Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 738 Der Erleuchtete
Brücke zum Erleuchteten von Arndt Ellmer Dem Rätsel des Tab...
9 downloads
370 Views
837KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 738 Der Erleuchtete
Brücke zum Erleuchteten von Arndt Ellmer Dem Rätsel des Tabusektors auf der Spur Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide unvermutet in die Galaxis Manam-Turu gelangt. Das Fahrzeug, das Atlan die Möglichkeit der Fortbewegung im All bietet, ist die STERNSCHNUPPE. Und die neuen Begleiter des Arkoniden sind Chipol, der junge Daila, und Mrothyr, der Rebell von Zyrph. In den Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben die so ungleichen Partner schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums verheerend wirkten. In dieser Zeit hat Atlan neben schmerzlichen Niederlagen auch Erfolge für sich verbuchen können. So sind zum Beispiel die Weichen für eine Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gestellt worden – was sich auf den Freiheitskampf der Daila gegen das Neue Konzil positiv auswirken dürfte. Aber Atlan ist längst nicht zufrieden mit dem bisher Erreichten, ebensowenig wie seine Gefährten. Doch nach der »Mission Zyrph«, die ebenfalls kein befriedigendes Ergebnis gezeitigt hat, trifft man auf Traykon-6, den seltsamen Roboter. Im Anschluß daran entschlüsselt die STERNSCHNUPPE neue wichtige Daten – und diese Daten führen zum Planeten der Leronen und an die BRÜCKE ZUM ERLEUCHTETEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan, Mrothyr und Chipol - Sie entdecken die »Brücke zum Erleuchteten«. Tifir, Segon und Gardra - Drei junge Leronen. Unfas - Ein Heiliger. Der Erleuchtete - Ein Mächtiger informiert sich. Nokyart, Dharys und Dadamda - Helfer des Erleuchteten.
1. »Ein großes Geheimnis liegt über unserer Welt. Wir wissen, daß es früher eine Zeit gab, in der auch die Nacht von einem Licht erhellt wurde. Die Überlieferung kann nicht lügen, aber niemand weiß, wie es wirklich gewesen ist. Es fehlt uns die Phantasie, es uns wirklich vorzustellen. Einst gab es Manache Leron. Seht die Blumen und Gräser an. Sie leuchten im Licht und verdoppeln ihre Fähigkeit, Farbe und Glanz abzustrahlen. Es heißt, daß sie die Farben Manaches tragen, Gelb und Orange. Aber jetzt sind sie traurig, sie liegen in der Finsternis und frieren. Vielleicht leiden sie.« Unfas schwieg und konzentrierte sich auf seine Umgebung. Er schloß die Augen, und die kleine Gruppe der um ihn Sitzenden tat es ihm nach. Die Augenlider wirkten in der Dämmerung zwischen den Baldachinen wie kleine, halbmondförmige Flecke. Unfas setzte seine Meditation fort. Was er soeben in Worte gefaßt hatte, wollte er nun in Gedanken und Bitten ausdrücken. Ler-Ont, dachte er. Du hörst uns. Wir wissen es. Du bist bei uns und immer und überall gegenwärtig. Höre Ler-Ont. Nimm sie auf und gib ihm Erleuchtung. Im Hintergrund, wo keine Fackeln mehr Aufgestellt waren, erhob sich die steile Wand des Berges. Niemand will in der Lage, sie zu bezwingen. Niemand wagte es, auch nur einen solchen Gedanken zu hegen. Der Heilige Berg war tabu für die Leronen. Nur Ler-Ont war er
zugänglich. Unfas versank in den Gedanken seiner Religion. Er bewegte sich in dem Kosmos hin und her, in dem er seit seiner Geburt lebte. Und er versuchte, mit Hilfe der Meditation jene Dinge zu ergründen, die ihm verborgen waren. Die Legende von der Bestrafung. Einst hatte Manache Leron ihren Gatten betrogen. Sie war verdammt worden und hinter den Horizont gestürzt, dort, wo die Welt zu Ende war. Viele wagemutige Leronen hatten es in den Zeiten danach versucht, die Stelle zu finden, wo es geschehen war. Die wenigsten waren zurückgekehrt, und die es schafften, hatten keinen Erfolg gehabt oder so unglaubliche Geschichten über ihre Erlebnisse erzählt, daß man sie in die Höhlen zu den Geisteskranken gesperrt hatte. Und Ler-Ont selbst? Der einzige Gott des Volkes war allweise und allwissend. Nichts entging ihm, was geschah. Nichts konnte ihm verborgen bleiben. Ler-Ont war der Atem des Lebens. Vor allem aber befand sich Ler-Ont mitten unter ihnen, er war ein anwesender Gott. Deshalb war Unfas auch davon überzeugt, daß er alles wußte, was geschah und geschehen war. Und vielleicht auch, was in Zukunft geschehen würde. »Wir wollen helfen«, klang die leise Stimme eines der Pilger um ihn herum auf. »Was müssen wir tun, Heiliger, um die Blüten Manaches zu wärmen?« Unfas neigte ein wenig den Kopf und öffnete das linke Auge. Das helle Lid verschwand, und es sah aus, als sei der Heilige zu einem Einäugigen geworden. Unfas machte eine Handbewegung, als müßte er ein paar zitternde Schatten verscheuchen, die von den im leichten Wind rußenden Fackeln erzeugt wurden. »Beten!« sagte er mit Nachdruck. »Es bleibt nur das Beten. Keine Öllampe und keine Fackel können helfen. Die Blüten würden verdorren. Wenn nur das kühle Licht Manaches wiederkäme!« Ler-Onts Entscheidungen waren weise und gerecht. Er durfte nicht daran zweifeln. Er lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung. An allem Anfang war die Genese gestanden. Zuerst hatte es nur
Ler-Ont gegeben. Unfas stellte ihn sich als eine Macht ohne Körper vor, als einen Faktor nur aus Geist und Kraft. Dieser Geist schuf eine Welt, und sie bestand aus einem schwarzen Gewölbe, an das viele Sterne geheftet waren. Mitten in dieser Welt hatte Ler-Ont den Planeten geschaffen. Er hatte ein Paradies Wirklichkeit werden lassen, und er hatte die Leronen hineingesetzt und die vielen Tiere und Vögel, die es gab. Auch Fische hatte er gemacht und in den Ozean entlassen, der die Welt umgab. Und er hatte zwei Boten ausgesandt, den einen am Tag, den anderen in der Nacht. Die beiden hatten sich miteinander vermählt, aber sie waren sich nicht treu geblieben. Es gab noch andere Boten, die den Leronen namentlich nicht bekannt waren. Der Lenker des Feuerwagens zum Beispiel oder der Hüter der Sterne, der darauf achtete, daß diese nicht vom Gewölbe fielen. Angefangen hat es damit, daß Gulbert und Manache sich nicht treu waren, erkannte Unfas. Seit jener Zeit liegt Dunkelheit über einigen Sandzeiten, und die Leronen tun gut daran, wenn sie sich an die Gesetze halten, die Ler-Ont ihnen über ihre Priester gibt. Die Einehe war eines der deutlichsten Beispiele, daß sich das Volk des Planeten an die Weisungen seines Gottes hielt und nicht in die Fehler verfiel, die die Götterboten begangen hatten. Und dennoch. Unfas seufzte und wußte nicht, ob er es nur in seinen Gedanken tat oder auch über seinen Mund. Es gab zu viele Fragen, die sich mit dieser Genese verbanden. Warum hatte Ler-Ont nicht auch Gulbert bestraft, der ebenfalls fremdgegangen war? Sicher, Tag und Nacht hatte es auf Leron schon immer gegeben. Aber die Nacht war von Manache erhellt worden, so daß es nie vollständig finster gewesen war wie jetzt. Es war schwer genug, sich das vorzustellen. Aber es kam noch schlimmer. Manache, erklärten die Priester, habe kaltes Licht ausgestrahlt. Manache war ein weibliches Wesen, eine Frau, und Frauen waren heißblütige Wesen, denen jede Kühle abging.
Ler-Ont hilf, flehte Unfas. Konnte es nicht gerade umgekehrt sein, als sie glaubten? War der Ball, der über den Tageshimmel zog, in Wirklichkeit Manache, und Gulbert war einst hinter den Horizont gestürzt? »Versinkt in euch selbst«, wies der Heilige die Pilger an. Er spürte die Unruhe, die sie beherrschte. »Werdet ausgeglichen in eurem Innern. Sobald eine Sandzeit abgelaufen itt, müßt ihr bereit sein zur Meditation. Dann wollen wir Ler-Ont rufen!« Er selbst lehnte sich ein wenig zurück, bis sein Rücken eine der hölzernen Stangen berührte, die den Baldachin stützten. Bei Tag verhinderte er, daß Gulbert Leron zu sehr auf die Köpfe der Meditierenden brannte. Bei Nacht nahm er die Aussicht auf die Sterne, die ein winziger Ersatz für Manache (oder Gulbert?) darstellten. Aber er hielt auch den Regen ab, den es allerdings recht selten gab. Die Luft über dem Land besaß immer genug Feuchtigkeit, so daß es auch bei längeren Schönwetterperioden nie zu Dürre oder Austrocknung kam. Alles war weise eingerichtet auf Leron, und die Bewohner dankten ihrem Gott für diese Umsicht. Außerhalb des Baldachins entstand kurzfristig Unruhe. Mehrere Pilger verließen ihre Plätze und suchten den Schutz der Bäume auf, die das Tal säumten, in dem der Heilige Berg stand. Ab und zu trieb der Wind auch ein leises Flüstern herbei. Unfas dachte an Adkor und seine Schatulla, die am Vortag gekommen waren, um sich den Segen für ihren Kriegszug zu holen. Sandzeiten später waren die Gnorze eingetroffen, und auch ihnen war der Segen zuteil geworden. Ler-Ont machte keinen Unterschied zwischen den einzelnen Stämmen. Er vorteilte seine Gnade gleichmäßig. Unfas schloß wieder die Augen. Er legte den Kopf ein wenig zurück und holte tief Luft. Er dehnte seine Lungen und führte dem Blut verstärkt Bauerstoff zu, den er in den nächsten Stunden dringend benötigen würde. Er schuf eine innere Distanz zu seinen bisherigen Gedanken und konzentrierte sich auf die Pilger, die ihm
zugeteilt worden waren. Mit ihnen wollte er die Meditation üben, um sie nach ein paar Tagen in den Kreis der Dauerbeter zu integrieren, die weiter in der Mitte des Tales zu finden waren und sich in ständiger Konzentration befanden und nur ab und zu eine Pause einlegten. Pilger waren ein wichtiges Regulativ in der religiösen Praxis der Leronen. Sie kamen von weither aus den hintersten Winkeln des Landes und waren mit den Bitten und Wünschen vieler Leronen beladen. Sie hatten sich alle eingeprägt, und sobald sie in den Kreis der Dauerbeter integriert waren, begannen sie, sie loszuwerden. Sie taten es in dem festen Bewußtsein, daß Ler-Ont sie hörte und alle Bitten beachtete. Ein Ruf klang auf und zeigte den Leronen, daß die letzte Sandzeit vor Mitternacht anbrach. Auch in der Nähe des Gottes ging es nicht ohne die Zeitmessung, und die Meditierenden waren mehr als alle anderen Leronen darauf angewiesen, daß sie regelmäßig ihre Mahlzeiten einnahmen und ihren Schlaf antraten, damit ihre Konzentrationsfähigkeit nicht frühzeitig herabgesetzt wurde. Die Lebensregeln waren streng am Heiligen Berg, aber es gab niemand, der sie nicht willig und gern befolgte. Ein Rascheln in der Nähe ließ Unfas aufhorchen. Ein Insekt zirpte in regelmäßigen Abständen eine kleine Melodie. Der Heilige kannte sie. Lautlos erhob er sich und schlüpfte zwischen den Stangen hindurch ins Freie. Er folgte dem Zirpen bis zu einer Buschgruppe. Unter überhängenden Ästen wartete ein Lerone auf ihn. »Wie steht es?« fragte der Unbekannte, der im Dunkeln nicht zu erkennen war. Unfas hörte jedoch seine Stimme und war zufrieden. »Heute nacht werde ich versuchen, tiefer in den Berg einzudringen«, erwiderte der Heilige. »Mein Mißtrauen hat neue Nahrung erhalten. Seit ich auf die Anzeichen achte, existiert mein Verdacht. Und je länger ich beobachte, desto mißtrauischer werde ich. Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, daß die Jugendlichen mit ihren Zweifeln recht haben könnten. Dann aber
erinnere ich mich wieder an unseren Glauben. Wenn es etwas Fremdes gibt auf unserer Welt, dann wird Ler-Ont es wissen und seine Maßnahmen ergreifen.« »Die Sänfte steht bereit«, sagte der Lerone, bei dem es sich um Badowein handelte. »Du brauchst mir nur das vereinbarte Zeichen zu geben!« Er verschwand zwischen den Büschen, und Unfas kehrte unter seinen Baldachin zurück und setzte sich ebenso geräuschlos, wie er gegangen war. Am Tag, wenn Gulbert Leron sein Licht über das Tal goß und die Pflanzen zu eindringlichem Leuchten anregte, dann sah es von den umgebenden Höhen aus, als befanden sich die Farben in einem ständigen Fluß. Dann wurde der Eindruck erweckt, als atme der Berg inmitten dieser Farbenpracht. Dabei ragten seine Wände matt aus dem leuchtenden Meer empor, und auf seiner ebenen Hochfläche wuchs die Szentalaga, eine Schlingpflanze mit schwarzen Blüten. Da kein Lerone in der Lage war, den Berg zu ersteigen, blieb die Natur dort oben unberührt. Der Berg war tabu, und dennoch wünschte Unfas sich manchmal, daß er Flügel hätte, um nachzusehen, ob dort oben wirklich alles in Ordnung war. Er hatte Beobachtungen gemacht, die sich immer wiederholten. Der Berg atmete wirklich. Es war ein Zeichen, daß Ler-Ont lebte und anwesend war. Aber manchmal, wenn besonders viele Beter sich zu langen Meditationen versammelt hatten, dann war es schon vorgekommen, daß die Steilwand Blasen bildete, so als hätte der Berg einen Ausschlag und würde bald auseinanderplatzen. Jedesmal bei diesem Anblick war es Unfas kalt den Rücken hinuntergelaufen. Er hatte sich gefragt, was es bedeutete. Er hatte den Priestern mehrerer Städte schriftliche Botschaften geschickt, aber sie hatten nur ausweichende Antworten gegeben. Es hatte ihm die Ohnmacht der Priester in Glaubensfragen unter Beweis gestellt. Etwas war mit dem Berg, und der Heilige versuchte, es auf eigene
Faust zu ergründen. Er hatte sich nur Badowein offenbart, und der Pilger war im Gnorzenland als fähiger Wissenschaftler bekannt. Badowein hatte etwas gebaut, womit der Heilige womöglich sein Problem lösen konnte. Unfas legte sich auf den Rücken. Diesmal schloß er die Augen. Er wischte alle Gedanken hinweg und atmete gleichmäßig und lang. Er tat es eine halbe Sandzeit, dann hatte sich sein Herzschlag auf ungefähr die Hälfte des Normalen reduziert, und mit Hilfe geistiger Konzentration staute sich der größte Teil des Blutes in seinem Kopf. »Hört ihr mich?« murmelte er. Zehn Antworten drangen an seine Ohren. Die Pilger waren bereit, und er gab ihnen kurze Anweisungen, wie sie sich zu verhalten hatten. Sie versanken in sich selbst, und er wies sie an, mit dem Aussenden ihrer Bitten zu beginnen und dies so lange fortzusetzen, bis sie jegliches Gefühl für die Umgebung und ihren Körper verloren hatten. Wieder wartete er, und er bezähmte die Spannung in sich, die immer größer wurde. Er wartete auf den Augenblick, in dem er sich in die Bitte einschalten konnte und einen Meditationskreis bildete, dessen Gedanken tief in den Berg eindringen würden. In den Heiligen Berg, in dem Ler-Ont zugegen war. Nur er, nichts anderes. An das andere dachte Unfas jetzt nicht, denn es hätte seine Bereitschaft zur Meditation zerstört.
* Chipol hatte sehr schnell begriffen, daß die drei jungen Leronen verunsichert waren. Sie wollten etwas von ihm und rückten dennoch nicht recht mit der Sprache heraus. Der junge Daila ahnte, daß ihre Zurückhaltung mit dem Translator zusammenhing, der an seinem Ohr baumelte und seine Worte in ihre Sprache und ihre Worte in seine Sprache übersetzte. »Wozu habt ihr mich entführt?« fragte er. »Ihr macht es richtig
spannend. So eine Entführung auf einem fremden Planeten ist etwas Einmaliges. Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Ich bin Chipol!« Er streckte ihnen die Rechte entgegen, aber sie reagierten nicht. Tifir, so wurde er von seinen Begleitern genannt, hatte den Bogen wieder aufgenommen. Er postierte sich an der Tür, und der zweite Jüngling namens Segon nahm an einem der Fenster Aufstellung. Nur das Mädchen blieb dicht, vor dem Daila stehen und musterte ihn. »Was bedeutet das, ein fremder Planet?« erkundigte sie sich. »Für wen ist er fremd?« »Ich meine Leron damit«, sagte Chipol. »Wir sind fremd hier.« »Ihr seid fremd in Schatulla. Aber fremd auf Leron?« Segon trat ein paar Schritte herbei. »Was wollt ihr? Hat wirklich Ler-Ont euch geschickt?« Chipol in seiner jugendlichen Denkweise begriff nicht, daß die jungen Leronen erwachsener dachten als er selbst. Er machte sich auch keine Gedanken darüber, wie er sich Vertretern dieses Volkes gegenüber verhalten sollte. Er hatte es mit Jugendlichen zu tun, und deshalb vergaß er die übliche Vorsicht. »Ler-Ont hat uns nicht geschickt«, antwortete er. »Wir sind gekommen, um etwas zu suchen!« Er verstummte, denn die drei Schatulla wichen vor ihm zurück, als sei er mit einer ansteckenden Krankheit behaftet. Sie drängten sich unter der Tür und tuschelten miteinander. »Nicht von Ler-Ont«, stieß Gardra schließlich hervor. »Meine Ahnung, meine Zweifel. Tifir, Segon, wir sollten ihn fesseln. Wenn er kein Götterbote ist, ist er nicht unangreifbar. Er hat mit dem zu tun, was wir erkunden wollen!« Tifir drückte Segon Pfeil und Bogen in die Hand. Zusammen mit Gardra verließ er das Zimmer. Kurz darauf kehrten sie mit mehreren Schnüren zurück. »Hände her!« sagte der Schatulla. »Seht nur! Er hat an jeder Hand
nur fünf Finger. Wenn Ler-Ont ihn geschickt hätte, hätte er ihm eine Gestalt verliehen, wie wir Leronen sie besitzen.« »Immerhin spricht er die Wahrheit«, warf Segon ein. Er half, Chipol die Hände zu binden. Die Füße ließen sie ihm frei, aber Tifir nahm den Bogen und hielt den Pfeil noch immer auf der Sehne. Er fixierte Chipol, der ihn mit einer Mischung aus Heiterkeit und. Ernst betrachtete. »Gastfreundlich seid ihr gerade nicht. Warum tut ihr so etwas? Ich habe euch nichts getan.« »Wer bist du wirklich?« wollten sie wissen. »Wo auf unserem Planeten lebst du? Was hat es mit dem sprechenden Ungetüm auf sich?« »Es sind viele Fragen auf einmal. Ich habe sie eigentlich schon beantwortet. Atlan, Mrothyr und ich kommen aus dem Weltall, von einem fernen Planeten. Wir sind hier, weil wir etwas suchen.« »Lüge!« rief Tifir. »Es gibt nichts außer Leron und dem, was zwischen ihm und dem Himmelsgewölbe ist. Bist du ein Monstrum aus dem Schlund, in den manchmal Wasser des Ozeans hinabschwappt und nicht wieder emporkommt?« Gardra beugte sich über ihn und betastete seinen Körper. Sie zog an dem dichten, wattigen Haar und musterte seine silbrig glänzenden Fingernägel. »Ich glaube nicht, daß er ein Ungeheuer ist«, stellte sie fest. »Er ist ein Lebewesen wie wir. Er sieht nur etwas anders aus. Wir sollten umdenken. Kennst du den Heiligen Berg und den Begriff Manache Leron?« »Ja«, sagte Chipol. »Ich habe beides am Feuer gehört. Gremens Begleiter sprachen davon. Der Berg ist jener Ort, an dem ihr Leronen euren Gott verehrt. Ihr nennt ihn Ler-Ont.« »Wir verehren ihn nicht nur, Ler-Ont ist persönlich dort. Du bist tatsächlich ein Fremder, daß du es nicht weißt. Tifir, Segon, es war gut, daß wir soviel wagten. Jetzt sind wir dem größten Geheimnis auf der Spur, das es jemals gegeben hat.« Gardra setzte sich, die
beiden Jungen taten es ihr nach und begannen sich untereinander zu unterhalten. »Gardra hatte recht«, sagte Segon. »Die drei Ankömmlinge haben nichts mit Ler-Ont zu tun. Sie sind wahrscheinlich für die Widersprüche in unserer Religion verantwortlich. Wir müssen sie den Priestern ausliefern, damit diese sie zur Rechenschaft ziehen.« »Und was ist, wenn die Priester mit ihnen unter einer Decke stecken?« »Worum geht es eigentlich?« wollte Chipol wissen. »Da ich euer Gefangener bin, könnt ihr es mir ruhig sagen.« Die drei Jugendlichen schwiegen verblüfft. Sie sahen sich an, und schließlich ergriff Gardra das Wort und erzählte Chipol von ihrer Kultur und ihrer Religion und von den Widersprüchen, an denen sich keiner zu stoßen schien. Keiner außer ein paar Jugendlichen, die die ihnen zustehenden Freiheiten dazu benutzten, den unnatürlichen Zeichen nachzugehen. Es gab auch ein paar Erwachsene, die sich mit ketzerischen Gedanken befaßten, aber sie hielten mit ihrer Meinung zurück, da sie keine Beweise hatten. Chipol schluckte. Was er zu hören bekam, erinnerte sehr an Einwirkungen von außen, und er hatte genug gehört, um direkte Parallelen ziehen zu können. »Ich habe etwas zu sagen«, unterbrach er sie nach einer Weile. »Ihr sprecht von etwas Unnatürlichem, aber ihr habt keine Anhaltspunkte. Ihr baut alles auf Vermutungen auf, so wie ihr mich aufgrund von Vermutungen gefangenhaltet. Habt ihr euch schon überlegt, daß ihr mir vielleicht Unrecht tut! Habt ihr nicht zugehört, als ich sagte, daß wir nach Leron gekommen sind, um etwas zu suchen? Vielleicht suchen wir dasselbe. Es ist ein bösartiges Wesen, und es nennt sich der Erleuchtete. Ihr werdet mit diesem Namen nichts anfangen können. Aber wir wissen, wie man es erkennen kann. Der Erleuchtete sucht bestimmte Planeten heim, und auf Leron muß er ein Versteck besitzen.« Sie konnten mit dem Namen nichts anfangen, denn sie kannten
nur Ler-Ont. Und sie wehrten sich noch immer gegen den Gedanken, daß es Wesen gab, die auf fremden Planeten lebten. Chipol erkannte endlich seinen Fehler und beschwichtigte sie. »Also gut«, erklärte er. »Glaubt immerhin, daß wir Bewohner der Lüfte sind. Wir haben ein fliegendes Haus, das sprechen kann. Wir wohnen weit oben, wo man vom Boden aus nicht hinsieht. Wir haben die Spur des Feindes gefunden, deshalb sind wir herabgestiegen.« Wortlos starrten sie ihn an. Der Sand in der Uhr rieselte und rieselte. Dann beugte Gardra sich vor und löste die Handfesseln Chipols. »Ich glaube dir«, sagte sie. »Ich biete dir die Zusammenarbeit an.« Protestrufe ihrer beiden Begleiter klangen auf. Sie kümmerte sich nicht darum, und Chipol sagte: »Es ist vernünftig. Ihr sucht nach der Wahrheit um Ler-Ont, und wir suchen jenes Wesen, das vielleicht für die Widersprüche in eurer Religion verantwortlich ist. Wenn wir zusammenhelfen, werden wir Erfolg haben.« »Dann laß uns sofort aufbrechen!« Segon sprang auf und eilte zur Tür. »Nur keine Zeit verlieren. Wer weiß, was die Priester aushecken!« Gardra eilte hinab in das Erdgeschoß und unterrichtete ihre Familie. Dann holte sie die drei ab. Sie verließen das Haus durch den Hintereingang. Diesmal folgten ihnen neugierige Blicke der Familie. Sie schlugen den Weg zum Westtor ein. Diesmal waren keine Priester und keine Tempeldiener unterwegs. Am Tor hielt Gardra an. »Wenn du versuchst, uns zu täuschen, dann ist es um dein Leben geschehen«, schärfte sie Chipol ein. »Auch wenn viele Schatulla dich für den Wagenlenker halten, Tifirs Pfeil wird sein Ziel nicht verfehlen.« »Ihr solltet langsam anfangen, mir zu vertrauen. Ich bin unbewaffnet. Ihr seid es, die mir Schutz gewähren müssen. Warum
bedroht ihr mich?« Sie traten hinaus vor die Stadt. Das Schiff ruhte noch immer an derselben Stelle. Es schwebte über dem Boden und hatte die Rampe der Bodenluke eingefahren. »Hallo Chipol«, sagte es. »Kann ich dir behilflich sein?« »Nein, nicht nötig«, dankte der junge Daila. »Was macht Atlan?« »Er macht sich Sorgen um dich. Wohin gehst du?« »Wir machen uns auf den Weg zum Heiligen Berg. Sage Atlan und Mrothyr, daß sie uns vorsichtig folgen sollen. Wir werden mit ihnen zusammentreffen, sobald es möglich ist. Hörst du, die beiden müssen unbedingt zum Heiligen Berg kommen, egal, ob die Schatulla es wollen oder nicht.« »Wie es aussieht, sind die Priester die einzigen, die nicht wollen«, sagte die STERNSCHNUPPE. »Viel Erfolg!« »Danke!« Die vier setzten ihren Weg fort und schritten die Handelsstraße hinab. Er machte den drei Schatulla klar, daß der Himmelswagen auf den Namen STERNSCHNUPPE hörte. Er erklärte, was eine Sternschnuppe war. Die Jugendlichen hatten selbst solche Himmelserscheinungen beobachtet. Es war nicht gut, diese Art Leuchtkörper zu sehen. Es konnten Sterne sein, die vom Himmel fielen. Chipol akzeptierte, daß die Leronen nicht über ihren Schatten springen konnten. Und er wollte mit seinen Äußerungen ein wenig vorsichtig sein, um ihr Weltbild nicht völlig durcheinanderzubringen. Sie ließen die Handelsstraße hinter sich und erreichten am Nachmittag den Dschungel. Rund zwei Tagesreisen waren es bis zum Heiligen Berg, ein Teil der Nächte als Marschzeit mitgerechnet. Sie bahnten sich einen Weg durch das Dickicht, wobei die kleinen Steinmesser, die jeder Lerone mit sich führte, als Macheten dienten. Chipol besaß kein solches Werkzeug, er trug nur den Schutzanzug der STERNSCHNUPPE, der ihn vor Dornen schützte.
»Gibt es hier keine wilden Tiere?« fragte er, als sie in die Nacht hineinschritten, einer hinter dem anderen und sich an den Händen haltend. »Doch. Sie sind rings um uns. Aber sie greifen nicht an. Sie haben schlechte Erfahrungen mit Leronen gemacht. Nur manchmal gibt es welche, die einen Leronen anfallen und töten. Wenn sie es einmal getan haben, tun sie es immer wieder. Es gibt dann die Spüraffen, die solche Tiere aufstöbern, damit sie erlegt werden.« »Schöne Aussichten!« Chipol blickte vorsichtig nach links und rechts. Am liebsten hätte er die Augen ganz zugemacht, damit ihn das Phosphoriszieren nicht verriet. Gegen Mitternacht machten sie Rast, und dem jungen Daila erschien es, daß er kaum eingeschlafen war, als er bereits wieder geweckt wurde. »Bald geht Gulbert Leron auf«, flüsterte Gardra neben seinem Kopf. »Dann wollen wir die Upunzenwälder erreicht haben.« Sie setzten ihren Marsch fort, und als es ein wenig heller wurde, da entfernte Tifir sich und kehrte nach einer halben Sandzeit mit einem erlegten Beuteltier zurück. Sie suchten sich eine kleine Lichtung und machten Feuer. Sie häuteten das Tier und nahmen es aus, dann brieten sie die schmackhaftesten Stücke über dem Feuer. Als der Braten fertig war, kostete Chipol vorsichtig. Er stellte fest, daß das Fleisch schmackhaft war und einen hohen Nährwert besaß. Er aß bedächtig und kaute gut. Sie aßen fertig und löschten das Feuer. Die Reste des Tieres ließen sie liegen, wie es der Brauch wollte. Sie wanderten weiter, und kurz darauf war die Sonne aufgegangen. Im Dschungel wurde es so hell, daß wenigstens Dämmernis herrschte, in der man die Stämme und Äste der Bäume und Büsche erkennen konnte. Chipol hatte in der Nacht festgestellt, daß er besser sah als die Einheimischen. Ihre Augen waren nicht so lichtempfindlich wie seine. »Sind wir auf dem richtigen Weg?« erkundigte er sich, als es nach seinem Zeitempfinden Mittag war. Gardra bestätigte es. Sie verloren
zwar sehr viel Zeit, da sie keinen gebahnten Weg benutzen konnten. Je nachdem, wann Atlan und Gremen ihnen folgen würden, würden sie ihren Vorsprung bald aufgeholt haben und irgendwann mit ihnen zusammentreffen. »Spätestens am Heiligen Berg!« pflichtete Segon bei. »Gremen wird auf alle Fälle dabei sein.« »Woher willst du das so genau wissen?« fragte Chipol. »Sie sind verwandt, obwohl sie kaum darüber sprechen. Segons Vater und Gremen sind Vettern«, sagte Tifir. »Es verbindet sie vermutlich mehr als nur das Blut.« »Ach, sei still«, murrte Segon. »Du weißt, daß Gremen es sich bei seiner Stellung nicht erlauben kann, seine Meinung kundzutun!« Damit war für ihn das Gespräch beendet, und sie wanderten schweigend weiter, bis sie gegen Morgen der zweiten Nacht ihr Ziel erreichten. Chipol erkannte, daß sich etwas um sie herum verändert hatte. Die Bäume waren andere, und auch die Büsche trugen andere Blätter und Farben. Und zwischen ein paar umgeknickten Baumkronen sah er etwas Braunes leuchten, das wie Fels aussah. »Dort!« sagte er. »Der Berg?« »Nein. Eine der Felswände, die das Tal umgeben, in dem der Heilige Berg aufragt!« Chipol war jetzt im Bild. Er hatte das Tal und seine Umgebung vom Schiff aus gesehen, als dieses zur Landung angesetzt hatte.
* Wärmt die Blüten Manaches! Dies war der einzige Gedanke, den Unfas aussandte. Er wiederholte ihn ununterbrochen, aber die tiefsten Gründe seines Bewußtseins weilten in anderen Dingen. Er wußte, daß er die Art und Intensität der Hilfe nicht direkt beeinflussen konnte, die ihm von den Pilgern zuteil wurde. Es war nicht einmal sicher, daß sie
alle seinen unausgesprochenen Wunsch verstehen würden. Er hoffte, daß alle die ausgesprochenen Worte vom Abend nicht vergessen hatten. »Wir wollen helfen. Was müssen wir tun, um die Blüten Manaches zu wärmen?« Er registrierte, daß sie reagierten. Ihre Augenlider bewegten sich. Seine zur Höchstleistung angeregten Sinne spürten es. Ler-Ont, wir sind da. Erhöre unsere Bitten. Wir sind gekommen, um dir die Nöte von vielen Leronen mitzuteilen! Unfas versuchte, den Meditationskreis zu bilden. Es ging nicht, denn die Gedanken der Pilger waren noch zu unterschiedlich. Sie befanden sich in Trance, aber der Vorgang war ihnen ungewohnt. Sie würden Tage brauchen, bis sie sich zurechtgefunden hatten. Der Heilige verstärkte seine Kraft. Unmeßbare Wellen verließen die Pilger und manifestierten sich an einem bisher nicht bekannten Ort. Er konnte nur hoffen, daß der Ort innerhalb des Berges lag, irgendwo bei Ler-Ont. Er schloß sich tastend den Gebeten an, und dann spürte er plötzlich die psionische Reibungswärme, die entstand, wenn sich irgendwo Gedanken auf einer Wellenlänge bewegten. Unkontrolliert und mit schwankender Intensität verfolgte er die Wege der in Trance und voller Inbrunst geäußerten Bitten. Sie waren alle ohne Ausnahme an den Gott gerichtet, und sie erhielten ungeahnte Stärke dadurch, daß viele der Pilger gleichzeitig ähnliche Bitten vorbrachten und sich so in ihrem Seelenzustand ähnelten, der maßgebend für die erzeugten Gedankenschwingungen war. Nach etwa einer halben Sandzeit hatte sich der Zustand soweit stabilisiert, daß Unfas seine unterstützende Kraft zurückziehen konnte. Für wenige Sandkörner löste er sich aus der Trance und öffnete die Augen. Die Pilger saßen und lagen um ihn herum. Sie waren nicht ansprechbar und reagierten nicht einmal auf sein Husten. Sie beteten, und es gab keinen von ihnen, der seine Litanei unterbrach. Sie würden zu einer guten Meditationsgruppe
verschmelzen. Sie würden weit in Ler-Onts Körper vordringen. Unfas wollte nicht so lange warten. Es lag nicht allein daran, daß Badowein mit der selbst konstruierten Sänfte gekommen war. Es lag auch etwas anderes in der Luft, was Unfas nicht in Worte kleiden konnte. Es hatte sich noch nicht bis zum Heiligen Berg herumgesprochen, aber es war etwas Unfaßbares, und es hatte bestimmt mit Ler-Ont und dem Berg zu tun . Vehement versetzte er sich in Trance und folgte den Bitten der Pilger. Er hatte den Berg vor Augen, wie er im Tageslicht atmete. Und plötzlich entdeckte er auch wieder jene Blasen im Felsgestein, die sich bildeten und wieder verschwanden, ohne daß sie platzten. Ich muß hinauf, redete er sich ein. Hinauf zu den Blüten. Sein Bewußtsein kletterte immer höher, und er spürte, wie die Bitten der Pilger es emportrugen. Die Bewegung wurde mit der Höhe langsamer, und so sehr er sich auch anstrengte, er kam nicht ganz hinauf. Da entdeckte er es. Es waren die Pflanzen, die schwarzen Blüten der Szentalaga. Sie raschelten und rutschten über den Rand der Hochfläche des Berges. Sie krochen über die Ränder nach unten, kamen dem Heiligen entgegen. Sie wuchsen schnell in die Länge, und der Meditierende sah die Stacheln, die sich aus ihren Spitzen schoben. Die Szentalaga stellten eine Gefahr für ihn dar. Sie schlängelten sich ihm von allen Richtungen entgegen, aber sie erreichten ihn noch nicht. Eine Woge tragender Gedanken warf ihn empor, den Blüten entgegen. Sein Bewußtsein schrie auf, aber er hatte seine Anstrengungen so weit getrieben, daß die Wirkung nicht sofort eintrat. Plötzlich schwankten die Stacheln dicht vor ihm, und an ihrer Oberfläche glommen blauschwarze Punkte, die ihn an eisige Augen erinnerten. Er zuckte zurück und wünschte sich weg. Ler-Ont! schrie er, aber die Pflanzen schluckten seine Gedanken.
Unfas geriet in Todesangst. Er spürte, wie die Kraft ihn verließ. Sie war einfach nicht mehr da, und er stürzte haltlos in die Tiefe, während die Szentalaga fast bedauernd mit ihren Enden hin und her pendelten. Kurz vor dem Aufschlag erst wurde der Heilige sich bewußt, daß er das alles nicht körperlich erlebte. Das rettete ihn vor dem Hirntod, und er atmete erleichtert auf, während seine Gedanken auf den Wellen 'der Gebete weiter entlangschwankten. Die Pflanzen über dem Abgrund waren verschwunden, aber er spürte noch immer die Gefahr in seinen Nerven, und er wollte aufwachen. Da entdeckte Unfas noch etwas anderes. Die Harmonie am Heiligen Berg war gestört. Etwas war da was nicht hingehörte. Zunächst dachte er an wilde Tiere, dann jedoch glaubte er, wilde Leronen vor sich zu haben, die nicht zu den zivilisierten Stämmen gehörten. Doch auch diese Einschätzung war nicht richtig, und sein Bewußtsein wehrte sich lange gegen die eigentliche Wahrheit. Es waren Wesen, die zum Aufspüren von wilden Tieren benutzt wurden. Sie besaßen kaum Intelligenz, aber einen Funken Klugheit. Spüraffen! Es sind Spüraffen. Aber wie kommen sie in das Tal? Wer hat sie hereingelassen? Schlafen die Wächter? Unfas erwachte endgültig aus seiner Trance. Er schrak empor und stieß mit dem Kopf gegen eine der Stangen. Der Baldachin begann zu rauschen, aber noch immer regten sich die Pilger nicht. Der Heilige wischte sich die Augen aus. Er wußte zwei Dinge. Im Heiligen Berg war etwas. Es bewirkte Vorgänge, die es früher nicht gegeben hatte. Zu Ler-Ont wurde schon gebetet, solange es die Leronen gegeben hatte. Und der Kult am Heiligen Berg war einige tausend Sonnenläufe alt, wobei die Leronen unter einem Sonnenlauf oder einem Lauf Gulbert Lerons jenen Zeitraum verstanden, in dem ein und derselbe Tag wiederkehrte und alle schwach ausgeprägten Jahreszeiten vorübergegangen waren. Das Fremde im Berg existierte noch nicht lange.
Und es waren Affen im Tal. Wenn einer der Wächter Alarm schlug, konnte es zu einer Katastrophe für den Kult und für die in Trance befindlichen Leronen kommen. Unfas erhob sich und verließ den Baldachin. Er lauschte. Nichts rührte sich im Tal, niemand schien außer ihm die seltsamen Vorgänge wahrzunehmen. Der Heilige tat etwas völlig Unheiliges. Er suchte sein eigenes, kleines Zelt auf, seine Wohnstatt im Tal, solange er lebte. Er nahm ein langes Steinmesser an sich und machte sich auf die Suche. Es durfte nicht zur Katastrophe kommen. Die Verantwortung lastete allein auf seinen Schultern. Irgendwo mußten sich die Spüraffen befinden. Und ihr Bändiger? Unfas setzte voraus, daß es sich um gezähmte Affen handelte, weil es ungezähmte nicht mehr gab. Zumindest war keinem Leronen die Existenz ungezähmter Affen bekannt. Er eilte einen Pfad entlang, der ihn rasch an das äußere Ende des Tales brachte. Noch wußte er nicht, auf welcher Seite des Berges er suchen mußte. Da das Tal jedoch von Norden her keinen Zugang besaß, blieben nur drei Seiten übrig. Der Heilige dachte an Badowein. Sie hatten ein Geheimnis miteinander, und so bot es sich an, daß er den Pilger über seine Beobachtung einweihte. Dazu mußte er ihn jedoch aus der Meditation reißen, und dieses Risiko wollte auch der Heilige nicht eingehen. Er ließ Badowein, wo er war, und suchte auf eigene Faust. Drei Sandzeiten vor Sonnenaufgang kehrte er zum Baldachin zurück und erlöste die Pilger aus ihrer Trance. Sie waren erschöpft und fielen bald darauf in einen tiefen Schlaf. Unfas machte sich erneut auf, und mit dem Morgengrauen endlich fand er die Spur. Er erkannte die Affen am Geruch, und er faßte das Steinmesser fester, jederzeit damit rechnend, sich verteidigen zu müssen. Der Heilige fragte sich, wer mit den Spüraffen gekommen war und was er beabsichtigte. Die Affen dienten dazu, etwas zu suchen, und Unfas dachte nicht an die Wildtiere, die Leronen getötet hatten
und wieder welche töten würden. Er dachte an die Szentalaga und die seltsamen Blasen, die der Heilige Berg bildete.
* Das einzige, was Dawok verunsicherte, war sein Gewissen. Er schwankte zwischen Einsicht und Glaube, und in manchen Augenblicken ertappte er sich dabei, daß er sich die Zweifel einredete, um einen Grund zu finden, doch noch umzukehren. Dann aber hörte er wieder die warnenden Schreie der Uwans in der Nähe des Lagers. Die Vögel rochen die Feuer und hörten das Knistern. Sie vernahmen das leise Tappen der Wächter, die die schlafenden Frauen bewachten. Ihr Instinkt sagte ihnen, daß sie sich in Gefahr befanden. Deshalb ließen sie einen bestimmten Ton hören, der Warnsignal und Anwesenheit gleichzeitig bedeutete. Für lautlose Späher waren die Schreie das Zeichen, daß sich jemand in der Nähe befand. Dawok richtete seine Aufmerksamkeit auf die fünf Spüraffen. Sie eilten ihm an der Leine voran und reagierten auf nichts, was mit ihrer Umgebung zu tun hatte. Er glaubte, daß sie nicht einmal den Pfad richtig beachteten, und er rief sich selbst zur Ordnung und strengte seine Sinne stärker an. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Der Bändiger dachte an das Gespräch zurück, das er mit seinem Sohn geführt hatte, kurz bevor er mit dem Kriegszug aufgebrochen war. Segon hatte jugendliche Freunde, die seine Zweifel teilten und dieselben Fragen stellten. Dawok kannte diese Fragen, und auch er strebte nach einer Antwort. Er gehörte zu denen, die nicht alles wortlos hinnahmen, was von den Priestern kam. Manche Schatulla wußten das, und eines Nachts war eine vermummte Gestalt in sein Haus eingedrungen. Sie hatte ihn geweckt und die ganze Nacht hindurch mit ihm gesprochen. Dawok hatte sie nicht erkannt, aber
die Unterredung hatte ihn in dem Bewußtsein gestärkt, daß etwas geschehen mußte. Er hatte den Auftrag angenommen. Er wußte noch immer nicht, wer ihm den Auftrag gegeben hatte. Er befürchtete, daß es sich um eine Falle handelte, daß die Priester von seinen Gedanken erfahren hatten und ihn zu überführen suchten. Dennoch wagte er es, und jetzt, wo er durch den Felseinschnitt schlich, der in das Tal hineinführte, rang er sich endgültig dazu durch, diesen Weg zu Ende zu gehen. Ler-Ont, steh mir bei! flehte er. Ich will nichts tun, was gegen dich gerichtet ist. Aber ich muß Gewißheit haben. Unser ganzes Volk muß Gewißheit haben. Unser Vertrauen zu den Priestern schwindet immer mehr. Wir stellen Fragen. Wenn die Priester sich weigern, sie uns zu beantworten, dann müssen wir die Antwort eben selbst suchen. Ler-Ont, du bist weise und gerecht. Du kannst nichts dagegen haben. Denn du hast auch nichts dagegen, daß unsere Krieger in den Kampf ziehen und sich mit den Gnorze messen. Unter seinen Füßen war es kalt und feucht. Von den steilen Felsen herab rann die Feuchtigkeit, und die wenigen Büsche, die sich in den Ritzen und Sprüngen angesiedelt hatten, boten so gut wie keine Deckung. Wenn ihm jetzt ein Wächter oder ein Pilger entgegenkam, würde er unweigerlich entdeckt werden. Da es verboten war, den Bereich des Tales und des Heiligen Berges mit Affen oder anderem Getier zu entweihen, würde er Aufsehen erregen und konnte kaum mit der Nachsicht der Pilger und Heiligen rechnen. Auf die Affen konnte der Bändiger sich in dieser Beziehung nicht mehr verlassen. Er hatte sie so abgerichtet, daß sie alles ignorierten, was sie kannten, und nur auf fremde Witterung reagierten. Es war ein hartes Training gewesen, sie allem zu entwöhnen, was es auf Leron gab. Aber inzwischen wußten sie, was er von ihnen erwartete. Und er hatte ihnen bereits das zweite Losungswort genannt, das ihnen zeigte, was von ihnen erwartet wurde. Plötzlich blieben die Affen stehen. Dawok merkte es zunächst
daran, daß die Sammelleine ihre Spannung verlor. Er blieb stehen und öffnete seine Augen unnatürlich weit. In der Finsternis erkannte er so gut wie nichts. Er spürte die Anwesenheit von Da, Aw, Wo, Ok und Do durch die Wärme, die ihre Körper abgaben. Über dem Felseinschnitt leuchteten ein paar Sterne, deren Licht nicht ausreichte, den Boden zu erhellen. Dawok lauschte. Er vernahm ein leises Rascheln. Es kam von vorn, aus der Richtung des Tales. Gleich darauf vernahm er ein Zischen, und einsetzender Flügelschlag belehrte ihn, daß es sich um einen Vogel handelte, der vermutlich in einem der Büsche sein Nest hatte. Der Bändiger begann an seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Er hatte die Affen trainiert, daß sie auf nichts anderes reagierten. Jetzt führten sie ihm das Gegenteil vor Augen. Dawok wiederholte das zweite Losungswort. Die Affen verharrten noch immer, und der Bändiger begann innerlich zu fluchen. Er schalt sich einen Narren. Noch nie waren Affen in dieser Nähe des Heiligen Berges gewesen. Folglich mußten sie auf alles reagieren, was sich ereignete. Er strengte seine Sinne noch mehr an, und dann erkannte er, was der eigentliche Grund für das Verhalten der Tiere war. Der Boden zitterte. Zunächst war es kaum spürbar gewesen, jetzt aber wurde es stärker. Es war ein Vibrieren und Beben, das den gesamten Fels durchlief. Es setzte sich vom Boden auf die Steilwände fort, und als der Bändiger einen Arm ausstreckte und die Felswand berührte, da ging es ihm durch Mark und Bein. Hastig zog er den Arm zurück und hob abwechselnd die Füße vom Boden ab. Die Leine schwankte, die Affen machten ihm die Bewegung nach. Der Fels dröhnte, und es war nicht ersichtlich, woher es kam. Es konnte sich nicht um etwas handeln, was die Affen kannten, das war Dawok jetzt klar. Sie waren leichte vulkanische Beben gewohnt, wie sie der Orarot immer wieder veranstaltete. Diesmal war es etwas anderes.
»Weiter!« zischte er. Die Affen setzten sich zögernd in Bewegung. Sie tappten den immer enger werdenden Pfad entlang, der bald nur noch so schmal war, daß sie hintereinander gehen mußten. Nach oben zu rückten die Felswände so eng aneinander, daß Dawok nur noch einen einzigen Stern erkennen konnte. Das Ende des Pfades tauchte auf. Gegen den Schein eines Feuers sah der Bändiger Bäume und Büsche aufragen. Übergangslos verwandelte sich der nackte Fels in fruchtbaren Untergrund, und Dawok hielt nach den Wächtern Ausschau, die diesen Eingang bewachten. Vor den ersten Grasbüscheln hielt er an und hauchte das erste Losungswort. Die Affen erstarrten, und er ließ die Leine zu Boden gleiten und pirschte sich an den Tieren vorbei bis zu den Bäumen. Er sah sie. Zwei Schatten, nur als Verdickungen eines Upunzenstamms erkennbar, waren es. Sie flüsterten miteinander, und er verstand, daß sie sich ebenfalls Gedanken über das Zittern des Bodens machten. »Ler-Ont«, verstand er. »Er zürnt. Wir dürfen nichts tun, was ihn reizen könnte. Was geht unter den Baldachinen vor?« Sie lösten sich von dem Stamm und bewegten sich ein paar Mannslängen in das Tal hinein. Hastig kehrte Dawok zu den Affen zurück und nannte das zweite Losungswort. Die Tiere setzten sich in Bewegung, diesmal ging er ihnen voran. Die Feuer im Tal warfen lange und gespenstische Schatten und ermöglichten es ihm, sich zu orientieren. Unmittelbar an der Felswand entlang bog er nach links ab und glitt zwischen den Zweigen und Ästen hindurch. Er schlich auf Zehenspitzen, und die Affen ahmten ihn nach. Kaum zehn Mannslängen befanden sich jetzt zwischen ihm und den Wächtern. »Das Zittern läßt nach«, hörte er sie sagen. »Kehren wir an unseren Platz zurück!« Dawok verschwand hinter einem Gebüsch und hielt an. Er nahm die Sammelleine eng, so daß die Affen unmittelbar vor ihm standen.
Sie strömten einen scharfen Geruch aus, der das Unternehmen zum Scheitern bringen konnte, wenn er jemand auffiel. Die Wächter ließen sich am Fuß ihres Baumes nieder und schlossen die Augen. Die Lider leuchteten bis hinüber zu dem Bändiger, der vorsichtig aus seiner Deckung spähte. Er setzte seinen Weg fort. Gebückt eilte er am Talrand entlang. Als er sich weit genug vom Eingang entfernt hatte, richtete er sich wieder auf. Er schlich bis zu den letzten Büschen vor und beobachtete das Treiben um den Heiligen Berg. Fast nichts war zu sehen. Die Pilger und Heiligen hielten sich unter den Baldachinen auf, um zu meditieren oder die Meditation zu üben. Vereinzelt schritten ein paar Diener umher und sammelten leere Schüsseln ein. Auf den Waldsaum achtete keiner von ihnen. »Also los!« hauchte Dawok. Zur Sicherheit wiederholte er eindringlich das zweite Losungswort. Die Affen hatten es längst begriffen, und sie wandten ihre Augen von ihm ab auf die Umgebung. Dawok begann das Tal abzusuchen. Sein größtes Problem war, daß er nicht wußte, wonach er suchte. Die Ungereimtheiten in der Religion Ler-Onts, die die Priester verkündeten, ließen keine Rückschlüsse auf irgendwelche Einflüsse zu, seien sie fremder Art oder nicht. Alles, was blieb, war ein Verdacht. Der Bändiger bückte sich. Der Untergrund war ruhig, das Beben hatte endgültig aufgehört. Die Pilger und Heiligen schienen es nicht bemerkt zu haben. Vielleicht war es im Talgrund nicht spürbar gewesen. Er schritt mit den Affen einmal um das Tal herum. Da der Heilige Berg im Norden an die Felswand stieß, die das gesamte Tal einrahmte, mußte er auf halbem Weg umkehren. So machte er einen Weg zweimal, und er vermied es, in seiner eigenen Spur zurückzukehren, um dem Gras Gelegenheit zu geben, sich wieder aufzurichten. Die Affen hatten in der ganzen Zeit auf nichts reagiert, und als sich Dawok zurück zum Südeingang schlich und die
Wächter am Osteingang umging, da war er beinahe zu der Einsicht gelangt, daß es nichts in diesem Tal gab, was Verdacht erregte. Alles war friedlich, wie es sich der Durchschnittslerone vorstellte. Dawoks Aufgabe war jedoch noch nicht zu Ende. Er hatte erst den Rand des Tales untersucht, nicht jedoch das eigentliche Tal. Dort war es gefährlich für ihn, denn die wenigen Büsche und Sträucher zwischen den Blumen und Gräsern boten nur unzureichend Deckung. Anders war es da schon in der Nähe des Berges selbst, wo die Stoffwände der Baldachine Schutz und Sicherheit boten. Um dorthin zu kommen, mußte er jedoch den Talgrund durchqueren. Für den Bändiger brachen die schlimmsten Sandkörner seines ganzen Lebens an. Er arbeitete sich bis zu den vordersten Büschen durch. Er zögerte und hielt Ausschau. Erst als sich niemand mehr in seinem Blickfeld befand, wagte er es. Er verließ die Deckung und trat auf die freie Fläche hinaus. Er spurtete los, und die Affen folgten ihm auf allen vieren. Sie flitzten hinter ihm her, und Dawok hatte keine Zeit, sich umzusehen. Wenn er jetzt entdeckt wurde, war alles aus. Ler-Ont war mit ihm. Er erreichte ein Zelt und in seinem Schatten einen Baldachin. Augenblicke später befand er sich zwischen den Stoffbahnen und der Steilwand des Berges. Erneut machte sich der Schatulla auf die Suche. Die Affen begleiteten ihn. Die Baldachine waren für sie neu, aber darauf reagierten sie nicht, weil sich Leronen in ihnen befanden. Dawok suchte den gesamten Fuß des Berges ab. Er fand nichts, die Affen fanden nichts. Es gab nichts Fremdes und Unnatürliches in diesem Tal, und das Ergebnis stürzte den Schatulla in tiefe Verzweiflung. Er war einem Irrglauben aufgesessen, er hatte sich an Ler-Ont versündigt. Er wagte es kaum, den Blick zu heben und den Gott um Verzeihung anzuflehen. Wie ein geprügelter Uwan schlich er sich davon, und die Affen folgten ihm treu und brav wie immer. Er eilte hinter den Baldachinen entlang, und es war ihm ganz egal, was jetzt aus ihm wurde. Er begriff, daß das, was die Priester
erzählten, die Wahrheit war, auch wenn die Leronen sie nicht verstanden. Nur die Frage blieb, warum die Priester den Irrtum in der Bevölkerung nicht aufklärten, von dem sie doch wußten. Plötzlich glaubte Dowak, daß er verfolgt wurde. Man hatte ihn entdeckt oder zumindest seine Spur gefunden. Er sah einen Leronen, der suchend durch das Tal eilte. Im Schein der Feuer erkannte er sein Gewand. Es war ein Heiliger. Er verschwand zwischen den Bäumen, und nach einiger Zeit kehrte er am anderen Ende des Tales ins Freie zurück. Dawok machte, daß er davonkam. Er überquerte die freie Fläche und verschwand zwischen den Büschen. Er suchte den Südeingang auf, aber die Wächter waren abgelöst worden. Die neuen standen enger am Einschnitt, so daß es unmöglich war, an ihnen vorbeizukommen. Und hoch am Himmel wurde es bereits hell und zeigte dem Bändiger, daß der neue Tag anbrach. Er suchte sich ein dichtes Gestrüpp und arbeitete sich mit den Tieren hinein. Er konnte jetzt nur warten und hoffen, daß der Heilige ihn nicht gesehen hatte. Es blieb ruhig im Tal, und nach einer Weile beruhigte auch Dawok sich. Er schloß die Augen und dachte nach. Im Lager würden sie ihn vermissen. Die Krieger würden nach ihm suchen und auch das Tal von seinem Verschwinden verständigen. Vielleicht gelang es ihm, die Verwirrung zur Flucht aus dem Heiligtum zu nutzen. Er zuckte zusammen. Etwas Kaltes berührte seinen Hals. Das Gestrüpp raschelte. Er riß die Augen auf und sah den Heiligen stehen. Er hatte ihm ein langes Steinmesser an den Hals gelegt. »Sieh an«, sagte er leise. » Da haben wir ja den Affenbändiger. Komm heraus, wenn dir dein Leben lieb ist!« Dawok ließ die Schultern sinken. Er kam der Aufforderung nach und zog die Affen mit sich. »Ich weiß, daß ich unrecht gehandelt habe«, erklärte er. »Aber ich hoffe, daß Ler-Ont mir verzeiht. Meine Absichten waren lauter und gut!«
»Ich glaube dir«, erklärte der Heilige zu seiner Überraschung. »Frage mich nicht nach meinem Namen, du wirst ihn erfahren, doch nicht jetzt. Ich kann mir denken, weshalb du gekommen bist. Wir im Tal des Gottes wissen, welche Gedanken in manchen Leronen wohnen. Glaube mir, auch unter uns Heiligen sind welche, die sich Fragen stellen. Folge mir zunächst einmal. Ich kenne ein Erdloch, wo du dich vorläufig verstecken kannst!« »Aber warum …«, begann Dawok. »Ich erkenne keinen Sinn darin, an etwas zu zweifeln, was von Ler-Ont kommt!« »Wer kann schon sagen, ob alles von Ler-Ont kommt, was hier geschieht«, meinte der Heilige mehrdeutig. »Von uns sagt man, daß wir mit unserem Gott in Verbindung stehen. Gewiß stimmt das. Aber es gibt auch andere Dinge.« »Ich glaube es nicht«, sagte der Bändiger bestimmt. »Ich zweifelte auch. Aber ich weiß jetzt, daß ich mich irrte.« »Warum?« Die Stimme des Heiligen klang plötzlich hohl. Dawok setzte ihm alles auseinander. Er berichtete von seinen Gedanken und von seinem Auftrag, verschwieg jedoch das, was seinen Sohn und den unbekannten Auftraggeber betraf. Er legte dem Heiligen dar, daß die Affen ihre Aufgabe gelöst hatten. Es befand sich nichts Fremdes im Tal. Der Heilige war seinen Worten aufmerksam gefolgt. Er lächelte, als Dawok endete. »Es sind eben Spüraffen, keine Leronen«, sagte er. »Sie sind nicht in der Lage, etwas zu erkennen, was tief im Fels verborgen ist!« Er setzte sich in Bewegung, und Dawok folgte ihm zu dem Erdloch. »Verstehst du? Ich meine den Berg. Etwas steckt in ihm, was früher nicht da war. Ich weiß es seit heute nacht!« »Es ist also wahr?« stammelte Dawok. »Es gibt keinen Zweifel?« »Nein. Und nun will ich dir meinen Namen sagen. Ich bin Unfas. Du wirst wieder von mir hören, Dawok. Du bist ab sofort mein Mitwisser. Warte hier auf mich. Ich werde dir und deinen Affen
etwas zu essen bringen!« Der Heilige entfernte sich, und Dawok zog sich mit den Tieren in das Erdloch zurück. Er ist begabt, dachte er. Der Heilige hat die Affen an ihrem Geruch gefunden. Und er weißt etwas, was den Tieren entgangen ist. Also haben die Zweifler unter den Schatulla doch recht. Was wissen die Priester? Und warum tut der Heilige so heimlich? Nur langsam verstand der Bändiger, daß es erst recht am Heiligen Berg ein Sakrileg war zu zweifeln. Der Heilige mußte vorsichtiger sein als jeder Bewohner Schatullas. Langsam begann Dawok zu begreifen; worauf er sich eingelassen hatte. Dumpf ahnte er, daß die Vorgänge, die er mit eingeläutet hatte, auf eines hinausliefen. Auf große Umwälzungen im Land der Leronen, auf Veränderungen, die schlimmer waren als jeder Krieg.
2. Am Morgen des zweiten Tages erreichten sie einen kleinen See, dessen Wasser silbern zwischen den Büschen hindurchschimmerte. Die Leronen nannten ihn Silbersee, und sie umrundeten ihn. Gremen führte die beiden Götterboten zu einem Pfad und stieg mit ihnen hinauf zu einer Felskante, von der aus sie einen Blick hinab in das Tal werfen konnten. Der oberste Lehrer des Kriegshandwerks in Schatulla machte alle Zeichen der Reue. »Es ist nicht verboten, aber doch verpönt«, stellte er fest. »Der Blick hinab in das Tal sollte nur den Berufenen erlaubt sein. So jedenfalls sagen 88 die Priester. Aber kann das wirklich im Sinn LerOnts liegen?« Aufgcpaßt! meldete sich Atlans Extrasinn. Du kannst mit deiner Antwort viel bewirken. Im Guten wie im Bösen! Der Arkonide deutete hinab. Gulbert Leron warf seine ersten Strahlen in den westlichen Teil des Tales und ließ die gelbe und
orangene Pracht aufleuchten. »Dies ist ein Paradies«, erklärte er. »Es gibt keinen Grund, warum einem Leronen mit reinem Gewissen der Ausblick versperrt bleiben sollte. Du selbst hast uns berichtet, mit welchen Worten euer Volk die Entstehung eurer Welt beschreibt. Das dort ist der Heilige Berg, und wo könnte er anders stehen als gerade in diesem Tal. Vielleicht wissen manche Leronen die Gnade ihres Gottes nicht zu schätzen!« »Du sprichst mir aus dem Herzen!« Gremen machte wilde Bewegungen mit den sechsfingrigen Händen. »Du weißt gar nicht, wie sehr mich deine Worte erfreuen, Manache oder Atlan!« Er machte kehrt und eilte mit langen Sprüngen den Pfad hinab zu dem provisorischen Lager. Atlan und Mrothyr folgten ihm langsam, nachdem sie einen prüfenden Blick auf das Tal und den Berg geworfen hatten. Nichts dort unten und drüben gab einen Hinweis auf das, was sie vermuteten. Alles machte einen friedlichen Eindruck. Wenn der Erleuchtete in der Nähe war, dann hatte er sich gut getarnt. Chipol muß irgendwo sein, sagte der Extrasinn. Der Arkonide wandte noch einmal den Kopf zurück. Er hatte zwar Gestalten in dem Tal gesehen, jedoch keine, die nach Chipol aussah. Er setzte sich mit der STERNSCHNUPPE in Verbindung. »Ich habe die Jugendlichen bis vor kurzem als Wärmeechos auf meinen Geräten gehabt«, meldete das Schiff. »Jetzt sind sie verschwunden. Sie müssen sich zwischen den kalten Felswänden befinden, die das Tal umgeben.« »Noch keine psionischen Aktivitäten?« fragte Atlan. »Nichts. Im Tal wird gebetet und meditiert. Ansonsten gehen die Pilger nur ihren dringendsten körperlichen Bedürfnissen nach. Alles ist friedlich.« Der Arkonide überlegte. Es mußte eine Spur des Erleuchteten geben, wenn er in der Nähe war. Niemand wußte, worum es sich bei ihm wirklich handelte, aber er mußte feststellbar sein. Kein Wesen konnte sich so verstecken, daß es nicht irgendwann von
technisch hochwertigen Anlagen wie denen der STERNSCHNUPPE entdeckt wurde. Es lag allerdings im Bereich des Möglichen, daß der Erleuchtete Leron inzwischen verlassen hatte. Vielleicht war er durch den Ausfall des Pre-Los vorsichtig geworden und hatte seinen Stützpunkt im Leron-System aufgegeben. Vergiß nicht, daß von einer Brücke zum Erleuchteten die Rede war. Der Extrasinn faßte die Worte Traykons noch einmal zusammen. Eine Brücke bedeutet nicht, daß der Erbauer selbst anwesend ist. Du selbst hast an eine Art Relais gedacht! Atlan wußte es. Er und Mrothyr gingen nach wie vor davon aus, daß es auf Leron lediglich eine Spur gab, eine Anlage, die ihnen Hinweise auf den eigentlichen Aufenthaltsort des Erleuchteten lieferte. Auch die Tatsache, daß die Leronen sich mit Ungereimtheiten in ihrer Religion und Vorgängen am Heiligen Berg beschäftigten, bedeutete nicht zwangsläufig, daß der Erleuchtete direkt eingegriffen hatte. »Wie steht es mit den Leronen?« fragte er das Schiff. »Gibt es Spuren, daß der Erleuchtete sich von diesem Volk Psi-Potentiale beschafft hat?« »Nein!« erwiderte die STERNSCHNUPPE. »Es gibt keine Spuren. Die Leronen sind und waren psionisch nicht begabt. Vielleicht entwickeln sie die eine oder andere meditative Fähigkeit, aber es sind keine Potentiale vorhanden, wie sie der Erleuchtete benötigt. Es gibt auch keine Anzeichen für einen Diebstahl wie etwa auf Cairon. Es findet keine Rückentwicklung der leronischen Kultur statt. Das Gegenteil ist der Fall. Dieses Volk befindet sich an der Schwelle vom Jägertum zum Bauerntum, ist jedoch kulturell weiter fortgeschritten als es die durchschnittliche Entwicklung von Frühkulturen erwarten läßt. Diesem Volk steht eine glückliche Zukunft bevor, wenn es nicht zu schweren Rückschlägen kommt, etwa durch das Problem, das die Leronen zur Zeit mit ihrer Religion haben. Hier gibt es einiges zu tun!« Der Arkonide wußte um die Tragweite seiner Mission. Die
Leronen waren nicht in der Lage, ihn und seine Begleiter als Angehörige fremder Völker zu erkennen. Es gab keinen Platz in ihrem Weltbild, der ihnen ermöglicht hätte, den Kosmos über ihren Planeten und ihre Sonne hinaus zu erweitern. Es gab da noch das Himmelsgewölbe, an das die Sterne geheftet waren. Und in diesem abgeschlossenen System bildete Ler-Ont den Mittelpunkt. Atlan hatte sich viele Gedanken gemacht, wie sie sich diesem Volk gegenüber verhalten sollten. Es lag auf der Hand, daß sie ihm nicht die vorhandenen Illusionen raubten. Da es sich bei ihrem Unternehmen um etwas Positives handelte, hatte er auch keine Bedenken dagegen. Er fragte sich lediglich eines. Die Leronen erwarteten von ihm und seinen Begleitern, daß sie klare Antworten gaben und das rissig gewordene Gebäude ihres Glaubens nickten. Sie wollte, daß Manache ihnen zeigte, was die Wahrheit Ler-Onts war. In dieser Beziehung war der Arkonide ziemlich ratlos. Die Verantwortung wog schwer, aber er kam nicht darum. Die Landung auf Leron hatte ihn mitten in die Verantwortung gestellt. Die Ankunft der STERNSCHNUPPE hatte bei diesem Volk Dinge ins Rollen gebracht, an die keiner der Insassen auch nur im Traum zu denken gewagt hatte. »Der Roboter, dessen Name ich besser hier verschweige, will dir eine Beobachtung mitteilen, Atlan«, fuhr das Schiff fort. »Ich gebe sie dir weiter. Ich befinde mich etwa zwei Kilometer vom Tal entfernt. Das Amulett, das die Form des Heiligen Berges besitzt, reagiert. Ich kann nicht feststellen, warum es das tut. Über dem Amulett entstehen verschwommene Bilder, die Hologrammen ähnlich sind. Es ist nicht genau erkennbar, was sie darstellen. Aber wenn ich mich weiter vom Gottberg entferne, erlöschen sie. Vermutlich werden sie deutlicher, wenn ich näher herangehe.« »Das wirst du nicht tun«, sagte Atlan schnell. »Du bist unsere einzige Möglichkeit, Leron zu verlassen oder Hilfe herbeizurufen. Du darfst dich dem Heiligen Berg nicht weiter nähern. Der Erleuchtete würde dich wahrnehmen trotz des Deflektorfeldes.«
»Dann mußt du das Amulett abholen!« »Lande außerhalb des Bereichs, in dem die Leronen sich aufhalten. Wir werden zu dir kommen!« Der Arkonide sah Mrothyr an. Der Zyrpher winkte ungeduldig mit den Händen. »Voran, voran«, sagte er. »Ich kann es kaum erwarten, den Erleuchteten in meine Arme zu schließen und ihn kräftig an mich zu drücken!« Sie kehrten zum See zurück und schlugen sich in die Büsche. Das Schiff schickte ihnen einen Peilstrahl. Es war bis auf einen Kilometer herangekommen, eine gefährliche Distanz, wie Atlan fand. Als er auf die beschriebene Lichtung trat, erlosch das Deflektorfeld für kurze Zeit. Atlan und Mrothyr rannten auf die Bodenschleuse zu, während dicht hinter ihrem Rücken das Feld wieder entstand. Für einen zufälligen Beobachter mußte es aussehen, als seien die Götterboten vom Nichts verschluckt worden. Sie betraten die Zentrale, und Atlan nahm von Traykon das Amulett in Empfang. Jetzt, wo sich das Schiff dem Tal weiter genähert hatte, waren die Bilder über dem halbmondförmigen Gebilde schärfer und deutlicher geworden. Das Hologramm besaß etwa die Größe eines menschlichen Oberkörpers und etwa denselben Durchmesser. »Es sind einwandfrei Projektionen. Und sie hängen mit dem Tal zusammen. Es ist jedoch nicht erkennbar, worum es sich handelt!« Atlan sah Gestalten, die sich bewegten. Sie waren verschwommen, und sie bildeten schwarze Schatten vor einem grünen Hintergrund. Grün ist keine Farbe des Tales am Heiligen Berg! Das sah der Arkonide auch, aber es half ihm nicht weiter. Traykon reichte ihm das Amulett, und Atlan ließ es in seiner Kombination verschwinden. Das Hologramm erlosch in dem Augenblick, in dem er es in die Tasche steckte. »Vielleicht ist es eine Spur«, knurrte Mrothyr. »Es muß einfach so sein. Irgendwann macht der Erleuchtete Fehler, weil ihm die Erleuchtung ausgeht. Bei den Sanduhren dieses Planeten, die letzte
Sandzeit wird diesem Monstrum schlagen. Dafür sorge ich!« »Kehre wieder zurück auf deine ursprüngliche Position«, sagte Atlan zum Schiff. »Wir rufen dich, sobald es erforderlich ist.« Sie kehrten auf dem Weg zum See zurück, den sie gekommen waren. Gremen erwartete sie. Er hatte sie bereits gesucht. »Wir wollen aufbrechen. Die Wächter wissen zwar nicht Bescheid, daß eine so große Gruppe von Schatulla kommt, aber das macht nichts. Die Anwesenheit der Priester und Tempeldiener wird verhindern, daß sie uns Fragen stellen. Niemand außer mir weiß es, Atlan. Aber dir will ich es anvertrauen. So wahr du Manache Leron bist, es wird im Tal zu einer Offenbarung kommen. Du wirst erleben, wie sich Ler-Ont gegen die Priester stellen wird. Zwei meiner Verwandten halten sich mit größter Wahrscheinlichkeit am Heiligen Berg auf, mein Vetter und sein Sohn. Sie denken ähnlich wie ich, und sie sind nicht allein.« »Gut, wir werden sehen«, erwiderte der Arkonide. Sie brachen auf. Unter Gremens Führung suchten sie den Pfad am Osteingang auf und legten ihn in raschem Schrittempo zurück. Als die Wächter die riesige Schar kommen sahen, wichen sie zurück und griffen nach ihren Speeren. Dann erkannten sie die Priester und gaben den Weg frei. Von Atlan und Mrothyr sahen sie nicht viel, weil diese zwischen den Schatulla eingekeilt waren. So entging es ihnen, daß Fremde das Tal betreten hatten. Und das hätten sie auf alle Fälle den Heiligen und Pilgern melden müssen. Sie gelangten an den Saum aus Bäumen und Büschen, und Mrothyr deutete hinüber zum Berg, wo eine große Zahl von Baldachinen aufgestellt war, unter denen Leronen saßen oder lagen. Die Baldachine paßten sich in ihren Farben gut der Umgebung an. Aus der Luft war nicht erkennbar, daß sich im Tal lebendige Wesen aufhielten. Zudem beeinträchtigte das Leuchten der Pflanzen und ihre Wärmeabstrahlung die Ortung, so daß es nicht verwunderlich war, daß die STERNSCHNUPPE beim Anflug auf Leron nichts bemerkt hatte.
»Wir gehen hinüber zu einem der kleinen Zelte und bitten einen Heiligen um Unterstützung«, schlug Gremen vor. Atlan war einverstanden, und der Zug setzte sich in Bewegung und durchquerte das Tal. Atlan zog das Amulett heraus, und sofort baute sich das Hologramm über dem Halbmond auf. Die Bilder, die es lieferte, waren deutlicher als außerhalb des Tales. Der Arkonide zeigte es Mrothyr und deutete mit dem Kopf hinüber zum Heiligen Berg. Dorthin wollte er, und jetzt war er sich sicher, daß sich im Innern des Heiligen Berges etwas verbarg. Die Priester sanken zu Boden und berührten mit der Stirn das gelbe Gras. Die Tempeldiener taten es ihnen nach, und auch die übrigen Schatulla einschließlich Gremen folgten dem Brauch. Ein Singsang hob an, der alle aufmerksam machte, die sich im Tal unterwegs befanden. »Grüßt Ler-Ont. Bittet ihn um Nachsicht. Er wird uns verstehen!« hörte Atlan Gremen rufen. »Ler-Ont hat uns seine Boten geschickt!« »Ler-Ont«, brummte Mrothyr. »Ich habe .im Tempel sein Standbild gesehen. Aber wo ist. er hier? Wie kann Ler-Ont gegenwärtig sein?« »Sei still«, mahnte Atlan. Durch allzu große Unwissenheit durften sie nicht auffallen, sonst würden sie das Mißtrauen der Lerönen erregen. Er lauschte auf die Worte der Schatulla, und als sich die Priester erhoben und Platz machten, um Gremen den Vortritt zu lassen, da war sich der Arkonide endgültig über die Bedeutung des Berges klar. »Der Berg übt eine Doppelfunktion aus. Als Gegenstand ist er der Heilige Berg. Aber ist gleichzeitig auch die Inkarnation des Gottes. Der Berg ist Ler-Ont. Die Leronen beten einen Berg an, der dieselbe Form hat wie das Amulett.« »Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, murrte der Zyrpher. »Was jetzt? Ler-Ont oder der Erleuchtete?« »Beides. Die Kult um Ler-Ont ist einige tausend Jahre alt, aber die
Brücke zum Erleuchteten kann erst seit kurzem existieren. Der Erleuchtete hält sich nicht viel länger in Manam-Turu auf als wir. Allerdings stellt sich die Frage, warum er gerade hierher geflohen ist.« »Gut, gut. Und was unternehmen wir jetzt?« Leronen kamen ihnen entgegen, um sie zu empfangen. Sie führten sie das Tal entlang. Als sie den Arkoniden und den Zyrpher erblickten, erstarrten sie zur Unbeweglichkeit. Danach sanken sie zu Boden. Nur einer blieb stehen, und er trat unter mehreren Verbeugungen zu ihnen und führte sie zu einem der großen Baldachine hinüber. »Ich bin Unfas, der Heilige«, stellte er sich vor. »Ich habe mit Chipol gesprochen. Es ist mir gelungen, ihn und seine Begleiter zu verstecken. Ich werde euch zu ihm bringen, während sich meine Freunde um die Schatulla und ihre Priester kümmern. Schweigt jetzt. Wir haben von den Jugendlichen erfahren, was sich in der Stadt über dem Vulkan abgespielt hat!«
* Die drei Jugendlichen machten sich sofort mit Chipol auf. Hätten sie kurze Zeit gewartet, dann wären sie von Gremen und seinem Gefolge eingeholt worden. So aber rechneten sie nicht damit, daß die Schatulla vor Mittag oder Abend am Heiligen Berg eintreffen würden. »Dort!« Gardra deutete den Pfad entlang, wo sich die Stämme mehrerer Bäume erhoben. Zwei Wächter in grauen Röcken standen dort. Sie hatten ihre Bogen umgehängt und hielten lange Speere in den Händen. Sie hatten die Ankömmlinge bereits entdeckt. »Wächter!« erkannte der junge Daila. »Sie machen einen grimmigen Eindruck!« »Das tun sie immer.« Segon lachte. »Sie wollen die Pilger
einschüchtern, damit diese sich ruhig und gemessen verhalten. Tun wir es ihnen nach!« Er setzte eine würdevolle Miene auf und schritt ihnen mit stelzigem Gang voran. Die Wächter ließen nicht erkennen, ob sie sich dadurch auf den Arm genommen fühlten oder nicht. Die Spitzen ihrer Speere senkten sich nach unten und deuteten auf die Ankömmlinge. Dicht vor den beiden Leronen blieben die Jugendlichen stehen. »Ihr seht nicht danach aus, als würdet ihr eine Legitimation besitzen«, brummte einer der beiden Wächter. »Kehrt um, bevor ihr Ärger bekommt!« Gardra trat ein wenig zur Seite und deutete auf Chipol. »Er ist Legitimation genug, Alter«, sagte sie und machte sich zunutze, was sie von den Vorgängen in und um Schatulla mitbekommen hatte. »Sieh dir nur seine Augen an. Er ist der Wagenlenker von Gulbert Lerons Feuerwagen!« Der Wächter riß den Mund auf. Sein Kollege tat es ihm nach. Erst jetzt wurden sie sich der Fremdartigkeit Chipols bewußt. Sie wichen langsam zurück. »Bei Manache und Gulbert!« ächzten sie. »Wer ist das? Was ist das? Ler-Ont steh uns bei!« Sie wandten sich um und rannten laut schreiend davon. Gardra lächelte. »Seht ihr? Niemand hält uns auf. Kommt, wir wollen uns beeilen. Bald wird es einen Auflauf geben. Man wird dich zum Schauobjekt machen wollen, Chipol!« »Wenn es weiter nichts ist«, erwiderte der junge Daila und dachte an sein eigentliches Vorhaben. Zusammen mit den drei jungen Schatulla wollte er herausfinden, wo sich der Erleuchtete verbarg oder wo sich seine Spur befand. Während es den drei Schatulla jedoch darum ging, den Zusammenhang zwischen ihrer Religion und einer Fremdeinwirkung herzustellen, hatte Chipol ein weit größeres Anliegen. Er wollte den Erleuchteten fangen und damit
eine ganz bestimmte Wirkung erzielen. Sein Leitgedanke war es auch gewesen, der ihn dazu veranlaßt hatte, sich so rasch den drei Jugendlichen anzuschließen und mit ihnen zum Heiligen Berg zu gehen. Chipol war ein Alleingelassener. Der Erleuchtete hatte ihm seine gesamte Familie entführt. Mit einem riesigen schwarzen Etwas war er nach Joquor-Sa herabgestiegen und hatte sie entführt, nur ihn hatte er zurückgelassen. Weil er keine Psi-Potential besaß, wie der Daila inzwischen wußte. Jetzt, wo die Hinweise auf den Feind so deutlich geworden waren, daß sie von niemand übersehen werden konnten, stieg auch die Hoffnung in Chipol wieder. Alles, was er in den vergangenen Monaten verdrängt oder vergessen hatte, war ihm wieder gegenwärtig. Er schloß die Augen und sah sie alle vor sich: Dharys, den Vater, die Geschwister und Verwandten und auch die Mutter. Zu seiner Mutter hatte der Daila eigentlich noch das beste Verhältnis gehabt. Insgesamt jedoch war er von allen Mitgliedern der Familie immer als schwarzes Schaf behandelt worden. Sie alle verfügten über Psifähigkeiten, nur er nicht. Diese Fähigkeiten hatten dazu geführt, daß man die Familie Sayum von der Heimatwelt Aklard verbannt hatte. Dort waren Psioniker nicht erwünscht, da sie erfahrungsgemäß viel Unheil und Verwirrung stifteten. Also hatten sich die mutierten Daila teilweise freiwillig auf fremde Welten begeben und sich dort niedergelassen oder um Asyl nachgesucht. In allen bisher bekannten Fällen hatte sich ihr Wirken dort zum Wohl der eingesessenen Völker ausgewirkt. Die Daila-Mutanten hatten sich in die Auseinandersetzung gegen die Ligriden eingeschaltet, und das Auftauchen des Gesandten von Trysh auf Aklard hatte den endgültigen Aufbruch der Mutanten eingeläutet. Mit dem Unterschied, daß es kein Aufbruch von Aklard war, sondern ein Aufbruch nach Aklard. Die Heimatwelt, an der alle Daila mit großer Intensität hingen, durfte auf die Unterstützung und Hilfe der Verbannten hoffen. Chipol distanzierte sich unterbewußt von allem, was mit Psi zu
tun hatte. Er besaß eine Aversion dagegen. Er konnte nichts dagegen tun, es steckte zu tief in ihm drin. Manchmal jedoch wünschte er sich auch, daß er selbst solche Fähigkeiten besäße. Wenn er es sich wünschte, dann dachte er an seinen Vater, der ihn nie richtig für voll genommen hatte. Dharys würde ihn endlich als vollwertigen Sohn anerkennen. Aber war es das wert? Während Chipols Augen zwischen den Bäumen über das Tal streiften und die leuchtende Pracht in den hellen und lieblichen Farben in sich aufnahmen, zweifelte er daran. Er konnte und wollte nicht über seinen Schatten springen. Er verstand seinen Vater und trug ihm fast nichts nach. Aber er wollte auch nicht, daß es so würde wie früher, als er von allen nur gehänselt worden war. Sie erreichten das Ende des Baumbestands, der sich ringsum am Talrand entlangzog. Drüben, etwa fünfzig Manneslängen entfernt, standen die Baldachine, und hinter ihnen erhob sich der Berg mit seinen steilen, unüberwindbaren Hängen. Der Heilige Berg war ein Tafelberg, wie Chipol bereits aus der STERNSCHNUPPE heraus festgestellt hatte, und seine Oberfläche bestand aus einem Gewächs mit schwarzen Blüten. Es mußte dort seit Urzeiten wachsen, und niemand konnte an es heran. Rufe eilten durch das Tal. Die Jugendlichen sahen, wie die beiden Wächter in entgegengesetzten Richtungen davonrannten. Sie brüllten etwas, was der Daila nicht verstand. Sie schrien etwas von einem Weltuntergang, wie Gardra sagte. »Sie meinen dich«, sagte sie. »Du wirst bald zum Zankapfel im Tal werden. Wie willst du dich darstellen? Als Wagenlenker?« Chipol dachte nach. Er ertappte sich wieder einmal dabei, daß er sich in die Gedanken Atlans zu versetzen suchte und sich fragte, wie der Arkonide in einer solchen Situation handeln würde. Er dachte daran, daß die Leronen sich nicht vorstellen konnten, daß es ein weites Weltall gab, in dem viele Planeten von vielen unterschiedlichen Völkern bewohnt waren. Sie würden es ihm nicht glauben, und so blieb er bei dem, was er auch den drei Jugendlichen
schon plausibel zu machen versucht hatte. Unter den Baldachinen erschienen die ersten Gesichter. Leronen mit verschieden bunten Röcken tauchten auf. Sie blickten sich verwundert um, dann erkannten sie die vier Gestalten, die langsam in das Tal hineinschritten. Von irgendwoher kam ein Pfiff. Die beiden Wächter blieben stehen. Sie drehten sich um, dann kehrten sie zurück und suchten auf dem schnellsten Weg ihren Posten am Taleingang wieder auf. »Wir bekommen Besuch«, stellte Segon fest. Er deutete mit zwei Fingern nach vorn, wo ein Mann das Tal durchquerte. Er kam ihnen entgegen, und die Jugendlichen blieben stehen. Chipol richtete sich nach ihnen, um nicht unangenehm aufzufallen. Der Lerone erreichte sie. Er riß die Augen auf, dann machte er mit den Händen fahrige Bewegungen an Stirn und Brust. »Fremder, wir wissen deine Macht zu schätzen«, stieß er hervor. »Aber warum suchst du dir ausgerechnet unser Tal aus? Warum verbirgst du dich nachts in diesem Berg, der die Wohnstatt unseres Gottes ist? Warum läßt du es zu, daß der Berg Blasen wirft? Willst du alles zerstören, was unsere Kultur am Leben erhält?« »Das ist der Lenker von Gulberts Feuerwagen!« rief Gardra aus. »Du mußt es doch erkennen, Heiliger!« Es schien, als glaubte sie tief in ihrem Innern doch noch an diese Geschichte. »Ich bin Unfas«, stellte sich der Lerone vor. »Ich gehöre dem Stamm der Gresti-Leronen an. Ich habe wenig Zeit, denn ich habe gestern eine Gruppe von Pilgern erhalten, die ich in die Meditation einweisen muß. Wer bist du, Wesen in fremder Gestalt? Wo lebst du? Gibt es hinter dem Ozean doch noch ein anderes Land?« »Nein«, sagte Chipol. »Das Land, das du meinst, existiert nicht. Es gibt nur das Land, auf dem die Leronen leben. Ansonsten besteht Leron aus einem einzigen Ozean.« Unfas nickte. »Und weiter?« fragte er. »Was ist darüber? Dort draußen, woher
das Licht kommt?« Chipol schluckte. Er mußte vorsichtig sein. Der plötzliche Themenwechsel des Heiligen hatte ihn bereits stutzig gemacht. »Dort zieht Gulbert Leron seine Bahn. Und früher gab es auch Manache«, sagte er. »Und wir, Atlan, Mrothyr und ich, sind mit einem Himmelswagen herabgekommen, um etwas zu suchen. Wir hoffen, es hier zu finden. Es ist etwas Fremdartiges, es ist ein Feind. Und deine Worte zeigen mir, daß du etwas weißt. Was geht in dem Berg vor? Ich bin es nicht, der nachts darin haust. Aber du hast festgestellt, daß da etwas ist?« »Nein«, sagte Unfas knapp. »Du mußt dich verhört haben. Es ist nichts, worüber wir zu sprechen' hätten. Folgt mir in mein Zelt, dort können wir besser reden!« Er wandte sich um und rief den neugierig gewordenen Leronen etwas zu. Sie wandten sich langsam ab, aber sie blieben in sicherer Entfernung stehen und beobachteten, wie der Heilige mit den Jugendlichen und dem Fremden durch das Tal zu seinem Zelt schritt. Es fiel auch ihnen auf, daß er sich immer bemühte, die jugendlichen Schatulla zwischen sich und dem seltsamen Wesen zu halten. Und sein Gang war auch schon sicherer gewesen. Unfas führte sie in sein Zelt und verschloß den Eingang. »Hör mich an, Unfas!« platzte Gardra heraus. Der Heilige schüttelte mit den Händen. »Leise!« mahnte er. »Außerhalb des Zeltes darf kein Ton zu hören sein!« Er schloß die Augen, während Gardra zu erzählen begann. Sie berichtete von ihrem eigenen Verdacht und ihrem Vorhaben, LerOnt zu befragen. Sie schilderte aus ihrer Sicht die Ankunft des Himmelswagens mit den drei Fremden. Sie redete über ihr Vordringen in Gremens Haus und über das, was sich daraus entwickelt hatte. Und sie vergaß nicht, das sprechende Ungetüm zu schildern, das vor den Toren Schatullas gelegen hatte. »Sie sind hierher unterwegs«, endete sie. »Alle Priester und
Tempeldiener der Stadt, Gremen, Atlan und Mrothyr und ein Haufen Krieger. Alle wollen sie zum Heiligen Berg, und alle sind entschlossen, das Rätsel zu lösen, das die Widersprüche in unserer Religion umgibt. Und wir hoffen, daß wir dabei helfen können!« »Es ist gut«, sagte Unfas. »Laßt mich nachdenken!« Sie schwiegen eine Weile, und dann öffnete der Heilige blitzschnell die Augen und sah Chipol an. »Du bist kein Lerone. Es gibt aber da draußen keine Welten wie Leron. Du sagst, du kommst aus den Lüften. Ich bin fast geneigt, dir zu glauben. Aber warum weiß unser Volk nichts von jenen Wesen, die in der Luft zwischen der Welt und der Bahn Gulbert Lerons leben? Wie leben sie, und welcher Zusammenhang existiert zwischen ihnen und uns? Seid ihr tatsächlich Götterboten, oder etwa Feinde? Seid ihr für das Verschwinden Manache Lerons verantwortlich?« »Nein. Aber wir können vielleicht Aufklärung geben, wo Manache Leron geblieben ist«, erwiderte der junge Daila. »Ich bin noch ein Jüngling wie diese beiden hier.« Er deutete auf Segon und Tifir. »Du sprichst besser mit Atlan und Mrothyr darüber. Oder mit der STERNSCHNUPPE!« Wieder schloß Unfas die Augen. Chipol kannte das Verhalten eines Wesens zu genau, um nicht zu wissen, daß Unfas sich jetzt in Trance zu versetzen versuchte. War der Heilige ein Mutant? Chipol begann selbst mit der inneren Erforschung. Er verneinte die Frage. Er verspürte keinerlei Abneigung gegen den Leronen, die ihm mit Sicherheit gekommen wäre, wenn es sich bei Unfas um einen Mutanten gehandelt hätte. Etwa eine halbe Sandzeit rührte sich der Heilige nicht. Dann erhob er sich abrupt. »Du sprichst die Wahrheit«, sagte er. »Zumindest glaube ich das zu erkennen. Eines weiß ich jedoch mit Sicherheit. Du hast nichts mit den Vorgängen im Heiligen Berg zu tun. Du gehörst nicht zu dem Unfaßbaren, das Ler-Ont zu schaden versucht.«
Chipol atmete auf. Er hatte keine Ahnung, wie der Heilige das feststellen konnte. Er dachte flüchtig an Cairon und die Begabung der Bathrer. Er verwarf den Gedanken wieder. Es gab keine Gemeinsamkeit mit den Leronen. Es mußte sich um eine latente präkognostische oder postkognostische Fähigkeit des Heiligen handeln. »Ich habe soeben auch etwas anderes entdeckt«, verkündete Unfas. »Gremen und seine Begleiter sind da. Sie bewegen sich bereits durch den Osteingang und werden in wenigen Sandkörnern bei den Wächtern auftauchen. Damit gerät endgültig alles ins Rollen. Es ist gut, daß es so kommt. Ich kann nur nicht versprechen, was daraus wird. Ich selbst habe Beobachtungen gemacht und unterstütze Männer wie Gremen. Auch Jugendliche wie euch, die nach den Hintergründen fragen und keine oberflächlichen Gläubigen sind. Wir sind jedoch nicht allein, und die Unruhe im Tal darf eine gewisse Grenze nicht überschreiten. Zu unseren heiligsten Pflichten gehört es, die Meditationen aufrechtzuerhalten und LerOnt unseren Glauben in gleichmäßiger Weise zuteil werden zu lassen. Dies ist eines der Grundbedürfnisse unserer Existenz. Es war schon immer so und wird immer so bleiben. Dies sage ich euch. Begleitet mich jetzt nicht. Ich werde ihnen allein entgegengehen und sie später zu euch führen. Wartet hier.« Er erhob sich und trat zum Ausgang. Unter der Zelttür wandte er sich nochmals um. »Dein Vater ist im Tal, Segon«, flüsterte er. »Du wirst ihn bald zu sehen bekommen. Er hält sich versteckt, denn er hat die Affen bei sich!« »Die Spüraffen?« rief der Junge aus, aber da hatte sich der Ausgang bereits geschlossen, und sie hörten die sich entfernenden Schritte. Segon war mit einemmal ganz aufgeregt. »Die Affen sind im Tal. So etwas hätte es früher nicht gegeben. Wißt ihr, was das bedeutet? Die Zeiten ändern sich. Ich spüre es deutlich. Es gibt in den nächsten Sandzeiten und Tagen eine
gewaltige Umwälzung auf Leron. Die Affen sind das sichere Zeichen. Wenn Dawok mit den Affen ins Tal kommt, dann sind die Zweifel der Erwachsenen so groß geworden, daß es nicht bei einem kleinen Gewitter bleiben wird. Glaubt es mir, Gardra und Tifir, aber auch Chipol. Wir müssen sehr stark sein, um das alles zu überstehen!« Die Schatulla schwiegen bedrückt. »Ich glaube dir, Segon«, sagte Chipol leise. »Ich stimme mit dir überein. Wenn Atlan, Mrothyr und ich hier finden, wonach wir suchen, dann wird es auch an den Leronen nicht vorbeigehen. Ihr Glaube wird erschüttert werden. Betet zu Ler-Ont, daß alle Leronen es unbeschadet überstehen!« Er nestelte an seiner Kombination und zog einen kleinen Stift hervor. Der Stift begann zu leuchten. Er erhellte das Zelt, als schiene Gulbert Leron persönlich zwischen den Zeltstangen. Die jungen Schatulla folgten dem Vorgang mit weit aufgerissenen Augen. »Bist du ein Zauberer?« fragte Gardra leise. »Wirst du etwas Böses tun?« Chipol lachte. »Es ist etwas Gutes, was ich tue«, versicherte er. »Der Leuchtstab gehört zur Ausrüstung unseres Himmelswagens. Es ist ähnlich, wie wenn ihr Phosphor in einen durchsichtigen Behälter gebt. Wenn Luft daran kommt, beginnt er zu leuchten.«
* Unfas ließ den Baldachin räumen, und nachdem er den beiden Fremden einen Platz angeboten hatte, bildeten die Schatulla mit Gremen einen weiten Kreis um sie herum. Sofort ergriff der oberste Lehrer des Kriegshandwerks von Schatulla das Wort und erzählte von den Lügen der Priester und ihren Taten, die sie im Tempel begangen hatten. Unfas hörte ihm eine Weile zu, dann schnitt er ihm
das Wort ab. »Das alles dürftest du gar nicht wissen«, erklärte er laut, so daß es alle Krieger hörten. Die Priester und die Tempeldiener waren unter einen anderen Baldachin gebracht worden, wo die Leronen sie bewirteten. »Es sei denn, du zähltest dich selbst zu den Verschwörern, die alle Schatulla verunsichern und ein Chaos schaffen, das verhängnisvoll werden kann.« »Ler-Ont bewahre!« rief Gremen hastig aus. »So ist das nicht gemeint, Heiliger. Nein, ich weiß es, weil ich mit meinen Kriegern unter dem Tempel war und dort Dinge gesehen habe, die noch nie ein Lerone vor mir gesehen hat. Die Priester haben einen Gresti zu Tode gefoltert, und das kann dir nicht gleichgültig sein, Unfas, da du selbst zu diesem Stamm gehörst. Und sie haben versucht, sich an den Götterboten zu vergreifen!« »Die Götterboten, ja, ja!« Die Augen des Heiligen richteten sich durchdringend auf Atlan und Mrothyr. »Glaubt mir, vieles wäre einfacher, wenn wir tatsächlich wüßten, daß ihr Boten Ler-Onts seid und nicht nur fremde Wesen, die zwischen uns und Gulbert in der Luft wohnen und mit Himmelswagen unter dem schwarzen Gewölbe entlangrasen!« »Unfas!« stieß Gremen hervor. »Was redest du da? Du bist ja fast noch schlimmer als ich!« »Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe mit Chipol und den drei jungen Schatulla gesprochen. Chipol hat mir einiges erzählt, was mich nachdenklich gemacht hat.« Er beugte sich nach vorn und zog einen der Teppiche ein wenig zur Seite. Darunter befand sich Sand, und er zeichnete einen Kreis in den Sand, aber der Kreis war durchbrochen. Er besaß ringsherum mehrere Lücken. »Das Himmelsgewölbe«, sagte der Heilige. »Ich habe die Sterne nicht eingezeichnet, wohl aber die Lücken. Sie sind wie Nasenflügel, mit denen unsere Welt atmet. Niemand weiß, ob es sie gibt oder nicht. Die Priester verleugnen es. Für sie ist unser Weltgebäude zu
sicher und seine Überlieferung zu alt, als daß sie angezweifelt werden könnte. Aber es gibt die Gedanken, und Gedanken sind frei. Ich bin ein Heiliger, gefestigt in meiner Religion. Wenn ich zu einer Erkenntnis gelange, dann hat es seine Gründe. Ich bin deshalb kein Zweifler oder Ketzer. Ich frage nur, weil mich etwas beschäftigt, und ich frage Ler-Ont und hoffe, daß er mir eine Antwort gibt. Ich bin wirklich fast schlimmer als du, Gremen. Doch denke dir nichts dabei.« Er wandte sich wieder Atlan und Mrothyr zu. »Ist es denkbar, daß Ler-Ont euch eingeatmet hat und ihr von der Außenseite des Himmelsgewölbes kommt?« »Es ist denkbar«, sagte Atlan vorsichtig. »Und du willst wissen, wie du dir das vorstellen sollst. Ich versuche, dir zu helfen. Du hast einen Kreis gezeichnet. Die Leronen nehmen an, daß das Himmelsgewölbe Kugelform hat, und sie stützen sich auf eigene Beobachtungen, die vielleicht vor langer Zeit schon gemacht worden sind und fest zur Religion und ihren Aussagen gehören. Ich weiß, daß ihr auch euren Planeten als etwas Rundes begreift, eine Kugel aus Wasser, in der als Insel euer Land schwimmt. Wenn das Himmelsgewölbe rund ist und Durchlässe hat, was liegt näher, als sich vorzustellen, daß da draußen Luft ist. Ler-Ont, eure Welt, atmet diese Luft ein. Und wir, die wir mit dem Himmelswagen gekommen sind, leben in dieser Luft.« »Hat Ler-Ont euch gerufen?« fragte Gremen seltsam scharf. Er hielt den Kopf gesenkt, als lausche er in sich hinein. »Was hat er euch gesagt, als er euch schickte?« »Schweig!« herrschte Unfas den Lehrer an. »Wie willst du etwas beurteilen, was dein Vorstellungsvermögen übersteigt? Ob Götterboten oder Wächter des Kosmos, das spielt keine so große Rolle. Ihr seid gekommen, weil ihr im Heiligen Berg etwas vermutet, was nicht mit Ler-Ont zu tun hat. Und ich denke, daß es das ist, was die Ursache bildet, daß es in letzter Zeit so viele Zweifler in unserem Volk gibt. Gremen gehört dazu. Er zermartert
sich das Gehirn, wie die Widersprüche zu erklären sind. Er traut den Priestern nicht, und im Augenblick beginnt er daran zu zweifeln, ob ihr wirklich Götterboten seid. Ich vertraue euch zunächst, doch es wird sich zeigen, wer die Wahrheit sagt. Ihr oder unsere Priester.« »Du bist ein weiser Mann, Unfas«, mischte Mrothyr sich ein. »Aber auch wir sind nicht auf den Kopf gefallen. Es soll nur einer kommen und behaupten, daß wir die Unwahrheit sagen. Ich werde ihn eigenhändig verprügeln, daß er hinterher nicht mehr weiß, wie er heißt. Ich bin gerade aufgelegt für eine ordentliche Rauferei. Hat keiner von euch Lust!« Atlan wollte etwas sagen, aber er sah das feine Lächeln in dem puppenhaften Gesicht des Zyrphers und schwieg. Gremen stand auf. »Wir reden über Dinge, über die es nichts zu sagen gibt«, meinte er. »Selbst wenn ich ein Zweifler wäre, meine religiöse Überzeugung ist so gefestigt, daß sie nicht an unserem Universum rüttelt. Ler-Ont wird alle bestrafen, die so etwas absichtlich oder aus Überzeugung tun. Wir sind gekommen, um zu Ler-Ont zu beten und ihn zu bitten, uns unsere Fragen zu beantworten. Wir haben nicht viel Zeit, und wir hofften, daß die Götterboten uns helfen würden. Ja, so ist es. Atlan, Mrothyr, folgt mir. Wenn ihr Manache und Gulbert Leron seid, dann wird es euch nicht schwerfallen, die Priester zu entlarven. Mit Ler-Onts Kraft werden sie ihre Fehler bekennen.« Unfas sprang auf. »Ich führe euch Schatulla zu einem Heiligen, der bereit ist, mit euch zu meditieren!« rief er aus. »Um die Priester kümmern wir uns bereits. Macht euch um sie keine Gedanken. Konzentriert euch auf das, was ihr Ler-Ont fragen wollt!« Er eilte ihnen voraus in das Tal hinein. Atlan blickte ihnen nach. Er war nachdenklich geworden. Auch Mrothyr war mit dem Ergebnis der Unterhaltung nicht ganz zufrieden. »Gremen ist mißtrauisch geworden. Woran liegt es?« »An Unfas«, sagte der Arkonide. »Der Heilige war etwas zu
stürmisch in seinen Äußerungen. Er hat die Bahnen des im Tal Gewohnten verlassen. Gremen hat das erkannt und reagiert allergisch darauf. Womöglich macht er sich Gedanken darüber, ob wir Unfas beeinflussen. Wir werden mit dem Heiligen ein ernstes Wörtchen reden müssen. Vor allem aber müssen wir mit Chipol sprechen. Ich habe das Gefühl, er hat einiges ausgeplaudert, was uns nicht recht sein kann. Doch komm. Dort beginnt der Berg!« Atlan zog das Amulett aus der Tasche. Sofort baute sich das Hologramm auf, und der Arkonide vernahm ein leises Wispern, das aus der Projektion kam. Es gehörte zu einer Stimme. Hastig bewegte er sich auf den Berg zu. Das Wispern wurde lauter und deutlicher, er konnte jetzt zwei Stimmen unterscheiden. Auch die Bilder waren so deutlich wie nie zuvor. Wenn er sich ein Stück vom Berg wegbewegte, wurde das Wispern leiser. »Das ist der Beweis!« flüsterte er. »Es reagiert mit etwas, was in diesem Berg steckt. Der Berg ist das Relais. Er ist die Brücke zum Erleuchteten. Über ihn kommuniziert dieses Wesen mit seinen Untergebenen. Wir haben die Spur. Sobald wir die Zeit dazu haben, müssen wir nach einem Eingang in den Heiligen Berg suchen.« Er trat ganz nahe an die Steilwand heran und heftete seine Augen auf das Hologramm. Er konnte jetzt einzelne Gestalten unterscheiden und die Umgebung genau erkennen, in der sie sich bewegten. Und er verstand die Worte, die sie sprachen. Der Translator übersetzte sie einwandfrei. Und plötzlich begriff Atlan, wer da sprach. Aus dem Zusammenhang ging es einwandfrei hervor. »Halt die Luft an, Mrothyr«, zischte er. »Es ist der Erleuchtete persönlich, der sich unterhält. Über diesen Berg spricht er zu den anderen. Es müssen Hyptons sein. Ja, es gibt keinen Zweifel. Der Erleuchtete unterhält sich mit diesen Wesen!« Sie wußten inzwischen, daß die Hyptons und der Erleuchtete an einem Bündnis arbeiteten. Die Hyptons hielten Anima als Gefangene, um dieses Bündnis zu erzwingen.
Atlan fragte sich, ob es Zufall war, daß ausgerechnet Traykon das Amulett mitgebracht hatte, mit dem diese Brücke zum Erleuchteten angezapft werden konnte. Fast erschien ihm der Zufall zu zufällig. Das Amulett reagierte auf die Vorgänge im Innern des Berges, es bestand also ein enger Zusammenhang. Oder war das nur Einbildung? Hatten sie ganz einfach Glück? Die Frage läßt sich nicht beantworten, solange du nicht weißt, woher die Piraten das Amulett hatten. Vielleicht haben sie es unwissentlich einem Diener des Erleuchteten abgenommen. Geräusche unter dem Baldachin lenkten Atlan ab. Er wandte sich um und sah Unfas. Der Heilige eilte mit langen Schritten herbei. Er starrte auf das Hologramm. »Es sind Bilder aus dem Berg, ja?« fragte er. »Ihr habt die Mittel, sie sichtbar zu machen. Ihr seid tatsächlich mächtige Wesen, und ich wünschte mir nichts lieber, als daß tatsächlich Ler-Ont euch geschickt hätte, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.« »Es ist denkbar, daß er uns nicht direkt den Auftrag gegeben hat«, wich Atlan aus. »Aber nimm einmal an, daß er unsere Wege absichtlich so gelenkt hat, daß wir auf euch stießen. Nun sind wir dabei, das Rätsel um den Inhalt des Berges zu begreifen und dann zu lösen.« »Es ist also tatsächlich etwas Fremdes in Ler-Ont!« Der Heilige atmete schwer. »Ich weiß es. Ich bin der stärkste Meditierer im Tal, und ich habe nachts in Trance Beobachtungen gemacht, die mich zu demselben Schluß kommen ließen. Ich war hilflos, ich konnte nur beobachten. Ich habe Ler-Ont angefleht, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt noch die Kraft hat, mich und die übrigen Beter zu hören.« Er teilte ihnen mit, welche Wahrnehmungen er gemacht hatte. Atlan und Mrothyr staunten über die Sicherheit, mit der er von Dingen sprach, die andere Leronen geistig nicht einmal erfassen konnten. Unfas war einer derjenigen Leronen, die als Beispiele für die rasante Entwicklung des gesamten Volkes gelten konnten. Es
würde nicht mehr lange dauern, ein paar hundert Jahre vielleicht, dann würde das gesamte Volk mit allen seinen Stämmen endgültig seßhaft sein. Eine neue Kulturstufe würde dann beginnen, und der Planet würde sich rasch entwickeln. »Warte!« sagte Atlan leise. »Wir müssen wissen, was das Hologramm uns erzählt. Danach wollen wir Chipol aufsuchen!«
* Erstes Hologramm Nokyart zuckte zusammen und preßte sich eng in den Sitz, der viel zu groß für ihn war. »Was ist …«, ächzte er. »Warum …« »Ich bin es«, sagte die Stimme. »Du hast geträumt, und ich habe dich geweckt!« Mühsam orientierte sich Nokyart. Er hatte die Stimme erkannt und beruhigte sich langsam wieder. Die wuchtigen Bänke vor seinem Sessel waren von Lichtern bedeckt, die in rasendem Tempo blinkten und ihre Farbe änderten. Die Sirenen blieben still, die Lichter waren in Ordnung. »Ich wollte nicht schlafen, Erleuchteter«, erklärte Nokyart. »Ich wollte an meinen Namen denken. An meinen richtigen Namen. Du weißt ihn. Warum sagst du ihn mir nicht?« »Wozu? Du bist Nokyart. Du wurdest umgedreht. Deshalb wurde auch der Name umgedreht, den ich dir gab. Du bist ein Intelligenzwesen, dessen eigentlicher Name nichts zur Sache tut. Er würde dich nur von deinen Aufgaben ablenken.« »Du hast recht. Das Nachdenken hat mich bereits von einigen Dingen abgehalten. Vielleicht würde es besser, wenn du mir sagst, wie ich einst geheißen habe.« »Irgendwann in der Zukunft wirst du ihn vermutlich erfahren. Vorher nicht. Er ist zu verräterisch. Du weißt, daß ich Rücksichten
nehmen muß. Manam-Turu ist nicht Alkordoom. Du darfst die Hyptons und ihre Helfer nicht vergessen!« »Ja, Erleuchteter!« Nokyart resignierte. Er beugte sich ein wenig vor und aktivierte einen Speicher. Er rief seinen Inhalt ab und stellte verbittert fest, daß dieser sich nicht geändert hatte. Es gab keine neuen Hinweise. »Nichts«, stieß das Wesen hervor. »Deine Helfer haben nichts zu Wege gebracht.« »Du auch nicht. Du kennst die Strafe, wenn du versagst. Ich muß wissen, was sich ereignet hat. Die Hyptons sind kleine Fische im Vergleich mit Anima und Atlan.« Nokyart lauschte auf die Stimme des Erleuchteten. Sie war härter geworden. Härter und kälter. Dem Prüfer in seiner Raumstation lief ein eisiger Schauer über den ganzen Körper und machte seine Gliedmaßen für kurze Zeit unbeweglich. Er wußte, daß das nicht normal war. Er fragte sich jedesmal, wenn es geschah, was mit seinem Körper los war. Und er fürchtete sich vor der Antwort. »Die Aktion des Pre-Los gegen Atlan war ein Fehlschlag«, fuhr der Erleuchtete fort. »Ebenso versagte es gegen Anima. Ich konnte sie nicht aus der realen Zeitebene vertreiben, in der wir uns befinden. Weißt du, was das heißt, Nokyart?« »Nein«, entgegnete der Prüfer ehrlich. »Du hast es mir nie gesagt!« »Das Pre-Lo hat sich seither nicht mehr gemeldet. Es ist unauffindbar. Keiner der Sucher hat es gefunden. Es liegt nahe, daß das Pre-Lo selbst das Opfer der Falle geworden ist. Es muß in eine andere Zeit geschleudert worden sein.« »Es gibt keine andere Erklärung«, pflichtete Nokyart bei. »Aber was ist mit Traykon-6 geschehen? Er war als einziger übrig und befand sich in der Begleitung des Pre-Los. Warum hat keiner ihn gefunden?« »Vielleicht wurde er bei dem Versuch vernichtet, dem Pre-Lo zu
helfen. Es gibt viele Möglichkeiten. Es kann auch sein, daß er sich heimlich an Animos Fersen geheftet hat.« »Anima ist ein Wesen wie ich? Ich habe auch Fersen!« Der Erleuchtete lachte dröhnend. »Was weißt du schon von Lebewesen. Du hast nur mit Robotern zu tun. Anima hat Fersen. Hoffentlich nicht mehr lange. Anima hat viel zu lange gelebt.« »Länger als du?« »Was spielt es für eine Rolle. Ich würde tausend Jahre darum geben, wenn ich jetzt ihren Aufenthaltsort wüßte. Nein, zehntausend. Sie bedeuten mir nichts, aber Animas Tod bedeutet mir alles. Frage nicht, warum das so ist, Nokyart. Ich will nicht, daß mich deine Fragerei in Wut versetzt. Sonst …« Er ließ den Satz offen, aber mit Hilfe der Einrichtungen der Kontakt- und Augenzelle zerquetschte er den Sessel, der sich neben dem befand, in dem Nokyart saß. Der Prüfer machte sich noch kleiner, und der Erleuchtete amüsierte sich über ihn. Er lachte. »Wurm. Wovor hast du Angst? Du kannst doch nichts dafür, daß es so viele Fehlschläge gab.« »Das ist richtig. Ich sitze nur hier und prüfe. Eigentlich bin ich ein Sammler, denn hier in OLAGREV laufen viele Informationen zusammen. Eigentlich alle, die mit der 100-Lichtjahre-Raumkugel zu tun haben, die als die Interessensphäre der Daila gilt. Und doch fehlen einige wichtige Details. Wir kennen die Flottenstärke nicht, die die Ligriden rings um Aklard zusammengezogen haben. Es müssen viele Schiffe sein, denn die Daila machen den Ligriden zu schaffen.« »Es ist mir recht. Je intensiver die Hyptons abgelenkt werden, desto besser. Dann kommen sie nicht in die Verlegenheit, hinter EVOLO her zu spionieren. Die Gefledderten sind eigentlich naiv, aber sie stellen aufgrund ihrer Fähigkeiten eine Gefahr für mich dar. Sie wollen sich mit mir verbünden.« »Eigentlich existiert das Bündnis ja bereits. Du hast einen Teil ihrer Hilfe akzeptiert. Sie sind mißtrauisch, aber sie tun alles, um dir zu
gefallen.« »Einst wird es ein bitteres Erwachen für sie geben, Nokyart. Aber bis dahin müssen Anima und Atlan vernichtet sein. Wohin führt die Spur des Arkoniden?« »Er war auf Zyrph. Dann hat sich seine Spur verloren. Es wird sein wie immer. Er wird irgendwo auftauchen, wo es keiner vermutet. Aber wir haben unsere Späher überall. Fast überall.« »Du wirst dafür sorgen, daß es bald auf jeder Welt mindestens eine Kontaktzelle von mir gibt. Ich bin mächtig genug, dies zu bewerkstelligen. Ich werde dir die Verteilung anvertrauen, Nokyart.« »Danke, Erleuchteter.« Der Prüfer jubelte und wurde ein wenig größer in seinem Sessel. »Endlich eine Abwechslung!« »Beherrsche dich!« donnerte die Stimme des Erleuchteten. »Ich verstehe keinen Spaß. Wenn du den Auftrag durch zu große Euphorie verdirbst, dann …« Wieder ließ er den Satz offen, aber Nokyart wußte nur zu gut, wie es gemeint war. Der Erleuchtete duldete keine Seelenregung von ihm. Manchmal dachte Nokyart, daß dieses Wesen von lauter Robotern umgeben sein mußte, weil es sich ihm gegenüber so abweisend verhielt. Wie ein Despot oder ein Diktator. Nokyart hütete sich, gegen den Erleuchteten zu revoltieren oder Forderungen zu stellen. Dazu war er zu vorsichtig. Und er hing an seinem Leben. Seine Hände zitterten, die Doppelhände darunter mit den feinen Greifklauen zitterten mit. Er starrte sie an, und noch immer erschienen sie ihm fremdartig. Nachts hatte er Alpträume, in denen er sich ohne diese Klauen sah, nur mit den normalen Fingerhänden. Er wollte endlich wissen, wer er war. »Erleuchteter«, begann er. »Ich werde alles tun, was du willst. Ich werde mich persönlich aufmachen und Anima töten. Auch diesen Atlan. Aber sage mir, wer ich früher war. Wie hieß ich?« Ein elektrischer Schlag jagte durch den Sessel, in dem der Prüfer
saß. Nokyart schrie gellend auf. Vor seinen Augen tanzten feurige Kreise, und er fühlte, wie sein Körper gefühllos wurde. Er stürzte aus dem Sessel und schlug mit der Stirn gegen einen Schalter. Ein Kreischen wurde hörbar, aber der Prüfer war nicht in der Lage, es zu beachten. Halb bewußtlos prallte er gegen den Boden und blieb liegen. Die weit geöffneten Augen kämpften mit den Spektralringen, und seine Sehschärfe kehrte nur langsam zurück. »Der Schalter!« hörte er von weit weg die Stimme des Erleuchteten. »Du mußt ihn in seine Ausgangslage zurückbringen. Die Decke beginnt sich zu öffnen. Die Luft fängt an zu entweichen. Gleich wird es dich ins Vakuum reißen, Nokyart. Das ist die Strafe für deinen Ungehorsam.« Tief im Bewußtsein des Prüfers rebellierten die Gedanken. Er konnte den Körper nicht bewegen, aber dennoch kam er hoch. Sein rechter Arm glitt empor und klammerte sich an der Sitzfläche des Sessels fest. Gleichzeitig setzte ein schwacher Sog ein. Die Luft entwich tatsächlich. Nokyart bewegte die Füße. Er winkelte sie an. So bekam er seine Knie ein wenig hoch, und er warf sich mit dem ganzen Körpergewicht nach vorn gegen die Abdeckung der Bänke. Die Klauenhand klatschte auf die vorderste Befehlsreihe und traf mehr oder minder unkontrolliert den Schalter und brachte ihn in die ursprüngliche Position. Das rettete Nokyart das Leben. Er wurde noch weiter emporgerissen und prallte dann hart zu Boden, als die Decke sich geschlossen hatte und der Sog der entweichenden Luft nachließ. Schwer atmend blieb der Prüfer neben seinem Sessel liegen. Eine halbe Stunde Bordzeit benötigte er, bis er wieder auf den Beinen war. Er sank in den Sessel und schloß die Augen. »Die Strafe«, hörte er die Stimme des Erleuchteten. Er war noch immer gegenwärtig. »Nie wirst du deinen Namen erfahren, Nokyart. Du wurdest umgedreht, und damals erhieltest du deinen
jetzigen Namen. Aber du warst einmal einer der Muyas, bevor du umgedreht wurdest!« »Was ist das, Umdrehen?« »Umdrehen! Umdrehen!« Die Stimme des Erleuchteten verhallte, ein deutliches Zeichen, daß er seinen Kontakt zur Raumstation unterbrach. Nur das häßliche Lachen war noch da und verfing sich zwischen den Speicherbänken und den Konsolen an der Rückwand des Raumes. Hilflos blickte Nokyart an sich herab. War das wirklich er? Dieser Körper? Oder hatte der Erleuchtete sein Innerstes nach außen gedreht? War so etwas unter der Bezeichnung Umdrehen zu verstehen? »Was ist ein Muyas?« stöhnte Nokyart. Er wollte sich mit den Außenstellen und allen Robotern in Verbindung setzen, um diese Frage klären zu lassen. Er wußte jedoch, daß der Erleuchtete selbst mit allen diesen Helfern kommunizierte und ihm rasch auf die Schliche kommen würde. Der Prüfer verließ langsam den Sessel und wankte hinaus in den Erfrischungsraum. Nein, er durfte es nicht tun. Beim nächsten Kontakt mit dem Erleuchteten durfte er das Thema nicht einmal am Rand anschneiden. Denn das, wußte Nokyart, würde sein endgültiges Todesurteil bedeuten.
3. Zuerst der Kontakt mit den Hyptons, dann die Unterhaltung mit Nokyart. Beide Vorgänge bewiesen endgültig, daß der halbmondförmige Berg, den die Leronen als Gott verehrten, eine andere Funktion besaß. Und Atlan fragte sich, warum der Erleuchtete ausgerechnet diesen Berg ausgesucht hatte, den die
Leronen seit Jahrtausenden als ihren Gott verehrten. Sie glaubten, daß Ler-Ont persönlich im Heiligen Berg anwesend war, und wenn sie nicht glaubten, daß er als körperliches Wesen darin lebte, dann stellten sie sich zumindest vor, daß sein Bewußtsein darin steckte. Ler-Ont war allwissend und allweise, und die Leronen schickten ihre Männer zu diesem Berg, damit sie dort meditierten. Sie wurden von den Heiligen eingewiesen und eingeübt, denn die Heiligen waren besonders befähigte Mitglieder ihrer Stämme, die sich stark konzentrieren und in Trance versetzen konnten. Von jedem Stamm befanden sich mehrere hundert Pilger im Tal, um den Kreis der Bitter und Beter aufrechtzuerhalten. Die Antwort wirst du im Innern des Berges erhalten, meldete sich der Extrasinn. Aber es wird schwierig sein, den Eingang zu entdecken. Die Leronen leben ständig hier und kennen ihn nicht. Sie werden nicht danach suchen, dachte der Arkonide. Allerdings wäre es durchaus möglich, daß sie ihn durch Zufall entdecken. Weiß Unfas mehr als er zugibt? Sie warteten darauf, daß der Heilige zurückkehrte. Das Hologramm war nach der Sendung aus der Raumstation erloschen. Es gab keine Sendung mehr, die über das Relais geleitet wurde. Dennoch steckte Atlan das Amulett nicht in die Tasche zurück. Von einer der Stangen des Baldachins nahm er eine Schnur herab, knüpfte sie um das Amulett und hängte es sich um seinen Hals. Es hing nun an der Brust, ein Stück über dem Zellaktivator, der unter seiner Kombination versteckt und kaum zu erkennen war. Endlich kehrte Unfas zurück. Er hatte sich während der Holoübertragung entfernt, um Chipol und die Jugendlichen zu holen. Atlan war erleichtert, als er den jungen Daila unbeschadet sah. »Es war ein Kidnapping feinster Art«, berichtete Chipol unbekümmert. »Sie sind einfach in Gremens Haus gekommen und haben mich mitgenommen. Ich bin gegangen, weil ich an nichts Böses dachte!«
»Das hätte ins Auge gehen können«, sagte der Arkonide. »Aber immerhin hat es die Entwicklung ein wenig beschleunigt.« Die jungen Leronen berichteten, was sie herausgefunden hatten und wie sie dachten. Atlan erfuhr von ihren heimlichen Treffs am abgebrochenen Sechseck, und er stutzte bei der Darstellung, wie sie in Gremens Haus gelangt waren. »Dadamda, wie ihr den Stummen nennt, hat euch bei Gremen gemeldet. Warum ist er nicht zurückgekehrt, um euch zu holen? Oder warum hat er keinen Alarm geschlagen, als er euch nicht mehr in dem Zimmer fand?« wunderte er sich. »Gremen sagte mir, daß er euch vergessen hätte. Warum hat sich der Stumme dann nicht darum gekümmert? Euer plötzliches Verschwinden mußte ihm auffallen!« »Vermutlich hat er es in dem Trubel ebenfalls vergessen. Dadamda ist ein Gezeichneter. Man munkelt, daß Ler-Ont ihn für die Sünden seiner Vorväter und Vormütter bestraft hat. Er ist einer der Helfer Gremens, aber das Volk geht ihm aus dem Weg und toleriert ihn tiur da, wo sein Herr in der Nähe ist. Auch jetzt ist der Stumme bei Gremen und wird ihn beraten.« Mrothyr machte eine nichtssagende Handbewegung. »Wer kann schon in die Gedanken eines Stummen eindringen. Er ist eben ein Sonderling und benimmt sich entsprechend seiner Rolle, in die ihn die Gesellschaft gedrängt hat. Jeder spielt seine Rolle!« »Wie du, der du den Rebell von Zyrph gespielt hast«, lachte Chipol. »Bist du immer noch nicht geheilt?« »Erinnere mich nicht daran. Meinem Volk ist nicht zu helfen. Es geht einen Weg, der nur in die Dekadenz führen kann. Irgendwann werden die Naldrynnen und Ligriden Zyrph fest in ihrer Hand haben. Dann wird es keinen Zyrpher mehr geben, der sich an die alten Zeiten erinnert. Alle werden glauben, daß es immer so war.« Er blickte erschrocken auf den Heiligen. Unfas war mit einem Seufzer zu Boden gegangen. Geweitete Augen blickten den vermeintlichen Götterboten an.
»Was sind Zyrpher?« fragte er. »Was Naldrynnen und Ligriden?« »Vergiß deine Zeichnung nicht!« sagte Atlan rasch. »In der Luft außerhalb deines Himmelsgewölbes gibt es Luftgeister, die die unterschiedlichsten Namen tragen. Von ihnen haben wir gesprochen!« »Und dieser da«, er deutete auf Mrothyr, »war ein Rebell gegen Ler-Ont?« »Nein. Ein Rebell für Ler-Ont!« »Ler-Ont sei Dank«, murmelte der Heilige. »Du nimmst mir eine große Last von der Seele!« »Wo immer es geht«, erwiderte Atlan. »Wie sieht es im Tal aus?« Unfas berichtete. Das Tal befand sich in Aufruhr. Die Ankunft der drei fremdartigen Wesen hatte sich inzwischen überall herumgesprochen. Jene Leronen, die jetzt ihre Artgenossen bei der Meditation ablösten, nahmen ihr Wissen bereits mit in die Trance hinein. Diejenigen, die sich eine Ruhepause verordneten, erfuhren es binnen weniger Sandkörner. »Alle wollen euch sehen«, berichtete der Heilige. »Die Priester befinden sich seit einer Sandzeit in der Meditationsphase. Auch ihre Diener werden betreut. Die Tempelbewohner Schatullas werden derzeit auf Herz und Hirn geprüft. Auch die Krieger der Stadt über dem Vulkan sollten sich der Meditation anschließen. Gremen ist jedoch plötzlich dagegen. Er hat sich an den Talrand zurückgezogen, um sich zu beraten.« »Wer berät ihn?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er von einem einzelnen Leronen begleitet wird. Von Dadamda!« »Der Stumme!« rief Mrothyr aus. »Wir sollten sie belauschen!« Atlan schüttelte den Kopf. Er hatte andere Absichten. Er deutete auf das Amulett. »Du willst in Gegenwart der Jugendlichen nicht darüber sprechen, Unfas. Wäre es nicht sinnvoll, sie über deine Gedanken aufzuklären?«
Der Heilige lehnte ab. Er schickte Gardra, Segon und Tifir hinaus zu den Schatulla, und sie kamen seiner Aufforderung ohne Zögern nach. Im Tal am Heiligen Berg besaßen die Worte eines Heiligen Gesetzeswert. Niemand würde einen Widerspruch wagen. »Laß uns um den Berg herumgehen«, schlug Mrothyr vor. »Wir müssen bald wissen, was es mit den Hologrammen auf sich hat!« Zu viert brachen sie auf. Unfas führte sie, und während sie an der Steilwand entlangschritten und nur manchmal einen Bogen um einen Baldachin herum machen mußten, der mit seinen Stangen direkt am Berg lehnte, versuchte Atlan, dem Heiligen die Funktion des Amuletts zu erklären. Er wußte selbst nicht genau, wie es strukturiert war, um diese Funktion erfüllen zu können. Vermutlich würde es nie ans Tageslicht kommen, wie es in die Hände von Gurays Piraten gelangt war. Sie fanden keinen Eingang in den Berg. Atlan hatte es erwartet. Wenn der Erleuchtete etwas darin versteckt hatte, eine technische Station oder etwas anderes, dann hatte er es von oben her getan. Er hatte gewußt, daß niemand in der Lage war, diesen Berg zu besteigen. Der Arkonide setzte sich mit der STERNSCHNUPPE in Verbindung. Dies war kein Fehler, da der Erleuchtete, wenn er das Tal beobachten konnte, die Annäherung des Schiffes längst festgestellt haben mußte. »Beobachte besonders intensiv den interstellaren Raum«, sagte er in das Armbandmikrofon. »Sobald sich Schiffe nähern, wird es Zeit für uns zu verschwinden!« Es gab keine Anzeichen dafür, und Atlan nickte beruhigt. Offensichtlich verfügte der Erleuchtete nicht über direkte Kontrollmöglichkeiten. Sie waren nicht nötig, da es sich bei den Leronen um ein unterentwickeltes Volk ohne Psi-Potentiale handelte. Sie suchten den Berg nach beiden Richtungen hin ab und kehrten dann zu dem Baldachin zurück. Eine Delegation Leronen erwartete
sie. An ihrer Spitze befand sich Gremen, und schräg hinter ihm stand ein Schatulla, der ihm mit den Händen Zeichen machte. Das mußte der Stumme sein. Unfas führte die Götterboten unter den Baldachin, dann trat er hinaus vor die Stangen und begrüßte Gremen und dessen Begleiter. »Wir wollen Manache, Gulbert und den namenlosen Wagenlenker sprechen, der sich Chipol nennt«, sagte Gremen laut. »Im Heiligen Tal und am Heiligen Berg darf sich niemand aufhalten, der nicht von Ler-Ont geschickt worden ist!« »Alle sind Ler-Onts Kinder«, belehrte der Heilige ihn. »Hast du dein Schulwissen vergessen, Gremen? Bisher warst du anderen Sinnes! Komm herein. Aber laß deine Krieger draußen. Ich habe sie nicht zur Meditation eingeladen!« Gremen schob sich an ihm vorbei, begleitet vom Dadamda. Unfas wollte Einspruch erheben, aber Atlan machte ihm mit den Augen Zeichen, es zuzulassen. Gremen und der Stumme setzten sich gegenüber an ein Tuch, das als Raumteiler aufgehängt war. Sie richteten ihre Blicke zu Boden. Sie warteten, bis Unfas zwischen ihnen und den Götterboten Platz genommen hatte. »Sprich!« forderte der Heilige den Lehrer auf. »Es gibt nicht viel zu sprechen«, sagte Gremen. »Wir haben die drei Fremden in Schatulla aufgenommen. Wir halten sie für Götterboten, und es ist ihr Recht, sich so zu verhalten, daß wir ihr Tun nicht immer verstehen. Wir haben auch den sprechenden Himmelswagen gesehen. Und wir waren erzürnt über unsere Priester, weil sie uns belogen haben. Nicht nur sie, auch die Priester der übrigen Stämme haben ihren Mitgliedern nicht die Wahrheit gesagt. Nun aber behauptet Atlan, den wir für Manache Leron halten, daß die Priester vielleicht doch die Wahrheit gesagt haben, wir sie aber nicht verstehen. Und er betritt das Tal, ohne uns zur Meditation zu geleiten. Die Götterboten verhalten sich so, als seien sie die Gäste, und nicht die Herren des Tales. Ist das im Sinn LerOnts?«
»Nein!« sagte Unfas. »Es ist nicht in seinem Sinn. Es ist im Sinn des Volkes der Leronen. Du siehst diese drei Männer als Boten deines Gottes. Du darfst nicht so vermessen sein, ihnen Vorschriften zu machen. Etwas geht vor, und sie werden es herausfinden!« »Das glaubte ich auch. Ich war ein Zweifler. Ich wollte die Wahrheit herausfinden. Inzwischen weiß ich, daß nicht nur die Priester lügen, sondern auch die Götterboten. Es gibt nichts in diesem Tal, was unnatürlich oder sonderbar wäre. Es ist alles in bester Ordnung. Ler-Ont wird seine Gründe haben, warum er uns an etwas Widersprüchliches glauben läßt.« »Bisher warst du völlig anderer Meinung«, stellte Atlan fest. »Was hat deinen Sinneswandel bewirkt?« »Den Ausschlag gegeben hat das da!« Er sprang auf und eilte hinaus. Sie sahen, wie sich die Schar der Krieger teilte. Atlan sah die drei jungen Schatulla stehen, und bei ihnen befand sich ein Krieger. An einem Seil führte er fünf Tiere, die etwa fünfzig Zentimeter hoch waren. Sie besaßen lidlose, große Augen und zwei spitze Hörner über den Ohren. »Ein Sakrileg!« schrillte Gremen. »Ich nehme die Verantwortung auf mich. Meine Krieger sahen, wie sich die Jugendlichen von deinem Baldachin entfernten, Unfas. Sie folgten ihnen und entdeckten Dawok. Er hatte sich in einem Erdloch versteckt!« »Es ist wirklich ein Sakrileg«, bestätigte der Heilige. »Aber Dawok wird einen Auftraggeber gehabt haben! Ist er nicht dein Vetter und der Vater Segons?« »Ich bin der Auftraggeber!« sagte Gremen laut. Mehrere seiner Krieger ließen Rufe der Überraschung hören. Der Lehrer der Kriegskunst kehrte zu Unfas und den Götterboten zurück. Er streckte die linke Hand aus. »Siehst du die kleine Narbe am sechsten Finger?« fragte er. »Sie ist das Erkennungszeichen der Verschwörer. Ich bin ihr Anführer, und wir hatten es uns zur Aufgabe gemacht, hinter die Widersprüche zu kommen und das schändliche Tun der Priester zu entlarven.
Letzteres ist uns gelungen. Ich selbst habe gesehen, wie einer der Priester einen gefangenen Gresti gefoltert und getötet hat. Die Priester ließen die Leiche verschwinden, und den Mörder hat LerOnt zu sich in den Orarot geholt. Er wurde vom Luftsog hinabgerissen, und wir konnten ihn nicht retten. Ja, ich bin Rotfell«, verkündete Gremen. »Unter den Kriegern, die mich begleiten, befinden sich mehrere meiner Gesinnungsgenossen. Sie sollen sich zeigen!« Ein gutes Dutzend Schatulla trat unter den Baldachin und versammelte sich um Gremen. »Dawok wurde von mir mit Adkor geschickt. Er sollte herausfinden, ob es am Heiligen Berg irgend etwas gibt, wovon wir nichts wissen. Er hat es herausgefunden.« »Ich weiß«, fiel Unfas ihm ins Wort. »Er hat nichts gefunden, weil seine Affen nichts entdeckten. Was besagt das schon? Affen besitzen nicht die weitreichenden Möglichkeiten wie Leronen. Sie sind stumm und auch taub. Sie sind weniger befähigt noch als Dadamda, der keine Narbe am Finger trägt. Es war ein Verbrechen von dir, Dawok in das Tal zu schicken. Sieh nur, inzwischen haben mehrere Heilige und Priester ihn entdeckt. Ein Aufruhr braut sich zusammen.« Gremen blickte sich um. Er erkannte, daß der Heilige richtig beobachtet hatte. Die Aufregung im Tal nahm sprunghaft zu. »Ich will weiter nichts, als daß meine Fragen beantwortet werden«, stieß der Lehrer hervor. »Wenn Atlan, Mrothyr und Chipol Gesandte unseres Gottes sind, dann werden sie diese Fragen beantworten können. Verstehe mich richtig, Unfas. Mir geht es darum, die Zweifel auszuräumen, die sich wie eine schleichende Seuche in unserem Volk ausbreiten.« Er trat näher, bis er dicht vor Atlan stand. Der Arkonide legte den Kopf in den Nacken und blickte zu ihm empor. »Sprich!« sagte er. »Wir haben viele Fragen gestellt!« rief Gremen. »Die wichtigste
lautete: Warum verschwand Manache Leron vor langer Zeit? Wohin ging sie, und ist es ein Segen oder ein Fluch für unser Volk, daß sie nicht mehr am Nachthimmel häng …« Er stockte in seiner Rede. Vor seinen Augen entstand plötzlich ein Bild. Es schien aus der Brust des Götterboten Atlan zu kommen. Und er sah fremdartige Gestalten, die in fremden Sprachen redeten. »Antwortet mir!« schrie Gremen wie in höchster Not. »Seid ihr wirklich Götterboten oder Dämonen, die Unheil über unsere Welt bringen?« Er wartete eine Antwort gar nicht ab, sondern stürzte hinaus ins Freie und verschwand zwischen den Schatulla.
* Zweites Hologramm Spykon spielt dem Erleuchteten die Aufnahmen vor, die die Agenten in allen Teilen Manam-Turu gemacht hatten. Der Erleuchtete stellte plötzlich keine Zwischenfragen mehr, und das beunruhigte Spykon, sofern man bei einem Roboter von Unruhe sprechen konnte. »Es ist ohne Zweifel ein einziges Signal gewesen«, sagte er mit gläserner Stimme. »Es war nicht entschlüsselbar, aber ein paar Impulse sind aus dem Schlüssel herausgefallen. Daraus läßt sich erkennen, daß die vielen kleinen Raumschiffe alle ein einziges Ziel ansteuern. Welches das ist, kann nur herausgefunden werden, wenn man sie verfolgt. Das ist jedoch nur schwer möglich, denn die kleinen Schiffe sind wendig, schnell und kaum zu orten.« Die Aufnahmen liefen noch immer. Sie zeigten meist im Hintergrund einen Planeten oder ein Sonnensystem und im Vordergrund ein kleines Schiff, trotz der Nähe von etlichen Millionen Kilometern nur als schwacher Ortungsfleck erkennbar. Das Schiff befand sich jeweils in der Beschleunigungsphase, und
kurz darauf war es in übergeordneten Räumen verschwunden. Das Bild erlosch und machte dem nächsten Kurzfilm Platz. »Sie nennen sich Gesandte oder Diener Gurays«, fuhr Spykon fort. »Ihrem Aussehen nach gehören sie den unterschiedlichsten Völkern Manam-Turus an. Manche besitzen eine Gestalt, die bisher noch nicht zugeordnet werden kann. Deine Untergebenen verfolgen sie, wo es geht, doch die Aussicht auf …« »Warum unterbrichst du?« klang die Stimme des Erleuchteten auf. Wie immer war nur sie gegenwärtig. Der allmächtige Herr und Konstrukteur EVOLOS zeigte sich nicht in seiner Gestalt. »Sieh nur, dieser Film!« sagte der Roboter Spykon monoton. »Das ist eines unserer Schiffe!« Er beobachtete, wie eines der kleinen Schiffe aufgebracht wurde. Es war ein Zufall, daß es dort auftauchte, wo sich eines der Schiffe des Erleuchteten befand. Kommandant war ein Wesen namens Gelmenborst. Er ließ das Schiff in einen Hangar ziehen und gewaltsam öffnen. Seine Roboter holten ein völlig apathisches, konfuses Wesen heraus. »Totstellreflex!« erkannte Spykon. »Das zeugt nicht gerade von überragender Intelligenz!« »Narr!« erwiderte der Erleuchtete. »Es wird seine Absicht sein, uns eine geringe Intelligenz vorzutäuschen!« Gelmenborst ließ das Wesen in eine Kammer bringen. Es wurde auf eine Liege geschnallt. Eine Haube senkte sich über seinen Kopf. Spykon sah, wie der Kommandant zusammenzuckte und auf das Wesen starrte. »Tu etwas!« rief der Roboter aus. »Zwecklos! Erstens ist das Ereignis bereits vorbei, zweitens habe ich in Gelmenborsts Schiff keine Kontaktzelle. Ich kann mich mit diesem Pseudopiraten nicht direkt in Verbindung setzen. Aber das wird sich ändern!« Gelmenborst war vom Erleuchteten mit Versprechungen geködert worden. Er übte das Handwerk eines Piraten aus, um so an die
Piraten heranzukommen, die bereits überall in Manam-Turu agierten. »Da!« stieß Spykon hervor. Das Wesen auf der Liege löste sich auf. Innerhalb von Sekunden verlor es seine Form, und die amorphe Masse auf dem weißen Untergrund zerfiel rasch und bildete dunklen Staub. »Das ist der Beweis«, flüsterte Spykon, während das Bild erneut wechselte und eine andere Szene zeigte. Dort war ein havariertes Kleinschiff eines Gesandten gefunden worden, aber es befand sich niemand an Bord. Nur ein wenig Staub wurde gefunden, und dann verging die Bildübertragung in einem Energieblitz. Das kleine Schiff hatte sich selbst zerstört und die Roboter vernichtet, die es untersuchten. »Es ist ein Beweis«, bestätigte der Erleuchtete. »Es ist der Beweis, daß meine Vorsicht in Manam-Turu berechtigt ist. Zum ersten Mal habe ich den Vorgang des Zerfalls in allen Einzelheiten beobachten können. Die Hinweise sind eindeutig. Es gibt nur ein Wesen, das in der Lage wäre, solche Geschöpfe zu benutzen.« »Guray!« Der Erleuchtete lachte dumpf. »Guray? Nein, ich spreche von diesem Wesen namens Anima. Ich kenne es besser als mir lieb ist. Ich muß meine Meinung revidieren. Ich glaube, daß es Guray gar nicht gibt. Er ist ein Phantom, ein Deckname. Hinter den Gesandten steckt Anima. Das ist sicher. Anima hat sie ausgesandt, um mich aufzuspüren und zu vernichten. Ich habe es geahnt. Es zeigt, daß ich nicht vorsichtig genug sein kann. Ich muß sofort …« Er verstummte, und Spykon wartete, bis er sich erneut meldete. Diesmal klang die Stimme des Erleuchteten hektisch, aber dennoch bestimmt und befehlend. »Rufe alle Daten über EVOLO ab, die sich in deinem Schiffsspeicher befinden«, wies er den Roboter an. Spykon tat es. »Nichts!« stellte er fest. »Es sind keine Daten mehr vorhanden!« »Ich habe sie soeben gelöscht. In keinem meiner Stützpunkte oder
Schiffe existiert noch der geringste Hinweis darauf.« »Was willst du tun?« »Ich habe einen Plan, du neugierige Maschine. Ich werde EVOLO an einen neuen und sicheren Ort bringen. Ich darf das Risiko nicht eingehen, daß Anima EVOLO bereits lokalisiert hat und ihn einkreist.« »Du hättest das längst festgestellt.« »Anima ist gefährlich«, sagte der Erleuchtete. »Ich darf sie nicht unterschätzen. Und auch keiner von meinen Helfern darf das!«
* Drittes Hologramm Zani war die Sprecherin der Hyptontraube, die sich in der Augenzelle aufhielt. Die Traube gehörte zum Quellenvolk. Sie trug den Namen Weisheit der Quellen, und die zu ihr gehörigen Hyptons betrachteten es als ihre Aufgabe, die ursprüngliche Größe ihres Volkes wiederherzustellen. Aus einem vorangegangenen Gespräch wußte der Erleuchtete, daß die Hyptons es kaum erwarten konnten, endlich am Einsatz EVOLOS teilhaben zu können. Sie reagierten auf die erneute Kontaktaufnahme überschwenglich. »Ein neues Versteck für EVOLO?« erkundigte Zani sich. »Nicht nur die Weisheit der Quellen ist von deiner Vorsicht angetan. Da wir deine Gedanken kennen, wirst du von uns wiederholt den Vorschlag zu hören bekommen, daß sich der Planet Cirgro besonders als Versteck für EVOLO eignet. Der Schutz der Glückssteine ist optimal. Wir bieten dir an, dir beim Transport deines EVOLO behilflich zu sein.« »Das habe ich mir gedacht«, konterte der Erleuchtete. »Nichts bietet sich mehr an. Ihr würdet den geeigneten Platz vorbereiten und auch den Schutz EVOLOS übernehmen.« »Wir würden es gern tun, wenn du uns nähere Informationen
gäbest, wie zu verfahren ist. Wir sind jederzeit handlungsbereit. Unsere Macht ist nicht zu unterschätzen.« »Durch Wiederholungen wird dies nicht glaubwürdiger«, sagte die Stimme in der Augenzelle. »Aber euer Angebot ist sinnlos. EVOLO wird sich selbst transportieren, und das endgültige Versteck steht bereits fest. Es ist der H-Plus-Nebel Wrackbank!« »Der Name ist uns unbekannt!« »Eben! Schaltet eure Speicheranlagen ein. Ich überspiele euch die globalen Koordinaten des Nebels. Sie sind verschlüsselt und können bei Bedarf entschlüsselt werden. Wenn ich das will!« »Dies ist nicht gerade eine ausreichende Grundlage für eine Zusammenarbeit«, stellte Zani fest. »Wir müssen beraten!« Sie verließ ihren bisherigen Platz und fügte sich in die Traube der Hyptons ein. Die Wesen bewegten sich unruhig, und ihre Körper gaben Flattergeräusche von sich. Sie flüsterten leise miteinander, und sie taten es in einer Weise, daß der Erleuchtete trotz seiner technischen Möglichkeiten nicht verstand, was sie sprachen. Er wartete im Bewußtsein seiner besseren Verhandlungsposition und beobachtete die kleine Antigravpyramide mit dem Ring darunter, die unter der Decke der Augenzelle schwebte. An dem Ring hingen die Hyptons. Endlich löste sich eines dieser Wesen aus der Traube und sonderte sich ab. Es flatterte zu einer Stange hinüber, die zur technischen Einrichtung der Augenzelle gehörte. »Ich bin es wieder. Zani. Ich bin jetzt der Sprecher der Weisheit der Quellen, nicht mehr die Sprecherin.« »Was macht das schon?« »Wir sind nicht glücklich über deine Zurückhaltung. Wir sind bereit, alles für EVOLO zu tun. Warum lehnst du es ab?« »Ich will euch entgegenkommen, als Zeichen meiner Bereitschaft, mit euch zusammenzuarbeiten«, verkündete der Erleuchtete. »EVOLO wird Cirgro als Zwischenstation benutzen, um sich zu orientieren. Richtet euch darauf ein. EVOLO kommt unangemeldet,
aber ihr werdet sofort erkennen, daß es sich um mein Geschöpf handelt. Ich vertraue darauf, daß ihr euch nur um ihn kümmert, ihn jedoch nicht manipuliert!« »Ist EVOLO so verletzlich oder manipulierbar?« »Nein! Es war auch nur ein Hinweis für euch, EVOLO nicht zu belästigen. EVOLO wird Cirgro besuchen.« Der Erleuchtete lachte, und es war ein genußvolles Lachen. »Ich sehe eure Erregung«, fuhr er fort. »Ich ziehe meine Schlüsse daraus. Ihr wollt EVOLO beobachten und würdet ihn auch beeinflussen, wenn ihr es könntet. Gebt euch keine Mühe. Es wird euch nicht gelingen, mir EVOLO abzujagen. Ihr werdet keine Gelegenheit haben!« »Wir wollen EVOLO nur bewachen«, sagte Zani. »Nichts weiter!« »Ich bin nicht sicher, ob euch das ge …«
* Das Hologramm fiel in sich zusammen. Die Sendung war nicht zu Ende, aber der Kontakt war unterbrochen. Atlan wog das Amulett in der Hand, aber er konnte keine Veränderung feststellen. Er nahm die Hand weg, und das Amulett baumelte an seiner Brust hin und her. Die Schatulla waren vor ihm zurückgewichen. In respektvoller Entfernung vom Baldachin machten sie halt und warteten. »Folgt mir!« sagte Unfas zu den drei Götterboten. »Es ist etwas Schreckliches geschehen!« Er stürzte davon, und sie eilten im Laufschritt hinter ihm her. Unfas rannte das Tal entlang bis zu der großen Menge, die sich in der Mitte zwischen Berg und Talrand versammelte. Von allen Seiten strömten Leronen dorthin, und Atlan sah ein paar, die eine Art Sänfte mit sich trugen und hinter einem einzelnen Mann herhetzten. »Was ist los?« rief der Arkonide. »Was geht dort vor sich?«
Er holte ein wenig auf, bis er an der Seite des Heiligen war. »Die Meditation ist beendet«, keuchte Unfas. »Es ist furchtbar. Zum ersten Mal seit grauer Vorzeit kann der Rhythmus des Bittens nicht aufrechterhalten werden. Ler-Ont wird uns spüren lassen, wie er darüber denkt. Wir müssen denjenigen ausfindig machen, der in letzter Konsequenz dafür verantwortlich ist!« Sie erreichten die Menge, die hastig Platz machte. Viele Augen richteten sich geweitet auf die Götterboten, und es gelang Unfas, sie bis in die Mitte der Menge zu geleiten. Dort hatten sich etliche Dutzend Leronen versammelt, die dieselben Röcke trugen wie Unfas. Es waren Heilige, und Unfas sagte: »Ihr seid alle hier! Keiner von euch kümmert sich um die Meditierenden. Was habt ihr getan? Die Baldachine sind verwaist! Es gibt keine Meditationen mehr im Tal!« »Unfas, dieser Schatulla hat uns Zeichen gemacht. Er weiß, wie alles zusammenhängt!« Sie hatten sich um Dadamda versammelt, und der Stumme machte wirre Bewegungen mit den Händen. »Er sagt, er kann das Rätsel um die Götterboten aufklären«, übersetzte einer der Heiligen die Handzeichen. »Er will sie entlarven, weil sie Betrüger sind!« »Und er will endlich sprechen!« fügte ein anderer Heiliger hinzu. »Er dankt Ler-Ont dafür, daß dieser ihm die Gabe der Zunge verliehen hat, um das schreckliche Verbrechen zu entlarven!« »Sprich, Dadamda!« schrien die Leronen wie aus einem Mund. Der Schatulla hob die Arme weit empor. Es trat Ruhe ein. »Volk von Leron«, rief der Berater Gremens laut. Seine Stimme hatte einen weichen, vertrauenerweckenden Klang. »Ihr kennt mich. Ihr wißt, daß ich noch nie in meinem Leben ein Wort gesprochen habe. Jetzt aber hat Ler-Ont ein Wunder getan, um durch meinen Mund zu euch zu reden und das Unheil abzuwenden. Drei Fremde sind auf Leron erschienen. Sie wurden von den Schatulla als Götterboten aufgenommen, und jene, die an der Aufrichtigkeit der
Tempelpriester zweifelten, kümmerten sich um sie und nahmen sie bei sich auf. Ich bezeuge es, daß Gremen aus ehrlichen Motiven heraus gehandelt hat. Er ist ein kluger Mann, und er hat immer nur das Wohl seines Volkes in den Augen. Er glaubte, daß die Fremden Götterboten seien. Dann jedoch kamen wir zum Heiligen Berg, und er stellte fest, daß sich die Fremden gar nicht wie Götterboten verhielten. Sie taten nichts, um die Priester für ihr vermeintliches Tun zu bestrafen. Sie kümmerten sich auch nicht um die Meditierenden, und sie stellten keinen Kontakt zu Ler-Ont her, um uns seine Antworten zu bringen. Ich frage euch, warum?« Erwartungsvolles Schweigen lag über dem Tal. Inzwischen mußten alle Leronen herbeigekommen sein. Atlan schätzte die Zahl auf über tausend. In einer riesigen Traube standen sie um Dadamda herum, und von irgendwoher hörte Atlan die Stimme Gremens, der Erläuterungen zu seiner eigenen Meinung von sich gab. »Ich glaube noch immer, daß es Götterboten sind«, verkündete er. »Daß Dadamda die Gabe der Sprache zurückerhalten hat, ist kein Wunder. Manchmal in vergangener Zeit hat er nachts im Schlaf gesprochen. Aber erst seit jenem Tag, an dem er verschwunden war und aus dem Kessel des Orarot wieder auftauchte, um fortan seinen Dienst als Wächter der Verschwörung zu tun!« Das gibt zu denken! meldete sich Atlans Extrasinn. Richte dich darauf ein, daß du in Dadamda einen Gegner hast. Den einzigen auf Leron wahrscheinlich! »Die Antwort ist einfach«, übertönte die Stimme des Beraters die entstehende Unruhe. »Sie sind keine Götterboten. Sie sind fremdartige Wesen aus jenem unbegreiflichen Raum vor oder hinter dem Himmelsgewölbe, den wir nicht kennen. Sie sind Dämonen, und wenn Ler-Ont es gut mit uns meint, dann sind es die Dämonen, die für die Widersprüche in unserer Religion verantwortlich sind. Sie sind nach Schatulla gekommen, um die Priester endgültig zu verwirren und ihren unheiligen Einfluß auf sie auszuüben. Das ist die Wahrheit, die euch Ler-Ont durch meinen Mund verkünden
läßt!« Die Menge war ein wenig vor den drei Götterboten und Unfas zurückgewichen. Nur Unfas blieb bei ihnen, und der Heilige erhob seine Stimme. »Hört auf mich!« verkündete er laut. »Dadamda ist nur ein zwielichtiger Berater. Ich jedoch bin euch allen bekannt. Auch zu mir hat Ler-Ont gesprochen. Aber er bediente sich nicht der lautstarken Worte, sondern er sprach zu mir in eindringlichen Bildern. Er sprach zu mir, während ich die Meditationen leitete. Und er sagte mir, daß die Aura der Beter am Heiligen Berg nie zusammenbrechen dürfe. Wir rufen Unheil auf uns herab, wenn wir diesem Rat nicht folgen. Dadamda scheint davon nichts zu wissen, und ich muß bezweifeln, ob er die Botschaft Ler-Onts richtig verstanden hat. Kehrt unter die Baldachine zurück und begebt euch wieder unter die Anleitung der Heiligen!« »Zuerst wollen wir wissen, was es mit den Götterboten auf sich hat. Warum sprechen sie nicht zu uns? Warum sind sie so stumm wie früher Dadamda?« »Weil es sich nicht ziemt, vorlaut zu reden«, sagte Atlan laut. Der Translator verstärkte seine Stimme, so daß sie über das ganze Tal zu hören war und als Echo von der Bergwand zurückkam. »Wer kann die Gedanken Ler-Onts erfassen und den Auftrag seiner Boten? Niemand kann es, und Dadamda maßt sich etwas an, was nie einem Leronen zustünde. Habt ihr Gremen nicht gehört? Sein Berater spricht nachts im Schlaf. Folglich ist er nicht stumm, sondern täuscht dies nur vor. Nicht Ler-Ont hat ihm die Sprache verliehen, sondern er sich selbst. Er hatte sie nie verloren. Gebt ihn in die Obhut der Heiligen, damit sie sich um ihn kümmern. Sein Geist ist verwirrt!« Die Leronen wußten nicht, was sie denken sollten. Atlan hingegen brannte plötzlich die Zeit unter den Nägeln. Zwei Gedanken waren ihm gekommen, und einer beschäftigte sich mit Dadamda. Der zweite war jedoch der wichtigere, und Atlan fragte sich, wie die
Hologramme aus dem Berg mit den Meditierenden zusammenhingen. »Können wir ein Experiment machen?« fragte er leise den Heiligen. Unfas stimmte zu. »Was willst du?« Atlan setzte es ihm auseinander. Wenn seine Vermutung richtig war, dann hatte er bisher in einem Irrtum gelebt. »Kehrt zurück zur Meditation!« verkündete Unfas laut. »Ler-Ont selbst wird euch allen die Antwort geben!« Ein Teil von ihnen folgte seinem Ruf, und er selbst versammelte eine größere Gruppe Leronen um sich und führte sie zu seinem Baldachin. Atlan, Chipol und Mrothyr wurden von Gardra und den beiden Jungen zurückgeleitet. Vereinzelt versuchten Leronen, die Götterboten zu berühren, aber die Schatulla verhinderten es. Sie brachten die Götterboten zum Baldachin des Heiligen, und sie setzten sich neben seine Stangen nieder und warteten fast eine Sandzeit lang. Endlich hatte es der Heilige geschafft, einen Teil der Leronen in Trance zu versetzen. Atlan schätzte die Zahl der Beter auf über drei Dutzend. Die anderen Leronen saßen noch unkonzentriert herum. »Ich habe getan, wie du sagtest«, vernahm er plötzlich die Stimme des Heiligen neben seinem Ohr. Unfas war zwischen den Vorhängen herbeigekommen. »Bist du zufrieden?« Atlan verneinte. Es trat nicht ein, was er erhoffte. Vielleicht lag es daran, daß es zu wenige Leronen waren. »Tu mir einen Gefallen«, bat er. »Vereinige alle Anwesenden unter deiner Leitung. Bilde einen starken Meditationsblock!« Unfas versprach es, und wieder verging eine Sandzeit. Noch waren die übrigen Leronen im Tal nicht zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückgekehrt. Endlich hatte Unfas es geschafft. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet, ein deutliches Zeichen, daß auch er durch die Ereignisse abgelenkt war und viel Kraft für die Konzentration benötigte.
Etwas über fünfzig Beter hatten sich versammelt und schickten ihre Gebete zu Ler-Ont. Atlans Augen ruhten auf seiner Brust. Mrothyr und Chipol beobachteten ebenfalls die Stelle, wo sein Blick endete. Das Amulett begann zu arbeiten. Ein Hologramm bildete sich, und es zeigte dem Arkoniden einen weiteren Teil dessen, was im Machtbereich des Erleuchteten vor sich ging. Diesmal war es ein Kabinettstückchen des Erleuchteten, der seine Agenten auf einem Planeten eingeschleust hatte und dort für einen Umsturz sorgte. Die neuen Machthaber waren Geschöpfe des Erleuchteten. Atlan erhielt keinen Einblick in deren Fähigkeiten, aber er erinnerte sich an die Fähigkeiten des Pre-Los. Atlan schickte Chipol zu Unfas. Der Heilige zuckte zusammen, als er die Körperwärme des Götterboten neben sich spürte. Er löste sich aus der Trance und richtete den gekrümmten Oberkörper auf. »Löse den Verbund auf«, richtete Chipol ihm aus. »Die Pilger sollen aufhören zu meditieren!« Es war leichter gesagt als getan. Unfas konnte die Beter nicht einfach aus ihrer geistigen Versunkenheit reißen. Es hätte psychische und vielleicht auch physische Folgen gehabt. Er mußte es vorsichtig tun, und es dauerte nochmals eine knappe Sandzeit, bis zwei Drittel der Leronen in die Wirklichkeit zurückgekehrt waren. Als die Zahl der Beter unter fünfzig sank, erlosch das Hologramm mitten in der Übertragung. Unfas hatte es erkannt. Er kam herbei. »Es erschüttert mich, welche Beobachtung ich gemacht habe«, eröffnete er. »Ich wußte, daß in dem Berg etwas ist. Und als ihr eintraft, da verstand ich den Zusammenhang zwischen diesem Amulett und dem Fremden im Fels. Jetzt erkenne ich einen weiteren Zusammenhang, aber ich verstehe nicht, was er bedeutet. Ich bitte euch, Götterboten, mich darüber aufzuklären. Was kommt von LerOnt und was nicht?« »Nichts kommt von Ler-Ont«, knurrte Mrothyr. »Ist das so schwer
zu verstehen?« Für einen Heiligen vom Volk der Leronen war es schwer zu verstehen. Atlan begriff das. »Wir haben dir von einem Feind berichtet, den wir suchen«, sagte er. »Er steckt in diesem Berg. Das Amulett hat es uns bewiesen. Zunächst glaubten wir, daß sich in dem Berg ein Relais befände. Dies hat sich jetzt als Irrtum herausgestellt.« Er versuchte mit einfachen Worten, dem Heiligen klarzumachen, was er mit Relais meinte. Unfas begriff es endlich. »Die Leronen sind das Relais. Ihre Meditationskraft bildet den Resonanzboden für die Sendungen des Erleuchteten, mit denen er zu seinen Helfern und Dienern spricht. Wenn nicht meditiert wird, kann der Erleuchtete keinen Kontakt herstellen!« »Dann liegt es im Sinn Ler-Onts, die Meditationen endgültig zu beenden?« Atlan runzelte die Stirn. Er mußte eine Entscheidung von großer Tragweite fällen, und er kannte die Kultur der Leronen inzwischen gut genug, um beurteilen zu können, welche Antwort welche Auswirkungen haben mußte. Er entschied sich für das Volk von Leron. »Nein«, gab er zur Antwort. »Im Gegenteil. Die Meditationen müssen fortgesetzt werden, wie es früher war. Es darf keine gewaltigen Umwälzungen geben. Die Welt der Leronen soll weiterexistieren wie bisher. Ruhe muß am Heiligen Berg einkehren!« »Und der Feind? Ist er nicht auch der Feind Ler-Onts?« »Er ist der Feind allen Lebens. Was du in Trance im Innern des Berges feststelltest, waren diese Bilder, die durch eure Meditationen umgesetzt werden. Wir wissen jetzt, daß der Feind sich nicht im Heiligen Berg aufhält. Das muß uns vorläufig genügen. Wir werden die Bilder des Amuletts noch eine Weile beobachten, dann werden wir an anderer Stelle weitersuchen.« »Ihr werdet in den Himmel zurückkehren«, erkannte Unfas.
Die drei Götterboten bestätigten es. »Kehrt ihr zu eurem Frieden zurück. Die Leronen sollen ihre Meditationen wieder aufnehmen. Wir müssen weitere Bilder aus dem Berg erhalten!« »So soll es sein!« bekräftigte Unfas. Er wirkte erleichtert. Er hatte endgültig begriffen, daß die Fremden seinem Volk helfen wollten. Also tat er das, was jeder Lerone an seiner Stelle getan hätte. Er ließ das Fragen nach den Hintergründen sein und akzeptierte Atlan, Mrothyr und Chipol endgültig als Götterboten. Er schickte die drei jugendlichen Schatulla hinaus in das Tal, damit sie die Leronen über den neuesten Stand der Dinge aufklärten. Atlan und seine beiden Gefährten warteten auf das Erscheinen des Hologramms.
* Viertes Hologramm Das Geschrei der Krelquotten und das Gejammer der Daila lagen in der Luft. Die Hyptons hatten sich in ihre Schiffe zurückgezogen, die ja eigentlich Schiffe der Ligriden waren. Sie hörten das Gejammer nicht, aber sie empfanden es dennoch, und die Beobachtungen, die sie machten, beunruhigten sie zutiefst. Draußen lag Nebel. Er kam aus dem Nichts, ohne daß ein Wetterumschwung ihn angekündigt hatte. Er war dicht, kaum durchdringbar, und die Panikmeldungen, die nach und nach bei den Trauben des Quellenvolkes eintrafen, kündeten von einer planetenumspannenden Erscheinung. Der wallende Nebel breitete sich immer mehr aus. Er versetzte die Bewohner Cirgros in Angst und Schrecken. Sie litten unter Atemnot, und sie Verfielen in Psychosen, die durch nichts erklärbar waren. Nach wenigen Stunden des Recherchierens und Beobachtens kamen die Hyptons zu der Erkenntnis, daß es der Nebel war, der die Reaktionen
bewirkte. Und sie wußten, daß der Erleuchtete über die Augenzelle an ihren Beobachtungen teilnahm, auch wenn er sich nicht direkt bei ihnen meldete. Da wußten die Hyptons, daß EVOLO angekommen war. Der Erleuchtete hatte den Besuch EVOLOS angekündigt. Die Hyptons empfanden EVOLO nun als Bedrohung, und der weiße Nebel stellte lediglich einen Abglanz dessen dar, wozu EVOLO fähig war. Wieder wurde den Hyptons die Zielstrebigkeit des Erleuchteten vor Augen geführt. Sie berieten sich und kamen zu dem Ergebnis, daß sie jetzt nicht träumen durften. Sie mußten am Nebel bleiben, und sie ließen mehrere Schiffe der Ligriden startbereit machen. Diese sollten EVOLO folgen und so die Koordinaten von Wrackbank ausfindig machen. Die Hyptons sprachen nicht über diese Absicht, da sie sich vom Erleuchteten beobachtet fühlten. Sie trauten ihm nicht, auch wenn sie sich nicht in der Augenzelle aufhielten. Und dann verschwand der Nebel so übergangslos, wie er gekommen war. Die Schiffe suchten den interplanetaren Raum ab, ohne eine Spur zu finden. EVOLO war einfach verschwunden. Und mit seinem Verschwinden gingen die ersten Meldungen von allen Teilen des Planeten ein. Alle Glückssteine, die es auf Cirgro gab, waren ausgebrannt. Sie hatten ihre Fähigkeit verloren und stellten nur noch normales Gestein dar. Innerhalb weniger Minuten hatte Cirgro den Wert verloren, den der Planet für die Hyptons dargestellt hatte. Wütend suchten die Hyptons die Hyptons die Augenzelle auf. Nochmals wirkte Zani als Sprecherin. »Du hast uns betrogen«, rief sie aus, kaum daß die Traube ihre gewünschte Position eingenommen hatte. »EVOLO hat die in den Steinen gespeicherte Psi-Energie in sich aufgenommen. Wir glauben jetzt endgültig zu wissen, was EVOLO ist. Du bist ein Betrüger, kein
Verbündeter!« »Das ist mir klar«, entgegnete die Stimme des Erleuchteten. »Ich habe nie daran gezweifelt. Es war notwendig, ihr werdet es bald einsehen. EVOLO hat durch die Glückssteine soviel konzentriertes Psipotential in sich aufgenommen, daß er fast vollständig ist. Es bedarf nur noch weniger Bausteine. Es dauert nur noch kurze Zeit, dann ist diese Waffe zum Wohl aller einsatzbereit. Auch zum Wohl von euch, Hyptons!« Wieder einmal bewiesen die Hyptons, daß sie sich gut auf neue Situationen einstellen konnten. Vor allem aber war es Zani zu verdanken. »Wir akzeptieren deine Worte«, sagte sie, »wenn uns auch der Verlust Cirgros hart trifft. Wir sind bereit, dafür zu sorgen, daß EVOLOS neues Versteck gut bewacht wird!« »Wir werden sehen«, erwiderte der Erleuchtete. »Noch ist es nicht Zeit, euch den Schlüssel für die Koordinaten zu geben!« Die Hyptons verließen die Augenzelle. Sie hatten zur Kenntnis genommen, daß der Erleuchtete weiter mit ihnen zusammenarbeiten wollte. Sie blieben jedoch mißtrauisch. Tun konnten sie im Augenblick wenig. Also warteten sie.
* Fünftes Hologramm Das Bild war ein wenig gestört. Die Gestalt war nicht deutlich zu erkennen. Auch ihre Stimme war kaum zu hören. Sie klang verzerrt. Die zweite Stimme war unverkennbar die des Erleuchteten. »Ich bin jetzt angekommen«, erklärte die erste Stimme. »Wrackbank liegt deutlich vor mir!« »Du wirst alles speichern, was du beobachtest. EVOLOS Wirken muß vollständig festgehalten werden. Ich muß wissen, welche
Auswirkungen seine Anwesenheit in dem H-Plus-Nebel hat!« »Ich fliege in den Nebel ein!« erklärte der Verzerrte. Es dauerte eine Weile, dann erhob er erneut seine Stimme. »Die H-Plus-Wolke ist dicht, aber überschaubar. Dennoch kann ich EVOLO nirgends feststellen.« »Suche genauer!« Der Erleuchtete blieb gegenwärtig und wartete. Dharys war sein bester Helfer, deshalb hatte er ihn ausgeschickt. Die Übertragung über das Relais war ein wenig gestört, und der Erleuchtete vermutete, daß seine Augenzelle einen Fehler aufwies und bald ausfallen würde. Zuvor jedoch mußte Dharys seinen Auftrag ausgeführt haben. »Beeile dich«, forderte er. »Aber suche gründlich. Vermutlich hält EVOLO sich im Zentrum der Wolke auf!« Er beobachtete, wie sein Helfer den Nebel genauestens absuchte. Aber so sehr er sich auch Mühe gab, EVOLO konnte er nicht finden. »Du mußt dich irren«, sagte der Verzerrte schließlich. »Hier gibt es nichts, was wie Nebel aussieht. Oder ist es möglich, daß EVOLO von der Wolke absorbiert wurde?« »Nein«, sagte der Erleuchtete entschieden. »Dann würden wenigstens die in deinem Schiff eingebauten Taster auf die Anwesenheit meines Geschöpfs reagieren. Dennoch suche weiter. Es kann nicht sein. EVOLO muß sich in Wrackbank aufhalten!« Der Verzerrte hatte keine rechte Vorstellung davon, was EVOLO eigentlich war. Er glaubte fest an das, was der Erleuchtete ihm sagte, und er konnte sich genauso wenig vorstellen, daß diesem ein Fehler unterlaufen war. Dennoch, EVOLO blieb verschwunden. Schließlich setzte sich der Verzerrte von sich aus mit dem Erleuchteten in Verbindung und überspielte ihm alle Aufzeichnungen. Der Erleuchtete ließ sie auswerten, und dann gab er seinem Helfer Antwort. »Du kannst nichts dafür, ich vertraue dir«, sagte er. »Es ist
unfaßbar. EVOLO hält sich nicht in Wrackbank auf!«
4. Der Segen Ler-Onts wirkte sich auf den Kriegszug und alle seine Begleitumstände aus. Adkors Heer fand einen kleinen Bach, als die Krieger Durst verspürten. Die ausgeschickten Jäger kehrten mit reicher Beute zurück, und der Marsch durch den Dschungel erwies sich als Leichtigkeit. Die Jungkrieger waren unterwegs und spähten, aber sie meldeten kein einziges Mal, daß die Gnorze in Sichtweite waren. Die Tage und Nachte vergingen, und nach Adkors Empfinden mußte noch im Licht der Vormittagssonne die Ebene von Tarmenpai auftauchen. »Spitzt eure Pfeile!« riet der Lagerführer. »Und übt euch in der Konzentration für den Kampf. Wir werden Tarmenpai im Sturm nehmen!« Kriegszüge waren nichts Außergewöhnliches auf Leron. Mal zog dieser Stamm aus, mal jener. Es war noch keinen ganzen Sonnenlauf her, daß der Stamm Sitka vor den Toren Schatullas erschienen war. Damals hatten die Bewohner der Stadt über dem Vulkan in steinernen Behältern Lava aus dem Orarot herbeigeschafft und über die Mauern auf die Angreifer geschüttet. Die Sitka hatten den Rückzug angetreten, und zu ihrem Pech waren ihre Scharen unterwegs auch noch in einen Hinterhalt der Sittenstrolche geraten. Schatulla waren am nächsten Tag ausgezogen, um die Toten einzusammeln und in einer Felshöhle zu beerdigen. Die Sitka hatten die Gegend Hals über Kopf geräumt, und noch lange hatte man entlang der Handelsstraße über diesen mißglückten Kriegszug gesprochen. Den Schatulla würde so etwas nicht passieren. Adkor war fest davon überzeugt, und nachdem er eine kräftigende Mahlzeit zu sich genommen hatte, inspizierte er zum letzten Mal seine Krieger. Als
die Jungkrieger von ihrem Spähgang zurückkehrten, gab er das Zeichen zum Aufbruch. Erneut klang das Zischen und Schlagen der langen Steinmesser auf, mit denen die Vorhut die Bresche in den Dschungel schlug. Der Rhythmus und das Prasseln der Äste beruhigte die SchatullaLeronen. Während Gulbert Leron am Himmel emporstieg, wurde der Abstand zwischen den einzelnen Bäumen größer, und das Unterholz lichtete sich. Eine halbe Sandzeit später hörte der Wald auf, und sie standen an einem leicht abfallenden Hang. Die Ebene von Tarmenpai lag vor ihnen. Adkor sandte erneut die Späher aus. Er wartete diesmal jedoch nicht auf ihre Rückkehr, sondern setzte das Heer in Bewegung. Weit in der Ferne glitzerten ein paar Türme, und zwischen ihnen befanden sich – noch im Dunst verborgen – die Palisadenmauern der Stadt. »Wir kommen!« flüsterte Adkor unter dem Beifall seiner Unterführer und ältesten Krieger. »Badowein wird sich nicht freuen, wenn er zurückkehrt. Er wird wünschen, nie zu seiner Pilgerfahrt aufgebrochen zu sein!« Der Zug der Schatulla bewegte sich in die Ebene hinab und durchquerte sie. Die Sonne erreichte inzwischen den Zenit, und noch immer war nirgends ein Gnorze zu sehen. Das Gnorzenland schien verlassen. Von Osten her zog sich eine dunkle Spur durch die Ebene. Dort war das Gras niedergetreten worden und hatte sich erstaunlich lange nicht aufgerichtet. Die Spur konnte nur von dem Heer stammen, das Badowein gefolgt war, um den Schatulla entgegenzugehen. »Dort drüben befindet sich eine Bodenwelle!« Adkor deutete nach Westen. »Das Schicksal ist uns günstig. Wenn wir ihr folgen, gelangen wir ungesehen bis in die Nähe der Stadt!« Die Späher kehrten zurück und berichteten, daß das Gnorzenheer aufgetaucht war. Es war jedoch nur halb so groß wie in der Zeit vor dem Heiligen Berg. Der Lagerführer wurde stutzig, dann jedoch
reimte er sich die einzelnen Steinchen zu einem Spiel zusammen. Es gab nur eine Erklärung. Die andere Hälfte der Gnorze war Dawok und den Frauen gefolgt. Es bestand Gefahr für Schatulla. Adkor schickte zehn Krieger auf dem schnellsten Weg nach Hause. Er suchte sich junge, leichte Läufer aus. Sie sollten versuchen, die Stadt wenigstens noch während der Kampfhandlungen zu erreichen und zu retten, was zu retten war. Wenn Schatulla den Gnorze in die Hände fiel und Tarmenpai den Schatulla, dann war der Kriegszug sinnlos und ohne Ertrag. Dann würden die Städte und die Toten gegeneinander getauscht werden. Das Volk von Leron würde sich kranklachen über einen solchen Streich. Der Zug verschwand hinter der Bodenwelle und näherte sich der Stadt. An ihrem Ende waren nur noch etwa tausend Manneslängen bis zu den Toren und den Palisaden zu überbrücken. Adkor ließ anhalten. »Fünf Gruppen zu je sechs Mann schleichen los. Ihre Aufgabe ist es, sich der Stadt unbemerkt zu nähern. Sie müssen nach Möglichkeit bis hinter die Tore kommen und die Stadtwachen überwältigen, sobald wir angreifen!« Er stellte die Gruppen zusammen und schickte sie los. Sie befanden sich kaum außer Sichtweite, da änderte sich die Lage grundlegend. Vor der Stadt entstand ein brauner Streifen, der sich heftig bewegte. Adkor kniff die Augen zusammen, bis er erkannte, worum es sich handelte. »Krieger!« stieß er hervor. »Es kann sich nur um Krieger handeln. Es sind viele hundert. Soviele kann Tarmenpai nicht besitzen. Wo kommen sie her?« Er dachte flüchtig an den Stamm der Gresti, aber dann erkannte er seinen Gedankenfehler. Er wußte jetzt, wer dort auf ihn wartete. »Ler-Ont soll sie holen. Sie sind uns zuvorgekommen. Es ist das halbe Heer!« Die breite Spur durch die Ebene, sie stammte von dem halben
Gnorzenheer, das auf dem schnellsten Weg nach Tarmenpai zurückgekehrt war. Und die zweite Hälfte näherte sich direkt von Norden und folgte den Schatulla auf ihrer eigenen Spur. »Läufer hinaus zu den Gruppen!« schrie er. »Sie sollen sofort zurückkehren!« Er selbst kletterte auf die Bodenwelle und blickte zurück. Sie kamen. Sie rannten förmlich aus dem Dschungel heraus und in die Ebene hinein, und die Krieger vor den Toren hielten nicht an, sondern bewegten sich ebenfalls in die Ebene hinein. Die Schatulla saßen in der Falle. Adkor rief die Unterführer und gab ihnen rasch Anweisungen. Willkürlich wählte er ein paar der Männer zu seiner Begleitung aus. »Durchbruch nach Osten!« brüllte er. »Offene Formation. Wir dürfen dem Gegner keine Front zum Kampf bieten!« Der Kampf war bereits jetzt verloren. Der Kriegszug der Schatulla geriet in Unordnung. Die Männer faßten ihre Waffen und rannten in Richtung Osten davon. Nur Adkor blieb mit seiner Bedeckung zurück. Auch er wandte sich nach Osten, aber er entfachte mit seinen Helfern einen solchen Lärm, daß die Gnorze zumindest über die Anzahl der Zurückgebliebenen getäuscht wurden. Adkor handelte kalt und konsequent. Er war der erfahrenste Lagerführer, und er durfte in einer solchen Situation nicht den Fehler machen, sich in Selbstvorwürfen zu verlieren. Er würde sich bei einer Rückkehr nach Schatulla von selbst anklagen und um seine Ablösung und eine gerechte Bestrafung bitten. Er wußte, daß sein Versagen bei Gremen eine gerechte Beurteilung erfahren würde. Adkors Umsicht war es zu verdanken, daß achtzig Prozent des Heeres von Schatulla unangefochten die Heimat erreichten. Die übrigen zwanzig Prozent wurden noch in der Ebene aufgerieben oder bis dicht vor die Stadt gedrängt. Der Lagerführer selbst und seine Bedeckung hielt sich bis zuletzt, und der Durchbruch nach Südwesten wäre gelungen, wenn nicht ein Ereignis eingetreten
wäre, das die Gnorze verunsicherte und ihre Reihen stocken ließ, bei Adkor jedoch einen solchen Schock hervorrief, daß er weder bereit noch in der Lage war, weiterhin seinen Bogen zu halten. Er warf ihn einfach weg und den Speer dazu. Von Norden her war ein Donnergrollen aufgeklungen. Es kam von weit aus dem Dschungel, und es entwickelte sich zu einem Dröhnen, daß es dem Lagerführer angst und bange wurde. Dunkler Staub stieg in die Luft und blieb als riesige Wolke über dem Urwald hängen. Sie wuchs immer weiter an, und selbst auf die weite Entfernung war zu erkennen, daß dort gewaltige Felsen und Dreck in die Luft geschleudert wurden. »Ler-Ont steh uns bei!« stammelte Adkor. »Er hat uns verlassen. Unser Kriegszug hat nicht den Gefallen unseres Gottes gefunden. Die Heiligen haben uns mit dem Segen getäuscht!« »Nein, Adkor!« Es war Vertyn mit der Sichel, der sprach. »So kann es nicht sein. Ler-Ont zürnt uns nicht. Etwas anderes ist geschehen. Entweder hat Ler-Ont einen Kampf verloren, oder er hat Leron verlassen, wie einst Manache Leron es tat!« Er blickte hinauf zur Sonne, um sich zu vergewissern, daß Gulbert Leron noch da war. Die Sonne zeigte keine Unregelmäßigkeiten, aber das konnte die SchatuUa nicht mehr beruhigen. Über dem Urwald wuchs der dunkle Fleck immer weiter, und die Schatulla rührten sich nicht mehr vom Fleck. Jeder wußte, was geschehen war. Es gab nur diesen einen Berg im Dschungel, und Adkor dachte an die vielen Pilger, die dort beteten. Ihnen war ein schlimmeres Schicksal beschert als dem kleinen Häufchen Schatulla, das endgültig die Waffen streckte und sich gefangennehmen ließ. Auch die Gnorze waren nicht mehr bei der Sache. Es floß kein Blut mehr, die Schatulla wurden nicht einmal gefesselt. Der Heilige Berg war zerrissen worden. Ler-Ont, was war mit ihm? Weder Gnorze noch Schatulla sprachen ein Wort. Stumm marschierten sie hinein nach Tarmenpai. Adkor hoffte lediglich, daß die Frauen unter Dawoks Führung
wohlbehalten die Stadt über dem Vulkan erreichten und auch die Krieger die Heimat erreichten. Sein eigenes Schicksal war ihm egal. Adkor spürte in sich lediglich eine fürchterliche Leere.
* Sechstes Hologramm »Es kommen weitere zehn Schiffe an!« stellte der Verzerrte fest. »Sie kreisen Wrackbank ein und nehmen die Suche auf. Warum traust du mir nicht?« »Es ist nicht Mißtrauen«, erwiderte der Erleuchtete. »Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Etwas ist schiefgelaufen, aber die Hyptons dürfen davon nichts erfahren. Sie tragen keine Schuld daran, daß EVOLO verschwunden ist. Ich kenne sie gut genug und weiß, wann sie die Wahrheit sagen oder nicht.« »Ich verstehe. Du willst den Schein wahren. Du schickst mir alle zur Verfügung stehenden Hilfskräfte. Es soll der Eindruck erweckt werden, als sei EVOLO eingetroffen und es würde fieberhaft an seiner Vollendung gearbeitet.« »Du hast es erkannt. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, denn noch können die Hyptons nichts mit den verschlüsselten Koordinaten anfangen. Aber sie werden eines Tages kommen und suchen. Es hat aber noch einen anderen Grund, den ich dir …« »Die Verbindung ist unterbrochen, Erleuchteter. Ich verstehe dich nicht mehr. Es ist bereits über eine Stunde vergangen!« »Ein weiteres Indiz. Mit der Brücke gibt es Schwierigkeiten. Ich habe alle Sender und Empfänger geprüft. Sie sind in Ordnung. Also kann es nur an der Brücke liegen. Ich habe einen schwerwiegenden Verdacht. Es ist Sabotage wie das Ausbleiben EVO-LOS. Es gibt nur zwei Gegner, die dahinterstecken können, Atlan oder Anima. Sie haben in Alkordoom schon zusammengearbeitet. Wir müssen sie
schnellstens finden!« »Es wird schwierig sein, sie zu finden. Atlans Spur hat sich verloren.« »Das liegt an Anima. Verlasse du jetzt Wrackbank. Du bekommst von mir einen neuen Auftrag. Verlasse die H-Plus-Wolke und suche nach den Saboteuren, finde vor allem EVOLO.« »Ich mache mich sofort auf den Weg«, versicherte der Verzerrte. »Aber mir scheint, die Verbindung zwischen uns wird bereits wieder schwächer.« »Ich werde mich darum kümmern«, sagte der Erleuchtete. »Die Brücke ist für mich so gut wie wertlos! Aber ich werde andere Mittel und Wege finden, mich mit dir in Verbindung zu …«
* Der Aufruhr im Tal hatte sich gelegt, aber die Leronen waren nur zu einem kleinen Teil zu ihrer Meditation zurückgekehrt. Unfas, der eine gewisse Autorität am Heiligen Berg darstellte, erhielt laufend Besuch von anderen Heiligen. Niedergeschlagen wandte er sich an die Götterboten. »Ihr müßt uns jetzt helfen«, erklärte er. »Wir sind verwirrt und können uns nicht konzentrieren!« Atlan bestätigte ihm, daß es seine Absicht war, zu helfen. Er durfte keine Zeit verlieren. Der Erleuchtete war gewarnt. Sie hatten mit Hilfe des Hologramms nicht erkennen können, zu wem er gesprochen hatte. Die Gestalt und deren Stimme war verzerrt gewesen, und der Arkonide schob es der gestörten Meditation in die Schuhe. Der Erleuchtete hatte aber begriffen, daß mit seiner Brücke etwas nicht stimmte. Er würde der Sache nachgehen. Da sich nichts in dem Berg befand, womit er dies tun konnte, würde er ein Schiff schicken. Der Arkonide setzte sich mit der STERNSCHNUPPE in
Verbindung und gab ihr Anweisung, sich jetzt ausschließlich auf die Raumortung zu konzentrieren und alles für eine Flucht vorzubereiten. Er hatte keine Lust, sich mit den Häschern des Erleuchteten anzulegen. Leron war eine Enttäuschung für ihn und seine beiden Begleiter. Sie hatten lediglich das Relais gefunden, jedoch keine Spur, die direkt zum Erleuchteten und seinem Schlupfwinkel führte. Er setzte Unfas die neue Lage auseinander. »Du erkennst vielleicht, daß es jetzt besser ist, die Meditationen doch zu beenden. Verlaßt das Tal, wir gehen euch voran. Seht zu, daß ihr aus der Reichweite des Heiligen Berges kommt. Vielleicht taucht bald ein weiterer Himmelswagen auf, in dem böse Geister und Dämonen fliegen, die euch schaden wollen!« Die umstehenden Leronen hörten verwundert seine Worte. Sie erhofften sich von den Götterboten Hilfe, aber die Worte enttäuschten sie. Sie wurden traurig, und plötzlich stand Dadamda mitten unter ihnen und begann erneut mit seinen Hetzreden. »Habe ich es euch nicht gleich gesagt? Es sind keine Götterboten. Sie wollen nur unser Volk verführen. Sie wollen uns davon abbringen, daß wir zu Ler-Ont beten!« Atlan sprang auf und Dadamda entgegen. Der Hetzer verschwand in der Menge, aber der Arkonide folgte ihm. Die Leronen machten ihm bereitwillig Platz. Aus den Augenwinkeln heraus sah Atlan, daß Mrothyr ihm folgte. Der Zyrpher hatte starre Augen, ein deutliches Zeichen, daß ihm die Wut im Bauch steckte und er Lust zu einer handfesten Prügelei hatte. Dadamda floh durch das Tal und verschwand zwischen den Büschen und Bäumen. Atlan sah seinen Schatten, und er folgte ihm. Der Schatulla machte keine Anstalten, sich zu verstecken. Vorsicht! warnte der Extrasinn. Er hat etwas vor! Atlan eilte zwischen zwei Bäumen hindurch, und da sah er den Berater plötzlich vor sich. Er hatte unter seinen Rock gegriffen und etwas hervorgeholt. Es war eine Waffe, und sie zeigte auf die Brust
des Arkoniden. »Dein Weg ist hier zu Ende, Atlan«, verkündete der Schatulla. »Du hast meinem Herrn genug Schwierigkeiten gemacht.« Atlan war stehengeblieben. Er lauschte. Er hörte nichts. Hatte Mrothyr es aufgegeben, ihm zu folgen. Das war eigentlich nicht die Art des Zyrphers. Du mußt Zeit gewinnen! Ach ja? »Wer ist dein Herr?« fragte er. »Es ist der, der diesen Berg als Brücke benutzt! Nun ist sie für ein paar Stunden ausgefallen. Ich bin der heimliche Wächter der Brücke. Meine Aufgabe ist es, Störungen von den Leronen fernzuhalten. In deinem Fall ist mir das nicht früh genug gelungen. Zudem mußte ich herausfinden, welche Ziele du verfolgst.« »Und ist es dir gelungen?« »Du willst das Versteck des Erleuchteten finden. Das kennt niemand, auch ich nicht.« »Warum hat dein Herr nicht früher eingegriffen, nicht gleich nach unserer Ankunft in Schatulla?« »Er hat es wohl nicht bemerkt. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Er wird ein Schiff schicken. Dieses Schiff wird deine Leiche mitnehmen als Beweisstück!« Dadamda besitzt keine Möglichkeit, sich direkt mit dem Erleuchteten in Verbindung zu setzen, folgerte der Logiksektor. Der Erleuchtete tappt im dunkeln. »Ich habe nicht vor, mein Leben einfach aufzugeben«, sagte Atlan. »Der Erleuchtete kennt mich von früher her. Er wird keine Freude haben, wenn du mich tötest.« »Darüber mache dir keine Sorgen, Atlan!« Er drehte den Körper und lauschte. Auch der Arkonide spürte das Vibrieren, das durch den Boden lief. Es war nicht erkennbar, wo es seinen Ausgangspunkt nahm. Es war, als zittere die das Tal einhüllende Felswand vor Todesangst.
Dadamda hatte sich wieder unter Kontrolle. Er krümmte einen Finger um den Abzug der Strahlwaffe. »Und jetzt stirb, Atlan!« verkündete er. Ein feines Singen klang auf. Ein Energiestrahl raste durch die Luft und traf Dadamda unterhalb des Halses. Der Lerone ließ die Waffe fallen. Er griff sich an die Brust, dann knickten seine Beine ein. Er stürzte zu Boden und wälzte sich auf den Rücken. Das ging alles lautlos vor sich. Es war nur das Knacken von Zweigen zu hören, weil Mrothyr sich aus dem Gebüsch herausarbeitete. Ein Schatulla befand sich in seiner Begleitung, es war Gremen. »Ich habe alles gesehen, Atlan«, verkündete der Lehrer des Kriegshandwerks. »Ich bin Zeuge, daß Dadamda dich töten wollte. Der Wahnsinn muß ihn befallen haben!« »Es ist nicht der Wahnsinn, Gremen!« Der Arkonide deutete auf den Körper Dadamdas. Mit diesem ging eine schreckliche Verwandlung vor sich. Er löste sich auf und wurde zu einer gestaltlosen, braungrauen Masse, die sich träge wie ein Wurm am Boden wand. Mrothyr aktivierte den Ministrahler, den er in seiner Kombination mitgeführt hatte und zerstrahlte die Masse, bis sie vollständig verdampft war. Ein dunkler, feuchter Fleck blieb am Boden zurück. »Hast du je einen Leronen so sterben sehen?« fragte der Arkonide. »Es war kein Lerone. Vielleicht hat es früher einen Dadamda gegeben, Gremen. Aber spätestens seit jenem Zeitpunkt, da er aus dem Krater kletterte und nachts redete, war er nicht mehr Dadamda, sondern ein fremdes Wesen, das die Gestalt des Leronen angenommen hatte!« Wieder zitterte der Boden. Wieder lauschten sie. Und Gremen rief plötzlich: »Wenn der Fels bebt, dann zürnt Ler-Ont. Dann gibt es eine Katastrophe!« Atlan zuckte zusammen. Er ließ die beiden stehen und rannte in das Tal hinein. Er wies den Translator an, die stärkste Lautstärke zu
nehmen. »Verlaßt sofort das Tal!« schrie er. »Der Erleuchtete will sein Relais zerstören!« Sie hörten ihn. Voller Unglauben lauschten sie den Worten des Götterboten. Fast gleichzeitig tauchte auch Gremen auf und verkündete, was mit Dadamda gewesen war. Viele Leronen blieben stehen und tauschten ihre Gedanken aus. Unfas eilte herbei, begleitet von Chipol und den drei Jugendlichen. »Es kann nicht Ler-Ont sein, der zürnt«, erkannte der Heilige. »Aber wir wissen nicht, wo uns der Kopf steht. Was sollen wir tun?« »Verlaßt sofort das Tal!« sagte Atlan eindringlich. Er befürchtete das Schlimmste. Unter seinen Füßen begann es zu grollen. Unfas machte sich seinerseits auf den Weg und verständigte die übrigen Heiligen. Ein Teil von ihnen hatte damit begonnen, etliche hundert Leronen erneut in den Bann der Meditation zu ziehen. Sie waren das dauernde Hin und Her leid, aber da Unfas sie eindringlich mahnte, begannen sie ihre Arbeit abzubrechen. Vorsichtig machten sie sich daran, die Beter aus der Trance zu holen und sie zu wecken. Nach fast einer Sandzeit kehrte der Heilige zu den Götterboten zurück. Atlan deutete empor. Von der Oberfläche des Berges fiel Erdreich herab. Die ersten Blüten der Szentalaga folgten, und dann schüttelte sich der Heilige Berg, als wolle er das lästige Gewächs loswerden. »Hinaus!« schrie Atlan. »Weg aus dem Tal!« Diesmal schienen die Leronen seine Worte zu beherzigen. Sie drängten zu den Ausgängen, und es war nur gut, daß es mehrere davon gab. Atlan und seine Begleiter wandten sich zum Südausgang, und sie eilten den Pfad zwischen den Felsen entlang, bis sie das Massiv hinter sich gelassen hatten. Das Grollen war stärker geworden. Es wurde zu einem Donnern, und dann krachte es zum ersten Mal. Im Tal geschah etwas, und der Arkonide konnte sich lebhaft vorstellen, was da vor sich ging.
»Es ist der Berg«, sagte er. Er entdeckte einen Pfad, der rasch von der Felswand wegführte hinein in den Dschungel. Er folgte ihm, und kurze Zeit später stießen sie auf das Lager der Schatulla-Frauen. Dort wartete man noch immer auf die Rückkehr Dawoks. Inzwischen hatte man von befragten Talwächtern erfahren, daß er sich mit seinen Affen im Tal aufhielt. »Der Heilige Berg?« Unfas wollte es noch immer nicht glauben. »Er explodiert. Der Erleuchtete, der ihn als Relais benutzt hat, muß einen Weg gefunden haben, seine Brücke zu zerstören!« Ein Rauschen lag in der Luft. Es wurde stetig lauter und stieg immer weiter in die Höhe. Durch eine Lücke zwischen den Bäumen erkannten sie, wie eine dunkle Säule über dem Tal emporstieg. Ein Pflanzengewirr wurde in die Lüfte getragen, dann folgten die ersten Felsbrocken. Und das Steinmassiv, das das Tal einschloß, erbebte unter den ständigen Trümmerschlägen, die es erhielt. Für die Leronen mutete dies wie der Weltuntergang an. Immer höher stieg die Säule, und mit bloßem Auge waren riesige Felsblöcke und Gesteinstrümmer zu erkennen, die Hunderte von Mannslängen in die Luft schossen und dann in das Tal zurückfielen oder außerhalb in den Dschungel schlugen. Ein Hagelregen aus lauter kleinen Steinen und Splittern folgte, und das Ganze dauerte eine halbe Sandzeit an. Dann erst fiel die Säule in sich zusammen, erstarb das Grollen. Unheilvolle Stille breitete sich aus, nur durchbrochen von dem Schluchzen der Leronen. Unfas hatte sich an einem Baumstamm auf den Boden gesetzt. Von hoch oben aus dem Blätterdach kam ein letzter Stein gerutscht, prallte von Ast zu Ast und fiel eine Handbreite neben dem Heiligen zu Boden. Er achtete nicht darauf. Er hatte die Augen geschlossen, und die hellrosa Lider zitterten heftig. »Wir müssen sterben«, hauchte er kaum vernehmbar. »Ohne LerOnt ist unsere Kultur zum Untergang verurteilt!« »Nein!« sagte Atlan hart.
* Eine Sandzeit nach dem Unglück machten sich die Leronen auf. Sie drangen in das Tal ein und suchten nach Verwundeten und Toten. Es dauerte bis in die späte Dämmerung, dann wurde die Suche abgebrochen. Das Tal bot ein Bild der Verwüstung. Von dem Berg war nur ein riesiges Loch im Boden übrig. Das Felsgestein in diesem Loch war gesplittert wie Baumholz, in das ein gewaltiger Blitz eingeschlagen hatte. Überall im Tal lagen Felsbrocken herum, und mancher Verwundete hatte unter Lebensgefahr geborgen werden müssen. Nicht alle Leronen hatten rechtzeitig die Flucht geschafft. Etwa hundert hatten ihr Leben verloren, die Verletzten zählten weit über zweihundert. Die Frauen der Schatulla hatten alle Hände voll zu tun, gebrochene Gliedmaßen zu schienen und Rißwunden zu verbinden. An den meisten Feuerstellen wurde heißes Wasser gekocht, um die Wunden auszuwaschen und den Geschwächten eine Suppe zu bereiten. Überall lag Wehklagen in der Luft. Die Heiligen kamen zu den Götterboten. In ihren Augen lag ein stummer Vorwurf. Sie schienen jeden Lebenswillen verloren zu haben, und es war an jeder ihrer Bewegungen zu erkennen. »Dadamda hat dies alles verursacht«, verkündete Gremen mit heiserer Stimme. »Er hat die Zweifel und die Unruhe ins Tal gebracht. Er war ein Dämon, und er hat seine Strafe dafür erhalten. Aber es hat nichts mehr genützt, daß wir nach der Rückbesinnung suchten. Ein böser Feind hat das Tal und den Heiligen Berg zerstört. Die Pflanzen Manache Lerons sind vernichtet, und es gibt sie nirgendwo sonst auf unserem Planeten. Wir werden ewig auf sie verzichten müssen!« »Nein!« Chipol trat vor. Er winkte, und Gardra kam herbei. In einem Fellbeutel führte sie etwas mit sich.
»Nicht alle wurden vernichtet«, erklärte der Wagenlenker von Gulberts Feuerwagen. »Gardra, die junge Schatulla, hat ein paar der Pflanzen gefunden und sorgfältig ausgegraben. Wenn ihr sie wieder in die Erde legt und sie sorgfältig pflegt, werden sie erneut aufgehen, und ihr könnt irgendwo ein neues Tal damit bepflanzen.« »Was nützt es uns, jetzt, wo Ler-Ont von uns gegangen ist?« »Das ist der Fehler!« rief Atlan aus. »Dir denkt falsch. Erinnert euch an die Entstehung eurer Welt!« Er erzählte ihnen eine lange Geschichte und knüpfte an die Mythologie der Leronen an. Er machte ihnen klar, daß Ler-Ont nicht nur in dem Heiligen Berg war, sondern überall. Er steckte in jeder Pflanze und jedem Tier. Er steckte sogar in dem einen Horn, das Dawoks als einziger übriggebliebener Affe, noch trug. Ler-Ont war überall, und da die Leronen ihren Gott nicht als starren Körper verehrten, sondern geglaubt hatten, daß er geistig in dem Berg anwesend war, fand Atlan die Lücke, um ihnen den Ausweg aus ihrer inneren Not zu zeigen. »Die Priester mögen manches falsch gemacht haben«, sagte er. »Sie selbst wußten es nicht besser. Und manche ihrer Methoden entsprechen nicht den Vorstellungen der meisten Mitglieder eures Volkes. Ihr könnt dies ändern. Sucht euch neue Priester, die die Religion eures Gottes besser zu verkünden wissen. Und plagt euch nicht wegen der Widersprüche. Sie können aufgeklärt werden. Manache Leron stürzte vor langer Zeit hinter den Horizont und kehrte nicht mehr zurück. Manache stand dem Planeten näher als Gulbert, obwohl sie kleiner war. Und wenn einer von euch einmal in die Nähe des Schlundes kommt, dann kann er die ungefähre Größe Manaches erahnen. Das Licht der Nacht stürzte nur scheinbar hinter den Horizont. Es prallte gegen den Planeten und schlug ein tiefes Loch in ihn. Es schuf den Schlund, und tief in seinem Innern ruhen die Überreste Manaches.« Die Leronen schwiegen bedrückt. Atlan erzählte noch weiter. Er berichtete von dem, was hinter dem Himmelsgewölbe war. Er
machte ihnen klar, daß er und seine Begleiter nur einfache Götterboten waren, die nach Leron gekommen waren, um die Spur eines Feindes zu finden. Sie hatten sie gefunden, aber sie hatten nichts damit anfangen können. Daß er Gewissensbisse hatte, weil er nicht umsichtiger agiert hatte, das sagte er ihnen nicht. Aber er wurde mit jedem Satz nachdenklicher, und als er endgültig schwieg, da erhob Unfas seine Stimme. Der Heilige dankte den Götterboten für das, was sie getan hatten. Und er vergaß auch nicht, die Richtigkeit ihres Tuns durch seine eigenen Erkenntnisse zu untermauern. »Ich habe vorhin versucht zu meditieren«, bekannte er. »Ich habe festgestellt, daß es nicht geht. Seit der Berg zerstört ist, bin ich nicht in der Lage dazu. Den übrigen Heiligen ergeht es ebenso. Es mag sein, daß es der Schock ist. Ich sage euch, daß er in uns etwas verändert hat. Wir werden nie mehr in das Tal gehen, um dort zu Ler-Ont zu beten. Wir werden uns etwas anderes suchen, und es wird ebenso richtig sein wie das, was wir bisher getan haben!« Zustimmendes Gemurmel kam auf, und als Gulbert Leron zu einem neuen Tag aufging, da wurden die ersten Tragen und Bahren gefertigt, um einen Teil der Verwundeten abzutransportieren. Badoweins Sänfte war ebenfalls bei dem Unglück zerstört worden, aber der Pilger war froh, wenigstens heil davongekommen zu sein. Für ihn zählte nur eines, nämlich daß er seine Bitten und Gebete an Ler-Ont rechtzeitig losgeworden war und den Gnorze in Tarmenpai Rechenschaft darüber ablegen konnte.
* Zwei Stunden später senkte sich die STERNSCHNUPPE über das Lager. Sie landete zwischen den Feuern, und nach einem herzlichen Abschied, stiegen Atlan, Mrothyr und Chipol die Rampe hinauf und verschwanden im Innern ihres Raumfahrzeugs. Atlan ließ sich
schwer in einen der Sessel fallen. »Es ist noch nichts in der Nähe«, verkündete das Schiff. »Kein Raumfahrzeug!« »Dennoch verschwinden wir am besten sofort!« meinte Mrothyr. Die STERNSCHNUPPE stieg in den Himmel Lerons hinauf. Für die Leronen wurde sie wieder zu einem glitzernden Punkt am Firmament, der immer kleiner wurde und schließlich verschwand. »Was meinst du, werden sie uns in Erinnerung behalten?« wollte Chipol wissen. Da Atlan keine Antwort gab, blickte er Mrothyr an. Der Zyrpher gluckste. »Bestimmt. Es ist nur die Frage, was sie aus uns machen!« »Seid still!« Atlans Stimme klang unwillig. Er machte ein verschlossenes Gesicht. Seine Gedanken weilten bei den Fehlern, die sie gemacht hatten. Sie hätten damit rechnen müssen, daß der Erleuchtete die Möglichkeit besaß, sein Relais zu schützen oder zu vernichten. Es hatte Opfer gegeben, und sie hatten keine Spur gefunden, die direkt zum Erleuchteten führte. Allem Anschein nach hatte das Ereignis auch einen Schock bei den Leronen ausgelöst. Sie hatten ihre Fähigkeit verloren, einen Meditationsverbund zu bilden und kamen somit für den Erleuchteten nicht mehr als Relais in Frage. Dennoch war Leron nicht völlig vor dem Gegner sicher. Er hatte etwas gemerkt und würde mit Sicherheit ein Schiff schicken, um nach den Ursachen zu forschen. Bis dahin wollte Atlan über alle »Berge« sein. Die STERNSCHNUPPE verließ den Tabusektor Leron. Die Brücke zum Erleuchteten existierte nicht mehr, und der Arkonide fragte sich, wie sich der Erleuchtete von nun an mit seinen Helfern in Verbindung setzte. Bestimmt besaß er auch noch andere Möglichkeiten, die ihm jedoch nicht so vielfältig und so sicher erschienen. Sonst hätte er sich nicht der Brücke bedient. Sie war ein unauffälliges Mittel gewesen, über das er alle Befehle und Informationen laufen lassen konnte, auch die Gespräche mit den Kontakt- oder Augenzellen. Die Brücke lag sozusagen zwischen ihm
und den anderen Sendern und Empfängern. Sie war ein Hilfsmittel für eine zentralisierte Kommunikation und zugleich ein Trick der eigenen Absicherung. Auf den Aufenthaltsort des Erleuchteten ließ sich daraus nicht schließen. Und da die Brücke nichttechnischer Natur gewesen war, konnte sie nicht sofort als solche erkannt werden. Da die Leronen selbst nichts davon gewußt hatten, daß das Kollektivunterbewußtsein der Meditierenden als Relais für eine fremde Macht diente, wäre es nie gefunden worden, hätte nicht Traykon die Koordinaten geliefert. Atlan wandte den Kopf und beobachtete den Roboter. Traykon rührte sich nicht. Offensichtlich wartete er darauf, daß jemand ihn ansprach. Atlan dachte an das, was er in den Hologrammen erfahren hatte. Der Erleuchtete hatte keine Ahnung, daß sich Anima in der Gewalt der Hyptons befand. Sie betrachteten sie als Pfand und Druckmittel für spätere Zeiten. Da Anima für den Erleuchteten der Feind Nummer Eins war, besaßen sie einen Trumpf, der irgendwann stechen mußte. Und da war noch die Sache mit EVOLO. Offensichtlich hatte es eine Panne gegeben, und der Erleuchtete suchte die Schuld bei Anima und Atlan. Und er hielt auch Anima für die eigentliche Drahtzieherin, die hinter Guray und den Piraten steckte. Der Arkonide erinnerte sich an Phurthul und das, was er, über Guray erfahren hatte. Guray hatte selbst Hilfe gebraucht, und es war nicht sicher, ob dieses Wesen noch existierte. Aber wenn, dann bildete Guray nach wie vor einen bedeutenden Machtfaktor im Hintergrund, der sich irgendwann auswirken konnte. Atlan wußte es nicht, er glaubte auch nicht recht daran. Aber er spekulierte wenigstens damit, daß er Guray vielleicht eines Tages doch noch als Verbündeten gewinnen konnte. Im Augenblick wußte er jedoch nicht, was wichtiger war. Der Kampf gegen den Erleuchteten und die Hyptons, oder die Suche
nach dem verschwundenen EVOLO.
ENDE
Die Zerstörung der »Brücke zum Erleuchteten« bedeutet für die Leronen einen Neubeginn. Für Atlan und seine Gefährten hingegen wird es nach der Vernichtung dieses Hilfsmittels ihres Gegners höchste Zeit, in den Weiten des Alls zu verschwinden, wo neue Abenteuer auf die Crew der STERNSCHNUPPE warten. Mehr darüber berichtet Hans Kneifel im nächsten Atlan-Roman unter dem Titel: VOM ERLEUCHTETEN VERFOLGT