Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 700
Spur des Erleuchteten Die Jagd auf den Unheimlichen beginnt
von Marianne Syd...
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 700
Spur des Erleuchteten Die Jagd auf den Unheimlichen beginnt
von Marianne Sydow
Auf Terra schreibt man den Anfang des Jahres 3819. Es ist noch gar nicht lange her, als Atlan von den Kosmokraten aus seinem Dasein als Orakel von Krandhor abrupt herausgerissen und in die Galaxis Alkordoom versetzt wurde, wo eine Entwicklung im Gang war, die das weitere Bestehen der Mächte der Ordnung in Frage zu stellen schien. Nun, nach einer Unzahl lebensgefährlicher Situationen, die der Arkonide sowohl mit Glück als auch mit Geschick heil überstand, erfolgt die überhastete Flucht des »Erleuchteten«, also des mysteriösen Lenkers von Alkordoom, auf dessen Bekämpfung Atlan von den Hohen Mächten angesetzt worden war. Die Flucht des Herrschers von Alkordoom beendet auch Atlans bisheriges Wirken in diesem Bereich des Universums. Eine neue, unvermittelte Ortsversetzung steht dem Arkoniden bevor, und ehe Atlan sich’s versieht, findet er sich, noch eben dem sicheren Tode nahe, in völlig unbekannter Umgebung wieder. Ein eigenwilliges Raumschiff, für seinen persönlichen Gebrauch bestimmt, erwartet Atlan und bietet ihm die Möglichkeit, die neue Galaxis zu bereisen und die Spur seines alten Gegners aufzunehmen – die SPUR DES ERLEUCHTETEN…
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Arkonide in einer anderen Galaxis – mit einem anderen Schiff. Chipol – Ein junger, »normaler« Daila. Lyn – Chipols jüngerer Bruder. Dharys – Chipols Vater. Kerlon – Heiler der Daila.
1. »Guten Morgen«, sagte das Schiff höflich, als Atlan erwachte. »Ich hoffe, du hattest angenehme Träume.« »Du wirst eine Weile warten müssen, bis diese Hoffnung sich erfüllt«, erwiderte der Arkonide, denn im Traum hatte er noch einmal erlebt, wie das Auge des Erleuchteten über ihm zusammenbrach, Colemayn in einer Lichterscheinung verging und er selbst aus den brennenden Trümmern mit knapper Not entkommen konnte. Er hatte den Sog gespürt und die Botschaft der Kosmokraten gehört. »Dein Auftrag ist noch nicht erfüllt. Wir wissen, in welche Galaxis der Erleuchtete flieht, aber es wird allein deine Aufgabe sein, ihn dort zu finden und zu stellen!« Eine sehr kurze Botschaft, fand der Arkonide, und ziemlich nichtssagend. Was war das für eine Galaxis, in der er hier gelandet war? Wie lange hatte der Transport gedauert? War der Erleuchtete schon angekommen? Es gab niemanden, der ihm diese Fragen beantworten konnte. Oder doch? »Was weißt du über den Erleuchteten?« fragte er. »Ist das ein Lebewesen?« fragte das Schiff zurück. »Wenn ich das wüßte, wäre ich um ein gutes Stück schlauer«, erklärte der Arkonide bedrückt. »Ich bin hierhergebracht worden, damit ich ihn suche. Ihn und EVOLO.« »Ich fürchte, daß ich weder EVOLO noch den Erleuchteten kenne«, bemerkte das Schiff. »Aber möglicherweise besitze ich etwas, das dir bei deiner Suche behilflich sein kann. Sieh auf das Licht.« Der Arkonide folgte diesem Rat und entdeckte im Rund der Kommandozentrale ein Gerät, das nicht so recht in den harmonischen Aufbau der übrigen Bedienungselemente passen wollte. »Was ist das?« fragte er. »Ein Psi-Spürer«, erwiderte das Schiff lakonisch. »Das klingt gar nicht übel«, murmelte der Arkonide. »Der Erleuchtete hat in Alkordoom Unmengen von Psi-Potentialen gesammelt. Wenn wir diese Psi-Potentiale anmessen könnten… Wie bedient man den Psi-Spürer?« »Das mache ich schon«, wehrte das Schiff ab. »So etwas ist keine Arbeit für ein lebendes Wesen wie dich. Warte, ich werde das Gerät aktivieren.« »Warum zeigst du mir nicht einfach, wie man es macht?« »Ich will mich nicht mit dir streiten«, sagte das Schiff. »Aber ich bin das Schiff, und du bist mein Passagier. Du solltest alle technischen Dinge mir überlassen.« »Und was soll ich inzwischen tun? Däumchen drehen?« »Wozu die Ungeduld? Du wirst noch genug zu tun bekommen. Sieh auf den kleinen Bildschirm – der Psi-Spürer hat etwas entdeckt. Die Reichweite ist begrenzt«, erläuterte das Schiff das, was Atlan auf dem Schirm erblickte. »Die beiden Psi-Quellen, die der Spürer anzeigt, müssen sich also in diesem Sonnensystem befinden – in demselben, zu dem auch dieser Planet hier gehört.« »Und die Helligkeitsunterschiede? Bedeuten sie, daß die eine Quelle sehr stark oder einfach nur sehr nahe ist!« »Das läßt sich nicht genau sagen. Der Psi-Spürer gibt die Richtung an, in der wir nach einer PsiQuelle suchen müssen, aber er sagt nichts über die Entfernung aus.«
»Was weißt du über dieses Sonnensystem?« »Nicht genug, um uns mit Hilfe einer Projektion Klarheit zu verschaffen«, erklärte das Schiff. »Wir sollten diesen Planeten verlassen, damit ich mir die nötigen Daten verschaffen kann.« Atlan warf einen Blick auf den Hauptbildschirm. Er zeigte eine öde, düstere Landschaft aus staubigen Ebenen und einzelnen, riesigen Felsen unter einem schwarzen, sternenbesäten Himmel. Dort draußen gab es keine Atmosphäre und kein Leben. Die Sonne dieses Systems war zu weit entfernt, um dem Planeten Wärme zu spenden. »Ich sehe nichts, was uns hier halten könnte«, stellte der Arkonide fest. »Starten wir also. Nimm Kurs auf die Psi-Quelle, die von hier aus als die stärkere erscheint.« »Eine vernünftige Entscheidung«, meinte das Schiff. »Du brauchst nicht in der Kommandozentrale zu bleiben, während ich den Kurs auf das von dir genannte Ziel einrichte. Du könntest inzwischen ein Bad nehmen und die Kleidung wechseln.« »Du meinst wohl, ich hätte es nötig, wie?« fragte der Arkonide. »Es steht mir nicht zu, dein Aussehen zu beurteilen«, erwiderte das Schiff ungerührt. Der Arkonide stand auf und streckte sich. Er hatte die Folgen der räumlichen Versetzung überwunden, aber er fühlte sich noch immer wie zerschlagen. Er sah an sich hinab – er trug noch immer den silbrigen Overall, in dem er in Alkordoom zu sich gekommen war. Auch, sein Chronometer war noch vorhanden. Er warf einen Blick darauf – das Gerät zeigte den dritten Januar des Jahres 3819 an. Sein Transport in diese unbekannte Galaxis hatte tatsächlich nur sehr kurze Zeit gedauert. Er beschloß, den Vorschlag des Schiffes anzunehmen. Gegen ein Bad und frische Kleidung war schließlich nichts einzuwenden, und ein anständiges Frühstück konnte auch nichts schaden. Er hatte schon vorher festgestellt, daß die Kommandozentrale einen geradezu luxuriösen Eindruck machte. Für die Wohnkabinen galt das doppelt. Es gab sechs davon, und Atlan nahm diejenige, die dem Eingang zur Kommandozentrale am nächsten war. Sobald er sich geduscht und gefrühstückt hatte, so nahm er sich vor, würde er sich in diesem Schiff genauer umsehen. »Wie siehst du eigentlich aus?« fragte er, als er wenig später in die Kommandozentrale zurückkehrte. Im gleichen Augenblick fiel ihm eine andere Frage ein, die ihm als mindestens ebenso wichtig erschien, aber auf dem Bildschirm erschien bereits eine Projektion, und so wartete er erst einmal ab. Das Schiff war ein Diskus, vierzig Meter breit und knapp zwanzig Meter hoch. Das Bild drehte sich, so daß er das Schiff aus allen Perspektiven betrachten konnte, dann wurde die Darstellung transparent und gewährte ihm einen Einblick in die verschiedenen Räumlichkeiten. Dabei fiel dem Arkoniden sofort ein sechs Meter breiter, das ganze Schiff in den Diskuskanten umlaufender Ring auf. »Was ist das?« fragte er. »Da drinnen befinden sich alle technischen Systeme, die nicht unbedingt außerhalb des Ringes untergebracht werden müssen.« »Das möchte ich mir genauer ansehen!« »Wenn du unbedingt willst«, meinte das Schiff und projizierte ein Wirrwarr von Linien in den Ring hinein. »Nicht so«, wehrte der Arkonide ärgerlich ab. »Ich möchte hineingehen.« »Tut mir leid, aber das geht nicht.« »So. Und warum nicht?« »Weil du ein lebendes Wesen bist«, erklärte das Schiff. »Glaube mir, das ist kein Ort, an dem ein
Wesen wie du sich aufhalten sollte. Du hättest dort drinnen zu wenig Platz, und du würdest großen Schaden an deiner Gesundheit nehmen. Ich kann das nicht verantworten.« »Das brauchst du auch gar nicht zu tun. Es ist meine Entscheidung, und die Verantwortung dafür trage ich selbst. Wo befindet sich der Einstieg?« »Es gibt keinen Einstieg.« »Keinen Einstieg? Und was machst du, wenn da drinnen mal etwas entzweigeht?« »Ich kann fast jeden Schaden selbst beheben.« »Fast«, nickte der Arkonide. »Und was geschieht bei jenen Pannen, mit denen du nicht klarkommst?« »Es ist sehr unwahrscheinlich, daß eine solche Situation eintritt.« »Ich will es trotzdem wissen. Also…« »Ich müßte dich um deine Hilfe bitten«, gab das Schiff zu. »Aha. Nachdem wir diese Frage geklärt haben, wirst du dich sicher dazu herablassen, mich in die Geheimnisse des Ringes einzuweihen.« »Das ist überflüssig!« Atlan, der bereits geglaubt hatte, den Sieg in der Tasche zu haben, zwang sich, tief durchzuatmen. »Das Innere des Ringes ist sehr kompliziert«, fuhr das Schiff fort. »Es würde nicht reichen, wenn ich es dir erkläre, und außerdem hättest du alles längst wieder vergessen, bis du diese Kenntnisse anwenden müßtest.« »Mein Gedächtnis ist sehr viel besser, als du zu glauben scheinst!« »Um so schlimmer. Du würdest dich mit Informationen belasten, die du vermutlich jahrelang mit dir herumschleppen müßtest, ehe du sie anwenden kannst. Wenn ich deine Hilfe wirklich brauche, dann kannst du zu den Lerngeräten gehen und binnen kürzester Zeit mehr erfahren, als ich dir jetzt beibringen könnte.« »Und wenn die Lerngeräte ausfallen?« »Das werden sie nicht tun. Man hat mich so gebaut, daß die optimale Sicherheit meiner Passagiere gewährleistet ist.« » Wer hat dich so gebaut?« »Ich glaube nicht, daß es dir etwas nützen würde, dies zu wissen.« »Die Entscheidung darüber, ob eine bestimmte Information nützlich ist oder nicht, kannst du getrost mir überlassen. Also komm schon, erzähle es mir!« »Es tut mir leid, aber das kann ich nicht.« »Diese Erklärung genügt mir nicht. Kannst du es nicht erklären, oder willst du es nicht? Oder hat man es dir vielleicht sogar verboten?« Das Schiff schwieg. »Die Sprache, in der du dich mit mir verständigst, heißt Interkosmo«, versuchte Atlan es auf einem anderen Weg. »Woher kennst du diese Sprache?« »Das weiß ich nicht.« »Und wer hat dich an den Treffpunkt gebracht?« »Das weiß ich ebenfalls nicht.« »Du bist entschlossen, mir nichts, aber auch gar nichts zu verraten, nicht wahr?« fragte der
Arkonide spöttisch. »Aber warte nur, eines Tages bekomme ich die Wahrheit doch heraus.« Das Schiff verzichtete auf eine Antwort. Atlan verließ die Kommandozentrale und begab sich auf die Suche nach etwas Eßbarem. Er fand eine automatische Küche und war nicht sonderlich überrascht, als er feststellte, daß die Geräte exakt auf seine Bedürfnisse eingestellt waren. Nach einem belegten Brot und einem Becher Kaffee setzte er seinen Rundgang fort. Er fand einen Aufenthaltsraum und mehrere kleine Kabinen, in denen man etwas für seine körperliche und geistige Fitneß tun konnte, sowie eine winzige, automatisch arbeitende Medostation. Er fand darüber hinaus alles, was man auf einem längeren Raumflug brauchte, einschließlich Raumanzügen, Translatoren und sogar Waffen. Letzteres verblüffte ihn. Auch das Schiff ist bewaffnet! bemerkte der Logiksektor. Nachdenklich kehrte der Arkonide in die Kommandozentrale zurück. Sein erster Blick galt dem Schirm des Psi-Spürers. Die beiden unterschiedlich hellen Lichtflecken, die darauf zu sehen waren, hatten sich nicht im geringsten verändert. »Hör mal«, sagte der Arkonide. »Ich kann dich nicht immer nur Schiff nennen. Ich möchte dir einen Namen geben.« »Es ist mir völlig egal, wie du mich nennst«, erwiderte das Schiff. »Ich werde jeden Namen akzeptieren. Er ist ohnehin nur für dich von Bedeutung. Wie immer du mich auch nennen magst – ich bin und bleibe das Schiff.« »Aber du wirst auf den Namen, den ich dir gebe, hören?« »Selbstverständlich.« »Nun gut, dann heißt du von jetzt an STERNSCHNUPPE!« »Gut«, sagte das Schiff. »Man hat mir schon schlimmere Namen gegeben.« »Zum Beispiel?« »Du bist ein komischer Kauz«, meinte das Schiff. »Ich hatte ja schon viele Passagiere, aber du bist wirklich einmalig. Was interessiert dich meine Vergangenheit? Wäre es für dich nicht wichtiger, zu wissen, wie es um die Gegenwart bestellt ist? Du hast mich noch nicht einmal gefragt, wie es um meine Ausrüstung steht. Du weißt nicht, was ich kann und was ich nicht kann. Interessiert dich das nicht?« »Weißt du, ich habe Augen im Kopf, und ich habe schon eine Menge Raumschiffe gesehen. Du bist ein bißchen luxuriöser ausgestattet, als ich es erwartet hätte, aber sonst? Warum fliegst du so langsam? Wir werden Stunden brauchen, bis wir unser Ziel erreicht haben!« »Meine Energiereserven waren schon fast erschöpft«, erklärte das Schiff. »Ich beziehe meine Energie aus dem Hyperraum, und ich nutze diese langsame Flugphase, um die Reserven aufzufüllen. Wenn du es sehr eilig hast, werde ich auf Überlichtgeschwindigkeit gehen.« »Es freut mich, zu hören, daß du das kannst«, sagte Atlan spöttisch. »Aber im Augenblick ist es nicht nötig. Was kannst du sonst noch?« »Ich bin bewaffnet«, sagte das Schiff. »Wenn ich angegriffen werde, kann ich mich wehren, obwohl ein solcher Angriff wenig Aussicht auf Erfolg hat, denn meine Schutzschirme sind sehr leistungsfähig.« »Das ist ein äußerst dehnbarer Begriff. Auf welcher Basis funktionieren deine Schirme?« »Ich glaube nicht, daß ich dir das ohne die Hilfe der Lerngeräte erklären kann.« »Versuche es doch einfach!«
»Ich habe jetzt genug Daten über dieses Sonnensystem gesammelt«, erklärte das Schiff, und Atlan erkannte ein wenig ärgerlich, daß es nicht so einfach sein würde, konkrete Informationen zu bekommen. War das Schiff von sich aus so darauf versessen, aus allem möglichen ein Geheimnis zu machen? Oder hatte man ihm verboten, über bestimmte Dinge zu reden? Es liegt an der Mentalität der Erbauer, behauptete der Extrasinn plötzlich. Es ist dafür bestimmt, seinen Passagieren die größtmögliche Bequemlichkeit zu bieten. Es wird alle technischen Probleme von dir fernhalten, solange ihm das möglich ist. ›Selbst gegen meinen ausdrücklichen Willen?‹ fragte Atlan skeptisch. ›Und auch dann, wenn ich ihm Fragen stelle?‹ Dann erst recht. Mit deinen Fragen offenbarst du eine gewisse Unwissenheit. Das Schiff darf dich nicht mit Informationen belasten, die du vielleicht nicht verkraften könntest. ›Großartig. Um mein Ziel zu erreichen, werde ich möglicherweise die Kapazität dieses Raumschiffes voll ausschöpfen müssen. Wie soll ich das tun, wenn ich nicht einmal weiß, welche Grenzen mir dabei gesetzt sind?‹ Du kannst diese Grenzen getrost sehr weit stecken. Dieses Schiff ist das Produkt einer überlegenen Technologie. Es wird dich nicht im Stich lassen! ›Da bin ich mir nicht so sicher. Mir kommt es eher wie das Produkt einer dekadenten Zivilisation vor. Eine Luxuskutsche, in der man im Raum herumgondeln kann, ohne sich um eventuelle Gefahren kümmern zu müssen.‹ Das Schiff ist bewaffnet! ›Das hat nichts zu sagen.‹ Der Logiksektor schwieg. Statt dessen meldete sich das Schiff. »Interessiert es dich nicht, wohin der Psi-Spürer uns führt?« fragte es. »Sag schon, wohin!« Auf dem Bildschirm erschien eine graphische Darstellung des Sonnensystems. »Der dritte Planet«, erklärte das Schiff. »Meinen Berechnungen nach dürfte es sich um eine heiße, trockene, Wüstenwelt handeln.« »Das macht nichts«, murmelte Atlan. »Wenn du genug Energie gespeichert hast, solltest du ein wenig schneller fliegen. Ich möchte den Erleuchteten nicht im letzten Moment verpassen – falls er sich dort befindet.« »Heißt das, daß ich mich auf einen Kampf vorbereiten muß?« »Allerdings.« »Dann wirst du dich noch ein wenig gedulden müssen«, erklärte das Schiff ungerührt. »Für einen Kampf reichen meine Reserven noch nicht wieder aus.« »Jetzt paß mal auf…« Glaubst du, das das etwas nützt? Der Arkonide wußte, daß das nicht der Fall war und schluckte das, was er hatte sagen wollen, wieder hinunter. »Ich werde mich ein bißchen umsehen«, sagte Atlan statt dessen. »Gib mir Bescheid, wenn du deine Reserven aufgefüllt hast.« »Ich werde mich beeilen«, versprach das Schiff.
Er schlenderte durch das ganze Schiff, und alle Räume waren ihm zugänglich. Nur der mysteriöse Ring blieb ihm versperrt. Er sah sich die Wandungen genau an, fand aber kein Schott und keine Luke, die er hätte öffnen können. Er war sicher, daß das Schiff ihn beobachtete und seine Bemühungen als das einstufte, was sie waren. Trotzdem meldete es sich nicht. Es war sich seiner Sache sicher, das stand fest. Es wußte ganz genau, daß Atlan nicht hinter diese Wand gelangen konnte. Warum hätte es also unnütze Diskussionen beginnen sollen? »Hallo, STERNSCHNUPPE«, sagte er nach geraumer Zeit. »Kannst du mich hören?« »Selbstverständlich.« »Weißt du, wer die Kosmokraten sind?« Das Schiff schwieg. »Hast du meine Frage nicht verstanden?« »Ich habe die Frage verstanden«, erklärte das Schiff ruhig. »Aber ich kann sie nicht beantworten.« »Du könntest zum Beispiel schlicht und einfach sagen, daß du die Kosmokraten kennst – oder auch nicht.« Keine Antwort. ›Ist das nicht wundervoll?‹ dachte Atlan sarkastisch. ›Was soll ich mit diesem verdammten Ding machen? Es bedrohen?‹ Du hättest damit sicher keinen Erfolg, behauptete der Extrasinn. Abgesehen davon wäre eine Drohung gegenüber dem Schiff unsinnig, denn du könntest sie nicht in die Tat umsetzen, ohne dich selbst dabei in Gefahr zu bringen. Der Arkonide verzichtete auf eine Antwort. Lange Zeit stand er vor der undurchdringlichen Wand, durch die der geheimnisvolle Ring vom Schiffinnern getrennt war. Zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit war er von den Kosmokraten in eine fremde Galaxis versetzt worden, und er sagte sich, daß es diesmal nicht anders als in Alkordoom war: Er hatte einen klaren Auftrag und ein klares Ziel. Er sollte den Erleuchteten finden und stellen und EVOLO unschädlich machen – was immer EVOLO auch sein mochte. Trotzdem war er verwirrt und verunsichert, und es war nicht nur das Verhalten des Schiffes, das ihn störte. Man hatte ihn sehr plötzlich aus Alkordoom herausgerissen. Er hatte nicht einmal mehr genug Zeit gefunden, den Freunden, die er dort zurücklassen mußte, etwas zu erklären. Wahrscheinlich hielten sie ihn für tot, und er wäre in der Tat unweigerlich getötet worden, wenn die Kosmokraten nicht eingegriffen hätten. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, dem Trümmerstück vom Auge des Erleuchteten auszuweichen, hätte die nachfolgende Explosion ihn zerrissen. Hatten die Kosmokraten das gewußt und ihn deshalb dort herausgeholt? Hatten sie schon vorher erkannt, worauf die Entwicklung auf dem Planeten Ghuurm abzielte und daß der Erleuchtete fliehen würde? Auch wenn er den Kosmokraten unter den gegebenen Umständen für ihr schnelles Eingreifen dankbar sein mußte, hätte er zu gerne gewußt, warum die Versetzung in diese fremde Galaxis so schnell und so plötzlich hatte stattfinden müssen. Aber das war noch nicht alles, was ihn beunruhigte, sondern die Botschaft der Kosmokraten kam hinzu, und all dies zusammen beunruhigte den Arkoniden und erzeugte in ihm das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte, daß er irgend etwas übersehen hatte.
2. »Wenn ich erwachsen bin«, sagte Chipol zu seinem jüngeren Bruder Lyn, »werde ich zu den Raumfahrern gehen. Ich werde so viele fremde Welten kennenlernen, daß ich sie gar nicht mehr zählen kann.« »Du spinnst«, bemerkte Lyn leidenschaftslos. »Nein, ich weiß es genau«, behauptete Chipol wütend. »Ich habe davon geträumt. Dieser Traum wird in Erfüllung gehen, ob dir das paßt oder nicht.« »Du spinnst«, wiederholte Lyn unbeeindruckt. »Wenn einer von deinen Träumen wirklich mal in Erfüllung geht, dann höchstens durch puren Zufall, du taube Nuß.« »Selber taube Nuß! Wo ist denn dein Gurungu, he?« Lyn spähte ins kristallklare Wasser des Quellteiches, lehnte sich dann zurück und schloß die Augen. »Er schläft noch«, erklärte er schließlich. »Er hat eine Höhle, unter dem Felsen dort drüben.« »Eine Höhle!« spottete Chipol und verdrehte die Augen. »Vielleicht trägt er auch noch einen Schlafanzug, dein Gurungu. Ich möchte bloß wissen, warum ich immer wieder auf deine Geschichten hereinfalle. Gurungus schlafen nicht in Höhlen, sondern im Schlamm.« »In diesem Teich gibt es aber keinen Schlamm«, beharrte Lyn hartnäckig auf seiner Geschichte. »Und auch keine Gurungus«, stellte Chipol fest. »Hier gibt es überhaupt keine richtigen Fische. Wenn du im Unterricht aufgepaßt hättest, dann wüßtest du das.« »Ich habe nicht gesagt, daß es ein Gurungu ist. Auf jeden Fall ist es ein ziemlich großes Biest. Und es hat solche Zähne!« Lyn hielt seinen Zeigefinger hoch, um zu zeigen, wie gewaltig die Zähne des angeblichen Gurungus waren. »Er könnte dir mit einem Haps den Arm abbeißen.« »Ja, natürlich. Und abends kommt er aus dem Teich und frißt kleine Kinder.« Lyn klaubte beleidigt eine Handvoll von kleinen Kieseln zusammen und warf sie nacheinander ins Wasser. Chipol folgte seinem Beispiel und bombardierte den Felsen, unter dem sich die Höhle befinden sollte. »Hör auf damit«, bat Lyn nach kurzer Zeit ängstlich. »Du machst ihn wütend.« »Na fabelhaft«, meinte Chipol, der an die Existenz des angeblichen Gurungus nicht glaubte. »Dann kommt er wenigstens zum Vorschein. Du kannst ja schon mal einen Wagen aus dem Lager holen, damit wir deinen Gurungu abtransportieren können.« Die Steine knallten gegen den Felsen, prallten ab und plumpsten mit einem glucksenden Geräusch ins Wasser. Chipol saß am Rand einer Klippe und baumelte mit den Beinen. Seine Füße quirlten das Wasser auf. Wenn es darum ging, mit Steinchen zu werfen, war er ein sehr treffsicherer Schütze. Das Knallen und das Glucksen berauschten ihn regelrecht. Nebenher bemerkte er, daß Lyn sich mit ängstlicher Miene vom Rand der Klippe zurückzog, und er lächelte verächtlich. »Chipol!« sagte Lyn flehend. »Hör auf!« »Warum?« fragte Chipol höhnisch. »Hast du Angst? Dann lauf zurück ins Lager.« »Hör mir zu, Chipol! Diesen Gurungu gibt es wirklich. Es ist vielleicht kein richtiger Gurungu, aber es ist ein großes Tier, ein wirklich gefährliches Biest. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.« »Als es einen Sandwurm fraß. Das hast du mir schon erzählt. Man braucht keine langen Zähne, um einen Sandwurm zu verspeisen.« Chipol tastete nach neuen Steinen und erwischte einen dicken Brocken. Es krachte drüben beim Felsen, und Gesteinssplitter stoben nach allen Richtungen.
»Es war kein Sandwurm«, schluchzte Lyn. Chipol, einen weiteren großen Stein wurfbereit in der rechten Hand, hielt plötzlich inne. »Was denn sonst?« fragte er mißtrauisch. »Zuerst war es ein Sandwurm«, stammelte Lyn. »Und dann war es Quirr.« Chipol legte sein neues Wurfgeschoß behutsam zu Boden und starrte seinen jüngeren Bruder fassungslos an. Lyn war wie gelähmt vor Angst. »Ich wollte mit Quirr in die Hügel gehen«, berichtete Lyn so hastig, daß er zu stottern begann. »Aber er hat sich losgerissen und ist in die Oase gerannt. Ich habe versucht, ihn einzufangen, aber er hat mich nicht an sich herangelassen.« »Du meinst wohl, du hast dich nicht getraut, ihn anzufassen«, sagte Chipol verächtlich. Lyn wich den Blicken seines Bruders aus. »Er war plötzlich so anders«, sagte er schluchzend. »Ich hatte Angst vor ihm. Er wollte töten.« »Weiter!« befahl Chipol tonlos, obwohl er genau wußte, wie es sich zugetragen hatte. Er kannte Quirr und dessen Eigenarten besser als irgendein anderes Mitglied der Familie Sayum. »Da war dieser Sandwurm«, berichtete Lyn stockend. »Quirr wollte ihn töten. Der Sandwurm sprang ins Wasser, Quirr hinterher. Der Gurungu hat beide gefressen.« Chipol sah Lyn noch immer unverwandt an. Es war schon mehr als hundert Tage her, daß er in den Hügeln ein kleines, jammerndes Fellbündel gefunden hatte, das sich bei näherem Hinsehen als eine katzenähnliche Kreatur entpuppte. Chipol hatte es nicht übers Herz gebracht, das jammernde Junge zu töten. Es war den Kindern der Familie Sayum streng verboten, Tiere ins Lager zu bringen. Erstens weil man nie wissen konnte, was ein Tier vom Planeten Joquor-Sa bei der nächstbesten Gelegenheit alles anstellen mochte, zweitens weil die Daila weder Wasser noch Nahrung verschenken konnten, und drittens weil man diese Welt ohnehin bald verlassen würde. Die Kinder sollten gar nicht erst in Versuchung geraten, Schoßtiere nach Cairon zu schmuggeln – die Folgen wären unabsehbar gewesen. Aber Chipol hatte hoch und heilig versprochen, daß er Quirr nur aufziehen und dann in die Freiheit entlassen wollte, und außerdem stellte es sich heraus, daß Quirr sich ausschließlich von Sandwürmern ernährte und so gut wie niemals Wasser zu sich nahm. Nach kurzer Zeit war Quirr zahm wie ein Kätzchen und folgte Chipol auf Schritt und Tritt. Er war sanftmütig und anschmiegsam und tat niemandem etwas zuleide. Trotzdem fürchtete Chipol stets, daß man ihm. Quirr eines Tages nehmen würde. Vor ein paar Tagen hatte einer der älteren Jungen Chipol auf sehr häßliche Weise verspottet und beleidigt. Chipol hatte Broge daraufhin eine Tracht Prügel verabreicht und war von seinem Vater zu zwei Tagen Lagerdienst verdonnert worden. Das empfand Chipol als ungerecht und protestierte lautstark, mit dem Ergebnis, daß man ihm Quirr für die Dauer der Strafe wegnahm und Lyn in Pflege gab. Chipol hatte von Anfang an geahnt, daß dies das Ende seiner ungewöhnlichen Freundschaft zu einem Wesen von Joquor-Sa bedeutete, und er hatte recht behalten: Lyn war schon am ersten Tag ohne Quirr ins Lager zurückgekehrt. Es hieß, daß Quirr im Jagdeifer davongelaufen wäre. Im übrigen hätte Chipol ja ohnehin damit rechnen müssen, daß sein kleiner Freund sich irgendwann selbständig machen werde. Chipol aber wußte sehr genau, daß Quirr noch längst nicht die Absicht hatte, dies zu tun. Er war fest davon überzeugt, daß die anderen nachgeholfen hatten. Wahrscheinlich hatten sie Quirr weit in das Hügelland hineingebracht, damit er den Rückweg ins Lager nicht fand. Aber Chipol war andererseits auch daran gewöhnt, daß er seine Gefühle besser nicht allzu offen zeigte. Er hatte sich
gerade mit Mühe zu der Ansicht durchgerungen, daß Quirr es im Hügelland nicht schlecht hatte. Aber der Gedanke, daß Quirr tot war, war um vieles unerträglicher. »Du lügst«, sagte Chipol rauh. »Vater hat dir diese Geschichte eingetrichtert, nicht wahr? Er hat Angst, daß ich in die Hügel gehe und Quirr zurückbringe.« Er starrte Lyn an, der verängstigt auf der Klippe kauerte und keinen Ton zu sagen wagte. Lyn war ein Empath, und die Gefühle, die er jetzt von Chipol auffing, lähmten ihn regelrecht. Chipol hätte das wissen müssen. Man hatte es ihm oft genug gesagt. Aber Haß und Schmerz machten ihn blind und taub, und er sah nur noch Quirr vor sich, das einzige Wesen, von dem Chipol wußte, daß es ihn liebte. »Wenn der Gurungu Quirr gefressen hat, dann kann er auch dich fressen!« schrie er zornig und stieß Lyn von der Klippe hinab, in das kristallklare Wasser hinein. Lyn fiel reglos wie ein Stein, und erst die Berührung des kalten Wassers zerbrach den Bann des Schreckens: Er begann zu strampeln, tauchte mühsam auf und spuckte Wasser, und dann begann er zu schreien und zu zetern. Chipol lachte zornig. »Schrei du nur«, rief er seinem kleineren Bruder zu. »Hier hört dich niemand. Wo ist denn dein Gurungu? Glaubst du immer noch, daß er unter dem Felsen schläft?« Er hob den großen Stein auf und schmetterte ihn gegen den Felsen, daß die Splitter nach allen Seiten stoben. Lyn schrie lauter und zappelte wild, und Chipol erschrak, als er sah, daß Blut aus einer Wunde an der Schulter des Jungen drang. Einer der Splitter mußte Lyn dort getroffen haben. Die Wut verging, und Angst trat an ihre Stelle. Auch wenn Lyn ein Lügner war – ihn würde man auf keinen Fall bestrafen. Aber Chipol würde für all das büßen müssen, was an der Quelle geschehen war. Abgesehen davon hatte er nicht wirklich die Absicht gehabt, Lyn zu verletzten. Chipol warf sich auf den Bauch und streckte die Hand aus. »Halte dich fest«, befahl er. »Nun mach schon!« Aber Lyn griff ins Leere. Einen Augenblick später ging er plötzlich unter. Chipol sah einen großen, dunklen, langgestreckten Schatten und gleich darauf eine Wolke von Blut, die das Wasser färbte. Chipol war das schwarze Schaf in der Familie Sayum, er galt als Raufbold und Tunichtgut, aber eines ließ sich nicht abstreiten: Chipols Reaktionszeiten waren außerordentlich gut. Der junge Daila wunderte sich nicht einmal darüber, daß es den Gurungu aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz doch gab. Statt dessen zog er sein Jagdmesser und sprang ins Wasser. Lyn war vor Schreck und Schmerz wie gelähmt. Chipol steckte den Kopf ins Wasser, und als er den dunklen Schatten nirgends entdecken konnte, packte er seinen Bruder mit dem linken Arm und schleppte ihn schwimmend bis zu einer Stelle, an der er Lyn aus dem Wasser schieben konnte. Chipol hatte ihn gerade zur Hälfte auf eine ins Wasser ragende, schiefe Felsplatte geschoben, als er an seinem linken Bein etwas spürte – als würde jemand einen Streifen Sandpapier über seine Haut ziehen. Er ließ seinen Bruder los, krümmte sich und stach mit dem Messer zu, aber er traf nicht. Unter Wasser sah er sich um, erhaschte einen Blick auf einen geschmeidigen Körper und ein von Zähnen starrendes Maul und begriff, daß dieser Gegner zu groß war, als daß man ihn mit einem Messer erledigen konnte. Chipol stieß sich am Grund ab, schnellte sich nach oben und warf sich auf die Felsplatte. Er schürfte sich die Hände und die Knie auf, und das bittere Wasser brannte wie Feuer auf seinem Fleisch, aber er achtete nicht darauf, sondern packte seinen Bruder und zerrte ihn mit sich. Ein dunkler Körper schoß aus dem Wasser hervor, ein gieriges Maul schnappte nach den beiden Jungen. Dann sank das, was Lyn für einen Gurungu gehalten hatte, in den Teich zurück und verschwand.
Chipol fror trotz der brennenden Hitze. Er klapperte mit den Zähnen und zitterte am ganzen Leib. Sein Bruder lag neben ihm, bleich wie der Tod. Blut lief über den Felsen in den nun wieder stillen Teich. Die Bestie hatte Lyns rechtes Bein dicht unter dem Knie glatt durchgebissen. Mit fliegenden Händen band Chipol das Bein ab. Dann versuchte er, Lyn hochzuheben, aber er brauchte nur einen Augenblick, um zu begreifen, daß er seinen Bruder unmöglich bis ins Lager tragen konnte. Lyn war kaum zehn Zentimeter kleiner als Chipol. Er schleppte Lyn vom Teich weg und in den spärlichen Schatten einiger Bäume. Dann begann er zu rennen. Das Lager bestand aus einer kleinen Anzahl von aufblasbaren Plastikzelten, blasenförmigen, durchscheinenden Gebilden, in denen die Daila für die Zeit ihres Aufenthalts auf Joquor-Sa wohnten. Anfangs hatten sie die Absicht gehabt, das Lager innerhalb der Oase zu errichten, aber dann hatten sie festgestellt, daß ihnen das keinerlei Gewinn gebracht hätte. Im Gegenteil: In der Oase gingen nachts seltsame Dinge vor, und auch am Tage war es manchmal nicht ganz geheuer unter den merkwürdigen Bäumen. Chipol mußte rund eineinhalb Kilometer zurücklegen, um in Rufweite zu den Kuppeln zu gelangen. Bis endlich Hilfe unterwegs war, waren fast zehn Minuten seit dem »Unfall« vergangen. Man fand die Stelle, an der Chipol seinen Bruder zurückgelassen hatte. Eine seltsame Schleifspur führte von dort zum Teich. Lyn war verschwunden. *** Kerlon sah Chipols Vater hereinkommen und schloß demonstrativ die Tür zum Krankenzimmer. »Ich habe mit dir zu reden«, sagte er zu Dharys und deutete auf sein winziges, provisorisches Büro. »Ich will zu meinem Sohn«, erklärte Dharys wütend. »Und zwar sofort!« »Ich will mich nicht zwischen dich und Chipol stellen«, versicherte Kerlon freundlich. »Aber ich muß mit dir reden – und zwar bevor du über den Jungen herfällst. Er ist krank, und er braucht Ruhe. Also komm schon!« Dharys versuchte, den Heiler zur Seite zu schieben und die Tür zu öffnen, aber Kerlon war ein sehr kräftiger Daila und darüber hinaus ein Telepath: Was immer Dharys auch versuchte, Kerlon wußte es schon einen Augenblick früher und konnte sich darauf einrichten. Schließlich gab Chipols Vater nach. »Also gut«, sagte er. »Was hast du mir zu sagen?« Kerlon brachte den aufgeregten Mann in sein Büro und drückte ihn in den einzigen bequemen Sitz, den es darin gab, um dann selbst auf der Arbeitsplatte Platz zu nehmen. »Hast du gewußt, was mit Quirr passiert ist?« fragte er dabei. »Nein.« »Lyn hat dir also nichts von der Bestie im Teich erzählt?« »Warum liest du nicht einfach meine Gedanken, wenn du mir sonst doch nicht glaubst?« »Ich pflege die Regeln einzuhalten – so gut mir das überhaupt möglich ist«, erklärte Kerlon mit gleichbleibender Freundlichkeit. »Manchmal schnappe ich allerdings auch gegen meinen Willen etwas auf. Der Verdacht, mit dem du dich herumschlägst, gehört dazu.« »Trotzdem habe ich recht!« stieß Dharys wütend hervor. »Chipol hat Lyn nie gemocht. Er hat ihm die Schuld an Quirrs Verschwinden gegeben, und er wollte sich an dem Kleinen rächen. Chipol war schon oft in der Oase, Lyn dagegen nie. Bestimmt hat Chipol gewußt, daß irgend etwas in dem Teich hockt. Er hat den Kleinen absichtlich dorthin gelockt.«
»Damit verdächtigst du deinen Sohn, ein potentieller Mörder zu sein«, gab Kerlon zu bedenken. »Hast du die Absicht, dem Jungen gegenüber diesen Verdacht zur Sprache zu bringen?« »Nicht nur das. Ich werde Chipol bestrafen, wie er es verdient hat.« »Und wenn du im Unrecht bist?« Dharys schwieg, aber sein Gesicht und seine Gedanken blieben unversöhnlich. Kerlon seufzte. Chipol war ein Problem, und jeder wußte das. Trotzdem hatte Kerlon gehofft, daß Dharys sich im Lauf der Zeit mit den Tatsachen abfinden und seinen Sohn akzeptieren würde. Es war schlecht für den Jungen, ständig spüren zu müssen, daß sein eigener Vater ihn ablehnte. »An dem Tag, an dem Quirr verschwunden ist, habe ich Lyn in der Oase gesehen«, sagte Kerlon ernst. »Ich habe ihn zur Rede gestellt. Er erklärte, daß er Quirr suchte, der irgendwo in der Nähe sei. Er war ziemlich aufgeregt, und ich hatte von Anfang an den Verdacht, daß da etwas nicht stimmte. Aber Lyn konnte sich schon immer sehr gut abschirmen, und ich hatte keinen Grund, in seine Gedanken einzudringen. Also ließ ich ihn laufen. Du siehst, Lyn kann durchaus gewußt haben, was sich in dem Teich befindet.« »Das ist noch kein Beweis!« »Trotzdem solltest du Chipol gegenüber nicht voreilig sein. Der Junge hat einen Schock erlitten. Wenn du ihm jetzt auch noch Vorwürfe machst, dreht er am Ende völlig durch.« »Er ist ein Außenseiter, und ich habe nicht den Eindruck, daß er irgend etwas daran ändern möchte«, knurrte Dharys ärgerlich. »Er will beweisen, daß er trotz allem etwas wert ist«, meinte Kerlon. »Er ist der einzige Daila hier auf Joquor-Sa, der keine außersinnlichen Fähigkeiten hat, und er weiß das natürlich. Glaubst du, daß es einfach ist, ein solches Leben zu führen? Selbst die kleinsten Kinder sind ihm überlegen – nicht durch ihre Leistungen, sondern durch ihre angeborenen Fähigkeiten. Und er kann nichts dagegen tun.« »Er ist ein guter Jäger«, wandte Dharys ein. »Es fällt ihm leichter als einem von uns, ein Tier zu töten…« »Ja, mit dem Erfolg, daß die anderen Jungen ihn den ›Schlächter‹ nennen und ihm Gefühllosigkeit nachsagen.« »Das ist doch nur der Neid!« »Sicher, aber woher soll Chipol das wissen? Hast du es ihm erklärt?« Dharys schwieg bedrückt, und Kerlon stellte erfreut fest, daß der Mann schon nicht mehr ganz so schroff und selbstherrlich war. Er konnte Dharys bis zu einem gewissen Punkt verstehen – Lyn war tot, und das war eine schlimme Geschichte –, aber er fand, daß es ungerecht war, dies alles auf Chipols Rücken auszutragen. Der Junge konnte schließlich nichts dafür, daß er anders war. »Auf Aklard hätte er es leicht«, murmelte Dharys traurig. »Leichter als jeder andere von uns.« »Gewiß, aber er gehört zur Familie Sayum, und darum würde man ihn auf Aklard nicht dulden. Das ist nicht seine Schuld. Es ist nicht fair, wenn wir ihm das Leben noch schwerer machen, als es für ihn sowieso schon ist. Dharys – er hat Lyn nicht getötet, und er hatte auch nicht die Absicht, seinen Bruder in Gefahr zu bringen. Er wußte nicht, was sich in dem Teich befand. Lyn hat es ihm gesagt, aber Chipol hat es nicht geglaubt. Als Lyn ihm dann gesagt hat, daß diese Bestie Quirr gefressen hat, hat Chipol durchgedreht und seinen Bruder ins Wasser gestoßen – aber er konnte nicht ahnen, was er damit anrichtete. Als Chipol merkte, was los war, ist er Lyn nachgesprungen. Wir können von Glück sagen, daß wir nicht beide Jungen verloren haben. Wenn Chipol überhaupt unvernünftig gehandelt hat, dann in dem Augenblick, in dem er ins Wasser sprang – obwohl er die Bestie gesehen hatte. Er hat versucht, seinen Bruder zu retten!«
»Aber er hat es nicht geschafft«, sagte Dharys düster. »Lyn ist tot. Wenn Chipol nicht mit ihm in die Oase gegangen wäre…« »Dann wäre Lyn alleine dorthin gegangen, und es hätte genauso schlimm ausgehen können – mit dem Unterschied, daß wir nicht gewußt hätten, was mit ihm geschehen ist.« »Ich soll also so tun, als wäre nichts passiert?« »Es reicht, wenn du ihm keine Vorwürfe machst. Dharys – du hast einen Sohn verloren, aber den anderen hast du behalten, und dafür solltest du dankbar sein. Es hätte leicht noch schlimmer ausgehen können!« Dharys’ Gedanken waren so voll von Haß und Trauer, daß Kerlon ihnen beim besten Willen nicht ausweichen konnte, und er schrak zurück. Es hätte aber auch genau umgekehrt sein können! »Armer Chipol!« dachte Kerlon benommen, während Dharys schwerfällig aufstand und zum Krankenzimmer ging. *** Als Dharys gegangen war, sah der Heiler nach seinem Patienten. Er hatte erwartete, Chipol geknickt oder gar am Boden zerstört vorzufinden, aber der Junge wirkte sogar recht munter. Es ließ sich allerdings nicht leugnen, daß diese Munterkeit deutlich den Unterton versteckter Aggressionen trug. »Sie haben meinem Vater ganz schön ins Gewissen geredet, wie?« empfing er den Heiler. »Wie kommst du darauf?« »Er hat darauf verzichtet, mich grün und blau zu prügeln.« »Ich habe ihm erklärt, wie sich alles abgespielt hat«, gab Kerlon zu. »Und Sie glauben, daß er jetzt Verständnis hat, wie?« fragte Chipol spöttisch. »Hör auf, mich so anzureden!« »Wieso? Sie sind ein Heiler, und man hat Ihnen respektvoll zu begegnen. Was ist daran falsch?« »Wir sind nicht mehr auf Aklard, und hier auf Joquor-Sa sind wir alle nur Mitglieder der Familie Sayum. Also laß diesen Unsinn.« »Zu Befehl, Onkel Kerlon«, gab Chipol schnippisch zurück. »Ich möchte nur nicht ganz und gar verlernen, wie man sich auf Aklard benehmen muß. Schließlich möchte ich irgendwann dorthin zurückkehren.« »Du weißt doch, daß das nicht geht. Die Familie Sayum wurde verbannt. Keiner von uns wird Aklard jemals wiedersehen.« »Keiner von euch – das stimmt. Aber für mich gilt das nicht.« »Warum nicht?« »Weil ich nicht zur Familie Sayum gehöre. Ich bin anders als ihr.« »Du bist der Sohn meines Halbbruders Dharys…« »So? Gibt es irgendeinen Beweis dafür? Ich bin auf Aklard geboren. Meine Mutter gehört nicht eurer glorreichen Familie an, und Dharys selbst hat Zweifel, ob ich wirklich sein Sohn bin.« »Woher weißt du das?« fragte Kerlon erschrocken. »Saruna hat es mir erzählt. Meine Mutter war eine ganz normale Daila. Ihr habt sie gezwungen, mit euch zu gehen, und als sie das Leben in der Familie Sayum nicht mehr ausgehalten hat, hat sie sich umgebracht. Das war, nachdem du diesen Test durchgeführt hast. Oder willst du behaupten, daß das
alles nicht stimmt?« Dem Heiler verschlug es fast den Atem angesichts dieser Verdrehung von Tatsachen. »Da bist du sprachlos, wie?« fragte Chipol höhnisch. »Durchaus nicht«, erwiderte Kerlon und riß sich zusammen. »Es wundert mich nur, daß du Saruna in einer so wichtigen Angelegenheit Glauben schenkst. Du solltest eigentlich wissen, daß man ihr nicht immer vertrauen darf.« »Sie ist eine sehr ehrwürdige alte Dame. Mein Vater sagt mir das mindestens zweimal täglich.« »Weil er will, daß du sie in Ruhe läßt. Saruna ist eine sehr alte Frau, und sie wird nicht mehr lange leben. Auf Aklard gehörte sie einer sehr reichen und mächtigen Familie an – bis sie ein Kind bekam, das nicht dem Standard entsprach. Sie hat das nie verwunden. Man hat ihr damals sehr weh getan, und manchmal hat sie das Bedürfnis, ihrerseits anderen Daila weh zu tun. Dir, zum Beispiel – und deiner Mutter oder deinem Vater.« »Mir hat sie nur gute Sachen erzählt.« »Daß du nach Aklard zurückkehren kannst?« Chipol nickte. »Das ist eine Lüge«, erklärte Kerlon seufzend. »Und Saruna weiß das. Hast du mit deinem Vater darüber gesprochen?« »Wenn ich versuche, mit Dharys über irgend etwas zu sprechen, dann geht das immer schief! Aber ich weiß, daß meine Mutter sich umgebracht hat – kurz nach dem Test.« »Ich will versuchen, es dir zu erklären«, sagte Kerlon. »Deine Mutter war eine normale Daila – das stimmt. Um zu verstehen, was das bedeutet, mußt du begreifen, daß die Familie Sayum keine Familie im üblichen Sinn ist. Saruna ist die älteste von uns, aber sie ist nicht unser aller Stammutter. Auf Aklard ist vor sehr langer Zeit ein furchtbares Unglück geschehen, und die Schuld daran trugen Daila, die über besondere Fähigkeiten verfügten. Als man das überwunden hatte, beschloß man, Kinder mit solchen Fähigkeiten zu töten, und das hat man lange Zeit hindurch auch getan. Aber niemand fand das gut, denn es war ein barbarisches Verfahren. Als die technische Entwicklung weit genug fortgeschritten war, ging man dazu über, den betreffenden Familien Raumschiffe zur Verfügung zu stellen. Es gab jedoch ziemlich viele Familien, die man hätte verbannen müssen. In diesen Familien gab es meistens nur ein oder zwei Kinder, die besondere Fähigkeiten hatten. Die anderen waren normal. Aber auf Aklard gibt es keine Familien, wie du sie kennst, es gibt keine lebenslange Gemeinschaft zwischen Mann und Frau, sondern wechselnde Partnerschaften.« Er sah den Jungen an, dachte an seine eigene Partnerin, die auf Aklard zurückgeblieben war, und fand es fast unerträglich, über diese Dinge reden zu müssen. Trotzdem fuhr er fort: »Wenn ein Kind mit besonderen Fähigkeiten geboren wurde, dann ließ sich das sehr schnell feststellen. Man konnte auch genau nachprüfen, welchem der beiden Eltern dieses Kind seine Fähigkeiten verdankte. Auf Aklard bedeutete es so etwas wie Schuld, ein solches Kind in die Welt zu setzen. Nicht nur das Kind, sondern auch der angeblich schuldige Elternteil werden von der Gesellschaft ausgestoßen und isoliert. Für uns Daila ist das ein furchtbares Schicksal, denn wir sind auf das Leben in der Gemeinschaft angewiesen. Die Ausgestoßenen schließen sich darum zu Gruppen zusammen, die Familien genannt werden, ohne es wirklich zu sein. Für Leute wie uns ist das Leben auf Aklard noch immer gefährlich. Wir dürfen dort nie wir selbst sein, sondern wir müssen uns ducken und verstellen. Wir dürfen nur niedrige Tätigkeiten ausüben und auf keinen Fall ein politisches Amt annehmen. Wer dieses Gesetz mißachtet, der riskiert nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Angehörigen. Zu denen werden dann auch gleich die Mitglieder einer Gruppe gezählt, der man sich aus purer Not angeschlossen hat. Nur wenige von uns haben jemals versucht, gegen dieses System anzugehen. Es ist besser für alle Beteiligten, ein Raumschiff zu besteigen und eine neue Heimat zu suchen.«
»Wie den Planeten Cairon?« »Cairon ist eine Notlösung. Es gibt angeblich irgendwo einen Planeten, auf dem Daila wie wir unbehelligt leben können. Wir haben versucht, diesen Planeten zu finden, aber es ist uns nicht gelungen. Vielleicht ist das alles nur ein Märchen, das man für uns erfunden hat. Es ist auch egal. Wir können nicht länger herumfliegen und suchen. Wir brauchen eine neue Heimat.« »Und was hat das alles mit mir zu tun?« »Dharys lernte eine normale Daila kennen und lieben, als er bereits unserer Familie angehörte. Deine Mutter wußte, worauf sie sich einließ, aber sie war eine sehr mutige Frau – sie hielt zu Dharys, obwohl das gefährlich für sie war. Sie bekam einen Sohn – das warst du –, und wenig später mußten wir Aklard verlassen. Niemand hat sie gezwungen, mit uns zu gehen. Sie hätte auf Aklard bleiben können, aber sie hätte dich und deinen Vater verloren. Wenig später kam Lyn zur Welt, ihr zweiter Sohn. Lyn hatte die Fähigkeiten, die man von ihm erwarten konnte, du dagegen nicht. Dein Vater begann sich zu fragen, ob du wirklich sein Sohn warst.« Kerlon sah den Jungen an, welche Gefühle ihn bewegten, und fühlte sich gräßlich. Dharys selbst hätte den Jungen über diese Zusammenhänge aufklären sollen, aber Dharys war nicht imstande, das zu tun. »Dein Vater wollte nicht, daß deine Mutter ihn auf dieser hoffnungslosen ’ Reise begleitete«, erklärte er behutsam*. »Er wollte, daß sie nach Aklard zurückkehrte, solange das noch möglich war. Wenn es sich herausgestellt hätte, daß du das Kind eines anderen warst, dann hätte sie das vielleicht auch wirklich getan – und dich mitgenommen. Aber der Test verlief anders, als Dharys es sich gewünscht hatte. Du bist sein Sohn, und du trägst die Erbanlagen der Familie Sayum in dir. Das war das eine Ergebnis. Das andere: Deine Mutter war sehr krank, sie hatte nur noch kurze Zeit zu leben. Sie hat es vorgezogen, ihre Leiden abzukürzen. Niemand trägt in irgendeiner Weise die Schuld daran.« »Warum hat mein Vater mir das niemals gesagt?« fragte Chipol nach langer Pause. »Wahrscheinlich dachte er, daß du noch zu jung dazu bist. Außerdem – du hast dich nicht gerade darum bemüht, jemals mit ihm zu reden, nicht wahr?« Chipol nickte betrübt, und Kerlon ließ den Jungen allein. Als er eine Stunde später nach Chipol sehen wollte, war der Junge verschwunden.
3. Er war kein Kind mehr, und er konnte das beweisen. Er war entschlossen, seinem Vater zu zeigen, daß man ihn nicht mehr wie einen kleinen Jungen behandeln mußte. In den Hügeln, ziemlich weit nördlich vom Lager, gab es eine Anzahl von kleinen, felsigen Tälern, in denen mehrere Kyrathas lebten. Natürlich waren es keine echten Kyrathas, genauso wie der Gurungu kein echter Gurungu gewesen war. Aber die Daila nannten diese Tiere der Einfachheit halber so, nach den auf Aklard lebenden Vorbildern. Auf Aklard waren die Kyrathas mittlerweile so selten, daß man die wenigen noch lebenden Exemplare streng bewachte. Ein Kyratha wurde bis zu vier Meter lang und stellte einen Übergang von Echse und Säugetier dar: Die Tiere besaßen eine glänzende, schillernde, geschuppte Rückenhaut und einen kurzen weichen Bauchpelz mit Bruttaschen darin. Die Kyrathas von JoquorSa waren weit weniger kompliziert gebaut, aber ihre Haut war noch bunter und schillernder als die ihrer Vorbilder. Auf dem Planeten Cairon gab es eine Priesterkaste, die ausgefallene Dinge zu schätzen wußte. Die Haut eines Kyrathas mußte für sie von ungeheurem Wert sein. Viele Daila aus der Familie Sayum hatten bereits versucht, ein solches Tier zu erlegen, aber es war ihnen nie geglückt. Es hieß, daß die Kyrathas von Joquor-Sa ihrerseits außersinnliche Kräfte besaßen, mit denen sie sich die Jäger vom Leibe hielten. Wenn das der Fall war, dann hatte Chipol eine gute Chance, an einen Kyratha heranzukommen. Und wenn er seinem Vater eine solche Haut brachte, dann mußte Dharys seine Meinung ändern und einsehen, daß er Chipol unrecht getan hatte. Chipol verstand selbst nicht recht, warum er bei den anderen so unbeliebt war. Wahrscheinlich lag es daran, daß ihn oft eine unbezähmbare Unruhe packte. Wenn sie ihn nur ansahen, kribbelte es auf seiner Haut, und manchmal war es so schlimm, daß er am liebsten alles kurz und klein geschlagen hätte. Er entsann sich einiger Begegnungen mit Angehörigen anderer Völker, bei denen alles ganz anders gewesen war. Mit diesen Leuten hatte er in aller Ruhe reden können, und es hatte ihn überhaupt nicht gestört, wenn sie ihn ansahen. Das war der Grund dafür, daß er von einem Leben als Raumfahrer träumte. Natürlich standen seine Chancen sehr schlecht. Es konnte nur noch wenige Wochen dauern, bis die Untersuchung des Planeten Cairon abgeschlossen war, und dann würde die Familie Sayum dorthin übersiedeln. Das Raumschiff würde man irgendwo in den Bergen verstecken und wahrscheinlich nie mehr betreten. Chipol alleine konnte mit dem Schiff nichts anfangen. Es war höchst unwahrscheinlich, daß er Hilfe finden würde. Und fast noch unwahrscheinlicher war es, daß andere Raumfahrer aus einem fremden Volk auf Cairon landeten und Chipol mitnahmen, zu den vielen anderen Planeten, die es in der Galaxis Manam-Turu gab. Als er sich heimlich aus dem Lager geschlichen hatte, hatte es gerade zu dämmern begonnen. Jetzt brach die Nacht herein, und Chipol bedauerte seinen spontanen Entschluß ein wenig. Zwar hatte er Wasser und Proviant mitgenommen, und außer dem Messer hatte er einen Strahler eingesteckt, so daß er keineswegs wehrlos war, aber trotzdem wurde ihm unheimlich zumute. Joquor-Sa war schon bei Tageslicht kein anheimelnder Planet. Andererseits war die Chance, einen Kyratha zu erwischen, bei Tagesanbruch am größten. Chipol fragte sich, wann Kerlon entdecken würde, daß sein Patient, ausgerissen war. Was würde der Heiler dann tun? Ihm eine Suchmannschaft nachschicken? Der junge Daila blickte vom Gipfel eines niedrigen Hügels nach Süden. Das Lager war von hier aus gerade noch zu sehen. Die erleuchteten Kuppeln wölbten sich wie
winzige Seifenblasen über dem Sand der Wüste. Etwas abseits stand das Raumschiff, nicht viel mehr als ein runder, schwarzer Schatten vor dem sternenübersäten Himmel. Chipol wandte sich abrupt ab und marschierte weiter. Er hatte keinen Hunger, und wenn er welchen bekam, würde er im Gehen essen müssen. Erstens gab es hier nichts, womit man ein Feuer unterhalten konnte, zweitens hätte man ihn sofort entdeckt, und drittens war es nicht ratsam, nachts in den Hügeln zu lagern. Die Sandwürmer waren überall, und es konnte empfindlich kalt werden. Die beiden winzigen Monde von Joquor-Sa erschienen über den Hügeln, als Chipol felsiges Gebiet erreichte. Es mußte demnach bereits nach Mitternacht sein. Der Junge kannte sich in den Hügeln aus, denn er war fast täglich hier unterwegs. In der Wüste konnte man keine gute Beute machen, aber in den Hügeln gab es ein paar winzige Wasserstellen, und es lebten viele Tiere hier. Die meisten waren für die Daila ungenießbar, aber die Jagd lohnte sich trotzdem. Da Chipol so ziemlich der einzige aus der Familie Sayum war, der ein Tier zu töten vermochte, war die Jagd sein Monopol. Die Hügel bestanden aus weißem Kalkstein und waren von zahllosen Höhlen durchzogen. Kerlon hatte Chipol einmal erklärt, daß diese Hügel die Überreste von gewaltigen Korallenbänken waren. Joquor-Sa war nicht immer ein Wüstenplanet gewesen. Früher hatte es hier Meere und Wälder gegeben. Manchmal fand man noch versteinerte Überreste früherer Lebensformen, und Chipol war von solchen Spuren fasziniert. Er hatte sich vorgenommen, in eine der Höhlen einzudringen, und er war felsenfest davon überzeugt, daß man dort drinnen allerlei Schätze finden konnte. Er wanderte über lockeres Geröll und bröckelige Felsen, bis vor ihm eine Reihe von zyklopenhaften Felsnadeln auftauchte. Hinter diesen Nadeln begann das Reich der Kyrathas. Chipol hatte Kerlon einmal an diesen Ort geführt, denn der Heiler war der einzige aus der Familie Sayum, der sich nicht völlig auf Cairon konzentrierte, sondern ab und zu bereit war, sich auch mit den Rätseln von Joquor-Sa zu befassen. Chipol hatte geglaubt, daß diese Pfeiler nicht auf natürliche Weise entstanden waren. Die Möglichkeit, daß es auf Joquor-Sa einst intelligentes Leben gegeben hatte und vielleicht sogar immer noch gab, hatte den Jungen fasziniert. Aber Kerlon hatte ihm einwandfrei bewiesen, daß diese Pfeiler nichts weiter als eine Laune der Natur waren. Chipol hatte es hinterher bedauert, daß er den Heiler an diesen Ort gebracht hatte. Nun waren die Pfeiler aller Geheimnisse entkleidet. Sie waren nur Felsen aus einem besonders widerstandsfähigen Gestein, und die Zeichen, die Chipol auf ihrer Oberfläche zu sehen geglaubt hatte, waren nur die Spuren des Windes, der den Sand über die Felsen trieb. Chipol blickte zum Horizont und entdeckte einen schwachen Schimmer von Licht. Die Nächte in diesem Teil von Joquor-Sa waren kurz. Bald würde der Morgen dämmern. Jenseits der Felsnadeln begann das Labyrinth der winzigen Täler. Sie waren von steil aufragenden Felswänden umgeben und durch Schluchten, Hohlwege und Höhlengänge miteinander verbunden. Im Schutz der Felswände wuchsen dürre Büsche und winzige Bäume mit gewundenen Stämmen. Als es allmählich heller wurde, konnte Chipol erkennen, daß die Bäume und Büsche ihre fächerartigen Zweige weit aufgefaltet hatten. Es war die beste Zeit für die Jagd. Er suchte sich einen Platz, von dem aus er den Eingang einer Höhle sehen konnte und gleichzeitig durch einen Felsblock gedeckt war. Kyrathas hatten scharfe Augen. Er mußte aufpassen, daß sein Opfer ihn nicht zu früh entdeckte. Jetzt war es bereits so hell, daß er die Tautropfen auf den breit gefächerten Zweigen zu erkennen vermochte. Er duckte sich tiefer hinter den Felsen, starrte auf den dunklen Höhleneingang und wartete, den Strahler in der Hand. Er würde warten müssen, bis der Kyratha die Höhle ganz verlassen hatte, um einen guten Schuß anbringen zu können.
Da kam das Tier. Es schob seine stumpfe Schnauze aus der Höhle hervor und witterte. Die gelben Augen leuchteten, während das Tier sich langsam aus seiner Behausung schob. Es war noch klamm und steif von der Kühle der Nacht, aber das würde sich schnell ändern. Geduldig beobachtete Chipol seine Beute. Der Kyratha hatte die ersten Pflanzen erreicht und reckte sich hoch auf, um an die Zweige heranzukommen. Dann streckte er seine lange Zunge aus und begann den Tau zu trinken. Dabei wanderte er um den Busch herum, aber niemals bot er seine Kehle in einem Winkel an, der dem Jungen einen sicheren Schuß erlaubt hätte. Chipol wurde allmählich unruhig. Es wurde immer heller. Der Junge hatte diese Tiere oft beobachtet, und er wußte, daß seine Beute sich alsbald aus dem engen Tal herausbegeben würde, um auf die Jagd zu gehen. Einen jagenden Kyratha zu verfolgen, war reiner Selbstmord. Da, endlich erreichte das Tier einen Busch, der günstig stand, und es reckte sich in die Höhe. Chipol legte den Finger an den Abzug und zielte sorgfältig – aber er schoß nicht. Es war plötzlich wieder dunkler geworden. Chipol sah erschrocken auf. Zuerst dachte er, ein plötzlicher Sandsturm hätte sich erhoben. Aber das, was jetzt am Himmel von Joquor-Sa erschien, war keine Wolke aus Sand. Es war etwas Unbeschreibliches, Grauenhaftes, und es senkte sich langsam herab, vom dumpfen Grollen der verdrängten Luftmassen begleitet. Der junge Daila bekam plötzlich keine Luft mehr. Ihm war zumute, als senke sich der Fuß eines Riesen auf ihn herab, um ihn zu zertreten. Er wandte sich blindlings zur Flucht, stolperte über einen losen Felsbrocken und rollte in das kleine Tal hinab, dem Kyratha fast vor die Schnauze. Aber er achtete nicht auf das Tier, sondern kroch weiter. Das scharfkantige Geröll zerfetzte die Verbände an seinen Beinen, aber er merkte es nicht einmal. Die dunkle Masse sank tiefer und wurde größer, während ein furchtbarer Sturm sich erhob. Das Donnergrollen machte Chipol fast taub. Sand fegte über ihn hinweg, und ein Busch, der in seiner Nähe stand, wurde entwurzelt und in die Luft gewirbelt. Chipol kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er konnte kaum noch etwas sehen. Das lag nicht nur am Sturm und dem treibenden Sand, der ihm ins Gesicht prasselte, sondern ein unerträglicher Druck lastete auf ihm. Panische Angst ergriff den jungen Daila und verlieh ihm zusätzliche Kräfte. Er kroch durch das Chaos auf die rettende Felswand zu, ohne darauf zu achten, daß er bis auf kaum einen Meter an den Kyratha herankam. Das Tier rührte sich nicht. Es wirkte wie versteinert. Chipol kroch in die Höhle des Kyrathas hinein und duckte sich hinter einen Felsen. Sein Kopf schmerzte, in seinen Schläfen pochte es, und sein Magen zog sich zu einem eiskalten Klumpen zusammen. Mit weitaufgerissenen Augen starrte er zum Himmel auf, der völlig von dieser dunklen Masse bedeckt war. Der Sturm wurde zum Orkan, und Chipol fühlte, wie der Boden unter ihm erzitterte, während der Donner rollte. Der Kyratha stand regungslos da, nur manchmal schwankte er ein wenig. Chipol starrte nach oben und fragte sich, was für eine Masse das sein mochte. Ein Raumschiff von diesen Ausmaßen war für ihn unvorstellbar. Er versuchte, Einzelheiten zu erkennen, obwohl die Furcht ihn fast lähmte, aber er sah nichts, keine Strukturen irgendwelcher Art, sondern eben nur eine formlose, dunkle Masse, so riesig, daß sie den ganzen Himmel verdeckte. Während der junge Daila noch hinstarrte, löste sich etwas aus diesem ungeheuren Gebilde und fiel herab wie ein Stein. Jetzt sah er es auch an anderen Stellen: Dunkle, runde Dinge fielen herab, fingen sich erst kurz über dem Boden und jagten heulend davon, in alle nur denkbaren Richtungen. Und dann tauchte eines dieser runden Gebilde über dem kleinen Tal auf. Nie zuvor in seinem jungen Leben hatte Chipol solche Angst gehabt. Er kauerte im Eingang der
Höhle und preßte die Hände vor den Mund, um nicht zu schreien. Das runde Ding heulte herab wie ein Geschoß, bremste dann abrupt und flog einen Kreis. Plötzlich stieß es auf den Kyratha herab. Das Tier rührte sich nicht. Es stand einfach nur da, während die Kugel tiefer sank und sich um Chipols Beute schloß. Chipol war fest davon überzeugt, daß nun die Reihe an ihm war. Er starrte entsetzt auf die Kugel, die mitten im Tal hockte, so groß, daß Chipol meinte, es würden noch mindestens zehn Kyrathas hineinpassen. Die Kugel hockte da wie ein Tier, das einen guten Brocken verschlungen hat und nun darüber nachdenkt, wie es den nächsten Leckerbissen dieser Art erbeuten soll. Dann löste die Kugel sich ein wenig vom Boden, schwankte hin und her, flog auf Chipol zu und hielt erneut an. Der Daila machte sich ganz klein hinter seinem Felsen. Er hielt den Strahler noch in der Hand, den Finger am Auslöser, und für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, auf die Kugel zu schießen. Da machte das Ding einen Satz in die Höhe und flog davon. Chipol kämpfte tapfer gegen seine Furcht an. Er sah noch einmal eine Kugel über das Tal hinwegrasen, aber sie kümmerte sich nicht um den Jungen, und das gab diesem neuen Mut. Vorsichtig kroch er aus der Höhle und zog sich an den steilen Felsen hinauf. Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Weit im Osten konnte Chipol einen kaum fingerbreiten Streifen goldener Helligkeit erkennen. Ansonsten sah er nur dieses dunkle Gebilde, das ganz Joquor-Sa zu erdrücken schien. Und er sah die Kugeln, Dutzende, Hunderte von ihnen. Sie rasten wie wildgewordene Insekten herum, stürzten sich auf die Hügel, hielten ruckartig an und flogen suchend selbst in die engsten Täler hinein. Seltsamerweise schienen sie Chipol jedoch nicht zu bemerken. Zwei oder drei kamen in unmittelbarer Nähe vorbei. Eine von ihnen war aufgebläht und durchscheinend. Chipol sah zwei Kyrathas, die in dieser Kugel eingeschlossen waren. Nach einigen Minuten jagten die Kugeln heulend und pfeifend in die Höhe und verschwanden eine nach der anderen in der dunklen Masse. Donnerschläge ließen den Boden erzittern, und der Sturm erhob sich erneut mit solcher Macht, daß Chipol den Halt verlor und in das Tal hinabstürzte. Er klammerte sich an einen Felsen. Schwaden von Sand rasten über ihn hinweg, und dann, ganz plötzlich, brach gleißende Helligkeit über ihn herein. Chipol barg den Kopf unter den Armen und schloß mit seinem Leben ab. Aber es geschah nichts. Nur der Sturm nahm ab und legte sich dann völlig. Das Donnergrollen verklang. Als Chipol vorsichtig aufsah, schien ihm die grelle Sonne Tsybaruul in die Augen. Er drehte sich auf den Rücken: Die dunkle Masse war verschwunden. Der Himmel war dunkelblau. Von den Kugeln war weit und breit nichts mehr zu sehen. Chipol stand auf, und er fühlte sich wie zerschlagen. Die Schürfwunden an seinen Beinen brannten wie Feuer. Er rieb sich den Sand aus den Augen. Zwischen seinen Zähnen knirschte es. Als er in das kleine Tal zurückstürzte, hatte er seinen Strahler verloren. Er suchte ihn automatisch, ohne darüber nachzudenken, ob er die Waffe jetzt überhaupt noch brauchte. Nach ein paar Minuten fand er sie, halb im Sand vergraben. Er hob sie auf und sah sich um. Falls ein Kyratha in der Nähe war, so zeigte er sich nicht. Selbst die Sandwürmer ließen sich nicht blicken. Es war noch stiller als sonst. Nur der Sand sang und rieselte über die Felsen. Chipol glaubte nicht, daß die Jagd jetzt noch einen Sinn ergab. Instinktiv war er davon überzeugt, daß er keinen einzigen Kyratha mehr finden würde. Die Kugeln hatten die Tiere mitgenommen – warum und wohin, das würde der Daila wahrscheinlich nie erfahren.
Er klopfte den Sand aus seiner Kleidung und machte sich auf den Heimweg.
4. »Wir wissen, in welche Galaxis der Erleuchtete flieht, aber es wird allein deine Aufgabe sein, ihn dort zu finden und zu stellen!« Die Botschaft der Kosmokraten ging dem Arkoniden nicht aus dem Kopf. Es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, meinte das Extrahirn kategorisch. ›Du hast leicht reden‹, dachte Atlan ärgerlich zurück. Woher wußten die Kosmokraten, wohin der Erleuchtete sich wenden wollte? Und wenn sie es schon wußten – warum hatten sie dem Arkoniden dann nicht auch genauere Informationen zukommen lassen? Fast wünschte er sich nach Alkordoom zurück. Dort war die Situation klar gewesen: Der Erleuchtete hatte diese Galaxis fest im Griff, und jeder wußte, wonach man zu suchen hatte. Es gab die Sonnensteppe, und jenseits davon, im Zentrum der Galaxis, mußte der Erleuchtete hausen. Der Rest von Alkordoom war in die Herrschaftsbereiche der Facetten unterteilt. Natürlich war es nicht so, daß man einfach in den Nukleus hineinfliegen und vor den Erleuchteten hintreten konnte, aber man wußte, in welche Richtung man vorzustoßen hatte. Jetzt dagegen konnte der Erleuchtete überall sein. Eine ganze Galaxis stand ihm zur Verfügung, und es gab unzählige Möglichkeiten, sich zu verstecken. Wo sollte Atlan mit seiner Suche beginnen? Der Planet, von dem die Psi-Impulse kamen, konnte den Anfang einer Spur bilden – aber ebensogut konnte dies eine falsche Fährte sein. »Meine Reserven sind aufgefüllt«, verkündete das Schiff. »Aber ich kann leider nicht wesentlich schneller fliegen, als es bisher der Fall war.« »Warum?« fragte der Arkonide ärgerlich. »Ich weiß nicht, woran es liegt«, gestand das Schiff ein wenig kleinlaut. »Ich bin bereits dabei, die Sache zu untersuchen. Es scheint, als hätte ich einen sehr weiten Weg zurücklegen müssen, um auf dich zu treffen. Man hat mich sehr gut und haltbar gebaut, aber auch ich berge Teile in mir, die sich unter bestimmten Umständen abnutzen.« »Rede nicht so geschwollen daher. Warum gibst du nicht einfach zu, daß du einen Defekt hast?« »So würde ich das nicht ausdrücken«, sagte das Schiff beleidigt. »Es ist nur eine kleine Unstimmigkeit. Ich werde schnell darüber hinwegkommen. Inzwischen habe ich genauere Daten über unseren Zielplaneten. Bist du daran interessiert?« Atlan sagte sich, daß es im Augenblick ziemlich gleichgültig war, womit er die Zeit totschlug, und so bat er das Schiff, ihn ausgiebig zu informieren. Ein Bildschirm erhellte sich, und die ersten Linien erschienen darauf, als es plötzlich einen scharfen Gongschlag gab. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Atlan alarmiert. Das Schiff schwieg, und dann sah der Arkonide es selbst: Das hellere der beiden Psi-Signale war erloschen. »Ist das Gerät defekt?« wollte der Arkonide wissen. »Der Psi-Spürer arbeitet einwandfrei«, gab das Schiff zurück. »Nur das Signal ist erloschen. Soll ich das andere Ziel ansteuern?« Atlan dachte darüber nach.
Er wußte nicht, aufweiche Weise das Psi-Signal überhaupt entstanden war. Wenn es vom Erleuchteten selbst stammte, dann hatte der vielleicht gemerkt, daß er wie ein Leuchtfeuer wirkte, und sich abgeschirmt – falls ihm das möglich war. Wenn aber auf diesem fremden Planeten Lebensformen mit Psi-Fähigkeiten existieren, dann mochte das Erlöschen des Signals bedeuten, daß diese Wesen gestorben waren. Vielleicht hatte der Erleuchtete sie überfallen… »Wir bleiben auf Kurs«, ordnete der Arkonide an. »Die zweite Psi-Quelle werden wir uns später ansehen. Zuerst beschäftigen wir uns mit dem Wüstenplaneten.« »Der Defekt ist behoben«, verkündete das Schiff kaum eine Minute später. »Ich bin wieder voll manövrierfähig.« »Worauf wartest du noch. Bring mich zu diesem Planeten, aber schnell!« *** Es war eine trostlose, traurige Welt, die sich dem Arkoniden darbot. Der Planet mochte einmal ausgedehnte Meere besessen haben, aber davon war nichts mehr zu sehen. Wo sich einst Wasser befunden hatte, erstreckten sich jetzt Wüsten. An vielen Stellen bedeckten dicke Salzkrusten das Land. Die Überreste mächtiger Korallenriffe ragten wie Inseln daraus empor. »Es gibt noch ein paar größere Wasserstellen«, behauptete das Schiff. »Es ist daher möglich, daß du auf Leben treffen wirst.« Atlan schwieg. Er hielt Ausschau nach irgend etwas, das nicht in diese Einöde paßte, aber er konnte sich nicht vorstellen, daß dort unten noch immer intelligente Wesen lebten und dem Zerfall trotzten. Die STERNSCHNUPPE umkreiste den Planeten langsam und methodisch. Es würde eine Weile dauern, bis sie den Planeten auf diese Weise abgesucht hatten, aber andererseits konnten sie bei diesem Verfahren auch nicht allzu viel übersehen. »Welche Spuren könnte der Erleuchtete hinterlassen haben, falls er diese Welt besucht hat?« fragte das Schiff. »Ich weiß es nicht«, murmelte Atlan bedrückt. »Halte einfach nach allem Ausschau, was nicht in diese Wüste paßt.« »Ich habe eine Oase entdeckt. Es gibt Pflanzen dort, vielleicht auch Tiere.« »Das hilft uns nicht viel. Suche weiter.« Wenn er wenigstens gewußt hätte, wer und was der Erleuchtete war, wie er aussah und welcher Tränsportmittel er sich bediente. Vielleicht hockte sein Gegner sogar dort unten, so gut getarnt, daß auch die STERNSCHNUPPE mit ihren Spezialgeräten ihn nicht entdecken konnte. Ob der Erleuchtete wohl wußte, daß die Kosmokraten ihn verfolgen ließen? Wenn ja, dann war dieser Planet wahrscheinlich nichts anderes als eine Falle, und das Psi-Signal war der Köder darin. Hör auf, dich selbst verrückt zu machen, warnte der Logiksektor. »Ich habe etwas entdeckt«, meldete das Schiff. »In der Nähe einer Oase stehen mehrere Kuppeln – und ein Raumschiff.« »Auf den Schirm damit!« befahl der Arkonide. Die STERNSCHNUPPE lieferte ein gestochen scharfes Bild. Atlan sah eine kleine Oase mit spärlichem Baumbestand. An einer Stelle blinkte Wasser. Dicht neben der Oase erhoben sich sechs Kuppelbauten aus durchscheinendem Plastikmaterial. Etwas abseits stand ein kugelförmiges Raumschiff mit hohen Landestützen. »Das wirkt wie ausgestorben«, murmelte der Arkonide. »Kannst du es noch näher heranholen?«
»Leider nein«, bedauerte das Schiff. »Aber auch ich kann keine Bewegung in diesen Kuppeln wahrnehmen. Wahrscheinlich handelt es sich um einen alten Stützpunkt irgendeines raumfahrenden Volkes. Eine Forschungsstation, vielleicht. Aber auf jeden Fall hat man die Kuppel längst aufgegeben.« »Und das Raumschiff zurückgelassen? Das glaube ich nicht. Außerdem sind die Kuppeln noch völlig intakt. Siehst du das Fahrzeug dort? Es steht in Marschrichtung einer Düne. Man hat es erst vor kurzem dort abgestellt, oder es wäre längst mit Sand bedeckt.« Das Schiff schwieg. »Wir landen«, entschied Atlan. »Und zwar direkt neben diesem Lager, zwischen den Kuppeln und der Oase.« Die STERNSCHNUPPE verließ gehorsam die Umlaufbahn und tauchte in die dünne Atmosphäre hinab. Eine Sandwolke wirbelte auf und schloß das Schiff ein, als es den Boden * berührte. Aber der Sand setzte sich schnell. Draußen war es windstill. Die Außenmikrophone übertrugen nichts als das leise Singen und Wispern der Wüste. »Die Atmosphäre ist ein bißchen dünn, aber atembar«, kommentierte das Schiff seine Untersuchungen. »Die Luftfeuchtigkeit ist gering, die Temperatur beträgt sechsunddreißig Grad nach der dir geläufigen Meßmethode. Ich empfehle dir einen leichten Klimaanzug mit Atemmaske.« »Ich werde ohne das auskommen«, wehrte der Arkonide ab. »Aber ich werde eine Waffe mitnehmen. Halte dich in Bereitschaft. Falls ich angegriffen werde und einer Übermacht von Gegnern begegne, mußt du mir helfen.« »Ich werde auf dich aufpassen«, versicherte das Schiff. Der Arkonide nickte und machte sich auf den Weg. *** Das Schiff hatte acht Landestützen ausgefahren und die untere Polschleuse geöffnet. Die Öffnung lag nur etwa zwei Meter über dem Boden. Eine kurze Rampe führte hinab. Der Arkonide schritt langsam nach unten. Er spähte zu der Oase hinüber, aber er sah nur ein paar fremdartige Bäume mit korkenzieherartig gedrehten Stämmen und dürren Kronen. An den Hauptästen saßen dickliche, graugrüne Zweige. Nirgends war eine Bewegung zu entdecken. Auch zwischen den Kuppeln rührte sich nichts. Der Arkonide hatte sich für einen Paralysator entschieden. Er hielt ihn schußbereit in der Hand, aber vorerst sah es nicht danach aus, daß er die Waffe brauchen würde. Langsam ging er auf die Kuppeln zu. Einmal nahm er dicht vor sich eine leichte Bewegung im Sand wahr. Er blieb stehen. Ein kleiner, runder Kopf tauchte auf, winzige, blaßblaue Augen musterten den Fremdling. Dann zog die Kreatur sich mit einem blitzschnellen Ruck wieder in den Sand zurück und blieb verschwunden. Unangefochten erreichte er die erste Kuppel. Er sah zurück und erblickte zum erstenmal die STERNSCHNUPPE in ihrer ganzen Größe. Das Schiff wirkte mit seiner silbergrauen Hülle alles andere als beeindruckend. Ein einfacher Diskus ohne besondere Merkmale, ein AllerweltsRaumschiff. Atlan wandte sich der Kuppel zu. Er ging langsam um sie herum und spähte hinein, aber noch immer rührte sich nichts. Er fand einen Eingang, der weder verriegelt noch auf andere Weise gesichert war, und trat ein. Im Innern der Kuppel war es etwas kühler, und die Luft war feuchter als draußen in der Wüste. Die
Kuppel war in mehrere Räume unterteilt, und alle Türen standen offen. In einem der Räume war der Tisch gedeckt. Flache Schalen und kleine Töpfe standen darauf, außerdem ein metallener Krug, an dessen Außenseite feine Wassertröpfchen glänzten. Atlan roch an dem Inhalt – der Krug enthielt klares Wasser. Auf einem zweiten Tischchen standen Schüsseln mit gebratenem Fleisch und gekochtem Gemüse. Alle Speisen wirkten frisch, als hätte man sie gerade erst zubereitet. Atlan erwartete fast, daß jeden Augenblick die Bewohner dieser Kuppel hereinkamen und sich um Essen niedersetzten. Er blickte in die anderen Räume hinein und fand Schlafstätten, einige sauber aufgeräumt, andere zerwühlt, als hätten ihre Besitzer sich gerade erst vom Schlaf erhoben. Auf einem der Lager lag ein aus bunten Flicken zusammengenähtes Tier, ein Kinderspielzeug – aber das dazugehörige Kind war ebenso wie seine Eltern verschwunden. Neben einem anderen Lager stand ein Bild auf einem niedrigen Tischchen. Es zeigte eine Landschaft mit einem grellblauen See und hohen Bergen im Hintergrund. In einem der Räume lagen Aufzeichnungen herum, dünne Plastikfolien, die meisten mit fremdartigen Schriftzeichen bedeckt, andere enthielten Zeichnungen von Tieren und Pflanzen. Eines der Blätter zeigte eine Vielfalt von Linien, die einen Stadtplan hätten darstellen können, und ein anderes – Atlan hielt unwillkürlich die Luft an und hob die Folie auf. Er sah einen Menschen. Einen Menschen mit hellbrauner Haut, glattem, schwarzem Haar und schmalen, dunklen Augen! Er betrachtete das Bild lange und eingehend. Auf der Rückseite fand er Schriftzeichen, aber sie waren völlig fremdartig und hatten keine Ähnlichkeit mit irgendeiner jener Schriftarten, die auf der Erde entstanden waren. Schließlich sagte er sich, daß es sich wahrscheinlich nur um eine zufällige Ähnlichkeit handelte. Das Bild zeigte nur das Gesicht eines Menschen. Der Körper und die Gliedmaßen dieses Wesens mochten ganz anders beschaffen sein. Andererseits entsprach die Einrichtung der Kuppeln durchaus der Größe und Körperform normaler Menschen. Zuerst wollte er das Bild einstecken, aber dann überlegte er es sich anders. Er wußte nicht, wohin die Bewohner dieser Kuppeln verschwunden waren. Vielleicht hatten sie sich versteckt und warteten darauf, daß das fremde Raumschiff wieder startete. Vielleicht beobachteten sie aber auch den Arkoniden. Wenn sie zurückkehrten, sollten sie ihn nicht für einen Dieb halten. Er durchsuchte eine Kuppel nach der anderen, aber er fand nirgends Leben vor. Auch das kugelförmige Raumschiff war leer. Und überall stieß Atlan auf Spuren, die nur einen Schluß zuließen: Diejenigen, denen dies alles gehörte, waren ganz plötzlich, mitten in irgendwelchen Beschäftigungen, verschwunden. Er fand nirgends Spuren eines Kampfes. Nichts war zerstört worden. Nachdem er auch das Raumschiff durchsucht hatte, blickte er nachdenklich zu der Oase hinüber. Hatten die Bewohner dieser Station sich dort versteckt? Er konnte es sich nicht recht vorstellen, denn die Bäume standen nicht dicht genug und waren mit ihren dürren Kronen wenig dazu geeignet, jemandem als Versteck zu dienen. Aber er würde auch dort nachsehen, in der Hoffnung, doch noch eine Spur zu finden, die ihm verriet, was hier vorgefallen war. Der Arkonide ging auf die Oase zu und war bereits auf gleicher Höhe mit der STERNSCHNUPPE, als es plötzlich zwischen den Bäumen aufblitzte. Dann folgte das Fauchen eines Strahlenschusses, und einen Meter von ihm entfernt spritzte der Sand hoch.
Atlan ließ sich blitzschnell fallen und rutschte in eine Bodenwelle hinein. Hastig robbte er zur Seite – gerade noch rechtzeitig, denn sofort schlugen hinter ihm weitere Treffer ein. Es schien, als hätte er die Bewohner der Kuppeln gefunden.
5. Chipol hatte den Weg, den er in der Nacht zurückgelegt hatte, in einem Bruchteil der Zeit hinter sich gebracht, die er zuvor gebraucht hatte. Es war die Angst, die ihn antrieb und ihn zwang, zu laufen, was seine Beine und seine Lungen nur hergeben wollten. Als er das Lager endlich sah, blieb er erleichtert stehen. Die Kuppeln waren unversehrt, und auch das Raumschiff stand noch genau da, wo es hingehörte. Der Daila sagte sich, daß er gar nichts anderes hätte erwarten dürfen. Was immer den Planeten Joquor-Sa auch heimgesucht hatte: Es war an den Daila offensichtlich nicht interessiert. Das hätte ihm früher einleuchten können. Schließlich hatte er gesehen, wie die fliegenden Kugeln die Kyrathas davontrugen, und keines von den Dingern hatte sich um Chipol gekümmert. Er fühlte sich so erleichtert, daß ihm die Knie nachgaben. Er setzte sich auf einen Stein, und zum erstenmal wurde ihm bewußt, wie hungrig und durstig er war. Er war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, ohne etwas zu sich zu nehmen. Jetzt packte er seine Vorräte aus und begann geruhsam mit einem Frühstück. Es kam ihm allerdings etwas seltsam vor, daß es im Lager so still war. Auch wenn die erwachsenen Daila die Kuppeln nur dann verließen, wenn es wirklich notwendig war, sollte sich doch wenigstens ab und zu einer draußen blicken lassen, und meistens spielten ein paar Kinder außerhalb der Unterkünfte. Heute rührte sich dort drüben nichts. Chipol sagte sich, daß das etwas mit dem unheimlichen, gigantischen Ding zu tun hatte. Wahrscheinlich hatte man das ganze Lager in Alarm versetzt. Das bedeutete, daß sich die meisten Daila im Raumschiff aufhielten. Und warum hatte man Chipol keine Suchmannschaft nachgeschickt? Auch dafür fand der Junge eine Erklärung: Kerlon mochte den anderen verschwiegen haben, daß Chipol ausgerissen war. Der Heiler war der beste Telepath in der ganzen Familie Sayum. Wahrscheinlich hatte er Chipols Plan durchschaut und wollte dem Jungen eine Frist verschaffen. ›Guter, alter Kerlon!‹ dachte Chipol dankbar und nahm sich vor, in Zukunft freundlicher zu dem Heiler zu sein. Da offenbar noch niemand wußte, daß Chipol das Lager verlassen hatte, erschien es auch nicht ratsam, mit viel Getöse dorthin zurückzukehren. Wenn er es geschickt anstellte, würde niemand etwas von dem mißglückten Jagdversuch erfahren – außer Kerlon, aber der würde sicher den Mund halten. Der Junge verließ hastig den Hügel, auf dem er gefrühstückt hatte. Er blieb vorsichtig in Deckung und sah schließlich die große, rote Klippe vor sich, die bis an den Rand der Oase heranreichte. Auf der anderen Seite der Klippe wußte er den Quellteich, und der bloße Gedanke an das, was dort geschehen war, erfüllte ihn mit Grauen. Trotzdem drängte es ihn, an diesen Ort zurückzukehren. Irgendwie keimte in ihm die verrückte Hoffnung, daß er Lyn dort finden könnte. Er bog um den letzten Felsen und prallte zurück, als wäre er gegen eine Mauer gerannt. Am Rand der Quelle, halb im Wasser, halb auf den Felsen, lag ein unförmiges, schwarzes Monstrum – der Gurungu. Das Ungeheuer hatte das Maul weit aufgerissen, so daß man die langen, scharfen Zähne sehen konnte. Es lag da, als warte es nur darauf, daß nach dem kleinen Lyn nun auch dessen Bruder Chipol geradewegs in seinen Rachen marschierte. Chipol war vor Schreck wie gelähmt. Dann besann er sich darauf, daß er bewaffnet war. Er zog den Strahler und richtete ihn auf den Gurungu. Gerade wollte er abdrücken und somit dafür sorgen, daß dieses Monstrum sich nie wieder an einem Daila vergreifen konnte, da fiel ihm ein, daß ja im Lager
Alarmzustand herrschte. Das bedeutete, daß die Ortungszentrale im Schiff besetzt, war. Man würde den Schuß bemerken. Danach würde Chipol sich nicht mehr herausreden können, selbst wenn Kerlon den Mund hielt. Zum erstenmal wurde dem Jungen bewußt, was er in der letzten Nacht angestellt hatte. Es war verboten, in die Oase zu gehen, aber gegen dieses Verbot hatten fast alle Kinder schon mindestens einmal verstoßen. Aber heimlich das Lager zu verlassen und nachts in den Hügeln herumzustreifen – das wog viel schwerer. Wenn das herauskam, würde Dharys seinen ältesten Sohn verprügeln, daß Chipol tagelang nicht ordentlich sitzen konnte! Der Junge ließ die Waffe sinken. Selbst wenn es ihm gelang, den Gurungu zu töten, würde ihm das keine mildernden Umstände einbringen. So schwer es ihm auch fiel – er mußte die Bestie ignorieren. Vorsichtig zog Chipol sich zurück. Die Tatsache, daß der Gurungu zumindest zum Teil aus dem Wasser hervorgekommen war, stimmte ihn bedenklich. Jetzt rührte die Bestie sich nicht – vielleicht schlief sie in der Sonne – aber wenn sie Chipol bemerkte, mochte sie vollends an Land kommen und sich den Daila holen. Erst als er die Quelle samt dem Gurungu nicht mehr sehen konnte, wagte Chipol es, wieder normal zu atmen. Er mußte sich für einen Augenblick an einem Baumstamm festhalten. Die Schmerzen in seinen Beinen waren kaum noch zu ertragen, ihm war schwindelig, und sein Magen rebellierte. Als hinter ihm ein Ast knackte, wurde aus der Furcht grelle Panik. Chipol vergaß die Strafe, die ihn erwartete. Ihm war es egal, was Dharys mit ihm anstellen würde, er hatte nur noch einen Wunsch: Ins Lager zu kommen, in die Kuppel des Heilers. Wie von Sinnen stolperte er vorwärts. Es wunderte ihn nicht, daß niemand ihm entgegenkam, und selbst als er die Kuppel des Heilers erreichte und in Kerlons Arbeitszimmer taumelte, schöpfte er keinen Verdacht. Der Heiler war nicht da – was hatte das schon zu sagen? Wahrscheinlich war auch er bereits im Raumschiff. Auf jeden Fall war Chipol nun in Sicherheit. In die Kuppel würde der Gurungu ihm nicht folgen. Der Daila entdeckte einen Krug mit Wasser und trank. Danach fühlte er sich besser. Er legte sich auf den Boden und wartete, und allmählich kehrte auch sein klarer Verstand zurück. In der Kuppel war es totenstill. Er vernahm keinen Laut, und als er rief, antwortete niemand. Das war beunruhigend, denn selbst bei Alarm blieben stets ein paar Wachen im Lager zurück. Oder hatte man die Gefahr für so groß gehalten, daß man alle Daila ins Schiff gerufen hatte? Chipol schüttelte langsam den Kopf. Nein, das konnte es auch nicht sein, denn Kerlons Notausrüstung stand noch an ihrem Platz. Ohne diesen Koffer ging der Heiler nirgendwohin. Chipol raffte sich mühsam auf und trat vor die Kuppel. Er blickte sich um – nirgends eine Bewegung. Nicht einmal ein Sandwurm war zu sehen, geschweige denn ein Daila. Allmählich wurde ihm die Sache unheimlich. Er ging zur nächsten Kuppel, riß die Tür auf und rief – keine Antwort. Das Lager war wie ausgestorben. Er achtete nicht auf die Schmerzen in seinen Beinen und begann zu rennen, von einer Kuppel zur nächsten, schließlich zum Schiff – nichts. Er sah sogar in der Kommandozentrale nach, und als er dort niemanden antraf, war ihm klar, daß etwas Unvorstellbares geschehen sein mußte. Was sollte er tun? Wo konnte er die anderen finden? Oder waren sie etwa für immer verschwunden. Bei diesem Gedanken wurde dem Jungen eiskalt, und er schob den Gedanken hastig von sich. Trotzdem wurde er ihn nicht vollends los. Immer wieder sah er die Kugel mit den Kyrathas in ihrem Innern vor sich. Er wollte es nicht wahrhaben und schon gar nicht daran glauben. Hartnäckig redete er sich ein, daß
die anderen bald zurückkommen würden. Er brauchte nur ein wenig zu warten. Um sich abzulenken, kehrte er in den Arbeitsraum des Heilers zurück und durchstöberte dessen Vorräte. Er hatte genau aufgepaßt, als Kerlon ihn behandelte, und das zahlte sich jetzt aus. Er fand eine Salbe, die die Schmerzen linderte, und ein Pulver, das ihn beruhigte. Danach trat er vor die Tür und sah sich um, in der Hoffnung, irgendwelche Spuren zu finden. Aber da war nichts. Ratlos blieb er stehen und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Das Funkgerät! Wohin die anderen auch gegangen sein mochten, sie hatten sicher eines der tragbaren Geräte mitgenommen. Er brauchte sie nur zu rufen, und sie würden ihm sagen, wohin er sich wenden mußte. Wie dumm von ihm, daß er nicht gleich daran gedacht hatte! Das Funkgerät stand in Sarunas Kuppel, in einer kleinen Kammer gleich neben der Tür. Im selben Raum waren auch die tragbaren Geräte untergebracht. Der junge Gryth war für diese Dinge zuständig, und er war ein sehr ordnungsliebender Mann, bei dem alles an seinem Platz zu sein hatte – und so war es auch jetzt. Die tragbaren Geräte standen im Regal, eines neben dem anderen. Kein einziges fehlte. Chipol kam sich vor, als würde ihm jemand Ruck für Ruck den Boden unter den Füßen wegziehen. Immer wieder schöpfte er Hoffnung, und immer wieder wurde er enttäuscht. Wenn keines der tragbaren Geräte fehlte, dann hatten die anderen auch keines mitgenommen. Es war sinnlos, nach ihnen zu rufen. Aber das Schicksal schien diesmal entschlossen, das grausame Spiel zu beenden und Chipol den endgültigen Stoß zu versetzen: Die Tür zu Sarunas Schlafraum stand offen, und der Junge sah das Tuch auf dem Bett liegen. Sarunas Schultertuch, mit Goldfäden bestickt. Niemals, unter gar keinen Umständen, wäre die alte Dame ohne dieses Tuch irgendwohin gegangen. Die Daila waren fort. Und sie waren nicht freiwillig gegangen, hatten sich nicht in irgendein Versteck zurückgezogen. Die fliegenden Kugeln hatten sie geholt und niemandem genug Zeit gelassen, auch nur das Nötigste mitzunehmen. Seltsamerweise fühlte Chipol sich beinahe erleichtert. Die Zeit der Ungewißheit war vorbei. Nun wußte er, woran er war. Aber warum nur die anderen – warum nicht auch ihn? Er ging nach draußen und starrte in den dunkelblauen Himmel hinauf, bis seine Augen zu tränen begannen. Und dann sah er den Fleck. Sein erster Gedanke war: Sie kommen zurück. Dann begriff er, daß dies nur ein Wunschtraum war, und er kam zu dem Schluß, daß das dunkle Etwas auch ihn holen wollte. Aber es sollte ihn nicht bekommen – niemals! Chipol überzeugte sich davon, daß er den Strahler bei sich hatte, dann rannte er davon. Ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, wählte er die Oase als Versteck. Erst als er die ersten Bäume erreichte, fiel ihm der Gurungu wieder ein. Er schlich vorsichtig bis auf Sichtweite an die Quelle heran und musterte das Ungetüm, das noch immer am Ufer lag, den Rachen geöffnet, die furchtbaren Zähne bleckend. Es kam ihm so vor, als bewege sich der Gurungu ein wenig. Unwillkürlich hob er die Waffe, ließ sie aber gleich wieder sinken. ›Nein‹, dachte er. ›Ich darf nicht schießen. Die Fremden könnten es bemerken, und dann wissen sie, wo ich stecke.‹ Gleichzeitig war ihm klar, daß er ohnehin wenig Chancen hatte, sich vor den fliegenden Kugeln zu verbergen.
Der Gurungu bewegte sich jetzt deutlicher, schaukelte sacht hin und her, als visiere er ein Ziel an, aber dabei hielt er den Rachen immer noch geöffnet. Das Monstrum schien keine Augen zu haben – jedenfalls konnte Chipol keine entdecken –, und das wirkte befremdlich und irritierend. Immerhin deutete der Kopf des Ungeheuers jedoch nicht auf Chipol, sondern etliche Meter an dem Daila vorbei. Der Junge versuchte zu berechnen, worauf der Gurungu zielte. Wenn ihn nicht alles täuschte, nahm die Bestie einen der verbogenen Bäume zum Ziel. ›Unsinn!‹ dachte der Junge. ›Gurungus fressen keine Bäume. Sie fressen Fleisch.‹ Aber galt das auch für diesen Gurungu vom Planeten Joquor-Sa? Immerhin war das Verhalten der Bestie merkwürdig. Einen Baum braucht man nicht zu belauern, den konnte man einfach anknabbern – falls man Geschmack an diesen zähen Gewächsen fand, die das bittere Wasser tranken und in der Mittagshitze giftiges Harz ausschwitzten. Selbst die Sandwürmer verschmähten die Bäume, und Sandwürmer waren wirklich nicht wählerisch bei der Aufstellung ihrer Speisekarte. Der leise hin und her schaukelnde Gurungu war eine Sache, der Fleck am Himmel eine andere. Ein Schatten huschte über die Oase, und Chipol beschloß widerstrebend, die Bestie sich selbst zu überlassen. Solange der Gurungu an der Quelle blieb und Bäume fixierte, würde er keine Daila jagen – alles andere war unwichtig. Die Bäume boten wenig Deckung. Ein erwachsener Daila hätte sich hinter keinem von ihnen verstecken können; Chipol aber war jung, schlank und gelenkig. Eine winzige Bodenvertiefung, ein paar Rankpflanzen, in denen sich herabgebrochene Zweige verfangen hatten, der Wohnhügel eines Sandwurms – für einen Jungen wie Chipol war die Oase voller Verstecke. Wie wirksam er sich hier zu verbergen vermochte, wußte er von den Spielen mit den anderen her. Der Schatten wurde kleiner, und dann landete etwas zwischen der Oase und dem Lager. Anfangs konnte Chipol nicht viel erkennen, denn eine Wolke von Sand wurde aufgewirbelt. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten, die Hitze lag brütend über der Wüste, und kein Windhauch regte sich. Der Sand sank rasch zu Boden und gab den Blick auf einen silberfarbenen Diskus frei. Für Chipol spielte es keine Rolle, daß dieses Ding dort drüben keine besondere Ähnlichkeit mit den fliegenden Kugeln hatte. Auch daß diese gigantische Masse nicht wieder auftauchte, beruhigte ihn keineswegs. In diesem ungeheuren Monstrum mußte es mehr als nur die fliegenden Kugeln geben. Warum also nicht auch einen fliegenden Diskus? Das Ding stand auf seinen acht Landestützen da und schimmerte silbrig. Es war ein Raumschiff, wie Chipol auf den ersten Blick erkannte. Bei den Kugeln war er sich dagegen nicht so sicher. Sie konnten alles mögliche sein. An der Unterseite des Raumschiffe entstand eine Öffnung, und eine Rampe wurde ausgefahren. Dann erschien dort eine Gestalt. Chipol hielt den Atem an, als er den Fremden sah: Der sah aus wie ein Daila! Allerdings einer mit weißen Haaren. Weißhaarige Daila waren eine ausgesprochene Rarität. Der Fremde schien sich nicht sicher zu fühlen. Er hielt eine Waffe in der Hand und erschrak, als er den harmlosen Sandwurm sah. Dann erreichte er eine der Kuppeln und verschwand darin. Chipol war fest davon überzeugt, daß der Fremde nach ihm suchte. Das riesige Ding mochte inzwischen dahintergekommen sein, daß ihm ein Daila entwischt war. Diese Scharte wollte es auswetzen und bediente sich eines Helfers. Der Junge beobachtete gespannt, wie der Fremde eine Kuppel nach der anderen durchsuchte und schließlich sogar das Raumschiff unter die Lupe nahm. Und dann kam der weißhaarige Fremde direkt auf die Oase zu. Chipol verlor die Nerven. Er wollte sich nicht einfangen lassen. Er war bisher nicht dazu
gekommen, darüber nachzudenken, wie sein Leben von nun an verlaufen sollte, und ihm war noch längst nicht klar, daß er das Spiel so gut wie verloren hatte: Er saß auf einem Wüstenplaneten fest, auf dem er nur geringe Überlebenschancen hatte, und er konnte auf gar keinen Fall damit rechnen, daß irgend jemand ihn hier fand und von Joquor-Sa wegbrachte. Es war auch überhaupt nicht daran zu denken, daß Chipol das Raumschiff der Familie Sayum benutzen könnte. Er hatte nicht die nötigen Kenntnisse. Wenn er genug Zeit gehabt hätte, um über alles nachzudenken und den Schock zu überwinden, dann hätte er vielleicht begriffen, daß dieser weißhaarige Fremde eine einmalige Chance darstellte. Aber statt dessen hob er den Strahler, zielte sehr sorgfältig und drückte ab. Der Fremde fiel zu Boden, und Sand stob auf. Chipol glaubte, getroffen zu haben, blieb aber vorsichtig. Und damit hatte er recht. Der weißhaarige Fremde verhielt sich sehr geschickt. Chipol konnte zwar erkennen, daß sein Gegner eilig davonrobbte, aber er bekam den Burschen nicht mehr ins Visier. Zumindest nicht gut genug, um einen sicheren Treffer anzubringen. Chipol zog sich vorsichtig tiefer in die Oase zurück. *** Die Sonne Tsybaruul sank dem Horizont entgegen, und die Schatten wurden länger. Chipol hatte furchtbaren Durst, denn seine Vorräte hatte er längst aufgebraucht. Er wagte es nicht, die Oase zu verlassen und ins Lager hinüberzulaufen, obwohl sein Gegner sich vorerst nicht mehr hatte blicken lassen. Bestimmt wartete er nur darauf, daß der letzte Überlebende der Familie Sayum die Nase aus der Deckung steckte, damit er ihn schnappen und zu diesem gigantischen Etwas schleppen konnte. Aber Chipol war entschlossen, es seinem Gegner so schwer wie möglich zu machen. Die anderen hatten sich überrumpeln lassen. Keiner von ihnen hatte gegen das Verderben gekämpft. Das war auch nicht weiter, verwunderlich, denn die Mitglieder der Familie Sayum haßten jede Art von Unfrieden. Darum waren sie auch immer so schlecht auf Chipol zu sprechen gewesen: Er war ein ständiger Störenfried. Jetzt empfand er das als einen Vorteil. Zumindest war er nicht ganz so wehrlos wie die anderen. Während Chipol darauf wartete, daß der Fremde sich zeigte und er ihm eines überbrennen konnte, kamen ihm allerlei phantastische Ideen. Offensichtlich gab es in dem fliegenden Diskus nur diesen einen Fremden. Und das Schiff war viel kleiner als der Raumer, in dem die Familie Sayum durch Manam-Turu gezogen war, bis sie schließlich auf diesem einsamen Wüstenplaneten landete. Wenn das Schiff so klein war und man nur einen Mann brauchte, um es zu steuern – warum sollte Chipol dann nicht dieser eine Mann sein? In Gedanken malte er sich bereits aus, wie er den Fremden ausschaltete, das Schiff in seine Gewalt brachte und damit seiner Familie folgte. Wahrscheinlich war das gigantische Etwas noch gar nicht weit entfernt. Vielleicht wartete es jenseits der beiden kleinen Monde darauf, daß der Diskus zurückkehrte und ihm den letzten Daila brachte. Chipol hoffte, daß es so war. O ja, der Diskus würde zurückkehren, aber ohne den Fremden an Bord, und Chipol würde seine Familie heraushauen. Joquor-Sa hieß zwar in der Sprache der Daila so viel wie »Sandhaufen, auf dem überhaupt nichts mehr wächst«, aber wenn man die Wahl hatte, ob man in dieser düsteren Masse oder in einer planetenweiten Wüste hausen sollte, dann würden sicher alle Angehörigen der Familie Sayum die Wüste vorziehen. Chipol sah sich bereits als der Retter seines Volkes, und diese Vorstellung gefiel ihm. Niemand würde sich mehr darüber aufregen, wenn er mal etwas Falsches sagte oder zu heftig reagierte. Sie würden sagen: »So ist er nun mal. Das ist auch gut so. Sonst hätte er uns nie befreien können!«
Aber wo blieb der Fremde? Chipol brannte darauf, die Sache endlich abzuschließen, aber wie sollte er das tun, wenn sein Gegner zu feige war, um sich zu stellen? Vielleicht konnte er den Fremden in die Oase locken und ihn dann überwältigen. Chipol entschied, daß das eine gute Idee war, und plötzlich kam ihm der Gedanke, daß auch der Gurungu ihm noch von Nutzen sein könnte. Wenn er den Fremden zur Quelle lockte und der Gurungu diesen Kerl mit den weißen Haaren packte, konnte Chipol inzwischen ungefährdet das Schiff erreichen und starten. Der Junge kehrte an den Rand der Oase zurück und eröffnete das Feuer auf den fliegenden Diskus. Dem Schiff schien das nichts auszumachen, und auch der Fremde ließ sich nicht blicken. Das konnte den Jungen jedoch nicht daran hindern, sein Spiel so weiterzuführen, wie er es sich vorgenommen hatte: Während er auf das Schiff feuerte, veränderte er die Einstellung seiner Waffe. Von dem fliegenden Diskus aus mußte es so aussehen, als verlöre der Strahler immer mehr Energie. Irgendwann mußte der Fremde geradezu zwangsweise zu dem Schluß kommen, daß Chipol nunmehr keine Möglichkeit mehr hatte, sich zu verteidigen. Leider reagierte der Gegner nicht so schnell, wie der Junge sich das vorgestellt hatte. Die Sonne sank hinter den Horizont, der Himmel verdunkelte sich, und die Sterne kamen hervor, und Chipol lag noch immer unter den dürren Bäumen und wartete auf den Fremden. Schon seit über einer halben Stunde hatte er keinen einzigen Schuß mehr abgegeben. Trotzdem kam niemand. Da hörte er plötzlich ein Krachen und Knirschen, gleich darauf das Gurgeln von Wasser. Der Gurungu! Offenbar war das Biest aufgewacht und in die Quelle zurückgetaucht. Wieder krachte es, dann folgte das seltsame, stöhnende Geräusch, mit dem die Äste der Bäume sich zu entfalten pflegten. Aber es war noch zu früh dazu. Die Bäume fächerten sich erst später in der Nacht auf, wenn der Tau zu fallen begann. Andererseits konnte man diese Bewegung auslösen, wenn man an einem der Äste riß – zum Beispiel, wenn man versuchte, sich daran festzuklammern oder auf einen Baum hinaufzuklettern, um einer am Boden lauernden Gefahr zu entrinnen. Chipol verließ seinen Posten am Rand der Oase und schlich vorsichtig zur Quelle hinüber. Noch war es nicht ganz dunkel. Er sah, daß sich drüben beim Quellbecken etwas bewegte. Wieder das Stöhnen eines Baumes, dann ein Geräusch, das dem Jungen eine Gänsehaut über den Rücken jagte: Ein Schleifen und Schaben, wie es entstehen mochte, wenn dieser seltsame Gurungu mit seiner rauhen Haut über die Steine kroch. War der Fremde etwa schon von ganz allein in die Falle gegangen? Chipol sagte sich, daß das durchaus möglich war. Vielleicht hatte das Wesen aus dem Diskus zwar gemerkt, daß Chipols Waffe nicht mehr viel taugte, es aber trotzdem nicht gewagt, den Daila direkt anzugreifen. Es schien sich um ein ziemlich feiges Geschöpf zu handeln. Was lag da näher, als der Verdacht, der Fremde könnte es hintenherum versucht haben? So mußte es sein: Der Fremde hatte sich in Chipols Rücken geschlichen, um den Daila gefahrlos ausschalten zu können. Und dabei war er dem Gurungu direkt vor die Nase gelaufen. Chipol fühlte sich bereits als Sieger. Es wunderte ihn zwar, daß er keine Schreie hörte, aber was wußte er schon über den Fremden? Vielleicht war dieses Wesen stumm. Es hatte jedenfalls noch keinen Laut von sich gegeben, seit es aus dem fliegenden Diskus herausgekommen war. Auf jeden Fall war die Gelegenheit günstig. Der Fremde wurde von dem Gurungu attackiert und würde daher nicht auf den Daila achten. Den Geräuschen nach zu urteilen, versuchte Chipols Gegner, sich auf einen Baum hinaufzuziehen. Chipol konnte der ganzen Sache mit einem einzigen
Schuß ein Ende bereiten – und vielleicht auch gleich noch den Gurungu ausschalten. Er brannte darauf, sich an diesem Biest zu rächen. Auf der anderen Seite des Quellbeckens standen drei Bäume direkt am Wasser. Etwas riß an ihren Zweigen. Chipol hob die Waffe und schoß. Eine dunkle Masse klatschte auf den Boden. Das Wasser brodelte auf. Chipol machte – im Glauben, gesiegt zu haben – zwei schnelle Schritte auf den Teich zu. Dann stieß er gegen etwas Weiches, blickte nach unten und sah den Gurungu. Das Biest lag immer noch mit weit aufgerissenem Maul da. Seine Zähne glänzten matt, aber sie würden nie wieder eine Beute schnappen. Ein eindeutiger Geruch stieg dem Jungen in die Nase. Der Gurungu war tot, und zwar schon seit vielen Stunden. Wahrscheinlich hatte er schon nicht mehr gelebt, als Chipol ihn das erstemal so hatte daliegen sehen. Wenn er trotzdem hin und her geschaukelt hatte, dann nur deshalb, weil auf Joquor-Sa kein totes Tier lange herumlag. Es war zu dunkel, als daß Chipol hätte sehen können, was da von den Bäumen gefallen war, und das Wasser schien jetzt schwarz wie Tinte zu sein. Aber er spürte deutlich, wie etwas näher kam und sich anschlich. Er wandte sich zur Flucht. Etwas packte ihn am Knöchel, und er fiel hin.
6. Atlan hatte sich kurz nach dem ersten Schuß auf Umwegen in die STERNSCHNUPPE zurückgezogen. Er hielt es für wenig sinnvoll, sich mit einem Gegner anzulegen, über den er so gut wie gar nichts wußte – zumal er durchaus die Möglichkeit besaß, sich einige Informationen zu verschaffen. Er wußte schon nach kurzer Zeit, daß er es nur mit einem einzigen Gegner zu tun hatte. Einmal bekam er ihn sogar flüchtig zu sehen, und er war erstaunt darüber, wie menschlich dieser Fremde wirkte. Der Fremde schien noch sehr jung zu sein, und sein ganzes Verhalten sprach dafür, daß er unter großem seelischem Druck stand. Das machte ihn gefährlich. Atlan hatte nicht die Absicht, es auf einen Kampf ankommen zu lassen. Er brauchte diesen Burschen lebend, denn nur dann konnte der Fremde ihm erklären, was auf diesem Planeten geschehen war. Vielleicht hatte dieser junge Fremdling sogar den Erleuchteten gesehen – der Arkonide hätte zu gerne etwas über diese unheimliche Kreatur erfahren. »Ich könnte ihn paralysieren«, schlug das Schiff vor. »Dann gehst du kein Risiko ein.« »Vielleicht doch«, murmelte der Arkonide. »Ich glaube nicht, daß dies der richtige Weg ist. Ich werde mir den Burschen holen, sobald es dunkel wird.« Das Schiff schwieg. Atlan hatte mittlerweile herausgefunden, daß es sich selten einmischte, wenn es sich nicht um rein technische Fragen handelte. Wenn es allerdings um Dinge ging, die das Schiff direkt betrafen, konnte es sich ziemlich stur stellen. Trotzdem war es ein sehr brauchbares Schiff. Wenn es sich irgendwann auch noch diese Geheimnistuerei abgewöhnte, würden sie bestens miteinander auskommen. Der junge Fremde ahnte nicht, daß Atlan ihn vom Schiff aus recht gut beobachten konnte. Noch viel weniger ahnte er, daß sein Trick mit dem Strahler nicht funktionieren konnte: Vom Schiff aus konnte man deutlich abmessen, daß die Waffe nach wie vor Energie enthielt. Als es dunkel wurde, näherte der Fremde sich der Quelle, was Atlan nicht weiter verwunderlich fand. Der Tag war heiß gewesen, und der Junge mußte großen Durst haben. »Das ist die beste Gelegenheit«, sagte er zu dem Schiff. »Wenn dieser Junge etwas über den Erleuchteten weiß, werden wir möglicherweise sehr schnell starten müssen. Bereite dich darauf vor.« Das Schiff hielt es für überflüssig, diesen Befehl zu bestätigen. Draußen war es kühl geworden, und Atlan vermutete, daß die Temperatur während der Nacht bis nahe an den Gefrierpunkt absinken würde. Aus der Oase drangen unheimliche Geräusche herüber. Es knarrte und stöhnte, krachte und ächzte. Einige der Bäume sahen aus, als wollten sie sich bewegen. Und dann ertönte ein lauter Schrei. Atlan vergaß, daß er sich vorsichtig an die Quelle heranschleichen wollte. Er schaltete den Handscheinwerfer ein und rannte los. Als er die Quelle erreichte, bot sich ihm ein erschreckendes Bild. Das Quellbecken war unregelmäßig geformt und maß an seiner breitesten Stelle ungefähr zwanzig Meter. Der obere Teil war von Felsen gesäumt. Weiter unten wurden die Ufer sandig, und das Wasser versickerte zwischen den sich schlangenartig windenden Wurzeln der Bäume. In einem so kleinen Gewässer hätte niemand so große Tiere vermutet, wie sie sich jetzt am Ufer zeigten. Der Arkonide sah fast ein Dutzend von ihnen. Sie hatten langgestreckte, plumpe Körper und große Mäuler mit scharfen Zähnen darin. Obwohl sie keine Augen besaßen, nahmen sie das Licht wahr,
und einige von ihnen rutschten ins Wasser zurück und verschwanden. Die anderen schienen sich nicht recht entscheiden zu können, was sie nun anfangen sollten. Eines der Tiere war tot. Es war ein riesiges Exemplar, mindestens fünf Meter lang, und es lag halb im Wasser, halb im Sand. Der Fremde schien über dieses Ungetüm gestolpert zu sein. Er lag mit dem Gesicht nach unten und schrie in panischer Furcht. Zwei der Tiere schienen sich um das Opfer zu streiten. Sie vollführten einen aufgeregten Tanz rund um den Jungen und zischten sich mit aufgerissenen Mäulern an. Ein drittes Tier zerrte an dem kittelartigen Kleidungsstück des Fremden. Zwei andere näherten sich vorsichtig, zuckten aber zurück, als sie das Licht bemerkten. Sie richteten sich auf und pendelten mit den Köpfen, während sie ein heiseres Fauchen ausstießen. Der Arkonide nahm dies alles mit einem einzigen raschen Blick wahr. Er sah Blut am linken Bein des Jungen, und er wußte, daß er gerade noch im rechten Augenblick gekommen war. Ein wohlgezielter Strahlschuß verjagte die beiden Tiere, die sich gerade hatten nähern wollen. Sie rasten so schnell sie konnten zum Wasser zurück und verschwanden mit einem glucksenden Geräusch. Die beiden Streithähne hielten inne und starrten den Arkoniden an. Er wagte es nicht, auf sie zu schießen, denn sie waren dem Jungen zu nahe. So griff er zu einem altbewährten Mittel und brüllte sie an, während er auf sie zusprang und mit der Lampe herumfuchtelte. Die Wirkung war verblüffend. Nicht nur die sich streitenden Tiere flohen in panischer Angst, sondern auch das dritte ließ die Kleidung des Fremden fahren und raste davon. Verblüffend war allerdings auch die Schnelligkeit, mit der der junge Fremde auf die Veränderung der Situation reagierte. Eben hatte er noch schreiend auf dem Boden gelegen, und im nächsten Augenblick sprang er blitzschnell auf und drang mit einem langen Jagdmesser auf den Arkoniden ein. »Langsam, Bürschchen!« warnte Atlan. Das Messer glitt mit einem häßlichen Geräusch über das Gehäuse der Lampe. Hätte Atlan sie nicht sofort fallen gelassen, dann hätte der junge Fremde ihm wahrscheinlich mindestens zwei Finger abgeschnitten. Kaum hatte der Junge gemerkt, daß sein erster Angriff fehlgeschlagen war, da warf er sich auch schon herum und hechtete auf den Stamm des nächsten Baumes zu. Atlan nahm von dort ein leichtes Glitzern wahr, einen Lichtreflex auf blankem Metall. Der Junge mußte die Waffe verloren haben, als die Tiere ihn angriffen, und nun war er im Begriff, sie sich zurückzuholen. »So nicht, mein Lieber«, fauchte der Arkonide und riß den Jungen zu Boden. Der Fremde schlug und trat um sich wie ein wildes Tier, versuchte sogar zu kratzen und zu beißen, bis es dem Arkoniden gelang, ihn mit einem Dagor-Griff vorübergehend aus dem Verkehr zu ziehen. Etwas außer Atem richtete er sich auf, hob die Lampe hoch und blickte sich um. Von den Tieren war nichts mehr zu sehen. Ein paar harmlos aussehende, wurmförmige Kreaturen mit blaßblauen Augen machten sich an dem Kadaver zu schaffen. Wenn sie mit derselben Geschwindigkeit weiterfraßen, würde das tote Monstrum schon am nächsten Morgen nicht mehr vorhanden sein. Atlan steckte den Strahler und das Messer des Jungen ein, lud sich den Fremden auf die Schulter und begab sich auf den Rückweg. Über ihm setzte lautes Stöhnen und Ächzen ein. Als er den Kopf hob, sah er, daß sich die dicklichen, graugrünen Zweige der Bäume wie Fächer auseinanderfalteten und breite Schirme bildeten. Seltsamerweise gerieten aber nur die Bäume in Bewegung, die vom Licht der Lampe getroffen wurden.
Atlan beeilte sich, aus dieser seltsamen Oase herauszukommen. *** Die STERNSCHNUPPE zog die Rampe ein und fuhr die Schleuse zu, sobald Atlan an Bord war. »Du solltest unseren Gast in die Medostation bringen«, empfahl das Schiff. »Er scheint verletzt zu sein.« »Was du nicht sagst«, murmelte der Arkonide. Er überließ den Jungen den Automaten, blieb aber neben ihm stehen und paßte auf. Im nachhinein empfand er fast so etwas wie Bewunderung für seinen Gegner. Der Fremde mußte furchtbare Schmerzen erlitten haben, und es war erstaunlich, daß er sich unter diesen Umständen so tapfer gehalten hatte. Besonders seine Schienbeine sahen schlimm aus – sie waren mit Schürfwunden übersät, die samt und sonders zu eitern begannen. An den Stellen, an denen der Fremde mit der rauhen Haut der Tiere in Berührung gekommen war, bildeten sich feuerrote Blasen. Ähnliche, aber schon ältere Wunden hatte er auch an einem Bein – offenbar hatte er schon früher eine Begegnung mit diesen Bestien gehabt. Jetzt, als er den Fremden in aller Ruhe betrachten konnte, entdeckte er tatsächlich ein paar Kleinigkeiten, die darauf hinwiesen, daß der Fremde keineswegs ein Terraner war. Der Junge hatte schmale, silbrig-weiße Fingernägel. Seine Augen waren schmal wie die eines Terraners asiatischer Herkunft. Aber die charakteristische Lidfalte fehlte. Die Augäpfel waren bläulich-weiß. Atlan erinnerte sich deutlich daran, beim Kampf in der Oase gesehen zu haben, daß diese Augen im Dunkeln schwach leuchteten. Aber sonst war der Junge völlig humanoid. Er konnte noch nicht alt sein. Atlan schätzte ihn – nach terranischem Maßstab – auf etwa vierzehn Jahre. Er war einen Meter und sechzig Zentimeter groß und sehr schlank. Seine Haut war glatt und hellbraun, sein Haar dunkel und sehr dicht. Der Junge kam zu sich, als die Behandlung gerade ihrem Ende entgegenging. Ihm schien allerdings nicht einzuleuchten, daß die tastenden, metallenen Fühler, die seine Wunden versorgten, ihm etwas Gutes antun wollten. Ehe Atlan auch nur ahnte, was in dem Fremden vorging, hatte dieser sich aus dem sanften Griff der Automatik gelöst, und im nächsten Augenblick ging er dem Arkoniden an die Kehle. »Halt still, verdammt!« stieß Atlan hervor und bemühte sich, den Jungen wieder in die Reichweite der Automatik zu drängen. Aber der Fremde war offenbar der Ansicht, daß die metallenen Fühler die Absicht hatten, allerlei schreckliche Dinge mit ihm anzustellen, denn er riß sich mit erstaunlicher Kraft und Geschicklichkeit los. »Tür zu!« schrie der Arkonide. Die STERNSCHNUPPE gehorchte – leider einen Augenblick zu spät. Der Junge war draußen, und es war der Arkonide, der gegen die geschlossene Tür prallte. Als das Schiff reagierte und die Tür wieder öffnete, war der Fremde schon nicht mehr zu sehen. »Er versteckt sich in deiner Kabine«, erklärte das Schiff. »Ich könnte ihn betäuben.« »Nein!« befahl Atlan hastig. »So kommen wir nie an ihn heran.« »Wie du meinst«, erwiderte die STERNSCHNUPPE gleichmütig. Atlan dachte daran, daß der Junge die Quelle hatte aufsuchen wollen. Angesichts dessen, was dort geschehen war, mußte es als ziemlich unwahrscheinlich erscheinen, daß der Fremde seinen Durst hatte stillen können.
Er holte einen Becher Wasser, öffnete vorsichtig die Kabinentür und stellte den Becher auf den Tisch. »Ich bringe dir etwas zu trinken«, sagte er dabei freundlich. »Du hast sicher großen Durst. Hab keine Angst, hier bist du in Sicherheit.« Er erhielt keine Antwort. Er konnte den Jungen auch nicht sehen. Der Fremde hatte sich sehr gut versteckt. Er ließ den Becher auf dem Tisch stehen und bezog auf dem Gang Stellung. Die Tür ließ er angelehnt. Durch einen schmalen Spalt konnte er den Becher im Auge behalten. Nach kurzer Zeit hörte er Geräusche aus der Kabine. Aber der Becher blieb unberührt. Atlan faßte sich in Geduld und sagte sich, daß dieser Junge mit Sicherheit Furchtbares erlebt hatte. Kein Wunder, daß der arme Kerl nun geradezu krankhaft mißtrauisch war. Wahrscheinlich befürchtete er, daß das Wasser Gift enthielt. Ungefähr eine halbe Stunde später flog die Tür mit einem lauten Knall gegen die Wand, und der Junge stürzte hinaus. Die Geräusche, die aus der Kabine gedrungen waren, erhielten plötzlich eine sehr konkrete Bedeutung: Dieser Teufelsbraten hatte das Kunststück fertiggebracht, ohne jedes Werkzeug irgendeine metallene Stange abzumontieren. Der Junge ließ keinen Zweifel daran, wozu er dieses primitive Werkzeug zu benutzen gedachte. Atlan warf sich zur Seite und entging so dem Schlag, der auf seinem Kopf hätte landen sollen. Die Stange traf die Schulter des Arkoniden, und dann drehte der Junge sich blitzschnell um und rannte davon. Atlan rieb sich die schmerzende Schulter und dachte angestrengt nach. »Also gut«, sagte er schließlich zu dem Schiff. »Betäube ihn. Mir scheint, in diesem Fall geht es nicht anders.« Die STERNSCHNUPPE schwieg geraume Zeit. »Zu spät«, erklärte sie dann. »Er ist nicht mehr im Schiff. Er hat die Schleuse geöffnet und ist hinausgesprungen.« »Warum hast du ihn nicht aufgehalten?« »Weil er sonst die Schaltungen in der Schleuse demoliert hätte!« »Du bist mir vielleicht ein guter Verbündeter!« bemerkte Atlan bitter. »Läßt dich von einem Halbwüchsigen erpressen.« »Ich glaube nicht, daß dieser Junge als Passagier geeignet ist«, gab das Schiff zu bedenken. »Was du glaubst oder nicht glaubst, ist mir egal!« wehrte der Arkonide ärgerlich ab. »Ich muß mit dem Jungen reden – um jeden Preis.« »Du kennst seine Sprache nicht.« »Aber ich werde sie kennenlernen.« *** Die kurze Nacht neigte sich bereits ihrem Ende zu, als Atlan das Schiff verließ. Es war eisig kalt, und der Arkonide fragte sich besorgt, ob der Junge wohl wenigstens einen vernünftigen Unterschlupf gefunden hatte. Aber vielleicht hatte er sich in einer der Kuppeln versteckt. Dort würde er alles finden, was er brauchte, und zweifellos würde er in einer ihm vertrauten Umgebung am schnellsten wieder zur Ruhe kommen. In der Oase ging es jetzt ziemlich geräuschvoll zu. Das Ächzen und Stöhnen wollte kein Ende nehmen. Als Atlan hinüberleuchtete, sah er, daß sämtliche Bäume in Bewegung waren. Ihre gedrehten Stämme wanden sich, und alle Zweige entfalteten sich zu breiten Fächern.
Atlan wählte aufs Geratewohl eine der Kuppeln aus. Er hoffte, daß der Junge sich nicht ausgerechnet dort versteckt hatte, denn sonst stand dem armen Kerl ein neuer Schrecken bevor. Schon nach relativ kurzer Zeit hatte der Arkonide gefunden, wonach er suchte: In einem Raum standen mehrere kleine, tragbare Funkgeräte, und auf einem Tischchen lag ein flacher Kasten mit mehreren Knöpfen und Schaltern. Als Atlan den Kasten einschaltete, begann eine Stimme in einer unverständlichen Sprache zu reden. Atlan nickte zufrieden und nahm den Kasten und einige Funkgeräte mit. Danach suchte er eine Kuppel nach der anderen auf, und ließ jedesmal ein Funkgerät liegen, nachdem er es eingeschaltet hatte. Auch im Raumschiff deponierte er eines der Geräte. Er legte es in die Schleuse und kehrte dann zur STERNSCHNUPPE zurück. Das letzte Funkgerät und den Kasten nahm er mit. »So«, sagte er zu dem Schiff. »Jetzt wollen wir mal sehen, ob sich unser junger Freund nicht vielleicht doch aus der Reserve locken läßt. Ich schätze, daß er recht intelligent ist. Eigentlich müßte ihm bereits aufgegangen sein, daß ich keine feindlichen Absichten habe.« Er schaltete den Kasten ein. »Kannst du diese Sprache analysieren?« »Ich denke schon«, meinte das Schiff. »Aber es könnte Mißverständnisse geben.« »Schlimmer als die, die wir bereits haben, können sie kaum werden«, meinte der Arkonide. »Fang an!« Während die Aufzeichnung lief, holte Atlan einen Translator. Dann lauschte er der Stimme des Fremden. Es handelte sich offensichtlich um Aufzeichnungen von Funkgesprächen, denn die Stimmen wechselten. Auch ohne die Hilfe des Schiffes erkannte Atlan schon bald einige Lautgruppen, die stets am Anfang oder am Ende einer Durchsage standen. Da weder das Schiff noch der Arkonide ohne die Mitarbeit des Fremden irgendwelche Vergleiche ziehen konnten, übersetzten sie diese Lautgruppen provisorisch mit »Bitte melden« und »Ende.« »Das wirst du jetzt auf der Frequenz der Fremden senden«, befahl Atlan. »Und du wirst damit erst wieder aufhören, wenn ich mich bei dir melde.« Damit nahm er sich das letzte Funkgerät und ging zurück ins Lager. In allen Kuppeln erklangen jetzt Durchsagen, aber der Junge rührte sich nicht. Auch im Raumschiff blieb alles ruhig. Es wurde hell. Bei Sonnenaufgang glitzerte der Tau auf den Fächerzweigen der Bäume. Wenig später falteten sich die Zweige geräuschvoll wieder zusammen. Atlan schaltete das Funkgerät ein, das er bei sich trug, und durchstreifte damit die Oase, aber auch hier war der Junge nirgends zu finden. Am Rand der Quelle lagen noch ein paar Überreste des toten Tieres. Im Tageslicht wirkte der Teich harmlos. Das Wasser war glasklar, man konnte bis auf den Grund hinabsehen, und nirgends war eines der nächtlichen Ungetüme zu entdecken. Nur unter einem Felsen war eine pechschwarze Öffnung zu erkennen. Atlan vermutete, daß die Quelle mit einer größeren Höhle verbunden war. Nur so ließ es sich erklären, daß in einem so kleinen Gewässer so große Tiere in so hoher Zahl auftraten. Allmählich machte er sich Sorgen um den Jungen. Dessen Wunden mußten versorgt werden. Die Haut der Tiere schien irgendein Gift zu enthalten – auch das konnte gefährliche Folgen nach sich ziehen. Atlan nahm Verbindung mit der STERNSCHNUPPE auf. Auch das Schiff hatte noch nichts von dem Jungen gehört oder gesehen. Die Funkdurchsagen blieben ohne jedes Echo.
»Ich werde ihn suchen«, entschied der Arkonide. »Und diesmal wird er mir nicht wieder entwischen.« Entweder konnte der Junge Gedanken lesen, oder er hatte eine besondere Begabung dafür, stets im falschen Augenblick aufzutauchen: Als der Arkonide die erste Kuppel betrat, sprang der Junge ihm ins Genick. Er hatte sich offenbar auf einem Schrank versteckt. Aber diesmal schien der Fremde am Ende seiner Kräfte angelangt zu sein. Sein Angriff wirkte ungeschickt und tolpatschig. Atlan entwand dem Jungen die Waffe, die der sich irgendwo besorgt hatte. Wenig später schleppte er den Fremden zum zweitenmal auf seinen Schultern ins Innere der STERNSCHNUPPE.
7. Allmählich mußte sogar Chipol einsehen, daß sich seine hochfliegenden Träume nicht so leicht realisieren ließen, wie er sich das vorgestellt hatte, und er fühlte sich schrecklich. Das lag nicht nur an den Enttäuschungen, die er inzwischen mitgemacht hatte, sondern auch an seiner körperlichen Verfassung. Er fühlte sich matt und schwindelig. Jeder Schritt bereitete ihm Schmerzen, und er verfluchte den Fremden, der ihm keine Ruhe ließ. Er dachte nur noch selten daran, daß er ein Held sein wollte. Es war einzig und allein die Verzweiflung, die ihn vorwärtstrieb. Noch immer glaubte er, daß der Weg zu seiner Familie über den fliegenden Diskus führte. Er mußte den Fremden ausschalten und das Schiff erobern – alles andere würde sich dann schon finden. Leider dachte der Fremde überhaupt nicht daran, sich ausschalten zu lassen. Für Chipol war es sehr überraschend, daß er bei all dem allmählich eine vage Sympathie für den Fremden zu entwickeln begann. Das änderte nichts an seinen Absichten, aber er fand, daß der Fremde sich nicht immer so benahm, wie er sich einen Feind vorgestellt hatte. Welchen Grund mochte dieses Wesen gehabt haben, ihn vor den Gurungus zu retten? Und warum hatte es nicht einfach zur Waffe gegriffen, als Chipol ihm zu entkommen drohte? »Weil er mich lebend abliefern muß«, sagte sich der junge Daila, aber dabei wurde er das Gefühl nicht los, daß noch etwas anderes dahinterstecken mußte. Als die Funkdurchsagen kamen, dachte er zuerst, daß seine Familie sich tatsächlich meldete, und er fühlte Triumph. Auch wenn der Fremde noch so gerissen war – gegen die Familie Sayum konnte er sich nicht lange halten. Sie würden seine Gedanken lesen und seine Pläne kennen, ehe er noch begann, sie in die Tat umzusetzen, und sie würden ihn im Nu einfangen. Aber die Durchsagen waren ein Trick des Fremden, das erkannte Chipol schon bald. Seine Enttäuschung war grenzenlos. Die Enttäuschung führte dazu, daß Chipol die endgültige Entscheidung suchte. Er würde versuchen, den Fremden zu töten – und wenn ihm das nicht gelang, war ohnehin alles verloren. Er war am Ende, und er wußte es. Er hatte es schon oft nötig gehabt, sich zu verstecken – meistens, weil er etwas angestellt hatte und die Strafe erfahrungsgemäß milder ausfiel, wenn man etwas Zeit verstreichen ließ. Dabei hatte er schon vor längerer Zeit festgestellt, daß die Erwachsenen ihn nur sehr selten an Orten suchten, die über ihren Köpfen lagen. Außerdem mochte ein Angriff von oben mehr Aussichten auf Erfolg haben. Also kletterte er mühevoll auf einen Schrank in der Nähe der Schleuse zu Kerlons Kuppel und wartete geduldig. In Kerlons Arbeitsraum hatte er einen kleinen Strahler gefunden, den er krampfhaft umklammerte. Als der Fremde schließlich kam; war Chipol vor Erschöpfung auf dem Schrank eingeschlafen. Benommen vom Schlaf richtete er die Waffe auf seihen Widersacher und drückte ab. Es geschah nichts. Die Waffe war nicht geladen. Chipol hätte schreien mögen vor Wut und Enttäuschung, aber er riß sich noch ein letztes Mal zusammen und sprang den Fremden an. Auch das ging daneben, obwohl der Fremde kostbare Zeit darauf verschwendete, dem Jungen die nutzlose Waffe abzunehmen.
Als Chipol das Bewußtsein verlor, da war sein letzter Gedanke: »Das ist das Ende.« *** »Basislager, bitte kommen«, sagte eine Stimme, und Chipol schlug erstaunt die Augen auf. Im nächsten Moment fuhr er in die Höhe. Die Art und Weise, wie die einzelnen Wörter klangen, war so seltsam, daß er entsetzt zurückzuckte. Dann begriff er, warum die Meldung so fremdartig klang. Es war der weißhaarige Fremde, der zu ihm sprach. Chipol blieb stocksteif sitzen. Er stellte fest, daß die Schmerzen in seinen Beinen kaum noch spürbar waren. Auch sonst fühlte er sich entschieden wohler – zumindest, was sein körperliches Befinden betraf. Aber er hatte Durst. Er sah einen Becher neben seinem Bett stehen, aber er wagte es nicht, danach zu greifen. Er hatte gräßliche Angst. Ihm war klar, daß er sich im Schiff des Fremden befand und diesem Wesen jetzt völlig ausgeliefert war. Wahrscheinlich war sowieso irgend etwas in dem Becher, was Chipol nicht bekam. Vielleicht sogar Gift. Der Fremde lächelte freundlich, nahm den Becher und trank ihn leer. Chipol schloß unwillkürlich die Augen. Er hatte es ja gewußt. Es war alles nur ein Trick. Der Fremde sagte etwas, und Chipol hörte es gluckern. Er machte die Augen wieder auf und sah zu, wie der Fremde zwei Becher füllte. Den einen schob er Chipol hin, den anderen trank er leer. Der Daila sagte sich, daß das nicht viel heißen mußte. Vor etwa drei Jahren war die Familie Sayum auf ihrer Suche nach einer neuen Heimat auf einem Planeten gelandet, dessen Bewohner verdünnte Schwefelsäure tranken und sich dabei sehr wohl fühlten. Trotzdem war der Durst schier unerträglich. Chipol nahm den Becher und roch daran. Soweit er es beurteilen konnte, handelte es sich um reines Wasser. Er probierte einen Schluck, fest entschlossen, erst einmal abzuwarten, ob es ihm auch bekam. Aber der Durst siegte über seine Vorsicht. Der Fremde schenkte lächelnd nach. Chipol trank auch den nächsten Becher leer, dann verlangte er mehr Wasser, aber der Fremde stellte den Krug zur Seite. Chipol hatte zum erstenmal Gelegenheit, seinen Gegner genau und in aller Ruhe anzusehen. Obwohl er sich sagte, daß die äußere Ähnlichkeit mit einem Daila nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein mußte, schwand sein Mißtrauen allmählich. Der Fremde wartete, bis Chipol ihn ausgiebig genug gemustert hatte. Dann nahm er ein kleines Gerät und stellte es neben den leeren Becher. »Atlan«, sagte er langsam und deutlich und deutete dabei auf sich selbst. Das Gerät wiederholte das Wort. Der Fremde zeigte auf Chipol und legte den Kopf schräg. Der Daila war weder dumm, noch ungebildet, und sein Volk war äußerst zivilisiert. Er wußte, was ein Translator war, und da er vorerst ohnehin nichts tun könnte, beschloß er, auf das Spiel einzugehen. Dabei war er allerdings nach wie vor entschlossen, bei der erstbesten Gelegenheit den Fremden auszuschalten. *** Chipol gehörte dem Volk der Daila an, und dieses hatte irgendwann einmal äußerst schlechte Erfahrungen mit psi-begabten Artgenossen gemacht.
Das war so ziemlich das erste, was Atlan erfuhr. Um diese schlechten Erfahrungen nicht wiederholen zu müssen, legten die Daila großen Wert darauf, sich Mutanten aller Art schleunigst vom Hals zu schaffen. In früheren Zeiten hatte man solche Leute einfach umgebracht. Es sprach für die Daila, daß sie sich von solchen Sitten gelöst hatten. Das Verfahren, das die Daila jetzt anwandten, war zwar auch nicht unbedingt erstrebenswert, aber doch um vieles humaner: Durch massiven gesellschaftlichen Druck wurden außergewöhnlich veranlagte Daila dazu gezwungen, sich in Gruppen zusammenzuschließen. Solche Gruppen bezeichnete man als »Familien« – wie zum Beispiel die Familie Sayum. Sobald eine solche Gruppe groß genug war, wurde sie in ein Raumschiff gesteckt und auf die Reise geschickt. Die Gruppe, der Chipol angehörte, war insofern außergewöhnlich, weil sie weitgehend tatsächlich mit einer echten Familie identisch war. Diese Familie Sayum hatte seit vier Generationen nur psibegabte Nachkommen hervorgebracht. Ihre Irrfahrt durch die Galaxis Manam-Turu dauerte mittlerweile schon über zehn Jahre. Chipol war – wie er sagte – in keiner Weise psi-begabt. Er hatte weder vorausschauende Träume, noch konnte er die Gedanken und Gefühle anderer Lebewesen wahrnehmen, und was die Fähigkeit zur Telekinese anging, so konnte er nicht einmal ein Staubkorn mit der Kraft seines Geistes von der Stelle rücken. Atlan glaubte ihm das nicht so recht. Chipols Bericht über das, was auf Joquor-Sa in den letzten Tagen geschehen war, klang seltsam verworren. Er berichtete ausführlich über seinen mißglückten Jagdausflug, aber Atlan wurde aus diesem Bericht nicht recht schlau. »War es ein Raumschiff?« fragte er. Chipol schüttelte den Kopf. »Oder ein Lebewesen?« Chipol verneinte auch das. »Ich weiß nicht, was es war«, behauptete er, und dabei sah er Atlan an, als wollte er sagen: »Du mußt das doch am besten wissen!« Der Arkonide ließ dieses Thema vorerst fallen. Er spürte, daß er zuerst das Vertrauen dieses Jungen gewinnen mußte. Alles andere kam dann ganz von selbst. Auf ihrer Suche nach einer neuen Heimat waren die Daila auf das System der Sonne Tsybaruul getroffen. Der vierte Planet dieser Sonne hieß Cairon und war offenbar ein in den meisten Punkten der Erde sehr ähnlicher Planet. Diesen Planeten Cairon hatte die Familie Sayum sich ausgesucht, um sich dort häuslich niederzulassen. »Warum gerade Cairon?« wollte der Arkonide wissen. »Weil die Bewohner von Cairon uns äußerlich sehr ähnlich sehen«, erklärte Chipol. »Ich kann dir Bilder zeigen!« »Nur zu«, meinte der Arkonide. Chipol, der sich sehr schnell erholte, führte den Arkoniden in eine der Kuppeln. Wenig später sah Atlan zum erstenmal Bilder vom Planeten Cairon. Es war tatsächlich ein erdähnlicher Planet, und sogar die Bewohner von Cairon sahen den Menschen der Erde sehr ähnlich. Die meisten von ihnen waren Nomaden, beteten verschiedene Naturgötter an und kamen mit einem Minimum an Zivilisation aus. Ihre Waffen bestanden größtenteils aus einfachen Keulen und ähnlichen Mordinstrumenten. Schwerter minderer Qualität
gelangten nur selten in ihre Hände, und Pfeil und Bogen bildeten den Gipfel ihrer »Technologie«. Aber die Nomaden waren es nicht, die es den Daila aus der Familie Sayum angetan hatten. Weitaus interessanter waren nämlich die Bathrer. Die Bathrer lebten in einem Gebirge und hausten in großen Stadtstaaten. Wenn auf die Unterlagen der Daila Verlaß war – und Atlan hatte keinen Grund, daran zu zweifeln –, dann hatte ein solcher Stadtstaat bis zu zehntausend Einwohner. Allein das setzte schon voraus, daß die Bathrer eine höhere Stufe der Zivilisation erklommen hatten. Sie betrieben eine intensive Form der Landwirtschaft, verstanden sich darauf, Metalle zu bearbeiten, kannten Spinnrad und Webstuhl und vieles andere mehr. Vor allem aber hingen sie einem Glauben an, der sie für die Mitglieder der Familie Sayum äußerst attraktiv machte: Sie verehrten den »Großen Geist der Harmonie«. Obwohl Chipols Artgenossen die Bathrer schon seit Jahren beobachteten und studierten, wußten sie offenbar noch immer nicht genau, was sie sich unter der Großen Harmonie vorzustellen hatten. Aber eines war sicher: Die Priester, die diese Religion verkörperten, waren samt und sonders mit besonderen Begabungen bedacht. Die spezielle Fähigkeit eines Priesters bezeichnete man als sein Wahakü, und das Wahakü war nichts anderes als eine außersinnliche Begabung. »Daher also die zweite Anzeige des Psi-Spürers!« sagte Atlan nachdenklich. »Der hellere Fleck – das war die Familie Sayum. Die Anzeige schien stärker zu sein, weil wir dem Planeten Joquor-Sa verhältnismäßig nahe waren. Die andere Anzeige sind die Priester der Bathrer.« »Was ist ein Psi-Spürer?« wollte Chipol wissen. Atlan erklärte es ihm, und der junge Daila sah mißtrauisch drein. »Wenn dieses Gerät so funktioniert, wie du gerade gesagt hast«, meinte er, »dann müßte es uns doch verraten, wo meine Familie sich jetzt aufhält.« »Es tut mir leid, Chipol, aber so einfach ist es leider nicht«, erklärte der Arkonide. »Der Psi-Spürer kann deine Familie nicht mehr anpeilen. Die Anzeige ist erloschen.« »Warum?« »Ich weiß es nicht. Es muß etwas mit dem Erleuchteten zu tun haben.« »Und wer ist das nun schon wieder?« »Das Wesen, das euch überfallen hat.« »Das war kein Wesen«, widersprach Chipol energisch. »Das war irgendein Ding, ein Ungeheuer, ein Monstrum!« »Ich wage es nicht, dir zu widersprechen«, murmelte Atlan und beschloß, das Thema zu wechseln. Der Psi-Spürer bereitete ihm augenblicklich einiges Kopfzerbrechen, und er wollte sich zuerst in aller Ruhe darüber Gedanken machen können. »Ihr wolltet euch also bei den Bathrern ansiedeln«, stellte er fest. »Dann verstehe ich nicht, was ihr noch auf dem Planeten Joquor-Sa zu suchen hattet.« »Meine Familie hat die Bathrer studiert. Wir sollten zuerst alles über sie lernen. Ihre Sprache, ihr Verhalten – eben alles.« »Ihr wolltet euch einschleichen«, stellte Atlan fest. »Die Bathrer sollten nicht merken, daß ihr Fremde seid.« Chipol nickte. »Aber warum? Vielleicht hätten sie euch freundlich aufgenommen, wenn ihr offen mit ihnen
gesprochen hättet.« »Niemand nimmt Leute wie uns freundlich auf«, behauptete Chipol. »Wir waren schon auf vielen Planeten, und man hat uns überall wieder davongejagt.« »Habt ihr niemals Wesen gefunden, die über ähnliche Begabungen verfügten?« »Nein, so war es nicht. Da gab es vielleicht mal ein paar Wesen, die Gedanken lesen konnten oder Dinge bewegen, aber sie waren selbst Außenseiter auf ihren Welten.« Chipol sah nachdenklich vor sich hin und fügte plötzlich hinzu: »Die Normalen sind mir sowieso lieber.« »Warum?« »Ich habe keine Ahnung. Ich verstehe mich einfach besser mit ihnen. Sie sind wie ich. Ich kann mit ihnen reden, ohne dauernd Fehler zu machen.« »Das hört sich so an, als hättest du dich mit deiner Familie nicht sehr gut verstanden.« »Das stimmt«, gab Chipol freimütig zu. »Und trotzdem willst du deine Leute suchen?« »Das ist doch etwas anderes«, wehrte der junge Daila ab. »Ich kann sie doch nicht einfach im Stich lassen.« »Es wird vielleicht sehr schwer sein, sie zu finden«, gab der Arkonide zu bedenken. »Und noch schwerer, ihnen zu helfen. Ich kann dir nicht einmal versprechen, daß sie noch leben.« Der Blick, den Chipol dem Arkoniden zuwarf, war schwer zu deuten, aber Atlan hatte den Eindruck, daß der Junge ihm etwas verschwieg. »Du hast sicher eine Vorstellung davon, wo wir mit der Suche beginnen müssen«, meinte der Junge nach einiger Zeit zögernd. »Auf dem Planeten Cairon«, nickte der Arkonide. »Und warum gerade dort?« »Wegen der Priester der Bathrer. Der Erleuchtete braucht Psi-Potentiale, und er braucht sie offenbar dringend. Sonst hätte er deine Familie nicht überfallen – vor allem nicht auf die Art und Weise, die du mir beschrieben hast.« »Was sind Psi-Potentiale?« »Um es vereinfacht auszudrücken: Die besonderen Begabungen, die deine Angehörigen auszeichneten.« »Du meinst, der Erleuchtete wird meine Leute für sich arbeiten lassen?« »Ich fürchte, daß es nicht ganz so einfach ist.« Der Arkonide betrachtete den Jungen zweifelnd. Er dachte an Alkordoom, an die Sonnensteppe und die Wesen, die dort hausten. Man hatte ganze Völker dorthin verschleppt, um an deren PsiPotentiale heranzukommen. Der Verlust des Potentials bedeutete nicht automatisch auch den Tod. Aber das Schicksal, das die Beraubten erwartete, war auch nicht wesentlich besser. »Ich will es wissen!« drängte Chipol. »Verstehst du das denn nicht? Es geht schließlich um meine Familie!« »Nun, der Erleuchtete braucht nur die Psi-Potentiale, nicht deren Besitzer.« »Das verstehe ich nicht.«
»Er wird deinen Angehörigen ihre speziellen Begabungen nehmen.« »Da wird er eine Enttäuschung erflehen«, behauptete Chipol. »Das hat man nämlich auf Aklard auch schon versucht, und es hat nicht geklappt. Man kann diese Begabung nicht einfach auslöschen.« »Das hat der Erleuchtete auch gar nicht vor. Er löscht nichts aus. Er nimmt sich dieses Psi-Potential und benutzt es für seine Zwecke.« »Wie kann man eine Begabung wegnehmen?« »Er hat die Mittel, es zu tun. Genauer kann ich es dir auch nicht erklären. In der Galaxis, in der er sich vorher aufgehalten hat, gab es Maschinen, die diese Arbeit durchgeführt haben. Ich nehme an, er hat ein paar davon mitgenommen – falls er nicht sogar imstande ist, auch ohne diese Maschinen auszukommen.« Chipol sah aus, als glaube er allmählich kein Wort mehr, und Atlan konnte es ihm nicht verdenken. Es war schwer, zu verstehen, was der Erleuchtete tat, und auch Atlan wußte bisher nur sehr wenig über diese Dinge. »Mal angenommen, das, was du da erzählst, ist wirklich wahr«, murmelte Chipol nachdenklich. »Was um alles in der Welt tut der Erleuchtete dann mit diesen Psi-Potentialen? Wie kann er sie benutzen? Wird er selbst zu einem Mutanten?« »Ich weiß es nicht. Der Erleuchtete braucht die Psi-Potentiale, um eine Waffe herzustellen oder zu vollenden. Diese Waffe heißt EVOLO. Niemand scheint bisher zu wissen, was EVOLO ist, wie es aussieht und was es bewirkt, aber es steht fest, daß die Psi-Potentiale irgendwie damit in Verbindung stehen.« »Die Begabungen meiner Angehörigen können durchaus auch als eine Art Waffe benutzt werden«, stellte Chipol fest. »Darum hat man uns ja auch von Aklard verbannt. Man erzählt sich furchtbare Geschichten über das, was die Mutanten in der Vergangenheit getan haben. Sie haben Menschen versklavt, verletzt und sogar getötet, ohne sie anzurühren. Wenn der Erleuchtete diese Kräfte wirklich sammeln kann, dann wäre das vielleicht wirklich eine furchtbare Waffe.« »Du glaubst das nicht so recht, wie?« »Ich kann es mir nicht vorstellen«, gab Chipol 2x1. »Dharys – das ist mein Vater – kann Dinge bewegen, indem er sie ansieht. Aber diese Dinge dürfen nicht zu groß und zu schwer sein. Er hat oft darüber gesprochen, was er alles tun könnte, wenn es möglich wäre, diese Kraft zu speichern, und er ist überzeugt davon, daß das nicht geht.« »Es kommt vielleicht nur darauf an, daß man über die richtigen Mittel verfügt«, meinte Atlan. »Du kannst die Kraft deines Körpers speichern – warum nicht auch die deines Geistes?« Chipol sah ihn überrascht an. »Körperliche Kraft speichern?« fragte er. »Wie soll das funktionieren?« Atlan deutete lächelnd auf die elektrische Lampe. »Du kannst körperliche Kraft in Elektrizität umsetzen«, erklärte er. »Auf diese Weise kannst du sie speichern, bis du die richtige Menge beisammen hast.« Chipol verzog das Gesicht. »Meinetwegen«, gab er sich geschlagen. »Aber wenn der Erleuchtete sich einbildet, so etwas mit meinen Verwandten machen zu können, dann soll er sich vorsehen. Es könnte sein, daß er sich dabei gewaltig die Finger verbrennt!« Atlan schwieg. Es war verständlich, daß Chipol das Ausmaß der Gefahr noch nicht richtig abschätzen konnte.
»Aber die Bathrer sind friedliche Leute«, fuhr der Junge nachdenklich fort. »Wenn er sie überfällt…« »Er wird auf Cairon einen anderen Weg wählen«, versicherte Atlan. »Dieser Überfall auf deine Familie ist alles andere als typisch für ihn. Die Reise von Alkordoom hierher muß ihn viel Kraft gekostet haben, sonst hätte er sich nie an ein solches Unternehmen herangewagt. Es ist nicht seine Art, offen vorzugehen, sich vielleicht sogar zu zeigen.« »Was denn – glaubst du etwa, daß das der Erleuchtete war? Dieses gewaltige Ding?« »Das wohl kaum. Es war ein gigantisches Raumschiff.« »So große Raumschiffe gibt es nicht«, behauptete Chipol im Brustton der Überzeugung. Atlan lachte leise auf. »Ich fürchte, da irrst du dich. Aber wie dem auch sei – er hat sich mit diesem Überfall eine Blöße gegeben. Und er hat einen Zeugen zurückgelassen, nämlich dich. Das wäre ihm bestimmt nicht passiert, wenn er nicht in Panik und aus purer Not gehandelt hätte. Jetzt wird er sich ein Versteck suchen; wie er es auch in Alkordoom getan hat. Er wird sich Hilfskräfte beschaffen, die sich an seiner Stelle die Finger schmutzig machen und ihm bringen, was immer er braucht. Und er wird die Priester der Bathrer haben wollen. Cairon ist für ihn nur einen Katzensprung von hier entfernt. Eine so günstige Gelegenheit, weitere Psi-Potentiale zu bekommen, wird er sich auf keinen Fall entgehen lassen.« Atlan dachte daran, daß in Alkordoom das Jahr 5000 des Erleuchteten angebrochen war. Jedes dieser Jahre hatte eintausend Tage, und im Jahre 5000 sollte EVOLO vollendet werden. Wenn es stimmte, daß der Erleuchtete dazu Psi-Potentiale brauchte – und daran bestand mittlerweile kein Zweifel mehr – dann würde er jede Gelegenheit wahrnehmen und zusammenrauben, was immer er bekommen würde. Sobald EVOLO vollendet war, hatte Atlan das Spiel verloren. Die Jagd auf den Erleuchteten war von nun an mehr denn je ein Wettlauf mit der Zeit. Sein Magen zog sich zusammen, und wieder hatte er das Gefühl, daß er etwas übersehen hatte. Etwas, das wichtig war. Er glaubte zu wissen, daß es etwas mit der Botschaft der Kosmokraten zu tun hatte. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, der Lösung ganz nahe zu sein. Aber er kam nicht dahinter. »Es kann nicht schwierig sein, ihn auf Cairon zu finden«, bemerkte Chipol. »Ein so großes Raumschiff kann man dort nicht verstecken.« »Er wird Mittel und Wege finden, es dennoch zu tun«, versicherte Atlan bedrückt. »Er versteht es meisterhaft, sich zu verbergen und aus dem Dunkeln heraus die Fäden zu ziehen.« »Ob er weiß, daß du ihn suchst?« »Vielleicht weiß er es – vielleicht auch nicht. Aber er wird auf jeden Fall mißtrauisch werden, wenn jetzt auf Cairon Fremde auftauchen. Wir werden sehr vorsichtig sein müssen. Warst du schon mal auf diesem Planeten?« Chipol nickte. »Meinst du, daß wir uns so gut tarnen können, daß die Bathrer uns für ihresgleichen halten?« »Ich denke schon«, meinte Chipol. »Aber dazu müßten wir auch die Sprache der Bathrer beherrschen. Ich habe zwar schon Unterricht darin bekommen, aber ich bin nicht sehr gut, wenn es um Sprachen geht.« »Das ist das kleinere Problem«, erklärte der Arkonide. »Sicher gibt es genaue Unterlagen darüber?« »Das kann man wohl sagen. Drüben im Raumschiff ist das alles gespeichert.«
»Na also. In der STERNSCHNUPPE haben wir die nötigen Geräte. Wir brauchen sie nur mit diesem Material zu füttern, und binnen ein oder zwei Tagen werden wir nicht nur die Sprache der Bathrer sprechen, sondern uns auch wie sie benehmen und alles wissen, was deine Leute über den Planeten Cairon zusammengetragen haben.« »Worauf warten wir dann noch?« fragte Chipol unternehmungslustig. Atlan warf einen letzten Blick auf die Bilder, die der Daila ihm gezeigt hatte. Nomaden, die von ihren Herden lebten, Bathrer, die in ihren seltsamen Stadtstaaten hausten, Händler, deren Karren von Tieren gezogen wurden – auf Cairon steckte die Zivilisation noch in den Kinderschuhen. Aber vielleicht war das dem Erleuchteten nur recht. Er brauchte kaum zu befürchten, daß die Bewohner von Cairon ihm auf die Schliche kamen. Atlan schaltete das licht aus und folgte Chipol, der behende voranlief. Der junge Daila hatte sich erstaunlich schnell erholt, und seine Wunden waren schon fast verheilt. Wie gut er die Erlebnisse der letzten Tage auch psychisch überwunden hatte, war eine andere Frage. Eines stand für den Arkoniden fest: Er würde diesen Jungen mitnehmen müssen, auch wenn das gefährlich war.
8. Dem Raumschiff der Familie Sayum war deutlich anzumerken, daß es schon eine lange Reise hinter sich gebracht hatte. Zur Familie Sayum gehörten rund fünfhundert Personen, eine Anzahl von Säuglingen und Kleinkindern, die auf Joquor-Sa zur Welt gekommen waren, eingeschlossen. Während der Flüge von Planet zu Planet mußte in diesem Schiff qualvolle Enge geherrscht haben. »Ihr müßt sehr froh gewesen sein, daß diese Herumfliegerei endlich ein Ende haben sollte«, stellte Atlan fest. »Das waren wir auch«, versicherte Chipol. »Wir hätten die Reise auf keinen Fall fortsetzen können.« »Was hättet ihr gemacht, wenn auch Cairon sich als unbrauchbar erwiesen hätte?« »Ich weiß es nicht. Es gibt auf Cairon mehrere Kontinente, und nur einer davon wird von den Nomaden und den Bathrern bewohnt. Wahrscheinlich hätte sich ein Teil der Familie irgendwo in der Wildnis niedergelassen und darauf gewartet, daß die anderen einen geeigneten Planeten finden würden.« »Dir hättet eine eigene Zivilisation aufbauen können.« »Auf Cairon? Das hätte nie geklappt. Die meisten von uns können die Gefühle anderer Lebewesen mitempfinden. Sie können nicht auf die Jagd gehen, weil sie die Angst und die Schmerzen der Tiere nicht ertragen. Und sie können sich darum auch schlecht zur Wehr setzen, wenn sie bedroht werden.« »Wenn es so ist, hätte man auf eurem Heimatplaneten aber auch keine Angst vor den Mutanten haben müssen«, meinte Atlan. »Wenn deine Leute nicht einmal auf die Jagdgehen können, sollten sie erst recht nicht imstande sein, einen Daila zu verletzen oder auch nur zu bedrohen.« Chipol sah den Arkoniden überrascht von der Seite her an. »Darüber haben die anderen nie gesprochen«, gab er zu. »Und ich habe auch nie darüber nachgedacht. Wahrscheinlich ist irgendein Haken dabei, von dem ich nichts weiß. Ich war sowieso nur ein Außenseiter. Es gab vieles, worüber man nicht sprach. Die anderen wußten auch so Bescheid. Nur ich war immer der Dumme dabei.« Er deutete in einen Gang hinein. »Da hinten ist es«, sagte er. »Hoffentlich können wir das alles tragen. Es ist ein ziemlich schwerer Kasten dabei.« »Es wird schon gehen«, meinte der Arkonide. Er war nicht ganz bei der Sache, denn ihm machte noch immer die Frage zu schaffen, warum der Psi-Spürer lediglich gezeigt hatte, daß das Psi-Signal vom Planeten Joquor-Sa erloschen war. Offensichtlich hatte der Spürer auf die Familie Sayum angesprochen. Das Signal war in dem Augenblick erloschen, als der Erleuchtete die Daila überfallen hatte. Aber warum war es erloschen? Vielleicht hatte der Erleuchtete die Daila nicht nur eingefangen, sondern sofort getötet. Dann hatte er aber mit Sicherheit die Psi-Potentiale in Sicherheit gebracht, und auf diese hätte der Spürer ansprechen müssen. Genau wie auf die Potentiale, die der Erleuchtete aus Alkordoom mitgebracht – hatte. Der Psi-Spürer war offensichtlich nicht imstande, den Erleuchteten zu erfassen, und das war eine große Enttäuschung für den Arkoniden. Er hatte gehofft, mit diesem Gerät endlich ein Mittel gefunden zu haben, mit dessen Hilfe er die Spur des unheimlichen Gegners genau verfolgen konnte. Dann hätte er jetzt zumindest mit Sicherheit gewußt, daß der Erleuchtete sich auf Cairon aufhielt.
Er muß dort sein, meldete sich überraschend das Extrahirn zu Wort. Der Überfall auf Chipols Familie geht eindeutig auf das Konto des Erleuchteten. Cairon ist das nächste Ziel. Atlan nickte unwillkürlich. »Ich fürchte, das schaffen wir nicht«, sagte Chipol, der eine Tür geöffnet hatte und vor einem metallenen Kasten stand. »Was ist da drin?« wollte Atlan wissen. »Unterlagen über Cairon natürlich.« Der Arkonide runzelte die Stirn. Er hatte sich unter diesen Unterlagen etwas anderes vorgestellt. »Ich hole eine Transportplatte!« erklärte Chipol und schlüpfte zur Tür hinaus. Das Extrahirn reagierte im gleichen Augenblick, als auch dem Arkoniden ein Licht aufging, und beide kamen sie zu spät: Die Tür fiel zu. *** Chipol blieb mit heftig klopfendem Herzen stehen und lehnte sich an die metallene Wand. Er hatte nicht gedacht, daß er es schaffen würde, und es wunderte ihn, daß der Arkonide sich so leicht hatte hereinlegen lassen. Fast tat es dem Jungen leid, daß er Atlan einsperren mußte. Er gab sich einen energischen Ruck und rief sich zur Ordnung. Es mußte sein. Um der Familie Sayum willen. Chipol lauschte kurz an der geschlossenen Tür, aber er hörte nichts. Er hätte erwartet, daß Atlan mit den Fäusten gegen die Tür hämmerte und Chipol mit allem möglichen drohte für den Fall, daß der Daila den Arkoniden nicht auf der Stelle herausließ. Aber Atlan hämmerte nicht und schrie nicht – er sagte gar nichts. Auch gut, dachte Chipol und verließ das Schiff. Draußen blieb er stehen und starrte zur STERNSCHNUPPE hinüber. Er hatte keine Angst vor dem Schiff. Es war höflich und hilfsbereit, und Chipol war überzeugt davon, daß es ihn nach Cairon bringen würde. Es war nicht Atlans Eigentum – das hatte Chipol bereits herausgefunden –, sondern es betrachtete den Arkoniden nur als seinen Passagier. Also würde es sicher auch einen anderen Passagier akzeptieren. Hinterher konnte es nach Joquor-Sa zurückkehren. Atlan würde bald herausfinden, wie er sich aus der Abstellkammer befreien konnte. Danach standen ihm die Kuppeln samt ihren Einrichtungen zur Verfügung. Wenn er sparsam mit der Energie und den Vorräten umging, konnte er es monatelang hier aushalten. Solange aber würde es gewiß nicht dauern, bis die STERNSCHNUPPE zurückkehrte. Chipol wollte nichts weiter, als seine Familie befreien. Er war fest davon überzeugt, daß er seine Angehörigen auf Cairon finden würde. Kein Arkonide konnte ihm einreden, daß der Erleuchtete samt seinem riesigen Raumschiff sich dort verstecken konnte. Zumindest nicht vor Chipol, denn der hatte Cairon schon oft genug betrachtet – auf Bildern und auch direkt, vom Raumschiff aus. Und selbst wenn das Schiff des Erleuchteten noch so gut getarnt war, würde die STERNSCHNUPPE schon zu ihm finden. Schließlich kam sie ja von ihm. Dieser Atlan mußte ziemlich dumm sein, wenn er glaubte, daß Chipol auf eine so unmögliche Geschichte hereinfallen würde. Chipol glaubte genau zu wissen, woher der Wind wehte: Das Gerede mit den Psi-Potentialen konnte ihn nicht im geringsten beeindrucken, aber eine andere Version erschien ihm um so glaubhafter. Der Erleuchtete hatte die Familie Sayum eingefangen, weil er die Kräfte der Daila brauchte, das stimmte sicher, aber er brauchte sie direkt und ohne den Umweg über irgendeine mysteriöse Psi-Batterie.
Niemand wußte besser als Chipol, was die Familie Sayum zu tun vermochte, wenn sie nur wollte. Auf Aklard lernten Mutanten sehr früh, sich zurückzuhalten und ihre Kräfte nicht zu zeigen, und Chipols Angehörige hatten sich so sehr daran gewöhnt, daß sie gar nicht mehr anders konnten. Darum hatten sie sich selbst hier auf Joquor-Sa, wo niemand sie beobachten konnte, stets zurückgehalten. Sie waren stolz auf ihre Kräfte, aber sie zeigten sie nicht. Der Erleuchtete würde sie jedoch zwingen, sie zu gebrauchen, und sie würden ihm gehorchen, wenn sie keine andere Wahl hatten. Er mußte seine Leute herausholen, ehe sie auf Befehl des Erleuchteten Dinge taten, die sich nie mehr rückgängig machen ließen. Cairon war die letzte Hoffnung für die Familie Sayum. Sie konnten es sich nicht leisten, auch von dort vertrieben zu werden. Chipol war nach wie vor davon überzeugt, daß Atlan im Auftrag des Erleuchteten nach Joquor-Sa gekommen war, um Chipol zu holen. Der Arkonide selbst hatte es deutlich genug gesagt: Es paßte nicht zum Erleuchteten, daß er einen Zeugen zurückließ. Natürlich war es seltsam, daß der Arkonide so schonend mit Chipol umgegangen war. Er hätte den Daila längst außer Gefecht setzen und nach Cairon transportieren können. Statt dessen hatte er versucht, Chipol zu überzeugen und dazu zu bringen, daß dieser freiwillig nach Cairon ging. Der Daila hatte auch dafür eine Erklärung bereit. Dharys war der stärkste Telekinet der Familie Sayum, und nach Chipols fester Überzeugung war die Telekinese die bedeutendste geistige Kraft, die es geben konnte! Dharys hatte aber auch einen starken, unbeugsamen Willen. Mit ihm würde sogar der Erleuchtete es schwerhaben. Aber dieses unheimliche Wesen dachte wahrscheinlich, daß es Dharys dennoch bezwingen konnte, wenn es ihm seinen Sohn präsentierte. »Entweder du tust, was ich dir befehle, oder ich werde mit Chipol dies und jenes tun.« Das würde bei Dharys wahrscheinlich nicht funktionieren, jedenfalls nicht sofort, aber konnte der Erleuchtete das wissen? . Die Daila waren normalerweise bereit, für ihre Kinder alles zu tun. Wenn der Erleuchtete die Familie Sayum schon in seiner Gewalt hatte, dann würde er auch das bereits herausgefunden haben. Manchmal hatte Chipol bei solchen Gedanken ein seltsames Gefühl. Eine innere Stimme sagte ihm, daß er sich irrte, daß er viele Dinge falsch sah. Aber er schob solche Zweifel stets mannhaft von sich. Noch war nicht alles verloren. Im Gegenteil, er sah seine Zukunft in leuchtenden Farben. Und Atlan? Chipol blieb unwillkürlich stehen, etwa hundert Meter von der STERNSCHNUPPE entfernt. Er scharrte mit den Füßen im Sand und beobachtete einen Sandwurm, der den Kopf hervorstreckte und dann erschrocken die Flucht ergriff. Er mochte den Arkoniden, und das war schlecht, denn dadurch wurden in ihm immer wieder diese Zweifel wachgerufen. Andererseits wußte er genau, warum er diesen weißhaarigen Fremden sympathisch fand. Atlan war ein Normaler. Das war das ganze Geheimnis. Chipol hatte schon eine ganze Reihe von Normalen kennengelernt, und er wußte, wie leicht er mit ihnen Freundschaft schließen konnte. Er hatte den größten Teil seines Lebens unter Mutanten verbringen müssen, die ihm in jeder Beziehung überlegen waren. Das hatte ihn aggressiv gemacht. Die Folge davon war, daß er noch stärker in die Isolation geriet. Kerlon hatte einmal versucht, ihm das zu erklären, damals, als er sich geweigert hatte, ins Schiff zurückzukehren, weil er glaubte, nicht länger bei der Familie Sayum leben zu können.
Auch auf Cairon gab es Normale, und Chipol wußte, daß er gut mit ihnen auskommen würde. Aber wenn viele von ihnen um ihn herum waren, fühlte er sich einfach nur wohl. Wenn er es dagegen nur mit wenigen zu tun hatte, war die Versuchung, sich ihnen anzuschließen, wesentlich größer. Bei Atlan war es besonders schlimm, weil der Arkonide mit Chipol sprach, als wären sie einander gleichgestellt. In den letzten zwei Tagen hatte Chipol kein einziges Mal diese furchtbare Wut in sich gespürt, diese verzweifelte Ohnmacht, die ihn vor allem dann befiel, wenn er mit Dharys zu reden versuchte. Atlan war so ganz anders als Dharys. Er sprach nicht nur mit Chipol, sondern er hörte ihm auch zu. Er beantwortete jede Frage, und er legte Wert darauf, daß Chipol weitere Fragen stellte, bis er verstanden hatte, worauf es ankam.! Der junge Daila seufzte. Warum konnte Atlan nicht einer von den anderen sein? Er ging zögernd weiter und betrat die STERNSCHNUPPE. »Bring mich zum Planeten Cairon!« befahl er. *** Du hast dich von diesem Jungen hereinlegen lassen, stellte der Extrasinn fest. »Sei still!« befahl der Arkonide ärgerlich. Natürlich hätte ihm das nicht passieren dürfen. Er hatte gewußt, daß der Junge ihm noch immer nicht vertraute, und er hätte daraufgefaßt sein müssen, daß Chipol irgendeinen Versuch dieser Art unternahm. Aber wem war damit geholfen, wenn er sich jetzt, da es zu spät war, Vorwürfe machte? Er sah sich in der Kammer um. Ein Abstellraum – das war ganz offensichtlich. Und er war in diese Falle getappt wie ein Narr. Er untersuchte die Tür, aber die war ohne entsprechendes Werkzeug nicht zu öffnen. Danach rückte er zuerst den großen Metallkasten von der Wand ab – auch dahinter verbarg sich kein Ausgang aus diesem Gefängnis. Nachdem er auch alle anderen Kisten und Kästen von der Stelle gerückt hatte, nahm er sich die Decke vor. Wieder nichts. Und auch im Fußboden gab es keine Luke, die sich öffnen ließ. Nur unter der linken oberen Ecke existierte eine kleine Öffnung, durch die ein wenig frische Luft hereinströmte. Dann mußte es eben doch die Tür sein. Er untersuchte die verschiedenen Behälter, bis er einen fand, der nicht verschlossen war. Im trüben Licht der kleinen, verschmutzten Leuchtplatte starrte er auf eine Reihe von einfachen Werkzeugen. Ob Chipol das gewußt hatte? Unwichtig, entschied Atlan. Wenn Chipol sich beeilt hatte, konnte er jetzt schon in der STERNSCHNUPPE sein. Was würde das Schiff tun, wenn der Junge ihm befahl, daß es starten sollte? Und wohin würde der Junge fliegen wollen? Chipol träumte von einem Leben als Raumfahrer. Was, wenn der Bursche sich seinen Wunschtraum erfüllt und mit der STERNSCHNUPPE davonflog, zu irgendwelchen fernen Sternen? Dann kannst du nur noch hoffen, daß es dir gelingt, dieses alte Schiff hier vom Boden wegzubekommen, kommentierte der Extrasinn. Unsinn, dachte Atlan. Die Daila waren mehrmals auf Cairon gelandet – und bestimmt nicht mit diesem alten Klapperkasten. Es müssen Beiboote vorhanden sein. Warum? Nur weil du weißt, daß du dieses Schiff hier alleine nicht steuern könntest? »Du bist ein wahrer Helfer in der Not«, knurrte Atlan. »Immer ein aufmunterndes Wort auf den
Lippen. Aber mach dir keine falschen Hoffnungen. Erstens komme ich schon noch rechtzeitig hier heraus, zweitens wird die STERNSCHNUPPE nicht ohne mich starten, und drittens erwische ich den Jungen. Der kann was erleben!« Der Schraubenzieher, mit dem er der Tür zu Leibe gerückt war, zerbrach mit einem hellen »Ping«. »Sag jetzt lieber gar nichts!« warnte der Arkonide und kippte den Kasten mit den Werkzeugen kurzerhand aus. *** »Du bist allein«, stellte die STERNSCHNUPPE fest. »Wo ist Atlan?« »Er folgt uns mit dem anderen Schiff«, log der junge Daila. »Warum?« wollte die STERNSCHNUPPE wissen. »Woher soll ich das wissen?« schrie der Junge wütend. »Wir sollen vorausfliegen. Worauf wartest du noch?« »Ich furchte, daß es Schwierigkeiten technischer Art geben wird«, erklärte das Schiff. »Atlan hat mir viel über den Erleuchteten erzählt. Dieses Wesen ist sehr gefährlich. Ich habe das andere Schiff aus der Ferne sondiert. Es hat nur sehr schwache Schutzschirme und ist unbewaffnet. Ich bin für die Sicherheit meiner Passagiere verantwortlich. Daher schlage ich vor, daß wir das andere Schiff zurücklassen. Nur so habt ihr eine Chance, einigermaßen sicher nach Cairon zu gelangen.« »Tu nicht so, als ob du Angst vor dem Erleuchteten hast«, sagte Chipol angriffslustig. »Dich wird er bestimmt nicht angreifen.« »Ich bin nicht dazu konstruiert, Angst zu empfinden. Mir geht es nur um die Sicherheit der Passagiere, die mir anvertraut sind.« »Nun gut. Atlan ist nicht mehr dein Passagier. Er hat sich für ein anderes Schiff entschieden – zumindest vorübergehend.« »Das ist unlogisch. Dieses andere Schiff ist kaum flugfähig.« »Das ist eine Lüge«, sagte Chipol empört. »Es ist ein gutes Schiff. Es hat uns den langen Weg von Aklard bis nach Joquor-Sa getragen, und es hat uns nie im Stich gelassen. Es ist zwar alt, aber es ist in Ordnung!« Das Schiff schwieg. Chipol wartete. »Was ist los?« fragte er schließlich. »Warum startest du nicht?« »Ich habe es noch einmal überprüft«, erklärte das Schiff. »Meine Beobachtungen waren richtig. Das andere Schiff ist nur noch bedingt flugfähig. Es ist überaus gefährlich, damit den Planeten Cairon anzufliegen, und noch gefährlicher, sich mit diesem Schiff dem Erleuchteten zu nähern.« »Verdammt!« stieß Chipol hervor und sprang auf. » Atlan will es so, verstehst du das nicht?« »Ich kann eine solche Entscheidung nicht akzeptieren.« »Ich dachte, du gehorchst seinen Befehlen«, sagte Chipol enttäuscht. Keine Antwort. »Wem bist du eher Gehorsam schuldig – Atlan oder dem Erleuchteten?« fragte Chipol schließlich. »Ich habe mit dem Erleuchteten nichts zu schaffen.« »Aber er hat euch doch hergeschickt, um mich auch noch einzufangen!« »Davon ist mir nichts bekannt.« »Was sollen diese Lügen jetzt noch? Ich habe euch durchschaut!«
»Diese Unterhaltung ist unlogisch«, erklärte das Schiff, und es hörte sich beinahe ratlos an. Chipol biß sich auf die Lippen. »Dir kommt nicht vom Erleuchteten?« fragte er schließlich zaghaft. »Natürlich nicht. Atlan ist diesem Wesen aus einer anderen Galaxis hierher gefolgt. Er hat den Auftrag, den Erleuchteten zu finden und EVOLO unschädlich zu machen.« »Und was ist EVOLO?« »Eine Gefahr für das ganze Universum.« »Ich fürchte, ich habe mal wieder eine große Dummheit begangen«, murmelte Chipol deprimiert. Das Schiff schwieg. »Also gut«, seufzte der junge Daila. »Ich gehe jetzt und hole Atlan. Ich hoffe nur, er ist meinem Vater nicht doch ähnlicher, als ich gedacht habe. Sonst kann ich mich auf etwas gefaßt machen.« *** Atlan hatte die Hälfte der Werkzeuge demoliert, aber schließlich gab die Tür doch nach. Fast eine ganze Stunde war vergangen, seit er dem Jungen in die Falle gegangen war. Er eilte durch das alte Schiff dem Ausgang entgegen und hoffte, daß es nicht längst zu spät war. Dann erreichte er die Schleuse und blieb wie angewurzelt stehen. Chipol, der die Schleuse eben betreten wollte, zuckte zurück. »Es tut mir leid«, murmelte der Junge kleinlaut. »Es würde mich interessieren, warum du das getan hast«, sagte Atlan gedehnt. »Wolltest du mich einfach nur um jeden Preis loswerden?« »Nein. Ich dachte, der Erleuchtete hat dich hergeschickt, um mich einzufangen.« »Deine Vorstellungen von diesem Wesen scheinen etwas seltsam zu sein«, bemerkte der Arkonide. »Aber wir werden auf dem Weg nach Cairon noch ausreichend Gelegenheit haben, uns über dieses Thema zu unterhalten. Hast du die Unterlagen schon ins Schiff gebracht?« Chipol schüttelte den Kopf und wagte es nicht, Atlan dabei anzusehen. »Macht nichts«, murmelte der Arkonide. »Aber ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir diesmal keine so schwere Kiste präsentierst. Ich nehme an, das Zeug liegt nicht im Schiff, sondern in einer der Kuppeln, nicht wahr?« Chipol nickte mit gesenktem Kopf. »Was ist los mit dir?« fragte Atlan spöttisch. »Hat es dir die Sprache verschlagen?« Chipol schwieg immer noch. Er hat Angst, kommentierte der Extrasinn. ›Hast du das auch schon gemerkt?‹ dachte Atlan zurück. ›Sein Vater muß ein recht unangenehmer Zeitgenosse gewesen sein. Aber was mache ich nun mit ihm? Es hat doch keinen Sinn, ihn zu bestrafen – nach all dem, was er sowieso schon durchgemacht hat!‹ Der Junge wartete. »Komm mal her«, sagte Atlan leise. Chipol trabte mit schicksalsergebener Miene herbei. Atlan legte die Hände auf die Schultern des Jungen und spürte, wie Chipol zusammenzuckte. Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Jeder kann mal einen Fehler machen«, sagte er ruhig. »Wichtig ist nur, daß man es noch rechtzeitig erkennt. Und natürlich sollte man jeden Fehler nur einmal machen. Du hast in den letzten Tagen
einige furchtbare Dinge erlebt. Ich hätte wissen müssen, daß ein Junge in deinem Alter das nicht einfach wegsteckt, und das war der Fehler, den ich gemacht habe. Wir sollten versuchen, diese ganze Angelegenheit so schnell wie möglich zu vergessen. Bist du einverstanden?« »Darf ich trotzdem mitfliegen?« fragte Chipol zögernd. »Wenn der Erleuchtete meine Familie hat, dann muß ich versuchen, sie zu befreien.« »Aber natürlich kommst du mit. Dachtest du etwa, ich würde dich auf diesem überdimensionalen Sandhaufen zurücklassen?« »Ich hasse dieses Ungeheuer!« stieß Chipol hervor. »Und ich werde es jagen, bis es meine Familie wieder hergibt – und vielleicht auch noch darüber hinaus.« »Dann sind wir von jetzt an Kampfgefährten. Das bedeutet, daß wir uns nicht gegenseitig in die Pfanne hauen dürfen.« »Freunde!« sagte Chipol. Es klang feierlich. »Freunde«, bestätigte der Arkonide. *** Die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Chipol ließ sich in der kleinen Medostation von den letzten Folgen seiner Abenteuer befreien, und Atlan saß allein in der Kommandozentrale. »Danke«, sagte er zu dem Schiff. »Wofür?« fragte die STERNSCHNUPPE. »Dafür, daß du nicht ohne mich gestartet bist.« »Es war ein rein logisches Problem«, erklärte das Schiff. »Das Raumschiff der Daila war nur begrenzt flugfähig und wies auch einige andere Mängel auf.« »Du wärest also gestartet, wenn das nicht gewesen wäre?« »Der Befehl des Jungen alleine hätte nicht gereicht«, wich das Schiff aus. »Es könnte also durchaus eine Situation eintreten, in der du eigene Wege bevorzugst?« »Nur wenn sie mit deinen Zielen und Absichten in Einklang stehen.« Atlan war sich noch nicht ganz darüber im klaren, ob ihn das beunruhigen oder beruhigen sollte. Er war überrascht, als das Schiff sich noch einmal zu Wort meldete: »Ich werde nur im äußersten Notfall und allein in deinem Interesse eigenmächtig handeln. So ist es in meiner Programmierung vorgesehen.« »Wer ist für diese Programmierung verantwortlich?« Das Schiff schwieg. Atlan hatte auch nichts anderes erwartet. Chipol kam herein. Er glänzte förmlich vor Sauberkeit. Er trug einen leichten Bordanzug mit kurzen Ärmeln und balancierte ein Tablett. »Sieh mal!« sagte er, nachdem er das Tablett abgestellt hatte. »Sogar die Narben sind weg. Ich habe dir etwas zu essen gemacht.« »Ich schätze, das reicht für uns beide«, stellte der Arkonide fest. »STERNSCHNUPPE – wir starten!« Das Schiff gehorchte wortlos. Auf dem Hauptbildschirm schrumpften die Oase und das Lager der Daila zu einem bedeutungslosen Punkt zusammen und verloren sich dann gänzlich in der endlosen Wüste von Joquor-Sa. »Sicht nach vorne!« befahl Atlan leise.
Joquor-Sa verschwand. Ah die Stelle des Wüstenplaneten traten die Sterne dieser fremden Galaxis. »Habt ihr einen Namen für diese Sterneninsel?« fragte Atlan. Chipol schien aus tiefen Gedanken aufzuschrecken. »Wir nennen sie Manam-Turu«, sagte er leise. »Das bedeutet ›Rauchstreifen vom verlöschenden Feuer‹.« »Woher kommt dieser Name?« »Aus einer alten Mythologie meines Volkes. Meine Vorfahren glaubten, daß es einst anstelle der vielen Sterne nur ein einziges, großes Feuer am Himmel gab. Wenn es Nacht wurde, versammelten sich alle Götter, Geister und Dämonen um dieses große Feuer, um sich daran zu wärmen und ihre Erfahrungen auszutauschen. Aber es dauerte nicht lange, da bekamen sie Streit miteinander, und sie legten viele eigene, kleine Feuer an, bis schließlich niemand mehr da war, der sich um das große Feuer kümmern konnte. Es erlosch, und sein Rauch blieb als Mahnmal am Himmel erhalten.« Chipol schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Inzwischen wissen wir natürlich, daß der angebliche Rauchstreifen aus unzähligen Sonnen besteht. Aber der Name Manam-Turu ist geblieben.« »Und jetzt wird Manam-Turu vom Erleuchteten bedroht«, murmelte Atlan. »Wenn es uns nicht gelingt, ihn aufzuhalten, werden viele Feuer erlöschen.« Chipol stand schuldbewußt auf. »Die Lerngeräte warten auf uns«, stellte er fest. »Wir haben nicht viel Zeit.« »Geh schon immer vor, ich komme gleich nach.« Chipol hatte sein Mißtrauen begraben. Er ging, ohne dem Arkoniden auch nur einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Du magst ihn! stellte das Extrahirn fest. Er erinnert dich an eine Zeit, die sehr weit zurückliegt. ›Du hast recht. Ich denke an Arkon, an den Kristallpalast, an den Mord, der dort geschehen ist. Auch ich habe damals meine Familie verloren.‹ Und einen Freund gewonnen – Fartuloon, den Bauchaufschneider. ›Er war mein Pflegevater und mein Lehrmeister, mein Kampfgefährte und mein Freund. Und wenn man es genau nimmt, weiß ich bis heute nicht, wer und was Fartuloon wirklich war – oder ist.‹ Er kann nicht mehr existieren. Es ist zu lange her, und er hatte keinen Zellaktivator. »Ich glaube nicht, daß er einen brauchte«, sagte Atlan leise. »Abgesehen davon – wir hatten über den Jungen gesprochen.« In den du dich bis zu einem bestimmten Grade hineinversetzt. »Ist das so schlimm?« Er ist nicht so, wie du damals warst. »Und ich bin nicht Fartuloon. Das wolltest du doch sagen!« Ja. »Ich werde mich trotzdem um ihn kümmern. Ich werde Chipol mitnehmen, und ich werde ihm einiges von dem beibringen, was ich vor langer Zeit von Fartuloon gelernt habe.« Er wird kein Musterschüler sein, warnte der Extrasinn. »Das war ich auch nicht immer«, stellte Atlan nüchtern fest. Es schien, als wären die Argumente des Logiksektors erschöpft. Das Extrahirn schwieg, und Atlan
war beinahe froh darüber. »STERNSCHNUPPE«, sagte er laut. »Wieviel Zeit bleibt uns noch?« »Soviel ihr braucht!« Der Arkonide stand auf und streckte sich. »Paß auf, Erleuchteter!« sagte er grimmig. »Wir kommen dir näher, und wir werden dich stellen.« Aber falls der Erleuchtete ihn hören konnte, verzichtete er auf eine Antwort. Atlan verließ die Kommandozentrale. In der Automatikküche trank er ein stark zuckerhaltiges Getränk. Er hatte dafür gesorgt, daß auch Chipol entsprechend versorgt wurde. Binnen weniger Stunden würden sie alles lernen, was sie über den Planeten Cairon und dessen Bewohner wissen mußten: die Sprache der Bathrer, ihre Sitten und Gebräuche und – soweit die Daila die entsprechenden Kenntnisse hatten erwerben können – alles über ihre seltsame Religion und ihre psi-begabte Priesterschaft. Atlan betrat den Raum mit den Lerngeräten. Chipol hatte sich bereits ausgestreckt. Ein flimmerndes Energiefeld bedeckte seinen Kopf. Er reagierte nicht auf die Ankunft des Arkoniden. Atlan betrachtete die Geräte. Erinnerungen wollten sich ihm aufdrängen – an Arkon und an die Zeit, in der er die Mörder seines Vaters gejagt hatte, an die Tiefseekuppel auf dem Planeten Terra, an seine erste Begegnung mit einem Terraner namens Perry Rhodan, an die USO und ihre Spezialisten, an die SOL. Und an Alkordoom. Er schob das alles von sich und streckte sich auf der Liege aus. Es wurde still in der STERNSCHNUPPE. Das Schiff verfolgte unbeirrbar seinen Kurs. Wenn Atlan und Chipol Cairon erreichten, würden sie fähig sein, unter den Bewohnern dieses Planeten zu agieren, ohne als Fremde erkannt zu werden. Und sie würden den Erleuchteten suchen… ENDE
Für Manam-Turu, die neue Galaxis, hat Atlan mit der STERNSCHNUPPE ein neues Raumschiff zu seiner persönlichen Verwendung. Das Raumschiff ist eigenwillig, ebenso eigenwillig Atlans Gefährte Chipol, der junge Daila, der seine verschwundene Familie sucht. Der Psi-Spürer des Schiffes bringt Atlan dazu, den Planeten Cairon anzufliegen. Der Arkonide erwartet sich Informationen über den Erleuchteten – und er betritt die Stadt über dem Fluß… DIE STADT ÜBER DEM FLUSS – unter diesem Titel erscheint auch Atlan-Band 701. Der Roman wurde von Arndt Ellmer geschrieben.