lockern, ist also nur auf einen Teil der Aktivitäten des Wohlfahrtsstaates zugeschnitten. Social citizenship entwickelte sich in der feministischen Forschung zum Wohlfahrtsstaat auch zu einem normativen Konzept, das gleiche soziale Rechte für die von Frauen in der Privatsphäre geleistete Arbeit fordert. Zu einer ‚inclusive citizenship‘ (Knijn/Kremer 1997: 355) müsse das Recht gehören, sowohl Pflege selbst zu geben als auch bei Bedarf empfangen zu können. Die Anerkennung und Einbezug der meist von Frauen ausgeführten informellen Pflege – ihre ‚care-work‘ für Alte und Kinder – in das Spektrum der sozialen Anrechte erfordere sozialpolitische Maßnahmen, die berücksichtigen, dass jeder Bürger irgendwann in seinem Leben ein Pflegender wie auch eine pflegebedürftige Person sein kann. Das Recht zu pflegen wäre gegeben durch Beurlaubung oder andere Formen der zeitlichen Freistellung für Pflege, durch Teilzeitarbeit und eine begleitende rechtliche Absicherung gegen die sie begleitenden Nachteile, sowie durch Transferleistungen für informelle Pflege. Das Recht Pflege zu erhalten wäre zu gewährleisten durch den Zugang zu öffentlich finanzierten professionellen ambulanten, teilstationären und stationären Pflegediensten. Mit dem Konzept der Social Citizenship wurde also auch die Exklusion von Frauen und von informeller Pflege aus dem Wohlfahrtsstaat kritisiert. Der Sozialstaat sei ‚gendered‘, da er auf einem Geschlechterkontrakt zwischen Mann und Frau basiere, der die informelle unbezahlte Pflege vorsehe. Die Inklusion durch Citizenship wurde als Mittel betrachtet, mit dem auch Frauen, die informelle Pflege leisten, einen sozialen Schutz erhalten können. Hingegen sicherten Sozialversicherungen primär die Risiken abhängig Beschäftigter ab. Als ‚gendered‘ wurde auch die Art und Weise, in der Sozialstaaten auf Pflegebedürftigkeit reagieren, bezeichnet: Der soziale Dienstleistungsstaat befähige Frauen zur eigenen Partizipation am Erwerbsleben, der Staat, der Geldleistungen für Frauen gewähre, bestätige, zementiere aber auch ihre häusliche Rolle (Anttonen 1997). Die vergleichende Sozialpolitikforschung zu Care, also der Versorgung von älteren Pflegebedürftigen und Kindern, war stets auf die Verschränkung zwischen der informellen Pflege und den wohlfahrtsstaatlichen Regulationen ausgerichtet. Sie analysierte Unterschiede in den ‚Wohlfahrtsmixes‘ zur Versorgung Pflegebedürftiger, das heißt in dem Grad, in dem Familie, Staat, Markt und der Non Profit-Sektor zur Versorgung Pflegebedürftiger beitragen (Evers 1990;
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Evers/Olk 1996; Esping-Andersen 1999: 36).6 Die ‚mixed economy of welfare‘ kombiniert unterschiedliche Logiken der Versorgung und der Allokation von Pflege. Die unterschiedlichen Wohlfahrtsmixes verteilen auch Belastungen auf je spezifische Akteure. Ein breiter Strang der Forschung zeigte, dass die Art und Weise, in der Pflege organisiert ist, in Geschlechterverhältnissen, d.h. Formen der Arbeitsteilung in Erwerbsleben und Familie wie auch spezifischen Deutungsmustern und Leitbildern über die Geschlechterrollen, eingebettet ist. Diese ‚care regimes‘ beeinflussten wiederum die Lebenschancen in geschlechtsspezifischer Weise (Ungerson 1997; Daly/Lewis 1998). Man bestimmte entsprechend der Bedeutung, die öffentlicher Sektor, Familie und private Pflegedienste im Gesamt der pflegerischen Versorgung haben, nationale 'care profiles' (Anttonen/Sipilä 2001) oder ‘care regime’ (Rostgaard 2001). Es wurde gezeigt, dass sozialpolitische Arrangements den Grad an Wahlfreiheit zwischen bezahlter Erwerbsarbeit und privater Pflege, den pflegende Angehörige der Kindergeneration haben, beeinflussen und dass Länder hierbei in familiale oder aber individualistische Strategien unterschieden werden können (Daatland 1992, 2001, 2003).
2.4 Soziale Rechte und Vermarktlichung Viele europäische Länder haben steuerfinanzierte oder durch Sozialbeiträge finanzierte Programme eingeführt, die informelle Pflege nun unter anderem auch durch Geldleistungen und nicht mehr primär durch formelle Pflegedienstleistungen, die staatliche Träger oder der Dritten Sektor anbieten, unterstützen. Geldleistungen zielen darauf ab, dass Pflegebedürftige Versorgung auf einem ‚Markt‘ kaufen können, als Konsumenten mehr Wahlfreiheit haben und durch ihre Nachfrage das Angebot so steuern, dass es ihrem Bedarf entspricht (Bode 2005; OECD 2005: 49ff.; Clark 2006; Kremer 2006; Rostgaard 2006). Indem der Kunde wählt, soll zugleich dessen Autonomie und Selbstverantwortung als auch die Qualität der Dienstleistungen steigen. Ebenso ist es das Ziel der neuen Pflegepolitik, informelle Pflegepotentiale zu stärken. Für welche Art der Pflege die Geldleistung verwendet wird, bleibt in den meisten Ländern autonomen Bürgern zur Entscheidung überlassen. Überwiegend nutzen die neuen ‚Konsumenten‘ die Geldleistungen für informelle Pflege. Daher hat das Verfügen über Cash (noch) nicht in dem erwarteten Maße einen Markt für bezahlte formelle Pflege durch private Anbieter oder Anbieter des Dritten Sektors entstehen lassen. Vielmehr fließt die Geldleistung in informelle Pflegeverhältnisse, an denen (Ehe-)Partner, 6 Das Konzept der Wohlfahrtsmixes bzw. Wohlfahrtspluralismus betont ähnlich wie das der Care Arrangements, dass die Versorgung bei Pflegebedürftigkeit formelle staatliche und informelle private Leistungen kombiniert (Esping-Andersen 1999: 35).
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Kinder, Nachbarn und Bekannte beteiligt sind. Man spricht von der Commodifizierung informeller Pflege und einer neuartigen Verschränkung von informeller familialer Pflegelogik und staatlicher Finanzierung bzw. zwischen ‚care and cash‘ mit Folgen für Pflegeverhältnisse und für die Qualität der Pflege, die Belastung der Pflegeperson oder den Arbeitsmarkt für Pflegekräfte (Ungerson 2003; Theobald 2007). Außerdem ist ein Trend zur Entstehung eines ‚grauen Pflegemarktes‘ zu beobachten, auf dem wiederum neue Arbeitsformen unter Rekrutierung von Migrantinnen eingesetzt werden (Kondratowitz 2005). Bisher ist jedoch kaum bekannt, wie soziale Gruppen mit Geldleistungen umgehen und wie eine Vermarktlichung der Pflege in Strukturen der Ungleichheit eingreift. Das vierte Kapitel wird dies genauer reflektieren. Auch die im Zuge der ‚new politics of the welfare state‘ (Pierson 1998) stattfindende Verlagerung der Wohlfahrtsproduktion für die Bürger – also auch der pflegerischen Versorgung – in den privaten Sektor ist in Bezug auf soziale Ungleichheit nicht neutral. Denn Privatisierung bedeutet, größere Spielräume zuzulassen, in denen die herkömmlichen sozialen Ungleichheiten zur Geltung kommen. In der Pflegepolitik war die ‚new politics of the welfare state‘ nun keineswegs eine schlichte Kürzung oder Reduzierung von Leistungen, vielmehr expandierten in den letzten Jahren die sozialen Rechte in den meisten Ländern (Knijn/Kremer 1997; Schölkopf 1999; Lundsgaard 2006). Es handelt sich aber um eine Expansion mit spezifischen neuen Merkmalen. Die Expansion enthält Elemente einer Privatisierung und koppelt öffentliche Leistungen mit privater informeller Pflege. Staatliche Geld- und Sachleistungen verflechten sich mit informeller Pflege v.a. durch Angehörige, aber auch durch Nachbarn und Freunde und verwischen die Grenze zwischen formeller und informeller Pflege (Daly/ Lewis 2000). Diese neue Strategie, Geldleistungen zu gewähren, deren Verwendung dem Haushalt überlassen ist, bedeutet zwar eine Ausweitung staatlicher Leistungen, die es zuvor für die Pflege durch Angehörige nicht gab. Diese Expansion zieht sich aber zugleich zurück aus der Pflege. Ziel ist es, dadurch die Rolle des Konsumenten und die Nutzerposition zu stärken (Bauer et al. 2005; Rostgaard 2006). Wie sich diese neue sozialpolitische Zielsetzung zugunsten von mehr Entscheidungsbefugnissen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen auf Ungleichheit auswirkt, hängt von der Ausgestaltung der neuen Leistungen ab. Grundsätzlich bedeutet mehr Wahlmöglichkeit (Choice) in Kombination mit der Begrenzung der öffentlichen Verantwortung und der Förderung der zusätzlichen privaten Anteile jedoch, dass es auf die weiteren privaten Ressourcen ankommt. Die Möglichkeit zu ‚Choice‘ durch Geldleistungen, die Stärkung des Konsumenten und von Märkten mit privatwirtschaftlichen Pflegeanbietern, die begrenzte staatliche Steuerung sind also hinsichtlich ihrer Folgen für Ungleichheit
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höchst ambivalent. Der stärkeren Orientierung an den individuellen Bedürfnissen der Konsumenten steht gegenüber, dass die individuelle Autonomie immer nur soweit reicht wie die Kaufkraft der Einzelnen oder deren Familie, die jedoch nun staatlich subventioniert ist. Aber weder aus der Perspektive einer ‚new politics of the welfare state‘ noch aus der Sicht des ‚Consumerism‘ wurde systematisch thematisiert, wie sich diese Trends vor dem Hintergrund sozio-ökonomischer Ungleichheiten auswirken. Rostgaard (2006) spricht von neuen Risiken, die Wahlfreiheit mit sich bringt, da man auch eine ‚schlechte‘ Wahl treffen kann. Sie verweist auf die oft nur auf den Anbieter begrenzte Wahlmöglichkeit, während Pflegebedürftige eher die Person, die zeitliche Gestaltung und den Inhalt der Pflege wählen wollen. Nach Ungerson (2003) haben für familiale Pflege gewährte Geldleistungen eine egalisierende Wirkung, da sie entweder wie bei der Ehepartnerpflege in das allgemeine Haushaltsbudget einfließen und geringe Renten aufstocken; oder sie vermitteln der die Versorgung leistenden (Schwieger-)Töchter ein geringes Einkommen und Anerkennung für ihre informelle Pflege. Die neuen sozialpolitischen Programme zur Unterstützung von Pflegebedürftigen bei gleichzeitiger Einführung neuer Steuerungsformen im Feld der Pflegepolitik sind nicht überall gleich. Die einzelnen europäischen Länder verfolgen das Ziel der Schaffung von mehr Pflegeangeboten, mehr Markt, Bedarfsorientierung durch Wahlfreiheit und Kundensouveränität mit unterschiedlicher Stringenz. Die Ausgestaltung der Pflegegeldsysteme variiert hinsichtlich der Höhe der Geldzahlungen und der Kontrolle von deren Verwendung. Die Folgen in Bezug auf soziale Ungleichheit hängen aber stark von dieser Ausgestaltung ab. Die Unterschiede der ‚care profiles’, d.h. der Kombination informeller und formeller Pflege, wie auch der neuen Pflegepolitiken haben mit dem Grad des Familialismus in den einzelnen Ländern zu tun.
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Familialismus
Der ‚Familialismus‘ wird als eine wichtige Determinante des Grads, in dem Pflegebedürftige und ihre Familien mit sozialen Rechten ausgestattet werden, betrachtet. Familialismus ist ein Begriff, den die vergleichende Sozialpolitikforschung einführte, nachdem die Unterscheidung von Typen des Wohlfahrtsstaats anhand des Grades, in dem sie die in Lohnarbeit Beschäftigten durch staatliche Transfers und Recht von dem engen Nexus zwischen Arbeitsmarkt und sozialer Lage befreie, als zu eng kritisiert wurde. Eine solche Klassifizierung in drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus allein nach dem, wie Wohlfahrtsstaaten die soziale Sicherung der formell in den Arbeitsmarkt integrierten Erwerbstätigen gestalten, vernachlässige den wichtigen Beitrag der Haushalte und Familien zur Wohl-
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fahrtsproduktion. Aber auch informelle und formelle ‚care‘ sei nach typischen Mustern strukturiert, die mit dem Begriff des Familialismus erschlossen wurden. Der Familialismus eines Wohlfahrtsregimes wird an dem Grad bemessen, in dem die Sozialpolitik Familien für die Wohlfahrt ihrer Mitglieder allein verantwortlich macht. Umgekehrt ist ein de-familiarisierendes Regime eines, das die Abhängigkeit der Individuen von ihrer Familie durch ökonomische Ressourcen und Dienstleistungen verkleinert (Esping-Andersen 1999: 45; Leitner 2003). De-familialisierende Regime seien solche, die die in der Familien erbrachte Versorgung und Pflege nicht als deren private Aufgabe definieren, sondern eine staatliche Verantwortung übernehmen, indem sie öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung stellen oder direkte und indirekte Geldtransfers gewähren, mit denen der Haushalt selbst entscheiden kann, ob und welche Hilfeleistung er einkauft. Durch die sozialpolitischen Aktivitäten insbesondere seit den 1990er Jahren wurden in den meisten europäischen Ländern, Anstrengungen unternommen, die Familien in ihrer Pflegetätigkeit durch Geld- oder Sachleistungen zu unterstützen. Die Länder unterscheiden sich daher mittlerweile eher in der Definition des Anteils von familiärer und staatlicher Verantwortung an der Versorgung und an der Bedeutung der unterschiedlichen Unterstützungsformen – Geld- oder Sachleistungen – im Mix der staatlichen Unterstützung. Auf der Basis lassen sich europäische Länder in drei Gruppen zusammenfassen. a.
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Länder in Südeuropa, in denen die familiäre Verantwortung für die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger betont wird. Eine Unterstützung durch Dienste ist nur begrenzt vorhanden. Gegebenenfalls können Geldleistungen für die Pflegebedürftigen bzw. deren Betreuer mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der Versorgung im Rahmen der Familie gewährt werden. Die skandinavischen de-familialisierenden Länder, die die gesellschaftliche Verantwortung für die Pflege betonen. Dazu wird ein ausgebautes System ambulanter Dienste und institutioneller Versorgung zur Verfügung gestellt. Geldleistungen können zwar auf einem hohen Niveau gewährt werden, der quantitative Fokus liegt hingegen auf öffentlich finanzierten Dienstleistungen (vgl. für Schweden und Norwegen OECD 2005). Die Nutzung von professionellen Dienstleistungen wird durch die staatliche Subventionierung erschwinglich und damit wird ihre Inanspruchnahme gefördert. Länder mit ambivalenten Strategien, in denen Geld- oder Dienstleistungen teilweise auch als Wahlmöglichkeit für die Empfänger verfügbar sind. Dies betrifft beispielsweise Deutschland oder auch Österreich. Bei einer Dominanz von Geldleistungen kann dies zu einer Familialisierung führen, weil (v.a. gering qualifizierte und arbeitslose) Frauen einen Anreiz erhalten, selbst informelle Pflege zu übernehmen. Es kann aber auch zu einer De-
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familialisierung führen, wenn die öffentlichen Leistungen – Geld oder Dienste – und eventuell weitere eigene private Mittel ausreichen eine formelle, ambulante Versorgung zu finanzieren bzw. auf dem grauen Markt ein entsprechendes Pflegeangebot besteht und finanziert werden kann.
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Pflegepolitik in europäischen Ländern – Effekte für Inklusion und Ungleichheit
Die Verteilung sozialer Rechte bei Pflegebedarf und die institutionellen Differenzen der Care-Arrangements, wie sie in der Einteilung der drei Ländergruppen sichtbar werden, sind in ihren Konsequenzen für die Gestaltung von Pflegearrangements nicht neutral. Der folgende Abschnitt betrachtet anhand von zwei Merkmalen von Pflegesystemen, die eine Schlüsselstellung in Bezug auf Ungleichheitseffekte einnehmen, welche Implikationen sie für die Inklusion Pflegebedürftiger und die sie pflegenden Angehörigen haben: Das ist zum einen die Form der Finanzierung der zusätzlich zu den familialen Ressourcen hinzukommenden öffentlichen Pflegeleistungen, sei es Geldleistungen oder formelle, ambulante oder institutionelle Versorgung. Weiter zum anderen die Definition der Zugangskriterien und der Umfang der öffentlich finanzierten Leistungen für ältere Pflegebedürftige und deren Familien. Bei der Konzentration auf die beiden Aspekte gehen wir davon aus, dass zum einen die Verfügbarkeit eines über die Familie hinaus reichenden öffentlich finanzierten Angebotes egalisierend ist. Denn Pflege, die sich nur auf die Ressourcen der Familie und deren private Mittel stützt, reproduziert auf jeden Fall deren Position in der sozialen Hierarchie. Erst die ‚Umverteilung‘ aus einem mit allgemeinen Beiträgen gebildeten Fonds bricht diese Strukturen auf und orientiert sich am Bedarf, wobei weitere Allokationskriterien, bspw. Einkommen, Familiensituation hinzukommen (können). Dabei entscheiden Zugangskriterien, der Umfang der gewährten Dienstleistungen sowie Formen der Finanzierung die egalisierende Wirkung. Das höhere Risiko von Pflegebedürftigkeit von Angehörigen niedrigerer Statusgruppen verstärkt dabei die umverteilende Wirkung. Dabei ist getrennt zu diskutieren, dass a) die Finanzierung und Aufbringung der Mittel nicht neutral in Bezug auf soziale Ungleichheiten ist, und b) die Definition des Zugangs, der Umfang der Finanzierung sowie die konkrete Definition von Leistungen unterschiedliche Auswirkungen auf Strukturen der Ungleichheit hat. a) Finanzierung Ungleichheiten können durch die Art und Weise der Finanzierung der öffentlichen Pflegeleistungen entstehen. Die Finanzierung über Steuern oder über Bei-
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träge zu Sozialversicherung ist im Vergleich zur Finanzierung über Nutzerentgelte die dominante Quelle in allen europäischen Ländern. Steuern und Beiträge als Form der öffentlichen Finanzierung folgen bestimmten Gerechtigkeitsideen, die in andern Zweigen der sozialen Sicherung weitgehend bewährt und anerkannt sind und sich in der Regel am Prinzip der Leistungsfähigkeit ausrichten. Grob gesagt erhöht sich mit steigendem Einkommen die Belastung. Jedoch hängt es sehr von der Gestaltung der Beitrags- und Steuersysteme ab, wie die Belastung der Einkommensgruppen im Einzelnen aussieht. Entscheidend für die Umverteilungswirkung von Sozialversicherungen ist die Definition des Kreises ihrer Mitglieder, wobei eine möglichst umfassende und auch Bevölkerungsgruppen mit einem höheren Einkommen einschließende Sozialversicherung die Umverteilungswirkung erhöht (Korpi/Palme 1998). Beispielsweise führt in Deutschland die getrennte Einrichtung eines Zweigs der sozialen Pflegeversicherung für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und der privaten Pflegeversicherung für Selbstständige, Beamte oder Beschäftigte mit einem höheren Einkommen zu einer geringeren Umverteilung der Ressourcen und ist eine Ursache für die defizitäre Entwicklung der sozialen Pflegeversicherung (Theobald 2004). In den meisten Ländern wird Pflege nicht wie in Deutschland durch eine Sozialversicherung finanziert, sondern über Steuern (Österle 2001). Die Gestaltung des Steuersystems bestimmt, wer durch die sozialen Rechte für Pflegebedürftige belastet wird. Als Trend lässt sich festhalten, dass Länder mit hoher Steuer- und Beitragsbelastung auch einen größeren Umfang an Leistungen für Pflegebedürftige gewähren (wie z.B. Schweden). Statistiken zum Anteil privater und öffentlicher Ausgaben an den Kosten für die Pflege ergeben, dass de-familialisierende Länder, wie bspw. Schweden oder Norwegen insgesamt höhere Ausgaben für Pflege und einen sehr hohen Anteil an öffentlicher Finanzierung aufweisen. Im Gegensatz dazu sind die Ausgaben insgesamt in familialistischen Ländern, wie bspw. Spanien gering und verbunden mit einem niedrigen Anteil öffentlich finanzierter Leistungen. Ambivalente Länder wie bspw. Deutschland liegen dazwischen (OECD 2005: 26) Die Entscheidung für eine starke, und alle gesellschaftlichen Gruppen einschließende Belastung der Bevölkerung eröffnet Verteilungsspielräume für die Gruppe der Pflegebedürftigen (und andere soziale Gruppen). Eine umfassende kollektive Finanzierung der Pflege aus Beiträgen und Steuern bedeutet auch, dass ein relativ großes Finanzvolumen den öffentlichen Regeln der Finanzierung und Allokation unterliegt. Bei einem großen privaten Anteil der Finanzierung von Pflege prägen hingegen private Ressourcen und Präferenzen stärker die soziale Teilhabe der Pflegebedürftigen. Die geringere öffentliche Finanzierung wird durch einen höheren Anteil informeller Pflege der Familie mit einem niedrigen Einkommen ausgeglichen (Österle 2001: 163).
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Nicht vergessen werden darf die horizontale Angleichung zwischen der Personengruppe mit und ohne Pflegebedürftigkeit. Während zuvor das Risiko, im Alter pflegebedürftig zu werden, privat aufgefangen wurde mit allen finanziellen, sozialen und physischen Konsequenzen, ist durch die kollektive Form der Finanzierung von Pflegeleistungen ein gewisser begrenzter Ausgleich geschaffen zwischen den Risikogruppen. Das Versicherten- oder Steuerkollektiv erleichtert die besonders hohen Belastungen derer, die von Pflegebedürftigkeit betroffen sind. Die erwartete Pflegelücke durch ein schrumpfendes Potential familiärer Pflegepersonen hat in vielen europäischen Ländern dazu geführt, dass die Pflege Ältere zunehmend kollektiv-staatlich erfolgt. Eine größere Egalität dürfte dadurch erreicht worden sein (Daly 2002; Theobald 2005: 20f.). Jedoch kommt es maßgeblich darauf an, wie diese stärker kollektiv eingesammelten Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, welche Rechte und Leistungen durch sie finanziert werden. Wird wie in Deutschland der Umfang an öffentlicher Finanzierung bewusst begrenzt, ist der angleichende Effekt der sozialen Inklusion ebenfalls gedeckelt. Die beim Zugang zu Leistungen erwartbaren Ungleichheitseffekte werden im folgenden Abschnitt genauer diskutiert. b) Zugang zu Pflege und Formen der Leistungen Kollektive Finanzierung liefert die Basis für sozialpolitische Programme der Pflege, die auf verschiedene Art und Weise auf Ungleichheitsstrukturen wirken und deren Auswirkungen im Einzelnen betrachtet werden müssen. Ungleichheit beim Zugang zu Pflege kann bereits durch starke lokale Schwankungen im Angebot an Pflegedienstleistungen vorhanden sein. Im Grunde aber wird ein ungleicher Zugang durch die sozialen Rechte bestimmt, die die Bedingungen und Voraussetzungen für den Zugang zu Dienstleistungen oder Geldleistungen definieren. Je umfassender der Wohlfahrtsstaat soziale Rechte gewährt, desto egalitärer wird auch der Zugang. Soziale Rechte organisieren eine Art der kollektiven Finanzierung, die den Einzelnen von der Pflicht zur privaten Finanzierung entlastet. Ein gleicher Zugang hängt wesentlich davon ab, ob die Kosten kollektiv verteilt sind und durch Steuern und Beiträge aufgebracht werden. Im Bereich der Pflege wird die Definition familiärer Verantwortung zu einer entscheidenden Dimension, die das Zusammenspiel öffentlicher und privater Finanzierung beeinflusst (siehe private und öffentliche Ausgaben oben). Die eingangs getroffene Unterscheidung in familialistische, de-familialisierende oder ambivalente Länder wird daher zum Ausgangspunkt der Analyse der Bedeutung der Ausformung sozialer Rechte und ihrer outcomes für Ungleichheitsstrukturen genommen. Dazu wird für die Analyse des Einflusses von Politikansätzen auf Ungleichheitsstrukturen im Folgenden zwischen Politikansätzen und ihren out-
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comes unterschieden. Die Analyse wird exemplarisch anhand jeweils eines Repräsentanten für die drei Ländergruppen durchgeführt werden, da für die Bestimmung von Ungleichheit in der Pflege international vergleichend wenig Daten vorliegen und Forschungsergebnisse in einzelnen Ländern herangezogen werden. Soziale Rechte werden nicht nur relevant für die Pflegebedürftigen selbst, sondern bestimmen auch weitgehend Ungleichheiten auf Seiten der Pflegenden, z.B. deren Arbeitssituation, Bezahlung.
4.1 Familialistische Länder: Beispiel Italien Normativ gilt in Italien die Familie als verantwortlich für die Versorgung älterer, pflegebedürftiger Menschen (Vgl. Bettio/Plantenga 2004; Alber/Köhler 2004). Auf der Ebene der Politikumsetzung führt dies im Bereich professioneller Versorgung zu wenig umfassenden sozialen Rechten charakterisiert durch eine Orientierung an Pflegebedürftigen mit einem niedrigen Einkommen und geringer familiärer Unterstützung und mit zudem deutlichen regionalen Unterschieden. Erkennbar wird dies an dem auch international sehr niedrigen Anteil Älterer mit ambulanter oder institutioneller Versorgung.7 Im Gegensatz dazu stehen soziale Rechte, in Form von an pflegebedürftige ältere Menschen gezahlte Leistungen mit dem Ziel der Unterstützung der Versorgung innerhalb der Familie (Polverini et al. 2004; DaRoit 2005 zitiert in Burau et al. 2007). Dazu gehören die auf nationaler Ebene festgelegte einkommensgeprüfte Behindertenpension, das universelle, ohne Berücksichtigung des Einkommens gewährte Pflegegeld und gegebenenfalls zusätzliche Geldleistungen auf regionaler Ebene. Diese unterschiedlichen Geldleistungen können sich im Einzelfall bis zu 1000-1250 Euro addieren (Lamura im Erscheinen). Die Norm familiärer Verantwortung und das darauf aufbauende Mix an Pflegeleistungen trifft auf eine veränderte gesellschaftliche Situation. Die ansteigende Erwerbsintegration von Frauen und die zunehmende Alterung der Gesellschaft erschweren die Übernahme der Versorgung älterer Menschen in der Familie und führen zur Suche nach „privaten Lösungen im familiären Rahmen“. Auf der Basis der öffentlichen Geldleistungen und gegebenenfalls privatem Einkommen werden -zumeist illegal tätige- Migrantinnen zum eigentlichen Pfeiler pflegerischer Versorgung (für das Folgende siehe Polverini/Lamura 2004; Polverini et al. 2004 zit. in Burau et al. 2007). Migrantinnen, die zurzeit ca. 80% der informell bezahlten Pflegekräfte in den Familien stellen,. ersetzen auch institutionelle Versorgung. Denn, mit ihrer zunehmenden Beschäftigung im Verlauf der 7
Statistiken zeigen, dass 3.0% aller über 64-jährigen durch ambulante Dienste versorgt werden und weitere 3.9% in Institutionen leben (Jacobzone et al. 1999).
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1990er Jahre ging der auch schon vorher niedrige Anteil älterer Menschen in Institutionen noch einmal deutlich zurück. Im Gegensatz dazu übersteigt die legale Beschäftigung privat finanzierter Pflegekräfte die ökonomischen Möglichkeiten der Mehrheit der Familien, während gleichzeitig die männlichen Angehörigen nur wenig in die Pflege involviert sind. Die Migrantinnen in der Pflege bilden die eigentliche Basis für die Erwerbsbeteiligung von Frauen (und Männern) mit pflegebedürftigen Angehörigen. Dies wird zunehmend diskutiert als eine neue Form sozialer Schichtung der italienischen Gesellschaft, in der sich Geschlecht und Ethnizität miteinander verbindet (Lamura im Erscheinen).
4.2 De-familialisierende skandinavische Länder: Beispiel Schweden Im Gegensatz zu Italien betont die Politik in Schweden schon seit den 1950/60er Jahren die gesellschaftliche Verantwortung für die Versorgung älterer Menschen. Die Versorgung im Falle von Pflege- und Hilfebedürftigkeit wurde als Bürgerrecht etabliert, das jedem Bewohner unabhängig von seinem Einkommen und familiären Situation gewährt werden soll. Dazu wurden unterschiedliche Angebote ambulanter und institutioneller Versorgung entwickelt und zudem verschiedene Formen von Geldleistungen für die Unterstützung informeller Pflege eingeführt. Das Angebot ambulanter Dienste oder institutioneller Versorgung gilt dabei als die dominante Strategie staatlicher Unterstützung. Dies zeigt sich in der sehr geringen Inanspruchnahme von Geldleistungen, lediglich 0.2% der Älteren über 64 Jahre beziehen Geldleistungen im Gegensatz zu 7% der über 64-jährigen, die von ambulanten Diensten versorgt werden. (Lundsgaard 2006; SOS 2005). Beide Formen sind nicht als Wahlentscheidung der Pflegebedürftigen bzw. ihrer Angehörigen konzipiert. Die Unterstützung durch Geldleistungen wird eher in spezifischen Pflegesituationen gewährt (Johannson 2004). Der weitere Ausbau ökonomischer Unterstützung wird von den Gemeinden nicht forciert, sondern das Risikos der Verlagerung von ökonomischen Ressourcen von Dienstleistungen zu Geldleistungen wird betont und damit eine Gefahr für die Unterstützung von Frauenerwerbstätigkeit (Szebehely 2005). Es gibt zwei Formen von Geldleistungen. Neben der Gewährung eines eher symbolischen Pflegegelds können Angehörige bei der Gemeinde als Pflegekraft formal angestellt werden, was die Verwendung dieser höheren ökonomischen Mittel auf einem grauen Markt verhindert (vgl. Burau et al. 2007). Die Ansätze in der Pflegepolitik führten zu einer Professionalisierung der Pflege auf dem regulären Arbeitsmarkt unter öffentlicher Regie. Während gleichzeitig die öffentliche Finanzierung der Dienstleistungen diese für unterschiedliche Gruppen in der Bevölkerung zugänglich macht. Trotz des prinzipiell egalitä-
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ren Systems in Schweden, lassen sich zwei Bereiche der Entwicklung von Ungleichheiten erkennen. Geldleistungen für informelle familiäre Pflege werden unabhängig von ihrer Höhe eher von pflegenden Angehörigen mit einem Migrationshintergrund oder aus der Arbeiterschicht angenommen (Szebehely 2005). Die Gewährung von Geldleistungen wirkt demnach sozial stratifizierend. Die Reduktion der ambulanten Versorgung insbesondere seit den 1990er Jahren – in der Regel Unterstützung in der Hausarbeit – hat zwar ältere Menschen unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund im gleichem Ausmaß betroffen. Ältere Menschen mit einem höheren Einkommen können diese Dienste eher privat finanzieren, während es für die anderen sozialen Gruppen zu einer höheren Belastung durch Pflegetätigkeiten der Ehepartner bzw. Töchter kommt. Es entsteht darüber hinaus das Risiko, dass bestimmte Tätigkeiten in der Hausarbeit zunehmend auf einem grauen Markt eingekauft werden (Szebehely 1998, 1999).
4.3 Ambivalente Länder: Beispiel Deutschland In Deutschland gilt die Familie zunächst als verantwortlich für die Versorgung älterer, pflegebedürftiger Menschen, aber vom Staat wird Unterstützung durch Dienste oder Geldleistungen auf der Basis von universellen sozialen Rechten erwartet. Bei der Gewährung von öffentlichen Leistungen wird die Wahlfreiheit der Pflegebedürftigen bzw. ihrer Familien zwischen Geld- und Sachleistungen verbunden mit einer nur geringen Kontrolle der Verwendung der Geldleistung betont. Die Pflegeversicherung übernimmt entsprechend des Prinzips der Teilverantwortung des Staats jedoch nur einen Teil der Kosten, während die weiteren Kosten durch unbezahlte Familienarbeit, private Mittel oder gegebenenfalls über weitere Sozialleistungen finanziert werden müssen. Während sich die Situation Pflegebedürftiger und ihrer Familien durch die Einführung der Pflegeversicherung und der teilweise öffentlichen Absicherung des Risikos Pflegebedürftigkeit verbessert hat, führt die Konstruktion der deutschen Pflegeversicherung in zwei zentralen Bereichen zu sozialen Ungleichheiten. Dies betrifft die Inanspruchnahme der beiden Leistungsoptionen und die Entwicklung der Pflege als Tätigkeit. Die Wahlmöglichkeit zwischen Geld- und Sachleistungen geht mit einer hohen Inanspruchnahme der Geldleistungen im Vergleich zu den Sachleistungen gefolgt von einer ausgeprägten sozialen Strukturierung einher. Geldleistungen werden eher von Familien der unteren sozialen Schichten angenommen, was mit den geringeren Chancen auf dem Arbeitsmarkt und niedrigeren Opportunitätskosten einer Berufsaufgabe oder -einschränkung für die Töchter begründet wird. Hinzu kommen die Kosten für die professionelle
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Pflege, die nur zum Teil von der Pflegeversicherung getragen werden (Blinkert/Klie 1999; Klie/Blinkert 2002). Die Geldleistung, die prinzipiell ohne Kontrolle gewährt wird, schließt auch die Möglichkeiten des Einkaufens von Pflegeleistungen auf einem grauen Markt ein, die Pflegeleistungen zu einem weit niedrigeren Preis als die professionellen Pflegedienste auf der Basis des regulären Lohnniveaus anbieten können. Empirisch zeigen sich zwei Formen des Erwerbs von Pflegeleistungen auf einem grauen Markt. Das sind zum einen Frauen mit einem Migrationshintergrund oder einem niedrigen Einkommen, die hier in Deutschland leben und stundenweise, beispielsweise in der Hausarbeit, illegal beschäftigt werden (Meyer 2004). Zum anderen zeigt sich ein Trend zur Beschäftigung von Migrantinnen, die nach Deutschland einreisen um zumeist illegale Pflegeaufgaben zu übernehmen. Bei dieser Transnationalisierung von Pflege- und Hausarbeit nützen die privaten Haushalte das Lohngefälle zwischen den Ländern. Noch ist wenig bekannt über die Bedeutung des Pflegegelds, der Geldleistung, lediglich die Debatte um Transnationalisierung der Pflege hat begonnen (Kondratowitz 2005). Im fünften Bericht zur Lage der älteren Generation in Deutschland werden neben ersten Schätzungen der Anzahl von Migrantinnen in der Pflege auch die im Hintergrund stehenden Bedarfe diskutiert (5. Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland 2005). Erkennbar werden dabei Lücken in der sozialen Absicherung der Pflege durch Leistungen der Pflegeversicherung. Dies betrifft insbesondere die 24-Stunden Betreuung innerhalb des eigenen Haushalts. Während diese Form der Versorgung durch professionelle Pflegedienste für die Mehrheit der deutschen Familien unerschwinglich ist, wird die Finanzierung einer illegal tätigen Migrantin eher möglich.
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Fazit
Soziale Bürgerrechte sind die Institutionen moderner Gesellschaften, die in die gegebenen Ungleichheitsstrukturen eingreifen, und eine Gleichheit der ‚Bürger’ zum Ausdruck bringen sollen. Wir haben gezeigt, dass das an Marshall anschließende Konzept der Bürgerrechte, das in der vergleichenden Sozialpolitikanalyse Eingang gefunden hat, ein grundsätzliches Spannungsverhältnis denkt zwischen den Ungleichheiten des Marktes, die zu privaten Einkommensstrukturen führen, und den Interventionen eines Wohlfahrtsstaats, der qua sozialer Rechte diese Ungleichheiten mildert. Der ursprüngliche Grundgedanke sozialer Bürgerrechte war, den Bürgern ein Recht auf ein Einkommen jenseits des ‚Marktwertes’, also der Arbeitsmarktposition der Menschen, zu geben und so das klassische Arbeitnehmerrisiko des Einkommensverlustes abzufedern. Dieses Prinzip, durch mate-
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rielle und immaterielle Leistungen die soziale Lage der Bürger anzugleichen und ihnen Teilhabechancen zu ermöglichen, wird in postmodernen Wohlfahrtsstaaten in einer Vielzahl von Bereichen angewandt. Auch Pflegebedürftigkeit wurde etwa seit den 90iger Jahren in mehreren europäischen Ländern verstärkt zu einem Politikfeld, in dem soziale Rechte vergeben werden. Soziale Rechte auf Dienst- und Geldleistungen koppeln ebenfalls die Formen der Bewältigung des Risikos der Pflegebedürftigkeit im Alter von dem ab, was die Einzelnen bzw. ihre Familien aufgrund privater Einkommen oder anderer Ressourcen in der Lage zu tun sind. Gleich ob öffentliche Leistungen mit Steuern oder Versicherungen finanziert werden, bedeuten sie eine Entkoppelung der sozialen Lage Pflegebedürftiger und ihrer versorgenden Angehörigen von deren privaten Ressourcen an Einkommen, Vermögen und von deren Sozialkapital Familie. Die Wohlfahrt Pflegebedürftiger hängt nun weitaus weniger von privater Allokation ab, sondern von den sozialpolitischen Regeln, nach denen Pflegepolitik gestaltet wird. Wir haben argumentiert, dass diese ausgleichenden Effekte einer Inklusion des Risikos Pflegebedürftigkeit durch soziale Rechte um so geringer sind, je weniger umfassend diese gestaltet sind. Denn jenseits der nach kollektiven Regeln finanzierten und zugänglich gemachten sozialstaatlichen Geld- und Dienstleistungen für Pflegebedürftige reproduzieren sich die herkömmlichen sozialen Ungleichheiten. Soziale Rechte egalisieren zwar, jedoch hat man im Einzelnen in den jeweils national variierenden Kombinationen der Anteile von Familien, Staat und Markt (den Care Arrangements oder Wohlfahrtsmixes) wie auch mit den öffentlichen Regeln der Finanzierung wie auch des Zugangs zu Geld- und Dienstleistungen für Pflege – welche Einkommen werden belastet oder freigestellt etwa zu privaten Versicherungen, wer kann Leistungen beanspruchen, in welcher Höhe, bei welchem Pflegebedarf etc. – implizite Entscheidungen über die gerechte Versorgung Pflegebedürftiger vor sich. Wir haben im Anschluss an institutionentheoretische Argumente von ‚equity choices’, die Folgen haben für die soziale Inklusion, gesprochen. ‚Wohlfahrtsmixes’ und ‚care arrangements’, Begriffe, mit denen bislang die vergleichende Sozialpolitikanalyse die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten betonte, markieren also auch soziale Ungleichheiten, wenn man die öffentlich finanzierte Pflege als egalitäre Politikinstrumente gleichsetzt. Wenn ‚care goes public’, verschiebt sich grundsätzlich zunächst einmal die Verantwortung für Pflege weg von der Familie, wovon man egalisierende Tendenzen erwarten könnte. Wir haben argumentiert, dass aktuelle pflegepolitische Tendenzen diese Annahme aber zurückweisen. Denn neue Ziele wie die Förderung von Pflegemärkten und privater Kundensouveränität, die staatlich gewährtes Pflegegeld ermöglichen sollen, eröffnen Spielräume für soziale Ungleichheiten. Nicht nur verschmelzen familiale und öffentliche Versorgungslogik und wird informelle
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Pflege commodifiziert (d.h. wie eine Ware bezahlt). Auch setzen Pflegegeldleistungen spezifische Anreizwirkungen ein, die keineswegs ungleichheitsneutral sind: Im Falle der intergenerationellen Pflege kann Pflegegeld nur für die weniger qualifizierten Frauen ein Anreiz sein, vom Arbeitsmarkt fernzubleiben und private Pflege auszuüben. Für höher Qualifizierte sind die Opportunitätskosten des Ausscheidens aus dem Beruf zu hoch, als dass Pflegegeld dies ausgleichen könnte. Dort wird die Option eher sein, Pflege möglichst günstig einzukaufen. Da der rationale Konsument von Pflegeleistungen gefordert wird, dürfte er sich auch auf grauen Pflegemärkten bedienen, wo Migrantinnen so günstig Pflege anbieten, dass auch ein begrenztes, auf private Zuschüsse setzendes Pflegegeld ausreicht. Bei Ehepartnerpflege ist ein Pflegegeld eine Aufstockung besonders bei geringen Renten, bei höheren Renten aber wenig zielgenau und erst ab einer bestimmten Belastung mit Pflegekosten ein relevanter Ausgleich. Der Ländervergleich zeigt, dass Konstruktion und Umfang sozialer Rechte für das Risiko Pflegebedürftigkeit die Entwicklung unterschiedlicher Formen von Ungleichheiten wesentlich beeinflusst. Dabei zeigt sich, dass eine weitergehende öffentliche Übernahme der Finanzierung von Pflegetätigkeiten die Entstehung von Ungleichheiten verringert. Familialismus oder De-familialisierung bedeutet eben nicht nur eine Übernahme der Verantwortung durch den Staat oder durch die Familie, sondern ist mit erheblichen Konsequenzen für die Entwicklung sozialer Ungleichheitsstrukturen verknüpft. Dies betrifft auch die Pflegenden selbst. Die Betonung familiärer Verantwortung in Italien und die veränderte Wirklichkeit führt zur Suche nach privaten Lösungen und damit auf der Basis des Lohngefälles zur Transnationalisierung der Pflege und einer Stratifizierung des Bereichs nach Geschlecht und Ethnizität. Die Teilabsicherung der deutschen Pflegeversicherung ging zum einen mit einem Ausbau öffentlich finanzierter Dienstleistung einher, die Begrenzung der Leistungen forciert jedoch den Einkauf von Pflegetätigkeiten auf dem grauen Markt, bis hin zu einer allmählichen Entwicklung der Transnationalisierung der Pflege für besonders schwierige Pflegesituationen. Die umfassende öffentliche Finanzierung in Schweden erbrachte einen ausgeprägten Ausbau öffentlicher Dienstleistungen. Kürzungen von Leistungen können ebenso zum Zukauf auf dem grauen Markt führen, wenn dies auch weniger ausgeprägt als in Deutschland sein wird. Nicht nur der Umfang sozialer Rechte, sondern ihre Ausgestaltung wird von sozialen und ethnischen Stratifizierungen begleitet, was die Inanspruchnahme der Geldleistung in Deutschland und Schweden unabhängig von der Höhe der Leistung zeigt. Allerdings muss beachtet werden, dass dies in Schweden im Gegensatz zu Deutschland quantitativ sehr kleine gesellschaftliche Gruppen betrifft.
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Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung
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Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung Martin W. Schnell
Pflege wird sehr oft als ein aktives Tun im Bereich zwischenmenschlicher Zuwendung verstanden. Sie wäre damit dem zugänglich, was ich anderswo als „Ethik der Interpersonalität“ (Schnell 2005a) bezeichnet habe. Dieses weit verbreitete Bild von der Pflege als personen- und körpernaher Tätigkeit ist gewissermaßen richtig im Sinne eines stets vorausgesetzten Vorverständnisses. Aber es ist nicht alles, vor allem dann nicht, wenn es um Fragen der Gesundheitsversorgung innerhalb des Gesundheitssystems geht. Der Diskurs „Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung“ bezieht sich auf die Grundstruktur einer Gesellschaft und nicht primär auf individuelle Handlungen oder auf Individuen. Seine Grundfrage lautet: „Wie ist eine gerechte Verteilung der Güter der Gesundheitsversorgung zu denken?“ Güter in diesem Sinne stellen anerkannte Versorgungsparameter dar, wie etwa Medikamente, Heil-/ Hilfsmittel, Prävention, Operation, Nachsorge, Behandlungen und andere heilberufliche Dienstleistungen. Pflege wird damit im Diskurs der Gerechtigkeit als ein person- und/oder dienstleistungsbezogenes Gut der Gesundheitsversorgung definiert. Sie wird weiterhin interpersonal ausgeübt, aber systemisch gedacht und nicht allein vom subjektiven Verständnis der beteiligten Personen her. Die Beantwortung der Grundfrage nach gerechter Verteilung der Güter der Gesundheitsversorgung als Teil der Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft erfordert einige Vorbemerkungen, mit denen ich beginnen möchte.
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Zum Gang der Untersuchung
Ich werde zunächst einige Grundlagen darstellen. Es soll deutlich werden, worauf die Frage nach Gerechtigkeit eigentlich zielt, wie das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und (Un)Gleichheit aussehen kann. Gesellschaft und Familie, die Hegel als Systeme der Sittlichkeit bezeichnet, werden dabei als Orte beschrieben, an denen sich die Frage nach Gerechtigkeit stellt. Gerechtigkeit ist dazu da, in einer Gesellschaft Bedingungen zu garantieren, damit Personen ein Leben in Würde leben können. Die Würde ist somit im Grundgesetz, Strafgesetzbuch und im Sozialgesetzbuch verankert. Diese drei Bücher stellen Auslegungszusammenhänge dar, von denen aus präzisiert wird,
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was gerecht ist im Hinblick auf die Verteilung von Bürgerrechten, Strafe und auch von Gütern der Gesundheitsversorgung. Hier ist der Anknüpfungspunkt für die Pflege und zwar durch das Pflegeversicherungsgesetz. Dieses Gesetz ist ein Instrument sozialer Gerechtigkeit, zielend auf den Sektor Gesundheitsversorgung. Nach diesen Vorüberlegungen betreten wir den Bereich der Pflege. Es wird gezeigt, dass es drei Versionen von Gerechtigkeit gibt. Stets geht es dabei um die Frage der Bestimmung der gerechten Verteilung von Gütern der Gesundheitsversorgung. Verteilung bedeutet: a) jemand hat Anteil an gesellschaftlicher Solidarität und zugleich b) jemandem steht ein Anteil zu und zwar im Falle seiner eigenen Bedürftigkeit. Die Bestimmung von Bedürftigkeit durch Assessments und Klassifikationen im Hinblick auf epidemiologische Daten zur politischen Gestaltung von Gesundheitsversorgung ist die Realisierung von sozialer Gerechtigkeit für die individuelle Person. Auf gewisse Weise wird die nachfolgende Darstellung bis zu diesem Punkt nicht wirklich etwas Neues präsentierten! Die Sachlage ändert sich, wenn wir realisieren, dass der unverzichtbare Versuch, auf diese Weise gerechte Gesundheitsversorgung herzustellen, selbst neue Ungerechtigkeit durch problematische, weil exklusive Formen der Verteilung produziert. Darauf antworte ich mit der quasi visionären These: das Instrument des personbezogenen Budgets ermöglicht eine Aufhebung dieser verteilungsbedingten Ungerechtigkeit durch eine Vertiefung von Verteilungsgerechtigkeit für die individuelle Person. Dieses Instrument käme zur vollen Entfaltung, wenn es zum Beispiel in den Kontext einer Familiengesundheitspflege eingebettet wäre. Diese Einbettung wird im Sinne einer wirklichen Vision am Ende des Textes skizziert.
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Elemente der Frage nach Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist ein Bestimmungsverhältnis zwischen Ethik (dem Guten), Staat (Macht) und dem Markt (Geld), der unter den Bedingungen der Globalisierung steht und sich dennoch der Frage Gerechtigkeit nicht gänzlich zu entziehen vermag (vgl. Schnell 2003). Das Begriffspaar Gleichheit/Ungleichheit ist wesensmäßig mit einer Vorstellung von Gerechtigkeit verbunden und zwar in unterschiedlicher Hinsicht. Mal ist Gleichheit gerecht, mal ungerecht. Mal ist Ungleichheit gerecht, mal ungerecht. Platon, der Erfinder dieser Logik, sagt dementsprechend, dass „für Ungleiche das Gleiche ... zum Ungleichen wird (und deshalb) häufig Aufstände in den Staaten erzeuge“ (Nomoi, 757a). Aristoteles führt den Diskurs weiter, indem er das Ideal des gerechten und gewaltlosen Staates darin sieht, dass verschiedene „Sphären der Gerechtigkeit“(Michael Walzer)
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voneinander definitorisch unterschieden werden und auch praktisch unterschieden bleiben. Die gerechte Verteilung symbolischer Güter wie ‚legitime politische Macht‘ erlaubt Ungleichheit. Es ist gerecht, dass die Bundeskanzlerin in bestimmter Hinsicht mehr Macht als andere Staatsbürger inne hat. Gerechte juristische Verfahren erfordern hingegen Gleichheit vor dem Gesetz. Dieb ist Dieb, egal, ob Bundeskanzlerin oder Bettler. Die Gerechtigkeit legitimer Warentauschverhältnisse impliziert wiederum eine Gleichbemessung des Ungleichen anhand der Maße einer Werttheorie, die sich am Geld ausrichtet. Woher sollte man sonst wissen, wieviel Brot 3 Paar Schuhe wert sind? Pflege und auch Medizin als Aspekte sozialer Verteilungsgerechtigkeit sind vor dem Hintergrund dieser Differenzierungen zu betrachten. Gerechte Verteilung impliziert einen Prozess der Begutachtung und Bestimmung von Bedürftigkeit nach legalen Kriterien. Hier kann man von einer „Ethik des Begutachtens“ (vgl. Schnell 2002c) sprechen. Bei all dem gilt, dass Gerechtigkeit Kritik an Ungerechtigkeit ist. Wir betreten nun das Hauptfeld unseres Diskurses, indem wir zwischen zwei Versionen der Kritik an Ungerechtigkeit unterscheiden.
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Kritik an Ungerechtigkeit
Ungerechtigkeit ist (1) dort, wo gar keine Gerechtigkeit herrscht. Als Rationierung im Gesundheitssystem bezeichnet man eine Politik, die Menschen, die als bedürftig gelten könnten, von der Zuteilung notwendiger Güter absichtlich ausspart. Das ist, ethisch gesehen, ein einfacher Fall von Ungerechtigkeit, der ein anderes Gleichgewicht zwischen Hilfe, Geld und Macht erfordert. Ungerechtigkeit ist (2) dort, wo die Instrumente der Gerechtigkeit durch ihren Einsatz und wider ihren Zweck Ungerechtigkeiten schaffen, die ohne ihren Einsatz nicht sein würden. Jetzt wird es kompliziert! Die Pflegeversicherung ist eine Antwort auf ein Versorgungs- und Gerechtigkeitsproblem. Da die Pflegeversicherung dieses Problem zum Teil löst, kann auf sie nicht einfach verzichtet werden. Weil sie aber zugleich neue Probleme der Ungerechtigkeit und Ungleichheit schafft, kann sie, ethisch gesehen, nicht so bleiben. Die eigentliche Frage des Diskurses über Gerechtigkeit und Gesundheitsversorgung lautet somit: Wie ist es möglich, Gerechtigkeit individuell zu vertiefen, ohne ökonomisch und politisch definitiv unrealistisch zu werden? Mit dieser Frage befassen sich die nachfolgenden Ausführungen, deren zentrale Begriffe Würde, Gabe und personbezogenes Budget sein werden.
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Vor der Gerechtigkeit – Ansatzpunkte für Gerechtigkeit
Die Rede von einem Vor der Gerechtigkeit besagt, wie anfangs erwähnt, dass der ausdrücklichen Frage nach und Formulierung von Gerechtigkeit anderes vorausgeht, nämlich die alltägliche Selbstsorge. Gerechtigkeit ist ein kritisches Korrektiv an der alltäglichen Selbstsorge. Diese Selbst- und auch Fürsorge geht der Frage nach der Gerechtigkeit voraus und ist zugleich Ansatzpunkt für jene Frage. Ich begnüge mich mit einer Skizze. Der Mensch ist ein leiblich existierendes Lebewesen und als solches endlich. Die Endlichkeit bedingt, dass der Mensch sterben muss, dass er pflege-, therapiebedürftig, krank und behindert werden kann. Die Endlichkeit nimmt den Menschen in Anspruch. Die Selbstsorge ist eine Antwort auf diese Herausforderung der Beanspruchung. Die Selbstsorge ist Motor einer Lebenskunst, die sich in verschiedenen Existenzentwürfen manifestiert. Die Pflege ist aus dem Geist der Selbstsorge zu verstehen. Eine entsprechende Theorie des bedürftigen Menschen umfasst drei Dimensionen (vgl. Schnell 2004a): 1. 2. 3.
Bedürftigkeit besagt, dass dem Anderen zu geben ist. Bedürfnis ist ein Geltungsphänomen und damit eine Bestimmung dessen, was und wie dem Anderen zu geben ist. Das Politische ist das, was die Beziehung zum anderen Menschen unterbricht und vermittelt.
In allen drei Dimensionen sind über die Leiblichkeit und die Selbstsorge hinaus die Anderen und die Gesellschaft mit gegenwärtig. Die aus der Leiblichkeit resultierende Selbstsorge verweist auf den Anderen. Die Freundschaft ist die ethische Qualität der Beziehung zum Anderen. In der Freundschaft kommt es zu einer Wechselseitigkeit von Selbst- und Fürsorge im Kontext der Lebenskunst als Gestaltung von Alltag und Normalität. Pflege ist Teil dieser Lebenskunst. Die Generationenfolge verweist die Freunde auf Angehörige und die Familie. Familiale Sorge ist ein ethischer Sorgezusammenhang und impliziert einen postbiologischen Begriff der Familie. Familienbezogene Pflege gilt dem Miteinander der Familie in der modernen Gesellschaft. Wenn alles so oder so ähnlich ist, wozu benötigt man die Gerechtigkeit? Die Frage nach Gerechtigkeit entsteht, weil die Sittlichkeit der Selbstsorge, der Freundschaft und der Familie als ungerecht empfunden werden könnte und sich somit die Frage nach expliziter Gerechtigkeit stellt. Wie kann man ethisch positiv Menschen begegnen, die der traditionellen Definition nach, keine Freunde sein können (z.B. Komapatienten, behinderte Menschen)? Wie kann Ungerechtigkeit in der Familialen Sorge aufgehoben oder
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zumindest abgemildert werden? Worauf hat ein pflegebedürftiger Mensch Anspruch und zwar auch wider seine Angehörigen, mögen sie ihn lieben und überversorgen oder missachten und unterversorgen? Was wäre gerecht?
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Von der Würde zur Gerechtigkeit
Würde gilt der Person und ist zugleich ein Grundwert der Gesellschaft (vgl. Schnell 2005d). Das deutsche Grundgesetz hält gleich in Artikel 1 fest: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieser kostbare Satz, der von Kant stammen könnte, strahlt in alle normativen Bücher des Rechts aus. Bürgerliches Gesetzbuch, Strafgesetzbuch und das Sozialgesetzbuch sind hier zu nennen. Das Sozialgesetzbuch ist ein Instrument der Gerechtigkeit, denn es regelt in grundsätzlicher Hinsicht die Anrechte bei der Verteilung von Gütern der Gesundheitsversorgung und der Teilhabe von Güterempfängern an der Gesellschaft. Erinnern wir an zwei Bestimmungen des Sozialgesetzbuches, die pflegebedürftigen und behinderten Menschen gelten. Das deutsche SGB IX bezieht sich auf behinderte und auf von Behinderung bedrohte Menschen und zwar mit dem Ziel, deren „Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ (SGB IX, § 1) zu ermöglichen. Der Begriff der Selbstbestimmung erinnert an den Wertbestand der Idee der Menschheit und damit an die Menschenwürde. Noch deutlicher argumentiert das SBG XI: „Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.“ (SGB XI, § 2) Diese Erläuterung macht den Übergang zur Gerechtigkeit perfekt. Eine Gesellschaft ist in sozialer Hinsicht gerecht, wenn sie den pflegebedürftigen Menschen hilft, ein der Würde entsprechendes Leben zu leben, indem sie entsprechend der Bedürftigkeit Güter der Pflege- und Gesundheitsversorgung an diese Menschen verteilt. Es stellt sich nur die Frage, wer oder was pflegebedürftig ist? Um es gleich vorwegzunehmen – die Kritik an der Formalität der Definition von Pflegebedürftigkeit ist als solche unangebracht. Beachten wir auch hier die Differenz von Materie und Form. In materialer Hinsicht gibt es vermutlich unendliche viele gute Begründungen für Pflegebedarf. Wir sind hier im Bereich der Selbstsorge, der Freundschaft und der Familialen Sorge. Romeo gibt seinen Beruf auf und kümmert sich ein lebenlang um die kranke Julia, indem er ihr die merkwürdigsten Wünsche erfüllt. Sie leben vom Ersparten und der Hilfe der Nachbarn. Hier gibt es kein Problem. Pflegebedarf ist, was er ist. Niemand fragt danach, alle sind zufrieden. Aber was passiert, wenn sich niemand um die kranke
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Julia kümmert? Wenn sie zur Selbstsorge nicht in der Lage ist, wenn es keine oder falsche Freunde gibt, wenn Nachbarn nicht in die Pflegefamilie integriert werden können? Dann muss die Form her! Julia hat Würde und deshalb stehen ihr Hilfe und Güter zu. Die Gerechtigkeit der Solidargemeinschaft ist da, um Menschen zu helfen, denen andere nicht helfen. Der Form sei dank! Weil die Hilfe zumindest teilweise aus steuerfinanzierten Leistungen besteht, haben die einzahlenden Geber das Recht, dass die Gelder und Güter nach Bedürftigkeit verteilt werden. Somit bedarf es einer formalen Bestimmung von Pflegebedürftigkeit, die logischerweise von den materialen Anlässen für Pflegebedarf und Hilfe sehr deutlich unterschieden ist. Die Abgaben der Steuerzahler dürfen nicht einfach verausgabt werden. Die Zuwendungen an das Familienmitglied dürfen unendlich sein, auch wenn sie es vielleicht nicht sein sollten. Wir erkennen hier die Notwendigkeit des Übergangs von der Person zur Gerechtigkeit und den notwendigen Zusammenhang von Würde und Gerechtigkeit. Die instrumentelle Bioethik schließt Menschen, die angeblich ohne Würde sind, von den Leistungen des Gesundheitssystems aus. Ist die Würde erst verloren, ist es der Rest auch bald!
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Die Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist der ethische Grundbegriff im Hinblick auf die Grundstruktur einer Gesellschaft. Es geht um die ethische Form einer Gesellschaft und nicht um die eines Menschen und somit nicht um die Frage, ob Paul Paula liebt oder nicht oder ob er ihr gerecht geworden ist mit seiner Zuwendung. Freundschaft und Familie gehören in den materialen Teil der Betrachtung. Hier geht es aber um Grundstrukturen! Gerechtigkeit ist ein System, dass festlegt wem (Person), was (Gut), wie (Verfahren) zuzuteilen ist. Grundlegend dafür ist die Bestimmung der Bedürftigkeit. Bedürftigkeit ist von den Bedürfnissen zu unterscheiden. Die Kategorie der Bedürfnisse verweist uns zurück an den Anfang unserer Überlegungen: die leibliche Selbstsorge ist Sitz von Bedürfnissen, die weder natürlich gegeben, noch kulturell gemacht, sondern beides zugleich und noch viel mehr sind. Für unseren Kontext ist die Feststellung wichtig, dass die Bedürfnisse meiner Mitmenschen dann allgemeine Bedeutung gewinnen, wenn sie von mir direkt oder indirekt befriedigt werden sollen. Zu befriedigen sind Bedürfnisse aber nur, wenn sie als zu befriedigen anerkannt sind. Das Bedürfnis tritt in den Bereich des Ethischen ein, wenn es als ein Geltungsphänomen betrachtet wird. Zu beachten sind Bedürfnisse nur als sozial anerkannte Bedürfnisse (vgl. Schnell 2004b). Fraglich ist, welche dazu gehören und welche nicht. Die Anerkennung von Bedürftigkeit ist
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Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Kontroversen. Anerkennung ist wiederum abhängig von den Kriterien der Gerechtigkeit. Ich beschränke mich auf die Skizzierung von drei Modellen, die im Sinne einer Skala zwischen Individualismus und Republikanismus verstanden werden können. Details sind an anderer Stelle nachzulesen (vgl. Schnell 2001a) Der konservative Standpunkt geht davon aus, dass die Bedürfnisse anzuerkennen sind, die jemand mit seinem rechtmäßigen Eigentum zu befriedigen in der Lage ist. Jeder Mensch hat ein Eigentum an sich selbst und an den Gütern, die ihm durch einen Arbeitsvertrag, ein Testament, eine private Zusatzversicherung oder auf andere legale Weisen zustehen. Eigentum verpflichtet gleichwohl zu privater Wohltätigkeit ohne Rechtsanspruch. Der liberale (in Europa würden wir sagen: der sozialdemokratische) Standpunkt geht davon aus, dass die Bedürfnisse anzuerkennen sind, die Angst vor Krankheit und sozialem Abstieg (Armut) zum Ausdruck bringen. Diese Bedürfnisse gelten als Grundbedürfnisse, natürlich nicht biologischer, sondern sozial anerkannter Natur. Sozialstaat und Paternalismus liegen im Allgemeininteresse. Sie sind um der Befriedigung der Grundbedürfnisse willen da. Alle anderen Bedürfnisse sind durch private oder privat finanzierte Sicherungssysteme zu versorgen. Der republikanische Standpunkt geht davon aus, dass die Bedürfnisse anzuerkennen sind, die jemanden Teil der Gesellschaft sein lassen. Alle Mitglieder schulden einander Fürsorge, die Gemeinschaft hilft allen, den armen und den gefährdeten Menschen allerdings zuerst, da die Reichen zur Selbsthilfe eher befähigt sind. Die Skala von Individualismus und Republikanismus impliziert wechselnde Konstellationen von staatlicher Solidargemeinschaft und marktförmiger Privatversorgung. In welcher Form die Skala auch immer auftreten mag, das ethisch relevante Verständnis von Bedürftigkeit muss durch das Nadelöhr der Anerkennung. Die Anerkennung erfolgt nach Kriterien. – An dieser Stellung wollen wir nun explizit den Versuch der Realisierung von Verteilungsgerechtigkeit im Bereich der Pflege betrachten, dann kritisieren und schließlich verbessern. Dazu ist die politische Ethik ja da!
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Pflegebedürftigkeit als Anerkennung, dass einer Person Güter zuzuteilen sind
Damit es klare Kriterien für Pflegebedürftigkeit geben kann, muss der Formalismus das Leben in Form bringen. Das geschieht zumeist indem, etwa im Ausgang
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von Nancy Roper, das Leben als Gesamtgestalt zerteilt wird in einzelne „ATL“, d.h. in „Aktivitäten des täglichen Lebens“. Zu diesen ATL zählen unter anderem:
Ernährung und Stoffwechsel, Ausscheidung/Kontinenz, Körperpflege, Transferleistungen, An-/Auskleiden.
Diese Aktivitäten (aber auch Stimmungen und Zustände wie die ‚stoische Seelenruhe‘) werden bereits in der antiken Lehre von der cura sui beschrieben. Die Aktivitäten sind dort stets in den sinnstiftenden Kontext des gelebten Lebens eingebettet und von dort her zu verstehen und nachzuvollziehen. Die modernen ATLs sind dagegen künstliche Einheiten, sog. Basishandlungen, also rudimentäre Handlungen, die an Körperbewegungen erinnern. Das gelebte Leben ist kein Durchleben von Basishandlungen. Der Mensch isst ein Schnitzel und trinkt ein Bier dazu in geselliger Runde. „Ernährung“ und „Stoffwechsel“ sind demgegenüber Beschreibungen, die im Kontext des gelebten Lebens keinen Sinn machen. Die Konstruktion von ATLs ist gleichwohl notwendig, um die Selbstsorge in sachlich und zeitlich definierbare Einheiten umformen zu können. Nur dann ist es möglich, Pflegebedürftigkeit zu bestimmen, d.h., das, was jemand nicht mehr kann und somit der Unterstützung bedarf. Die allgemeine Grundfrage zur Bestimmung von Pflegebedürftigkeit lautet: Welche in der Form von ATLs gefassten menschlichen Bedürfnisse sind nach einem Verlust der Eigenversorgungsfähigkeit durch die solidargemeinschaftliche Mithilfe zu befriedigen?
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Assessmentinstrumente als Hilfsmittel der Anerkennung von Pflegebedürftigkeit
Pflegebedürftigkeit tritt in diversen Kontexten auf. Obwohl formale Kriterien eine gewisse Abstraktion in sich haben, sind sie nicht kontextblind. Die allgemeine Grundfrage nach der Pflegebedürftigkeit ist im Altenheim anders zu beantworten als im häuslichen Bereich. Für viele Kontexte gibt es inzwischen standardisierte Überprüfungstests (Screeninginstrumente) und ausführlichere Einschätzungshilfen (Assessmentinstrumente). Standardisierung ermöglicht Vergleichbarkeit in den diversen Kontexten. Die Bestimmung von Pflegebedürftigkeit im Licht der Assessmentinstrumente kann in unterschiedlichen Perspektiven
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vorgenommen werden: den Defiziten des Patienten, seinem Bedarf, seinen Bedürfnissen oder der Personalbemessung. Das „RAI“ (Resident Assessment Instrument) gilt dem Bereich der stationären und ambulanten Altenpflege und ermöglicht eine Einschätzung der Bedürfnisse, Defizite und Potentiale älterer Menschen sowie eine darauf aufbauende Pflegeplanung. Basis dieser Einschätzung sind ein Minimum Data Set (MDS) und 18 Abklärungshilfen, die anzeigen, wonach gefragt werden muss. Angaben zur Person, ihren Fähigkeiten, Einschränkungen, ihrem Zustand, ihrer Medikation/Behandlung. Der „FIM“ (Functional Independence Measure) gilt der Erfassung von tatsächlicher Selbständigkeit eines Patienten. Anhand von 18 Items in sechs Sektoren der Selbstversorgung können Grade zwischen ‚völliger Selbständigkeit‘ und ‚völliger Unselbständigkeit‘ bemessen und erfasst werden. Patienten mit derselben Diagnose weisen durchaus sehr unterschiedliche Grade von Selbständigkeit auf. Der „MMST“ (Mini Mental Status Test) dient der Erfassung der Beeinträchtigungen einer Person bei beginnender Demenz. Als Orientierungsmaß dienen kognitive Leistungsbereiche (Orientierung, Merkfähigkeit, Konzentration etc.) und nicht die ATLs, da davon ausgegangen wird, dass die Demenz eine Beeinträchtigung der kognitiven Schematisierung ist. Das „Plaisir“ (Planification Informatiseé des Soins Infirmes Requires en milieux des soins prolongés) ist kein primäres Assessmentinstrument, sondern ein Verfahren zur Pflegezeit- und Personalbemessung in der Akutpflege. Es orientiert sich jedoch am individuellen Pflegebedarf und damit an den Bedürfnissen eines Patienten. Die zur Festlegung des Personaleinsatzes notwendige Erfassung der Bedarfssituation von Patienten kann gleichwohl als indirektes Assessment betrachtet werden. Das „SGB XI“ (Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung) enthält in § 14 ebenfalls eine Art indirektes Assessment. Pflegebedürftigkeit liegt vor, wenn eine Person Mithilfe bei der Realisierung von ATLs benötigt und zwar für voraussichtlich mindestens 6 Monate. Die Gewährung der Leistungen erfolgt nach Klassifikation in eine von 3 Pflegestufen.
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Unvermeidliche Exklusivität?
Der von uns unternommene Versuch der Gerechtigkeit wird mit einem Problem konfrontiert. Die der menschliche Würde entsprechende Zuteilung von Gütern der Gesundheitsversorgung ist nämlich exklusiv! Es war für Kritiker immer sehr einfach zu erkennen, dass der hauptsächlich an Verrichtungen/Aktivitäten und
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körperlicher Mobilität ausgerichtete Begriff der Pflegebedürftigkeit andere Anlässe für Pflege, die eher mit emotionalen Zuständen, Kognitionen oder der Selbstwahrnehmungen des pflegebedürftigen Menschen zusammenhängen, ausschließt (vgl. Bartholomeyczik/Halek 2004: 11ff). Wir dürfen an dieser Stelle jedoch nicht kurzschlüssig argumentieren! Dass die formale Ebene unserer Argumentation anders als die materiale verläuft, gehört zu den Bedingungen des Vorgehens und kann zunächst nicht kritisiert werden. Die gerechtigkeitsorientierte Bestimmung von Pflegebedürftigkeit soll und kann gar nicht jeden einzelnen Anlass von und für Pflege erfassen, sondern nur problematische Ungerechtigkeiten der Familialen Sorge ausgleichen, indem sie festhält, dass dem Anderen überhaupt zu geben ist (Bedürftigkeit) und erst danach, was ihm zuteil werden soll (Bedarf). Der politische Charakter des Geltungsphänomens, von dem wir schon sprachen, macht gerade aus, dass über die Art der zu verteilenden Güter der Gesundheitsversorgung öffentlich gestritten wird. Wir wollen daher gerne zugestehen, dass das exklusive, an Verrichtungen/ATLs orientierte Distributionsmodells durch Aspekte der anderen, hier aufgeführten Assessmentinstrumente (oder noch anderer, hier nicht aufgeführter Modelle wie dem Barthel-Index oder anderer Indices) ergänzt werden kann, um die Exklusivität zu mildern. Die neue Frage lautet dann: kann auf der formalen Ebene Exklusivität überhaupt vermieden werden? „Bisher gibt es keine konsensuelle Definition von Pflegebedürftigkeit, die sich direkt operationalisieren ließe.“ ebd.: 135) Selbst wenn sich das zugunsten eines nichtexklusiven Begriffs von Pflegebedürftigkeit ändern sollte, worin eine höchst kühne Utopie liegt, wollen wir uns damit nicht zufrieden geben, denn: die entscheidende ethische Herausforderung liegt nicht darin, formale Modelle ob ihrer Formalität (und das heißt auch: Exklusivität) zu kritisieren und hernach auf eine uneinlösbare ‚Ganzheitlichkeit‘ zu pochen, sondern anderswo! Eine gewisse Exklusivität ist auf formaler Ebene nicht zu vermeiden. Diese vielleicht unvermeidliche Exklusivität auf der foramlen Ebene der Gerechtigkeit wollen wir nur dann als ethischen Mangel betrachten, wenn die formale Trias neue, zuvor gar nicht vorhandene Probleme zu Lasten kranker, pflegebedürftiger oder behinderter Menschen erzeugt, die sie allein wiederum nicht zu lösen vermag!
10 Politik und Gesellschaft Gerechtigkeit ist der Grundbegriff politischer Ethik im Hinblick auf die Grundstruktur einer Gesellschaft. In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um die
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Frage, wie das Individuum im System gesellschaftlicher Verteilung der Güter der Gesundheitsversorgung vorkommt, sondern auch um Politik und Gesellschaft als solche. Das Individuum ist in dieser Betrachtungsweise gar nicht mehr direkt vorgesehen, denn das Hauptgewicht liegt auf Gruppen, Gemeinden, sozialen Schichten. Die positive Erscheinungsweise des Individuums ist die Anonymität. Der Einzelne als einer unter anderen. Die Soziologie nimmt seit Emile Durkheim und Alain Touraine einen entsprechenden Blickwechsel vor: soziologische Tatbestände sind eigene Phänomene, die nicht aus der Komplexion individueller Bewußtseine gebildet werden. Der methodische Vorrang der Gesellschaft vor den Individuen erfordert eigene Untersuchungsebenen: Gesundheitspolitik als Systemsteuerung und Epidemiologie im Sinne einer wissenschaftlichen Erforschung der Entwicklung und des Verlaufs von Krankheiten, der Anforderungen an Gesundheitsdienste, der Risikoidentifizierung im Hinblick Bevölkerungsanteile u.a.m. Eine Rückbindung an die Ethik unterhält der Diskurs über Politik und Gesellschaft, indem man erkennt, dass Ethik nicht nur „Ethik der Interpersonalität“ sein kann. In meinem gleichnamigen Buch habe ich darauf hingewiesen, dass „ethische Anliegen durch Institutionen“ (Schnell 2005a: 18) ebenso vertreten werden. Ich komme nun auf diesen Punkt zurück. Keine falsche Konkretion in der Ethik! Die Interpersonalität ist durch die Beziehung zum Dritten vermittelt. Der Dritte ist eine zweideutige Figur. „Der Dritte ist anders als der Nächste, aber auch ein anderer Nächster und doch auch ein Nächster des Anderen und nicht bloß ihm ähnlich.“ (Levinas 1992: 343) Der Dritte ist nicht der Andere, aber ein möglicher Anderer und zugleich auch jemand, der immer ein Unbekannter bleiben könnte. Ich und Du sind Deutsche. Der Dritte, der unsere Beziehung vermittelt, ist die Gemeinschaft der Deutschen. Sie ist ohne Namen (anonym). Ich könnte aber in eine mir fremde deutsche Stadt fahren, an der Türe schellen und den Fremden als Du ansprechen. Schon wäre er nicht mehr anonym. Andererseits hat es einen positiven Sinn, die Anonymität als solche zu belassen, da niemand alle Deutschen persönlich kennenlernen wird und es außerdem reicht zu sagen: die Deutschen sind Vizeweltmeister. Es ist hier nicht nötig zu wissen, wer die Deutschen im Einzelnen genau sind. So können wir sagen, dass die Ich/Du-Interpersonalität in Freundschaft und Familie immer Dritte beiseite lässt, die Angesicht oder Anonyme sein können (vgl. Ricoeur 1996: 237ff). Diese positive, zur Sache selbst gehörende Unentschiedenheit charakterisiert unsere gesamte Betrachtung zur Gerechtigkeit. Verteilung ist Anteilnahme am Anderen und das Erhalten eines Anteils; Verteilung ermöglicht so „den Übergang von der interpersonalen zur gesellschaftlichen
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Ebene.“ (ebd.: 243) Anonymität und Formalisierung haben auch einen positiven ethischen Sinn!
11 Epidemiologie: die Relevanz von Daten über das Auftreten von Pflegebedürftigkeit in einer Gesellschaft zur Realisierung gerechter Gesundheitsversorgung Im Zeichen der Gerechtigkeit verweisen Pflegebedürftigkeit (des Individuums) und Pflegebedarf (Ressourcen für Interventionen) aufeinander. Beide Komponenten sind nicht streng deckungsgleich, da die Ermittlung des Pflegebedarfs immer auch eine Bedarfsplanung einschließt (vgl. Halek 2003: 32f). Das Heute wird so schnell zum Morgen, dass es als bloßes Heute allein keine relevante Größe darstellt. Auf gesellschaftlicher Ebene von Gruppen, Gemeinden, Schichten, ja ganzen Gesellschaften fragt die Epidemiologie danach, „wie Pflegedürftigkeit aussieht und vorzufinden ist. Wer wie lange welche Pflegediagnosen hat, welche Formen von Pflegebedürftigkeit es gibt, in welchen Alters-, Geschlechtsoder sozialen Statusgruppen.“ (Bartholomeyczik/Nonn 2005: 23) Die Epidemiologie stellt die Prävalenz fest, d.h. das Vorkommen eines Phänomens innerhalb einer Bezugsgruppe (Hautrötungen bei bettlägerigen Heimbewohnern) und die Inzidenz, d.h. neu auftretende Phänomene (Fälle von Dekubitus innerhalb eines halben Jahres). Sie fragt zudem nach Gesundheitsrisiken und der Effektivität von Interventionen. Eine gesellschafts- und gesundheitspolitische Relevanz der epidemiologischen Aussagen liegt darin, dass sie in Gesundheits- und Pflegeberichterstattung von Ministerien und Verbänden eingehen, um eine Datengrundlage für politische Planung und Entscheidung zu bieten. Streng genommen, ist Epidemiologie nur möglich, wenn es eine Sprache und Begriffe gibt, die eine überindividuelle Erfassung des gesellschaftlichen Gegenstandsbereiches der Epidemiologie erlauben. Die Pflegeklassifikationen stellen den Versuch einer solchen, notwendig formalen Sprache dar. Der Sache nach knüpfen die Klassifikationen und mit ihnen die Pflegediagnosen an die Arbeit der Assessmentinstrumente an (vgl. Bartholomeyczik/Halek 2004: 17f).
12 Pflegeklassifikationen Pflegeklassifikationen sollen Messbarkeit, Vergleichbarkeit, Verallgemeinerbarkeit und Exaktheit im Bereich der Pflege ermöglichen. Sie sind Konstruktionen, aus der Erfahrung und dem Alltag gewonnen, wie jede Konstruktion, aber eben
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Konstruktionen und damit fern des konkreten Lebens. Mit Absicht, denn, wie schon erwähnt, geht es ihnen nicht um das konkrete und unverwechselbare Individuum, sondern um eine Datengewinnung, die der Fragestellung der Epidemiologie entgegen kommt. Die Sprache der Klassifikationen ist nicht mehr identisch mit sog. natürlichen, im Alltag der Lebenswelt gesprochenen Sprachen. Wittgenstein zeigte, dass im Alltag die Sprache ungenau sein kann und Verständigung trotzdem funktioniert. „Stellen Sie sich bitte da vorne hin.“ Eine Millimeterangabe gibt es hier nicht und sie ist auch überflüssig. Anders verhält es sich, wenn es um Klassifikationen geht. Klassifikationen werden wie alle Idealitäten (Husserl) durch Abstraktion gebildet: aus der konkreten Erfahrung, unter Absehung der Besonderheiten und Steigerung des Allgemeinen sollen die Klassifikationen schließlich hinsichtlich ihrer Ergebnisse den Individuum zugute kommen. Als Klassifikation sind sie aber Formalitäten, deren Sinn auch darin liegt, unreflektierte Praktiken, die zwar konkret sind, aber in der Pflege zu Ungunsten von Patienten durchgeführt werden, durch evidenzbasierte zu ersetzen. Da Klassifikationen exakte Ordnung ermöglichen sollen, müssen sie klare Begriffe und Definitionen beinhalten, um ferner Mehrdeutigkeit und Kontextualität ausschließen zu können. Klassifikationen sind notwendig, sie tragen aber ohne Zweifel wie jede Formalsprache die Gefahr in sich, die Konkretion zu vergessen und wie eine zweite Welt eigener Sachverhalte aufzutreten (vgl. König 2006). In diesem Grenzfalle wären sie auch für gesellschaftliche und gesundheitspolitische Fragen unbrauchbar. Das erste umfassende System der Pflegeklassifikationen entstand in den 70er Jahren in den USA. Die „NANDA“ (North American Nursing Diagnosis Association) gilt als Vorreiter in dieser Entwicklung. Die Klassifikation der „Pflegediagnose“ wird ergänzt durch die Bestimmung der „Pflegeintervention“ („Nursing Interventions Classifications/NIC“) und eine Messung von „Pflegeergebnissen“ („Nursing Outcome Classification/NOC“). Ein Tendenz der Entwicklung der Klassifikationen verweist auf eine Universalisierung. Die „ICNP“ (International Classification of Nursing Practice) steht für diese Richtung. „Gegenstand pflegerischer Klassifikationssysteme sind demnach Pflegediagnosen (nursing diagnosis), Pflegeinterventionen (nursing interventions) und Pflegeergebnisse (nursing outcomes.“ (Georg 2005: 133) Hierbei handelt es sich um eine prozessuale Bestimmung, da die Elemente der Sache nach aufeinander verweisen. „Pflegediagnosen bilden demnach die Grundlage für die Auswahl von Pflegeinterventionen zur Erreichung von Pflegeergebnissen für die die Pflegeperson verantwortlich ist.“ (ebd.: 134) Eine Pflegediagnose „ist eine klinische Beurteilung der Reaktion eines Individuums, einer Familie oder einer Gemeinde auf aktuelle oder potentielle Ge-
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sundheitsprobleme/Lebensprozesse.“ (Gordon/Bartholomeyczik 2001: 29) Die Diagnose ist eine Beurteilung, also eine Tätigkeit, die allgemeine Kriterien und Besonderes in ein Verhältnis setzt. Das Besondere sind die Reaktionsweisen, der von einem Gesundheitsproblem aktuell oder potentiell betroffenen Menschen. Die Diagnose sieht sie nicht als passive Objekte vor, an denen ein Experte etwas feststellt, sondern als Akteure in ihrer Situation und ihrer Selbstpflege. Die Situation oder der Kontext, auf den die Diagnose bezogenen werden, kann wiederum variieren. Die Skala reicht vom Pflegeprozess im engeren Sinne über die (ggf. auch medizinische) Versorgungseinheit bis zum System der Gesundheitsversorgung (ebd.: 17ff). Die Tatsache, dass eine Klassifikation in ihrer Formalität konkreten Menschen letztlich zugute kommen soll, wird in ihrer Anwendung deutlich. Dementsprechend ist der Prozess des Diagnostizierens ein dreiteiliges Geschehen. Er ist eine Subsumtion, die zeigt, worunter der konkrete Mensch fällt, eine Relationsinformation, die anzeigt, zu was sein Leiden in Beziehung steht und eine Aufnahme von gelebtem Sinn als der Erfahrung als der der konkrete Mensch seine Situation der Selbstpflege erfährt (vgl. Schrems 2003: 44ff). Der Formalitätscharakter der Diagnose betrifft die Kriterien, nach denen überhaupt gefragt wird, wenn es um das Fällen einer Diagnose geht. Die Kriterien sind verallgemeinerbar, auf den konkreten Fall zu beziehen, aber über den konkreten Fall hinaus in Geltung. NANDA Pflegediagnosen umfassen ein Set von Kriterien: Ursachen, Voraussetzungen und Symptome, wahrgenommene Veränderungen, die Sicht des Patienten, die Sicht der Pflegeperson, den Bezug auf Ziele und Ergebnisse einer Intervention (ebd.: 113ff). Pflegeinterventionen und Pflegeergebnisse orientieren sich an denselben Parametern wie die Diagnose. Pflegeinterventionen sind Handlungen, die Pflegende aufgrund einer Diagnose direkt und kooperativ mit dem Patienten (körpernahe Hilfe, Anleitung) oder im Interesse des Patienten (patientenferne Arbeit an Strukturen) ausüben, um das Interventionsziel zu erreichen. Als Pflegeergebnisse gelten messbare Zustände, Verhaltensweisen oder Wahrnehmungen eines Patienten oder eine Familie, die als Variable fassbar und durch Pflegeinterventionen veränderbar sind (vgl. Johnson/Maas/Moorhead 2005). Über Fortschritte und Stand der Versorgung insgesamt gibt das Verhältnis zwischen Intervention und Ergebnis Auskunft.
13 Universalismus? Die formalen Klassifikationen können durch ihre Anwendung auf einzelne Versorgungssituationen konkret werden, sie können durch einen Ausbau ihres for-
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malen Charakters aber auch abstrakter werden. Fraglich ist, ob dabei ein Universalismus, also ein wahrhaft international geltendes Klassifikationssystem entstehen kann. Das umfassendste Projekt der Entwicklung eines solchen Systems stellt die vom ICN entwickelte Klassifikation „ICNP“ dar (vgl. Georg 2005: 142ff). Hier laufen alle Hoffnungen zusammen, die mit der formalen und überpersönlichen Ebene verbunden sind: die Erfassung von Versorgungssituationen durch eine einheitliche und exakte Sprache, die Aufbereitung der Ergebnisse für Datenbanken und elektronische Dokumentationen, die Vorhersagbarkeit von Trends zukünftiger Entwicklungen für die Epidemiologie, die Schaffung von Gesundheitsinformationssystemen, die Möglichkeit exakter Erforschung regionalen Pflegebedarfs. Hier ist allerdings vor allzu kühnen Visionen zu warnen! Eine zu sehr in Intimität aufgehende Familiale Sorge kann zu Ungerechtigkeiten führen, eine zu formalistische Auffassung der Pflege ebenfalls! Es ist Traum der Formalisten, durch eine exakte Sprache die Unklarheiten der Alltagskommunikation überwinden zu können. Im Ausgang von atomaren Ausdrücken werden Sprachen durch Kombinationen nicht mehr gelebt und gesprochen, sondern: „komponiert“. Dadurch erreichen Klassifikationen eine immer höhere Aussagekraft. Kommunikation wird zur reinen Gesundheitsinformatik. Pflege ist maschinenlesbar, sprachunabhängig, formal und universell ausgerichtet (vgl. Haase-Nielsen 2006). Pflege in Zeiten der Globalisierung! Wir haben es hier mit dem zu tun, was Karl Marx als Realabstraktion bezeichnet. Die Abstraktion wird zur Realität, die Realität zur Abstraktion. Wenn man vergisst, dass universal ausgerichtete Klassifikationen nur formal, aber nicht schlechthin konkret gelten, entsteht Ungerechtigkeit, wo doch eigentlich Gerechtigkeit sein sollte. Die ethisch problematische Exklusion resultiert dann aus der Tatsache, dass alle Unwägbarkeiten, die mit der Pflege als Aushandlungsprozess verbunden sind, nicht mehr beachtet werden. Der pflegebedürftige Mensch müsste dann eigentlich der perfekte Mensch sein, da auf ihn alle Klassifikationen umstandslos passen müssten. Welche fatale Vision! Würde stellt den Übergang von der Person, die eine Form ist, einen Menschen unabhängig von seinem Beitrag zur Reziprozität zu achten, zur Gerechtigkeit her. Die Gerechtigkeit ist eine Form, Menschen zu unterstützen, die von der Familialen Sorge vernachlässigt werden. Anonymität und Formalisierung haben einen positiven ethischen Sinn,. Assessmentinstrumente, Klassifikationen und Epidemiologie bieten die Möglichkeit einer Ausweitung der interpersonalen Ethik auf eine politische Ethik der Institutionen, Gesellschaft und Politik.
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14 Ungerechtigkeit durch Gerechtigkeit Wer nicht von Freunden und Familie unterstützt wird, soll unabhängig von seiner Einbettung in die Sittlichkeit betrachtet werden. Die Gerechtigkeit zeigt, was einem Menschen an Fürsorge und Gütern der Gesundheitsversorgung zusteht, unabhängig vom Urteil der Nächsten und der Nachbarn. Doch, was ist und was macht den Teil aus, der der würdevollen Person als das Ihrige zusteht? Kritische These: Die Bestimmung der Gerechtigkeit im Hinblick auf die Pflegebedürftigkeit ist exklusiv, da sie a) pflegebedürftige Menschen von Leistungen oder b) sinnkonstitutive Momente aus dem Geschehen der Versorgung ausschließt. Bedürftigkeit ist ein Geltungsphänomen, also abhängig von der Anerkennung eines Bedürfnisses als zu befriedigen durch Andere. Eine Exklusion ist nicht schon die Tatsache, dass nicht alles von anderen anerkannt wird, was jemand als sein Bedürfnis definiert. Von der Struktur der Gesellschaft her gesehen, wäre Gerechtigkeit überhaupt nicht möglich, wenn die Forderung nach etwas auch quasi automatisch die Zuteilung dessen nach sich zöge. Soziale Gerechtigkeit durch den Staat ist Ausgleich für zu geringe Fürsorge durch Andere. Ausgleich – aber nicht Ersatz. Statt mit Anderen lebt man nicht mit dem Sozialamt zusammen. Gerechtigkeit ist zunächst selektiv, sie bezahlt nicht alles, nur den Ausgleich dessen, was als Mangel zu gelten hat. Selektivität ist noch keine Exklusion! Man kann immerhin einen Antrag auf Revision stellen oder einer solchen unterzogen werden. Exklusion liegt vor, wenn wir es mit ad a) Rationierungen im Gesundheitswesen zu tun haben. „Gesundheitsleistungen rationieren bedeutet, Patienten eine wirksame Behandlung vorzuenthalten.“ (Smith 1998: C-1753) Das Ungeheuerliche an der Meinung, dass Menschen über 80 Jahren keine künstlichen Hüften mehr zugestanden werden sollen, liegt unter anderem in der Tatsache, dass deren Bedürftigkeit keineswegs bestritten wird. Rationierung besagt: Anerkennung der Bedürftigkeit bei gleichzeitiger Verweigerung gerechter Zuteilung der Güter der Gesundheitsversorgung. Der Rationierung entgegen steht der gesamte Diskurs der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und des Sozialstaates! Aber Gerechtigkeit bedarf dennoch der Überprüfung. Exklusion liegt vor, wenn wir es mit ad b) dem Ausschluss sinnkonstitutiver Momente des Erlebens von Versorgung durch den Prozess der Versorgung selbst zu tun haben. Pflege ist keine eigenständige Tätigkeit, sondern Teil der Sorgestruktur der alltäglichen Lebensführung. Das Verständnis von gesundheitsbezogener Pflege, die unter anderem von ausgebildeten Pflegekräften verrichtet wird, setzt ein Verständnis von Pflege, welches aus Sicht der Philosophie formuliert wird, vor-
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aus. Die Bestimmung der Pflegebedürftigkeit geht in der Regel von sog. Aktivitäten des täglichen Lebens aus (Henderson, Roper, Krohwinkel, SGB XI). Gesundheitsbezogene Pflege hat unter anderem die Aufgabe, Patienten und pflegebedürftige Menschen bei der Durchführung des Alltagslebens zu unterstützen. Zu diesem Zweck werden Aktivitäten des täglichen Lebens identifiziert und definiert, die Anlass und Ansatz für gesundheitsbezogene Pflege sind. Der Übergang von der Pflege als Teil der alltäglichen Sorgestruktur zur professionellen und gesundheitsbezogenen Pflege ist der Übergang von der Normalität des Alltags, in der einzelne Tätigkeiten wie sprechen, waschen, singen, joggen, schminken, helfen, putzen, feiern, kochen und entsprechende Stimmungen gar nicht definitiv voneinander unterschieden sind, zu identifizierten Aktivitäten des täglichen Lebens. Letztere verweisen auf erstere. Allerdings: jene, also die Gemengelage des Alltags, ist insgesamt und in ihrer Fülle nicht relevant für die Bestimmung der Tätigkeiten, die die Pflegebedürftigkeit ausmachen und somit Anlass für gesundheitsbezogene Pflege sein können. Wenn nicht der gesamte Alltag mit seinem Tun, Leiden und seinen Stimmungen zur Festlegung von professioneller Pflege und Pflegebedürftigkeit relevant ist, sondern nur einzelne Tätigkeiten – welche sind es dann und warum diese und keine anderen? Selbst wenn man, wie wir es getan haben, die Tradition der griechischen Diätetik und der römischen Stoa mit ihrer jeweils überlieferten Anzahl von Aktivitäten heranzieht, „bleibt eine gewisse Beliebigkeit.“ Es findet sich keine erschöpfende „Begründung, warum gerade diese Anzahl und Art von Aktivitäten gewählt wurde“ (Halek 2003: 18). Es geht hier um die Form des Prozesses, durch die der Unterschied zwischen Sorge und professioneller Pflege hervortritt. Die Form ist Selektivität und bewirkt, dass es keine zureichende Begründung dafür gibt, warum gerade Aktivitäten und warum gerade diese und keine anderen als maßgeblich anzusehen sind. Die Form der Selektivität verursacht Exklusivität! Es werden viele Geschehnisse, die Menschen im Alltag wichtig sind, zur Bestimmung von Pflegebedürftigkeit gar nicht herangezogen. Aktivitäten werden aus ihrem sinnstiftenden Kontext gelöst. Aktivitäten werden zu sinnlosen Basishandlungen. Ein Mensch führt einen Löffel zum Mund eines anderen Menschen – was geschieht hier? Jemand sorgt dafür, dass ein anderer Mensch satt wird? Ist das Sattwerden dann das Worumwillen der Unterstützung. Oder geschieht hier etwas anders: jemand reicht jemandem Nahrung an – ist dann der erfüllte Tatbestand des Anreichens das Worumwillen der Unterstützung? Entscheidend ist, dass die Herauslösung der unterstützenden Verrichtungen aus dem sinnstiftenden Kontext alltäglicher Ziele, diese Fragen unbeantwortbar macht und die Unterstützung vom bedürftigen Menschen als sinnlos erfahren wird und natürlich vom Pflegenden selbst auch. Dass Speisen nicht mit dem Anreichen eines Löffels identisch
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ist, bleibt diesem nicht verborgen. Hier liegt eine Exklusion zu Lasten kranker Menschen vor, die ethisch bedeutsam ist. Herr Malone frühstückt! Das heißt: er kocht den Kaffe, toastet das Brot, füttert die Katzen, dreht das Brot um, hört Radio, holt die Zeitung, notiert etwas auf dem Einkaufszettel, sieht nach, ob die Schuhe noch geputzt werden müssen, kämmt kurz die Haare, geht auf den Balkon und riecht die Luft, kommt zurück in die Küche, ermahnt die Katzen, nicht die Wurst zu stehlen, sitzt, steht wieder auf, gähnt, beisst in das Brot, isst das Ei, führt die Tasse, nein nicht zum Mund, denn die Milch fehlt noch, nicht vergessen, denkt Herr Malone, die Schwester in New York anrufen, und schmatzt .... in diesem Prozess, der den Titel trägt „Herr Malone frühstückt“ und der gar keine Aneinanderreihung von Einzeltätigkeiten ist, wie es die schriftliche Sprache mit ihren einzelnen Sätzen suggeriert, die eigentlich alle auf einmal gesagt werden müssten und nur der Sprachordnung halber nacheinander gesagt werden, geht eines in das andere über. Frühstücken ist alles! Man verrichtet keine Einzeltätigkeiten, sondern man frühstückt. Aus wieviel Einzelhandlungen besteht das Frühstücken? Wann fängt eine Handlung an? Und wann ist sie beendet? Wie lange dauert sie? Diese Fragen sind für das sinnhafte Erlebnis „Frühstücken“ unwichtig! Wenn Herr Malone pflegebedürftig wird, erhält er Unterstützung, die er im Alltag benötigt. Diese unverzichtbare Unterstützung blendet aber den sinnstiftenden Kontext aus und reduziert das schon von James Joyce beschriebene Abenteuer „Frühstücken“ auf: Anreichen von Nahrung auf einem Löffel! Weil niemand die Katze am Ohr zieht, hat Herr Malone auch keinen Hunger mehr. Aber das ist egal, sofern es auf das Anreichen der Nahrung ankommt und der Bodymass-Index noch zufriedenstellende Werte anzeigt! Die Form macht aus Handlungen Körperbewegungen, die ihren Sinn, den sie durch Ziel und Kontext erhalten, verlieren. „Unverständliche Handlungen sind gescheiterte Anwärter auf den Status einer verständlichen Handlung.“ (MacIntyre 1987: 279f) Die Formierung der Handlung durch die ethisch problematische Exklusion des Kontextes und damit der Möglichkeit für den pflegebedürftigen Menschen, das Löffelanreichen als sinnvoll zu erfahren, hat den Systemvorteil, dass Handlungen exakt berechenbar sind. Die Exklusion macht, dass Pflegehandlungen einen „zu beobachtenden Anfang und ein ebensolches Ende haben.“ (Bartholomeyczik et al. 2001: 168). Die berechenbare Zeit kann in Geld und gerechte Verteilung umgesetzt werden. Was kosten 5 Minuten Löffel anreichen? Soll Herr Malone 2x 5 Minuten erhalten? Das Assessmentinstrument zur Einschätzung von Pflegebedürftigkeit ermöglicht eine Antwort, die Herrn Malone zum Kunden werden lässt und eine Freundschaft mit der ihn versorgenden Person ausschließt (vgl. Schnell 2006d).
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Die Pflegeperson ist kein Freund mehr, sondern ein Dienstleister. Gleichwohl existiert ein Überschuss alltäglicher und ethisch relevanter Sorge gegenüber der definierten, dokumentierten, zeitlich bemessenen und bezahlten Pflegetätigkeit. Und was passiert, wenn Herr Malone nach dem objektiven Ende des Essenanreichens sich traurig fühlt und noch etwas reden möchte? Es besteht die Gefahr, dass der Pflegeperson nun nach Ablauf ihrer Zeit zugemutet wird, entweder einfach zu gehen oder unentgeltliche Mehrleistungen erbringen zu sollen (vgl. Bosch et al. 2002). Geht sie, hat Herr Malone morgen noch weniger Hunger, bleibt sie und hört zu, tut sie es als Privatperson. Kann Gerechtigkeit auch ungerecht sein? Wir stehen vor einer paradoxen Situation: die formale Ebene ist unverzichtbar, weil sie auf die Exklusionen der materialen Ausrichtung in der Freundschaft und der Familie reagiert; sie ist zugleich problematisch, da sie neue Exklusionen anderswo hervorruft! Die Bestimmung der Gerechtigkeit im Hinblick auf die Pflegebedürftigkeit ist exklusiv, da sie sinnkonstitutive Momente aus dem Geschehen der Versorgung ausschließt. Kann Gerechtigkeit auch anders sein?
15 Vertiefung der Gerechtigkeit: Die Gabe und das personbezogene Budget Würde konstituiert sich in der Begegnung. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Dimension gerechter Verteilung konkretisiert sich die Begegnung als Aushandlung. Eine Aushandlung um die sinnhafte Verteilung und Realisierung der Güter der Gesundheitsversorgung zwischen dem pflegebedürftige Menschen und den Versorgungsanbietern. Aushandlungen sind ohne Zweifel ein Geschäft der Reziprozität. Wird mit dieser These nicht die exklusive Logik der Reziprozität wieder eingeführt, die wir der Freundschaft zuvor zur Last gelegt haben? Reziprozität ist unvermeidlich in der Freundschaft und in der Aushandlung. Ja: die Freundschaft ist eine Aushandlung! Und was passiert mit Menschen, die an der Aushandlung nicht aus eigener Kraft teilnehmen können. Sind sie ohne Güter der Gesundheitsversorgung, ohne Würde, ohne Begegnung? Die entscheidende Annahme lautet: Aushandlung ist Reziprozität, aber nicht nur. Sie lässt eine Andersheit in Form einer Ausnahme von der Reziprozität zu. Die Ausnahme realisiert in der materiellen Form des ‚personbezogenen Budgets‘. Seine Möglichkeit erweitert die Gerechtigkeit um eine als sinnhaft erfahrene Gabe von Gütern der Gesundheitsversorgung. In der Philosophie ist es der aus der Ethnologie stammende Begriff der Gabe (frz.: le don, engl.: gift), der eine Beziehung beschreibt, die nicht nach der
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Logik strenger Reziprozität verläuft, da in ihr jemandem gegeben wird, ohne eine Gegen- oder Rückgabe zu erwarten. Die Gabe lohnt sich nicht, sie ist kein Geschäft. Eine bloße Verteidigung der Gabe läuft jedoch ins Leere, wenn sie gegen jede Form von Ökonomie aufgeboten wird. Sie erscheint dann als sinnlose Verschwendung. Dieser Möglichkeit wollen wir hier nicht nachgehen. Interessanter wird das Motiv der Gabe nämlich, wenn es mit der Reziprozität, also der Logik, dass das Geben und eine Gegengabe impliziert, zusammen gedacht wird. Die Gabe ist dann ähnlich einem Geschenk oder der Vergebung als Überschuss über die Ökonomie der Gerechtigkeit zu verstehen (vgl. Schnell 2001a, dort Sachregister Stichwort „Gabe (anökonomisch)“). Die Gabe ist wichtig, da es ohne sie keine Ökonomie geben kann. Fortgeschrittene Wirtschaftswissenschaften haben längst die Bedeutung der ‚Investition‘ als einen Vorschuss an Vertrauen, der nicht unter das Nutzenkalkül fällt, erkannt. Wer verdienen und reich werden will, darf nicht an sich selbst denken! Paul Ricoeur spricht von „Paradoxien von Gabe und Gegengabe“ in der „Logik der Gegenseitigkeit.“ (Ricoeur 2006: 282) Die europäische Kulturgeschichte enthält zahlreiche Zeugnisse von Visionen einer Gesellschaft, die die Paradoxien von Gerechtigkeit und Gabe positiv miteinander zu verbinden vermochten. William Shakespeares Kaufmann von Venedig und Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung aus dem Serail sind Zeugnisse dessen. Wir suchen hier keine Großvisionen, sondern nur eine Möglichkeit, die unvermeidliche Logik der Reziprozität in der Verteilung der Güter der Gesundheitsversorgung zugunsten einer Andersheit zu erweitern, die darin besteht, sich an dem zu orientieren, was eine Person als sinnhaft erfährt, ohne dass diese Erfahrung durch allgemeine Regeln oder einen common sense legitimiert wäre. Wir interpretieren das sog. personbezogene Budget in dieser Hinsicht. Menschen, die aus der Familialen Sorge herausfallen, können den Sozialstaat in Anspruch nehmen: es kommt zu einer, im Hinblick auf die Güter der Gesundheitsversorgung verteilungsrelevanten Einschätzung von Pflegebedürftigkeit, Krankheit oder Behinderung. Und daraufhin zu einer kompensatorischen Leistung durch Dienstleitungen und Sachmittel. Die Vergütung nach Verrichtungen im Rahmen bestimmter Zeitkorridore und somit die Verrichtungen selbst schaffen neue Probleme der Exklusion! Es kommt zu Fragmentierungen von heilberuflichen Tätigkeiten und in Folge dessen für den bedürftigen Menschen zu einem Lebenswelt- und damit zu einem Sinnverlust! Die Exklusion besteht darin, dass das Selbst des Patienten in die Unterstützung nicht einbezogen ist. Selbstsorge ohne Selbst! Die Idee des Projektes eines „personbezogenen Budgets“ besagt nun, dass die für pflegerische Versorgung zur Verfügung stehenden Gelder aus den Zuteilungen gemäss der Sozialgesetzbücher (V, IX, XI) zusammengeführt werden, so
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dass eine flexible Leistungserbringung innerhalb ebenso flexibler Zeitkontingente möglich wird (alle nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf den Projektbericht von Büscher et al. 2005). Der Leistungsempfänger soll sich mit dem ihm zugeteilten finanziellen Budget Unterstützung bei Pflegediensten einkaufen. Entscheidend ist, dass das, was mit dem Geld in der Zeit der Unterstützung geschieht, was also als Pflege gilt, nicht in einem Katalog vorgeschrieben ist, sondern zwischen den beteiligten Personen ausgehandelt wird. Von diesen selbst, unter Einbeziehung informeller Helfer, die die Anliegen des pflegebedürftigen Menschen als Fürsprecher unterstützen. Damit wird ein Ausweg aus der Exklusion durch eine Inklusion des Selbst eingeleitet. Das Pflegeverständnis löst sich von dem durch die Form geprägten Modell der Einzelverrichtungen und orientiert sich stattdessen an der Komplexität individueller Bedürfnisse. Darin ist ein Rekurs auf die Freundschaft und die Familiale Sorge zu sehen. Und zwar im Sinne einer Einführung der Form in die Materie, die etwas anders ist als die formlose Materie, wie sie in der Argumentation vor der ‚ersten Zwischenbetrachtung‘ bestand. Die ATLs werden nicht formell erweitert, nicht im Sinne der diskutierten Klassifikationen noch mehr universalisiert, sondern geöffnet und offen gelassen. Das Ende des Formalismus auf der Höhe der Formalität! Die auf den alltäglichen Sinnhorizont einer individuellen Person und ihrer familiären Situation zugeschnittene, weil entsprechend ausgehandelte Versorgung und Unterstützung erfordert von den Pflegekräften auch die Kompetenz der Aushandlung und Beratung. Das ist nur ein Aspekt einer grundlegenden Neuerung: die Bestimmung der ATLs wird individualisiert (a) und interpersonal ausgehandelt (b)! Pflegekräfte und informelle Helfer entwickeln folgende neue Aushandlungskompetenzen (ad b): „Beziehungsstrukturen erkennen und aufbauen“, „Gestaltung von Alltagsnormalität“, „Versorgungsalternativen vorschlagen“, „Konflikte steuern“, „Ressourcen mobilisieren“, „Sicherheit vermitteln“, „Beratung durchführen, wie das Budget hinsichtlich der persönlichen Bedürftigkeit ausgerichtet sein kann“ usw. Die Liste kann so oder anders sein. Sie ist wesensmäßig offen. Die Familiale Sorge gebiert im Licht der flexiblen Form der Gerechtigkeit neue alltagsrelevante Tätigkeiten, Bedürfnisse und Stimmungen (ad a): „Patienten haben Wunschtage, an denen sie ganz und gar bestimmen, was zu geschehen hat“, „bedürfnis- und bedürftigkeitsorientierte Hilfe orientiert an Sinnzusammenhängen, Mahlzeiten während eines Jahres sind nicht identisch mit 365 Darreichungen von Nahrung“, „Tagesschwankungen des Patienten wird individuell
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begegnet“, „formelle und informelle Hilfestellungen werden integriert“. Dieser Sinnzuwachs ist die Einlösung der Inklusion! Der Sinnzuwachs ist elementar abhängig von der veränderten Zeiterfahrung. Pflegende wie pflegebedürftige Menschen geben an, im Lichte des personbezogenen Budgets ‚mehr Zeit‘ zu haben, was objektiv, also nach der gemessenen Zeit, nicht stimmt. Wenn 60 Minuten jedoch individuell gestaltet werden können und nicht einen abzuarbeitenden Katalog vorsehen, werden sie offensichtlich zu mehr als 60 Minuten. Mehr heißt: in der Zeit wird etwas getan, was von allen als sinnvoll erfahren werden kann. Dem Sinnzuwachs folgt der ethische Zuwachs! Die angestrebte Inklusion betrifft nicht nur das Selbst der pflegebedürftigen Person, sondern auch die Situation der Pflegenden. Es können nun abgerechnete und tatsächlich erbrachte Leistungen als identisch dargestellt werden. Der formale Leistungskatalog erlaubt hingegen hauswirtschaftliche Versorgung zweimal pro Woche. Ist sie häufiger nötig, wird sie realisiert, aber in der Abrechnungsdokumentation anders (d.h. falsch) deklariert. Pflegende sind zudem nicht mehr unbedingt der ethischen Zumutung ausgesetzt, nach Absolvierung der Leistungen des Leistungskataloges die Wünsche des Patienten nach Geselligkeit stets zurückweisen oder wesentlich in der eigenen Freizeit erfüllen zu müssen (vgl. Schnell 2005g). Individuell heißt: es kann an einem Tag mehr kommunikative Begleitung als an einem anderen erforderlich sein. Wie immer es ist, es ist vom Budgetsystem her möglich. Das personbezogene Budget steht im Zeichen der Gerechtigkeit und ermöglicht der Familialen Sorge eine flexible Gestaltung, die das familiäre Settung, der formale Leistungskatalog und die beide zusammen nicht oder nur kaum zu realisieren vermögen. Familiale Sorge ist keine Privatangelegenheit im Verborgenen, sondern gesellschaftlicher Auftrag der Inklusion kranker und pflegebedürftiger Menschen (vgl. Klie/Spermann 2005).
16 Familiengesundheitspflege als künftiger Rahmen zur Vertiefung von Verteilungsgerechtigkeit Die Gabe des personbezogenen und damit individuellen Budgets ist eine ethisch relevante Antwort auf die Exklusion des Selbst, welche die lediglich formelle und an ATLs orientierte Definition von Pflegebedürftigkeit und eine entsprechende Zuteilung von Gütern der Gesundheitsversorgung hervorrufen. Die Aushandlungen um den Einsatz des individuellen Budgets geschehen in der Lebenswelt, dem Alltag, in der Freundschaft, in der Familie. Dieser Rekurs der Form auf die Materie erfordert es, den konkreten Kontext der Realisierung der Gabe
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des Budgets näher zu bestimmen. Unsere entsprechende These lautet: das Konzept der Familiengesundheitspflege ermöglicht den ethisch geeigneten Kontext für die Realisierung des individuellen Budgets. Der entsprechende Kontext wäre die Familiale Sorge, allerdings nicht mehr in der naiven Form, sondern eine Familiale Sorge auf der Höhe aller denkbaren ethischen Formen. Mit dieser These knüpfen wir an die Ausführungen in Kapitel 2b an, wo unter dem Stichwort „Die Angehörigen und die Familie“ das Konzept des Nursing of Families im Ausgang von der alten Institution der Gemeindeschwester bereits erwähnt worden ist. Kriterien und Eigenschaften der Familiengesundheitspflege:
Familiengesundheitspflege bezieht sich auf auf das System der Familie. Die klassische Kernfamilie, die auf eine Ehe gegründet ist und Verwandte hervorbringt tritt allmählich in den Hintergrund zugunsten eines kulturellen und postbiologischen Begriffs der Familie (vgl. Gehring et al. 2001: 22f). Familienorientierte Pflege „hat ihren Ausgangspunkt in der Annahme, dass im Falle von Krankheit, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit nicht nur die betroffenen Menschen diese Situation bewältigen müssen.“ (ebd.: 232) Als Familie erscheinen die Potenziale „lebensweltlicher Hilfe“ (ebd.: 233), die auf die Bedürftigkeit von betroffenen Menschen eingehen.
Die Familie auf der Höhe aller denkbaren ethischen Formen zu diskutieren, heißt, sie als Ort der Gabe zu betrachten. Diese Betrachtung ist nicht einfach eine empirische Einschätzung, sondern vor allem eine kontrafaktische. Wir tun so, als ob die Familie alle Formen erfüllen würde, um Raum für die Imagination neuer Versorgungsmöglichkeiten zu schaffen. Diese Unterstellung ist damit keine bloße Wunschvorstellung, sondern die „wohlbegründete Fiktion“ (Bourdieu 1998: 128) eines Jenseits der Ökonomie der Reziprozität. „Als ein Universum, in dem die normalen Gesetze der ökonomischen Welt aufgehoben sind, ist die Familie eine Stätte des Vertrauens und des Gebens – im Gegensatz zum Markt und zum do ut des – oder, um mit Aristoteles zu reden, der philia, ein Wort, das oft mit Freundschaft übersetzt wird, aber eigentlich das Absehen von Berechnung bedeutet; der Ort, wo das Interesse im engeren Sinne, also das Streben nach Äquivalenz im Tauschverkehr, aufgehoben ist.“ (ebd.: 127) Diese gleichsam ethisch relevante Fiktion ist gegeben, weil von Akteuren kontrafaktisch so getan wird als ob die Familie auf ihre Bedürftigkeit eingeht, obwohl die Familie faktisch ein Ort der Gewalt sein könnte (vgl. Dahmer 1982: 376ff). Die Familiengesundheitspfleger denken jede Familie von deren optimalen Möglichkeiten her. Ihre Aufgabe ist die „Unterstützung und Mobilisierung der lebensweltlichen Hilfe“(Gehring et al. 2001: 233) im Hinblick auf:
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Individuen der Familie (z.B. den kranken Vater), Interpersonalitäten der Familie (z.B. die Beziehung zwischen krankem Ehemann der Ehefrau), das Gesamtsystem der Familie (z.B. die Interaktionen zwischen Ehemann/ Vater, Mutter/Ehefrau, Kindern und Nachbarn).
Nehmen wir beispielsweise an, der Mann in der Familie litte unter einer Krebserkrankung. Sie bedeutet Veränderungen und Belastungen für den Mann, für die Beziehung zwischen Mann und Frau zu den Kindern und dem Umfeld. Die Belastungen sind je unterschiedlich. Männer neigen vielleicht zu Depressionen, Frauen erwarten jedoch, dass der Mann seine Situation offen anspricht, Kinder ängstigt die ungewisse Gewissheit über den nahen Tod eines Elternteils, Nachbarn wissen nicht, wo und wie sie helfen können, ohne sich störend einzumischen. Die Family Nurse befähigt die Menschen, die in der Familie den Sorgezusammenhang bilden, mit der Situation zurecht zu kommen. Zu ihren Tätigkeiten zählt auch die Beratung, wie die Leistungen des personbezogenen Budgets individuell einzusetzen wären. Ethisch entscheidend ist auch hier, dass selbst das individuell definierbare Budget immer nur einen gerechten Ausgleich und Unterstützung innerhalb eines gelebten Lebens bieten kann und keinen vollwertigen Ersatz für lebensweltliche Hilfspotentiale. Insofern ermöglicht die Familiale Sorge auf der Höhe der Offenheit des personbezogenen Budgets und der Organisationsethik der Familiengesundheitspflege eine Utopie der Gerechtigkeit!
17 Eine Utopie – wie die Zukunft aussehen könnte! 7 Uhr. Frau Tegtmeier, Family Health Nurse in Stahlhausen, einer Stadt im Ballungsgebiet des westdeutschen Ruhrgebiets, fährt zu ihrem Arbeitsplatz. Seit zwei Jahren arbeitet sie im Team Familiengesundheitspflege am Gesundheitsamt von Stahlhausen. Die Dienste der Familiengesundheitspflege sind vor einigen Jahren eingeführt worden, nicht nur in Stahlhausen, sondern auch vielen anderen Städten. Die Veränderung der Finanzierung in den Krankenhäusern, die nun über DRGs abrechnen, hatte vor Jahren bereits zur Folge, dass Betten abgebaut wurden und Patienten eine kürzere Liegezeit hatten. Da das damals existierende System der ambulanten Pflege nicht in der Lage war, die daraus resultierenden neuen Aufgaben im ambulanten Sektor vollständig zu erfüllen, kam es aufgrund politischer Initiative zum Ausbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Differenzierte Bedarfsanalysen zeigten, dass vor allem familienbezogene Versorgungskonzepte
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der Entwicklung bedurften. Die ehemals eingerichteten Koordinierungsstellen im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung konnten hier ebenso erfolgreich angegliedert werden wie die Wohnberatung. Frau Tegtmeier hatte, wie viele andere gelernte Krankenschwestern und pfleger, im Zuge dieser Veränderungen die Weiterbildung zur Family Health Nurse absolviert, die von der Universität Willhausen angeboten wurde. Viele Ausbildungen in den Gesundheits- und Sozialberufen sind inzwischen ganz oder teilweise an Hochschulen angesiedelt. Am Arbeitsplatz im Stadtteilbüro des Gesundheitsamtes angekommen, hört Frau Tegtmeier den Anrufbeantworter ab. Die gespeicherten Nachrichten beziehen sich auf die drei Termine, die Frau Tegtmeier heute beschäftigen. Der erste Termin führt sie ins Rathaus zum Bürgermeisterbüro. Im Süden von Stahlhausen soll ein neues Siedlungsprojekt entstehen. Frau Tegtmeier gehört zum Planungsteam, das, unter der Leitung des Bürgermeisters, heute darüber berät, wieviel altengerechte Wohnungen und wieviel Wohnungen für Familien mit Kindern das Siedlungsprojekt umfassen soll. Der Vertreter des Tiefbauamts stellt dementsprechend Pläne für die Straßenführung, die Bordsteinhöhe und die Anlage von Geländern vor. Der Vertreter der örtlichen Werbegemeinschaft signalisiert das Interesse zahlreicher Geschäftsleute, im Siedlungsbereich Einzelhandel und Cafés einzurichten. Frau Tegtmeier wird beim nächsten Treffen des Planungsteams über das Projekt Siedlungshilfe referieren, dessen Idee es ist, dass jeder Bewohner der Siedlung Frau Tegtmeier mitteilt, welche Hilfe und Unterstützung er geben und welche er benötigen würde. Frau Tegtmeier trägt alle Informationen in einer Datenbank zusammen, die aussagt, wer Mitfahrten im Auto anbietet bzw. benötigt, wer Gartenarbeit verrichtet bzw. wünscht, wer Kinderbetreuung anbietet bzw. sucht, wer Miteinkäufe tätigt bzw. ihrer bedarf usw. Der zweite Termin ist ein Hausbesuch. Es geht um eine Beratung im Einsatz des personbezogenen Budgets im Falle der Familie Finn. Das Ehepaar, die 15jährige Tochter und die Mutter der Ehefrau leben in einem Haus. Herr Finn leidet seit zwei Jahren an einer Krebserkrankung. Mittlerweile arbeitet er nicht mehr, die erkrankungsbedingten Leiden haben seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erheblich eingeschränkt, eine Depression tritt hinzu. Herr Finn sitzt zu Hause. Die Familie, vor allem aber Frau Finn, ist zu dem Entschluss gelangt, dass „es so nicht weiter gehen könne.“ Der Antrag auf personbezogenes Budget wurde von der Koordinationsstelle für Trägerübergreifende Leistungskoordination bewilligt. Versehen mit dem Hinweis, Kontakt zu einer Family Health Nurse aufzunehmen. Frau Tegtmeier will die Familie Finn besuchen, um zahlreiche Punkte zu klären, damit sicher gestellt ist, dass das personbezogene Budget die individuelle Vertiefung der sozialen Gerechtigkeit bewirken kann.
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Es geht Frau Tegtmeier zunächst darum, auszuhandeln, in welcher Weise Familie Finn Hilfe benötigt. In der Aushandlung werden einige durchaus kritische Punkte zu klären sein: die Artikulation der individuellen Bedürfnisse aller Familienmitglieder, die Einsicht in die Struktur der Familie (wer ist die integrierende Person?), die Koordination der Erwartungen an die Hilfestellung durch die Familiengesundheitspflege, die Identifizierung der Mitglieder Pflegefamilie. Die Schwiegermutter und die 15 jährige Tochter kommen dafür wohl nicht primär in Frage, statt dessen Frau Finn, eine Nachbarin und vermutlich ein ehemaliger Arbeitskollege von Herrn Finn. So hat es das Vorgespräch ergeben. Herr Finn gehört zu den pflegebedürftigen Personen, denen das personbezogene Budget mehr gerecht wird als das alte, an Verrichtungen und abrechenbaren Zeiteinheiten orientierte Modell der Pflegeversicherung. Der Vorteil des Budgets ist der Sinnzuwachs. Eine Stunde hat 60 Minuten und nicht 6 x 10 Minuteneinheiten für jeweils andere Verrichtungen. Die Tagesstrukturierung ist einfacher, flexibler und bedarfsorientierter. Ihren Sinn kann die ganze Familie nachvollziehen. Der dritte Termin führt Frau Tegtmeier zur örtlichen Fachhochschule. Sie will dort eine Studentin treffen, die eine Bachelorarbeit zum Thema Familiengesundheitspflege als Instrument politischer und sozialer Gerechtigkeit im Licht der Konzepte der WHO schreibt. Frau Tegtmeier ist Zweitbetreuerin und will mit ihrer Studentin über die Fortschritte der Arbeit sprechen (Utopie nach: Gehring et al. 2001: 245ff).
18 Zusammenfassung Der im Versuch der Bestimmung gerechter Verteilung von Gütern der Gesundheitsversorgung enthaltene Begriff der Verteilung bedeutet: a) jemand hat Anteil an gesellschaftlicher Solidarität und zugleich b) jemandem steht ein Anteil zu und zwar im Falle seiner eigenen Bedürftigkeit. Die Bestimmung von Bedürftigkeit durch Assessments und Klassifikationen im Hinblick auf epidemiologische Daten zur politischen Gestaltung von Gesundheitsversorgung ist die Realisierung von sozialer Gerechtigkeit für die individuelle Person. Diese Gerechtigkeit wird jedoch ungerecht, wenn sie exklusive Formen der Verteilung zum Einsatz bringt. Exklusiv ist eine Form, die auf problematische Weise unvollständig ist, weil sie wichtige Elemente, die zum verteilten Gut gehören, ausschließt. Zwar gibt es Unterstützung bei den ATLs, aber ohne Sinn für Herrn Malone! Auf diese Sachlage antwortet die quasi visionäre These: das Instrument des personbezogenen Budgets ermöglicht eine Aufhebung dieser verteilungsbeding-
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ten Ungerechtigkeit durch eine weitere Vertiefung von Verteilungsgerechtigkeit für die individuelle Person. Dieses Instrument käme zur vollen Entfaltung, wenn es zum Beispiel in den Kontext einer Familiengesundheitspflege eingebettet wäre. Eine solche Einbettung kann derzeit nur als Vision beschrieben werden. Immerhin!
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Geschlechterungleichheiten in der Pflege Gertrud M. Backes, Martina Wolfinger und Ludwig Amrhein
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Einführung1
Die Pflege alter Menschen rückt immer stärker in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung und der politischen Diskussion. Dabei stehen Fragen der Finanzierbarkeit und der pflegefachlichen Weiterentwicklung im Vordergrund, wohingegen über Geschlecht vermittelte soziale Ungleichheiten kaum diskutiert werden. Eine Verbindung von Gerontologie mit Perspektiven der Geschlechterforschung und Pflegewissenschaften scheint uns deshalb für eine tiefer gehende Analyse des Pflegefeldes äußerst sinnvoll und Erkenntnis fördernd zu sein. Die Diskussion des aktuellen Forschungsstands zur sozialwissenschaftlichen Verknüpfung von Geschlecht, Alter(n) und Pflegebedürftigkeit (Kap. 2) soll die Grundlage für das weitere Vorgehen schaffen. Hier betrachten wir die Pflege alter Menschen als Ausdruck einer geschlechterspezifischen Vergesellschaftung über den ganzen Lebenslauf (Kap. 3). Die beständige Herstellung und Aufrechterhaltung von Geschlecht als soziale Klassifikation und kulturelles Muster ist ein biographischer Prozess, der sich über den ganzen Lebensverlauf und Alternsprozess hinweg vollzieht. Dieser „gendered process“ muss daher in eine Analyse der Pflegebedürftigkeit (Kapitel 3.1) und der Pflege (Kapitel 3.2) integriert werden. Hier manifestieren sich neue und alte Risiken in Form geschlechtsvermittelter „hierarchisch komplementärer“ Lebensverhältnisse (Backes 1999; Kap. 3.3). Geschlechterungleichheiten im sozialen Feld der Altenpflege (Kap. 4) zeigen sich auf der sozialstrukturellen und normativen Ebene, wo Geschlechterhierarchien stabilisiert und verstärkt bzw. abgebaut werden (Kapitel 4.1). Auch auf der institutionellen und interaktionalen Ebene werden geschlechtsspezifische Zuschreibungen wirksam und bedürfen einer genaueren Untersuchung hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Lebenslagen der Pflegenden und pflegebedürftigen Menschen (Kapitel 4.2). Vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse betrachten wir abschließend die Entwicklungsperspektiven einer geschlechtersensiblen Altenpflege (Kapitel 5). 1 Der Beitrag basiert auf Ausführungen der AutorInnen in Backes (2005), Wolfinger (2006) und Amrhein (2005). Jacqueline Höltge und Cosmo M. Dittmar-Dahnke vom Zentrum Altern und Gesellschaft der Hochschule Vechta – Universität (Lehrstuhl Backes) danken wir für ihre Unterstützung.
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Forschungs- und Diskussionsstand zu Geschlecht, Alter(n) und Pflege
Zunächst sollen die Geschlechterverhältnisse bei den Pflegebedürftigen und den Pflegenden im Feld der Altenpflege betrachtet werden. Die Wahrscheinlichkeit von Pflegebedürftigkeit betroffen zu sein, steigt mit dem Lebensalter deutlich an. (vgl. Statistisches Bundesamt 2007: 13). Ende 2005 wurden in Deutschland über 68% der insgesamt rund 2,13 Mio. Pflegebedürftigen ambulant versorgt, wobei diese Quote in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken ist. Dabei sank der Anteil der zu Hause Versorgten von 71,6% (1999) über 69,2% (2003) auf 68,2% (2005) (Statistisches Bundesamt 2007: 4). Im ambulanten Bereich lag der Anteil pflegebedürftiger Frauen 2005 bei 63%, im stationären Bereich bei 77% (Statistisches Bundesamt 2007). Erste Antworten auf die Frage, wer von wem gepflegt wird und wie sich die entsprechenden Zahlen im Zeitvergleich geändert haben, kann die Infratest-Studie zur Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in Privathaushalten (Schneekloth/Wahl 2005) liefern. Anhand dieser Daten lassen sich einige wichtige Zusammenhänge, aber auch vorhandene Lücken, aufdecken. Abbildung 1: Merkmale von Hauptpflegepersonen
(Grafik: ZAG – Höltge; nach Schneekloth/Wahl 2005: 77, 79; Cornelißen 2005: 352)
Häusliche Pflege ist hauptsächlich eine Aufgabe von Frauen (73%), wobei der Anteil der pflegenden Männer im Vergleich zu 1991 von 17% auf 27% angestiegen ist. Alleine der Anteil der pflegenden Söhne hat um 7 Prozentpunkte zuge-
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nommen. Damit stellt neben der Pflege von Partnerinnen die Elternpflege das Haupteinsatzgebiet von pflegenden Männern dar. 64% der Pflegenden befinden sich noch im Erwerbsalter (bis 64 Jahre) und haben folglich in der Regel ihre eigene Alterssicherung noch nicht abgeschlossen. Zunehmend befinden sich die Pflegenden auch in der so genannten „Sandwichsituation“: Eltern werden pflegebedürftig, während die Kinder noch im Haushalt leben. 47% der Pflegenden waren zu Beginn ihrer Pflegetätigkeit in Teil- oder Vollzeit berufstätig. 10% haben ihre Berufstätigkeit aufgegeben, während 11% ihre Arbeitszeit reduziert haben. Ein im Vergleich zu 1991 steigender Personenanteil (von 21% auf 26%) setzt die Berufstätigkeit fort, wobei unklar bleibt, um welche Tätigkeitsformen (z.B. Teilzeit) es sich dabei handelt (Schneekloth/Wahl 2005: 79). 26% der Pflegenden befinden sich im jüngeren Rentenalter (65–79 Jahre), und ein steigender Anteil der Pflegenden (3% in 1991, 7% in 2002) ist selbst hochaltrig (80 Jahre und älter). Den größten Anteil an den häuslichen Pflegekonstellationen hat mit 28% die PartnerInnenpflege. Aufgrund der höheren Lebenserwartung von Frauen und ihres zumeist niedrigeren Alters in Ehebeziehungen ist zu vermuten, dass es meistens die Frauen sind, die ihre Ehemänner pflegen, während die umgekehrte Situation sehr viel seltener sein dürfte. Die Pflege durch Töchter stellt mit 26% die zweithäufigste Konstellation dar. Generell liegt die intergenerationale Pflege (Tochter/Schwiegertochter/Sohn) bei 42%. Nicht verwandtschaftlich geleistete Pflege nimmt mit 8% in Deutschland dagegen eine untergeordnete Stellung ein. Pflege zu leisten erfordert viel Zeit. Nach dem Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) liegen die anerkannten Pflegezeiten in der Pflegestufe I bei 45 Minuten bis unter zwei Stunden und steigen bis zur Pflegestufe III auf mindestens vier Stunden an (laut Gesetz ist hier Anwesenheit rund um die Uhr erforderlich). Sehr viel höher liegt der Zeitumfang, den die Pflegenden selbst für ihre geleistete Arbeit angeben, von durchschnittlich über vier Stunden in Pflegestufe I bis zu knapp acht Stunden in Pflegestufe III. Einen noch höheren Zeitaufwand erfordern kognitiv beeinträchtigte Pflegebedürftige (Schneekloth/Wahl 2005: 78). Die ambulante bzw. häusliche Pflege wird zu 64% als reine Pflege durch Familienangehörige und/oder mit selbst finanzierter Hilfe (Geldleistungen) erbracht. 28% der Pflegebedürftigen erhalten eine Kombination aus privater und professioneller Pflege in der Häuslichkeit (Sach- oder Kombinationsleistungen) und lediglich 8% schöpfen die Sachleistungen (Hilfe durch professionelle Dienste) vollständig aus. Auch in der beruflichen Altenpflege ist der Frauenanteil hoch (86% = 162.988 Personen ambulant und 85% = 401.640 Personen stationär im Jahr 2001; vgl. Pick et al. 2004: 36ff.). Hauptbeschäftigungsformen im ambulanten Bereich sind Teilzeit und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, denn nur
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knapp 1/3 aller dort Beschäftigten sind in Vollzeit tätig. Im stationären Bereich liegt der Anteil der Vollzeitbeschäftigten hingegen bei annähernd 50% (Pick et al. 2004: 18ff.). Im Folgenden wird der Diskussionsstand zu diesem Themenkomplex in der deutschsprachigen Gerontologie nachgezeichnet. Aus den quantitativen demographischen Geschlechterverhältnissen leitet Tews (1993) qualitative Zusammenhänge zwischen Geschlecht und Alter(n) ab. Basierend auf der Tatsache, dass mehr Frauen als Männer von Hochaltrigkeit und damit auch von Pflegebedürftigkeit und damit von sozialen Problemen betroffen sind, wird das Alter(n) und insbesondere das so genannte „Vierte Alter“ (Laslett 1995) als „weiblich“ bezeichnet. Tews (1993) spricht daher von einer „Feminisierung des Alters“. Auch der nachberufliche Übergang von Männern in den „weiblich dominierten“ Raum des privaten und familiären Umfeldes wird unter dem Begriff der „Feminisierung“ zusammengefasst (vgl. Kohli 1990). Diese Argumentation lässt sich auf das Betroffensein von Pflegebedürftigkeit übertragen. Männer werden im häuslichen und stationären Bereich meist von Frauen gepflegt und betreut. Sie stellen also eine quantitative Minderheit in diesen „weiblich dominierten“ AltersRäumen dar. Daraus kann nach Tews (1993) auf die qualitative Benachteiligung von Männern geschlossen werden, die sich beispielsweise in einer mangelnden Berücksichtung ihrer Bedürfnisse bei der Gestaltung von Angeboten zeigt. Weiter wird argumentiert, dass die „Feminisierung“ bzw. „Androgynisierung“ alter Frauen und Männer eine Angleichung der geschlechtsspezifischen Eigenschaften im Alter bedeute (Kohli 1990). Männer entwickeln demnach „weibliche“ Fähigkeiten innerhalb des „weiblich dominierten privaten Raumes“, was als „Androgynisierung“ von Geschlechtsrollen verstanden und auf das Beispiel der von Männern geleisteten Angehörigenpflege übertragen werden kann. Lediglich acht von insgesamt 262 Veröffentlichungen, die in die Bestandsaufnahme zur „Altenpflege in Deutschland“ (InformationsZentrum Sozialwissenschaften 2003) eingeflossen sind, setzen sich explizit mit der Rolle von Geschlecht im Feld der Altenpflege auseinander. Vereinzelt finden sich Veröffentlichungen im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung wie die Beiträge im Schwerpunktheft 2/3-2006 der Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien (einführend Backes/Lasch 2006; Backes/Amrhein/Uhlmann 2006) oder das ins Deutsche übersetzte Grundlagenwerk zu Geschlecht und Pflege von Miers (2001), die sich schwerpunktmäßig auf die berufliche Kranken- bzw. Gesundheitspflege im englischsprachigen Raum bezieht. Weiter gibt es erste Übersichtsarbeiten in der sozialwissenschaftlichen Alternswissenschaft (siehe u.a. Backes 2005). Zusammenfassend lässt sich der Forschungs- und Diskussionsstand zur Verknüpfung von Geschlecht und Pflege im deutschsprachigen Raum als de-
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skriptiv, nicht ausreichend tiefgründig und von blinden Flecken geprägt beschreiben. Dies betrifft sowohl die Untersuchung von Geschlechterverhältnissen in der privaten Pflege als auch in der beruflichen – ambulanten wie stationären – Pflege. Eine Differenzierung nach Geschlecht findet zwar auf quantitativer Ebene statt, aber über Geschlecht vermittelte qualitative Unterschiede für die Pflegebedürftigen und für die Pflegenden bleiben unterbelichtet. Spezifische Aussagen über Zusammenhänge zwischen Geschlecht, Alter, Lebenslage und der Ausgestaltung bzw. den Formen von Pflege und Pflegebedürftigkeit lassen sich auf der Basis des vorhandenen Datenmaterials nicht ohne weiteres treffen. Kaum diskutiert wird, ob und wie Geschlechterhierarchien in der Pflege entstehen, wie sie sich gestalten und durch was sie gestützt, stabilisiert, verstärkt bzw. verändert werden. Erste Ansätze zur Begründung einer „geschlechtersensiblen Altenpflege“ sind bisher bereits von Backes (2005) entwickelt worden. Weitere Arbeiten in dieser Richtung sind aber unbedingt erforderlich, denn Pflege und Pflegebedürftigkeit werden geschlechtsdifferenziert erlebt und die Versorgungsformen sind nach Geschlecht verschieden und ungleich über den Lebens(ver)lauf hinweg verteilt. Die geschlechtsspezifische Vergesellschaftung von Männern und Frauen wirkt bis in die Gestaltung der (Alten-)Pflege hinein und hat konkrete Folgen für Pflegende und PflegeempfängerInnen.
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Geschlechtsspezifische Vergesellschaftung über den Lebenslauf in ihrer Auswirkung auf Pflege
Frauen und Männer sind geschlechtsspezifisch vergesellschaftet, d.h. sie sind vermittelt über die Kategorie Geschlecht in die Gesellschaft eingebunden. Je nach Lebenslage, historischer Zeit und kultureller Prägung bedeutet das für Frauen und Männer unterschiedliche Chancen der Teilhabe an sozialen Räumen und der Zuweisung von sozialen Positionen (Backes 1999). Diese geschlechtsspezifischen Zugangs- und Ausschlussmechanismen führen über den Lebenslauf hinweg (und bis ins Alter hinein) zu einer Kumulation von „hierarchisch komplementären Geschlechterverhältnissen“ (Backes 1999): Geschlechtsspezifische Vor- und Nachteile der Lebenslage entwickeln und verstärken sich über den Lebensverlauf hinweg bis ins Alter(n); sie werden beeinflusst durch biographische Entscheidungen und gesetzliche Rahmenbedingungen: Diese „hierarchische Komplementarität der Geschlechter“ zeigt sich im Feld der Pflege auf spezifische Art, sowohl für die überwiegend weiblichen Pflegenden als auch für die Pflegebedürftigen selbst:
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„Diese Ungleichheitsstruktur schreibt Frauen im Alter und auch bereits im vorangehenden Lebenslauf im Vergleich zu Männern geringere Chancen hinsichtlich erreichbarer Lebensqualität und Beteiligung an gesellschaftlich als relevant definierten Bereichen zu.“ (Backes 2005: 365)
Diese Struktur bewegt sich in einem Kontinuum von noch vorhandenen „alten“ geschlechtsspezifischen Vergesellschaftungsformen und damit „alten“ Risiken und Chancen des Alter(n)s und der Pflegebedürftigkeit, und bereits vorhandenen und für jetzt Pflegende und zukünftig Pflegebedürftige wirksam werdende „neue“ geschlechtsspezifische Vergesellschaftungsformen (ausführlicher Backes 2005: 361; grundlegend Backes 1999). Folgt man Bourdieu (1982, 2005), lassen sich Geschlecht, Alter(n) und Pflegebedürftigkeit als „unterschwellige Anforderungen, als reale und doch nie förmlich genannte Auslese- oder Ausschließungsprinzipien“ (Bourdieu 1982: 176f.) beschreiben. Zweigeschlechtlichkeit erscheint zwar als naturgegeben, basiert aber auf einer subtilen Hierarchisierung. Diese Hierarchie erstreckt sich nicht nur auf die Geschlechtereinteilung nach Mann und Frau, sondern auch auf damit verbundene geschlechtshierarchisch strukturierte soziale Felder, Gegenstände und Tätigkeiten. Alter(n), Pflege und Pflegebedürftigkeit werden eng mit dem weiblichen Geschlecht und dem privaten Raum verknüpft und stehen nachrangig hinter dem öffentlichen Raum der Männer. Das erklärt, warum die direkte Pflege alter Menschen im öffentlichen Diskurs weitgehend tabuisiert wird. Diese Zusammenhänge zeigen sich auf unterschiedliche und noch zu diskutierende Weise (ausführlicher Wolfinger 2006). Zusammenfassend lässt sich sagen: „Erst in einer Analyse der Vergesellschaftungsformen beider Geschlechter und ihrer Verwobenheit, genauer: der hierarchisch komplementär strukturierten, in sozial ungleicher Weise ergänzend aufeinander bezogenen, Geschlechterverhältnisse bis ins Alter hinein liegt der Schlüssel zu einer angemessenen Analyse der (widersprüchlichen) individuellen und gesellschaftlichen Ausprägung und Bedeutung von Geschlecht und Alter(n), auch im Kontext der Pflege und damit der Begründung einer geschlechtersensiblen Altenpflege“ (Backes 2005: 361).
3.1 Alter(n) und pflegebedürftig als „gendered process“ Geschlecht und Alter sind soziale Konstruktionen, die auch in ihrer Entwicklung über den Lebenslauf hinweg eng miteinander verwoben sind. So wird das Geschlecht alter(n)sspezifisch erfahren, gelebt und gesellschaftlich wahrgenommen. Auch umgekehrt wird Alter(n) geschlechtsspezifisch erfahren und wahrgenommen. „Geschlecht“ als Sozialstruktur und Identitätselement entfaltet auch im
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Alter seine Wirksamkeit, unter anderem in Form von jeweils geschlechtsspezifisch und lebenslagenabhängig entwickelten Gesundheits- und Krankheitsmodellen, manifesten Möglichkeiten und Grenzen des Präventionsverhaltens und vorhandenen bzw. nutzbaren materiellen und immateriellen Ressourcen für den Umgang mit Pflegebedürftigkeit. Die geschlechtsspezifische Vergesellschaftung in Arbeits- und Lebensverhältnisse, die prozesshaft im Lebensverlauf erfolgt, soll in ihrer Auswirkung auf den Zugang zu oder den Ausschluss aus sozialen Positionen und damit auf die Lebenslage analysiert werden. Damit können über Geschlecht vermittelte Machtstrukturen und daraus resultierende spezifische Risiken und Chancen im Alter identifiziert werden, die sich auch mit Bezug auf Pflegebedürftigkeit zeigen. Am Beispiel der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung können diese Zusammenhänge näher beleuchtet werden (siehe ausführlich Backes 2005). Heute alte Frauen und Männer waren über den Lebenslauf hinweg meist über traditionelle Formen von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung vergesellschaftet. Sie zeigt sich in der männlichen Orientierung am so genannten „Normallebenslauf“ bzw. der männlichen „Normalerwerbsbiographie“. Sie ist geprägt durch die Vergesellschaftung über den Beruf und eines davon abhängigen, relativ gesicherten (Renten-)Einkommens. Heute alte Frauen weisen im Vergleich zu gleichaltrigen Männern eine brüchigere Erwerbsbiographie auf. Ihre geschlechtsrollenspezifische Zuständigkeit bezog sich hauptsächlich auf die familiären/privaten Aufgaben. Ihr Einkommen war damit meist auf einen „Zuverdienst“ begrenzt. Eine eigenständige Alterssicherung war dadurch nur eingeschränkt möglich und macht heute alte Frauen von den Renteneinkünften des Mannes bzw. der Witwenrente und staatlichen Sozialleistungen abhängig. Werden heute alte Männer pflegebedürftig, haben sie eine im Vergleich zu Frauen höhere Wahrscheinlichkeit, von ihrer (häufig jüngeren) Partnerin und auch ihren Kindern familiär versorgt zu werden. Ihre materielle Ausstattung ermöglicht einen längeren Verbleib in der Häuslichkeit, weil Hilfen als Dienstleistungen hinzu gekauft werden können. Frauen mit ihrer im Vergleich zu Männern höheren Lebenserwartung sind – verstärkt durch den üblichen Altersunterschied in den Paarbeziehungen – häufiger von Verwitwung und vom Alleinleben im Alter betroffen (Singularisierung nach Tews 1993). Sie können nicht in gleichem Maße wie Männer mit familiärer Pflegeunterstützung rechnen und ihre materielle Lage ermöglicht es ihnen seltener, den Verbleib in der eigenen Wohnung durch den Zukauf von externen Hilfen zu sichern (Backes 2005). Diese beispielhafte Darstellung macht deutlich, dass die geschlechtsspezifische Vergesellschaftung über den Lebenslauf hinweg eng mit der Lebenslage und biographischen Entscheidungen hinsichtlich Ausbildung, Heirat, Berufstätigkeit, Familienarbeit etc. verwoben ist. Daraus resultieren spezifische Chancen
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der Teilhabe an sozialen Positionen und der Entwicklung spezifischer Lebensstile, Kompetenzen, Erwartungen und Aufgabenbereiche. Gemeinsam mit den sozialen Kategorien Geschlecht und Alter wirken die weiteren Dimensionen sozialer Ungleichheit kumulativ bis in das Alter und die Situation der Pflegebedürftigkeit hinein, was eine analytische Trennung der einzelnen Wirkfaktoren deutlich erschwert. Objektive und subjektive Aspekte der Lebenslage wirken geschlechts- und altersspezifisch über den Lebenslauf hinweg und sind in spezifischer Weise abhängig von der Lebenslage, der Kohortenzugehörigkeit und der historischen Zeit. Das zeigt sich unter anderem in den unterschiedlichen Rentenhöhen von ost- und westdeutschen Frauen und Männern (Stand 2003: Frauen in Westdeutschland 417 €, in Ostdeutschland 675 € und Männer in Westdeutschland 879 €, in Ostdeutschland 952 €) (Cornelißen 2005: 445). Heute alte Frauen verfügen in der Regel und im Vergleich zu Männern derselben Lebenslage über eine schlechtere materielle und immaterielle Ausstattung (vgl. Frerichs 2000). Die Vergesellschaftung über den Lebenslauf hinweg hat damit auch einen immanenten Einfluss auf die Möglichkeiten, Grenzen und Gestaltungsspielräume in der konkreten Pflegesituation. Auf der anderen Seite wird auch von spezifischen Benachteiligungen heute alter Männer gesprochen. Dabei liegt der Fokus meist auf dem Übergang in weibliche Vergesellschaftungsformen (siehe Kap. 2). Männer verlieren demnach mit der Berentung ihre als „männlich“ angesehene Vergesellschaftungsweise, die traditionell über Leistung, Berufstätigkeit, außerhäusige Kontakte usw. definiert wird. Basis dieser Argumentation stellt die Höherbewertung des männlichen Sozialraums dar. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass die bereits angedeuteten geschlechtsspezifischen Unterschiede im Alter über den Lebenslauf hinweg entwickelt sind und sich nicht nur auf der materiellen Ebene manifestieren. Sie zeigen sich auch in der den Männern zugestandenen Freiheit von (familiären) Verpflichtungen: Sie können sich meist frei entscheiden, ob sie sich familiär engagieren oder außerhäusigen nachberuflichen Tätigkeiten den Vorrang geben. Frauen sehen sich auch im Alter eher (und so zu sagen „naturgegeben“) in der Pflicht, gesellschaftlich kaum wahrgenommene, da im Privaten stattfindende, familiäre und pflegerische Unterstützungen zu leisten. Diese Sichtweise wird verstärkt und gestützt durch die gesellschaftliche Wahrnehmung und Diskussion der spezifischen Problemlagen älter werdender Frauen und der von ihnen verursachten gesellschaftlichen Belastungen. Aufgrund der häufigeren und längeren Nutzung des Gesundheits- bzw. Sozialsystems scheinen sie höhere gesellschaftliche und soziale Kosten zu verursachen. Die zum größten Teil von Frauen erbrachten sozialen, familialen und privaten Unterstützungsleistungen werden nicht „aufgerechnet“ bzw. berücksichtigt. Dabei erfüllen diese Unterstützungsleistungen wesentliche gesellschaftliche Entlas-
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tungsfunktionen. Auf individueller Ebene bergen sie Folgen für die eigene Gesundheit und die Chance zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit, vor allem dann, wenn die hochaltrige Ehefrau ihren pflegebedürftigen Mann auch dann noch versorgt, wenn es ihr eigener Gesundheitszustand nicht mehr erlaubt. Damit wird die Pflegebedürftigkeit sowohl im Betroffensein davon als auch in der Bewältigung von beruflicher/privater Pflege dem „weiblichen“ Zuständigkeitsbereich zugeordnet. Als „männlich“ werden in der gesellschaftlichen Diskussion nachberufliche Tätigkeitsformen, Potenziale und Ressourcen im Alter wahrgenommen: „Weibliche Ressourcen bleiben auch im Alter privatisiert und damit marginalisiert, männliche haben eher die Tendenz zu einem öffentlichen Charakter, sind sichtbarer und werden höher eingestuft.“ (Backes 2005: 369).
Das Betroffensein von Pflegebedürftigkeit im „vierten Alter“ wird innerhalb der gesellschaftlichen Diskussion geschlechtsspezifisch differenziert wahrgenommen (zur geschlechtsspezifischen Konnotation von Alter(n) und Pflege vgl. Wolfinger 2006: 117ff.). Die hierarchisch komplementären und über Geschlecht vermittelten Machtstrukturen bleiben grundsätzlich im Alter und bis in die Pflegebedürftigkeit hinein erhalten, möglicherweise aber mit abgesenkten oder modifizierten Bedeutungsgehalten (Backes 2005). Der „gendered process“ von Alter(n) und Pflegebedürftigkeit manifestiert sich daher äußerst vielschichtig. Folgende Dimensionen für eine weitergehende theoretische und empirische Analyse lassen sich benennen (vgl. Backes 2005: 368ff.):
Die Beachtung des Kontextes und der institutionellen Rahmenbedingungen, in denen Pflege stattfindet. Sind die Pflegebedürftigen, aufgrund der geschlechtsspezifisch manifestierten Vor- und/oder Nachteile in der Lage, diese ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprechend zu gestalten? Die Beachtung der geschlechtsspezifischen Position, die der pflegebedürftige Mann oder die pflegebedürftige Frau innerhalb des sozialen Feldes der Pflege einnimmt. Vorhandene oder eingeschränkte Gestaltungsspielräume (z.B. hinsichtlich der Versorgungsform) oder auch die Chancen zur sozialen Teilhabe (z.B. durch den Kontakt mit externen Pflegekräften) resultieren aus der geschlechtsspezifischen Lebenslage, die sich über den Lebenslauf hinweg entwickelt. Die Wirksamkeit der über den Lebenslauf hinweg entwickelten geschlechtsspezifischen Bewältigungsstrategien, Ressourcen und Belastungsgrenzen. Sie manifestieren sich in der Art des Umgangs mit der eigenen Pflegebedürftigkeit. Heute alte Frauen verfügen hier möglicherweise über einen Vor-
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teil im Umgang mit der eigenen nachlassenden Selbständigkeit, resultierend aus geschlechtsspezifischen Brüchen bzw. Krisen im Lebenslauf (ausgelöst durch und verbunden mit z.B. generativem Verhalten, Berufsaufgabe, Mehrfachbelastung, Auszug der Kinder, Berentung/Tod des Partners), die immer wieder Umorientierungen erforderten. Im Rückschluss lässt sich hier eine Benachteiligung der pflegebedürftigen Männer vermuten.
3.2 Pflegen als „gendered process“ Nicht nur das Pflegebedürftig und Gepflegt werden, auch das Pflegen selbst gestaltet sich als „gendered process“, sowohl im familiär-häuslichen Umfeld als auch in der beruflichen Pflege. 3.2.1 Pflege im familiären/häuslichen Umfeld Die geschlechtsspezifische „doppelte“ Vergesellschaftung von Frauen in berufliche und familiäre Zusammenhänge bildet die Voraussetzung für die Zuweisung von Pflege als „naturgegebene“ weibliche Aufgabe. Solche geschlechtertypischen Zuweisungen und Bewertungen wirken je nach Lebenslage sehr unterschiedlich. Stehen beispielsweise ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung, um Teile der häuslichen und familiären Pflege an Dritte zu übertragen, eröffnen sich daraus flexible Gestaltungsspielräume für die Pflegenden, psychische und physische Belastungen reduzieren sich und eine soziale Isolation wird vermieden. Sind dagegen die finanziellen Mittel begrenzt, muss die Pflege häufig vollständig durch die Hauptpflegeperson erbracht werden, mit Folgen für die eigene Gesundheit usw. Die Ausgestaltung der Pflege scheint demnach abhängig von der eigenen Lebenslage der Pflegenden zu sein (Theobald 2006). In der Regel findet keine Schulung bzw. Vorbereitung vor Übernahme der Pflegetätigkeit statt, wenn Pflege aufgrund einer akuten Krise plötzlich notwendig wird oder sich über eine lange Zeitspanne aus zunehmender Hilfebedürftigkeit heraus (schleichend) entwickelt. Die erläuterten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungsmodelle und die dem jeweiligen Geschlecht zugeordneten Kompetenzen wirken der Inanspruchnahme einer solchen Schulung entgegen, da Pflege auch heute noch weitgehend als typisch weibliche Aufgabe wahrgenommen wird (vgl. ausführlicher Backes 2005; Wolfinger 2006: 119ff.). Lebenszyklisch wird die Übernahme von Pflege meist zum Ende oder nach Abschluss der „Familienphase“ zu einer familiär zu klärenden und dann zu einer meistens von Frauen übernommenen Aufgabe. Dabei wird in der Regel die Reduktion oder Aufgabe der (weiblichen) Berufstätigkeit erwartet, wenn sie sowie-
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so aufgrund der steigenden Belastung im Laufe der Zeit erforderlich wird. Zeitlich befristete berufliche Freistellungen (wie in der aktuellen Reform der Pflegeversicherung vorgesehen), bieten keine langfristigen Lösungsansätze, da die Gesamtdauer der Pflege nicht klar vorhergesehen werden kann. Besonders zu betonen ist, dass die Übernahme von Pflege nicht ohne Folgen für die Lebenssituation der Pflegenden bleibt. Die Auswirkungen erstrecken sich je nach sozialer Lage und Geschlecht unterschiedlich auf die Gesundheit, das subjektive Belastungserleben, die soziale Einbindung, die Verfügbarkeit von materiellen und immateriellen Ressourcen, auf das eigene Gesundheitsverhalten, den Aufbau einer eigenen finanziellen Absicherung für das eigene Alter(n) usw. (vgl. Backes 2005). Die Übernahme von Pflege zeigt sich demnach als Teilaspekt der geschlechtsspezifischen und „hierarchisch komplementären“ Vergesellschaftung (Backes 1999) im Lebensverlauf. Europäisch vergleichende Studien (Esping-Andersen et al. 2001 zit. nach Ziegler/Doblhammer 2006: 81; Theobald 2006) konnten weiterhin nachweisen, dass die Pflegebereitschaft dort abnimmt, wo Pflege vollständig durch Angehörige geleistet wird. Demnach gestaltet sich die Übernahme von Pflege entsprechend der jeweiligen Lebenslage und wirkt auf der anderen Seite auf die geschlechtsspezifische Lebenslage ein. 3.2.2 Pflege als Beruf Die Konnotation von Pflege als „weibliche“ Tätigkeit ist nach Twigg (2000: 408) unabhängig vom biologischen Geschlecht des Pflegenden. Insofern soziale Tätigkeitsfelder als Ganzes geschlechtsspezifisch konnotiert sind, werden den Akteuren in diesen Feldern auch geschlechtsspezifische Eigenschaften zugeschrieben. Dies gilt nicht nur für privat Pflegende, sondern auch für Pflege als Beruf. Sie wird zum „gendered job“ (Twigg 2000). Einfühlungsvermögen, direkte körperliche Interaktion usw. wurden bisher als biologische und über Geschlecht vermittelte Attribute betrachtet und nicht als berufliche Kompetenzen, die für die Pflege von essentieller Bedeutung sind. Sie werden niedrig bewertet und tabuisiert. Diskussionen zur Professionalisierung im Feld der Altenpflege finden weitgehend statt, ohne dass dieser über geschlechtliche Eigenschaftszuschreibungen vermittelten Abwertungen und Tabuisierungen thematisiert werden. Professionelle Kompetenzen von ihrer Zuordnung zu einem Geschlecht zu trennen und damit aus dem Privaten zu lösen, kann erreichen, dass die Professionalisierungsdebatte um das Spezifische in der Pflege (z.B. Einbezug von Fürsorge/Empathie als zu lernende und lehrende Kompetenzen) erweitert wird. Über eine Zurückweisung von „naturgegebenen“ Wesensmerkmalen und dem Aufbrechen der Zuschreibung dieser Tätigkeiten zum privaten, familiären „weiblichen“ Raum (wie in Kapitel 3.2 näher erläutert), kann ein neuer Arbeits-
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begriff entstehen (vgl. Allan 1993 zit. nach Miers 2001: 188; Friesen/Thies-sen 2003). Bourdieu (2005) bietet die passenden Werkzeuge zu einer Analyse von solchen vergeschlechtlichten Arbeitszusammenhängen an, indem er diskutiert, wie Hierarchien entstehen und aufrecht erhalten werden. Demnach werden Hierarchien, die an sich aufgebrochen werden sollen, dadurch stabilisiert, dass die „Beherrschten“ die Strategien und Deutungsmuster der „Herrschenden“ gebrauchen und dadurch deren Vorherrschaft legitimieren. Übertragen auf die Professionalisierungsdebatte in der Pflege zeigt sich das an der Fokussierung der Pflege auf das Vokabular und die Methoden von Medizin und Ökonomie. Anstatt sich damit aus der untergeordneten Stellung gegenüber diesen Professionen bzw. Disziplinen zu befreien, wird dadurch tatsächlich die Dominanz der „männlichen“ und „öffentlichen“ Felder der Medizin und Ökonomie weiter stabilisiert. Wie Pflegearbeit als Tätigkeit und Beruf derzeit organisiert ist, hat ebenfalls Auswirkungen auf die eigene Gesundheit und die eigene Altersvorsorge und damit auf die Lebenslage der beruflich Pflegenden (vgl. Wolfinger 2006). Weiterhin ist zu analysieren, welche sozial ungleiche Folgen für männliche und weibliche Pflegekräfte die Ausübung eines „gendered job“ hat. Geschlechtsspezifische unterschiedliche Karrierewege, das „doing gender“ innerhalb der Pflegeinteraktion, die Wirksamkeit von „hierarchisch komplementären Geschlechterbeziehungen“ innerhalb des Pflegeteams und innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges, sind Themen, die noch einer intensiven Analyse bedürfen
3.3 Geschlecht und Alter(n) im Wandel: neue und alte Risiken und Chancen für die Pflege Die bisherigen Ausführungen bilden die aktuell wirksamen Strukturen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Vergesellschaftung über den Lebenslauf hinweg und bis hinein in Alter und Pflegebedürftigkeit ab. Der gesellschaftliche Umgang mit dem Altersstrukturwandel wirkt zum einen stabilisierend auf Geschlechterhierarchisierungen und geschlechtsspezifische Eigenschafts- und Tätigkeitszuschreibungen für die Pflegenden und die Pflegebedürftigen. Zum anderen zeichnen sich weitere gesellschaftliche Veränderungen im Hinblick auf Alter(n), Geschlecht und Pflegebedürftigkeit ab. Die Ursachen und möglichen Folgen für die Gestaltung des Feldes der Altenpflege sollen im Folgenden kurz umrissen werden. Für die Zukunft kann von einer weiter steigenden Lebenserwartung ausgegangen werden, wobei es konträre Aussagen und Konzepte hinsichtlich der behinderungsfreien Lebenserwartung bzw. des Pflegebedürftigkeitsrisikos für beide Geschlechter gibt. Ziegler und Doblhammer (2006) rechnen damit, dass für die-
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jenigen, die im Jahr 2030 über 75 Jahre alt sind, sich aufgrund familiendemographischer Veränderungen bessere Bedingungen für eine familiäre Pflege ergeben. Dies begründen sie damit, dass im Vergleich zu den heute Alten die Altersgruppe 75+ einen höheren Anteil von verheirateten Paaren mit Kinder(n) aufweisen wird. Ziegler und Doblhammer berücksichtigen bei ihrer Argumentation allerdings nicht, dass der Altersunterschied bei verheirateten Paaren (Frauen sind in der Regel mehrere Jahre jünger) und die höhere Lebenserwartung von Frauen sich nachteilig auf deren Chance auswirkt, familiär gepflegt zu werden (vor allem vom eigenen Partner). Denn es muss weiterhin damit gerechnet werden, dass trotz einer sich angleichenden demographischen Geschlechterproportion im höheren Alter verheiratete Frauen viel stärker von Verwitwung und Singularisierung betroffen und deshalb auch zukünftig stärker sozial gefährdet sein werden. Auch wenn Frauen zunehmend selbst erwerbstätig sind, zeigt sich im Vergleich zur Einkommenshöhe von Männern derselben Berufsgruppe ihre Benachteiligung deutlich. Sie sind zudem, neben den „typisch“ weiblichen Brüchen in der Erwerbsbiographie, zunehmend von der Unsicherheit des Arbeitsmarktes und der Gefahr von „unfreiwilligen“ Brüchen betroffen. Dies gilt auch für Männer, die selbst vermehrt mit Arbeitslosigkeit und unsicheren bzw. prekären Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert werden (vgl. Frerichs 2000; Cornelißen 2005). Die Notwendigkeit einer eigenständigen Erwerbs- und Alterssicherung ist für beide Geschlechter von hoher Relevanz, ihre Realisierbarkeit variiert jedoch geschlechtsspezifisch und lebenslagenabhängig. Wie mehrfach betont, muss auch heute noch von geschlechtsspezifischen Lebenslagen ausgegangen werden, die sich für Frauen über den Lebenslauf hinweg in Form von (insbesondere materiellen) Nachteilen manifestieren, die deutliche Auswirkungen auf die konkrete Gestaltung der Pflegesituation haben (z.B. hinsichtlich der materiellen Ressourcen für den Zukauf von Pflegeleistungen Dritter). Es stellt sich auch in Zukunft die Frage, ob die Übernahme von Pflege sich nachteilig auf die (materielle, gesundheitliche usw.) Lebenslage im Alter von Frauen auswirkt und damit ihre geschlechterhierarchische Benachteiligung auch auf dieser Ebene weiterhin reproduziert wird. Als Folge der aktuellen und zukünftigen beruflichen Anforderungen ist mit einer zunehmenden Flexibilisierung der Lebensentwürfe, steigenden Mobilitätsanforderungen und einer stärkeren Singularisierung bei der Kindergeneration zu rechnen. Hier ist zu fragen, ob und inwieweit Kinder geographisch, zeitlich und lebenslagenbedingt zukünftig in der Lage sein werden, die Pflege ihrer Angehörigen zu übernehmen. Gleichzeitig birgt die Flexibilisierung der Lebensentwürfe für Männer die Chance, neue Ressourcen für den Umgang mit biographischen Umbrüchen (und damit für die Bewältigung von Pflege und Pflegebedürftigkeit) zu entwickeln. Die Sicherung der Pflege alter Menschen basiert auch heute noch
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weitgehend auf der impliziten Annahme, dass Frauen ein wesentliches gesellschaftliches Hilfe- und Unterstützungspotenzial darstellen (Beck-Gernsheim 1991; Backes 2005). Pflege findet heutzutage zum größten Teil im familiären und häuslichen Umfeld statt. Dennoch nimmt der Anteil an der häuslichen Pflege kontinuierlich ab (siehe Kapitel 2). Daraus einen Trend für die Zukunft abzuleiten, wäre auf Basis dieser Zahlen zu weit gegriffen. Aber in der Zusammenschau mit den „neuen“ und „alten“ Risiken des Alter(n)s, der Pflege und der Pflegebedürftigkeit, wird deutlich, dass sich die eben beschriebenen Trends abzeichnen. Eine Chance für die Zukunft der Altenpflege könnten die teilweise in Modellprojekten erprobten neuen Formen eines „Pflegemixes“ darstellen, z.B. durch Ergänzung der privat geleisteten Grundpflege durch ambulante Pflegedienste oder durch die Einführung eines persönlich zu verwaltenden Pflegebudgets. Soll weiterhin auf den Erhalt der familiär-häuslichen Pflegebereitschaft gesetzt werden, muss ihr Einfluss und ihre Wirkung auf die Stabilisierung von Geschlechterhierarchien berücksichtigt werden. Die Pflege älterer Frauen und Männer ist in vielfältigen Formen und Ausgestaltungen denkbar: indem beispielsweise die Angehörigen primär den Pflegeprozess organisieren (und nicht unbedingt selbst pflegen) oder die Unterstützung bzw. Pflege durch Angehörige in Konzepte neuer Wohnformen integriert wird. Eine weitere Chance für die zukünftige Gestaltung der Pflege alter Menschen liegt in der Bildung und Förderung neuer, sowohl privater als auch institutionell organisierter, Pflege- und Unterstützungsnetzwerke, die unabhängig von der Familie funktionieren und nicht mehr dem Muster der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung folgen.
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Geschlechtsvermittelte Ungleichheitsstrukturen in der Altenpflege
Geschlechtsbezogene Macht- und Ungleichheitsstrukturen werden in der Gesellschaft durch Normen stabilisiert und wirken über geschlechtsspezifische Zuschreibungen bis in die konkreten Interaktionen innerhalb des Feldes der (Alten)pflege. Diese Zusammenhänge werden nachfolgend analysiert.
4.1 Normative und strukturelle Stabilisierung von geschlechtsbezogenen Machtund Ungleichheitsstrukturen Die Verabschiedung der über Sozialversicherungsbeiträge finanzierten Pflegeversicherung (SGB XI) machte die Pflege älterer Menschen zu einer Aufgabe der Solidargemeinschaft. Gleichzeitig wurden die Leistungen des SGB XI im Sinne einer Teilkaskoversicherung begrenzt, d.h. es ist – bei jeder Versorgungsform –
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stets ein Eigenanteil zu erbringen, wobei die ambulante und häusliche Pflege einen Vorrang vor der stationären Versorgung haben soll. Unsere These hierzu lautet, dass sich diese widersprüchliche Konstellation, die die Pflege alter Menschen einerseits als gesellschaftlich relevantes Thema identifiziert, sie aber andererseits an die Familie delegiert, stabilisierend auf die geschlechtsbezogenen Macht- und Ungleichheitsstrukturen im Feld der Altenpflege auswirkt. Wenn also aus gesetzlicher Sicht vorrangig Familien die Zuständigkeit für die Pflege zugewiesen wird, dann hat dies entsprechende Konsequenzen für Pflegende und Pflegebedürftige. Einige Teilaspekte sollen dies beispielhaft erläutern. Die Höhe des Pflegegeldes erfüllt nicht den Status einer Entlohnung, besonders im Vergleich zum Zeitaufwand und der physischen und psychischen Belastung der Hauptpflegeperson. Rentenversicherungsbeiträge (die bei einer Berufstätigkeit von unter 30 Wochenstunden bezahlt werden) wie auch die geplante zeitlich befristete Freistellung von der Arbeit („Pflegezeit“) stellen Mechanismen dar, die die Teilzeitarbeit bzw. den (zeitweiligen) Ausstieg aus der beruflichen Tätigkeit der Pflegeperson fördern. Dabei werden geschlechtsspezifische Fragen der Erwartung von Pflegeübernahme, der Vereinbarkeitsbalance von Beruf und Pflege und der eigenen „Geroprophylaxe“ (nach Lehr) der Pflegenden nicht ausreichend beachtet. Mechanismen, die eine bewusste Planung und Entscheidung für die Versorgungsform bzw. eine regelmäßige Überprüfung der Vereinbarkeit von Pflege, Beruf und Familie durch die Pflegenden fördern, sind nicht installiert (vgl. Wolfinger 2006). Ob die Pflege vollständig durch Familienangehörige (mit Pflegegeldzahlungen) oder unter Einbezug von externen Diensten (Kombinations- oder Pflegesachleistungen) erbracht wird, wirkt sich auf das Belastungserleben, die Chance zur sozialen Teilhabe und Entlastung bzw. auf den Grad der Isolation der Hauptpflegeperson aus. Die Entscheidung, welche Hilfeformen in Anspruch genommen werden, ist nach Theobald (2006) in Deutschland geschlechts-, wohnumfelds- und schichtabhängig. Der Zukauf von professionellen Diensten steigt mit dem sozioökonomischen Status deutlich an. Demnach wirkt die Versorgungsform, zum Beispiel vermittelt über die Anzahl der Kontakte mit Dritten und dem Spielraum, die Pflege den Bedürfnissen aller Beteiligten entsprechend zu gestalten, auch auf die soziale Partizipation und Autonomie der pflegebedürftigen Menschen (vgl. Theobald 2006). Das SGB XI greift auch in das Feld der beruflichen Pflege ein. Gesetzlich festgelegte Qualitätsanforderungen haben Auswirkungen auf die Hierarchisierung von mit unterschiedlichen Qualifikationen verknüpften Tätigkeiten. Gleichzeitig besteht ein Spannungsfeld zwischen Qualitätsanforderungen und den verhandelten und in ihrer Höhe begrenzten (ambulanten wie stationären) Leistungsentgelten. Der Kostendruck führt zur Ausdifferenzierung von Tätigkeiten und zu
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einer möglichst umfassenden Delegation an niedrig oder nicht qualifizierte (Teilzeit-)Kräfte. Darüber vermittelt entstehen soziale Hierarchisierungen der in der Pflege Beschäftigten (vgl. Wolfinger 2006). Wirtschaftlichkeitszwänge und der verschärfte Kostendruck infolge der Pflegeversicherung führen nach Amrhein (2005) vor allem in stationären Altenpflegeeinrichtungen zu höheren Arbeitsbelastungen des (überwiegend weiblichen) Personals. Dies bewirkt einen Anstieg an krankheitsbedingten Absenzen und führt zu einer erhöhten Personalfluktuation, die wiederum Rationalisierungsmaßnahmen und damit eine insgesamt niedrigere Pflegequalität zur Folge hat. Es entsteht eine Spirale, die den Druck auf die verbliebenen Arbeitskräfte zusätzlich erhöht. Normative und strukturelle (institutionelle) Rahmenbedingungen wirken stabilisierend auf geschlechtsbezogene Macht- und Ungleichheitsstrukturen im Feld der Pflege. Um förderliche und hemmende Rahmenbedingungen für eine geschlechtersensible Altenpflege daraus ableiten zu können, bedarf es eines zusätzlichen Blicks auf geschlechtsspezifische Zuschreibungen in konkreten Pflegeinteraktionen.
4.2 Geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Interaktionen in der Pflege Nach einer im Auftrag der Paul-Lempp-Stiftung durchgeführten Untersuchung (Landau 2001) werden Tätigkeiten in der körpernahen, der so genannten „direkten“ Pflege, als körperlich und psychisch belastend eingestuft (vgl. Wolfinger 2006, v.a. zum Aspekt des Körpers). Es gibt bisher nur wenige deutschsprachige Publikationen, die sich explizit mit körperbezogenen Konflikt- und Belastungssituationen in der (direkten) Altenpflege beschäftigt haben (v.a. Knobling 1985; Koch-Straube 1997). Um Ansätze einer geschlechtersensiblen Altenpflege entwickeln zu können, die einerseits der Realität der Pflegenden und Pflegebedürftigen entsprechen und andererseits unbewusst wirksame Hierarchisierungen offen legen und aufbrechen, ist eine Analyse der in der pflegerischen Interaktion wirksam werdenden geschlechtsspezifischen Zuschreibungen erforderlich. Die folgenden Beispiele dienen der Begründung dieser Forderung. Miers (2001) argumentiert auf der Basis verschiedener Untersuchungen im englischsprachigen Raum, dass pflegebedürftige Frauen, die eine fordernde Haltung an den Tag legen bzw. den Wunsch nach intensiver Unterstützung äußern, von den Pflegenden eher abgelehnt werden als Männer mit vergleichbarem Verhalten. Die jeweilige Bewertung des Verhaltens resultiert also aus den geschlechtsspezifischen Handlungserwartungen. Von Frauen wird erwartet, dass sie sich um andere kümmern und keine Hilfestellung einfordern. Wie sich sexuelle Bedürfnisse äußern (dürfen), ist ebenfalls geschlechtsspezifisch konnotiert.
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Männern wird eher die aktiv-aggressive Rolle zugeschrieben, Frauen dagegen stärker die passiv-empfangende. Sexuelle Regungen werden innerhalb der pflegerischen Interaktion häufiger bei Männern als Problem wahrgenommen. Bei pflegebedürftigen Frauen wird hingegen eher von einem „Anlehnungsbedürfnis“ gesprochen. Sexuelle Äußerungen von Pflegebedürftigen werden geschlechtsspezifisch wahrgenommen. Innerhalb der Teamkommunikation und auf der Ebene von Handlungsempfehlungen für die Pflege bleiben sie weitgehend tabuisiert. Weitere Belege für wenig geschlechtsdifferenzierte Betrachtungsweisen in der Altenpflege finden sich im aktuell veröffentlichten Handbuch zur „Pflegedokumentation stationär“ (Mahlberg-Breuer/Mybes 2007) und in der Liste der „Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens“ (AEDLs) nach Krohwinkel. In den AEDLs verliert die Kategorie „Sich als Mann oder als Frau fühlen“ mit zunehmender Pflegebedürftigkeit an Relevanz. Sie wird weitgehend ohne Hinweis auf sexuelle Bedürfnisse oder Handlungen beschrieben. Daraus lässt sich die These ableiten, dass pflegebedürftige Männer und Frauen in der öffentlichen und fachlichen Diskussion zunehmend zu „Pflegebedürftigen“, also zu geschlechtsneutralen Objekten von Pflege und Betreuung, werden (vgl. Wolfinger 2006). Dies zeigt sich auch in der ethnologischen Fallstudie von Koch-Straube (1997) zur „Fremde[n] Welt Pflegeheim“. Die Autorin beschreibt Pflegeheime als „Welt der Frauen“, in der die zumeist weiblichen Pflegekräfte ihre „Mütterlichkeit“ als Pflegeressource in das weibliche Berufsmilieu hineintragen und dadurch zu einer Infantilisierung und Entsexualisierung der Bewohner beitragen: „Die bewusste oder unbewußte Familialisierung der beruflichen Tätigkeit im Heim bewirkt vielfach eine Beziehungskonstellation zwischen jüngeren Pflegenden und alten Menschen, die – gewohnte Generationsabfolgen auf den Kopf stellend – dem Mutter-Kind-Verhältnis ähnelt (…). Das in der Altenpflege auch offen verbreitete Bild, daß die alten Menschen zu Kindern werden, führt zur Entsexualisierung der alten Menschen mit der Gefahr, daß dennoch auftretende sexuelle Bedürfnisse und Konflikte nicht wahrgenommen oder pathologisiert werden.“ (Koch-Straube 1997: 366f.)
Die Berücksichtigung der Dimension Geschlecht, gerade auch in Bezug auf konkrete Pflegeinteraktionen, könnte neue Herangehensweisen an Situationen eröffnen, die oft als belastend erlebt werden und in der Regel distanzierende und machtbetonte Verhaltensstrategien nach sich ziehen. Pflegende üben in solchen Kontexten dabei eine hohe „informelle Macht“ über die Pflegebedürftigen aus (vgl. Amrhein 2005). Distanzierende Techniken (z.B. Handschuhe), die Schaffung einer distanzierenden hierarchischen Beziehung (z.B. durch die Trennung von körperlichen Berührungen und emotionaler Intimität) sowie die Nutzung
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medizinisch-technischer Begrifflichkeiten, stellen gängige Bewältigungsstrategien der Pflegenden dar (vgl. Twigg 1997, 2000; Wolfinger 2006). Thematisieren Pflegende ihre Belastung, Verunsicherung usw., stoßen sie innerhalb des Teams aber an soziale Grenzen. Sie werden unter Umständen aus dem Team ausgeschlossen, können ihren Frust, Ängste, Stress und ähnliches nicht bewältigen und kündigen schließlich entweder innerlich oder auch ganz real ihre Arbeitsstelle (Amrhein 2005). Solche Konflikt- und Belastungssituationen sind in der direkten Pflege häufig eine Folge spezifischer institutioneller Strukturen, insbesondere dann, wenn die entsprechenden Pflegeeinrichtungen Merkmale einer „totalen Institution“ aufweisen (vgl. Amrhein 2005).
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Entwicklungsperspektiven: Umrisse einer geschlechtersensiblen Altenpflege
In einem letzten Schritt sollen Entwicklungsperspektiven dafür aufgezeigt werden, wie die Altenpflege für die Kategorie Geschlecht sensibilisiert werden kann (vgl. dazu Backes 2005: 368ff.). Wie gezeigt, wirken Geschlecht, Alter(n) und Pflege(bedürftigkeit) als soziale Ordnungskriterien in ihrer Verwobenheit über den Lebens(ver)lauf hinweg bis in die Pflegebedürftigkeit oder die Übernahme von Pflege hinein. Geschlechterungleichheiten im Feld der (Alten-) Pflege werden auch in der direkten Interaktion zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen gestaltet, stabilisiert bzw. aufgebrochen. Sie äußern sich in vielfältigen Ausprägungen bei (beruflich und privat) Pflegenden und Pflegebedürftigen (im ambulanten und stationären Setting) und müssen in Konzepten einer geschlechtersensiblen Altenpflege berücksichtigt werden. Deshalb ist eine konsequente Entwicklung von Theorie, Empirie und Praxis der skizzierten theoretischen Geschlechterund Alter(n)sperspektiven notwendig, bei der auch der Begriff der Pflege um gendertheoretische und sozialgerontologische Dimensionen erweitert wird. Grundsätzlich soll das Konzept einer „geschlechtersensiblen Altenpflege“ (Backes 2005) die Wirkung der sich über den Lebenslauf hinweg ausprägenden Geschlechterverhältnisse auf die Beziehungsdynamik, Handlungsspielräume und Belastungen innerhalb der Pflegesituation berücksichtigen. Dabei müssen auch die demographischen Entwicklungen, der Altersstrukturwandel und die normativen Veränderungen im Feld der Altenpflege beachtet werden (Backes 2005: 379f.). Dafür ist eine Erhebung von detaillierten quantitativen und qualitativen (Längsschnitt-) Daten zu geschlechtsdifferenzierten objektiven und subjektiven Dimensionen der Lebenslage von essentieller Bedeutung. Diese Daten stellen die Basis für eine gendersensible sozialwissenschaftliche Analyse der Zusammenhänge zwischen Lebenslauf, Geschlecht und Pflegebedürftigkeit bzw. Pflege-
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übernahme dar und ermöglichen vorsichtige Prognosen und Interventionsvorschläge in Bezug auf geschlechtsspezifische „alte“ und „neue“ Alter(n)srisiken, auch im Hinblick auf die Gestaltung von Pflege bzw. Pflegebedürftigkeit. Folgende Faktoren für eine geschlechtersensible Altenpflege sind unseres Erachtens entscheidend:
Beachtung des Geschlechts bei der Wahrnehmung der Rolle des Pflegenden bzw. Pflegebedürftigen (Backes 2005: 375), Offenlegung der unterschwelligen, geschlechtsspezifisch wirksamen Zuschreibungen und Anforderungen an Pflegebedürftige und Pflegende (Wolfinger 2006: 135), Erkennen geschlechtsspezifischer Positionen und Hierarchisierungen zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen und Infragestellen damit verbundener geschlechtsspezifischer Handlungserwartungen und Sanktionen, Thematisierung geschlechtsspezifischer und zum Teil lebensgeschichtlich geprägter Beziehungsdynamiken (Backes 2005) sowie Formen informeller Machtausübung (Amrhein 2005), Loslösung der Kompetenzen der Pflegenden (und Pflegebedürftigen) von geschlechtsspezifischen Kompetenzzuschreibungen und Schaffung von Chancen für ihre Entwicklung unabhängig von Geschlecht, Schaffung neuer Formen von Arbeitsteilung und Vereinbarkeitsbalancen für Beruf, Familie und Pflege, und Gewährleistung angemessener materieller und immaterieller Ressourcen für die Pflege und das Gepflegtwerden (Qualifikation, Geld, Macht, Wohnumfeld) (Backes 2005: 375).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Entwicklung einer geschlechtersensiblen Altenpflege voraussetzt, „dass man/frau die skizzierten geschlechterhierarchischen Grundstrukturen und Verhältnisse in ihrer Bedeutung für die Pflege in ihren unterschiedlichen Konstellationen zur Kenntnis nimmt, in ihrer Wirkungsweise erfasst und den überindividuellen Charakter erkennt“ (Backes 2005: 376). Pflege, die sich für das Soziale, für die Verwobenheit von Geschlecht, Alter(n) und Pflege(bedürftigkeit) öffnet, kann inadäquate Zuschreibungen und Hierarchisierungen aufdecken und neue Handlungsoptionen entwickeln. Kompetenz- und Zuständigkeitsbereiche können von ihrer geschlechtsspezifischen Zuordnung losgelöst werden, wodurch das Feld der Pflege alter Menschen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an Profil gewinnen kann. Der gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Blick auf Pflege sollte sich stärker am Alltag der beruflich wie privat Pflegenden und Pflegebedürftigen orientieren. Eine Erweiterung der multiprofessionellen Pflegeforschung durch Ansätze und Erkennt-
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nisse der sozialwissenschaftlichen Alter(n)sforschung und der Frauen- und Geschlechterforschung erscheint uns hierfür äußerst aussichtsreich zu sein (vgl. Backes 2005; Wolfinger 2006).
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Gertrud M. Backes, Martina Wolfinger und Ludwig Amrhein
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Gibt es eine Unterfinanzierung in der Pflege? Bernhard J. Güntert und Günter Thiele
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Einleitung
In den unzähligen Diskussionen um das Gesundheitswesen dominiert noch immer eine reine Kostenperspektive, obwohl heute das Bewusstsein wächst, dass der Gesundheitsbereich auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist und eine große volkswirtschaftliche Bedeutung hat. Der durch Gesundheitsleistungen gestiftete Nutzen wird in den Diskussionen leider oft vernachlässigt. Dies sicher auch, weil es bisher wenige Möglichkeiten gibt, den Nutzen befriedigend darzustellen und zu quantifizieren. In einigen ausgewählten Bereichen werden allerdings sozioökonomische Analysen oder HTAs (Health Technology Assessment) durchgeführt, um Kosten und Nutzen bzw. Wirkung von Gesundheitsleistungen aufzuzeigen. Der Fokus liegt dabei meist auf konkreten, eng definierten medizinischen Leistungen in klar umschriebenen Anwendungsgebieten. Die Pflege bzw. der Beitrag der Pflege wird dabei jeweils kaum berücksichtigt. Wie die aktuellen Diskussionen um die Pflegeversicherung (vgl. Hamdorf et al. 2007: 58ff.), die ‚illegal arbeitenden Pflegekräfte aus den neuen EU-Staaten oder osteuropäischen Ländern’ (Weinkopf 2005) und um die Leistbarkeit und Finanzierbarkeit der Pflege im Alter (Butterwegge 2007: 62ff.) zeigen, wächst das Bewusstsein, dass die professionelle Pflege eine große gesellschaftliche, aber auch volkswirtschaftliche Bedeutung hat. Die Darstellung dieser Bedeutung wird durch die Neugestaltung der Gesundheitsausgaben- und der Gesundheitspersonalrechnung sowie verschiedene darauf aufbauende weiterführende Studien erleichtert. Gleichzeitig erfahren jedoch die Pflegekräfte, dass sich ihre Arbeitsbedingungen im Verhältnis zu anderen Berufen immer mehr verschlechtern. Einerseits erhöht sich der Arbeitsdruck laufend (Anstieg der Patientenzahlen, Verkürzung der Aufenthaltsdauern, Zunahme der Leistungskomplexität usw.), andererseits verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen (Einstellungsstopps, reduzierte Budgets, immer engere Zeitvorgaben, Veränderungen des Arbeitsfeldes usw.). Aufgrund vieler solcher Beispiele lässt sich eine Unterfinanzierung der Pflege nachweisen. Diese kann auch an aktuellen Maßnahmen zur Systemgestaltung, wie etwa an der Gestaltung der Pflegeversicherung, am Umgang mit „illegalen“ Pfle-
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gekräften und an Neudefinitionen des Aufgabenbereiches der Pflegenden, aber auch an der Entwicklung der Arbeitsproduktivität festgemacht werden. In diesem Beitrag wird nach der Herausarbeitung der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Pflege die Unterfinanzierung anhand von Beispielen dargestellt und auf Gründe für das Entstehen der Unterfinanzierung eingegangen. Abschließend wird nach Lösungen gesucht, wie eine angemessene Finanzierung der Pflege und damit eine langfristige Sicherstellung der Pflege erreicht werden könnte.
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Die Volkswirtschaftliche Bedeutung der Pflege
Zur Feststellung der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Pflege sind zwei Methodenforschungsprojekte über die professionelle Pflege im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes hilfreich: Die 1998 erfolgte Neukonzeption der Gesundheitsausgabenrechnung und die 2002 geschaffene Gesundheitspersonalrechnung (vgl. Weinmann 2002: 717ff.). Beide Rechensysteme wurden im Jahr 2006 umfassend revidiert (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). In der Gesundheitsausgabenrechnung wurde eine neue Differenzierung der Leistungsarten vorgenommen und „pflegerische Leistungen“ wurden als Leistungsart gesondert ausgewiesen. Diese Leistungsart umfasst die Allgemeine Pflege (einschließlich Grund- und Behandlungspflege, Häusliche Pflege) sowie die Spezialpflege (einschließlich Intensivpflege, mobilisierende Pflege) jeweils im ambulanten und stationären Bereich. Ausgewiesen werden dabei die Leistungsausgaben z.B. der Gesetzlichen Krankenkassen und der Gesetzlichen Pflegeversicherung für die pflegerischen Leistungen an die Einrichtungen der Pflege. Diese betrugen im Jahr 2004 ca. 43,7 Mrd. Euro. Die Gesundheitsausgaben insgesamt beliefen sich in diesem Jahr auf 234 Mrd. Euro. Der Anteil der Pflege an den Gesundheitsausgaben beträgt somit rund 19%. Unter Bezugnahme auf das methodische Konzept der Gesundheitsausgabenrechnung wurde auch die Gesundheitspersonalrechnung konzipiert. Für die Pflege sind die folgenden Berufe von Bedeutung: Helferinnen in der Krankenpflege, Krankenschwestern bzw. Pflegefachpersonen, Hebammen und Altenpflegerinnen. Im Jahr 2004 waren 1.229.000 Pflegekräfte auf 926.000 Vollzeitstellen in ambulanten und stationären Einrichtungen der Pflege tätig. Ein Vergleich zwischen den Jahren 2000 und 2004 zeigt, dass in Deutschland die Anzahl der Pflege-Vollzeitstellen von 894.000 (2000) auf 926.000 (2004) angestiegen ist, d.h. um ca. 3,6% (www.gbe-bund.de). Diese wenigen Zahlen lassen schon klar erkennen, dass die Pflege ein bedeutender Faktor auf dem Arbeitsmarkt und ein wesentlicher volkswirtschaftli-
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Bernhard J. Güntert und Günter Thiele
cher Bereich ist. Jährlich wird denn auch fast ein Viertel der gesamten Bevölkerung (meist) kurzfristig durch professionelle Pflegende versorgt. Um die Bedeutung der Pflege vollumfänglich zu erfassen, müsste darüber hinaus auch die informelle Pflege, d.h. die Pflege, die in privaten Haushalten ohne Inanspruchnahme von gesetzlichen Leistungen bzw. ohne Verrechnung mit Versicherungsträgern erbracht wird, bewertet werden. Dadurch würde sich der Anteil der Pflege am BIP signifikant erhöhen. Der Wert der informellen Pflege wurde für 1997 auf 52,2 Mrd. Euro geschätzt (vgl. Schneider 2006). Die soziale Pflegeversicherung gab in diesem Jahr dafür lediglich 14,2 Mrd. Euro aus. Der Wert der informellen Pflege läge damit um das 3,6-fache höher. Eine weitere Möglichkeit, die volkswirtschaftliche Bedeutung der Pflege zu dokumentieren, ist die Berechnung bzw. Schätzung der Wertschöpfungsquote. Dazu wird die Wertschöpfung des Pflegesystems in Beziehung zum Bruttoinlandsprodukt gesetzt. Mit der Wertschöpfung wird die Leistung (Produktionswert) einer Wirtschaftseinheit oder eines -bereiches ohne die zur Leistungserstellung benötigten Vorleistungen gemessen (Haller 1997). Bei „Nichtmarktproduzenten“ wie z.B. Gesundheitseinrichtungen wird jedoch nicht der Erlös (am Markt bewerteter Produktionsausstoß), sondern als Annäherungswert die Summe aller Aufwendungen verwendet. Unter den in Abzug zu bringenden Vorleistungen versteht man Leistungen, welche die Pflege zur Leistungserstellung von anderen Wirtschaftszweigen bezieht, wie z.B. Verbands- und Pflegematerial, Patientenheber sowie Aus- oder Weiterbildungsleistungen. Die Bruttowertschöpfung der Pflege für das Jahr 2004 wird ermittelt, indem die Gesamtausgaben der Pflege, d.h. die 43,7 Mrd. Euro um die Vorleistungen bereinigt werden. Die Ermittlung der Vorleistungen kann aufgrund der heutigen Datenlage nur annäherungsweise erfolgen. Da im dualen Finanzierungssystem im Krankenhausbereich die Abschreibungen nicht in die Pflegesatzermittlung bzw. DRG-Kalkulation eingehen dürfen (vgl. Keun/Prott 2004: 127), bleiben die Investitionskosten im Rahmen der Betriebskosten unberücksichtigt. Für die Berechnung der anderen Vorleistungen werden Schätzwerte verwendet (Krankenhausbereich: Pflegerische Aufwendungen minus 11% für Vorleistungen; stationäre/teilstationäre Pflegeeinrichtungen: minus 15%; Vorsorge-/Reha-Einrichtungen: minus 10%; ambulante Pflege: minus 10%; vgl. Thiele 2004: 320). Die hier verwendeten Werte für Vorleistungen sind Schätzungen. Eine Aufteilung der Vorleistungen im Krankenhaus zwischen Medizin, Pflege und anderen Diensten kann nicht analytisch präzise erfolgen. Die Schätzwerte dürften jedoch in der Tendenz hoch liegen, so dass die effektive Wertschöpfung der Pflege höher sein dürfte.
Gibt es eine Unterfinanzierung in der Pflege?
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Abbildung 1: Entwicklung der Wertschöpfungsquote verschiedener Wirtschaftszweige von 1992 bis 2004 sowie die Wertschöpfungsquote der Pflege
(Quelle: eigene Zusammenstellung nach Statistischem Bundesamt 2003d, 2005a und 2006)
Die so geschätzte Wertschöpfungsquote der Pflege (vgl. Abb. 1) ist seit 1992 von 1,4% kontinuierlich gestiegen und lag im Jahre 2004 bei rund 2% des BIP. Damit war sie in etwa vergleichbar mit jener der Energie- und Wasserversorgung. Die Wertschöpfungsquote der – immer wieder als Wirtschaftsmotor bezeichneten – Chemischen Industrie lag bei ca. 2,25% des BIP, d.h. nur knapp über jener der Pflege. Bemerkenswert sind die Wertschöpfungsquoten auch mit Blick auf die gesellschaftliche Interessenvertretung. Trotz bedeutend höherer Wertschöpfungsquote der Pflege gegenüber jener der Land- und Forstwirtschaft und Fischerei gelingt es jenem Wirtschaftszweig, seine Interessen politisch auch in Zeiten der Globalisierung viel wirksamer zu vertreten. Die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Interessenvertretung der Pflege ist noch stark entwicklungsfähig und muss mit Blick auf die künftigen Probleme auch ausgebaut werden.
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Bernhard J. Güntert und Günter Thiele Unterfinanzierung der Pflege: Begriff und Beispiele
3.1 Der Begriff „Unterfinanzierung“ Der Begriff „Unterfinanzierung“ ist in der Volks- und in der Betriebswirtschaft eigentlich wenig geläufig, bzw. er wird sehr eng im Zusammenhang mit Kapitalund Finanzierungsverhältnissen verwendet (www.mein-wirtschaftslexikon.de). Der Begriff taucht jedoch in der aktuellen politischen Diskussion häufig, meist in Zusammenhang mit der staatlichen Produktion von Leistungen auf. Gibt man den Begriff „Unterfinanzierung“ in google ein (www.google.de; 14.07.07), so trifft man zu Beginn der über 100.000 Einträge vor allem auf Diskussionen über die (nicht ausreichenden) Finanzierung der Bundeswehr, die Höhe der Bildungsausgaben, die Finanzierung der (Hochschul-)Medizin oder des Gesundheitswesens insgesamt. So wird im Zusammenhang mit der Unterfinanzierung der Bundeswehr ausgeführt, dass die Streitkräfte, auch vor dem Hintergrund möglicher neuer Auslandseinsätze, an ihrer Belastungsgrenze angelangt seien (Deutscher Bundestag, Drucksache 16/850). Diese Grenze kann u.a. an den fehlenden personellen und finanziellen Ressourcen festgemacht werden. Bei der Frage der Finanzierung des deutschen Bildungswesens geht die OECD in ihrer Studie davon aus, dass in Deutschland die Bildung im internationalen Vergleich unterfinanziert ist, u.a. weil der Anteil der gesamten Bildungsausgaben am BIP unter dem Durchschnitt der OECD-Länder lag. Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn nur der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am BIP herangezogen wird. Auch hierbei liegt Deutschland deutlich unter dem europäischen Durchschnitt (vgl. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 2006). Das Institut der Deutschen Wirtschaft weist auf methodische Probleme bei internationalen Vergleichen hin und relativiert damit die Unterfinanzierung im Bildungsbereich wieder. Die immer schlechter werdenden Rahmenbedingungen der Hochschulmedizin in Deutschland weisen ebenfalls auf eine deutliche Unterfinanzierung hin. Der Investitionsrückstau in deutschen Universitätskliniken wird beispielsweise auf ein bis zwei Milliarden Euro geschätzt (vgl. u.a. VUD 2006). Bei den meisten Beispielen zur Unterfinanzierung handelt es sich um Aufgabenbereiche, die nach dem Grundgesetz durch den Bund bzw. die Länder zu organisieren und sicherzustellen sind. Es sind öffentliche Aufgaben, die sich zu weiten Teilen einer Marktallokation entziehen. Auch wenn zunehmend versucht wird, leistungsorientierte Finanzierungsmechanismen in staatlichen Bereichen einzuführen, sind es letztlich demokratisch legitimierte Gremien (Bundestag bzw. Landtage), welche über die zur Leistungserstellung bereitgestellten Ressourcen entscheiden und damit auch festlegen, wie, von wem und in welchem Umfang diese öffentlichen Aufgaben wahrgenommen werden.
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Die Frage nach der Aufgabenwahrnehmung ist auch eine Frage nach der Organisation und nach der Finanzierung dieser Aufgaben. Soll der Staat die Aufgabe selbst wahrnehmen oder soll die Aufgabe delegiert bzw. durch den Markt organisiert werden? So wird die Aufgabe der Landesverteidigung grundsätzlich durch den Staat selber wahrgenommen. Etwas anders sieht es im Bereich der Bildung aus. Diese Aufgaben nimmt sowohl der Staat wahr, lässt jedoch immer mehr auch private Bildungsträger zu. Es kommt also zu einer neuen Aufgabenteilung zwischen Staat und Markt. Die Frage nach dem Umfang der öffentlichen Aufgabe ist auch eine Frage nach den verfügbaren finanziellen Ressourcen. Hierüber entscheiden sowohl bei der Bundeswehr wie bei der Bildung die Parlamente. Es wird eine politische Entscheidung über die Ressourcenausstattung getroffen. Ähnlich verhält es sich im Gesundheitswesen. Auch hier entscheiden politische Gremien über die Mittel, zumindest über die Infrastruktur. Mit der Einführung des DRGSystems findet im Krankenhausbereich eine Leistungsorientierung statt. Die Strukturen verbleiben – zumindest im Moment noch – beim Staat, auch wenn er sich durch die Übertragung von Einrichtungen bzw. des Managements von Einrichtungen an Private immer mehr von der eigentlichen Leistungserstellung zurückzieht. An den Wirkungen dieser öffentlichen Entscheidung über die (nicht ausreichende) Ressourcenausstattung bzw. den Versorgungsgrad und das Versorgungsniveau wird der Begriff der Unterfinanzierung festgemacht. Die Frage der Unterfinanzierung tritt auch im Zusammenhang mit dem öffentlichen Aufgabengebiet Kranken- und Pflegeversicherung auf. Dabei handelt es sich um öffentliche Aufgaben, d.h. um (Sorge-)Aufgaben, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Patienten bzw. Pflegebedürftigen beschränkt oder gänzlich handlungsunfähig sind und sich daraus tatsächliche oder potentielle wechselseitige Abhängigkeiten (vgl. Jochimsen 2003) ergeben. Auch in diesem Bereich werden Aufgaben sowohl durch den Staat (die Parafisci) als auch durch den Markt organisiert. Beispiele für die Unterfinanzierung gibt es unzählige, sowohl auf der Makro- (Gesundheitssystem), der Meso- (Pflegeeinrichtungen) und der Mikro-Ebene (unmittelbares Arbeitsfeld der Pflegenden). Diese führen denn auch zu konfliktären Situationen in der Gesellschaft, in den Organisationen und im konkreten Arbeitsfeld. Einerseits entstehen daraus hohe Transaktionskosten (vgl. Jost 2000: 189ff.), welche die Situation noch verschärfen. Andererseits wird auch das Image der Pflege geschädigt, was langfristig die Sicherung der Pflege erschweren wird. Die Sorgeaufgaben stellen an den Staat besondere Anforderungen im Hinblick auf das WIE und den UMFANG der Aufgabe, denn letztlich liegt es in der politischen Verantwortung der Parlamente, dass Menschen in Sorgesituation
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auch entsprechend den Bestimmungen des Grundgesetzes behandelt werden, also dass ihre Würde beachtet wird. Die Frage nach dem JA und NEIN der Unterfinanzierung nimmt damit je nach Aufgabengebiet noch einmal eine ganz besondere Dimension an. Es geht im Zusammenhang mit der Pflege nicht nur um den Umfang der Ressourcenausstattung, sondern auch um das WIE und WER der Aufgabenwahrnehmung. Die Pflegeversicherung ist 1994 so konzipiert worden, dass die Pflegekassen den Pflegebedürftigen nur einen Teil der Aufwendungen finanzieren. Grundsätzlich hat der Pflegebedürftige den Rest selbst zu finanzieren. Es war die politische Absicht, diese Aufgabe mehr mit marktlichen Elementen „auszustatten“. Auf einige der Wirkungen dieser Aufgabenorganisation wird in späteren Beispielen noch eingegangen. Es sei jedoch schon vorab gesagt, dass dieses WIE (mehr Markt) nicht mit der besonderen Aufgabe der Pflege vereinbar ist. Der (vgl. Biesecker/Kesting 2003: 178ff.) Handlungstyp B (bargaining für Markt) verträgt sich nicht mit dem Handlungstyp C (caring) bei dieser öffentlichen Aufgabe. Anders formuliert: Die Übertragung des Marktmechanismus auf Caring-Situationen ist nicht vereinbar mit verschiedenen rechtlichen Regelungen, wie z.B. § 11 Abs. 1 SGB XI – aktivierende Pflege–, da durch diese Organisationsform (Markt) ein Verhalten der „Marktteilnehmer“ hervorgerufen wird, welches diese veranlasst, beim Aufgabenvollzug ökonomisch rational vorzugehen. Über die Hälfte der ambulanten Pflegedienste befindet sich heute in privater Trägerschaft. Wollen sie einen Überschuss erwirtschaften, müssen sie ihre Aufgaben gut „durchorganisieren“, d.h. dass sie bei den Pflegebedürftigen z.B. nur die Zeit verweilen dürfen, die sie nach dem vereinbarten Leistungskatalog auch abrechnen können.
3.2 Beispiele für die Unterfinanzierung der Pflege Die folgenden Beispiele sollen die Unterfinanzierung der Pflege und deren Auswirkungen auf die Patienten bzw. Pflegebedürftigen und auf die Pflegenden selbst verdeutlichen. 3.2.1 Steigende Nachfrage nach Pflegeleistungen und abnehmende Pflegeressourcen Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt von einem Erhebungszeitpunkt des Statistischen Bundesamtes zum anderen (vgl. Statistisches Bundesamt 2007).
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So gab es im Jahr 2005 2,13 Mio. Pflegebedürftige, 1995 waren es 2,02 Mio. Über einen 10-Jahres-Zeitraum betrachtet (vgl. Statistisches Bundesamt 2005) stiegen auch die Fallzahlen im Krankenhaus. Sie sanken lediglich von 2002 auf 2003 und von 2003 auf 2004. 2005 zählte man 16.875.885 Patienten, 1995 waren es noch 15.931.168 (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). In diesem 10-Jahres-Zeitraum nahm aber die Anzahl der Pflegekräfte im Krankenhausbereich um 40.000 ab (vgl. Niermann 2007: 19). In der Tendenz kann damit festgehalten werden, dass der steigenden Nachfrage nach Pflegeleistungen nicht ein adäquater Zuwachs an Pflege-Arbeitskräften gegenüber steht, dies obwohl das Rationalisierungspotential bei personalen Dienstleistungen, wie z.B. bei der Pflege, nur sehr gering sind. Dies hat u.a. Auswirkungen auf die Patientenzufriedenheit (vgl. 3.2.2), die Arbeitszufriedenheit der Pflegenden (vgl. 3.2.3) sowie auf deren Krankenstand (vgl. 3.2.4). 3.2.2 Patientenzufriedenheit Seit einigen Jahren ist die Patientenzufriedenheit im Krankenhaus Gegenstand von Untersuchungen. Dies insbesondere im Zusammenhang mit der Verpflichtung zu Qualitätsmanagement und mit der Einführung des neuen leistungsorientierten Vergütungssystems. In empirischen Studien (vgl. Braun/Müller 2003 und Deutsches Krankenhausinstitut 2005: 62) wurde festgestellt, dass es bei der Schnittstelle zwischen der Entlassung des Patienten und der nachstationären Versorgung zu Problemen kommt. Davon ist die Patientenzufriedenheit entscheidend berührt. Durch die Einführung der DRGs ist die Verweildauer der Patienten erheblich gesunken, damit aber auch die Bedeutung dieser Schnittstelle gestiegen. Im Rahmen einer weiteren empirischen Studie (vgl. Müller/Thielhorn 2000) wurde ermittelt, dass für Patienten, speziell aber für Pflegebedürftige, Begriffe wie Kommunikation, Kontinuität, Zeit, Sicherheit und Zuverlässigkeit von großer Wichtigkeit für die Zufriedenheit stehen. Aufgrund der aktuellen Arbeitsbedingungen sowohl im Krankenhaus wie auch in den Pflegeeinrichtungen dürfte für die Mehrzahl der Pflegenden kaum die Möglichkeit bestehen, den Anspruch nach z.B. Kontinuität in der einzelnen Patientenversorgung oder den Anspruch nach ausreichender Zeit für den Pflegebedürftigen zu gewährleisten. 3.2.3 Arbeitszufriedenheit der Pflegenden In einer Studie zur Arbeitszufriedenheit von Pflegenden in bayerischen Altenpflegeheimen (vgl. Büssing et al. 2001) gab über die Hälfte der befragten Pflegekräfte an, dass sich seit Einführung der Pflegeversicherung ihre Arbeitsbedingungen wesentlich verschlechtert hätten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine
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Studie in Österreich, welche zeigt, dass Pflegende in Alten- und Pflegeheimen eine deutlich niedrigere Zufriedenheit (Arbeitsklimaindex) aufweisen als andere Arbeitnehmer in Österreich (Simsa 2004). Ähnliche Befunde ergeben die Studien der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und der DAK. Insbesondere im Krankenhaus wird eine sinkende Arbeitszufriedenheit und eine Zunahme der körperlichen und organisationsbedingten Arbeitsbelastung nachgewiesen aufgrund der steigenden Zahl der Patienten, der Reduktion der Pflegekräfte und der Arbeitsverdichtung aufgrund der reduzierten Aufenthaltsdauer (www.dak.de). Etwas bessere Ergebnisse zeigt die Untersuchung für Pflegende im ambulanten Bereich (DAK/BGW 2006). 3.2.4 Entwicklung des Krankenstandes bei Pflegenden Die voran geschilderten Situationen wirken sich auch auf den Krankenstand der Pflegenden aus. In einer bundesweiten Untersuchung des wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen wurde ermittelt, dass „die Krankenstände im Jahr 2003 bei den in Altenpflegeheimen und ambulanten Diensten beschäftigten AOK-Mitgliedern bei 5,8 Prozent, bei denen, die in Kliniken arbeiten, bei 5,3 Prozent lagen. Besonders in den Altenpflegeeinrichtungen lag der Krankenstand deutlich über dem allgemeinen Durchschnitt von 4,9 Prozent.“ (Vetter 2004: 19) Dieser überdurchschnittliche Krankenstand in den Einrichtungen der Pflege führt dazu, dass diese Pflegepersonen am Arbeitsplatz fehlen, damit die Arbeitsbelastung für die übrigen Pflegekräfte zunimmt und sich damit die Patientenversorgung verschlechtert. Dieser Kreislauf kann nur durch eine Bereinigung der Unterfinanzierung durchbrochen werden. 3.2.5 Bewertung von Pflegeminuten Nach § 14 Pflegeversicherungsgesetz werden die Pflegebedürftigen durch die Pflegekasse einzelnen Pflegestufen zugeordnet. Für Pflegestufe I werden mindestens 90 Pflegeminuten pro Tag veranschlagt, für Pflegestufe II 180 Pflegeminuten und für Pflegestufe III 300 Pflegeminuten. Die Pflegeminuten der drei Pflegestufen stehen im Verhältnis: 1 zu 2 zu 3,33. Das Vergütungssystem zeigt jedoch ein völlig anderes Bild. Für die Pflegestufen werden finanziell vergütet: Pflegestufe 1: 1.023 Euro, Pflegestufe 2: 1.279 Euro und Pflegestufe 3: 1.432 Euro in der vollstationären Pflege. Die Vergütung nach den Pflegestufen steht in folgendem Verhältnis: 1 zu 1,25 zu 1,40. Diese Gegenüberstellung lässt erkennen, dass offenbar für diesen Bereich der Pflegeversicherung nicht die Aussage gilt, dass „das Geld der Leistung“
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folgt, sondern zwischen der Leistung, dem Pflegeaufwand und der finanziellen Abgeltung eine erhebliche Lücke klafft. Ein ähnlicher Befund ergibt sich etwa auch aus den Personalrichtwerten für vollstationäre Pflege und Betreuung in Baden-Württemberg (vgl. Rahmenvertrag 2002). Die Obergrenzen für die Personalausstattung der Pflegestufen 1 bis 3 liegen bei: 1 Pflegekraft zu 3,96 Pflegebedürftigen in Stufe 1; 1 zu 2,83 in Stufe 2 und 1 zu 2,08 in Stufe 3. Finanziell ausgedrückt stehen in Baden-Württemberg die Personalrichtwerte nach den Pflegestufen in folgendem Verhältnis: 1 zu 1,29 zu 1,47. Damit gleichen sie sich der in der Pflegeversicherung vorgesehenen Vergütung der Pflegestufen an, nicht aber dem Pflegeaufwand und es lässt sich der Schluss ziehen, dass für die schwierigere und umfangreichere Arbeit in der Pflege weniger vergütet wird. 3.2.6 Ausweitung des Aufgabenbereiches Die ambulanten Pflegedienste versorgen die Pflegebedürftigen in ihrer häuslichen Umgebung. Hierbei kommt es zu der Situation, dass die Pflegekräfte den Hausarzt beraten bei der Verordnung von Pflegehilfsmitteln oder beim Wechsel von Medikamenten des Pflegebedürftigen. In beiden Fällen kann der Hausarzt nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) die Beratung und den Hausbesuch abrechnen. Der ambulante Pflegedienst kann aber für die von ihm erbrachten, nicht zur Pflege i.e.S. gehörenden Leistungen (2 x Beratung) nichts abrechnen. 3.2.7 Dekubitusprophylaxe Der nationale Expertenstandard Dekubitusprophylaxe wurde im Jahr 2002 in Deutschland verabschiedet. Allgemein bekannt ist, dass die Dekubitusprophylaxe kostengünstiger ist als die Dekubitustherapie (vgl. zum Folgenden Buxmann, Leiser, Zürcher-Sebellin 2006). Dabei wird davon ausgegangen, dass für die Therapie jährlich 0,7 bis 2 Mrd. Euro ausgegeben werden. Mit Hilfe der Prophylaxe könnten jährlich ca. 370 Mio. Euro eingespart und die Lebensqualität der Betroffenen entscheidend verbessert werden (vgl. Bienstein 2004). Die Frage stellt sich, ob und wie die Pflegeeinrichtungen (Krankenhäuser, Pflegeheime, ambulante Pflegedienste) diese personalaufwändigen Prophylaxeleistungen abrechnen können. Krankenhäuser Im Rahmen des DRG-System sind die Kosten der Dekubitus-Inzidenz nicht abrechenbar. Die Hauptdiagnose zielt meist auf andere Erkrankungen.
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Die während des Krankenhaus-Aufenthalts entstehenden Dekubiti gehen zu Lasten der Einrichtung, da in den Nebendiagnosen der Dekubitus nur unzureichend erfasst und auch nur unzureichend vergütet wird. Pflegeheime Der Pflegesatz in den stationären Pflegeeinrichtungen berücksichtigt die Kosten der Dekubitusprophylaxe nur unzureichend. Diese Kosten können auch nicht gesondert abgerechnet werden. Ambulante Pflegedienste Von den ambulanten Pflegediensten ist die Dekubitusprophylaxe nicht abrechenbar.
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Gründe für das Entstehen der Unterfinanzierung
Auf die Frage nach möglichen Ursachen für die Entstehung der Unterfinanzierung im Pflegebereich findet man ganz unterschiedliche Antworten. Zum einen wird argumentiert, dass aufgrund der demografischen und gesellschaftlichen Veränderungen (u.a. Veränderung der Familienstruktur, Vereinzelung, Altersstruktur und Pflegebedürftigkeit usw.) die Nachfrage nach Pflegeleistungen ständig steigt und dass aufgrund derselben demographischen Entwicklungen immer weniger Pflegekräfte bereit sind, die Pflegebedürftigen zu betreuen und dass gesellschaftlich zu wenig getan wird, um diesen strukturellen Veränderungen entgegenzuwirken. Zum andern wird festgestellt, dass das Image und die Attraktivität des Pflegeberufes in den letzten Jahren gesunken ist und gefördert werden müsste. In der folgenden Diskussion wird der Fokus jedoch mehr auf ökonomische Gründe gelegt.
4.1 Gesundheitsökonomik und Pflegeökonomik Die Gesundheitsökonomik als Teildisziplin der Ökonomik setzt sich traditioneller Weise mit ökonomischen Fragen der Absicherung des Lebensrisikos der Krankheit auseinander (vgl. Breyer et al. 2003). Dabei werden ökonomische Fragen zur Pflege – wenn überhaupt – nur am Rande erörtert. Im Mittelpunkt steht die medizinisch-ärztliche Leistung, die in einem institutionellen Setting erbracht wird und abgerechnet werden kann.
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Die Pflegeökonomik (vgl. Thiele 2004) ist eine noch junge Teildisziplin der Ökonomik. Sie setzt sich mit den Lebensrisiken der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit auseinander und betrachtet dabei die Anbieter von Pflegeleistungen: Krankenhaus, ambulanter Pflegedienst und stationäre/teilstationäre Pflegeeinrichtungen. Dabei werden in dieser Teildisziplin der Ökonomik vor allem die folgenden Fragen bearbeitet werden müssen:
Wie verhalten sich Anbieter und Nachfrager von Pflegeleistungen bei Veränderungen der Rahmenbedingungen? Wie wird Pflege produziert und wie erfolgt die Allokation von Pflegeleistungen? Welche Indikatoren sind geeignet, den aktuellen und künftigen Pflegebedarf darzustellen? Welche Indikatoren erlauben eine sinnvolle Abbildung der Pflegeressourcen (Input), der erbrachten Pflegeleistungen (Output) und der erzielten Erfolge (Outcome) unter Berücksichtigung des Pflegeprozesses und der Beteiligung der Patienten (Compliance und Co-Produktion)? Wie können diese Indikatoren quantitativ und qualitativ konkretisiert werden?
Soll der Pflegebereich sinnvoll abgebildet werden, müssen diese Fragen aus verschiedenen Perspektiven diskutiert werden. Das heißt, dass der Blick auch auf die häusliche, von Laien (Angehörigen, Freunden) erbrachte Pflege gerichtet werden muss. Verschiedene Untersuchungen weisen klar darauf hin, dass die künftigen Herausforderungen an die Pflege nur gelöst werden können, wenn es gelingt, die Tragfähigkeit der häuslichen Pflege und der familiären bzw. sozialen Netze zu stärken. Die festgestellte Unterfinanzierung der Pflege zeigt, dass die Gesundheitsökonomik in der Vergangenheit diese Fragestellungen nicht beantwortet hat. In welchem Umfang die Pflege Ressourcen zur Aufgabenerfüllung und Leistungserstellung zur Verfügung gestellt erhält, wurde und wird weitgehend politisch entschieden. Die Entscheidungsgrundlagen werden meist von Gesundheitsökonomen (vgl. u.a. Neubauer 2003) vorgelegt, zumeist ohne der Pflege gerecht werdende Modelle (welche auch die häusliche Pflege und die familiäre Betreuung umfassen) und ohne wirksamen Einfluss der Interessenvertretungen der Pflege.
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4.2 Sozialrecht und (Gesundheits-)Ökonomie Die neo-klassische und neo-liberale Ökonomik und damit der theoretische Bezugsrahmen für viele Gesundheitsökonomen geht sehr disziplinär vor (vgl. u.a. Schulenburg/Greiner 2002; Breyer et al. 2003). Viele Fragestellungen aus dem Gesundheitswesen werden meist nur unter Beachtung der (markt-)ökonomischen Perspektive beantwortet. Für den Gesundheits- und Pflegebereich hat dies zur Folge, dass nicht nur soziale Lebenswelten und Versorgungsökonomien (vgl. Biesecker/Kesting 2003: 13), sondern verfassungs- und sozialrechtlichen Regelungen ausgeblendet werden (vgl. Thiele 2006: 312f.). In dieser Situation dominiert bei den Ökonomen prinzipiell die Zweckmäßigkeit vor der Rechtmäßigkeit und nicht umgekehrt. Dies zeigte sich beispielsweise auch bei der Konzipierung des neuen Vergütungssystems für die Krankenhäuser. „Mit den neuen Vergütungsstrukturen wird abweichend von den einschlägigen Regelungen des SGB V der Vorrang der Wirtschaftlichkeit in der (medizinischen; Ergänzung durch Autoren) Krankenhausbehandlung von Patienten vor deren sozialen Bedürfnissen und der Therapiefreiheit von Krankenhausärzten festgeschrieben.“ (Pitschas 2003: 255). Auch werden etwa mit dem DRG-System die Leistungen falsch definiert. Die Rahmenbedingungen unterstützen eine Optimierung der Patientenepisode „stationärer Aufenthalt“ und nicht die Optimierung der prozessualen Patientenkarriere als Ganzes (Hebenstreit/Güntert 2005; Güntert 2006).
4.3 Finanzierung der Sozialen Sicherung über den Faktor Arbeit Die Finanzierung der Sozialen Sicherung erfolgt im gesetzlichen Teil weitgehend im Umlageverfahren, zumeist über Beiträge, die je hälftig Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu zahlen haben. Die Höhe der Beiträge orientiert sich am Einkommen der Arbeitskraft und damit am Faktor Arbeit. Schon seit vielen Jahren wurde bemängelt (vgl. u.a. Kaufmann 1997), dass es aufgrund der zunehmenden Automatisierung, der Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer und der anhaltenden Arbeitslosigkeit bzw. der Veränderung in der Arbeitswelt mit der Tendenz zu mehreren geringfügigen und oft temporären Jobs, in der Sozialversicherung zu Einnahmeausfällen kommt und damit auch in der Pflege- und in der Krankenversicherung der wachsende Ausgabenbedarf nicht gedeckt werden kann. Die Unterfinanzierung der pflegerischen Aufgaben ist auch darin begründet, dass es bislang politisch nicht ausreichend gelungen ist, eine erweiterte Finanzierungsbasis für die Soziale Sicherung durchzusetzen, in der die Steuerfinanzierung (mit Nutzung anderer Steuersubstrate wie Energie usw.) mit von zentraler Bedeutung ist.
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4.4 Unzureichende politische Interessenvertretung der Pflege In der parlamentarischen Demokratie in Deutschland ist es der Interessenvertretung der Pflege bislang nicht ausreichend gelungen, wirksam ihr Anliegen durchzusetzen. Pflegeanliegen wären u.a. eine ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung der verschiedenen Aufgabenfelder. „Seit ihrer Einführung ist die Leistungsvergütung der Pflegeversicherung in ihrer Höhe unverändert geblieben“ (Häcker 2007: 91). Der Interessenvertretung der Pflege ist es offenbar in den letzten zwölf Jahren (!) nicht gelungen, den Gesetzgeber zu einer Anhebung der bereits erwähnten Vergütung der Pflegestufen – wie in anderen Branchen durchaus üblich – zu bewegen. Mit der Reform zur nachhaltigen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung soll ab 2008 die Leistungsvergütung angehoben werden. Gegenwärtig wird eine Reform der Pflegeversicherung diskutiert. Auch hier fehlt bislang ein umfassender Vorschlag der Interessenvertretung bezüglich erforderlicher Ressourcenausstattung, um die pflegerischen Aufgaben besser wahrnehmen zu können. Ein weiteres Beispiel für die nicht ausreichend vorhandene wirksame Interessenvertretung der Pflege ist die fehlende Berücksichtigung der Pflege im Prozess der Adaptierung des deutschen DRG-Systems (vgl. Bartholomeyczik 2007) bzw. der Berechnung der DRG-Vergütung. Bis jetzt sind die DRG´s aus der Perspektive medizinischer Krankheitsbilder bzw. der ICD-Codes entwickelt worden. Die Pflegeperspektive fehlt weitgehend und wird auch in den Co-Morbiditäten und in der Berechnung der Fallschwere nicht berücksichtigt. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die pflegerische Interessenvertretung bei der Gestaltung von rechtlichen Regelungen nicht so wirksam agiert, wie man es von der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Pflege her erwarten dürfte.
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Unterfinanzierung und soziale Ungleichheit
Die Umschreibung des Begriffs der Unterfinanzierung, die Beispiele für die Unterfinanzierung in der Pflege sowie die Gründe für das Entstehen der Unterfinanzierung lassen erahnen, dass mit der Unterfinanzierung auch soziale Ungleichheiten einhergehen. Die weiteren Ausführungen konzentrieren sich deshalb auf diesen Aspekt, wobei die soziale Ungleichheit einmal aus der Perspektive der Patienten bzw. Pflegebedürftigen und zum anderen aus der Perspektive der Pflegenden selbst diskutiert wird.
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5.1 Soziale Ungleichheit und Patienten bzw. Pflegebedürftige Stehen – etwa infolge der Unterfinanzierung – der steigenden Nachfrage nach Pflegeleistungen keine entsprechenden Pflegeressourcen gegenüber und kann die zunehmende Nachfrage nicht mehr durch die (Pflicht-)Pflegeversicherung finanziert werden, so besteht die Gefahr von sozialen Ungleichheiten. Z.B. werden finanziell gut situierte Pflegebedürftige die Möglichkeit nutzen, benötigte ambulante Pflege- und Betreuungsleistungen als Marktleistungen „einzukaufen“ bzw. ein Pflegeheim, in dem nur Privatzahler betreut werden, in Anspruch zu nehmen. Bekannt und vom Gesetzgeber auch gewollt ist diese Privatnachfrage im Bereich der Akutversorgung. Bekannt ist, dass im Krankenhaus privat versicherte Patienten bessere Infrastruktur und Serviceleistungen in Anspruch nehmen und oft von Ärzten und Pflegenden eine höhere Aufmerksamkeit erfahren. Damit nimmt die Kontaktzeit zwischen Patient und Health Professionals zu, was i.d.R. zu einer höheren Zufriedenheit der Patienten führt. Weiter besteht für privat versicherte Patienten die Möglichkeit, bei einer steigenden Nachfrage nach bestimmten Krankenhausleistungen, die Leistung in Privatkliniken oder außerhalb der Region „einzukaufen“ oder das Sozialversicherungs- und Versorgungssystem zu verlassen und die Behandlung in einem anderen Land durchführen zu lassen. Die oben beschriebenen ungleichen Versorgungssituationen sind politisch wohl nicht unumstritten, jedoch in Deutschland systemimmanent und im Interesse zusätzlicher Finanzierungsquellen für das Gesundheitssystem vom Gesetzgeber auch gewollt. Im Bereich der Akutversorgung ergeben sich aus diesen Ungleichheiten auch keine größeren Probleme, da der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung in aller Regel ausreichend und damit eine breite Versorgung sichergestellt ist. Deutlich problematischer erscheint das Bild im Bereich der ambulanten pflegerischen Versorgung zu sein. Die Pflegeversicherung weist in verschiedenen Bereichen noch große Schwächen auf, bspw. bei der Einstufung von Demenzerkrankten und der Wiedereinstufung bei zunehmender Pflegebedürftigkeit. Hier sind die Ungleichheiten viel stärker ausgeprägt. Fehl- oder Unterversorgung sind häufig die Folge. Unter Fehlversorgung ist hier bspw. gemeint, dass häufig demenzkranke Pflegebedürftige stationär betreut werden müssen, weil Unterstützungsleistungen, die zur Aufrechterhaltung der häuslichen Betreuungsressourcen notwendig wären, nicht finanziert werden können. Davon betroffen sind vor allem ärmere Menschen. Nicht nur, weil sie die benötigten Betreuungsleistungen nicht finanzieren können, sondern weil sie häufiger von chronischen Erkrankungen, insbesondere auch von der im Sozialen Sicherungssystem vernachlässigten Demenz (Alzheimer und vaskuläre Demenz) betroffen sind und damit ein höheres Risiko haben, pflegebedürftig zu werden (vgl. u.a. Lauterbach 2007: 153).
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5.2 Soziale Ungleichheit und Leistungserbringer bzw. Pflegende Unterschiedliche Rechtsformen und Finanzausstattung der Einrichtungen führen auch zu sozialen Ungleichheiten zwischen verschiedenen Leistungserbringern. Im Krankenhausbereich wurde unter Wettbewerbsgesichtspunkten in der Vergangenheit immer wieder diskutiert, dass bei Krankenhäusern in öffentlicher Trägerschaft entstandene Defizite mit Steuermitteln ausgeglichen werden können. Häuser mit freigemeinnütziger oder privater Trägerschaft sind dazu nicht in der Lage. Daraus entstehen zum Teil Unterschiede in der Personalausstattung oder auch in den Arbeitsbedingungen. Diese strukturelle Ursache für soziale Ungleichheit soll jedoch mit der Einführung des DRG-Finanzierungssystems reduziert werden. Aufgrund struktureller und rechtlicher Unterschiede ist es immer wieder möglich, dass bestimmte Krankenhausträger in der Lage sind, die Personalausstattung über den Durchschnitt anzuheben und die Anstellungsbedingungen attraktiver zu gestalten. In dieser Situation kann davon ausgegangen werden, dass dieses Personal eher günstige Arbeitsbedingungen vorfindet, die Arbeitszufriedenheit größer ist und der Krankenstand eher tief ist. Diese positiv verstärkenden Wirkungskreisläufe werden die Situation in diesen Häusern – da es sich um personale Dienstleistungen handelt, deren Qualität wesentlich von der Motivation und Qualifikation der Pflegenden abhängt – weiter verbessern (Simon/Hasselhorn/Kümmerling 2005). Krankenhäuser, die dies nicht schaffen, werden immer schlechtere Arbeitssituationen haben und für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Attraktivität verlieren. Daraus ergeben sich nicht nur für die Patienten Ungleichheiten bezüglich der pflegerischen Betreuung, sondern auch für die Pflegenden selbst bezüglich der Arbeitsbedingungen. Der Kostendruck zwingt heute alle Leistungserbringer, konsequent eine einnahmenorientierte Ausgabenpolitik zu betreiben. Dies gilt sowohl für die öffentlichen, wie auch für die frei-gemeinnützigen und privaten Träger. Um das wirtschaftliche Überleben zu sichern, akzentuiert sich diese ökonomische Rationalität aber bei den privaten Einrichtungen. Rund 50% der ambulanten Pflegedienste befinden sich in privater Trägerschaft (Statistisches Bundesamt 2007). Diese privaten Träger werden zumeist ihre Leistungen nur dort anbieten, wo sich die Leistungserbringung für sie „rechnet“, also eher in der Großstadt als in ländlichen Gebieten, wo sie längere Wegezeiten zu den Pflegebedürftigen in Kauf nehmen müssen. Auch der Leistungsumfang richtet sich nach ökonomischen Überlegungen. Die Versorgung der übrigen Pflegebedürftigen obliegt dann z.B. freigemeinnützigen Sozialstationen, die dafür von Landkreisen Zuschüsse erhalten.
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Um zusätzliche Einnahmen zu erzielen und das Betriebsergebnis zu verbessern, werden private ambulante Pflegedienste tendenziell eher darauf bedacht sein, Zusatzleistungen wie Einkäufe erledigen, Wohnungsreinigungen usw., für finanziell gut situierte Pflegebedürftige anzubieten. Damit werden aber auch die Arbeitsfelder der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tangiert und es entstehen neue Ungleichheiten. In neuester Zeit wird eine intensive Diskussion um die Frage nach Übernahme von tariflichen Regelungen, die Etablierung eines Haustarifvertrages oder eines tariflosen Zustandes geführt. Je nach Lösung ergeben sich im Interesse der Kostensenkung und -flexibilisierung für die Pflegenden erhebliche soziale Ungleichheiten. So wurde u.a. ermittelt, dass zwischen den Einrichtungen, in denen professionelle Pflegekräfte beschäftigt sind, bei gleicher Arbeit und Qualifikation Einkommensunterschiede von bis zu € 1.300.- bestehen (vgl. Thiele/Bellmann 2007). Weitere und gravierende soziale Ungleichheiten für Pflegende ergeben sich aus der Tatsache, dass viele Pflegebedürftige bzw. deren Angehörige trotz Geldleistungen der Pflegeversicherung die Kosten für die ambulante Pflege nicht aufbringen können und daher das deutliche Gefälle in der Entlohnung und den Anstellungsbedingungen zwischen Deutschland und den neuen EU-Staaten bzw. weiteren osteuropäischen Staaten nutzen und „illegal“ Pflegekräfte beschäftigen. Meist leben die Pflegenden direkt bei den von ihnen Betreuten, haben lange Präsenz- und kaum Freizeiten, erhalten ein Gehalt von rund € 800.- (oft aber auch bedeutend weniger) und sind nicht sozialversichert (vgl. u.a. Thelen 2007; Mühlfeit 2007). Damit sind ungleiche Situationen für Pflegende geschaffen, die sich auf den gesamten Arbeitsmarkt der Profession negativ auswirken können. Da in Deutschland schätzungsweise 100.000 und in Österreich rund 40.000 Pflegebedürftige auf die Betreuerinnen und Betreuer aus dem östlichen Ausland angewiesen sind und diese Situation eine große politische Brisanz hat, drängt es sich auf, für die ambulante Pflege und Betreuung rund um die Uhr eine neue gesetzliche Regelung zu treffen. In Österreich sieht der Gesetzgeber aktuell zwei alternative Modelle vor (BGBl. I 33/2007), einerseits eine Anstellung einer Betreuungsperson im Haushalt (unselbständige Erwerbstätigkeit), vergleichbar einer Haushaltshilfe (mit Gesamtkosten von rund € 3.800.- monatlich) oder die Beauftragung einer bzw. zweier selbständiger Pflegepersonen (selbständige Erwerbstätigkeit, Gesamtkosten ca. € 1.200.-). Diese Regelung erstreckt sich „offiziell“ nur auf die Betreuung von Pflegebedürftigen, nicht jedoch auf die eigentlichen Pflegeleistungen. Diese müssten zusätzlich durch ambulante Pflegedienste abgedeckt werden. In der Praxis wird dies jedoch kaum der Fall sein, da heute viele der Betreuerinnen und Betreuer über eine Pflegeausbildung verfügen. Von den Pflegeverbänden und von vielen Pflegeexperten wird argumentiert, dass die
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Leistungsqualität für die Betroffenen nicht sichergestellt ist, da offizielle Leistungsanbieter auch verpflichtet seien, gewisse Standards bei den Qualifikationen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und bei den Pflegeprozessen einzuhalten. Neben den möglicherweise resultierenden Ungleichheiten für die Pflegebedürftigen wollen sie jedoch auch gegen die Ungleichheiten bei den Pflegenden vorgehen und insbesondere vermeiden, dass sich die Arbeitsbedingungen für die Pflege in Deutschland weiter verschlechtern wird.
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Mögliche Lösungswege
Die Thematik der Unterfinanzierung der Pflege wird auch weiterhin aktuell bleiben. Neben den bereits angeführten Gründen spricht dafür auch der nach wie vor geringe Organisationsgrad, sei es in den Gewerkschaften, den Parteien oder den Berufsverbänden, sowie die wenig ausgebildete Interessenvertretung der Pflegekräfte. Die voranschreitende Ökonomisierung und Individualisierung vieler Lebensbereiche und die sich abzeichnende weitere Etablierung weiterer neoliberaler Strukturen im Gesundheits- und Pflegewesen sprechen dafür, dass in Zukunft eher weniger gesellschaftliche Ressourcen in dieses gesellschaftlich wichtige System fließen und damit auch die professionelle Pflege weiterhin unterfinanziert bleiben dürfte. Das Aufzeigen möglicher Lösungswege aus diesem Dilemma erfolgt zum Einen unter dem Aspekt des Wandels des Sozialstaates und zum Anderen aus verwaltungswissenschaftlicher bzw. volks- und betriebswirtschaftlicher Sicht.
6.1 Wandel des Sozialstaates Mit dem Wandel des Sozialstaates von der Systemerhaltung über die Systemgestaltung (vgl. Brück 1976) bis hin zum aktivierenden Sozialstaat (vgl. Butterwegge 2005) wird offenbar von der Politik her die Eigenverantwortung der Bürger gefördert, damit aber auch die zunehmende soziale Ungleichheit im pflegerischen Bereich mit in Kauf genommen. Sollen im aktivierenden Sozialstaat die Eigeninitiative und die Eigenverantwortung des Bürgers in seiner Rolle als Kranker oder Pflegebedürftiger gestärkt werden, so sollte dabei bedacht werden, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt von vier Patiententypologien (vgl. Wilhelm 2006) mit vier verschiedenen sozialen Milieus ausgehen sollten. Der traditionelle Leistungsnutzer ist staatsorientiert und eher passiv. Der pluralistische Reformer vertraut auf die staatlich garantierte Gesundheitsordnung und bejaht eine stärkere private Verantwortung.
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Der korporatistische Reformer ist flexibler, auch im gesundheitspolitischen Bereich, betont Autonomiebestrebungen und kann sich mit individuell gestalteten Versorgungsoptionen anfreunden. Schließlich sieht sich der individualistische Entrepreneur als Kunde im Gesundheitsmarkt, der seine Leistungen nach Bedarf einkauft. Die meisten der Sozial- und Pflegeversicherten halten am bisherigen System fest und werden auch die private Kostenbeteiligung nicht ablehnen. Sie sehen sich aber eher nicht als Kunde im Gesundheitsmarkt. Viele der aktuellen Reformbemühungen gehen jedoch stark von der Vorstellung des individualistischen Enterpreneurs aus. Wird diese Rolle für die Zukunft von der Politik gewünscht, so haben die vielen Sozial- und Pflegeversicherten bzw. deren Angehörige diese Rolle jedoch erst noch zu erlernen und dazu fehlen aufgrund des bestehenden Sozialen Sicherungssystems entsprechende Rahmenbedingungen. Eine derartige Veränderung braucht jedoch Zeit. Selbst wenn die (arbeitsrechtlichen und steuerlichen) Rahmenbedingungen zur Förderung von mehr Eigenverantwortung geschaffen werden, werden die jetzige und die nächsten drei bis vier Generationen von Pflegebedürftigen (über 80-Jährige) ihr Verhalten bzw. ihre finanzielle Situation nicht mehr verändern können. Will man soziale Ungleichheiten bei den Pflegebedürftigen reduzieren, wird es kurz- bis mittelfristig notwendig sein, pflegerische Leistungen stärker über Steuern zu finanzieren. Die Beitragsfinanzierung ist, wie die aktuelle kritische Diskussion um die Pflegeversicherung zeigt, grundsätzlich nicht mehr ausreichend.
6.2 Soziale und ökonomische Folgenabschätzung Ähnlich der Technikfolgenabschätzung (vgl. Neumann 1999; Thiele 2004: 241ff.) wäre vom Deutschen Bundestag ein „Büro für soziale und ökonomische Folgenabschätzung“ bei der Einführung von sozialen Neuerungen zu etablieren. Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung hat folgendes Ziel: „Sein Ziel ist es, Beiträge zur Verbesserung der Informationsgrundlagen forschungs- und technologiebezogener Beratungs- und Entscheidungsprozesse im Deutschen Bundestag zu leisten.“ (Forschungszentrum Karlsruhe 2005: 26) Ein ähnliches Ziel müsste das vorgeschlagene „Büro für soziale und ökonomische Folgenabschätzung“ in der Sozialgesetzgebung verfolgen. Allerdings wäre der Wirkungsbereich eines derartigen Büros auszweiten, bzw. ein ähnliches Büro in der Sozialen Selbstverwaltung einzurichten, da nicht alle Sachverhalte im Sozialen vom Gesetzgeber, sondern von der Sozialen Selbstverwaltung geregelt werden. In einem nächsten Schritt wäre zu klären, wie die Prüfung der sozialen und ökonomischen Folgenabschätzung von geplanten sozialen Neuerungen aussehen könnte. Bei der Überarbeitung der Pflegeversicherung z.B., wie sie jetzt disku-
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tiert wird (vgl. Hamdorf et al. 2007), hieße dies, dass die geplanten Veränderungen im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Pflegebedürftigen und die Pflegeeinrichtungen abzuschätzen wären. Den Rahmen für diese Prüfung könnte der Ansatz von Büssing/Glaser (vgl. Büssing/Glaser 2003) bieten. Sie trennen zwischen den Voraussetzungen der Interaktionsarbeit, den Bedingungen und Komponenten von Interaktionsarbeit und den Wirkungen und Folgen von Interaktionsarbeit. Für die Voraussetzung der Pflege können Indikatoren der Strukturqualität (z.B. Qualifikation, Betreuungsschlüssel, Kontaktzeiten) für die Prüfung angewendet werden. Dies alleine genügt jedoch nicht. Pflegerische Arbeit ist Interaktionsarbeit und damit Gefühls- und Emotionsarbeit und ist sehr geprägt vom subjektiven Arbeitshandeln. Diese Arbeit ist aus der Perspektive des Pflegebedürftigen mit seinen Rechten und Pflichten zu organisieren. Es gilt daher, Kriterien zu entwickeln um festzustellen, ob die Interaktionsarbeit unter den angestrebten Rahmenbedingungen die Lebensqualität des Pflegebedürftigen erhöht oder eher senkt und damit über die reine Patientenzufriedenheit hinausgeht. Eine zweite notwendige Prüfperspektive müsste den Blick auf die Arbeitsund Lebenssituation der Leistungserbringer richten. Dies ist insbesondere bei personalen Dienstleistungen von großer Bedeutung, da die Qualität der Leistung nicht nur von der fachlichen Qualifikation abhängig ist, sondern auch von den sozialen Kompetenzen und damit von Motivation und Zufriedenheit der Pflegenden. Hier geht es u.a. um die Prüfung, ob die Leistungsanbieter, d.h. die Pflegenden selbst mit der angestrebten Änderung ein akzeptables Verhältnis zwischen Arbeits und Freizeit, zwischen Arbeitsleben und Privatleben haben und ein angemessenes wirtschaftliches Auskommen erreichen. Letzteres könnte u.a. festgemacht werden an Kennziffern wie der Umsatz-Rentabilität oder der Arbeitsproduktivität. Mit der Kennziffer Umsatz-Rentabilität (vgl. Thommen/Achleitner 2003: 492f.) wird zum Ausdruck gebracht, wie viel Prozent des Jahresumsatzes als Überschuss/Verlust zu verzeichnen waren. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Erlöse im Krankenhaus- und Pflegebereich nicht über marktliche Preismechanismen entstehen, sondern verhandelt oder vorgegeben werden. Gesetzliche Änderungen oder Verhandlungs(miss)erfolge können somit zu Erlöseinbußen oder -steigerungen führen. Dieser Indikator ist daher für die Beurteilung der Angemessenheit der Entlohnung im öffentlichen Gesundheitsversorgungssystem weniger geeignet. Mit dem Begriff Arbeitsproduktivität wird der durchschnittliche Produktionsertrag von Arbeitskräften in einem bestimmten Zeitraum umschrieben. Die Arbeitsproduktivität wird ermittelt, indem die Bruttowertschöpfung durch die Anzahl der Erwerbstätigen dividiert wird (vgl. Statistisches Bundesamt 2003: 66). Die Arbeitsproduktivität wird je Erwerbstätigem bzw. je Erwerbstätigen-
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stunde ausgewiesen. Die Messung der Arbeitsproduktivität im Bereich der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen bereitet Schwierigkeiten (vgl. Reding 1985: 123ff.). Die Schwierigkeiten bestehen in der Erfassung des Outputs und des Outcomes der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen. Unter Output versteht man die konkret erbrachten Einzelleistungen, unter Outcome steht die Verbesserung des Gesundheitszustandes. Zur Quantifizierung des Outputs bedarf es einer einheitlichen Erfassung von Einzelleistungen und deren Gewichtung. In der Praxis findet man heute verschiedene Systeme zur Erfassung der pflegerischen Leistungen (u.a. LEP, PRN usw.; vgl. Fischer 2001). Die Erfassung des Outcomes gestaltet sich schwieriger. Die verwendeten Messinstrumente decken jeweils nur Teilaspekte ab, wie z.B. Patientenzufriedenheit, Dekubitusrate. Eine Annäherung an die Quantifizierung von Outputs und Outcomes gelingt mit Hilfe von Indikatorensystemen. Um trotz der Messprobleme die Arbeitsproduktivität zu ermitteln, werden in nicht-marktlichen Bereichen häufig Input-Input-Relationen betrachtet. Dabei wird wie folgt vorgegangen: Die pflegerischen Leistungen wurden bereinigt um die Vorleistungen. Ohne den Abzug der Vorleistungen würden z.B. die pflegerischen Leistungen zu hoch ausgewiesen. Die so ermittelte Differenz wurde dann dividiert durch die Anzahl der Vollkräfte. Die Vollkräftezahlen der Pflege geben die Anzahl der abhängig Beschäftigten wieder. Dies ergab dann die in Geldwerten ausgedrückte Arbeitsproduktivität je Pflege-Vollkraft. Diese lag 1997 bei 48.900 Euro, 2004 bei 51.600 Euro (vgl. Thiele/Güntert 2007a). In den Einrichtungen der Pflege war die Arbeitsproduktivität sehr unterschiedlich. Kontinuierlich angestiegen ist sie in den ambulanten Pflegeeinrichtungen: Von 54.400 Euro 1997 auf 64.300 Euro 2004. In den stationären/teilstationären Pflegeeinrichtungen ist die Arbeitsproduktivität von 56.800 Euro (1997) auf 51.600 (2004) gesunken. Bei den Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen stieg die Arbeitsproduktivität von 11.600 Euro (1997) auf 16.300 Euro (2004). Die Arbeitsproduktivität im Krankenhaus je Pflege-Vollkraft stieg 1997 von 35.200 Euro 2004 auf 38.700 Euro (vgl. Abb. 2).
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Abbildung 2: Durchschnittliche Arbeitsproduktivität je beschäftigter Vollkraft in der Pflege 1997 bis 2004; (Quelle: eigene Berechnung nach Statistischen Bundesamt 2006) 70.000 60.000
64.292 56.870 51.640
50.000
54.407
51.254
48.959 40.000
Krankenhaus Stat./teils tationäre Pflege
38.717
35.201
Am bulante Pflege
30.000
Vors orge- und Rehabilitations leis tungen 16.268
20.000 11.639
Arbeits produktivität je Pflegevollkraft
10.000 0 1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
Wie die Daten zeigen, ist die Arbeitsproduktivität in den Einrichtungen unterschiedlich hoch. Geht man davon aus, dass die Arbeitsproduktivität bei personenbezogenen sozialen Dienstleistungen bei ca. 33.000 bis 36.000 Euro je Vollkraft liegen sollte, so zeigt sich, dass die Arbeitsproduktivität in den meisten Einrichtungen viel höher ist (Thiele/Güntert 2007a) bzw. dass – wie von der Pflege selbst immer wieder betont wird – ein Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften besteht. Da es sich jedoch um eine Input-Input-Relation handelt, muss dieses Ergebnis auch mit Vorsicht interpretiert werden. Geht man jedoch für das Jahr 2004 von einer durchschnittlichen Arbeitsproduktivität je Vollkraft im Bereich der personalen Dienstleistungen von 36.000 Euro aus, so fehlen im Krankenhaus ca. 30.000 Pflegevollkräfte, wenn man sich an die durchschnittliche Arbeitsproduktivität angleichen will. Dabei ist zu berücksichtigen, dass – wie bereits oben erwähnt – im Zeitraum von 1995 bis 2005 rund 40.000 Pflegestellen im Krankenhaus abgebaut wurden (Niermann 2007: 19). Nach derselben Berechnung, basierend auf der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität personaler Dienstleistungen, fehlen in Pflegeheimen ca. 90.000 Pflegevollkräfte und in den ambulanten Pflegediensten ca. 74.000 Pflegevollkräfte. Insgesamt würden damit bereits heute rund 194.000 Pflegevollkräfte in den erwähnten Einrichtungen fehlen. Wird von einem durchschnittlichen Personalaufwand von ca. 35.000 Euro je Pflegevollkraft ausgegangen, so ergibt sich eine Unterfinanzierung von knapp 7 Mrd. Euro.
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Diese Zahl ist ein weiterer Hinweis für eine bestehende Unterfinanzierung der Pflege (vgl. Abschnitt 3.2). Sie muss insofern relativiert werden, da es sich bei der Pflege um eine qualifizierte personale Dienstleistung handelt. Damit ist es durchaus möglich, dass in der Branche eine überdurchschnittliche Produktivität üblich ist, wobei allerdings beachtet werden muss, dass das weitere Rationalisierungspotential sehr klein ist. Betrachtet man nun die künftigen Herausforderungen an die Pflege (u.a. demografisch bedingte Mehrnachfrage, steigende Leistungskomplexität, unterschiedlichste Pflegesettings), so müsste eigentlich alles daran gesetzt werden, um Unterfinanzierung zu vermeiden und die Attraktivität der Pflege zu verbessern.
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Ökonomisches, soziales und kulturelles „Kapital“ und die soziale Ungleichheit in der Pflege Ökonomisches, soziales und kulturelles „Kapital“ …
Johann Behrens
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Fachpflege verstärkt vielfach soziale Ungleichheit
1.1 Einleitung Erstaunlicherweise steht die Beschäftigung der Pflege- und Sozialwissenschaften mit dem Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Pflege in Deutschland noch sehr am Anfang. Besonders erstaunlich ist dies auch deshalb, weil seit etwa 15 Jahren in der Pflege und in der Medizin das alte ethische, schon in den hippokratischen Schriften sowie von Schleiermacher und Max Weber herausgearbeitete Prinzip, jede Intervention rechtfertige sich nur durch ihre mit hinreichender Wahrscheinlichkeit tatsächlich eintretende Wirkung, als Forderung nach „Evidencebasierung“ wieder betont wird. Warum sollten ausgerechnet die Interventionen der Versorgungspolitik von dieser Forderung nach Evidencebasierung ausgenommen sein? Wir sind in dieser Frage bisher wenig weitergekommen, obwohl schon in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der DFG-Sonderforschungsbereich 3 zu den Mikroanalytischen Grundlagen der Gesellschaftspolitik die individuellen Wirkungen wirtschafts- und sozialpolitischer Interventionen zum Thema machte, also Politikfolgenforschung betrieb (vgl. Behrens/Langer 2006). Dabei kann das Phänomen der Pflegebedürftigkeit geradezu als exemplarischer Fall für drei Hauptfragen der Soziologie sozialer Ungleichheit stehen: 1. 2.
3.
Wie erkennen und messen wir soziale Ungleichheit in der Pflege (die abhängige Variable)? Das ist Gegenstand des 2. Kapitels dieses Beitrags. Wie erklären (und ggf. beeinflussen) wir soziale Ungleichheit in der Pflege? (unabhängige Variablen in struktur- und handlungstheoretischer Sicht – das ist Thema des 3. Kapitels) Und vor allem: Wie wird aus (sozialkulturell und genetisch bedingten) Unterschieden „soziale Ungleichheit“? Das ist der Gegenstand des 4. Kapitels.
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Alle drei Fragen, nach denen sich die Gliederung dieses Beitrags richten wird, hängen zusammen und sind für die Pflege noch nicht hinreichend beantwortet – aber die Pflege stellt sie besonders dringlich, sie bringt sie – wie das erste Kapitel zeigen soll – in gewisser Weise auf den Punkt. Die erste Frage nach der angemessenen Messung sozialer Ungleichheit wird oft mit Variablen beantwortet, die für die Pflegesituation nicht recht als ausschließliche Ergebnisvariablen passen: Stellung im Beruf, Einkommen, selbst Morbidität und Mortalität charakterisieren das outcome in der Pflegesituation nicht hinreichend. Daher diskutiere ich im zweiten Kapitel dieses Beitrages die „Partizipation am biographisch relevantem sozialen Leben“ als Zielgröße. Das bietet gesellschaftliche hochrelevante Andockstellen: Die Zielvariable Teilhabe prägt das Sozialgesetzbuch IX. Der Gesetzgeber greift dabei auf die Internationale Klassifikation der funktionalen Gesundheit („ICF“) zurück. Diese Klassifikation hat die Weltgesundheitsorganisation als umfassendere Klassifikation neben die ICD, die Internationale Klassifikation der Krankheiten gestellt. Über den Gesundheitsbereich hinaus entwickelte sich „Teilhabe“ als Ziel und Maßstab im politischen Diskurs zum Leitbild. Teilhabe ist daher auch für andere Bereiche der Soziologie sozialer Ungleichheit als outcome-Variable zu diskutieren. Die zweite offene Frage betrifft die Mechanismen, durch die es zu sozial ungleichen Pflegesituationen kommt: Sind sie strukturtheoretisch oder handlungstheoretisch (agency) zu fassen? Was sind ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen oder „Kapitalien“ (Bourdieu), und ist ihr Wirken handlungstheoretisch zu begreifen? Das ist Gegenstand des dritten Kapitels dieses Beitrages. Die Antwort auf die zweite Frage kann ebenfalls an die ICF der Weltgesundheitsorganisation anknüpfen. Die dritte Frage ist die wichtigste und schwierigste, und ohne eine Antwort auf sie lässt sich genau genommen auch die erste Frage nicht beantworten: Was lässt uns, was lässt Gesellschaften Unterschiede in Lebenslagen als „soziale Ungleichheit“ thematisieren und häufig skandalisieren? Wo liegt die Scheidelinie zwischen bloßen Unterschieden (im Einkommen, in der beruflichen Stellung, in der körperlichen Konstitution, in der Wohnsituation, in der Furcht, im Optimismus, in der Morbidität, in der Mortalität) und „sozialer Ungleichheit“ – und wie kommt es zu dieser Scheidelinie? Denn viele Unterschiede sind in den europäischen Gesellschaften ganz selbstverständlich als Früchte unterschiedlicher Kaufkraft, unterschiedlicher Leistung, unterschiedlichen Glücks, sogar manchmal unterschiedlichen Standes akzeptiert. Solche Unterschiede werden nicht als „soziale Ungleichheit“, sondern als Unterschiede und Vielfalt thematisiert. Sie erscheinen als Ausdruck der Leistungsgerechtigkeit oder des hinzunehmenden Schicksals. In den europäischen und den meisten anderen Gesellschaften lassen sich Bereiche unterschiedlicher Verteilungsprinzipien erkennen, die in ihren Berei-
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chen jeweils als gerecht gelten. Es gibt einen Bereich, in dem die Verteilung nach „Leistung“ als gerecht gilt, und einen, in dem die individuelle Betroffenheit von Schicksalsschlägen nicht als ungerecht gilt. Es gibt sogar ab und zu noch Bereiche, in dem Verteilung nach Stand die Gerechtigkeit nicht verletzt. Aber es gibt in allen europäischen und in den meisten anderen Gesellschaften auch einen Bereich, in dem gilt, „jedem nach seinen Bedürfnissen“ – unabhängig von seiner Kaufkraft, seiner Leistung, seinem Stand, seinem glücklichen oder unglücklichen Schicksal. Dieses Verteilungsprinzip „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ wird heute bei der Verteilung des „medizinisch Notwendigen“ (so der terminus technicus) in Anspruch genommen – in allen europäischen und den meisten anderen Gesellschaften. Bei der Verteilung z.B. von Wohnungen gilt „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ ganz offensichtlich nicht – solange sie nicht gesundheitlich notwendig sind. Ob Unterschiede als „soziale Ungleichheit“ erkennbar und kritisierbar sind, hängt von ihrer Zuordnung zu gesellschaftlichen Teilbereichen ab. Schon jetzt ist offensichtlich, dass die Zuordnung eines Problems zum Gesundheitssystem andere Gerechtigkeitsnormen anruft als die Zuordnung zum Erwerbsbereich. Pflegeungleichheit ist ein exemplarischer Fall für den öffentlichen Diskurs, in dem aus sozialen Unterschieden soziale Ungleichheit wird und an dem Gesellschaften ihr Verständnis von sozialer Ungleichheit, Reziprozität und Gerechtigkeit in der Erörterung täglicher Skandale entwickeln. Aber der Fall der Pflege ist durchaus vertrackt und gerade in seiner Vertracktheit lehrreich: Denn ist Pflege eigentlich ein Problem medizinischer Versorgung oder der Einkommensverteilung? Die meisten Staaten der OECD sehen die Akutpflege (acute care) als Gegenstand medizinischer Versorgung an, aber viele Staaten sehen das anders für die Langzeitpflege (long term care), die nicht wie in Deutschland in die Zuständigkeit eines Medizinischen Dienstes fällt. Der Unterschied in der Zuordnung kann höchst folgenreich sein: Wie gerade gesagt, gelten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen sehr unterschiedliche Verteilungsregeln. Für die medizinische notwendige Behandlung gilt in nahezu allen Ländern dieser Erde die Rechts- und berufsethische Norm, dass jedem nach seinen Bedürfnissen unabhängig von seiner individuellen Kaufkraft die für ihn notwendigen Leistungen zustehen. Beim Einkommen gilt mit derselben Selbstverständlichkeit dagegen die Norm „Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten“ nicht und damit auch nicht beim Zugang zu Villen und Restaurantbesuchen. Es ist die Sphäre der Leistungsgerechtigkeit, des Erfolges. Das ist der Gegenstand des vierten Kapitels. Mit diesen drei, für die Erforschung sozialer Ungleichheit ebenso zentralen wie schwierigen Fragen soll allerdings nicht verdeckt werden, dass einige Ungleichheiten in der Pflege sehr deutlich auf der Hand liegen und trotzdem wenig
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bekannt sind (viele von ihnen sind seit Jahren erforscht, vgl. zusammenfassend Behrens/Rothgang 2000). Um sie geht es im ersten Kapitel, als Hintergrund für die folgenden Diskussionen. Denn trotz ihrer Eindeutigkeit werfen sie die Fragen nach Messkonzepten und den Diskurs von Pflegeabhängigkeit und sozialer Ungleichheit auf, die Gegenstand der folgenden Kapitel sind.
1.2 Fachpflege reproduziert soziale Ungleichheit Für viele Menschen, keineswegs für alle ist der Übertritt in die Pflegeabhängigkeit (im Sinne des SGB XI) ein Ereignis, das spät im Leben eintritt als Folge von chronischen Krankheiten und Behinderungen – und in dem sich die soziale Ungleichheit reproduziert, die sich im Leben bis dahin kumulierte. Vermutlich liegt außer im Datenmangel (v. Ferber/Behrens 1997) darin ein Grund, warum der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und dem Eintreten von Pflegeabhängigkeit (nach der Definition des SGB XI) selten thematisiert wird: Wenn die Pflegeabhängigkeit im Lebensverlauf eintritt, haben die Mechanismen sozialer Ungleichheit längst gewirkt: .Die Bildungs- und Arbeitsmarktprozesse, die Menschen auf gesundheitlich riskante oder gesundheitsförderliche Arbeitsplätze und Wohnumgebungen bringen, haben vor Jahrzehnten stattgefunden. Die chronischen Krankheiten und Behinderungen sind längst vorher aufgetreten. An diesen chronischen Krankheiten entzündete sich bereits die Diskussion über deren soziale Bedingtheit (vgl. Siegrist 2000; Behrens 1990). Warum soll der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Pflegeabhängigkeit noch einmal thematisiert werden, wenn er schon für den Zusammenhang von chronischer Krankheit und sozialer Ungleichheit diskutiert wurde? Er scheint trivial. Wenn die Einkommensschwächeren, insbesondere die unter ungünstigen Arbeits- und Anerkennungsbedingungen Erwerbstätigen häufiger an Diabetes, an Bluthochdruck, an Krebs, an Herz- und Kreislauferkrankungen und sogar an der vaskulären wie an der Alzheimerschen Demenz (vgl. Weyerer 2005; Goldbourt et al. 2007) leiden, chronische Krankheiten, die im Unterschied z.B. zu Asthma Pflegeabhängigkeit auslösen – wen sollte es wundern, dass sie später häufiger zum Pflegefall werden? Gesetzlich Pflegeversicherte sind im Durchschnitt 6 Jahre jünger als privat Pflegeversicherte, wenn sie ihren ersten Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung stellen (vgl. Yalinkilic 2005). Dieser enorme Unterschied deutet auf ein erhebliches Präventionspotential hin (vgl. Kapitel 3), aber er verweist auf soziale Unterschiede, die lange vor Eintritt der Pflegebedürftigkeit auftraten. Für diese sozialen Unterschiede scheint die Fachpflege nicht haftbar zu sein.
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1.3 Fachpflege erzeugt soziale Ungleichheit neu Weniger trivial sind die Unterschiede, die in der Tat von der Fachpflege – wenn auch zweifellos mehr nolens als volens – mit verursacht werden: In der Pflege wird nicht nur soziale Ungleichheit reproduziert, sondern auch neu erzeugt – durch die Hürden, die Pflegeprofessionen ungewollt errichten mit der schlechten Verständlichkeit und schlechten Koordination ihrer Angebote. Zu viele kulturelle und soziale Ressourcen, also Wissen und Beziehungen zu unterstützungsfähigen Personen und Einrichtungen, sind dann nötig, um die Angebote der Pflegeprofession nutzen zu können. Diese Zugangshürden wirken, selbst wenn die Pflege voll finanziert und kein eigenes ökonomisches Kapital für die Nutzung pflegerischer Angebote nötig wäre. Das zeigen für Deutschland die pflegewissenschaftlichen Projekte sowohl des DFG-Sonderforschungsbereiches 186 in Bremen als auch des DFG-Sonderforschungsbereiches 580 in Halle und Jena (Behrens et al. 2006/2008): Für die ambulante, die stationäre und die im engeren Sinn rehabilitative Pflege sind je eigene Kosten- und Leistungsträger zuständig, die StandardAngebote der verschiedenen Leistungsträger enden zeitlich und sachlich an den Grenzen ihrer jeweiligen Zuständigkeit. Ihre Koordination zum Nutzen des Pflegebedürftigen verlangt einen Lotsen, der mit den Pflegebedürftigen und ihrer Familie zusammen die Angebote integriert. Wie unsere empirischen Untersuchungen in beiden DFG-Sonderforschungsbereichen zeigen, entbehren Pflegebedürftige und ihre Familien oft dieses Lotsen und sind auf ihre eigenen kulturellen und sozialen Ressourcen fürs Zurechtfinden angewiesen (Behrens et al. 2006/2008). Die kulturellen und sozialen Ressourcen sind sozial ungleich verteilt. Schon allein daraus ergeben sich sozial unterschiedliche Chancen der Zugänglichkeit und der Nutzung fachpflegerischer Unterstützungen. Pflegeabhängigkeit ist daher ein eindrücklicher Beleg dafür, dass in der Erforschung sozialer Ungleichheit neben ökonomischem Kapital auch ungleiches soziales und kulturelles Kapital einbezogen werden muss: Bourdieu (1982) führte die ethnographisch beschreibende Kategorie des sozialen und kulturellen Kapitals ein, als zu erklären war, warum trotz kostenlosen Schulbesuchs der Einfluss des Elternhauses auf Schulerfolg und späterer sozialer Positionierung so groß blieb. Pflege scheint nach den vorliegenden, durch weitere Forschung zu erhärtenden Indizien ein noch deutlicherer Beleg dafür zu sein, dass die Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Pflege nicht allein durch ökonomisches Kapital erklärt werden kann, sondern hinreichend nur durch die sozialstaatlich kaum abgemilderte Abhängigkeit von unterschiedlich vorhandenem kulturellen und sozialen Kapital. Gleichzeitig macht Pflege die allgemeine, noch nicht befriedigend beantwortete Frage für die Soziologie sozialer Ungleichheit dringlich, an welcher Größe („outcome“) Ungleichheit zu messen ist, wenn die eingeführten Größen Ein-
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kommen, berufliche Position, Morbidität und Mortalität – wie in der Situation der Pflegeabhängigkeit – offensichtlich nicht (mehr) als allein aussagekräftig für die sozial ungleiche Güte der Lebenslage erscheinen können. Hier bietet sich das Konzept der Teilhabe am je biographisch relevanten sozialen Leben an. Es soll im zweiten Kapitel an der Internationalen Klassifikation funktionaler Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation erörtert werden, auf das sich das deutsche Sozialgesetzbuch IX bezieht. Wieweit diese Teilhabe, wieweit Pflege überhaupt in den Zuständigkeitsbereich des Gesundheitssystems fällt und mit welchen Folgen für den Diskurs über soziale Ungleichheit, das ist Gegenstand des dritten Kapitels. Bevor wir zu diesen komplexen Fragen kommen, sollen die relativ einfachen der ökonomischen Ungleichheit nicht vergessen werden, sondern hier angesprochen werden – zumal die Pflegeversicherung eine Umverteilung statt von oben nach unten von unten nach oben etablierte und damit das Konzept des Sozialstaats um eine ungewöhnliche Umverteilungsrichtung erweiterte.
1.4 Sozial ungleiche Prognose kommender Pflegebedürftigkeit und die Verzerrung des „labels“ Pflegebedürftigkeit So erwartet der Einfluss des sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals auf die Pflegebedürftigkeit sein mag, so schwer ist dennoch ihre Messung. Grund dafür ist das Messproblem von Pflegebedürftigkeit. Selbst wenn man das Konzept der Teilhabe, das die Weltgesundheitsorganisation und das deutsche Sozialgesetzbuch IX formulieren (vgl. Kapitel 2 dieses Beitrages) außer Acht lässt und mit sehr reduziertem Anspruch Pflegebedürftigkeit mit der durch den MDK begutachteten Pflegestufe misst, gerät man in die Falle, dass die Anerkennung einer Pflegestufe selber erheblicher Anstrengungen, erheblichen sozialen und kulturellen Kapitals bedarf. Im Projekt „Alt werden zu Hause“ des Pflegeforschungsverbundes Mitte-Süd werden individuelle Verlaufsdaten im Hinblick auf Pflegestufen der Versicherten der „Gmünder Ersatzkasse (GEK)“ analysiert, und zwar zunächst männliche Versicherte über 45 Jahre im Zeitraum 1998 bis 2006 (Borchardt et al. 2008). Etwa 3000 dieser Männer werden in diesen Jahren pflegebedürftig nach der Definition des SGB XI. Methodisch kann eine Ereignisanalyse (Übergangsratenmodelle) das Risiko zukünftiger Pflegebedürftigkeit in Abhängigkeit von beruflichen und sozialen Merkmalen prognostizieren und damit die Frage beantworten: Welche Variablen prognostizieren eine Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI, also einer Pflegestufe und den Übergang in die nächste Pflegestufe? Allerdings muss bei dieser Prognose der Pflegebedürftigkeit eine offensichtliche Verzerrung schon bei der Erfassung der Pflegebedürftigkeit, operationalisiert als „Pflegestufe“, in Rechnung gestellt werden. Denn es ist keines-
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wegs einfach, die Anerkennung einer Pflegestufe zu erreichen. Erhebliches kulturelles Kapital meist der Töchter und Schwiegertöchter, zuweilen auch der Söhne und Schwiegersöhne der Pflegedürftigen ist nötig, um eine Einstufung in eine Pflegestufe zu erreichen. Jedes Jahr kämpfen Zehntausende darum. Damit ist keineswegs gesagt, dass die Gutachterinnen und Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen inkorrekt handelten. Es ist nur gesagt, dass die gebildeten Töchter und Schwiegertöchter, die gebildeten Söhne und Schwiegersöhne eine größere Chance haben, die Bedingungen zu durchschauen, die zu einer Anerkennung einer Pflegestufe führen. Daraus kann man prognostizieren, dass Mütter und Väter gebildeter Töchter und Schwiegertöchter, gebildeter Söhne und Schwiegersöhne eine größere Chance haben, das begehrte Gut „Pflegestufe 1“, vielleicht auch „Pflegestufe 2“ für ihre Mütter und Schwiegermütter, Väter und Schwiegerväter zu erreichen. Eine Pflegstufe kann also meiner Ansicht nach keineswegs umstandslos als Indikator von Pflegebedürftigkeit gelten, es handelt sich vielmehr um einen Indikator für „Pflegebedürftigkeit plus kulturellem Kapital“ der Angehörigen, die sich besonders um das begehrte Gut „Pflegestufe“ kümmern (vgl. Behrens/Rothgang 2000). Wenn dennoch nach den Ergebnissen des Projekts „Alt werden zu Hause“ des Pflegeforschungsverbundes Mitte Süd gering qualifizierte Männer mit manuellen Berufen ein erhöhtes Risiko/eine erhöhte Chance haben, in die Pflegestufe 1 oder 2 zu kommen, dann muss – bei Berichtigung der Verzerrung – die Wirkung sozialer Ungleichheit auf das Eintreten einer Pflegeabhängigkeit eher größer sein. Die Wahl des Indikators „Pflegestufe“ für die Pflegeabhängigkeit führt zu einer Unterschätzung der Wirkung sozialer Ungleichheit auf den Eintritt der Pflegebedürftigkeit. Erst für die Pflegestufe 3 ist der Effekt sozialer Ungleichheit weniger sichtbar. Das ist gut vereinbar mit der Erwartung, kulturelles Kapital sei hilfreich für das „Erreichen“ einer Pflegestufe 1 oder sogar 2. Mangel an kulturellem und sozialem Kapital führt tendenziell dazu, dass eine Pflegestufe 1 weniger „gekonnt“ dargelegt werden kann. Dieser Verzerrungseffekt führt offenbar zu einer Unterschätzung der Wirkung sozialer Unterschiede auf das Erreichen der Pflegestufe 1. Diese Verzerrung ist bei der Interpretation von MDK- und Pflegekassendaten zur Prävalenz und Inzidenz der Pflegeabhängigkeit zu berücksichtigen. Wenn die Pflegeprofession soziale Ungleichheit nicht täglich neu erzeugen will, soviel lässt sich im Vorgriff sagen, muss sie fehlende ökonomische, spezifisch soziale und spezifisch kulturelle Ressourcen ihrer Klienten soweit ausgleichen, dass auch diese Pflegebedürftigen die Fachpflege so gut verstehen und nutzen können wie die an ökonomischen, spezifischen sozialen und spezifischen kulturellen Ressourcen Reicheren.
Ökonomisches, soziales und kulturelles „Kapital“ …
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1.5 Verstärkung ökonomischer Ungleichheit Nicht erst die unterschiedlichen notwendigen Ausstattungen mit kulturellem und sozialem Kapital, sondern vor allem die ökonomischen Dimensionen des Zusammenhangs von Pflege und sozialer Ungleichheit sind inzwischen verhältnismäßig offenkundig (vgl. zusammenfassend schon Behrens/Rothgang 2000). Das heißt allerdings keineswegs, dass sie sich bereits herumgesprochen hätten. Daher seien einige ökonomische Zusammenhänge, insbesondere die Umverteilung von unten nach oben durch die Pflegeversicherung als „Erbenschutzversicherung“ und ihre Gestalt als Teilkaskoversicherung hier notiert. 1.5.1 Die Pflegeversicherung als Umverteilung von unten nach oben, als „Erbenschutzversicherung“ Bereits die Finanzierung der Pflege durch die Pflegeversicherung gab und gibt Anlass, sie auf die Steigerung sozialer Ungleichheit hin zu untersuchen. Denn die Pflegeversicherung wirkt im deutschen Sozialstaat durchaus paradox. Während der Sozialstaat in seiner Umverteilung ansonsten den Geboten der großen Weltreligionen des Judentums, des Christentums, des Islam und vieler anderer, die die Sorge für die Armen zum Weg der erlösenden Lebensbewährung machen, und den französischen und amerikanischen revolutionären Verfassungen folgte, in dem er von den Einkommensstärkeren zu den Einkommensschwächeren hin solidarisch umverteilt, wirkt die Pflegeversicherung in die umgekehrte Richtung. Sie belastet – verglichen mit der Zeit vor ihrer Einführung – Personen mit geringen Einkommen, deren Pflege vorher die Sozialhilfe trug, und entlastet mittlere und höhere Einkommen. In ihrer Wirkung verteilt sie also, gemessen an der vorherigen Finanzierung, von unten nach oben um statt von oben nach unten. Während vor der Pflegeversicherung die Kosten der Pflege für die weniger Vermögenden zum nicht unbeträchtlichen Teil die Sozialhilfe trug und die Kosten der Pflege bei den wirklich besser Verdienenden aus dem Vermögen und Einkommen, das dadurch den Erben nicht mehr zur Verfügung stand, zu bezahlen war, entlastete die Pflegeversicherung die Erben und die kommunale Sozialhilfe. Deswegen wird die Pflegeversicherung auch – keineswegs ganz zu Unrecht – im Volksmund häufig als „Erbenschutzversicherung“ bezeichnet. Das haben sehr früh Fachinger und Rothgang nachgerechnet, und die Zusammenfassung findet sich in Behrens/Rothgang (2000).
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1.5.2 Die privat Pflegeversicherten sind von der Solidarität befreit Die Teilung in eine gesetzliche und eine private Pflegeversicherung – bei gleichen Leistungen – führte dazu, dass die privat Pflegeversicherten sich nicht am solidarischen Ausgleich mit den gesetzlich Pflegeversicherten beteiligen. Da in der gesetzlichen Pflegeversicherung die häufiger Kränkeren und häufiger Pflegebedürftigen versichert sind, fallen die Prämien für eine private, der gesetzlichen im Leistungsumfang vergleichbaren Teilkasko-Versicherung etwa halb so hoch aus wie in der gesetzlichen Pflegeversicherung. Das würde sich möglicherweise schnell ändern, wenn alle Mitglieder der gesetzlichen Pflegeversicherung in die private übertreten dürften. Das dürfen sie bekanntlich nicht. Die private Pflegeversicherung ist bestimmten Gruppen der Bevölkerung vorbehalten (vgl. Behrens/Rothgang 2000). 1.5.3 Die Pflegeversicherung als Entlastung der Kommunen Da die Pflegeversicherung die Sozialhilfe entlastete, entlastete sie bei der herrschenden Lastenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen die Kommune – bis heute (vgl. zusammenfassend schon Behrens/Rothgang 2000). 1.5.4 Möglicherweise war die Umverteilung von unten nach oben in der Pflegeversicherung eine Bedingung ihrer Durchsetzbarkeit Die Umverteilung von Unten zur Mitte und nach Oben entspricht nicht den großen Weltreligionen und auch nicht den Verfassungen der französischen und amerikanischen Revolutionen. Das ist verhältnismäßig eindeutig. Aber vielleicht wäre es in Deutschland nie zu einer breiten Koalition vieler Interessen für die Pflegeversicherung gekommen, wenn sie nicht den Interessen der Kommunen und denen der Mittel- und Oberschichten, und in ihnen insbesondere den Interessen der Erben der Pflegebedürftigen, mit entsprochen hätte. Das Pflegeversicherung nach dem Sozialgesetzbuch XI schützt auf alle Fälle die finanziellen Interessen der Erben und der Kommunen, (vgl. Behrens/Rothgang 2000). Die Verteilungswirkungen allein der Pflegeversicherung isoliert zu betrachten ist relevant, weil ja über die Pflegeversicherung und nicht zugleich über sämtliche Steuern und Sozialabgaben entschieden wurde. Die Verteilungswirkung sämtlicher Steuern und Sozialabgaben auf den einzelnen Haushalt müssen keineswegs dieselben sein wie die der Pflegeversicherung.
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1.6 Die Pflegeversicherung als „Teilkasko-Versicherung“ Die zweite Besonderheit der Pflegeversicherung ist ihr Charakter einer „Teilkasko-Versicherung“. Im Unterschied zur Krankenversicherung ist die Pflegeversicherung nach dem Sozialgesetzbuch XI eindeutig eine Teilkaskoversicherung. Sie erstattet nicht das pflegerisch Notwendige – das in Deutschland interessanter- und konsequenterweise durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen festgestellt wird (siehe unten das 4. Kapitel) –, sondern leistet nur einen Zuschuss zu diesem Not-Wendigen. Das ist ein erheblicher Unterschied zur gesetzlichen Krankenversicherung, die das (unter Einschluss der Ärzte- und Patientenvertretungen im Gemeinsamen Bundesausschuss definierte) medizinisch NotWendige voll finanziert und nur das Nicht-Notwendige an die freiwilligen Zusatzversicherungen verweist. Ist das ein Zeichen dafür und eine Folge davon, dass Pflegebedürftigkeit, insbesondere Lang-Zeit-Pflegebedürftigkeit, doch nicht der Zuständigkeit des Gesundheitssystems zugerechnet wird? Im vierten Kapitel dieses Beitrages diskutieren wir daher die für die Theorie sozialer Ungleichheit entscheidenden Funktionen und Folgen der Zuordnung einer Notlage zum Gesundheitssystem. Schon jetzt ist offensichtlich: Wenn die Pflegeversicherung zum Gesundheitssystem gehört, dann ist ihr Teilkasko-Charakter in der Tat als Schwalbe, als Vorbote einer grundlegenden Änderung der Gesetzlichen Krankenversicherung in Richtung einer Teilkasko-Versicherung zu beargwöhnen (vgl. Behrens 1990; Behrens/Rothgang 2000). Wenn sie nicht dem Gesundheitssystem zuzuordnen ist, dann ist die Ansteckungsgefahr „Verallgemeinerung des Teilkaskoprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung“ geringer zu veranschlagen. Für die ökonomische soziale Ungleichheit kann allerdings schon jetzt die Trivialität notiert werden: Jede Teilkasko-Versicherung begünstigt den, der noch etwas Geld hat, um den nicht versicherten Bedarf zu decken. Insofern wirken Teilkasko-Versicherungen trivialer Weise sozial ungleich (vgl. auch hier z.B. Behrens/Rothgang 2000).
1.7 Fazit Die eher geringe gesundheits- und sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Zusammenhang von sozialen Unterschieden und Pflege kann offenbar nicht daran liegen, dass da kein Zusammenhang ins Auge springt – aber möglicherweise erscheint er zu trivial und der eigene Anteil, den die Profession der Pflege an seiner Reproduktion, Verstärkung und Neuerzeugung hat, fällt gegenüber der
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früher im Leben erzeugten Ungleichheit weniger ins Auge und damit weniger in die wahrgenommene Haftung der Fachpflege. Gleichzeitig zeigen schon die im ersten Kapitel aufgeführten, auf dem ersten Blick so klaren und skandalisierbaren Fälle der Wirkung sozialer Unterschiede in der Pflege, wie sehr die Messkonzepte der abhängigen Variablen pflegerischer Ungleichheit, die unabhängigen Variablen und die Einordnung in den öffentlichen Diskurs über soziale Ungleichheit der Klärung bedürfen. Viele dieser Klärungsbedürfnisse teilt die Forschung zur Pflegeungleichheit mit der Forschung zu sozialer Ungleichheit überhaupt, der Pflegefall ist nicht Ausnahme, sondern exemplarischer Fall für die konzeptuelle Erörterung sozialer Ungleichheit. Dem dienen die folgenden drei Kapitel. Die beruflich-finanziellen Situationen weisen nicht hinreichend die unabhängigen, möglichst beeinflussbaren Variablen für die Ungleichheit in der Pflege auf. Und um Klarheit über ihre Zielvariable zu gewinnen, kann es sich für die Pflegeprofession daher lohnen, an die Diskussion über die Klassifikation von Gesundheit anzuknüpfen, genauer an die Entwicklung der Standardklassifikationen der Weltgesundheitsorganisation ICD, ICIDH und ICF. Das ist der Gegenstand des folgenden zweiten Kapitels dieses Beitrags. Was die unabhängigen Variablen des Zusammenhangs von sozialer Ungleichheit und Pflege angeht, lohnt es sich für die Pflegeprofession, die offenen Diskussionen über soziale Ungleichheit und chronische Erkrankungen sowie über soziale Ungleichheit und Behinderung zu verfolgen (im Sinne des Sozialgesetzbuches IX kann Pflegebedürftigkeit als Behinderung verstanden werden). Das ist die Aufgabe des dritten Kapitels dieses Beitrags, bevor im 4. die Zuordnung der Fachpflege zum Gesundheitssystem in ihren Folgen für den öffentlichen Gerechtigkeitsdiskurs erörtert werden kann.
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Die abhängige Variable: Die Güte der Fachpflege und die Klassifikation der Partizipation: Pflegebedürftigkeit, chronische Krankheiten und die Erweiterung der ICD-Diagnostik zur ICIDH und zur ICF
2.1 „Krankheitsfolgen“, die eigentlich gar keine Krankheitsfolgen sind Wie erkennen und messen wir soziale Ungleichheit in der Pflege? Viele Variablen, die die Forschung zu sozialer Ungleichheit als abhängige Variablen nutzt, passen, so sagten wir einleitend, nicht zur Situation der Pflegebedürftigkeit. Die oft genutzten abhängigen Variablen „Einkommen“ und „Stellung im Beruf“ kommen eher als unabhängige Variable für Pflegeabhängigkeit und pflegerische
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Versorgung in Frage, Stellung im Beruf und Einkommen sind nicht das Hauptziel der Pflege. Aber auch die Vermeidung von Morbidität und selbst Mortalität passen nicht ganz als abhängige Zielgrößen, weil die meisten Pflegebedürftigen bereits eine Morbiditätslast zu bewältigen haben und es in der Langzeitpflege in der Regel darum geht, den Jahren Leben hinzuzufügen und nicht nur dem Leben Jahre. Mir scheint daher, da ein Ende der Pflegeabhängigkeit in der Regel kein realistisches Ziel ist, die „Partizipation am biographisch relevantem sozialen Leben trotz Pflegeabhängigkeit“ eine sinnvollere Zielvariable zu sein. Zu ihr leistet die Bewältigung von Morbidität einen Beitrag, aber der Morbiditätsstatus ist nicht die Hauptzielgröße. Die Zielgröße „Partizipation“ bietet den Vorteil, an eine lange Diskussion in der Weltgesundheitsorganisation über die Klassifikation funktionaler Gesundheit und auch an das Sozialgesetzbuch IX anknüpfen zu können. Deswegen lohnt es sich, auf die WHO- Klassifikation in diesem Kapitel des Beitrages einzugehen, auch wenn die Variablen dieser für die Erfassung sozialer Ungleichheit in der Pflege zentralen Klassifikation noch keineswegs alle valide operationalisiert sind. Denn das Ausmaß des Verständniswandels, den Pflegebedürftigkeit als Folge chronischer Krankheiten und Behinderungen für die medizinischen StandardKlassifikationen auslösten, lässt sich an der Entwicklung der internationalen Diagnose-Klassifikationen belegen, die im Gesundheitswesen der ganzen Welt gebraucht und deren Weiterentwicklung von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) koordiniert wird. Zum Bestandteil der Klassifikation wurden Beeinträchtigungen und Ausschlüsse vom sozialen Leben als so genannte „Krankheitsfolgen“, die aber streng genommen gar keine Krankheitsfolgen sind. Der ICD (International Classification of Diseases) wurde vor mehr als 25 Jahren die ICIDH, die internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen an die Seite gestellt, die z.B. der Medizinische Dienst der Krankenkassen zur Begutachtung heranzog (vgl. bereits ICIDH bei Matthesius et al. 1994) Die ICIDH beschrieb die diagnostisch Beeinträchtigungen in der sozialen Teilhabe („Handicaps“) als „Folgeerscheinungen der Erkrankungen“ (ICIDH bei Matthesius et al. 1994, Untertitel). Soziale Beeinträchtigungen („Handicaps“) wurden als Folge psychophysischer Schädigungen (impairments“) thematisiert (vgl. ICIDH bei Matthesius et al. 1994). Aber der Zusammenhang von impairments und disabilities einerseits, handicaps andererseits erscheint so locker, dass von „Folgen“ kaum noch die Rede sein kann: Je nach ihrer Umwelt, z.B. Arbeitssituation, Wohnraumgestaltung (z.B. barrierefreie Übergänge, behindertengerechte Küche), barrierefreien Wegen zu Versorgungseinrichtungen) haben zwei Personen mit identischen körperlichen Schädigungen (impairments, extremes Beispiel: Querschnittslähmung, Diabetes, Mobilitäts- und Sinneseinschränkungen, ) und Fähigkeitsstörungen (disabilities) ganz unterschiedliche Beein-
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trächtigungen (handicaps) zu gewärtigen. Handicaps, (also „Ausschlüsse von Teilhabe“), Krankheit und Behinderung meinen gar keine psychisch-physischen Eigenschaften von Personen mehr, sondern mindestens genauso sehr Eigenschaften der Umwelt von Personen, genau genommen die Reaktionen der Umwelt auf Personen. Ob ein Querschnittsgelähmter an gut bezahlter, hochverantwortlicher Erwerbsarbeit partizipieren kann oder nicht, ob er in seiner Wohnung am Familienleben partizipieren und gepflegt werden oder nur im Heim leben kann – das ist keineswegs durch das nicht mehr rückgängig zu machende „impairment“ der Querschnittslähmung bedingt. Es ist so offensichtlich, dass es beinahe trivial ist: Tatsächlich unterscheiden sich vom selben Wirbel abwärts Gelähmte so fundamental in ihrer Teilhabe an Erwerbstätigkeit, am Leben in der eigenen Wohnung, dass von einer Determination der Partizipation durch die Querschnittslähmung keine Rede sein kann (vgl. Behrens 1990). Selbst wenn Querschnittslähmungen vom gleichen Wirbel an dieselben „activities“ einschränken, ist damit die Partizipation an biographisch relevanten Aktivitäten nicht determiniert. Wenn wir vom Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Pflege sprechen, interessiert deshalb nicht (nur), was den Eintritt von Querschnittslähmungen, von Schlaganfällen und anderen Ereignissen erklärt, die von Pflege verstärkt abhängig machen. Soziale Ungleichheit ist vor allem daraufhin zu untersuchen, ob sie die so differierende soziale Partizipation nach Querschnittlähmung oder Schlaganfall zu erklären vermag. Damit sind Gesundheit, Kranksein und Behinderung allein organmedizinisch gar nicht mehr fassbar. Organmedizinischer Befund und Einschränkung von Lebensvollzügen stimmen keineswegs überein. Im Alltag (vgl. Gadamer 1993: 50-64, 133-148) wird „Gesundheit“ eher an Teilhabefähigkeit bei jeweils als normal angesehenen Lebensvollzügen gemessen (von kommunikativ unterstellten Interaktionsfähigkeiten wie Zurechnungsfähigkeit über Geschäftsfähigkeit bis zur üblichen Berufstätigkeit) als an medizinischen Befunden (vgl. Behrens 1990). Die folgende Abbildung soll verdeutlichen, dass der Ausschluss von sozialer Teilhabe keineswegs durch die organisch-psychische Störung determiniert ist (wie im Krankheitsfolgemodell) sondern sich erst aus den Kontextbedingungen (Umgebung, gesellschaftliche Umstände) ergibt. Die gestrichelten Linien zeigen schwache, die durchgezogenen Linien entscheidende Zusammenhänge an.
Ökonomisches, soziales und kulturelles „Kapital“ … Abbildung 1:
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Integrierende internationale Klassifikation: von der ICD über die ICIDH zur ICF
Die Unterscheidung der drei Glieder der Klassifikation in diagnostischer Absicht „impairment“, „activity“ und „participation“ ist selbstverständlich bei jeder Erkrankung logisch möglich. Sie ist aber nur bei chronischen Erkrankungen und Behinderungen mit Pflegebedarf besonders relevant. Dann bei Krankheiten, bei denen eine Heilung des impairments in einem überschaubarem Zeitraum regelmäßig bewirkt werden kann, ist die Intervention ins impairment eine gute Strategie, Einschränkungen in den „Activities“ und der „Participation“ erfolgreich rückgängig zu machen. Dieser Klassifikation sind die Wissensquellen und Professionspraktiken zuzuordnen, die jedem Teil der dreiteiligen klassifikatorischen Gesundheitseinschätzung entspricht (siehe Abb. 1): Impairment verlangt vor allem medizinisches Wissen, zu der die Pflege durch Krankenbeobachtung beiträgt. Die „disability“ oder positiv „activity“ verlangt taktil-kommunikativ pflegerische und zeitweise ergotherapeutische, physiotherapeutische und ärztliche Expertise. Das handicap verlangt pflegerische, auch ergotherapeutische Kompetenz der Beratung, auch von der Beratung von Angehörigen, taktil-kommunikative Unterstützung und erhebliche, durch Rechts- und ökonomische Kenntnisse fundierte Organisationsfähigkeit im Case- und Disease-Management. Vor allem aber ist die Unterscheidung der organisch-psychischen Ebene, der Ebene der Aktivitäten und der Ebene der Teilhabe entscheidend, um ein plausibles Zielkriterium der Messung sozialer Ungleichheit in der Pflege zu gewinnen:
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2.2 Pflegeziel für die Messung sozialer Ungleichheit: Gesundheit als Partizipation (SGB IX) Dass Gesundheit und Krankheit keine sich wechselseitig ausschließenden Zustände sind, sondern zwei Endpunkte eines Kontinuums, ist in den vergangenen Jahren Allgemeinwissen geworden (vgl. Hurrelmann 2000). Personen sind, daran haben wir uns gewöhnt, selten völlig krank oder völlig gesund, sondern auf diesem Kontinuum gleichzeitig relativ gesund und relativ krank. Das Relevante an der ICIDH/ICF ist nicht das Konzept der relativen Gesundheit. Das Relevante ist die Trennung der Dimensionen, auf denen einer jeweils mehr oder weniger „gesund“ sein kann. Diese Trennung der drei Dimensionen von Krankheit und Gesundheit ist weit weniger Allgemeingut geworden. Es ist gewissermaßen nicht ein Kontinuum, sondern es sind drei Kontinua untereinander zu setzen, die relativ unabhängig voneinander variieren und alle drei unabhängig von einander mess- oder einschätzbar sind. Abbildung 2: Das „Krank-Gesund“ Kontinuum und die drei Ebenen von Gesundheit Körperfunktionen und Strukturen Aktivitäten Partizipation
Krank Gesund ⏐⎯⎯x⎯⎯⎯⎯⎯⎯⏐ ⏐⎯⎯⎯⎯x⎯⎯⎯⎯⏐ ⏐⎯⎯⎯⎯⎯⎯x⎯⎯⏐
Dieselbe Person kann in ihren Körperfunktionen und Strukturen unheilbar und schwer krank sein und dennoch an den ihr biographisch wichtigen Bereichen verhältnismäßig gesund partizipieren. Diese Partizipation zu ermöglichen trotz unheilbar eingeschränkten Körperfunktionen und Strukturen ist die Aufgabe gerade der Pflegeprofession und der mit ihr verbundenen spezialisierten Professionen wie z.B. der Ergotherapie. Von den drei Ebenen der Gesundheit ist die dritte, die Partizipation, die wichtigste: Körperfunktionen und Strukturen sind als eine, wenn auch glücklicherweise nicht die allein determinierende Bedingung von Partizipation relevant. Der entscheidende, mit Gadamer (1993) begründbare Maßstab der „Partizipation“ sowohl für die Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Situation der Pflegeabhängigkeit als auch für die Qualität der Fachpflege, die soziale Ungleichheit nicht neu erzeugen und vergrößern will, hat das deutsche Sozialgesetzbuch IX geprägt. Deswegen ist die ICF der WHO als gemeinsame Sprache geeignet, in der sich die Professionen des multiprofessionellen therapeutischen Teams untereinander und mit ihren Klienten verständigen und ihre unterschiedlichen Aufgaben absprechen können. An Operationalisierungen der Klassifikationen für As-
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sessments und Diagnosen ist zu arbeiten und wird gearbeitet, das würde hier zu sehr ins Detail gehen (Behrens 2002). Im nächsten Kapitel dieses Beitrages geht es darum, diese von der WHO und dem Sozialgesetzbuch IX gestützte Klassifikation der sozialen Ungleichheit von Pflege (abhängige Variable) auf das mesosoziologische Modell sozialer Ungleichheit in Gesundheit und Pflege (unabhängige Variablen) zu beziehen – um einen Rahmen und ein Verständnis für praktische Maßnahmen zu haben und im 4. Kapitel die Argumentationschancen für soziale Gleichheit in der Pflege ausloten zu können.
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Die ICF und das mesosoziologische Modell sozialer Ungleichheit in Gesundheit und Pflegebedürftigkeit
3.1 Das mesosoziologische, handlungstheoretisch aufgeklärte Modell Wie erklären wir (und können gegebenenfalls sogar beeinflussen) soziale Unterschiede in der Pflege? Die eben erörterte ICF der Weltgesundheitsorganisation eignet sich nicht nur dazu, Gesundheitszustand und Pflegebedarf zu erfassen. Auch als mesosoziologischer Bezugsrahmen für die Erkenntnis sozialer Ungleichheit bewährt sie sich. Die folgende Abbildung 3 baut auf der eben eingeführten Abbildung 1, die die abhängige Variable „Partizipation am biographisch relevanten sozialen Leben“ erläuterte, auf und erweitert sie um die erklärenden Faktoren, die die organisch-psychischen Schädigungen (Impairments), die Aktivitäten (Activities) und die Teilhabe am biographisch relevanten sozialen Leben (Participation) beeinflussen. Die drei Kategorien der ICF aus der Abbildung 1 „Organisch-psychische Schädigung“, „Aktivität“ und „Partizipation“ finden sich daher dick eingerahmt in der Mitte der folgenden Abbildung 3, über ihnen die sozialen Unterschiede und unter ihnen die genetischen Unterschiede, die auf Schädigungen, Aktivitäten und Partizipation wirken. Der Raum reicht nicht, sie hier im Einzelnen zu diskutieren, nur die Hauptlinien sollen hier notiert werden. Deutlich wird nicht nur, dass die verbreitete Entgegensetzung von objektiven und subjektiven Faktoren (vgl. Helmert 2000; Mielck 2000) eigentlich vorsoziologisch ist und der Lebenswirklichkeit nicht entspricht. Wie weit sollen Arbeitsbedingungen, Wohnbedingungen, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital auf Gesundheit wirken können, ohne über Lebensstile, Verhalten und Bewältigungsmuster zu wirken? Vor allem macht die Abbildung deutlich, dass präventive und rehabilitative Interventionen bei chronischen Krankheiten ganz im Gegensatz zu kurativen Interventionen breit über das abgegrenzte Gesundheitssystem hinaus greifen mussten.
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Im folgenden mesosoziologischen Modell wurden gesundheitliche Unterschiede daher an den Dimensionen der Internationalen Klassifikation funktionaler Gesundheit gemessen, also an der Dimension der Organfunktionen und strukturen, der Dimension der Aktivität und der Dimension der Partizipation (vgl. mittlere Linie, herausgehoben durch dickere Rahmen in der Abbildung 3). Zweifellos beeinflusst, wie eben diskutiert, die Organstruktur Aktivitäten und die Partizipation am jeweils individuell relevantem sozialen Leben. Abbildung 3: Die Wirkung sozialer Ungleichheit auf Gesundheit (Pflegebedürftigkeit) Sozialstruktur, Kultur Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital
SOZIALE UNTERSCHIEDE:
Soziale Interventionen
Erreichbare „Wohlmöglichkeiten“: Arbeitsbedingungen, Wohnbedingungen horizontale und vertikale Wechselchancen Ernährung Bewältigungsangebote (Rauchen, Medikamente) Soziale Netzwerke Nutzbarkeit (Qualität) gesundheitlicher Versorgung
GESUNDHEITLICHE UNTERSCHIEDE: (Lebensqualität: ICF der WHO, SGB IX und Lebenserwartung)
Organische Schädigung
Genetische Disposition
Aktivität
Wahrgenommene Chancen Lebensstil Gesundheitsverhalten Bewältigungsmuster Entscheidungen
Partizipation
biomedizinische Intervention
Aber der Einfluss ist keineswegs so deterministisch, wie es das alte Wort „Krankheitsfolgenmodell“ erwarten ließ. Die drei Dimensionen gesundheitlicher Unterschiede können relativ unabhängig voneinander variieren. Partizipation ist, je nach sozialem Kontext, durch die Einschränkungen der organischen Struktur keineswegs determiniert. Es ist geradezu die Aufgabe von Gesundheitsförde-
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rung, Partizipation auch da zu ermöglichen, wo die organische Struktur selber nicht mehr geändert werden kann. Pflege z.B. und Therapien bei chronischen Krankheiten haben gerade zum Ziel, Partizipation und z.T. Aktivitäten selbst dann zu fördern, wenn die organische Struktur nur wenig beeinflusst werden kann. Die Dimension der Partizipationsfähigkeit ist auch für das alltägliche Verständnis von Gesundheit die wichtigste der drei Dimensionen. Die Einschätzung der Gesundheit in den Dimensionen der Internationalen Klassifikation funktionaler Gesundheit entspricht dem deutschen Sozialgesetzbuch IX . Gesundheitliche Unterschiede sind in dem Modell als Ergebnis genetischer Dispositionen einerseits (siehe unten links in der Abbildung 3) und sozialkultureller Strukturen (Ausstattungen mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital) und Ereignisse andererseits (siehe oben rechts in der Abbildung 3) gefasst. Während genetische Dispositionen direkt nur auf organische Strukturen wirken können, wirken soziokulturelle Strukturen darüber hinaus auch auf Aktivitäten und Partizipationen. Genetische Dispositionen wirken auf Organstrukturen, wie bereits der Begriff der „Disposition“ bezeichnet, vor allem dann verstärkt, wenn ihr Einfluss durch sozialkulturelle Strukturen und Ereignissen gesteigert wird, also in Interaktion mit Variablen der Sozialstruktur, des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals. Sollten Soziologen genetische Dispositionen aus ihren Modellen von sozialer Ungleichheit und Gesundheit ausschließen? Manche tun dies, weil genetische Disposition nicht beeinflussbar sei. Aber sie sind sozial zu bewältigen. Auch so genannte Naturkatastrophen wie Klimakatastrophen sind in ihrer Bewältigung sozial verursacht: Es machte den Verstehensanspruch der Soziologie unklar, schlössen Soziologen sie aus ihren Modellen aus – als gäbe es eine für den Menschen relevante Natur, die wesentlich unabhängig von der Gesellschaft wirkte. Soziokulturelle Strukturen (siehe rechts oben in der Abbildung 3) wirken erst über sozial unterschiedlich erreichbare „Wahlmöglichkeiten“ und unterschiedliche Wahrnehmungen und Entscheidungen gegenüber diesen Wahlmöglichkeiten. Auch diese Aufteilung ist ungewöhnlich. Viel häufiger findet sich ein eher toxikologisch formuliertes Modell, nach dem die Beanspruchungs-Bilanz aus unterschiedlichen gesundheitlichen Belastungen und Ressourcen zusammen mit unterschiedlicher gesundheitlicher Versorgung die unterschiedlichen gesundheitsrelevanten Lebensstile und Verhaltensweisen prägt und diese die gesundheitliche Ungleichheit (Mielck 2000: 173, Abb. 19). Die hiesige Darstellung betont demgegenüber die Handlung der Entscheidung zwischen sehr unterschiedlich erreichbaren „Wahlmöglichkeiten“. Zweifellos geht von den unterschiedlich erreichbaren „Wahlmöglichkeiten“ ein Einfluss auf die wahrgenommenen Chancen und Verhaltensentscheidungen aus. Aber es bleiben doch Nutzungsentschei-
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dungen. Erst wenn wir die Perspektive derer verstehen, die Wahlmöglichkeiten wahrnehmen, können wir praktische Schritte der Gesundheitsförderung entwickeln. So beeinflusst die Erreichbarkeit von Karrieren, mit denen man sich belastenden Arbeitsbedingungen entziehen kann, plausiblerweise das individuelle Nachdenken über solche Wechselchancen. Und man muss sich nur das verfügbare Ernährungsangebot in der Nachtschicht ansehen, um zu erkennen, dass die schlechtere Ernährung die billigere Wahl ist. Die sozial akzeptierten Entspannungsangebote (gemeinsames Rauchen, Medikamente usw.) beeinflussen die Wahl. Vor allem das pflegerische Arrangement in der „gewohnten“ Wohnung oder im Heim ist offensichtlich eine Wahl unter sehr restriktiven Nebenbedingungen. Der Entscheidung für den Umzug ins Heim gehen viele Auseinandersetzungen und Abwägungen voraus, meist wird der Umzug ins Heim nicht von vornherein angestrebt, sondern als das kleinere Übel aus sich verringernden Optionen gewählt. Selbstverständlich beeinflusst die Finanzierung gesundheitlicher Versorgung ihre Nutzung. Aber sie determiniert sie nicht. Nutzbarkeit und Nutzen ergeben sich immer nur aus der Perspektive des Nutzers. Unser Insistieren auf den handlungstheoretischen Aspekt der Wahl in der Erörterung sozialer Ungleichheit und Pflege richtet sich gegen strukturtheoretische Modelle, die wie in der Materialforschung von Dosis-Wirkungsbeziehung ohne Handeln der Getroffenen ausgehen. Dies Insistieren geschieht auch in praktischer Absicht: Gesundheitsförderung, zu der nach dem Sozialgesetzbuch IX die Pflege zählt, ist nahezu unmöglich, kann sie nicht an die Handlungen der Pflegebedürftigen anknüpfen. Darauf ist im nächsten Abschnitt kurz einzugehen.
3.2 Handlungs- und strukturtheoretische Zugänge Konkurrieren also handlungs- und strukturtheoretische Konzepte, oder erläutern die handlungstheoretischen Rekonstruktionen vielmehr, wie die strukturtheoretischen Zusammenfassungen zu zutreffenden Prognosen kommen? Strukturtheoretisch beschreibbare Bedingungen wirken nicht nur auf Gesundheitsbelastungen, sondern beschränken und ermöglichen auch Bewältigungsstrategien, ohne die die Wirkung von Belastungen gar nicht begriffen werden kann. Weder bei Max Weber, noch bei Marx, noch bei Bourdieu lassen sich handlungs- und strukturtheoretische Argumente gegeneinander setzen (vgl. schon Cockerham/Abel/Lüschen 1993). Vor diesem gemeinsamen Hintergrund werden erst Unterschiede zwischen Modellen fruchtbar, wie etwa dem 'job strain model' und dem 'high effort/low reward model' (Siegrist 1996). Die Entgegensetzung von handlungsund strukturtheoretischen Ansätzen erinnert etwas an die Debatte, ob man auf Verhältnisprävention oder Verhaltensprävention setzten sollte.
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Meso- und mikrosoziologische Ansätze haben meiner Ansicht also nicht das Ziel, in einem Dosis-Wirkungsmodell immer feinere Prädiktoren für gesundheitliche Unterschiede zu entdecken, wo viele gesundheitliche Unterschiede doch schon durch das verfügbare Geldeinkommen zu prognostizieren sind. Sondern die Beweggründe des tatsächlichen Handelns sind aus den Perspektiven der handelnden Nutzer nachzuvollziehen und dann ihre Verbreitung mit makrosoziologischen, sozialepidemiologischen Methoden zu prüfen. Ohne handlungstheoretische Fundierung ist Interventionspraxis nicht zu haben. Das kann man an Mielcks Kritik der sozialen Lage, des sozialen Milieus und des Lebensstils und an seiner Überschätzung der Indikatoren Einkommen, Bildung und beruflichem Status erkennen. Mielck (2000: 174) schreibt über die Prädiktoren des sozialen Milieus und des Lebensstils: „Es gibt keine Grenze für die Bildung von Untergruppen, und im Extremfall besteht jede Gruppe nur aus einer einzigen Person“. Aber dann überschätzt er meiner Ansicht nach die Leistungsfähigkeit der drei Indikatoren des so genannten sozio-ökonomischen Status: „In der sozial-epidemiologischen Forschung wird aber versucht, die soziale Ungleichheit mit Hilfe von relativ großen und klar definierten Bevölkerungsgruppen zu erfassen“ (Mielck 2000: 175). Einkommen, Bildung und beruflicher Status bilden aber gar keine real existierenden „relativ großen und klar definierten Bevölkerungsgruppen“, sondern es handelt sich um Merkmale, die bei höchst unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gleich sein können und die keineswegs regelmäßig untereinander zusammenhängen. Mit Hilfe dieser Indikatoren kann man eher schlecht relativ große und klar definierte Gruppen als Adressaten gesundheitsfördernder Angebote erkennen. Handelt es sich dabei um eine rein innersozialwissenschaftliche Diskussion ohne praktische Relevanz für die gesundheitliche Versorgung? Auch eine solche innersoziologische Klärung wäre völlig legitim. Interessanterweise erweist aber gerade diese theoretische Position ihre praktische Relevanz. Selbst bei der Prävention einer Infektionskrankheit wie AIDS beruhten die Erfolge nicht auf einer Orientierung an Schichtindizes oder an Indizes des sozio-ökonomischen Status, sondern auf der Orientierung der Maßnahmen an den Handlungsrelevanzen sozialer Kreise und Milieus (vgl. Rosenbrock et al. 1999). Auch und gerade die Pflege kommt ohne handlungstheoretische Fundierung nicht aus.
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Johann Behrens Ist das Gesundheitssystem oder die Armutsbekämpfung für Pflegeabhängigkeit zuständig? Chronische Krankheiten und die Abgrenzbarkeit der Geltungssphäre der Bedarfsgerechtigkeit
4.1 Was macht soziokulturelle und genetische Unterschiede zu „sozialer Ungleichheit“? Das im Kapitel 3 skizzierte mesosoziologische Modell kann möglicherweise Unterschiede in der Pflegesituation prognostizieren, aber was macht soziokulturelle und genetische Unterschiede zu „sozialer Ungleichheit“? Das ist nun zu klären. Um das Ergebnis als These vorwegzunehmen: Erst die öffentliche Zuordnung zum Geltungsbereich des Verteilungsprinzips „Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten“ macht aus diesen „sozialen Unterschieden“ „soziale Ungleichheit“. Das Verteilungsprinzip „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ wird als Norm – die wie alle Normen, man denke nur an die Norm „Du sollst nicht stehlen“, durch ihre tägliche Verletzung nicht ihrer Geltung verlustig geht – im Gesundheitssystem in Anspruch genommen, Bedürfnisse werden als das medizinische Notwendige definiert. Es ist daher von großer Bedeutung, ob eine Problemlage erfolgreich der Zuständigkeit des Gesundheitssystems zugeordnet werden kann oder nicht. Ist das Gesundheitssystem oder die Armutsbekämpfung für die gesellschaftliche Bewältigung erhöhter Pflegeabhängigkeit zuständig? Wie eingangs erwähnt, wird diese Frage in unterschiedlichen Ländern sehr unterschiedlich beantwortet, in vielen Ländern fällt „long term care“ nicht in das Gesundheitssystem. Die Frage ist keineswegs nur von administrativer Relevanz. Ihre Beantwortung entscheidet nämlich darüber, wieweit in einer Gesellschaft soziale Unterschiede in der Pflege als „soziale Ungleichheit“ thematisierbar und damit als ungerecht skandalisierbar werden. Denn nur im Gesundheitssystem, nur für medizinisch notwendige Leistungen gilt nahezu weltweit, wie im folgenden zu zeigen sein wird, die Verteilungsnorm „Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach einen Fähigkeiten“ (wobei die Geltung von Normen nicht schon dann aufhört, wenn sie empirisch gebrochen werden, sonst könnten wir nicht von der Geltung der Normen „Du sollst nicht stehlen“ und „Du sollst nicht töten“ sprechen). In anderen gesellschaftlichen Bereichen gilt die Verteilungsregel „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ nicht. Die Zuordnung von Problemen zum Gesundheitssystem begründet also den Anspruch, „jedem nach seinen Bedürfnissen“, also unabhängig von seiner individuellen Kaufkraft oder seinem Stand, das Notwendige zu gewähren. Meiner Ansicht nach werden Normen in Gesellschaften diskutiert, konstruiert und bekräftigt durch ihre tägliche Erörterung an Fällen in den Ritualen
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des Klatsches, des Skandals und andern Formen alltäglichen fallbezogenen Palavers, nicht (nur) in Verfassungsschriften und Gesetzgebungen. Zu solchen Ritualen des normbekräftigenden Skandalisierens und Palaverns können – um einen Hinweis auf das quantitative und finanzielle Ausmaß zu erhalten – auch Boulevardpresse und Fernsehen gezählt werden, an denen sich nahezu die gesamte Bevölkerung täglich mit hohem zeitlichen und finanziellem Einsatz beteiligt. In diesen Ritualen erst wird aus sozialen Unterschieden skandalisierbare soziale Ungleichheit. In diesen Ritualen entsteht der Gegenstand der Soziologie sozialer Ungleichheit als gesellschaftlich diskutierter, nicht nur als Gegenstand einer Gruppe soziologischer Virtuosen und Experten. Daher haben Pflegeabhängigkeit und Krankheit für die moralische Ökonomie von Gesellschaften und für die allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit geradezu konstitutive Bedeutung: Die Versorgung von Kranken ist der Gegenstand, an dem Gesellschaften die Norm „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ ausbilden und bekräftigen. Das ist im Folgenden zu zeigen. Die Zuordnung von Pflegeabhängigkeit zum Gesundheitssystem und nicht zum System sozialer Hilfen ist nur möglich über den Anschluss der Pflegeabhängigkeit an die Behandlung chronischer Erkrankungen und Behinderungen. Präventive und rehabilitative Maßnahmen gegenüber chronischer Krankheit greifen weiter aus ins gesellschaftliche und individuelle Leben als kurative Maßnahmen. Sie sind schwerer als kurative und Impfmaßnahmen von anderen Lebensvollzügen abzugrenzen. Die Abgrenzbarkeit des Gesundheitssystems von anderen sozialen Systemen der Inklusion und Anerkennung ist aber umso wichtiger, je mehr im Gesundheitssystem andere Verteilungsregeln gelten als in anderen Bereichen der Gesellschaft.
4.2 Die Abgrenzbarkeit der Inklusions- und Anerkennungssphäre „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ Wie eben an der klassifikatorischen Entwicklung zur ICF belegt wurde, greift das Gesundheitswesen in dem Moment, in dem die Intervention ins impairment nicht mehr hinreichend Gesundheit fördert, notwendigerweise zu direkten Interventionen in Partizipation. Behinderungen der Partizipation werden als mangelnde Gesundheit diagnostizierbar. Wo die heilende Intervention ins impairment als indirekte Steigerung von Aktivitäten und Partizipation nicht mehr hinreichend möglich ist, müssen Erkrankte und ihre Gesundheitsdienste direkt in Partizipation, also in ihre Umwelten und in einzuübende Copingstrategien eingreifen. Eine andere Chance haben sie nicht. Das ist bei chronischen Krankheiten und Pflegebedürftigkeit geradezu typisch der Fall. Präventive, rehabilitative und pflegeri-
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sche Maßnahmen greifen weit ein in das gesellschaftliche und individuelle Leben. Sie sind schwerer als kurative Maßnahmen oder Impfmaßnahmen von anderen Lebensvollzügen abzugrenzen. Diese geringere Abgrenzbarkeit hat aber enorme Folgen für die moralische Ökonomie moderner Gesellschaften, insbesondere für die Trennung der Geltungssphären ihrer Verteilungsprinzipien und für die „justification“ der Modi Identität stiftender Anerkennung. In allen bekannten modernen Gesellschaften gilt nämlich die – wenn auch häufig kontrafaktische – Norm unbestritten, dass die Dienste und Güter gesundheitlicher Versorgung keinesfalls nach der sonst legitimen Verteilungsregel der Kaufkraft, sondern jedem allein nach seinen Bedürfnissen zu geben sind (vgl. Übersichten in Behrens et al. 1996). Nur im Gesundheitswesen ist außerhalb der Familie die Norm weltweit unbestritten: Jedem wird nach seinen Bedürfnissen gegeben, jeder gibt nach seinen Fähigkeiten (z.B. bei der Beitrags- bzw. Steuerfinanzierung des Gesundheitswesens). In anderen Bereichen gilt als idealtypischer Modus der Anerkennung und Inklusion, dass die Leistungsbeiträge von Personen ihre Anerkennung und Wertschätzung begründen und diese Wertschätzung sich legitimer Weise in unterschiedlicher Entlohnung und Verfügung über Glücksgüter niederschlägt. Die Emanzipation der Person von Standesschranken und Standesprivilegien setzte sich durch über zwei vom Stand einer Person absehende Identität stiftende Anerkennungsmodi: die rechtliche Gleichstellung und die finanzielle Entlohnung individueller, ohne Rücksicht auf persönliche Voraussetzungen gemessener Leistung (weshalb Erfolg (oft kontrafaktisch) einer Leistung zugeschrieben werden muss). Eine solche Entlohnung soll leistungsgerecht und gerade nicht bedarfsgerecht sein. Die Verweigerung unpersönlich leistungsgerechter Entlohnung wird zur Form persönlicher Missachtung (ausführlich mit Literatur Behrens 1990). Im Gesundheitswesen dagegen gilt normativ (ebenfalls kontrafaktisch) die Anerkennung der individuellen Bedürfnisse. Dafür, dass im Gesundheitsbereich diese völlig andere Norm gilt, kann hier der Kürze wegen nur ein Beweisbeleg angeführt werden, allerdings einer, der täglich weltweit unter extrem schwer zu ertragenden Knappheitsbedingungen einer Prüfung unterzogen wird. Es handelt sich um die Verteilung lebenswichtiger Organspenden. In den letzten 20 Jahren wurde keine einzige Gesellschaft bekannt, in der die – bei der Verteilung von Autos und Häusern selbstverständliche – Norm offen vertreten wurde, die Verteilung knapper Organspenden sollte an den Meistbietenden, also nach Kaufkraft erfolgen (Behrens 1990). Die unterschiedlichen Inklusions- und Anerkennungsregeln im Gesundheits- und im Wirtschaftssystem sind keineswegs als paradoxe Relikte zu interpretieren. Vielmehr kann die Anerkennung der Bedürftigkeit im Gesundheitssystem als funktional stabilisierend für die Anerkennung der Leistung im Erwerbssystem wie im Sport angesehen werden. Denn wenn Krankheit uns aus der Bahn
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würfe, wäre die Unterstellung der selbstverantwortlichen, für sich selbst sorgenden Person bei jeder Krankheit falsifiziert. Eine solche bereichsspezifische Norm ist leichter durchzuhalten, wenn sich der Bereich der gesundheitlichen Versorgung eindeutig und unschwer von den Bereichen der Versorgung mit Autos, Häusern, Urlaubsreisen, Kleidern usw. abgrenzen lässt, wo weiterhin zahlungsfähige Nachfrage entscheidend bleiben soll. Genau diese Abgrenzbarkeit ist aber gefährdet, je mehr gesundheitliche Versorgung nicht in kurativen einmaligen Leistungen, sondern in präventiven und rehabilitativen, also zeitlich und sachlich weit in das Alltagsleben hineinreichenden Maßnahmen bestehen muss. Dass sie es muss, kann an 50 Jahren Kampf gegen die Ungleichheit vor Krankheit und Tod gezeigt werden, in dem die Sozialstaaten auf kurative Maßnahmen und den einkommensunabhängigen Zugang zu ihnen setzten, ohne diese Ungleichheit wirklich reduzieren zu können (vgl. Mielck 2000). Aber die Abgrenzbarkeit des Gesundheitswesens ist nicht nur für die Trennung der Verteilungssphären Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit entscheidend. Die geringere Abgrenzbarkeit präventiver und rehabilitativer Maßnahmen im Vergleich zu kurativen Interventionen führt auch zur fürsorglichen Bedrohung der persönlichen Autonomie und Wahlfreiheit chronisch Kranker und Pflegebedürftiger. Sie wird von diesen Erkrankten als Identität bedrohende Verweigerung von Anerkennung, als Bevormundung und einen Mangel an Respekt wahrgenommen, die sie besonders verbittert, weil schon ihre körperlichen und psychischen Gebrechen ihnen ihre Grenzen der autonomen Beeinflussbarkeit ihrer Welt zeigen. Das ist eine paradoxe Konsequenz der Bedürfnisorientierung des Gesundheitswesens: Die Bedürfnisse werden von Professionen diagnostiziert. Patienten wirken entscheidend an der Anamnese mit, aber sie können – anders als auf dem Markt – nicht selber verbindlich festlegen, wessen sie bedürfen. Dazu bedarf es einer Bedürfnis-Bescheinigung, und die Professionsangehörigen können ihre Verantwortung für die Diagnose nicht an den Erkrankten wie an einen beauftragenden Kunden abgeben. Während die internationale Normierung von Qualitätssicherung in der DIN-ISO 9000 bis 9002 den Kunden als autonome Definitionsinstanz seines Bedarfs und der Qualität voraussetzt, ist diese Kompetenz für Erkrankte im Gesundheitswesen eingeschränkt. Die Kompetenzbeschränkung ist keineswegs nur darin begründet, dass die Erkrankten in Krisen ihrer Integrität außer sich sind und wirklich nicht mehr wissen, was gut für sie ist. Da die Chronizität ihres Leidens die chronisch Kranken mit der Zeit über ihre Krisen und Bedarfe unterrichtet, gilt diese Begründung für chronisch Kranke sogar etwas weniger als für die, die erstmalig an einem ihnen bisher unbekanntem akuten Schub erkranken. Die eingeschränkte Kompetenz zur Selbstdiagnose rührt vielmehr auch daher, dass der Zutritt zum besonderen Bereich „jedem nach
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seinen Bedürfnissen“, nicht jedem nach eigenem Gutdünken offen stehen soll. Zum Schutze der die Kosten tragenden Gemeinschaft sind Gesundheitsprofessionen dafür verantwortlich, mit ihren Diagnosen Zutrittsberechtigungen auszustellen.
4.3 Kuration, chronische Krankheit, Pflegebedürftigkeit So relevant die Abgrenzbarkeit des Gesundheitswesen für die Trennung der Sphären von Anerkennung und Inklusion ist, den ersten Beleg für die nicht haltbare Abgrenzbarkeit fanden wir in der Entwicklung der WHO-Diagnose-Klassifikationen oben im Kapitel 2. Den zweiten Beleg geben Untersuchungen der sozialen Ungleichheit vor chronischer Krankheit und vorzeitigem Tod. Spätestens ab Mitte des letzten Jahrhunderts versuchten alle Sozial- und Wohlfahrtsstaaten, diese Ungleichheit dadurch zu verringern, dass sie gemäß der Norm „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ den Zugang zur kurativen Krankenversorgung für alle einkommensunabhängig zu sichern sich bemühten (durch Versicherungspflicht und staatliche Systeme); außerdem wurden enorme Summen in die hochtechnologische kurative Versorgung investiert. Die Geschichte ist lehrreich. Trotz der sehr hohen Investitionen insbesondere in die hochtechnologischen Systeme der Krankenversorgung ging die einkommensabhängige Ungleichheit bei Krankheit und Tod, mit der die allen gleich zugängliche Versorgung einst begründet war, offenbar in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich zurück (vgl. Evans 1994; Mielck 2000). Dieser mangelnde Rückgang der Ungleichheit vor Krankheit und Tod führte vor allem zu drei konkurrierenden hypothetischen Vermutungen. (1) Unterschiedliche Zugänglichkeit medizinischer und pflegerischer Versorgung Die erste Vermutung führte das Fortbestehen der Ungleichheit auf versteckte Ungleichheiten der Versorgung zurück. Damit bewahrte sie die Vorstellung, dass ein Ausbau insbesondere der hochtechnischen kurativen medizinischen und pflegerischen Versorgung die Ungleichheit bei Krankheit und Tod verringert. Trotz allen zweifellos vorhandenen Versorgungsungleichheiten ist diese Vermutung aber nicht mehr überall plausibel. Sie ist eher plausibel in Ländern mit bekannt schlechterer medizinischer Versorgung der Armen, wie besonders krass den USA (vgl. Behrens et al. 1996). Sie ist weniger plausibel in Ländern, in denen fast die gesamte Bevölkerung in Sicherungssysteme einbezogen ist, die die Entgeltung des medizinisch Notwendigen von Rechts wegen garantieren, z.B. in Kanada oder Deutschland. Man würde also erwarten, dass die Korrelation zwischen Einkommen, Morbidität und Frühsterblichkeit besonders ausgeprägt in den USA und weniger ausgeprägt in Großbritannien, Deutschland und Kanada ist. Diese
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Erwartung erfüllt sich jedoch nicht. Das 'Panel of Income Dynamics' in den USA zeigt einen sehr ähnlichen einkommensspezifischen Unterschied in der Mortalität wie die Untersuchungen in Großbritannien (Drever 1996). Auch mit den wesentlich schlechteren deutschen Daten lässt sich derselbe Zusammenhang zeigen. Unterschiedlich finanziell gesicherte Zugänge zur medizinischen Versorgung können somit nicht allein oder auch nur hauptsächlich entscheidend sein für die Erklärung der sozialen Ungleichheit vor chronischer Krankheit und Tod. Dann bleiben aber nur zwei mögliche Schlussfolgerungen: Entweder ist der Einfluss medizinischer und pflegerischer Versorgung auf die ungleiche Betroffenheit von Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Tod ziemlich gering. Andere Einflussfaktoren – die ungleiche Wohnumwelt, die ungleichen Arbeitsbedingungen, die ungleichen Ressourcen und Gewohnheiten der Lebensführung – sind für Entstehung und Heilung oder „coping“ von Krankheiten unverhältnismäßig relevanter als hochtechnologische Akut-Medizin. Um die Ungleichheit vor chronischer Krankheit und vorzeitigem Tod zu reduzieren, kann sich das Gesundheitswesen nicht auf die Verbesserung des finanziellen Zugangs zum kurativen Bereich beschränken. Damit ist die Abgrenzbarkeit des Gesundheitswesens gescheitert. Es kann sich nicht auf die kurative Heilung Kranker spezialisieren, sondern müsste präventiv und rehabilitativ weit ausgreifen können auf alle gesundheitsrelevanten Bereiche der Gesellschaft – mit allen beschriebenen Schwierigkeiten und Folgen. Oder – das ist die alternative Schlussfolgerung – die Finanzierung des Zugangs zu medizinischen und pflegerischen Leistungen für alle reicht nicht hin, um den Zugang zu sichern. Denn auch bei gesicherter Finanzierung der Dienste ist auf Seiten der Pflegebedürftigen soviel kulturelles und soziales Kapital nötig, um diese Dienste durchschauen und nutzen zu können, dass die Finanzierung der Dienste allein den Zugang noch nicht ausreichend sichert. Weil kulturelles und soziales Kapital ungleich verteilt ist, deswegen ist der gleiche Zugang zu den notwendigen medizinischen und pflegerischen Leistungen auch dann nicht gegeben, wenn diese Dienste selber finanziert sind. (2) Weil Du arm bist, musst Du früher sterben Daher argumentiert die zweite, zunächst sehr plausible, allerdings ebenfalls etwas zu kurz greifende Erklärung mit der Armut: 'Weil du arm bist, musst du früher sterben'. Plausibel ist diese Erklärung, weil sich jeder vorstellen kann, dass schlechte Wohnbedingungen, allzu billige Ernährung, Unsicherheit und Sorgen, was das Einkommen und den möglichen Arbeitsplatz angeht, mangelnder Zugang zu einer häufig kostspieligen gesundheitlich zuträglichen Lebensweise (wie Sport, ruhiger und ungestörter Schlaf, gesunde Ernährung, Rat und Hilfe von Gesundheitsfachleuten) krank machen. Diese Erklärung kann jedoch nicht plau-
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sibel machen, warum auch Bezieher mittlerer und höherer Einkommen gegenüber der jeweils höheren Einkommensgruppe schlechtere Werte aufweisen und eine kürzere Lebenserwartung haben. Dieser Gradient ist für Mortalität und Morbidität in den meisten Ländern mit genügend differenzierten Statistiken gefunden worden. Für den Zugang zu Leistungen, zu therapeutischen und zu Pflegeleistungen, fehlen allerdings entsprechend differenzierte Erhebungen, so dass in Deutschland beim Zugang zu Leistungen nur die Differenz zwischen gesetzlich versus privat Kranken- und Pflegeversicherten nachgewiesen ist. Bisher liegen nur für Teilbereiche differenzierte Ergebnisse vor, so für den Zugang zu Rehamaßnahme der Deutschen Rentenversicherung. Den Frühberenteten ohne vorherige Rehabilitation war sehr selten ein Reha-Antrag abgelehnt worden, viel häufiger hatten sie ihn gar nicht erst gestellt. Die Zugangsbarrieren liegen hier eindeutig eher im sozialen, kulturellen auch ökonomischen Kapital der potentiell Rehabedürftigen und nicht in der Ablehnung von Anträgen (vgl. Behrens et al. 2006/2008). (3) Gesunde steigen auf, Kranke steigen ab Die dritte Erklärung ist die so genannte 'Drift-Hypothese'. Sie erklärt den Zusammenhang zwischen Einkommen (oder auch Klassen- und Schichtzugehörigkeit) und Gesundheit nicht damit, dass geringes Einkommen zu Morbidität und früher Mortalität führe, sondern genau umgekehrt. Diese Ansicht fasst Hradil (1997: 14) folgendermaßen zusammen: „Gesunde steigen auf; Kranke steigen ab“. Diese Erklärung ist deshalb so plausibel, weil sie fast trivial ist. Jeder kennt jemanden, der am Arbeitsmarkt nicht Fuß fassen konnte, weil er krank war. In Querschnittsanalysen ist die Frage nach Ursachen generell schwer zu untersuchen. Erfreulicherweise gibt es seit geraumer Zeit eine Reihe von Längsschnittstudien (vgl. z.B. Marmot et al. 1996). Die Antwort ist eindeutig. Die Korrelation zwischen Einkommen (und anderen sozio-ökonomischen Indikatoren) und Morbidität bzw. Mortalität kann zum größten Teil nicht damit erklärt werden, dass Kranke sozio-ökonomisch gesehen, abgestiegen sind. Vielmehr zeigen Längsschnittanalysen, dass im Zeitverlauf ursprünglich Gesunde mit schlechten finanziellen und anderen sozio-ökonomischen Ressourcen krank werden und dann, wenn sie krank sind, in berufliche und gesundheitliche Labilisierungsspiralen geraten, die ihr Einkommen wie ihre Gesundheit weiter verschlechtern (zu dieser Labilisierungsspirale vgl. Behrens 1990).
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Zusammenfassung
5.1 Handlungs- und strukturtheoretische Zusammenfassung Die Ergebnisse zur Drift-Hypothese sind nun zusammenfassend auf die oben belegte diagnostische Entwicklung von der ICD zur ICIDH und zur ICF zu beziehen. Alle Theorien sozialer Ungleichheit setzen unabhängige in Beziehung zu abhängigen Variablen. Deswegen ist, wie wir sahen, die Bestimmung der abhängigen Variable für alle diese Theorien entscheidend. Bei der Bestimmung der abhängigen Variablen unterschied ich zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Konzepten. Diese beiden Konzepte lassen sich keineswegs als das der objektiven versus subjektiven Gesundheit bezeichnen. Sie sind beide unterschiedliche Konzepte objektivierbarer Gesundheit. Das erste Konzept ist verbreitet, aber meiner Ansicht nach wenig sinnvoll. Es definiert Krankheit versus Gesundheit durch das Vorliegen einer organischen Schädigung. Eine solche organische Schädigung mag z.B. Diabetes mellitus oder eine ischämische Herzkrankheit sein. Ein solches Modell verwenden beispielsweise Marmot et al. (1996). Nach dem zweiten Konzept sind medizinisch feststellbare organische Schädigungen (und zum Teil auch Fähigkeitsstörungen und Aktivitätseinschränkungen) eher eine unabhängige Variable für die erste Ebene der ICF, die eingeschränkten organischen und psychischen Strukturen, als für die eigentlich interessierende abhängige Variable Gesundheit im Sinne von Partizipation. Auch für die unabhängigen Variablen von „Gesundheit vor und bei Pflegebedürftigkeit“ lässt sich jetzt eine Schlussfolgerung ziehen, die mit der Abbildung 3 korrespondiert. Es müssen Klassifizierungen zusammen gesehen werden, die gewöhnlich als konkurrierende Erklärungskonzepte in der Soziologie vertreten werden. Es sind dies die Konzepte der Klasse, der sozialen Lage, der Schicht, des Milieus, des Lebensstils und der sozialen Unterstützung. Es ist hier nicht der Raum, sie in der Differenziertheit zu diskutieren, in der sie diskutiert werden müssten. In dieser Zusammenfassung der Konzepte geht es vornehmlich nur um ein einziges Argument: Dass von allen diesen Konzepten her im Ergebnis übereinstimmend eine ähnlich ungleiche Betroffenheit von Krankheit, Pflegebedürftigkeit und frühem Tod vorhergesagt wird, muss nicht auf theoretische Unausgegorenheit schließen lassen. Es müsste dies nur, wenn es sich tatsächlich um konkurrierende, sich ausschließende Beschreibungen und Erklärungen handelte. Aber konkurrieren handlungs- und strukturtheoretische Konzepte, oder erläutern die handlungstheoretischen Rekonstruktionen vielmehr, wie die strukturtheoretischen Zusammenfassungen zu zutreffenden Prognosen kommen? Strukturtheoretisch beschreibbare Bedingungen wirken nicht nur auf Gesundheitsbelastungen, sondern beschränken und ermöglichen auch Bewältigungsstrategien, ohne die die
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Wirkung von Belastungen gar nicht begriffen werden kann. Weder bei Max Weber, noch bei Marx, noch bei Bourdieu lassen sich handlungs- und strukturtheoretische Argumente gegeneinander setzen (vgl. Cockerham/Abel/Lüschen 1993). Vor diesem gemeinsamen Hintergrund werden erst Unterschiede zwischen Modellen fruchtbar, wie etwa dem 'job strain model' und dem 'high effort/ low reward model' (vgl. Siegrist 2000). Die Entgegensetzung von handlungs- und strukturtheoretischen Ansätzen erinnert etwas an die vorsoziologische Debatte, ob man auf Verhältnisprävention oder Verhaltensprävention setzten sollte. Die Unterscheidung von subjektiven und objektiven Faktoren, wie sie in den soziologischen Modellen von Mielck (2000) bezeichnet wurden, ist verbreitet. Ihre Benennung ist gleichwohl grob irreführend. Wie sollen die objektiven Faktoren wirken ohne ihre Wahrnehmung und ihren Gebrauch durch handelnde Subjekte? „Objektive“ lassen sich nicht gegen „subjektive“ Modelle ausspielen. Der Durchgang durch die Erklärungs- und Bewältigungsversuche sozialer Ungleichheit vor chronischer Krankheit, Pflegebedürftigkeit und frühem Tod hat ebenso wie die Entwicklung der zentralen medizinischen Klassifikationssysteme von der ICD über die ICIDH 1 und 2 zur ICF gezeigt, dass chronifizierte Krankheiten und gesundheitsbedingte Pflegebedürftigkeit die alte soziologische Diskussion über Norm und Abweichung verändern. Chronische Krankheiten fordern von den Erkrankten zu lange die kontinuierliche Anstrengung der biographischen Identitätsbildung, als dass von der Überbrückung einer Abweichung die Rede sein könnte. Chronische Krankheit beginnt häufig mit einem Sturz aus der Normalität – aber wohin führt dieser Sturz? Die Verbreitung chronischer Krankheiten und Pflegebedürftigkeit führt dazu (Behrens 1990), dass Erkrankung nicht mehr in einem emphatischen Sinn als Abweichung zu deuten ist. Vielmehr stehen erkrankte Individuen häufig vor – oder genauer zwischen – konkurrierenden Normalitäten. Auf welche sie sich stützen und welcher Anforderungen sie zu erfüllen suchen, das kann jahrelang unentscheidbar bleiben und die Individuen und ihre Angehörigen invalidisierendem Stress aussetzen. Sie stehen unentschieden zwischen der Rehabilitation in eine alte und der Habilitation in eine andere Normalität1. 1 Dieses Argument kann daher anknüpfen an die Kontroverse zwischen Parsons, Goffman und Strauss, die fast gleichzeitig in den Fünfziger Jahren psychiatrische Einrichtungen analysierten und zu sehr unterschiedlichen Schlüssen kamen. Parsons analysiert funktionale „therapy as a process of interaction“, in dem es, mit einem medizinischen Begriff, vor allem auf die Bedingungen der compliance der Laien (Patienten) ankommt (vgl. Parsons 1957: 109ff., 114ff.). Für Goffman sind die Patienten tendenziell Opfer eines Anstaltsregimes, das sie diskulturiert (vgl. Goffman 1961: 24ff.). Strauss betont im Gegenteil den Einfluss, den die Patienten, insbesondere die Langzeitpatienten, auf die negotiatiated order des Krankenhauses haben (Auswahl der behandelnden Ärzte und der PharmakaMengen, Zuordnung zu Stationen, Praktiken und Rituale), obwohl Strauss das Machtgefälle keineswegs übersieht. Pflegende und andere Gesundheitsberufe, Ärzte und Patienten bilden ein Arbeitsge-
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Tendenziell sprengt die Bewältigung chronischer Erkrankungen und vor allem von Pflegebedürftigkeit die Abgrenzbarkeit einer Geltungssphäre kuratives Gesundheitswesen, in der die Norm „jedem nach seinen Bedürfnissen“ anerkannt ist, von den Sphären, in denen identitätsstiftend nach Leistung, nicht nach Bedarf verteilt wird. Dass diese Sphären getrennt sind, dafür konnten am eindrücklichsten die Verteilungsnormen knapper Organspenden im Gesundheitswesen angeführt werden. Die Entgrenzungs-Tendenz wurde zweifach belegt, a) mit der Entwicklung der diagnostischen Standardklassifikation zur ICF und b) der Geschichte der sozialstaatlichen Bekämpfung der sozialen Ungleichheit vor chronischer Krankheit und vorzeitigem Tod. Das Unbehagen an dieser Entgrenzung trägt wahrscheinlich dazu bei, dass eine eher fragmentierte, an der akuten Krise als am Gesamtverlauf orientierte institutionelle Bewältigung chronischer Krankheit und Pflegebedürftigkeit sich hartnäckig hält. Auch auf Seiten der chronisch Erkrankten löste eine Entgrenzung der Behandlung in Richtung fürsorglicher Bedrohung der Autonomie Gefühle des Ausgeliefertseins aus. Kränkend an Krankheit ist in modernen Gesellschaften der Verlust der Autonomie, gerade weil sie bereits körperlich bedroht ist. Daher ist Wahlfreiheit im Gesundheitswesen von hoher Relevanz (vgl. ausführlich Behrens et al. 1996). Autonomie ist nicht mit Autarkie zu verwechseln. Die Herausforderungen für die Inklusion und Kontinuitätssicherung, die chronische Krankheit aufwirft, sind daher nicht nur mit machtvoller Fürsorge zu bewältigen. Sie werfen für Individuen und Gesellschaften Probleme auf, die vor allem anerkennungstheoretisch (Honneth 1998) zu bearbeiten sind. Wie die Debatte zur soziologischen Theorie sozialer Ungleichheit bei chronischer Krankheit und Behinderung zeigt, kann aus dieser Debatte in Zukunft viel für das Verständnis von sozialer Ungleichheit und Pflegebedürftigkeit gewonnen werden – diese Arbeit liegt aber noch weitgehend vor uns.
5.2 Fazit für die Pflegeprofession Die Beschäftigung der Pflege- und Sozialwissenschaften mit dem Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Pflege steht in Deutschland erstaunlicherweise noch am Anfang, gerade in den Aspekten dieses Verhältnisses, die nicht so trivial sind wie die Umverteilung von unten nach oben durch die Pflegeversicherung und der „Teilkasko“-Charakter der Pflegeversicherung. Wie dieser Aufsatz zeigen sollte, kann die Aufklärung des Zusammenhangs von sozialer Ungleichheit und Pflege erheblichen Gewinn aus beiden Diskussionen über a) chronische flecht, das die Behandlungs- als Verhandlungs-Verläufe und die Krankheitsverläufe formt (vgl. Strauss 1985). Damit sind die Analysen von Parsons und Goffman handlungstheoretisch erweitert.
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Erkrankungen und soziale Ungleichheit sowie b) Behinderung und soziale Ungleichheit ziehen. Handlungstheoretische und strukturtheoretische Konzepte widersprechen sich nicht, sondern beziehen sich auf dieselben Prozesse, wenn strukturtheoretische Konzepte ökonomische Ressourcen durch kulturelle und soziale ergänzen („Kapitalien“ im Sinne von Bourdieu). In der Pflege ist besonders deutlich (noch deutlicher als bei der Bewältigung chronischer Krankheit), dass es häufig nicht um Heilung organischer und psychischer Strukturen, sondern um Partizipation der Pflegebedürftigen am für sie biographisch relevanten sozialen Leben trotz fortbestehender organischer Einschränkungen geht. Mitglieder der Pflegeprofession können bei dieser Diskussion Anknüpfungspunkte für eine Pflegepraxis finden, die vorhandene soziale Ungleichheit nicht einfach reproduziert oder sogar neu erzeugt. Wo die Pflegeprofession soziales und kulturelles Kapital nicht erhöhen kann, kann sie in ihren Handlungen dazu beitragen, dass nicht zuviel kulturelles und soziales Kapital nötig ist, um die Leistungen der Pflegeprofession durchschauen und nutzen zu können.
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Empirische Zugriffe I – Kontext und Ausgangsbedingungen von Pflege
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Soziale Einflüsse auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit älterer Männer
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Soziale Einflüsse auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit älterer Männer* Soziale Einflüsse auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit älterer Männer
Lars Borchert und Heinz Rothgang
1
Einleitung
Es gehört zu den vielfach bestätigten Befunden, dass Personen in unteren sozioökonomischen Positionen weitaus höheren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind, als Personen in höheren sozioökonomischen Positionen. Dieser inverse Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und dem Gesundheitszustand konnte in vielen Studien sowohl für das das Morbiditätsrisiko (Helmert 2003; Lampert et al. 2005; Mielck 2005; Hernández-Quevedo 2006; Richter/Hurrelmann 2006), als auch für das Mortalitätsrisiko (Klein 1993; Voges/Schmidt 1996; Klein/Unger 2001; Helmert/Voges 2002; Helmert et al. 2002) nachgewiesen werden. Dabei ist anzumerken, dass sich die überwiegende Anzahl der in diesem Rahmen vorliegenden Studien auf Personen im erwerbsfähigen Alter bezieht. Ältere Personen spielen dagegen in der wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Diskussion lediglich eine untergeordnete Rolle. Aus diesem Grund ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur relativ wenig über die Wirkungsweise von sozialer Ungleichheit auf den Gesundheitsstatus von älteren Menschen bekannt. Betrachtet man jedoch den diesbezüglich vorliegenden Stand der Forschung, so finden sich zunächst ganz allgemein vier unterschiedliche Thesen, die Annahmen über die Veränderungen der Ungleichheit im Altersprozess postulieren (Dowd/Bengtson 1978; Pampel/Hardy 1994; Mayer/Wagner 1999; O’Rand/ Henretta 1999; Kohli et al 2000; Knesebeck 2005a; Voges 2007: 84). So geht (1.) die Kontinuitätsthese davon aus, dass sich der im höheren Lebensalter erreichte soziale Status weitgehend auf den vorherigen Lebenslauf – und hier insbesondere auf das vorangegangene Erwerbsleben – zurückführen lässt. D.h., es wird davon ausgegangen, dass sich die soziale Ungleichheit auch im Alter nicht wesentlich verändert, sondern diese vielmehr wie gewohnt fortführt. Dies wird (2.) von der Kumulationsthese bestritten. Diese geht vielmehr davon aus, dass sich die Probleme, Belastungen und Benachteiligungen von Personen in unteren * Die Studie beruht auf Daten der Gmünder Ersatzkasse (GEK), die dem Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung zur Verfügung gestellt werden. Die Autoren danken der Gmünder Ersatzkasse für die Bereitstellung dieser Daten.
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sozioökonomischen Positionen noch verschärfen, da sich diese mit dem Alter anhäufen (z.B. ungünstige Arbeitsbedingungen, geringe finanzielle Absicherung, schlechte Gesundheit). Demgegenüber können beispielsweise sozioökonomisch Bessergestellte sehr viel besser für das Alter vorsorgen (z.B. private Rentenversicherung, Ersparnisse) als benachteiligte Bevölkerungsgruppen, so dass sich die Reproduktion der sozialen Lage im Rahmen der gesetzlichen Alterssicherung noch durch das unterschiedliche Ausmaß privater Vorsorge verstärkt. Das Gegenteil wird (3.) von der Nivellierungs- bzw. Destrukturierungsthese postuliert. Nach dieser These nimmt nämlich die soziale Ungleichheit mit zunehmendem Lebensalter ab. D.h., es wird hier davon ausgegangen, dass sich mit steigendem Alter die Differenzen im soziökonomischen Status verschiedener sozialer Gruppen ausgleichen. Während die Wirkungsweise sozioökonomischer Merkmale zurückgeht, gewinnen demgegenüber primär biologische und gesundheitsbezogene Faktoren an Bedeutung. Diese Nivellierung kann u.a. auf das vorzeitige Versterben von Personen in benachteiligten sozioökonomischen Positionen zurückgeführt werden. Eine recht ähnliche Auffassung vertritt (4.) die These der Altersbedingtheit: Nach dieser ist es in erster Linie das Alter selbst, welches auf Grund der mit dem Älterwerden einhergehenden physiologischen und psychischen Veränderungen den sozioökonomischen Status beeinflusst (z.B. soziale Benachteiligungen oder Statusverluste älterer Menschen). Empirische Studien, die versucht haben, die vier oben genannten Thesen zu überprüfen, kommen insgesamt zu keinem einheitlichen Ergebnis. Wie von Knesebeck zusammenfasst, deuten die bisher vorliegen Ergebnisse darauf hin, „dass generalisierende Aussagen über die Veränderungen der Struktur und Wirkung von sozialer Ungleichheit mit zunehmendem Alter nur eingeschränkt möglich sind. Möglicherweise entspricht eine Mischung von Kontinuität, Kumulation und Destrukturierung in verschiedenen Lebensbereichen am ehesten der Realität“ (2005a: 25). Dementsprechend konnten verschiedene Studien nachweisen, dass sich die gesundheitliche Ungleichheit – also der oben beschriebene Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Morbidität bzw. Mortalität – keineswegs vollständig im höheren Alter auflöst (Mayer/Wagner 1999, Lampert 2000, Motel-Klingebiel 2001; Huisman et al. 2003; Motel-Klingebiel et al. 2004; Huisman et al. 2004; Knesebeck 2005a; Knesebeck/Schäfer 2006). Dies bedeutet, dass sich gesundheitliche Ungleichheiten ebenfalls im höheren Lebensalter in der einen oder anderen Form fortsetzen – wenn auch in abgeschwächter Weise, als in jüngeren Lebensjahren. Noch weitestgehend ungeklärt ist dagegen der Fall der Pflegebedürftigkeit. Denn inwiefern auf dieses spezielle Risiko sozioökonomische Einflüsse wirken, ist noch sehr unzureichend erforscht. So liegen in Bezug auf die Pflegebedürftigkeit vor allem die Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes sowie die vom
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Bundesministeriums für Gesundheit veröffentlichten Kassenstatistiken vor. Bei diesen handelt es sich allerdings um Querschnittsinformationen, welche lediglich die Prävalenzen der Pflegebedürftigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. die zeitlichen Trends dieser Prävalenzen darstellen. Nach verschiedenen sozioökonomischen Gruppen wird dabei nicht differenziert. Darüber hinaus sind in Bezug auf die Pflegebedürftigkeit in Deutschland vor allem die umfangreichen Infratest-Studien von großer Bedeutung (Schneekloth et al. 1996; Schneekloth/Müller 1998; Schneekloth/Wahl 2005). Diese liefern ein breites Spektrum an Informationen über Pflegebedürftige in privaten Haushalten und Pflegeheimen, z.B. über den Hilfe- und Pflegebedarf, über Beeinträchtigungen in der alltäglichen Lebensführung von Pflegebedürftigen sowie deren Hintergrund, die demografischen Merkmale von Pflegebedürftigen oder Informationen über die Merkmale von Pflegenden und von Alteneinrichtungen. Nichtsdestotrotz muss für all diese Studien festgehalten werden, dass bei ihnen dass Eintrittsrisiko in die Pflegebedürftigkeit – im Lebensverlauf – nicht analysiert wird und es zudem offen bleibt, welchen Einfluss soziale Ungleichheit auf das allgemeine Risiko der Pflegebedürftigkeit besitzt. Das Gleiche gilt ebenfalls für andere Studien: entweder beziehen sie sich ausschließlich auf die Pflegebedürftigkeit und blenden andere Faktoren aus (Bickel 1996, 2001) oder sie beziehen sich lediglich auf spezielle Abschnitte im Lebensverlauf wie z.B. den Heimeintritt (Klein 1998). Die bereits oben genannten Studien zur gesundheitlichen Ungleichheit gehen dagegen zwar auf sozioökonomische Differenzen ein und analysieren wie diese mit Morbidität und Mortalität zusammenhängen – allerdings bleibt dabei das Thema der Pflegebedürftigkeit gänzlich unberücksichtigt. Die vorliegende Studie zielt daher auf diese Forschungslücke ab und geht der Frage nach, ob sich sozioökonomische Einflüsse auf das allgemeine Risiko der Pflegebedürftigkeit bei älteren Männern aufdecken lassen. Dabei wird auf den Pflegebedürftigkeitsbegriff des Elften Sozialgesetzbuchs (SGB XI) in seiner derzeitigen Fassung abgestellt.1
2
Einflussfaktoren auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit
In der wissenschaftlichen Literatur werden bedeutende Einflussfaktoren auf das Risiko, pflegebedürftig zu werden, diskutiert (Mager 1999: 36ff.).2 1 „Pflegebedürftigkeit“ in diesem Sinne liegt somit immer nur dann vor, wenn dies durch einen Bescheid der Pflegekasse anerkannt ist. 2 Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass Faktoren, welche einen Einfluss auf Morbidität und Mortalität besitzen, in ähnlicher Weise auf die Pflegebedürftigkeit wirken.
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Lars Borchert und Heinz Rothgang
Als einer der wichtigsten Faktoren wird das Alter angesehen (Schneekloth/ Wahl 2005: 67ff.). Es ist bekannt, dass Pflegebedürftigkeit sehr stark mit dem Lebensalter korreliert. Sind beispielsweise in der Gruppe der 65-69-Jährigen 2,3% der Männer und 2,0% der Frauen pflegebedürftig, so liegen die entsprechenden Werte in der Gruppe 80-84-Jährigen bei 10,4% (Männer) und 14,1% (Frauen) (ebenda: 68). Damit steigt das Risiko der Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem Alter drastisch an. Des Weiteren ist das Geschlecht eine wichtige Determinante. Tatsächlich sind ausweislich der Pflegestatistik die relativen Pflegehäufigkeiten für Frauen im Alter von mindestens 75 Jahren höher als die der Männer. Da Frauen zudem eine deutlich längere Lebenserwartung haben als Männer,3 übertrifft die absolute Anzahl der pflegebedürftigen Frauen ab einem Alter von 70 Jahren die Zahl der gleichaltrigen pflegebedürftigen Männer deutlich.4 Das Vorliegen bestimmter Erkrankungen begünstigt ebenfalls das Auftreten von Pflegebedürftigkeit: Mit dem fortschreitenden Alternsprozess gehen Veränderungen im Organismus einher, die – im Vergleich zu jüngeren Jahren – zu einer größeren Vulnerabilität führen. Es ist daher gerade im höheren Lebensalter mit einem vermehrten Auftreten von Erkrankungen zu rechnen (Kruse et al. 2005). Neben dieser erhöhten Prävalenz von Krankheiten, können diese zudem oftmals im Zusammenspiel auftreten, was dann als Multimorbidität oder Polypathie bekannt ist.5 Hier spielen im höheren Lebensalter vor allem chronische bzw. chronisch-degenerative Erkrankungen eine hervorgehobene Rolle, z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, (bösartige) Neubildungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates oder psychiatrische Erkrankungen. Gerade die damit einhergehende Abnahme der Fähigkeit einer autonomen Lebensführung und die abnehmenden Fähigkeiten, grundlegende Verrichtungen des alltäglichen Lebens selbständig auszuführen, begünstigen eine Pflegebedürftigkeit sowie die damit mögliche Beantragung von Leistungen der Pflegeversicherung.6 Diesbezüglich müssen die Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) im Begutachtungsprozess für die Zertifizierung einer Pflegestufe ebenfalls eine erste pflegebegründende Diagnose in ihrem Pflegegutachten angeben. In einem Bericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der
3 Laut der Sterbetafel 2003/05 im Statistischen Jahrbuch 2007, haben Männer in Deutschland – bei Geburt – eine Lebenserwartung von 76,21 Jahren, während der Wert für Frauen bei 81,78 Jahre liegt (Statistisches Bundesamt 2007: 54). 4 So lag bei den 70-Jährigen und Älteren die Zahl der Leistungsempfänger am 31.12.2006 bei den Männern bei 654.887 und bei den Frauen bei 1.313.618, also mehr als doppelt so hoch (Siehe dazu die amtlichen Pflegestatistiken vom Bundesministerium für Gesundheit: http://www.bmg.bund.de. 5 Vergleiche hierzu Steinhagen-Thiessen/Borchelt (1999) und Voges (2007: 134f.). 6 Die gesetzlichen Grundlagen finden sich hierzu im SGB XI.
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Krankenkassen (MDS) wurde diesbezüglich die Bedeutung der oben genannten Erkrankungen herausgestellt (Wagner/Brucker 2003). Darüber hinaus sind neben den verschiedenen Morbiditäten ebenfalls soziale Faktoren für das Risiko der Pflegebedürftigkeit von Relevanz. Besondere Bedeutung kommt hier dem Familienstand (bzw. dem Leben in Partnerschaft) und den sozialen Netzwerken zu. Gerade diese bieten einerseits primäre Hilfe- und Pflegepotentiale, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Verheiratete und Personen mit größeren sozialen Netzwerken eine bessere Unterstützung im Krankheits- und Pflegefall besitzen als Alleinlebende, Verwitwete oder Personen, die lediglich in kleinere soziale Netzwerke eingebunden sind (Suter/Meyer 1997). Dies gilt vor allem im höheren Lebensalter. Denn besonders hier bilden Partner „die wichtigste Quelle der Unterstützung, da sie Verantwortung füreinander übernehmen in Zeiten von körperlichen Einschränkungen, Behinderungen, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit“ (Voges 2007: 232). Deutlich zeigt sich dies bei der Betrachtung der Hauptpflegeperson, deren Rolle in den meisten Fällen durch den (Ehe-)Partner, die (Ehe-)Partnerin oder nahe Angehörige übernommen wird (Schneekloth/Wahl 2005: 77; Döhner/Rothgang 2006: 586f.).7 Andererseits ist bekannt, dass der Familienstand generell verschiedene Auswirkungen sowohl auf die Gesundheit, als auch auf die Lebenserwartung besitzt (Lillard/Panis 1996; Baumann et al. 1998; Schneider 2002: 67ff.; Manor/Eisenbach 2003; Brockmann/Klein 2004; Helmert/Voges 2005). In diesem Rahmen konnte belegt werden, dass Verheiratete und Personen, die in einer Partnerschaft leben, einer günstigeren Risikostruktur ausgesetzt sind, aus der eine bessere Gesundheit und eine längere Lebenserwartung resultieren.8 Höhere Morbiditätsund Mortalitätsrisiken finden sich dagegen bei Geschiedenen, Alleinlebenden und bei Verwitweten. Begründet wird dies in erster Linie über die protektiven Auswirkungen, die von einem Leben in einer festen Partnerschaft ausgehen. Ein weiterer Einflussfaktor, der außerdem einen nicht zu unterschätzenden Effekt auf den Gesundheitsstatus ausübt, stellt die berufliche Stellung bzw. der Beruf dar. Hier konnten verschiedene Forschungsarbeiten eindeutig einen inversen Zusammenhang mit dem Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko aufdecken (Cavelaars et al. 1998; Calvert et al. 1999; Geyer/Peter 2000; Helmert 2000, Lahelma 2005). D.h., mit abnehmender beruflicher Stellung in der arbeitsweltlichen 7 Dabei muss berücksichtigt werden, dass es unmissverständlich die Frauen sind, die weitaus häufiger die Pflege für ihren Partner übernehmen; was insbesondere auf die längere Lebenserwartung der Frauen zurückgeführt werden kann. 8 Dieser positive Zusammenhang von Partnerschaft und Gesundheitsstatus wird im Allgemeinen über die Protektionsthese erklärt (=Partnerschaft hat protektiven Effekt vor gesundheitlichen Risiken). Eine andere bekannte These ist hierbei die Selektionsthese. Letztere geht davon aus, dass eher gesündere Personen eine Ehe/Partnerschaft eingehen, weshalb sich hier der beschriebene positive Zusammenhang finden lässt. Siehe zusammenfassend Schneider (2002: 67ff.).
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Hierarchie finden sich signifikant höhere gesundheitliche Belastungen als bei Personen in beruflich besser gestellten Positionen. Nach Schneider (2002: 51ff.) handelt es sich dabei bei den drei wichtigsten Einflussgrößen um die körperlichen und die psychischen Belastungen, sowie um die Einflüsse der Arbeitsumgebung. Da sich diese Belastungen über den Lebensverlauf kumulieren können und einen Einfluss auf Morbidität und Mortalität besitzen, ist ebenfalls davon auszugehen, dass die berufliche Stellung das Risiko pflegebedürftig zu werden beeinflusst.9
3
Daten und Methode
3.1 Datenbasis und Variablen Als Datenbasis für den vorliegenden Beitrag wurde auf die Kassendaten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) zurückgegriffen. Mit diesen liegt ein Datensatz vor, mit dem es möglich ist, das Risiko der Pflegebedürftigkeit zeitkontinuierlich – unter Berücksichtigung sozialer und medizinischer Einflussgrößen – im tatsächlichen Lebensverlauf zu analysieren. Dadurch werden Analysen ermöglicht, welche in besonderer Weise dazu beitragen, den bisherigen Stand der Forschung zu erweitern. Diesbezüglich ist beispielsweise herauszustellen, dass an dieser Stelle das Risiko der Pflegebedürftigkeit besonders gut im zeitlichen Längsschnitt untersucht werden kann, so dass Veränderungen im Lebensverlauf, wie z.B. Erkrankungen oder Veränderungen im Familienstand, sehr gut berücksichtigt werden. Insgesamt betrachtet, handelt es sich bei den GEK-Daten um einen historischen Datensatz, der Informationen über gegenwärtige und vergangene Mitglieder der GEK beinhaltet. In diesem Sinne liegen bis zum jetzigen Zeitpunkt Informationen über 2,8 Millionen Versicherte in pseudonymisierter Form vor. Die dazugehörigen Daten befinden sich in mehreren Teildatensätzen (z.B. Stammdatensatz oder Datensatz zu Leistungen der Pflegeversicherung), die miteinander verknüpft werden können. Dadurch steht ein breites Spektrum an Merkmalen zu den GEK-Versicherten zur Verfügung, z.B. Geschlecht, Geburtsjahr, Beruf, Leistungen der Pflegeversicherung oder stationäre Behandlungen. Sämtliche Merkmale bzw. Zustandswechsel im Datensatz sind darüber hinaus auf den Tag genau dokumentiert. Aus diesem Grund kann jeder Zeitpunkt einer Veränderung – also jeder Zustandswechsel – und damit jede Episode genau rekonstruiert werden. Ein Beispiel wäre die Episode eines Krankenhausaufenthalts oder eines Aufenthalts in einem Pflegeheim. So können hier sämtliche An9
So weisen beispielsweise Schneekloth/Müller (2000: 38f.) darauf hin, dass Pflegebedürftigkeit mit einer geringen Stellung im Berufsleben korreliert.
Soziale Einflüsse auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit älterer Männer
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fangs- und Endzeitpunkte berücksichtigt werden. Letzteres ermöglicht zugleich ein – auch hier durchgeführtes – Episodensplitting, welches erlaubt, zeitveränderliche Kovariate zu kontrollieren.10 Die letztendlichen durchgeführten Analysen beziehen sich schließlich auf den Beobachtungszeitraum vom 1.1.1998 bis zum 31.12.2006. Dabei wurde die folgende Untersuchungspopulation zugrunde gelegt: Ausgewählt wurden lediglich Männer mit einem Alter von mindestens 45 Jahren, die vor dem 1.1.1998 noch kein Pflegeereignis aufgewiesen haben.11 Insgesamt treten aus dieser Population 3.275 Männer erstmalig in die Pflegebedürftigkeit ein (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Anzahl der Übergänge in die Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufen Häufigkeit
Prozent
Pflegestufe I
1.521
46,4
Pflegestufe II
1.200
36,6
554
16,9
3.275
100,0
Pflegestufe III Gesamt
Von dieser Gesamtzahl werden 1.521 Männer zum Zeitpunkt des Auftretens der Pflegebedürftigkeit mit der Pflegestufe I, 1.200 Männer mit der Pflegestufe II und 554 Männer mit der Pflegestufe III pflegebedürftig. Des Weiteren wurden die in den nachfolgenden Analysen verwendeten Variabeln folgendermaßen konstruiert:
10
Da das Risiko der Pflegebedürftigkeit in Bezug auf das Alter ungleich über den Lebensverlauf verteilt ist, wird das Alter in verschiedenen Alterskategorien zusammengefasst, nämlich in den Kategorien 55-64 Jahre, 65-74 Jahre, 75-84 Jahre und 85 Jahre und älter. Die Referenzkategorie12 bilden Personen in einem Alter von 45-54 Jahren. Dabei wird verständlicherweise ange-
Siehe zum Episodensplitting Blossfeld/Roher (2002: 141ff.). Da Frauen in der Vergangenheit oftmals bei ihrem Ehemann mitversichert waren und auf Grund der klassischen Rollenverteilung nicht selbst erwerbstätig waren, liegen nur für eine äußerst geringe Fallzahl von Frauen gültige Werte in Bezug auf eine Erwerbstätigkeit vor. Da so keine direkten Rückschlüsse auf den sozioökonomischen Hintergrund möglich sind und zudem Frauen nicht mit ihren Partnern im Datensatz verknüpft werden können, mussten Frauen aus den Analysen ausgeschlossen werden. 12 In den statistischen Analysen wird dann jeweils geprüft, ob und in welchem Umfang die Zugehörigkeit zu einer anderen Kategorie das Pflegebedürftigkeitsrisiko im Vergleich zur Referenzkategorie erhöht oder verringert. 11
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Lars Borchert und Heinz Rothgang nommen, dass mit zunehmendem Alter das Pflegebedürftigkeitsrisiko ansteigt. Als Proxy für die sozialen Netzwerke bzw. für ein Leben in Partnerschaft wurde der Familienstand herangezogen. Bei diesem werden die Kategorien ledig, geschieden, verwitwet sowie die Referenzkategorie verheiratet berücksichtigt. Hier sollte davon ausgegangen werden, dass die Unterstützung durch einen Partner einen protektiven Effekt in Bezug auf eine mögliche Pflegebedürftigkeit ausübt, u.a. durch die partnerschaftliche Unterstützung. Da eine Pflegebedürftigkeit zumeist mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergeht, wurden zum einen relevante Erkrankungen sowie zum anderen die Chronizität von Erkrankungen erfasst. Da die Morbidität allerdings nicht direkt im Datensatz gemessen werden kann, wird diese über Diagnosen nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-9) approximiert, welche über den stationären GEK-Teildatensatz erfasst werden können. Als Erkrankungen werden Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bösartige Neubildungen, Erkrankungen am Bewegungsapparat und psychiatrische Erkrankungen gemessen. Dagegen liegt ein Leiden an chronischen Erkrankungen vor, wenn diese auf pathologischen Veränderungen beruhen, die nach medizinischem Wissen zumeist als nicht heilbar gelten, womit insbesondere im Alter mit einer Zunahme an weiteren Erkrankungen gerechnet werden muss.13 Sämtliche medizinischen Variablen wurden als DummyVariablen kodiert, d.h. es wurde dichotom unterschieden, ob diese Krankheit vorliegt oder nicht, wobei das Nicht-Vorliegen als Referenzkategorie fungiert. Um den sozialen Hintergrund der Pflegebedürftigen analysieren zu können, musste auf den Beruf als Proxy für den sozioökonomischen Status zurückgegriffen werden. Da in den GEK-Daten Informationen über die ausgeübten Berufe vorliegen – und zwar in Form der Dreisteller nach der amtlichen Klassifikation der Berufe – konnten diese in die Berufsklassifikation nach Blossfeld rekodiert werden (Blossfeld 1985, Schimpl-Neimanns 2003).14 Dabei wurde für die Personen der Untersuchungspopulation immer derjeni-
13 Die Definitionen der chronischen Erkrankungen basieren auf Rainer Müller nach Grundlage der ICD (Siehe hierzu Voges 1994: 121). Bei chronischen Erkrankungen kann es sich ebenso um die anderen hier berücksichtigten Erkrankungen handeln, wenn diese einen chronischen Verlauf aufweisen. In diesem Fall würde das Vorliegen dieser Krankheit ausschließlich beim Merkmal „chronische Krankheit“ berücksichtigt, nicht aber bei der ursprünglichen Krankheit, also etwa bei der Gruppe der psychiatrischen oder Krebserkrankungen. Eine Krankheit wird so nicht doppelt erfasst, was die Ergebnisse des statistischen Modells verzerren würde. 14 Siehe hierzu die „Umsetzung der Berufsklassifikation von Blossfeld“ unter den Mikrodaten-Tools beim Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA): http://www.social-science-gesis.de/Dauerbeobachtung/GML/Service/Mikrodaten-Tools/index.htm
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ge Beruf ausgewählt, in dem sie am längsten gearbeitet haben. Nach erfolgter Rekodierung standen die nachstehenden Berufsgruppen zur Verfügung: technische Berufe (z.B. Zahntechniker, Maschinenbautechniker, Industriemeister), qualifizierte Angestelltenberufe (z.B. Groß- und Einzelhandelskaufleute, Bürofachkräfte, Bankfachleite), qualifizierte manuelle Berufe (z.B. Dreher, Feinmechaniker, Elektroinstallateure), gering qualifizierte Angestelltenberufe (z.B. Kraftfahrzeugführer, Lagerarbeiter, Bürohilfskräfte) sowie gering qualifizierte manuelle Berufe (z.B. Metallarbeiter, Straßenbauer, Bau-/Hilfsarbeiter). Die Referenzkategorie bilden die Berufe mit hohem Status (z.B. Ingenieure, Architekten, Unternehmer, Lehrer).
3.2 Statistisches Verfahren Als statistisches Verfahren wird eine Methode benötigt, die in der Lage ist, Prozesse im Zeitverlauf zu analysieren. Ein Verfahren dass hierzu besonders gut in der Lage ist, Episoden und Zustandswechsel (z.B. vom Ausgangszustand „nicht pflegebedürftig“ in den Zielzustand „pflegebedürftig“) zu bearbeiten und eine Übergangsrate zu berechnen, ist die Ereignisanalyse (Blossfeld et al. 1986; Blossfeld/Rohwer 2002). Dabei unterscheidet sich die Ereignisdatenanalyse von herkömmlichen Verfahren insbesondere dadurch, dass bei ihr nicht wie bei üblichen Querschnitts- oder Panelstudien Messungen an Fällen/Personen zu einem einzigen (diskreten) Zeitpunkt oder zu mehreren (diskreten) Zeitpunkten vorgenommen werden, sondern es wird genau erfasst, in welchen Zeitabschnitten sich die Fälle/Personen in welchem Zustand befunden haben. Damit liegt eine stetige Zeitskala zugrunde, mit der es möglich ist, Ereignisse bzw. Zustandswechsel (z.B. Eintritt in die Pflegebedürftigkeit) zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu erfassen. Aus diesem Grund sind durch die Ereignisanalyse zugleich tatsächliche Kausalanalysen möglich; und zwar in dem Sinne, dass ein Ereignis (Ursache) einem anderen Ereignis (Wirkung) zeitlich vorausgeht. Das Grundkonzept bildet hierbei die so genannte Übergangsrate r(t). Diese kann formal folgendermaßen dargestellt werden:
r (t ) = lim
Δt →0
P(t , t + Δt ) Δt
Damit beschreibt die Übergangsrate das Risiko bzw. die Wahrscheinlichkeit (P) in einem kurzen Zeitintervall (t, t+¨t) von einem Ausgangszustand (hier: „nicht pflegebedürftig“) in einen Zielzustand (hier: „pflegebedürftig“) überzuwech-
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seln.15 Darüber hinaus wurde – im Rahmen dieses Beitrags – der Verlauf des Risikos pflegebedürftig zu werden als Exponentialmodell modelliert:16 r (t ) = exp( β 0 + β1 x1 + β 2 x2 ... + β n xn
Dabei geben die mit xn bezeichneten Kovariaten den Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf die Eintrittsrate in die Pflegebedürftigkeit wieder. Wird nun
α i = exp( β i ) gesetzt, können mittels p = (α i − 1) • 100
die berechneten Effekte (Koeffizienten) in Prozent-Effekte (p) umgerechnet werden, was eine anschaulichere Interpretation zulässt. Der Prozentwert gibt dann an, um wie viel sich das Pflegebedürftigkeitsrisiko erhöht, wenn die betroffene Person bezüglich eines der als erklärende Variable fungierenden Merkmale eine von der Referenzkategorie abweichende Ausprägung aufweist.
4
Darstellung der Ergebnisse
4.1 Einflussfaktoren des Eintritts in die Pflegebedürftigkeit Im Folgenden soll auf die Ergebnisse zum Eintritt in die Pflegebedürftigkeit eingegangen werden. Dabei werden sämtliche Koeffizienten der berechneten Modelle – wie oben ausgeführt – als Prozent-Effekte dargestellt. Einen ersten Überblick, inwiefern das Risiko in einer der drei möglichen Pflegestufen pflegebedürftig zu werden, von weiteren Einflussfaktoren abhängt, kann der Tabelle 2 entnommen werden. Hier sind die Ergebnisse zweier Modelle wiedergeben. In Modell 1 werden nur Variablen zum Alter, Familienstand und zur Morbidität als erklärende Variablen des Pflegebedürftigkeitsrisikos berücksichtigt. In Modell 2 werden ergänzend Berufsvariablen hinzugenommen, die den Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds abbilden.
15 Die Übergangsrate ist dabei auf einen Zeitpunkt bezogen und deshalb als Grenzwert (¨t Æ 0) dargestellt. 16 Zu den Besonderheiten des Exponentialmodell siehe Blossfeld/Rohwer (2002: 86ff.).
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Modell 1 verdeutlicht zunächst den erwartungsgemäß deutlichen Effekt des Lebensalters: Mit zunehmendem Alter wird eine Pflegebedürftigkeit immer wahrscheinlicher. Haben beispielsweise die 55-64-Jährigen noch kein signifikant höheres Pflegebedürftigkeitsrisiko als die Referenzkategorie, so liegt das Risiko der 65-74-Jährigen mit 108% bereits hochsignifikant über dem der 45-54-Jährigen und nimmt mit jeder weiteren Altergruppe drastischer zu. Tabelle 2: Einflussfaktoren des Eintritts in die Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I-III) – Prozenteffekte Variablen Alter 55-64 Jahre‡ Alter 65-74 Jahre‡ Alter 75-84 Jahre‡ Alter 85 Jahre und älter‡ Ledig‡ Verwitwet‡ Geschieden‡ Chronische Erkrankung‡ Herz-Kreislauf-Erkrankung‡ Bösartige Neubildung‡ Erkrankung am Bewegungsapparat‡ Psychiatrische Erkrankung‡ Technische Berufe Qualifizierte Angestelltenberufe Qualifizierte manuelle Berufe Gering qualifizierte Angestelltenberufe Gering qualifizierte manuelle Berufe Ereignisse
Modell 1 31,94 107,72*** 325,54*** 4245,82*** 49,81*** 36,07*** 13,27* 371,01*** 106,60*** 497,45*** -31,21*** 151,00***
3.275
Modell 2 31,77 108,32*** 326,52*** 3949,59*** 47,17*** 34,90*** 12,68* 369,22*** 107,32*** 501,05*** -30,88*** 152,19*** -8,47 -1,33 15,62* 36,21*** 28,89*** 3.275
Anmerkungen: a) Signifikanzniveaus: *** p 0,01; ** p 0,05; * p 0,10 b) ‡ zeitveränderliche Kovariate c) Referenzkategorien: 45-54 Jahre, verheiratet, keine (chronische) Erkrankung, Berufe mit hohem Status
Ebenfalls bestätigt sich der vermutete Einfluss des Familienstands, der als Proxy für die partnerschaftliche Unterstützung betrachtet werden kann. Verglichen mit den verheirateten Männern haben Ledige ein um 50% und Verwitwete ein um 36% höheres Risiko, pflegebedürftig zu werden. Ein ähnliches Risiko, aber nur noch auf sehr niedrigem Signifikanzniveau, haben die Geschiedenen mit 13%. Damit zeigen die Ergebnisse, wie relevant die partnerschaftliche Unterstützung im Pflegefall ist; liegt hier eine ausreichende Hilfs- und Pflegebereitschaft vor,
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kann die Beantragung einer offiziellen Pflegestufe zeitlich verzögert bzw. aufgeschoben werden. Betrachtet man des Weiteren den medizinischen Hintergrund, dann können auch hier die erwarteten Zusammenhänge bestätigt werden. So besitzen sämtliche medizinischen Einflussgrößen einen signifikant positiven Effekt. Sehr deutlich ist hierbei der Einfluss von chronischen Erkrankungen auf die Pflegebedürftigkeit dokumentiert. Demnach haben Männer, die unter Krankheiten leiden, die sich chronifiziert haben, ein um 371% höheres Risiko pflegebedürftig zu werden. Dabei ist in diesem Rahmen bekannt, dass die Chronifizierung von Krankheiten gerade im Alter Multimorbiditäten begünstigen kann. Von den einzelnen Erkrankungen, die berücksichtigt wurden, haben insbesondere die bösartigen Neubildungen einen signifikanten und großen Effekt. In gleicher Weise, jedoch in abgeschwächter Form lässt sich der positive Einfluss der psychiatrischen Erkrankungen und der Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufdecken. Lediglich der Einfluss der Erkrankungen am Bewegungsapparat fällt signifikant negativ aus, was damit zusammenhängt, dass Erkrankungen in diesem Beitrag über Diagnosen bei stationären Aufenthalten approximiert wurden, und Diagnosen bezüglich des Bewegungsapparats gehäuft in jüngeren Jahren im Zusammenhang mit Arbeitsunfähigkeit diagnostiziert werden. Insofern dürfte dies ein statistisches Artefakt sein, das die Realität nicht angemessen abbildet. In Modell 2 werden die Einflussgrößen des Modells 1 – mit geringfügigen Variationen bestätigt (Tabelle 2). Darüber hinaus verdeutlicht sich nun jedoch der Effekt des sozialen Hintergrunds auf die Pflegebedürftigkeit. Wie der Tabelle zu entnehmen ist, besitzen Männer, die gering qualifizierte Angestelltenberufe (z.B. Raum-/Hausratreiniger, Verkäufer) ausüben oder ausgeübt haben, ein mit 36% und Männer aus gering qualifizierten manuellen Berufen (z.B. Kunststoffverarbeiter, Metallschleifer) ein mit 29% höheres Pflegebedürftigkeitsrisiko als Männer aus Berufen mit hohem Status (z.B. Geschäftsführer, leitende Verwaltungsfachleute, Verbandsleiter). Ein gleichartiger, abgeschwächter und lediglich auf geringem Niveau signifikanter Effekt zeigt sich bei Männern mit qualifizierten manuellen Berufen. Hier liegt der Wert mit 16% über dem der Referenzkategorie. Mit diesem Befund lässt sich erstmals offenkundig im wirklichen Längsschnitt der Individualdatenebene belegen, was sich zuvor nur ansatzweise in Querschnittsstudien angedeutet hat: nämlich, dass Personen, die sozioökonomisch benachteiligt sind, ein höheres Risiko haben, pflegebedürftig zu werden als Personen aus besser gestellten sozioökonomischen Positionen. Damit kann konstatiert werden, dass ein niedriger sozialer Status nicht nur mit einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko einhergeht, sondern dass diese Mechanismen zugleich in Bezug auf das Pflegebedürftigkeitsrisiko Geltung besitzen.
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4.2 Einflussfaktoren des Eintritts in die Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufen Konnte im vorherigen Abschnitt nachgewiesen werden, wie sich verschiedene Einflussfaktoren auf den Eintritt in die Pflegebedürftigkeit im Allgemeinen darstellen, so ist es zusätzlich sinnvoll, bei der Pflegebedürftigkeit zwischen den drei möglichen Pflegestufen zu differenzieren. Damit können die Pflegestufen als so genannte konkurrierende Risiken analysiert werden, was den Vorteil besitzt, dass berücksichtigt wird, dass es sich bei dem erstmaligen Übergang in die Pflegebedürftigkeit mit Pflegestufe I, Pflegestufe II oder Pflegestufe III um unterschiedliche Situationen mit jeweils spezifischen gesundheitsbezogenen Belastungen handelt.17 In diesem Zusammenhang verdeutlich zunächst Tabelle 3 wie die bereits bekannten Einflussfaktoren beim erstmaligen Eintritt in die Pflegestufe I wirken. Dabei zeigt sich als erstes ein deutlicher Alterseffekt. Dieser ist – im Vergleich zu Modell 1 in Tabelle 2 – nun auch für die Altersgruppe der 55-64-Jährigen signifikant und steigt mit zunehmendem Alter weitaus deutlicher an, so dass sich die höchsten Risiken bei den älteren und hochaltrigen Männern finden. Darüber hinaus verdeutlicht sich sehr anschaulich, wie wichtig die partnerschaftliche Unterstützung beim Übergang in die Pflegestufe I ausfällt. Benachteiligt sind diesbezüglich sämtliche Männer, welche ohne eine Partnerin auskommen müssen. Von diesen haben die Verwitweten ein mit 74%, die Ledigen ein mit 64% und die Geschiedenen ein mit 38% höheres Risiko in der Pflegestufe I pflegebedürftig zu werden, als es für verheiratete Männer der Fall ist. Außerdem kommt zum Ausdruck, welche Einflussfaktoren des medizinischen Hintergrunds bei Eintritt in die Pflegestufe I besonders relevant sind: Am deutlichsten ist hier zuerst auf die Chronizität hinzuweisen. Demnach haben Männer die chronischen Belastungen ausgesetzt sind, ein um 269% gesteigertes Risiko in die Pflegestufe I zu wechseln, als es bei Männern der Fall ist, die derartigen Belastungen nicht ausgesetzt sind. Bezüglich der Erkrankungen, die bei dieser Pflegestufe am deutlichsten ihre Wirkung zeigen, kann auf die risikosteigernden Effekte der bösartigen Neubildungen, der psychiatrischen Erkrankungen sowie in geringerem Maße auf die Effekte der Herz-Kreislauf-Erkrankungen hingewiesen werden. Die Erkrankungen am Bewegungsapparat besitzen dagegen den schon bekannten negativen Effekt.
17 Unter konkurrierenden Risiken ist grob zu verstehen, dass es modelltechnisch mehr als einen Zielzustand gibt, also Personen z.B. nicht nur pflegebedürftig werden, sondern hier in einen von drei möglichen Zielzuständen (in eine der drei Pflegestufen) eintreten können.
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Tabelle 3: Einflussfaktoren des Eintritts in die Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I) – Prozenteffekte Variablen Alter 55-64 Jahre‡ Alter 65-74 Jahre‡ Alter 75-84 Jahre‡ Alter 85 Jahre und älter‡ Ledig‡ Verwitwet‡ Geschieden‡ Chronische Erkrankung‡ Herz-Kreislauf-Erkrankung‡ Bösartige Neubildung‡ Erkrankung am Bewegungsapparat‡ Psychiatrische Erkrankung‡ Technische Berufe Qualifizierte Angestelltenberufe Qualifizierte manuelle Berufe Gering qualifizierte Angestelltenberufe Gering qualifizierte manuelle Berufe Ereignisse
Modell 1 101,23** 262,48*** 832,31*** 7289,17*** 64,02*** 74,18*** 38,17*** 269,40*** 129,08*** 206,49*** -23,89*** 188,93***
1.521
Modell 2 100,89** 263,64*** 842,44*** 6723,11*** 59,36*** 71,65*** 36,82*** 266,64*** 130,41*** 209,26*** -23,35*** 191,83*** -7,93 7,52 36,74** 58,82*** 56,30*** 1.521
Anmerkungen: a) Signifikanzniveaus: *** p 0,01; ** p 0,05; * p 0,10 b) ‡ zeitveränderliche Kovariate c) Referenzkategorien: 45-54 Jahre, verheiratet, keine (chronische) Erkrankung, Berufe mit hohem Status
Von besonderem Interesse ist das Modell 2. Während die aus Modell 1 bekannten Einflüsse bestätigt bleiben und nur in geringerem Maße variieren, kann nun der Einfluss des sozialen Hintergrunds auf die Pflegebedürftigkeit in Pflegestufe I signifikant gezeigt werden. Dies gilt allen voran für die Männer aus gering qualifizierten Angestelltenberufen, die einem um 59% höherem Risiko ausgesetzt sind. Ein ähnlich erhöhtes Risiko zeigt sich mit 56% für die Männer aus gering qualifizierten manuellen Berufen und ein mit 37% höherem Risiko für Männer aus qualifizierten manuellen Berufen. Damit bestätigen die Ergebnisse aus Tabelle 3, dass hinsichtlich des Risikos, „erheblich Pflegebedürftig“ (Pflegestufe I) zu werden, soziale und sozioökonomische Faktoren das Risiko entscheidend mitbestimmen und dass Pflegebedürftigkeit – in diesem Sinne – nicht nur auf Effekte des Alters und auf Effekte der medizinischen Dimension reduziert werden kann. Wie ein Vergleich der Tabellen 2 und 3 zeigt, ist der Einfluss des sozialen Status auf das Pflegebedürf-
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tigkeitsrisiko deutlich größer, wenn nur auf das Risiko der „erheblichen Pflegebedürftigkeit“ abgestellt wird. Es stellt sich daher als nächstes die Frage, wie sich die bisher festgestellten Effekte bei den Personen darstellen, die beim Übergang in die Pflegebedürftigkeit gleich in Pflegestufe II eingestuft werden. Die diesbezüglichen Ergebnisse können der Tabelle 4 entnommen werden. Dabei wird als erstes in Modell 1 ersichtlich, dass der Alterseffekt – verglichen mit den Ergebnissen zur Pflegestufe I – beträchtlich abnimmt. Demnach unterscheidet sich die Gruppe der 55-64 Jährigen nicht mehr signifikant von den 45-54-Jährigen; wenngleich dass Vorzeichen des entsprechenden Koeffizienten noch in die bekannte Richtung verweist. Die anderen Altersgruppen bestätigen dagegen den gewohnten positiven Effekt des Alters auf die Pflegebedürftigkeit in der Pflegestufe II – jedoch fällt dieser Einfluss bereits weitaus geringer aus, als es für die Pflegestufe I gezeigt werden konnte. Ebenfalls geht in Modell 1 der Einfluss des Familienstands zurück. So ist in Bezug auf diesen Faktor nur noch ein signifikanter Effekt für die ledigen Männer festzustellen. Damit verdeutlicht sich, dass bereits hinsichtlich des Übergangs von „nicht pflegebedürftig“ in Pflegestufe II, die protektive Wirkung einer Partnerschaft erheblich zurückgeht. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass der nötige Pflegeaufwand in Pflegestufe II in der Regel nicht mehr allein durch die Partnerin erbracht werden kann, andere Hilfen in Anspruch genommen werden und dann auch ein Antrag auf Pflegebedürftigkeit gestellt wird. Außerdem ist davon auszugehen, dass beginnende Pflegebedürftigkeit bei zusammenlebenden Paaren nicht immer sofort erkannt und diagnostiziert wird, so dass das Risiko, als pflegebedürftig eingestuft zu werden, durch die Partnerschaft verringert wird. Vielmehr scheinen daher andere Einflussfaktoren an Bedeutung gewonnen zu haben. Bei diesen handelt es sich insbesondere um den gesundheitlichen Zustand des Pflegebedürftigen. Diesbezüglich ist dem Modell 1 zu entnehmen, dass zunächst das Vorliegen von chronischen Erkrankungen einen sehr starken Effekt auf das Pflegebedürftigkeitsrisiko ausübt. Hiervon Betroffene haben ein um 491% höheres Risiko als die Referenzgruppe. Zugleich ist ersichtlich, dass bösartige Neubildungen in Bezug auf die Pflegestufe II – im Vergleich zur Pflegestufe I – an Bedeutung gewonnen haben. Dem gegenüber besitzen zwar psychiatrische Erkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ebenfalls noch immer einen deutlichen und signifikanten Einfluss auf die Pflegebedürftigkeit, doch geht die Stärke ihres Einflusses zugunsten der bösartigen Neubildungen zurück. Wie des Weiteren dem Modell 2 zu entnehmen ist, nimmt nicht nur – verglichen mit den Modellen in Tabelle 3 – der Alters- und Familienstandseffekt zugunsten der medizinischen Kovariaten ab, sondern ebenso der Effekt des sozioökonomischen Hintergrunds: So wird diesbezüglich ersichtlich, dass zwar bei
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den drei bisherigen Risikogruppen noch das Vorzeichen erwartungsgemäß ausfällt, auf dem niedrigsten Niveau ist allerdings nur noch die Gruppe der Männer aus den gering qualifizierten Angestelltenberufen signifikant, welche ein 33% höheres Risiko besitzen als die Männer aus Berufen mit hohem Status. Tabelle 4: Einflussfaktoren des Eintritts in die Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe II) – Prozenteffekte Variablen Alter 55-64 Jahre‡ Alter 65-74 Jahre‡ Alter 75-84 Jahre‡ Alter 85 Jahre und älter‡ Ledig‡ Verwitwet‡ Geschieden‡ Chronische Erkrankung‡ Herz-Kreislauf-Erkrankung‡ Bösartige Neubildung‡ Erkrankung am Bewegungsapparat‡ Psychiatrische Erkrankung‡ Technische Berufe Qualifizierte Angestelltenberufe Qualifizierte manuelle Berufe Gering qualifizierte Angestelltenberufe Gering qualifizierte manuelle Berufe Ereignisse
Modell 1 28,61 90,94** 276,86*** 4998,85*** 49,90*** 7,13 -6,28 490,62*** 93,91*** 723,83*** -39,61*** 145,91***
1.200
Modell 2 28,52 91,55** 274,90*** 4622,86*** 48,16*** 6,43 -6,48 489,79*** 94,59*** 727,96*** -39,31*** 146,58*** -9,49 -22,89 2,53 32,99* 14,13 1.200
Anmerkungen: a) Signifikanzniveaus: *** p 0,01; ** p 0,05; * p 0,10 b) ‡ zeitveränderliche Kovariate c) Referenzkategorien: 45-54 Jahre, verheiratet, keine (chronische) Erkrankung, Berufe mit hohem Status
Somit kann festgehalten werden, dass der direkte Übergang von „nicht pflegebedürftig“ in die Pflegestufe II bereits zu großen Teilen durch medizinische Faktoren beeinflusst wird, während andere Faktoren an Einfluss verlieren. Demzufolge lässt sich erwarten, dass sich dieser Trend beim erstmaligen Eintritt in die Pflegebedürftigkeit mit Pflegestufe III noch verschärft. Wie die diesbezüglichen Werte aussehen, verdeutlicht Tabelle 5. Wie vermutet, fällt in Modell 1 in Bezug auf den Alterseffekt nur noch die Gruppe der 85-Jährigen und Älteren signifikant aus – und dies auf dem niedrigsten Signifikanzniveau. Der Alterseffekt verliert somit beim Einritt in die Pflegestufe III drastisch an Bedeutung. Das Gleiche gilt für den Einfluss des Familien-
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stands bzw. der partnerschaftlichen Unterstützung. Hier weisen weder die Ledigen und die Verwitweten, noch die Geschiedenen ein signifikant höheres Pflegebedürftigkeitsrisiko auf als die Verheirateten. Lediglich bei der in den anderen Analysen besonders gefährdeten Gruppe der Ledigen zeigt sich ein Effekt, der grob in die erwartete Richtung weist. Daraus lässt sich schließen, dass die protektiven Auswirkungen eines Lebens in Partnerschaft sowie die soziale Unterstützung nur noch sehr bedingt den Eintritt in die Pflegestufe III verhindern können. Andere Faktoren scheinen einen weitaus stärkeren Effekt zu besitzen. Und hierbei handelt es sich primär um den Gesundheitszustand der pflegebedürftigen Männer. Tabelle 5: Einflussfaktoren des Eintritts in die Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe III) – Prozenteffekte Variablen Alter 55-64 Jahre‡ Alter 65-74 Jahre‡ Alter 75-84 Jahre‡ Alter 85 Jahre und älter‡ Ledig‡ Verwitwet‡ Geschieden‡ Chronische Erkrankung‡ Herz-Kreislauf-Erkrankung‡ Bösartige Neubildung‡ Erkrankungen am Bewegungsapparat‡ Psychiatrische Erkrankung‡ Technische Berufe Qualifizierte Angestelltenberufe Qualifizierte manuelle Berufe Gering qualifizierte Angestelltenberufe Gering qualifizierte manuelle Berufe Ereignisse
Modell 1 -38,50 -24,00 -18,05 613,49* 14,43 -8,24 -8,08 511,90*** 91,90*** 1646,15*** -27,94*** 77,15***
554
Modell 2 -38,66 -24,23 -18,48 610,64* 14,01 -8,38 -8,60 512,70*** 91,46*** 1644,93*** -27,94*** 76,72*** -5,64 29,58 0,17 -3,58 5,07 554
Anmerkungen: a) Signifikanzniveaus: *** p 0,01; ** p 0,05; * p 0,10 b) ‡ zeitveränderliche Kovariate c) Referenzkategorien: 45-54 Jahre, verheiratet, keine (chronische) Erkrankung, Berufe mit hohem Status
In diesem Rahmen zeigt sich, dass die Chronizität von Erkrankungen im Vergleich zum Übergang von „nicht pflegebedürftig“ in die Pflegestufen I-II noch mehr an Relevanz gewonnen hat. Zugleich wird in Bezug auf das Krankheitsspektrum unmissverständlich die dominante Stellung der bösartigen Neubildun-
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gen ersichtlich. Haben sowohl Herz-Kreislauf-Erkrankungen als auch psychiatrische Erkrankungen weiterhin einen signifikanten, aber – weiter – rückläufigen Effekt, so sind die Einflüsse dieser Erkrankungen lediglich von geringerer Bedeutung, wenn man sie den Neubildungen gegenüberstellt. Letztere steigern das Risiko im Vergleich zu nicht-erkrankten Männern um 1.646% in die Pflegestufe III einzutreten. Dies bestätigt den Befund, dass der Übergang in die Pflegestufe III nicht nur im Allgemeinen durch die medizinische Dimension geprägt ist, sondern im Besonderen vor allem durch bösartige Neubildungen mitbestimmt wird. Dieses Ergebnis wird noch durch das Modell 2 bekräftig: Während die bisherigen Einflussgrößen sehr stabil bleiben, zeigt zugleich der sozioökonomische Hintergrund keinerlei signifikanten Effekt auf die Übergangsrate in die Pflegestufe III. Zusammenfassend können durch die vorgestellten Analysen die folgenden Wirkungsmechanismen soziodemografischer, soziökonomischer und medizinischer Einflussfaktoren auf die Pflegebedürftigkeit (im Sinne des SGB XI) festgehalten werden: Während der Übergang in Pflegestufe I noch deutlich durch den Alterseffekt, den Familienstand, den beruflichen Hintergrund sowie durch den Gesundheitsstatus mitbestimmt wird, treten bei den Übergängen von „nicht pflegebedürftig“ in die Pflegestufe II und in die Pflegestufe III deutliche Veränderungen auf. Dabei zeigt sich das Bild, dass mit jeder höheren Pflegestufe der Einfluss der soziodemografischen und sozioökonomischen Faktoren stark zurückgeht, bis in der Pflegestufe III nahezu nur noch die medizinische Dimension Relevanz besitzt.
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Diskussion
Ziel des vorliegenden Beitrags war es, zu überprüfen, inwiefern soziale Ungleichheit im höheren Lebensalter auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit wirkt. Während sich andere Studien zumeist auf den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Morbidität sowie Mortalität beziehen – was zum größten Teil einem Mangel an adäquaten Datenquellen zuzuschreiben ist –, konnten an dieser Stelle gezielt verschiedene Effekte auf die Pflegebedürftigkeit (im Sinne des SGB XI) abgeschätzt werden. Damit konnte erstmalig ein empirisch fundierter Einblick in die genannte Thematik gewährt werden, der sich auf tatsächliche Längsschnittdaten der Individualdatenebene bezieht und damit nicht nur Prävalenzen zu verschiedenen Zeitpunkten analysiert, sondern zugleich das tatsächliche Risiko, im Lebensverlauf pflegebedürftig zu werden, betrachtet. Vor diesem Hintergrund konnte belegt werden, dass die sozioökonomische Position nicht nur – wie bisher bestätigt – einen signifikanten Einfluss auf das
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Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko ausübt, sondern zugleich auf das Risiko einer möglichen Pflegebedürftigkeit einwirkt. Diesbezüglich muss bei der Interpretation der vorgelegten Ergebnisse allerdings noch ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden: Wie sich in einigen Studien andeutet, wird der Begutachtungsprozess durch den MDK von der sozialen Schicht der Antragsteller mit beeinflusst (Simon 2003: 35f., 2004: 224f.). Damit ist dieser Begutachtungsprozess nicht nur von objektiven Rahmenbedingungen (z.B. rechtlichen Regelungen) abhängig, sondern ebenso vom sozialen Handeln der Gutachter und Antragsteller im Interaktionsprozess. Es lässt sich daher vermuten, dass insbesondere Personen aus höheren sozialen Schichten ihre Interessen in Bezug auf die MDK-Gutachter besser durchzusetzen vermögen, als es Personen aus niedrigen Sozialschichten möglich ist, z.B. durch ein selbstbewussteres Auftreten, ein höheres Verhandlungsgeschick oder eine stärkere Durchsetzungskraft. Da nun in diesem Beitrag gezeigt wurde, dass Männer aus niedrigen sozioökonomischen Positionen ein höheres Risiko aufweisen, pflegebedürftig zu werden (im Sinne eine Pflegestufe zertifiziert zu bekommen) als Männer aus besser gestellten Positionen, muss angenommen werden, dass das tatsächliche Pflegebedürftigkeitsrisiko für die unteren sozialen Schichten noch weitaus höher ausfällt und somit in dieser Studie unterschätzt wird. Es ist daher davon auszugehen, dass Personen in unteren sozioökonomischen Positionen weitaus höheren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind, als Personen in höheren sozioökonomischen Positionen. Dieser Befund gilt aber vor allem für erhebliche Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I) und weniger für Schwer- (Pflegestufe II) und Schwerstpflegebedürftige (Pflegestufe III). In diesen höheren Pflegestufen dominieren vielmehr die medizinischen Determinanten. Insgesamt unterstützen diese Ergebnisse in Bezug auf die Pflegebedürftigkeit die Kontinuitätsthese, insofern als sich die sozialen Ungleichheiten in Richtung Pflegebedürftigkeiten fortsetzen. Gerade in höheren Pflegestufen kommt dabei aber eine Nivellierung zum Tragen, die beim Übergang in Pflegestufe III sogar dazu führt, dass der Einfluss sozialstruktureller Faktoren praktisch verschwindet.
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Soziale Einflüsse auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit älterer Männer
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Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen …
238
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen vor dem Hintergrund von Bedarf und Chancen Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen …
Baldo Blinkert und Thomas Klie
Die Sicherung der Pflege in der Zukunft gehört zu den großen gesellschafts- und sozialpolitischen Themen der nächsten Jahrzehnte. In den aktuellen gesundheitsund pflegepolitischen Diskussionen steht die Sicherung der Pflegeversicherung insbesondere auf der fiskalischen Seite und die moderate Anpassung leistungsrechtlicher Art im Mittelpunkt. Die grundlegende Frage, wie sich die Versorgungssituation in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird, bleibt weiterhin ausgespart (Klie 2007b). Um die zentralen Probleme für die Zukunft in den Blick zu nehmen, muss man zum Teil sehr einfache Fragen stellen. So gibt es im Wesentlichen zwei Perspektiven, wovon die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen abhängt: Die eine – nennen wir sie die „naive Perspektive“ – geht davon aus, dass die Versorgungssituation vom Bedarf bestimmt ist. Eine andere Sichtweise könnte man vielleicht als „subversive Perspektive“ bezeichnen. Ihr zufolge wird die Versorgungssituation durch ganz andere Bedingungen beeinflusst, also nicht vom Bedarf, sondern von Bedingungen, die etwas mit der Verteilung gesellschaftlicher Chancen, mit dem Fehlen oder Vorhandensein von Ressourcen zu tun hat. Wir sind der Meinung, dass beide Sichtweisen zutreffend sind und werden das in diesem Aufsatz begründen und auch durch die Ergebnisse unserer Forschungen belegen.1 Sie sind für die Architektur der Pflegesicherung in Deutschland von grundlegender Bedeutung: basiert sie doch im Wesentlichen auf gesellschaftlichen Voraussetzungen, auf der Familienpflegebereitschaft, die so für die Zukunft nicht mehr gelten werden.
1 Die Forschungen wurden im Zeitraum von 1998 bis 2007 im Kontext des „Freiburger Forschungsverbunds soziale Sicherheit im Alter“ durchgeführt. An diesem Forschungsverbund beteiligt sind das Institut für Soziologie an der Universität Freiburg, Prof. Dr. Thomas Klie und der Arbeitsschwerpunkt Gerontologie und Pflege (AGP) an der Evangelischen Fachhochschule und das Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS).
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen … 1
239
Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen: Pflegearrangements
Versorgungssituationen ergeben sich aus den gewählten oder auferlegten Pflegearrangements. Eine erste und sehr grundlegende Unterscheidung bezieht sich auf den Ort der Pflege: ob die Versorgung in einem Heim durchgeführt wird oder ob es sich um eine häusliche Versorgung handelt. Zurzeit beruht die Versorgung pflegebedürftiger Menschen noch immer ganz wesentlich darauf, dass nahe Angehörige – vor allem Ehe-/Lebenspartner und Kinder – bereit sind, entsprechende Verpflichtungen zu übernehmen. Der Anteil der zu Hause Versorgten liegt bei rund 70% und von den helfenden Familienangehörigen nehmen auch nur rund zwei Drittel professionelle Hilfen in Anspruch. Und wenn wir die Menschen fragen, dann wird deutlich, dass die häusliche Versorgung auch immer noch als Idealform der Versorgung betrachtet wird. Demgegenüber wird die Versorgung durch ein Pflegeheim eher negativ beurteilt und gilt als Ersatzlösung. Häusliche Versorgung und stationäre Versorgung sind die Extreme – dazwischen liegen verschiedene Formen der teilstationären und temporär-stationären Versorgung wie z.B. die Kurzzeitpflege und die Tagespflege, die jedoch noch immer keinen großen Zuspruch finden. Bei der häuslichen Pflege lässt sich noch unterscheiden, wie und in welchem Umfang verschiedene Akteure und Sektoren beteiligt sind: informeller Sektor 1 (Angehörige), informeller Sektor 2 (Nachbarn, Bekannte, Freunde, Ehrenamtliche), formeller Sektor 1 (Pflegefachkräfte und –dienste), formeller Sektor 2 (sonstige berufliche bzw. kommerzielle Anbieter von Leistungen). Diese Sektoren und Akteure bringen jeweils ihre eigene Qualität in die Gestaltung des Pflegearrangements ein: Professionelle mit ihrem Fachwissen und ihrer handwerklichen aber auch hermeneutischen Kompetenz; sonstige berufliche bzw. kommerzielle Anbieter, die zur Bewältigung von Alltagsproblemen erforderlichen Dienste, die Angehörigen mit ihrer spezifischen Kenntnis und Nähe zum Pflegebedürftigen und der lebensweltlichen Vertrautheit, Nachbarn und Ehrenamtliche mit ihrem Interesse an der Person des Pflegebedürftigen und in der von ihnen herzustellenden sozialen Teilhabe des Pflegebedürftigen in soziale Kontexte der Gesellschaft. Die quantitativen und qualitativen Verschränkungen der beschriebenen Sektoren werden in etwas anderen Kategorien analytisch und strategisch im Welfare-Mix Ansatz thematisiert (Klie 2007a; Klie/Ross 2005).
240
Baldo Blinkert und Thomas Klie
Abbildung 1: Pflegearrangements
Wie sind nun Pflegearrangements erklärbar? Wovon hängt es ab, welches Arrangement gewählt wurde bzw. sich ergeben hat?
2
Unterscheidung zwischen Mikro- und Makro-Ebene
Um die Frage nach Erklärungen zu beantworten, ist es zunächst sinnvoll, zwischen einer Makro- und einer Mikro-Ebene zu unterscheiden. Wenn wir die Makro-Ebene im Blick haben, berücksichtigen wir zur Erklärung Strukturen und das Explanandum sind Quoten oder Häufigkeiten von verschiedenen Pflegearrangements – z.B. der Anteil oder die Anzahl der in Heimen Versorgten. Wenn es uns um die Mikro-Ebene geht, interessieren wir uns für Entscheidungen von Individuen oder Haushalten und für ihre Praktiken. Wir wollen dann wissen, wie und unter welchen Bedingungen sich Pflegebedürftige, bzw. deren Angehörige für die eine oder andere Form der Versorgung entscheiden und wie die konkrete Praxis der Versorgung aussieht.2 2 Natürlich hängen Makro- und Mikro-Ebene zusammen. Strukturen schaffen Restriktionen und eröffnen Chancen auf der Handlungs- bzw. Entscheidungsebene und durch Handlungen/Entscheidungen bzw. durch die Kumulation von Handlungen und durch die Entscheidungen von Akteuren mit „datensetzender Macht“ entstehen Strukturen. Für eine grundlegende Diskussion des Zusammenhangs von Makro- und Mikro-Ebene vgl. Giddens (1992); Zum Konzept der „datensetzenden Macht“ vgl. Popitz (1992)
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen …
241
Es lässt sich zeigen, dass man für beide Ebenen zu brauchbaren Erklärungen kommt, wenn drei Faktoren, bzw. „Faktorbündel“ berücksichtigt werden: 1. 2. 3.
der Bedarf, Chancen oder Opportunitätsstrukturen und die institutionellen-, im Wesentlichen die sozialgesetzlichen Rahmenbedingungen.
3
Makroebene: Bedarf und Chancen im Prozess des gesellschaftlichen und demographischen Wandels
Zunächst einige Überlegungen und Ergebnisse zur Makro-Ebene: Wie lassen sich Quoten für bestimmte Arrangement-Typen erklären, z.B. die Heimquote, d.h. der Anteil der stationär versorgten Pflegebedürftigen? Mit welchen Entwicklungen ist für die nächsten Jahre zu rechnen? Dazu konnten wir ein Simulationsmodell entwickeln (vgl. Blinkert/Klie 2001). Das Modell zeigt, wie sich unter den Bedingungen des demographischen und sozialen Wandels und bei konstanten institutionellen Bedingungen Bedarf und Chancen (also Opportunitätsstrukturen) und damit auch der Anteil von Arrangementtypen verändern könnten. Der Bedarf ergibt sich aus der erwartbaren Zahl von Pflegebedürftigen. Die voraussichtliche Entwicklung ist allgemein bekannt: Aufgrund demographischer Veränderungen können wir erwarten, dass die Zahl der pflegebedürftigen Menschen bis 2050 ungefähr um den Faktor 2 zunehmen wird – von jetzt rund 2 Mio. auf dann ca. 4 Mio. Wie sich die Chancen entwickeln könnten ist etwas schwieriger abzuschätzen – wir gehen von der folgenden Annahme aus (vgl. Blinkert/Klie 2004):
242
Baldo Blinkert und Thomas Klie
Abbildung 2: Makro-Ebene: Strukturen und Institutionen
Die Chancen für eine häusliche Versorgung ergeben sich aus dem in der Gesellschaft vorhandenen „informellem Pflegepotential“: das sind die zur Versorgung ohne professionelle Hilfe abrufbaren gesellschaftlichen Ressourcen. Diese Ressourcen verändern sich durch den sich ändernden Altersaufbau, durch eine sich verändernde (sicher zunehmende) Zahl von älteren Menschen, die allein leben, durch steigende Erwerbsquoten vor allem von Frauen und durch eine Abnahme der quantitativen Bedeutung von sozialen Milieus, die eine starke Präferenz für die häusliche Pflege haben. Wenn diese Faktoren berücksichtigt werden, ist mit der folgenden Entwicklung zu rechnen:
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen …
243
Abbildung 3: „Informelles Pflegepotential“ und Pflegedürftige 2000-2050 Simulation von Szenario 2
1. BEDARF:
BEDARF
Steigerung der Zahl der Pflegebedürftigen um den Faktor 2 2. CHANCEN:
CHANCEN
Verringerung des informellen Pflegepotentials auf rund 60 % des Levels von 2000
Während die Zahl der Pflegebedürftigen – also der auf der Makro-Ebene beschreibbare Bedarf – um den Faktor 2 steigen könnte, würde sich das „informelle Pflegepotential“ – also die Chancen – auf rund 60% des Niveaus von 2000 reduzieren. Erwartbar ist also, dass sich die Schere öffnet. Auf die Quote verschiedener Pflegearrangements könnte das folgende Auswirkungen haben:
244
Baldo Blinkert und Thomas Klie
Abbildung 4: Stationär und häuslich Versorgte 2000-2050 Simulation von Szenario 2
ceteris paribus:
Die Anzahl der stationär Versorgten könnte um einen Faktor 3,5 – 4 zunehmen.
stationär Versorgte
ceteris paribus = keine Änderung der Pflegeversicherung Bedarfsdeckung wie bisher
häuslich Versorgte
keine neuen Leistungs- und Versorgungsformen keine neuen Regelungen, die eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflegen ermöglichen ...
Die Anzahl der in Heimen Versorgten könnte gegenüber dem Jahr 2000 um den Faktor 3.5 bis 4 zunehmen. Natürlich gilt das „ceteris paribus“, d.h. wenn die Rahmenbedingungen sich nicht ändern: wenn es nicht zu einer Änderung der Pflegeversicherung kommt, wenn die Bedarfsdeckung so erfolgt wie bisher, wenn es keine neuen Leistungsformen gibt, wenn es nicht zu einer verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Pflegen kommt etc. 4
Mikro-Ebene des Entscheidens: stationäre oder häusliche Versorgung – „Pflegekulturelle Orientierungen“ und soziale Milieus
Betrachten wir nun die Mikro-Ebene: Wie sind Präferenzen für Pflegearrangements und damit auch Entscheidungen verteilt? Wovon hängen solche Präferenzen ab? Dazu haben wir verschiedene Untersuchungen durchgeführt – im ländlichen Raum, in einer Großstadt, in den alten und neuen Bundesländern (Blinkert/ Klie 2000, 2006b). Es ging dabei immer um die Frage nach den „pflegekulturellen Orientierungen“ in der für dieses Thema besonders wichtigen und sensiblen Altersgruppe der 40- bis 65-Jährigen. Dabei hat uns u.a. interessiert, wie man einen nahen Angehörigen versorgen würde, der plötzlich pflegebedürftig wird. Wir haben die folgenden Präferenztypen unterschieden:
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen … 1. 2. 3. 4.
245
häusliche Versorgung ohne professionelle Hilfe häusliche Versorgung mit professioneller Unterstützung eher stationäre Versorgung definitiv stationäre Versorgung
Ein Ergebnis aus diesen Forschungen ist für die Erklärung von Versorgungspräferenzen besonders wichtig: die erstaunliche und sehr deutliche Verankerung von Präferenzen in sozialen Milieus:3 Abbildung 5: Präferenzen: stationäre oder häusliche Versorgung
soziale Milieus
häusl.Vers.auch ohne prof.Hilfe eher stationäre Versorgung
häusl.Vers.nur mit prof.Hilfe stationäre Versorgung
lib.bürg.
18
kons.bürg.
18
51
lib.MS
20
50
ges.Mitte
48
25
neues US
48
trad.US
46 0%
20%
15
16
14 24
49 40
kons.MS
19
17 39
14 35
4
34 40%
6
60%
13 80%
9 7 13 7 100%
Die Präferenz für eine häusliche Versorgung ist in den Milieus am größten, die in der Vergangenheit am stärksten an Bedeutung verloren haben - künftige Entwicklung?
Erläuterung: trad.US=traditionelles Unterschicht-Milieu, neues US=neues Unterschicht-Milieu, kons. MS=konservatives Mittelschicht-Milieu, ges.Mitte=gesellschaftliche Mitte, lib.MS=liberales Mittelschicht-Milieu, kons.bürg.=konservativ-bürgerliches Milieu, lib.bürg.=liberal-bürgerliches Milieu
Die Untersuchungen in allen Regionen kommen immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Die geringste Bereitschaft zum Selberpflegen lässt sich im „liberalbürgerlichen Milieu“ beobachten: also bei der Kombination eines relativ hohen 3
Soziale Milieus wurden durch die Achsen „sozialer Status“ und „Lebensentwurf“ klassifiziert. Der soziale Status wurde über die Indikatoren Einkommen, Schulbildung und Berufsausbildung gemessen. Der Lebensentwurf wurde auf dem Kontinuum „vormodern...modern“ eingestuft. Dazu wurden Statements über die Definition der Frauenrolle berücksichtigt, in denen auf der einen Seite ein auf Familie, Haushalt und Kinderbetreuung ausgerichtetes Frauenbild zum Ausdruck gebracht wurde und auf der anderen Seite eine Vorstellung von der Frauenrolle, die deutlich auf Selbständigkeit und Beruf ausgerichtet ist. Die Indices bzw. Skalen basieren auf Indikatoren, die auch in den repräsentativen ALLBUS-Studien verwendet werden. Auf diese Weise waren Vergleiche mit den Verhältnissen in einer repräsentativen Stichprobe möglich und auch Untersuchungen über die Veränderung des Anteils verschiedener Milieus im Zeitverlauf. Genauere Erläuterungen dazu finden sich in Blinkert/Klie (2004); Zum Milieu-Konzept allgemein vgl. Hradil (2006)
246
Baldo Blinkert und Thomas Klie
sozialen Status mit einem modernen Lebensentwurf. Die größte Bereitschaft zum Selberpflegen besteht dagegen in den „Unterschicht-Milieus“: Fast 50 Prozent würden dieser Versorgungsform den Vorzug geben.4 Betrachtet man die uns bis jetzt bekannte Richtung des sozialen Wandels, so lässt sich folgendes feststellen: Die Präferenz für eine häusliche Versorgung ohne Inanspruchnahme professioneller Hilfen ist in den Milieus am stärksten ausgeprägt, die in der Vergangenheit am meisten an Bedeutung verloren haben und die als die „Verlierer“ von Modernisierungsprozessen gelten können. Für diese milieuspezifische Verteilung von Pflegepräferenzen gibt es natürlich Gründe. Der entscheidende Punkt ist, dass aus unseren Untersuchungen hervorgeht, dass moralische Erwägungen bei der Wahl eines Arrangements durchweg eine sehr viel geringere Bedeutung haben als Kostenerwägungen. In den statushöheren Milieus haben besonders „Opportunitätskosten“ eine große Bedeutung: das sind die Kosten, die entstehen, wenn man durch die Übernahme von Pflegeverpflichtungen auf attraktive berufliche und soziale Möglichkeiten verzichten muss (Blinkert/Klie 2004).
5
Mikro-Ebene der Praktiken – Beteiligung von Sektoren und Akteuren am Pflegearrangement
Unsere Begleitforschung zur Einführung eines persönlichen Pflegebudgets5 hat weitere Erkenntnisse über Pflegearrangements und über ihre Abhängigkeit von Bedarf und Chancen erbracht. Vor allem konnten wir im Rahmen dieser Forschung Informationen über die Praktiken gewinnen, d.h. über die tatsächlich realisierten Pflegearrangements – und nicht nur über Präferenzen. Wir haben gefragt, ob und wie die eingangs unterschiedenen vier Sektoren an den Pflegearrangements häuslich versorgter pflegebedürftiger Menschen beteiligt sind. Um Arrangements der häuslichen Versorgung zu beschreiben, ist es zwar vereinfachend, aber doch sinnvoll, sich auf die zur Versorgung investierte Zeit dieser Sektoren zu konzentrieren und auf die Geldzuwendungen, die an diese Sektoren fließen.6 Pflegearrangements wurden von uns als die je spezifischen Kombinationen der vier Sektoren unter Zeit- und Geldgesichtspunkten untersucht. Ein „durch4 Das berichtete Ergebnis bezieht sich auf die 2006 durchgeführten Annaberg-Unna-Studien mit einer Stichprobe von 1004 Personen im Alter von 40 bis 65 Jahre. 5 Das Modellprojekt zur Einführung eines persönlichen Pflegebudgets mit integriertem Case Management in sieben Regionen von Deutschland und die dazu durchgeführte Begleitforschung werden von den Spitzenverbänden der Pflegekassen gefördert. 6 Blinkert/Klie (2006a)
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen …
247
schnittliches Pflegearrangement“ lässt sich durch die folgenden Zeit- und GeldWerte beschreiben7: Abbildung 6: Beteiligung von Sektoren an der Pflege bei häuslicher Versorgung Zeit: Stunden pro Woche 80 70 60
160 140
9 4 7
50 40 30
Geld: Euro pro Woche
52
120 form.Sektor 2 form.Sektor 1 inf.Sektor 2 inf.Sektor 1
43
100 80
57
60
20
40
10
20
form.Sektor 2 form.Sektor 1 inf.Sektor 2 inf.Sektor 1
34
0
14
0
Zeit
Geld
Von diesen Durchschnittswerten gibt es nun ganz erhebliche Abweichungen. Und die interessante Frage ist natürlich, wie sich Unterschiede zwischen Pflegearrangements erklären lassen. Wovon hängt der in die Versorgung investierte Zeitaufwand ab? Wovon hängt es ab, welchen Zeitbeitrag die Sektoren leisten? Wovon hängen die Geldzahlungen insgesamt und an die Sektoren ab? Um diese Fragen zu beantworten, haben wir ein allgemeines Erklärmodell vorgeschlagen:
7 Die Daten beruhen auf der persönlich-mündlich Befragung von 510 pflegebedürftigen Personen und deren Angehörigen, die im Rahmen der Begleitforschung zur Einführung eines persönlichen Pflegebudgets durchgeführt wurden. Für die Auswertung wurde eine gewichtete Stichprobe berücksichtigt. Die Gewichte wurden so gewählt, dass die Verteilung der Leistungsarten Geld-, Sach- und Kombileistungen der Verteilung in der Grundgesamtheit der häuslich Versorgten in Deutschland entspricht. Aufgrund des Forschungsdesigns sind in der Ausgangsstichprobe Geldleistungsempfäner unterrepräsentiert und Sachleistungsempfänger überrepräsentiert. Hinsichtlich anderer relevanter Merkmale wie Pflegestufe und Alter gab es keine Unterschiede zur Grundgesamtheit. Die hier berichteten Zahlen weichen von anderen Veröffentlichungen aus der Begleitforschung ab, weil für diese Veröffentlichungen ungewichtete Stichproben berücksichtigt wurden.
248
Baldo Blinkert und Thomas Klie
Abbildung 7: Erklärmodell für Pflegearrangements unter Zeit- und Geldgesichtspunkten IADL-/ADL-items
Bedarf Pflegebedürftigkeit t0......................Pflegebedürftigkeit t1
Zeit t0
Geld t0 ...................... Zeit t 1
Geld t1
Chancen soziales Umfeld t0………………..soziales Umfeld t1 Stadt-Land; Netzwerktyp; Status u. Lebensentwurf der Hauptpflegeperson
Zu erklären sind „Pflegearrangements“, also typische Kombinationen der Leistungen und Beiträge von Sektoren und Akteuren im Versorgungsprozess, was sich letztlich (zum Teil zumindest) im Zeitvolumen, in den Zeitbeiträgen der Sektoren und in den Geldzahlungen manifestiert. Die erklärenden Bedingungen sind einerseits der Bedarf – gemessen über den Grad der Pflegebedürftigkeit – und andererseits die durch das soziale Umfeld bestimmten Chancen für eine häusliche Versorgung – gemessen über einen Index, der die Merkmale Netzwerkstabilität, Stadt-Land, Status und Lebensentwurf der Hauptpflegeperson zusammenfasst. In das Modell gehen die folgenden Annahmen ein:
Die für die Versorgung an einen Sektor getätigten Geldzahlungen hängen im Wesentlichen vom zeitlichen Versorgungsaufwand ab. Der zeitliche Versorgungsaufwand wird vom Bedarf (vom Grad der Pflegebedürftigkeit) bestimmt – aber ebenso von den im sozialen Umfeld vorhandenen oder fehlenden Chancen für die Durchführung einer häuslichen Versorgung. Diese Chancen variieren mit dem Regionstyp, mit der Netzwerkstabilität und mit dem sozialen Milieu der Hauptpflegeperson (Status und Lebensentwurf).
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen …
249
Das zu einem Zeitpunkt t0 realisierte Pflegearrangement reproduziert sich für künftige Zeitpunkte t1, t2, usw., in dem Maße, in dem die konstitutiven Bedingungen – Bedarf und Chancen – unverändert bleiben und sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Leistungen der Pflegeversicherung nicht verändern.
Das Modell wurde überprüft und hat sich recht gut bewährt. Für die von Angehörigen (informeller Sektor 1) und von Pflegefachkräften/-diensten (formeller Sektor 1) in die Versorgung investierte Zeit ergeben sich die folgenden Ergebnisse:8 Tabelle 1: Ergebnis einer multivariaten Analyse: Abhängigkeit der von Angehörigen (informeller Sektor 1) und von professionellen Anbietern (formeller Sektor 1) in die Versorgung investierte Zeit vom Bedarf (Grad der Pflegebedürftigkeit) und von den Chancen (soziales Umfeld) - signifikante beta-Koeffizienten und multiple Korrelationen Prädiktoren Bedarf (Grad der Pflegebedürftigkeit, Skala) Chancen (soziales Umfeld, Index) multiple Korrelation (R)
Kriterien: Zeitbeiträge vom informellen Sektor 1 (von vom formellen Sektor 1 Angehörigen) investierte Zeit (von professionellen Anbietern) investierte Zeit 0,38
0,40
0,42
-0,17
0,67
0,40
Die Ergebnisse zeigen, dass Bedarf und Chancen9 für das von Angehörigen investierte Zeitvolumen eine erhebliche Bedeutung haben und ihre Effekte unge8 Die Analysen beruhen auf der aus Programm- und Vergleichsgruppe zusammengefassten gewichteten Stichprobe von 510 Pflegebedürftigen und 383 Hauptpflegepersonen aus der Ersterhebung. Die Analysen wurden als kategoriale Regressionen durchgeführt. Dabei wurden alle Variablen diskretisiert, und als Ordinalskalen nach der Methode der optimalen Skalierung in den Berechnungen berücksichtigt. Die Effektgrößen, d.h. die Koeffizienten wurden durch ein Iterationsverfahren geschätzt. Gegenüber der linearen OLS-Regression hat die kategoriale Regression den Vorteil, dass sie auch bei Variablen anwendbar ist, die nicht als Intervallskalen betrachtet werden können. Es werden nur die Resultate für den informellen Sektor 1 und für den formellen Sektor 1 berichtet. Die beiden anderen Sektoren besitzen in der gewichteten Stichprobe eine relativ geringe Bedeutung. Ihr Beitrag am Pflegearrangement ist weniger gut erklärbar als der Beitrag der genannten Sektoren. 9 Die erklärenden Variablen „Bedarf“ und „Chancen“ wurden in der folgenden Weise gemessen: Der Bedarf wurde über eine auf der Grundlage von IADL/ADL-items entwickelten Skala eingestuft. Die Chancen wurden durch einen Index klassifiziert, in den die Merkmale Stadt-Land, Netzwerkstabilität, sozialer Status und Lebensentwurf eingegangen sind. Die einzelnen Merkmale korrelieren so hoch,
250
Baldo Blinkert und Thomas Klie
fähr in der gleichen Größenordnung liegen, wobei die Chancen etwas mehr zur Erklärung des Zeitbeitrags leisten als der Bedarf.10 Die Abhängigkeit der vom informellen Sektor 1 geleisteten Zeit von Bedarf und Chancen zeigt auch eine etwas anschaulichere Ergebnisdarstellung: Abbildung 8: „Soziales Umfeld“, Pflegebedürftigkeit und von Angehörigen investierte Zeit
Stunden pro Woche
repräs. gewichtete Stichprobe, n=485 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
79
78
Pflegebedürftigkeit
43 37
gering hoch Linear (gering) Linear (hoch)
24 11
13
1 ungünstig
eher ungünstig
eher günstig
günstig
soziales Umfeld
Die pro Woche von der Familie investierte Zeit erhöht sich mit steigendem Bedarf – d.h. mit steigender Pflegebedürftigkeit. Und bei jedem Grad der Pflegebedürftigkeit wird unter „günstigen Umfeld-Bedingungen“ – also bei günstigen Chancen – deutlich mehr Zeit investiert als unter „ungünstigen Bedingungen“. „Günstige Bedingungen“ liegen dann vor, wenn jemand in einer ländlichen Region lebt, wenn er über ein stabiles Unterstützungsnetzwerk verfügt, wenn die Hauptpflegeperson einen niedrigen Sozialstatus und einen eher vormodernen Lebensentwurf hat. Die Ergebnisse zeigen natürlich, wie relativ die Bedeutung von Begriffen wie „günstig“ und „ungünstig“ ist. „Günstig“ unter dem Gesichtspunkt der häuslichen Versorgung einer pflegebedürftigen Person sind eher solche
dass eine Zusammenfassung sinnvoll war und auch notwendig, um das Problem der Multikolinearität bei den Prädiktoren zu vermeiden. 10 Die „Effektgrößen“ sind beta-Koeffizienten von kategorialen Regressionen. Ein beta-Koeffizient beschreibt die relative Bedeutung eines Prädiktors, wenn die übrigen Prädiktoren „konstant gehalten“ werden. R ist die multiple Korrelation und gibt an, wie gut sich eine Kriteriumsvariable auf der Basis der berücksichtigten Prädiktoren schätzen lässt.
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen …
251
Bedingungen, die unter dem Gesichtspunkt von sozialer Anerkennung und Angepasstheit an moderne Lebensbedingungen „ungünstig“ sind. Eine interessante Frage ist dabei, ob die durch das soziale Umfeld hervorgerufenen Benachteiligungen im Zeitaufwand für die Versorgung in irgendeiner Weise durch den professionellen Sektor – den formellen Sektor 1 – kompensiert werden. Die Frage muss mit „nein“ beantwortet werden. Das ergibt sich aus der Regressionsanalyse: Die Effektgröße (beta) für die Abhängigkeit der Zeit des formellen Sektor 1 vom sozialen Umfeld ist zwar negativ und signifikant, hat aber nur eine relativ geringe Größe. Deutlich wird das auch in der folgenden Abbildung: bei Kontrolle der Pflegebedürftigkeit variiert die vom professionellen Sektor in die Versorgung eingebrachte Zeit kaum mit dem sozialen Umfeld. Abbildung 9: „Soziales Umfeld“, Pflegebedürftigkeit und vom formellen Sektor investierte Zeit repräs. gewichtete Stichprobe, n=485 6
5,42
5 Stunden pro Woche
4,18
Pflegebedürftigkeit
4
gering hoch Linear (gering) Linear (hoch)
3,06
3 2,37 1,79
2
1,41 1
1
0,56
0 ungünstig
eher ungünstig
eher günstig
günstig
soziales Umfeld
6
Abschließende Bemerkungen
Unsere Vorschläge zur Beschreibung und Erklärung von Pflegearrangements und die dargelegten Ergebnisse empirischer Forschungen möchten wir abschließend wie folgt kommentieren: 1.
Im Mittelpunkt der Reformdiskussion der Pflegeversicherung steht eine Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Dabei geht es im Wesentlichen um die Frage, wie bislang vernachlässigte Personengruppen mit weni-
252
2.
3.
4.
Baldo Blinkert und Thomas Klie ger somatisch geprägtem Pflegebedarf in den Pflegebedürftigkeitsbegriff mit aufgenommen werden können. Für die tatsächliche Bewältigung und Gestaltung von Pflegebedarfen darf ihre Bedeutung jedoch nicht überschätzt werden. Bedarfsorientierte Erklärungen von Pflegearrangements sind durchaus zutreffend – aber sie greifen zu kurz. Ebenso wichtig sind gesellschaftliche Strukturen, die sich im Laufe von Modernisierungsprozessen verändern und von denen es abhängt, ob und in welchem Umfang das von den meisten Menschen präferierte Arrangement einer häuslichen Versorgung realisierbar ist. Die in sozialen Strukturen verankerten Chancen und Restriktionen gehen auch in die Entscheidungen der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen ein und die Effekte sozialer Strukturen lassen sich auch in den ganz konkreten Versorgungsarrangements pflegebedürftiger Menschen nachweisen. Dabei deutet vieles darauf hin, dass sich für ältere pflegebedürftige Menschen ein Trend zur Umkehr gesellschaftlicher Privilegierungen abzeichnet. Günstige Bedingungen für eine häusliche Versorgung sind am ehesten in den sozialen Milieus zu erwarten, die eher zu den Verlierern von Modernisierungsprozessen zählen: bei einem niedrigen Sozialstatus und einem vormodernen Lebensentwurf. Mit eher ungünstigen Bedingungen müssen dagegen diejenigen rechnen, die aufgrund ihrer sozialen Lage zu den Gewinnern gehören. Die im 7. Familienbericht der Bundesregierung zentral thematisierte Frage „who cares?“ stellt sich in sehr vergleichbarer Weise für die Fälle der Fürsorge für Kinder wie für ältere und pflegebedürftige Menschen. Care oder „Fürsorge“ erscheinen als knappe Ressource in modernen Gesellschaften. Wie es gelingen kann, Kernmodelle im gesellschaftlichem Wandel so weiterzuentwickeln, dass Fürsorge auch in modernen Familienbeziehungen einen Platz findet, sodass der Chancenfaktor bei modernen Lebensentwürfen nicht als dramatisch degressiv prognostiziert werden muss, gehört zu den großen mit dem Pflegethema verbundenen familienpolitischen Herausforderungen (BMFSFJ 2006: 254ff). Pflegepolitik darf daher nicht primär als eine sozialpolitische Herausforderung, sondern muss eben auch als eine familienpolitische bzw. allgemein gesellschaftspolitische angenommen werden. Die Pflegeversicherung setzt auf einem vormodernen Solidaritätskonzept auf, ohne sich um die Voraussetzungen der Leistungsfähigkeit von Familien und Sozialnetzwerken in zentraler Weise zu bemühen. Genau hierin liegt letztlich aber auch die Voraussetzung für die Finanzierbarkeit einer sozialen Pflegesicherung, die ohne eine Neuakzentuierung von Genderfragen auch in der Pflege nicht gelingen wird.
Die Versorgungssituation pflegebedürftiger Menschen … 5.
6.
7.
253
Die Makro- und Mikro-Analysen machen deutlich, dass dann, wenn die institutionellen Bedingungen unverändert bleiben bereits mittelfristig mit Sicherheit aber langfristig mit einer Entwicklung zu rechnen ist, die alle Beteiligten überfordert und auch für die Qualität der Pflege hochproblematische Konstellationen erwarten lässt. Das gilt auch für die Finanzierbarkeit der Absicherung von Pflegebedürftigkeit. Wenn wir die demographischen und sozialen Veränderungen betrachten, wird aber auch deutlich, dass diese Entwicklungen ein unterschiedliches Tempo haben. Bis ungefähr 2010 ist eher mit einer im Grunde noch überschaubaren und moderaten Veränderung der Verhältnisse zu rechnen: die Zahl der Pflegebedürftigen steigt zwar, bleibt aber in einer noch einigermaßen „vertrauten” Dimension. Das „informelle Pflegepotential” sinkt zwar, aber der Bedarf nach einer stationären Versorgung steigt nur relativ langsam und auch die Nachfrage nach beruflichen Hilfen durch ambulant Versorgte nimmt in einer noch durchaus überschaubaren Weise zu. Erst ab 2015/2020 wird deutlich, dass sich die Verhältnisse grundlegend und dramatisch ändern. Dieser Verlauf der Entwicklung ist mit Chancen und Gefahren verbunden. Die Chancen bestehen darin, dass es ausreichend Zeit für eine „geordnete Anpassung” geben wird, die Gefahren sehen wir darin, dass die noch einigermaßen erträglichen mittelfristigen Veränderungen zu Illusionen Anlass geben und zu der Einschätzung, dass die im Grunde genommen erforderlichen grundlegenden Anpassungen an zu erwartende Veränderungen nicht erforderlich sind. Auf keinen Fall darf man sich also der Illusion hingeben, dass alles doch nicht so schlimm kommen wird. Unsere Modellberechnungen und empirischen Studien zeigen aber, dass die Situation keineswegs hoffnungslos ist, wenn alle relevanten Akteure diese Entwicklungen rechtzeitig erkennen und ihre Ressourcen und Phantasie einsetzen, um in einer geeigneten Weise gegenzusteuern. Den sozialen und demographischen Wandel wird man nicht verhindern können. Aber man kann Strukturen schaffen, die auch unter veränderten Bedingungen eine qualitativ hochwertige und humane Versorgung von Pflegebedürftigen ermöglichen. Dazu gehört u.a. eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Pflegen und der Ausbau bzw. die Neuerfindung von Infrastrukturen, die das unterstützen und gemischte Pflegearrangements fördern. Von der Einführung eines persönlichen Pflegebudgets, das derzeit in sieben Modellregionen in einem Sozialexperiment erprobt wird, kann man sich nicht die Lösung aller Probleme versprechen. Die bis jetzt erkennbaren Wirkungen zeigen aber, dass diese Innovation ein Schritt in die richtige Richtung ist. Die Pflegearrangements von Budgetnehmern – gemessen über die Zeitbeiträge der Sektoren – lassen eine bessere Passfähigkeit zwischen Leistung, Bedarf und Bedürfnissen er-
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8.
Baldo Blinkert und Thomas Klie kennen. Deutlich zeichnet sich auch der Trend ab, dass die pflegenden Angehörigen von Budgetnehmern mit ihrer Lebensqualität zufriedener sind als die pflegenden Angehörigen von Pflegebedürftigen aus der Kontrollgruppe. Die Ergebnisse unserer Forschung legen nahe, die Grammatik der Pflegesicherung in Deutschland zu überdenken und neu zu formulieren. Es muss darum gehen, die Chancensituation Pflegebedürftiger mehr als bislang in den Blick zu nehmen. Dies kann etwa durch entsprechende Assessments und die Infrastruktur von Care- und Case Management geschehen, mit dem Ziel, die Versorgungssituation im Sinne eines Welfare-Mixes zu gestalten. Hinsichtlich der Leistungen der Pflegeversicherung wird man sich lösen müssen von protonormistischen Bedarfsfestlegungen und wird sich stärker an spezifischen Bedarfskonstellationen, aber auch an Ressourcen ausrichten müssen. Damit ist das Konzept der Sachleistungen zumindest für den Care-Bereich grundlegend in Frage gestellt. Aktuell wird ein hybrides System in vielfältigen Formen der Qualitätssicherung für qualitativ marginale Leistungsanteile häuslicher Pflege aufrechterhalten und perfektioniert. Der Anteil an reinen Sachleistungsnehmern in der häuslichen Pflege liegt weit unter 30%, etwa bei 15% und ist nicht in der Lage, eine ungünstige Chancenkonstellation zu kompensieren. Das Verhältnis von Infrastrukturentwicklung in allen Welfare-Mix-Sektoren, die Weiterentwicklung von Professionalität und Aufgabenprofilen, die Neuordnung eines geregelten Care- und Dienstleistungssektors (mit abgesenkten Attraktivitätsniveaus von illegaler Pflege) sowie die Unterstützung der Herausbildung moderner Solidaritätsformen sowohl in Familien als auch auf kommunaler Ebene gehören zu den zentralen Herausforderungen künftiger Pflegesicherung, die auf die pflegepolitische Agenda gesetzt werden müssen.
Literatur Blinkert, Baldo/Klie, Thomas (2000): Pflegekulturelle Orientierungen und soziale Milieus. In: Sozialer Fortschritt 49 Blinkert, Baldo/Klie, Thomas (2001): Zukünftige Entwicklung des Verhältnisses von professioneller und häuslicher Pflege bei differierenden Arrangements und privaten Ressourcen bis zum Jahr 2050. Expertise im Auftrag der Enquéte-Kommission Demographischer Wandel des Deutschen Bundestages. Hekt.Man., Berlin/Freiburg. Blinkert, Baldo/Klie, Thomas (2004): Solidarität in Gefahr? Hannover: Vincentz Blinkert, Baldo/Klie, Thomas (2006a): Die Zeiten der Pflege. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 39: 202-210 Blinkert, Baldo/Klie, Thomas (2006b): Pflegekulturelle Orientierungen. Die AnnabergUnna-Studie. Hekt. Man.
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Empirische Zugriffe II – Häusliche Pflegearrangements
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Töchter pflegen ihre Eltern: Traumatisierungspotenziale in der häuslichen Elternpflege – Indizien für geschlechtstypische Ungleichheit? Töchter pflegen ihre Eltern
Melanie Deutmeyer
Die aktuelle und zukünftige Versorgungssituation hochaltriger, pflegebedürftiger Personen ist eine große gesellschaftliche Herausforderung. Einerseits ist die Familie die zentrale Einrichtung für die Unterstützung älterer und kranker Menschen, deren Verfügbarkeit jedoch abnimmt, weil z.B. traditionelle Familienstrukturen erodieren und die Bereitschaft der Frauen sinkt, eine Pflegerolle zu übernehmen. Andererseits nimmt die Zahl der pflegebedürftigen Hochaltrigen aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung und den damit verbundenen multimorbiden Krankheitsgeschehen deutlich zu, so dass die Pflege eines hochaltrigen Menschen in der Familie keine Ausnahme, sondern „erstmals in der Geschichte zu einem erwartbaren Regelfall des Familienzyklus geworden ist“ (BMFSFJ 2002: 194). Zu bedenken ist, dass die häusliche Pflege hochaltriger, bedürftiger Menschen überwiegend Frauen trifft. Folgendes Bild zeigt die Verteilung der privaten Pflegearbeit (ebd.): Bei den Pflegepersonen handelt es sich in nahezu 90% aller Fälle um nahe Angehörige, selten um Freunde, Nachbarn und Bekannte. Ca. 20% der Pflegebedürftigen werden von einer Partnerin und 12% von einem Partner gepflegt. Ein weiteres Drittel der Pflegenden stellen die Töchter (23%) und Schwiegertöchter (10%). Und: Ca. 80% der pflegenden Angehörigen sind Frauen. Angehörigenpflege ist damit zum überwiegenden Teil „Frauenpflege“ (Kruse 1994: 42). Bei der geleisteten Pflege steht die Konstellation „Tochter pflegt Mutter“ an erster Stelle, gefolgt von „Frau pflegt Ehemann“ und „Frau pflegt Schwiegermutter“. Ursache hierfür ist eine Verlagerung der Pflegesituation im fortgeschrittenen Alter der Pflegebedürftigen. Während bei den 60 – 65-Jährigen der Anteil der Partnerpflege bei 56% und nur zu 13% bei den Kindern liegt, verschiebt sich die Pflegeversorgung kontinuierlich zu den Kindern. 80 bis 85Jährige Pflegebedürftige werden nur noch zu 2% von den PartnerInnen und zu 65% von den Kindern, insbesondere Töchtern, gepflegt (BMFSFJ 2002).
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Diese familiale Pflegearbeit hat Konsequenzen: Die Gesundheit vieler pflegender Angehöriger nimmt durch die mit der Pflege verbundenen Anstrengungen Schaden. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung haben pflegende Angehörige signifikant mehr körperliche Beschwerden (z.B. Gräßel 1998a). Besonders Frauen sind von solchen Beeinträchtigungen betroffen: Rund drei Viertel der pflegenden Frauen erkrankt an mindestens einer Krankheit (z.B. Adler et al. 1996). Nichtprofessionelle Pflegepersonen erleben aber nicht nur pflegebedingte körperliche, sondern auch soziale und psychische Beeinträchtigungen. Solche sind Erschöpfungssymptome, Einschränkungen der Freizeitaktivitäten oder Verringerung sozialer Kontakte bis hin zu sozialer Isolation. Aber auch mangelnde Anerkennung für die erbrachten Pflegeleistungen und berufliche Einschränkungen gelten als Stressoren. Häufig beobachtbar sind zudem psychische Beeinträchtigungen pflegender Angehöriger in Form von Depressionen mit Traurigkeit und Pessimismus, besonders wenn diese Demente pflegen (z.B. Gräßel 1998a, b; Vitalino et al. 2003). Die Befundlage zu den Auswirkungen der Angehörigenpflege macht deutlich, dass die Pflegepersonen durch die oft jahrelange Pflege erheblichen (gesundheitlichen) Belastungen ausgesetzt sind. Verschiedene AutorInnen bezeichnen pflegende Angehörige daher auch als „hidden patients“ oder „hidden victims“. (Zarit et al. 1985; Kruse 1994). Am deutlichsten aber bringt das Konzept der „filialen Reife“ (Blenker 1965; Bruder 1988) die Pflegebelastungen zum Ausdruck. Es beschreibt die häusliche Pflege als ein kritisches Ereignis im Leben der Pflegenden. In diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass es vielen Kindern Zeit ihres Lebens nicht gelingt, sich von den Eltern zu lösen. Dieses Defizit macht sich dann besonders in Pflegesituationen bemerkbar: Die Abhängigkeit von den Eltern und die fortdauernde Sehnsucht nach elterlicher Anerkennung lässt die erwachsenen, pflegenden Kinder ihre eigenen Belastungsgrenzen nicht erkennen und provoziert Schuldgefühle und permanente Unzulänglichkeitsgefühle, die Pflegesituation nicht zur Zufriedenheit der Eltern auszuführen. Diese Problematik mündet in der so bezeichneten „filialen Krise“. Für die meisten pflegenden Angehörigen scheint diese Krise vorprogrammiert zu sein, weil es den wenigsten Eltern und Kindern gelingt, sich von der jahrzehntelangen gemeinsamen Geschichte zu lösen, was in der Pflegesituation zu einer kritischen Größe wird (Schütze 1997: 108). Mit diesem Ansatz zur „filialen Reife“ wird zum ersten Mal in der Literatur die Pflege eines Elternteils explizit als mögliches Krisenereignis bezeichnet. Was aber ist ein Krisenereignis? Grundsätzlich werden darunter solche Ereignisse verstanden, deren Stresspotenzial groß genug ist, Betroffene zu veranlassen, die eigene Lebensgeschichte und das eigene Verhalten zu überdenken
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und an das schwerwiegende Ereignis anzupassen. In extremen Fällen ziehen solche kritischen Ereignisse dauerhafte pathogene Wirkungen nach sich. Der Begriff „Krise“ ist heute allerdings aus der Mode geraten. Einerseits mangelte es an einer Präzisierung des Phänomens, andererseits setzte sich der Begriff Trauma mit der Aufnahme des Phänomens in die medizinischen Klassifikationsschemata durch (DSM-IV, APA 1994; ICD-10, F 43.1, WHO 2000). Im DSM-IV (APA 1994) wird das Trauma wie folgt definiert: (1) „Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die den tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten. (2) Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen“. Im ICD-10 (F 43.1, WHO 2000) heißt es zum Trauma: „Die Betroffenen sind einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das bei nahezu jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde“. Nun leiden aber nicht alle Personen, die solchen Ereignissen ausgesetzt sind, an den in den internationalen Klassifikationsschemata angeführten posttraumatischen Belastungsstörungen. Nur eine relativ kleine Gruppe von ca. 7% derjenigen Personen, die ein Trauma erleben, entwickeln posttraumatische Belastungsstörungen (Kessler et al. 1995). Fischer und Riedesser (2003) erklären die Gesunderhaltung der betroffenen Personen damit, dass es ihnen gelingt, Bewältigungsstrategien erfolgreich anzuwenden. Gelingt dies nicht, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Traumatisierung. Unterstellt man nun mit Blenker (1965) und Bruder (1988), dass Pflege ein kritisches Ereignis ist, also ein Ereignis mit traumatogenem Potenzial, das gesundheitliche Gefahren bergen kann und zudem überwiegend von Frauen durchgeführt wird, schließen sich verschiedene Fragen an: Welche Indizien gibt es dafür, dass die Angehörigenpflege tatsächlich ein kritisches oder traumatisierendes Ereignis ist? Sind analog zu Traumatisierungen länger andauernde gesundheitliche Beeinträchtigungen durch die Angehörigenpflege erkennbar? Und: Warum sind es insbesondere Frauen, die die Angehörigenpflege übernehmen? Die letzte Frage ist deshalb brisant, weil ihre Antwort einen Hinweis liefern könnte, ob Frauen durch die Angehörigenpflege und deren gesundheitliche Konsequenzen möglicherweise systematisch benachteiligt werden, es sich also möglicherweise um eine geschlechtstypische, soziale und gesellschaftlich produzierte Ungleichheit handelt. Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen werden im Folgenden Ergebnisse aus einer Untersuchung berichtet, in deren Mittelpunkt Frauen standen,
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die einen oder beide Elternteile gepflegt hatten (ausführlich hierzu vgl. Deutmeyer 2006).
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Häusliche Angehörigenpflege – ein kritisches Ereignis mit traumatogenem Potenzial?
Abgesehen von genannten AutorInnen, die sich mit filialen Krisen auseinandersetzten, fehlen Analysen, die Angehörigenpflege als kritisches, traumatogenes Ereignis untersuchen. Die im Folgenden vorzustellenden Ergebnisse basieren auf einer Untersuchung, deren Ziel es war, (u.a.) das Krisenpotenzial häuslicher Pflegesituationen zu rekonstruieren. Hierzu wurden Einzelfallstudien durchgeführt, deren Gestaltung einer Mischung aus narrativen, fokussierten und biografischen Interviewmethoden entsprach (ausführlich vgl. Deutmeyer 2006). Ziel der Untersuchung war zudem, die Bedeutung der Pflege für pflegende Angehörige vor deren biografischem Hintergrund nachzuvollziehen. Die Erhebungsphase für die Interviews wurde auf einen Zeitraum von 4 bis maximal 12 Monate nach dem Tod des Elternteils festgesetzt, da Personen nach schwierigen Ereignissen ca. 4 Monate benötigen, bis sie diesen Bedeutungen zugewiesen haben (TuvalMashiash et al. 2004). Die Interviewdauer betrug zwischen 3 und 5 Stunden. Die qualitativen Interviewdaten wurden durch quantitative Daten ergänzt. Hierzu fanden die in der Psychotraumatologie gängigen Befragungsinstrumente Anwendung. Es wurden solche psychometrischen Tests angewendet, die z.B. Auskunft über die Gesundheit, traumaspezifische Symptomatiken, das Selbstwertgefühl, Kontrollüberzeugungen sowie soziale Unterstützungsleistungen geben1. Schon aufgrund der Kürze des Beitrags wird auf umfassende Einzellfalldarstellungen verzichtet. Vielmehr werden im Folgenden Einzelergebnisse exemplarisch dargestellt. Zunächst werden Pflegesituationen auf typische Merkmale von Traumata untersucht. Danach folgen Betrachtungen zur Gesundheit der Pflegenden, bevor der Frage nachgegangen wird, ob die überwiegend weibliche und häusliche Pflege eine Form (geschlechtstypischer) sozialer Ungleichheit ist.
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Eine weitere (in diesem Beitrag nicht weiter berücksichtige) Validierungsstudie mit ExpertInnen aus dem Bereich der Angehörigenbetreuung diente u.a. dem Ziel, die Ergebnisse der Einzelfallanalysen daraufhin zu überprüfen, inwieweit diese (un-)typische Fälle repräsentieren (vgl. Deutmeyer 2006).
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Kennzeichen häuslicher Pflegesituationen
Freilich klingt die Frage nach den Traumatisierungspotenzialen in der häuslichen Angehörigenpflege nicht unbedingt nahe liegend. Schließlich werden in unserer Gesellschaft ca. eineinhalb Millionen Personen zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt (Statistisches Bundesamt 2007), weshalb man intuitiv meinen möchte, dass die Pflege kaum ein kritisches oder gar traumatisierendes Ereignis für die Pflegenden sein kann, weil Betroffene kaum sichtbar sind. Wenn nun aber Pflege ein kritisches Ereignis ist, dass möglicherweise „verdeckte Opfer“ (Zarit et al. 1985) produziert, ist zu hinterfragen, welche Merkmale die häusliche Pflege kennzeichnen. Daher werden im Folgenden Merkmale und Kriterien betrachtet, die in der Psychotraumatologie zugrunde gelegt werden (für eine Übersicht vgl. z.B. Fischer/Riedesser 2003). In der Literatur wie auch den internationalen Klassifikationsschemata besteht Einigkeit über die folgenden Kriterien, die ein traumatisierendes Ereignis kennzeichnen (z.B. Foa/Meadows 1998): Die Konfrontation mit dem Tod, die eine betroffene Person selbst erlebt oder die Beobachtung eines existenziellen, lebensbedrohlichen Ereignisses, das einer anderen Person widerfährt (z.B. die Beobachtung von Unfällen, Folter). Jedes traumatisierende Ereignis ist immer auch ein Verlustereignis. Dabei kann es sich um materielle wie auch immaterielle Verluste handeln (z.B. der Verlust eines Hauses durch Naturkatastrophen oder der Verlust eines nahe stehenden Menschen). Ob bzw. wie stark eine Person durch ein Ereignis traumatisiert wird hängt (auch) davon ab, wie bedrohlich sie das Ereignis erlebt. Die Bedrohlichkeit eines Ereignisses ist dabei umso größer, je intensiver Angst und Entsetzen erlebt werden. Schließlich muss ein Trauma nicht die Folge eines singulären Ereignisses sein. Vielmehr kann auch die Kumulation von schwierigen Ereignissen, die einzeln kein Traumapotenzial besitzen, traumatisierend wirken. Bekannt ist zudem, dass Traumata besonders schwerwiegend ausfallen, wenn Opfer und Täter in Beziehung zueinander stehen, z.B. bei kriminellen Übergriffen durch Familienmitglieder. Im Folgenden werden die aufgelisteten Kriterien auf die Interviewdaten zur häuslichen Pflege angewendet. Anzumerken ist, dass alle zitierten Passagen aus Antworten auf eine allgemeine Erzählaufforderung stammen („Wenn Sie an Ihre Situation als Pflegende denken, wie würden Sie diese Situation beschreiben“).
2.1 Konfrontation mit dem nahenden Tod des Elternteils Schauen wir uns im Folgenden verschiedene Situationen aus dem Pflegealltag an, von denen die pflegenden Frauen in den Interviews berichteten. Alle pfle-
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genden Frauen wissen eine Vielzahl bedrohlicher Ereignisse zu berichten, die sie den vielen Jahre der Elternpflege erlebt hatten. Einige davon seien exemplarisch genannt. Frau Kristo2 (56 Jahre) beispielsweise erzählt von der Pflege ihres hochbetagten, zum Ende seines Lebens erblindeten und an den Rollstuhl gefesselten Vaters. Dessen Asthmaanfälle erlebte Frau Kristo besonders kritisch: Also, diese Asthmaanfälle, das ist das Allerschlimmste, was ich erlebt habe. Es war manchmal unerträglich für mich, diese Atemnot, diese angstvollen Augen. Diese Todesängste und sie können nichts machen. Es ist, es ist, als wenn es einem das Herz zerreist. Und eigentlich kann man nichts machen. Lernen, dass man im Grunde genommen nichts machen kann. Sondern, dass man sich selber zur Ruhe bittet. […] Wir müssen unsere eigene Ohnmacht anerkennen (Frau Kristo).
Die Begleitung und Pflege eines alternden Elternteils bedeutet für die Pflegenden, dem Sterben ohnmächtig zuschauen zu müssen. Für Frau Schneck (61 Jahre) steht weniger das Sterben und der Tod im Mittelpunkt der Pflege, sondern vielmehr die Alzheimererkrankung und die dadurch bedingten aggressiven Ausbrüche des Vaters: Und dann hat der Vater vielleicht zwei Stunden geschlafen und ist aufgeschreckt und dann ist der Ausbruch gekommen. Aber der war dann massiv. Also dann haben sich die Aggressionen dermaßen hochgeschaukelt, dass wir ihn einhalten mussten. Er ist halt eingeschossen wie ein Irrer. Also das war ganz schlimm. Und das haben wir immerhin zwei Jahre mitgemacht. […] Also er hat sich da überhaupt nicht kontrolliert. Du hast nicht gewusst, ob du nicht vielleicht auch eine abräumst. Weil, ich mein, was er alles geschrieen hat (Frau Schneck).
2.2 Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit Die Pflege eines Elternteils hat neben der Beobachtung des Zerfalls und des Sterbens noch eine weitere Facette: Die pflegenden Frauen setzen sich zwangsläufig mit ihrer eigenen Sterblichkeit auseinander. Insofern ist die Konfrontation mit dem Tod eine Doppelte. Zwei Beispiele dazu: Und ich bin unheimlich weich dadurch geworden [durch die Pflege, M.D.]. Und ich sage ganz ehrlich: Durch das Sterben meines Vaters bin ich auch, denke ich, auch an mein eigenes Sterben herangekommen (Frau Kristo).
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Alle Namen der Probandinnen wurden frei erfunden. Detaillierte Portraits dieser Frauen sind in Deutmeyer (2006) nachzulesen.
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Auch Frau Seida (57 Jahre), die ihre an Alzheimer erkrankte Mutter pflegte, denkt über das eigene Sterben nach: Ich habe mich auch mit Sterben und Tod befasst. Weil, man irgendwie, man steht ihm ganz nah. Man hat früher immer gesagt, an Sterben denk ich nicht. Aber dann fängt man an, darüber nachzudenken. Auch über seine eigene Verfassung oder wie das mal später sein wird (Frau Seida).
2.3 Verlust des Elternteils Ein Trauma ist immer auch ein Verlustereignis, dessen Verlusterleben und die Trauer um den Verlust den Schweregrad und die Chronifizierung posttraumatischer Genesung beeinflussen. Wenn es sich um den Verlust eines nahe stehenden Menschen handelt, geht damit das Gefühl einher, einen Teil des Selbst verloren zu haben und zu vereinsamen (Parkes 1972). Frau Kristo bringt deutlich zum Ausdruck, welche Bedeutung der Verlust eines nahe stehenden Menschen für sie hat: Der Tod – damit ist es vorbei, dieses Leben – für diesen Menschen und auch für uns letztendlich. Das ist nicht nur für diese Menschen vorbei. Sondern dieses Zusammenleben ist vorbei. […]. Dieses „Einander Haben“, das ist vorbei. Endgültig! Und das können wir nicht in einem Tag erfassen oder in ein paar Wochen (Frau Kristo).
Besonders problematisch und ambivalent wird die Pflege, wenn der gepflegte Elternteil den Lebenswillen verliert oder noch schlimmer, von der Pflegenden Sterbehilfe wünscht: Hat er auch mal gesagt: „Kann ich denn nicht sterben? Einem Tier gibt man eine Spritze und der Mensch muss so leiden“. Und da haben wir noch wochenlang dran gearbeitet und da habe ich gesagt: „Weißt Du, Vaterle, stell Dir mal vor – das ist mein Leben – stell Dir mal vor, ich würde so was – erstens mal weißt Du ganz genau, dass ich so was niemals machen würde. Und zweitens“, habe ich gesagt, „Da muss ich ins Gefängnis. Soll ich den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen, bloß, weil ich etwas tue, wo ich niemals mit meinen Gewissen dahinter stehe, bloß damit?“[…] Es war sehr schwierig. Es war immer so ambivalent (Frau Kristo).
Pflege wird so zur Grenzerfahrung: Wir wachsen nur an den schwierigen, an unseren Grenzerfahrungen. Und das ist eine Situation an der Grenze. Ein sterbender Mensch ist immer an der Grenze. Und somit kommen wir auch an unsere Grenzen. […] Und der Tod ist eine Grenze. Der
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Melanie Deutmeyer Tod ist eine ganz klare Grenze. Und ich gebe das auch ehrlich zu, ich war auch, ich war wirklich oft an meiner Grenze, körperlich und seelisch (Frau Kristo).
2.4 Wahrnehmung von bedrohliche Pflegesituationen Wie stark das Trauma wirksam ist, hängt von der erlebten Bedrohlichkeit des Ereignisses ab. Mittlerweile ist klar, dass auch gewöhnliche, stressreiche Ereignisse (z.B. Umzug, finanzielle Belastungen), die sogar längerfristig vorbereitet werden können, durchaus stärkere posttraumatische Belastungsstörungen hervorrufen können als außergewöhnliche, unerwartete „Katastrophen“ im Sinne von Erdbeben oder Überflutungen, da der Schweregrad eines Traumas von der subjektiv wahrgenommenen Bedrohung des Ereignisses abhängt (Solomon/Canino 1990). Auch für die interviewten Frauen scheint das zuzutreffen. Schon in den weiter oben angeführten Zitaten wird deutlich, dass die pflegenden Frauen verschiedene Situationen des Pflegealltags sehr bedrohlich erlebten. Weitere Passagen, in denen die Frauen den Schweregrad der Pflege in Worte fassen, belegen das Ausmaß solcher Grenzsituationen. Frau Seida leidet unter den nächtlichen Störungen durch die an Alzheimer erkrankte Mutter: Wir haben uns ins Bett gelegt und ich habe schon gewartet, bis der erste Schreckensruf von oben kommt, dass wieder was passiert ist. Das ist ein Alptraum (Frau Seida).
Sie erlebt durch die Pflege ihre eigenen physischen und psychischen Grenzen: Man muss sich dann bereit machen für Dinge, die man sonst nicht ertragen könnte. Also, ich habe mal zu meiner Schwester gesagt, „Ich sterbe eigentlich jeden Tag ein bisschen mit der Mutter“. Weil, man bedauert, man trauert um den Verlust ihrer Fähigkeiten. Und damit muss man sich abfinden, sonst kann man das nicht ertragen (Frau Seida).
Dennoch überschreitet sie mit der Pflege die Grenze des für sie Erträglichen: Ja, das ging bis zum Anschlag. Seelisch und körperlich. Ich konnte nicht mehr. Es ging einfach nicht mehr (Frau Seida).
Die einzige Lösung die übrig blieb war, die Mutter in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen, was für Frau Seida allerdings hieß, sich jahrelang mit Schuldgefühlen auseinandersetzten zu müssen.
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Auch für Frau Schneck waren die Pflegebelastungen so intensiv, dass sie ihnen nicht mehr gewachsen war: Und dann geht man schon etwas über Grenzen. Weil es einfach auch – also körperlich sowieso. Und das geht dann auch an die Seele, weil man sagt, kann ich das noch? Ertrag ich den noch, den Brüllenden oder den Leidenden. Man setzt sich ins Auto und – dann ist man dann allein und sagt: „Oh Gott ich kann nicht mehr“ (Frau Schneck).
Diese Erfahrungen veranlassen sie, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie sich verhalten will, würde sie selbst einmal pflegebedürftig sein. Man weiß es auch zu schätzen, den plötzlichen Tod. Also das wird mich wohl nie mehr sehr erschrecken, wenn man zwei solche gepflegt hat. Meine Schwester und ich haben beide gesagt: Wir müssen in ein Heim. Das kann man nicht machen. Es bleibt irgendetwas, es bleibt zurück, dass man sagt, wenn ich nur könnte, dann würde ich das früher beenden (Frau Schneck).
Der Verfall des Vaters und die damit zusammenhängende Pflegebedürftigkeit erscheint Frau Schneck so bedrohlich, dass sie sich davor durch einen Suizid schützen würde. Schließlich Frau Merlin (60 Jahre), die ebenfalls ihre Erschöpfung infolge der Pflegearbeit ihrer alzheimerkranken Mutter zum Ausdruck bringt: Und da schaust Du dann diesem Zerfall zu. Musst Du zuschauen. Musst Du zuschauen. Wie oft bin ich hier gesessen und habe ins Leere geschaut: Lieber Gott, wann hat das ein Ende? Ich habe nicht mehr können. Ich habe nicht gedacht, dass ich das überlebe (Frau Merlin).
Insgesamt berichten alle Frauen von extremen Belastungen durch die Elternpflege, die zwar auch auf die körperliche Pflegearbeit zurückzuführen sind, im Wesentlichen aber durch die psychischen Belastungen hervorgerufen werden. Das Zentrum der Belastungen dreht sich um die erlebte Hilflosigkeit und Ohnmacht, die dadurch verursacht wird, dem Verfall und dem drohenden Verlust des Elternteils tatenlos zusehen zu müssen. Dabei ist das Erleben so intensiv, dass die pflegenden Frauen daran glauben, die Pflegesituation nicht bewältigen und nicht überstehen zu können. Deutlich ist auch, dass das Beobachten des Sterbens des Elternteils die pflegenden Frauen dazu zwingt, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinander zu setzten. Das Leiden der Eltern geht fließend in das vorweggenommene möglicherweise drohende Leiden bei eigener Pflegebedürftigkeit über. Besonders erschreckend ist der Extremfall, dass die vorgestellte eigene Pflegebedürftigkeit suizidale Gedanken hervorruft.
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2.5 Kumulation schwerwiegender Ereignisse im häuslichen Pflegealltag Nun ist zu bedenken, dass einzelne Pflegesituationen kaum Traumatisierungen hervorrufen werden. Eher ist von einer Kumulation vieler schwieriger Situationen auszugehen. Solche kumulativen Traumatisierungen wurden bereits 1963 von Khan als Abfolge solcher Situationen beschrieben, die für sich genommen unterschwellig sind, durch ihre Häufung aber traumatisierend wirken können, da Erholungsphasen immer wieder unterbrochen werden. Die ständigen Wiederholungen durchbrechen die Abwehr und verändern die Persönlichkeit. In der häuslichen Pflege kommt zu den ständigen Wiederholungen kritischer Momente noch das Wissen der Pflegenden hinzu, dass sich der Zustand der Mutter oder des Vaters weiter verschlechtern wird und die Zahl unvorhergesehener, schwieriger Situationen zunimmt. Alleine dieses Wissen, so berichten die Frauen, produziert einen Zustand dauernder Angst.
2.6 Filiale Beziehungskrise zwischen Pflegenden und Gepflegten – Täter und Opfer? Eine Beschreibung der häuslichen Pflege geriete zu kurz, würde der Pflegealltag nur anhand pflegebedingter Ereignisse beschrieben. Eine zentrale Rolle spielt freilich die Beziehung zwischen den gepflegten Elternteilen und den pflegenden Töchtern. Häusliche Pflege löst nicht selten eine Entwicklungskrise oder filiale Krise zwischen Pflegenden und Gepflegten aus, wenn die Eltern vermehrt hilfebedürftig werden. Jahrzehntelang ausgeübte Eltern-Kind-Rollen verkehren sich, wenn Kinder sich von dem Bild ihrer gesunden, fürsorgenden und führenden Eltern verabschieden müssen. Zugleich konfrontiert diese Entwicklung die Kinder mit dem eigenen Altern und der Feststellung, die nächste hilfebedürftige Generation zu sein. Wird diese Krise mit ihrem Bündel an neuen Anforderungen bewältigt und stehen an dessen Ende selbstbewusste und den Eltern zugewandte, fürsorgliche Beziehungen, wird dies als filiale Reife bezeichnet. Wie schwierig der Weg zur filialen Reife ist, so er denn überhaupt erreicht wird, beschreibt Frau Seida: Man geht ja immer von dem Zeitpunkt aus, wo man Kind war. Da war die Mutter so, Mutter hat so reagiert und du bist immer das Kind. Man kommt schon in Konflikt. Also, da spielt die Erziehung eine große Rolle. Wenn die Mutter dominant war, wenn sie lieb war, wenn sie im Hause die Herrin war. Auch ihrem Mann gegenüber und ihren Kindern. Dann nimmt sie das mit bis ins hohe Alter. Die legt so was nicht ab, auch wenn’s ihr noch so schlecht geht, körperlich oder geistig (Frau Seida).
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Solche Rollenverkehrungen bieten fruchtbaren Boden, unbewältigte Konflikte zu reinszenieren. Das geschaffene Verhältnis zwischen Nähe und Distanz, das notwendig für eine gute Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ist, wird auf die Probe gestellt. Alte Konflikte flammen neu auf, wenn der Kampf um Macht und Anerkennung aktualisiert wird. So bei Frau Merlin, die sich an die Norm der familiären Solidarität und Reziprozität hält: Uns wurde als Kinder eine andere Erziehung geboten (weint). Abverlangt. Uns wurde Familienleben, das Zueinanderstehen und das Dasein füreinander vorgelebt. Und, es ist kein Elternhaus gleich, aber bei unserem Elternhaus war es so, dass Kameradschaft, Füreinanderdasein, zu jeder Sekunde, zu jeder Minute, selbstverständlich war. Und ich habe vor Jahrzehnten schon gesagt. Daraus resultierend ist es selbstverständlich, dass wenn meine Eltern Jahrzehnte für mich da waren, dann ist es das Natürlichste von der Welt ist, dass ich für sie da bin, wenn sie alt und gebrechlich sind (Frau Merlin).
So verspricht Frau Merlin dann auch ihrer Mutter, sich im Fall deren Pflegebedürftigkeit um sie zu kümmern. Dass die Mutter an Alzheimer erkranken würde und sich die Pflege sehr schwierig gestalten könnte, war zum Zeitpunkt des Pflegeversprechens nicht vorherzusehen. Der Rollentausch funktioniert nur unzureichend, weil die Mutter weiterhin machtvoll bleibt. In solche Situationen verliert Frau Merlin die Kontrolle: Die Mutter hat einfach gesagt: „Warum schreist denn Du so?“. Sag ich: „Mama, ich kann nicht mehr. Ich habe die Möglichkeit, zu weinen oder zu schreien“ (Pause) Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob sie es verstanden hat. „Ja“, hat sie gesagt, „ich tu doch gar nichts“. Da hätte ich sagen wollen: „Ja, und was Du alles tust“. Beherrscht Du Dich wieder und sagst nichts. Aber ich habe nicht anders können. Ich habe zwei Möglichkeiten gehabt: Weinen oder schreien. Anpacken darf ich sie nicht, ist logisch. Wissen Sie, dass muss der Mensch verdauen. Du wirst angegriffen, angegriffen, angegriffen und du darfst dich nicht wehren. Du kannst Dich nicht wehren. Du musst schlucken. Einstecken (Frau Merlin).
Die meisten Versuche, von der Mutter die ihr gebührende Anerkennung für die geleistete Pflege zu erhalten, scheitern. Im Gegenteil: Schon zu Beginn der Alzheimererkrankung benötigt die Mutter Unterstützung im Haushalt. Die Mutter allerdings lehnt die Unterstützung ab und provoziert damit ihre Tochter, die machtvoll gegen ihre Mutter aufbegehrt und zwar vermutlich so, wie sie es selbst von der strengen Mutter erlebt hatte: Natürlich habe ich darüber einen Zorn gehabt. Und natürlich bin ich da nicht leise gewesen. Und so ging das hin und her. Sie dagegen, ich dagegen. Sie dagegen, ich
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Melanie Deutmeyer dagegen. Und so standen wir beide auf der Leiter. Sie wollte rauf, ich wollte, dass sie runter geht. Lange Rede, kurzer Sinn; es ist dann so gewesen, dass ich im Prinzip unbewusst aus Zorn, aus nicht verstehen können, dass ein Mensch so ist, wie sie jetzt war. Ich habe sie dann an den Oberarmen gepackt und habe sie geschüttelt, so dass die ganze Leiter gewackelt hat. Dann ist mir das bewusst geworden, was ich hier tu. Ich bin von der Leiter runter. Habe keinen Ton mehr gesprochen und bin von der Wohnung raus (Frau Merlin).
Auch Frau Seida erzählt, sich gegen ihre an Alzheimer erkrankte Mutter gerichtet zu haben: Wie sie sehr aggressiv geworden ist und böse oder. Na ja, sie ist mich auch mal angegangen, also mit Fäusten und ich habe auch einfach mal ausgeholt und ich, ich habe ihr sogar mal auf die Hand geschlagen, was ganz furchtbar für mich war. Ich habe gedacht, du kannst doch deine Mutter nicht schlagen, aber irgendwie muss ich ihr auch zeigen, dass ich mich mal wehren muss. Einmal hat sie sich wieder entschuldigt. Aber diese Entschuldigung kam nie mehr (Frau Seida).
Lebensgeschichtliche Autonomie- und Abhängigkeitskonflikte werden in der Pflegesituation fortgeführt. Die Frauen hoffen auf Anerkennung durch die Eltern, die sie pflegen. Das Gegenteil ist der Fall: Selbst nach jahrelanger Aufopferung bleibt das Bedürfnis nach Anerkennung unbefriedigt, so dass die Frauen Zweifel daran haben, gute Pflege geleistet zu haben, die sie als Ziel definiert hatten. Es ist leicht nachvollziehbar, dass die Frauen aus diesem Motiv heraus die Grenzen ihrer Belastbarkeit überschreiten und Schuldgefühle entwickeln, wenn sie sich selbst nicht mehr kontrollieren können, und gegen die Eltern aufbegehren. Besonders dramatisch erweist sich dann der Umstand, die Pflege nicht „auszuhalten“ und den Elternteil in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen: Auch dieser Vorwurf noch, warum haben wir sie ins Heim getan? Es ist hirnrissig. Ich konnte nicht mehr. Es ging einfach nicht mehr. Aber diesen Vorwurf, haben wir heute noch. Sagen wir uns beide heute noch, warum haben wir das gemacht? Hätten wir sie nicht zu Hause holen, zu Hause sterben lassen können? Das ist so – das wäre dann der Gipfel gewesen, für uns, in unseren Augen. Es ging gar nicht. Aber, das haben wir nicht gelten lassen, bis heute noch (Frau Seida).
Diese eskalierende Interaktion zwischen aggressiven und destruktiven Handlungen der Mutter und (so wahrgenommene) überschießende Gegenreaktion der Tochter sowie das Gefühl der Unzulänglichkeit aufgrund der Unterbringung der Mutter in einer Pflegeeinrichtung rufen tiefe Schuldgefühle hervor. Die Beispiele zeigen, dass häusliche Elternpflege zwangsweise die Auseinandersetzung mit dem Verlust des Elternteils beinhaltet, aber auch eine (mögli-
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cherweise verfrühte) Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und einem geschärften Bewusstsein dafür, zur nachfolgenden Generation zu gehören, die als nächstes dem Leiden des Sterbens und Krankseins ausgesetzt sein wird. Häusliche Pflege rüttelt darüber hinaus auch an dem heimlichen Wunsch, von den eigenen Kindern versorgt zu werden. Denn angesichts der erlebten Grenzsituationen können sich pflegende Töchter nicht mehr sicher sein, diese Wunschvorstellung aufrechtzuerhalten. Alle pflegenden Töchter waren sich darin einig, dass die häusliche Pflege für sie die Grenzen der Zumutbarkeit überschritt. Dieses Grenzerleben ist nicht zuletzt das Resultat immer neuer bedrohlicher Pflegesituationen, die pflegenden Töchtern ein gewaltiges Maß an Anstrengung abverlangen. Diese Belastungen auszuhalten, wird nicht selten durch den Wunsch motiviert, die von den Eltern während ihrer Kindheit erlebte Fürsorge zurückzugeben. Nicht zuletzt aufgrund der internalisierten Norm familiärer Solidarität ist klar, dass das Erhaltene erst dann wieder gut gemacht wurde, wenn die Pflege bis zum Tod durchgeführt wurde. Sowohl die Unterbringung der Eltern in einer Pflegeeinrichtung wie auch die von den Eltern nicht honorierte Aufopferung der Töchter werden von diesen als Unzulänglichkeit eigener Pflegefähigkeiten wahrgenommen – selbst dann, wenn die Eltern mit ihrem Rollenverhalten die Pflegebemühungen konterkarieren. Schwere Schuldgefühle sind die Folge, die den Weg zur filialen Reife und zu einem fürsorglichen und führenden Pflegestil erschweren oder gar verhindern. Dass solche Pflegebedingungen die Gesundheit der Pflegenden beeinträchtigen können, ist nachvollziehbar. Zu bedenken ist, dass damit die subjektive Wahrnehmung der befragten Frauen die Traumakriterien erfüllt.
3
Die Gesundheit der Pflegenden
Dass die häusliche Pflege häufig mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen einhergeht wurde schon weiter oben beschrieben. Auch die Interviewdaten sprechen für gesundheitliche Belastungen der Pflegenden. Die befragten Frauen berichten von Rückenschmerzen und anderen Skelettsymptomen. Das Ausmaß erlebter gesundheitlicher Probleme unterscheidet sich allerdings deutlich. Frau Seida ist noch Monate nach dem Tod ihrer Mutter wegen Schulterproblemen in orthopädischer Behandlung, die sich während der langen Phase, in der sie ihre Mutter bei der Nahrungsaufnahme unterstützte, entwickelten. Frau Seida und Frau Merlin berichten von depressiven Symptomen, die sie während der Pflege veranlassten, psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Zum Zeitpunkt der Befragung leidet Frau Merlin an leichten depressiven Tendenzen (vgl. Tab. 1). Mit einem Wert von 29,29 liegt Frau Merlin deutlich
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über dem (annähernd für Deutschland repräsentativen) Mittelwert von 22,9 (Schmitt/Maes 2000), aber auch deutlich unterhalb des Wertes beispielsweise von psychosomatisch Erkrankten (mit 38,3; Schmitt et al. 2003). Zudem zeigen sich posttraumatische Belastungssymptome in der Impact of Event Skala (IES-R, Maercker/Schützwohl 1998). Auf den Subskalen „Intrusion“ mit x=33 (Skalenrange 0-35) und „Übererregung“ x=35 (Skalenrange 0-35) erreicht Frau Merlin Höchstwerte. Eher unauffällig sind die Vermeidungssymptome mit x=11 (Skalenrange 0-40). Die Regressionsformel führt zu einem Testwert von x=1.0, der wegen x 0 auf posttraumatische Belastungsstörungen hinweist. Auch Frau Schneck zeigt leichte depressive Tendenzen. Außerdem erreicht sie mit x=0.01 einen Testwert, der aus posttraumatischen Belastungssymptomen resultiert. Der Testwert der Intrusionssubskala liegt bei 29 Punkten (Skalenrange 0-35), der Wert der Vermeidungsskala bei 15 Punkten (Skalenrange 0-40) und der Wert der Übererregungsskala bei 26 (Skalenrange 0-35). Insbesondere der Wert der Vermeidungsskala lässt auf unbewältigte Konflikte schließen. Frau Seida leidet zum Zeitpunkt der Befragung nicht mehr an depressiven Symptomen. Auch die IES-R zeigt keinerlei posttraumatische Symptome (x=4,01). Sowohl der geringe Punktwert der Vermeidungsskala (x=6, Skalenrange 0-40) als auch der niedrige Punktwert der Übererregungsskala von x=3 (Skalenrange 0-35) sprechen dafür, dass sich Frau Seida intensiv mit ihren Erlebnissen auseinandergesetzt hat. Dagegen fällt der Punktwerte auf der Subskala „Intrusion“ mit x=26 (Skalenrange 0-35) deutlich höher aus, was durchaus mit den von ihr berichteten anhaltenden Alpträumen korrespondiert, in denen sie immer wieder von der blutüberströmten Mutter träumt. Tabelle 1: Subjektive Einschätzung der Gesundheit Merlin
Schneck
Seida
Kristo
x=1.0
x=0.01
x=-4.01
x=-1.62
Intrusion
33
29
26
18
Vermeidung
11
15
6
10
Übererregung
35
26
3
16
29,29
28
21
15
1
IES-R
2
BDI-V 1
Beck-Depressions-Inventar – vereinfacht mit den Subskalen Intrusion, Vermeidung und Übererregung (Schmitt/Maes 2000) 2 Impact of Event Skala – revidierte Version (Maercker/Schützwohl 1998) (Fett gekennzeichnete Werte liegen über denen der Vergleichsgruppen)
Auffallend sind die hohen Intrusionswerte der drei Frauen, die deutlich über den Werten der Vergleichsgruppen (mit Kriminalitätsopfern und politisch Inhaftier-
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ten) liegen (ebd.). Dies ist bedeutsam, da traumatische Ereignisse in erster Linie durch Intrusions- und Übererregungsssymptome auslöst werden und erst in zweiter Linie zu Vermeidungs- und Verleugnungssymptomen führen (McFarlane 1992). Bei Frau Kristo ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild. Sowohl die Depressionsskala als auch die Impact of Event Skala zeigen keinerlei Hinweise auf Symptome. Alle Werte liegen im Normbereich (vgl. Tab. 1). Selbstverständlich sind diese Testergebnisse vorsichtig und nur in Zusammenhang mit den Interviewdaten zu interpretieren, da weitere Faktoren (z.B. Dispositionen, Krankheitsgeschichte etc.) das Erleben schwerwiegender Ereignisse beeinflussen, die hier nicht weiter ausgeführt werden. Dennoch geben die Daten Anlass zu der Frage, warum die Frauen die häusliche Pflege ihres Elternteils mit unterschiedlich guter Gesundheit bewältigen, obwohl alle extreme Erlebnisse aus der Pflegezeit schildern. Die Traumatologie beantwortet die Frage, warum einige Personen nach traumatogenen Ereignissen erkranken und andere nicht, mit psychosozialen und kognitiven Faktoren. Solche sind z.B. soziale Unterstützung und Integration, das Arbeitumfeld oder beispielsweise die Vorstellung einer Person, Dinge beeinflussen zu können (z.B. Brewin et al. 2000). Diese Erklärungsansätze gehen davon aus, dass weniger das Ereignis selbst mit seinen stresserzeugenden Belastungen die Gesundheit beeinflussen als vielmehr die Fähigkeit im Umgang mit diesen Belastungen. Diese Faktoren sind zugleich diejenigen, die in der Forschung zur sozialen Ungleichheit als bestimmend für die soziale Lage diskutiert werden.
4
Soziale Pflegeungleichheit und häusliche Pflege
Soziale Ungleichheit beschreibt die ungleiche Verteilung bzw. den ungleichen Zugang zu Lebenschancen wie auch bessere oder schlechtere Chancen, Lebensziele zu erreichen (für eine Übersicht vgl. z.B. Burzan 2005). National wie international ist eine solche Ungleichheit in Bezug auf die Gesundheit (resp. Krankheit) und sozialer Lage nachgewiesen: Menschen, die sozial benachteiligt sind, haben ein höheres Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko (für eine Überblick vgl. Babitsch 2005). Ähnliches gilt auch für die häusliche Pflege. Sie steht im Verdacht, soziale Ungleichheiten zu (re-)produzieren, weil das Risiko der Pflegebedürftigkeit in sozial benachteiligten Gruppen im Vergleich zu sozial besser gestellten Gruppen höher ist und die Zugangschancen zu pflegerischer Versorgung für diese Gruppen unterschiedlich sind (vgl. Bauer/Schaeffer 2006). Das Risiko besteht darin, dass pflegebedürftige Personen sozial benachteiligter Gruppen weniger hochwertige Pflege erhalten, weil mangels materieller Ressourcen weniger me-
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dizinische und pflegerische Leistungen zugekauft werden können. Davon sind aber nicht nur die pflegebedürftigen Personen betroffen. Wenn Angehörige sozial benachteiligter Gruppen früher und häufiger pflegebedürftig werden, dann erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit für deren Angehörige, Pflege übernehmen zu müssen. Ähnlich wird es sich vermutlich bei den Pflegebelastungen verhalten: Die von Angehörigen zu bewältigenden Pflegebelastungen sind möglicherweise größer, wenn sie sozial benachteiligten Gruppen angehören als besser gestellte Gruppen, weil sie über geringere individuelle und materielle Ressourcen zur Entlastung ihrer Situation verfügen. In der vorliegenden Untersuchung kann aufgrund der Fallzahl kaum eine soziale Pflegeungleichheit nachgewiesen werden. Weder reichen die Einzelergebnisse aus, um Rückschlüsse von der sozialen Lage auf die Pflegebelastungen noch auf deren gesundheitlichen Auswirkungen zuzulassen. Allerdings zeigen sich interessante Muster, insbesondere, wenn weitere Faktoren in die Betrachtungen einfließen. Weil die Forschung gerade erst auf das Thema soziale Pflegeungleichheit aufmerksam wurde, ist die Zahl empirischer Befunde noch gering, auch was die Pflegeungleichheit für die pflegenden Angehörigen betrifft. Insofern scheint eine erste Orientierung an der Armuts- und Ungleichheitsforschung im Bereich Gesundheit plausibel. Hier gilt der soziale Gradient in der Morbidität und Mortalität nachgewiesen, der allerdings den realen Zusammenhang von Armut und Gesundheit nicht vollständig erklären kann. Vielmehr sind die Erklärungen um psychosoziale Faktoren zu ergänzen (Mielck 2000). Analog hierzu werden im Folgenden die soziale Lage bzw. der sozioökonomische Status (Bildung, Beruf, Einkommen, frauenspezifische Dimensionen: Hauptverdienst, Erwerbsbiografie, private Arbeit) und die Verfügbarkeit von und die Integration in soziale Netzwerke, die Kontrollvorstellungen sowie die Bewältigungsfähigkeiten und -ressourcen für die ausgewählten Einzelfälle aufgezeigt. Sie sollen helfen, ein umfassenderes Verständnis für mögliche soziale Pflegeungleichheiten in der häuslichen Pflege zu entwickeln. Bei der Betrachtung der psychosozialen Faktoren werden insbesondere solche Faktoren berücksichtigt, die in der Traumaforschung als Gradient für Morbidität gelten. Zunächst zu Frau Kristo. Sie hat zum Zeitpunkt der Befragung keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Frau Kristo verfügt über einen mittleren Bildungsabschluss und erzielt in einem erlernten Ausbildungsberuf ein regelmäßiges eigenes, mittleres Einkommen. Gleiches gilt für den Ehemann, der allerdings mit einem höheren Einkommen der Hauptverdiener ist. Gemeinsam leben sie in guten Lebensverhältnissen in einem eigenen Haus. Sowohl für die Kindererziehung als auch für die Pflege hat Frau Kristo ihre Erwerbstätigkeit mehrfach unterbrochen. Überdies ist Frau Kristo in ein dichtes soziales Netz eingebunden,
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auf das sie während der Pflegesituation zurückgreifen konnte. Von Seiten der Familie erhielt sie Hilfestellung bei der Pflege und auch psychosoziale Unterstützung. In der schriftlichen Befragung bestätigt sich dieses Bild: Mit einem Gesamtscore von 107 (Skalenrange 0-110) erreicht Frau Kristo bei der Befragung zur sozialen Unterstützung (F-Sozu-K2) im Vergleich zu den anderen befragten Frauen den höchsten Summenwert (Normierungsstichprobe: n=2179, X=96,92, SD= 11,98; Fydrich et al. 1987). In den Interviewdaten von Frau Kristo wird sehr deutlich, dass sie über ein differenziertes, religiöses Weltbild verfügt, mit dessen Hilfe sie ihre Pflegesituation erklärt. Sie sieht einen an Frauen gerichteten Auftrag, Frieden zu stiften, der sie motiviert, die Pflege ihres Vaters bestmöglich durchzuführen. Die erlebten Belastungen versteht sie als Teil ihres Auftrags und als Chance, an ihnen zu reifen. Entsprechend gut ausgeprägt sind ihre Vorstellungen darüber, Dinge und Geschehnisse beeinflussen zu können wie die Befragung zu den Kompetenz- und Kontrollüberzeugungen zeigt (Krampen 1991): Die Primärskalen weisen auf ein hohes Selbstkonzept eigener Fähigkeiten hin. Nur 27% der Befragten aus der Normierungsgruppe weisen ein höheres Selbstkonzept auf. Die Internalität bewegt sich im Mittelfeld. Zugleich sieht Frau Kristo sich nur in sehr geringem Maß von anderen Menschen abhängig und durch diese benachteiligt. Nur ein Viertel der Befragten aus der Normierungsstichprobe sieht sich weniger abhängig von anderen Menschen als Frau Kristo. Gering ausgeprägt ist auch der Glaube daran, vom „Schicksal“ abhängig zu sein (fatalistische Externalität). Frau Kristo ist also davon überzeugt, Situationen durch ihr eigenes Verhalten beeinflussen zu können. Auf den Sekundärskalen erreicht Frau Kristo einen Wert, der sich im Mittelfeld der Wirksamkeitsüberzeugungen bewegt. Die generalisierte Externalität dagegen ist gering und deutlich unterhalb des Durchschnittsbereichs und spricht für ein geringes Maß an Hilflosigkeit und ein geringes Gefühl der Abhängigkeit von äußeren Einflüssen (zur Interpretation der Ergebnisse vgl. Krampen 1991: 25-30). Frau Seida, die zwar somatische Beschwerden aufgrund der Pflege erlitten hatte, bei der Einschätzung der psychischen Gesundheit wie auch den posttraumatischen Symptomen keine gravierenden Beeinträchtigungen angibt, befindet sich in einer weniger sozial privilegierten Situation als Frau Kristo. Sie erwarb das Abitur, brach allerdings zugunsten der beruflichen Karriere des Mannes und der Kindererziehung ihre Ausbildung ab. Seit der Scheidung von ihrem Mann ist Frau Seida auf Arbeitssuche, da die Zahlungen des Ex-Mannes für ein selbständiges Leben nicht ausreichen. Sie findet bei der Schwester Unterkunft und Verpflegung, die sie finanziell so weit als möglich unterstützt. Während ihre Schwester der Erwerbsarbeit nachgeht, übernimmt Frau Seida die Pflege der alzheimerkranken Mutter und führt den gemeinsamen Haushalt. In der schriftlichen
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Befragung zur sozialen Unterstützung erreicht Frau Seida einen Summenwert von 102, d.h. insgesamt beurteilt Frau Seida die ihr zur Verfügung stehende soziale Unterstützungsleistung sehr gut. Frau Seida berichtet in dem Interview, dass sie sich von religiösen Weltvorstellungen bewusst distanziert hat, ohne jedoch andere Weltbilder zu entwickeln. Jedenfalls lehnt sie Schicksalsgläubigkeit strikt ab. Das Profil der Kontroll- und Kompetenz Primärskalen deutet auf ein durchaus ausgeprägtes Selbstkonzept eigener Fähigkeiten und ein „normales“ Maß an Internalität in den generalisierten Kontrollüberzeugungen sowie geringe soziale wie auch fatalistische Externalität. Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung ist eher hoch, während die allgemeine Externalität sehr gering ist. D.h. Frau Seida ist von ihrer Handlungsfähigkeit überzeugt und glaubt, Ereignisse selbst beeinflussen zu können. Die geringe Externalität ist im Sinne einer gering geglaubten Abhängigkeit von anderen und einer sehr geringen Schicksalsgläubigkeit interpretierbar (vgl. Krampen 1991). Mit diesem Glauben, selbst für Dinge und Geschehnisse verantwortlich zu sein, gewinnt allerdings die (weiter oben schon angeführte) Schuldfrage besondere Bedeutung. Frau Seida fühlt sich schuldig, die Mutter gegen deren Willen in einer Pflegeeinrichtung untergebracht zu haben, weil sie, so ihre Vorstellung, für die Pflege nicht genügend Kraft aufbringen konnte. Zu Frau Schneck: In den Befragungen zeigten sich posttraumatische Symptome wie auch depressive Tendenzen. Hinsichtlich ihres sozioökonomischen Status ist festzuhalten, dass sie gemeinsam mit ihrem Mann über ein doppeltes Renteneinkommen verfügt. Nach dem Abitur hatte sie die höhere Beamtenlaufbahn eingeschlagen und war Zeit ihres Lebens berufstätig und finanziell unabhängig, wenngleich ihr Mann der Hauptverdiener war. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt Frau Scheck in einer privilegierten Wohnsituation. In ein soziales Netz ist Frau Schneck weniger gut integriert, so dass sie während der Pflegephase kaum auf die Hilfe anderer zurückgreifen kann. Lediglich ihre Schwester unterstützte sie bei der Pflege. Ihr Partner dagegen verweigert jede Unterstützung, da er die Auffassung vertrat, dass pflegebedürftige Menschen in Heimen unterzubringen seien. Der Mangel an Unterstützung spiegelt sich auch in der schriftlichen Befragung zur sozialen Unterstützung F-Sozu-K22 in einem Summenwert von 63 (Skalenrange 0-110) wider. Besonders gering sind die Punktwerte auf den Subskalen „emotionale Unterstützung“ und „Vertrauensperson“. In der Befragung zu den Kontroll- und Kompetenzerwartung zeigt sich ein eher geringes Selbstkonzept, das für geringere wahrgenommene Handlungsmöglichkeiten und geringere Selbstsicherheit spricht. Das mittlere Internalitätsmaß spricht dafür, dass Frau Schneck Anstrengungen und persönlichen Einsatz zeigt, ohne aber regelmäßige Erfolge zu erkennen. Die Werte zur sozialen Externalität zeigen keine Auffälligkeiten hinsichtlich der wahrgenommenen Abhängigkeit von anderen
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Personen. Die fatalistische Externalität dagegen fällt gering aus, worin die Schicksalsungläubigkeit erkennbar wird, die Frau Schneck auch im Interview betont, ohne jedoch ein ausgeprägtes religiöses Weltbild zu haben. Frau Merlin: Sie schätzt ihre Gesundheit in den Befragungen am schlechtesten ein. Frau Merlin verfügt über einen Hauptschulabschluss und arbeitete Jahrzehnte in einem erlernten Beruf. Einige Jahre vor der Berentung verlor sie ihren Arbeitsplatz, so dass ihr Rentenniveau niedriger als erwartet ausfiel. Das gemeinsame Haushaltseinkommen von ihr und ihrem Partner liegt im mittleren Einkommensbereich. Die Wohnsituation in einer Mietwohnung ist eher beengt. Ähnlich wie Frau Schneck erfährt auch sie nur sehr wenig Unterstützung von ihrem Ehemann. Weder von Bekannten noch Freunden erlebt sie Hilfe und Unterstützung. Über Geschwister verfügt sie nicht. Diese soziale Isolation zeigt sich auch im F-Sozu-K22, der mit einem Gesamtscore von 81 eher niedrig ausfällt. Die interpretatorischen Bewältigungsfähigkeiten von Frau Merlin sind weniger gut ausgeprägt. Zwar legt sie ihrem Weltbild religiöse Deutungsmuster zugrunde. Diese erweisen sich aber als Sammelsurium aus verschiedenen Religionen, die sich nicht zu einem konsistenten Ganzen zusammenfügen lassen oder sogar in Widerspruch zueinander stehen. In vielen Situationen führt ihr Unverständnis ihrer eigenen Situation in Anbetracht der Pflege der Mutter zu Hilflosigkeit und Ohnmacht, die sie nur als schicksalhaft erklären kann. Entsprechend fällt auch die Befragung zu ihren Kompetenz- und Kontrollüberzeugungen aus: Neben einem hohen Selbstkonzept ist der vergleichsweise niedrige Wert der Internalitätsskala auffallend. Er zeigt, dass Frau Merlin nur bedingt daran glaubt, Gewünschtes und Geplantes zu erreichen, und Erfolge kaum auf eigene Anstrengung zurückführt. Eher betrachtet sich Frau Merlin als von anderen Menschen abhängig und durch „mächtige Andere“ benachteiligt (Subskala soziale Externalität). Der Wert spricht außerdem für Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, wie auch die Subskala zur fatalistischen Externalität bestätigt: Niedrige Werte auf dieser Skala äußern sich in einem ausgeprägten Glauben daran, dass Ereignisse zufallsabhängig sind und die Person meint, sich vor Pech nicht schützen zu können bzw. Erfolg vom Glück abhängt. Keine der befragten Frauen befindet sich in einer sozialen Lage, die durch Unsicherheit geprägt wäre. Auch Frau Seida, die am ehesten finanziell abhängig ist, ist durch die Schwester abgesichert. Unterschiedlich dagegen fallen weitere, die soziale Lage kennzeichnenden Faktoren aus: Während Frau Kristo und Frau Seida über gute soziale Unterstützung und über gute interpretatorische Fähigkeiten verfügen und kaum an die Abhängigkeit von externen Einflüssen glauben, ist das Leben von Frau Schneck wie auch von Frau Merlin von geringer sozialer Unterstützung geprägt. Beide glauben zudem daran, dass sie selbst wenig Einfluss auf Geschehnisse haben, sondern vielmehr vom Schicksal beeinflusst wer-
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den. Gerade von diesen Faktoren hängt es aber (auch) ab, wie gut es einer Person gelingt, ein schwerwiegendes Ereignis zu bewältigen. Wenn nun eine Folgerung aus den vorgestellten Fällen gezogen werden sollte, dann die, dass sich weniger Unterschiede hinsichtlich der sozioökonomischen Lage und Sicherheit zeigen, sondern vielmehr in Bezug auf die soziale Integration und die individuellen Bewältigungsfähigkeiten und -ressourcen. Die gesundheitliche Lage der Frauen, die über gute soziale Netze und gute individuelle Bewältigungsfähigkeiten verfügen, ist besser als die Gesundheit der Frauen mit geringerer sozialer Unterstützung und geringen Bewältigungsfähigkeiten. Weil alle Frauen erheblichen Pflegebelastungen ausgesetzt waren, stellt sich die Frage, warum die Frauen die Pflege übernahmen bzw. weiterpflegten, obwohl sich die Pflege zu einer (filialen) Krisensituation entwickelte. Die Antwort ist denkbar einfach. Es sind normative und motivationale Gründe, die die Frauen veranlassten, die Elternpflege zu übernehmen. Entsprechend traditioneller familiären Rollenverteilungen stand für alle Frauen außer Frage, für die Elternpflege zuständig zu sein. Private Arbeit in Form von Kinder- und Elternbetreuung und – pflege wurde von diesen Frauen als soziale Norm wahrgenommen, ohne zum Zeitpunkt der Pflegeübernahme voraussehen zu können, welche extremen Belastungen damit verbunden sein würden. Alle nahmen die Elternpflege als eine Selbstverständlichkeit im Sinne der Familiensolidarität an bzw. hatten ein Versprechen gegenüber den Eltern abgelegt, die Pflege zu übernehmen. Beides kann aber nur dann eingelöst werden, wenn die Frauen die Eltern bis zum Tod pflegen, unabhängig von den damit verbunden physischen und psychischen Kosten. So gesehen, besteht die Ungleichheit in diesen Fällen weniger darin, dass sie unterschiedliche Chancen gehabt hätten, z.B. Pflegeleistungen zuzukaufen, sondern vielmehr in einer geschlechtsbezogenen Ungleichheit: Die pflegenden, erwachsenen Töchter hatten aufgrund internalisierter Frauenrollen und -bilder weniger Chancen, die Grenzen der Pflege wahrzunehmen und damit gesundheitliche Risiken abzuwenden, weil dadurch ihre Identität Schaden genommen hätte. Die Pflege nicht durchzuführen, schädigt das Selbstbild schwer und ruft massive Schuldgefühle hervor. Das erklärt auch, warum es Männern leichter fällt, eigene Grenzen bei der Pflege zu erkennen und Gepflegte in Pflegeeinrichtungen unterzubringen (BMFSFJ 2002). Als für die Erwerbstätigkeit und nicht für die private Arbeit zuständig, wird die Identität pflegender Männer weniger belastet, wenn sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. So gesehen besteht die soziale Ungleichheit weniger z.B. in ungleichen Chancen, sich Entlastung von den Pflegestrapazen zu verschaffen, sondern vielmehr darin, dass die pflegenden Frauen im Unterschied zu pflegenden Männern Unterstützung nicht in Anspruch nehmen können und wollen, um sich selbst vor Identitätsverlusten zu schützen. Bedenkt man die extremen Belastungen, die die Frauen für die häusliche Elternpflege auf
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sich genommen haben, dann besteht die gesundheitspolitische Herausforderung darin, nicht nur Hilfe und Unterstützung in Form von Sachleistungen anzubieten, sondern präventiv tätig zu werden, um pflegende Frauen vor Pflegekrisen und deren Konsequenzen zu schützen.
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Grenzen der Untersuchung und Ausblick
Wie die meisten Untersuchungen, wirft auch diese mehr Fragen auf als sie zu beantworten in der Lage ist. Welche Maßnahmen sind geeignet, die (hier nicht weiter erläuterten) positiven Ressourcen und Erlebnisse während der Pflege zu stützen, z.B. das Gefühl, durch die Pflege gereift zu sein (zum Konzept des personal growth: Tedeschi et al. 1998)? Aber auch die Frage danach, wie die folgende Generation die häusliche Pflege erleben wird, die individualisierte Lebensstile präferiert, deren Eltern aber noch in traditionellen (Rollen-)mustern verankert sind. Anders als im Forschungsdesign vorgesehen, konnte leider kein Geschlechtervergleich durchgeführt werden, da sich kein pflegender Mann zur Verfügung stellte. Zudem scheint es sich bei der Elternpflege um ein höchst sensibles Thema zu handeln. Viele der kontaktierten Frauen gaben an, an der Untersuchung nicht teilnehmen zu wollen, da es sich – so die Rückmeldungen – um ein sehr „intimes“ Thema handelt, für das nur begrenzt Offenheit besteht. Insofern ist die Stichprobe höchst selektiv. Außerdem erfordern umfassendere Aussagen günstigstenfalls ein querschnittliches Design während der Pflegetätigkeit und danach. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei den Einzelfällen um beeindruckende Schilderungen zur häuslichen Pflege, die teilweise traumatogen wirkte, sofern nicht ausreichende Bewältigungsressourcen zur Verfügung standen und sich der Rollentausch der nun pflegenden, führenden Kinder und abhängigen gepflegten Eltern in der Pflegephase schwierig gestaltete. Auch sind weitere Untersuchungen wünschenswert, um das traumatogene Potenzial genauer zu bestimmen. Möglicherweise sind die eingesetzten Instrumente aus der Traumatologie auch nicht ausreichend, um die Pflege als Trauma von einem schwerwiegenden Ereignis abzugrenzen. Auch fehlen objektivierbare Maße zur Bestimmung von Traumata. Dennoch zeigt die Untersuchung, dass die häusliche Pflege genügend Potenzial besitzt, als potenzielle Krise eingestuft zu werden, die rechtzeitige psychosoziale Betreuung der Pflegenden sichtbar macht. Hierbei sind ressourcenorientierte, frauenspezifische Aspekte zu berücksichtigen, weil das Erleben von Pflegebelastungen deutlich durch das weibliche Selbstverständnis mitbestimmt wird. Nicht zuletzt deshalb ist auf gesellschaftlicher und gesundheitspolitischer Ebene darüber nachzudenken, ob es akzeptabel ist, dass derzeit die Pflegebelastungen
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überwiegend von Frauen getragen werden, selbst wenn diese ihre Zeit flexibler budgetieren können als ihre erwerbstätigen Partner.
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Leben mit einem behinderten Kind
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Leben mit einem behinderten Kind: Betroffene Familien in sozial benachteiligter Lebenslage Leben mit einem behinderten Kind
Christa Büker
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Problemhintergrund
In Deutschland leben ca. 165.000 Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre mit einer schweren Behinderung im Sinne des SGB IX (Statistisches Bundesamt 2005). Da von Seiten der amtlichen Behindertenstatistik nur Personen erfasst werden, die einen gültigen Schwerbehindertenausweis besitzen, d.h. deren Grad der Behinderung mindestens 50 beträgt, sind keine exakten Aussagen zur Gesamtzahl behinderter Kinder möglich. Thimm/Wachtel (2002) schätzen, dass ca. 3-5% aller Kinder in Deutschland an einer Behinderung leiden1; Thimm et al. (1997) gehen davon aus, dass in etwa 3% aller Mehrpersonenhaushalte ein behindertes Kind lebt. Neben der offiziellen Statistik existiert demnach eine hohe „Dunkelziffer“. Häufige Ursachen einer schweren Behinderung sind angeborene oder erworbene Störungen der geistigen Entwicklung, organische Fehlbildungen, Sinnesbeeinträchtigungen, Zerebralparesen oder orthopädische Funktionseinschränkungen (Robert Koch-Institut 2004; Statistisches Bundesamt 2005). Auch Kinder mit schweren chronischen Erkrankungen (z.B. Asthma bronchiale, Mucoviszidose, Herzerkrankungen, bösartige Neubildungen) gelten vielfach als schwerbehindert. Fast immer leben behinderte Kinder in ihrer Herkunftsfamilie. Eine Unterbringung in einem Heim ist eher die Ausnahme und betrifft vorwiegend Kinder mit hohem, spezialisierten Pflegebedarf oder einer zusätzlichen erheblichen Verhaltensproblematik. Ein weiterer Grund für eine Heimaufnahme liegt in fehlenden tragfähigen familialen Strukturen (Thimm 2001). Bereits seit Jahrzehnten ist die Situation von Familien mit einem behinderten Kind Gegenstand empirischer Sozialforschung. National und international existiert eine schier unübersehbare Fülle an Arbeiten zur Belastungssituation und 1
In Deutschland sind insgesamt 6,6 Millionen Menschen als schwerbehindert anerkannt. Dies entspricht einer Prävalenzrate von rund 8% der Bevölkerung (Statistisches Bundesamt 2005).
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zum Stresserleben der Familien, zu den Auswirkungen kindlicher Behinderung auf Partnerschaft und Geschwisterkinder oder zum Prozess der Bewältigung bei Müttern und Vätern. Erstaunlich schwach ausgeprägt zeigt sich der Forschungsstand zur Situation betroffener Familien in sozial benachteiligter Lebenslage, wie niedriger sozioökonomischer Status, Alleinerziehende, von Arbeitslosigkeit betroffene Familien sowie kinderreiche und Migrantenfamilien. An dieser Stelle will der vorliegende Beitrag, der sich als Diskussionspapier versteht, ansetzen. Ziel ist die Sensibilisierung für die besonderen Problemlagen und Unterstützungserfordernisse vulnerabler Personengruppen. Dazu erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über die Datenlage zur Situation von Familien mit einem behinderten Kind und speziell von Familien in benachteiligter Lebenslage. Im Weiteren soll unter Einbeziehung eines Fallbeispiels der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und kindlicher Behinderung diskutiert werden. Abschließend gilt es, Ideen und Möglichkeiten einer systematischen Unterstützung von betroffenen Familien in benachteiliger Lebenslage zu entwerfen, mit dem besonderen Augenmerk auf die (zukünftig möglicherweise zentrale) Rolle der professionellen Pflege in diesem Handlungsfeld.
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Familien mit einem behinderten Kind
Bis weit in die 1980er Jahre hinein stand die Belastungssituation von betroffenen Familien im Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen (u.a. Featherstone 1980). Das behinderte Kind wurde quasi zur Tragödie erklärt, von der sich die Familie nie wieder erholt und die die Familie sogar potentiell gefährdet. Erst Kritik an diesem Eindruck einer „behinderten“ Familie (Stegie 1988; Engelberg 1989) führte zu einem Wandel der Betrachtungsweise, denn vielen Familien gelingt es durchaus, ihr Leben mit einem behinderten Kind zu bewältigen. Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, dass die Betreuung eines behinderten Kindes mit besonderen Anforderungen an die Familien verbunden ist. Fast immer besteht bei den Kindern ein altersuntypischer, erhöhter Pflege- und Versorgungsaufwand (Häußler et al. 1996; Kulka/Schlack 2006). Basale Kompetenzen müssen in einem oft lang andauernden, mühseligen Prozess vermittelt werden, der immer wieder von Rückschlägen begleitet ist und ein hohes Maß an Engagement und Geduld auf Seiten der Eltern erfordert. Hinzu kommt die Notwendigkeit zur Wahrnehmung zahlreicher Termine, da die Kinder in der Regel bereits früh in ein intensives Förder- und Rehabilitationsprogramm eingebunden sind. Ergänzend zur Förderung durch das professionelle Hilfesystem führen viele Eltern Übungen zu Hause weiter und fungieren damit quasi als „Co-Therapeu-
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ten“ (Innerhofer/Warnke 1977). Besonders hohe Anforderungen stellt die Betreuung geistig behinderter Kinder, wenn sie aufgrund fehlenden Sicherheitsbewusstseins einer ständigen Beaufsichtigung bedürfen. Fast immer ist es die Mutter, die sich vorrangig um ein behindertes Kind kümmert. Schneekloth et al. (1996) zufolge ist in 98% der Fälle die Mutter und lediglich in 2% der Vater die Hauptpflegeperson. Die Versorgung und Pflege eines behinderten Kindes bedeutet häufig eine hohe zeitliche, physische und psychische Beanspruchung. Ebenso wie bei anderen pflegenden Angehörigen besteht die Gefahr der Überstrapazierung und Überlastung (Schaeffer/Moers 2000). Nicht wenige Mütter klagen über Erschöpfungszustände, Schlafstörungen und fehlende Zeit für eine nachhaltige Regeneration oder die Erfüllung eigener Bedürfnisse (McConachie 1994; Sarimski 1996). Gleichwohl wird die Pflege eines chronisch kranken oder behinderten Kindes auch als bereichernd erlebt, wie neuere Untersuchungen aufzeigen (Prakke 2004; Green 2007). Im Hinblick auf die Auswirkungen kindlicher Behinderung auf Ehe und Partnerschaft zeigen die Befunde ein widersprüchliches Bild. Frühere Vermutungen über häufigere Partnerkonflikte und höhere Scheidungsraten in betroffenen Familien (Featherstone 1980) lassen sich nicht aufrechterhalten. Vielmehr wird inzwischen vermehrt über positive Auswirkungen auf die Partnerschaft im Sinne eines stärkeren Zusammengehörigkeitsgefühls und einer Intensivierung der Beziehung berichtet (Nippert 1988). Ebenso verhält es sich mit der Befundlage über die Geschwister von behinderten Kindern. Die Spannbreite reicht von einer empfundenen Vernachlässigung und Beeinträchtigung der psychosozialen Entwicklung von Geschwisterkindern bis hin zur Vermeldung positiver Effekte im Sinne von mehr Toleranz und Verständnis für andere Menschen oder eine stärkere Orientierung an sozialen bzw. humanen Werten (Hackenberg 1992; Neumann 2001). Hohe Bedeutung außerhalb der Kernfamilie kommt dem sozialen Netz zu. Tak/McCubbin (2002) zufolge wirken gute und enge Beziehungen zu Freunden und Verwandten im Sinne von Ressourcen, die einen positiven Einfluss auf das Stresserleben ausüben. Familien mit einem behinderten Kind verfügen zwar häufig über ein nur kleines, dafür aber stabiles und verlässliches Netzwerk mit einer hohen Interaktionsdichte. Als hilfreich empfunden wird ferner die Organisation in einer Elternselbsthilfegruppe, um dort Gleichgesinnte zu treffen und gemeinsam nach Lösungen für anstehende Probleme zu suchen (Law et al. 2001). Den Gruppen kommt dabei oftmals eine zentrale Funktion im Rahmen der Informationsgenerierung zu, da angesichts unseres zersplitterten bundesdeutschen Gesundheits- und Sozialsystems (Schaeffer 2004) die Suche nach passgenauen Hilfen und Versorgungs-
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angeboten für die Familien mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden ist (Engelbert 1999). Die Pflege eines behinderten Kindes hat häufig Auswirkungen auf die finanzielle Situation der Familien. Michel et al. (2004) ermitteln in ihrer Untersuchung zur Lebenssituation von Familien mit behinderten Kindern in Sachsen ein zwischen 500 € und 700 € niedrigeres Haushaltseinkommen als in vergleichbar großen Haushalten anderer Familien in Ostdeutschland. Wesentliche Ursache dafür liegt den Erkenntnissen zufolge in der angesichts der hohen Versorgungserfordernisse des Kindes häufig nur eingeschränkt oder überhaupt nicht möglichen Erwerbstätigkeit pflegender Mütter. Sozialstaatliche Leistungen für Familien mit einem behinderten Kind, wie beispielsweise der Bezug von Pflegegeld nach dem SGB XI, gleichen in der Regel diese Benachteiligung nicht aus. Trotz der skizzierten vielfältigen Anforderungen an die Familien sind die meisten von ihnen durchaus in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen. Die Belastungsproblematik unterscheidet sich von Familie zu Familie erheblich und ist stark von der individuellen Lebenslage abhängig. Im Folgenden soll nun versucht werden, anhand von Forschungsbefunden einen ersten Einblick in die Situation von Familien in benachteiligter Lage zu gewinnen.
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Sozial benachteiligte Familien mit einem behinderten Kind
Die Datenlage zur sozialen Ungleichheit bei Familien mit einem behinderten Kind ist – wie bereits eingangs erwähnt – nur schwach ausgeprägt. Dennoch lassen sich einige Tendenzen aufzeigen. Nachgewiesen ist beispielsweise ein Zusammenhang zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und Behinderung, indem die unteren sozialen Schichten bei nahezu allen Behinderungen überproportional vertreten sind (BMFSFJ 2002). Familien mit einem behinderten Kind sind häufig Mehrkindfamilien; die gesamte Familiensituation ist – unabhängig von der kindlichen Behinderung – vielfach schwierig und belastend. Die Familien leben überdurchschnittlich häufig in eher ländlich strukturierter Umgebung oder in belasteten Stadtteilen großer Städte, mit teilweise prekären Wohnverhältnissen (Beck 2002). Besonders problematisch stellt sich den Befunden zufolge die ökonomische Situation von alleinerziehenden Müttern mit einem behinderten Kind dar. Sie sind häufiger arbeitslos und arbeiten seltener in einer Vollzeitbeschäftigung als Alleinerziehende mit nicht behinderten Kindern (Porterfield 2002). Offensichtlich ist die Sicherstellung der Versorgung des Kindes für diese Personengruppe mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Das behinderte Kind wird damit zum Armutsrisiko.
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Soziale Ungleichheiten lassen sich auch für den Bereich der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen feststellen. Engelbert (1999) zufolge hängen die Informiertheit über Leistungsansprüche sowie deren Nutzung vom Bildungsgrad und der beruflichen Position ab und zwar insbesondere von den entsprechenden Ressourcen der Mütter, da sie es sind, die sich vorrangig um ein behindertes Kind kümmern. Ihre Kompetenzen, so Engelbert (1999: 279) sind „der Schlüssel zu den gesellschaftlichen Unterstützungs- und Fördersystemen“. Eine mangelnde Ausstattung mit kulturellen Ressourcen führt im Falle eines behinderten Kindes zu ungleichen Zugangs- und damit auch Bewältigungschancen. Eine weitere vulnerable Personengruppe bilden Migrantenfamilien mit einem behinderten Kind. Sie sind durch sprachliche Schwierigkeiten, ausländerrechtliche Probleme und Vorbehalte zusätzlich belastet (BMA 1998). Informationsdefizite, Kommunikationsprobleme und Unsicherheiten im Umfang mit Behörden, Ärzten oder Fördereinrichtungen behindern den Zugang zu institutionellen Hilfen und führen dazu, dass Behinderungen bei Kindern oft erst spät, beispielsweise in Rahmen der Einschulungsuntersuchung, entdeckt werden und damit wertvolle Zeit für die Frühförderung verloren geht (ebd.). Kaum diskutiert werden die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf das behinderte Kind selbst. Bekannt ist eine größere Gefahr von Vernachlässigung und Misshandlung bei behinderten gegenüber nicht behinderten Kindern (Sullivan/Knutson 2000). Weitere Folgen, beispielsweise für die kognitive und körperliche Entwicklung oder die Gesundheit, wie sie für nicht behinderte Kinder in Armutslagen vielfältig diskutiert werden (Klocke/Hurrelmann 1998), bleiben unklar. Die wenigen, in diesem Kapitel aufgezeigten Befunde lassen erhebliche Auswirkungen einer kindlichen Behinderung auf Familien in benachteiligter Lebenslage erkennen.
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Konzeptualisierung sozialer Ungleichheit
Als klassische Indikatoren sozialer Ungleichheit werden Unterschiede nach Ausbildung, Beruf und Einkommen als Ausdruck einer vertikalen sozialen Ungleichheit bezeichnet. Immer stärker geraten aber auch Indikatoren einer horizontalen sozialen Ungleichheit in das Blickfeld, wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Familiengröße, Wohnort oder Migration (Mielck/Helmert 1998). Einen Rahmen zur Beschreibung und Erklärung sozialer Ungleichheit bietet das Lebenslagenkonzept (Amann 1983; Wendt 1988). Entsprechend diesem Ansatz kann die Situation von Menschen nicht anhand eines einzigen Merkmals, wie beispielsweise finanzielle Armut, in den Blick genommen werden. Lebenslagen sind vielmehr
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durch Mehrdimensionalität – objektive Lebensbedingungen, sozialstrukturelle Faktoren, soziale Beziehungen und individuelles Erleben – gekennzeichnet. Ausdruck einer benachteiligten Lebenslage ist die Kumulation von Versorgungsdefiziten (Lampert/Schenk 2004). Damit erscheint das Lebenslagenkonzept für die Betrachtung der Situation von speziell vulnerablen Familien mit einem behinderten Kind als durchaus geeignet. An dieser Stelle soll auch auf den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit eingegangen werden, um – daraus abgeleitet – anschließend einen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Behinderung herzustellen. Zahlreiche Publikationen beschäftigen sich in den letzten Jahren mit dem Thema der gesundheitlichen Ungleichheit (Bauer/Schaeffer 2006; Richter/Hurrelmann 2006). Zwei grundlegende Hypothesen werden dabei zur Erklärung eines Zusammenhangs herangezogen: Die erste Hypothese geht davon aus, dass soziale Ungleichheit den Gesundheitszustand beeinflusst im Sinne von „Armut macht krank“; die zweite Hypothese verweist darauf, dass Krankheit die Gefahr des sozialen Abstiegs mit sich bringt im Sinne von „Krankheit macht arm“ (Mielck 2001). Angesichts relativ gut ausgebauter sozialer Sicherungssysteme wird hierzulande schwerpunktmäßig die erste Variante diskutiert. Bei Familien mit einem behinderten Kind greift dieses Erklärungsmuster allerdings zu kurz, wie noch aufzuzeigen sein wird. Vielmehr soll hier die These einer Wechselwirkung zwischen kindlicher Behinderung und sozialer Ungleichheit vertreten werden, indem einerseits Ungleichheitslagen durch eine kindliche Behinderung verschärft werden und andererseits eine benachteiligte Lebenslage zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen auf das behinderte Kind und auch die Familie führen kann.
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Soziale Ungleichheit und kindliche Behinderung
Angesichts des weitgehenden Fehlens empirischen Vorgängermaterials soll zur Erläuterung des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und kindlicher Behinderung im Folgenden mit einem explorativen Fallbeispiel gearbeitet werden. Die nachfolgende Fallschilderung entstammt einer Untersuchung zur Situation von Müttern mit einem behinderten Kind. Niklas [Name geändert] wird 1999 als drittes Kind einer vor sieben Jahren aus Polen zugewanderten Familie geboren. Während er zunächst eine unauffällige Entwicklung zeigt, kommt es im Alter von 18 Monaten zu einem ersten Krampfanfall. Die genaue Ursache kann auch nach mehreren Krankenhausaufenthalten nicht ermittelt werden. Trotz der Einnahme von Medikamenten kommt es seither
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etwa alle sechs Monate zu erneuten Krampfanfällen. Außerdem ist Niklas sehr infektanfällig und häufig krank. Der zum Zeitpunkt des Interviews 5 Jahre alte Junge weist eine deutliche Entwicklungsverzögerung auf. Zwar wirkt er auf den ersten Blick wie ein altersentsprechend entwickeltes Kind, auffällig sind jedoch ein kaum entwickeltes Sprachvermögen und eine stark herabgesetzte Impulskontrolle. Niklas ist in ständiger Unruhe, läuft umher und stößt laute Schreie aus. Familie A. lebt in einer Hochhaussiedlung am Rande einer Mittelstadt in Niedersachsen. Die Wohnung wirkt klein und eng. Es gibt nur ein gemeinsames Kinderzimmer, was immer wieder erhebliche Problemen aufwirft, da sich die beiden größeren, schulpflichtigen Geschwister durch die Unruhe ihres jüngsten Bruders gestört fühlen. Frau A. ist Hausfrau und kümmert sich um die Kinder, ihr Mann war bis vor kurzem als ungelernter Arbeiter tätig, nun ist er allerdings seit einigen Monaten arbeitslos. Weder Frau A. noch ihr Ehemann verfügen über einen Schulabschluss. Beide haben keinen Beruf erlernt. Das Interview mit Frau A. findet am frühen Nachmittag statt. Herr A. ist nicht dabei. Alle drei Kinder sind anwesend, die beiden größeren halten sich überwiegend im Kinderzimmer auf. In der Küche läuft ein Fernseher. Niklas pendelt während des Gesprächs zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her. Als weitere Teilnehmerin ist eine Mitarbeiterin der örtlichen Frühförderstelle anwesend. Frau A., die leidlich gut Deutsch spricht, hat sie um Unterstützung bei eventuellen Verständnisproblemen gebeten. Zwar wird Niklas nicht mehr von der Frühförderstelle betreut, gleichwohl besteht offensichtlich noch ein Kontakt. Die Therapeutin opfert ihre Mittagspause, um bei dem Interview dabei zu sein. Im Gespräch hält sie sich weitgehend zurück. Frau A. wirkt müde und erschöpft. Sie fühlt sich durch die Pflege und Versorgung ihres jüngsten Sohnes zunehmend belastet, insbesondere seine große Unruhe macht ihr zu schaffen. Einzig in den Vormittagsstunden, wenn Niklas im heilpädagogischen Kindergarten ist, kann sich Frau A. in Ruhe um den Haushalt kümmern. Niklas bedarf einer ständigen Beaufsichtigung, da er sich ansonsten die Kleidung zerreißt, sich und die Umgebung stark beschmutzt und zum unkontrollierten Essen neigt. Am liebsten isst er Kartoffelchips, die er auch im Verlaufe des Interviews lautstark einfordert. Um einen Moment Ruhe zu haben, stellt ihm seine Mutter eine Schale Chips hin. Angesichts des übergewichtig wirkenden Kindes scheint es sich dabei um ein nicht selten zur Anwendung kommendes Mittel zu handeln. Mit den Nachbarn im Haus gibt es Probleme, da diese sich bereits mehrfach bei der Hausverwaltung über das „laute Kind“ beschwert haben. Frau A. fühlt sich zudem isoliert, da sie mit Niklas nirgendwohin gehen könne. Ihren Worten zufolge halten selbst ihre eigenen Eltern einen zweistündigen Besuch mit
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dem Kind kaum aus. Sie sieht auch keine Möglichkeit, den Jungen gelegentlich bei Freunden oder Nachbarn unterzubringen. Frau A. äußert: „Man kann Niklas niemandem zumuten“. Die Therapeutin der Frühförderstelle hat ihr eine stundenweise Entlastung durch den örtlichen Familienunterstützenden Dienst vorgeschlagen. Diese Hilfe hat Frau A. bislang nicht in Anspruch genommen, da sie zum einen nicht weiß, wie sie dies finanzieren soll und zum anderen befürchtet, dass man auch dort mit dem Kind nicht zurecht kommt. Von ihrem Mann erhält Frau A. ihren Worten zufolge wenig Unterstützung, für Haushalt und Kinder sei nun mal sie zuständig. Für ihre Partnerschaft oder für sich selbst habe sie keine Zeit. Leider habe sie auch viel zu wenig Zeit für die beiden größeren Kinder und deren Bedürfnisse. Frau A. möchte gern arbeiten, um das Haushaltseinkommen aufzubessern, sieht aber aufgrund ihrer fehlenden Berufsausbildung und der hohen Versorgungsanforderungen von Niklas keine realistische Möglichkeit einer außerhäuslichen Tätigkeit. Auf Anregung und mit Hilfe der Mitarbeiterin von der Frühförderstelle hat Frau A. vor einigen Wochen für ihren Sohn einen Behindertenausweis beantragt und einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung gestellt. Vor kurzem sei die Pflegebegutachtung erfolgt, auch hierbei wurde Frau A. von der Therapeutin unterstützt. Frau A. hofft auf eine Einstufung des Kindes. Von dem Geld möchte sie sich einen Wäschetrockner kaufen, da Niklas mehrfach am Tag umgezogen werden muss und sie mit dem Trocknen der Wäsche kaum nachkommt. Unabhängig von der kindlichen Behinderung lassen sich für das Fallbeispiel mehrere Indikatoren sowohl vertikaler als auch horizontaler sozialer Ungleichheit identifizieren: niedriges Bildungsniveau, Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen, Migrationshintergrund, problematische Wohnverhältnisse und ein fehlendes tragfähiges soziales Netz. Im Folgenden gilt es nun, die kindliche Behinderung im Kontext dieser Indikatoren einer benachteiligten Lebenslage zu betrachten. Zwei Überlegungen sind dabei leitend, die bereits an anderer Stelle als These geäußert wurden:
Kindliche Behinderung führt zu einer Verschärfung und weiteren Kumulation von Ungleichheitslagen, Eine benachteiligte Lebenslage beeinträchtigt die Gesundheit und Entwicklung sowohl des behinderten Kindes als auch der Gesamtfamilie.
Der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und kindlicher Behinderung soll anhand der Auswirkungen auf die finanzielle Situation, Wohnsituation, auf den Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen, das Belastungserleben der
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Hauptpflegeperson sowie die Entwicklung des behinderten Kindes selbst aufgezeigt werden. Verschärfung der ökonomischen Problemlage Die Auswirkungen der Pflege eines behinderten Kindes auf das Haushaltseinkommen betroffener Familien wurden bereits an anderer Stelle aufgezeigt. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die Situation für einkommensschwache Familien besonders prekär darstellt. Dies liegt zum einen darin begründet, dass durch das behinderte Kind Sonderausgaben (wie beispielsweise Aufwendungen für häufige Fahrten zu Arzt- und Therapiebesuchen oder Zuzahlungen für Hilfsmittel) entstehen, die das angespannte Familienbudget zusätzlich belasten. Ein weiterer Grund kann darin gesehen werden, dass in sozial benachteiligten Familien mit einem behinderten Kind die Chancen einer mütterlichen Berufstätigkeit noch geringer sind als in anderen Familien. Die Sicherstellung einer verlässlichen Betreuung in Abwesenheitszeiten wirft ungleich größere Schwierigkeiten auf, da eine Inanspruchnahme kostenpflichtiger Hilfen, beispielsweise durch eine Tagesmutter oder Familienunterstützende Dienste, aufgrund fehlender finanzieller Mittel ausscheidet. In diesen Familien kann oft nur auf das informelle Netzwerk, d.h. Familie, Freunde oder Nachbarn, zurückgegriffen werden. Erweist sich dieses als wenig tragfähig – wie im vorliegenden Fallbeispiel – sind pflegende Mütter gezwungen, auf eine Berufstätigkeit und damit zugleich auf eine Verbesserung des Familieneinkommens zu verzichten. Ein dritter Aspekt muss an dieser Stelle noch genannt werden, der an späterer Stelle noch einmal aufzugreifen sein wird: Fehlende Informationen über Leistungsansprüche bei Behinderung sowie Hemmschwellen vor Behördengängen verhindern in sozial benachteiligten Familien unter Umständen die Inanspruchnahme finanzieller Hilfen, die zumindest zu einer Entlastung der ökonomischen Problemlage beitragen könnten. Eine kindliche Behinderung kann somit aus den genannten Gründen die wirtschaftliche Lage von Familien in benachteiligter Lebenslage weiter verschlechtern und Ressourcenungleichheit verstärken. Verschlechterung der Wohnsituation Eine Verschärfung sozialer Ungleichheit durch kindliche Behinderung lässt sich auch für die Wohnsituation feststellen. Wie bereits aufgezeigt, leben Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status häufig in beengten bzw. qualitativ eingeschränkten Wohnverhältnissen. Im Falle eines behinderten Kindes ergeben sich zusätzliche negative Auswirkungen. Beengte und nicht behinderungsadaptierte Wohnverhältnisse erschweren eine den Bedürfnissen des Kindes ent-
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sprechende Versorgung und belasten zudem die Gesundheit der Hauptpflegeperson. Für alle Familienmitglieder stellen fehlende Rückzugsmöglichkeiten einen Stressfaktor und damit eine weitere Gesundheitsgefahr dar. Handelt es sich bei dem behinderten Kind wie im Fallbeispiel um ein Kind mit Verhaltensauffälligkeiten und Unruhezuständen, lassen sich für schulpflichtige Geschwister sogar weit reichende Folgen in Form von schulischen Problemen befürchten. Erschwerend hinzu kommen in Mehrfamilienhäusern Schwierigkeiten mit Nachbarn mit der Gefahr einer Ausgrenzung und Isolation betroffener Familien. Aus all dem lässt sich schlussfolgern, dass durch schwierige Wohnverhältnisse hervorgerufene Problemlagen angesichts kindlicher Behinderung eine Verschärfung erfahren und negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Gesamtfamilie zu befürchten sind. Verschärfung der Belastungssituation der Hauptpflegeperson Wie so oft, ist es auch im vorliegenden Fallbeispiel die Mutter, die sich vorrangig um das behinderte Kind kümmert. Überdeutlich zeigt sich hier – möglicherweise auch noch verstärkt durch kulturell bedingte Rollenmuster – die Verfestigung der traditionellen Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter, wenn ein behindertes Kind in der Familie lebt. Damit erweist sich auch das Geschlecht als ein Indikator sozialer Ungleichheit (Mielck/Helmert 1998). Die ausgeprägte Alleinzuständigkeit für die Pflege und Versorgung des Kindes kann – wie bereits an anderer Stelle aufgezeigt – auf Dauer zur physischen und psychischen Überlastung der Hauptpflegeperson führen. Diese Gefahr ist als besonders groß bei Frauen in benachteiligter Lebenslage anzusehen, wenn ihnen aufgrund fehlender ökonomischer Ressourcen, fehlender sozialer Netzwerkressourcen und einem starren Rollenbild keine Möglichkeiten einer wirksamen Entlastung zur Verfügung stehen. Insbesondere das Fehlen eines tragfähigen sozialen Netzes verschärft offensichtlich die Belastungssituation von Müttern in benachteiligter Lebenslage mit einem behinderten Kind, wie im Fallbeispiel überdeutlich wird. Die Mutter erfährt offensichtlich keinerlei Unterstützung und schafft es auch nicht, Hilfe einzufordern. Erschwert wird ihre Situation durch stigmatisierende Erfahrungen mit der Außenwelt und der eigenen Familie. Die Bemerkung, man könne Niklas niemandem zumuten, verweist auf ein erhebliches Maß an Verzweiflung, Ohnmacht und Hilflosigkeit, aber auch an Scham über das Verhalten des eigenen Kindes. Als scheinbar einzige Reaktion bleiben Rückzug und damit der Weg in die soziale Isolation, womit sich ein Teufelskreis an Überlastung abzeichnet. Festzuhalten bleibt, dass eine benachteiligte Lebenslage für die Hauptpflegeperson eines behinderten Kindes zu einer höheren Alltags- und damit auch Gesundheitsbelastung führen kann.
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Verstärkung von Zugangsproblematiken Für Familien mit einem behinderten Kind ergeben sich zwangsläufig häufige und vielfältige Kontakte zu Institutionen und Berufsgruppen des Sozial- und Gesundheitswesens wie (Kinder-)ärzte, Kliniken, Frühförderstellen, Therapeuten, Kostenträger, etc. Angesichts der Zersplitterung und mangelnden Transparenz des bundesdeutschen Gesundheits- und Sozialsystems, ergeben sich vielfach Schwierigkeiten in der Informationsgenerierung und Zugangsfindung zu passgenauen Hilfen. Für Familien in benachteiligter Lebenslage wirft die Suche nach geeigneten Versorgungsleistungen zusätzliche Schwierigkeiten auf, wie im Fallbeispiel vor dem Hintergrund von Migration und niedrigen Bildungsgrad erkennbar wird. Informationsdefizite, Sprachprobleme, Schwellenängste, Schwierigkeiten mit formalen Anträgen und „soziale Scham“ (Neckel 1991) erschweren nicht nur die Kommunikation mit den Profis, sondern führen möglicherweise auch dazu, dass Versorgungsleistungen für das behinderte Kind, Entlastungsmaßnahmen für die pflegende Mutter oder finanzielle Unterstützungsleistungen nicht in Anspruch genommen werden. Im Fallbeispiel spiegelt sich diese Problematik wider: Eher zufällig werden Informationen über leistungsrechtliche Ansprüche oder Entlastungsmöglichkeiten durch eine Mitarbeiterin der Frühförderstelle erfahren und in Folge entsprechende Anträge eingeleitet. Dieses zweifelsohne lobenswerte persönliche Engagement der Therapeutin lässt zugleich eine deutliche Lücke im bundesdeutschen Gesundheitssystem erkennen, nämlich das Fehlen von Informations- und Beratungsstellen für Familien mit einem behinderten Kind. Insbesondere für Familien in benachteiligten Lebenslagen wären derartige Anlaufstellen von großer Bedeutung, die ihnen eine Bewältigung ihrer Lebenssituation und die Entwicklung von Sach- und Handlungskompetenzen erleichtern könnten. Verringerte Entwicklungs- und Gesundheitschancen für das behinderte Kind Unstrittig ist inzwischen, dass eine benachteiligte Lebenslage erhebliche Konsequenzen für das Wohlbefinden und die Gesundheit von Kindern haben kann (Klocke/Hurrelmann 1998; Lampert et al. 2005). Fragen nach den gesundheitlichen Auswirkungen speziell auf behinderte Kinder werden in der bisherigen Diskussion allerdings vernachlässigt. Einige Aspekte für verringerte Entwicklungschancen dieser Personengruppe sollen daher im Folgenden aufgegriffen werden. Ein erster Punkt betrifft das Therapie- und Förderangebot für behinderte Kinder. Bei vielen Eltern behinderter Kinder besteht der intensive Wunsch, alle Möglichkeiten einer Förderung zu kennen und auszuschöpfen, um so eine größtmögliche Selbstständigkeit ihres Kindes im späteren Leben zu erreichen (Wingenfeld/Büker 2007). Neben den ärztlich verordneten Therapien werden häufig
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weitere, alternative Fördermaßnahmen, wie beispielsweise Reit- oder Musiktherapie, durchgeführt und – aufgrund fehlender Bezuschussung durch Kostenträger – privat finanziert. Es kann zum einen vermutet werden, dass Familien in benachteiligter Lebenslage aufgrund von Informationsmängeln das vorhandene Angebot nicht hinreichend überblicken, die Bedeutung bestimmter Verfahren nicht einschätzen können und somit eventuell wichtige Maßnahmen unterbleiben. Zum anderen verringern mangelnde finanzielle Ressourcen die Möglichkeiten einer Akquirierung ergänzender Fördermaßnahmen. Behinderten Kindern aus Familien in benachteiligter Lebenslage bleiben somit Entwicklungschancen verwehrt. Verringert sind auch die Chancen für Begegnungen mit anderen Menschen als Grundlage einer positiven Sozialentwicklung. Wie jedes andere Kind hat auch das behinderte Kind ein natürliches Bedürfnis, Beziehungen aufzubauen und mit anderen Kindern zu spielen. Mehr als andere ist es jedoch darauf angewiesen, dass Außenbeziehungen von den Eltern geknüpft und gepflegt werden (Cloerkes 1997). Fehlende finanzielle Mittel und/oder ein nur kleines soziales Netzwerk verringern die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und Gestaltung von Sozialkontakten. Die Auswirkungen problematischer Wohnverhältnisse auf Familien mit einem behinderten Kind wurden an anderer Stelle bereits aufgezeigt. Betrachten wir an dieser Stelle einmal die Folgen für das behinderte Kind selbst. Mehr als andere Kinder ist es auf die Wohnung als Erfahrungs- und Spielraum angewiesen, da kaum außerfamiliale Kontaktmöglichkeiten bestehen. Unzureichende Wohnverhältnisse können zu Beeinträchtigungen in der Entwicklung des sozialen und emotionalen Verhaltens und zu psychischen Störungen führen (Cloerkes 1997). Bewegungsbedürfnisse können nicht ausgelebt werden und beeinträchtigen unter Umständen die motorische Entwicklung. Ein anderer Aspekt betrifft die Herausbildung gesundheitsrelevanter Einstellungen, wie hier am Beispiel des Ernährungsverhaltens verdeutlicht werden soll. Lampert et al. (2005) verweisen auf einen Zusammenhang zwischen sozial benachteiligter Lebenslage von Kindern und eher ungesunden Essgewohnheiten sowie Übergewicht. Unter der Annahme, dass dies auch für behinderte Kinder gilt, wird hier eine besondere Problematik deutlich: Stärker als andere Kinder sind sie in ihren Ernährungsweisen von den Eltern abhängig, deren Einstellungen und Wissen prägen die Ernährungsmuster der Kinder nachhaltig. Ungünstige Muster werden mangels Alternative auf Dauer verfestigt, bleiben auch im Erwachsenenalter bestehen und beeinflussen unter Umständen die frühzeitige Entstehung von chronischen Krankheiten, wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen (ebd.). Eine zusätzliche Problematik zeichnet sich ab, wenn – wie im Fallbeispiel – aus Überforderung und Verzweiflung heraus Essen als Mittel zur kurzfristigen Ruhigstellung des Kindes eingesetzt wird. Neben den gesundheitli-
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chen Auswirkungen lassen sich hier unschwer Erziehungsschwierigkeiten prognostizieren. Angesichts verringerter Entwicklungschancen behinderter Kinder aus benachteiligten Familien ist durchaus denkbar, dass sich auch im späteren Leben weitaus größere Schwierigkeiten als bei anderen behinderten Menschen, z.B. bei der Berufswahl und Arbeitsplatzsuche, ergeben. Zwar fehlt es auch hierzu bislang an empirischen Belegen, dennoch besteht die begründete Annahme einer Verschärfung von Chancenungleich behinderter Menschen aus sozial benachteiligtem Milieu auch auf dem Arbeitsmarkt. Wie die Ausführungen deutlich machen, hängen Entwicklungs- und Gesundheitschancen eines behinderten Kindes möglicherweise stark von der Lebenslage der Familie, in die es hineingeboren wird, ab. Um hier größere Klarheit zu schaffen, ist jedoch unbedingter Forschungsbedarf vonnöten.
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Schlussfolgerungen und Konsequenzen
Das Leben mit einem behinderten Kind stellt – wie zu sehen war – in der Tat besondere Anforderungen an betroffene Familien, die sich belastend und auch benachteiligend auswirken können. Keineswegs handelt es sich jedoch zwangsläufig um eine „Problemgruppe“, da den meisten Familien durchaus eine Bewältigung ihres Alltags gelingt. Gesondert betrachtet wurde in diesem Beitrag die Situation von Familien in benachteiligter Lebenslage. Sie weisen häufig eine Kumulation von Problemlagen auf, in der die kindliche Behinderung einen zusätzlichen Risikofaktor für soziale Ungleichheit darstellen kann. Aber auch hier wäre es verfehlt, benachteiligte Familien generell zu gefährdeten Familien zu erklären. Auch ihnen gelingt es vielfach, sich den Herausforderungen anzupassen. Familien, die damit jedoch Probleme haben, benötigen Unterstützung. Zu dieser Gruppe gehört eindeutig die im Fallbeispiel vorgestellte Familie. Klar erkennbar sind die negativen Auswirkungen auf alle Familienmitglieder, insbesondere auf die Hauptpflegeperson. Angesichts ihrer drohenden Überforderung kann das Risiko eines Zusammenbruchs der Pflegesituation mit der Notwendigkeit einer kurz- oder langfristigen Heimaufnahme des Kindes nicht von der Hand gewiesen werden. Erschreckend gering ob dieser Gefahr ist das Maß an professioneller Hilfe im Hinblick auf die Bedürfnisse und Unterstützungserfordernisse der Hauptpflegeperson. Offensichtlich wird die prekäre Situation der Familie von keiner Stelle im Gesundheits- und Sozialsystem wahrgenommen. Um eine Benachteiligung speziell vulnerabler Personengruppen zu vermeiden oder zumindest abzumildern, ist eine gezielte und systematische Unterstützung durch das professionelle Hilfesystem im Sinne von Primärprävention erfor-
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derlich. An dieser Stelle weist das bundesdeutsche Gesundheitswesen jedoch bislang eine Leerstelle auf. Zwar verfügen wir über ein durchaus gut ausgebautes System der Hilfen, insbesondere im Hinblick auf Fördermaßnahmen für das behinderte Kind. Die Situation der Gesamtfamilie und insbesondere sozial benachteiligter Familien bleibt jedoch weitgehend unbeachtet. Ansatzpunkte einer Unterstützung lassen sich für verschiedene Bereiche identifizieren, die im Folgenden stichwortartig skizziert werden sollen:
psychosoziale Unterstützung: frühzeitiges Erkennen von Be- und Überlastung, Krisenintervention, Unterstützung beim Prozess der Bewältigung, Hilfestellung bei Partnerschaftskonflikten oder Geschwisterproblematiken, Förderung des Austausches mit ebenfalls betroffenen Familien, etc., zeitliche Entlastung: Aufzeigen von Entlastungsangeboten, Vermittlung zu Familienunterstützenden Diensten, qualifiziertes Babysitting, Wochenendund Freizeitbetreuung für behinderte Kinder, Kurzzeitpflege für Kinder, etc., sozialrechtliche Hilfestellung: Beratung über finanzielle Hilfen verschiedener Kostenträger, Unterstützung im Kontakt mit Behörden und Institutionen, Vorbereitung und Begleitung der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit, etc., Beratung und Anleitung: Förderung des Verständnisses für das „AndersSein“ des Kindes, Informationsvermittlung über Art und Auswirkung der jeweiligen Behinderung, Beratung im Umgang mit Kommunikationsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten, Erziehungsberatung, Vermittlung spezieller Pflegetechniken, Wohnraumberatung, etc.
Professionelle Hilfeleistung darf sich dabei nicht auf punktuelle Unterstützung beschränken. Gefordert ist vielmehr speziell für Familien in benachteiligter Lebenslage eine kontinuierliche Begleitung im Sinne einer Monitoring-Instanz (Schaeffer 2004: 279), die als zugehendes Angebot gestaltet wird und zu deren Hauptaufgaben die am konkreten Unterstützungsbedarf ausgerichtete Organisation, Koordination, Moderation, Planung, Steuerung und Evaluation von Hilfen gehört. Umfassende Unterstützung kann nur durch ein multidisziplinäres Team geleistet werden. Eine Schlüsselrolle in der Koordination dieser Hilfen und in der Wahrnehmung der Monitoring-Funktion könnte zukünftig der Berufsgruppe der professionell Pflegenden zukommen. Pflegekräfte, insbesondere aus dem ambulanten Bereich, sind mit häuslichen Versorgungsproblematiken im Falle von Krankheit, Behinderung und Pflegebedürftigkeit vertraut. Sie haben einen starken Bezug zur Lebenswelt pflegebedürftiger Menschen und ihrer Familien. Al-
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lerdings verhindern hierzulande strukturelle und finanzielle Bedingungen sowie eine mangelnde Qualifizierung der Pflege selbst zur Zeit noch eine Übernahme familienorientierter Aufgaben, wie sie beispielsweise in den USA bereits seit Jahrzehnten durch die Community Health Nurse geleistet werden (Klainberg et al. 1998). Ihr Einsatzgebiet umfasst ein weites Spektrum an Leistungen der Gesundheitsförderung, Gesundheitserziehung und Prävention für Einzelpersonen, Familien und Gruppen. Denkbar wäre ein ähnliches Modell in Deutschland zur Unterstützung von Familien mit einem behinderten Kind. Ein Konzept, welches hierzulande seit einigen Jahren in pflegerischen Fachkreisen diskutiert und inzwischen in ersten Weiterbildungen umgesetzt wird, ist das Konzept der Familiengesundheitsschwester (Wagner 2000; Gehring et al. 2001). Ausgangspunkt dieser Bestrebungen bildet das Programm der Weltgesundheitsorganisation „Gesundheit für alle im 21. Jahrhundert“, in dem der pflegerischen Profession eine zukünftig bedeutende Rolle in den Bereichen Gesundheitsförderung und Prävention zugewiesen wird. Speziell die Familiengesundheitsschwester soll „dem einzelnen Menschen und ganzen Familien helfen, mit Krankheit und chronischer Behinderung fertig zu werden und in Stresssituationen zurechtzukommen,…“ (WHO 1999: 169). Die Unterstützung von Familien mit einem behinderten Kind könnte somit ein zentrales Handlungsfeld bilden. Zur Wahrnehmung der Monitoring-Funktion erscheint auch die Einführung eines pflegerischen Case Managements sinnvoll. Zum Wesen des Case Managements gehört die langfristige Begleitung von Klienten über den gesamten Krankheits- und Betreuungsverlauf sowie über Sektorengrenzen hinweg (Ewers/ Schaeffer 2005). Dabei nimmt der Case Manager idealerweise verschiedene Funktionen wahr: die anwaltschaftliche, die vermittelnde und die selektierende Funktion (ebd.). Für Familien mit einem behinderten Kind könnte dies bedeuten, dass der Case Manger ihnen in pflegebezogenen und sozialen Belangen, bei der Bewältigung kritischer Phasen, bei der Suche nach geeigneten Dienstleistungen oder im Kontakt mit Behörden zur Seite steht sowie bei der Wahrnehmung von Überlastungserscheinungen frühzeitig vorbeugende Maßnahmen ergreift. Bevor die Aufgabe einer intensiven Unterstützung von Familien mit einem behinderten Kind wahrgenommen werden kann, bedarf es allerdings einer entsprechenden Qualifizierung der professionell Pflegenden selbst und ihrer Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied im multiprofessionellen Team der Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Notwendig wäre ferner von Seiten der Gesundheitspolitik die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen. Nicht zuletzt bedarf es verstärkt wissenschaftlicher Untersuchungen über die Situation von benachteiligten Familien mit einem behinderten Kind. Aufschlussreich wären beispielsweise Untersuchungen über den Gesundheitszustand pflegender Mütter und speziell von Müttern in benachteiligter Lebenslage, um
Leben mit einem behinderten Kind
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auf der Grundlage dieser Erkenntnisse zielgruppenspezifische Präventionskonzepte zu entwickeln. Identifiziert werden müssen auch die Hintergründe für Zugangsprobleme bestimmter Gruppierungen. Unbedingter Forschungsbedarf besteht ferner über die Auswirkungen sozialer Benachteiligung auf das behinderte Kind selbst. Erst auf der Grundlage genauer Kenntnis der Lebenslage betroffener Familien können die Voraussetzungen für eine wirksame und nachhaltige Hilfe geschaffen werden.
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Christa Büker
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Der Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit …
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Der Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit, Selbstbestimmungschancen und Pflegeorganisation in häuslichen Pflegearrangements älterer Menschen Der Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit …
Josefine Heusinger
1
Einführung
Die meisten alten Menschen möchten bis an ihr Lebensende in ihrem gewohnten Zuhause leben. Werden sie allerdings hilfe- und pflegebedürftig und sind bei der Alltagsorganisation auf Unterstützung angewiesen, müssen sie ein Unterstützungsarrangement finden, sonst ist ein ungewollter Umzug ins Heim schwer zu vermeiden. Im Rahmen des Forschungsprojektes1, auf dessen Ergebnissen die folgenden Ausführungen beruhen, wurden die Aushandlungsprozesse untersucht, die die Entstehung bzw. Veränderungen der Pflegeorganisation in häuslichen Pflegearrangements zum Gegenstand haben. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob die alten pflegebedürftigen Menschen selbst über die Ausgestaltung ihres Pflegearrangements und ihres Alltags bestimmen können bzw. welcher Voraussetzungen es dafür bedarf. Wir gingen von der Vermutung aus, dass die Selbstbestimmungschancen von alten Pflegebedürftigen insbesondere von vier Einflussfaktoren abhängen:
1
ihren individuellen Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Pflegesituation, ihren sozialen Beziehungen, also o ihrem sozialen Netzwerk aus Familie, FreundInnen, professionellen HelferInnen, o der Konstellation ihres Arrangements, ob sie also vornehmlich von (Ehe-)PartnerIn, Kind, NachbarIn oder Pflegedienst versorgt werden, und o der Qualität der Beziehung zu dieser Hauptpflegeperson,
„Steuerung in häuslichen Pflegearrangements im Vergleich zwischen den alten und neuen Bundesländern“, unter der Leitung von Dr. Marianne Heinemann-Knoch gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (GZ HE 3182 1-1/2) 1999-2004.
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Josefine Heusinger den gesetzlichen Rahmenbedingungen, insbesondere dem Pflegeversicherungsgesetz, und ihrer Zugehörigkeit zu einem der verschiedenen sozialen Milieus.
In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf die Darstellung der von uns herausgearbeiteten Auswirkungen der Milieuzugehörigkeit auf die Organisation der untersuchten häuslichen Pflegearrangements.2 Abschließend werde ich darauf eingehen, welchen Zusammenhang es von Selbstbestimmung und Milieuzugehörigkeit gibt.
2
Die Bedeutung der Milieuzugehörigkeit für die Untersuchung
Weshalb haben wir uns überhaupt dafür entschieden, die sozioökonomische Lage der befragten Pflegebedürftigen nicht nur mit den gängigen und vielfach bewährten Variablen Einkommen, Bildung, Beruf zu erfassen, sondern sie nach Zugehörigkeit zu sozialen Milieus zu differenzieren? Zunächst gab es zur Zeit der Vorbereitung des Projektes verschiedene Hinweise darauf, dass sich die häuslichen Pflegearrangements in den alten und neuen Bundesländern in einigen Punkten unterschieden, die nicht einfach durch den Systemunterschied in der Versorgung zu erklären waren (Schneekloth/Potthoff 1993; Wahl/Wetzler 1998). Warum z.B. pflegten in der DDR mehr Männer? Es galt ein Verständnis von häuslichen Pflegesituationen zu entwickeln, das Antworten auf solche Fragen erlaubt. Dafür genügen die genannten Items nicht. Was bewegt also die Menschen, die mit Pflegebedürftigkeit umgehen müssen? Pflegebedürftig zu werden bedeutet für die Betroffenen per definitionem, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Diese Hilfe kann gekauft werden – wenn das Geld dafür da ist. Einkommen und Vermögen sind also in jedem Fall wichtig. Bekanntlich kaufen sich aber gut 2/3 der Pflegebedürftigen, die in einem Privathaushalt leben, zumindest keine offizielle professionelle Hilfe ein. Und auch in dem Drittel der Arrangements, an denen Pflegedienste beteiligt sind, wird ein Großteil der erforderlichen Unterstützung von Angehörigen erbracht (Schneekloth/Wahl 2006). Die Höhe des Einkommens allein genügt folglich nicht zur Erklärung dieser Phänomene. Ganz offensichtlich spielen Einstellungen und Erwartungen der Pflegebedürftigen selbst und ihrer Angehörigen über optimale Pflegeorganisation und über Investitionen von Geld in die Pflege eine wichtige Rolle. Gerade für die benötigte praktische Unterstützung ist über das ökonomische Kapital hinaus auch die Leistungsfähigkeit des sozialen Netzwerks, 2
Eine umfassende Darstellung der Untersuchung findet sich in Heusinger/Klünder (2005).
Der Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit …
303
also das soziale Kapital, sehr wichtig, und muss deshalb zur Beantwortung der Fragestellung erfasst werden. Bildungsstand und (früherer) Beruf könnten ebenfalls Indikatoren für einen bestimmten Umgang mit der Ausgestaltung von Pflegearrangements sein. Beim Umgang mit Pflegebedürftigkeit, ganz besonders wenn sie plötzlich eintritt, kommt es aber vor allem darauf an, sich schnell gezielt zu informieren. Dafür ist es entscheidend, geeignete Wege zur Informationsbeschaffung und –bewertung zu kennen. Informiertsein über Angebote und Möglichkeiten, sie zu nutzen, sind die Voraussetzung dafür, auswählen zu können. Insofern geht es gerade bei den oft hochaltrigen Pflegebedürftigen mehr um das inkorporierte kulturelle Kapital, womit die Wertschätzung von Wissen und die Wege zu seiner Aneignung gemeint sind, als um das institutionalisierte kulturelle Kapital, das formalisierte Abschlüsse, also Bildung und Beruf, umfasst (Bourdieu 1997c: 49-79). Die Stärke des Konzeptes der sozialen Milieus (Bourdieu 1987), das wir verwendet haben, liegt erstens darin, dass es die ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen, die einem Menschen zur Verfügung stehen, einbezieht und zweitens die Einstellungen, Erwartungen und Gewohnheiten berücksichtigt, die im Laufe der lebenslangen Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner Umwelt zu einem milieuspezifischen Habitus verschmelzen, der die Vorstellungen von einem jeweils situationsentsprechend angemessenem Verhalten beinhaltet. Dies zeigt sich in milieutypischer Weise z.B. an Vorstellungen von den Geschlechterrollen oder Familiensolidarität, die wiederum große Auswirkungen auf den Umgang mit Pflegebedarf haben. Die Analyse und Differenzierung der sozialen Milieus, aus denen sich eine Gesellschaft zusammensetzt, ist empirisch sehr aufwändig (Bourdieu 1982; Bourdieu et al. 1997; für die Bundesrepublik Schultheis/Schulz 2005). Wir mussten uns daher auf bereits erforschte und empirisch gesicherte Milieubeschreibungen stützen. Hier boten sich die Arbeiten der Forschungsgruppe agis um Michael Vester an, die auf Basis der Sinusmilieus (Sinus-Institut 1992) 18 Milieus in den alten und neuen Bundesländern beschreiben (Vester et al. 2001; Vester et al. 1995). Aus diesen Milieus haben wir für die Untersuchung diejenigen ausgewählt, denen einerseits der größte Teil der älteren Bevölkerung zuzurechnen ist (Infratest Sozialforschung et al. 1991) und die andererseits die gesellschaftliche Schichtung von oben nach unten repräsentieren (vgl. Tab. 1). Sie sind alle durch einen überwiegend traditionalen Habitus geprägt.
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Josefine Heusinger
Tabelle 1: Milieustruktur der alten Bundesländer/Vergleich der Altersgruppen Jüngere Generation 18 – 30 Jahre
Mittlere Generation 31 – 54 Jahre
Ältere Generation 55 – 70 Jahre
Aufstiegsorientiertes Milieu
36%
31%
16%
Technokratisch – liberales Milieu
13%
9%
3%
Hedonistisches Milieu
23%
10%
4%
Alternatives Milieu
3%
2%
2%
Konserv. gehobenes Milieu
2%
7%
15%
Kleinbürgerliches Milieu
7%
21%
41%
Traditionelles Arbeitermilieu
3%
6%
8%
Traditionsloses Arbeitermilieu
13%
14%
10%
Milieu
Aus: Infratest Sozialforschung et al. (1991), S. 43
Aufgrund der genannten Kriterien haben wir insgesamt 8 Milieus in der Untersuchung berücksichtigt, jeweils vier Milieus in den alten und vier in den neuen Bundesländern. Die Tabelle 2 zeigt sie im Überblick. Tabelle 2: In die Untersuchung einbezogene Milieus Alte Bundesländer
Neue Bundesländer
Konservativ-Gehobenes Milieu
Rationalistisch-Technokratisches Milieu
Kleinbürgerliches Milieu
Kleinbürgerlich-Materialistisches Milieu
Traditionelles Arbeitermilieu
Traditionsverwurzeltes Arbeitermilieu
Traditionsloses Arbeitermilieu
Traditionsloses Arbeitermilieu
3
Das Untersuchungsdesign
Die Untersuchung wurde in jeweils einer ländlich-kleinstädtischen Region der alten und neuen Bundesländer sowie in Ost- und Westberlin durchgeführt. Der Zugang zu den Pflegebedürftigen erfolgte über verschiedenste „Türöffner“ (Pflegedienste, Senioreneinrichtungen, Seniorenkreisleiter, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, PhysiotherapeutInnen ...). Befragt wurden jeweils getrennt die Pflegebedürftigen selbst und ihre häuslichen Pflegepersonen sowie, wenn betei-
Der Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit …
305
ligt, eine Pflegekraft, die uns von den Pflegebedürftigen als die netteste, am besten vertraute benannt wurde. Die qualitativen Interviews wurden entlang von Leitfäden geführt. Insgesamt haben wir mehr als 60 Pflegearrangements mit durchschnittlich jeweils drei Beteiligten befragt, von denen 27 in die Auswertung einbezogen wurden3. Die Auswahl für die Auswertung folgte mehreren Kriterien, u.a. dem der Zugehörigkeit zu den ausgewählten Milieus, die sich mit einiger Zuverlässigkeit immer erst nach den Interviews und einer ersten, groben Auswertung erkennen ließ. 20 Pflegearrangements konnten wir nach zwei Jahren noch einmal befragen.
4
Milieuzuordnung
Bei der Zuordnung zu den sozialen Milieus zogen wir folgende Kriterien heran, auf denen auch die genannten Milieubeschreibungen basieren4:
Kapitalressourcen in den verschiedenen Formen Einstellung zum Geld Bildung/Berufsposition Wohnungseinrichtung/Konsumverhalten Freizeitverhalten/Soziales Netzwerk Einstellung zur Familie/zu Geschlechterrollen Einstellung zu Staat/Institutionen
Die nötigen Informationen bekamen wir durch Beobachtung und Befragung, auch deshalb besuchten wir die Pflegehaushalte immer zu zweit, um unsere Eindrücke anschließend gemeinsam bewerten zu können. Wenigstens eine der beiden Interviewerinnen stammte jeweils aus dem Teil der Bundesrepublik, in dem die Befragung stattfand. Es ist uns gelungen, Pflegearrangements aus allen acht ausgewählten Milieus zu befragen, wobei sich der Zugang zu den traditionslosen als besonders schwierig erwiesen hat. Da sich die ganze Untersuchung am Blickwinkel der Pflegebedürftigen selbst orientierte, entschieden wir uns, die Milieuzuordnung der Pflegearrangements anhand der Pflegebedürftigen vorzunehmen. Auch aus praktischen Gründen war das sinnvoll, weil wir in deren Wohnungen waren, also die Einrichtung 3 In einem der 27 Pflegearrangements wurden zwei Schwestern zusammen von Familienangehörigen betreut, deshalb ist verschiedentlich von 28 Pflegebedürftigen die Rede. 4 Grundlage dieser Milieubeschreibungen sind auf Basis qualitativer Interviews entwickelte Fragenkataloge, mit denen milieutypische Einstellungen etc. erhoben werden können, vgl. Dokumentation der Fragen in Vester et al. (2001).
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Josefine Heusinger
und die Bewertung der Nachbarschaft in unsere Beobachtungen einbeziehen konnten. Von den Pflegenden sahen wir, wenn sie nicht im gleichen Haushalt lebten, die Wohnungen oft gar nicht.5 Tabelle 3: Verteilung der befragten Pflegebedürftigen auf die Milieus Soziale Milieus
N = 28
Konservativ-Gehobenes Milieu/abl
5
Rationalistisch-Technokratisches Milieu/nbl
4
Kleinbürgerliches Milieu/abl
6
Kleinbürgerlich-Materialistisches Milieu/nbl
2
Traditionelles Arbeitermilieu/abl
3
Traditionsverwurzeltes Arbeitermilieu/nbl
6
Traditionsloses Arbeitermilieu/abl
1
Traditionsloses Arbeitermilieu/nbl
1
5
Ergebnisse
Wie wirken sich nun die unterschiedlichen Einstellungen und Kapitalausstattungen in den sozialen Milieus auf die Pflegeorganisation und Selbstbestimmungschancen der Pflegebedürftigen aus?
5 Dieses Vorgehen hatte im Nachhinein einige Nachteile: 1. Die Zuordnung der Pflegebedürftigen war zuverlässig immer erst nach dem Interview möglich, wenn wir die Wohnung und die Antworten auf bestimmte Fragen kannten. U.a. deshalb konnten wir etliche – aufwändig untersuchte – Pflegearrangements nicht in die Auswertung einbeziehen, weil sie nicht den ausgewählten Milieus zuzuordnen waren. 2. Anders als wir erwartet hatten, gab es manchmal erhebliche Milieusprünge zwischen den Pflegebedürftigen und ihren Kindern. Wenn die Kinder dann im Arrangement stark steuerten, war die Gewichtung der Milieueinflüsse schwierig. 3. Einige Pflegebedürftige, die als Kinder von LandarbeiterInnen geboren wurden, dann später in die Stadt zogen und dort mehr oder weniger erfolgreiche Karrieren durchliefen, waren ebenfalls z.T. schwer zuzuordnen. Die Milieulandschaft hat sich in den zurückliegenden 80 Jahren so stark verändert, dass die Implikationen für die empirische Nutzung des Milieukonzepts auch daraufhin noch zu diskutieren sind.
Der Zusammenhang von Milieuzugehörigkeit …
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5.1 Die Gehobenen Milieus: Das Konservativ-Gehobene Milieu (KGM) der alten und das Rationalistisch-Technokratische Milieu (RTM) der neuen Bundesländer Pflegebedürftige aus den gehobenen Milieus in Ost und West verfügen in der Regel über eine in jeder Hinsicht gute Kapitalausstattung und haben damit zunächst gute Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Gestaltung ihres Pflegearrangements. Vor allem ihr ökonomisches Kapital setzen sie ein, um nötigenfalls Hilfen zu kaufen, sowohl bei Pflegediensten als auch privat, und das auch schon vor Zuerkennung einer Pflegestufe. Dabei wird auf Qualität geachtet, auch gegenüber den Pflegediensten treten diese Pflegebedürftigen durchaus als KundInnen auf. Einschränkungen in der selbstbestimmten Alltagsgestaltung entstehen vor allem, wenn das ökonomische Kapital nicht ausreicht, denn es ist in diesen Milieus nicht üblich, im (außerfamilialen) sozialen Netzwerk praktische Hilfe auszutauschen. Man geht zusammen ins Theater, unterstützt sich emotional, aber hilft sich nicht z.B. beim Putzen. Welche Auswirkungen mangelndes ökonomisches Kapital für die Versorgung der Pflegebedürftigen im gehobenen Milieu hat, zeigt das Beispiel von Frau L. aus den alten Bundesländern, einer ostpreußischen Gutsbesitzerstocher, die nach der Flucht verarmt ist. Von ihren Einstellungen her ist sie bis heute dem KGM zuzurechnen, aber sie verfügt nur über eine vergleichsweise kleine Rente. Sie kann sich nicht noch mehr formelle und professionelle Hilfe leisten, möchte aber niemand um unentgeltliche Hilfe bitten. Deshalb muss sie sich mit etlichen Einschränkungen abfinden bzw. immer wieder – und zum großen Ärger der Pflegedienstleitung – versuchen, die Pflegekräfte, die zu ihr kommen, zu zusätzlichen Arbeiten zu überreden, für die sie ihnen dann ein bisschen was zusteckt. Die alten Herren im KGM überlassen die Versorgung möglichst weitgehend ihren Ehefrauen und Töchtern. Sie sind über Details oft schlecht informiert, wissen ihre Interessen aber mit Hilfe des symbolischen Kapitals, das ihnen in ihrer Funktion als altem Familienoberhaupt zukommt, zu behaupten. Die Pflegebedürftigen im KGM verfügen sowohl über formelles kulturelles Kapital in Form von entsprechenden Bildungsabschlüssen und früheren beruflichen Positionen als auch über inkorporiertes Kapital im Sinne einer Wertschätzung von Wissen und Informationen. Dadurch wissen sie, teilweise auch gestützt auf ihre (Schwieger-) Kinder, über Ansprüche gegenüber Leistungsträgern wie Kranken- und Pflegekassen gut Bescheid und gehen mit diesen so souverän um, dass es kaum zu Mängeln in der Basisversorgung kommt. Das fällt den befragten Pflegebedürftigen im RTM der neuen Bundesländer schwerer. Sie kennen ihre Rechte nicht so gut, erwarten eher, unaufgefordert informiert zu werden und bezahlen nach Möglichkeit eher selbst etwas, als sich mit den Institutionen anzu-
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Josefine Heusinger
legen. In beiden gehobenen Milieus fungiert das kulturelle Kapital außerdem als wichtige Bewältigungsressource, weil intellektuelle Interessen auch bei Pflegebedarf leichter weiter verfolgt werden können als handwerkliche, gärtnerische oder Handarbeiten, und so zu Zufriedenheit und Selbstbewusstsein beitragen. Der größte Unterschied zwischen den gehobenen Milieus in den alten und neuen Bundesländern besteht hinsichtlich der Pflegeerwartungen gegenüber den Kindern. Im KGM wird der Familie und ihrem Zusammenhalt ein sehr hoher Wert beigemessen, von den Kindern im Pflegefall viel Unterstützung erwartet und oft auch geleistet. Wenn die (Schwieger-)Kinder diese Hilfen mehr aus Pflichtgefühl denn aus Zuneigung erbringen, besteht allerdings die Gefahr, dass sie im Arrangement auch gegen die Selbstbestimmungsinteressen der Pflegebedürftigen steuern. Dieses Risiko besteht für die Pflegebedürftigen im RTM nicht, weil sie von ihren Kindern ohnehin viel weniger Unterstützung erwarten und ihre Versorgung unabhängiger von ihnen organisieren. Das heißt nicht, dass die emotionalen Bindungen weniger eng wären, vielmehr gibt es einen Konsens darüber, dass jede Generation selbst für ihren Alltag verantwortlich ist. Zusammengefasst haben die Pflegebedürftigen in den gehobenen Milieus aufgrund ihrer umfassenden Ressourcenausstattung gute Chancen, ihren Pflegealltag selbstbestimmt zu regeln. Restriktionen für die Selbstbestimmung können aus Mängeln an ökonomischem Kapital entstehen, die nicht ohne weiteres durch soziales Kapital zu kompensieren sind.
5.2 Die kleinbürgerlichen Milieus: Das Kleinbürgerliche Milieu (KBM) der alten und das Kleinbürgerlich-Materialistische Milieu (KBMatM) der neuen Bundesländer In den kleinbürgerlichen Milieus ist die Familie, zu der über die Kernfamilie hinaus ggf. auch Nichten, Neffen oder andere weitläufigere Verwandte zählen, die wichtigste Säule der Versorgung im Pflegefall. Von den Familienangehörigen, zumindest von den in der Nähe Wohnenden, wird unter Verweis auf den Familienzusammenhalt und generalisierte Reziprozitätserwartungen Hilfe erwartet und geleistet. Bei Lücken in der Versorgung werden Pflegedienste eingeschaltet, allerdings möglichst nur im Rahmen des von der Pflegeversicherung gedeckten Umfangs. Das Geld ist in den kleinbürgerlichen Milieus durchschnittlich knapper als in den gehobenen und wird nicht so leicht in die Pflege investiert. Es wird zwar weithin akzeptiert, dass die Versorgung Geld kostet, die Sorge, dabei unnötig zur Kasse gebeten zu werden, ist aber groß. Für die von uns Befragten markiert besonders in den neuen Bundesländern das Einkommen der Pflegebedürftigen
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selbst die Grenze des Bezahlbaren, die Familie soll darüber hinaus finanziell nicht in Anspruch genommen werden. In diesen Milieus waren Vereinbarungskonflikte der Pflegenden zwischen Beruftätigkeit und Pflege öfter Thema in den Aushandlungsprozessen. Praktische Unterstützung aus dem außerfamilialen Netzwerk nehmen Pflegebedürftige aus den kleinbürgerlichen Milieus nur an, wenn sie sich dafür materiell erkenntlich zeigen können. Fehlen ihnen Mittel oder Möglichkeiten zur Reziprozität, verzichten sie lieber auf die Hilfen, auch wenn das ihre Lebensführung einschränkt. Die sozialen Netzwerke der befragten kleinbürgerlichen Pflegebedürftigen in den neuen Bundesländern sind größer und bieten im Unterschied zu denen im Westen auch mehr wichtige kognitive Hilfen. In den kleinbürgerlichen Milieus ist die Ausstattung der befragten Pflegebedürftigen mit kulturellem Kapital sehr unterschiedlich. Neben einigen alleinstehenden Frauen, die ihre Rechte gegenüber Leistungserbringern wie Pflegediensten sehr energisch einfordern, weil sie z.B. ihre Kenntnisse als Buchhalterin akribisch einsetzen, sind etliche schlecht informiert. Daraus resultiert oft eine besondere Abhängigkeit von den jüngeren Pflegepersonen, denn diese sind in der Regel besser über Versorgungsmöglichkeiten informiert und haben eine entsprechende Kundenmentalität. Sie können eher als die Pflegebedürftigen selbst gegenüber den Institutionen als KundInnen auftreten. Deshalb werden sie von den Pflegebedürftigen an den entsprechenden pflegeorganisatorischen Entscheidungen zumindest beteiligt, manchmal treffen die Pflegepersonen sie auch allein. Das gilt noch mehr in den neuen Bundesländern als in den alten, weil es für Pflegebedürftige im Osten oft noch schwieriger ist, sich mit den Versorgungsangeboten und Institutionen zurecht zu finden. Ein weiterer Ost-West-Unterschied in den kleinbürgerlichen Milieus liegt im Zusammenwohnen von Pflegenden und Gepflegten. Die Vorstellung, dass der vielbeschworene Familienzusammenhalt durch die Aufnahme pflegebedürftiger Eltern im Hause der (Schwieger-)Kinder seinen praktischen Ausdruck finden sollte, ist bei Pflegenden und Gepflegten im Kleinbürgerlichen Milieu der alten Bundesländer besonders verbreitet. In Verbindung mit den eher begrenzten ökonomischen Ressourcen führt dieses Ideal vermehrt dazu, dass Pflegebedürftige und Pflegepersonen z.B. im Einfamilienhaus zusammen wohnen,– eine Entscheidung, die die Beziehungsqualität auf eine harte Probe stellt und in der Folge die Selbstbestimmung (nicht nur der Pflegebedürftigen) gefährden kann. Zusammengefasst ist im KBMatM in der ehemaligen DDR die Ausstattung mit sozialem Kapital besonders gut, so dass die Pflegebedürftigen die benötigte praktische und emotionale Unterstützung damit weitgehend absichern können. Um praktische Versorgungslücken zu schließen, werden Pflegedienste eingeschaltet. Von den Familienangehörigen wird finanzielle Unterstützung möglichst
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nicht in Anspruch genommen, aber praktische Hilfe erwartet. Das kulturelle Kapital der Pflegebedürftigen ist im Hinblick auf die institutionellen Fragen im Umgang mit dem Pflegebedarf wendebedingt entwertet worden, weil sie sich heute im System der Bundesrepublik zurechtfinden müssen. Sie sind aber an Informationen interessiert; die für eine gute Versorgung nötigen Informationen bekommen sie eher von den jüngeren Pflegepersonen. Die meisten Pflegebedürftigen im KBM der alten Bundesländer sind bemüht, möglichst wenig Geld an die Pflegedienste zu zahlen und dadurch ihr ökonomisches Kapital zusammenzuhalten. Stattdessen bezahlen sie lieber etwas für HelferInnen aus ihrem Umfeld, denen gegenüber sie dann auch weisungsbefugt sind. Ihr soziales Kapital ist vor allem emotional und damit als Bewältigungsressource wichtig, denn praktische Hilfe bekommen sie dadurch nur punktuell. Die Ausstattung mit kulturellem Kapital schwankt stark, oft haben eher die jüngeren Pflegepersonen die erforderlichen Kenntnisse, aber in der Regel reichen sie aus, um zu wissen, wie eine gute Versorgung aussehen kann und was dafür zu tun ist.
5.3 Die Arbeitermilieus: Das Traditionelle Arbeitermilieu (TAM) der alten und das Traditionsverwurzelte Arbeitermilieu (TVAM) der neuen Bundesländer In den Arbeitermilieus decken die Pflegebedürftigen ihren Unterstützungsbedarf mit Hilfe ihres sozialen Kapitals. Familiales und außerfamiliales Netzwerk leisten mit der Begründung, dass die alten Pflegebedürftigen Anspruch auf Solidarität haben, Unterstützung aller Art. Selbst bei schwierigen Beziehungen, wie der von Herrn L. zu seiner Tochter, hilft ihm diese viel und verlässlich, eben weil er ihr Vater ist. Auch das gespannte Verhältnis von Frau F. zu ihrer Tochter wird im milieutypisch allgemein eher pragmatischen als gefühlsbetonten Pflegealltag möglichst ignoriert. Im TAM der alten Bundesländer ist die Bereitschaft zu pflegebedingten Ausgaben sehr gering. Dafür ist weniger der Umfang des tatsächlich zur Verfügung stehenden ökonomischen Kapitals ursächlich, als vielmehr die grundsätzliche Einstellung, dass Ausgaben für professionelle Pflege unangemessen sind. Das im Leben Erarbeitete und Ersparte soll auf keinen Fall für die Pflege „draufgehen“, sondern die Versorgung wird möglichst im Kreise der Familie, KollegInnen und NachbarInnen geregelt, die mit großer Selbstverständlichkeit eingeplant werden. Anders als in den kleinbürgerlichen Milieus sind kleine (finanzielle) Gegenleistungen auch innerhalb des familialen Netzwerkes durchaus üblich. Müssen dann doch professionelle Dienste hinzugezogen werden, wird ihrer Arbeit eher unkritisch begegnet, solange die vertraglich vereinbarten Leistungen
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erbracht werden. Beispielsweise äußerten fast alle Befragten aus diesem Milieu Verständnis für die schwierigen Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals. Im TVAM der neuen Bundesländer ist die Bereitschaft größer, das (wenige) vorhandene Geld für die Pflege auszugeben. Es bestehen allerdings deutliche Unterschiede im Umgang mit dem Pflegebedarf zwischen den Pflegebedürftigen in der Stadt und auf dem Land. Die befragten ehemaligen ArbeiterInnen der LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften der DDR) haben wenig ökonomisches Kapital, können sich aber in beeindruckender Weise auf nachbarschaftliche Solidarität verlassen, die zudem ihre Selbstbestimmung dadurch stützt, dass viele und unterschiedliche Menschen involviert sind. Als Gegenleistungen sind hier neben eher symbolischen Geldsummen auch Naturalien oder ein guter Rat akzeptiert. Die Netzwerke der Befragten in der Stadt sind etwas weniger hilfreich, insbesondere zeigte sich, dass ein Umzug von einem Stadtteil in einen anderen in diesem Milieu große Lücken im Netzwerk hinterlässt. Dafür haben sie meist höhere Renten und greifen dann auf bezahlte Hilfe, auch aus der Familie, zurück. So zahlt Herr L. seiner arbeitslosen Tochter 150 € monatlich für ihre hauswirtschaftliche Hilfe. In den Arbeitermilieus haben die Pflegebedürftigen meist nur wenig kulturelles Kapital, das sie im Umgang mit den Leistungsanbietern einsetzen können. Wenn ihnen Rechte und Ansprüche bekannt sind, z.B. auf ein Hilfsmittel, werden sie aber hartnäckig geltend gemacht, und einigen ist aus ihrem Arbeitsleben bewusst, wie wichtig Informationen sind, um Rechte durchzusetzen. Im westdeutschen TAM beschränkt sich das Wissen überwiegend auf Kosten und Preise, die dann bei der Pflegeorganisation bedacht werden. Dabei greifen die befragten Pflegebedürftigen gerne auf den Rat jüngerer Familienmitglieder zurück, wollen aber meist selbst wenigstens mitentscheiden. Insbesondere im TVAM auf den Dörfern der neuen Bundesländer sind allerdings manchmal die ganzen Netzwerke im Hinblick auf Rechtsansprüche nicht sehr hilfreich, weil sich keiner gut auskennt. In der Folge werden Pflegestufen nicht oder spät beantragt, die Hilfsmittelausstattung ist oft sehr schlecht, was nur zum Teil mit Improvisationstalent ausgeglichen werden kann. Mangelndes kulturelles Kapital kann auch noch schwerwiegendere Folgen für die Selbstbestimmungschancen haben: Eine Pflegebedürftige, die in ihrem alten Haus mit Hilfe von NachbarInnen und Familie bei der ersten Befragungswelle ganz gut zurecht kam, war beim zweiten Interview im Heim. Obwohl sie nach einem Krankenhausaufenthalt eigentlich wieder nach Hause wollte, konnte sie sich mit diesem Wunsch nicht gegen die Meinung von Ärzten, Sozialdienst und letztlich auch ihrem Neffen durchsetzen. Dabei hatte sich ihr Pflegebedarf nicht verändert.
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Zusammengefasst entstehen für die Pflegebedürftigen in den Arbeitermilieus vor allem dann Gefahren für die Selbstbestimmung, wenn es an sozialem Kapital fehlt, weil die Ressourcen an kulturellem und ökonomischem Kapital nicht für die Absicherung einer selbstbestimmten Alltagsführung ausreichen. Fehlende Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten in der Häuslichkeit können die Versorgungsqualität empfindlich beeinträchtigen und im Dschungel der Institutionen sogar zu ungewollten Heimumzügen führen.
5.4 Die traditionslosen Arbeitermilieus der alten (TLO/abl) und neuen Bundesländer (TLO/nbl) Von den befragten Pflegearrangements aus diesen Milieus haben wir nur je eines aus den alten und neuen Bundesländern ausgewertet. Das Beispiel der von uns befragten pflegebedürftigen Frau H. aus dem TLO der alten Bundesländer zeigt, wie schwierig eine selbstbestimmte Lebensführung für eine Pflegebedürftige ist, die praktisch nicht über Kapital welcher Art auch immer verfügt, das sie nach ihren Vorstellungen einsetzen könnte. Sie lebt von Sozialhilfe und die Leistungen der Pflegeversicherung gehen vollständig an den Pflegedienst, der sie versorgt. Ihr einziger regelmäßiger Sozialkontakt ist die Pflegekraft dieses Pflegedienstes, die dreimal in der Woche für zwei Stunden zu ihr kommt, weil das Sozialamt für soziale Betreuung zusätzlich noch etwas an den Pflegedienst zahlt. Eine Nachbarin trifft sie einmal in der Woche, zu ihren Söhnen hat sie keinen Kontakt. Die Pflegekraft des Pflegedienstes, selbst ungelernt, die den größten Teil der nötigen Hilfen erbringt, ist für diese pflegebedürftige alte Frau die allerwichtigste Bezugsperson geworden und fühlt sich selbst überfordert und alleingelassen mit den daraus resultierenden Erwartungen. Die Pflegebedürftige ist sehr geschickt darin, durch demonstrative Hilflosigkeit über das vereinbarte Maß hinaus Unterstützung von ihr zu mobilisieren. Die Pflegebedürftige hat kaum kulturelles Kapital und Schwierigkeiten, ihren Alltag zu regeln. Für die Pflegeorganisation ist sie völlig auf die Angebote öffentlicher Fürsorge angewiesen, die für sie die einzige verlässliche Quelle für Unterstützung sind. Ihre Selbstbestimmungsmöglichkeiten hängen somit weitgehend vom guten Willen der RepräsentantInnen der öffentlichen Fürsorge bzw. der professionellen Pflegekräfte ab, die über die Erfüllung ihrer Wünsche befinden und den Rahmen für ihre Entscheidungen festlegen. Die befragte Frau G. aus dem TLO der neuen Bundesländer lebt in einem Dorf. Sie hat eine sehr kleine Rente, zusätzliche Sozialhilfe erhält sie nicht. Ihre Tochter und deren Lebensgefährte unterstützen sie nach Kräften. Für ein Taschengeld kommt außerdem eine Nachbarin und hilft ihr. So kann sie mit ihren
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geringen Ressourcen an sozialem und ökonomischem Kapital ihren Entscheidungsspielraum verglichen mit der Frau aus dem gleichen Milieu im Westen erheblich vergrößern. Mit ihren ausgesprochen bescheidenen Ansprüchen hat sie keine Einschränkungen ihrer Selbstbestimmung zu befürchten, zumal sie als alter Mensch in ihrem sozialen Zusammenhang Ansehen genießt. Sollte sie allerdings einmal auf kulturelles Kapital angewiesen sein, z.B. weil im Krankenhaus die Frage nach einer geeigneten Therapie aufgeworfen oder die Qualität ihrer häuslichen Versorgung angezweifelt wird, geraten ihre Selbstbestimmungsmöglichkeiten in Gefahr. Zusammengefasst zeigt sich am Beispiel der beiden Frauen aus den Traditionslosen Milieus, dass alle Kapitalformen wichtig für die Selbstbestimmungsmöglichkeiten sind. Das mangelnde kulturelle Kapital beschränkt die Selbstbestimmung beider Frauen, auch wenn sich die Pflegebedürftige im Westen vor dem Hintergrund ihrer Ämterkarriere gewisse Steuerungsmöglichkeiten erworben hat. Die Frau aus den neuen Bundesländern kann aufgrund mangelnden kulturellen Kapitals ohne Unterstützung keine öffentlichen Hilfen mobilisieren, ihre vergleichsweise großen Entscheidungsspielräume beruhen auf ihrer Bescheidenheit und ihrer Bereitschaft, ihre (geringen) sozialen und ökonomischen Kapitalressourcen einzusetzen.
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Fazit
Die Betrachtung häuslicher Pflegearrangements durch die Brille verschiedener Milieus zeigt, wie vielfältig verschränkt nicht nur die Ausstattung mit ökonomischem Kapital, sondern gerade auch mit sozialem und kulturellem Kapital auf die Lebenssituation der betroffenen Menschen wirkt. In einer Lebenslage, die per se abhängig macht und zur Mobilisierung vieler Ressourcen zwingt, beeinflussen außerdem milieuspezifische Vorstellungen von richtigem und falschem Umgang mit Pflegebedarf, welche Ressourcen wie und wofür eingesetzt werden. Mit der Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Milieus gehen deshalb unterschiedliche Chancen auf Selbstbestimmung sowie Gefährdungen für die Qualität der Versorgung der Pflegebedürftigen einher, die auf milieuspezifischen Stärken und Schwächen beruhen. Soziale Ungleichheit setzt sich somit nicht nur im Alter fort, sondern entfaltet bei Pflegebedürftigkeit zum Teil kumulative Wirkungen. Eine differenzierte Berücksichtigung dieser Unterschiede im Sinne der Stärkung von Ressourcen und des Ausgleichs von Defiziten ist die Voraussetzung, um allen alten Menschen auch bei Pflegebedürftigkeit ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen.
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Warum Kinder und Jugendliche zu pflegenden Angehörigen werden: Einflussfaktoren auf die Konstruktion familialer Pflegearrangements Warum Kinder und Jugendliche zu pflegenden Angehörigen werden
Sabine Metzing und Wilfried Schnepp
Dieser Beitrag legt seinen Fokus auf eine bislang kaum beachtete Gruppe pflegender Angehöriger: die der Kinder und Jugendlichen, die im Fall von chronischer Erkrankung und Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen an der Bereitstellung familialer Hilfen beteiligt sind. Es werden intervenierende Faktoren vorgestellt und diskutiert, die auf die Konstruktion dieser spezifischen Pflegearrangements Einfluss nehmen.
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Problemdarstellung
Ein großer Teil der täglich anfallenden Pflege- und Behandlungsmaßnahmen bei chronischer Erkrankung wird zu Hause von den Erkrankten selbst und/oder ihren Angehörigen durchgeführt (Corbin/Strauss 1998), und das Ausmaß dieser Leistungen ist immens: Europaweit werden ca. drei Viertel der Pflegebedürftigen von ihren Angehörigen gepflegt (Jani-Le Bris 1993), und diese Situation wird sich zukünftig noch verschärfen, denn mit der zu erwartenden Entwicklung im Gesundheitswesen – d.h., weitere Beschränkung stationärer Kapazitäten und Verminderung der Krankenhausverweildauer – werden immer größere Teile der pflegerischen Betreuung in die häusliche Umgebung verlagert. Die Bedeutung von sozialer Unterstützung durch familiale Netzwerke zur Bewältigung von chronischen Krankheiten wird seit langem wissenschaftlich diskutiert (Badura 1981, Kickbusch 1981, Görres 1993, Kruse 1994) – wie jedoch Familien die vielschichtige Situation konkret bewältigen, ist hierzulande erst jüngst in den Fokus pflegewissenschaftlicher Studien geraten. Heute ist unbestritten, dass Bewältigung von chronischer Krankheit einen komplexen Prozess darstellt, dessen unvorhersehbare Verlaufsdynamik hohe Anpassungs- und Handlungsherausforderungen für alle Beteiligten nach sich zieht (Schaeffer/ Moers 1998). Dieser Bewältigungsprozess wirkt sich auf das gesamte umgebende soziale und vor allem familiale System aus (Strauss/Glaser 1975, Schaeffer/Moers 2000, Corbin/Strauss 2004) und ist ohne hohen Arbeitsaufwand aller
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Beteiligten so gut wie unmöglich (Corbin/Strauss 2004). Schon früh wurde auf die Zerreißproben verwiesen, vor die chronische Krankheiten Familien stellen (Gerhardt/Friedrich 1982), und hiervon sind vor allem weibliche Angehörige, meist erwachsene pflegende Töchter betroffen (Bracker et al. 1988, Görres 1993, Kruse 1994). Das empirische Wissen zur häuslichen Pflege durch Angehörige bezieht sich jedoch vorwiegend auf Situationen, in denen sowohl die zu pflegende als auch die pflegende Person von höherem Alter sind. Doch auch Kinder und Jugendliche sind an der Bereitstellung pflegerischer Hilfen beteiligt. Hier kann getrost von einem blinden Fleck gesprochen werden; mit Ausnahme einer Pilotstudie (Dietz/Clasen 1995, Dietz 1995a, Dietz 1995b) gibt es hierzulande bislang kaum ein öffentliches Bewusstsein dafür, dass Kinder auch pflegende Angehörige sein können. Mit Kindern, die als pflegende Angehörige tätig werden, sind jene gemeint, die das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht haben und regelmäßig für einen oder mehrere Angehörige sorgen, ihnen helfen und sie pflegen. Sie übernehmen dadurch eine spezifische Verantwortung, die gesellschaftlich normalerweise nicht für Kinder vorgesehen ist (Becker 2000) und die sie von Gleichaltrigen unterscheidet. Wir konnten in unserer Studie herausarbeiten, dass Kinder vielfältige Hilfen im Zusammenhang mit einer chronischen Erkrankung eines Angehörigen leisten; sie übernehmen die Tätigkeiten, die durch die Erkrankung unbesetzt sind, sie füllen die Lücke (Metzing et al. 2006). Dabei kann es sich um gelegentliche Hilfestellungen handeln, im Extremfall ist ein Teenager aber auch 24 Stunden alleinverantwortlich im Einsatz. Die Unvorhersehbarkeit des Verlaufs von chronischer Erkrankung bringt mit sich, dass pflegende Kinder über regelmäßige Aufgaben hinaus immer in Bereitschaft sind und ein hohes Maß an Flexibilität entwickeln. Wir können heute konstatieren, dass sich durch Kinder übernommene pflegerische Hilfen in bestimmten Situationen nicht von denen erwachsener pflegender Angehöriger unterscheiden. Familien weisen in Situationen von extremer Belastung ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auf, dennoch warnen Wissenschaftler vor den Folgen der Belastungskumulation für erwachsene pflegende Angehörige, die bei lang andauernder chronischer Krankheit und Pflegebedürftigkeit und der damit verbundenen Fülle der zu bewältigenden Aufgaben nicht ausbleiben wird (Blinkert/Klie 1999, Schnepp 2002). Nicht selten werden pflegende Angehörige ihrerseits selbst unterstützungsbedürftig (Schaeffer/Moers 2000). Diese Warnung gilt gleichermaßen für pflegende Kinder. Britische Wissenschaftler verweisen auf die Vulnerabilität betroffener Familien und prognostizieren, dass sich fehlende Unterstützung der Familien nachhaltig auf die gesamte Entwicklung der Kinder auswirken kann (Aldridge/Becker 1993a). Die hiesige Studie bestätigt, dass Auswirkungen pflegerischer Handlungen auf Kinder und Jugendliche vielfältig
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sein können und von multiplen Faktoren beeinflusst werden (Metzing 2007)1. So berichteten nur wenige Kinder von körperlichen Folgen, was darauf zurückzuführen ist, dass Familien bemüht sind, Belastungen abzufangen und Aufgaben entsprechend der zur Verfügung stehenden Ressourcen zu verteilen, sofern diese vorhanden sind. Für einige Jugendliche wirken sich die pflegerischen Tätigkeiten stark auf ihren Schulalltag aus. Schlafmangel als Folge der vielfältigen Aufgaben und nächtlichen Bereitschaft, führt zu Konzentrationsschwächen und nachlassenden Noten. Die familiale Verantwortung erlaubt keine Zeit zu lernen, in Extremsituationen kommt es zu Fehlzeiten, die sich über Wochen hinziehen können. Je nach Ausmaß ihrer Hilfen erfahren die Kinder auch soziale Auswirkungen. Einige sind so stark in die Pflege ihrer Angehörigen eingebunden, dass sie keine Zeit für sich haben, und wenn dieser Zustand kein vorübergehender sondern ein anhaltender ist, leben sie sozial isoliert und ohne Kontakt zu Gleichaltrigen. Emotionale Auswirkungen, z.B. ‚sich zurückziehen’, ‚traurig sein’, ‚sich sorgen’, ‚Angst haben’, ‚sich schämen’ und ‚überfordert sein’ werden hingegen (in unterschiedlicher Ausprägung) von fast allen Betroffenen erwähnt. Festzuhalten ist, dass sich nachteilige Auswirkungen auf Kinder häufen, sobald keine Ressourcen zur Verfügung stehen und die Pflege des erkrankten Elternteils den familialen Alltag, und somit auch den der Kinder, dominiert (ebd.). Mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurde der gesellschaftliche Beitrag, den erwachsene pflegende Angehörige leisten, erstmalig zur Kenntnis genommen und honoriert. Pflegende Angehörige erhalten abhängig von der Pflegestufe des erkrankten Angehörigen Pflegegeld, sowie Zahlungen von Rentenversicherungsbeiträgen. Zusätzlich wurden Entlastungsangebote geschaffen, die ihnen die dringend benötigten Erholungszeiten erlauben und in dieser Zeit die Kontinuität der Pflege sicherstellen. So ist es einem erwachsenen pflegenden Angehörigen möglich, in den Urlaub zu fahren und den erkrankten Angehörigen in dieser Zeit professionell betreuen zu lassen. Für pflegende Kinder stellt sich die Situation jedoch anders dar. Kinder und Jugendliche erscheinen bislang weder als eine spezifische Gruppe pflegender Angehöriger mit besonderen Bedürfnissen und Problemlagen, noch spielen sie in der gesamten Diskussion zur Entwicklung einer neuen Kultur des Helfens eine Rolle. Ein pflegendes Kind wird im Rahmen der Pflegeversicherung keinen Urlaub beantragen können, um z.B. an der Klassenfahrt teilzunehmen und gleichzeitig in der Sicherheit zu leben, dass die kranke Mutter und evtl. jüngere Geschwister in dieser Zeit gut betreut sind. Dass es diese Entlastungsmöglichkeiten für Kinder nicht gibt, hängt mit dem bislang fehlenden gesellschaftlichen Bewusstsein für die Existenz von pflegenden Kindern zusammen: wir denken Kin1
Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. FKZ: 01GT0319.
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der nicht in dieser Rolle. Erklären lässt sich dies u.a. mit einem weiteren Ergebnis der Studie: Familien, in denen Kinder aufgrund einer chronischen Erkrankung eines Angehörigen in die Pflege eingebunden sind, leben im Verborgenen. Sie scheuen die Öffentlichkeit nicht zuletzt aus Angst davor, dass die Familie durch das Eingreifen von z.B. Jugendämtern auseinander gerissen wird. Somit erfährt außerhalb der Familie kaum jemand, wie ‚drinnen’ Aufgaben zur Bewältigung des Alltags verteilt werden. Damit bleibt auch der Bedarf an oft dringend benötigter Hilfe und Entlastung für die Kinder und die gesamte Familie unerkannt (Metzing 2007). Betrachtet man das breite Spektrum und das mögliche Ausmaß pflegerischer Hilfen durch Kinder, liegt die Frage nach den Ursachen für die Konstruktion dieser familialen Pflegearrangements nahe. Wichtig erscheint hierbei auch, die Beweggründe der Kinder selbst für die Übernahme ihrer Hilfen zu berücksichtigen, gleichwohl diese zu hinterfragen sich schwierig gestaltet, da die Frage nach der Motivation eine bewusste und zielgerichtete Entscheidung unterstellt, die Alternativen im Prozess der Entscheidungsfindung impliziert.
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Relevante Literatur
In internationalen Publikationen werden Beweggründe für die Übernahme von Hilfen – wenn überhaupt – nur marginal aufgegriffen. Aldridge und Becker verweisen bereits 1993(a) darauf, dass keines der von ihnen in Großbritannien interviewten Kinder die Pflegerolle selbst gewählt hatte, und sie betonen, dass Kinder als pflegende Angehörige kein Verständnis für das Konzept der Wahlfreiheit haben. Anders als Erwachsene, die sich bewusst für oder gegen die Pflege eines Angehörigen entscheiden können, haben Kinder diese Wahlfreiheit nicht (ebd.). Sie betrachten das Umfeld, in dem sie aufwachsen, als normal. Über viele Jahre fehlt ihnen der Vergleich mit Alternativen, sie kennen das Leben nicht anders, so dass die chronische Erkrankung eines Angehörigen und der damit verbundene Hilfebedarf als zum Alltag zugehörig eine Selbstverständlichkeit darstellen (ebd.; Frank 1995), die zu hinterfragen bedeuten würde, Normalität in Frage zu stellen. Einen zusätzlichen Aspekt der fehlenden Wahlfreiheit von Kindern bringen Bonney und Becker (1995) in ihrem Diskussionsbeitrag auf, indem neben der Sozialisation in die Pflegerolle vor allem der Status des Kindes als sozial schwaches Wesen betont wird. Kinder werden oft von anderen Familienmitgliedern „ausgewählt“, die Pflegerolle zu übernehmen, wenn z.B. ein gesunder Vater die Pflege der erkrankten Ehefrau ablehnt und sie dem Kind, in der Regel einer Tochter, überträgt. Bonney und Becker (ebd.) bezeichnen die Akzeptanz des
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Kindes dieser nicht frei gewählten, sondern auferlegten Pflegerolle als Mischung2 aus Wahl und ‚Hineindriften’. Vor dem Hintergrund der fehlenden Wahlfreiheit von Kindern wird das Zustandekommen der Pflegeübernahme durch Kinder in der Literatur primär anhand von Einflussfaktoren diskutiert. Aldridge und Becker (1993a) arbeiteten in ihrer qualitativen Studie, in der sie Kinder aus elf Familien sowie vier professionelle Helfer interviewten, vier wesentliche Einflussfaktoren für die Übernahme pflegerischer Tätigkeiten durch Kinder und Jugendliche heraus. Als zentralen Faktor benennen sie die ökonomische Deprivation der Familie und verweisen darauf, dass fast alle der von ihnen interviewten Kinder in Familien mit geringerem Einkommen lebten, und nicht selten waren die Familien auf Sozialhilfe angewiesen. Weitere ‚Trigger’ sehen sie in spezifischen Umständen, wie Trennung der Eltern oder Ausbruch der Krankheit, Mangel an Unterstützung durch Außenstehende (s.a. Frank 1995) sowie der praktischen und bequemen Verfügbarkeit von Kindern für anfallende Hilfen. Trotz der fehlenden Möglichkeit, sich bewusst für die Pflege zu entscheiden, akzeptierten die Kinder ihre Rolle. Aldridge und Becker beschreiben diese Akzeptanz als „emotionales abwägen zwischen Liebe und Pflicht“ (ebd.:17), denn Verwahrlosung wäre die Konsequenz aus der Weigerung der Kinder, die neuen Aufgaben zu übernehmen. Auffällig war in den Kinderinterviews, dass selbst die Kombination aller Einflussfaktoren weder die Gefühle der Kinder für ihre Eltern beeinflusste, noch ihr Bekenntnis, die Pflegerolle weiter auszuüben. Dearden und Becker (1998a), die ebenfalls sozioökonomische Aspekte als wesentliche Ursache für das Zustandekommen dieser Pflegearrangements anführen, verweisen auf die nachgewiesene Korrelation zwischen Armut und Krankheit. Sie betonen, dass besonders alleinerziehende Mütter von Armut betroffen sind. Menschen mit niedrigem Einkommen haben weniger Möglichkeiten, kostenpflichtige Unterstützungsangebote zu nutzen, zusätzlich fehlt ihnen häufig das Wissen um, sowie der Zugang zu Hilfsangeboten (ebd.). Als „Überlebensstrategie“ beschreibt Alexander (1995) die Übernahme pflegerischer Aufgaben durch Kinder von Familien, in denen ein Mitglied mit HIV infiziert oder bereits an Aids erkrankt ist. Auch hier nehmen emotionale wie auch ökonomische Deprivation der Familie entscheidenden Einfluss auf die Pflegesituation, wobei Alexander in ihrer Argumentation vor allem den Milieuaspekt betont. In dieser Studie, in der Experteninterviews durchgeführt wurden, fehlen Beschreibungen zur Größe der Stichprobe und auch methodische Aspekte, z.B. die Analyse der Interviews, finden keine Erwähnung, so dass die Ergebnisse 2 Die Autoren greifen hier auf ein Wortspiel zurück, indem sie die Akzeptanz der auferlegten Rolle als „half-way house between choice and drift“ (S. 3) bezeichnen, wobei halfway house im Englischen sowohl für offenen Strafvollzug oder ein Rehabilitationszentrum für auffällig gewordene Jugendliche steht, gleichzeitig aber auch „Mischung aus“ bedeutet.
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als Diskussionsbeitrag und nicht als empirisch fundiert betrachtet werden müssen. Alexander verweist in ihrer Diskussion auf den Aspekt der Pflege als kulturelle Norm (ebd.) und stellt heraus, dass dem gängigen Verständnis, dass sich das Maß der auf Kinder übertragenen Verantwortung an deren Alter und Entwicklungsstand orientieren solle, eine Definition von Kindheit der Mittelschicht zugrunde liegt. Familien, in denen pflegende Kinder identifiziert werden, entstammen jedoch häufig dem ‚Arbeitermilieu’, und bei den in dieser Studie betroffenen Familien lag nicht selten eine Drogenkarriere der Eltern mit all ihren sozioökonomischen Konsequenzen vor. Neben diesem Milieuaspekt werden als weitere Einflussfaktoren der Lebensstil der Eltern (als Drogenabhängige), die Angst der Familie, auseinandergerissen zu werden, Mangel an Inanspruchnahme von Hilfe durch Außenstehende, Mangel an Wissen und Information der Kinder, sowie soziale Isolation genannt. Schließlich wird die Übernahme der Pflegerolle für die Kinder auch als Notwendigkeit beschrieben, da sie die einzige Möglichkeit bietet, positive Rückmeldung ihrer Eltern zu bekommen und sich geliebt zu fühlen (ebd.). Banks et al. (2002) führten Fokusgruppeninterviews in einem sozial schwachen Gebiet in Schottland mit je 12 bereits identifizierten pflegenden Kindern und Kindern gesunder Eltern, sowie 14 Einzelinterviews mit pflegenden Kindern durch, um Einblicke in die Erfahrungen von pflegenden Kindern im Vergleich mit nicht-pflegenden Kindern zu gewinnen. Beweggründe der Kinder lagen nicht im Fokus der Forscher, so dass lediglich in einem Satz darauf hingewiesen wird, dass die Kinder sich darüber bewusst waren, dass ihre Hilfen für die Familie notwendig waren und sie diese als Teil der täglichen Routine akzeptierten (ebd.). Auch in der qualitativen Studie von Noble-Carr (2002a), in der Fokusgruppeninterviews mit insgesamt 14 pflegenden Kindern in Australien durchgeführt wurden, finden Beweggründe für die Übernahme der Pflege mit zwei Sätzen wenig Raum in der Veröffentlichung. Die Gründe werden als variabel benannt, wobei vorrangig die ursächliche Bedingung für die Entstehung des Pflegebedarfs angesprochen wird, indem der Ausbruch der Erkrankung oder ein Unfall als Grund für die Pflegeübernahme angegeben werden. Kinder antworteten auch, dass sie ‚es einfach gemacht haben’ – „they just did“ – (ebd.:23), was den Aspekt der fehlenden Wahlfreiheit und der Sozialisation in die Pflegetätigkeit unterstreicht. Neben den bisher genannten Ursachen, die pflegerische Hilfen durch Kinder erklären, verweist Lenz (Lenz 2005a, Lenz 2005b) in seiner Studie, in der 22 Kinder zwischen sieben und 18 Jahren interviewt wurden, die mit einem psychisch erkrankten Elternteil zusammenleben, auf einen wichtigen Beweggrund der Kinder selbst für die Übernahme ihrer Hilfen. In dieser Studie standen das Erleben der elterlichen Krankheit, Auswirkungen auf das Familienleben, Vorstellungen der Kinder über Ursachen der Krankheit sowie Wünsche nach Unter-
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stützung im Vordergrund; der Fokus lag nicht auf den Kindern als pflegende Kinder. Dennoch werden auch in dieser Studie Hilfen der Kinder beschrieben, z.B. vermehrte Tätigkeiten im Haushalt, emotionale Unterstützung der Eltern, antizipierende Hilfen sowie die vollständige Übernahme des Medikamentenregimes für die Eltern. Hier stellt Angst ein treibendes Motiv der Kinder für ihre Hilfen dar. Akute Krankenhausaufenthalte der Eltern lösen bei den Kindern nicht selten massive Trennungsängste aus, und Kinder bemühen sich „im Sinne einer Rückfallprophylaxe“ (Lenz 2005b:88) durch ihre Hilfen darum, eine erneute Einweisung der Eltern in die Psychiatrie zu verhindern. Als einer der wenigen Autoren hinterfragt Dietz (1995b) in der Diskussion einer Fallstudie (s.a. Dietz/Clasen 1995) die Motive der pflegenden Kinder selbst, und führt philosophische und psychologische Überlegungen für die Übernahme pflegerischer Hilfen an. Dabei stellt er zwei Aspekte als besonders interessant heraus: „einerseits die Entwicklung des ‚Selbst’, also eines sich herausbildenden Konzeptes von der eigenen Person als Ergebnis einer Art Selbstwahrnehmung des Ichs in seiner Umwelt und zum anderen die einer Form von Moralentwicklung geschuldete Formierung von Verantwortungsgefühl, welche bei der Übernahme von Pflegeverantwortung eine Rolle spielt“ (Dietz 1995b:23).
Voraussetzung hierfür ist, so Dietz, dass in der späten Kindheit die Fähigkeit zu Empathie und Rollenübernahme, also eine moralische Reife, entwickelt wurden (ebd.). Zusammenfassend lassen sich ökonomische und emotionale Deprivation der Familie (Aldridge/Becker 1993a, Alexander 1995), soziales Milieu (ebd.), Mangel an Unterstützung durch Außenstehende (Aldridge/Becker 1993a, Frank 1995), spezifische Umstände, wie Trennung der Eltern (ebd.) oder Ausbruch der Erkrankung (Aldridge/Becker 1993a, Noble-Carr 2002a), das Hineinwachsen in die Pflegerolle (Aldridge/Becker 1993a, Frank 1995, Noble-Carr 2002a) sowie die praktische und bequeme Verfügbarkeit von Kindern (Aldridge/Becker 1993a, Bonney/Becker 1995) als Einflussfaktoren für die Übernahme pflegerischer Hilfen konstatieren. Doch auch Trennungsangst der Kinder stellt einen intrinsischen Beweggrund der Kinder für diese Hilfen dar (Lenz 2005b).
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Zielsetzung und Fragestellung
Ausgehend von der These, dass Kinder und Jugendliche auch in Deutschland eine nicht unerhebliche Rolle bei der Bereitstellung familialer Hilfen spielen, besteht die Zielsetzung der Studie darin, Einsicht in die Situation von Kindern/
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Jugendlichen als pflegende Angehörige zu erlangen, um Grundlagen für die Konzeption eines lokalen professionellen Unterstützungsangebots für pflegende Kinder zu erarbeiten. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf Darstellung und Diskussion der Ergebnisse folgender Forschungsfrage aus dem Gesamtprojekt (Metzing 2007): Welche Faktoren nehmen Einfluss auf Pflegearrangements, in denen Kinder und Jugendliche die Rolle pflegender Angehöriger übernehmen?
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Methodologische und methodische Aspekte
Nachfolgend werden die methodologische Perspektive, die Forschungsmethode sowie die einzelnen Phasen des Forschungsprozesses skizziert.
4.1 Theoretischer Bezugsrahmen Den theoretischen Bezugsrahmen für diese Studie bildet der aus dem amerikanischen Pragmatismus hervorgegangene Symbolische Interaktionismus mit den von Blumer formulierten methodologischen Positionen (Blumer 1998). Demnach können soziale Welt(en) nicht als gegeben vorausgesetzt werden (Berger/Luckmann 1999, Strübing 2004), und Wirklichkeit(en) stellen keine eindeutige und objektivierbare Größe dar, sondern werden in Abhängigkeit zur individuellen Perspektive von Menschen unterschiedlich wahrgenommen und aufgrund ihrer Interpretationen schließlich auch unterschiedlich definiert und erlebt (Maso/ Schmaling 1990, in Bosch 1998). Chronische Erkrankung berührt fast alle Aktivitäten des täglichen Lebens (Corbin/Strauss 2004) und beeinflusst nicht nur die erkrankte Person selbst, sondern auch das umgebende soziale und vor allem familiale System (Strauss/Glaser 1975, Schaeffer/Moers 2000, Corbin/Strauss 2004). Die Bewältigung einer Krankheit in der Familie zieht für alle Beteiligten Schwierigkeiten und einen hohen Arbeitsaufwand nach sich (Corbin/Strauss 2004) und kann ohne sensible Berücksichtigung der Beziehungsstrukturen zwischen Erkrankten und ihren Angehörigen nicht verstanden werden (Strauss/Glaser 1975, Grypdonck 2000, Wright/Leahey 2005). Die Situation pflegender Kinder ist aufgrund ihrer Komplexität nur zu verstehen, wenn sie unter Berücksichtigung des Familienkonzepts und der familialen Werte, familialer Strukturen und Beziehungsdynamiken, der ökonomischen Situation der Familie, dem Geschlecht und der ethnischkulturellen Zugehörigkeit, der Art und dem Umfang von Krankheit und Pflegebedürftigkeit sowie der pflegerischen Aufgaben, Bereitstellung bzw. Verweige-
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rung professioneller Hilfen rekonstruiert wird (vgl. auch Becker et al. 1998, Aldridge/Becker 1998a, Dearden/Becker 2000).
4.2 Design Die qualitative Studie orientiert sich am Forschungsstil der Grounded Theory (Strauss 1998; Strauss/Corbin 1998, 1996). Im Sinne der modernen Kindheitsforschung (Bründel/Hurrelmann 1996, Mey 2004) steht in dieser Studie das Kind im Mittelpunkt, so dass neben der Elternperspektive explizit nach der des Kindes gefragt wurde. Kinder und Jugendliche werden als Experten ihrer Lebenswelt direkt angesprochen (Krüger/Grunert 2001, Mey 2004).
4.3 Feldzugang und Theoretisches Sampling Zur Konzeptualisierung und Erklärung der Situation pflegender Kinder wurde eine heterogene Stichprobe angestrebt um Diversität herzustellen, damit wesentliche Aspekte nicht übersehen werden3. Der Feldzugang gestaltete sich erwartet schwierig und machte eine Vielzahl von Strategien notwendig, um Zugang zu betroffenen Familien zu erhalten. Hierzu zählen: die persönliche Kontaktaufnahme mit über 200 Vertretern der Gesundheitsberufe4, 40 Beratungsstellen5, 50 Selbsthilfegruppen, sowie 15 Selbsthilfebundesverbänden, Interviewaufrufe in spezifischen Internetforen, drei Pressemeldungen sowie die Mitgestaltung einer Radiosendung6, Verbreitung von Informationsmaterial, sowie ein Interviewaufruf in der auflagenstarken Mitgliederzeitschrift einer Krankenkasse7. Aufgrund der Schwierigkeiten, überhaupt Zugang zum Feld zu erhalten, war zu Beginn der Studie nicht an eine theoretisch begründete Stichprobenauswahl zu denken. Jede Familie, die die Einschlusskriterien erfüllte, wurde in die Stichprobe aufgenommen. Durch den breit angelegten Feldzugang war es in der Phase des offenen Kodierens jedoch möglich, durch dieses offene Sampling Da3 So sollten Familien aus unterschiedlichen sozialen Milieus integriert werden, ebenso unterschiedliche Familiensysteme, als Grunderkrankung der Angehörigen sollten somatische wie auch psychiatrische Krankheitsbilder vertreten sein, der Grad der Pflegebedürftigkeit sollte variieren, und Kinder unterschiedlichen Alters und beiderlei Geschlechts sollten in die Studie aufgenommen werden. 4 Ambulante Pflegedienste, Hausärzte und niedergelassene Spezialisten, Fachkliniken, Lehrstuhlinhaber der Fakultät für Medizin, Universität Witten/Herdecke (UWH), Kooperationspartner des Instituts für Pflegewissenschaft der UWH. 5 Jugendämter, Kinderschutzbund, kirchliche Beratungsstellen. 6 WDR5 LebensArt 22.11.04. 7 Barmer Ersatzkasse; 02/2005, Auflage 6 Millionen.
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ten zu erhalten, die viele thematisch relevante Aspekte des untersuchten Phänomens repräsentierten, so dass Konzepte, deren Eigenschaften und Dimensionen auch erkannt und verdichtet werden konnten (Strauss/Corbin 1996, Strübing 2004). Im weiteren Verlauf der Studie konnte die Stichprobenauswahl aufgrund theoretischer Überlegungen gesteuert werden.
4.4 Datenerhebung und Datenbestände Die Daten wurden mittels halbstrukturierter, leitfadengestützter Interviews über einen Zeitraum von 16 Monaten erhoben. Neben den Erkenntnissen einer Literaturanalyse (Hübner 2003) wurde die „Action Checklist“ (Department of Health (Hrsg) 1996), ein zur Durchführung von Interviews mit pflegenden Kindern entwickelter Leitfaden in die Leitfadenkonstruktion einbezogen. Inhalte des Leitfadens wurden in Experteninterviews mit Forschern der ‚Young Carers Research Group’ von der Universität Loughborough, GB, diskutiert. Die Länge der Interviews variierte und betrug zwischen 25 und 120 Minuten. Mit einer Ausnahme wurden alle Interviews auf Tonträger aufgezeichnet, anonymisiert und transkribiert. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, möglichst viele Mitglieder einer Familie zu interviewen, wobei der Fokus der Interviews immer auf den Kindern lag. Dennoch sollte auf Elterninterviews nicht verzichtet werden, da im Sinne des Symbolischen Interaktionismus (Blumer 1998) eine Gegenüberstellung der Wahrnehmung und des Erlebens gemeinsamer Lebenswelten durch die Familienmitglieder wichtige Anregungen geben kann, „gemeinsame Lebenswelten als interaktiv geschaffene zu analysieren und zu verstehen“ (Kränzl-Nagl/ Wilk 2000:62). Insgesamt wurden in 34 Familien 81 Interviews geführt, die sich aus drei verschiedenen Interviewbeständen zusammensetzen. Im Rahmen des Projektes wurden zwei Masterarbeiten (Herder 2006, Hübner 2006) durchgeführt, deren Rohdaten in das Gesamtprojekt einflossen. Mit Schwerpunkt NRW liegen Daten aus dem gesamten Bundesgebiet vor, die Familien weisen unterschiedliche Konstellationen auf, es sind verschiedene soziale Milieus vertreten, und auch die Ursprungserkrankungen variieren. 16 Familien sind Einelternfamilien mit überwiegend allein erziehenden Müttern, in 18 Familien leben beide Eltern im selben Haushalt. An den 81 Interviews waren insgesamt 41 Kinder u. Jugendliche (25 Mädchen, 16 Jungen) im Alter von vier bis 19 Jahren sowie 41 Eltern/Großeltern (23 Erkrankte, 18 Gesunde) beteiligt8. Die Grunderkrankung basiert bei 25 Be8
Die Einflussfaktoren wurden durch Analyse von Interviews aus 22 Familien gewonnen, in denen insgesamt 28 Kinder regelmäßig in pflegerische Hilfen eingebunden sind. In den 12 Familien, die von dieser Analyse ausgenommen sind, besteht bei 10 Familien z.Zt. kein regelmäßiger Unterstüt-
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troffenen auf einer körperlichen Ursache (Multiple Sklerose, Apoplex, Morbus Parkinson, Asthma, Herzinsuffizienz, Krebs), bei 13 Betroffenen liegt eine psychische Erkrankung vor (Depression, Psychose, posttraumatische Belastungsstörung).
4.5 Datenanalyse Die Analyse orientierte sich am Kodierverfahren der Grounded Theory, das durch drei Kodiermodi: offenes –, axiales – und selektives Kodieren charakterisiert ist. Die Methode des ständigen Vergleichens von Daten gilt als Leitmaxime des Kodierprozesses (Strübing 2004) und ergibt sich aus der Logik des spezifischen Forschungsprozesses, in dem Datenerhebung, Analyse und Theoriebildung zeitlich und gedanklich miteinander verflochten erfolgten.
4.6 Gütekriterien In der Auseinandersetzung mit der Güte dieser Arbeit wurde Wert darauf gelegt, die Regeln des Forschungsprozesses einzuhalten (Strübing 2004). Knoblauch (2003) betont, dass die Grounded Theory zu den wenigen wissenschaftlichen Ansätzen zählt, die mit ihren spezifischen Regeln des Forschungsprozesses „fundierte Vorschläge unterbreitet“ (ebd:629), die in ihrer Offenheit des Prozesses in gewisser Weise methodische Kontrolle erlaubt. Durch Transparenz und Explikation des Forschungsprozesses war vor allem angestrebt, die Studie für Dritte intersubjektiv nachvollziehbar zu gestalten (Steinke 2003).
4.7 Ethik Ethische Überlegungen wurden der Ethikkommission des Instituts für Pflegewissenschaft, Universität Witten/Herdecke zur Begutachtung vorgelegt, die nach Prüfung des Antrages keine ethischen Bedenken gegen die Durchführung des Projektes erhob.
zungsbedarf der Angehörigen, oder die erkrankte Person ist wie in zwei Familien ein Geschwisterkind, dessen Pflege primär durch die Mutter übernommen wird. Jedoch hat die Erkrankung auch in diesen Familien Auswirkungen auf die Kinder.
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Sabine Metzing und Wilfried Schnepp Ergebnisse
Die Ergebnisdarstellung gliedert sich in zwei Bereiche. Primär stehen die Faktoren im Vordergrund des Interesses, die Einfluss auf die Entstehung der hier untersuchten Pflegearrangements nehmen, an denen Kinder beteiligt sind. Zum Verständnis der Aufrechterhaltung dieser Situationen werden im zweiten Teil auch die von den Kindern selbst artikulierten Beweggründe dargestellt. Ihr Verständnis trägt dazu bei, im Bemühen um Unterstützungsangebote nicht an dem Bedarf und den Bedürfnissen der Familien ‚vorbeizuplanen’.
5.1 Einflussfaktoren In der Analyse der Interviews konnten sieben zentrale Themen herausgearbeitet werden, die Einfluss auf die Konstruktion von Pflegearrangements nehmen:
Kind sein: es nicht anders kennen Ausmaß des Pflegebedarfs: schleichend und umfangreich Status des Kindes in der Familie: Einzelkind oder ältestes Geschwister sein Familienkonstellation: alleinerziehend sein Familiale und soziale Netzwerke: ohne Unterstützung sein Sozioökonomischer Status der Familie: arm sein Soziokultureller Hintergrund der Familie: geduldet sein
Diese Faktoren sind nicht hierarchisch zu verstehen, eine derartige Ordnung lässt die Art der Daten auch nicht zu, vielmehr nimmt die Kumulation mehrerer dieser Faktoren entscheidenden Einfluss auf das Ausmaß der von den Kindern geleisteten Hilfen. Kind sein: es nicht anders kennen Anders als Erwachsene, die sich bewusst für oder gegen die Pflege eines erkrankten Angehörigen entscheiden können, haben Kinder diese Wahlfreiheit nicht. Sie betrachten das Umfeld, in dem sie aufwachsen als normal, über viele Jahre fehlt ihnen der Vergleich mit Alternativen; sie kennen das Leben nicht anders, so dass sich die chronische Erkrankung und der damit verbundene Hilfebedarf des Angehörigen als zum Alltag zugehörige Normalität darstellen. So sagt ein 10-jähriges Mädchen einer an MS erkrankten Mutter stellvertretend für viele Kinder: „ich bin's ja eigentlich gewohnt, also deswegen, ist’s eigentlich nicht schlimm“, eine 11-jährige, deren Vater aufgrund einer Multiplen Sklerose stark pflegebedürftig ist, formuliert: „also ich würde sagen, wir sind damit groß ge-
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worden“, und auch die 10-jährige Tochter eines psychisch erkrankten Vaters fasst diese Normalität in ihren eigenen Worten wie folgt zusammen: „irgendwie ganz normal, weil damit bin ich groß geworden“. Ausmaß des Pflegebedarfs: schleichend und umfangreich Das Ausmaß pflegerischer Hilfen durch Kinder und Jugendliche korreliert mit dem Ausmaß des bestehenden Pflegebedarfs der Angehörigen. In den Familien, in denen die Kinder am stärksten helfend eingebunden sind, besteht bei den meisten Angehörigen auch kontinuierlich ein hoher Hilfe- und Pflegebedarf, bei den wenigen Eltern, die keinen regelmäßig hohen Bedarf an Unterstützung haben, kann sich dieser jederzeit während eines Schubs ergeben. In Familien, in denen Kinder geringfügig pflegerische Hilfen übernehmen, besteht auch (noch) nur ein geringfügiger Bedarf an Unterstützung. Auch die Tatsache, dass der Verlauf chronischer Erkrankungen einen oft kaum sichtbaren, schleichenden Anstieg des Hilfebedarfs notwendig macht, trägt zur Konstruktion dieser Pflegearrangements bei. Kinder und Jugendliche wachsen selbstverständlich mit den Einschränkungen ihrer Angehörigen auf (s.o.) und übernehmen, was wegfällt. Eine 14-jährige fasst diesen Prozess mit den Worten zusammen: „wenn man so dabei ist, dann ist das automatisch so, es kommt immer was dazu – so wie die künstliche Ernährung oder der Katheter oder so, es wird immer mehr gemacht, und man nimmt es einfach so an und ... macht es dann“. (Abs. 137)
Status des Kindes in der Familie: Einzelkind oder ältestes Geschwister sein Dieser Aspekt bezieht sich sowohl auf den Status des Kindes als Einzel- oder Geschwisterkind, als auch darauf, wo ein Kind (bei mehreren Geschwistern) in der Geschwisterreihenfolge steht. Zweidrittel der interviewten Kinder sind entweder Einzelkinder oder aber das älteste Kind im Haushalt. Verantwortung der Kinder und das Ausmaß ihrer Aufgaben wachsen mit dem Alter. Ältere Kinder übernehmen von sich aus mehr Verantwortung als ihre jüngeren Geschwister, sie bekommen diese jedoch auch von den Erwachsenen aufgetragen. Selbst wenn nur ein Jahr Unterschied zwischen den Geschwistern liegt, fühlen sich die Älteren verantwortlich, und dieses Verantwortungsgefühl bezieht sich neben den Hilfen für die Familie als Gemeinschaft und den pflegerischen Hilfen für die erkrankte Person selbst, schließlich auch auf die Betreuung jüngerer Geschwister. Die vierzehnjährige Tochter einer psychisch schwer traumatisierten Mutter sagt dazu: „also meine Geschwister sind noch klein, und ich kann nicht sagen ‚ja ich kann(!) nicht mehr. ich lass das alles liegen’. ich muss, ich muss für die da(!) sein. weil, da-
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Sabine Metzing und Wilfried Schnepp her kommt die Kraft. und, meine Mutter, mein Vater, ich mein, ich muss denen helfen!“ (Abs. 142-143)
Das Geschlecht scheint bei der Übernahme dieser Tätigkeiten eine untergeordnete Rolle zu spielen. Ältere Brüder von jüngeren Schwestern übernehmen ebenso selbstverständlich mehr Aufgaben, wie ältere Schwestern von jüngeren Brüdern es tun. Im besten Fall kann dieser Aspekt mit dem Zitat „wie jeder es kann“ zusammengefasst werden. Der 15-jährige Bruder einer 10-jährigen Schwester, deren Mutter an Multipler Sklerose erkrankt ist, sagt dazu: „Arbeitsteilung sag ich mal, dass ich dann die körperlich eher schweren Sachen mache und meine Mutter dann halt die leichteren und meine Schwester, weil, die es noch nicht so kann“ (Abs. 7)
Es kann jedoch vermutet werden, dass das Geschlechterthema mit wachsendem Alter zum Tragen kommt und Mädchen dann mehr Aufgaben übernehmen als Jungen. So konnte in zwei Familien beobachtet werden, dass ältere (über 18-jährige) Brüder sich sämtlichen Aufgaben entzogen und diese an ihre jüngeren (15 und 17-jährigen) Schwestern delegierten. Familienkonstellation: alleinerziehend sein Familienkonstellation meint hier, ob es sich um Einelternfamilien handelt oder ob beide Eltern im Haushalt verfügbar sind. In der Gesamtstichprobe ist dieses Verhältnis nahezu ausgeglichen. Ohne aufgrund der ungleichen Geschlechterverteilung in der Stichprobe einen Kausalzusammenhang herstellen zu können, fällt jedoch auf, dass es sich dabei ausnahmslos um alleinerziehende chronisch erkrankte Mütter handelt. Sind beide Eltern verfügbar, verteilt sich die Verantwortung ähnlich wie bei Geschwistern auf mehrere Schultern, wobei der gesunde Elternteil – zusätzlich zu seiner Rolle als Ernährer der Familie – zumeist auch die Hauptverantwortung für die Pflege und Organisation des Haushalts übernimmt. Auch in diesen Familien helfen die Kinder mit und übernehmen viele Aufgaben, tragen jedoch nicht die (elterliche) Verantwortung für die Organisation des Alltags. „Teil eines Teams“ zu sein, wie ein Vater es ausdrückt, macht auch möglich, Aufgaben an Ressourcen orientiert zu verteilen und sich abzuwechseln. Eine 10-jährige beschreibt die Teamarbeit in ihren Worten: „na der Michael [älterer Bruder] muss ja immer ein bisschen mehr machen, weil ich kann ja noch nicht soviel, wie hier die schweren Wäschekörbe aufhängen und so, aber das was ich machen kann, das mach’ ich eigentlich auch so weit mit“ (Abs.59+60)
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Die Kinder hingegen, die am stärksten in pflegerische Tätigkeiten eingebunden sind, leben mit ihren meist erkrankten Müttern alleine. Als ältester von insgesamt drei Söhnen einer alleinerziehenden psychisch schwer traumatisierten Mutter, die fast rund um die Uhr von ihren Söhnen betreut wird, stellt ein Vierzehnjähriger im Interview die rhetorische Frage: „ja, was soll ich denn machen, soll ich denn immer spielen gehen, und die alleine lassen? Rausgehen oder so was, das bringt nichts. Nämlich immer zuhause zu bleiben ist besser, dann ist die Familie auch enger zusammen“ (Abs. 218)
Neben der Enttäuschung darüber, dass sich der gesunde Partner nicht selten, wie eine Mutter beschreibt, aus der Verantwortung „stiehlt“, leiden die Mütter darunter, ihre Kinder so stark einzuspannen. Eine alkoholkranke und depressive Mutter, deren dreijähriger hyperaktiver Sohn eine starke Lernbehinderung hat, ist sich der Belastung ihrer vierzehnjährigen Tochter sehr wohl bewusst, und sie betont im Interview immer wieder ihr Bemühen, der Tochter dennoch ein kindgerechtes Leben ermöglichen zu wollen und fasst den inneren Konflikt schließlich mit den Worten zusammen: „ja was soll ich denn machen, muss ich ja auch auf sie zurückgreifen, oder? (...) das is’ ja, dass man eben so größere Kinder zu sehr in die Verantwortung nimmt, was man aber eigentlich gar nicht möchte“. (Abs. 97 + 122)
Familiale und soziale Netzwerke: ohne Unterstützung sein Funktionierende Netzwerke bedeuten für betroffene Familien Entlastung bei der Bewältigung des durch die Erkrankung erschwerten Alltags. Der Ehemann einer schwer pflegebedürftigen Frau kann z.B. ohne Bedenken das Haus verlassen und seiner Berufstätigkeit nachgehen, weil die Nachbarn sich regelmäßig um seine Frau kümmern. In einer anderen Familie erklärt ein kranker Vater, dass er durch die Nachbarn viel Unterstützung bei der Bewältigung körperlicher Arbeiten rund ums Haus erfährt, die er selbst nicht mehr ausführen kann. Einige Familien berichten von regelmäßiger Unterstützung durch die Großeltern im Haushalt, und in einer Familie helfen alle Familienmitglieder der in der Nachbarschaft wohnenden Großfamilie nach individuellen Fähigkeiten und Ressourcen mit. Diese Hilfen tragen maßgeblich zur Entlastung der Kinder bei. Die beiden 11- und 14jährigen Töchter erzählen: I1 (11 J.): „und die [Angehörigen der Großfamilie] kommen dann halt auch immer rüber zu meinem Vater und schwätzen so ein bisschen und so, und die helfen auch arg viel“. – I2 (14 J.): „besonders die Oma und die Tante die nebenan wohnen, die zwei“ – I1: „weil, also die ist Krankenschwester, und die hat dann jede zweite Wo-
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Sabine Metzing und Wilfried Schnepp che hat die frei (...) und in der freien Woche da kommt dann nicht der (...) Pflegedienst, (...) da kommt dann meine Tante“ I2: „und die hilft mit wo sie kann und wann sie kann und an die wenden wir uns eigentlich immer wenn es irgendwie“ (I1: Probleme gibt sehr leise) – BH: „die wohnt also direkt im Nachbarhaus“ – I2: „ja (I1: mhm), das ist ein Glück“ (Abs. 20-26)
Die meisten interviewten Familien können jedoch nicht auf derartige Netzwerke zurückgreifen und sind im Alltag oft auf sich allein gestellt. Großeltern sind entweder schon verstorben, selbst krank, oder wohnen zu weit weg. In kleinen Familien fehlt ein solches Netzwerk ganz, eine junge, schwer körperlich beeinträchtigte alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen sagt: „ich hab keine Oma, wir haben keinen Opa, wir haben niemand sonst und ich darf nicht“. (Abs. 38) Selbst bei bestehender Verwandtschaft gehen manche Angehörige bewusst auf Distanz und sehen sich nicht in der Verantwortung zu helfen. Einige betroffene Familien haben wenig Kontakt zu ihren Nachbarn, nicht selten vermeiden sie ihn auch aus Angst vor Einmischung durch Autoritäten, die das Zusammenleben der Familie gefährden könnten. Häufig nehmen soziale Kontakte mit der Erkrankung ab, besonders wenn die erkrankten Eltern aus dem Berufsleben ausscheiden müssen. Andere Familien leben in sozialen Milieus, in denen Freunde und Bekannte aufgrund eigener Sorgen keine Ressourcen zur Verfügung stellen können. Eine alleinerziehende Mutter sagt dazu: „nein leider hab ich da nicht so viele Leute. Ich kenn zwar ein paar, aber die meisten (...) sind selber irgendwie belastet und beeinträchtigt.“ (Abs. 52)
Sozioökonomischer Status der Familie: arm sein Auch der sozioökonomische Status der Familie nimmt Einfluss auf die Konstruktion dieser Pflegearrangements. Nicht selten werden junge Eltern aufgrund ihrer Erkrankung erwerbsunfähig und beziehen, z.T. bereits mit Mitte Dreißig, eine kleine Rente oder leben von Sozialhilfe. Zweidrittel der befragten Familien sind hiervon betroffen. Finanzielle Sorgen, die vorher nicht bestanden, werden plötzlich zum täglichen Thema, um das auch die Kinder wissen und bemüht sind, sich der neuen Lebenssituation anzupassen. Ein 13-jähriger Sohn einer körperlich erkrankten Mutter sagt: „Na ja, jetzt, wo sie Rentner geworden ist (...) und wir weniger Geld haben, dass man vielleicht die Bücher oder so, dass man das Bedürfnis nach teuren Sachen eben möglichst unterdrückt.“ (Abs. 59)
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Eine Jugendliche, die ihre Mutter alleine gepflegt hat und sich stark überfordert fühlte, lehnt professionelle Hilfe nach einem kurzen Versuch trotz ihrer eigenen Belastung ab und argumentiert: „wo mir das mit der Pflege zuviel wurde,(...) da haben wir gesagt ‚wir machen jetzt, dass die [Pflegenden] waschen und teilweise aufräumen’.(...) aber das [Pflege]Geld (...) hat uns im Endeffekt dann auch gefehlt, und da hab ich dann gesagt ‚das lassen wir, weil die können nicht in ’ner Stunde so viel schaffen’, und da hab ich gesagt ‚das mach ich selber’“. (Abs. 57)
Auf die Frage, ob sie in der Familie zur Entlastung aller vielleicht auf professionelle Unterstützung zurückgreifen könnten, antwortet ein 15-jähriger Sohn: „Pflegedienste kosten ja auch Geld, und wenn man das in der Familie macht, haben wir mehr Geld für uns“. (Abs. 103)
An dieser Stelle soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass ausnahmslos alle Kinder und Eltern davon berichten, dass sie als Familie aufgrund der Erkrankung starke Einschränkungen bei gemeinsamen Aktivitäten erfahren und Ausflüge, wenn überhaupt, nur eingeschränkt und gut geplant stattfinden können. Dazu sagt der 13-jährige Sohn einer alleinerziehenden, schwer gehbeeinträchtigten Mutter: SM: „Wo siehst du denn so für dich, für deine Mutter, für eure Familie, die größten Einschränkungen durch diese Krankheit?“ – I: „Mm, also, man kann jetzt nicht irgendwie so große Ausflüge machen, dass wir irgendwann so ins Kino gehen oder in die Stadt zum Bummeln oder so was.“ (Abs. 5+6)
Die Frage nach ihrer schönsten Erinnerung beantworteten fast alle Kinder mit Erzählungen von gemeinsam Erlebtem, seien es Reisen oder einfach nur ein Picknick am See, entscheidend ist, dass sie es zusammen erlebt haben. Wenn diese ohnehin bestehenden gesundheitsbedingten Einschränkungen gemeinsamer Aktivitäten zusätzlich durch krankheitsbedingte Finanznot verstärkt werden, und z.B. Kinoausflüge maximal zwei Mal im Jahr möglich sind, Kleidung nur noch secondhand eingekauft werden kann und Taschengeld für viele Kinder ein Fremdwort darstellt, wird die Bereitschaft der Kinder, mehr Arbeiten zu übernehmen, nachvollziehbar. Soziokultureller Hintergrund der Familie: geduldet sein Drei der interviewten Familien kamen als Flüchtlinge aus dem Kosovo und leben zwischen sechs und 13 Jahren in Deutschland. Alle drei Mütter sind durch
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Kriegserlebnisse an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt und in psychiatrischer Behandlung. Nur eine Mutter spricht gebrochen deutsch, die anderen sind sprachlich von ihrer Umgebung isoliert und vollständig auf die Dolmetscherdienste ihrer Kinder angewiesen. Zwei der drei Mütter sind alleinerziehend, der vorhandene Vater in der dritten Familie befindet sich seit über drei Monaten selbst als Patient im Krankenhaus. Die Familien sind entwurzelt, ihre Angehörigen sind tot oder leben im Kosovo, besonders die Mütter fühlen sich in Deutschland fremd, Kontakte zu Nachbarn gibt es so gut wie keine. Alle Familien fürchten die Abschiebung, sie leben von Sozialhilfe, eine Arbeitserlaubnis haben sie nicht. Trotz des kleinen Anteils in der Stichprobe wird in diesen Familien sichtbar, welche fatalen Auswirkungen die Kumulation von negativen Einflussfaktoren haben kann, was am Beispiel einer Familie komprimiert vorgestellt werden soll: Die Familie besteht aus der Mutter und ihren drei Söhnen (14, 13 , 8 J.). Zu dem Vater, der vor sechs Jahren ausgewiesen wurde, besteht kein Kontakt mehr. Die Familie lebt in einem Wohnheim in einer 40m²-Wohnung. Die Mutter spricht kein Deutsch, sie ist durch den Krieg schwer traumatisiert und unter ständiger Aufsicht ihrer Söhne. „Egal, wo sie geht, geh’ ich immer mit“, so der 14jährige. Einer der beiden Älteren ist immer zu Hause bei der Mutter. Die älteren Brüder führen den Haushalt, versuchen psychiatrische Krisenintervention zu betreiben, sie sorgen für Medikamente und begleiten die Mutter zum Psychiater, um zu übersetzen. Sie gehen zum Ausländeramt und auch zur Leitung des Wohnheims – wo sie als Gesprächspartner nicht akzeptiert werden. Da ein Zimmer der kleinen Wohnung verschimmelt ist, schlafen alle vier in einem Raum. Für den ältesten Sohn bedeutet dieser Zustand, nicht lernen zu können und müde zur Schule zu gehen, da, wie er sagt, ständig „einer redet, einer schreit [und] einer weint“. Sein Antrag auf eine neue Wohnung wird abgelehnt und von ihm mit den Worten: „keiner hilft uns“ kommentiert. Unterstützung nimmt er durch die Traumatherapeuten und den behandelnden Psychiater der Mutter wahr, bei denen er sich bedanken möchte. Der Älteste übernimmt auch Verantwortung für seine beiden Brüder und erkundigt sich in der Schule nach ihren Noten. Zusätzlich sorgt er für Freiräume seiner Geschwister, was den Verzicht auf eigene freie Zeit bedeutet. Der Sohn ist sich seiner Verantwortung und der Notwendigkeit seines Handelns sehr bewusst. Sein Konzept von Familie würde ein Ausbrechen trotz Überforderung nicht zulassen. Der 14-jährige ist mit seinen Sorgen und seinem Kummer allein. Auf die Frage, wie er die Situation der Mutter erlebt, antwortet er: „eigentlich bricht das einem das Herz, (...) eigentlich muss ich ja auch weinen, eigentlich kommen bei mir auch Tränen so. Da denk ich, so lieber, (...) will ich ster-
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ben oder so was, (...) wenn die weint, das tut einem im Herz(!) weh, dann fragt man, ‚was willst du’, um das irgendwie besser hinzukriegen“. (236)
Mit Gleichaltrigen spricht er nicht über seine Situation, die würden ihn nicht verstehen und auch nicht helfen können. Dennoch wünscht er sich jemanden zum Reden, der ihn versteht. Er möchte ernst genommen, akzeptiert und nicht gedemütigt werden. Er schließt das Interview mit dem Wunsch nach jemanden ab, der, wie er sagt: „der lacht, – ja , der mich mutig! macht“. (Abs. 274)
5.2 Beweggründe der Kinder Den zweiten Teil der Ergebnisdarstellung bilden die Beweggründe der Kinder für die Übernahme all ihrer Tätigkeiten, die anders als in den britischen Studien hier mit im Zentrum der Ergebnisse stehen und zum Verständnis der Aufrechterhaltung dieser Situationen mit beitragen. Betrachtet man die Aussagen der Kinder entsprechend ihrer Alterszugehörigkeit, zeigen sich zwar entwicklungsbedingte Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. Kleinkinder: Die „Mama“ im Zentrum der kindlichen Aufmerksamkeit Bei den Jüngsten, den Vor- und Grundschulkindern, steht die ‚Mama’ im Zentrum der kindlichen Aufmerksamkeit, unabhängig davon, wer erkrankt ist. „Ach, ich wollte Mama einfach helfen“, sagt z.B. eine Siebenjährige, in einer anderen Familie möchte eine ebenfalls Siebenjährige der „Mama“ helfen, weil diese so viel mit der Pflege des Bruders zu tun hat. Ihre direkten Hilfen ‚am Bruder’ gelten der Entlastung ihrer Mutter. Auch das Bedürfnis, die erkrankte Person schützen zu wollen, spielt für diese Kinder eine wichtige Rolle. Zwar sind sie nicht – wie in anderen Familien – für die Pflege verantwortlich, jedoch gehen ihre Hilfen weit über das Leeren des Mülleimers hinaus, und in bestimmten Situationen sind die erkrankten Angehörigen zumindest temporär vollständig auf ihre Unterstützung angewiesen. Ein Vater kann ohne seine 11-jährige Tochter nicht zur Toilette gehen oder seine Position im Pflegesessel verändern, wenn außer ihr niemand zu Hause ist, eine bewegungsbeeinträchtigte Mutter braucht die helfende Hand ihrer 10-jährigen Tochter in der Küche oder beim Legen eines Einmalkatheters, eine rollstuhlpflichtige Mutter eines 7-jährigen braucht seine Hilfe, wenn sie sich vor Schmerzen nicht bewegen kann oder sehr erschöpft ist, die Mutter des knapp fünfjährigen Mädchens ist während Zeiten von rheumatischen Schüben darauf angewiesen, dass ihre Tochter sie zur Toilette begleitet und ihr dort hilft, und dass das Mädchen als ‚Ältere’ in diesen Zeiten die Verantwortung für die zweijährige Schwester übernimmt, und wenn eine siebenjährige Schwes-
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ter eines schwer mehrfachbehinderten Bruders nicht wüsste, wie sie in Abwesenheit der Mutter endotracheal absaugen kann, würde der Bruder zu ersticken drohen. Kinder dieser Altersgruppen nehmen ihre Aufgaben jedoch nicht als etwas wahr, das sie ‚machen müssen’ und sie erleben ihre Hilfen auch nicht als Belastung. Sie sind eher stolz darauf, ihren Beitrag leisten zu können. Selbst die Jüngste beantwortet mit vier Jahren die Frage nach dem ‚warum’ voller Stolz mit den Worten: „Dass das die Mama nicht alles machen brauch. (...) die Mama kann wenig machen und ich kann ja viel machen. Ich kann ja alles machen für die Mami“. Schulkinder: Verantwortung für die Familie übernehmen So wie die jüngeren Kinder finden auch die Schulkinder Formulierungen wie: „ich tu alles, damit es meiner Mutter besser geht“, aber sie sind sich des zugrunde liegenden Gefühls bereits bewusster. Sie tun es „aus Nächstenliebe“ oder weil sie etwas „zurückgeben“ möchten, eine 14-jährige sagt: „weil es meine Mutter ist und ich liebe sie“. Für diese Kinder steht weniger der Stolz, einen Beitrag leisten zu können, als das Bewusstsein, verantwortlich zu sein, im Vordergrund. Sie wissen, dass die Familie auf sie angewiesen ist. Bei diesen Kindern liegt der Fokus ihrer Hilfen nicht mehr ausschließlich auf der Bezugsperson, sondern sie weiten ihren Blick und argumentieren aus ihrem Familienkonzept heraus. Je mehr Verantwortung und pflegerische Aufgaben die Schulkinder für die Familie und die erkrankte Person übernehmen, weil es außer ihnen niemand tun könnte und sie dadurch ihre Familie als Einheit bedroht sehen, desto deutlicher begründen sie ihr Tun aus diesem Selbstverständnis von Familie, das ein Annehmen ihrer pflegenden Rolle inkludiert. Eine 14-jährige erklärt: „meine Geschwister sind noch klein, ich kann nicht sagen ‚ja ich kann nicht mehr; ich lass das alles liegen’. Ich muss für die da sein; daher kommt die Kraft.“ und sie ergänzt: „weil es meine Familie ist, (...) ich möchte für meine Familie da sein.“
Kinder dieser Altersgruppe wissen, dass es zumindest theoretisch Auswege gibt, dass sie z.B. das Jugendamt um Hilfe bitten könnten. Sie wünschen sich jedoch Lösungen, die erlauben als Familie zusammenzubleiben, und die Angst davor, dass die Familie durch das Eingreifen von außen auseinandergerissen wird, hindert die Kinder, um Hilfe zu bitten. Sie treffen damit eine klare Entscheidung für die Aufrechterhaltung des familialen Pflegearrangements und nehmen die für sie damit verbundene Belastung in Kauf.
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Jugendliche: zwischen kindlicher Liebe und wachsender Moral Bei den Jugendlichen wiederholen sich die Beweggründe der jüngeren Kinder. Allen voran steht wiederum die Liebe zu den erkrankten Eltern. Auch die Wortwahl unterscheidet sich nicht von der der Kleinsten, wenn z.B. eine 17-jährige sagt: „ich habe meine Mama so lieb, und ich möchte alles für meine Mama tun, dass sie wieder gesund wird“. Dennoch weitet sich der Fokus, wie schon bei den Schulkindern zu beobachten war und richtet sich auf die ganze Familie. So sagt dieselbe 17-jährige: „ich möchte ja auch die Familie davor schützen, dass sie auseinandergerissen wird, ich mach das auch, um meine Familie zusammenzuhalten.“ Sich für die Familie verantwortlich zu fühlen und als Familie „zusammenzurücken“ entsteht nicht nur in der akuten Situation aus der Notwendigkeit heraus sondern wird von den Jugendlichen vielmehr auch aus ihrem gewachsenen Moralverständnis begründet. Eine 17-jährige sagt: „ich würde mir das niemals verzeihen, wenn ich es nicht tun würde“. Trotz massiver Überforderung durch die häusliche Situation entschied eine Jugendliche sich gegen eine Unterbringung der Mutter im Heim; weniger, um die Familie zusammenzuhalten, sondern, um der Mutter „das“ nicht anzutun. Sie sagt: „weil sie [die Mutter] noch gesagt hatte, ‚ich will nicht ins Heim’ weil sie weiß, wie es dort ist, und da hab ich mir dann selbst gesagt, ‚ne, das würdest du nie machen, egal wie lang du jetzt hier pflegen würdest’“. (Abs. 55)
Anderen zu helfen – auch außerhalb der Familie – ist selbstverständlich. Ein 18jähriger reflektiert: „ich hab das auch nicht so gelernt, dass ich einfach jemand so sitzen lasse und sag ‚ja mach deinen Scheiß allein’“.
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Diskussion
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl krankheitsbezogene, familiale wie auch soziokulturelle und sozioökonomische Faktoren Einfluss auf die Konstruktion der beschriebenen Pflegearrangements nehmen. Je mehr einschränkende Faktoren gleichzeitig zusammentreffen, desto stärker wird das Ausmaß der durch die Kinder erbrachten Hilfen. Den stärksten Faktor stellen dabei die Familienkonstellation sowie familiale und soziale Netzwerke dar. Fehlende Schultern, auf die sich die Arbeit verteilen lässt, werden zwangsläufig dazu führen, dass diese Arbeiten von Kindern und Jugendlichen übernommen werden (müssen). Der von Aldridge und Becker (1993a) genannten praktischen und bequemen Verfügbarkeit von Kindern kommt insofern eine zentrale Bedeutung
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zu, als ein Kind als schwächstes soziales Wesen (Bonney/Becker 1995) dann herangezogen wird, wenn andere denkbare Hilfen ausbleiben. Es soll ausdrücklich betont sein, dass wir es grundsätzlich nicht bedenklich finden, dass Kinder zu Hause mithelfen und sozial verantwortliches Handeln lernen. Dennoch gibt es Grenzen der Belastbarkeit, und es obliegt unserer Verantwortung als Professionelle, Familien da zu unterstützen, wo diese Grenzen nicht nur berührt, sondern überschritten werden. ‚Pflegende Kinder stellt ein für jede Gesellschaft relevantes Thema dar, insofern als chronisch erkrankte Menschen und bestimmte Risikogruppen Teil unserer Gesellschaft sind. Kinder müssen in ihrer Rolle wahrgenommen werden, denn nur dann können sie von bereits bestehenden Entlastungsangeboten für pflegende Angehörige z.B. der Pflegeversicherung und von noch zu entwickelnden spezifischen Angeboten profitieren. Nicht alle der hier vorgestellten Einflussfaktoren lassen sich verändern. Keine unterstützende Maßnahme kann auf Schwere und Verlauf der Erkrankung und den damit verbundenen Hilfe- und Pflegebedarf einwirken. Wohl aber darauf, wie eine Familie ihren Alltag mit einer chronischen Erkrankung bewältigt und welche Ressourcen der Familie als Einheit, der erkrankten Person und den an der Pflege beteiligten Angehörigen, hier vor allem den Kindern, zur Verfügung gestellt werden. Im Nachdenken über bedarfs- und bedürfnisorientierte Hilfsangebote für betroffene Kinder und ihre Familien ist es nach unserem Verständnis wichtig, auch die von den Kindern implizit und explizit artikulierten Beweggründe für die Übernahme ihrer Hilfen zu verstehen und zu berücksichtigen. In allen Altersgruppen wird ‚Liebe’ als tragender Beweggrund der Kinder und Jugendlichen für die Übernahme ihrer pflegerischen Hilfen sichtbar. Für die jüngsten Kinder steht das Bedürfnis, „der Mama“ helfen zu wollen im Vordergrund, sie empfinden ihre Hilfen weder als Belastung noch als Überforderung, bei ihnen lässt sich eher Stolz als Selbstwertquelle ausmachen. Mit zunehmendem Alter sind Kinder in der Lage, ihre Liebe in Worte zu fassen, gleichzeitig wächst jedoch auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit ihres Handelns, und der erweiterte Blick zieht das Wissen um Konsequenzen innerhalb ihrer Familieneinheit nach sich. Die Kinder übernehmen bewusst Verantwortung in der und für die Familie. In diesem Alter nehmen die Kinder auch Belastung wahr, bis hin zu dem Gefühl, überfordert zu sein. Hier treten sie, entsprechend des Modells der Selbstsozialisation (Nunner-Winkler 1999a), in einen inneren Dialog des Abwägens von Prioritäten. Familien sind der Ort, an dem Überlebensfähigkeit von Kindern gesichert wird (ebd.) und Bindungstheorien zufolge gilt: „the parent’s presence and concern is essential for a child’s physical and emotional security“ (Rowe 1994:7, in Nunner-Winkler 1999a:5). Bedrohung der Familie stellt demnach auch eine Bedrohung der eigenen Identität und Sicherheit dar, was durch eine 14-jährige
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bestätigt wird, die sagt: „ich brauch sie [die Mutter] ja, auch wenn ich nicht mit ihr rede“. Hier wird die Entscheidung für die Aufrechterhaltung der häuslichen Situation trotz der damit verbundenen anhaltenden Belastung für die Kinder und Jugendlichen getroffen, um zu verhindern, dass die Familie als Einheit auseinandergerissen wird. In dieser Gruppe der Schulkinder lassen sich viele Abwägungsprozesse der Kinder und Jugendlichen beobachten. Trotz des Wissens um mögliche Alternativen (z.B. das Jugendamt um Hilfe anzurufen, oder in JugendWGs zu ziehen), steht die Liebe der Kinder zu den Eltern und die Sicherheit der Familie als Einheit im Vordergrund, und zwar unabhängig von dem Ausmaß der erbrachten Hilfen. Auch die häufig formulierte Antwort, dass „es“ doch „selbstverständlich“ sei, verweist auf moralische Beweggründe, als sich die Kinder an soziokulturellen Normen orientieren. Familie als solche stellt das höchste zu schützende Gut dar, einander zu helfen und in Zeiten von (auch lang anhaltender) Not zusammenzurücken, ist im Sinne einer Sollgeltung eine Selbstverständlichkeit. Diese Grundprinzipien werden in der Interaktion von Familien von den Kindern früh erlernt und verinnerlicht (Nunner-Winkler 1999a). Mit wachsendem Alter wächst bei den Jugendlichen schließlich auch das Bewusstsein, zusätzlich zu ihrer Rolle innerhalb der Familie auch eine Rolle in der Gesellschaft inne zu haben, und innerhalb einer Gesellschaft existieren anerkannte moralische Regeln. In diesem Alter ist das Moralverständnis ausgebildet, und neben der Liebe zu den Eltern und ihrer Familie werden Beweggründe der Jugendlichen für die Übernahme von Hilfen auch aus ihrer moralischen Motivation heraus reflektiert und argumentiert. Nunner-Winkler (1999b) verweist darauf, dass sich moralischer Charakter dadurch ausbildet, moralisch zu handeln, selbst wenn eigene Bedürfnisse mit dieser Handlung in Konflikt stehen. So entscheiden ältere Jugendliche nicht selten, ihren Ausbildungsort bewusst in der Nähe des Elternhauses zu suchen, um auch nach Auszug aus dem Elternhaus weiterhin für den erkrankten Elternteil Verantwortung übernehmen zu können und „verfügbar“ zu sein, wie ein 18-jähriger es formuliert. Betroffene Familien, so legen die Ergebnisse nahe, verstehen es als selbstverständlich, den erschwerten Alltag innerhalb ihrer Familie primär alleine zu bewältigen, und die Angst vor einer Gefährdung der Familie als Einheit stellt einen wichtigen Grund dar, im Verborgenen zu bleiben und nur in Ausnahmen aktiv nach Hilfe von außen zu suchen. Die Ergebnisse legen vor allem nahe, dass Kinder und Jugendliche bereits als junge Teenager trotz zum Teil starker Belastung mit der häuslichen Situation sich im Zweifel immer – und hier sei betont, dass sie es bewusst tun – für eine Aufrechterhaltung der Situation entscheiden werden, besonders dann, wenn die Folgen der ihnen bekannten Hilfen von Außen für sie inakzeptabel sind.
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Enttabuisierung dieses Thema und ein wachsendes gesellschaftliches Bewusstsein sind unabdingbare Voraussetzungen für Hilfsangebote: ohne sie werden betroffene Familien nicht identifiziert, ihre spezifischen Bedürfnisse nicht erkannt und Adressaten nicht erreicht werden können. Mut machen hier Erfahrungen aus Großbritannien. In 15 Jahren Forschung und Öffentlichkeitsarbeit ist es dort gelungen, eine breite gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema zu erreichen, Studienergebnisse haben zu Gesetzesänderungen beigetragen, in denen die Rechte von pflegenden Kindern gestärkt werden, und in über 300 lokalen Projekten werden diese Kinder unterstützt und gefördert, so dass beides möglich ist: einfach nur Kind und pflegendes Kind gleichzeitig zu sein. Dies in Deutschland voranzutreiben, ist das Anliegen des nachfolgenden Forschungsprojektes (Schnepp/Metzing 2006), in dem auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse (Metzing 2007), ein lokales, professionelles, familienorientiertes Unterstützungsangebot für pflegende Kinder/Jugendliche und ihre Familien zu konzipieren, es in einer Kommune zu implementieren und zu testen, um das Konzept im Sinne einer breiten Verwertung auch anderen Kommunen zugänglich zu machen, sofern es sich als effektiv erweist. Hauptzielgröße der Intervention ist die Lebensqualität von pflegenden Kindern und Jugendlichen.
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Empirische Zugriffe III – Spezielle Zielgruppen und Versorgungsprobleme
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Der Einfluss sozialer Faktoren …
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Der Einfluss sozialer Faktoren auf den Umgang mit komplexen Medikamentenregimen – (k)ein Thema? Der Einfluss sozialer Faktoren …
Anja Ludwig
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Einleitung
Medikamentenverordnungen gehören in Deutschland zu den von Ärzten am häufigsten durchgeführten therapeutischen Maßnahmen (ABDA 2003; SVR 2005) und sind der zweitgrößte Ausgabenblock nach den Kosten für Krankenhausbehandlungen in der GKV. Gerade bei chronischen Erkrankungen und Multimorbidität erhöht sich die Anzahl der Arztbesuche, wobei zumeist Mediziner unterschiedlicher Fachdisziplinen in die Behandlung involviert sind. Die Anzahl von Diagnosen und einzunehmenden Arzneimitteln korrespondiert mit der Frequenz der Arztbesuche – rein statistisch betrachtet wird in Deutschland pro Arztbesuch ein Rezept ausgestellt (Hessel et al. 2000). Speziell im höheren Lebensalter wächst die Wahrscheinlichkeit, chronisch und mehrfach zu erkranken an. Hierdurch bedingt steigt die Notwendigkeit von Multimedikation, also die gleichzeitige Anwendung unterschiedlicher Arzneimittel (Nink et al. 2001; Kuhlmey 2003). Ob komplexe Medikamententherapien bei chronischer Krankheit und Multimorbidität den Zweck – Krankheitszustände zu stabilisieren und Verschlechterungen hinauszuzögern – erfüllen können, hängt einerseits von der fachlichen und sozialen Kompetenz der behandelnden Akteure, aber auch von den Ressourcen der Patienten ab. Letztere sind mit enormen Herausforderungen und Anpassungsleistungen konfrontiert, wenn sie Medikamentenregime erfolgreich in ihren Lebensalltag integrieren wollen (Schaeffer 2004). Auf beiden Ebenen – ob auf der Akteurs- oder Patientenebene – lassen sich Mängel und Defizite ausmachen, die in ihren Folgen gesundheitliches Leiden verstärken und hohe Kosten für das hiesige Gesundheitssystem implizieren. So gehen hierzulande etwa 300.000 Krankenhauseinweisungen auf unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE) und -Wirkungen (UAW) zurück. Bei älteren und alten Menschen gründen ca. 5 bis 23% aller Krankenhauseinweisungen in medikamentenbedingten Nebenwirkungen (Füsgen 2002). Die Zahlen zu Todesfällen durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen variieren hierzulande stark, es
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ist jedoch von einer fünfstelligen Zahl auszugehen1 (Schnurrer/Frölich 2003, Kolpatzik 2005). Gesamtkosten, die durch mangelnde Compliance oder NonCompliance (Abweichen/Nicht-Befolgung von ärztlichen Anordnungen)2 verursacht werden und sich aus direkten und indirekten Kosten zusammensetzen, belaufen sich in Deutschland auf schätzungsweise 10 Mrd. € (Volmer/Kilhorn 1998, SVR 2000/01, ABDA 2003). Die Kosten für vermeidbare Krankenhauseinweisungen, Notfallbehandlungen oder Pflegeheimeinweisungen betragen nach Volmer und Kilhorn jährlich 3,7 Mrd. € (Volmer/Kilhorn 1998). Konkrete – bspw. vermeidbare Akut- und Rehabilitationsbehandlungen oder irreversible Langzeitschäden mit der Folge von Behinderungen und Pflegebedürftigkeit – liegen in Deutschland bisher nicht vor. Für das U.S.-amerikanische Gesundheitssystem werden die Folgekosten von Fehlmedikationen und fehlerhaften Arzneimittelanwendungen auf eine jährliche Summe von 76 bis 136 Milliarden USDollar geschätzt (Phillips et al. 2001). Um die weitreichenden Folgen misslingender Medikamententherapien, wie sie hier skizziert wurden, für den Einzelnen und die Gesellschaft zu verringern, hat die Complianceforschung sich zum Ziel gesetzt, Messverfahren und Instrumentarien zu entwickeln, mit denen die potentielle oder tatsächliche Non-Compliance der Patienten erfasst werden kann. Um nachvollziehen zu können, weshalb die auf der Grundlage der Forschungsergebnisse entwickelten Interventionskonzepte zur Verbesserung der Compliance bzw. Adhärenz hinter den erhofften Erfolgen zurückgeblieben sind, soll zunächst eine kurze Skizzierung der Entwicklungslinien und Begrenzungen der Complianceforschung, mit einer Fokussierung auf die Klassifizierung von Risikogruppen nach soziodemografischen Merkmalen, erfolgen. Im Anschluss daran, sollen einige exemplarische Forschungsbefunde diese Begrenzungen untermauern. Abschließend gilt es in einer abstrakteren kritischen Gesamtschau der Compliancedebatte, die Notwendigkeit eines methodologischen und methodischen Richtungswechsels anzudeuten.
1
1999 übertrug der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen die Ergebnisse einer US-amerikanischen Studie, nach deren Befunden jährlich 44.000-98.000 Patienten in amerikanischen Krankenhäusern an den Folgen eines unerwünschten Arzneimittelereignisses versterben, auf deutsche Verhältnisse. Nach ihrem vorgelegten Gutachten belief sich die Zahl von UAE bedingten Todesfällen in deutschen Kliniken auf eine Zahl von 31.000 bis 81.000 Todesfälle, von denen 30-50% vermeidbar gewesen wären (Kolpatzik 2005). Die Varianz der statistisch belegbaren Morbidität fällt deshalb so breit aus, da der eindeutige Nachweis eines UAE bedingten Todesfalls aufgrund einer Vielzahl weiterer beeinflussender Variablen erschwert wird (Grandt et al. 2005). 2 Dierks und Kollegen verweisen darauf, dass mangelnde Compliance bzw. Non-Compliance als Verstoß gegen ungeschriebene Regeln einer gesunden Arzt-Patienten-Beziehung gesehen und formal rechtlich als sanktionswürdig erachtet werden (Dierks et al. 2001: 11).
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Entwicklungslinien und Begrenzungen der Compliance- und Adhärenzforschung
Bei der Recherche und Analyse der einschlägigen Literatur zur Compliance- und Adhärenzforschung3 wird schnell erkennbar, dass in dem zu untersuchenden Themenfeld quantitative Studien dominieren, die das Phänomen der medikamentenbezogenen Compliance und Adhärenz anhand objektivierbarer Parameter zu erfassen und zu erklären suchen. Diese Tatsache ist darauf zurückzuführen, dass die Complianceforschung primär in den Disziplinen Medizin und Pharmazie beheimatet ist. Beide Disziplinen lassen sich traditionell dem naturwissenschaftlichen Paradigma und damit einer objektivistischen Erkenntnislogik zuordnen. Gemessen daran sind in der Tradition der verstehenden Soziologie zu verortende Untersuchungen eher selten, wenngleich bereits in den 1980er-Jahren einige auch aus heutiger Sicht maßgebliche qualitative Studien zum Phänomen der Compliance durchgeführt wurden (z.B. Conrad 1985) und ihre Anzahl in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen hat (Pound et al. 2005). In der überwiegenden Anzahl empirischer Untersuchungen im Bereich der Compliance- und Adhärenzforschung steht indes nicht die Frage im Mittelpunkt, weshalb Patienten ihre Medikamentenregime nicht bewältigen. Die Mehrzahl der vorliegenden Studien sucht Antworten auf die Frage, welche Kriterien und Merkmale auf eine potenzielle Non-Compliance der Patienten hindeuten bzw. wie diese gemessen werden kann. Insofern sind die Nachweis- und Vorhersagbarkeit noncomplianten Verhaltens, durch biochemische Messwertanalysen, Monitoringverfahren und die Klassifizierung von Risikopopulationen nach soziodemographischen Merkmalen – die in diesem Text eingehender beleuchtet wird – die zentralen Erkenntnisschwerpunkte der Complianceforschung (Trostle 1988, Cramer/Mattson 1991, Rand 1993, Farmer 1999, Bovet et al. 2002). Ungeachtet der Tatsache, dass die Complianceforschung, Antworten auf viele Fragen zum Umgang mit komplexen Medikamentenregimen bis heute schuldig geblieben ist, hat sie einen wichtigen Beitrag zur verbesserten Kontrolle von Therapieprozessen geliefert, die nicht nur dem Medizinsystem dienlich sind, sondern auch das Selbstmanagement der Patienten vereinfacht haben. 3
Adhärenz kann als Modell einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient, in deren Zentrum die Therapiemotivation steht, verstanden werden. Die Therapiemotivation beinhaltet die Möglichkeit einer freien Wahl und die Anerkennung einer mit dem Therapeuten auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehung bei der Planung und Durchführung der Behandlung (Meichenbaum/Turk 1987). Anmerkung: Auch wenn der Begriff der Adhärenz eine Abkehr vom traditionellen Complianceverständnis einläuten sollte, werden beide Begriffe, ob in der therapeutischen Praxis oder der Wissenschaft, zumeist synonym verwandt. Ein tatsächlicher und in der Breite wirkender Paradigmenwechsel, ist bis heute ausgeblieben.
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Dem spezifischen Erkenntnisinteresse der Complianceforschung lag und liegt die Annahme zugrunde, dass die Ursache für das Versagen von medikamentösen Therapieregimen primär auf Seiten der Patienten zu suchen ist. Doch statt diesen die Möglichkeit einzuräumen, aus ihrer Perspektive darzulegen, weshalb eine Bewältigung komplexer Therapieregime im Lebensalltag nicht gelingt und/oder welche Probleme sie aufwirft, wird den Patienten in den Untersuchungen zumeist eine passive Rolle zugeschrieben (Leventhal/Cameron 1987). Damit bleiben die Ursachen und Hintergründe, für noncompliantes Verhalten, die im Patienten selbst begründet liegen und Grundlage der Entwicklung von Interventionskonzepten sein sollten, im Verborgenen. Dieses Complianceverständnis der Wissenschaft findet sich ebenso in paternalistisch geprägten Arzt-Patienten-Beziehungen. Auch dort wird dem Patienten lediglich im Rahmen der Umsetzung der Anordnungen, also der Einnahme der Medikamente, eine aktive Rolle eingeräumt. Auf beiden Ebenen werden Patienten bisher überwiegend als unberechenbare Größe bezüglich der erfolgreichen Wirkung von Arzneimitteltherapien identifiziert. Ein zentrales Untersuchungsinteresse der Complianceforschung galt von jeher der Nachweisbarkeit des Zusammenhangs von soziodemografischen Merkmalen und der Nichtbefolgung von Anordnungen im Kontext von Medikamententherapien, speziell bei chronischen Erkrankungen. Die Erhebung soziodemografischer Merkmale, stellt in der sozialepidemiologischen Forschung eine wichtige Messgröße dar. Sie wurzelt in einer sozialwissenschaftlichen Tradition, die Bezüge zwischen sozialen und demographischen Merkmalen, und der spezifischen Lebenssituation – und damit auch der Gesundheitssituation – einzelner Kohorten zu ergründen sucht. Die Herstellung und Analyse solcher Bezüge dient u.a. der Sichtbarmachung von sozialer Ungleichheit und damit auch der Sichtbarmachung von strukturell bedingten Phänomenen der Unter-, Über- und Fehlversorgung im Gesundheitssystem (Mielck 2000). Die Erhebung soziodemografischer Merkmale dient in der sozialepidemiologischen Forschung der Bestimmung und Klassifizierung von Risikopopulationen. Die Analyse der in unterschiedlichen empirischen Untersuchungen ermittelten Ergebnissen offenbart aber, dass kaum einheitliche Befunde vorliegen, die auf einen direkten Zusammenhang zwischen soziodemografischen Merkmalen und der medikamentenbezogenen Compliance/Adhärenz bei chronischer Krankheit schließen lassen. Kaum eine Untersuchung weist in diesem Bereich eindeutige Ergebnisse aus. Implizieren diese Ergebnisse aber tatsächlich, dass soziale Faktoren ohne Einfluss bleiben. Wäre dem so, hieße das gleichfalls, dass Zeichen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit hinsichtlich des Umgang mit Medikamentenregimen nicht existent sind?
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In dem 2003 von der WHO (2003) veröffentlichten Bericht zur Adhärenzproblematik bei den weltweit am häufigsten vorkommenden chronischen Krankheiten, wird dazu angemerkt, dass es den „typischen“ nonadhärenten bzw. adhärenten Patienten nicht gibt. Es lassen sich keine homogenen Gruppenmerkmale nachweisen, die die Annahme nahe legen, dass spezifische personenbezogene Merkmale, wie die soziale Schichtzugehörigkeit bzw. Lage, der ethnische und soziokulturelle (Migrations-) Hintergrund, Alter oder Geschlecht nonadhärentes Verhalten erklären können oder dessen Vorhersagbarkeit ermöglichen (Leventhal et al. 1984; Chesney et al. 1999). Ein statistisch signifikanter Einfluss soziodemografischer Merkmale auf die Ausprägung der Adhärenz konnte nur in Kombination mit weiteren Faktoren gefunden werden (vgl. auch Delaney 1998). Ausführliche, wenn auch nicht abschließende Bündelungen solcher Faktoren wurden bereits veröffentlicht (Ludwig 2005). Deutlich wird somit dass es sich bei Adhärenz um ein multifaktoriell geprägtes Phänomen handelt, bei dem sich unterschiedlichste Faktoren wechselseitig bedingen und das keineswegs auf soziodemografische Merkmale reduziert werden kann bzw. darf. Demnach also kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass soziale Ungleichheit hinsichtlich des Umgangs mit komplexen Medikamentenregimen nicht existiert, sondern ein anderes Verständnis von sozialen Faktoren notwendig ist, um diese Ungleicheit aufspüren zu können.
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Soziodemografische Faktoren – Die Illusion von der eindeutigen Vorhersagbarkeit nonadhärenten Verhaltens
Zu den vorrangig erfassten soziodemografischen Faktoren gehören innerhalb der Complianceforschung, Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildung, sowie die kulturelle Zugehörigkeit. Nachfolgend werden einige Forschungsbefunde exemplarisch dargestellt. Anhand dieser Merkmale wird verdeutlicht, dass sich alle genannten Faktoren innerhalb quantitativer Studien, in denen lediglich danach gefragt wird, ob sich Patienten noncompliant verhalten (könnten) oder nicht, keineswegs als verlässliche Parameter zum Nachweis von (Non-) Compliance erwiesen haben. Demgegenüber können Studien, die soziale Faktoren in einem weitergefassten Verständnis, nämlich als qualitative Strukturvariablen verstehen, und damit auch nach dem Warum der Nicht-Bewältigung von Medikamentenregimen forschen, sehr wohl Zusammenhänge zwischen Non-Compliance und soziodemografischen Merkmalen hervorbringen.
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(Non-)Compliance und Alter Mehrheitlich deuten die vorliegenden Forschungsbefunde daraufhin, dass ältere Patienten eine höhere Bereitschaft zur Adhärenz aufweisen als Jüngere. Jüngere Patienten sind stärker in das gesellschaftliche Leben eingebunden (Arbeit, Freizeit usw.), weniger auf den Gesundheitszustand fixiert, verweigern sich oft deutlicher der Krankheitsanerkennung und entwickeln in höherem Maße eigene Managementstrategien im Umgang mit der Erkrankung und der Medikamenteneinnahme als ältere Patienten (Aldwin 1991). Für Letztere haben ärztliche Anordnungen zumeist eine größere Bedeutung als für Jüngere (Lumme-Sandt/Virtanen 2002). Das Alter erwies sich in keiner der vorliegenden quantitativen Studien als verlässlicher Indikator oder Prädiktor für Noncompliance (WHO 2003: 28 ff). So wurde zwar in einigen Studien eine mit dem höheren und hohen Alter der Patienten korrespondierende Zunahme der Adhärenz nachgewiesen, sie ist allerdings auch mit einem gleichzeitigen Anstieg sozialer Unterstützung durch informelle Netzwerke assoziiert (Brandstaedt et al. 1996). Dabei gilt es zu bedenken, dass beispielsweise das Angewiesensein auf Hilfestellung bei der Medikamenteneinnahme durch Angehörige aufgrund zunehmender krankheits- und/ oder altersbedingter Funktionseinbußen stets auch das Moment der Kontrolle impliziert. Zudem sind jüngere Patienten offenbar eher bereit über noncompliantes Verhalten zu berichten als ältere Menschen. Die Bereitschaft zur Adhärenz kann indes nicht automatisch mit tatsächlicher Adhärenz gleichgesetzt werden. Hinzu tritt das Phänomen der nicht-intendierten, d.h. unbeabsichtigten bzw. unbewussten Non-Adhärenz. So können beispielsweise die Auswirkungen von kognitiven und/oder körperlichen Funktionseinbußen im Alter (CMAG 2004) die bereits seit Jahrzehnten andauernde Einnahme der Medikamente, in deren Verlauf Fehlanwendungen zur Routine geworden sind und daher nicht mehr hinterfragt werden, oder ein unzureichendes Verständnis gegenüber den Therapieanweisungen dazu führen, dass die Patienten in dem Glauben leben, sich adhärent zu verhalten, ohne dass dies jedoch faktisch der Fall ist (WHO 2003: 50; CMAG 2004). Diese Tatsache wird durch die Ergebnisse der australischen Studie von Chan et al. (2001) bestätigt. Demnach gehen 25% aller Krankenhauseinweisungen bei den über 75-Jährigen auf mangelhafte Medikamentencompliance zurück. Die mit zunehmendem Alter steigenden funktionellen Einschränkungen und Behinderungen können sich zu eindeutigen Erschwernisfaktoren bei der Bewältigung der komplexen Medikamentenregime entwickeln. So kann eine wachsende Immobilität bspw. die Beschaffung der Medikamente, oder aber das Aufsuchen des Arztes, ohne das Vorhandensein eines sozialen Unterstützungsnetzwerkes unmöglich machen. Die Folge: Medikamente können nicht nach Verordnung angewendet werden (The National Pharmaceutical Association 1998). Darüber hinaus be-
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stehen bei einem nicht geringen Teil älterer Menschen Hör- und Sehprobleme, was die Bewältigung von Medikamentenregimen erschwert. Beipackzettel oder Aufschriften auf Medikamentenpackungen können hierdurch schwer entziffert werden. Hörprobleme können zu Missverständnissen der ärztlichen Anordnungen führen (The National Pharmaceutical Association 1998). In einer Untersuchung von Cline et al. (1999) konnte ebenfalls nachgewiesen werden, dass ein hoher Prozentsatz der älteren befragten Patienten sich schon kurz nach Ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus nicht mehr an dort erläuterte Verordnungshinweise wie die Dosierung der Medikamente oder die Einnahmezeitpunkte erinnern konnten. In einer anderen Studie kannten die älteren Probanden und Probandinnen zum Befragungszeitpunkt nicht den Grund der medikamentösen Therapie und weniger als 6% waren sich über mögliche Nebenwirkungen ihrer verordneten Medikamente bewusst (Barat et al. 2001). Den zunehmenden Funktionseinschränkungen steht eine ebenfalls oft mit steigendem Alter assoziierte Multimedikation und damit ein komplexes Medikamentenregime gegenüber. Aus der Verknüpfung dieser beiden Aspekte können sich Überforderungen für die Betroffenen ergeben, die sich in geringen Adhärenzwerten mit schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden niederschlagen können (Kazis/Friedmann 1988). Die Vielzahl einzunehmender Medikamente in Kombination mit einer veränderten – und oft von Medizinern zu wenig berücksichtigten – Pharmakokinetik und Pharmakodynamik, erhöht speziell im Alter die Wahrscheinlichkeit des Auftretens gefährlicher Wechsel- und Nebenwirkungen. Diese vermindern die Therapiemotivation und damit die Bereitschaft zu adhärentem Verhalten (Kruse et al. 1987; Kruse 1994; Wood/Gray 2000). Als weitere Gefahrenquelle für ein adäquates Medikamentenmanagement im Alter werden Gefühle von Einsamkeit eingestuft. Nicht selten sind sie der Grund für oder das Ergebnis von Depressionen. Diese sind, wie durch eine große Fülle von Studien belegt werden konnte, mit niedriger oder fehlender Adhärenz assoziiert. Gefühle von Einsamkeit müssen nicht zwangsläufig auf soziale Isolation hindeuten. Soziale Isolation, die aufgrund einer Menge an unterschiedlichsten Faktoren (Ausdünnung des sozialen Netzwerkes durch den Tod Gleichaltriger, Kinderlosigkeit, eingeschränkte Mobilität usw.) mit dem Alter steigt (Kettler/Hamer 1989), kann ebenfalls die Adhärenz der Patienten deutlich reduzieren (The National Pharamceutical Asssociation 1998). (Non-)Compliance und Geschlecht Die Bewältigung von komplexen Medikamentenregimen ist stark geprägt durch geschlechtsspezifische und damit durch sozialisierte Bewältigungsmechanismen. Nach Auswertung vorliegender quantitativer Studien erwies sich diese Variable
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überraschenderweise nicht als konsistent in ihrem Bezug zu Compliance. Auch hier dominieren widersprüchliche Befunde. Dieser Sachverhalt erklärt sich möglicherweise, wie auch bei anderen soziodemographischen Merkmalen dadurch, dass sich die Variable erst in Verbindung mit weiteren Faktoren in ihrer Wirkung entfaltet. Die wenigen Befunde sollen hier jedoch kurz skizziert werden. Non-Compliance resultiert vielfach aus der Angst vor und/oder dem Erleben von Nebenwirkungen. Insofern dürfte die Anmerkung des Sachverständigenrates im Gutachten des Jahres 2005 von Interesse sein, wenn dort darauf verwiesen wird, dass bei Frauen eine höhere Rate von Fehlmedikationen zu verzeichnen ist und UAE´s bei ihnen häufiger auftreten als bei Männern (SVR 2005: 659). Wie eingangs erwähnt nimmt die Zahl der verordneten Medikamente mit der Frequenz der Arztbesuche statistisch betrachtet zu. Die Untersuchung von Hessel et al. belegt in diesem Zusammenhang, dass Frauen, die über 60 Jahre alt sind, deutlich häufiger Arztkontakte haben als dies bei ihrem gegengeschlechtlichen Pendant der Fall ist. Auch wenn die Anzahl einzunehmender Medikamente jenseits des achtzigsten Lebensjahres bei Frauen im Verhältnis zu Männern geringer ist, liegt sie jedoch vor diesem Alterszeitraum über denen der Männer (RKI 2003). Je komplexer und umfangreicher Medikamentenregime ausfallen, umso schwieriger wird deren Bewältigung, und umso mehr wächst die Wahrscheinlichkeit der Non-Adhärenz (Hessel et al. 2000). Durch eine Fülle von Studien aus dem Bereich der Bewältigungsforschung konnte nachgewiesen werden, dass soziale Unterstützung positive Effekte auf die Verarbeitung von gesundheitlichen Krisen hat. Krankheit und die aus ihr hervorgehenden Anforderungen, wie die Bewältigung von Medikamententherapien, können dort besser bewältigt werden, wo informelle Unterstützung aktiv wird (Kaplan/Hartwell 1987; Katapodi et al. 2002; Gallant 2003). Frauen messen der Unterstützung aus informellen Netzwerken eine höhere Bedeutung zu, erhalten diese jedoch seltener als Männer (Nestmann/Schmerl 1991). Dies wiegt umso schwerer, da soziale Unterstützung bei Frauen internale Kontrollüberzeugungen, die das Selbstvertrauen, die Anforderungen der Erkrankung selber bewerkstelligen zu können und Kontrolle über die Krankheit auszuüben, stärken. Bei Männern schwächt soziale Unterstützung den Anteil der internalen Kontrollüberzeugung eher ab, da hiermit ihr Bestreben, unabhängig von anderen Problemen zu lösen, konterkariert wird. Ein zu geringes Maß an internaler Kontrollüberzeugung, die eher Frauen als Männern nachgewiesen wurde (Ferrini et al. 1994), führt zu Passivität im Krankheitsgeschehen und stimuliert die Ablehnung von Verantwortungsübernahme im Behandlungsprozess. Diese Passivität steht einer effektiven Bewältigung eines Medikamentenregimes häufig konträr entgegen (Kraus/Keith 1989).
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Um ihre sozialen Rollen auch bei Krankheit weiter ausüben und funktionstüchtig bleiben zu können, greifen Frauen wesentlich schneller und häufiger als Männer zur Tablette (Glaeske 1991; MFJFG 2000; Sußmann 2001). Letztere kompensieren Angst, Stress und Alltagsprobleme eher mit Alkohol (SVR 2005: 661). Die Einnahme von Tabletten, die gesellschaftlich legitimiert ist, ermöglicht Frauen ihre Rolle weiter auszuüben und den Ansprüchen anderer und denen an sich selbst gerecht zu werden (MFJFG 2000; Sußmann 2001). Die Tablette wird hierdurch schnell zum „Heilsbringer“, der in seinen gefährlichen Wirkungen unterschätzt wird. Nicht selten werden verordnete Medikamente höher dosiert oder mit weiteren Medikamenten ergänzt, um Beschwerden zu kaschieren. Auch dieses Verhalten muss als non-adhärentes verstanden werden, aus denen mitunter schwerwiegende gesundheitliche Schäden resultieren können. Die Ergänzung von verordneten durch selbstbeschaffte Medikamente und deren parallele Anwendung konnte nach Auswertungsergebnissen des Bundesgesundheitssurveys von 1998 eher bei Angehörigen der Mittel- und Unterschicht nachgewiesen werden (RKI 2003). Die verinnerlichte Eigenschaft, die häufig bei Frauen vorzufinden ist, „für andere da zu sein“, führt nicht selten dazu, dass wichtige Belange, die die eigene Person betreffen, vernachlässigt werden. So konnte in der Untersuchung von Halkitis et al. (2003) bei PatientInnnen, die an HIV/Aids erkrankt waren, nachgewiesen werden, dass Frauen, die Kinder haben, die Einnahme ihrer Medikamente häufiger dann vergaßen, wenn Probleme in der Kinderversorgung vorlagen (siehe auch Roberts/Mann 2000). (Non-)Compliance und Haushaltseinkommen Das Haushaltseinkommen spielt mit Blick auf die Einhaltung medikamentöser Therapieregime vorwiegend dort eine Rolle, wo die Bevölkerungsgesundheit nicht oder nur unzureichend durch sozialstaatliche (Versicherungs-)Leistungen abgesichert ist. Betroffen sind hiervon im Krankheitsfall vorwiegend Angehörige der unteren sozialen Schichten bzw. Milieus. So findet in den meisten U.S.-amerikanischen Studien zur Compliance die Überprüfung des Einflusses des Schichtgradienten auf die Compliance eine besondere Beachtung. Das Einkommen spielt speziell dann eine Rolle, wenn eine medikamentöse Therapie teuer und auf Dauer angelegt ist und/oder wenn – wie im Falle von Multimorbidität – eine Vielzahl von Medikamenten regelmäßig zu finanzieren ist (Demyttenaere 1998; Johnson et al. 1999; DiMatteo et al. 2000; WHO 2003). Bei einem geringen Einkommen kann sich dieser Sachverhalt negativ auf das Adhärenzverhalten der Patienten auswirken. So zeigte Salzmann (1995) in seiner Studie auf, dass ältere Patienten mit begrenztem Einkommen bzw. geringer Rente aus Kostengründen dahingehend strategische Entscheidungen treffen, welche Medikamente sie sich
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leisten können und welche nicht (vgl. auch Stockwell-Morris/Schulz 1992). Ebenso konnte in Untersuchungen belegt werden, dass die hohen Kosten für Medikamente dazu führen, dass ältere Patienten diese in geringeren als verordneten Dosen einnahmen, um auf diese Weise die Kosten für Arzneimittel zu reduzieren (CMAG 2004). Nicht nur das Vorhandensein finanzieller Mittel ist entscheidend für eine erfolgreiche Pharmakotherapie, sondern auch die Bereitschaft für Medikamente diese auch auszugeben (Garnett 2000). Hinsichtlich benachteiligter Einkommensgruppen wird wiederholt auf die Vulnerabilität arbeitloser und wohnungsloser Personen (Myers 1999; Wright et al. 2000; Gilmer et al. 2004), wie auch auf solche, bei denen eine Substanzabhängigkeit (wie bei Alkohol oder Heroin) (Chesney 1997; Johnson et al. 2000) vorliegt, verwiesen. Das geringe Einkommen in Kombination mit den Folgen einer so gearteten prekären Lebenssituation, stellt ein Risiko für Adhärenz dar (vgl. auch Saounatsou 2001). Nicht nur die Kosten für Medikamente, sondern auch fehlende finanzielle Mittel, um den Transport zum Arzt, in eine Apotheke o. a. zu bezahlen, können sich als Adhärenz verringernde Faktoren erweisen (Lanier 1989). In einer anderen Studie wird aufgezeigt, dass Patienten oberer sozialer Schichten mit höherem Haushaltseinkommen eher in der Lage sind Gesundheitsrisiken einzuschätzen und zu vermeiden. Hierzu zählt auch die Kenntnis über die potentiellen Gefahren von Medikamenten und deren inadäquater Anwendung. Sie weisen ebenfalls ein höheres Maß an sozialen Kontakten auf als Personen niedrigerer sozialer Schichten (Sumartojo 1993). Was das Ausmaß der Sozialkontakte in verschiedenen Schichtgruppen angeht, lassen sich jedoch kaum einheitliche Ergebnisse beim Vergleich der Studien ausmachen. Es steht zu vermuten, dass die Schichtzugehörigkeit und insbesondere das Haushaltseinkommen der Patienten im Zusammenhang mit der Bewältigung komplexer Medikamentenregime zunehmend auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen werden. Die mit dem GMG eingeführten bzw. erhöhten Zuzahlungen der Patienten bei Arztkonsultationen (Praxisgebühr), Transportkosten und Medikamenten, stellen schon heute vor allem chronisch- und mehrfacherkrankte Menschen vor das Problem der Bezahlbarkeit dieser Leistungen, auch wenn für sie Sonderregelungen getroffen wurden. Werden aus Sorge um entstehende Kosten Rezepte nicht mehr eingefordert oder in der Apotheke eingelöst und Arzttermine nicht mehr wahrgenommen, können durch die Nichteinnahme der Medikamente gesundheitliche Beeinträchtigungen und/oder unerwünschte Arzneimittelreaktionen kaum noch frühzeitig erkannt werden. Auch die Möglichkeiten der kontinuierlichen Kontrolle und Bestärkung durch den Arzt sowie der Austausch über Schwierigkeiten mit dem Arzneimittelregime könnten dadurch reduziert werden (Richter 2004; Martens 2004).
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(Non-) Compliance und Bildungsniveau Auch das Bildungsniveau kann – entgegen vieler Vorannahmen – nur wenigen Studienergebnissen zufolge eindeutig mit (Non-)Adhärenz assoziiert werden (Sumartojo 1993). In der Untersuchung von Stone (2001) erwies sich die Krankheitseinsicht und die Bereitschaft zu gesundheitsfördernden Verhaltensänderungen – so auch die Einhaltung ärztlicher Anordnungen bei medikamentösen Therapien – unter Personen mit höherem Bildungsstatus als ausgeprägter als bei solchen mit niedrigem Bildungsstatus (vgl. auch Golin et al. 2002). Auch wenn die meisten Studien zeigen, dass Bildung kein oder nur ein sehr schwacher Indikator für (Non-) Adhärenz darstellt (WHO 2003), wird in diesem Kontext auf das Problem des (faktischen) Analphabetismus verwiesen (Mitchell et al. 2000; Stone 2001): Werden schriftliche Anweisungen des Arztes, Hinweise in Beipackzetteln oder auf der Packung nicht hinreichend verstanden, kann es zur falschen Anwendung der Arzneimittel kommen. Analphabetismus stellt sich auch bei der Beschaffung von Literatur über die Krankheit und die Medikamente als problematisch dar. Die fehlende Lesefähigkeit kann die Eigeninitiative im Krankheitsprozess und damit die Fähigkeit zum Selbstmanagement deutlich negativ tangieren. Wie Gazmararian et al. (2003) in einer Untersuchung bei über 65-jährigen Patienten nachweisen konnten, erhöht eine unzureichende Lese- und Verständnisfähigkeit die Wahrscheinlichkeit von Hospitalisierungen. Allgemein kann festgehalten werden, dass ein niedriger Bildungsgrad und Analphabetismus mit mangelndem Verständnis über Gesundheitsrisiken und die potentiellen Konsequenzen einer inadäquaten Medikamentenadhärenz assoziiert ist (CMAG 2004, Kap.8). Ebenso ist bei Patienten ohne ausreichende Lese- und Verständnisfähigkeit die Wahrscheinlichkeit, die Medikamente in falscher Dosis anzuwenden und unter Depressionen zu leiden, höher als bei denen, die über diese Fähigkeit verfügen (Kalichman et al. 1999). (Non-)Compliance und Kulturelle Zugehörigkeit Bei Patienten mit Migrationshintergrund, die die landesübliche Sprache nur wenig bis gar nicht beherrschen, stellt sich das Verstehen von schriftlichen Anweisungen zur Medikamentenanwendung als problematisch dar. Hierdurch bedingte Kommunikations- und Verständigungsschwierigkeiten mit dem Arzt führen häufiger zu Missverständnissen und diese wiederum verstärken Stigmatisierungsgefühle der erkrankten Personen (Sumartojo 1993). Hier kommen teilweise auch soziokulturell geprägte Einstellungsmuster zum Tragen (Garnett 2000). Insgesamt zeichnet sich in Studien zur Compliance und Adhärenz, die den Aspekt der kulturellen Zugehörigkeit oder die sich speziell Problemen der Gesundheitsversorgung von ethnischen Minderheiten widmen, ab, dass Migranten im Verhältnis zu einheimischen Bevölkerungsgruppen wesentlich seltener Ärzte
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aufsuchen und weniger Medikamente einnehmen, aber wiederum mehr soziale Unterstützung aus informellen Netzwerken erhalten. Die Angst vor dem Gesundheitssystem allgemein und das Misstrauen in die verordneten Therapien, so konnte in einigen Studien gezeigt werden, vermindern die Bereitschaft zur Befolgung ärztlicher Anordnungen (Lanier 1989). In einer Untersuchung von Collins glaubten bspw. 15% von 100 befragten African Americans, die an HIV-Aids erkrankt waren, dass sie eine bessere medizinische Versorgung erhalten hätten, wenn sie einer anderen Rasse oder Ethnie angehört hätten. Untersuchungen an derselben Kohorte zeigten, dass die befragten Personen seltener und wenn doch, weniger gut krankenversichert waren als weiße Amerikaner (Collins et al. 2002). Die Soziale Unterstützung, die als Ressource maßgeblichen Einfluss auf (non-)adhärentes Verhalten hat, ist unter Migranten und bei Personen, die nicht dauerhaft an einem Ort sesshaft sind oder erst seit kurzem dort leben, geringer ausgeprägt als bei Personen, die bereits längere Zeit an einem Ort heimisch sind (WHO 2003).
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Kritische Betrachtung der Complianceforschung und mögliche Auswege
Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass sich der Einfluss sozialer Faktoren auf den Umgang mit Medikamentenregimen bei chronischer Krankheit nicht auf sozidemografische Merkmale einer Person oder einer Gruppe reduzieren lässt. Wie schon der erwähnte Bericht der WHO hervorhebt, handelt es sich bei Adhärenz um ein multifaktoriell geprägtes Phänomen, bei dem sich unterschiedlichste Faktoren wechselseitig bedingen. Ein statistisch signifikanter Einfluss soziodemografischer Merkmale auf die Ausprägung der Adhärenz ist nur in Kombination mit weiteren Faktoren zu finden (vgl. auch Delaney 1998). Das Ausbleiben signifikanter Ergebnisse, mahnt zu einer Überprüfung der bisher angewendeten Forschungsdesigns und –Methoden, und damit einer Überprüfung der Erkenntnisweise. Die Reduktion des Individuums auf einen messbaren Gegenstand – so wie in der Tradition der Complianceforschung üblich – verdeutlicht, dass objektive Parameter nur wenig über die konkreten Handlungen der Akteure, hier also über die Ressourcen und Probleme im Umgang mit Medikamentenregimen in der alltäglichen Praxis aussagen können. Doch gerade diese Praxis, die originärer Ort der täglichen Bewältigung von Medikamentenregimen ist, gibt Auskunft darüber, wo Interventionskonzepte ansetzen müssen, sollen sie zu Verbesserungen im Umgang mit Medikamentenregimen führen. Die Ausblendung dieser Praxis, die gleichzeitig auch eine Ausblendung der Akteure impliziert, kann keine
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Unterstützungskonzepte, mit denen sie sich identifizieren, anbieten, weil die Praxis der Akteure nicht mit der Theorie der Wissenschaft gleichgesetzt werden kann (Krais/Gebauer 2002). Zudem entzieht sich eine solch einseitig objektivistisch ausgerichtete Forschungslinie, die von nutzenorientiertem Handeln der Akteure ausgeht (Joas 2004), der Erkenntnis, dass der überwiegende Teil menschlicher Handlungen, also auch der im Kontext von Krankheit, unbewusst verläuft, da diese Handlungen, Denk- und Wahrnehmungsschemata durch bereits frühe Prägungen des Herkunftsmilieus tief inkorporiert sind. Deshalb erscheinen sie dem Handelnden intuitiv sinnvoll und richtig, selbst wenn diese Handlungen – konkret im Umgang mit Medikamentenregimen – von Außenstehenden objektiv betrachtet als kontraproduktiv oder falsch bewertet werden (Schwingel 2003). In diesem Sinne entzieht sich das Verhalten der Patienten auch dem in der Complianceforschung immer wieder vermittelten Schuldzuspruch. Auch wenn die tief eingeprägten Strukturen -zumindest im Rahmen der verfügbaren Ressourcen und Bedingungen des Herkunftsmilieus veränderbar sind (Krais/Gebauer 2002; Schwingel 2003), haftet ihnen doch auch ein hohes Maß an Trägheit an, die sich dadurch erklärt, dass sie Sicherheit durch Vertrautheit vermittelt. Die hier angesprochenen Ressourcen und Bedingungen (kulturelle und ökonomische) des Herkunftsmilieus, sind letztlich auch für den Umgang mit komplexen Medikamentenregimen entscheidend. Somit sind sie auch ein bedeutsamer Parameter für die soziale Ungleichheit im Umgang mit Krankheit und Medikamenten. Aufgrund dieser hier nur angedeuteten Komplexität, auf der sich das Handeln der Akteure konzipiert, wird ersichtlich, dass die bloße Erfassung von soziodemografischen Faktoren, die konstituierenden Bedingungen des Handelns der Patienten außer Acht lässt. Das Verhalten von Patienten lässt sich nicht vorhersagen und erst recht nicht erklären, wenn die Patienten als Objekte nicht aber als Akteure, die ihrerseits Praxis reproduzieren und generieren, begriffen werden. Sie besitzen eigene Relevanz- und Deutungssysteme die sich der Laborperspektive objektivistischer Forschung wie auch gesellschaftlichen Regeln und Normen – wie beispielsweise auch die Compliance eine ist – entziehen. Mit Bourdieu gesprochen „Dem Handeln der Menschen wohnt in Bezug auf Regeln und Muster, Rituale und Vorschriften offensichtlich ein Moment der ‚Unvorhersagbarkeit’ inne...“ (Bourdieu 1976: 31). Wie die zurückliegenden Ausführungen vermittelt haben, bedarf es für eine effiziente Verbesserung der Compliance bzw. Adhärenz durch zielgruppenspezifische Interventionskonzepte, zunächst der konsequenten Einbeziehung der Patientenperspektive in Untersuchungen. Um an deren vielfach unbewussten Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsschemata zu gelangen, wird es notwendig sein, methodische Verfahren (qualitative) zu wählen, die den Zugang zu den ver-
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deckten Relevanz- und Deutungssystemen, die Ausdruck der spezifischen sozialen Prägung der Akteure bzw. Patienten sind, gewähren. Erst dieses Vorgehen ermöglicht die Erfassung von sozialen Einflussfaktoren auf den Umgang mit komplexen Medikamentenregimen bei chronischer Krankheit. Aus diesem Grund sollte die bisherige Forschungstradition im Bereich von Compliance und Adhärenz soziale Einflüsse auf das Patientenverhalten künftig nicht auf das klassische Verständnis von soziodemographischen Faktoren wie Bildung, Einkommen, Geschlecht oder Alter begrenzen, sondern diese eher als qualitative Strukturvariablen begreifen.
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Zur Rolle von Ungleichheits- und Machtverhältnissen in der Interaktion zwischen Pflegenden/Ärzten1 und verschiedenen Patientengruppen im Krankenhaus Zur Rolle von Ungleichheits- und Machtverhältnissen …
Verena Dreißig
Macht besteht, nach einer Definition Hermann Gukenbiehls, aus verschiedenen Möglichkeiten und Formen der Durchsetzung und der Beeinflussung, die generell auf einem Überlegenheits- bzw. Abhängigkeitsverhältnis zwischen Personen, Gruppen, Staaten oder Gesellschaften beruhen (2001: 208). In Interaktionsbegriffen ist Macht als asymmetrische Beziehung zwischen Akteuren zu verstehen. Die Institution Krankenhaus ist allgemein von einer Fülle ungleicher bzw. asymmetrischer Beziehungen geprägt. Dies betrifft insbesondere die Beziehung zwischen Klinikpersonal und Patienten. Der oder die Patient/in übernimmt dabei in der Regel die Rolle des abhängigen Parts, das Personal besitzt demgegenüber entschieden mehr Handlungsfreiheit. Ferner gibt es eine klare professionelle Hierarchie im Krankenhaus, der sich die einzelnen Professionen und Stände weitgehend unterzuordnen haben: Verwaltungsleitung, Stationsärzte, Chefärzte, Küchenpersonal, Pflegedienstleitung und Pflegende. Sie alle sind in der Krankenhaushierarchie fest verortet und handeln nach Maßgabe der ihnen vorgegebenen Rollen. In diesem Beitrag sollen unterschiedliche Machtverhältnisse, die im Krankenhaus bestehen, betrachtet werden. Dabei werden speziell Patienten mit Migrationshintergrund und deren Beziehungen zum Klinikpersonal fokussiert. Konkret soll den Fragen nachgegangen werden: Wo sind zugewanderte Patienten in den bestehenden Machtverhältnissen verortet? Wie sehen zugewanderte Patienten und ihre Angehörigen die eigene Position im Klinikgefüge, was für Konflikte ergeben sich daraus und welche neuen Konstellationen entstehen? Zunächst wird es darum gehen, ein Bild der generell asymmetrischen Beziehung zwischen Patienten und Klinikpersonal zu entwerfen, um im nächsten Schritt die besondere Stellung zugewanderter Patienten darzustellen. Darauf aufbauend wird gezeigt, wie zugewanderte Patienten [und ihre Angehörigen] die eigene Position im Klinikgefüge deuten, welche speziellen Strategien sie anwen1
Die Begriffe ‚Pflegende’, ‚Ärzte’ und ‚Patienten’ werden von mir in ihrer neutralen oder männlichen Form gebraucht; gemeint sind aber beide Geschlechter..
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den, um ihre teilweise marginale Position zu verbessern und was dies wiederum für alle Beteiligten zur Folge hat. Zunächst ein paar Worte zu Rahmenbedingungen und Methoden der Untersuchung, auf deren Grundlage dieser Beitrag entstanden ist.
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Rahmenbedingungen und Methoden
In dem Forschungsprojekt, dem die Ergebnisse entstammen, ging es um Besonderheiten der Interaktion zwischen Klinikpersonal und Patienten mit Migrationshintergrund. Um herauszufinden, wie zwischen beiden Gruppen kommuniziert wird, habe ich in zwei großstädtischen Lehrkrankenhäusern mittels der Instrumente der teilnehmenden Beobachtung und Leitfaden-Interviews eine explorative Erhebung angestellt. Zehn Monate nahm ich am Stationsalltag auf insgesamt vier Stationen der Inneren Medizin teil und begleitete wechselnd Pflegende und Ärzte auf ihren Rundgängen und Visiten durch Patientenzimmer. Dabei beobachtete ich die stattfindende Interaktion und erstellte auf dieser Basis Gedächtnisprotokolle. Darüber hinaus führte ich Leitfaden-Interviews mit Ärzten und Pflegenden durch, in welchen ich Einstellungen und Hintergründe ihres kommunikativen Handelns in Bezug auf Patienten erfragte. Dazu kamen Experten-Interviews mit Mitarbeitern einer Organisation, die Einwanderer im Gesundheitswesen berät und vertritt. Die Forschungsergebnisse erschienen 2005 unter dem Titel „Interkulturelle Kommunikation im Krankenhaus – Eine Studie zur Interaktion zwischen Klinikpersonal und Patienten mit Migrationshintergrund“. Die nachfolgenden Zitate entstammen der genannten Feldforschung im Krankenhaus.
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Ungleiche Beziehungen zwischen Patienten und Personal
Zwischen Patienten und Personal herrscht im Krankenhaus ein zentraler Interessenkonflikt, welcher den meisten kleineren oder größeren Konflikten zwischen beiden Parteien im Klinikalltag zugrunde liegt. Pflegende und Ärzte, auf der einen Seite, repräsentieren die Ordnung der Institution Krankenhaus und haben damit ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Ordnung. Dies bedeutet, dass sie sich nicht um jeden Patienten einzeln kümmern können, sondern dafür sorgen müssen, dass der Stationsalltag und die Arbeitsabläufe eingehalten werden und möglichst reibungslos funktionieren. Dabei ist eine gewisse professionelle Distanz zu den Patienten und ihren Leiden notwendig. Verstärkt wird diese Tendenz zur Distanz von den derzeitigen Arbeitsbedingungen im Krankenhaus, bei denen ein immer kleinerer Mitarbeiterstab immer mehr Arbeit zu bewältigen hat.
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Die Patienten dagegen, auf der anderen Seite, haben aufgrund ihrer angeschlagenen gesundheitlichen [oder auch sozialen] Situation ein großes Bedürfnis nach Zuwendung, Trost und Wärme und fordern diese oft auch vom Personal ein. Dieses Nähebedürfnis der Patienten muss ganz zwangsläufig mit dem Bedürfnis des Personals nach Distanz, Arbeits- und Zeitersparnis kollidieren. Zur Illustrierung dieses Interessenkonfliktes sei die folgende Konfliktsituation zwischen zwei Pflegenden und einem deutschen Patienten zitiert: Ich beobachte, wie Pflegerin B. das Frühstück des Patienten Herrn C. abräumen will, sie fragt ihn freundlich, ob er fertig sei. Ein geschmiertes Brot liegt noch da, dazu viele Pillen. Er meckert ein wenig, den Rest bekomme ich nicht mit. Kurz darauf kommt Pflegerin B. ins Stationszimmer und verkündet, Herr C. habe gesagt, dass alle Ärzte und Krankenschwestern hier Arschlöcher seien. Die Pflegerinnen sind empört, Pflegerin D., die heute für ihn zuständig ist, geht – zusammen mit Pflegerin E., die ihm nach eigener Aussage heute Morgen „mit so viel Hingabe“ die Brote geschmiert hat – zu ihm. Sie habe gehört, dass er das Personal Arschlöcher genannt habe, stellt ihn Pflegerin D. freundlich, aber bestimmt zur Rede. Was es denn damit auf sich habe? Herr C. sitzt auf dem Bett und starrt bockig vor sich hin. Er grummelt, als die Pflegenden immer wieder nachfragen, was ihn denn so störe, was man denn heute falsch gemacht habe. „Was möchten Sie denn?“, fragt Pflegerin D. Da platzt es aus ihm heraus: „Ich möchte, dass man mich hier endlich wie einen Mensch behandelt!“, dazu haut er mit der Faust aufs Kissen und macht ein kindlich-bockiges Gesicht. Es folgen jedoch keine Argumente oder Anschuldigungen. Pflegerin D. bleibt zwar in der Sache hart, aber freundlich. So schafft sie es am Ende, dass er sich zwar grummelnd und widerstrebend, aber immerhin – die vielen Tabletten von ihr reichen lässt und sie schluckt. Zurück im Stationszimmer machen die Pflegerinnen ihrer Empörung Luft und vergleichen Herrn C. mit dessen Bettnachbarn Herrn F. Dabei nimmt Pflegerin D. Herrn C. nicht mehr wegen seiner Behinderung in Schutz wie vorher geschehen. Pflegerin B. ist der Meinung, der Patient werde von seiner Frau zu stark verwöhnt, die lese ihm jeden Wunsch von den Augen ab.
Der Interessenkonflikt zwischen beiden Parteien wird hier deutlich sichtbar: Der Patient möchte, dass die Pflegerinnen sich um ihn kümmern und ihm Aufmerksamkeit schenken; bezeichnenderweise beruhigt er sich genau an dem Punkt, als sie sich ihm zuwenden und ihm seine Tabletten geben. Die beiden Krankenpflegerinnen sind dagegen der Meinung, dass sie sich schon sehr um den Patienten bemüht haben und empfinden ihn als fordernd und undankbar. Aufgrund dieser Konfliktkonstellation entwickeln nun beide Parteien verschiedene Strategien, mit diesem Problem umzugehen. In der Analyse habe ich unterschiedliche Gruppen von Patienten und Personal isolieren können. Um die Thematik einzugrenzen, werde ich hier nur die Gruppe derjenigen Patienten diskutieren, die Schwierigkeiten haben, sich angemessen zu verständigen.
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Verena Dreißig Patienten mit Verständigungsschwierigkeiten
Zur Gruppe derjenigen Patienten, die mit der Verständigung Schwierigkeiten haben, gehören keineswegs nur Patienten mit Migrationshintergrund. Auch andere Patientengruppen, wie zum Beispiel Schlaganfallpatienten, stark schwerhörige Patienten, alkoholkranke Obdachlose, Patienten mit sehr niedrigem Bildungsstand oder demenzkranke Patienten haben häufig Mühe, sich dem Klinikpersonal verständlich zu machen. Diese Patienten sind nicht immer in der Lage, die eigenen Interessen zu vertreten. Mitunter laufen sie im rauen Klinikalltag Gefahr, vom Personal besonders wenig beachtet und schnell ‚abgefertigt’ zu werden. Dazu das folgende Beispiel eines Visitengesprächs zwischen Oberarzt B. und der [deutschen] Schlaganfallpatientin Frau C.: Bei der Visite mit Frau C., Jahrgang 1921, merke ich Oberarzt B. Ungeduld an. Sie ist eine alte Dame, berichtet, dass sie zu Hause immer Gymnastik treibe. Sie wirkt sehr gepflegt und bei sich, nur spricht sie sehr langsam, sagt auch, dass sie seit ihrem Schlaganfall Schwierigkeiten mit der Sprache habe. Im Dialog mit ihr fängt der Arzt an, zusehends schneller zu reden, unterbricht sie teilweise und wendet sich immer wieder mit dem Körper von ihr ab, bevor sie ihr Anliegen vollständig – in ihrem Tempo – vorgebracht hat. Sie möchte mehr Informationen über ihren Zustand, was sie noch tun kann und darf, aber er wirkt ungeduldig und macht es am Ende kurz, indem er sie schnell beruhigt und ihr dann zum Abschied die Hand reicht.
In dieser Interaktionssituation ist deutlich zu erkennen, dass der behandelnde Oberarzt wenig Geduld mit der in ihrer Sprache behinderten Patientin aufbringt; die Patientin weist ihn zwar auf ihr Handicap hin, der Arzt stellt sich jedoch nicht auf ihr Tempo ein. Möglich ist, dass er bei diesem Gespräch unter Zeitdruck steht. Da er in der überlegenen Position ist, fügt sich die Patientin und akzeptiert seine schnelle Visite.
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Strategien im Umgang mit dem Interessenkonflikt
Pflegende und Ärzte reagieren auf ihnen ‚lästige’ oder ‚schwierige’ Patienten, welche ihnen besonders viel Geduld abverlangen, ganz unterschiedlich. Als die wichtigsten vier Strategien, um sich nicht allzu lange mit solchen Patienten aufzuhalten, wurden die Strategie der Distanzierung, die verbale Auseinandersetzung, das Nicht-ernst-Nehmen von Patienten und das Delegieren ausgemacht. Dabei konnte festgestellt werden, dass die beiden Professionen, Pflegende und Ärzte, tendenziell unterschiedliche Strategien anwenden. Die Distanzierung ist
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eine besonders häufig von Ärzten angewandte Strategie, während Pflegende eher die verbale Auseinandersetzung suchen. Zunächst das Beispiel zweier im Gespräch eher distanzierter Ärzte in Interaktion mit der Patientin Frau T.: Die Patientin Frau T. leidet unter extrem starken Durchfällen, bei denen offensichtlich kein Medikament anschlägt. Auch nach mehreren Untersuchungen hat sich keine fassbare Ursache gezeigt, die Medikamente haben bisher nicht angeschlagen. Bei der Visite klagt die Patientin stärker noch als letztes Mal und sehr ausführlich darüber, wie heftig ihre Durchfälle seien und beschreibt anschaulich, wie sie es etliche Male „nicht mal mehr bis zum Klo geschafft“ habe. Sie wolle ja essen, habe auch Hunger, könne es aber nicht. Die beiden Ärzte [Stationsarzt V. und die Ärztin im Praktischen Jahr U., welche das Zimmer übernommen hat] versenken sich in ihre Akten, Frau T. spricht weiter, schaut dabei oft mich an, da ich offensichtlich die Letzte bin, die ihr zuhört; die anderen halten nach einer Weile den Blick gesenkt. Dann sagt U., quasi zusammen-fassend: „Ich verstehe, dass das alles für Sie sehr unangenehm ist. Wir werden aber weiterhin abwarten, ob die Medikamente anschlagen.“ Wenn nicht, könne sie am Montag nach Hause. Daraufhin verabschieden sich die Ärzte, und wir gehen.
Diese Situation zeichnet sich durch eine oberflächlich gewahrte Form seitens der Ärzte aus. Auf gestischer Ebene und durch ihr Schweigen vermitteln sie der Patientin jedoch, dass ihre ausführlichen Schilderungen sie nicht interessieren, dass sie die Visite gern kurz zu halten und auf ihre Ausführungen nicht einzugehen wünschen. Die Strategie der Distanzierung ist nur dann erfolgreich, wenn die Machtungleichheit zwischen beiden Parteien besonders groß ist und die Patienten daher gegen diese Form der Kommunikation nicht aufzubegehren wagen. Pflegende dagegen setzen sich, wie bereits erwähnt, eher mit Patienten auseinander, weisen sie zurecht oder äußern Missfallen verbal: Die Patientin Frau L. beklagt sich laut bei mir, dass sie erst jetzt – nach Ausgabe des Frühstücks – Tropfen gegen ihre Übelkeit bekommen habe, dabei solle sie diese doch eine halbe Stunde vor dem Frühstück einnehmen, das habe der Arzt extra gesagt – und nun würde sie erst jetzt die Tropfen bekommen! Ich beruhige sie dahingehend, dass sie sie vielleicht auch jetzt noch nehmen könne, und frage Pflegerin K., die im Nebenzimmer eine andere Patientin füttert. Diese hat offenbar gehört, worum es ging, kommt ins Zimmer und kommentiert mit ärgerlichem Abwinken: „Ach! Mecker, mecker, mecker!“ Ich frage, ob Frau L. die Tropfen jetzt noch einnehmen könne, sie sagt in einem Tonfall, der zeigt, dass das alles völlig unwichtig sei und zur Patientin hin: „Jaja.“
In dieser Situation ist zu erkennen, dass die Pflegerin K. auf die Wünsche der Patientin mit Ärger und Schimpfen reagiert und ihren Ärger der Patientin auch
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deutlich zeigt. Ob die Patientin es dabei belässt oder sich mit der Pflegerin weiter auseinandersetzt, ist diesem Beispiel nicht zu entnehmen. Möglicherweise reagieren Pflegende und Ärzte deswegen mit unterschiedlichen Strategien, weil sie in der Hierarchie des Krankenhauses unterschiedliche Positionen einnehmen, so dass Patienten sich bei Pflegenden eher getrauen, sie in Konflikte zu verwickeln, während sie dies bei Ärzten nicht wagen würden. Eine andere Interpretation wäre, dass Funktion und Ausbildung beider Berufe so unterschiedlich angelegt sind, dass sich dies auch auf die Form der Interaktion auswirkt. Die Strategie, Patienten nicht ernst zu nehmen, konnte bei beiden Professionen beobachtet werden. Darunter verstehe ich eine Form des Hinweggehens über die Patienten, die es erlaubt, sich nicht allzu intensiv mit den Leiden der Patienten auseinandersetzen zu müssen. Auch hilft sie, die Arbeit trotz der im Klinikalltag allgegenwärtigen Themen Schmerz, Leiden, Tod und Trauer leicht und fröhlich zu gestalten. Ein gutes Beispiel dafür ist Pflegerin W.: Der Umgang der Krankenpflegerin W. mit den Patienten hat etwas Erfrischendes, dabei tendiert sie zum ‚Sprüchekloppen’. „Krieg ich ’n Stück Bauch von Ihnen?“, fragt sie einen Patienten, dem sie eine Spritze in den Bauch geben muss. Dieser versteht nicht gleich, versteht aber dann, als er die Spritze sieht: „Ach so“, und macht seinen Bauch frei. Frau X fragt sie: „Na, gut genächtigt?“ Diese geht relativ ernst darauf ein und erzählt, wie sie geschlafen habe. Auch während Pflegerin W. zusammen mit ihrer Kollegin Y. die todkranke Frau Z. vom einen ins andere Zimmer hinüber schiebt (beim Anblick von Frau Z. sagt Stationsarzt A. zu mir: „Wenn das so weitergeht, benachrichtige ich ein Hospiz“), ruft sie uns fröhlich zu: „Wir ziehen um!“
Die letzte Strategie, die ebenfalls sowohl von Pflegenden als auch von Ärzten angewendet wird, ist die Strategie des Delegierens. Pflegende delegieren die Verantwortung für eine erfolgreiche Behandlung und das Wohl von Patienten gerne an Stationsärzte, diese wiederum an Oberärzte, ambulant weiterbehandelnde Ärzte, den Sozialdienst und andere Personen in- und außerhalb des Krankenhauses. Dies ermöglicht es ihnen, Zeit zu sparen in der Behandlung der Patienten und selbst möglichst wenige verantwortliche Schritte zur Behandlung der Patienten tätigen zu müssen.
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Der Umgang mit zugewanderten Patienten
Wie bereits angedeutet, gibt es zwischen zugewanderten Patienten und anderen Patientengruppen mit Verständigungsschwierigkeiten große strukturelle Ähn-
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lichkeiten. Beide Gruppen werden vom Personal häufig zeitsparend behandelt, sie werden schnell ‚abgefertigt’, wobei als Begründung seitens des Personals leicht beschieden wird „Die Patientin bzw. der Patient versteht mich ohnehin nicht“. Dazu zwei Fallbeispiele: Über Frau D., eine portugiesische Patientin, berichtet Stationsarzt C. vor der Visite, sie spreche kein Wort Deutsch. Lakonisch bemerkt er: „Ich verstehe sie nicht, sie versteht mich nicht.“ Dabei sei die Blutzuckereinstellung, die ihr bevorstehe, eine sehr sprachintensive Sache. Aber übermorgen würde jemand kommen, der übersetzen könne. Frau D. isst gerade, als wir hereinkommen, ihre erwachsene Tochter sitzt neben ihr, kann aber auch nicht übersetzen, da auch sie sehr schlecht Deutsch spricht. Frau D. beginnt, dem Arzt eindringlich etwas auf Portugiesisch zu erklären, deutet dabei aufs Essen und schaut ihn intensiv an. C. sagt daraufhin resigniert zu mir: „Ich versteh’ sie nicht.“ Und dann zu ihr, ohne weitere Verständigungsversuche: „Tschüss“, und reicht ihr die Hand zum Abschied. Während wir dann mit der Bettnachbarin von Frau D. beschäftigt sind, kommt Krankenpflegerin E. ins Zimmer und redet Portugiesisch mit der Patientin. [Dazu erklärt mir Pflegerin F. später: „E. hat eine Zeitlang in Brasilien gelebt.“] Zu einer Übersetzung für den Arzt kommt es dabei nicht.
Aufgrund der mangelnden Deutschkenntnisse von Frau D. und ihrer Tochter erscheint eine Verständigung mit dem Arzt zunächst nicht möglich, was dieser auch leicht resigniert zum Ausdruck bringt. Erstaunlich mutet jedoch an, dass er seine Haltung auch dann noch beibehält, als eine potentielle Dolmetscherin, die Pflegerin E., im Zimmer erscheint und mit der Patientin redet. Auch im Folgenden finden keine Bemühungen seitens des Arztes statt, die Patientin über Pflegerin E. zu erreichen. Insofern kann von einer Instrumentalisierung seines Arguments, man könne einander nicht verstehen, ausgegangen werden. Möglicherweise ist es ihm ganz recht, wenn er nicht allzu viel von dem verstehen muss, was die Patientin ihm sagen möchte. Ähnlich das folgende Beispiel, in dem es um die aus der Türkei stammende Patientin Frau C. geht: Nach dem Essenausteilen – der Essenswagen steht vor der Stationsküche, Schwesternschülerin A. und Schwesternschülerin B. räumen noch darin herum – kommt die Patientin Frau C. auf mich zu und spricht mich an: „Zucker!“, sagt sie klagend. Ich will ihr ein Päckchen Zucker aus dem Essenswagen geben, da meint Schülerin A. lachend zu mir: „Nein, sie meint, sie will den Blutzucker gemessen haben.“ Weiter beachtet sie Frau C. nicht, schaut ein bisschen genervt, so dass Frau C. sich nach einer Weile umdreht und unverrichteter Dinge wieder in ihr Zimmer geht. Als ich ihr später dorthin folge [sie hat sich inzwischen aufs Bett gelegt], stellt sich heraus, dass ihr übel ist, wahrscheinlich wegen Unterzuckerung. Sie weint leicht und wischt sich mit einem Taschentuch die Augen. Sie ist ca. 60 Jahre alt, Türkin und trägt ein
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Verena Dreißig Kopftuch, ihr Deutsch ist ziemlich schlecht, sie kann sich mir schwer verständlich machen. Ich sage Pflegerin D. Bescheid, welche wiederum Schülerin A. zu Frau C. schickt. A. ist nunmehr recht freundlich zu Frau C. „Erst Blutdruck!“, sagt sie und fängt an, den Blutdruck von Frau C. zu messen. Diese lässt alles mit sich geschehen, das Blutdruckmessen, das Pulsmessen, dann die Blutzuckerabnahme. Sie scheint alles genau zu kennen und fragt jedes Mal nach den Werten. Ihr Blutzuckerwert ist sehr niedrig. Sie fragt dann – mit Gesten – nach einer Spritze. A. meint, die käme später, der Doktor käme dann, was Frau C. so akzeptiert. Zu mir sagt Schülerin A. draußen, man wisse nicht, wann die Spritze käme, das würden die Ärzte machen. Allerdings sagt sie den Ärztinnen nicht Bescheid.
Auch in diesem Beispiel ist zu erkennen, wie das Personal, in diesem Fall eine Schwesternschülerin, nicht allzu stark an einer Verständigung interessiert zu sein scheint. Die Schülerin A. hat verstanden, was die Patientin mit „Zucker“ meint, geht aber nicht auf ihr Anliegen ein. Auch nach dem Blutdruckmessen hat sie es nicht eilig, eine Medikamentenversorgung für die Patientin in die Wege zu leiten.
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Vorwurf der Diskriminierung seitens zugewanderter Patienten und ihrer Angehörigen
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass zugewanderte Patienten [und ihre Angehörigen] Fälle, in denen sie schnell ‚abgefertigt’ oder herablassend behandelt werden, häufig auf den Umstand beziehen, dass sie ‚Ausländer’ seien und daher schlechter als Deutsche behandelt würden. Auch das Klinikpersonal bestätigte, dass Einwanderer sich besonders häufig über eine angebliche Benachteiligung beschweren würden. Deren Deutung wurde jedoch vom Personal in der Regel nicht gefolgt. Vielmehr wurde angegeben, dass man alle Patienten gleich behandele und das eigene Handeln in keiner Weise von rassistischen Kategorien geleitet sei (Dreißig 2005: 141-143; vgl. auch Borde 2002: 302-335). Wer hat nun ‚Recht’ in dieser Frage, die Patienten mit Migrationshintergrund oder das Klinikpersonal? Gibt es eine Benachteiligung aufgrund rassistischer Kategorien? Tatsächlich sind die Behauptungen beider Parteien aus ihrer jeweiligen Perspektive besser zu verstehen. Zugewanderte Patienten werden tatsächlich eher herablassend behandelt als deutsche Patienten. Denn sie nehmen als Patienten, die sich schwer verständigen können und überdies in der gesellschaftlichen und sozialen Hierarchie meist eher niedrig rangieren, häufig auch in der Hierarchie des Krankenhauses eine marginale Position ein. Jedoch müssen die Gründe dafür nicht unbedingt in dem Umstand zu suchen sein, dass das Personal bewusst oder
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unbewusst fremdenfeindliche Einstellungen pflegt. Denn auch andere Patienten, die sprachlich eingeschränkt sind und/oder von ihrem sozialen Status her eine eher marginale Position einnehmen [z.B. obdachlose oder demenzkranke Patienten] werden vom Personal schneller ‚abgefertigt’ als Patienten, welche sich problemlos verständlich machen können. Insofern ist das Kriterium, nach welchen vom Personal Zeit an Patienten gespart wird, eher im sozialen Status als in der ethnischen Herkunft der Patienten zu suchen. So kann in diesem Zusammenhang eher von einer ‚de facto-Diskriminierung’ anstelle einer rassistischen Diskriminierung gesprochen werden.2
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Strategien von Patienten mit Migrationshintergrund im Umgang mit Benachteiligung
Aus dem Gefühl der Benachteiligung entwickeln insbesondere zugewanderte Patienten, die sich schlecht verständlich machen können, eine Strategie, die ich ‚Anwälte einsetzen’ nennen möchte. Sie versuchen, Angehörige, Zimmernachbarn sowie Pflegende oder Ärzte, die ihre Sprache sprechen, zu motivieren, für ihre Belange einzutreten. Die Übergänge zwischen einer Patientenstrategie des Gewinnens von ‚Anwälten’ und dem selbstständigen Agieren dieser Anwälte ist dabei als fließend zu betrachten. Angehörige mit Migrationshintergrund, welche sich im Vergleich zu deutschen Angehörigen besonders stark um Patienten kümmern (Dreißig 2005: 192-196), setzen sich in der Regel gerne und aus eigenem Antrieb für die Patienten ein. Ein typisches Beispiel dafür ist die folgende Situation: Bei der Übergabe der Pflegenden wird über Frau V. kurz bemerkt, dass sie fast kein Deutsch spreche, so dass man sich mit ihr nicht direkt verständigen könne. Außerdem hätten sich, als sie kam, die Angehörigen sofort aufgeregt: Sie dürfe nicht an der Tür schlafen, da bekomme sie keine Luft, sie müsse ans Fenster. [Sie leidet an Asthma und Pneumonie.] Man habe sie dann – da „zum Glück für sie“, wie man den Angehörigen auch mitteilte, noch ein Bett am Fenster frei war – dorthin gelegt. Dann hätten die Angehörigen noch gesagt, sie kämen jetzt öfter! Dies, laut Krankenpflegerin W., „im Kommandoton“, auf unangenehme Art und Weise. Pflegerin X. meint, die Patientin habe dann nachts oft geklingelt. Zur Stationsleitung Y. gewandt [die heute für Frau V.’s Zimmer zuständig ist], meint sie: „Sprich du mal mit ihr, später.“ Man einigt sich dann darauf, später die türkischstämmige Krankenpflegerin Z. für die Verständigung hinzuzuziehen, die etwas später kommen soll. 2
Vgl. hierzu die Forschungsergebnisse von Brucks et al. (1987). Sie stellen fest, dass Patienten nicht unbedingt aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, als vielmehr aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit benachteiligt werden
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Neben Angehörigen setzen sich, wie beobachtet, häufig Zimmernachbarn für zugewanderte Patienten ein, welche sich schlecht verständigen können. Zweisprachige Klinikmitarbeiter scheinen sich weniger gern für Patienten mit Migrationshintergrund einzusetzen. Sie berichten oft von einem mehr oder weniger subtilen Druck zugewanderter Patienten, sich für sie zu einzusetzen. Dazu die Aussage einer Krankenpflegerin türkischer Herkunft in einem Interview: Es gibt welche, wo ich sehr hart bin (…) Wo die immer sehr fordernd waren. Auch gesagt haben: „Ach, komm. Du bist doch Türkin, du bist doch anders. Kannst du denn nicht mal grade was machen?“ Es kommt heute noch vor, dass (…) von anderen Stationen Patienten zu mir kommen und sagen: „Kannst du nicht mal bei mir auf Station anrufen, damit das-und-das stattfindet, die-und-die Untersuchung, dass man das vorziehen kann?“ Ne? Dann stehst du daneben. Wenn du nein sagst, wirst du komisch angeguckt. Die sind sehr enttäuscht, sehr böse auf dich. Ich hab schon erlebt, wo (…) die angefangen haben zu fluchen über mich, oder irgendwie: „Du bist eine Schande für uns, für die Türken oder für die Religion. Du bist (......?) nicht.“ Und so was hört man dann auch. Dann ist man nett – dann kommen die am nächsten Tag wieder zehnmal angelaufen zu einem. Oder erzählen es weiter, und plötzlich kommen noch mehr und noch mehr Patienten dann zu dir. Und ich hab daraus gelernt, (…) auch ein bisschen härter zu denen zu sein. Am Anfang zu sagen: „Ja, ich bin hier die Schwester. Ich bin aber auch im Bereich [auf der Station] die Schwester. Das heißt, mit deinem Zimmer hab ich vielleicht gar nichts zu tun. Ich komme eventuell nur zur Visite zum Übersetzen, und mehr kann ich für dich nicht tun.“ (…) Manche wollen nur einen Löffel haben – da sitzen drei Schwestern, aber die warten praktisch auf mich vor der Küche, damit ich komme und ihnen den Löffel gebe! Was ich auch in den Situationen gezeigt hab: Ich bin nicht für die zuständig. Nur weil ich türkisch bin, hat es nichts damit zu tun, dass ich ihnen jetzt zum Beispiel persönlich was aus der Küche gebe, ne? Dass ich einfach härter geworden bin.
Hier ist ein Intra-Rollen-Konflikt zu beobachten, der zweisprachige Mitarbeiter in eine unangenehme Zwangslage bringt: Auf der einen Seite möchten sie den Patienten gerne helfen, indem sie übersetzen oder ihnen in anderer Weise behilflich sind. Auf der anderen Seite verlangt es ihre Rolle als Institutionenvertreter und Angestellte des Krankenhauses, dass sie keine Patienten bevorzugt behandeln. Sämtliche befragte zweisprachige Mitarbeiter gaben an, alle Patienten im Krankenhaus, egal welcher Herkunft, gleich behandeln zu wollen. Offen eine Anwaltsfunktion für bestimmte Patienten zu übernehmen, lehnten diese Mitarbeiter ab. Von einem solchen Rollenkonflikt bleiben Angehörige und Zimmernachbarn verschont, sie können eine ‚Anwalts’-Funktion für die Patienten in der Regel ohne weitere Konflikte ausfüllen.
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Fazit
Die Beziehungen zwischen Patienten und Krankenhauspersonal sind einerseits von einer starken Machtasymmetrie, andererseits von fundamentalen Interessengegensätzen geprägt. Während das Personal allgemein an der Wahrung einer professionellen Distanz sowie Arbeits- und Zeitersparnis an Patienten interessiert ist, bedürfen Patienten stark der Zuwendung, des Trostes und der Anteilnahme. Beide Parteien setzen bestimmte Strategien ein, um ihre Bedürfnisse beim anderen Part durchzusetzen. Zu den wichtigsten vier Strategien des überlegenen Parts, des Personals, gehören das Delegieren, das Nicht-ernst-Nehmen von Patienten, die verbale Auseinandersetzung sowie die Strategie der Distanzierung. Je nach Profession sind Unterschiede in der Handhabung dieser Strategien festzustellen: Das Pflegepersonal führt eher verbale Auseinandersetzungen mit Patienten, Ärzte setzen stärker die Strategie der Distanzierung ein, um ihr Bedürfnis nach Zeitersparnis und Distanz zu befriedigen. Zu den Patientengruppen, die im Hinblick auf ihre Machtposition besonders benachteiligt sind, gehören Patienten mit Schwierigkeiten in der Verständigung, wie z.B. demenzkranke oder Schlaganfallpatienten. Auch Patienten mit Migrationshintergrund gehören zu dieser Gruppe. Da sie sich verbal schlecht zur Wehr setzen können, spart das Personal an ihnen die ‚Zeit’ und ‚Arbeit’, welche es an kommunikativ weniger eingeschränkten, fordernderen Patienten nicht einsparen könnte. Der Umkehrschluss vieler zugewanderter Patienten [und ihrer Angehörigen], dass sie vom Personal aus fremdenfeindlichen Motiven heraus benachteiligt werden, muss jedoch nicht zwingend zutreffen – auch wenn der Migrantenstatus der Patienten etwas mit der tatsächlichen Diskriminierung zu tun haben mag. Vielmehr ist eine dem Krankenhaus eigene strukturelle Benachteiligung derjenigen Patienten zu erkennen, bei der insbesondere sozial schwache, zurückhaltende, kommunikativ eingeschränkte Patienten gegenüber anderen Patientengruppen benachteiligt werden. Anstelle einer rassistischen Diskriminierung findet also eine strukturelle Diskriminierung statt. Aus dem Gefühl der Benachteiligung heraus greifen viele zugewanderte Patienten zur Strategie, ‚Anwälte’ einzusetzen, die sich an ihrer Statt für ihre Belange verwenden: Angehörige, die sich gut zu verständigen und durchzusetzen vermögen, Zimmernachbarn sowie zweisprachiges Klinikpersonal, das die eigene Sprache spricht und damit für Dolmetscherdienste potentiell zur Verfügung steht. Zwar sind zweisprachige Mitarbeiter aufgrund ihrer generellen Verpflichtungen im Krankenhaus nicht immer bereit, sich besonders für zugewanderte Patienten einzusetzen. Aber die ‚Anwalts’-Strategie der oftmals eher zurückhaltend auftretenden Patienten mit Migrationshintergrund erweist sich dennoch
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insgesamt als wirksame Strategie – gerade in der für Patienten belastenden Situation fundamentaler sozialer Ungleichheit. Insgesamt kann festgestellt werden, dass zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Personal und zugewanderten Patienten der Blick auf die allgemeinen Strukturen der Ungleichheit im Krankenhaus gelenkt werden muss. Solange eine rigide professionelle Hierarchie und ein immenser Zeit- und Arbeitsdruck im Krankenhaus fortbestehen, werden einzelne Maßnahmen, wie z.B. der Einsatz von Dolmetschern, keine ausreichende Reichweite erzielen. Es erscheint mir deshalb sinnvoll, das Personal neben solchen Maßnahmen von seinem Arbeitsdruck zu entlasten und ein Klima zu schaffen, in dem es dem Personal möglich ist, ausreichend Rücksicht auf schwache und benachteiligte Patienten zu nehmen.
Literatur Borde, Theda (2002): Patientinnenorientierung im Kontext der soziokulturellen Vielfalt im Krankenhaus. Berlin: unveröffentl. Diss. Brucks, Ursula/Salisch, Erdmann von/Wahl, Wulf-Bodo (1987): Soziale Lage und ärztliche Sprechstunde. Deutsche und ausländische Patienten in der ambulanten Versorgung. Hamburg: EBV Dreißig, Verena (2005): Interkulturelle Kommunikation im Krankenhaus. Eine Studie zur Interaktion zwischen Klinikpersonal und Patienten mit Migrationshintergrund, Bielefeld: transcript Verlag Gukenbiehl, Hermann (2001): Macht. In: Schäfers, Bernhard (Hrsg.) (2001): Grundbegriffe der Soziologie. Opladen: Leske + Budrich
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Pflege und Wohnungslosigkeit – Pflegerisches Handeln im Krankenhaus und in der aufsuchenden Hilfe Pflege und Wohnungslosigkeit
Heiko Stehling
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Einleitung
Wohnungslose Menschen haben aufgrund ihres gesundheitsbelastenden Lebensalltags einen großen Bedarf an pflegerischer Versorgung. Diese Versorgung geschieht im Krankenhaus im Rahmen von Notfällen oder während stationärer medizinischer Behandlungen aus unterschiedlichen Ursachen und als ambulante Pflege und Betreuung im Rahmen aufsuchender Hilfen im Lebensraum der wohnungslosen Menschen. In diesem Kapitel wird der Frage nach gegangen, wie Pflegekräfte ihr Handeln bei der Pflege wohnungsloser Menschen beschreiben, um über die Beschreibung dieser Handlungen einen Einblick darin zu erhalten, was Pflegende tun, wenn sie wohnungslose Menschen pflegen, welche Strategien sie anwenden und welche Bedingungen ihr Handeln beeinflussen. Das beschriebene Handeln kann Möglichkeiten aufzeigen, wohnungslosen Menschen die Pflege und Versorgung zu gewähren, die ihrer Lebenslage entspricht. Gleichzeitig werden allerdings auch Grenzen sichtbar, die ein an der Lebenslage und damit am individuellen Fall orientiertes Handeln erschweren.
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Wohnungslose Menschen und die gesundheitsbeeinflussende Lebenslage „wohnungslos“
Wohnungslose Menschen leben aufgrund unterschiedlicher Ursachen unter gesundheitsbelastenden Bedingungen, die aus ihrer Lebenssituation heraus entstehen und gleichzeitig einen erheblichen Einfluss auf ihr Leben ohne eine eigene Wohnung haben. Dies gilt insbesondere für die wohnungslosen Menschen, die ohne jede Unterkunft gänzlich auf der Straße leben. Nach einem Schätzmodell der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren dies in Deutschland im Jahr 2004 etwa 20.000 Menschen, darunter werden 1.800 bis 2.200 Frauen vermutet. Die Zahl der wohnungslosen Menschen insgesamt wird auf etwa 300.000 Menschen geschätzt, hierzu zählen nach diesem Modell Menschen, die
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nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen, die in Heimen, Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, Notunterkünften oder ähnlichem leben, weil keine andere Wohnung zur Verfügung steht, die Unterkunft bei Verwandten, Freunden oder Bekannten gefunden haben oder die ohne jede Unterkunft auf der Strasse leben (BAG Wohnungslosenhilfe 2007).
2.1 Gesundheitsbelastungen wohnungsloser Menschen Betrachtet man Wohnungslosigkeit im Zusammenhang mit der Beeinflussung von Gesundheit und Belastungen durch Krankheit, rücken hauptsächlich ohne Unterkunft auf der Straße lebende Menschen in den Mittelpunkt des Interesses. Behnsen (1995) stellt allerdings fest, dass insgesamt „die gesundheitliche Situation (…) ein eher ungewöhnlicher und selten eingenommener Blickwinkel auf die Lebenslage von Wohnungslosigkeit betroffener Menschen“ (Behnsen 1995: 203) ist. Entsprechend gibt es nur wenige Studien, die sich ausschließlich mit Krankheitsentstehung, Gesundheitsbelastungen und Phänomenen des Krank-Seins wohnungsloser Menschen auseinandersetzen. Wohnungslose Menschen sind in ihrem Alltag einer Reihe gesundheitsbelastender Bedingungen ausgesetzt, dazu zählen unzureichende Unterbringungs- und Schlafmöglichkeiten, das Ausgesetzt-Sein gegenüber der Witterung, schlechte Ernährungsmöglichkeiten, mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten und fehlende Privatsphäre. Die Lebensbedingungen wohnungsloser Menschen führen durch eingeschränkte Möglichkeiten zur Körperhygiene, Mangelernährung und fehlendem Schutz vor Witterungseinflüssen zu Erkrankungen der Haut, der Atmungsorgane sowie zu verminderter Immunabwehr. Individuelle Verhaltensweisen unterstützen Entstehung und Ausprägung von Krankheiten negativ. Zu diesen Verhaltensweisen zählen Alkohol- und Zigarettenkonsum und Ernährungs- und Übernachtungsgewohnheiten (Trabert 1995a). Diese Verhaltensweisen müssen im Kontext ihrer Ausübung und unter den Bedingungen ihrer Entstehung betrachtet werden, da zumindest hinsichtlich der Ernährungs- und Übernachtungsgewohnheiten deutlich wird, dass diese durch die Lebens- und Alltagsbedingungen diktiert werden und durch die bestehende „individuelle und gesellschaftliche Perspektivlosigkeit, die sich nach längerer Wohnungslosigkeit sogar in einem veränderten Zeitgefühl ausdrückt“ (Behnsen 1995: 209) verstärkt werden. Unter diesen Bedingungen konzentrieren sich wohnungslose Menschen zwangsläufig auf das Hier und Jetzt und sorgen sich zunächst um die nahe liegende Existenzsicherung und weniger um sich zukünftig auswirkende Belastungen ihrer Gesundheit. Ändern sich diese Bedingungen und werden spezifische Möglichkeiten geschaffen, zum Beispiel der Lebenssituation angepasste Hilfen, äußern woh-
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nungslose Menschen unter bestimmten Voraussetzungen Bedarf und Interesse an Gesundheitsaufklärung und Unterstützung bei der Versorgung und Therapie von Erkrankungen (Trabert 1995b; Wilson 2003; Essendorfer 2006) .
2.2 Die Gesundheitsversorgung wohnungsloser Menschen Die Gesundheitsversorgung wohnungsloser Menschen ist nur in seltenen Fällen an ihre Lebenslage angepasst und entspricht nicht immer den eigentlichen Problemlagen der Betroffenen. Sie ist durch das Vorhandensein unterschiedlicher Schwellen gekennzeichnet, die eine adäquate, ihrer Lebenssituation angepasste Versorgung erschweren. Trabert (1995a) spricht von „diskriminierender und krankheitsfördernder Funktionsweise“ (a. a. O.: 117) des Gesundheitswesens bei der gesundheitlichen Versorgung wohnungsloser Menschen. Die Behandlung von Krankheiten innerhalb des Gesundheitssystems stellt für wohnungslose Menschen in dem Bewusstsein ihrer persönlichen Lebenslage eine belastende Situation dar (Bunce 2000). Nur wenige Arztpraxen sind auf die Betreuung und Behandlung wohnungsloser Menschen eingestellt. Die empfundene Unpersönlichkeit von Krankenhausambulanzen wird dagegen durch wohnungslose Menschen im Falle notwendiger Behandlungen vorgezogen, da hier Kontakte zu anderen Personen, z.B. im Wartezimmer, weitestgehend vermieden werden können (Kushel et al. 2002). Ein stationärer Krankenhausaufenthalt kann eine frustrierende und überwältigende Erfahrung für wohnungslose Menschen bedeuten (Elvy 1985). Bereits Aufnahmesituationen sind „vorweggenommene psychische Streßsituationen“ (BAG Wohnungslosenhilfe 1992). Der Krankenhausaufenthalt ist von Erfahrungen von Ablehnung und empfundener Diskriminierung wie auch von Stress mindernd und Behandlungsbereitschaft erhöhend erlebter Zuwendung geprägt (Stehling 2003). Vorzeitige Behandlungsabbrüche und vorzeitiges Verlassen des Krankenhauses durch wohnungslose Menschen können Folge der Sorge um ihr Eigentum oder ihren Schlafplatz, aber auch durch unfreiwilligen Alkohol- und Drogenentzug motiviert sein (Behnsen 1995, Morrison 2003). Neben den Behandlungsmöglichkeiten im regulären Gesundheitssystem, bestehen auch so genannte niederschwellige Angebote, die versuchen, sich stärker an der Lebenssituation und den Bedürfnissen wohnungsloser Menschen zu orientieren. Zentrales Merkmal dieser Angebote ist die „Orientierung der Angebotsstruktur an den Lebensumständen Wohnungsloser“ (Behnsen 1995: 212). Angebote niederschwelliger Hilfen sind in der Regel ambulante und aufsuchende medizinische und pflegerische Hilfen. Alle diese Hilfen haben eine spätere Integration wohnungsloser Menschen in das reguläre Gesundheitssystem zum Ziel.
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Schwierigkeiten ergeben sich bei der Konzeption dieser Hilfen aus der Tatsache, dass einerseits Handlungsstrategien wohnungsloser Menschen als Ausdruck eigenverantwortlichen Handelns erkannt werden wollen und verhindert werden soll, dass Wohnungslose durch „ihre Hilfebedürftigkeit als gesellschaftliche Gruppe definiert“ (Behnsen 1995:208) werden, während andererseits, ausgehend von einem „permanenten Versorgungsbedarf“ (a. a. O.:213), Hilfen ungefragt bereitgestellt werden.
2.3 Die pflegerische Versorgung wohnungsloser Menschen In der Literatur wird die Situation krankenpflegerischer Versorgung wohnungsloser Menschen bisher kaum betrachtet, obwohl ein permanent oder intermittierend bestehender Pflegebedarf wohnungsloser Menschen, ausgehend von ihrer Krankheits- und Gesundheitssituation, angenommen werden kann. Die pflegerische Versorgung wohnungsloser Menschen findet im Rahmen ambulanter Pflege und aufsuchender Hilfen und während Krankenhausaufenthalten wohnungsloser Menschen statt. Das Modell aufsuchender pflegerischer Versorgung zeichnet sich durch Hilfsangebote aus, die an den Lebensalltag auf der Straße lebender Menschen angepasst sind und in ihrem Lebensraum angeboten werden (MASQT 2001). Viele der Angebote haben zurzeit den Status zeitlich befristeter Modellprojekte. Zentrale Aufgaben der Pflegekräfte bei diesen Hilfsangeboten bestehen aus einer „notwendigen Verzahnung zwischen pflegerischer Intervention im engeren Sinne und sozialarbeiterischen bzw. psychologischen Aspekten der Arbeit“ (a. a. O.:122). Die Ergebnisse der Untersuchung von Eickmeyer (2003) zeigen, dass langfristige pflegerische Hilfen auf Beziehungsgestaltung, Akzeptanz von Verhaltensweisen wohnungsloser Menschen durch die Pflegekräfte und die Annahme eines entsprechenden pflegerischen Selbstverständnisses basieren. Buck et al. (2005) finden heraus, dass Erfahrungen im Umgang mit wohnungslosen Menschen als signifikanter Faktor mit den Einstellungen von professionellen Akteuren im Gesundheitswesen im Zusammenhang stehen. Es wird deutlich, dass die Einstellungen von Mitarbeitern im Gesundheitswesen gegenüber wohnungslosen Menschen umso positiver sind, je mehr Erfahrungen im professionellen Umgang mit ihnen bestehen (a. a. O.). Eine Kooperation zwischen Mitarbeitern aufsuchender Hilfen oder anderer ambulanter Betreuungsstellen und den Mitarbeitern der Krankenhäuser kann Konfliktpotenzial verringern und die Effektivität von Krankenhausbehandlungen erhöhen (Behnsen 1995; MASQT 2001; Morrison 2003).
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McCabe et al. (2001) identifizieren fünf Aspekte, die zu Zufriedenheit wohnungsloser Menschen mit Pflege beitragen. Hierzu zählt Pflege, die auf einer Beziehung beruht und dauerhaft ist, einen respektvollen Umgang miteinander zu haben, Vertrauen in die Einrichtung und die Mitarbeiter haben zu können, vorurteilsfreie Pflege zu erleben und an der Pflege und an zu treffenden Entscheidungen beteiligt zu sein. Die Bedürfnisse wohnungsloser Menschen hinsichtlich pflegerischer Betreuung und Versorgung beinhalten sowohl körpernahe Versorgung wie zum Beispiel das Bereitstellen von Kleidung, das Ermöglichen und Unterstützen von Hygienemaßnahmen oder die Versorgung von Wunden und beinhalten auch Wünsche nach sozialen Kontakten mit nicht wohnungslosen Menschen, zum Beispiel das Führen von Gesprächen mit den betreuenden Pflegekräften (Beckmann-Murray 1996).
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Methodisches Vorgehen der vorliegenden Untersuchung
In diesem Absatz wird das methodische Vorgehen der den Ergebnissen dieses Kapitels zugrunde liegenden empirischen Untersuchung skizziert (Stehling 2006). In dieser Untersuchung wurde nach den subjektiven Sichtweisen von Pflegekräften hinsichtlich ihres Handelns bei der Pflege wohnungsloser Menschen gefragt. Die Rekonstruktion der subjektiven Deutungsmuster und Strukturmerkmale und der Beschreibung der erlebten Abläufe lässt sich durch einen qualitativen Forschungsansatz erreichen (Flick et al. 2003). Das Verfahren der Grounded Theory Methode (Glaser & Strauss 1998) als eine qualitative Forschungsstrategie bietet die Möglichkeit, die Bedeutungen und bedingenden Prozesse des Handelns auf Grundlage der gemachten Erfahrungen und Sichtweisen der Pflegekräfte zu rekonstruieren. Zur Beantwortung des Forschungsinteresses wurden zwei unterschiedliche Interviewdatensätze im Sinne einer Sekundäranalyse mit Blick auf eine neue Fragestellung ausgewertet. Der erste Datensatz beinhaltete fünf narrative Interviews mit Pflegekräften dreier unterschiedlicher Stationen eines Akutkrankenhauses (de Buhr et al. 2003). Der zweite bestand aus sieben narrativen Interviews mit Pflegekräften, die in der aufsuchenden Hilfe für wohnungslose Menschen arbeiten. Hierbei handelte es sich um Interviews, die im Rahmen einer Diplomarbeit mit der Frage nach den Erfahrungen durchgeführt wurden, die Pflegekräfte bei ihrer Arbeit im Rahmen der aufsuchenden Hilfen für wohnungslose Menschen machen (Eickmeyer 2003). Die Interviews der einzelnen Datensätze wurden unter Verwendung der analytischen Verfahren der Grounded Theory mit dem Ziel kodiert, die gewonnenen Daten systematisch zu ordnen und ansatzweise Beziehungen zwischen einzelnen
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Kategorien zu entdecken (Strauss & Corbin 1996). Als Analyseverfahren wurden das Offene Kodieren und das Axiale Kodieren angewendet. Die auf bestimmte Phänomene ausgerichteten Handlungen der Pflegekräfte geschehen alle unter unterschiedlichen beeinflussenden Bedingungen. Die Bedingungsmatrix nach Strauss und Corbin (1996) diente als Hilfsmittel, um einerseits ein Verständnis für die Struktur der Handlungsebenen zu erlangen und andererseits Verknüpfungen dieser Ebenen und ihrer Bedingungen und Konsequenzen zu identifizieren (a. a. O: 132). Handlungsebenen konnten insbesondere dann mit einander in Beziehung gesetzt werden, wenn das Handeln der Pflegekräfte in unterschiedlicher Art und Weise unter dem Einfluss persönlicher Haltungen, Handlungsintentionen und institutioneller Bedingungen geschah, die ihrerseits miteinander in Verbindung standen. Dieses hier nur in kurzer Form dargestellte methodische Vorgehen machte es möglich, einen Einblick in die subjektive Sichtweise Pflegender über ihr eigenes Handeln bei der Pflege und Betreuung wohnungsloser Menschen in unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens zu erlangen. Die Kernergebnisse der Untersuchung werden nachfolgend dargestellt.
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Das Handeln von Pflegekräften bei der Pflege wohnungsloser Menschen
In den folgenden Abschnitten wird das Handeln Pflegender im stationären Alltag eines Krankenhauses und im Rahmen ambulanter Pflege und Versorgung in der Aufsuchenden Hilfe bei der Pflege wohnungsloser Menschen beschrieben und vor dem Hintergrund der Frage nach Möglichkeiten einer adäquaten krankenpflegerischen Versorgung wohnungsloser Menschen diskutiert.
4.1 Das Handeln der Pflegekräfte im Krankenhaus Die Pflege wohnungsloser Menschen im Krankenhaus ist in den stationären Alltag eingebettet. Dieser Alltag und die institutionellen Bedingungen geben den Rahmen vor, in dem das Handeln der Pflegekräfte geschieht. Die identifizierten Handlungsfelder beinhalten die Organisation des stationären Umfeldes, das Gewähren von Hilfe und Unterstützung für die körperliche Situation des wohnungslosen Menschen, die Kommunikation mit den Patienten und die Organisation der Weiterversorgung nach dem Krankenhausaufenthalt. Handlungsleitend erscheinen in diesem Rahmen für die Pflegekräfte zum Einen das Ziel, die wohnungslosen Menschen in das System Krankenhaus zu integrieren und zum Anderen ein
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Bestreben, nachhaltige Veränderungen der Lebenssituation der wohnungslosen Menschen anzubahnen. 4.1.1 Die Organisation des stationären Umfeldes Die Organisation des stationären Umfeldes steht insbesondere zu Beginn eines Krankenhausaufenthaltes wohnungsloser Menschen für die Pflegekräfte auf den Stationen im Mittelpunkt. Bereits wenn die Aufnahme eines wohnungslosen Menschen angekündigt ist, wird die Bettenbelegung so organisiert, dass der Patient ein Einzelzimmer erhalten kann, wenn die Pflegekräfte der Meinung sind, dass sein körperlicher Zustand dies erfordert. Dies geschieht, weil Mitpatienten in einem Mehrbettzimmer vor möglichen Belästigungen aufgrund des körperlichen und psychischen Zustandes des Patienten geschützt werden sollen. Diese Entscheidung wird von Seiten der Pflegekräfte der Station getroffen, ohne dass sie den Patienten kennen oder Wissen über seine Krankheitssituation und seinen körperlichen Zustand haben. Eine Verlegung in ein Mehrbettzimmer wird dann möglich, wenn die Gefahr möglicher Belästigungen von Mitpatienten aus Sicht der Pflegekräfte minimiert ist, also eine gewisse soziale Verträglichkeit der wohnungslosen Menschen gesichert ist. Ein nicht mehr auffallendes und andere Mitpatienten aus Sicht der Pflegenden nicht belästigendes Verhalten wird für die Pflegekräfte daran deutlich, dass wohnungslose Patienten auf ihre Sauberkeit achten und sich dem Stationsalltag und -ablauf anpassen. Unauffälligkeit zeigt sich in diesem Sinne darin, dass die wohnungslosen Patienten auf ihre Hygiene achten und zurückhaltend und wenig fordernd auftreten. Analog zu der Verantwortung, die Pflegende für die Situation nicht-wohnungsloser Patienten beim Kontakt mit wohnungslosen Patienten übernehmen, übernehmen sie in ähnlicher Weise Verantwortung für deren Situation, wenn sie mit nicht-wohnungslosen Patienten in ein Mehrbettzimmer gelegt werden. „Die [Wohnungslosen, HS] werden nicht diskriminiert oder so was und äh, das ist auch von uns so, dass wenn die im Zimmer vielleicht mal von jemandem komisch angeguckt werden, dass (…) man auch so´n bisschen darauf achtet, dass die nicht angegriffen werden oder so. Ja, also ´n bisschen Schutz haben die schon.“
Aus Sicht der Pflegekraft ist es ihre Aufgabe, wohnungslose Patienten vor Diskriminierungen anderer Patienten zu schützen. Die zugrunde liegende Haltung eines Strebens nach Gleichbehandlung aller Patienten spiegelt sich hier in der übernommenen Schutzfunktion wider, indem die wohnungslosen Patienten vor Diskriminierung und Ungleichbehandlung durch Dritte geschützt werden sollen.
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4.1.2 Hilfen für die körperliche Situation Die Pflegekräfte unterstützen wohnungslose Patienten bei ihrer körperlichen Versorgung, dies geschieht abhängig vom Gesundheitszustand der Patienten und ihrer körperlichen Gesamtsituation. Darüber hinaus kümmern sich die Pflegekräfte um die Kleidungssituation der wohnungslosen Menschen. Handlungen der Pflegekräfte, die auf die Körperpflege von wohnungslosen Menschen ausgerichtet sind, verändern sich im Rahmen des stationären Aufenthaltes. In der Aufnahmesituation beziehen sich diese Handlungen auf den häufig als verwahrlost wahrgenommenen Zustand der wohnungslosen Menschen und werden ausgeführt, bevor die wohnungslosen Patienten ein Bett in einem Krankenzimmer oder notwendige Behandlungen bekommen. Während ihres stationären Aufenthaltes bekommen die Handlungen, abhängig vom körperlichen Zustand der Patienten, eher einen auffordernden, unterstützenden Charakter. Dem Handeln liegen hierbei in allen Situationen bestimmte institutionelle Bedingungen, ein Verständnis von Körperhygiene und daraus resultierend eine gefühlte Verantwortung gegenüber Mitpatienten, Mitarbeitern und der Institution zugrunde. „Ich denke mal, als Pflegekraft hat man ja auch ne gewisse Verantwortung gegenüber den Mitpatienten, die man hier auf Station hat, gegenüber seinen Kollegen, gegenüber Schülern, Praktikanten und anderen die so hier tätig sind. Man präsentiert ja auch auf einer Seite das Krankenhaus und deswegen denk ich mal, ist es trotzdem auch wichtig das so ein Patient zu einem gewissen Maß an Umgangsformen an alltäglichen Sachen wie zum Beispiel, dass man sich eben morgens wäscht, dass man sich zweimal am Tag vielleicht die Zähne putzt, dass man sich auch einmal vielleicht in der Woche rasiert und dass man auch mal mit der Bürste durchs Haar geht. Ich denke schon, dass wir da ne gewisse Verantwortung auch ´nen gewissen erzieherischen Aspekt nicht vergessen dürfen.“
Die Pflegekräfte werden aus der beschriebenen Verantwortung heraus tätig, auch wenn sie erkennen, dass ihr Gegenüber andere Vorstellungen von Körperhygiene hat oder in seinem Alltag entsprechende Handlungen nicht durchführen kann oder sie nicht gewohnt ist. Die gespürte Verantwortung erstreckt sich auf die Mitpatienten, Mitarbeiter und auf das gesamte Krankenhaus. In der Einrichtung und für die Einrichtung bestehen Forderungen an das Verhalten und das Erscheinungsbild, die aus Sicht des Interviewpartners vermittelt und eingehalten werden müssen. Ein anderer Interviewpartner beschreibt dies mit dem Begriff „klinischer Standpunkt“ und meint einen hygienischen Standard, der allen Patienten, und damit auch wohnungslosen Patienten, vermittelt werden muss. Das Einhalten dieses Standards ermöglicht ein sozial verträgliches Miteinander aller Personen innerhalb der Institution. Gleiches gilt für die Sorge um die äußere Erschei-
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nung wohnungsloser Menschen. Hier versuchen die Pflegekräfte die Bekleidungssituation zu verbessern oder fehlende Utensilien zur Körperhygiene zu beschaffen indem sie entweder den Sozialdienst der Einrichtung einschalten oder selbst aktiv werden, auch wenn dies das Einschlagen unüblicher Wege bedeuten kann. 4.1.3 Kommunikation Die Kommunikation zwischen Pflegekräften und wohnungslosen Menschen gestaltet sich abhängig vom körperlichen Zustand des Patienten, dem durch die Pflegekräfte wahrgenommenen Bedarf der wohnungslosen Menschen nach Kontakt und unter den einschränkenden Bedingungen des Stationsalltages, der den Pflegekräften aus ihrer Sicht nicht immer Zeit lässt, den wahrgenommenen Wünschen nach Gesprächen nachzukommen. Kommt es zu Gesprächen, erfahren die Pflegekräfte Teile der Lebensgeschichte der wohnungslosen Patienten. Dies verändert ihre Wahrnehmung der Person und ihrer individuellen Problemlagen. Es entsteht ein verändertes Gefühl von Distanz und Nähe mit der Konsequenz, dass ein längerfristiges Interesse am weiteren Lebensweg des Patienten nach der Entlassung entstehen kann. Das Führen von Gesprächen ist in der Regel in den Stationsalltag eingebettet und findet im Rahmen anderer Tätigkeiten statt. Hierbei müssen die Pflegekräfte zwischen ihren eingeschränkten zeitlichen Ressourcen und dem wahrgenommenen Gesprächsbedarf der wohnungslosen Menschen abwägen. Ein gezielter Austausch über Behandlungsziele und Wünsche der wohnungslosen Menschen bezüglich ihrer nachstationären Versorgung wird seltener thematisiert. 4.1.4 Weiterversorgung organisieren Die Organisation der nachstationären Versorgung stellt die Pflegenden vor eine große Herausforderung. Auf der einen Seite erkennen sie aufgrund ihrer Erfahrungen und durch Einblicke in die individuellen Lebensumstände der wohnungslosen Patienten einen Bedarf für die Organisation der Weiterversorgung. Auf der anderen Seite stellen sie fest, dass die Strukturen für eine adäquate nachstationäre Behandlung der wohnungslosen Menschen entweder nicht vorhanden sind oder, so ihre Vermutung, durch die wohnungslosen Patienten nicht genutzt werden. Von diesen Bedingungen ausgehend stehen bei der Organisation der Weiterversorgung medizinische Aspekte ebenso im Vordergrund wie die Anbahnung sozialer Hilfen, die einen positiven Einfluss auf die Lebenssituation der wohnungslosen Menschen haben sollen.
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Die Pflegekräfte beschreiben, dass wohnungslose Menschen ihrer Erfahrung nach das Krankenhaus schnell verlassen wollen. Die Folge ist, dass Behandlungen bei vorzeitigen Entlassungen oder abgebrochenen Aufenthalten nicht abgeschlossen sind und dies bedeutet, dass ein Erfolg der Behandlungen und möglicherweise der angebahnten sozialen Hilfen für die Pflegenden im Krankenhaus nicht sichtbar wird. Besonders das Anbahnen sozialer Hilfen ist für die Pflegenden von großer Wichtigkeit. Nach Ansicht eines Interviewpartners steht dahinter der Wunsch, die Lebenssituation der wohnungslosen Menschen zu verändern. „Über das Verhalten der Mitarbeiter, ist schon so, dass für diesen Patienten das Bestmöglichste getan werden soll, wie gesagt, man fragt auch mal über den Sozialdienst, der denn weiter irgendetwas vermitteln kann durch [Einrichtung der Wohnungslosenhilfe] oder wie auch immer, da sind die Mitarbeiter schon sehr motiviert und da würd’ ich auch sagen, wird für einen Obdachlosen mehr getan, weil, wie gesagt, innerhalb immer dieser Gedanke (…) ist: ich muss jetzt aktiv werden und ich muss diesen Menschen jetzt auf den richtigen Weg führen und ich denke mal das steckt bei jedem drin“.
Die Organisation der Entlassung und der nachstationären Versorgung wohnungsloser Menschen geschieht mit vergleichsweise größerem Engagement als bei anderen Patienten. Der Interviewpartner erkennt bei seinen Kollegen die Intention, durch die Organisation eine Veränderung des aus ihrer Sicht falschen Lebensweges des Patienten zu bewirken. Wohnungslosigkeit und die damit aus Sicht der Pflegenden verbundene Lebensweise wird als falscher Weg dargestellt. Den „richtigen Weg“ beschreibt der Interviewpartner an einer anderen Stelle mit den Worten: „der [Wohnungslose] soll kein Alkohol mehr trinken, er soll sich vernünftig kleiden, wir rufen den Sozialarbeiter an und gucken, dass der in die Bahn kommt“. Während der stationären Versorgung können die Pflegenden auf eine Verbesserung der körperlichen Situation des wohnungslosen Patienten einwirken, für die Planung und Organisation nachstationärer Hilfen sind sie auf den Kontakt zu Sozialarbeitern oder Mitarbeitern der Wohnungslosenhilfe angewiesen. Die Aussagen des Interviewpartners zeigen darüber hinaus, dass die Pflegenden bestrebt sind, wohnungslose Menschen, von denen sie wissen, dass sie kein oder ein nur gering ausgeprägtes soziales Netz und keine weitere professionelle Unterstützung haben, nicht ohne die Organisation von Hilfen aus dem Krankenhaus zu entlassen. Mit diesen Hilfen soll ihnen ein Weg ermöglicht werden, der möglicherweise aus der Wohnungslosigkeit heraus führt. Kommt es zu einem vorzeitigen Abbruch der Behandlung durch den wohnungslosen Patienten, führt dies zu Enttäuschung auf Seiten der Pflegekräfte. Ebenso sind Ergebnisse der geplanten Maßnahmen für die Pflegekräfte im stationären Rahmen nur selten sichtbar, da wenig dauerhafte Kontakte zu den wohnungslosen Patienten und den
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weiter betreuenden Einrichtungen bestehen, nur bei Wiederaufnahmen wird deutlich, dass es keinen längerfristigen Erfolg der geleisteten Arbeit gegeben hat. Dies kann zu Frustration und Enttäuschung führen, allerdings ohne dass das eigene Handeln verändert wird. 4.1.5 Zusammenfassung Das Handeln der Pflegekräfte bei der Versorgung wohnungsloser Menschen im Krankenhaus geschieht unter dem Einfluss institutioneller Bedingungen, subjektiv wahrgenommener Hilfsbedürftigkeit der wohnungslosen Menschen und dem Streben der Pflegekräfte, deren Lebenssituation zu verändern. Zu Beginn des Krankenhausaufenthaltes wohnungsloser Menschen ist das Handeln der Pflegekräfte darauf ausgerichtet, insbesondere die körperliche Situation der Wohnungslosen so zu verändern, dass sie einem hygienischen Standard entspricht, nach dem sich alle Patienten richten müssen. Diese Forderung, die einer Norm gleichkommt, ist die Vorrausetzung für eine soziale Verträglichkeit und ermöglicht die Integration der wohnungslosen Menschen in die Gruppe aller Patienten. Die Pflegekräfte übernehmen für das Erreichen und Einhalten dieser Norm die Verantwortung. Durch Gespräche mit dem wohnungslosen Menschen im stationären Alltag gewinnen die Pflegenden, wenn sie sich darauf einlassen und diese Gespräche in den als vorrangig erachteten Stationsablauf integrierbar sind, einen Eindruck von der Biografie der wohnungslosen Menschen. Diese Kommunikation beeinflusst die Haltung der Pflegekräfte gegenüber den wohnungslosen Menschen. Sie beginnen, sich um deren weiteren Lebensweg zu sorgen, weil sie einen Zusammenhang zwischen der Lebenssituation und dem Gesundheitszustand erkennen. Darüber hinaus ermöglicht eine adäquate nachstationäre Versorgung eine Nachhaltigkeit der geleisteten. Das Handeln der Pflegekräfte orientiert sich dabei weniger an subjektiv geäußerten Bedürfnissen der wohnungslosen Menschen, sondern mehr an ihrer eigenen gespürten Verantwortung für das Einhalten institutioneller Normen auf der einen und ihrem Streben nach Veränderung der Lebenssituation der wohnungslosen Menschen auf der anderen Seite. Das beinhaltete Konfliktpotential dieser Orientierung erkennen die Pflegekräfte an den scheiternden Versuchen, die nachstationäre Zeit in ihrem Sinne zu beeinflussen, ohne das diese Erkenntnis zu einer Veränderung ihrer Handlungsweisen führt.
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4.2 Das Handeln der Pflegekräfte in der Aufsuchenden Hilfe Die aufsuchenden Hilfen stellen ein ungewöhnliches Arbeitsfeld für Pflegende dar, für das es keine eindeutige Beschreibung gibt. Entsprechend arbeiten die befragten Pflegekräfte unter unterschiedlichen Bedingungen in unterschiedlich großen Städten, teilweise in Modellprojekten, teilweise im Team mit anderen Pflegenden, Ärzten, Sozialarbeitern auf der Straße oder angeschlossen an ein so genanntes Arztmobil, angeschlossen an Tagesunterkünfte oder ausschließlich aufsuchend auf der Straße. Zentrale Handlungsfelder sind die Beziehungsgestaltung, die Begleitung wohnungsloser Menschen in ein Hilfesystem und das Anbieten und Gewähren von Hilfen zur Veränderung der körperlichen Situation der wohnungslosen Menschen. Handlungsleitend ist für die Pflegekräfte das Streben nach einer Kontinuität der Kontakte und damit der Möglichkeit, Hilfen zu gewähren sowie eine persönliche Haltung, ihr Verständnis von den Problemlagen wohnungsloser Menschen und ihre Erfahrungen im Umgang mit den wohnungslosen Klienten. 4.2.1 Beziehung aufnehmen und erhalten Das Aufnehmen und Erhalten einer langfristigen Beziehung zu einem wohnungslosen Menschen steht für die Interviewpartner im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Ohne eine langfristige, tragfähige Beziehung können Pflegende ihnen nicht die dauerhaften Hilfen anbieten, die einen Einfluss auf die Lebens- und Gesundheitssituation haben. Die anzutreffenden Probleme wohnungsloser Menschen mit sozialen Kontakten, ihre Lebensumstände und damit verbundene Diskontinuität der Kontakte stellen für die Interviewpartner große Herausforderungen dar. Ausgangspunkt ist die Kontaktaufnahme mit den wohnungslosen Menschen. Diese Kontaktaufnahme geschieht, ebenso wie das Erhalten und das Pflegen der Kontakte, sowohl auf der Straße als auch in Übernachtungsstellen, Notunterkünften, Kontaktcafes oder in anderen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Gemeinsam ist diesen Situationen, dass sich die Pflegekräfte an die Orte begeben, an denen wohnungslose Menschen sich aufhalten. Sie sind im Lebensumfeld der wohnungslosen Menschen präsent und versuchen, dort Kontakte aufzubauen wo ihre Hilfe akut benötigt oder potentiell notwendig ist. Hierbei wenden sie unterschiedliche Strategien an. Sie versuchen, Vertrauen der wohnungslosen Menschen zu gewinnen und zu erhalten, indem sie verlässlich sind und regelmäßig bestimmte Plätze aufsuchen. Ebenso respektieren sie die Privatsphäre und können aus ihrer Erfahrung heraus erkennen, wann eine Kontaktaufnahme sinnvoll erscheint und in welchen Momenten nicht.
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Die Kontaktaufnahme hat für die Beziehung zwischen Pflegekraft und wohnungslosem Menschen und den gesamten folgenden Betreuungsrahmen eine zentrale Bedeutung „In dem Moment, wo man was mit jemandem macht, oder in dem Moment, wo eine Kontaktaufnahme stattfindet, fängt die Beziehungsarbeit ja schon an. Das sind ja keine zwei getrennten Sachen. Die laufen ja parallel. Es ist wohl so, dass man manchmal erst Beziehungsarbeit leisten muss, um überhaupt an die Wunde heranzukommen. Oder umgekehrt, dass Leute vielleicht sehr misstrauisch sind und keine Nähe zulassen können und man dann eben über die reine körperliche Versorgung, über die Wunde vielleicht, sich langsam an diese Person herantastet. Aber das heißt ja nicht, dass es nicht stattfindet. Das findet die ganze Zeit statt.“
Die Beziehungsarbeit ist ab dem Zeitpunkt der Kontaktaufnahme in jeder Handlung präsent, unabhängig davon, ob es sich um körpernahe oder körperferne Tätigkeiten handelt. Gleichzeitig bedeutet dies auch, dass die Beziehungsarbeit nicht endet, wenn die Kontaktaufnahme beendet wird und körpernahe Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Versorgen einer Wunde, durchgeführt werden. Die Beziehungsarbeit findet auch dann statt, wenn der Kontakt und die Nähe zu einem wohnungslosen Menschen über die Versorgung einer Wunde entstehen. Der Interviewpartner unterscheidet an dieser Stelle deutlich zwischen punktueller körperlicher Nähe, die beispielsweise durch eine Berührung bei einer Wundversorgung entsteht und der Nähe zur Person als Ganzes, die wohnungslosen Menschen aus seiner Sicht nicht immer zulassen können und die aus einer Beziehung erwächst. In anderen Fällen ist genau diese Nähe notwendig, damit sich der wohnungslose Mensch soweit öffnen kann, dass er über körperliche Beschwerden sprechen und Hilfen für diese Beschwerden annehmen kann. Der Aufbau und Erhalt einer Beziehung zwischen Pflegekraft und wohnungslosem Menschen ist demnach notwendig, um körperliche Versorgung zu ermöglichen oder die Beziehung erwächst aus einer körperlichen Versorgung, in jedem Fall bildet die Beziehungsarbeit eine Konstante in der aufsuchenden Hilfe für wohnungslose Menschen. Ziel der Beziehungsgestaltung ist für die Pflegenden der Aufbau eines langfristigen, tragfähigen Kontaktes zu den wohnungslosen Menschen, der eine schrittweise Veränderung ihrer Lebenssituation und ihrer Gesundheitssituation ermöglicht. Nach der Kontaktaufnahme und dem Vertrauensaufbau bildet die Gewährleistung von Kontinuität durch die Pflegenden die dritte Säule der Beziehungsgestaltung. Die Dimension von Langfristigkeit ist dabei in einem Zeitraum von mehreren Jahren zu bemessen. Bereits der Kontaktaufbau bis hin zu einer Beziehungsqualität, die es ermöglicht, langfristig mit den wohnungslosen Menschen an ihren Problemlagen zu arbeiten, dauert nach den Erfahrungen der Pfle-
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gekräfte bis zu drei Jahren. Am Beispiel der bereits länger etablierten medizinischen Hilfen für wohnungslose Menschen wird für die Pflegekräfte deutlich, dass die Integration in das Wohnungslosenhilfenetz und das Bewusstsein für das Vorhandensein von Hilfen bei den Wohnungslosen mit zunehmender Zeit und dauerhafter Präsenz verbessert wird. 4.2.2 Begleitung in ein Hilfesystem Auf Grundlage der bestehenden oder sich entwickelnden Beziehung sehen die Pflegekräfte es auch als ihre Aufgabe an, wohnungslose Menschen in Hilfesysteme zu begleiten und ihnen die Möglichkeit zu geben, spezifische, bedarfsgerechte Hilfen in Anspruch zu nehmen. Hierbei nehmen die Pflegekräfte eine Brückenfunktion war, indem sie vermittelnd zwischen dem wohnungslosen Menschen und anderen professionellen Helfern tätig sind. Dies bezieht sich nicht allein auf gesundheitsbezogene Hilfen, sondern auch auf das Herstellen von Kontakten zu Sozialarbeitern, dem Gesundheitsamt, Sozialämtern und unter Umständen zu gesetzlichen Betreuern. Die Erfahrungen im Umgang mit den wohnungslosen Menschen und der bereits bestehende Kontakt und die geleistete Motivationsarbeit ermöglichen die Bildung eines vertrauensvollen Rahmens, der es den wohnungslosen Menschen aus Sicht der Pflegekräfte ermöglicht, notwendige Hilfen anzunehmen. Kontaktstörungen, verminderte Sozialkontakte und die beschriebene Alkoholabhängigkeit wohnungsloser Menschen verhindern, dass sie Hilfen, sofern sie denn angeboten werden, in Anspruch nehmen. Hinzu kommt der Umfang des Hilfebedarfes, den die Pflegekraft so umfassend wahrnimmt, dass sie davon ausgeht, dass Beratungsleistungen alleine nicht ausreichen sondern andere Hilfen notwendig sind. Die Folge dieser Erkenntnis ist für die aufsuchend Pflegenden, dass sie es den wohnungslosen Menschen ermöglichen, Hilfen in Anspruch zu nehmen, sie in konkreten Situationen begleiten und versuchen, sie in dem regionalen Umfeld zu binden. Ähnliches gilt für die Annahme von Hilfen innerhalb des regulären Gesundheitssystems. „Und da ist es wirklich sehr viel, dass man diese Motivationsarbeit leistet und mit den Leuten zusammen zum Arzt geht. Und da versucht, so ein bisschen zu vermitteln. Oder manchmal auch so ein bisschen Schärfe herauszunehmen. Weil die Leute sind schon sehr misstrauisch und fühlen sich (…) häufig nicht angenommen, habe ich das Gefühl.“
Wenn die Pflegekräfte wohnungslose Menschen motivieren, Hilfen innerhalb des regulären Gesundheitssystems anzunehmen, sehen sie es als ihre Aufgabe an, die daraus für den wohnungslosen Menschen folgenden Belastungen zu mindern. Sie begleiten sie zum Arzt oder in die Krankenhäuser, weil sie als Puffer zwischen
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den dortigen professionellen Helfern und den wohnungslosen Menschen agieren können, da sie ihre Erfahrungen durch ihre berufliche Sozialisation als Pflegekraft und ihre Erfahrungen im Umgang mit wohnungslosen Menschen vermittelnd einbringen können. Für die wohnungslosen Menschen kann dies bedeuten, dass ihr Misstrauen in das Gesundheitswesen gemindert wird, wenn eine Person, in die sie Vertrauen haben, in ihrer Nähe ist, sie schützt und für sie eintritt. 4.2.3 Hilfen für die körperliche Situation Die Pflegenden geben wohnungslosen Menschen auch direkte Hilfen für ihre körperliche Situation. Sie versorgen akute und chronische Wunden, versuchen, ihnen Körperpflege zu ermöglichen, nehmen einen Einfluss auf die Ernährungssituation und leisten Beratungstätigkeiten. Die Pflegekräfte lernen, mit körperlicher Verwahrlosung der Wohnungslosen umzugehen, vorrangig wahrgenommenen Pflegebedarf in die Lebenssituation der Wohnungslosen einzuordnen und hinter den notwendigen Vertrauensaufbau zurückzustellen. Insbesondere zu Beginn eines Kontaktes müssen sie lernen, die körperliche Situation der wohnungslosen Menschen auszuhalten, auch wenn dies nicht ihrem beruflichen Selbstverständnis entspricht. Der zeitaufwändige Beziehungsaufbau erfordert von den Pflegenden zu lernen, zunächst mit der körperlichen Situation des wohnungslosen Menschen und ihrem eigenen Zwiespalt zwischen „aktiv werden wollen“ und „abwarten müssen“ umgehen zu müssen. Die wahrgenommene Notwendigkeit, den körperlichen Zustand des wohnungslosen Menschen zu verbessern, wird zurückgestellt. Durch ihre Erfahrung im Umgang mit wohnungslosen Menschen können die Pflegekräfte trotzdem Gespräche führen, die dem Beziehungsaufbau dienen. Es wird dabei deutlich, dass ihr Handeln nicht mehr den erlernten Vorstellungen von pflegerischem Handeln entspricht: „Was ich hier wirklich gelernt habe, dieses Klischeedenken Krankenschwester hat zu sorgen für saubere Wäsche, der Klient muss kurz geschnittene Fuß- und Fingernägel haben und muss sich einmal am Tag duschen, das ist Krankenpflege im Krankenhaus aber nicht hier in unserem Bereich, sondern dann muss ich es aushalten, dass der Mann vierzehn Tage nicht gewaschen ist, wenn er sich wohl fühlt und keine Läuse hat. Meine Güte ich kann es ihm anbieten, mehr kann ich nicht machen, ich muss es einfach akzeptieren.“
Die für Krankenpflege im Krankenhaus vorrangig erscheinenden Tätigkeiten und das Achten auf Körperhygiene der Patienten stehen für die Pflegekräfte in der aufsuchenden Arbeit mit wohnungslosen Menschen nicht im Vordergrund. Sie gewähren dem Klienten die Entscheidungsfreiheit darüber, ob er Körperpflege durchführt oder nicht, solange wie sie massive Gesundheitsgefährdungen für den
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Klienten und die Menschen, die ihn umgeben, auch sich selbst, ausschließen können. Unter diesen Voraussetzungen wird es den Pflegekräften möglich, einen Zugang zur körperlichen Situation der wohnungslosen Menschen zu finden. Körpernahe Handlungen werden beispielsweise dann möglich, wenn die wohnungslosen Menschen eine akute Erkrankung haben, eine Wunde nach einem Sturz, die versorgt werden muss oder Infekte, für deren Symptome die Pflegekräfte Linderung anbieten können. Insbesondere über die Wundversorgung finden die Pflegenden einen Zugang zur körperlichen und damit zur gesundheitlichen Situation der wohnungslosen Menschen. Angebote in Bezug auf Körperpflege sind von den strukturellen Gegebenheiten abhängig, unter denen die Pflegekräfte arbeiten. Ist in dem Wohnungslosenhilfesystem der Stadt eine Krankenwohnung oder eine vergleichbare Einrichtung vorhanden oder gibt es in den Tagesaufenthalten Duschgelegenheiten oder Waschmaschinen für die Kleidung der wohnungslosen Menschen, erleichtert dies den Pflegekräften entsprechende Angebote und Hilfen. Gleiches gilt für die Möglichkeiten der Pflegekräfte, Einfluss auf die Ernährungssituation der wohnungslosen Menschen zu nehmen, den die Pflegenden dann nehmen können, wenn zum Beispiel in Tagesaufenthalten Mahlzeiten angeboten werden. Allerdings fordern die strukturellen Bedingungen häufig eine Eigeninitiative der wohnungslosen Menschen, die sie nur dann regelmäßig aufbringen, wenn es ihre eigene Entscheidung ist und sie über die Begleitung und den Kontakt zu den Pflegenden eine veränderte Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit und stabilere Lebensbedingungen erlangt haben. Positiven Einfluss haben Beratungsleistungen, die durch die Pflegekräfte angeboten werden und den Bedürfnissen der wohnungslosen Menschen und ihrem Lebensalltag entsprechen. Die Pflegekräfte haben gelernt, es auszuhalten, wenn angebotene Hilfen nicht sofort angenommen werden. Werden die Hilfen aufgedrängt oder möglicherweise ohne Teilnahme des wohnungslosen Menschen geplant, bleiben sie erfolglos. „Gelernt habe ich hier einen ganz langen Atem. Also nicht Hilfe vermitteln und überstülpen, sondern den Patienten immer, ihm vertrauen, im Gespräch ihm zu überlassen, ob er es annimmt oder nicht.“
Vorraussetzung für das Handeln der Pflegekräfte ist eine Haltung, mit der sie ihr Gegenüber als vertrauenswürdigen Partner ansehen, der die Fähigkeit hat, eigene Entscheidungen zu treffen und sie müssen lernen, diese Entscheidungen zunächst zu akzeptieren.
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4.2.4 Zusammenfassung Beziehungsaufbau und Beziehungsgestaltung stehen im Mittelpunkt des Handelns der Pflegekräfte in den Aufsuchenden Hilfen. Zu Beginn eines Kontaktes mit einem wohnungslosen Menschen wird, trotz weiterer wahrgenommener Handlungsfelder, zunächst versucht, eine vertrauensvolle, von Kontinuität geprägte Beziehung herzustellen, auf deren Grundlage weiteres Handeln möglich werden kann. Der Beziehungsaufbau geschieht über authentisches, vorurteilsfreies und an der Lebenswelt der Wohnungslosen orientiertes Verhalten der Pflegenden, verbunden mit dauerhafter Präsenz der Pflegenden, die den wohnungslosen Menschen einen Fixpunkt in ihrem unsteten Lebensalltag gewährt. Auf Basis dieser Beziehung wird es den Pflegenden möglich, konkrete Hilfen anzubieten. Diese Hilfsangebote geschehen vorbehaltlos und ohne Erwartung von Gegenleistungen. Die Hilfen sind darauf ausgerichtet, die körperliche und die soziale Situation der wohnungslosen Menschen zu stabilisieren und auf lange Sicht zu verändern. Hilfen für die soziale Situation gestalten sich bereits durch den Kontakt zwischen Pflegekräften und wohnungslosen Menschen, die Pflegekräfte werden Teil des sozialen Netzes, in dem sich die Wohnungslosen bewegen, sie werden zu Ansprechpartnern, Ratgebern und Begleitern. Hilfen für die körperliche Situation bauen auf entstandene Kontakte auf, gleichzeitig verändern sich die Kontakte durch angenommene und gewährleistete Hilfen. Die Hilfen haben durch Beratung und direkten körperlichen Kontakt einen Einfluss auf die gesamte körperliche Situation der wohnungslosen Menschen. Aus den Handlungen zur Beziehungsaufnahme und -gestaltung resultiert eine Beziehung, die ihrerseits die Vorrausetzung für neues Handeln schafft, in dessen Verlauf erneut Einfluss auf die Beziehung genommen wird. Im Rahmen der Beziehung werden die Pflegekräfte zu Vermittlern zwischen den Wohnungslosen und anderen Mitarbeitern der Wohnungslosenhilfen oder der Sozialdienste und zwischen den Wohnungslosen und anderen Mitarbeitern des Gesundheitswesens. Die Pflegenden können diese Rolle einnehmen, weil sie einerseits das Vertrauen der wohnungslosen Menschen erlangt haben und andererseits, weil sie selbst Teil der jeweiligen Professionen sind. Sie treten aus ihrem professionellen Umfeld heraus und gehen auf den wohnungslosen Menschen zu, um ihn mit zurück in das professionelle Umfeld zu begleiten, denn nur in diesem Umfeld kann er die Hilfen bekommen, die angemessen und notwendig sind.
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4.3 Diskussion und Ausblick: Die Möglichkeiten pflegerischer Versorgung wohnungsloser Menschen Die vorliegenden Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass Pflegekräfte bei der Versorgung wohnungsloser Menschen in unterschiedlichen Settings, dem Krankenhaus und der aufsuchenden Hilfe, unterschiedlich handeln und dieses Handeln aus unterschiedlichen, durch Bedingungen beeinflussten Handlungsorientierungen resultiert. Das Handeln der Pflegekräfte im Krankenhaus orientiert sich bewusst oder unbewusst an Regeln, Wertvorstellungen und Normen, die in der Organisation existieren und auf gesellschaftlichen Wertvorstellungen begründet sind. Der Eintritt eines wohnungslosen Menschen in diese Institution fordert von den Pflegekräften, sich mit einem Menschen auseinanderzusetzen, dessen Lebensalltag anderen gesellschaftlichen Regeln unterliegt. Der Beginn der pflegerischen Versorgung der wohnungslosen Menschen im Krankenhaus ist durch Handlungen der Pflegekräfte gekennzeichnet, die darauf ausgerichtet sind, den wohnungslosen Menschen gesellschaftsfähig zu machen, weil sie erkennen, dass er den geltenden Regeln nicht entspricht. Mit dieser Anpassung wird der wohnungslose Mensch zum Patienten im Krankenhaus, dessen Erkrankung behandelt werden kann. Gleichzeitig ermöglichen die Pflegekräfte dem wohnungslosen Menschen auf diese Art und Weise eine Integration in die Gruppe aller Patienten und versuchen, ihn auf diese Weise vor Ausgrenzung und Diskriminierung zu schützen. Das Handeln der Pflegekräfte ist hierbei institutionell orientiert und organisationsbezogen und folgt einer Grundorientierung, die zunächst nicht die Bedürfnisse des Patienten in den Mittelpunkt stellt. Auch wenn es so scheint, dass sich in der Handlungsorientierung der beruflichen Krankenpflege im Krankenhaus ein Perspektivenwechsel in der Wahrnehmung der Patienten von „gehorsamen und redigierten Befehlsempfängern zu Experten ihrer eigenen Bedürfnisse“ (Mühlum et al. 1997: 146) ergeben hat, so deuten die auf Anpassung der Patienten ausgerichteten Pflegehandlungen an, dass es bei Patienten, denen Krankenhausrituale und geforderte Verhaltensweisen nicht vertraut sind oder denen eine Einhaltung dieser Rituale und Verhaltensweisen schwer fällt, Aufgabe der Pflegenden ist, für eben diese Anpassung und Einhaltung zu sorgen (a. a. O.). Ist eine solche Anpassung erreicht, wird es den Pflegekräften möglich, individuelle, aus der Lebenswelt des Patienten entstehende Bedürfnisse und Probleme in den Blick zu nehmen, soweit diese unter dem Einfluss der Institution Krankenhaus deutlich werden. Diese Orientierung am individuellen Fall erscheint hingegen als Handlungsgrundlage für die Pflegekräfte in der Aufsuchenden Hilfe unerlässlich. Die aufsuchende Pflege wohnungsloser Menschen muss als neues Handlungsfeld der
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beruflichen Krankenpflege betrachtet werden, dem Vorbilder aus anderen Bereichen der Krankenpflege fehlen. Für die Pflegekräfte bedeutet dies die Herausforderung, ihr erlerntes pflegerisches Fachwissen in einem Handlungsfeld anzuwenden, dem es zunächst scheinbar nicht entspricht, da vor der Anwendung dieser Fähigkeiten und Fertigkeiten weitere Handlungen und Strategien notwendig sind. Darüber hinaus müssen sich die Pflegekräfte als Teil eines sozialarbeiterisch geprägten Hilfesystems verorten und damit ihnen bekannte institutionelle Rahmenbedingungen verlassen und veränderte Bedingungen als solche erkennen und ihr Handeln entsprechend ausrichten. Eickmeyer (2003) stellt fest, dass sich die Pflegekräfte in der Aufsuchenden Hilfe mit ihrer beruflichen Rolle auseinandersetzen und in bestimmten Bereichen neu definieren müssen. Diese Neudefinition setzt bereits bei der Handlungsorientierung ein. Insbesondere bei der Aufsuchenden Hilfe auf der Straße orientieren sich die Pflegekräfte an Prinzipien, die auch in der Sozialarbeit im Rahmen von Streetwork angewendet werden. Sie begeben sich in die Lebenswelt der Klienten, richten ihr Handeln nach dieser Lebenswelt und dem Klienten aus, bieten Kontinuität und nutzen ihre Kenntnisse des gesamten lokalen Hilfesystems. Diese Prinzipien benennt auch Mylonas (1995) als Grundsätze professioneller Straßensozialarbeit. Auch sprachlich wird diese Orientierung deutlich, wenn die Pflegekräfte nur selten von „Patienten“ sondern in der Mehrzahl von „ihren Klienten“ sprechen. Aus diesen Prinzipien leitet sich die Fallorientierung als handlungsleitend ab. Die Pflege wohnungsloser Menschen ist spezifisches Pflegehandeln für und mit Menschen mit hoch individualisierten, multiplen physischen und psychischen Gesundheitsbelastungen und sozialen Schwierigkeiten. Pflegekräfte können im Krankenhaus und insbesondere in der aufsuchenden Hilfe einen wichtigen Beitrag bei der Unterstützung wohnungsloser Menschen und bei der Bewältigung ihrer Problemlagen leisten. Die aufsuchende Hilfe ist ein neues Arbeitsfeld, das sich erst in wenigen Städten etabliert hat und häufig noch einen Projektcharakter besitzt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung geben deutliche Hinweise darauf, dass in dieser Form gestaltete Hilfen von wohnungslosen Menschen angenommen werden und langfristig zu Verbesserungen ihrer Problemlagen beitragen können. Weitere pflegewissenschaftliche Untersuchen könnten diese Ergebnisse unterstützen und ausweiten, einerseits um Erkenntnisse zu gewinnen, die als Handlungsgrundlage anwendbar sind, andererseits um Argumentationsgrundlagen für Ausweitung und Finanzierung des Arbeitsfeldes Aufsuchende Hilfen zu entwickeln. Bei diesen Untersuchungen könnte das Handeln der Pflegekräfte und Interaktionen mit den wohnungslosen Menschen weiter in den Blick genommen, die Vernetzung mit anderen Professionen betrachtet und das Erleben der Pflegekräfte widergespiegelt werden. Dringend empfohlen erscheint es auch, die Erfah-
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rungen wohnungsloser Menschen zu betrachten, hier könnten sich auch als Einzelfallstudien angelegte Longitudinaldesigns anbieten. Hinsichtlich der Pflege wohnungsloser Menschen in Krankenhäusern bedarf es weiterer Studien, die, wie bereits angedeutet, Erkenntnisse über das Handeln und die Erfahrungen von Pflegekräften erweitern, um auch hier wissenschaftliche Grundlagen für das Handeln der Pflegekräfte zu schaffen. Die Aussagen der Pflegekräfte machen deutlich, dass mehr Wissen über die Versorgungsmöglichkeiten wohnungsloser Menschen dazu dienen kann, erlebtes Scheitern zu verhindern. Professionelle, am individuellen Fall orientierte Pflege wohnungsloser Menschen ist notwendig, weil die wohnungslosen Menschen sie brauchen. Wissenschaftliche Erkenntnisse über diese Pflege sind notwendig, weil sie denen helfen können, die die Pflege leisten.
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Pflege und Wohnungslosigkeit
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Migration
Obwohl die Bevölkerungsgruppe mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland zurzeit noch ein vergleichsweise niedriges Durchschnittsalter aufweist, wächst der Anteil älterer Menschen unter den türkischen Migrantinnen und Migranten. Vor diesem Hintergrund gewinnen Fragen zur Pflegeversorgung dieser Bevölkerungsgruppe stark an Bedeutung, über die bisher in Deutschland kaum wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse existieren. Das folgende Kapitel beschreibt die besondere Situation von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die in Deutschland leben, und gibt so erste Einblicke in dieses noch junge aber wichtige Forschungsfeld und stellt einen Einstieg in die weitere Forschung zu diesem Thema dar. Die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung verschiebt sich zugunsten der hohen Altersgruppen. Zunehmend befinden sich in diesen Altersgruppen auch Personen mit einem Migrationshintergrund. Das Bundesministerium des Inneren definiert „Migration“ als räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes einer Person (Bundesministerium des Inneren (BMI) 2005, S. 10). Die Verlagerung des Lebensmittelpunktes über internationale Grenzen hinweg wird als internationale Migration bezeichnet (BMI 2005). Im Allgemeinen wird mit dem Begriff Migration die internationale Migration bezeichnet. Die Migrantenpopulation in Deutschland setzt sich sehr heterogen zusammen. Eine Gruppe stellen Aussiedler aus osteuropäischen Staaten, die rechtlich Deutsche sind, dar. Eine weitere Gruppe sind die Flüchtlinge, zu dieser zählen Asylbewerber und Asylberechtigte. Die zahlenmäßig bedeutsamste Gruppe unter den Migranten in Deutschland sind die ehemaligen Gastarbeiter, die in den 50er – 70er Jahren von westdeutschen Unternehmen angeworben wurden. Die ehemaligen Gastarbeiter stammten überwiegend aus Ländern der Mittelmeerregion. Die größte Gruppe der Gastarbeiter immigrierte aus der Türkei. Das Gastarbeiterkonzept sah vor, dass die eingewanderten Personen nach ihrem Arbeitsaufenthalt von ca. ein bis zwei Jahren in ihr Herkunftsland zurückkehren sollten. Die Gastarbeiter versprachen sich durch ihren Aufenthalt vor allem die Verbesserung ihrer finanziellen Lage, wie beispielsweise Geld für eine Existenzgründung in ihrem Heimatland aufzubringen. Der Arbeitsaufenthalt in Deutsch-
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land war deshalb auch von den Migranten nur als vorübergehende Situation geplant, eine Rückkehr wurde angestrebt. Allerdings wurde diese von den meisten Gastarbeitern nicht umgesetzt. Dies geschah u.a. aus familiären oder gesundheitlichen Gründen (Razum et al. 2005) und aufgrund des Anwerbestops in den 70er Jahren. Durch den Anwerbestop blieben viele der Gastarbeiter langfristig in Deutschland, da etwaige spätere Arbeitsaufenthalte in Deutschland nach einer Rückkehr in die Heimatländer nicht mehr möglich waren. Der Nachzug der Familienangehörigen (vor allem Ehepartner und Kinder) wurde nach dem Anwerbestop 1973 ermöglicht. Aufgrund von Heiratsmigration werden auch heute die meisten Visa für Familienzusammenführungen aus der Türkei gestellt (BMI 2005, Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration im Auftrag der Bundesregierung 2004).
1.1 Anzahl und Demographie ausländischer bzw. türkischer Staatsbürger in Deutschland Im gesamten Bundesgebiet waren im Jahr 2003 neben 26% der deutschen Bevölkerung etwa 10% der ausländischen Bevölkerung 60 Jahre oder älter. Diese Bevölkerungsgruppe ist die am stärksten wachsende Altersgruppe in Deutschland (Statistisches Bundesamt 2005). Prognosen schätzen, dass die Zahl der über 60jährigen Ausländer in der Bundesrepublik bis 2010 auf ca. 1,3 Millionen steigt und sich somit im Vergleich zur Anzahl im Jahr 1999 mehr als verdoppeln wird. Im Jahr 2020 wird sich der Vorausberechnung zufolge die Zahl auf ca. 1,99 Millionen Ausländer erhöhen (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005). 27,2% der über 60jährigen Migranten in Deutschland leben in NRW (Kuratorium Deutsche Altershilfe 2001). Die Zahl der in Routinedaten erfassten Ausländer ist von der Einbürgerungsquote abhängig. In Nordrhein-Westfalen war seit 2000 die Einbürgerungsquote rückläufig. Im Jahr 2002 wurden ca. 49.837 Ausländer (2,58%) eingebürgert. Gegenüber dem Jahr des Inkrafttretens des neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes (2000) ist dies ein Rückgang um ca. 24%. Im Vergleich zum Jahr 1992 (6.884 Einbürgerungen) war die Zahl der Einbürgerungen im Jahr 2002 allerdings noch sieben Mal höher (Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie NRW 2004). Auch unter den Eingebürgerten in NRW stellen die ehemaligen türkischen Staatsbürger die größte Gruppe. Im Jahr 2002 konnten 23.573 Einbürgerungen türkischer Staatsbürger festgestellt werden. Auch in der gesamten Bundesrepublik waren unter den eingebürgerten Personen mit ca. 40% aller Einbürgerungen im Jahr 2003 die Türken die größte Gruppe.
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Durch die Einbürgerungen sinkt die Ausländerquote, allerdings wächst der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund, der nicht in Routinedaten erfasst wird. Das Bild von der ethnischen Vielfalt in NRW und Deutschland wird also zunehmend unscharf. Genaue Schätzungen liefern die ersten Auswertungen des Mikrozensus 2005. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund wird damit auf 22,9% aller in NRW lebenden Menschen geschätzt. Das entspricht ca. 4,1 Millionen Menschen in NRW, darunter 2,46 Millionen Personen, die seit 1950 selbst zugewandert sind und 2,25 Millionen Personen mit mindestens einem zugewanderten Elternteil (Presseerklärung des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NRW sowie des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik vom 20.7.2005). Der Anteil aller Migranten der 1., 2. und 3. Generation an der Bevölkerung in NRW ist also im Vergleich zum Anteil der Ausländer in NRW bedeutend höher. Die Auswertung des Mikrozensus 2005 für die gesamte Bundesrepublik weist 15,3 Millionen Menschen (ca. 19%) in Deutschland einen Migrationshintergrund zu. Darüber hinaus lässt der Mikrozensus durch seine spezifischen Fragen zur Migrationsbiographie des Einzelnen Rückschlüsse auf die Vielschichtigkeit der Migrantenbevölkerung in Deutschland zu. So konnte die prozentuale Verteilung verschiedener Migrationshintergründe unter allen Menschen mit Migrationshintergrund (100%) in Deutschland ermittelt werden:
Ausländer mit eigener Migrationserfahrung (36%), Ausländer ohne eigene Migrationserfahrung (11%), Eingebürgerte mit Migrationserfahrung (20%), Eingebürgerte ohne Migrationserfahrung (3%), Spätaussiedler mit Migrationserfahrung (12%) und Deutsche ohne eigene Migrationserfahrung (2. und 3. Migrantengeneration) (18%).
Neben dauerhaft in NRW bzw. Deutschland lebenden Menschen, gibt es Personen, die (wieder) fortziehen. Allerdings ist der Wanderungssaldo in NRW positiv, d.h. die Zuzüge überschreiten die Fortzüge. Nordrhein-Westfalen verzeichnete im Jahr 2004 mit 134.528 Zuzügen (davon 86% Ausländer) die höchsten Zuzugszahlen unter den deutschen Bundesländern. Unter Berücksichtigung der Fortzüge bedeutete dies einen Bevölkerungsgewinn durch Zuwanderung von 6.347 Personen. Von allen fortgezogenen Personen im Jahr 2004 waren 82,8% im Besitz eines ausländischen Passes. Der Wanderungssaldo unter ausschließlicher Betrachtung der ausländischen Bevölkerung in NRW betrug im Jahr 2004 +10.126 Personen (BMI 2005). Im gesamten Zeitraum 1990 - 2001 betrug der
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Wanderungssaldo in NRW +557.971 ausländische Personen. Im gesamten Bundesgebiet stellten türkische Staatsangehörige mit 42.644 Zu- und 38.005 Fortzügen hinter den Deutschen und Polen die jeweils drittgrößte Staatsangehörigengruppe unter den Zu- und Fortzügen. Viele der Personen, die Deutschland verlassen, kehren in ihr Heimatland zurück. Darüber hinaus gibt es eine nicht quantifizierbare Anzahl von Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit/türkischem Migrationshintergrund, die zwischen ihrem Herkunftsland und Deutschland pendeln (sog. Pendelmigration). Die regionale Verteilung der ausländischen Bevölkerung über das gesamte Bundesland zeigt große Unterschiede. Die ausländische Bevölkerung ist, auch durch die Verteilung in den Anwerbejahren, stärker in industriell geprägten Gebieten, also vor allem in den Städten Nordrhein-Westfalens, vertreten (Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (lögd) 2000, Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie 2004).
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Situation türkischer Migranten
In der Literatur sind begrenzt Informationen zur Lebenssituation (Sozialstatus, Bildungsniveau, Wohnsituation) und Gesundheitslage der in Deutschland lebenden ausländischen Bevölkerung zu finden. Selten sind allerdings Angaben über Personengruppen bestimmter Nationalitäten. Eine wichtige Datenquelle über die Lebenssituation ältere Migranten ist u.a. der Alterssurvey 2002 (Krumme/Hoff 2004). In dieser 2. Welle des Alterssurveys wurden 586 Ausländer in einem Alter von 40 - 85 Jahren befragt. Dabei wurde allerdings ausschließlich die deutsche Sprache verwendet, die von türkischen Migranten – besonders häufig den Frauen – zum Teil nur unzureichend beherrscht wird. Die Literatur bezieht sich in ihren Darstellungen ausschließlich auf Personen anderer Staatsangehörigkeiten (Ausländer bzw. Türken). Der Alterssurvey ermöglicht solche Aussagen u.a. zu türkischen Staatsbürgern. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Komplexität der Migrantenbevölkerungen ist anzunehmen, dass sich in Deutschland lebende türkische Staatsbürger bzw. Staatsbürgerinnen von der gesamten Bevölkerung mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland unterscheiden. Vor diesem Hintergrund sind die im Folgenden dargestellten Erkenntnisse nur von begrenzter Aussagekraft für die Bevölkerungsgruppe „Menschen mit türkischem Hintergrund“. Darüber hinaus existieren zu bestimmten Aspekten, wie dem Einkommensniveau, regionale Unterschiede in der Bundesrepublik Deutschland.
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2.1 Sozioökonomisch Schichtzugehörigkeiten lassen sich u.a. an der beruflichen Stellung messen. Die Zahlen der Ausländerstichprobe des Alterssurvey 2002 zeigen, dass ältere Ausländer (hier insgesamt, nicht nur türkische Migranten) in den unteren sozialen Schichten deutlich häufiger vertreten sind als Deutsche (vgl. Tab. 1). Tabelle 1: Schichtzugehörigkeit (gemessen an der beruflichen Stellung) von Personen mit ausländischer und deutscher Staatsangehörigkeit im Ausländersurvey 2002 in% Schichtzugehörigkeit
Ausländische Staatangehörigkeit (%)
Deutsche Staatsangehörigkeit (%)
Unterschicht
25,2
5,6
Untere Mittelschicht
25,2
22,1
Mittlere Mittelschicht
16,7
28,5
Gehobene Mittelschicht
23,7
30,1
9,3
3,7
Obere Mittelschicht Quelle: Zeman, 2005
Weitere Kriterien für Schichtzugehörigkeit können beispielsweise die Einkommensverhältnisse, die Wohnsituation oder das Bildungsniveau sein, über die an dieser Stelle ein Überblick gegeben werden soll. 2.1.1 Einkommen und Vermögen Das Einkommen hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Lebenslage der einzelnen Personen auch im Alter. Die Erwerbsbiographie (z.B. Lebensarbeitszeit, Arbeitslosenzeiten und das durchschnittliche Lohnniveau) wirkt sich auf die im Alter beispielsweise in Form von Renten verfügbaren Einkommen aus. Diese sind wiederum Grundlage für die aktuelle Lebensgestaltung und Vorrausetzung für eine aktive und selbstbestimmte Lebensweise im Alter. Migrantenhaushalte haben ein deutlich geringeres Einkommen als Deutsche. Auf Grundlage des Sozioökonomischen Panels (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) konnte für das Jahr 2003 das durchschnittliche Haushaltseinkommen ausländischer Personen ab 60 Jahre auf 1.077,60 Euro und das deutscher Personen ab 60 Jahre auf 1.470,20 Euro berechnet werden. Die Einkommenslage der Ausländer unterscheidet sich stark nach der jewei-
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ligen Nationalität. Die Auswertung des SOEP bezifferte das durchschnittliche Einkommen von Migranten aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien, die 60 Jahre und älter waren, auf 816,20 Euro (Zeman 2005). Eine auf den Daten des Mikrozensus beruhende Auswertung der Nettohaushaltseinkommen pro Kopf zeigte, dass unter allen Personen ab 65 Jahren türkische Migranten mit 593 Euro das mit Abstand niedrigste Pro-Kopf-Einkommen hatten (Özcan/Seifert 2006). Dementsprechend höher als bei Deutschen sind auch die Quoten der Bezieher laufender Hilfen zum Lebensunterhalt. Ende 2001 bezogen 2,8% der deutschen und 12,5% der ausländischen Bevölkerung solche Leistungen. Ausländer sind häufiger von Altersarmut betroffen als Deutsche. Der Alterssurvey zeigt, dass bei 9,9% der Deutschen und 25,6% der Ausländer in Deutschland von Altersarmut gesprochen werden kann. Armut ist dabei definiert als ein Nettoäquivalenzeinkommen von unter 50% des Durchschnittseinkommens der Gesamtbevölkerung. Wobei von Altersarmut häufiger jüngere Alte von 55 - 69 Jahre betroffen sind als Personen in der höheren Altersgruppe der über 70jährigen. Altersarmut betrifft insbesondere Frauen aus sog. Versorgerehen, die durch ihre geringe Teilnahme am Erwerbsleben keine oder nur geringe Rentenanwartschaften gesammelt haben (Schopf/Nägele 2005). Darüber hinaus verfügen ausländische Seniorinnen seltener als ältere Deutsche über Vermögen. Dem Alterssurvey zur Folge besitzen 57,9% der älteren Ausländer und 78,4% der Deutschen Vermögenswerte. 2.1.2 Bildungsniveau Das Bildungsniveau türkischer Migranten der ersten Generation ist vergleichsweise niedrig. Für die erste Migrantengeneration war ein kontinuierlicher Schulbesuch nicht selbstverständlich. Dies zeigen u.a. Auswertungen des Alterssurveys 2002. Demnach besitzen 99% der Deutschen im Alter von 40 – 85 Jahre einen Schulabschluss und nur 80% der Ausländer. Besonders häufig können türkische Staatsbürger keinen Schulabschluss vorweisen (Zeman 2005). Ohne einen Berufsabschluss sind mehr als 80% der über 45jährigen in Deutschland lebenden Türken (Özcan/Seifert 2006). 2.1.3 Wohnverhältnisse Die Bedeutung der Wohnverhältnisse gewinnt vor allem mit zunehmendem Alter an Bedeutung, da z.B. mit Eintritt in den Ruhestand mit höheren Aufenthaltszeiten in der eigenen Wohnung zu rechnen ist. Bei Krankheit oder Hilfsbedürftig-
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keit, die häufig mit eingeschränkter Mobilität einhergehen, kann die Wohnung sogar zum (einzigen) Lebensmittelpunkt werden. Ausländer wohnen häufiger zur Miete als Deutsche (Schopf/Naegele 2005). Da sie auf dem Wohnungsmarkt schlechtere Chancen haben als Deutsche (Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie 2004), sind ihre Wohnverhältnisse durchschnittlich schlechter. Die Größe des zur Verfügung stehenden Wohnraums ist bedeutend geringer als bei Deutschen, die Wohnungen sind zudem schlechter ausgestattet. Durchschnittlich steht Ausländern pro Kopf ein Wohnraum von 36,9 m2 zur Verfügung, bei Deutschen sind dies 51,8 m2 (Zeman 2005). Die geringere Wohnfläche in Ausländerhaushalten kann beispielsweise bei einem Einbau und der Anwendung von Hilfsmitteln im Alter hinderlich sein. In der Ausstattung zeigen Wohnungen von Ausländern im Vergleich zu Wohnungen von deutschen Personen Unterschiede. Sie verfügen weniger über eine Zentralheizung oder einen Balkon bzw. eine Terrasse oder Garten. Auch sind in ausländischen Haushalten technische Gegenstände wie Haushaltsgeräte oder Computer seltener zu finden als bei Deutschen (Schopf/Naegele 2005).
2.2 Familienverhältnisse Weit verbreitet ist die Annahme, dass Migranten, auch im Alter, häufiger als Deutsche in größeren Haushalten wohnen. Die Auswertungen des Alterssurvey unterstützen diese Annahme. Besonders häufig leben in türkischen Haushalten Eltern mit ihren Kindern unter einem Dach (Zeman 2005, Schopf/Naegele 2005). Auch leben türkische Personen häufiger als Deutsche und Personen anderer Staatsangehörigkeiten in Dreigenerationenhaushalten (Zeman 2005). Einpersonenhaushalte kommen unter Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit dementsprechend selten vor. 33,7% der türkischen Staatsbürger im Alter von 40 – 85 Jahren in Deutschland leben in Einpersonenhaushalten, während das bei 65,8% der deutschen Bevölkerung der Fall ist. Geschlechtsunterschiede finden sich unter den türkischen Staatsbürgern nicht. Bei den Deutschen leben besonders häufig Frauen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung alleine. Unterstützungsleistungen für ältere Migranten, beispielsweise bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten, werden vor allem von den Kindern übernommen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005). 85% der älteren Migranten haben Kinder, damit liegt der Anteil der Kinderlosen etwas höher als in der deutschen Bevölkerung (Schopf/Naegele 2005). Allerdings haben in Deutschland lebende ältere Ausländer durchschnittliche mehr Kinder als Deutsche (2,8 bzw. 1,8). Wobei der Alterssurvey zeigte, dass die 70 – 85 jährigen Ausländer (1,8 Kinder) im Vergleich zu Deutschen (1,9 Kinder) in dieser Alters-
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gruppe durchschnittlich weniger Kinder haben (Zeman 2005). In einer auf Unna regional begrenzten Befragung der Forschungsgesellschaft für Gerontologie in Dortmund im Jahr 2001 von 100 älteren türkischen Migranten (50 – 70 Jahre) zeigte sich die durchschnittlich hohe Kinderzahl deutlich (Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie NRW 2004). Über 50% der Befragten hatten mindestens vier Kinder. Mindestens ein Kind davon lebte noch im elterlichen Haushalt.
2.3 ‚Doing ethnicity’ im Alter Besonders im Alter ist der Rückzug in die eigene Ethnie für Migranten bedeutsam. Dieses verstärkte Ausleben des ethnischen Hintergrundes wird als ‚doing ethnicity’ bezeichnet. Die Befragung in Unna zeigte, dass die Kinder und Ehepartner die wichtigsten Kontaktpersonen älterer türkischer Migranten sind. Kontakte zur Deutschen finden vor allem im beruflichen Umfeld statt und brechen nach Beendigung der Erwerbsphase häufig ab. Bedingt durch den durchschnittlichen geringeren finanziellen Spielraum wohnen Migranten häufig in Wohngegenden mit niedrigeren Mieten, in denen es zu einer Segregation von Personen mit Migrationshintergrund kommen kann. Diese häufig beobachtete Segregation ist aber nur zum Teil von außen beeinflusst. Migranten fühlen sich zudem häufig in „ethnischen Enklaven“ wohl. Beispielsweise trägt die Pflege gemeinsamer Traditionen und der Herkunftssprache zu einem Erhalt des Selbstwertgefühls im Alter bei. Außerdem ermöglicht die Konzentration auf Kontakte innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe ein Altern gemäß der eigenen Altersbilder und kulturellen Bedürfnisse (Dietzel-Papakyriakou 2005). Die von den meisten Arbeitsmigranten angestrebte Rückkehr in das Heimatland wurde allerdings in vielen Fällen nicht realisiert. Der Wunsch im Heimatland zu sterben und bestattet zu werden, lässt die lebenslangen Rückkehrpläne, wenn überhaupt, erst im Alter oder bei schwerwiegenden Erkrankungen zur Umsetzung kommen.
2.4 Gesundheit Die empirische Datenlage zur gesundheitlichen Lage von in Deutschland lebenden Migranten ist defizitär. Es existieren wenige epidemiologische Studien, die zudem widersprüchliche Ergebnisse liefern. Viele verweisen dennoch auf eine schlechtere Gesundheitssituation von Migranten gegenüber Deutschen und brin-
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gen diese insbesondere mit den durchschnittlich schlechteren Arbeitsbedingungen, der unterdurchschnittlichen sozialen Lage von Migranten oder mit psychischen Belastungen durch die Migration in Verbindung (Mohammadzadeh/Tempel 2005). Allerdings kann die gesundheitliche Lage von Migranten in Deutschland nicht per se als schlechter angesehen werden. Einige Studien belegen eine geringere Sterblichkeit von ehemaligen Gastarbeitern der ersten Generation im Vergleich zur übrigen Bevölkerung (Razum et al. 2004). Vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Benachteiligungen der ehemaligen Gastarbeiter scheint dieses zunächst überraschend. Erklärungen liefert z.B. die als „Healthy MigrantEffekt“ bekannte (Selbst-)Selektion von Arbeitsmigranten, die dazu führte, dass überdurchschnittlich gesündere Personen immigrierten. Zum einen waren gesunde Menschen eher bereit, die Strapazen der Migration auf sich zu nehmen und zum anderen wurde der Gesundheitsstatus vor der Einreise der Gastarbeiter überprüft. Hinzu kam, dass die Personen zum Großteil aus Ländern immigrierten, in denen eine hohe Mortalität vor allem durch Infektionskrankheiten und Müttersterblichkeit vorhanden war. Diese Haupttodesursachen konnten aber in den Zielländern durch eine bessere medizinische Versorgung weitgehend und kurzfristig eliminiert werden. Die Entstehung neuer Risiken, z.B. für die sog. Zivilisationskrankheiten, die mit Lebensweisen (z.B. Ernährung, Rauchen) in Verbindung gebracht werden, ist dagegen meist ein langfristiger Prozess, der sich erst nach Jahrzehnten bemerkbar macht, wodurch Migranten für einen gewissen Zeitraum Risikovorteile haben können (Razum/Twardella 2004). Daraus kann allerdings nicht auf eine zukünftig niedrigere Mortalität von Migranten geschlossen werden (Kruse et al. 2004). Die beschriebenen positiven Effekte werden bei älteren türkischen Migranten mit langer Aufenthaltsdauer durch die kumulierten stärkeren Gesundheitsbelastungen, z.B. durch überdurchschnittliche körperliche Belastungen im Arbeitsleben, und durch vermeintliche mitgebrachte Risiken für bestimmte Erkrankungen – z.B. erhöhte Risiken für Magenkrebs durch frühkindliche H. pylori Infektionen (Leon/Davey Smith 2000) – mit der Zeit aufgehoben. So müssen türkische Migranten in dieser Lebensspanne als besonders vulnerable Gruppe gelten. Auch bezogen auf die sich ausprägenden Gesundheitsrisiken, wie z.B. eine erhöhte Rauchprävalenz unter türkischen Migranten (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005, Razum et al. 2004), die schlechteren Gesundheitspotentiale, z.B. durch einen niedrigeren Sozialstatus oder den schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung, z.B. durch sprachliche und kulturelle Barrieren oder mangelnde Kenntnisse des Gesundheitssystem (Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie 2004, Razum et al. 2004). Chronische und multimorbide Erkrankungen
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sind daher nicht nur bei älteren Arbeitsmigranten häufig zu finden, sie stellen auch die häufigsten Todesursachen in dieser Bevölkerungsgruppe dar. Körperliche Behinderungen treten bei ausländischen Senioren häufiger auf als bei deutschen Senioren. Ebenso sind Berufskrankheiten unter ausländischen Senioren weiter verbreitet als in der älteren deutschen Population (Mohammadzadeh/Tempel 2005). Insbesondere ältere Frauen ausländischer Herkunft leiden häufiger als ältere deutsche Frauen an psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen. Das Risiko an einer demenziellen Krankheit zu erkranken ist zudem bei Migranten erhöht. Außerdem manifestieren sich Demenzen bei Migranten in früheren Lebensaltern als bei Deutschen (Steinhoff/Wrobel 2004). Vor dem Hintergrund der diskutierten Befunde ist es nicht überraschend, dass auch Unterschiede in der subjektiven Bewertung des Gesundheitszustandes belegt werden können. Die altersstratifizierte Auswertung des Alterssurvey 2002 zeigt, dass mehr Nichtdeutsche als Deutsche ihren Gesundheitszustand als schlecht oder sehr schlecht beschrieben (Zeman 2005). Auch die Gesundheitszufriedenheit von Migrantinnen und Migranten sinkt mit zunehmendem Alter überdurchschnittlich stark (Ronellenfitsch/Razum 2004). Somit stellen ältere türkische Migranten in Bezug auf ihre gesundheitliche Situation bedingt durch z.T. unterschiedliche Krankheitsrisiken und niedrigere – vor allem materielle – Ressourcen und im Lebenslauf oftmals schlechtere Arbeits- und Wohnbedingungen eine besondere, vulnerable Gruppe dar, die verstärkter Aufmerksamkeit bedarf. Zu beachten ist dabei aber auch, dass Migranten spezifische gesundheitliche Potentiale und z.T. bessere Risiken haben, die es zu erhalten gilt.
2.5 Pflege türkischer Migranten Empirische Befunde über die Pflegebedarfe türkischer Migranten in NRW oder Deutschland existieren nicht. Vor dem Hintergrund der spezifischen Lebenssituation älterer türkischer Migranten beispielsweise im Bezug auf ihre ungünstige sozioökonomische oder gesundheitliche Lage wird von erhöhten Pflegebedarfen dieser Bevölkerungsgruppe ausgegangen. Aufgrund der noch geringen Zahl älterer türkischer Migranten in den hohen Altersgruppen sind diese Einschätzungen derzeit noch auf die Zukunft gerichtet. Pflege wird innerhalb der türkischen Bevölkerung eher als Familiensache angesehen (Raven/Huismann 2000). Auch deshalb können sich ältere türkische Migranten heute noch auf familiäre Unterstützungen im Falle einer Hilfs- und Pflegebedürftigkeit verlassen (Enquête-Kommission „Situation und Zukunft der
406
Petra-Karin Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum
Pflege in NRW“ 2005, Schopf/Naegele 2005). Dies ist auch weitgehend bei deutschen Pflegebedürftigen der Fall. Die Bereitschaft zur Übernahme von Pflege durch Angehörige wird zusätzlich durch monetäre Anreize bestimmt. Ein Teil der pflegenden Angehörigen – sowohl türkischer als auch deutscher Herkunft – sieht in der Übernahme der Pflege ein Zusatzeinkommen durch die Pflegegeldzahlungen der Pflegeversicherung. Zudem verfügen viele ältere Pflegebedürftige nicht über genügend liquide Finanzmittel, um die Kosten für eine professionelle Pflege ohne das Einsetzen von Vermögenswerten zu bestreiten. Die Pflegeversicherung übernimmt, insbesondere bei vollstationärer Pflege, nicht die gesamten anfallenden Kosten. Deshalb sehen viele pflegende Angehörige durch die Übernahme der Pflegeleistungen die Möglichkeit, das Familienvermögen zu bewahren (Mager/Eisen 2002). Zudem kommt unter Umständen ein Unterhaltsanspruch auf Ehepartner und Kinder zu, wenn die pflegebedürftige Person professionelle Pflegeleistungen nicht vollständig aus eigenen Mitteln finanzieren kann. Insgesamt werden Unterstützungsangebote professioneller Pflege durch türkische Migrantenfamilien nur in geringem Umfang genutzt (Kuratorium deutsche Altershilfe 2001, Schopf/Naegele 2005, Ünal 2003). Besonders von Türken wird z.B. die vollstationäre Pflege abgelehnt (Zeman 2005). Barrieren für die Inanspruchnahme sind beispielsweise kultureller, sozialer oder sprachlicher Art. Außerdem haben türkische Migranten häufig ein Informationsdefizit, welches u.a. durch die häufig defizitären Deutschkenntnisse der Migranten zustande kommt oder durch unzureichende Informationsangebote für diese Zielgruppe über Versicherungsleistungen (Zeman 2005). In einer regional auf Hamburg begrenzten Studie war der Bekanntheitsgrad von ambulanten Diensten der Altenhilfe unter älteren Türken mit 18,1% am niedrigsten (Kuratorium deutsche Altershilfe 2001). Allerdings existieren auch Zugangsbarrieren für Migranten auf Seiten der Altenhilfe. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die verbreitete Ausrichtung der Senioreneinrichtungen auf die Bedürfnisse der Mehrheitsbevölkerung (Kuratorium Deutsche Altershilfe 2001) zu nennen, z.B. bei der Ernährung oder gleichgeschlechtlicher Pflege. Jedoch entdecken Einrichtungen der Altenhilfe unter Schlagwörtern wie interkulturelle Pflege vermehrt ältere Migranten als neue Zielgruppe. Eine Entwicklung, die schon längst z.B. vom Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ gefordert wird. Trotz der Bemühungen für die Bereitstellung von speziellen Angeboten der Altenhilfe für Migranten in den letzen Jahren muss das Angebot bisher dennoch als unzureichend beurteilt werden (Lampert et al. 2005).
Pflege türkischer Migranten 3
407
Inanspruchnahme von Leistungen nach SGB XI durch türkische Migranten
Wie bereits dargelegt, existieren konkrete Zahlen über den Pflegebedarf von türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland nicht. Annahmen über den Pflegebedarf in dieser Bevölkerungsgruppe lassen sich deshalb ebenso wenig verifizieren, wie Annahmen über eine erhöhte Pflegebedürftigkeit, z.B. aufgrund der speziellen gesundheitlichen oder ökonomischen Situation von türkischen Migranten. In einer eigenen Analyse der auf Pflegebegutachtungen beruhenden Datenbasis des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Westfalen-Lippe wurde der Versuch unternommen, diese Annahmen mit Datenmaterial zu unterlegen (Okken 2007). Ziel der Datenanalyse war die erstmalige Bereitstellung epidemiologischer Daten über Umfang, Art und Häufigkeit der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI. Zur Analyse stellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe (MDK WL) anonymisierte Daten aus den Begutachtungen zur Pflegeversicherung aus dem Zeitraum 1.1.2001 bis 31.8.2005 zur Verfügung. Unter anderem wurden mit Hilfe einer explorativen Analyse geprüft, ob es Unterschiede zwischen der Einstufung als pflegebedürftig und nicht pflegebedürftig, in die Pflegestufen oder in der Inanspruchnahme von Geld-, Sach-, Kombinationsleistungen aus Geld- und Schachleistungen oder Leistungen zur vollstationären Pflege gab. Die Begutachtungen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XI bieten zur Klärung dieser Frage ein einheitliches und dokumentationsgerechtes Verfahren. Dabei werden regionalbezogen Pflegebedürftige und abgelehnte Antragstellerinnen und Antragssteller fast in ihrer Gesamtheit erfasst. Die Begutachtungen der gesetzlich pflegeversicherten Personen werden durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vorgenommen. Die Dokumentation der Begutachtungen stellten für diese Datenanalyse pflegerelevante Informationen für die Region Westfalen-Lippe bereit. Allerdings waren im Datensatz keine Angaben zu Nationalität oder Migrationshintergründen der begutachteten Personen verfügbar. In dieser Studie wurden die türkischstämmigen Fälle daher durch einen Namensalgorithmus identifiziert (Razum et al. 2000; 2001). Außerdem dienten im Datensatz des MDK WL als Fälle die Begutachtungen. Wurde eine Person im relevanten Zeitraum mehrmals begutachtet, z.B. durch eine Erstbegutachtung und eine Widerspruchsbegutachtung, war sie im Datensatz des MDK WL durch unterschiedliche Fälle mehrmals repräsentiert. Eine Zuordnung der Fälle zu einer bestimmten Person war nicht mehr möglich, da die Namensvariablen getrennt von den übrigen Variablen nur zur Anwendung des Namensalgorithmus zur Verfügung standen. Insgesamt waren in der Datenbasis 581.616
408
Petra-Karin Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum
Fälle vorhanden. Der Namensalgorithmus klassifizierte davon 7.917 Fälle (1,4% aller Fälle) mit türkischem Migrationshintergrund (Okken 2007). Bei der Betrachtung der demographischen Unterschiede konnten, wie zu erwarten, große Unterschiede in der Altersstruktur beobachtet werden (s. Abbildung 1). Abbildung 1: Altersverteilung der Begutachtungen für „türkische“ und „nicht-türkische“ Fälle im Datensatz des MDK WL in %* %
25
türkisch
nicht türkisch 20
15
10
5
5
=>
10
9
04
0
-1
4
-9
10
95
9
-9
-8 85
90
9
4 -8
80
4
-7 75
9
-7
-6 65
70
9
4 -6
-5 55
60
9
4 -5
50
4
-4
-4 40
45
4
9 -3
35
9
-3 30
4
-2
-2 20
25
4
9 -1
-1
10
15
-4 0
5
-9
0
N=573.699 (nt), 7917 (t)
*nt= nicht türkisch, t= türkisch ( übernommen aus Okken 2007)
Insgesamt waren im Untersuchungszeitraum 2.189 (28% aller Gutachten bei Personen mit türkischem Migrationshintergrund) Begutachtungen an „türkischen“ Fällen durchgeführt worden, die 60 Jahre und älter waren, während 502.837 Begutachtungen (88%) bei „nicht-türkischen“ Personen ab 60 Jahre erstellt wurden. Bei „türkischen“ Personen über 80 Jahre wurden 55 Begutachtungen (1%) und bei Personen mit „türkischem“ Hintergrund über 90 Jahre wurden 12 Begutachtungen (0,2%) erstellt. Im Vergleich wurden 50% der Begutachtungen (289.480) bei „nicht-türkischen“ Personen in den Altersgruppen ab 80 Jahre und 14% (81.508) bei nicht-türkischen Personen über 90 Jahre erstellt. Gründe für die deutlichen Abweichungen können z.T. daraus resultieren, dass sich das Alter der beiden Gruppen auch in der Gesamtbevölkerung entsprechend ungleich verteilt. Um dies zu klären, müsste ein Vergleich mit der Altersstruktur der Personen mit türkischem Migrationshintergrund und der übrigen
Pflege türkischer Migranten
409
Gesamtbevölkerung in Westfalen-Lippe angestellt werden. Solche Daten sind prinzipiell in Routinedaten (z.B. Statistiken aufgrund der Einwohnermelderegisterdaten) verfügbar. Allerdings ist das Unterscheidungskriterium in solchen Datengrundlagen die Nationalität und nicht ein anhand des Namensalgorithmus identifizierter Migrationshintergrund. Da der Namensalgorithmus mehr Fälle, nämlich auch eingebürgerte erfasst, ist ein exakter Vergleich nicht möglich. Erwartungsgetreu fanden sich ebenso Unterschiede in der Geschlechtsstruktur. So waren 66,3% der nicht türkischen Gruppe und 44,1% der türkischen Gruppe weiblich. Bei der Einstufung als „pflegebedürftig“ bzw. „nicht pflegebedürftig“ zeigte sich, dass durch Begutachtungen mehr Fälle in der türkischen Gruppe im Ergebnis als nicht pflegebedürftig eingestuft wurden, als dies bei nicht türkischen Fällen der Fall war (nicht türkisch: 25%, türkisch: 39%). Erklärt werden konnte dies nach altersstratifizierter Auswertung auch nicht stark abweichender Altersstruktur der beiden Gruppen (s. Abbildung 2). Abbildung 2: Altersstrukturen der Begutachtungen ohne Feststellung einer Pflegebedürftigkeit in % für die türkische und nicht-türkische Gruppe
% 100
nicht türkisch
90
türkisch
80 70 60 50 40 30 20 10 0
0
-4
10
-1
4 20
-2
4 30
-3
4 40
-4
4 50
-5
4 60
-6
4 70
-7
4 80
-8
4
=>
90
N=141.699 (nt), 7.917 (t)
*nt= nicht türkisch, t= türkisch (übernommen aus Okken 2007)
410
Petra-Karin Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum
Nur in zwei Altersgruppen („20 – 24 Jahre“ und „90 Jahre und älter“) wurden relativ zur Gesamtzahl aller Begutachtungen in der jeweiligen Altersgruppe mehr „türkische“ Fälle als pflegebedürftig eingestuft. Die Aussagekraft ist, aufgrund der geringen Anzahl an Fällen, zumindest in der höchsten Altersgruppe gering. Die Betrachtung aller Begutachtungen in den Fällen über 65 Jahre zeigte einen Anteil an Pflegebedürftigen von 77% unter den „nicht türkischen“ und 65% unter den „türkischen“ Fällen. Dies waren bei Begutachtungen in den Altersklassen über 80 Jahre 80% der „nicht türkischen“ und 69% der „türkischen“ Begutachtungen. Die Einstufung als „pflegebedürftig“ zieht bei den Begutachtungen die Kategorisierung in Pflegestufen nach sich (Pflegestufe I – III, Härtefall). Auch bei der dieser Betrachtung zeigten sich Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (s. Abbildung 3). Abbildung 3: Anteile der Pflegestufen an allen Begutachtungen mit Feststellung einer Pflegebedürftigkeit für die türkische und nicht-türkische Gruppe in % % 100 90 80 70
59
60 50
49 40
40
32 30 20
9
10
8
0 nicht türkisch Pflegestufe I
türkisch
nicht türkisch Pflegestufe II
türkisch
nicht türkisch
türkisch
Pflegestufe III N= 431.078 (nt), 4.824 (t)d
*Ergibt keine 100%, da fehlende Angaben und Härtefälle nicht dargestellt sind (nicht-türkische Gruppe: 0,79% keine Angabe, 0,03% Härtefall; türkische Gruppe: 1,33% keine Angabe, keine Härtefälle) (übernommen aus Okken 2007)
Pflege türkischer Migranten
411
Insgesamt resultierten die Begutachtungen an türkischen Fällen in einem hohen Anteil aus Pflegestufe I. In der nicht türkischen Gruppe wurden 10% weniger Fälle mit Pflegestufe I begutachtet. Insgesamt waren im Vergleich höhere Anteile an den höheren Pflegestufen (II und III) bei den nicht-türkischen Fällen zu finden (vgl. Abbildung 3). Bei Begutachtungen in der türkischen Gruppe wurden keine Fälle und in der Vergleichsgruppe nur 0,03% der Fälle als Härtefall beurteilt. Insgesamt scheint also die Gruppe mit türkischem Hintergrund bei den Begutachtungen im geringeren Maß pflegebedürftig zu sein, als die nicht türkische Gruppe. Die unterschiedlichen Altersstrukturen der beiden Gruppen lieferten dafür keine Begründung, da die Pflegestufe I in der türkischen Gruppe auch in fast allen Altersklassen einen höheren Anteil hatte als in der Vergleichsgruppe. (vgl. Abbildung 4). Abbildung 4: Pflegestufe I an allen Begutachtungen mit Feststellung einer Pflegestufe für die türkische und nicht-türkische Gruppe in % % 100 nicht türkisch
türkisch
90 80 70 60 50 40 30 20 10
90
-8 9
=>
-8 4
85
-7 9
80
-7 4
75
-6 9
70
-6 4
65
-5 9
55
60
-4 9
-5 4
50
45
-3 9
-4 4
40
-3 4
35
-2 9
30
-2 4
25
-1 9
20
15
-9
-1 4
10
5
0
-4
0
N=431.078 (nt), 4.824 (t)
(übernommen aus Okken 2007)
Die Abbildung zeigt des Weiteren, dass die Bedeutung der Pflegestufe I in der türkischen Gruppe in den Erwachsenenaltern zunimmt. Auch in den höheren
412
Petra-Karin Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum
Altersgruppen sind relativ betrachtet mehr türkische Fälle in die Pflegestufe I eingestuft worden als nicht türkische Fälle. So wurden in der Altersgruppe 65 – 79 Jahre 60% der türkischen und 52% der nicht türkischen Fälle in die Pflegestufe I gruppiert. Bei Fällen, die 80 Jahre und älter waren, wurde für 47% der nicht türkischen Fälle und 55% der türkischen Fälle vom MDK WL die Pflegestufe I empfohlen. Allerdings basiert die Aussage für die höchste Altersstufe auf nur 21 Begutachtungen in der türkischen Gruppe. Türkische Fälle haben insbesondere im jungen Kindesalter einen etwas geringeren Anteil an Pflegestufe I als nicht türkische Fälle im entsprechenden Alter. Die relativen Abweichungen zwischen den beiden Gruppen für Pflegestufe I bedeuten, dass auch Abweichungen in den höheren Pflegestufen vorhanden sein müssen. Für die Pflegestufe II konnten insgesamt keine gravierenden abweichenden Ergebnisse beobachtet werden. Allerdings wurden relativ betrachtet mehr nicht türkische Fälle in Pflegestufe III gruppiert als türkische Fälle. Insbesondere in den höheren Altersgruppen war dies konsistent der Fall. Bei allen Fällen in einem Alter von 65 - 79 Jahre war für ca. 8% der nicht türkischen Fälle und 4% der türkischen Fälle die Pflegestufe III empfohlen worden. Gravierende Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zeigten sich in der Art der beantragten Leistungen, die bei Antragstellung auf Begutachtung nach SGB XI von den Antragstellern angegeben wird. Unterschieden werden: 1.
2.
3. 4. 5.
Pflegesachleistungen, die bei ambulanter Pflege gezahlt werden, wenn diese von einer bei der Pflegekasse oder bei einer ambulanten Pflegeeinrichtung angestellten Pflegekraft ausgeführt wird, Pflegegeld wird gezahlt, wenn die Pflege durch eine vom Pflegebedürftigen selbstbeschaffte Pflegehilfe geleistet wird. In den meisten Fällen wird die Pflege dann von Familienangehörigen ausgeführt (Mager/Eisen 2002), Kombinationsleistungen sind eine Kombination aus Geld- und Sachleistungen, Leistungen zur vollstationären Pflege werden gewährt, wenn deren Erforderlichkeit durch die Begutachter des MDK festgestellt wurde und Leistungen nach §43a SGB XI, die von der Pflegekasse für die Pflege von Pflegebedürftigen in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen gezahlt wird.
Von der Gruppe mit türkischem Hintergrund wurden vor allem ambulante Geldleistungen (91%) beantragt. Auf alle anderen Leistungsarten verteilten sich die restlichen 9%. Für die nicht türkische Gruppe wurden zwar auch hauptsächlich ambulante Geldleistungen (42%) beantragt, aber andere Leistungsarten wurden vergleichsweise stärker beansprucht. Von den nicht türkischen Fällen wurden
Pflege türkischer Migranten
413
ambulante Sachleistungen zu 11%, ambulante Kombinationsleistungen zu 18% und Leistungen zur vollstationären Pflege zu 29% beantragt. Leistungen gem. §43a SGB XI waren für beide Gruppen kaum von Bedeutung. Der Vergleich der stratifizierten Auswertungen nach Alter zeigte große Unterschiede zwischen den türkischen und den nicht türkischen Fällen. Von der nicht türkischen Gruppe wurden mit zunehmendem Alter weniger Geldleistungen beantragt. Dafür gewannen die Sach- und Kombinationsleistungen an Bedeutung. Der größte Zuwachs mit zunehmendem Alter konnte bei den vollstationären Pflegeleistungen beobachtet werden. So wurde von Fällen in der Vergleichsgruppe im Alter von 65 – 79 Jahre nur noch zu 46% und in einem Alter von über 80 Jahren zu 32% Geldleistungen beantragt. Im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen war die Verringerung der Anteile, zu denen Geldleistungen beantragt wurden erheblich. Beispielsweise wurde diese Leistungsart für die „unter 20 jährigen“ zu 97% beantragt. In der türkischen Gruppe war der Anteil, zu dem Geldleistungen beantragt wurden, mit steigendem Alter nicht so stark vermindert. Im Vergleich zur Altersgruppe „unter 20 Jahre“ (96% Geldleistungen) wurden in höheren Lebensaltern zu 81% (65 – 79 Jahre) und zu 74% (80 Jahre und älter) Geldleistungen gewünscht. Leistungen für professionelle, ambulante Pflege (Sachleistungen) wurden von den nicht türkischen Fällen in den Altersgruppen „65 – 79 Jahre“ und „über 80 Jahre“ zu ca. 12% beantragt. In der türkischen Gruppe war dies zu ca. 6% bei den 65 – 79jährigen und zu 5% bei Begutachtungen in einem Alter von 80 Jahre und älter der Fall. Sachleistungen spielten bei Fällen türkischen Ursprungs und in der Vergleichsgruppe in einem Alter von „unter 20 Jahren“ kaum eine Rolle. In der Altersgruppe „20 – 64 Jahre“ konnten hingegen Unterschiede festgestellt werden, 3% für die türkischen Fälle und 9% für die Vergleichsgruppe. Die Verbindung von professioneller und informeller Pflege, z.B. durch Angehörige, wurde in den Altersklassen „65 – 79 Jahre“ und „80 Jahre und älter“ zu ca. 19% von den nicht türkischen Fällen und zu 7% (80 Jahre +) und 9% (65 – 79 Jahre) von den türkischen Fällen angestrebt. Bei der Beantragung von Leistungen zur stationären Pflege finden sich in allen Altersgruppen ab einem Alter von 20 Jahren große Unterschiede zwischen den türkischen Fällen und der Vergleichsgruppe. In einem Alter von „65 – 79 Jahre“ wurden von den türkischen Fällen nur zu knapp 4% vollstationäre Pflegeleistungen gewünscht, während dies für ca. 23% der Vergleichsgruppe im entsprechendem Alter der Fall war. Auch in der Altersgruppe „ab 80 Jahre“ finden sich solche Unterschiede bei dieser Leistungsart (36% für die nicht türkische Gruppe und 13% für die türkische Gruppe).
414
Petra-Karin Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum
Tabelle 2: Beantragte Leistungen in % nach Alter für die türkische und nicht türkische Gruppe Geldleistung nt* < 20 Jahre 20 - 64 Jahre 65 - 79 Jahre 80 + Jahre
t*
Ambulante Sachleistung
Kombinationsleistung
Vollstationäre Pflege
Stationäre Leistungen nach § 43a SGBXI
nt
t
nt
t
nt
t
nt
t
96,59 96,48
0,52
0,41
1,23
2,03
0,58
0,54
1,08
0,54
60,21 88,10
9,24
3,21
13,04
5,19
16,27
2,92
1,24
0,58
46,01 81,24
11,75
5,86
19,18
9,14
22,95
3,75
0,11
0,00
32,03 73,68
12,34
5,26
19,14
7,89
36,44 13,16
0,05
0,00
*nt = nicht türkisch, t = türkisch (übernommen aus Okken 2007)
Ein Einflussfaktor für die Art der beantragten Leistungen könnte die Schwere der Hilfsbedürftigkeit sein. Da die Annahme, dass die Pflege von Personen mit leichterer Pflegebedürftigkeit eher durch informelle oder ambulante Pflege erfolgen kann als bei schwererer Hilfsbedürftigkeit, zulässig erscheint, wurden die beantragten Leistungen nach Pflegestufen aggregiert. Die Variable „Pflegestufe“ diente dabei als Surrogat für die Schwere der Pflegebedürftigkeit. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Anteil der beantragten Geldleistungen mit der Höhe der Pflegestufe abnimmt, während die Anteile der anderen Leistungsarten, die professionelle Pflege einbinden, zunehmen. Bei Pflegestufe III würde zudem die vollstationäre Pflege stark an Bedeutung gewinnen. Wie Tabelle 3 zeigt, hatte eine höhere Pflegestufe im Vergleich nur einen kleinen Einfluss auf die Art der beantragten Leistungen in der Gruppe mit türkischem Migrationshintergrund (Geldleistungen bei Pflegestufe I zu 95%, bei Pflegestufe II zu 84%, bei Pflegestufe III zu 81%). In der Vergleichsgruppe hingegen wurden mit steigender Pflegestufe größere Veränderungen der Anteile, zu denen Geldleistungen beantragt wurden (Pflegestufe I: 53%, Pflegestufe II: 32%, Pflegestufe III: 12%), zugunsten der Pflegearten mit professionellen Anteilen und vollstationärer Pflege sichtbar. Leistungen der vollstationären Pflege wurden von den türkischen Fällen mit aufsteigender Pflegestufe zu ca. 1%, 4% und 6% beantragt, während dies bei den nicht türkischen Begutachtungen zu ca. 19%, 37% und 46% der Fall war (vgl. Tabelle 3).
Pflege türkischer Migranten
415
Tabelle 3: Art der beantragten Leistungen nach Pflegestufe in % für die türkische und nichttürkische Gruppe
Ambulante Geldleistung Ambulante Sachleistung Ambulante Kombileistung Vollstationäre Pflege Stat. Leistungen (§ 43a SGB XI)
Pflegestufe I nichttürk. türk.
Pflegestufe II nichttürk. türk.
Pflegestufe III nichttürk. türk.
Härtefall nichttürk. türk.
52,89
95,14
32,24
84,30
26,36
82,43
11,51
0,00
12,96
1,74
10,34
3,50
7,32
2,97
10,79
0,00
15,29
2,12
20,40
8,07
19,98
7,30
9,35
0,00
18,62
0,73
36,82
3,62
45,97
5,68
68,35
0,00
0,25
0,28
0,20
0,51
0,37
1,62
0,00
0,00
(übernommen aus OKKEN 2007)
Geschlechtsunterschiede in der Art der beantragten Leistungen konnten nur für die Vergleichsgruppe identifiziert werden. In allen Pflegestufen wurden von Frauen weniger Geldleistungen und vor allem mehr Kombinationsleistungen und Leistungen zur vollstationären Pflege gewünscht.
4
Diskussion der Ergebnisse
Ein Ergebnis sind die deutlich unterschiedlichen Altersverteilungen türkischer und nicht-türkischer Fälle in dem MDK-Datensatz, die die unterschiedliche Altersverteilung innerhalb der Bevölkerung widerspiegeln und zeigen, dass bisher nur wenige türkische Personen höhere Lebensalter (insbesondere das dritte und vierte Lebensalter) erreicht haben. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung wird diese Personengruppe allerdings vermutlich in die höheren Altersgruppen hineinwachsen. Da Pflegebedürftigkeit stark altersabhängig ist, werden zukünftig mehr türkische Migranten der Pflege bedürfen, als es bisher der Fall war. Die in der Arbeit von Okken (2007) gefundenen hohen (relativen) Anteile von Begutachtungen im Kindesalter und im frühen Erwachsenenalter kommen vor allem dadurch zustande, dass bisher nur eine kleine Anzahl der ehemaligen türkischen Gastarbeiter ein höheres oder hohes Lebensalter erreicht hat. Aufgrund dieses Ergebnisses kann also nicht davon ausgegangen werden, dass in
416
Petra-Karin Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum
der türkischen Bevölkerungsgruppe bei Kindern häufiger ein Verdacht auf Pflegebedürftigkeit besteht als in der übrigen Bevölkerungsgruppe. Insgesamt lässt sich durch die Analyse anhand der MDK-Daten bestätigen, dass die hier zugrunde liegenden Begutachtungen weniger eine Pflegebedürftigkeit bei Fällen mit türkischem Migrationshintergrund feststellten als bei Fällen ohne türkischen Migrationshintergrund. Dass türkische Fälle seltener als pflegebedürftig eingestuft werden als die der nicht türkischen, hauptsächlich deutschen Vergleichsgruppe, erscheint auf den ersten Blick unplausibel. Es kann darüber hinaus von der selteneren Pflegebedürftigkeit zwangsläufig nicht darauf geschlossen werden, dass die türkische Gruppe gesünder ist und in der Realität ein geringerer Pflegebedarf vorliegt. Drei verschiedene mögliche Ursachen für die seltenere Feststellung einer Pflegebedürftigkeit lassen sich zusammenfassend folgendermaßen formulieren: 1. 2.
3.
Türkische Migranten haben einen besseren Gesundheitsstatus als die übrige Bevölkerung, sind also tatsächlich weniger pflegebedürftig. Das Begutachtungsverfahren verläuft für diese Personengruppe weniger erfolgreich. Dies könnte z.B. aufgrund sprachlicher oder kultureller Barrieren der Fall sein. Türkische Personen haben ein anderes Antragsstellungsverhalten, indem sie mehr Anträge stellen, obwohl keine Pflegebedürftigkeit vorliegt.
Der erste Erklärungsansatz erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Literatur als nicht wahrscheinlich, wenn angenommen wird, dass diese Migrantengruppe aufgrund ihres Migrationshintergrundes, ihren Benachteiligungen in den sozialen Verhältnissen eine besonders vulnerable Gruppe hinsichtlich auftretender Pflegebedürftigkeit sein könnte. Aufgrund der Literatur scheint es eher wahrscheinlich, dass insbesondere ältere Menschen mit einem türkischem Migrationshintergrund durch die lebenslange Kumulation der ungünstigen ökonomischen Verhältnisse und der überdurchschnittlichen körperlichen Belastung im Berufsleben eine im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung erhöhte Pflegebedürftigkeit aufweisen und eher keine niedrigere. Die Diskussionen in der aktuellen Literatur vermuten in Bezug auf ältere Migranten einen solchen erhöhten Pflegebedarf. Allerdings gibt es dafür bisher keine empirischen Befunde. Der zweite Erklärungsansatz, dass türkische Personen im Vergleich zu nicht türkischen Personen im ersten Gutachten eher als nicht pflegebedürftig eingestuft wurden, könnte eine Benachteiligung dieser Personengruppe in der Begutachtungspraxis ausdrücken. Dies könnte daraus resultieren, dass das Verhalten der beiden Gruppen zur Vorbereitung auf die Begutachtung unterschiedlich ist. Es wäre z.B. denkbar, dass türkische Personen sich erst nach einer einmaligen Ab-
Pflege türkischer Migranten
417
lehnung genauer mit den Modalitäten der Pflegeversicherung und Begutachtungspraxis vertraut machen. Dies erscheint für diese Gruppe von besonderer Wichtigkeit, da sie z.B. kulturellen oder sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten entgegenzuwirken haben. In diesem Zusammenhang könnte es beispielsweise auch sein, dass türkischstämmige Personen aufgrund ihrer kulturell bedingt abweichenden Altersbilder es nicht in dem Maße schaffen, ihre Hilfsbedürftigkeit den weitgehend deutschen Begutachtern zu beschreiben wie die größtenteils deutsche Vergleichsgruppe. So geht der 5. Altenbericht von Kommunikationsproblemen von Migranten bei der Begutachtungspraxis zur Pflegeversicherung aus (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005). Über die Pflegeversorgung in Bezug auf Migranten ist darüber hinaus nicht viel bekannt. Die gesundheitswissenschaftliche Forschung hat allerdings gezeigt, dass eine Unterversorgung von Migranten u.a. im Bereich der Gesundheitsaufklärung und -bildung besteht (Brucks/Wahl 2003). Da die Pflegeversorgung der Gesundheitsversorgung in vielen Bereichen ähnlich ist, ergeben sich eventuell auch Hinweise auf eine schlechtere Information dieser Bevölkerungsgruppe in Bezug auf Pflege und die Ansprüche, die sich aus dem Pflegeversicherungsgesetz begründen. Ein weiterer Erklärungsversuch könnte auch eine –unbewusste – Benachteiligung dieser Personengruppe durch die Beurteilung der Gutachter sein. So wäre denkbar, dass Gutachter in türkischen Familien einen stärkeren innerfamiliären Zusammenhang vermuten und daher weniger Bedarf für Unterstützung sehen (im Sinne eines benevolenten Paternalismus). Konkrete Hinweise hierfür gibt es allerdings weder in der durchgeführten Analyse noch in der Literatur. Gegen Erklärungsmöglichkeit (iii) spricht, dass die Betrachtung der Anteile der türkischen Fälle an allen Fällen im Datensatz des MDK WL die Bevölkerungsanteile türkischer Personen in NRW widerspiegeln. Aufgrund von Routinedaten des statistischen Landesamtes konnte der Anteil von Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit in NRW auf insgesamt ca. 3,3% geschätzt werden. Der Anteil der Begutachtungen von Personen mit türkischem Migrationshintergrund ist mit 1,4% um den Faktor 2,4 geringer. Gründe hierfür sind vor allem in den existierenden Unterschieden in der Altersstruktur der beiden Gruppen zu suchen. Bei der Altersstratifizierung zeigt sich, dass in den jungen Altersgruppen ein größerer Anteil an Anträgen gestellt wird, als der Bevölkerungsanteil türkischer Personen (nach Staatsangehörigkeit) vermuten lassen würde. Unterschiede in den jüngeren Altersgruppen sind vermutlich, wie schon erwähnt, zu einem großen Teil durch Einbürgerungseffekte bedingt. Gerade in den Altersgruppen ab 60 Jahren ist aber der Anteil der gestellten Anträge von türkischen Fällen eher geringer als der Bevölkerungsanteil vermuten lassen würde. In den hohen Altersgruppen gibt es keine oder nur kleine Einbürgerungseffekte, so
418
Petra-Karin Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum
dass die beiden Datenbasen hier am ehesten adäquat miteinander zu vergleichen sind. Insgesamt lässt sich daraus ableiten, dass basierend auf den Anteilen in der Hintergrundbevölkerung von türkischen Personen, jedenfalls in den hohen Altersgruppen, nicht mehr Anträge als von nicht türkischen Fällen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gestellt wurden. Eine übersteigerte Antragsstellung dieser Gruppe kann also ausgeschlossen werden. Über ein anderes Verhalten bei der Antragstellung oder andere Beweggründe für eine Antragstellung lassen sich durch die vorgenommene Auswertung keine Aussagen treffen. In der Untersuchung von Okken (2007) zeigt sich auch, dass, wenn bei Begutachtungen von türkischen Personen eine Pflegebedürftigkeit festgestellt wurde, tendenziell niedrigere Pflegestufen vergeben wurden als bei den nicht-türkischen Begutachtungen. Es wurden insgesamt mehr türkische Fälle in die niedrigste Pflegestufe (Pflegestufe I) eingestuft als nicht türkische Fälle. Die Gründe für die beschriebenen Unterschiede sind nicht eindeutig zu klären, können aber wie oben angeführt entweder, auf einen anderen wirklich vorhandenen Pflegebedarf oder, auf Unterschiede im Begutachtungsverfahren, sowohl auf Seiten der Antragsteller als auch der Gutachter, zurückzuführen sein. Ein anderes Inanspruchnahmeverhalten scheidet als Grund aus, da bei der Beantragung keine „gewünschte“ Pflegestufe von den Antragstellern angeführt werden kann, sondern sich anhand der zeitlichen Vorgaben aus den Begutachtungsrichtlinien für den vom Gutachter festgestellten Hilfebedarf berechnet. Die sich in der Arbeit von Okken (2007) abzeichnenden großen Anteile der beantragten ambulanten Leistungsarten (Geldleistungen, Sachleistungen und Kombinationsleistungen) im Vergleich zu stationären Leistungen sind mit den in der Literatur verfügbaren Informationen konsistent. In der nicht türkischen Gruppe wurden ambulante Leistungen zu 71% und in der türkischen Gruppe zu 97% beantragt. Generell ist der große Anteil an ambulanten Leistungen vor dem Hintergrund des im Pflegeversicherungsgesetz formulierten Grundsatzes „ambulant vor stationär“ nicht überraschend. Auch nach der Pflegestatistik werden 69% der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt (Statistisches Bundesamt 2005). Die Angaben der Pflegestatistik sind am ehesten mit der nicht türkischen Gruppe vergleichbar. Es zeigt sich also weitgehend eine Übereinstimmung zwischen dieser Auswertung und der Pflegestatistik. Für die türkische Gruppe spielen vor allem stationäre Leistungen mit 2% kaum eine Rolle bei der Leistungsbeantragung. Auch der Altensurvey zeigte, dass türkische Migranten stationäre Pflege eher ablehnen (Zeman 2005). Große Unterschiede zwischen den beiden betrachteten Gruppen zeigten sich in der Beantragung von Geldleistungen (91% in der türkischen und 42% in der nicht türkischen Gruppe). Dieses Ergebnis unterstützt die Aussagen aus der Literatur, dass bei türkischen Personen Pflege vor allem von Familienangehörigen
Pflege türkischer Migranten
419
geleistet wird und sie professionelle Pflege kaum in Anspruch nehmen (Ünal 2003). Auch der schlechte Bekanntheitsgrad ambulanter Pflegedienste, der in einer auf Hamburg regional begrenzten Studie gezeigt wurde, kann Gründe für die hohe Bedeutung von Geldleistungen in der türkischen Gruppe haben. Die unterschiedliche Altersverteilung kann keine Begründung für die beobachteten Unterschiede liefern, da auch mit zunehmendem Alter von türkischen Fällen vorwiegend Geldleistungen gewünscht wurden, während bei den nicht türkischen Fällen eine starke Verringerung des Anteils, zu dem Geldleistungen beantragt wurden, beobachtet werden konnte. Auch mit zunehmender Pflegestufe, die bei der Analyse der beantragten Leistungen als Surrogat für die Schwere der Pflegebedürftigkeit genutzt wurde, ergab sich bei türkischen Fällen nur eine kleine Verringerung des Geldleistungsanteils, während bei nicht türkischen Fällen eine große Verringerung des Anteils der Geldleistungen vor allem zugunsten der vollstationären Pflege gezeigt werden konnte. Die Daten unterstützen die Erkenntnisse aus der Literatur, die auf eine erhöhte Bereitschaft der türkischen Bevölkerung für die Pflege durch selbstbeschaffte Pflegepersonen, vor allem durch Familienangehörige, schließen lassen. Allerdings ist anzunehmen, dass zukünftig auch in türkischen Familien die Pflege nicht mehr bedarfsdeckend von Angehörigen übernommen werden kann. Durch die Angleichung der Lebensbedingungen an die hiesige Bevölkerung, beispielsweise in Bezug auf die Berufstätigkeit von Frauen, stehen Angehörige nicht mehr im bisherigen Umfang zur Verfügung. Bisher wird häusliche Pflege in der ausländischen wie in der deutschen Bevölkerung überwiegend von Frauen geleistet (Mager/Eisen 2002). Häusliche Pflegearrangements mit demenziell Erkrankten führen häufig zu Überlastungen unausgebildeter Pflegekräfte. Trotzdem werden professionelle ambulante, teil- und vollstationäre Pflegeleistungen im Verlauf der Pflegekarriere, wenn überhaupt, erst sehr spät in Anspruch genommen. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse erscheinen Anstrengungen auf zwei Ebenen als sinnvoll: 1.
2.
Menschen mit Migrationshintergrund müssen besser über ihre Ansprüche gegenüber der gesetzlichen Pflegeversicherung informiert werden, dieses gilt speziell für den Begutachtungsprozess. Die Pflegeversicherung und die Pflegedienste müssen sich auf die steigende Zahl von pflegebedürftigen Menschen mit Migrationshintergrund einstellen. Das bedeutet, im Rahmen eines verstärken Diversity Managements (Geiger 2006) Angebote zu schaffen, die auf die steigende Heterogenität bezogen auf kulturelle und soziale Hintergründe innerhalb der deutschen Wohnbevölkerung eingehen. Dazu gehören beispielsweise mehrsprachige Angebote
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Petra-Karin Okken, Jacob Spallek und Oliver Razum oder auch die Schaffung von Angeboten zur Unterstützung von pflegenden (türkischen) Familienangehörigen.
Die in diesem Kapitel beschriebenen Hinweise auf Unterschiede im Bezug auf die Lebensumstände und die vorgestellten Auswertungsergebnisse der Begutachtungen zur Pflegeversicherung zwischen der Bevölkerungsgruppe mit türkischem Migrationshintergrund und der übrigen Bevölkerung zeigen einen tiefergehenden Forschungsbedarf auf, mehr und präzisere Informationen über den wirklichen Pflegebedarf, die Inanspruchnahme und die Gewährung von Leistungen zur Pflegeversicherung von türkischen Migrantinnen und Migranten zu sammeln. Solche zukünftigen Forschungsarbeiten sollten mögliche Covariaten der Pflegerisiken, wie den Sozialstatus, das Bildungsniveau, die gesundheitliche Lage und die körperliche Belastungen während des Arbeitslebens, der türkischen Bevölkerungsgruppe einbeziehen.
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Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion und Produktion sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit? Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion …
Bernhard Borgetto und Nicole Kolba
1
Einleitung
Die gesundheitsbezogene gemeinschaftliche Selbsthilfe gewinnt in Deutschland und in anderen westlichen Gesellschaften immer mehr an Bedeutung. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die Gesundheit erhält einen immer höheren Wert in der Gesellschaft, für den viele Menschen mehr und mehr Verantwortung übernehmen wollen – und müssen, da die professionelle medizinische und psychosoziale Versorgung bei chronischen Erkrankungen und Behinderungen zunehmend an ihre prinzipiellen und organisatorischen Grenzen stößt (vgl. Badura 1994; 1996). Viele chronisch Kranke werden mit ihren krankheitsbedingten Problemen und Belastungen vom professionellen Versorgungssystem mehr oder weniger allein gelassen. In diesem ‚Vakuum’ sind Selbsthilfezusammenschlüsse von Betroffenen aktiv, die die Leistungen des professionellen Versorgungssystems ergänzen (vgl. z.B. Badura/von Ferber 1981; Trojan 1986; Engelhardt et al. 1995; Moeller 1996; Braun et al. 1997, zusammenfassend Borgetto 2004). Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen können Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen Kompetenzen für einen eigenverantwortlicheren Umgang mit Gesundheit und Krankheit vermitteln und so dazu beitragen, dass Einschränkungen von Versorgungsleistungen nicht automatisch eine Verschlechterung von Gesundheitszustand und Lebensqualität zur Folge haben. Dementsprechend erfreuen sich gesundheitsbezogene Selbsthilfezusammenschlüsse einer wachsenden Anerkennung. Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre haben Modellprogramme der Bundesregierung die Entwicklung einer bundesweit nahezu flächendeckenden Infrastruktur lokaler und regionaler Stellen zur Unterstützung von Selbsthilfeaktivitäten und der Einbindung von Selbsthilfezusammenschlüssen vorangetrieben (vgl. Braun et al. 1997; Matzat 2000). 1995 bezeichnete der damalige Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, die Selbsthilfe bereits als vierte Säule des Gesundheitswesens. Der Gesetzgeber hat 1999 die gesetzlichen Krankenkassen im SGB V und 2001 die Träger der Rehabilitation im SGB IX zur direkten finanziellen Förderung von gesundheitsbezo-
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genen Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeorganisationen und Selbsthilfekontaktstellen verpflichtet (vgl. Assion 2000; Buschmann-Steinhage 2000, 2007). Gleichzeitig unterstützen Bund, Länder und Kommunen die gemeinschaftliche Selbsthilfe auf der Basis des Subsidiaritätsprinzips mit großen Fördersummen. Darüber hinaus werden Selbsthilfezusammenschlüsse in zunehmendem Maße in das Gesundheitswesen integriert. Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre wurden an einigen Kassenärztlichen Vereinigungen Kooperationsstellen für Ärzte und Selbsthilfegruppen (vgl. Röhrig 1989; Meye/Slesina 1990) und 1999 bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung eine Kooperationsstelle für Selbsthilfeorganisationen (vgl. Litschel 2003) eingerichtet. Ein anderer Aspekt, der immer stärker auch in das politische Interesse rückt, ist das Problem der sozial ungleichen Verteilung von Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken innerhalb einer Bevölkerung. Der Befund, dass die Schichtzugehörigkeit maßgeblich mit dem Auftreten von chronischen somatischen und psychischen Krankheiten, dem allgemeinen Gesundheitszustand und Mortalitätsraten verbunden ist, kann als gesichert und raum-/zeitstabil angesehen werden (vgl. Steinkamp 1993, 1999; Mielck 2000; Borgetto/Kälble 2007). So sind Personen aus sozial benachteiligten Schichten häufiger krank, sterben früher und verfügen über geringere gesundheitsbezogene Ressourcen, um mit Krankheit und Krankheitsrisiken umzugehen, als Menschen aus sozial privilegierten Schichten. Die Rolle, welche Selbsthilfegruppen in Bezug auf soziale und gesundheitliche Ungleichheit spielen, wird schon seit den 1980er Jahren diskutiert. Obwohl die Datenlage lange Jahre sehr dünn war, wurde immer wieder der Vorwurf laut, an Selbsthilfegruppen würden vorwiegend Menschen aus der Mittelschicht teilnehmen (Trojan 1986a). Selbsthilfeförderung würde dementsprechend vor allem denjenigen zugute kommen, die ohnehin schon zu den gesundheitlich bevorzugten Bevölkerungsteilen gehören, und damit die sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit indirekt noch verstärken. Ein solcher für Selbsthilfegruppen insgesamt zutreffender Sachverhalt würde die Frage aufwerfen, ob die momentane Förderung von Selbsthilfezusammenschlüssen als bedarfsgerecht einzustufen ist. Ob diese Einschätzung eines Mittelschichtüberhangs in Selbsthilfegruppen zutreffend ist, soll in diesem Beitrag untersucht und diskutiert werden. Dazu werden im Folgenden zunächst einige begriffliche Klärungen hinsichtlich der gesundheitsbezogenen Selbsthilfegruppen vorgenommen (Abschnitt 2.1), die potenziellen salutogenen Wirkungen der Teilnahme an Selbsthilfegruppen diskutiert (Abschnitt 2.2) und Daten zur Verbreitung von Selbsthilfegruppen vorgestellt (Abschnitt 2.3). Anschließend wird das eigentliche Thema der Reproduktion sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit in Selbsthilfegruppen angegangen, indem aktuelle Forschungsergebnisse zur Sozialstruktur von Selbsthilfegruppen in Deutschland (Abschnitt 3.1) und eigene Ergebnisse zum Thema aus
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der Studie RHEUMADAT vorgestellt werden (Abschnitt 3.2). Mit diesen Daten können potenzielle Zusammenhänge zwischen sozialem Status und der Teilnahme an Selbsthilfegruppen (hier: Gesprächskreise der Rheuma-Liga) sowohl diagnoseübergreifend als auch diagnosespezifisch für verschiedene Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises untersucht werden. Die beobachteten Resultate aus dieser Studie werden mit dem aktuellen Forschungsstand verglichen, um sich einer Beantwortung der Frage nach einer Reproduktion sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit in Selbsthilfegruppen anzunähern. Abschließend wird auf eine mögliche Produktion sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit durch Selbsthilfegruppen als zukünftiges Forschungsthema eingegangen.
2
Gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen
2.1 Begriffsbestimmung Zu Beginn der 1970er Jahre ‚entdeckte‘ die Wissenschaft die gesundheitsbezogene gemeinschaftliche Selbsthilfe. Seither gibt es eine lang andauernde Diskussion um den Begriff der Selbsthilfe und um abgeleitete Begriffe wie Gesundheitsselbsthilfe, Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeorganisationen, Selbsthilfeunterstützung, Selbsthilfeinitiativen usw. Diese Diskussion ist geleitet von wissenschaftlichen und politischen Interessen und gleichermaßen geprägt von den Widersprüchen von Alltags- und Wissenschaftssprache. Im Weiteren wird eine soziologisch orientierte Systematisierung vorgestellt, die auch der weiteren Darstellung zugrunde liegt (vgl. Borgetto 2004). Mit dem Begriff Selbsthilfe werden alle Handlungsformen bezeichnet, die sich auf ein gesundheitliches oder soziales Problem durch die jeweils Betroffenen beziehen. Fremdhilfe bezeichnet demgegenüber sowohl die bezahlte als auch die unbezahlte Hilfe von nicht betroffenen Laien oder Fachleuten bzw. Experten. Individuelle Selbsthilfe umfasst individuelle Handlungsformen und in einem weiteren Sinne auch gemeinschaftliche Handlungsformen innerhalb vorgefundener ‚natürlicher‘ sozialer Gebilde (z.B. Haushalt, Familie, Freundeskreis). Gemeinschaftliche Selbsthilfe1 umfasst demgegenüber individuelle und gemeinschaftliche Handlungsformen innerhalb eigens zu diesem Zweck geschaffener 1
In diesem Zusammenhang werden oftmals unterschiedliche Begriffe benutzt: ‚solidarische Selbsthilfe’ (Vogelsanger 1995), ‚kollektive Selbsthilfe’ (Matzat 2002) und ‚soziale Selbsthilfe’ (Borgetto/ von Troschke 2001; Wohlfahrt et al. 1995). Vor allem der Begriff soziale Selbsthilfe als Bezeichnung für gemeinschaftliche Selbsthilfe kann jedoch zu Abgrenzungsproblemen führen, da dieser Begriff auch als Bezeichnung für den Bereich der Selbsthilfe benutzt wird, der keinen direkten Bezug zur Gesundheit hat, sondern sich mehr an sozialen Problemen orientiert.
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‚künstlicher‘ sozialer Gebilde (z.B. Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeorganisationen). Beide Formen der Selbsthilfe beruhen vorwiegend auf Erfahrungswissen, können aber auch Fachwissen mit einschließen. So wenig wie jedes Verhalten Gesundheitsverhalten ist, obwohl fast jedes Verhalten auch relevant ist für die Gesundheit des Handelnden, so wenig sind alle Selbsthilfegruppen Gesundheitsselbsthilfegruppen – obwohl fast alle Selbsthilfegruppen relevant für die Gesundheit ihrer Mitglieder sind. Selbsthilfe wird daher nur dann als gesundheitsbezogene Selbsthilfe betrachtet, wenn der Zweck bzw. der subjektive Handlungssinn explizit die Erhaltung oder Förderung der Gesundheit oder die Bewältigung einer Krankheit ist. Direkt krankheitsbezogene Selbsthilfe wird als Unterform der allgemeineren gesundheitsbezogenen Selbsthilfe betrachtet. Die Erhaltung bzw. Förderung der Gesundheit ist oft nur ein unbeabsichtigter Nebeneffekt in Selbsthilfegruppen. Meist richtet sich die Selbsthilfe in Gruppen auf die Bewältigung von chronischer Krankheit und Behinderung oder auf die Therapie und Bewältigung psychischer Störungen und psychosomatischer Erkrankungen (Grunow 1998). Vor allem Selbsthilfeorganisationen widmen sich aber zunehmend präventiven Themen und damit dem Erhalt von Gesundheit. Als gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen werden dementsprechend freiwillige Zusammenschlüsse von Menschen auf örtlicher/regionaler Ebene bezeichnet, deren Aktivitäten sich auf die Erhaltung von Gesundheit und/oder die gemeinsame Bewältigung von Krankheiten und/oder psychischen Problemen und deren Folgen richten, von denen sie – entweder selbst oder als Angehörige – betroffen sind. Wenn Selbsthilfegruppen geleitet werden, dann von selbstbetroffenen Mitgliedern, unabhängig davon, ob diese medizinische Laien oder Experten/professionelle Helfer sind2. Gesundheitsbezogene Selbsthilfeorganisationen sind weitaus komplexere Sozialgebilde. Sie unterscheiden sich von Selbsthilfegruppen durch überregionale Interessenvertretung, meist größere Mitgliederzahlen, formalisierte Arbeitsund Verwaltungsabläufe, bestimmte Rechtsformen und meist ausgeprägte Kontakte zu professionellen Systemen. Selbsthilfeorganisationen können als Zusammenschluss von Selbsthilfegruppen entstehen bzw. deren Gründung anregen 2
Nach den gemeinsamen Grundsätzen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), an die sich diese Definition anlehnt, werden Selbsthilfegruppen nicht von professionellen Helfern wie z.B. Ärzten oder Therapeuten geleitet. Diese Festlegung erscheint jedoch nicht angebracht. Wichtiger als der professionelle Hintergrund ist die Betonung der eigenen Betroffenheit und der daraus erwachsenen spezifischen Kompetenz zur krankheitsbezogenen Selbsthilfe der Leitungsperson einer Selbsthilfegruppe, die auch auf Experten des Gesundheitssystems erworben werden kann. Eine Untersuchung von Selbsthilfegruppen in den USA zeigte, dass ca. ein Viertel der befragten SelbsthilfegruppenLeiter selbst betroffene Experten mit dem fachlichen Hintergrund eines Gesundheits(fach)berufs waren (Medvene et al. 1999).
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und Selbsthilfegruppen unterstützen. Selbsthilfeorganisationen erbringen weit über den eigenen Mitgliederbestand hinaus Beratungs- und Informationsleistungen. Wichtige Merkmale von Selbsthilfeorganisationen sind die Leitung durch Betroffene, die Vertretung von Interessen von Selbsthilfegruppen und deren Einbeziehung in den Organisationskontext.
2.2 Mögliche salutogene Wirkungen gesundheitsbezogener Selbsthilfe Die Ziele von Selbsthilfegruppen werden nach eigener Einschätzung von Selbsthilfegruppen-Teilnehmern in unterschiedlichem Maße erreicht (Trojan et al. 1986b; Trojan/Estorff-Klee 2004; Trojan/Nickel 2004). Ziele geringer Reichweite, wie die Unterstützung anderer Mitglieder, Informationsaneignung, Menschen zum Reden finden, selbstständiger Umgang mit der Krankheit und gemeinsame Freizeitgestaltung sowie Ziele mittlerer Reichweite, wie Einstellungsänderungen bei Betroffenen und im sozialen Umfeld und Interessenvertretung für Betroffene, werden in recht hohem Maße verwirklicht. Ziele großer Reichweite, wie die Veränderung von Institutionen und Einstellungsänderungen bei Professionellen, werden dagegen in deutlich geringerem Ausmaß erreicht. Von den Erfolgen bei der Verwirklichung selbst gesteckter Ziele sind Wirkungen von Selbsthilfegruppen zu unterscheiden, die nicht als Ziel im eigentlichen Sinne verfolgt werden (Trojan et al. 1986b; Trojan/Estorff-Klee 2004; Trojan/Nickel 2004). Dazu zählen insbesondere die Verbesserung von psychosozialer Befindlichkeit, die Besserung der Hauptsymptome der jeweiligen Krankheit und die Verminderung von Bewegungseinschränkungen. Weitere Wirkungen sind die Verbesserung der Fähigkeit, Krankheit zu bewältigen, Leben zu lernen (Kompetenzerweiterung und soziale Aktivierung), Beziehungen (in den primären Netzwerken) positiver zu gestalten und professionelle Dienste sinnvoll zu nutzen (Moeller et al. 1984; Trojan et al. 1986b). Bei Untersuchungen von einzelnen krankheitsspezifischen Gruppen von Diabetikern (Gilden et al. 1992), Übergewichtigen (Grimsmo et al. 1981) und onkologischen Patienten (Maisiak et al. 1981) weisen Studienergebnisse in die gleiche Richtung. Ferner wird Selbsthilfegruppen-Teilnehmern von ‚selbsthilfe-erfahrenen‘ Ärzten eine höhere Compliance zugeschrieben, da sie besser über ihre Krankheit informiert sind als Erkrankte ohne ein entsprechendes Selbsthilfe-Engagement (Röhrig 1989). Gesundheitsfördernde Wirkungen von Selbsthilfegruppen lassen sich also besonders auf salutogene Ressourcen (Antonovsky 1997) wie personale Dispositionen und soziale Unterstützung erkennen (vgl. auch Robert Koch-Institut 2004; Borgetto 2004). Diese gesundheitsfördernden Wirkungen werden durch verschiedene Mechanismen innerhalb der Gruppe vermittelt (Matzat 1999; Borgetto
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Bernhard Borgetto und Nicole Kolba
2004): So können sich neue Mitglieder von ‚Dienstälteren’ durch Modell-Lernen erfolgreiche Coping-Strategien zur Krankheitsbewältigung aneignen (siehe auch Richardson 1991). Zudem wird gesundheitsförderndes Verhalten durch Anerkennung in der Gruppe verstärkt. Die langfristig in Selbsthilfegruppen Aktiven profitieren von diesem Prozess nach dem ‚helper therapy principle’, das besagt, dass ‚Helfen hilft’, da es ein Gefühl von eigener Kompetenz gibt und so das Selbstbewusstsein fördert (vgl. Matzat 1999). Auch gesundheitliche Kontrollüberzeugungen bzgl. Krankheit und Gesundheit verändern sich in der Art, dass sich der Betroffene eher als eigener Gestalter seines Krankheitsschicksals wahrnimmt, dadurch eine mündigere Rolle dem Arzt gegenüber einnehmen und sich gesundheitsförderlich verhalten kann und sich das im Stressprozess bedeutsame Gefühl des Kontrollverlusts verringert (Mazat 1999; Richardson 1991). Ein weiterer wichtiger Wirkmechanismus stellt die gegenseitige soziale Unterstützung dar. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann dem Mitglied Wertschätzung und Ermutigung vermitteln, was sich besonders bei chronisch Kranken rehabilitationsfördernd auswirkt, da die Betroffenen aufgrund der nachlassenden Mobilität ihre sozialen Netzwerke oft weniger pflegen können. Selbsthilfegruppen sind zwar künstlich geschaffen und häufig mit der jeweiligen Krankheit verbunden, haben aber meist einen ganzheitlichen Anspruch und gehen oft über den Krankheitsbezug hinaus, so dass sich auch Freundschaften und andere soziale Kontakte ergeben (vgl. Matzat 1999; Richardson 1991). Individuelle Belastungen, die durch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe entstehen, spielen insgesamt nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch können im Einzelfall ernsthafte Beeinträchtigungen des Wohlbefindens entstehen, wenn eine Person eine Selbsthilfegruppe aufgrund von persönlichen Differenzen verlässt oder in der Gruppe unerfüllbare Erwartungen an die Zukunft geweckt werden (vgl. Borgetto 2002; Richardson 1991). Auch der Fall, dass sich der Gesundheitszustand oder die Bewegungsfähigkeit eines Mitglieds rapide verschlechtert, kann das eigene Schicksal entmutigend vor Augen führen (vgl. Schafft 1981). Insgesamt stehen bei der Teilnahme an Selbsthilfegruppen jedoch die salutogenen Wirkungen und die Gegenseitigkeit von Hilfe bzw. Unterstützung im Vordergrund. Diese basieren u.a. auf der besonderen Qualität der gegenseitigen Unterstützung durch die gleichartige Betroffenheit: „Selbsthilfe organisiert sich in informellen Gruppen. Selbstbestimmung, Glaubwürdigkeit, Hoffnung und Solidarität bilden zentrale Grundwerte in diesen Gruppen, deren Teilnehmer ‚Experten in eigener Sache‘ sind, d.h. ihre gewonnene Kompetenz erlebt und erlitten haben – im Unterschied zur Expertenkompetenz von Fachleuten (Sachverständigenrat 2001: 164).“
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Diese speziellen Leistungen, welche ‚Leidensgenossen’ untereinander austauschen, können nicht durch das professionelle System erbracht werden, sondern sind ein zusätzliches Element der Gesundheitsversorgung (vgl. Grunow 1998). Soziale und personale Ressourcen werden durch gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Gruppen aktiviert und erweitert, was sich positiv auf den Rehabilitationsprozess und die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Erkrankten auswirkt.
2.3 Verbreitung von Selbsthilfegruppen in Deutschland Regionale/örtliche Selbsthilfegruppen sind zum Teil in Selbsthilfeorganisationen auf Landes- oder Bundesebene integriert, die schwerpunktmäßig Informationen für die Betroffenen oder Interessierte bereitstellen, Beratungen anbieten und Öffentlichkeitsarbeit leisten (Braun et al. 1997; Borgetto 2004). Zudem existieren Selbsthilfekontaktstellen, Dachorganisationen wie die BAG SELBSTHILFE und Fachorganisationen die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG) auf Bundesebene, welche die Interessen der Selbsthilfe in Deutschland vertreten (Robert Koch-Institut 2004; Borgetto 2004). Viele Selbsthilfegruppen arbeiten jedoch unabhängig im Verborgenen und sind für die Forschung nicht zugänglich, so dass Aussagen über die Anzahl der Gruppen in Deutschland nicht leicht zu treffen sind (vgl. Grunow 1998; Matzat 1999). Erschwerend kommt hinzu, dass Zahlen zur Verbreitung von Selbsthilfegruppen in verschiedenen Studien stark schwanken, da in vielen Untersuchungen unterschiedlichen Definitionen zugrunde gelegt werden. So stehen Angaben, die in den letzten Jahren keinerlei Veränderung bei der Beteiligung an Selbsthilfegruppen oder ihrer Anzahl sehen (Grunow 1998), Meinungen gegenüber, die eine Verfünffachung des Selbsthilfe-Engagements in der Bevölkerung feststellen (Robert Koch-Institut 2004). Die Schätzungen der allgemeinen Beteiligung an Selbsthilfegruppen liegen zwischen 1-9% der erwachsenen Bevölkerung und es werden 70.000-100.000 themenübergreifenden Selbsthilfegruppen in Deutschland vermutet, wovon zwei Drittel dem Bereich Erkrankung und Behinderung zugerechnet werden (Grunow et al. 1983; Robert Koch-Institut 2004, Borgetto 2004). Diese relativ geringe Beteilung wird häufig zu großen Teilen auf ein Informationsdefizit der Bürger und professionellen Helfer zurückgeführt (Robert Koch-Institut 2004). Es werden aber auch krankheitsbedingte Faktoren diskutiert, die die Mobilität einschränken (Grunow et al. 1983) und so eine Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe behindern, sowie soziale und personale Fähigkeiten, die gegeben sein müssen, um sich erfolgreich in einer Selbsthilfegruppe zu engagieren (Trojan et al. 1986a; Trojan 2001).
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Bernhard Borgetto und Nicole Kolba Reproduktion sozialer Ungleichheit in Selbsthilfegruppen?
3.1 Stand der Forschung zur sozialen Struktur von Selbsthilfegruppen Untersuchungen in den 1980er Jahren an damals als psychologisch-therapeutisch bezeichneten sowie auf bestimmte Diagnosen bezogenen Selbsthilfegruppen hatten tatsächlich eine Überrepräsentation von Angehörigen aus mittleren Sozialschichten zum Ergebnis (vgl. Trojan et al. 1986a), so dass der Vorwurf des Mittelschichtüberhangs berechtigt schien. Gleichzeitig zeigte jedoch eine repräsentative Bevölkerungsbefragung, dass die Erfahrungen mit Selbsthilfegruppen mit 3.3% der Bevölkerung zwar gering, aber in der Stichprobe von 2.037 Befragten über alle Sozialschichten gleichmäßig verteilt waren (Grunow et al. 1983). Dementsprechend kam die Forschergruppe zu der Schlussfolgerung: „Die Teilnahme an SHG3 (…) [wird] weder durch den Schulabschluß, den beruflichen Ausbildungsabschluß, die Erwerbstätigkeit noch die Berufsgruppenzugehörigkeit der Einzelbefragten beeinflußt“ (Grunow et al. 1983: 138f.).
Bei einer Untersuchung von 232 Mitgliedern von unterschiedlichen Selbsthilfegruppen kamen Trojan et al. (1986a) zu einem differenzierteren Ergebnis: je stärker sich die Arbeit in Selbsthilfegruppen auf Gespräche zur Krankheits- bzw. Problembewältigung konzentrierten, desto höher war der Anteil von Teilnehmern aus der Mittelschicht mit ausgeprägteren Kommunikationskompetenzen in der Teilnehmerstruktur. So waren in Selbsthilfegruppen von Angehörigen von Kranken Personen aus mittleren Soziallagen häufiger vertreten, während bei Behindertengruppen und Selbsthilfegruppen ihrer Angehörigen ein geringerer Mittelschichtanteil zu beobachten war. Da nach Einschätzung der Arbeitsgruppe Selbsthilfegruppen mit Schwerpunkt Gesprächsarbeit in Deutschland geringer verbreitet waren, aber häufiger untersucht wurden, als z.B. Behindertengruppen, wurde die empirische Bedeutung der vorgefundenen Mittelschichtüberrepräsentation vorschnell für alle Selbsthilfegruppen verallgemeinert. Inzwischen hat sich die Datenlage in Umfang und Qualität deutlich verbessert. Allerdings bleiben die bisherigen Widersprüchlichkeiten im Grundsatz erhalten. Das repräsentative Gesundheitssurvey des Robert Koch-Institutes mit 8.318 Befragten bestätigt die Ergebnisse der bundesweiten Bevölkerungsbefragung aus den 1980er Jahren: Ein übergreifender eindeutiger Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit anhand des Winkler-Index und genereller Teilnahme an Selbsthilfegruppen kann nicht festgestellt werden. Eventuelle schichtspezifische Unterschiede sind zumindest teilweise auf die unterschiedliche Al3
Selbsthilfegruppen
Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion …
431
tersstruktur in den sozialen Schichten, Unterschiede zwischen Gruppen von Angehörigen und direkt Betroffenen sowie krankheitsspezifische Faktoren zurückzuführen (vgl. Trojan et al. 2006; Robert Koch-Institut 2004). In einigen regionalen Studien hingegen finden sich Hinweise auf eine Tendenz zum Mittelschichtüberhang in der Teilnehmerstruktur (vgl. Trojan et al. 2006): Im KORA-Survey 1999/2001 in der Region Augsburg mit 942 Befragten zeigt sich anhand des fünfstufigen Helmert-Index, dass Angehörige der drei mittleren Sozialschichten verstärkt an Selbsthilfegruppen teilnehmen. Im Münchner Gesundheitsmonitoring 1999/2000 mit 2.054 Fällen sind vor allem Personen mit Fachhochschulreife in Selbsthilfegruppen engagiert, dann folgen Hauptschüler, Realschüler und Personen mit Abitur. In der FORSA-Umfrage im Auftrag der DAK (Gesundheitsbarometer 09/ 2003) von 1.001 Befragten aus Berlin wurden drei Bildungsabschlüsse unterschieden: Hauptschule, Mittlerer Abschluss und Abitur/Studium (DAK 2003). Mit je 12% waren Personen mit mittleren Schulabschlüssen und Hauptschüler überproportional häufig in Selbsthilfegruppen vertreten, während Personen mit Abitur mit 8% unterdurchschnittlich häufig vertreten waren. Anhand dieser Daten kann kaum auf eine Mittelschichtüberrepräsentation geschlossen werden. In den repräsentativen Daten des Gesundheitsmonitors 2005 mit 1.539 Befragten beobachten Trojan et al. (2006) demgegenüber, dass die Teilnahme an Selbsthilfegruppen in der Unterschicht am größten ist, wobei deren Nutzungsdauer im Unterschied zur Ober- und Mittelschicht eher kurz- bis mittelfristig ist. Die Schichtzugehörigkeit wurde hier mit Hilfe des fünfstufigen Helmert-Index bestimmt, die untere, mittlere und obere Mittelschicht wurden zu jeweils einer Schichteinheit zusammengefasst. Sekundärauswertungen des Panel-Datensatzes der RHEUMADAT-Studie aus den Jahren 2001-2004 der Universität Freiburg lassen wiederum keinen Zusammenhang zwischen der Schichtzugehörigkeit und der Teilnahme an Gesprächskreisen der Rheuma-Liga Baden-Württemberg erkennen (Kolba 2006). Untersucht wurde eine Teilstichprobe von 522 Patienten mit rheumatoider Arthritis und Fibromyalgie einer konsekutiv in mehreren Sektoren der rheumatologischen Versorgung gezogenen, nicht-probabilistischen Klumpenstichprobe. Die Schichtzugehörigkeit wurde anhand der Schichtdeterminanten ‚monatliches Nettohaushaltseinkommen’ bzw. ‚berufliche Ausbildung’ gemessen. Diese in weiten Teilen widersprüchlichen Ergebnisse können durch methodische Probleme wie die unterschiedliche Operationalisierung von Schichtzugehörigkeit oder Selbsthilfeaktivität verursacht sein (vgl. Trojan et al. 2006), aber auch aus gruppen- und krankheitsspezifischen Faktoren resultieren: Es erscheint durchaus möglich, dass sich die soziale Teilnehmerstruktur nach Gruppenart (z.B. eher gesprächs- oder eher geselligkeitsorientiert) (vgl. Trojan et al. 1986a)
432
Bernhard Borgetto und Nicole Kolba
oder dem ‚Charakter’ der jeweiligen Krankheit (z.B. chronisch-degenerativ, lebensbedrohlich, hochgradig einschränkend) (Robert Koch-Institut 2004) unterscheidet. Dementsprechend ist denkbar, dass nur bei einigen Gruppenformen und in einigen Krankheitsbereichen soziale Gradienten hinsichtlich der SelbsthilfeAktivitäten existieren. Schließlich ist auch ein Einfluss der sozial differenzierten Teilnahmedauer (Trojan et al. 2006) auf die Messung der Sozialstruktur möglich. Da der soziale Gradient bei verschiedenen Erkrankungen variiert bzw. von anderen sozialen Lagen wie z.B. Geschlecht moderiert oder verdeckt werden kann (Mielck 2000), ist auch dadurch eine Erklärung der unterschiedlichen Ergebnisse hinsichtlich sozialer Strukturen in Selbsthilfegruppen möglich. Im folgenden Abschnitt werden eigene Auswertungen präsentiert, welche diese Überlegungen zu einer differenzierteren Betrachtung der Reproduktion sozialer Ungleichheit in Selbsthilfegruppen stützen, da sich diagnosespezifische Ergebnisse zu sozialer Ungleichheit und der Teilnahme an Selbsthilfegruppen auch bei relativ gleichartigen Gruppenformen beobachten lassen.
3.2 Schichtspezifische Teilnahme an Gesprächskreisen der Rheuma-Liga 3.2.1 Methode, Design und Stichprobe der RHEUMADAT-Studie Die Daten zu dieser Analyse stammen aus der Phase II des Projekts „RheumaLiga Baden-Württemberg e.V. – Daten zur Struktur-, Prozeß- und Ergebnisqualität (RHEUMADAT)“, das in Kooperation mit der Rheuma-Liga Baden-Württemberg e.V. und der (damaligen) Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg (heute: Rentenversicherung Baden-Württemberg) an der Abteilung für Medizinische Soziologie der Universität Freiburg durchgeführt wurde (Borgetto et al. 2007; Borgetto/Stößel 2007). Ziel der Phase II des Projektes war es, die von Rheumakranken im Rahmen der Rheuma-Liga Baden-Württemberg in Selbsthilfe organisierten Aktivitäten und Angebote als Grundlage für ein an Selbsthilfestrukturen angepasstes Qualitätsmanagement-Konzept zu erfassen und zu evaluieren. In der Rheuma-Liga Baden-Württemberg ist der Bereich der gegenseitigen Selbsthilfe stark differenziert. Die lokalen/regionalen Arbeitsgemeinschaften der Rheuma-Liga organisieren Gesprächskreise, gesellige Veranstaltungen und sogenannte Rheuma-Treffs, bei denen zum Beispiel Vorträge angeboten werden. Diese drei Formen sind häufig in Selbsthilfegruppen zusammengefasst, sodass die Gesprächskreise der Rheuma-Liga, die im Weiteren untersucht werden, als eine auf das Gespräch ‚spezialisierte‘ Form der Selbsthilfegruppe aufgefasst werden kann.
Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion …
433
Im Rahmen der RHEUMADAT-Studie wurden im Zeitraum von 2001 bis 2004 Personen mit bestimmten rheumatischen Krankheitsbildern mittels standardisierten Fragebögen halbjährlich insgesamt viermal schriftlich befragt. Die Akquise der Probanden erfolgte über die Rheuma-Liga Baden-Württemberg, niedergelassene Ärzte, Kliniken, Physiotherapeuten u.a., wobei diese nur dann in die Stichprobe aufgenommen wurde, wenn eine Rheumaerkrankung aus einer bestimmten Diagnosegruppe vorlag, die potentiellen Probanden volljährig waren, keine Schreibschwierigkeiten angegeben wurden und das rheumatische Krankheitsbild nicht durch Ko- bzw. Multimorbidität überlagert wurde. Von den 1.084 Probanden mit unterschiedlichen Diagnosen, die sich zur Teilnahme an der Studie bereit erklärten, konnten zum ersten Messzeitpunkt (t1) 901 Personen in die Untersuchung aufgenommen werden. Die Daten des Messzeitpunkts t1 wurden für die folgende Querschnittsanalyse verwendet. Die Hauptdiagnosen4 sind in der Gesamtstichprobe wie folgt verteilt: Fibromyalgie 36.2%, Rheumatoide Arthritis (Chronische Polyarthritis) 31.9%, Arthrosen 12.7%, Morbus Bechterew 7.8% und sonstige 10.1%. Das Durchschnittsalter sowohl der Teilnehmer an Gesprächskreisen als auch der NichtTeilnehmer beträgt ca. 56 Jahre und reicht in der Gesamtstichprobe von 20 Jahren bis 87 Jahren bzw. bei Gesprächskreis-Teilnehmern von 28 Jahren bis 85 Jahren. Frauen erkranken an rheumatoider Arthritis dreimal häufiger als Männer, an Arthrosen etwa gleich häufig5 (Zink 2004) und an Fibromyalgie etwa neunmal so häufig (Rautenstrauch 2003). Dementsprechend überwiegt der Anteil der Frauen in der Stichprobe mit 81.4% gegenüber 18.6% Männern. 35% der Studienteilnehmer beteiligten sich an Gesprächskreisen. Unter diesen finden sich mit 92.7% überdurchschnittlich viele Frauen. Betrachtet man die Einkommensverteilung in den Teilstichproben, so fällt auf, dass Teilnehmer an Gesprächskreisen einen höheren Anteil an Befragten aufweisen, die angeben, monatlich über weniger als 750 Euro6 Haushaltsnettoeinkommen zu verfügen (26.7% vs. 18.9%). Hinsichtlich der Schulbildung lässt sich feststellen, dass über 50% der Befragten einen Haupt- bzw. Volksschulabschluss als höchsten erreichten Schulabschluss angeben. Differenziert man innerhalb der Vergleichsgruppen nach der Schulbildung, so fallen folgende Unterschiede auf: Personen ohne Selbsthilfegruppen-Teilnahme haben einen etwas 4 Da zu den Erhebungszeitpunkten t2-t4 auch ein diagnosespezifisches Erhebungsinstrument zur Krankheitsaktivität eingesetzt wurde, mussten die Patienten über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg einer Diagnosegruppe fest zugeordnet werden. Daher wurden die Studienteilnehmer gebeten, bei Vorliegen mehrerer Diagnosen aus dem rheumatischen Formenkreis eine Hauptdiagnose zu nennen. 5 Wobei Männer in früherem Alter stärker betroffen sind. 6 Da die erste Befragung bereits in 2001 stattfand, wurde zum Erhebungszeitpunkt t1 noch nach DM gefragt. Die DM-Werte wurden nicht exakt in Euro umgerechnet, sondern halbiert.
434
Bernhard Borgetto und Nicole Kolba
geringeren Anteil an Studienteilnehmern mit Hauptschulabschlüssen, aber einen höheren Anteil an Studienteilnehmern mit Abitur oder einem vergleichbaren Schulabschluss, sind also tendenziell besser gebildet. Dies bestätigt sich auch durch Abweichungen in der Berufsausbildung zwischen den Untersuchungsgruppen. So liegt der Akademikeranteil bei den Nicht-Teilnehmern höher als bei den Teilnehmern (11.7% vs. 8.7%). Differenziert man nach den Hauptdiagnosen, so lassen sich deutliche Unterschiede in den Teilstichproben feststellen: In der Gruppe der GesprächskreisTeilnehmer ist die Diagnose Chronische Polyarthritis mit 16% unterdurchschnittlich häufig vertreten, während die Diagnose Fibromyalgie mit 66.5% überrepräsentiert ist. Diese Ungleichverteilung in der Stichprobe ist vermutlich auf eine entsprechende Ungleichverteilung in der Grundgesamtheit zurückzuführen ist, da in den Jahren 1997-2000 ein überproportionales Wachstum an fibromyalgiespezifischen Gesprächskreisen im Vergleich zu allen anderen diagnosespezifischen Gruppen stattgefunden und zu einem deutlichen zahlenmäßigen Übergewicht an Gesprächskreisen für Fibromyalgie-Betroffenen geführt hat (Borgetto et al. 2007). Hinzu kommt wahrscheinlich, dass das Interesse an einer Studie, die sich thematisch der Versorgung und Lebensqualität der Betroffenen widmet, in dieser Patientengruppe besonders groß war, da Fibromyalgie eine biomedizinisch stark umstrittene Diagnose ist (vgl. z.B. Hausotter 2006), die für die Betroffenen häufig mit einer Stigmatisierung verbunden ist. 3.2.2 Ergebnisse zu sozialer Ungleichheit und gesundheitsbezogener Selbsthilfe Die Stichprobe von 901 Patienten mit verschiedenen Krankheitsbildern des rheumatischen Formenkreises wird mittels verschiedener Verfahren auf Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit und Teilnahme an Gesprächskreisen, die überwiegend von der Rheuma-Liga Baden Württemberg organisiert wurden, untersucht. Die Nutzung weiterer Angebote der Rheuma-Liga (z.B. RheumaFunktionstraining) wird hierbei nicht berücksichtigt, um eine Vergleichbarkeit mit bisherigen Studien zu gewährleisten, die sich meist auf die Teilnahme an Selbsthilfegruppen beschränken und einzelne Angebote und Aktivitäten nicht gesondert betrachten. Die Schichtzugehörigkeit wird anhand der beruflichen Ausbildung sowie des verfügbaren monatlichen Nettohaushaltseinkommens bestimmt. Die berufliche Stellung wird nicht berücksichtigt, da die hierfür in dem Datensatz erhobenen Kategorien keine differenzierte Betrachtung zuließen und sich ein Großteil der Personen bereits in krankheits- oder altersbedingter Rente befand. Auch die schulische Bildung bleibt bei der Operationalisierung der Schicht aufgrund der Tatsache außen vor, dass der Altersdurchschnitt mit ca. 56 Jahren relativ hoch
Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion …
435
liegt und so eine kohortenspezifische Verteilung der Schulabschlüsse mit einer hohen Besetzung bei Volks- oder Hauptschulabschluss zu beobachten ist. Zudem wird die Schulbildung implizit bei der beruflichen Ausbildung miteinbezogen, denn eine akademische Laufbahn etwa setzt Abitur oder Fachabitur voraus. Ein Vorteil für die berufliche Ausbildung bzw. Bildung als Indikator für die Schichtzugehörigkeit generell ist, dass die Vielzahl an Personen in Rente kein Problem für eine aussagekräftige Schichteinteilung darstellt. Für die Analyse wurde die berufliche Ausbildung in fünf Kategorien unterteilt und zwar in Personen ohne berufliche Ausbildung, Personen mit einer abgeschlossenen Lehre, Personen mit einem mittleren beruflichen Abschluss wie Berufsfachschul-, Handelsschul- oder Fachschulabschluss, Personen mit einem akademischen Abschluss wie Fachhochschul-, Ingenieursschul-, Hochschul- oder Universitätsabschluss und Personen mit anderem, nicht zuzuordnendem Abschluss. Das verfügbare monatliche Nettohaushaltseinkommen wurde als zusätzlicher Faktor für die Schichteinteilung verwendet, um die finanziellen Möglichkeiten zur Lebensgestaltung widerzuspiegeln (vgl. Janßen 1999). Hier werden vier Kategorien unterschieden, die das monatliche Nettohaushaltseinkommen wiedergeben: Einkünfte bis 750 Euro, Einkünfte über 750 Euro bis 1.250 Euro, Einkünfte über 1.250 Euro bis 1.750 Euro und Einkünfte über 1.750 Euro. Die Zensur bei 1.750 Euro ist zwar sehr früh gesetzt, die vier Kategorien sind in der Stichprobe jedoch relativ gleichmäßig besetzt. Die beiden Schichtindikatoren werden in den Auswertungen jeweils separat betrachtet. Bei der Überprüfung der These einer möglichen schichtspezifischen Selbsthilfegruppen-Teilnahme ergibt sich folgendes Bild: In der Gesamtstichprobe aller Diagnosen lassen sich weder statistisch signifikante Einkommenseffekte (vgl. Tab. 1) noch ein statistisch signifikanter Einfluss der beruflichen Ausbildung (vgl. Tab. 2) auf die Teilnahme an einem Gesprächskreis beobachten. Tabelle 1: Teilnahme Gesprächskreis alle Diagnosen nach Einkommenskategorie. Chi2-Test Einkommen Gesprächskreis
bis 750 €
bis 1250 €
bis 1750 €
> 1750 €
Total
keine Teilnahme
104
135
131
160
530
Teilnahme
72
60
56
82
270
195
187
242
800
Total Pearson
176 chi2(3) =
60.210
p = 0.111
436
Bernhard Borgetto und Nicole Kolba
Tabelle 2: Teilnahme Gesprächskreis alle Diagnosen nach Berufsausbildung. Chi2-Test
Gesprächskreis keine Teilnahme Teilnahme Total Pearson
keine Berufsausbild. 98
Berufsausbildung mittlerer BerufsabLehre schluss 196 196
54
117
96
152
313
292
chi2(4) = 49.883
Akad.
Andere
Total
67
17
574
27
15
309
94
32
883
p = 0.289
Die beiden häufigsten Hauptdiagnosen ‚Fibromyalgie’ und ‚chronische Polyarthritis’ wurden separat untersucht7, um mögliche diagnosespezifische Beziehungen von sozialem Status und Selbsthilfe-Engagement sichtbar zu machen. Auch hier zeigt sich kein signifikanter Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und einer Teilnahme an Selbsthilfegruppen (Tab. 3-6), bei Fibromyalgie-Erkrankten lässt sich jedoch eine starke Tendenz mit p = 0.051 bei der Betrachtung des verfügbaren Nettohaushaltseinkommens zu einer schichtabhängigen Teilnahme feststellen (vgl. Tab. 3). Tabelle 3: Teilnahme Gesprächskreis Fibromyalgie nach Einkommenskategorie. Chi2-Test Einkommen Gesprächskreis
bis 750 €
bis 1250 €
bis 1750 €
> 1750 €
Total
keine Teilnahme
24
39
31
27
121
Teilnahme
50
37
38
53
178
74
76
69
80
299
Total Pearson
chi2(3) = 77.638
p = 0.051
7 Auch für die übrigen erfassten Diagnosen (u.a. Arthrose, Sklerodermie, Lupus Erythematodes, Morbus Bechterew, Osteoporose) kann die Annahme einer Reproduktion sozialer Ungleichheit nicht bestätigt werden.
Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion …
437
Tabelle 4: Teilnahme Gesprächskreis chronische Polyarthritis nach Einkommenskategorie. Chi2-Test Einkommen Gesprächskreis
bis 750 €
bis 1250 €
bis 1750 €
> 1750 €
Total
keine Teilnahme
50
50
45
65
210
Teilnahme
16
11
6
10
43
Total
66
61
51
75
253
Pearson
chi2(3) = 42.057
p = 0.240
Tabelle 5: Teilnahme Gesprächskreis Fibromyalgie nach Berufsausbildung. Fisher’s Exact-Test
Gesprächskreis keine Teilnahme Teilnahme Total Fisher's exact
keine Berufsausbild. 21
Berufsausbildung mittlerer BerufsabLehre schluss 44 47
Akad.
Andere
Total
13
5
130
34
84
65
10
11
204
55
128
112
23
16
334
p = 0.300
Tabelle 6: Teilnahme Gesprächskreis chronische Polyarthritis nach Berufsausbildung. Fisher’s Exact-Test
Gesprächskreis keine Teilnahme
keine Berufsausbild. 44
Berufsausbildung mittlerer BerufsabLehre schluss 78 73
Akad.
Andere
Total
28
8
231
Teilnahme
13
12
15
8
2
50
Total
57
90
88
36
10
281
Fisher's exact
p = 0.549
Bei dieser einfachen Zusammenhangsüberprüfung anhand der Schichtdeterminanten ‚verfügbares Nettohaushaltseinkommen’ bzw. ‚Berufsausbildung’ kann also keine Reproduktion sozialer Ungleichheit innerhalb der Teilnehmerstruktur von Gesprächskreisen konstatiert werden.
438
Bernhard Borgetto und Nicole Kolba
Untersucht man die Wahrscheinlichkeit einer Teilnahme an einem Gesprächskreis unter Einbezug von Informationen zu Diagnose, Schichtdeterminanten, Geschlecht und Alter, so ergeben sich statistisch signifikante Zusammenhänge (vgl. Tab. 7). Referenzkategorien sind die dem Modell bzw. der Tabelle jeweils nicht einbezogenen Merkmalsausprägungen. Tabelle 7: Teilnahme Gesprächskreis Gesamtsample. Logistische Regression Teilnahme Gesprächskreis Diagnose CP
Odds Ratio
z
p>|z|
0,201
-7,82
0,000
Diagnose Arthrose
0,149
-5,90
0,000
Diagnose Morbus Bechterew
0,955
-0,13
0,898
Einkommen über 1.750 € Einkommen 1.250 bis unter 1.750 € Akademischer Abschluss
1,124
0,58
0,565
0,863
-0,68
0,494
0,895
-0,38
0,702
mittlerer Berufsabschluss
0,733
-1,70
0,089
Geschlecht8
0,232
-4,81
0,000
Alter (zentriert)
1,020
2,76
0,006
N Pseudo R2
786 0,1393
Betroffene mit den Diagnosen chronische Polyarthritis oder Arthrose nehmen demnach im Vergleich zu Erkrankten mit den Diagnosen Fibromyalgie, Sklerodermie, Lupus Erythematodes, Osteoporose oder sonstigen rheumatischen Erkrankungen seltener an einem Gesprächskreis teil, während sich bei Patienten mit Morbus Bechterew kein statistisch signifikanter Unterschied erkennen lässt. Für die horizontalen Ungleichheitsdeterminanten Geschlecht und Alter lässt sich beobachten, dass Männer seltener ein Engagement in Gesprächskreisen angeben und mit steigendem Alter die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme an einem Gesprächskreis zunimmt. Das verfügbare Nettohaushaltseinkommen und die absolvierte berufliche Ausbildung bilden analog zu den einfachen Zusammenhangsanalysen keine signifikanten Einflussfaktoren für die Teilnahme an Gesprächskreisen. Diagnose, Geschlecht und Alter (bzw. Geburtsjahr) können als kausale Einflussfaktoren angenommen werden, da diese vor der Entscheidung für oder
8
Codierung „1“ für männlich
Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion …
439
gegen die Teilnahme an einem Gesprächskreis festliegen und nicht durch diese beeinflusst werden können. Eine Reproduktion vertikaler sozialer Ungleichheit in der vorliegenden Stichprobe kann also auch bei Berücksichtigung der Diagnose, des Geschlechts und des Alters der Studienteilnehmer nicht belegt werden. Die Ergebnisse bestätigen aber die bereits in anderen Studien nachgewiesene Wirkung von Geschlecht und Alter auf die Teilnahme an Selbsthilfegruppen (Robert KochInstitut 2004; Trojan et al. 2006). Das Bild der Einflussfaktoren auf die Teilnahme an Gesprächskreisen wandelt sich teilweise, wenn man zusätzlich die potenziell gesundheitsfördernden Ressourcen und die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Studienteilnehmer einbezieht und getrennte Analysen für die Gesamtstichprobe und Betroffene mit Fibromyalgie und chronischer Polyarthritis durchführt (vgl. Tab. 8). Bei gleichzeitiger Berücksichtigung angewandter Coping-Modi (Muthny 1989), wahrgenommener sozialer Unterstützung (Sommer/Fydrich 1989), gesundheitsbezogener Kontrollüberzeugungen (Lohaus/Schmitt 1989) und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Bullinger/Kirchberger 1998) werden in den einzelnen Gruppen schichtspezifische Zusammenhänge sichtbar, die möglicherweise durch die o.g. Variablen, die ihrerseits in Verbindung mit der Gesprächskreisteilnahme (Trojan et al. 1986a) und insbesondere mit der Schichtzugehörigkeit stehen können (House et al. 1988; Muthny 1990; Janßen 1999; JungbauerGans 2002; Kolba 2006), überdeckt wurden. Im Gesamtsample lässt sich jetzt eine schichtspezifische Teilnehmerstruktur feststellen: Über alle Diagnosen hinweg nimmt die Mittelschicht nach beruflicher Ausbildung seltener an Gesprächskreisen teil als Personen mit Lehre oder ohne Berufsausbildung. Ein Mittelschichtüberhang kann daher nicht konstatiert werden, da Personen mit mittleren Bildungsabschlüssen sogar seltener an Gesprächskreisen teilnehmen als Personen aus unteren Sozialschichten. Die geringere Wahrscheinlichkeit von Männern, sich an Gesprächskreisen zu beteiligen, bleibt auch bei Einbezug der Kontrollvariablen in allen Gruppen bestehen, der positive Einfluss des Alters ist dahingegen nicht mehr als signifikant nachweisbar. Auch in der Diagnosegruppe Fibromyalgie treten signifikante Schichteinflüsse zu tage. Analog zum Gesamtsample ist die Mittelschicht nach Bildung in Gesprächskreisen seltener vertreten, während sich zusätzlich die Oberschicht nach verfügbarem Haushaltsnettoeinkommen in Gesprächskreisen verstärkt engagiert. Bei Patienten mit chronischer Polyarthritis kann im Gegensatz dazu keine Wirkung der Schichtdeterminanten Einkommen und Bildung nachgewiesen werden.
440
Bernhard Borgetto und Nicole Kolba
Tabelle 8: Teilnahme Gesprächskreis. Vergleich: Alle Diagnosen – Fibromyalgie (FIB) – Chronische Polyarthritis (CP). Logistische Regression alle Diagnosen
FIB
CP
Teilnahme an Gesprächskreis
Odds Ratio
z
P>|z|
Odds Ratio
z
P>|z|
Odds Ratio
z
P>|z|
Eink. über 1.750 €
1,415
1,61 0,108
2,149
2,14 0,032
0,518
-1,20 0,232
Eink. 1.250,5 – 1.750 €
1,066
0,29 0,773
1,093
0,26 0,797
0,593
-0,88 0,377
Akademischer Abschluss
0,809
-0,70 0,482
0,410
-1,59 0,113
2,626
1,39 0,165
Mittl. Berufsabschluss
0,646
-2,29 0,022
0,465
-2,50 0,012
1,131
0,25 0,800
Geschlecht
0,295
-4,34 0,000
0,227
-1,96 0,050
0,119
-2,43 0,015
Alter (zentriert)
1,008
1,06 0,290
1,029
1,83 0,068
1,005
0,26 0,795
Depressive Verarbeitung
1,024
0,16 0,875
0,787
-0,98 0,327
0,789
-0,65 0,513
Aktives Coping
1,587
2,94 0,003
1,125
0,46 0,648
2,716
2,37 0,018
Ablenkung/ Selbstaufbau
1,374
1,83 0,067
1,650
1,74 0,081
1,428
0,78 0,436
Coping-Modi:
Religiosität/ Sinnsuche
1,050
0,37 0,710
1,221
0,92 0,358
0,656
-1,33 0,185
Bagatell./ Wunschdenken
0,944
-0,54 0,589
1,265
1,32 0,188
1,056
0,21 0,830
Soziale Unterstützung: Emotionale Unterstützung
0,637
-2,37 0,018
0,428
-2,69 0,007
2,004
1,51 0,132
Praktische Unterstützung
1,177
1,04 0,298
1,451
1,52 0,130
0,467
-2,14 0,032
Erlebte soziale Integration
1,445
2,28 0,022
2,110
2,85 0,004
0,936
-0,19 0,847
Vertrauensperson
1,075
0,59 0,555
1,058
0,26 0,796
0,880
-0,50 0,614
Zufriedenheit mit soz.U.
0,743
-3,70 0,000
0,746
-2,27 0,023
0,988
-0,07 0,947
Gesundheitsbezogene Kontrollüberzeugungen: Internalität
1,032
2,06 0,039
1,040
1,57 0,118
1,095
2,27 0,023
Soziale Externalität
0,969
-1,87 0,062
0,989
-0,44 0,659
0,932
-1,52 0,128
Fatalistische Externalität
1,012
0,84 0,401
0,980
-0,89 0,376
1,123
3,26 0,001
Gesundheitsbezogene Lebensqualität: Körperl. Lebensqualität
0,983
-4,00 0,000
0,984
-2,03 0,042
0,979
-2,13 0,033
Psych. Lebensqualität
0,989
-3,32 0,001
0,987
-2,20 0,027
0,992
-1,02 0,307
N Pseudo R2
749
286
236
0,1465
0,1459
0,2537
Wie anfällig ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe für die Reproduktion …
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3.3 Diskussion Die unterschiedlichen Resultate der einleitend vorgestellten Studien legen den Schluss nahe, dass die Frage nach der Reproduktion sozialer Ungleichheit in Selbsthilfegruppen nicht pauschal und krankheitsübergreifend beantwortet werden kann, sondern differenzierter betrachtet werden muss. Ein Mittelschichtüberhang nach beruflicher Ausbildung in den Gesprächskreisen der RheumaLiga kann in den Daten der RHEUMADAT-Studie weder diagnoseübergreifend noch diagnosespezifisch festgestellt werden. Vielmehr geben Personen mit mittleren Berufsabschlüssen in der Gruppe der Fibromyalgie-Erkrankten und in der Gesamtstichprobe weniger häufig an, an Gesprächskreisen der Rheuma-Liga teilzunehmen. Der Schichtindikator des verfügbaren Nettohaushaltseinkommens zeigt nur bei der Diagnose Fibromyalgie einen Einfluss auf ein SelbsthilfeEngagement in der Art, dass Personen aus der höchstens Einkommenskategorie eher Mitglied in Gesprächskreise sind9. Bei Patienten mit chronischer Polyarthritis kann kein Zusammenhang zwischen der Schichtzugehörigkeit und der Teilnahme an einem Gesprächskreis beobachtet werden. Die Ergebnisse lassen zudem die Vermutung zu, dass Schichteinflüsse auf die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe mit der individuellen Ressourcenausstattung und der gesundheitlichen Verfassung in Verbindung stehen10: So könnte beispielsweise ein schichtabhängiger sozialer Rückhalt den Ausschlag zu einem Beitritt in eine Selbsthilfegruppe geben, um mangelnde soziale Unterstützung im sozialen Netzwerk eines Unterschichtangehörigen auszugleichen. Die Frage, ob sich in Selbsthilfegruppen soziale Ungleichheitsstrukturen reproduzieren und damit die sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit in der Bevölkerung verstärken, verringern oder gar nicht beeinflussen, muss von Diagnose zu Diagnose untersucht und beantwortet werden, da die Zusammenhänge von sozialem Status und Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe in den einzelnen Krankheiten stark variieren können. Je nach untersuchter Population könnten daher Mittelschichtüberhänge, soziale Gradienten in der Teilnahme oder Überrepräsentationen unterer Sozialschichten festgestellt werden, so dass das uneinheitliche Bild der hier referierten Forschungsergebnisse u.a. auf die verschiedenen Krankheitsbilder und ihre Charakteristika in der jeweiligen Stichprobe zurückzuführen ist. Ein anderer Einflussfaktor auf schichtspezifische Teilnehmerstrukturen, der bereits von Trojan et al. (1986a) erwähnt wird, ist die Art der
9 Dieses Ergebnis muss aber in Hinblick auf die frühe Zäsur des Einkommens bei der Erhebung mit Vorsicht interpretiert werden. 10 Aufgrund der Datenstruktur müssen in dieser Auswertung mögliche kausale Beziehungen der Variablen unhinterfragt bleiben
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Selbsthilfegruppe und ihre Zielsetzung, welche in zukünftigen Forschungen stärker berücksichtigt werden sollte
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Ausblick: Produktion sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit durch Selbsthilfe?
Eine andere, bislang offene Frage ist, ob die Teilnehmer unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit in einer Selbsthilfegruppe gesundheitlich und sozial profitieren oder ob sich aufgrund einer schichtspezifischen Verteilung sozialer Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit, Reflexionsvermögen etc. schichtabhängige Wirkungen eines Selbsthilfegruppenbesuchs einstellen. Auch die schlechtere Ausgangslage der Unterschicht z.B. bezüglich personaler und sozialer Ressourcen könnte einen sozialen Gradienten des gesundheitsfördernden Nutzens aus einem Selbsthilfeengagement bedingen. In diesem Fall würde die gesundheitsbezogene, gemeinschaftliche Selbsthilfe zusätzlich zu sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit beitragen, so dass die bestehende gesundheitliche Benachteiligung der schlechter gestellten Sozialagen selbst bei einem schichtunabhängigem Zugang zu Selbsthilfegruppen unter dem Strich bestehen bliebe. Bis dato scheint die Klärung von denkbaren schichtspezifischen Auswirkungen eines Selbsthilfe-Engagements auf die Gesundheit der Betroffenen noch relativ vernachlässigt worden zu sein. Bei Trojan et al. (2006) findet sich zwar ein Hinweis auf einen sozialen Gradienten der Zufriedenheit mit Lebensqualität und Wohlbefinden innerhalb von Selbsthilfegruppenteilnehmern, eine tiefergehende Analyse bleibt jedoch aus. Dabei ist diese für eine bedarfsgerechte Förderung der Selbsthilfe relevant: Sollten besonders Angehörige der Oberschicht, die ohnehin gesundheitlich privilegiert sind, von einer Teilnahme an Selbsthilfegruppen profitieren, müssten bestehende Förderstrategien überdacht werden, um eine zusätzliche Ausweitung der gesundheitlichen Schere zwischen den Gesellschaftsschichten zu verhindern. Hierzu aber sind weitere und vor allem sozialepidemiologisch differenziertere Studien zur Wirkung von Selbsthilfegruppen nötig.
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Amrhein, Ludwig, geb. 1966, Diplom-Soziologe und Diplom-Psychogerontologe, promoviert. Wissenschaftlicher Referent am Zentrum „Altern und Gesellschaft“ (ZAG) der Hochschule Vechta – Universität. Arbeitsschwerpunkte: Lebensstile und -führung im Alter, Biografie und Lebenslauf, Soziologie der Altenhilfe und -pflege, Bilder und Diskurse des Alter(n)s, soziale Ungleichheit und Lebenslagen im Alter. Anschrift: Hochschule Vechta – Universität, Zentrum Altern und Gesellschaft (ZAG), Driverstr. 22, 49377 Vechta, email: [email protected]
Backes, Gertrud M., geb. 1955, Dr. phil., Habilitation (Venia Legendi Soziologie), Diplom-Soziologin und Alter(n)swissenschaftlerin, Universitätsprofessorin, Lehrstuhl Altern und Gesellschaft und Direktorin des gleichnamigen Forschungszentrums (ZAG) der Hochschule Vechta – Universität, Sprecherin und Mitgründerin der Sektion „Alter(n) und Gesellschaft“ der DGS. Arbeitsschwerpunkte: Vergesellschaftung des Alterns, Alter(n) und Geschlecht, Lebenslagen und Alter(n). Anschrift: Hochschule Vechta – Universität, Zentrum Altern und Gesellschaft (ZAG), Driverstr. 22, 49377 Vechta, email: [email protected] Bauer, Ullrich, geb. 1971, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, Jun. Prof. Dr., Arbeitsschwerpunkte: Health Inequalities, Versorgungsforschung, Gesundheitssystemanalyse, Präventionsforschung, Bildung, Sozialisation, Ungleichheit, Anschrift: Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, email: [email protected] Behrens, Johann, geb. 1949 in Hamburg, Dipl.-Soz., Dr. phil., Habilitation, Gründungs-Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaften der Medizinischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg, Mitgründer der pflegewissenschaftlich einschlägigen DFG-Sonderforschungsbereiche 3, 186 und 580. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie sozialer Ungleichheit, professionelle und familiäre Pflege im Lebensverlauf, Health Service Research, Evidence based Nursing and Caring. Anschrift: Medizinische Fakultät der MLU, Magdeburger Straße 8, 06097 Halle, email: [email protected].
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Blinkert, Baldo, geb. 1942; Dr. phil. habil., Diplom-Soziologe, Professor für Soziologie an der Universität Freiburg, Rempartstr. 15, 79085 Freiburg; Leiter des Freiburger Instituts für angewandte Sozialwissenschaft (FIFAS). Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit, Stadtentwicklung, Kindheit, Jugend, Pflegebedürftigkeit, email: [email protected] Borchert, Lars, geb. 1975, Diplom-Soziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Zentrum für Sozialpolitik, Abteilung „Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung“, Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, quantitative Forschungsmethoden, Versorgungsforschung mit Routinedaten. Anschrift: Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik, Parkallee 39, 28209 Bremen, email: [email protected] Borgetto, Bernhard, geb. 1963, Soziologe und Gesundheitswissenschaftler, Dr. phil. habil., Professor für Gesundheitsförderung und Prävention an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) Hildesheim/Holzminden/Göttingen. Arbeitsschwerpunkte: Medizin- und Gesundheitssoziologie, Versorgungsforschung, Selbsthilfeforschung, quantitative und qualitative Methoden der Gesundheits- und Sozialforschung, Evidenzbasierte Praxis, Gesundheitspolitik, Gesundheitswissenschaften Anschrift: Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK), Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit, Studiengänge ELP, Goschentor 1, 31134 Hildesheim, email: [email protected] Büker, Christa, geb. 1960, Krankenschwester, Dipl. Pflegemanagerin und Gesundheitswissenschaftlerin (MPH), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Case Management, Pflegebedürftigkeit bei Kindern und Begutachtungsverfahren bei Kindern. Anschrift: Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld, IPW, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld, email: [email protected] Büscher, Andreas, geb. 1967, Krankenpfleger und Pflegewissenschaftler, PhD, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Ambulante pflegerische Versorgung, Formelle und informelle Pflege, Pflegepolitik, Community Health Nursing, Pflegebedürftigkeitsbegriff und Begutachtungsverfahren Anschrift: Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld, IPW, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, email: [email protected]
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Dallinger, Ursula, geb. 1959, Soziologin und Politikwissenschaftlerin, PD, Vertretung der Professur Soziologie: Schwerpunkt Sozialpolitik an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Vergleich von Wohlfahrtsstaaten, Alterssoziologie, Renten- und Pflegepolitik, Solidarität und Einkommensumverteilung. Anschrift: Abteilung Soziologie, Fachbereich IV, Universität Trier, Trier. email: [email protected] Deutmeyer, Melanie, geb. 1966, Dr. rer. pol., Ökonomin, Krankenschwester, Lehrerin für Medizinalfachberufe; derzeit Professur für Gesundheits- und Pflegemanagement an der FH Kärnten, stellv. Studienbereichsleiterin. Arbeitsschwerpunkte: Angehörigenpflege, Gesundheitsversorgung, Hochschulentwicklung. Anschrift: FH Kärnten, Studienbereich Gesundheit und Pflege, Hauptplatz 12, A-9560 Feldkirchen/Kärnten, email: [email protected] Dreißig, Verena, Dr. paed., Pädagogin und Ethnologin, freiberufliche Trainerin in der interkulturellen Erwachsenenbildung. Arbeitsschwerpunkte: Migrationsforschung, interkulturelle Erziehung, Migration & Gesundheit. Anschrift: Pflugstr. 11, 10115 Berlin, email: [email protected] Güntert, Bernhard J., geb. 1954, Ordentlicher Universitätsprofessor, Leiter des Instituts für Management und Ökonomie im Gesundheitswesen (IMÖG) an der Privaten Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik (UMIT). Arbeitsschwerpunkte: Organisationsentwicklung in Gesundheitsorganisationen, Versorgungsnetze, Gesundheitswirtschaft, sozioökonomische Evaluationen, universitäre Lehr- und Lernmethoden, Anschrift: Institut für Management und Ökonomie im Gesundheitswesen an der UMIT, IMÖG, EduardWallnöfer-Zentrum I, A-6060 Hall in Tirol, email: [email protected] Heusinger, Josefine, geb. 1965, 3 Kinder, Dr. phil., Diplomsoziologin, Krankenschwester, Casemanagerin (DGS, DBSH, DBfK), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gerontologische Forschung e. V., Stellv. Sprecherin des Arbeitskreises „Altern und Gesundheit“ bei Gesundheit Berlin e.V., Arbeitsschwerpunkte: Soziale Gerontologie, Versorgungsforschung, Soziale Ungleichheit, Casemanagement, Prävention, Anschrift: Institut für Gerontologische Forschung, Torstr. 178, 10115 Berlin, email: [email protected] Klie, Thomas, Rechts- und Verwaltungswissenschaftler, Professor an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie. Arbeitsschwerpunkte: Gerontologie, Alten- und Pflege-
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politik, Sozialrecht, Zivilgesellschaft Anschrift: Buggingerstraße 38, 79114 Freiburg, email: [email protected] Kolba, Nicole, geb. 1982, Diplom-Soziologin am Institut für gesundheits- und sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung e.V. (IFB) in Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Selbsthilfe- und Gesundheitsforschung, soziale Ungleichheit, Methoden der empirischen Sozialforschung. email: [email protected] Ludwig, Anja, geb. 1970, Altenpflegerin und Pflegewissenschaftlerin, Referentin für Pflegepolitik für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen im Bundestag: Arbeitsschwerpunkte: Pflegepolitik, Altenpflege, ambulante pflegerische Versorgung, soziale Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung, Umgang mit komplexen Medikamentenregimen. Anschrift: Deutscher Bundestag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, 11011 Berlin, email: [email protected] Metzing, Sabine, geb. 1967, Krankenschwester und Pflegewissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Familienorientierte Pflege, Anschrift: Institut für Pflegewissenschaft, Priv. Universität Witten/Herdecke gGmbH, Stockumer Str. 12, 58453 Witten, email: [email protected] Okken, Petra-Karin, geb. 1978, Diplom-Gesundheitswirtin und Gerontologin, Geschäftsführerin der Geschäftsstelle der Kommunalen Gesundheitskonferenz im Kreis Lippe. Arbeitsschwerpunkte: Alter und Gesundheit, Gesundheits- und Pflegeversorgung, Migration, Gesundheitsberichterstattung. Anschrift: Kreis Lippe, Geschäftsstelle der Kommunalen Gesundheitskonferenz, Felix-FechenbachStr. 5, 32756 Detmold, email: [email protected] Razum, Oliver, geb. 1960, Mediziner und Epidemiologe, Professor für Epidemiologie und International Public Health an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Migration und Gesundheit, Sozialepidemiologie, Gesundheitsversorgung in Entwicklungsländern. Anschrift: Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, email: [email protected] Rothgang, Heinz, geb. 1963, Diplom-Volkswirt (sozialwissenschaftlicher Richtung), Prof. Dr., Leiter der Abteilung „Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung“ am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik, Pflegeökonomie, soziale Sicherung, demographischer Wandel, Gesundheitssystemfor-
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schung, Versorgungsforschung. Anschrift: Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik, Parkallee 39, 28209 Bremen, email: [email protected] Schnell, Martin W., Philosoph, Univ.-Prof. Dr., M.A., Direktor des Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen und Integrierte Curricula der Universität Witten/Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Ethik als Schutzbereich (philosophische Grundlagen der Wissenschaften der Heilberufe), Ethik als empirisches Phänomen (Ausmessung ethischer Schutzbereiche in ambulanter und stationärer Versorgung), Forschungsethik. Anschrift: Institut für Pflegewissenschaft, Fakultät für Medizin, Private Universität Witten/Herdecke gGmbH, Alfred-Herrhausen-Straße 50, 58448 Witten, email: [email protected] Schnepp, Wilfried, geb. 1957, Krankenpfleger und Pflegewissenschaftler, Prof. Dr., Lehrstuhl für familienorientierte und gemeindenahe Pflege, Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Family Nursing, Community Care, chronisch Kranke, Versorgungsforschung, vulnerable Gruppen, Migrationsprozesse. Anschrift: Institut für Pflegewissenschaft, Fakultät für Medizin, Priv. Universität Witten/Herdecke gGmbH, Stockumer Str. 12, 58453 Witten, email: [email protected] Schroeter, Klaus J., PD Dr. phil. habil.; Jg. 1959, Soziologe, Privatdozent am Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie, Theorien der Soziologie, Alterns-/ Gerontosoziologie und soziale Gerontologie, Körpersoziologie, Soziologie der Pflege, Soziologie der Sozialen Arbeit. Anschrift: Institut für Sozialwissenschaften, Soziologie, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Westring 400, 24098 Kiel, email: [email protected] Spallek, Jacob, geb. 1978, Diplom-Gesundheitswirt und Epidemiologie, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Epidemiologie und International Public Health an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Migration und Gesundheit, Krebsepidemiologie, Epidemiologische Methoden. Anschrift: Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, email: [email protected] Stehling, Heiko, geb. 1970, Krankenpfleger, Pflegewissenschaftler, Dipl.-Pflegewirt, MScN, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege an der FH Osnabrück. Anschrift: Fachhoch-
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schule Osnabrück, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Postfach 1940, 49009 Osnabrück, email: [email protected] Theobald, Hildegard, geb. 1957, Diplom-Psychologin, Doktorin der Politikwissenschaft, Professorin für Organisationelle Gerontologie am Institut für Gerontologie an der Hochschule Vechta-Universität. Arbeitsschwerpunkte: International vergleichende Forschung zu Wohlfahrtsstaat, Pflegepolitiken, formelle und informelle Versorgung im Pflegealltag, Arbeitsmarkt und Profession, Geschlechtund soziale Ungleichheit. Anschrift: Institut für Gerontologie, Hochschule Vechta, Driverstr. 22, 49377 Vechta, email: [email protected] Thiele, Günter, geb. 1952, Diplom-Ökonom, Mag. rer. publ., Dr. PH, Assessor des Verwaltungsdienstes, Professor für Krankenhausbetriebswirtschaftslehre und Allgemeine Betriebswirtschaftslehre am Fachbereich Pflege der Katholischen Fachhochschule Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsmarkt Pflegeberufe, Entwicklung des Bereichs der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen, Sozialökonomie, Pflegeökonomie, Pflegewirtschaftslehre. Anschrift: Katholische Fachhochschule Freiburg, Karlstr. 63, 79104 Freiburg, email: [email protected] Wolfinger, Martina, geb. 1973, Diplom-Sozialgerontologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl „Altern und Gesellschaft“ am gleichnamigen Forschungszentrum (ZAG) der Hochschule Vechta – Universität. Arbeitsschwerpunkte: Körper und Alter, Lebensverlauf und Biographie, soziale Ungleichheit, Lebenslauf, Lebenslagen im Alter, Geschlecht, Körper und Alter, Partizipation und Teilhabe im Alter, Ehrenamt, Rehabilitation, Prävention, Altenpflege. Anschrift: Hochschule Vechta – Universität, Zentrum Altern und Gesellschaft (ZAG), Driverstr. 22, 49377 Vechta, email: [email protected]