Nr. 445
Der Dschungel von Dorkh Wanderer in einer Welt des Schreckens von Hans Kneifel
Atlans kosmische Odyssee, die ...
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Nr. 445
Der Dschungel von Dorkh Wanderer in einer Welt des Schreckens von Hans Kneifel
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern, Besatzern und Invasoren zu tun haben, trachtet der Arkonide danach, die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis auszuspähen und die Kreise der Mächtigen zu stören. Gegenwärtig geht es Atlan und seinen Gefährten Razamon und Kennon/Axton allerdings nicht darum, den Machthabern der Schwarzen Galaxis zu schaden, sondern es geht ihnen ganz einfach ums nackte Überleben – und das seit der Stunde, da sie auf Geheiß des Duuhl Larx im »Land ohne Sonne« ohne Ausrüstung und Hilfsmittel ausgesetzt wurden. Die Welt, auf der die drei Männer aus ihrer Betäubung erwachen, ist Dorkh, eine Welt der Schrecken und der tödlichen Überraschungen. Kaum sind Atlan und seine Gefährten den Nachstellungen der riesigen Raubvögel und der seltsamen Gnomen entgangen, da müssen sie auch schon vor den katzenartigen Mavinen die Flucht ergreifen. Nun wartet auf sie DER DSCHUNGEL VON DORKH …
Der Dschungel von Dorkh
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan, Razamon und Axton/Grizzard - Drei Pthorer im Dschungel von Dorkh. Elcoy und Alzei - Zwei Mavinen. Berringer - Ein Zentaur. Kryptan - Ein kleiner Zyklop.
Wunden, sie wirkte erschöpft. Ihre Katzenaugen lagen in tiefen, schwarzen Höhlen. 1. »Zumindest ist es bis zu dem Land, in dem Schwere Tropfen fielen aus den Ästen des die anderen Königinnen herrschen sollen, Baumes. Die nassen Kanten der Quadern sehr weit.« leuchteten im flackernden Licht des herunBereits nach den ersten Sätzen, die Elcoys terbrennenden Feuers. In der Ferne, über den und Atlans Gruppe miteinander gewechselt Wipfeln der Dschungelbäume und den Kieshatten, waren Fragen über Fragen aufgeflächen der wasserleeren Flüsse wetterleuchtaucht, zusätzlich zu allen anderen Unsichertete es. Über dem Feuer drehte sich ein kleiheiten und Gedanken. Atlan und Razamon ner Braten; von Zeit zu Zeit warf Grizzard/Ax- fragten sich voller Verblüffung, ob Dorkh ton Blicke in die Runde. Das lastende und Pthor mehr miteinander zu tun hatten, Schweigen wurde nur vom Knistern des oder ob die übereinstimmende Bezeichnung brennenden Holzes, den dumpfen Gefür die mörderischen Waldgebiete nur Zufall räuschen der Wassertropfen und dem Ziwar. Der lange Marsch zu den Bergen im schen von Fleischsaft und Fett in der weißen Westen, angeblich in ein Reich der Stille Glut unterbrochen. Voller Betroffenheit sagund des Friedens, würde abermals gespickt te Atlan: sein mit Abenteuern und Erlebnissen aller »Der Blutdschungel! Du mußt wissen, Art – nicht einmal die abgesetzte MavinenExkönigin Elcoy, daß es dort, woher wir Königin kannte das Gebiet. Niemand besaß kommen, auch einen Dschungel voller tödliüber das Ziel auch nur annähernd exakte Incher Gefahren und seltsamer Wesen gibt. Er formationen. trägt genau denselben Namen: BlutdschunUnd ihr, die Ausgesetzten, wißt am allergel.« wenigsten! sagte Atlans Logiksektor düster. »Gibt es auch einen Sirva-Gipfel und eine »Jedenfalls haben wir eine andere VerteiStadt Tarthor?« fragte Alzei, die Leibwache lung der Nachtwachen!« stellte Grizzard fest der ausgestoßenen Mavinen-Königin. und hob den Braten vom Feuer. »Ich habe niemals diese Namen gehört. »Was längeren Schlaf bedeuten mag«, Nein«, entgegnete Razamon. sagte Razamon zufrieden. »Nicht wahr, AlEr lehnte an der rauhen Fläche eines Quazei?« ders. Vor einigen Stunden hatten sie tatsäch»Einverstanden!« lich die Königin und Alzei getroffen, nach Der Regen hatte aufgehört. Unablässig einer erschöpften Wanderung durch den trieben schwere, tiefhängende Wolken über Blutdschungel von Dorkh. Atlan deutete auf den Himmel, vorwärtsgeschoben von einem Grizzards Feuer und brummte: auffrischenden Westwind. Hin und wieder »Ist unser Abendessen bald fertig, wenigblinkten Sterne durch die Lücken. Das Wetstens die Fleischrationen?« terleuchten riß immer wieder die gigantische »Ihr müßt noch warten«, schränkte GrizKulisse des Waldes aus der Finsternis. Je zard ein. »Hoffentlich ist der weitere Weg länger die fünf so unterschiedlichen Wesen weniger beschwerlich, Königin?« um das heiße Feuer saßen, desto mehr spür»Sicher nicht!« antwortete die Leibwache. ten sie Erschöpfung und Müdigkeit. Auch Alzeis weißes Fell war voller kleiner Elcoy, die auch nur mit einem Beil und
4 einem Knochendolch bewaffnet war, sagte schließlich: »Ich danke euch, daß ihr hier seid. Die Sirva-Gipfel sind weit entfernt, und dort liegt mein Ziel. Wir werden alle Abenteuer gemeinsam bestehen. Sollten wir lebend im Reich der ausgestoßenen Amazonen-Königinnen ankommen, werden euch alle Ehren zuteil. Und natürlich werden meine Artgenossinnen viel mehr Informationen für euch haben als ich und Alzei.« »Das hoffen wir«, murmelte Razamon und sah zu, wie Grizzard/Axton den Braten sachkundig zerlegte. »Und was soll jene Stadt Tarthor sein? Du hast gesagt, sie sei halblebendig?« »Wir haben gehört, daß sich die Stadt ununterbrochen verändert. Niemand von uns Mavinen kennt die Stadt selbst, denn das würde bedeuten, daß wir ein größeres Gebiet kontrollieren würden. Auch von den SnorvGeistern haben wir nur gehört.« »Von wem?« fragte AxtonGrizzard. »Von Geschöpfen«, antwortete die Leibwache und klaubte Ästchen und Blattreste aus ihrem Fell, »die wir auf den Jagden getroffen haben. Einfache, aber sprachbegabte Wesen. Ob es die Wahrheit ist … wer weiß?« Über ihnen knackten Äste. Ein großes Tier oder ein Vogel mit nassem Gefieder bewegte sich in dem auffallenden Baum. Der Dschungel rundum war voller nächtlicher Stimmen. Tiere schrien, als kämpften sie miteinander oder würden angegriffen. Die drei Pthorer und die zwei Mavinen griffen gierig, voller nagendem Hunger, zu den Fleischstücken, die abermals wieder nur mit Kräutern gewürzt waren. »Falls wir auf unserem Weg daran vorbeikommen«, meinte Atlan und schlug seine Zähne in die braune Kruste, »werden wir wohl die Tatsachen erleben.« Die Quadern des uralten Bauwerks waren wie ein schwarzer Wall gegen die Finsternis. In den Schlingpflanzen und den kleinen Bäumen, die in den Fugen wuchsen, glitzerten Regentropfen wie seltene Steine. Beim
Hans Kneifel ersten Licht des neuen Tages, wußten die fünf Mitglieder der Gruppe, würde sich diese winzige Oase wieder verändern. Grizzard wischte die Klinge seines Messers an der Hose ab und säbelte sein Fleisch auseinander. »Ich habe auch einen Berg gesehen, jenseits der ersten Gebirgskette, der aussah, als sei er ein tätiger Vulkan«, sagte er undeutlich. »Das kann jener Berg sein, den sie Mirxangipfel nannten.« Auch die Leibwache der Königin aß mit Heißhunger, dann stand sie auf und entfernte sich langsam in die Dunkelheit hinaus. Über die Schulter rief das schlanke Raubtiergeschöpf zurück: »Ich sehe mich um. Ich werde die erste Wache übernehmen.« Sie hatte fast völlig die schnelle Eleganz ihrer Bewegungen verloren. Auf ihrer Schulter verkrustete ein breiter Blutstreifen. Elcoy hockte zusammengesunken auf dem moosbedeckten Steinblock, der irgendwann in ferner Vergangenheit Teil des Tempels gewesen war. Atlan gähnte und deutete auf die Ruine: »Hier werden wir hoffentlich ruhige Nachtlager finden!« Ein dumpfes Donnern, das den gesamten Horizont zu umlaufen und aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien, unterstrich seine Bemerkung. »Die sicherlich naß sind!« kommentierte Razamon. »Und du, Königin? Du bestehst ebenfalls darauf, morgen früh aufzubrechen?« »Ja. Je eher wir das Reich der ausgestoßenen Königinnen erreichen, desto besser für uns alle.« »Du bist nicht zu sehr erschöpft?« fragte Atlan und hob sein Beil auf. »Nicht mehr als ihr. Wir können noch immer rasten, wenn wir nicht mehr weiterkönnen.« »Ob wir dann noch rasten ›können‹, ist fraglich«, sagte der Arkonide und warf einen Knochen in das hochstiebende Feuer, »aber
Der Dschungel von Dorkh ich bin ebenfalls dafür, den Weg durch den Dschungel, den dorkhschen Blutdschungel, so schnell wie möglich hinter uns zu bringen.« Auch er packte seine Waffe und zog sich vorsichtig vom Feuer zurück. Zum zweitenmal umrundete er vorsichtig die Kuppe des Hügels. Schlangen mit riesigen, feurig leuchtenden Augen bewegten sich raschelnd zwischen den Wurzeln in ihre Verstecke zurück. Büsche wuchsen zwischen den geborstenen Säulen, lange Vorhänge aus Lianen und Ranken hingen über Bögen und Traversen der Ruine. Noch immer zuckten Flächenblitze am Horizont und zeigten die Kulisse der Nachtwolken. Hin und wieder prasselte ein Tropfenschauer auf Atlans Schultern; der Poncho aus dem seltsamen, herangeflogenen Material ließ nur wenig Nässe durch. »Es wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als in der Nähe des Feuers zu schlafen«, murmelte er und schloß seinen Rundgang ab, als er auf Alzei stieß, die versuchte, etwas Riesiges, Graues genau zu erkennen, das sich am Dschungelrand bewegte. »Fast alle Bestien scheuen das Feuer!« sagte Atlan und zog die Leibwache mit sich. Er merkte, daß sie sich nur noch mit Mühe auf den langen, sehnigen Beinen halten konnte. »Aber ich weiß, daß es auch Tiere gibt, die das Feuer neugierig und angriffslustig macht«, gab sie zurück. Atlan lachte trocken und brummte: »Hoffen wir, daß es heute nacht nur solche der ersten Sorte gibt.« »Ich habe die erste Wache«, beharrte die Jägerin. Atlan schwor sich, sie nach Möglichkeit während dieser Zeit nicht aus den Augen zu lassen. Als sie wieder den Lichtkreis des Feuers betraten, schleppten Razamon und Grizzard Holzstücke heran. Die Königin suchte zwischen den dicken, annähernd trockenen Wurzeln des Baumes nach Moos und polsterte geschickt einige Lager damit aus. Alzei blieb am äußersten Rand des Lich-
5 tes sitzen und lehnte sich in eine Nische der Ruinenwand, während sich die anderen ein Lager suchten und zusammenrollten. Die Dolche und Beile lagen griffbereit neben ihren Armen. »Eine ruhige Nacht!« wünschte Razamon grimmig. Er bekam nur Murmeln und brummige Kommentare zur Antwort.
2. Diese Bewegung … Achtung, Arkonide! flüsterte warnend der Extrasinn und weckte Atlan aus einem flachen Schlaf. Atlan blieb ruhig liegen und öffnete die Augen, nachdem er gesehen hatte, daß das Feuer heruntergebrannt war, aber noch genug Helligkeit verbreitete. Die junge Jägerin war eingeschlafen; ihr Kopf ruhte auf der Schulter, die Waffen waren von ihren muskulösen Knien gerutscht. Rechts neben ihr erkannte Atlan eine undeutliche Masse, eine Art schlangenartiges Wesen, das sich auf die Mavine zubewegte. Atlan tastete nach Dolch und Beil und wisperte zischend: »Razamon! Grizzard/Axton!« Rechts und links von ihm bewies ein leises Scharren, daß die Männer wach wurden. Dann klirrten fast unhörbar die Schneiden der Beile und der Knochendolche gegeneinander. Razamons tiefe Stimme, vor Müdigkeit rauh und fast unkenntlich, gab das Flüstern zurück. »Atlan? Was gibt's?« Atlan bewegte seinen Oberkörper und griff nach den hölzernen Schäften. Er ließ die auffallend helle Gestalt der Jägerin nicht aus den Augen. Wie groß das Wesen, vermutlich doch eine Schlange, wirklich war, ließ sich nicht erkennen, denn das meiste von seinem nassen Körper verbarg sich in der absoluten Dunkelheit zwischen den Steinen und den Pflanzen. Der Kopf, von der weißroten Glut beleuchtet, warf einen drohenden Schatten auf den Körper der Jägerin. Die Königin schien in einen Schlaf gefallen zu sein, der mehr einer Bewußtlosigkeit
6 glich. Atlan spannte seine Muskeln und kam auf die Knie. Er gab Razamon und Grizzard flüsternd zur Antwort: »Alzei. Seht hinüber!« Andere Geräusche sagten ihm, daß seine Kameraden richtig reagierten. Inzwischen hatte sich der Körper der Schlange noch weiter aus der Dunkelheit herausgeschoben und beugte sich vor, dann hoben sich Hals und Schädel und glitten rückwärts. Die Bewegung entsprach der Anspannung einer Schlange, bevor sie zustieß. »Begriffen!« kam es von beiden Seiten. Im selben Moment sprangen die Männer auf. Atlan und Razamon waren mit drei Sprüngen vor der Jägerin. Grizzard griff sich vom Rand des Feuers einen halb glühenden Knüppel und schwang ihn in wilden Kreisen über dem Kopf. Innerhalb unglaublich kurzer Zeit loderten aus dem Holzstück neue Flammen. Der Angriff des Ungeheuers wurde aufgehalten. Zwar senkte es wie ein herunterzuckender Hammer den Kopf und riß den Rachen auf. Aber die heiseren Schreie der Männer, die Flammen und die hochgerissenen Beile lenkten die Stoßrichtung ab. Das Biest griff Atlan an. Atlans Beil sauste schwirrend herunter und bohrte sich in den Schädel. Atlan traf genau zwischen die großen, phosphorartig leuchtenden Augen. Der zweite Schlag spaltete die nasse, schuppige Haut dicht hinter dem Kopf. Das Knirschen bewies, daß Knochen getroffen wurden. Das Tier stieß einen langen, fauchenden Laut aus, eine Mischung zwischen Gurgeln und Kreischen. Es schüttelte sich krampfhaft, als Atlan und Razamon die breiten Schneiden der Beile herauszuzerren versuchten und Grizzard das brennende Ende des Knüppels in ein Auge der Bestie rammte. Die Jägerin wurde schlagartig wach, sprang auf und orientierte sich blitzschnell. Als sie sich bückte, traf sie der zuckende Leib der Schlange. Trotzdem gelang es ihr, nach dem Beil zu greifen. Die Schlange bäumte sich auf, gab wieder
Hans Kneifel diesen unbeschreiblichen Laut von sich und peitschte ihren Körper hin und her. Zwei Gliedmaßen tauchten auf und griffen nach Razamon und Atlan, deren Beilhiebe unablässig das Vorderteil der Schlange trafen. Das Maul schnappte nach Grizzards Ast, die weißen Zähne zerfetzten das funkensprühende und glühende Holzstück. Elcoy schien noch immer zu schlafen, als der Rest des Körpers, zwei weitere Gliedmaßen und ein langer Schwanz aus der Dunkelheit herausgerissen wurden, der rasend um sich peitschte. »Verdammt!« keuchte Atlan und sprang zur Seite, um einem Hieb der langen Reptilienkrallen auszuweichen. »Das Tier wird sich zäh wehren!« Nun sahen sie die eigentliche Gestalt. Sie ähnelte einem schwarzen Salamander, der sich unaufhörlich zuckend bewegte. Die Schwanzspitze traf aufklatschend das Feuer und schleuderte prasselnde Glut in alle Richtungen. Der nächste Schrei des Tieres ließ Wut, Raserei und Schmerz erkennen. Die Jägerin sprang in die Höhe, schlang ihre Hinterbeine um das erste Gelenk des Körpers und bohrte ihren Dolch immer wieder in eine tiefe, blutende Wunde direkt über dem Rückgrat. »Das andere Auge, Grizzard!« donnerte Razamon, bog seinen Körper nach hinten durch und entging einem Schlag der Krallen. Im letzten Licht des Glutkreises und den ersten kleinen Flammen neuentfachter Brände konnten sie erkennen, daß die Krallen lang und vom ständigen Gebrauch förmlich zu feinen Spitzen geschliffen waren. Das heruntersausende Beil Razamons spaltete fast die Klaue des Tieres. Noch immer schlängelte sich das Tier zwischen dem Feuer und der Ruine hin und her. Es griff fauchend Razamon, Grizzard, Atlan und die Jägerin an. Die Verteidiger des Rastplatzes wechselten einander bei den Angriffen und den Versuchen ab, den jeweils Bedrohten zu helfen. Razamon schlug zu und versuchte, einen
Der Dschungel von Dorkh Muskel oder das Hirn des Wesens zu treffen, und wenn die Schlange ihren blutenden Kopf in seine Richtung vorschnellen ließ, schwang Grizzard einen brennenden Ast und lenkte das Untier ab, das sofort wieder von Atlan oder der Jägerin angegriffen wurde. Zweimal war die schweigend kämpfende Mavine abgeworfen worden, aber noch in der Luft hatte sich ihr Körper gedreht. Ihre Finger ließen den Schaft des Beiles nicht los, auch die zersplitterte Schneide des Dolches lag fest in ihrer Hand. Wieder gelang es ihr, auf den Rücken der Bestie zu springen. Die tiefe Wunde wurde größer, aber die Schlange schien den Schmerz nicht zu spüren. Alzeis Versuch war klar: sie wollte die Nerven des Hauptknochenstranges treffen und durchtrennen. Das brüllende und fauchende Untier war auf einem Auge blind. Schleimiges Blut troff aus der leeren Höhle. Der stinkende Atem aus der Kehle des Wesens brannte und verpuffte wie Gas, wenn er Glut oder Flammen berührte. Unablässig hämmerte der Schwanz gegen die Quadern, riß lange Furchen in den weichen Boden unter dem Baum oder riß an den Ausläufern der Wurzeln. Elcoy wurde wach, als einige Dutzend von nußartigen Früchten aus dem Baum herunterhagelten und ihren Körper trafen. Die Königin erschrak vor dem Bild des Kampfes, der sich direkt vor ihr abspielte. Razamon wurde zu Boden geschleudert und rollte zur Seite. Einen Sekundenbruchteil später bohrten sich dort, wo sich eben noch sein Brustkorb befunden hatte, drei nadelscharfe Klauen in den Boden. Mit einem Satz sprang Razamon auf, hob seine Hand und schleuderte den Dolch. Die Waffe schwirrte über den Zwischenraum, der nicht mehr als zwei Meter betrug und bohrte sich wie ein Geschoß in das zweite Auge der Schlange. Das Tier stieß einen Schrei aus, der ringsum den Dschungel aufweckte. Das Echo drang, nicht viel leiser, von allen Seiten auf den Hügel zurück. Dann schwirrten Hunderte und Tausende von Vogelschwingen in den Zweigen der nassen
7 Bäume. Tiere aller Art sprangen hoch und begannen ihrerseits zu schreien, zu kichern, zu pfeifen und zu brüllen. »Aus dem Weg, Alzei!« schrie Atlan. Das Tier machte einen halben Satz, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und rannte los. Nach vier, fünf riesigen Schritten krachten Schädel und Schultern gegen die Mauer. Durch die aufgetürmten Quadern ging ein unheilvolles Ächzen. Der Schwanz beschrieb einige peitschenartige Windungen durch die Luft und köpfte um ein Haar Grizzard, der sich im letzten Moment fallen ließ und nur seinen brennenden Holzrest in die Höhe hielt. Der Stock wirbelte wie ein Propeller durch die Luft, zerbrach am Baumstamm und schleuderte seine aufglühenden Bruchstücke wie Meteoriten nach allen Seiten. Sie verlöschten zischend irgendwo inmitten nassen Laubes. Dann rannte das Tier im Zickzack auf den Baum zu, stolperte und raffte sich wieder auf, änderte den Kurs und polterte die uralte Treppe abwärts. Nach wenigen Sekunden hatte es die Dunkelheit verschluckt, aber die Geräusche waren gewaltig laut. Krachende Bäume, splitterndes Holz, die wütenden Schreie des Tieres und der infernalische Lärm aus dem unsichtbaren Wald rundherum verwandelten die einstmals ruhige Zone unter dem Baum in ein Tollhaus. Das Tier überschlug sich, entwurzelte Bäume und riß Büsche auf seinem Weg aus dem Boden. Die Schmerzensschreie wurden leiser und leiser; schließlich übertönte sie das Knurren und Brüllen anderer Bestien, die vom Geruch des heißen Blutes angelockt wurden. Noch lange würden die fünf Versprengten die Laute eines erbitterten Kampfes aus dem Dschungelrand hören können. Atlan ließ das Beil sinken, rieb die schmerzende Schulter und sagte: »Ich bin im rechten Moment zufällig wach geworden, Alzei. Ich sah gerade, wie dich das Untier angreifen wollte. Den Rachen hatte es schon weit aufgerissen gehabt.« Die Jägerin schüttelte sich und sagte,
8 noch immer im Bann des Schreckens und in der Erregung des Kampfes gefangen: »Ich habe ein solches Tier noch niemals gesehen.« »Auch keine andere Jägerin aus meinem Reich hat mir jemals davon berichtet«, fügte die Königin hinzu. Sie zitterte am ganzen Körper und schloß leiser: »Aber es war ja auch niemals jemand von uns hier unter dem Kugelbaum.« »Wenn ihr endlich damit aufhören würdet«, schaltete sich Razamon verdrießlich ein und säuberte die Schneide seines Beiles, »das Ereignis zu bereden, könnten wir den unterbrochenen Schlaf fortsetzen.« Die Königin stöhnte auf und murmelte schuldbewußt: »Und ich bin nicht aufgewacht. Das Ungeheuer … weckte mich.« »Schon gut«, knurrte Razamon mürrisch, »es ist alles vorbei. Das Tier, das in der Ruine hauste, wird uns nicht mehr stören. Schlafen wir weiter. Die Nacht ist noch jung.« Atlan schob mit den Stiefelspitzen die Reste der Glut zusammen, suchte Holzstücke zusammen und sah gedankenvoll, wie die ersten Flammen wieder hochloderten. Dann drehte er den Kopf und sah nacheinander jeden der kleinen Gruppe durchdringend an. Er sagte halblaut: »Razamon hat völlig recht. Wir sind angegriffen worden und haben gesiegt. Das Tier ist erledigt und wird nicht wieder zurückkommen. Ich übernehme die nächste Wache und wecke, wenn sie vorbei ist, Razamon oder Grizzard. Schlaft weiter. Wie auch immer: morgen gibt es wieder einen harten Tag, und wenn wir den Abend so gut erleben wie heute, dann können wir froh sein.« »Einverstanden«, sagte Razamon, packte Beil und Dolch und überquerte die halbdunkle Zone zwischen den Wurzeln und dem Feuer. Atlan hatte einen Kegel aufgeschichtet, der gleichmäßig und ohne Rauch brannte. »Guter Vorschlag!« sagte Alzei. »Ich
Hans Kneifel weiß nicht, ob ich schlafen kann. Ich ahne, daß ich morgen keine vollwertige Kämpferin und Jägerin sein werde.« »Schon gut«, meinte Razamon. »Vielleicht versuchen wir, dich zu ersetzen.« Er verschwand zwischen den knorrigen Wurzeln, schob die Moospolster zusammen und legte sich hin. Er schaffte es, binnen weniger Sekunden einzuschlafen. Auch Grizzard warf sich zwischen die knorrigen Ausläufer und die knolligen Wurzeln und versteckte seinen Kopf zwischen den Unterarmen. Atlan sagte zu Alzei: »Versuche tatsächlich zu schlafen. Der nächste Tag wird alles, aber auch alles von uns fordern.« »Ich versuche es wirklich!« beteuerte die erschöpfte Jägerin und rollte sich neben ihrer Königin zusammen. Atlan setzte sich, dem Feuer gegenüber, auf den Steinblock, auf dem vor dem Kampf die Jägerin gesessen war. Er atmete tief ein und aus. Seine Gedanken waren alles andere als ruhig, auch wenn es so schien. Er versuchte, wieder einmal, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft klar zu sehen und miteinander zu verbinden. Sein langer Weg, dargestellt in einzelnen kurzen Stationen, erschien vor Atlans innerem Auge. Die Gegenwart war ihm durchaus klar und geläufig; er erlebte sie im gegenwärtigen Zeitpunkt. Die Zukunft war völlig unklar. Darüber hinaus war sie weder kalkulierbar noch sonderlich vielversprechend. Die nächste Station wird die rätselhafte Stadt sein! erklärte wispernd der Extrasinn. »Mit einiger Sicherheit«, murmelte Atlan im Selbstgespräch. Er sah mit einiger Befriedigung, daß sich trotz der ausgestandenen Schrecken seine vier Kampfgenossen tatsächlich schliefen. Er fand keinen Schlaf und würde die nächsten Stunden sicherlich hier sitzend und wach verbringen. Der Lärm aus dem Wald unterhalb des Hügels hörte langsam auf. Die verzweifelten
Der Dschungel von Dorkh Schreie der Schlangenbestie, die sich wohl irgendwo im Hohlweg befinden mußte, wurden übertönt von dem scharfen Knurren der Raubtiere, von denen die Schlange zerrissen wurde. Sie wurden leiser und hörten auf; wieder senkte sich die Stille des Dschungels. Die Flammen des Feuers flackerten noch einmal auf und erloschen völlig. Nur ein weißglühender Kreis bezeichnete den wärmenden Schutz des Gluthaufens. Etwa drei Stunden vor Anbruch der Morgendämmerung löste Razamon den Arkoniden ab. Das Heulen und Schreien von Tausenden Tieren weckte die Gruppe, die mit knurrenden Mägen und trockenen Lippen aufstand.
3. Alzei, die Jägerin, führte jetzt die Gruppe an. Von der Kuppe des Hügels bis hierher, an den Rand des Dschungels, führte eine schnurgerade Spur durch die taunassen Gräser und Ranken. Einige Schwaden des Morgennebels wurden von der Sonne aufgelöst, die zwischen einzelnen Dschungelteilen flach hindurchstrahlte. Die Ruine und der auffallende Baum bildeten scharfe, riesige Silhouetten vor dem hellen Himmel. Grizzard beobachtete aufmerksam die Bäume vor sich. Er suchte die Früchte, die er als eßbar und nahrhaft mehrmals getestet hatte. Er ging hinter der weißen, katzenähnlichen Mavine, die inzwischen wieder wie ein Raubtier zwischen den Gewächsen entlangglitt und die kümmerliche Waffe schlagbereit hielt. »Wie weit soll die phantastische Stadt entfernt sein?« rief Atlan von hinten. Elcoy schob mit dem Beil die messerscharfen Halme zur Seite und erwiderte: »Alles, was wir wissen, deutet auf einen langen Weg hin. Mehrere Tage. Ich glaube, es sind rund drei Tage, wenn wir nicht zu langsam sind.« »Drei Tage«, brummte Razamon verdrossen, der den Schluß der kleinen Prozession bildete und nach hinten sicherte. »Ich habe
9 mich bereits auf Essen, Dusche und ungestörten Schlaf zu freuen begonnen.« »Du wirst, wie alle, warten müssen«, rief Alzei und kappte den Ast, der den Weg versperrte. Wieder drangen die Wanderer in reines Waldgebiet ein. Nach einigen hundert Schritten hörten sie vor sich ein trockenes, lautes Knistern, das von überall her zu kommen schien. »Achtung!« rief Atlan unterdrückt. »Siehst du etwas, Alzei?« Die Baumstämme waren schwarz und von dunkelgrünen Schmarotzerpflanzen fast bis zur Unkenntlichkeit umwunden. Schon nach wenigen Metern war es wieder dunkel unter den zusammengekrallten Baumkronen und den zahllosen abgestorbenen Ästen geworden. Nur Pilze, lange, sanft schaukelnde Fäden und Teile von verfaulenden Bäumen warfen ein geisterhaft schimmerndes Licht. Aber eine Unzahl unsichtbarer Tiere verursachte zweifellos dieses knochigharte Klicken und Knistern. Die Wanderer rückten enger zusammen, aber sie gingen mutig weiter und starrten schweigend und konzentriert hierhin und dorthin. Obwohl sie in den nächsten Minuten Hunderte von Metern zurücklegten, schien sich die Umgebung überhaupt nicht zu verändern: dieselben schaurigen Geräusche, die gleichen Stämme und Schlinggewächse. Unter ihren Sohlen federte der schwammige Boden, auf dem Blätter und Holzstücke verfaulten und sich zu dunkelbraunem Staub zersetzten. An einer Stelle, an der sich die Helligkeit durch einige Lücken stahl, erkannten die Wanderer undeutliche Bewegung. Sie blieben stehen, orientierten sich schnell und gingen dann weiter und näher an die erste Quelle des Knisterns heran. Fast völlig unsichtbar und in der Deckung zwischen zusammengeschobenen Blättern, faulendem Holz und unbekannten Pilzen oder Gewächsen tappten Tausende kleiner Tiere. Sie sahen wie weiße Spinnen aus, mit langen Beinen und kugeligen Gelenken. Scharfe Zangen saßen an einem elliptisch geformten, ekelhaft weißen Körper, und
10 traubenförmige Bündel von Augen befanden sich an drei langen Stielen, die sich wie Schlangen bewegten. Sie pendelten hin und her, nach vorn und zum hinteren Teil des klappernd und knisternd dahinhuschenden Körpers. Drei oder vier Individuen breit, die teilweise übereinander kletterten und sich stießen und rempelten, erstreckte sich der Zug ohne Anfang und Ende quer über den Weg der fünf Wanderer. »Am besten springen wir über die Tiere hinweg!« schlug Atlan vor. Die Spinnen beachteten die Wanderer noch nicht. Sie schienen ein klares Ziel zu haben, das irgendwo links von dem Weg der fünf lag. »Ja. Lassen wir uns nicht aufhalten«, sagte Elcoy. Alzei und Atlan nahmen einen kurzen Anlauf, sprangen und landeten in einer hochstaubenden Wolke aus feinem Holzstaub, der modrig und säuerlich stank. Die klappernden Spinnen tappten unbeeindruckt weiter. »Die Tiere«, rief Razamon und sprang, »rennen an einen Ort oder zu einem Platz, der für sie eine bestimmte Bedeutung hat.« »Vermutlich ein verwesender Kadaver«, gab Grizzard zu bedenken. »Gleichgültig, was es ist – wir haben es eilig«, meinte Atlan. Sie ließen den Zug der weißen, sonderbaren Tiere hinter sich. Aber während der nächsten Stunden begleitete die Wanderer immer wieder dieses charakteristische Geräusch, ohne daß man die Spinnenameisen sah. Pilze zerbrachen unter den Tritten der fünf Wesen und verteilten sich in Wolken von giftgrünem Staub. Das Halbdunkel des Waldes hielt bis weit nach Mittag an; nur noch oben in den Kronen gab es Bewegung und aufgeregte Geräusche. Hier unten zwischen den modernden Stämmen krochen nur unsichtbare Käfer und Schlangen. Die Pthorer und die Mavinen sagten sich, daß selbst die Pilzsporenwolken, die sich ätzend auf die Schleimhäute legten, weniger unangenehm waren als Überfälle giftiger oder wil-
Hans Kneifel der Dschungelbestien. Sie kamen endlich hinaus auf eine Lichtung und erkannten, daß sie sich in einer Zone befanden, die ein Sturm geschaffen hatte. In einer Breite von mehr als einem Kilometer und rund zwei Kilometer lang lagen Baumstämme in jeder Dicke und Länge flach auf dem Boden. Der Windbruch mußte erst vor kurzer Zeit erfolgt sein, denn zwischen den verwelkten Blättern der Kronen und den dorrenden Ästen wuchs noch kaum Grünzeug. Die Bäume waren von einem Sturm, der aus dem Süden kam, gefällt worden – die Wipfel lagen nach Norden. Über der Lichtung war der letzte Rest blauen Himmels verschwunden. Wieder bedeckte Hochnebel die Sonne. Es war heiß und feucht. Atlan sprang auf einen dicken Baumstamm und ließ seinen Blick umhergehen. »Nichts zu sehen«, sagte er. »Wir müssen über die Stämme turnen oder einen riesigen Umweg machen.« »Und nicht einmal habe ich einen Baum mit diesen großen, hohlen Nüssen gesehen«, rief Grizzard. »Ein schlimmes Gebiet.« Sie hatten auch kein einziges Tier gesehen, das ihnen als Braten dienen konnte. In das Geräusch der Spinnentiere, die offensichtlich überall waren und unbekannten Tätigkeiten nachgingen, mischte sich, je weiter die Wanderer dem westlichen Ende der Lichtung kamen, ein hohles Pfeifen, das ebenfalls aus sämtlichen Richtungen erscholl. Immer wieder blieben die Mavinen und die Pthorer stehen, mitten auf einem schräg liegenden Baumstamm, und starrten hinunter in die dunklen Hohlräume zwischen den Stämmen. »Eigentlich müßten wir in einer solchen Zone auf größere Tiere stoßen«, sagte Razamon mit deutlicher Verwirrung. »Aber hier herrschen die klickenden Spinnen und diejenigen Tiere, die so auffallend melancholisch pfeifen«, gab Atlan zurück. »Eine gespenstische Umwelt.« An einigen Stellen lagen die Bäume nicht so dicht, und an einer solchen freien Fläche
Der Dschungel von Dorkh sahen die Wanderer, was sie bisher vergeblich gesucht hatten. »Sie kämpfen!« stellte die Jägerin fest, deren Fell struppig und schweißnaß war. Sie winkte die anderen zu sich her und deutete nach unten. »Hier! Solche Tiere habe ich noch nie gesehen!« »Ich würde sie als Kopfärmler bezeichnen«, fauchte Razamon. »Tatsächlich! Nicht anders sahen sie aus.« Der Kampf zwischen den neu entdeckten Wesen und den bleichen Spinnen war nicht laut, aber er ließ alle Merkmale einer erbitterten Auseinandersetzung erkennen. Die Kopfärmler hatten zwei kräftige Gliedmaßen, die wie die Arme von Zwergen aussahen, mit kurzen, krallenbewehrten Fingern und Daumen. Die Arme wuchsen an zwei Seiten aus einem Körper, der wie ein menschlicher Schädel aussah. Die Augen saßen seitlich und waren größer, statt der Lippen wies dieser KopfKörper einen stumpfen, dreieckigen Schnabel auf, aber sowohl die Farbunterschiede als auch die Unterschiede in Oberflächenstruktur und Fellbewuchs vermittelten überraschend ähnlich den Eindruck eines bösartig dreinblickenden menschlichen Gesichts. Die Schnäbel kappten mitleidlos die dünnen Röhrenknochen der Spinnenbeine. Die Zangen der Spinnen bohrten sich schnappend in die Seiten der Köpfe und zerschnitten Augen und Kiefer der Kopfärmler. Mit schwankenden Sätzen, sich mit den »Händen« abstoßend und mit den »Fingern« nach den Gegnern greifend, bewegten sich die schwarzgelben Tiere fort. Ihre Finger rissen die Augenbüschel samt den Stielen und den Körpern der Spinnen. Überall war grünlichrotes Blut, und winzige, schwarze Käfer bewegten sich hurtig zwischen den kämpfenden Gruppen und zerrten die ausgerissenen Teile mit sich. Hunderte der winzigen Insekten schoben sich unter die Kadaver und transportierten sie auf den Rücken ab. »Nichts wie weg von hier!« entschied Atlan. »Denkt daran, daß wir es in Tarthor ver-
11 mutlich etwas leichter haben werden.« »Einverstanden.« Pthorer und Mavinen turnten über die Baumstämme und sprangen über die kämpfenden kleinen Tiere. Wieder durchstießen sie einen breiten Streifen Wald, dessen Vegetation diesmal aber ganz anders war: größere Abstände zwischen den Bäumen, mehr Licht und mehr Grün, und schließlich schrie Grizzard/Axton begeistert auf. »Dort! Wir müssen nur die Affenähnlichen vertreiben. Hier sind unsere Früchte!« Die großen Nüsse hatten zudem den Vorteil, daß sie nicht schwer zu transportieren waren und sich einige Zeit hielten, ehe sie verdarben. »Wir helfen ihm!« sagte Razamon. »Los, klettere hinauf, Hakennasiger.« Kurze Zeit später trug jeder von ihnen rund zehn der nußartigen Früchte. Sowohl die Mavinen als auch die Pthorer hatten zuerst viele Nüsse geköpft, den Saft getrunken und das säuerliche Fleisch gegessen. Zugleich mit dem Gefühl von Hunger und Durst schwand ihre schlechte Laune. Sie begannen, die vor ihnen liegende Aufgabe wieder mit anderen Augen zu sehen und waren, zumindest in dieser Stunde, wieder einmal überzeugt, alles zu überstehen. Sie wanderten weiter. Gegen Abend des zweiten Tages, als die meisten Nebelschwaden sich aufgelöst hatten, sahen sie die Stadt und südlich davon den Vulkan.
* Atlan betrachtete schweigend das Panorama, das sich vor der Gruppe ausbreitete. Soeben waren sie zwischen den letzten Bäumen eines Steinrückens hervorgekrochen, der diesen Teil des Blutdschungels abteilte. Vor der riesigen Kugel der untergehenden Sonne erstreckten sich die fernen Berge. Der auffallende Einschnitt, der ihnen vor Tagen als Markierung gedient hatte, war deutlich zu erkennen. Auch der Spitzkegel des Vulkans im Süden ragte aus dem scheinbar end-
12 losen grünen Meer des Waldes hervor. Die farbigen Sedimente und die schwarze Lava glänzten im Sonnenlicht. Die Stadt selbst, auch auf einem flachen Hügel gelegen, ließ sich in kein bekanntes Schema einordnen. Nachdenklich bemerkte Razamon, der sich an einen borkigen Stamm gelehnt hatte und seine Last aus Nüssen an den untersten Ast hängte: »Ist das wirklich Tarthor, Elcoy?« »Es muß die Stadt sein. Alles, was wir wissen, läßt keinen anderen Schluß zu.« »Es scheint, daß sich die Stadt langsam verändert. Oder ist das nur die Wirkung von Licht und Schatten?« In etwa vier Kilometer Entfernung herrschte in den höheren Regionen ein starker Wind. Er trug einen Teil der vulkanischen Rauchwolke heran und ließ große Fetzen grausilbernen Materials flattern. Gerade in diesem Moment riß sich ein solcher tuchförmiger Teil los und schwebte auf den nördlichen Rand der freien Zone zu. Schlagartig meldete sich der Logiksektor mit seiner Erinnerung: Das ist das Material eurer Stiefel und Kleider, Arkonide! Grizzard rief verblüfft aus: »Aber … diese Fetzen sind die gleichen, wie …!« »Richtig«, erklärte Razamon. »Das sind Teile von Tarthor. Wir haben unsere Ausrüstung aus einem solchen halborganischen Stoff mit Messer und Feuer zusammengestellt. Elcoy! Ist das Material der Stadt so ähnlich wie der Stoff, aus dem die Organschiffe sind?« Die ausgestoßene Königin schüttelte verständnislos den Kopf und rief zurück: »Ich weiß nicht, wovon du redest, Razamon. Ich weiß nur, daß die Snorv-Geister an der höchsten Spitze der Stadt wohnen wollen.« »Möglicherweise ist irgendwann das Material, aus dem Tarthor besteht, von einem Stern der Läuterung hierhergebracht worden?« mutmaßte Atlan. Er konnte seinen Blick nicht von Tarthor
Hans Kneifel losreißen. In ihrer Gesamtheit wirkte die halblebendige Stadt wie ein Spitzkegel, dessen oberster Teil gekappt worden war. Es gab unzählige Warzen und Erker, Kanzeln und Vorsprünge, Öffnungen in allen Größen und Formen, Rampen, Treppen und sowohl spiralige als auch kantige Verbindungselemente. Nichts davon wirkte, als sei es aus Stein, Holz oder Beton erbaut. Die Ähnlichkeit mit der runzligen Haut eines Organschiffs war verdächtig groß, und eine langsame Bewegung durchlief diesen gewaltigen Organismus ständig: einzelne Teile veränderten merkbar ihr Aussehen. »Und wo sind die Geister?« wollte Alzei wissen. »Ich habe noch keinen von ihnen gesehen. Aber ich weiß, daß sie mit den organischen Mauern verschmelzen können. Sie lieben das Mirxan.« »Was?« »Irgendwelche wohlriechende Gase aus dem Vulkan. Sie sollen narkotisierende Wirkung haben.« »Meinst du«, erkundigte sich Grizzard, »daß es gefährlich ist, wenn wir ohne Umwege darauf zugehen?« »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Elcoy. »Vielleicht sollten wir es versuchen«, schlug Razamon grimmig vor. »Falls es Fallen, Angriffe oder andere Freundlichkeiten gibt, werden wir sie sicherlich als erste kennenlernen.« Atlan stieß ein kurzes Lachen aus. Ihr könnt euch rehabilitieren, wenn ihr Dorkh für mich gewinnt! hatte die Botschaft gelautet, die zweifellos von Duuhl Larx stammte. Bisher hatte es nicht die geringste Chance gegeben, etwas in dieser Richtung zu unternehmen. Sie waren ununterbrochen damit beschäftigt gewesen, ihr eigenes Leben zu retten und vor irgendwelchen Raubtieren davonzulaufen. »Ich denke, du wirst recht behalten, Razamon«, sagte er ärgerlich. »Da! Seht euch die Stadt an! Sie ist wirklich halblebendig.« Das oberste Drittel von Tarthor wurde von einem dünnen Schleier abgetrennt. Die
Der Dschungel von Dorkh Dunstwolke wirkte wie ein langes, zerfasertes Band zwischen dem nördlichen Rand des Blutdschungels und dem Vulkan. Es konnte sich um den allgegenwärtigen Nebel handeln, aber auch um vulkanische Gase und somit um ein unbekanntes Gas, das Mirxan genannt wurde. Die Rampen drehten sich langsam, wieder flatterten von ganz oben Fetzen des Organmaterials davon und trieben nach Osten. Die Sonnenscheibe flammte tiefrot auf, als Wasserdampf und Staub am Horizont die Luft erfüllten. Die Erker an der Seite der Stadt, die den Wanderern zugewandt war, veränderten ihre Umrisse. Fensteröffnungen wurden hier kleiner, dort größer und an anderen Stellen undurchsichtig. Tarthor war ein weiteres Rätsel, eines der vielen, die Atlan im Lauf des langen Irrweges seit dem Eintreffen des Dimensionsfahrstuhles hier am Rand der Schwarzen Galaxis würde lösen müssen. »Es ist schrecklich«, sagte die Königin, »niemand weiß etwas Genaues, und ich glaube, wir sollten uns vor der Stadt und all dem fürchten.« »Das tue ich bereits seit einigen Minuten«, bestätigte Atlan. »Wollen wir nun in Tarthor übernachten oder nicht?« »Gibt es eine ernsthafte Alternative?« erkundigte sich Grizzard. »Nein.« Pthorer und Mavinen faßten die Griffe der Waffen fester und stiegen langsam den Hügel hinunter. Zwei Drittel der Sonnenscheibe waren bereits jenseits der Sirva-Gipfel untergegangen. Die rätselhafte Stadt wurde größer und verschwamm immer dann vor den Augen der Wanderer, wenn sie versuchten, einen bestimmten Teil genau anzusehen. Es schien, als würde der riesenhafte Organismus versuchen, sich zu heben und zu strecken. Die obersten Spitzen der Kanzeln reckten sich und wuchsen höher, dann aber erschienen Runzeln und Narben und zogen das Material zurück, als wäre es federnd und elastisch. Nach kurzer Zeit mußten die Wanderer bemerken, daß die »Stadt« sich mit vielen
13 Bewohnern oder besser Teilen des Blutdschungels verbunden hatte. Vielleicht waren es sogar symbiontische Beziehungen. An einigen Stellen ragten mächtige Wurzeln aus der Basis des Kegels, an anderen Teilen der geschwungenen Wände sah man Stämme, Äste und Blätter von vielen unterschiedlichen Baumgiganten. Dies bedeutete, daß Tarthor alt war und seit langer Zeit hier stand und sich zu verändern versuchte. »Wenn«, sagte Grizzard nachdenklich, »sich die organische Masse von Tarthor mit Bäumen und anderen Pflanzen verbindet, dann kann es auch möglich sein, daß sich die Stadt nach den Bedürfnissen ihrer Bewohner richtet.« Atlan gab zurück: »Wir müssen, wenn deine Theorie stimmt, mit Überraschungen rechnen. Vielleicht finden wir in Tarthor alle die Raubtiere, denen wir bisher entkommen konnten.« Razamon schwang unternehmungslustig sein Beil und rief: »Und vielleicht finden wir auch einen Braten.« Rechts und links der Stadt schoben sich zwischen kleinen, dicht bewachsenen Hügeln und den Baumgruppen grauschwarze Felsen hervor. Sogar in dem blendenden Licht der untergehenden Sonne war zu erkennen, daß die östlichen Wände der Felsenkette jäh abfielen und kaum zu bezwingen waren, zumindest nicht von den Wanderern, die keinerlei Ausrüstung hatten. Sie waren also gezwungen, Tarthor zu passieren, wenn sie das sagenhafte Reich bei dem SirvaGipfel je erreichen wollten. Im letzten Rest des Sonnenlichts hielten die Wanderer an einem schmalen, reißenden Fluß. Er kam aus dem Norden, beschrieb einige Windungen und verschwand neben der Stadt in einem System von Löchern, Schluchten und unter natürlichen Brücken der schwarzen Felsen. Eine kühne Konstruktion aus Bäumen und langen Lianen, aus dem Organmaterial der Stadt und unbekannten Materialien überspannte den schmalen, aber tiefen und reißenden Wasserlauf.
14 Je mehr das Sonnenlicht schwand, desto mehr helle Flecke erschienen in und an den Wänden Tarthors. Nachdem die Königin und ihre Begleiter die federnde Hängebrücke passiert hatten, entpuppten sich Teile von Tarthor als überraschend offenes System. Es gab Straßen, kleine Plätze und bizarre, vielfarbige Arkaden, die wenigstens an dieser Stelle den Eindruck hervorriefen, es mit einer weit auseinandergezogenen Siedlung zu tun zu haben. »Wir sollten vorsichtig sein«, sagte Atlan. »Ich glaube nicht, daß die unsichtbaren Geister uns willkommen heißen werden.« »Sie sind nicht unsichtbar. Das dort müssen sie sein«, sagte Grizzard/Axton aufgeregt und deutete nach rechts. Dort, über einer Rampe aus Organmaterial und eingelagerten schwarzen Steinen, huschten zwergenhafte Gestalten flach an der Wand aufwärts und abwärts. Sie wirkten wie bleiche Fledermäuse und bewegten sich schnell und sicher. Verblüfft sahen die Wanderer, daß die Snorv-Geister immer wieder in die Ebene der Wand eintauchten, als sei sie aus Wasser. »Organisches Basismaterial, das sich um Bäume schmiegt, Gestalten, die mit dem Material verschmelzen … und dazu die betäubenden Gase aus dem Vulkan!« meinte Atlan leise, »und ich denke, damit fangen die Überraschungen erst an.« Sie waren am äußersten Rand der Stadt. Hier vermischten sich die Ausläufer des Dschungels und die Ausläufer der Stadt, der einzigen Möglichkeit, die Felsbarriere zu überwinden. Atlan merkte, daß hinter den Arkaden und Passagen mehr Lichter aufleuchteten; zwischen den narbigen Wänden breitete sich ein fahles Zwielicht aus. Sieben oder mehr SnorvGeister schwangen sich durch eine dünne Folie, kletterten wie bleiche Spinnen zwischen weißen, rindenlosen Ästen und zwei langgestreckten Erkern in rasender Geschwindigkeit aufwärts. Der letzte Snorv-Geist hielt inne, löste sich mit den beiden oberen Gliedmaßen von der Wand und drehte den Kopf. Große Au-
Hans Kneifel gen, ähnlich denen der jagenden Eulen im Nebel, richteten sich auf die starr dastehende Gruppe der Eindringlinge. Dann öffnete das Geschöpf, das nicht größer als rund ein Meter zu sein schien, den Mund. Scharfe, nadelfeine Zähne grinsten die Fremden an. Der Geist stieß ein höhnisches Zischen aus und kletterte dann seinen Artgenossen nach. »Schauerlich!« flüsterte Alzei und zog die Königin mit sich. Die Eindringlinge hatten sich etwa hundert Meter in die schmalen Gassen der Stadt hineingewagt. Noch mehr Lichter erwachten hinter den transparenten Flächen. Die Stadt war ruhig, aber nicht totenstill. Die Geräusche einer ununterbrochen ablaufenden Bewegung in allen Teilen dieses riesigen Organismus waren hörbar. »Nicht nur schauerlich, sondern gespenstisch«, sagte Razamon unsicher und holte tief Luft. Er sog die Luft mehrmals ein und schnupperte. »Mir gefällt es nicht!« »Dieses Tier … der Snorv-Geist, er sah aus, als ob er uns sagen wollte, daß er im Moment etwas anderes zu tun hat und sich uns erst nachher widmen kann. Und zwar deswegen, weil er uns dann überfallen wird«, sagte Grizzard. Er schien es völlig ernst zu meinen. Atlan blickte sich um und ging dann weiter. Auch er roch einen Hauch von exotischem Gas, das es während des langen Weges der letzten Tage nicht gegeben hatte. Es war süß und narkotisierend, wie ein sehr teures Parfüm. »Ich hatte denselben Eindruck, Grizzard/Axton«, sagte der Arkonide bedächtig. »Wir sollten tatsächlich versuchen, Tarthor schnell zu durchqueren.« »Es wird nicht schnell gehen«, murmelte Elcoy. »Und es wird gefährlich sein. Ich weiß es«, fügte die Jägerin hinzu. Ihnen war jeder Gedanke an ein Lagerfeuer oder einen Aufenthalt vergangen. Ihre Schritte wurden schneller. Wieder sprangen – sie waren wirklich gespenstisch und bewegten sich mit geisterhaft schnellen Refle-
Der Dschungel von Dorkh xen – etwa ein Dutzend Snorv-Geister über einem vorspringenden Dach aus dem Innern eines Gebäudes. »Sie klettern wohl dem Mirxan nach!« stellte Razamon fest. Die Eindringlinge rannten jetzt hintereinander unter zitternden und bebenden Bögen aus Organmasse in westliche Richtung. Je weiter sie vorandrangen, desto mehr wurden sie von der eigenartigen Umgebung gefangengenommen. Die Stadt Tarthor veränderte sich entlang dieses Weges durch die »Vorstädte« nur in geringem Ausmaß. Breite Falten wanderten von unten nach oben, glitten wie riesige Muskeln oder Adern unter der Haut der Wände, Vorsprünge und Warzen in die Höhe, beulten die Wand aus und versuchten, Einzelheiten der Stadt nach oben zu ziehen. Formen, die eben noch stabil erschienen, veränderten sich, verschwammen und lösten sich auf, formierten sich wieder neu und erstarrten wieder, als wären sie gefroren. Die Ausläufer der Stadt, niedrige und annähernd kantige Einheiten aus Büschen und Organmasse, hinter der rätselhaftes Leuchten erschien, drängten sich zusammen, lehnten ihre Wände aneinander und gliederten sich stufenweise höher. Ihre Dächer, die keine wirklichen Dächer waren, verschmolzen mit den Wandungen des Stadtkerns, dieses riesigen Kegelstumpfes, der in die Höhe strebte. In dem System der Adern und der Räume zwischen den Wurzeln rannten die Eindringlinge immer schneller geradeaus. Noch waren sie nicht angegriffen worden, aber sie rechneten unbewußt damit. Bei jedem Schritt sahen sie jetzt die bleichen Snorv-Geister. Sie tauchten an jeder nur vorstellbaren Stelle auf, warfen gierige Blicke auf die fünf dahinrasenden Eindringlinge, zischten und fauchten blutdürstig und tasteten sich hinauf zu der herandriftenden Schicht aus euphorisierendem Gas. Elcoy schüttelte sich schaudernd und dachte daran, daß dieses Reich im Westen vermutlich wirklich nur eine Sage war. Kei-
15 ne der ausgesetzten Königinnen hatte in Wirklichkeit überlebt, keine Mavine konnte diese Strapazen und die tausend Gefahren überstehen. Aber im gleichen Atemzug sagte sich Elcoy, daß sie selbst noch lebte, zusammen mit ihren fremden Jägern und ihrer treuen Leibwache. Hinter ihr keuchte Atlan: »Die Snorv-Geister wollen versuchen, aus der Stadt einen Turm zu machen, der bis in die MirxanSchicht vorstößt und sich dort stabilisiert. Wenn sie es nicht schaffen, kommen sie wieder hierher!« Eine Schlußfolgerung, die sich aufdrängt, kommentierte sein Extrasinn. »Bisher haben sie es nicht geschafft!« rief Razamon. Ab und zu verlor einer von ihnen eine Nußfrucht, die polternd und hohl klappernd über die merkwürdige Oberfläche des Pfades sprang. Der leichte Wind, der abwechselnd aus den Arkaden und Öffnungen strich, brachte den Geruch des Gases einmal stärker, dann schwächer zwischen die lebenden Wände. Jetzt, nach Sonnenuntergang, schienen irgendwelche atmosphärische Vorgänge besonders viel Mirxan heranzubringen. Die Geister tobten, je näher die Fremden dem Zentrum der Stadt kamen, in größer werdender Zahl die Wandungen aufwärts, aber jeder Snorv schien genau zu wissen, daß die Opfer nicht entkommen konnten. Grizzard blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und starrte aufwärts. Die Gruppe befand sich auf einem kleinen Platz, der von hochragenden, pulsierenden Wänden umgeben war. Grüne Blätter und verschiedenfarbige Blüten wuchsen aus den Flächen und schüttelten sich im Wind. »Die Stadt wächst …«, flüsterte Grizzard/ Axton beeindruckt. Ein Schwarm Vögel flatterte durch die Schluchten zwischen den Wänden. Schlangenförmige Bewegungen riefen den Eindruck hervor, als ob die Wände aufeinander zukippen würden. Irgendwo über den Fremden schrie ein großes Tier mit hallender
16 Stimme. Es war wie der Schrei eines hungrigen Raubtiers. »Nachts wächst sie, und vermutlich sackt sie am Tag wieder zusammen«, gab die Jägerin zurück und schrie auf, als drei SnorvGeister durch ein Fenster sprangen und ein zappelndes Tier mit sich zerrten, aus dessen geflecktem Fell lange, dünne Blutfäden tropften. Die Geister fauchten höhnisch und turnten, wie alle anderen, in rasender Eile aufwärts. Der blutende Körper schlug klatschend gegen die Wände, die das Blut aufzusaugen schienen. »Elcoy! Es bleibt uns nichts anderes übrig, als mit einem Gewaltrennen durch die Stadt hindurchzulaufen«, sagte Atlan entschlossen. »Ich fühle, daß wir in höchster Gefahr sind.« »Wir sind erschöpft!« stellte Alzei fest. »Wir auch. Wir schaffen es trotzdem!« sagte Razamon. Als ob sie alle, während sie für Sekunden stehengeblieben waren, ein besonderes Ziel abgeben würden – jetzt hangelten sich entlang eines Pfeilers aus Rinde, Organmasse und gedrehten Lianen Dutzende Geister herunter. Die Säule verschwand in der halbdunklen Höhe der Stadt und schien bis zu den wenigen Sternen hinaufzureichen. »Sie wollen uns!« schrie Grizzard auf. Die Snorv-Geister waren rechts und links von der Gruppe. Die Flüchtenden begannen wieder zu rennen. Unter ihren Sohlen gab es noch immer das eigentümliche Pflaster aus Organmasse und elastisch eingebetteten Steinen. Eine andere Gruppe der weißhäutigen, fauchenden Gespenster sprang auf ihre eigentümliche Weise über den Fremden durch die Bögen, Arkaden und Rampen. Sie verschwanden halb, tauchten wieder auf, umgingen Pfeiler und Säulen, indem sie an anderer Stelle mit der Stadt verschmolzen und wieder auftauchten. Etwa dreißig oder mehr Geister turnten parallel zu den Eindringlingen dahin, starrten sie in unverhüllter Gier an und streckten die langen Arme aus. Noch griffen sie nicht an, aber mehr und mehr Rachen öffneten sich, mehr und mehr Fänge blitzten im Licht auf. Das fau-
Hans Kneifel chende Zischen der Kreaturen hallte in den Gängen und zwischen den Fronten der unwirklichen Stadtfragmente wider. Mit einem lautlosen Satz, der eine Entfernung von drei Metern überwand, schnellte sich ein SnorvGeist aus der Wand und sprang auf Alzeis Schultern. Sein Rachen öffnete sich, und die nadelfeinen Zähne wollten sich in den Hals des Katzenwesens bohren. Grizzard/Axton handelte mit einem blitzschnellen Reflex. Sein Beil wirbelte in einem Dreiviertelkreis durch die Luft, schlug in den Körper des Tieres und riß es mit unwiderstehlicher Gewalt von Alzeis Schultern. Die Krallen, die sich in die Haut unter dem Pelz gebohrt hatten, rissen lange, blutige Rillen. Atlan, der hinter Grizzard lief, packte das Tier im Nacken, holte aus und schmetterte es gegen die Wand. Die Fremden duckten sich und rissen die Waffen hoch. »Schneller!« schrie Elcoy mit schriller Stimme. Zwei Geister sprangen von links und rechts wieder auf die Jägerin zu. Sie landeten fauchend auf ihren Schultern. Die Mavine riß den Knochendolch hoch und rammte die stumpfe Klinge in den Körper des links kauernden Geistes, der wie eine weiße Vampirfledermaus nach ihrem Hals biß. Das Beil Grizzards traf mit einem trockenen Geräusch den Schädel des zweiten Tieres und tötete das aufgeregt zischende Wesen, gerade in dem Moment, als sich ein weiteres Snorv auf seinen Kopf fallen ließ. Diesmal rettete Atlan seinen Freund, indem er einen wütenden Schlag führte, der das Tier tötete. Die junge Mavine stolperte, fiel und überschlug sich. Der Ring aus Nußfrüchten, den sie um die Schultern trug, riß auf. Die Früchte kollerten davon, aber niemand kümmerte sich darum. Die Eindringlinge rannten so schnell, daß die erste Gruppe der vampirhaften Wesen ihnen nicht mehr folgen konnte. Die Geister verließen die Wände nicht; nur die zuckenden Kadaver lagen auf dem Boden.
Der Dschungel von Dorkh Aus kleinen Höhlen und Löchern dicht über dem Niveau der Steine schoben sich die klickenden und knisternden Spinnenwesen, richteten ihre Augentrauben hierhin und dorthin und machten sich über die blutenden Körper der Snorv-Geister her. »Helft mir!« schrie plötzlich Razamon von ganz hinten. Eine Gruppe von mehr als zehn Tieren überfiel ihn. Sie sprangen rechts und links aus den Wänden und ließen sich von den Arkaden fallen. Fauchen und Zischen erfüllten den engen Tunnel. Fänge und Zähne blitzten. Razamon war ein erfahrener Kämpfer und versuchte sein Äußerstes. Er warf sich hin und her, so daß einige SnorvGeister ihn verfehlten und auf allen vieren auf dem Boden landeten. Sie blieben regungslos sitzen und versickerten wie Sirup zwischen den Steinen. In vollem Lauf duckte sich Razamon, stach mit dem Dolch zu und rammte mit aller Wucht seine Schultern gegen die nächste Ecke. Er streifte zwei Tiere ab, die mit gebrochenen Knochen aufkreischend herunterfielen, tötete zwei weitere mit wütenden Dolchstößen und erreichte, noch immer drei Tiere in seinem Rücken, die sich in dem organischen Material des Ponchos verbissen hatten, Atlan und Grizzard. Die Männer schlugen gezielt mit den Beilen und töteten die Tiere. Aber der nächste Schwarm überfiel in diesen Sekunden bereits wieder die Mavinen. Abermals spannten die Pthorer ihre Muskeln und zwangen sich zu einer neuen Energieleistung. Sie stachen und schlugen wild um sich und versuchten, den Mavinen zu helfen. Die Pelze der Katzenwesen waren bereits jetzt voller Blutspuren und langer Kratzer. Der Anblick von Blut schien die SnorvGeister in Raserei zu versetzen, aber der Tod ihrer Artgenossen schreckte sie vorübergehend ab. »Nur hinaus aus dieser schrecklichen Stadt!« keuchte die Königin und wischte sich Blutstropfen aus den Augen. »Ganz deiner Meinung«, sagte Razamon,
17 stöhnte schmerzerfüllt auf und schlug sein Beil in einen Geist, der ihn ansprang. Er traf das Tier in vollem Lauf und schleuderte es zur Seite. Atlan und Grizzard schwangen die Beile wirbelnd über ihre Köpfe, überholten die zwei Mavinen und spurteten weiter. Die Schneide des Beiles zeichnete helle Kreise in das Halbdunkel. Für einige lange Momente schienen die gierigen Bewohner Tarthors unentschlossen oder gar ängstlich zu sein, und die Fremden legten eine Strecke von mehreren Dutzend riesigen Schritten zurück, ohne angegriffen zu werden. Atlan und Grizzard rissen die Mavinen mit, deren Oberarme sie ergriffen hatten. Längst waren sämtliche Nüsse verloren, aber niemand hatte es gemerkt. Razamon hatte aus dem Überfall gelernt. Er rannte im unregelmäßigen Zickzack hin und her und versuchte, so knapp entlang der Wände zu bleiben, daß die Geschöpfe auf einer Seite ihn nicht anspringen konnten. Er tötete elf Snorv-Geister nacheinander, noch ehe sie ihn erreichten, in der Luft und hinterließ eine blutige Spur zuckender Körper. Hinter ihm klapperten die weißen Spinnentiere und zerrissen ihre Beute. Eine Rampe führte abwärts. Arkaden aus geschwungenen Baumästen, ausgefüllt mit spinnennetzartiger Organmasse, erstreckten sich bis zu einem Platz. Ein deutliches Rauschen brach sich als verwirrendes Echo unter den Pfeilern und vor den Fenstern. Ein Schwarm libellenähnlicher Insekten hüllte für einige Augenblicke die rennenden Fremden völlig ein und verhinderte einen Angriff der Geister. Aber noch immer fauchten und zischten die springenden Vampire. Ein Wasserfall rauschte links aus einer Wand, brach sich an den Flanken eines farbig geäderten Monoliths und rieselte nach rechts. Dort standen die grotesken, fabelartigen Statuen ähnlichen Pylone, die eine Brücke trugen. »In den Fluß! Nach rechts!« befahl Atlan und packte eines der rasend um sich schlagenden Geschöpfe im Nacken, das seine Krallen durch Alzeis Pelz riß.
18 Atlan warf den Snorv in die Höhe und schlug mit dem Beil zu. »Verstanden!« Jenseits einer Barriere sahen sie das rasend schnell strömende Wasser des Flusses oder eines seiner Nebenarme. In dem schwachen Licht konnten sie eine Art Floß erkennen, das auf den Wellen ruckend schaukelte. Ein Floß? Hatten es die Snorv-Geister hergestellt? fuhr es Atlan durch den Sinn, dann brüllte er atemlos: »Auf das Floß!« Der Umstand, daß sich die mehr oder weniger senkrechten Flächen zum Platz hin öffneten, verhinderte einen Massenüberfall der Bestien. Aber noch immer schnellten sich einzelne von ihren in flachen Bögen auf die Fremden. Jeder aus der Gruppe half jedem, der angegriffen wurde. Kommandos übertönten das Fauchen der Geister, Schritte klatschten auf dem Pflaster, immer wieder gab es das harte, knackende Geräusch, wenn die Schneiden der Kampfbeile auf die Knochen der Snorv trafen. Schritt um Schritt kämpften sich die Fremden auf den Rand der Straße und die niedrige Mauer neben dem Wasser zu. Dann packte Razamon die Königin und schwang den Körper förmlich über die Barriere. »Kümmere dich um die Haltetaue!« rief er. Atlan und Alzei stolperten heran. Hinter ihnen schlug Grizzard/Axton wie ein Rasender auf drei Geister ein, die in bogenförmigen Sätzen auf ihn zusprangen. Auch die andere Mavine kletterte über die niedrige Abgrenzung auf das schwankende Floß. Die Königin schlug mit dem Beil auf eine Art Seil aus Pflanzenmaterial, das sich aufzudrehen begann. »In Ordnung. Wir können ablegen!« Atlan und Grizzard sprangen auf die Mauer und von dort hinunter auf das Floß. Es tauchte an einem Ende ein und wurde überflutet. Nur noch Razamon befand sich auf dem Platz und versuchte, ein unterarmdickes Tau von einem Poller zu zerren.
Hans Kneifel »Spring doch endlich!« rief Grizzard und fegte mit einem gewaltigen Rundschlag einen Snorv-Geist von der Mauer. Die Bestie war in rasendem Lauf über das narbige Organmaterial gerannt und lief direkt in den tödlichen Hieb hinein. Razamon warf das Tauende ins Wasser und sprang. Atlan und die Jägerin fingen ihn ab. Die Königin schlug grimmig auf die letzte Faser ein, während das Floß schaukelnd an der Verbindung zerrte. Mit einem reißenden Laut sprang die Faser auseinander. Sofort ergriff die Strömung das Floß, drehte es halb herum und riß es mit sich. Der gewaltige Sprung eines Geistes ging fehl. Das Tier landete dicht neben dem Floß im Wasser. Als es sich mit zwei Krallenhänden am Holz festklammern wollte, schlugen Atlan und Razamon zu. »Hinsetzen, Freunde«, stöhnte Razamon und ließ sich fallen. Binnen weniger Sekunden hatte das Floß eine ungewöhnlich weite Strecke zurückgelegt. Es drehte sich langsam in der rasenden Strömung. Grizzard und die Jägerin suchten nach Riemen oder einer Steuereinrichtung, und sie zogen zwei schlanke Holzruder aus Schlaufen, die zwischen den einzelnen Balken angebracht waren. Aus der Stadt erscholl ein wütendes Fauchen und Zischen. Noch immer waren sie im Gebiet von Tarthor. Die Felsen, um die schäumende Wellen gurgelten, waren tiefschwarz, aber sie wurden von Algen und der Organmasse umhüllt und miteinander verbunden. Die Wände mit den leuchtenden Öffnungen glitten vorbei und nahmen an Höhe ab. Atlan sagte erschöpft: »Ich will gar nicht daran denken, wer dieses Floß gebaut hat. Wir scheinen es hinter uns zu haben.« »Aber um einen sehr hohen Preis. Sieh die Mavinen an!« murmelte Razamon besorgt. Die weißen Katzenwesen schöpften Wasser aus dem Fluß, schlürften es durstig und wuschen sich dann gegenseitig das Blut aus dem verkrusteten, verschwitzten und
Der Dschungel von Dorkh verklebten Fell. »Erst einmal müssen wir Tarthor ganz hinter uns bringen. Vielleicht finden wir einen Platz, an dem wir uns erholen können. Ich bin erledigt«, murmelte Grizzard und trank ebenfalls einige Schlucke. »Jeder von uns ist am Ende seiner Kräfte«, entschied Atlan. »Aber immerhin scheint der Fluß nach Westen zu fließen.« Sie kühlten ihre Gesichter und die Arme mit dem Wasser. Es schmeckte frisch und war angenehm kühl. Langsam beruhigte sich ihr rasender Herzschlag. Die Wunden begannen zu schmerzen und nur langsam zu verkrusten. Die Stadt blieb zurück, und langsam schoben sich wieder ihre Umrisse zu einem Gesamtbild zusammen. Der Organismus bewegte sich noch immer. Der dünne Gasschleier vom Vulkan war deutlich zu erkennen, aber die Snorv-Geister, die ununterbrochen versuchten, Tarthor hochzuziehen und in der Spitze zu leben und Mirxan in sich aufzusaugen, diese vampirhaften kleinen Gestalten konnten die Fremden nicht mehr sehen.
4. Die halbe Nacht brauchten die fünf Fremden, um sich einigermaßen zu erholen. Zwar nahmen Hunger und Durst zu, aber sie waren viel zu aufgeregt, um es richtig spüren zu können. Atlan und Alzei handhabten ohne Mühe die langen Riemen und steuerten das Floß durch das schwarze Wasser. Grizzard/Axton kroch über die nassen Balken und kauerte sich neben dem Arkoniden nieder. »Das war's, Atlan«, knurrte er. »Wieder einmal alles überstanden. Ganz knapp, aber immerhin.« Atlan, dem es noch immer nicht leicht fiel, in diesem jungen Körper das gesamte Wesen eines Mannes zu sehen, den er aus ferner Vergangenheit kannte, hob die Schultern. »Wir werden in der Nacht wahrscheinlich eine große Strecke zurücklegen. Wohin, das
19 wird sich zeigen.« Der Fluß wurde breiter und flacher. Die Ufer waren kaum zu sehen; die Flüchtenden konnten nur erraten, wie es hier aussah. Sie fuhren durch eine finstere, völlig unbekannte Gegend. Nur das plätschernde Geräusch der Wellen war zu hören, dazu die Stimmen des Dschungels. Schwach hoben sich gegen den Himmel die Kronen wuchtiger Bäume ab. Über dem Wasser blinkten wenige Sterne, ab und zu sprangen Fische aus den Wellen. Dem Geräusch nach zu urteilen, waren es große, fette Tiere. »Elcoy sagte, daß wir vielleicht ins Land der Fosken kämen«, sagte Grizzard müde und schloß die Augen. »Aber sie weiß auch nicht genau, wie dieses Land aussieht. Nehmen wir an«, knurrte Atlan, »daß es sich nicht sonderlich von dem bisherigen Dschungel unterscheidet.« Razamon und Elcoy lagen in der Mitte des Floßes und schienen zu schlafen. Zumindest rührten sie sich nicht. Atlan und die Jägerin waren übereingekommen, das Floß nach Möglichkeit in der Mitte des Flusses zu halten und nirgendwo anzulegen. Sie wollten keine weiteren Gefahren herausfordern. »Elcoy glaubt zu wissen«, sagte Atlan nach einer Weile, »daß es im Foskenland ein wichtiges Heiligtum gibt. Vielleicht wird das unser neues Ziel.« »Ich habe ganz andere Ziele. Schlafen, Essen und zumindest versuchen, mich ein bißchen zu erholen. Falls es uns vergönnt ist.« »Hoffentlich!« Atlans Neugierde war bereits zu dem Zeitpunkt geweckt gewesen, als Elcoy ihnen das wenige berichtete, was sie wußte. Wieder bewegte sich Atlan auf dem Weg zu seinem selbstgewählten Ziel in Schlangenlinien. Dorkh war für ihn – und seine Kameraden – ebenso rätselhaft wie Pthor in den ersten Tagen, in denen sie versucht hatten, sich Klarheit zu verschaffen. Auf alle Fälle war Dorkh mindestens ebenso gefährlich. »Wir haben eine längere Pause dringend nötig!« meldete sich Razamon plötzlich.
20 »Wir werden, wenn es hell wird, Fische fangen und braten, klar?« »Einverstanden«, antwortete der Arkonide. »Aber vorläufig treiben wir noch auf diesem unbekannten Fluß dahin.« Die Nacht verging scheinbar viel zu langsam. Die Geschwindigkeit, mit der das Floß ins Unbekannte trieb, blieb gleich, ebenso wenig veränderte sich die kaum sichtbare Umgebung. Es fiel den Fremden immer schwerer, die Augen offenzuhalten. Aber immer blieb einer von ihnen wach und verhinderte, daß die zusammengefügten Balken anstießen oder gegen ein Hindernis prallten. Die dunklen Ufer zogen vorbei. Hin und wieder sahen die Fremden eine Sandbank, ein Stück kiesbedecktes Land leuchtete auf, rätselhafte Tiere bewegten sich in den Gewächsen entlang des Wassers. Ab und zu bildeten sich unter den überhängenden Bäumen dicke Nebelschwaden, durch die das Floß in geisterhafter Fahrt schwamm, und die alle Geräusche dämpften und seltsam unwirklich machten. Die Morgendämmerung überraschte das Floß an einer Stelle, die ruhigeres Wasser aufwies. Die Ufer hatten sich voneinander entfernt; der Fluß schien durch eine Barriere aufgestaut worden zu sein. Dunst trieb dicht über die Oberfläche. Der Schwung, der die Balkenplattform hierhergetrieben hatte, ließ nach. Atlan wachte auf, griff wortlos nach einem Riemen und ruderte das Floß zusammen mit Razamon an eine Stelle des Ufers, die vielversprechend aussah. Elcoy, Grizzard/Axton und Alzei schliefen regungslos. Das Floß stieß auf den Sand einer runden Insel, die von kleinen Bäumen und bambusartigen Pflanzen überwuchert war. Atlan und Razamon fischten die Taue aus dem Wasser, machten das Floß fest, und während Atlan einen Fischspeer schnitzte, trug Razamon Schwemmholz für ein Feuer zusammen. Sie fanden auch große, dunkelbraune Pilze, rote Beeren und längliche Früchte, die Atlan vorsichtig testete. Gegen Mittag aßen sie gebratenen Fisch, schlangen die Beeren hinunter und schliefen
Hans Kneifel weiter. Grizzard fand kleine, stark riechende Früchte, die, wenn man sie preßte, einen öligen Saft absonderten, mit dem sich auch die Mavinen einrieben. Das Öl dämpfte die Schmerzen der vielen kleinen Wunden und war auf der Haut wunderbar kühl. Mitten in der Nacht schwamm ein großes Tier vorbei. Seine Augen leuchteten im Widerschein des Gluthaufens auf. Das Tier stieß einen bellenden Schrei aus, tauchte unter und schwamm weiter. Bis auf Alzei, die jetzt Wache hielt, schliefen sie bis zur nächsten Morgendämmerung und standen mit schmerzenden Muskeln und verkrümmten Rücken auf. Das Bad im Fluß war eine köstliche Erholung, und nachdem sie große Brocken des kalten Fischbratens gegessen hatten, fühlten sich die Eindringlinge stark genug, das nächste Stück der Wanderung ins Ungewisse zu beginnen.
* Mehr und mehr verlor der Fluß seinen Charakter. Die Sumpfflächen und die Verlandungszonen wurden häufiger. Das Tempo der Fahrt nahm ab, und schließlich blieb das Floß im Schlamm stecken. Die fünf Wanderer nahmen ihre Waffen, ein paar Essensreste und ein Netz voller Beeren, dann turnten sie über angeschwemmte Baumstämme bis auf festes Land. »Weißt du, ob wir uns noch immer im Blutdschungel befinden, Elcoy? Nicht, daß es einen großen Unterschied machen würde …«, fragte Grizzard, als sie sich einen Hang hochkämpften. »Man sagte mir, daß die Fosken im Blutdschungel leben. Auch Sort-Quah-rVihn, das Sonnenheiligtum, befindet sich in diesem furchtbaren Wald. Ich weiß auch, wie ein Foske aussieht. Das ist alles«, antwortete die Königin. Sie hatte von ihnen allen die Strapazen am wenigsten gut überstanden. Sie wirkte nicht nur erschöpft, sondern sah geal-
Der Dschungel von Dorkh tert aus und ging langsamer und fast immer gebückt. Wie an jedem Tag verbarg dichter Nebel die fernere Umgebung. Aber zu der Zeit, als die Sonne ungehindert schien, konnten die Jägerin und Atlan eine Standortbestimmung machen. Sie wußten: sie bewegten sich noch immer nach Westen. Die Floßfahrt hatte die Entfernung zu dem Sirva-Gipfel und dem Reich der ausgestoßenen Königinnen stark schrumpfen lassen. Aber hier gab es keinen Fluß, der befahrbar gewesen wäre. Es gab nur nassen Wald, Dschungel, der immer dichter wurde. »Wenn wir nur ein einzigesmal an eine Stelle kommen würden«, stieß Grizzard/Axton hervor, nachdem sie stundenlang über glitschige Pfade getappt waren, sich durch dorniges Gestrüpp geschoben und unter tropfenden Zweigen dahingewandert waren, »an der es so etwas wie Zivilisation und Ruhe gibt!« »Wir sollen Dorkh erobern«, spottete Razamon. »Dazu gehört, daß wir uns vorher richtig umsehen.« »Informationssuche habe ich mir zeit meines Lebens anders vorgestellt«, knurrte Atlan. »Und …?« »Ich habe es immer auf die mühsame Tour machen müssen«, gab er zu. »So wie jetzt und hier.« »Das sichert, bei aller Mühe, immerhin Erfahrungen aus erster Hand«, bemerkte ironisch der Berserker. Die bekannten Fallen des Dschungels lösten einander ab. Schlingpflanzen und Dornen, verfilztes Dickicht und sumpfige Pfade, deren Ränder von giftigen Pilzen gesäumt waren. Schmale Wasserläufe, aus denen Myriaden von Mücken und Insekten hochschwirrten und die Fremden stachen, trotz des Beerensaftes. Schlangen und andere Tiere, die immer wieder angriffen oder flohen. Blutsauger, die sich aus den Ästen fallen ließen. Knackende Äste unter den Sohlen, deren brechende Geräusche die Tierwelt aufscheuchten. Gigantische Falter, die mit win-
21 zigen Krallen nach den Gesichtern der Vordringenden zielten. Kreischende Tiere, die wie stachelbewehrte Affen die Stämme entlangturnten und die kleine Gruppe mit Holz, leeren Schalen und platzenden Früchten bewarfen. Stunde um Stunde ging die mühsame Durchquerung dieses Dschungels weiter; sie kamen langsam voran. Dann wieder traten die Bäume zurück. Licht und sonnenerfüllter Nebel ließen die Fremden blinzeln. Vor ihnen lag eine dreieckige, leere Fläche. Sie bestand aus Sand und einzelnen Steinen; vermutlich vor langer Zeit das Bett eines periodischen Flusses. Elcoy ließ sich schwer in den Sand fallen und massierte ihre Schenkel. »Ich bin müde!« sagte sie. »Nein. Nicht müde. Erschöpft. Ich fühle mich, als wäre ich uralt.« »Wir alle fühlen uns nicht besser«, sagte der Arkonide. »Und da wir nicht wissen, was vor uns liegt, werden wir weitergehen.« Es war verständlich, daß eine Königin tief unten in ihrem Labyrinthreich nur sehr unzuverlässige Daten über die wahre Natur des Landes besitzen konnte. Die spärlichen Erfahrungen, wie es in weiter Entfernung von den Mavinen aussah, hatten die Jägerinnen mitgebracht. Und sie hatten ihre Kenntnisse wiederum von unzuverlässigen und zufälligen Kontakten mit anderen, mehr oder weniger intelligenten Bewohnern des Blutdschungels. Die Jägerin lief mit federnden, aber langsamen Raubtiersätzen ein Stück auf die leere Fläche hinaus. »Und dort drüben fängt wieder der Dschungel an!« klagte die Königin. »Es gibt keinen besseren Weg«, sagte Razamon. Er betrachtete sein Beil, dessen Klinge in drei Teile zersplittert war. Der Berserker hob bedauernd die Schulter und behielt die unbrauchbar gewordene Waffe trotzdem in der Hand. Die Bruchstücke wurden durch schmale Sehnenbänder zusammengehalten. »Weiter!« Die freie Fläche war nicht breiter als fünfhundert Schritt. Hintereinander, mit der Jä-
22 gerin an der Spitze, schleppten sich die Fremden weiter. Zwischen den Steinen und im Sand wuchsen dürre Büsche, unter denen sich kleine Echsen zusammengeringelt hatten. Sie sprangen mit scharrenden Lauten auf und raschelten davon, als sich die Fremden näherten. Ab und zu flog ein großer Vogel über der Lichtung hin und her, von dem sie nur den feuerroten Körper sahen und einen langschnäbligen Adlerkopf. In das Geräusch der Schritte mischte sich plötzlich ein anderer Ton. Ein unregelmäßiges Tappen, das von links und rechts zu kommen schien. Auch jetzt schluckte der Nebel viele Geräusche und ließ sie unwirklich werden. Wachsam sahen sich die Eindringlinge um, aber außer den Echsen konnten sie nichts erkennen. Das Tappen wurde stärker, vor ihnen bewegten sich Büsche und dünne Stämme im gegenüberliegenden Rand des Dschungels. In der Ferne tobte ein Gewitter. Plötzlich fing der Waldrand an, sich zu bewegen. Büsche und große Zweige schoben sich den Fremden entgegen. Nach einigen Sekunden wurden die raschelnden Büsche zur Seite geworfen und ließen seltsame Wesen erkennen, die in großen Galoppsprüngen auf die Gruppe zukamen. »Zentauren!« schrie Atlan. »Achtung, Alzei!« Ebensolche Mythenwesen und Sagengestalten wie auf Pthor! meldete sich der Logiksektor. Etwa zwei Dutzend Zentauren galoppierten, einen Halbkreis bildend, auf die Gruppe zu. Die Königin schrie gellend: »Die Fosken! Wir sind Freunde!« Einige der Wesen, die den Körper behaarter Hirsche und darauf einen durchaus menschlichen Oberkörper hatten, umkreisten die Jägerin. Die Wesen mit den wilden, bärtigen Gesichtern trugen Bündel von hohlen Stäben in den Händen. Sie griffen in korbähnliche Taschen, die an geflochtenen Bändern vor ihren Bäuchen festgeschnallt waren. Dann hoben einige von ihnen die Röhren an den Mund und bliesen hinein.
Hans Kneifel »Ich kann es nicht glauben«, stellte Grizzard verblüfft fest, »es sind Blasrohre!« Aus den Körben kam dünner Rauch. Etwa fünf oder sechs der zentaurenartigen Wesen rasten auf Alzei zu und feuerten die Blasrohre ab. Niemand sah, welcher Art die Geschosse waren, aber sie schlugen wie blauschimmernde Pfeile in den Körper der Jägerin ein. Alzei griff mutig die Fosken an, die sich mit schnellen Sätzen in Sicherheit brachten und immer wieder in die hinteren Enden der Blasrohre bliesen – bösartig summend kamen die Geschosse durch die Luft und trafen Alzei. Sie war wehrlos gegen diesen Angriff. »Hört auf! Wir sind Freunde!« schrie die Königin, so laut sie konnte. Es gab keine Deckung. Nur die dürren Sträucher boten die Möglichkeit, sich gegen die Geschosse zu wehren. Die Zentauren griffen nicht direkt an, sie galoppierten auf ihr Opfer zu, feuerten die Geschosse ab und schlugen förmlich Haken, ehe sie in Reichweite des Beiles kamen. Atlan und die Kameraden zerrten Elcoy mit sich und versuchten, immer einige Büsche zwischen sich und den Fosken zu haben, als sie auf den Dschungel zu flüchteten. Die Fosken galoppierten in großen Kreisen um die Gruppe herum. Ein Teil von ihnen bewegte sich linksherum, die anderen in entgegengesetzter Richtung. Immer wieder waren zwischen dem schnellen Trappeln der Hufe die hustenden Geräusche zu hören, mit denen eines der acht gebündelten Rohre leergeschossen wurde. Neben Atlan, drei Finger von seiner Wange entfernt, bohrte sich ein Projektil in den weichen Teil eines Ästchens. Ein Insekt! stieß der Logiksektor hervor. Tatsächlich steckte ein etwa fingergroßes Insekt mit blauschimmernden Flügeln und ebensolchem Wespenkörper im Holz. Der Stachel war übertrieben groß ausgebildet, und ein Tropfen bernsteinfarbener Flüssigkeit sickerte neben der Einschlagstelle aus dem Holz. Eine Gruppe der Zentaurenwesen galop-
Der Dschungel von Dorkh pierten davon. Die behaarten Oberkörper waren weit zurückgebogen, die kräftigen Arme hielten die Blasrohre. Razamon sprang in dem Gewirr eines Busches auf, fluchte unverständlich und schleuderte, ohne zu zielen, seine Axt nach einem vorbeigaloppierenden Fosken. Der Zentaur, nur einige Handbreit kleiner als Razamon, schoß mit geblähten Backen ein Insekt in den Körper der Jägerin, die schwankend dastand und ihren Dolch in die Flanke eines Fosken geschleudert hatte. Auf ihrer weißen Haut zeichneten sich mindestens zwanzig Insekten ab, die ihre Stacheln tief in das Fell versenkt hatten. »Zurück! Wir kommen in Frieden! Ihr tötet meine Jägerin!« schrie die Königin und riß sich aus dem Griff Grizzards los. Sie rannte direkt auf die übriggebliebene Gruppe der Fosken zu. Die Wesen stiegen hoch wie Pferde, die sich aufbäumten, dann sprangen sie zur Seite und galoppierten tatsächlich davon. Atlan bemerkte aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Keine vier Meter von Razamon und also zwölf Meter von Atlan selbst knickten die Vorderläufe eines Fosken ein. Das Wesen brach in die Knie, überschlug sich mehrmals und blieb auf der Seite liegen. Am Kopf, wo Razamons Beil getroffen hatte, zeichnete sich eine blutige Beule ab. Razamon packte sein Messer, sprang aus dem Busch und lief gebückt hinüber zu dem zusammengebrochenen Fabelwesen. Die Königin und Atlan liefen in die andere Richtung. Sie rannten auf die Jägerin zu, die sich am weitesten über die Lichtung hinausgewagt hatte. Alzei stand breitbeinig da und schwankte hin und her. Ihr Beil war dicht unterhalb der Schneide abgebrochen, aber sie umklammerte schweigend den Schaft. Wieder verschwand ein Trupp Fosken hinter dem grünen, peitschenden Vorhang des Waldrandes. Alzei drehte ihren Kopf und blickte zuerst Atlan, dann Elcoy an. Sie wankte stärker. Atlan sprang hinzu und legte ihren Arm über seine Schulter. Der Atem der Jägerin ging röchelnd, als sie her-
23 vorbrachte: »Ich kann dich nicht mehr beschützen, Königin!«Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Ihr Fell fühlte sich eisig kalt an. Atlan sah in ihr Gesicht und merkte, daß sich die Augen verdrehten und schlossen. Alzei stöhnte langgezogen auf und flüsterte: »Die Stiche … sie tun so weh … ich werde müde, Königin Elcoy …« Ein Ruck ging durch den schlanken Katzenkörper. Atlan bückte sich, fing Alzei auf und ließ sie vorsichtig auf den Sand gleiten. Nach und nach lösten sich die Insekten aus dem Pelz und schwirrten sirrend davon. Alzei röchelte, und Blut floß aus ihrem Mundwinkel. »Ich werde … schläfrig …«, röchelte sie. Sie schloß die Augen, schien sich zu entspannen, dann krampften sich die Muskeln zusammen. Ihr Körper bog sich hoch, zitterte furchtbar und brach dann mit einem einzigen, wilden Ruck zusammen. Pfeifend entwich die Luft aus den Lungen der Katzenjägerin. Schweigend kam Grizzard herbei und blieb neben der Königin stehen. »Ist sie tot?« fragte er flüsternd. »Ja, Sinclair Marout Kennon«, gab Atlan zurück und stand auf. »Alzei ist tot. Wir sind nur noch vier Fremde in einer tödlichen Welt.« Razamon schien dort drüben gegen den zentaurenhaften Fosken zu kämpfen; beide Körper bewegten sich schwach jenseits der schützenden Büsche. Die drei Fremden standen schweigend und erschütternd da und starrten den weißen Körper an. An den Stellen der Einstiche traten einzelne, große Blutstropfen aus. Schließlich sagte die Königin mit gebrochener Stimme: »Sie war meine treueste und beste Leibwache. Wir müssen sie hier zurücklassen – und sie hat sich so dringend gewünscht, mit mir im Land der friedlichen Mavinen zu jagen.« »Ihre Jagd ist zu Ende«, sagte Atlan dumpf. »Sie hatte, denke ich, einen leichten Tod. Sie glaubte, sie schliefe ein.« »Wir werden Steine auf sie legen«, sagte
24 Elcoy. »Diese Fosken … warum haben sie uns angegriffen?« »Weil sie nicht wußten, daß wir friedliche Wanderer sind, die nur ihr Gebiet durchqueren wollen«, antwortete Atlan und begann schweigend, Steine zu suchen und heranzuschleppen. Razamon hatte die Armgelenke des Fosken an die Vorderläufe gebunden. Er hatte für die Fesseln die Gurte des Insektenkorbs und dünne Bänder verwendet, an denen der Foske seine Waffen und Ausrüstungsteile befestigt gehabt hatte. Wortlos sah Razamon den Freunden einige Augenblicke lang zu, dann fing er ebenfalls an, Steine von beträchtlicher Größe zusammenzutragen. Nach kurzer Zeit wölbte sich über dem Körper der toten Jägerin ein annähernd halbkugeliger Haufen sauber aufeinandergeschichteter Steine. Atlan wandte sich an Razamon und fragte: »Du hast einen Gefangenen?« Razamon nickte grimmig und zog die anderen mit sich bis zu dem Fosken, der sich gerade zu regen begann. »Er wird, falls er unser Pthora versteht, uns genaue Antworten geben müssen.« »Zuerst will Elcoy wissen, warum sie uns ohne Warnung angegriffen haben«, meinte Grizzard. »Habt ihr begriffen? Sie schießen gelähmte Insekten aus achtrohrigen Waffen. Vermutlich sind die Insekten in den Körben betäubt worden und erholen sich während des kurzen Fluges als lebendes Geschoß.« »Diese Welt mag phantastisch sein und von Geschöpfen bevölkert, die unsere Vorstellungskraft überfordern«, murmelte Atlan, »aber schließlich ist der Kosmos voll von solchen Dingen. Warum keine Insekten als Geschosse?« Nach einer Weile setzte er hinzu: »Wir haben ja sehen müssen, daß diese Waffe tödlich ist.« Grizzard/Axton hob das Blasrohr des Fosken auf. Es hatte einen einfachen Griff und ein Mundstück, in das sich nacheinander die acht Rohre drehen ließen. Die Drehung wurde wohl mit einem Finger vollzogen, die
Hans Kneifel Rohre waren knapp armlang. Der Foske schlug mit den schlanken, sehnigen Hinterbeinen aus und stöhnte. Atlan setzte sich auf einen Stein und blickte Schultern und Kopf des Fosken an. Dieses Wesen wirkte gleichermaßen scheu und hochintelligent. Die Augen, die jetzt verwirrt zwinkerten, waren groß, dunkel und mandelförmig. Der Schädel, schmal und knochig, trug einen weit ausladenden Schnurrbart, der strahlend gelb war, im Gegensatz zu dem Fell, der Haut und der starken Schutzbehaarung. Sie war zwischen hellbraun und schwarz und glänzte seidig. Anders als die Snorv-Geister schien dieses Wesen tatsächlich ein Gesprächspartner für die vier Fremden zu sein. Atlan sagte langsam in deutlich betontem Pthora: »Ihr habt unsere Jägerin getötet.« Undeutlich antwortete der Foske, der sich trotz der Fesseln aufzurichten versuchte: »Ich war nicht bei den Schützen. Ich bin Späher. Ihr habt unser Gebiet betreten, ohne uns zu fragen.« »Wir haben niemanden fragen können«, erklärte Razamon mit grober Stimme, »weil wir niemanden sahen. Als ihr eure Tarnung weggeworfen habt, war es schon zu spät. Habt ihr nicht gehört, was Elcoy euch zuschrie?« »Ich bin nicht dafür verantwortlich.« Atlan hob die Schultern und sah unter dem Fell die breiten Muskeln des Fosken in dem vergeblichen Versuch spielen, sich loszureißen und davonzugaloppieren. Er hob warnend die Hand und deutete auf seinen Dolch. »Wir kommen aus Tarthor und haben gegen die bleichen Snorv-Geister gekämpft. Wir sind auf dem Weg zum Sirva-Gipfel. Wir werden einen Führer brauchen. Willst du unser Führer sein?« »Warum nicht? Ich bin Späher.« »Wir kommen am Sort-Quahr-Vihn vorbei!« stellte die Königin fest. »Und wir kennen nur wenige Gefahren dieses Waldes.« »Im Heiligtum befindet sich in der Sonnenvitrine der Schatz der Verbundenheit«, antwortete der Foske. Erst jetzt schien er sei-
Der Dschungel von Dorkh nen schmerzenden Schädel zu spüren. »Wir hörten davon«, sagte Razamon. »Wir wollen dorthin.« »Die Zyklopen töten jeden, der sich nähert.« »Dann muß dieser Schatz für Dorkh eine große Bedeutung haben. Um was handelt es sich bei der Sonnenvitrine?« »Wir sind noch niemals in den blauschillernden Palast eingedrungen. Nicht einmal ich, Berringer, der Späher«, sagte der Foske zurückhaltend. Er schien vor dem bloßen Gedanken zurückzuschauern. Die Vitrine und der Schatz könnten euch Hinweise über die wahre Bedeutung von Dorkh geben. Vielleicht erfahrt ihr, was euch Duuhl Larx nicht sagte! meinte der Extrasinn. Die vier Fremden standen und saßen vor dem gefangenen Fosken. Noch herrschte eine feindliche Stimmung; es fehlte jegliches Verständnis für den überraschenden, tödlichen Angriff der vierfüßigen, eleganten Wesen. »Ihr kennt den SirvaGipfel und das Reich der Mavinen?« fragte die Königin schroff. »Keiner von uns war jemals auf dem Gipfel. Wir wissen, daß er jenseits des Jagdteppichs liegt.« »Jagdteppich?« fragte Razamon kurz. »Und das Mavinenreich?« Der Gefangene hörte mit seinen verzweifelten und nutzlosen Versuchen auf, sich zu befreien und erwiderte: »Die Steppe vor den Bergen wird seit alters her so genannt. Von einem solchen Reich weiß ich nichts. Und ich bin Berringer …« »… der Späher. Bekannt«, sagte Grizzard. »Wie kommen wir zu dem Heiligtum?« »Ich kann euch führen.« »Werden wir wieder angegriffen?« »Nicht, wenn ich bei euch bin.« Die Sprache, in der Berringer antwortete, war ähnlich dem Pthora. Oder beide Sprachen stammten aus gemeinsamen Wurzeln. Jedenfalls bereitete die Verständigung nur geringe Schwierigkeiten. Atlan wußte nicht,
25 ob der Foske die Wahrheit sprach, was seine Bereitwilligkeit betraf. Der Arkonide versuchte eine Art Übereinkunft auszuhandeln. »Hör zu, Berringer«, sagte er langsam. »Wir sind weder besser bewaffnet als ihr, noch haben wir Schätze, die ihr uns abnehmen könntet. Wir versuchen, dieses Geschöpf zu seinesgleichen zu bringen. Deswegen werden wir, wenn wir immer in die Richtung der untergehenden Sonne wandern, an dem Heiligtum vorbeikommen. Hast du begriffen, was ich sagte?« »Ja. Eure Sprache ist fremd, aber ich verstehe sie gut.« »Es lohnt sich auch nicht, uns zu töten oder zu versklaven. Wir haben euch gegenüber kaum Chancen. Bringe uns, nachdem wir uns bei euch etwas ausgeruht haben, mindestens zum Heiligtum.« Razamon riskierte es, einen Arm und einen Vorderfuß von den Fesseln zu befreien. Der Foske bot einen bemitleidenswerten Eindruck. Das Blut an seiner Schläfe trocknete. Es war in die schwarze Mähne aus langem, lockigem Haar gesickert. »Ich kann euch begleiten und vor einigen Gefahren schützen«, sagte der Foske. »Unser Volk ist scheu, müßt ihr wissen. Wir erfahren nichts als Gefahren aus dem Wald, deswegen wagen wir uns nicht weit über die Grenzen unseres Gebietes hinaus.« »Befinden wir uns in eurem Gebiet?« »Ja. Die Grenze ist der Waldrand dort.« »Du wirst natürlich fliehen, wenn ich deine Fesseln aufknüpfe, nicht wahr?« fragte der Berserker. »Ich bleibe. Ich bin Berringer, der Späher. Mein Wort ist ein Versprechen!« Das Gesicht des Fosken spiegelte so etwas wie Entrüstung wider. Razamon bückte sich und löste die Knoten auf der anderen Seite. Mit einem halben Sprung kam der Zentaur auf die Beine, schüttelte sich und faßte mit der Hand nach der blutverkrusteten Beule. Er hob sein Blasrohr auf und schob es in ein Futteral auf seinem Rücken. Aus dem Korb voller gelähmter Projektil-Insekten stieg ein Rauchfaden auf, der nach Harz
26 stank. »Bleibt in meiner Nähe«, sagte Berringer. »Es führen viele Pfade durch den Wald. Es sind die Straßen der schnellen Fosken. Ich bringe euch zuerst in eine kleine Siedlung, die für wenige Tage leer ist.« »Einverstanden. Warum ist sie leer?« »Viele von uns sind nach Norden aufgebrochen. Wir jagen bestimmte Tiere, von denen wir abhängig sind.« Berringer hielt sein Wort. Während sie durch den stärker werdenden Nebel über die sandige Fläche gingen, trabte der Foske vor ihnen her. Er schien tatsächlich jeden Quadratmeter des Geländes genau zu kennen. Schweigend beobachteten Atlan und Razamon die Gestalt dieses Fabelwesens. Atlan bemerkte zu seinem Freund: »Wieder einmal ein sagenhaftes Relikt aus der Vorzeit der Erde. Falls die Menschen Kontakt mit Zentauren hatten, könnten es die Vorfahren von Berringer gewesen sein.« »Oder die Ahnen eines anderen Berringers aus einem anderen Teil des Universums!« gab Razamon zurück und stieß ein kurzes Lachen aus. Als Atlan ihn von der Seite anblickte, erschrak er. Die Spuren der letzten Tage hatten sich tief im schweißüberströmten, schmutzigen Gesicht des Berserkers festgesetzt. Sein schwarzes Haar war naß vom kondensierenden Nebel und verfilzt. Schmutz und Pflanzenteile steckten darin. Grizzard und Atlan selbst sahen nicht anders aus. Jetzt lockte sie die Aussicht auf ein ruhiges Fleckchen inmitten des Dschungels, im Schutz der angeblich scheuen Fosken. »Du hast recht. Es wäre vermessen, anzunehmen, daß es nur auf Dorkh zentaurenähnliche Lebewesen gibt.« »Berringer, den Späher, gibt es nur hier. Wohin bringt er uns?« »Auf alle Fälle zurück in den Blutdschungel.« Die Büsche wurden von Berringer auseinandergeschoben. Dahinter war ein breiter Pfad zu erkennen, der über trockenem Ge-
Hans Kneifel lände ins Innere des Waldes hineinführte. Zahllose Hufabdrücke ließen den Pfad wie gerastert erscheinen. Verglichen mit dem mühsamen Weg zur Lichtung war es ein Vergnügen, dem Fosken zu folgen. Die Königin blieb an der Grenzlinie zwischen Lichtung und Dschungel stehen und warf einen langen, schweigenden Blick auf den Steinhügel. Nicht nur die drei Männer von Pthor, sondern auch der Foske warteten, bis Elcoy zurückkam und sich an dem breiten Flechtgürtel des Zentauren festhielt. Über leere Pfade, vorbei an kleinen Tümpeln voller betäubend riechender Blüten, unter triefenden dunklen Blattdächern kamen sie nach Stunden an einen Platz mitten im Dschungel, der sich von allem bisher Gesehenem gründlich unterschied. Riesige Felsblöcke, eine Schlucht und frei stehende, mächtige Bäume gruppierten sich um einen sandigen Platz. Einige Feuerstellen, umgeben von geschwärzten Steinen, und die scharf ausgetretenen Wege der Foskenhufe kennzeichneten die leere Fläche. Über einen Felsen rauschte ein kleiner Wasserfall. Der erste, überraschende Eindruck auf die Fremden war der eines Traumbilds, das sich nun erfüllte. Es fehlte nur das Sonnenlicht, denn knapp über den Baumkronen wehten bereits die Nebelschwaden. »Herrlich!« stieß Elcoy hervor. »Hier wird uns niemand angreifen.« »Es ist Fosken-Land«, bekräftigte Berringer. »Ihr findet alles in den Hütten. Nach etwa drei Tagen kommen die Besitzer wieder zurück.« »Wir werden nur benutzen«, versprach Atlan und meinte es ehrlich, »was wir wirklich nötig brauchen. Wir richten keine Schäden an.« »Ich bleibe bei euch!« sagte der Foske und deutete auf Hütten, die teils auf dicken Pfählen standen, teilweise an den Gabelungen und untersten Ästen der Bäume mit Lianen festgeknotet waren. Die spitzen Giebel waren mit dichten Schichten aus langen, rostfarbenen Blättern gedeckt.
Der Dschungel von Dorkh »Wir hätten noch einige Tage so weiterrennen können«, sagte Razamon lachend, »aber genau in dem Moment, wo man solche Oasen der Stille und des Friedens sieht, überfällt die Müdigkeit jeden mit explosiver Gewalt.« »Wie meistens hast du auch jetzt recht, Razzie!« grinste Grizzard und fing die Königin auf, die Berringers Gurt losgelassen hatte und vor Schwäche stolperte. »Suchen wir unser Lager aus!« Die Fremden waren schnell fertig. Sie fanden heraus, daß die Lager der Fosken auch ihnen einige Bequemlichkeit boten. Berringer schleppte eine Vielfalt von Nahrungsmitteln und eine Art Fruchtwein herbei. Die Einrichtungsgegenstände der Hütten entsprachen humanoiden Ansprüchen; sie waren einfach, aber völlig ausreichend. Die letzten Gedanken vor dem Einschlafen beschäftigten sich nicht nur mit dem traurigen Tod der Jägerin, sondern auch mit dem nächsten Ziel, das nicht mehr als ein Teilziel sein konnte. Was wartete in der Sonnenvitrine auf die Männer von Pthor?
* Nach zwei Tagen Wanderung, diesmal ohne Überfälle und Fallen, riß wieder der typische feuchte Dschungel auf. Berringer hatte bestätigt, daß viele kleine Gruppen von Fosken die Wanderer begleitet hatten. Aber, scheu wie sie waren, blieben die Zentauren stets unsichtbar und vermieden jeden direkten Kontakt mit den Eindringlingen. »Hier muß ich euch allein lassen!« sagte der Foske nach einigen nervösen Trippelschritten und vermied es, nach Westen zu blicken. »Angst?« fragte Razamon hart. Berringer zitterte tatsächlich und verhielt sich nicht viel anders als ein nervöses, erschrecktes Reittier. Seine zierlichen Hufe warfen Grasreste und Erdbrocken hoch. »Ja. Ich habe mein Äußerstes getan. Kein
27 Foske hat sich in den letzten Jahren diesem Ort genähert. Ich wagte mich so weit vor wie möglich – ich kann nicht weiter. Ihr werdet das blauschimmernde Gebäude allein finden können.« »Hast du Angst vor den Zyklopen?« meinte der Arkonide und versuchte, den wahren Grund der Angst ihres Führers zu erkennen. »Auch vor ihnen habe ich Angst. Jeder Foske hat vor den Zyklopen Angst. Nur dann, wenn sie in unser Gebiet eindringen würden, könnten wie die Angst und die Scheu überwinden. Dann allerdings …« Er hob das Bündel Blasrohre hoch und schüttelte es. »Aber sie haben es noch nicht gewagt?« fragte Elcoy und senkte den Kopf. Ihr Zustand war eigenartig. Zwar hatte sie sich in den Tagen der Ruhe erholt, ihr Fell war wieder weiß und glatt geworden, die Wunden schlossen sich dank der Salben und Flüssigkeiten der Fosken. Aber eine tiefe Mattigkeit drückte Elcoy nieder. Vielleicht war sie krank. Falls dies zutraf, konnten Atlan und seine Freunde nur auf ein Wunder warten, denn sie hatten keine Ahnung, wie sie geheilt werden konnte. »Nein. Jedenfalls nicht solange ich es weiß«, sagte Berringer zitternd und tänzelte um die Gruppe herum. Für einen Augenblick zeigte sich die Sonne zwischen den Nebelschwaden. Dort, wo sich das sogenannte Heiligtum befinden mußte, blitzte ein mächtiger Reflex auf. »Ihr seht es. Die Stelle ist verrufen und gefährlich!« stotterte Berringer. »Ein Späher, der sich fürchtet …«, sagte Razamon. Er hatte die Hütten der unsichtbaren Gastgeber vergeblich nach einer Waffe durchsucht, die er brauchen konnte. Jetzt hielt er das stumpfgewordene Beil der einstigen Königin in der Hand. »Jeder Foske fürchtet sich. Nicht nur ich.« Atlan ging auf ihn zu und ergriff den Unterarm Berringers. Der Zentaur schüttelte wild seine schwarze, langhaarige Mähne.
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Hans Kneifel
Der Arkonide lächelte beschwichtigend und sagte eindringlich: »Ich sehe ein, daß es sinnlos ist, dich zu bitten. Wir dringen ohne dich zum Heiligtum vor, Berringer. Wir danken dir für alles: die Führung, die Ruhe und das Essen. Vielleicht treffen wir uns wieder einmal, und dann wird vielleicht alles anders aussehen. Nochmals – galoppiere zurück zu deinen Leuten und sage ihnen, daß wir, trotz des Überfalls, euch danken.« »Schon gut«, antwortete der Foske. Obwohl er Atlan genau verstanden hatte, wich die Furcht nicht von ihm. Er lächelte verzerrt und bewegte sich rückwärts zurück zum Dschungel. »Viel Glück!« rief er, warf sich herum und raste in holprigem Galopp zurück in den Blutdschungel. Die Büsche zitterten, die Zweige schlossen sich hinter ihm. Binnen weniger Sekunden wurden die Hufschläge unhörbar. Grizzard spuckte aus und beschattete seine Augen mit der flachen Hand. Er blickte in das fast flache, nur leicht gewellte grüne Land mitten im Dschungel hinein. Der Lichtblitz war verschwunden – aber er hatte den vier Freunden gezeigt, wo sie SortQuahr-Vihn finden konnten. »Danke, Berringer.« Grizzard/AxtonKennon hatte diese Worte geflüstert. Er straffte seine Schultern und schätzte die Entfernung zum Heiligtum ab. Seit Tagen ging ihm der merkwürdige Name im Kopf herum, aber weder Berringer noch Atlan hatten eine Erklärung für diesen Ausdruck finden können. »Wir gehen«, sagte überraschenderweise Elcoy. Eigentlich hätte sie das Gegenteil vorschlagen müssen, ihrem Zustand und ihrer Überzeugung entsprechend. »Wir hätten eine Blasrohr-Ausrüstung mitnehmen sollen«, brummte Grizzard. »In Ordnung, Majestät. Ich helfe dir, Elcoy.«
* Gegen Mittag sahen sie zum erstenmal das Heiligtum in voller Ausdehnung. Es er-
hob sich in einem Tal zwischen zwei sanften Hügeln, und zwar dergestalt, daß es den Raum zwischen den Kuppen nicht nur ausfüllte, sondern auch überragte. Säulenreihen, Kolonnaden und Traversen, lange Sockel und Freitreppen schimmerten und leuchteten in einem intensiven Blau. Die Farbschicht wirkte, als sei sie aus Emaille. Das Licht der Sonne, die in dieser Zeit durch ein riesiges Loch in den Wolken und im Hochnebel fast senkrecht herunterbrannte, verwandelte das Heiligtum in eine faszinierende Ansammlung von Farbe, Reflexen und Schönheit. »Tatsächlich«, murmelte Grizzard verwundert. »Mitten im Blutdschungel und von riesenhaften Ausmaßen!« »Und von einer klassischen Schönheit, die auch auf uns wirkt, obwohl wir nicht in der Kultur von Dorkh aufgewachsen sind«, gab Atlan staunend zu. Sort-Quahr-Vihn bestand aus ineinander verschachtelten flachen Bauwerken von lauter rechten Winkeln. Flache Dächer verwandelten die Sonnenstrahlen in funkelnde Blitze. Die Säulenreihen bildeten verblüffende Perspektiven. Zwischen den Säulen und den einzelnen, gepflegt wirkenden Bäumen erstreckte sich Rasen. Blauleuchtende Treppen führten aus verschiedenen Teilen des Dschungels ins Innere der umlaufenden Gebäude. Im Zentrum erhob sich eine Formation, die sich von einem klassischen griechischen Tempel nur wenig unterschied – allerdings glänzte, leuchtete und funkelte alles in blauer Farbe. »Ein würdiger Platz für die Sonnenvitrine und den Schatz der Verbundenheit«, rätselte Atlan. »Zugegeben. Es sieht sehr bedeutend aus«, bekräftigte Razamon den allgemeinen Eindruck. Zyklops, sagten sich Atlan, Razamon und Sinclair Kennon in Grizzards Körper, war der einäugige Riese aus der griechischen Sagenwelt. Er war von Odysseus, dem listigen Abenteurer, geblendet worden. Sie mußten annehmen, daß die so genannten Zyklopen –
Der Dschungel von Dorkh die Wächter des Heiligtums – ihm ähnlich waren: riesiger Wuchs, eine gewisse Einfältigkeit, große Körperkräfte und ein Auge über der Nasenwurzel, was andererseits bedeutete, daß die Zyklopen nicht stereoskopisch sehen konnten und ihre Umwelt nur zweidimensional wahrnahmen. So kann es sein – oder auch ganz anders, sagte der Logiksektor. »Du hast natürlich vor, Atlan, einzudringen?« fragte die Königin und ging weiter, schwer auf Grizzards Arm gestützt. »Wenn es nicht unmöglich ist, werde ich den Schatz der Verbundenheit genauer ansehen«, erklärte er. Die Eindringlinge hatten eine anscheinend leichte Strecke vor sich. Zunächst führte ihr Weg durch hohes Gras, das mit verschiedenfarbenen, etwa halb mannshohen Büschen durchsetzt war. Noch war nichts von den Zyklopen zu sehen, aber schon nach kurzer Zeit kamen die Wanderer an einen breiten, ausgetretenen Pfad. Zehn Schritt nach rechts, und hier lag ein großes, weißgebleichtes Skelett. Grizzard deutete darauf und sagte knapp: »Ein Foske!« Die tempelähnliche Anlage verschwand jetzt hinter einem Hügel, und Bäume schoben sich vor die ersten Treppen und Rampen. Einige Sekunden lang blieben die Fremden stehen und versuchten zu erkennen, ob Grizzards Bemerkung stimmte oder nicht. »Es können tatsächlich die Gebeine eines Fosken sein«, murmelte Razamon später. »Aber es ist durchaus denkbar, daß es sich um ein Tier ähnlicher Größe handelt.« »Ein Zeichen, daß wir die Zyklopen nicht unterschätzen dürfen«, erklärte Atlan. »Weiter, Freunde.« Sie hinterließen eine deutliche Spur in den feuchten Gräsern, die sich nur langsam wieder aufrichteten. Sie drangen von Busch zu Busch vor, weil unterhalb der Büsche und der verkrüppelten Bäume kein Gras wuchs und daher weniger Fußabdrücke zu sehen waren.
29 »Wenn der Foske so viel Angst vor den Zyklopen hatte, dann muß es sicherlich einen Grund haben.« »Ganz bestimmt. Ich ahne, daß wir diesen Grund schneller herausfinden, als uns lieb ist.« Irgendwo dort vorn stand im Zentrum des Tempels oder Heiligtums die Sonnenvitrine. Atlan hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was es war und bedeutete, aber die Bezeichnung klang vielversprechend. Etwa zwei Stunden später hoben die vier Eindringlinge ihre Köpfe über eine Barriere aus Steinen, kargen Büschen und halb abgestorbenen, halb verkrüppelten kleinen Bäumen. Etwa tausend Meter vor ihnen, jenseits einer völlig ebenen Fläche aus niedrigem Gesträuch, fing die erste Rampe an. Soweit die Fremden es sehen konnten, waren die Stufen und alle Teile des Aufgangs peinlich sauber; zweifellos ein Werk der Zyklopen. »Siehst du einen einzigen Zyklopen?« flüsterte Grizzard/Axton. Atlan zischte zurück: »Ja. Ganz links. Am Ende des ausgetretenen Pfades. Drei schwarzhäutige Gestalten. Aber kleiner als die Zyklopen der Heldensagen.« Ihre Köpfe fuhren herum. Keine zweihundert Schritte von ihnen entfernt kamen zuerst drei, dann weitere vier Gestalten hinter einem Baum hervor. Schweigend starrten die Fremden hinüber. Die Wächter von SortQuahr-Vihn waren groß und breitschultrig, aber nur unwesentlich wuchtiger als beispielsweise Atlan. Ihre kantigen Schädel waren seltsam: ein großes Auge befand sich in der Mitte der Stirn, und an der Stelle, an der sonst die »menschlichen« Augen saßen, erkannte Atlan schmale Augenschlitze, aus denen es weiß leuchtete. Sie erinnerten ein wenig an die Augen der blinden Bildhauer-Gnomen unter dem Wasserfall des Nebellands. Die Zyklopen trugen helle Lappen um die Hüften, die wie Lendenschurze aussahen und aus demselben Organmaterial gefertigt schienen wie die Ponchos und Stiefel der Männer von Pthor. Über den Schultern hielten die Wächter lange Stöcke, deren Enden
30 mit blinkenden Metallteilen beschlagen waren. »Berringer hätte seine helle Freude«, flüsterte Elcoy, dann stöhnte sie auf und preßte ihre Krallen in der Gegend des Magens in ihren Körper. Sie krümmte sich hinter dem Steinwall und sank mit leisem Wimmern zu Boden. »Ist dir schlecht?« fragten Razamon und Grizzard bestürzt und beugten sich über sie. Ihr Atem ging pfeifend. Aber nach kurzer Zeit richtete sich Elcoy wieder auf und wisperte entschuldigend: »Mir wurde schwindelig. Es ist schon vorbei. Alles wieder in Ordnung, Freunde.« Die Zyklopen kamen näher. Sie gingen nebeneinander und untersuchten mißtrauisch und wachsam die Zone neben dem Pfad. Wieder drang ein Sonnenstrahl durch den Nebel und ließ den Palast aufschimmern und strahlen. Geblendet blinzelten die Fremden, aber die Zyklopen schienen nicht im mindesten beeindruckt. »Ich muß in den Palast hinein!« sagte Atlan entschlossen. Razamon knurrte: »Es geht nur, wenn wir die Zyklopen nachhaltig und für längere Zeit ablenken.« »Aber keinesfalls durch einen Kampf, denn dann steht der Verlierer schon jetzt fest«, unterbrach Elcoy. »Feuer?« Razamon tastete nach seinem erstaunlich zuverlässigen Feuerwerkzeug im Organstoff-Gürtel. »Das läßt sich leicht machen. Was soll ich anzünden?« »Abwarten!« ordnete Atlan an. Die sieben Zyklopen schienen nicht über besondere Fähigkeiten zu verfügen. Es waren, so wie sie sich verhielten, normale Wesen, die ihrer Aufgabe gewissenhaft nachgingen. Zwei von ihnen blieben auf dem Pfad, der Rest verteilte sich über den Geländestreifen und untersuchte die Büsche, kontrollierte die Bäume und schlug mit den metallbewehrten Stäben ins hohe Gras. Ab und zu wurde ein kleines Tier aufgescheucht oder eine Gruppe von langbeinigen Vögeln,
Hans Kneifel die aufgeregt schreiend mit heftigen Flügelschlägen aufflatterten. Die Zyklopen sprachen weder miteinander, noch riefen sie sich Kommandos oder Fragen zu. Sie verrichteten ihre Arbeit mit der ruhigen Selbstverständlichkeit gut funktionierender Maschinen. Der Sonnenstrahl wanderte über einen Teil der blauschimmernden Säulen und Dächer, dann erlosch der Balken, der wie ein gigantischer Scheinwerfer wirkte. Wolken und Nebelschwaden schlossen sich wieder zu einer dichten Decke. Die Landschaft, nun plötzlich ohne jeden Glanz, bekam einen düsteren Charakter. Zu dieser Stimmung paßten auch die schwarzen Zyklopen, die wie Gestalten aus einer noch phantastischeren Welt wirkten. Ein Windstoß kam heran, ließ die Gräser in langen Wellen zittern und brachte den Geruch von frisch gefallenem Regen mit sich. Atlan dachte kurz nach, legte sich seinen Plan zurecht und zog Razamon an der Schulter zu sich heran. »Der Wind treibt die Flammen nach Osten. Wenn es uns beiden gelingt, bis zum Tempel vorzustoßen und Feuer zu legen, werden die Zyklopen in die gewünschte Richtung laufen.« »Das könnte funktionieren«, meinte Razamon. »Wir schlagen also einen großen Bogen nach links. Dort gibt es Deckung.« »Gut. Einverstanden.« Die sieben Gestalten befanden sich jetzt genau zwischen der Rampe und dem Versteck. Sie waren nicht mehr als fünfzig Meter entfernt. Auch an anderen Stellen, jedoch weiter entfernt, sahen die Fremden kleinere Gruppen der Wächter. Sie kontrollierten tatsächlich das gesamte Gebiet rund um das Heiligtum. Aber sie legten weder Begeisterung noch sonderlich großen Eifer an den Tag; jene Gestalten, die an irdische Sagen erinnerten, bewachten den Tempel wohl schon seit undenkbar langer Zeit, ohne daß sie ernsthaft herausgefordert worden wären. »Alles klar?« fragte Grizzard/Axton und robbte neben Elcoy her auf den nächsten
Der Dschungel von Dorkh Baum und das Buschwerk um dessen Wurzeln zu. »Wir gehen genau wie abgesprochen vor«, antwortete Atlan. Sie schlichen durch das Gras, vorbei an Steinen und unter Büschen entlang, näherten sich langsam und mit äußerster Vorsicht dem Baum, neben dem sie zum erstenmal die Zyklopen gesehen hatten. Bis zum Anbruch der Dunkelheit hatten sie noch etwa sechs, sieben Stunden Zeit. Razamon blieb zurück, legte Feuerstein, Schwamm und Metall zurecht und fing an, aus dem Stein Funken zu schlagen. Der erste Hieb, der einen Funkenschauer von der Reibfläche sprühen ließ, erzeugte ein völlig ungewohntes Geräusch, das Atlan und seine Freunde erschrocken zusammenfahren ließ. Aber sowohl Grizzard, der nach links Ausschau hielt, als auch die Königin, die hinter den patrouillierenden Zyklopen herblickte, hoben nach einigen Sekunden die Daumen senkrecht in die Höhe. Wir sind nicht bemerkt worden! sagte der Logiksektor zufrieden. Razamon schlug weiter, blies auf den trockenen Schwamm, erzeugte ein winziges Flämmchen und entzündete daran trockene Halme, dann ein Bündel Gras, schließlich brannte vor seinem Gesicht ein etwa einen Meter breiter Streifen Gras. Noch gab es nur viele kleine Flammen, aber keinen Rauch. »Grizzard! Elcoy!« rief Atlan unterdrückt. »Dort entlang, und hinauf in den Baum.« Sie huschten davon, überwanden in blitzschnellen Sprüngen einige Hindernisse und kletterten jenseits des Pfades in die Krone eines dichtbelaubten Baumes. Sie schienen in Sicherheit zu sein. »Und wir kümmern uns um die Tempelanlagen und die Sonnenvitrine«, brummte Razamon und rannte, einen brennenden Zweig in der Hand, hinter Atlan her. Sie näherten sich hakenschlagend der letzten Deckungsmöglichkeit vor dem Anfang der Rampe. Während Atlan weiter durch die Gräser robbte und nur ab und zu den Kopf hob, zündete Razamon an drei Stellen das
31 Gras an. Die Flammen des ersten Streifens schlugen hoch und brannten in breiter Front. Jetzt fing das Gras auch zu rauchen an. Der Wind fachte das Feuer weiter an und trieb es auf den Rand des Waldes zu. Die Zyklopen wurden auf die Rauchwolken aufmerksam. Sie blieben stehen, rissen die Kampfstöcke von den Schultern und rannten auf die Stelle des Brandes zu. Der Rauch stieg höher und breitete einen dichten, dunkelgrauen Vorhang zwischen den Bäumen und der Rampe aus. Nach wenigen Sekunden erhoben sich auch seitlich des letzten Baumes eine Flammenwand und eine Rauchwolke, die sich rasch vergrößerten und direkt auf die heranstürmenden Zyklopen zuwalzten. Razamon zog sich in die Richtung auf den einzelnen Baum zurück, in dessen Zweigen Elcoy und Grizzard kauerten. Der Baum war von den Flammen nicht mehr bedroht. Die beiden Brandherde näherten sich einander und griffen schließlich aufeinander über. Eine breite, halbmondartig gekrümmte Walze aus Feuer und Rauch rollte über den Pfad hinweg, halb nach Norden und halb nach Westen und auf die Zyklopen zu. In diesem Moment sprang Atlan auf die unterste der wenigen Stufen. Auch der Stein unter seinen Sohlen war von strahlendem Blau. Er wirkte wie lackiert, schien aber tatsächlich so etwas wie blauer Halbedelstein zu sein. Dann rannte er in einem schnellen Spurt, das Beil in der Hand, die Rampe aufwärts und blieb stehen, an eine Säule gelehnt. Das Material unter seinen Fingern und an seiner Wange war wunderbar kühl und schien dasselbe zu sein wie die anderen Teile: bearbeiteter, geschliffener Stein von einzigartig durchgehender Farbe. Atlan warf einen langen, prüfenden Blick in die Richtung des Feuers. Razamon war nicht mehr zu sehen. Er klammerte sich an die Zweige des Baumes und versuchte die weiteren Reaktionen der Zyklopen abzuschätzen. Die erste Gruppe
32 hatte in rasendem Lauf die Stelle erreicht, von der aus das Feuer seinen Weg genommen hatte. Aus anderen Teilen des Geländes kamen andere Wächter einzeln und in Gruppen herangestampft. Am Rand des Dschungels sah Atlan von seinem höher gelegenen Platz einen Fosken in gestrecktem Galopp nach Norden laufen. Er schien sich vor der immer größer werdenden Rauchwolke zu fürchten, anders konnte Atlan seine Bewegungen nicht deuten. Wieder einmal schien das Glück die Fremden für eine Zeitlang zu begleiten. Atlan warf sich herum und rannte zwischen den Säulenreihen dorthin, wo er das Zentrum der Anlage vermutete. Bereits hinter der Steinbarriere hatte er Teile seines Weges vorausgeplant. Niemand hielt ihn auf. Er zählte etwa fünfzig Säulenpaare, die das flache Dach einer Art Terrasse trugen. Dann öffnete sich in den seitlichen Mauern ein breiter Durchgang ohne Tore oder Gitter. Er sprang hinein und sah sich, nachdem er durch einen winzigen Innenhof gerannt war, einer abwärts führenden Treppe gegenüber. Rechts, durch eine verwirrende Kulisse von Säulen und kleinen Ebenen hindurch, erkannte er jenseits des Tempels eine Ansammlung runder, spitzkegelig gedeckter Hütten. Als er zögerte und schließlich doch die Treppe betrat, sah er voraus eine einsame Gestalt. Sie schien zu stehen oder sich in Zeitlupe zu bewegen, ein hagerer, zweieinviertel Meter großer Mann in einem weiten Gewand. Die Betreuer von Quah-rVihn? rätselte der Logiksektor. Atlan blieb stehen und betrachtete den Mann einige Zeit lang. Er schien zwischen den Säulen stehengeblieben zu sein und sah nicht in Atlans Richtung. Ein hagerer Riese mit kahlem Schädel; wie ein Mensch von der Erde aussehend, aber auf eine noch nicht erklärbare Weise fremdartig. Atlan sagte sich, daß von diesem einzelnen Priester keinerlei Gefahr für ihn selbst ausging, und stürmte die Stufen abwärts. Von draußen hörte er schwach das Brausen und Knattern des Feuers, das sich ausge-
Hans Kneifel breitet hatte und, wie er hoffte, alle Wächter für möglichst lange Zeit ablenkte. Am Ende der Treppe breitete sich eine große Halle aus. Auch sie war von vier Doppelreihen blauer Säulen gestützt. Das Dach war nicht völlig flach, sondern lange Fenster ließen das Licht herein, nicht aber den Regen, wenn ihn nicht der Sturm peitschte. In der Halle herrschte ein merkwürdiges Zwielicht, das durch durchdringende Blaufärbung aller Gegenstände noch verstärkt wurde. Atlan trat langsam zwischen den Säulen auf das Zentrum der Halle zu. Von hier aus gab es keinen Ausblick ins Freie. Nur weiter vorn schienen sich die glatten Wände wieder zu einem weiteren Durchgang zu öffnen. Die Halle mit einer Kantenlänge von etwa siebzig Metern war völlig leer. Nicht ein einziges abgestorbenes Blatt lag auf der blauen Fläche. Atlan spannte seine Muskeln und rannte in einem einzigen Schwung quer durch die Halle auf den angedeuteten Ausgang zu. Wo war die Sonnenvitrine? Er wußte, daß er nicht viel Zeit hatte. Als er den Raum zwischen den abschließenden Säulen passierte, die ein wenig weiter auseinander standen, sah er rechts und links von sich zwischen anderen Säulengruppen jeweils zwei Priester. Diesmal erkannte er sie genauer. Der faltige Hals, ein schmaler und spitz zulaufender Kopf von erschreckend bleicher Farbe, mit riesigen dunklen Augenhöhlen, die dürren Unterarme mit den langen, spinnenartig dünnen und unbewegten Fingern, die aus den weiten Ärmeln der Gewänder hervorsahen – es war Atlan, als wären jene Lebewesen einem ganz anderen Zeitablauf unterworfen. In einem kurzen Augenblick, in dem Atlan die statuenhaft dastehenden Betreuer ins Auge faßte, bewegten sich nur die Finger und die Arme. Auch diese Bewegung lief unnatürlich langsam ab. Atlan ahnte, daß ihm von diesen langsamen Wächtern keine Gefahr drohte. Er rannte wieder los, passierte die Säulen und den Mauerdurchbruch und lief in einen kurzen, gedeckten Korridor hinein.
Der Dschungel von Dorkh Fünfzig Schritte vor ihm stand die Sonnenvitrine! Es gab keine andere Möglichkeit. Auf zwei blauen Sockeln stand oder lag ein erstarrtes Stück Sonnenlicht. Ähnlich wie ein etwa zehn Meter langer Glasstab, der rund einen Meter Durchmesser aufwies, breitete sich die Vitrine quer vor dem Arkoniden aus. Aber der Vergleich war nicht ganz zutreffend: kein Glas und kein Kristall hätten die Leuchtkraft und die Intensität der sogenannten Vitrine haben können. Das Material funkelte und leuchtete und entwickelte eine blendende Intensität. Jetzt erkannte der Arkonide, warum die Vitrine diesen Namen haben mußte – er entsprach, auch ohne mythologische Überhöhung, dem ersten und unmittelbaren Eindruck. Etwas langsamer ging Atlan an die Vitrine heran. Im Innern der Vitrine lagen oder schwebten zwei Gegenstände, deren Anblick Atlan zusammenzucken ließ. Ein Parraxynt-Bruchstück und ein Knochen der Yuugh-Katze! wisperte der Extrasinn voller Verblüffung. Hinter sich hörte Atlan schnelle, leise Schritte. Er drehte sich herum und hob im ersten Reflex das Beil, aber als er Razamon sah, nickte er dem Freund schweigend zu und winkte ihn heran. »Du wirst es nicht glauben«, murmelte Atlan. »Es gibt deutliche Verbindungen zwischen Pthor und Dorkh. Hier!« Schweigend betrachtete Razamon die Vitrine und ihren merkwürdigen Inhalt. Dann murmelte er, mindestens ebenso verblüfft wie sein Freund: »Ein Quork, Zahlungsmittel auf Pthor. Dreißig Millionen dieser kleinen, gravierten Knochen der Yuugh-Katze soll es dort geben. Dieser Quork ist allerdings nicht graviert. Vielleicht ist er ein Schlüsselknochen für die Zusammensetzung der riesigen Menge knöcherner Einzelteile. Für mich erhält der Ausdruck ›Schatz der Verbundenheit‹ eine neue Bedeutung.« Atlan nickte bedächtig und näherte seine
33 Finger der Vitrine. Das Material schien Blitze und Strahlen auszusenden und ein eigenes Leben zu entwickeln. »Er kann nur bedeuten, daß Dorkh hier und Pthor in bestimmter Beziehung zueinander stehen!« sagte der Arkonide. »Aber wie kommt das Zeug hierher?« Atlan und Razamon wußten, daß eine pthorische Legende sagte: Wenn es gelang, alle dreißig Millionen Quorks zu sammeln, der würde die sagenhafte Yuugh-Katze wieder lebendig machen können. »Das können wir nicht einmal ahnen«, antwortete Razamon und heftete seine dunklen, stechenden Augen auf einen Priester, der sich in unnachahmlich langsamer Geschwindigkeit hinter einer Säule hervorschob und die beiden Eindringlinge gerade in diesem Moment zu bemerken schien. »Und auch noch ein Parraxynt-Bruchstück!« meinte der Arkonide und sah zu, wie sich der Priester innerhalb von rund zehn Sekunden etwa eine Handbreit hinter der Säule drehte und in ihre Richtung einen Schritt machte. Genauer bedeutete dies, daß er einen Schritt einleitete. Nicht mehr. Grausilbern, hart und brüchig, wie alle anderen Bruchstücke, so sah dieses ParraxyntTeil aus. Atlan fragte sich, ob der Magier in der Pyramide der FESTUNG noch immer auf dem Boden kauerte und versuchte, die vielen Bruchstücke zusammenzusetzen. Dieses Bruchstück hier war etwas kleiner und anders geformt, etwas mehr ausgezackt und zersplittert als jenes, das Razamon und er beim Betreten von Atlantis bei sich gehabt hatten. »Du glaubst es noch nicht, wie?« fragte der Berserker und trat einen Schritt näher an Atlan und die Sonnenvitrine heran. Auf dem Gesicht des Palast-Bewahrers begann sich der Ausdruck von Schrecken abzuzeichnen. »Ich kann es nicht glauben«, sagte Atlan, noch immer voll im Bann der unerwarteten Funde und des funkelnden Glasbehälters. »Aber es ist tatsächlich so und nicht anders. Sicher hat sich Duuhl Larx etwas gedacht, als er uns hier aussetzte und dieses unmögli-
34 che Ansinnen an uns stellte.« »Ich würde es allerdings mehr für einen Befehl halten«, erwiderte Razamon, »aber was soll's.« Atlan nickte und versuchte, einen Griff oder einen Öffnungsmechanismus in der völlig glatten Form der Sonnenvitrine zu finden. Während er und Razamon mehrmals um das röhrenförmige Stück herumgingen, das wie erstarrte Sonnenstrahlen oder Lichtbündel aussah, kam der Priester um zwei kleine Schritte näher. Jetzt war auch Razamon davon überzeugt, daß für die knochigen Gestalten in den wallenden Gewändern die Zeit anders abzulaufen schien. Atlan machte eine ärgerliche Geste und griff entschlossen durch das transparent strahlende Material hindurch. Er stieß auf keinen Widerstand. Seine Finger fuhren ungehindert durch etwas, das wie Glas wirkte und genau in dem Augenblick, als sich seine Hände um den Quork und das ParraxyntBruchstück schlossen, entwickelte die Sonnenvitrine ein beängstigendes Eigenleben. Der erstarrte Sonnenstrahl wurde schlagartig lebendig! Zunächst bewegte er sich, ohne daß Atlan etwas spürte, zur Seite, dann krümmte er sich und fuhr aufwärts bis unter die flache Decke. Alles vollzog sich in rasender Schnelligkeit und völlig lautlos. Unter dem Tempeldach beschrieb der Strahl, in Länge und Durchmesser unverändert, eine spiralige Bewegung und versank dann genau zwischen Razamon und Atlan senkrecht im Boden. Auch dieser Effekt ging ohne Geräusch von sich. Der glatte blaue Boden des Tempels war unversehrt. Die lebendig gewordene Sonnenvitrine war und blieb verschwunden. Atlan, die beiden Gegenstände in den Händen, hob die Schultern und starrte Razamon in großer Ratlosigkeit an. Der Berserker blickte ebenso ratlos zurück. »Das war … was soll das?« murmelte der Arkonide. Achtung! Die Priester! zischte warnend der Logiksektor. Atlan sprang mit einem weiten Satz von der Stelle weg, an der dieser unbegreifliche Gegenstand im Boden ver-
Hans Kneifel schwunden war. Razamon drehte den Kopf hin und her und flüsterte aufgeregt: »Eben noch bewegten sich die Priester erstaunlich langsam. Jetzt scheinen sie aufgewacht zu sein. Es wird brenzlig, Freund Atlan!« Atlan war, ebenso wie Razamon, nur mit einem Beil bewaffnet, und auch der Umstand, daß Razamon in außergewöhnlichen Situationen die Kräfte dreier Männer entwickeln konnte, beruhigte ihn wenig. Die Gnomen und die Eulen, die Mavinen und die Fosken … immer waren die anderen eindeutig in der Überzahl gewesen. »Was können wir tun?« fragte Atlan und blickte kurz den Quork, dann das ParraxyntBruchstück an, dann wieder Razamon und schließlich die Priester, die von links und rechts und aus der Haupthalle herbeiliefen. »Wir sollten versuchen, wegzulaufen. Wirf das Zeug weg – als Zahlungsmittel kannst du den Quork hier nicht gebrauchen, und vom Parraxynt kriegst du bestenfalls Geschwüre.« Atlan stieß hervor: »Ich glaube, du hast recht. Zurück zu den Freunden. Reden können wir später.« »Richtig.« Atlan ließ den Quork und das grausilberne Bruchstück fallen, als habe er sich die Finger daran verbrannt. Jetzt hörten sie beide das Tappen nackter Sohlen aus allen Richtungen. Ein Rundblick zeigte ihnen, daß sich die Szene überraschend schnell belebt hatte. Hinter Säulen und Portalen rannten in Hast und Eile die Priester heran. Ihre gelben Gewänder flatterten, ihre nackten Fußsohlen erzeugten klatschende Geräusche und vielfältige Echos. Es wurden immer mehr der dürren Gestalten, die plötzlich aus Richtungen und Ecken erschienen, an denen sie weder Atlan noch Razamon gesehen hatten. Der Sonnenstrahl verschwand, und für die Priester schaltete sich ein anderes ZeitBezugssystem ein, versuchte der Logiksektor ein wenig unwissenschaftlich zu erklären. Atlan und Razamon rissen die Beile aus den Gürteln und sahen sich kurz an. Auch
Der Dschungel von Dorkh ohne etwas zu sagen, verstanden sie sich: sie versuchten, den Tempel zu verlassen und zu Elcoy und Grizzard/Axton zu gelangen. Nebeneinander rannten Razamon und Atlan aus der kleinen Halle, durch den kleinen Korridor und in die große Säulenhalle hinein. Die Priester befanden sich bereits ein Dutzend Meter hinter ihnen. »Die Priester haben sich in rasende Kämpfer verwandelt!« rief Razamon unterdrückt und rannte im Zickzack quer durch die große, noch fast leere Halle. An fünf oder sechs Stellen kamen jeweils drei oder mehr Priester zwischen den Kolonaden hervor. Die Männer schrien nicht, aber aus den weiten Ärmeln ihrer wehenden Kleidung zogen sie lange, flammenförmig geformte Dolche. »Verdammt! Wir schaffen es nicht«, knirschte der Arkonide und lief parallel zu Razamon auf die Stelle zu, an der er hereingekommen war. Die Zahl der Priester, die sich fast lautlos näherten, wurde größer. Sie schienen förmlich aus dem Boden zu wachsen. Über die breite Treppe kamen mindestens zwanzig Priester herunter. Jeder von ihnen trug einen der blitzenden Dolche. Mit einem Blick sahen die Männer von Pthor, daß die Waffen alles andere als harmlos waren. Ihre Spitzen und die Schneiden waren haarscharf geschliffen. Noch drohender wirkte allerdings das entschlossene Schweigen der Tempel-Bewahrer. Auf den Stufen versammelten sich drei Reihen von Männern, die den Flüchtenden ihre Dolche entgegenhielten. Aber auch hinter Atlan und Razamon kamen bewaffnete Priester heran, formierten sich langsam zu einem Halbkreis und wurden von neu hinzugekommenen Männer verstärkt. Der Halbkreis wurde dichter. »Wir kommen nicht durch!« sagte Razamon, drehte sich einmal herum und erkannte, daß es sinnlos schien, sich zu wehren. Etwa siebzig jener hageren, schweigsamen Männer waren nun so nahe heran, daß zwischen ihnen keine Lücke mehr vorhanden war. Das rasende Tempo, in dem sich
35 die Priester bewegt hatten, schien die schweigsamen Männer selbst keineswegs verblüfft zu haben; ihre Mienen waren ausdruckslos, sie ließen nicht erkennen, ob sie das Eindringen in den Tempel zu bestrafen versuchten. Atlan und Razamon waren durch die überraschend aufgetretene Beschleunigung aller Bewegungen tatsächlich überrascht worden. Sie hielten zögernd an und wußten, daß sich binnen kurzer Zeit der Kreis um sie schließen würde. »Sinnlos!« knurrte Razamon, schwang das Beil und machte einen Ausfall. Sofort sprangen die Priester auf ihn zu und streckten ihm zwanzig oder mehr Dolche entgegen. Auch die Waffen hinter ihnen blitzten auf. »Halt«, sagte Atlan. »Vielleicht erfahren wir von ihnen etwas, wenn wir uns gefangennehmen lassen.« »Sie haben uns schon, Atlan!« Jetzt sahen sie die Priester aus der Nähe. Die schweigenden, übergroßen Männer blickten sie starr an. Keiner von ihnen sagte etwas. Sie waren ruhig und würdevoll, als wüßten sie genau, daß die Fremden ganz bestimmte Probleme hatten. Atlan und Razamon schoben die Schäfte der Beile in die Gürtel, und der Arkonide sagte: »Ihr seid die Hüter der Sonnenvitrine? Ihr müßt uns sagen, woher ihr den Quork und das Parraxynt-Bruchstück habt.« In der Sprache, die dem pthoraähnlichen Dialekt der Fosken glich, aber mit einer unangenehm schrillen und keuchenden Stimme antwortete hinter den Fremden einer der Männer: »Wir beabsichtigen nicht, mit euch zu diskutieren.« Atlan und Razamon drehten sich herum und blickten in ebenso regungslose Gesichter. Die rasend schnellen Bewegungen hatten die Hageren nicht im mindesten erschöpft oder auch nur erregt. »Wir sind harmlose Wanderer«, versuchte Atlan zu erklären. »Wir haben vom Schatz der Verbundenheit gehört.«
36 »Um es genauer zu sagen«, unterstützte ihn Razamon halblaut, »kommen wir aus einer Welt, die viel mit Dorkh zu tun hat.« Die Worte hallten zwischen den Säulenpaaren wider. Der Ring der bewaffneten Priester bewegte sich und schob die Fremden die Treppenstufen hinauf. Sie hatten keine andere Wahl, als zu gehorchen, falls sie sich nicht in einen aussichtslosen Kampf einlassen wollten. Trotzdem bekamen sie eine Antwort. »Ihr werdet den Wächtern des Heiligtums ausgeliefert. Ihr habt die Ruhe gestört und seid eingedrungen. Die Zyklopen werden sich eurer annehmen.« »Wir würden lieber mit euch diskutieren und euch um viele Antworten bitten«, meinte Atlan protestierend. Die Priester wirkten wie überlebensgroße Marionetten. Die schmalen Münder waren zusammengepreßt, die Mienen waren mürrisch, durch die faltigen Hälse und die lederartige Haut wirkten die Bewahrer des Tempels wie alte, mißgelaunte Schildkröten. Es war durchaus vorstellbar, daß sie über die Ruhestörung derartig aufgebracht waren. Sie hatten aber wirklich nicht die geringste Absicht, mit den zwei Eindringlingen zu sprechen. Einer von ihnen sagte schroff: »Ihr könnt die Zyklopen fragen. Wir wollen euch nicht mehr sehen.« Atlan und Razamon, von einem Kreis aus gefährlichen Waffen umgeben, wurden über die Treppe, zwischen den Säulen hindurch, auf die Terrassen und von dort über die lange Rampe hinuntergeschoben. Jeder von ihnen fragte ununterbrochen die Priester, wandte sich an verschiedene Individuen, stellte, provozierende Behauptungen auf, aber niemand antwortete. Am Fuß der Rampe warteten bereits die Zyklopen. Nicht weniger als dreißig dieser breitschultrigen Wächter hatten die Schlagstöcke erhoben und hefteten ihre großen Einzelaugen auf die Gefangenen. Vergiß für die nächste Zeit deine Fragen. Es ist sinnlos, sagte der Extrasinn lakonisch. »Dann also nicht«, knurrte Atlan wütend.
Hans Kneifel »Nicht aufgeben«, empfahl ihm kühl sein schwarzhaariger Freund. »Es ist nicht mehr als ein weiteres Geheimnis des zweiten Blutdschungels. Wir kommen schon noch zu unseren tiefschürfenden Erkenntnissen.« »Zunächst kommen wir jedenfalls wieder einmal in Gefangenschaft«, stellte Atlan fest. Er war überzeugt, etwas falsch gemacht zu haben. Wahrscheinlich hatte er im Zusammenhang mit der Sonnenvitrine etwas übersehen, das für den weiteren Aufenthalt auf Dorkh außerordentlich wichtig war, also ebenso wichtig für Pthor sein konnte. Er fluchte leise und blieb auf der untersten Stufe stehen. Die Zyklopen sprangen auf die Fremden zu und fesselten deren Hände auf den Rücken mit dünnen Lederschnüren zusammen. Sie waren auf ihre grobe Art ebenso kühl und unbeteiligt wie die Priester. »Die Zyklopen«, ließ sich ein Priester vernehmen, »werden sich um euch kümmern.« »Irgendwann werden wir uns um euch kümmern«, gab Razamon grimmig zurück. »Das ist mein Versprechen.« Zwei Zyklopen rissen, ebenfalls schweigend, die Dolche und Beile aus den Gürteln der Gefangenen. Die Feuerwand und die Rauchwolke hatten einen breiten Gürtel des Grases verwüstet. Eine schwarze Fläche, über der aus der nebligen Luft Ascheflocken schwebten und sich heruntersenkten, erstreckte sich bis an den Rand des Dschungels. Die Feuchtigkeit der Dschungelpflanzen hatte den Brand erstickt. Nur an drei, vier Stellen schwelte es noch. Rauchfahnen stiegen schräg in den dämmerigen Himmel. Schweigend rissen und stießen die Zyklopen ihre Gefangenen auf die Hütten zu, die Atlan zwischen den Säulen der umlaufenden Terrassen gesehen hatte. Nach einigen Schritten befanden sie sich wieder auf einem Pfad, der in Schlangenlinien zwischen die einfachen, ungepflegt aussehenden Hütten hineinführte. Atlan und Razamon wurden in eine Art Schuppen gesperrt, der zwar geräu-
Der Dschungel von Dorkh mig, aber fast leer war. Ein Dach aus Blättern und Wedeln ragte an drei Seiten fast bis zum Boden, die Vorderseite des Gefängnisses bestand aus gitterartig verbundenen Bohlen, und jeder, der vorbeiging, konnte die Männer aus Pthor sehen. Razamon setzte sich zu Boden und tastete zwischen Blättern, den roh zubehauenen Schemeln und den Füßen der Lager nach einem scharfen Gegenstand, mit dem er die Fesseln aufschneiden konnte. »Hoffentlich haben Grizzard und Elcoy den Akt unserer Gefangennahme mitangesehen«, murmelte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Atlan ging in der Kammer hin und her und wühlte mit den Stiefelspitzen den Unrat auf dem Boden auf. »Ich bin ziemlich sicher. Abgesehen von dem Feuer war unsere Gefangennahme das einzig auffallende Ereignis vor dem Tempel. Ich denke, wir werden nicht lange zu warten brauchen.« Razamon murmelte entschlossen: »Ich weiß schon, wie wir schnell hier herauskommen. Ich muß nur meine Hände frei haben.« Atlan stand am Balkengitter, blickte hinaus in das Dorf der Zyklopen und schabte bereits mit den gekreuzten Handgelenken entlang einer scharfen Holzkante. Keine Frage war beantwortet. Die Geheimnisse Dorkhs wurden größer und zahlreicher. Es gab anscheinend nichts und niemanden, der wenigstens einige der drängenden Fragen beantworten wollte.
5. In dieser Ansammlung von Hütten lebten ungefähr einhundertzwanzig Zyklopen. Atlan und Razamon waren aus unerfindlichen Gründen überrascht, als sie weibliche Zyklopen und Kinder sahen. Sie alle bewegten sich in der gleichen plumpen Weise, sprachen wenig und warfen nur selten neugierige Blicke in die Richtung der Gefangenen. Die Gefangenen kauerten auf den Pritschen, schabten an ihren Fesseln und ahnten,
37 daß sie hier nicht sehr lange bleiben würden. Die Masse der blauen Säulen, Rampen und Mauern verbarg sich hinter großen Bäumen, aber der Tempel SortQuahrVihn überragte tatsächlich das Dorf der Zyklopen. Es war eigenartig: Sowohl der Tempel als auch das Dorf, ebenso wie die gelbgewandeten Priester und die Zyklopen in ihren Lendenschurzen wirkten statisch, uninteressiert und mechanisch. Es fehlte der Eindruck echten Lebens. Sie waren da, taten ihre Arbeit, lebten und unternahmen die notwendigen Handgriffe, aber weder Atlan noch Razamon konnten echte Fröhlichkeit, Streit oder irgendeine Begeisterung bei einer Arbeit entdecken. Ein Nebel der Schläfrigkeit und des Desinteresses lag über dem Bezirk des blauen Bauwerks. Die Abenddämmerung kam. Die Nebel senkten sich, und krachende Donnerschläge hallten über den Dschungel dahin. Zwei Zyklopen näherten sich. Einer hielt eine blakende Fackel hoch, der andere hatte zwei Schalen aus gedrechseltem Holz oder getrockneten Fruchthüllen in den schwarzen Händen. Er schob sie unter dem Gitter durch und sagte mit einer Stimme, die zu seinem Aussehen und seinen bedächtigen Bewegungen paßte: »Füttert euch gegenseitig. Heute nacht wird über euer Schicksal entschieden.« Razamon hatte es geschafft, Atlans Fesseln teilweise aufzuknoten und durchzureißen. Sie lagen nur noch lose um die wundgescheuerten Handgelenke. »Wer entscheidet?« fragte Atlan. Der andere Zyklop schwang die Fackel, die daraufhin etwas schneller brannte und erwiderte gleichmütig: »Wir und die Gelben. Wahrscheinlich werdet ihr im Fluß ertränkt.« »Wann werden wir ertränkt und warum?« fragte Razamon unbewegten Gesichts. Das trübe Licht spiegelte sich in der gelblichen Haut unter dem wirren Schopf der Haare. »Darüber wird heute nacht beraten. Ihr habt das Gras niedergebrannt.« »Es war ein Blitz, den keiner von euch
38 gesehen hat!« beharrte Razamon. »Ihr wißt nicht, wie wichtig wir für euch alle sein können.« »Warum?« »Weil wir«, begann Atlan, »von weither kommen. Wir wissen vieles. Und wir können euer Leben verbessern, eurem Leben einen Sinn geben.« »Das alles brauchen wir nicht«, sagte der Zyklop mit den leeren Händen, drehte sich um und ging mit schwerfälligem Schritt zu seiner Hütte zurück. Nach einem langen Blick von mäßigem Interesse folgte ihm der Fackelträger. Blitzschnell löste Atlan, nachdem er sich mit einigen Rucken von seinen Fesseln befreit hatte, auch die Lederbänder an Razamons Gelenken. »Wir sollten essen, obwohl das Zeug nicht gerade einladend riecht«, empfahl er. »Ich rechne fest damit, daß im Dunkeln unsere Freunde versuchen werden, uns zu befreien.« Der Inhalt der Näpfe war eine Mischung aus Brühe, heißen Pflanzenteilen und kleinen Fleischbrocken. Es gab keinen Löffel, die Gefangenen aßen mit den Fingern. Mitten im Kauen murmelte Razamon undeutlich: »Sie sind alle nichtmenschlich. Diejenigen Wesen, die wir bisher getroffen haben, haben nichts mit der Erde zu tun. Trotzdem irritiert mich das Vorhandensein von mindestens zwei Sagengestalten.« »Zyklopen und Zentauren. Ich glaube aber, daß die wirklichen Vorbilder für diese irdischen Fabelgestalten anders waren. Mächtiger, entschlossener, intelligenter. Die Fosken sind unselbständig, und alles, was ich über die mächtigen Zyklopen der Erdensagen weiß, widerspricht der Form, die wir hier sehen.« Razamon schlürfte die Brühe und achtete darauf, daß sie kein Zyklop sehen konnte; er kauerte im Dunkeln und warf immer wieder wachsame Blicke in die Richtung der Feuer, der Fackeln und der Eingänge der anderen Hütten. »Nutzlose Spekulationen«, brummte er.
Hans Kneifel »Das Zeug ist eßbar und stillt den Hunger. Wenn es ganz dunkel ist, brechen wir aus. Klar?« »Mit Vergnügen«, antwortete Atlan. »Und, wenn ich deine niedergeschlagene Miene richtig deute, solltest du dir im Moment keine unsinnigen Sorgen über Pthor machen. Unsinnig sind sie, weil wir absolut nichts tun können und keinerlei Verbindung haben.« »Trotzdem«, erklärte Atlan leise und steckte den letzten Fleischbrocken zwischen die Zähne, »gibt es zwischen Pthor und Dorkh eine Verbindung. Die Sprache; eine auffallendere Ähnlichkeit ist schon fast unmöglich. Entweder ist Pthora ein verfremdetes Dorkha oder umgekehrt. Der Quork und das Bruchstück … und wir werden noch zahlreiche andere Übereinstimmungen finden.« »Falls wir überleben«, pflichtete Razamon bei. »Wir überleben aber nicht, wenn wir hier sitzen und uns überflüssige Gedanken machen. Hilf mir.« Er stand auf. Atlan folgte seinem Beispiel und fragte: »Was hast du vor? Beziehungsweise, wie willst du fliehen?« »Das Dach«, sagte der Berserker und lächelte in der Dunkelheit. »Aber … halt! Einen Moment!« Sie hatten bereits kurz nach ihrer Gefangennahme festgestellt, daß von hier aus der einzelne Baum am Rand des verbrannten Feldes zu sehen war. Mit einigem Glück würden Grizzard und Elcoy gerade noch den größten Teil der Prozedur erkannt und auch die Lage des Gefängnisses herausgefunden haben. Jetzt näherte sich Razamon einem leeren Viereck zwischen den roh behauenen Balken und starrte konzentriert in die Dunkelheit hinaus. Atlan, der neben ihm stand, hörte ihn flüstern: »Ausgezeichnet. Elcoy ist zwar am Ende ihrer Kräfte, aber zusammen mit Grizzard ist sie fast so intelligent wie ihre Jägerin. Einer von beiden oder sogar beide stehen etwa dort, wo uns der kühne Späher Berringer
Der Dschungel von Dorkh verlassen hat.« Atlan, dessen photographisch exaktes Gedächtnis ihn auch jetzt nicht im Stich ließ, blickte genau auf den bezeichneten Punkt. Zwischen dem Tunnel im Dschungelrand und dem Dorf der Zyklopen lagen etwa dreieinhalb Kilometer. »Sie befinden sich nicht direkt am Rand des Waldes«, widersprach Atlan, »sondern näher bei uns. Ich sehe deutlich das Licht.« »Ausgezeichnet. Ein Signal. Entweder warten sie, oder sie wollen uns sagen, daß ihnen etwas eingefallen ist, oder sie versuchen, die Zyklopen aus den Hütten zu locken.« Sicher waren Trupps der Palast oder Tempelwächter auch in der Nacht unterwegs. Von hier aus und zu dieser Stunde konnten die Gefangenen jedoch keine fackelschwingenden Zyklopen auf ihren Wächterpfaden erkennen. Nur ein brennender Ast, von Grizzard oder Elcoy immer wieder im Kreis geschwenkt, leuchtete in schätzungsweise zweitausend Metern Entfernung. »Riskieren wir es?« fragte Atlan. »Ich bin bereit.« »In Ordnung. Hilf mir bitte.« Sie zerrten eine Pritsche an die Wand, stellten einen Schemel darauf, und mit einem Satz schwang sich Razamon in das knirschende Gebälk des Daches. Seine Finger stachen wie Werkzeuge zwischen die dürren Blätter. Staub und brüchige Pflanzenteile regneten auf Atlan herunter, der Razamons Knie umklammert hielt und nach draußen sicherte. »Schaffst du's?« murmelte er. »Natürlich.« Ranken rissen mit trockenem Knacken, die ausgedörrten Pflanzenfasern der Unterseite zerbröselten, dann fielen feuchte Teile des obersten Daches herunter. Voller Verbissenheit riß Razamon eine längliche Öffnung in das Dach. Wieder einmal entwickelte der Berserker gewaltige Kräfte, die er geschickt und schnell einsetzte. Schließlich kam ein Flüstern von oben: »Ich ziehe mich hoch. Du kommst sofort
39 nach.« »Verstanden.« Ein Keuchen, erneutes Knistern und Prasseln, und Atlan ließ die Knie los. Der sehnige Körper verschwand nach oben. Wieder fiel ein halber Quadratmeter Dachmaterial auf Atlans Kopf und Schultern, während er schwankend versuchte, auf den Schemel zu steigen. Er streckte einen Arm senkrecht nach oben, ertastete die Ränder der Öffnung und fühlte, wie sich eisenharte Finger um sein Handgelenk schlossen. »Jetzt!« Atlan stieß sich ab, riß den zweiten Arm hoch und fühlte, wie er mit unwiderstehlicher Kraft in einem einzigen Ruck hochgezogen wurde. Seine Schultern streiften das nasse Pflanzendach, dann breitete er die Arme hoch, zog sich vollends aufs Dach hinauf und sah schattenhaft neben sich den Freund. Razamon rutschte langsam und fast lautlos das steile Dach abwärts und landete eine halbe Sekunde vor Atlan neben der Hütte. Sofort duckten sie sich in den finsteren Raum zwischen Dach und Wand und horchten. Nur die Geräusche, mit denen die Zyklopen ihren Tätigkeiten nachgingen, waren zu hören. Zwischen den Säulen der Tempelterrasse ging jemand mit einer Fackel. Zitterndes Licht und blaue Reflexe begleiteten seinen lautlosen Weg. »Falls wir einzelne Zyklopen treffen«, schlug Atlan vor, »nehmen wir ihnen die Schlagstöcke weg. Wir sind wieder einmal nur mit Fingernägeln bewaffnet.« »Ich hatte gerade dieselben Gedanken«, wisperte Razamon. »Los!« Sie verließen den tiefen Schatten, wandten sich den Büschen hinter der Hütte zu und schlichen geduckt davon. Das Gras unter ihren Sohlen war feucht und erzeugte wischende Geräusche. Einige vorsichtige Sprünge brachten sie hinter den Stamm eines Baumes in dreißig Schritt Entfernung. Dann huschten sie auf den Pfad zu, der quer vor der Siedlung und schräg zur Front des Heiligtums verlief. Wieder kauerten sie sich zu Boden und sahen sich um. In diesem Mo-
40 ment waren sie den Zyklopen ein wenig überlegen, denn vermutlich bewegten sich die Wächter nachts nicht ohne Fackeln auf ihren Kontrollgängen. Sie waren also deutlich zu sehen – nicht hingegen die beiden Fremden. »Weiter. Grizzard schwenkt noch immer sein Licht!« Atlan und Razamon vermieden, in das sich öffnende Dreieck zu treten, das von dem wenigen Licht der Siedlung schwach erfüllt war. Sie schlichen in der optischen Deckung der Bäume und der am weitesten außen stehenden Hütten auf den weit entfernten Dschungel zu. Dann sprangen sie über den Pfad und merkten nach wenigen Schritten, daß sie über die verbrannte Fläche liefen. Hier gab es keine trockenen Äste, deren Knacken sie verraten konnte. Sie rannten los, immer auf das Licht zu. Nach einigen Minuten blieben sie wie auf ein unhörbares Kommando stehen und drehten sich herum. Einige Zyklopen oder einzelne der hageren Priester gingen gemessenen Schrittes durch die Säulenkolonnaden der Tempelterrassen. Sie trugen Fackeln, deren Licht aber keine zwanzig Schritte weit reichte. Von hier aus hatten diese wandelnden Lichter eine verblüffend starke Wirkung, selbst auf Atlan und Razamon. Es war, als erlebten sie ein uraltes Ritual mit, aus einer fremden Welt, die in diesem Moment starke Ähnlichkeit hatte mit den zahlreichen Welten ihrer Träume und Erinnerungen. Atlan riß sich von dem Bild los und sagte: »Auf dem Weg zu den Sirva-Gipfeln werden wir dieses Heiligtum allerdings in weitem Bogen umgehen müssen.« Razamon entgegnete: »Wir entgehen dann zwar nur dieser Gefahr. Aber andere werden auf uns warten.« Sie konnten keine Zyklopen entdecken, die sie überfallen und entwaffnen konnten. Also rannten sie durch die aufwirbelnde Asche des niedergebrannten Streifens auf die Mavine und Grizzard/Axton zu. Das
Hans Kneifel Donnergrollen, das sie während ihres Befreiungsversuchs gehört hatten, kam näher. Hinter dem Tempel zuckten die ersten Blitze auf. Vielleicht sah Grizzard die beiden rennenden Gestalten gegen den helleren Hintergrund, denn er hörte auf, die improvisierte Fackel zu schwingen. »Sollte das Gewitter hierher ziehen, werden unsere Spuren verwischt«, sagte Atlan schwer atmend. Immer wieder, so auch jetzt, spürte er die Wirkung des Zellaktivators. Sie hielt seine Müdigkeit und Erschöpfung in Grenzen, und er erholte sich weitaus schneller als jedes andere Geschöpf. Eine feststehende Tatsache, die er immer wieder bewußt registrierte. »Ich denke, daß uns die lethargischen Zyklopen ohnehin nicht in den Dschungel zurückverfolgen werden«, keuchte Razamon hinter ihm. Der erste Blitz schlug in einen Baum in der Nähe des Dorfes. Drei Sekunden Pause, dann krachte schmerzend laut der Donner, und augenblicklich stürzte eine Wasserflut aus den tiefhängenden Wolken. Nach fünf Schritten waren die Männer halbwegs durchnäßt, das Haar klebte an ihren Köpfen. Das Wasser rann ihnen in die Nacken und durch den Halsausschnitt. Die Asche und die oberste Schicht des Bodens verwandelten sich in eine glitschige Fläche, auf der Atlan und Razamon stolperten und ausrutschten. Durch den herunterhämmernden Regen, immer wieder kurz erhellt durch Blitze, kämpften sich die Flüchtenden auf den Dschungelrand zu. Unter ihren Füßen gurgelte in vielen schmalen Bächen das Wasser, rundherum erzeugten die sturmgepeitschen Bäume ein tiefes, rauschendes Ächzen. Im Aufleuchten eines weiteren Blitzes erkannten Atlan und Razamon vor ihnen die Gestalten der Freunde. Grizzard hatte seinen linken Arm um Elcoys Körper gelegt und hielt die Königin an sich gepreßt. Sie war offensichtlich in einem Stadium der Entkräftung, das besorgniserregend war. »Verdammt!« Atlan erreichte die Gruppe, nahm Elcoy in die Arme und rannte, ohne
Der Dschungel von Dorkh sie abzusetzen, bis zum Dschungel. Immer wieder erkannte er ein Stück des Weges nur deshalb, weil die blendenden Blitze die Landschaft erhellten. Die Gruppe hielt unter einem Baum an. Zwischen den Wurzeln war es einigermaßen trocken. Atlan ließ Elcoy vorsichtig zu Boden gleiten und wandte sich an Grizzard. »Danke. Euer Feuerzeichen hat uns sehr geholfen!« sagte er. Grizzard sagte verwundert: »Wir haben kein Zeichen gegeben, Atlan.« »Unsinn«, dröhnte Razamon. »Wir haben genau gesehen, wie du einen brennenden Ast im Kreis geschwenkt hast. Wir orientierten uns nach diesem Hinweis.« »Ich schwöre dir«, antwortete Grizzard/Axton und versuchte, die Donnerschläge zu übertönen, »wir haben nichts dergleichen gemacht. Ich schaffte Elcoy vom Baum herunter und versuchte, so schnell wie möglich in den Wald zurückzukommen. Wir waren sicher, daß ihr in der Nacht ausbrechen würdet. Andernfalls hätte ich beim ersten Tageslicht etwas versuchen müssen.« »Wer war es dann?« rätselte der Arkonide. »Auf keinen Fall ein Priester. Schon gar nicht ein Zyklop. Also bleiben nur die Fosken übrig«, meinte Razamon. »Sollten wir den persönlichen Mut Berringers überschätzt haben? Oder haben die Fosken den Zyklopen Zeichen geben wollen? Es wird immer rätselhafter, Freund. Ein anderes Problem …« »Ich bin euer Problem«, sagte Elcoy mit schwacher, zitternder Stimme. Es war fast absolut dunkel unter den schweren, tropfenden Ästen. Die Mitglieder der Gruppe erkannten sich gegenseitig nur an den Stimmen und während der flackernden Helligkeiten der Blitze. Atlan tastete sich behutsam in Elcoys Nähe und kauerte sich nieder. Seine Finger berührten die Schulter des Katzenwesens. Atlan erschrak: Elcoy zitterte wie im Fieber, ihr nasses Fell glühte förmlich, und Atlan spürte, daß Elcoy so abgemagert war,
41 daß das Schultergelenk fast durch die Haut stieß. »Du bist krank«, sagte Atlan erschüttert. »Wir sollten dich zu den Fosken zurückbringen und zu heilen versuchen.« Elcoy atmete schwer und sagte nach einer langen Pause: »Zu spät, Atlan. Wir werden den SirvaGipfel niemals erreichen. Ich fühle, wie mich die Kraft verläßt, wie Wasser, das aus einem Gefäß läuft.« Sie stirbt tatsächlich, sagte der Extrasinn. Grizzard und Razamon standen in der Finsternis und hörten betroffen zu. Auch sie konnten nicht helfen. Es waren sicher nicht nur die Strapazen gewesen, die Elcoy in diesen Zustand gebracht hatten. Aber Atlan, der seine Hand unter ihren Katzenkopf schob, spürte, daß das Ende nicht mehr fern war. Vor ihm lag eine Sterbende. »Ihr müßt mir etwas versprechen«, stöhnte Elcoy. »Alles, was wir können«, sagte Atlan. »Wenn ihr bei den Sirva-Gipfeln seid«, sagte sie und machte lange Pausen zwischen den Worten, »helft bitte den ausgestoßenen Königinnen und ihren Leibwachen. Viele, das weiß ich, haben das Reich nicht gefunden … sind unterwegs gestorben oder getötet worden. Geht hin … helft ihnen. Sagt ihnen, ich habe es auch versucht.« Atlan merkte, daß das Zittern stärker wurde. Er hob den Kopf der Königin noch mehr an und versuchte, im Widerschein der Blitze irgend etwas zu erkennen. Er sah nur die Umrisse des hellen, langgestreckten Körpers, der immer schlaffer wurde. »Wir versprechen es, Elcoy«, sagte der Arkonide entschlossen. »Ganz sicher. Wir werden versuchen, das Mavinen-Reich zu erreichen, und dann tun wir für deine Artgenossen, was nur irgend möglich ist.« »Ich … danke …« Der Körper wurde plötzlich schwerer. Atlan ließ den runden, heißen Kopf der Mavine ins feuchte Moos zurückgleiten. Das Gewitter zog vorbei, der Regen strömte gleichmäßiger, und der Sturm ließ nach und wehte
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immer seltener Wasser unter die schützenden Äste des Baumes. Ein einsames Licht wanderte hinter den Säulen von SortQuahr-Vihn entlang, das Dorf war dunkel und hinter den Regenschleiern verborgen. »Und wer hat die Fackel geschwenkt? Wer gab die Zeichen?« murmelte Razamon, während er bis zum äußersten Rand der trockenen Fläche tappte und versuchte, auf die Lichtung hinauszuschauen. »Keine Ahnung«, sagte Atlan. Er kauerte neben Elcoy und merkte, wie sie starb. Für die ausgestoßene Königin kam der Tod nicht gewaltsam, sondern ganz leise und langsam. Einige Minuten später war Elcoy tot. Atlan lehnte sich gegen den nassen Stamm und fluchte unhörbar in sich hinein. »Morgen werden wir Steine sammeln und einen neuen Grabhügel aufschichten«, sagte er nach einer Weile. »Königin Elcoy ist tot.« Die drei Männer setzten sich auf nasse Wurzeln und warteten am Rand des Blutdschungels, bis der Regen aufhörte, das Gewitter abgezogen war, bis das erste Licht der Sonne durch die letzten Nebelfetzen strahlte. Dann begruben sie den starren Körper unter einem Haufen von Steinen, die sie entlang des Waldrands fanden. Als Razamon den letzten Steinbrocken zwischen andere runde Kiesel hineinpaßte, sich aufrichtete und die Hände an seinem Poncho abwischte, sagte eine Stimme hinter ihm: »Ich habe euch beobachtet. Ich bringe euch zurück zu uns, aber ihr müßt auf dem Fosken-Thing erscheinen.« Überrascht fuhren die Männer von Pthor herum. Im Halbdunkel des Waldes stand, nervös tänzelnd, der Späher Berringer. Der Foske hob grüßend die Hand, aber das Lächeln in seinem schmalen Gesicht war verkrampft.
6. Diesmal wirkte der Foske nicht ängstlich, jedoch seltsam aufgeregt. Es war klar, daß er die Männer beobachtet hatte, als sie den Grabhügel über Elcoy aufgebaut hatten. Ber-
ringer blickte schweigend und, wie es schien, nachdenklich, die Fremden an. Natürlich sah er, daß sie so gut wie waffenlos waren. Vermutlich hatte zumindest der Späher einen Teil der zurückliegenden Ereignisse mitverfolgt und seine Schlüsse daraus gezogen. Atlan ging auf ihn zu und fragte: »Du hast alles gesehen, Berringer. Wir waren im Heiligtum, aber die Anzahl der Rätsel hat zugenommen. Falls du uns wirklich noch einige Tage lang führen willst, so danken wir dir dafür.« »Für Elcoy ist wohl mein Erscheinen zu spät gekommen.« »Ja. Sie war krank und starb, als das Gewitter tobte. Wohin bringst du uns, sagtest du?« »Zunächst zu uns. Dann auf die Lichtung, zum Thing. Ich bin nicht frei in meinen Entschlüssen; dort wird über euer Schicksal entschieden.« »Nun, wir denken, daß wir von euch nicht gerade rituellen Opferungen unterzogen werden. Brechen wir auf?« meinte Atlan. Sie waren in bestimmter Hinsicht Pragmatiker. Sie mußten es sein, denn die Abenteuer, die sich ununterbrochen abwechselten, ließen keine Zeit und keinen Raum für lange Phasen der Nachdenklichkeit. Auch jetzt gab es nichts anderes für sie, als die unmittelbare Vergangenheit zu vergessen, die Gegenwart zu akzeptieren und zu versuchen, die nahe Zukunft in ihrem Sinn zu beeinflussen, ohne die einmal gewählten Ziele zu vergessen. Jetzt galt es, zusammen mit Berringer die nächste Station ihrer Wanderung durch ein vollkommen unbekanntes Gebiet aufzusuchen. »Wir können aufbrechen. Ich führe euch. Ich bin Berringer, der Späher«, sagte der Foske. Umgeben von dem Lärm, der zur Stunde des Sonnenaufgangs in jedem Kubikmeter des Dschungels tobte, trabte Berringer mit den drei schweigsamen Männern über das System von feuchten Dschungelpfaden, fand mit nachtwandlerischer Sicherheit irgendwelche Abzweigungen und führte Atlan,
Der Dschungel von Dorkh Grizzard und den Berserker in die Siedlung der Fosken. Es war ein anderer Teil der Hütten, ein anderer Bezirk, aber auch er lag am Rand einer Lichtung im Blutdschungel. Die Versammlung, die sie als »FoskenThing« bezeichnen, wird weitere Aufklärung bringen, versuchte der Logiksektor eine Erläuterung. Seit dieser Ausdruck zum erstenmal aufgetaucht war, dachten die Flüchtenden darüber nach. Vielleicht erfuhren sie dann, warum die Fosken trotz ihrer Intelligenz und Schnelligkeit so scheu waren. Berringer preschte zwischen die Hütten hinein, stieg hoch wie ein scheuendes Pferd und drehte sich. Er deutete auf zwei leerstehende Hütten und rief, während er seine Artgenossen grüßte: »Hier könnt ihr bleiben. Morgen ist FoskenThing. Wenn Kryptan kommt, sehen wir weiter.« Kryptan? Die zentaurenhaften Wesen waren neugierig, aber nicht aufdringlich. Etwa zweihundert gab es in dieser kleinen Ansammlung von gepflegten Hütten. Ebenso wie die Mavinen schienen auch die Fosken keinen wirklichen Lebensinhalt zu haben, kein übergeordnetes Ziel, dem sie nachstrebten. Es war, als würden sie nur Anordnungen ausführen, die sie aus unbekannter Quelle bezogen. Darüber hinaus arbeiteten und jagten sie natürlich für ihren Lebensunterhalt. Die Fremden bezogen eine einzige Hütte. Sie streckten sich zuerst einmal inmitten der bereits gewohnten Einrichtung aus und schliefen einige Stunden. Dann erst aßen sie und sprachen über ihre Eindrücke. »Unser Ziel haben wir nicht erreicht. Wir haben die Sirva-Gipfel ein einzigesmal aus der Ferne gesehen. Wir wissen lediglich, daß ihre Spitzen voller Schnee sind. Die Jägerin getötet, Elcoy gestorben, der Tempel bewahrte sein Geheimnis. Und jetzt steht uns noch eine Versammlung aller Fosken bevor«, sagte Atlan niedergeschlagen. »Wohin soll das führen?« Sie benutzten die kurze Pause, um sich zu
43 säubern und zu versuchen, die inzwischen wieder zerschlissenen Kleidungsstücke instand zu setzen. Waffen hatten sie keine gefunden. »Du bist viel zu ungeduldig, Atlan«, antwortete Razamon. »Oder kannst du die Vorgänge beschleunigen?« »Nein, kann er nicht. Aber er denkt, wie wir, an Pthor und an die drohenden Gefahren der Schwarzen Galaxis«, sagte Grizzard/ Axton. »Wir sollten wirklich auf den Ausgang des Things warten.« »Es bleibt uns nichts anderes übrig.« Während der nächsten Stunden beobachteten sie das Kommen und Gehen der foskischen Jagdgruppen. Kleinere Karawanen dieser eleganten Wesen brachten gesammelte Früchte, Nüsse und Pflanzen des Waldes. Es waren ebenso Handwerker zu sehen wie auch Hersteller von Waffen, aber Atlans Eindruck trog nicht: das Leben hier verlief in den geordneten Bahnen, die der Tradition entsprachen.
* Kurz nach Sonnenaufgang trabte Berringer die schräge Fläche zu ihrer Hütte herauf, hämmerte an die Balkentür und rief laut: »Das Thing beginnt! Ihr habt zu erscheinen und euch vor Kryptan zu verantworten, Fremde.« »Wir kommen.« Berringer wartete auf dem Dorfanger auf sie. Die Siedlung war völlig leer; aus der Ferne hörten die Fremden ein auf und abschwellendes Summen und Murmeln, das die Tiere des Dschungels verstörte und schweigen ließ. Wieder ging es durch einen Teil des Waldes und über die Pfade aus schwarzem Lehm. Nach etwa zweihundert Metern öffnete sich inmitten des Dschungels wieder eine Lichtung. Tausende von Fosken hatten sich versammelt! Die Pthorer blieben verwundert stehen. Der Boden der freien Fläche war geformt wie eine Schüssel. Vom Rand sahen sie fast
44 ungehindert über einen Teil der Zentauren hinweg bis ins Zentrum der Arena. Dort war ein Kreis mit runden Steinen abgegrenzt. Eine ununterbrochene nervöse Bewegung ging durch das Heer der Vierbeiner. Das Summen vieler leiser Geräusche – es waren jene Geräusche, die man bereits in der Siedlung hören konnte – erfüllte den Raum zwischen den Bäumen. Die Lichtung war künstlich angelegt und von Pflanzenwuchs freigehalten worden. Von einigen Stellen des Randes waren breite Gänge freigeblieben, die im Zentrum mündeten. »Das also ist euer Thing«, stellte Atlan fest. »Und wer oder was ist Kryptan?« Berringer war völlig ernst, als er entgegnete: »Kryptan ist unser Herrscher. Er sagt uns, was wir tun sollen. Er ist von weitaus größerer Weisheit als jeder von uns.« Neunzig Grad links von den Fremden stand eine Hütte auf weißgekalkten Baumstämmen. Die Plattform befand sich etwa in dreißig Metern Höhe. Eine breite Holzleiter strebte auf den Boden herunter, vom Fuß der Leiter führte ein freier Gang bis ins leere Zentrum des Thingplatzes. »Er wohnt in der Hütte?« fragte Grizzard ruhig. Die Masse der Zentauren verhielt sich diszipliniert, trotzdem lag eine deutliche Unruhe über der Versammlung. »Jetzt kommt er!« sagte Berringer. »Los. Folgt mir! Ihr seid der Hauptgegenstand dieses Treffens.« Also hatten die Fremden für die Fosken doch irgendeine Bedeutung. Die Gestalt, die jetzt im Eingang der Baumhütte erschien, war rund siebzig Meter von Atlan und seinen Freunden entfernt. Sie sahen genau, daß es ein weißhäuptiger, kleinerer Zyklop war! Augenblicklich fragte Razamon, seine Hand am Gürtel des Fosken, der langsam den Gang abwärts trippelte: »Ein Zyklop, angeblich euer Feind, ist euer Anführer oder Ratgeber?« »Er ist älter als unser Stamm. Er herrscht nicht, sondern rät mit unfehlbarer Klugheit.
Hans Kneifel Deshalb akzeptieren wir ihn«, war die Auskunft, die auf ihre Art logisch zu sein schien. »Und er wird euch raten, was mit uns zu geschehen hat?« »Sowohl ihr als auch ich, wir sind abhängig von seinen Anordnungen. Bis zum heutigen Tag sind wir mit seinen Anordnungen gut gefahren«, erklärte Berringer. »Selbst mir, dem Späher, hat er neue Wege und interessante Plätze gezeigt.« Kryptan kletterte die Leiter hinunter. Er bewegte sich im Gegensatz zu seinen dunkelhäutigen und viel größeren Artgenossen viel schneller und gewandter. War er so etwas wie ein ZyklopenAlbino? Als seine Füße den Boden berührten, erhob sich in der Runde der Versammlung ein gedämpfter Jubel. Berringer, der Späher, drehte seinen Kopf nach links und rechts und sagte dann beschwichtigend zu Razamon: »Habt keine Angst. Kryptan ist gerecht und friedfertig. Wäre es nicht so, dann würde ich euch nicht das Zeichen gegeben haben – in der Nacht der Flucht vor den Zyklopen.« »Aha! Das Rätsel findet seine Lösung«, murmelte Razamon und grinste erleichtert. Atlan hob die Schultern und sagte sich, daß sich nicht jedes Problem mit reiner Logik lösen ließ. Aber das hatten sie bereits vorher gewußt. Berringer schien aus einem Dschungelversteck heraus Atlans Vorstoß in den Tempel mitangesehen zu haben. Oder ihn hatte Kryptan verständigt, der sein Wissen von den schwarzhäutigen Zyklopen hatte. »Wir danken dir für die Hilfe«, sagte Grizzard ein wenig ironisch. »Vielleicht hättest du dich mehr um Elcoy kümmern sollen. Dann würde sie noch leben.« Schweigend trabte Berringer weiter. Der Späher, hinter sich die drei Fremden, erreichte die Steine im selben Moment, in dem der weiße Zyklop in den Kreis trat. Die Augen Tausender richteten sich auf die vier exotischen Wesen. Berringer bewegte sich vorwärts, umrundete den Zyklopen und sagte dann laut und deutlich:
Der Dschungel von Dorkh »Das sind Atlan, Grizzard und Razamon. Sie kommen von weither und haben die Sirva-Gipfel als Ziel. Razamon und Atlan haben die Sonnenvitrine betrachtet und die Ruhe der gelbgewandeten Priester gestört.« Dann trabte er mit kleinen Schritten an den Rand des Kreises, setzte über die Barriere und reihte sich in die Wartenden ein. Das freudige Murmeln und Jubeln wurde sehr viel leiser. Die Fosken warteten. Atlan musterte den Zyklopen und sagte: »Berringer spricht die Wahrheit. Wir kommen von weither und können nur hoffen, daß du uns ebenso hilfst, wie viele andere uns geholfen haben.« Der Zyklop war etwa vier Handbreit kleiner als Atlan. Seine Schultern waren viel schmaler als die seiner wuchtigen Artgenossen. Die Strahlen der Sonne ließen seine Haut noch weißer und schimmernder erscheinen. Die beiden »blinden« Augenschlitze wirkten wie Fremdkörper in seinem Gesicht, und das große dunkle Auge musterte die drei Männer. Es wirkte leblos, wie eine Linse, und der Blick verweilte mindestens jeweils zwei Minuten lang auf dem Gesicht Atlans und Razamons. Ein unbehagliches Schweigen entstand unter den Fosken nahe des Zentrums und breitete sich die flache Hänge aufwärts aus. Dann starrte Kryptan Grizzard/Axton an. Noch immer schwieg er, seine dünnen Arme hingen bewegungslos an seinen Seiten herunter. Kryptan war ebenso wie die anderen Zyklopen in einen Lendenschurz gekleidet, aber seiner war von dunkler Farbe. Schließlich, nach einem quälenden Schweigen, sagte der Zyklop mit einer dunklen, klaren Stimme: »Dies ist ein geistiger Foske, ein Wesen mit gespaltener Persönlichkeit. Die echten Fosken sollten ihn untersuchen, um seine wahre Natur herauszufinden.« Trotz der geringen Größe des FoskenRatgebers zweifelte keiner der Fremden daran, daß die Situation ernst wurde. »Und wir? Wie würdest du uns charakterisieren?«
45 Die Fosken schwiegen jetzt. Atlans Stimme war bis hinauf in die obersten Ränge zu hören gewesen. Aber die Fosken und Kryptan hatten auch die schneidende Entschlossenheit des Arkoniden heraushören müssen. Kryptan war souverän und völlig ruhig. »Du und dein schwarzhaariger Freund sollen in Frieden weiterziehen. Sucht das Reich rund um die Sirva-Gipfel und werdet glücklich. Der geistig instabile Foske aber bleibt zur Untersuchung hier; es werden sich wichtige Gesetzmäßigkeiten an ihm erforschen und erklären lassen.« Razamon meinte scheinbar ebenso ruhig in Interkosmo: »Wir holen dich heraus, Freund.« Atlan hoffte, daß niemand den Sinn dieser Zwischenbemerkung verstanden hatte. Grizzard rührte sich nicht, obwohl er die Drohung begriffen hatte. Für ihn bedeutete das Urteil Folter und Tod, denn jede Untersuchung mußte zwangsläufig damit enden. »Alles klar«, erwiderte er und sah zuerst Razamon, dann Atlan, schließlich den Anführer ratlos an. »Ich bleibe hier, und meine Freunde ziehen nach den Bergen.« Kryptan deutete auf den Späher und befahl: »Du wirst dich um jenen kümmern, den sie Grizzard nennen. Bewache ihn, bis wir morgen die Untersuchungen beginnen.« Berringer sprang über die Steinbarriere und stellte sich neben Grizzard. Auch der Foske sah jetzt ratlos und verwirrt aus. Die Fosken-Versammlung applaudierte begeistert. Sie schlugen nicht in die Hände, sondern vollführten mit ihren vier Hufen einen rasenden Wirbel auf dem festgetretenen Boden. Die gewaltige Menge der Hufe erzeugte ein dumpfes Donnern, das den Urwald ringsum erschütterte. Sofort flogen Vogelschwärme auf und bildeten kleine Wolken vor der Sonne, die mit unverminderter Kraft vom wolkenlosen Himmel stach. Mitten in den Lärm hinein stellte Razamon seine Frage. »Wie schaffen wir es, Grizzy herauszuschlagen? Unbewaffnet, inmitten dieser
46 Übermacht?« »Abwarten. Erst einmal müssen wir wissen, wohin sie ihn bringen.« Atlan wandte sich an den Zyklopen, der den Beifall in unerschütterlicher Ruhe entgegennahm: »Du erlaubst sicherlich in deiner gütigen Gerechtigkeit, Kryptan, daß wir unseren Freund noch eine Weile lang begleiten dürfen. Erst wenn er zu den Untersuchungen geführt wird, ziehen wir beruhigt davon. Wir wissen, daß er bei dir in besten Händen ist.« Ihm kam die Phrase selbst übertrieben schmeichelhaft vor, aber der Zyklop blieb milde und entgegenkommend. »Ich erlaube es.« Wieder setzte der begeisterte Beifall ein, aber das Stampfen und Poltern dauerten nicht so lange. Berringer fühlte sich durch den Auftrag zumindest geschmeichelt und führte die Fremden durch den Gang wieder hinauf an den Rand der Lichtung. Neugierige Augen starrten Grizzard/Axton an, der leise vor sich hin murmelte: »Woher weiß er, daß ich Sinclair Kennon bin …?« »Er hat zumindest zutreffend erkannt, daß du nicht eine Persönlichkeit in seinem herkömmlichen Sinn bist«, sagte Razamon. »Ich sehe allerdings größere Schwierigkeiten für jeden Befreiungsversuch voraus. Aber das wird sich bald zeigen.« Berringer, der nicht verstanden hatte, was Atlan und Razamon sprachen, lachte erleichtert auf und rief: »Seht ihr? Ich habe es versprochen. Kryptan ist weise und milde. Es war nur eine Formalität. Und einige Tage später wird euch Grizzard folgen.« »Sicher. Selbstverständlich«, brummte Atlan. »Wohin bringst du uns?« »Für ungewöhnliche Gäste haben wir ein Gästehaus. Aber wir haben nur selten außergewöhnliche Besucher.« Sie befanden sich in der Gewalt von Zentauren, die einem despotischen Leiter gehorchten. Weder sie noch Kryptan hatten genügend intellektuelle Erfahrung, um eine
Hans Kneifel echte Untersuchung durchführen zu können. Erstaunlich war hingegen das zutreffende Gefühl des Zyklopen, mochte es Intuition, schwache telepathische Fähigkeit oder ein anderer Effekt gewesen sein. Aber auch jene vierfüßigen Wesen konnten nicht ahnen, daß die Fremden die Erfahrungen vieler bestandener Abenteuer einsetzen würden, um den Freund zu befreien. Das Gästehaus war nichts anderes als ein Pfahlbau, dessen vorspringendes Dach und die gleichartige Terrasse sich höher über dem zerstampften Boden erhoben. Eine lange, mit Gras bewachsene Rampe führte hinauf. »Das Thing dauert bis zum nächsten Sonnenstand«, sagte Berringer. »Aber sollte sich Grizzard nicht an Kryptans Urteil halten, werden alle Fosken nach euch suchen.« Razamon lachte schallend, setzte sich auf das Geländer und versicherte: »Wir versprechen, daß wir nicht vor dem Ende des Things flüchten werden. Einverstanden?« »Ich vertraue euch.« Er galoppierte die Rampe hinunter, donnerte durch das leere Dorf und schlug den Weg zum Thingplatz ein. Schlagartig wich jede Heiterkeit von den Freunden, und bestürzt meinte der Arkonide: »Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Die Fosken sind schneller als wir, es gibt eine gewaltige Menge, sie sind bewaffnet, und sie kennen jeden Meter des Gebiets. Wir müßten fliegen können.« »Das nicht.« Razamon fuhr mit beiden Händen durch sein Haar und überlegte. »Das nicht. Aber …«
* Mitten in der Nacht standen sie auf, schlichen sich zur Rückseite des Gästehauses und kletterten nacheinander an einem Seil in die Krone eines Baumes hinauf. Das Seil hatten sie, wie vieles andere, aus den Hütten der Zentauren gestohlen – in der Zeit, in der die Fosken alle beim Thing gewesen waren. Das Klettern dauerte lange, denn sie bemühten
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sich, so leise wie nur irgend möglich zu sein. In dem Seil waren Knoten, in denen kurze Holzstücke steckten. Immer wieder hielten sie an und hingen bewegungslos an dem Seil. Ruhig lag das Dorf unter ihnen, die Tritte der patrouillierenden Fosken blieben rhythmisch, kein Schrei ertönte. Fliegen können die Fosken nicht, dachte Atlan. Aber wir können immerhin in einer Höhe flüchten, in der uns weder sie selbst noch ihre Insektengeschosse erreichen. Das Seil wurde eingeholt, ganz behutsam und langsam. Niemand merkte etwas. Dann trat Razamon auf einen schwankenden Ast hinaus, schlang einen Knoten in ein Seilstück und sicherte sich damit an einem zweiten, weit durchhängenden Tau, das über einer Länge von dreißig Metern sich zwischen zwei Bäumen spannte. Er griff hoch und hangelte sich dann, den Rücken zur Erde, bis zu dem anderen Baum hinüber. Seine Freunde folgten. Sie flüchteten jetzt in nördlicher Richtung. Noch zweimal wiederholten sie dieses Manöver. Nach mehr als einer Stunde kletterten sie schweißüberströmt an einem Stamm ein Stück hinunter. Sie waren vom Außenrand des Lagers etwa hundert Meter entfernt. Schon jetzt hörten sie keine Geräusche der Fosken mehr. Hier endete aber auch ihre improvisierte Seilkonstruktion, die sie in rasender Eile gebastelt hatten. »Deine Opferung ist vorübergehend aufgeschoben, Grizzard«, meinte Razamon und kletterte weiter hinunter. Der Baum stand direkt neben einem der vielen Foskenpfade. Die Männer befanden sich auch jetzt wieder in der stickigen Finsternis des Waldes, aber mit Hilfe von aus-
gestreckten Armen und dem Tastgefühl der Füße gelang es ihnen, relativ schnell auf dem Pfad voranzukommen. Sie blieben hintereinander. Atlan hörte immer wieder zu laufen auf, unterdrückte sein Keuchen und lauschte in den unsichtbaren Tunnel hinter sich hinein. Mehrmals warf er sich zu Boden und preßte das Ohr auf das ausgetrocknete, rissige Lehmmaterial. Bisher gab es kein verräterisches Getrampel von Hufen auf dem Pfad. Mehrmals sahen sie einzelne Sterne zwischen den Wipfeln. Dann gab es minimale Unterschiede der Dunkelheit; sie erkannten zumindest den Verlauf des Pfades. Auf dem harten Lehm hinterließen sie keine Spuren. Vier Stunden lang schlichen und rannten sie nach Norden. Als die Laute der Vögel und der kleinen Tiere in den Bäumen und im Unterholz ihnen anzeigten, daß sich die Morgendämmerung näherte, kletterten sie zunächst in einen großen Baum hinauf. Im ersten Licht bemerkten sie, daß ihnen das Laubwerk nicht genügend Sichtschutz bot. Sie wendeten die alte Taktik wieder an und turnten und kletterten in den Baumkronen so weit in den Dschungel hinein, bis sie keinen Pfad mehr sahen. Mit dem Sonnenlicht kamen die Fosken. Kommandos, die in rasender Eile durch die Teile des Blutdschungels sprengten, suchten den ganzen Tag lang. Aber sie fanden die drei Männer aus Pthor nicht. In der Abenddämmerung und am darauffolgenden Tag gelang es den Fremden, das Herrschaftsgebiet der Fosken zu verlassen. Sie wandten sich wieder nach Westen, waffenlos und zerlumpt, den Bergen zu und dem Sirva-Massiv.
ENDE
Weiter geht es in Atlan Band 446 von König von Atlantis mit: Der Arkonide und der Yastor von Peter Terrid