Thomas Kron · Thomas Grund (Hrsg.) Die Analytische Soziologie in der Diskussion
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Thomas Kron · Thomas Grund (Hrsg.) Die Analytische Soziologie in der Diskussion
Thomas Kron Thomas Grund (Hrsg.)
Die Analytische Soziologie in der Diskussion
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16914-9
Inhalt Thomos Kron (Aachen)/ Thomos Grund (Oxford): Einführung in die Diskussion zur Analytischen Soziologie
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Sozialtheorie MichaelSchmid (München): Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des Sozialen". Bemerkungen zum Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie
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Rainer Greshl!ff(Oldenburg): Wie aussage- und erklärungskräftig sind die sozialtheoretischen Konzepte Peter Hedströms?
67
Jürgen Macker! (potsdam) Auf den Schultern von Robert Merton? Zu Peter Hedströms Analytischer Soziologie
91
Christofer Edling (Bremen) / Jens Rydgren (Stockholm) Auf der Suche nach Identität. Analytische Soziologie und die Makro-Mikro-Verbindung ... .. . . . . .. . . . . . . .. . . . .. 115 Markus BaHm (Aachen): Der soziale Wandel der Analytischen Soziologie im Lichte kritischer Reflexion..................................................................
133
Handlungstheorie Gunn Elisabeth Birkelund (Oslo): Die Kontextualisierung von Akteuren und ihren Präferenzen
153
Andrea Maurer (München): Die Analytische Soziologie Peter Hedströms und die Tradition der rationalen Sozialtheorie
165
5
Andreas Diekmann (Zürich): Analytische Soziologie und Rational Choice
193
Methodologie PeterAbell (London): Singuläre Mechanismen und Bayessche Narrative. . . . . . .. . . . . .. . .. . . . . . .. . . . . . . . .. 207 PerArne Trifte (Oslo): Kritik der Analytischen Soziologie. Zur Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden zur Erklärung durch Mechanismen. . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . ..
225
Riccardo Boero (Turin)/ Flaminio Squa~oni (Brescia): Agentenbasierte Modelle in der Soziologie. Über eine Integration von Empirie und ModelIierung .
243
Gianluca Manzo (paris): Populationsbasierte versus nachbarschaftsbasierte soziale Vergleiche. Ein agentenbasiertes Modell für das Ausmaß und die Gefühle relativer Deprivation .. . . . . .. . .. . . . . .. . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . .. . . .
265
Autoren................................................................................. 295
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Thomas Kron / Thomas Grund
Einführung in die Diskussion zur Analytischen Soziologie 1. Einleitung Die Analytische Soziologie ist eine sich "herauskristallisietende" (Barbara 2006) Bewegung, die sich die Aufgabe gestellt hat, ein neues Forschungsprogramm zu entwickeln, "eine Strategie, die soziale Welt zu verstehen" (Hedström/Bearman 2009: 4). Auch wenn zentrale Anstöße bereits in "Social Mechanisms" (Hedström/Swedberg 1998) formuliert worden sind, gilt Hedströms ,,Anatomie des So~/en" (2008 [zuerst 2005]) als Manifest dieses Programms, das nun allmählich geschärft werden soll, indem die systematische Verwendung von Mechanismen in den Sozialwissenschaften diskutiert (siehe Hedström/Bearman 2009) und zentrale Elemente des Forschungsprogramms zusammengestellt werden (siehe Hedström/Ylikoski 2010). Mit dem vorliegenden Sammelband wird dieser Diskurs aufgegriffen, indem verschiedene Konzepte und Modelle innerhalb der Analytischen Soziologie kritisch diskutiert werden. Ganz bewusst wird dabei keine "intellektuelle Lobpreisung" vorgenommen - wie dies so häufig passiert, wenn ein Forschungsprogramm verbreitet werden soll -, sondern es soll nach Möglichkeiten und Notwendigkeiten Ausschau gehalten werden, die Analytische Soziologie fortzuentwickeln. In der Metapher des "soziologischen Werkzeugkastens" (Schimank 2010: 349ff.) formuliert, liegt mit der Analytischen Soziologie eine Gebrauchsanweisung zur Erklärung sozialer Phänomene vor, die auf ganz bestimmte soziologische Werkzeuge rekurriert. An dieser Stelle sollen nun sowohl die Gebrauchsanweisung als auch die einzelnen Werkzeuge auf ihre Leistungsfähigkeit hin befragt werden: Was kann die Analytische Soziologie und - noch wichtiger - was kann sie eventuell nichP. Und damit verbunden: Was für eine Art von Soziologie betreiben wir, wenn wir der Analytischen Soziologie folgen? Was geht mit der Analytischen Soziologie verloren? Welche sozialtheoretischen Grundlagen werden benötigt? Welche Art von Handlungstheorie muss eingesetzt werden? Wie relevant sind methodische Verfahren wie die Netzwerkanalyse oder die Sozialsimulation? Usw. Zum einen wird mit dieser kritischen Diskussion an die Entstehungsgeschichte dieses "anafytical turn" (Elster 2007: 455) angeschlossen. Die Analytische Soziologie speist sich aus verschieden philosophischen und soziologischen Traditionen und reicht in ihrer theoretischen Fundierung bis zu den Anfängen soziologischen Denkens zurück. Dementsprechend beruht die zeitgenössische Analytische Soziologie 7 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Eiriführung in die Diskussion zurAna!Jtischen Soifologie auch auf jenen Konfrontationen, die die Soziologie von Beginn an in Auseinandersetzung mit ihren Grundlagen begleitet hat. Nicht zuHillig erscheint die Analytische Soziologie heute als eine Art Mittelweg oder Brücke zwischen verschiedenen soziologischen Postionen. Und auch die jüngsten Publikationen zum MechanismenKonzept in den Sozialwissenschaften, aber auch zu anderen Elementen der Analytischen Soziologie, dokumentieren nicht nur die große Aufmerksamkeit, die diesem Ansatz geschenkt wird, sondern verweisen auf die insgesamt sehr lebendige Debatte (siehe z.B. Ballarino 2005; Barbano 2005; Barbara 2004, 2005, 2006; Bunge 1997; Cherkaoui 2005; Demeulenaere 2010; Gross 2009; Hedström 2005; Hedström/ Bearman 2009; Hedström/Swedberg 1998; Hedström/Ylikoski 20lOb; Kron 2005, 2006; Lucchini 2007; Malsch 2006; Manzo 2007a, 20007b, 2007c, 2009, 2010; McAdam/Tarrow/Tilly 2001; Maurer 2009; Mayntz 2002, 2003; Tilly 2001; Schmid 2006, 2010; 0sterberg 2009; Steel 2004). Trotz der Fundierung des analytischen Ansatzes in lange geführten Debatten und Theorietraditionen ist die Analytische Soziologie folglich ad initium. Parallel zu diesem Diskurs institutionalisiert sich die Analytische Soziologie zusehends. Forschungsnetzwerke sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene haben sich mittlerweile gebildet. Ein wichtiger Knoten in diesem Netzwerk ist das "European Network 0/ Ana!Jtical Sociologists" - gegründet 2007 von Peter Hedström, Thomas Kron, Thomas Grund und Anderen, in dessen Rahmen alljährlich Konferenzen zur Analytischen Soziologie organisiert werden1 und in dem Forschergruppen aus den USA, Großbritannien, Schweden, Deutschland, Norwegen, Italien, Spanien und Frankreich aktiv sind.
2. Erklären als Kern der Analytischen Soziologie Dreh- und Angelpunkt dieses internationalen Netzwerkes ist die Frage nach den Möglichkeiten des Erklärens von sozialen Phänomenen. Auch wenn der Erklärung individuellen Handelns dabei eine wichtige Bedeutung zukommt, sind es doch vor allem soziale Muster, die von Interesse sind und diese lassen sich eben nicht direkt auf individuelle Eigenschaften der Akteure reduzieren. Im Gegensatz zum deduktiv-nomologischen Versuch, ein Explanandum mit empirisch validierten Gesetzen zu erfassen und dieses als erklärt zu betrachten, wenn es durch ein Explanans (statistisch) erwartbar ist, betont der analytische Ansatz die Notwendigkeit der Eifassung des Prozesses der Genese des Explanandums. Zur Entschlüsselung dieser Prozesse greift die Analytische Soziologie auf Mechanismen zurück, um diese EntsteDie erste Konferenz hat 2008 in Oxford stattgefunden, gefolgt von Turin 2009 und Barcelona 2010. Für 2011 ist ein Treffen in Aachen in Planung. Das ,,European Network ofAlIa!JlicalSociologists" ist erreichbar über http://www.analytical-sociology.org.
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Thomas Kron / Thomas Grund hungsprozesse präzise formulieren und modellieren zu können. Größter Wert wird dabei auf die Notwendigkeit von Präzision und Klarheit gelegt. In den Worten von Elster (2007: 455): Der "anafytical turn" in den Sozialwissenschaften beruht "auf einer nahezu besessenen Betonung von Klarheit und Präzision". Durch das Sei/eren soi/aler Prozesse2 wird versucht, die "Zahnräder" der sozialen Maschinerie offenzulegen. Trotz aller Unklarheiten über die genaue Definition eines Mechanismus ist allen Variationen dabei die Vorstellung der "Generierung" oder "Erzeugung" von Ergebnissen gemein (vgl. Epstein 2006; Boudon 1979). Das Credo lautet: Um etwas zu erklären, muss man zeigen, wie es zustande kommt, es also generieren oder erzeugen (siehe Boudon 1979; Harre 1970; Kron 2006; Manzo 2010).3
2.1 Die Rolle von Akteuren Der Forderung, für eine soziologische Erklärung den generativen Prozess eines sozialen Phänomens zu sezieren, führt dazu, dass die relevanten Akteure in diesem Prozess identiftziert werden müssen. Sofern Hedström Akteure in ihrem handelnden Zusammenwirken als energetische Einheiten erforderlich zur Konstruktion eines Mechanismus erachtet, greift seine Analytische Soziologie methodologisch auf das Modell soziologischer Erklärung von Coleman (1990) zurück - die bekannte "Badewanne". Dieses Modell schreibt u.a. vor, dass man sowohl die Situationslogik als auch die Selektionslogik des Handelns von Akteuren speziftsch darzulegen habe. Hedström schlägt dazu vor, als Handlungstheorie die DBO-Theorie zu verwenden. Opportunitäten, Bedürfnisse und Überzeugen erklären dann, worauf ein Akteur in einer Situation achtet und weshalb er dann die Handlung auswählt und vollzieht. 4 Wenn Akteure von anderen Akteuren beeinflusst werden, dann ebenfalls über Opportunitäten, Bedürfnisse und Überzeugungen. Wenngleich die DBO-Theorie durch ihre Einfachheit besticht, so sehr lässt sie sich sicherlich in vielerlei Hinsichten kritisieren, und auch in diesem Band gibt es Einiges dazu zu lesen. Was eine Handlungstheorie im Vergleich zum empirischen Handeln von Menschen tatsächlich abdecken und erklären muss oder anders formuliert: Wie unvollständig die Handlungstheorie sein darf, ist abhängig von ganz 2 3
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Nicht umsonst nennt Hedström sein Buch im englischen Original "Dissecling the Social' und zeigt im Titelbild einen Anatomiesaal. In der Analytischen Soziologie schließt das Sezieren eines zu erklärenden Phänomens mittels der Formulierung von Mechanismen konttafaktische Gedankene:xperimente mit ein, d.h., der mechanismenbasierte Ansatz lässt sich im Sinne von Woodwatds (2002, 2003; siehe auch Morgan/Winship 2007) Verständnis von Kausalität verstehen, nach dem die erklärende Kraft einer Generalisierung in ihrer Fähigkeit liegt, zu erfassen, was unter anderen Umständen geschehen würde. Die Selektion und der Vollzug der Handlung sind bei Hedsttäm (wie auch bei Coleman) ein (Modellierungs-)Schritt. Vor allem der Pragmatismus verweist darauf, dass diese (In der Regel stillschweigend getroffene) Annahme möglicherweise nicht angemessen ist (siehe etwa Grass 2009; Joas 1992).
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Eiriführung in die Diskussion
zur AnalYtischen Soifologie
unterschiedlichen Bedingungen, vor allem aber von der Antwort auf die Frage, was denn als "Soziales" gilt. Gleich wie man diese Frage zu beantworten geneigt ist, unabdingbar ist für jedes handlungstheoretisch fundierte Forschungsprogramm anzugeben, warum nicht mehr Eigenschaften des Akteurs, gemessen an der Realität menschlichen Handelns, modelliert werden. Mit anderen Worten: Man benötigt eine Modeilierungsstoppregel Hedström verzichtet beispielsweise darauf, mit seiner Handlungstheorie jene komplexen Vorgänge im Gehirn des Akteurs zu modellieren, mit denen dieser bei der Situationsdefmition zu einer Antwort auf die Frage kommt, "was geht hier eigentlich vor?" (Goffman 1977: 16) - im Gegensatz etwa zum in DeutscWand viel diskutierten Frame-Selection-Model von Hartrnut Esser (2001,2003,2004; vgl. zusammenfassend Greshoff/Schimank 2005; Kron 2005b: 52ff.), der diese Modellierung für unabdingbar hält (vgl. dazu kritisch zusammenfassend Kron 2004). Ohne die Angabe einer derartigen Modellierungsstoppregel wird man zum einen die Diskussion um die Angemessenheit der Handlungstheorie woW niemals zu einem wenigstens vorläufig gut begründeten Ende bringen können. Zum anderen kann die Analytische Soziologie sich ohne die begmndete Darlegung der Modellierungsstoppregel kaum des Vorwurfs der Beliebigkeit erwehren, sofern sie darauf Wert legt, die DBO-Theorie nicht als definierendes Element der Analytischen Soziologie zu betrachten und sich nicht auf diese eine Handlungstheorie festzulegen, sondern stattdessen dadurch auszeichnen möchte, offen für und anscWussfihig an weitere Handlungstheorien zu sein (siehe Hedström/Ylikoski 2010: 60f.). Zudem ist drittens der Beliebigkeiten bzw. der Offenheit in der handlungstheoretischen Frage eine faktische Grenze innerhalb der Analytischen Soziologie gesetzt, weil eine Artformaie Selektionsregel angegeben werden muss!5 Weniger aus epistemologischen (vgl. Esser 1999) als vielmehr aus methodischen Gründen, wenn nämlich Sozialsimulationen eingesetzt werden sollen. Dazu gleich mehr. Hedströms Argument ist an dieser Stelle, dass Akteure notwendig sind, damit Soziales erzeugt werden kann, da sich das Soziale auflösen würde, wenn es keine Akteure mehr gäbe (siehe Hedström 2008: 16). Dies ist allerdings kein allzu klar formuliertes Argument. Denn erstens hängt die Notwendigkeit für das Soziale davon ab, was man unter "dem Sozialen" zu verstehen geneigt ist - hier bleibt Hedström sehr vage, so dass man an dieser Stelle einen Präzisierungsbedarf anmelden kann. Doch selbst wenn die sozialen Phänomene, die Hedström erklären will, "sozial" genannt werden können und Akteure zu deren Entstehung, Erhaltung oder Wandel notwendig sind, dann trifft dieses Merkmal der Notwendigkeit Akteure vermutlich nicht alleine. Hier kann man das Gegenargument von Luhmann (2009: 36) aufgreifen, dass man für diese Phänomene auch weitere notwendige Bedingungen be5
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Insofern eignet sich etwa die pragmatistische Handlungstheorie genauso wie alle Praxistheotien gegenwärtig nicht, solange sie keine formalisierbaren Selektionsalgotithmen angeben können.
Thomas Kron / Thomas Grund nötigt: Luft, Erdmagnetismus, Sonnenstrahlung... Eine Möglichkeit, Akteure als Notwendigkeitsbedingung argumentativ zu stützen, führt Michael Schmid (1998) an, der auf eine problemorientierte Perspektive des Sozialen verweist: Wenn die zu erklärenden sozialen Phänomene als Problemlösungsmuster betrachtet werden, dann ist erstens die Frage, auf welche Probleme diese Lösungen reagieren. Eine Antwort ist, dass es generell Koordinationsprobleme, Kooperationsprobleme und (Verteilungs-)Konflikte sind, die als Probleme solche Lösungen provozieren, wie die Soziologie sie etwa als Markt, Herrschaft oder Moral thematisiert. Wenn man bis hierhin folgen möchte, ist die anschließende Frage, wie, d.h. unter welchen Bedingungen solche Probleme überhaupt entstehen können. Konkreter bezogen auf die Handlungstheorie: Welche Eigenschaften müssen Akteure aufweisen, damit sie überhaupt die genannten Probleme erzeugen können? Offensichtlich ist z.B., dass Akteure in einem gewissen Maße eigennützlich an Ressourcen interessiert sein müssen, um in Verteilungskonflikte hinein zu geraten. Offensichtlich ist eine gewisse Zweck-Rationalität des Akteurs also notwendig, um derartige Probleme entstehen zu lassen. Die Spieltheorie hat an dieser Stelle darüber hinaus überzeugend dargelegt, dass diese Rationalität des Akteurs auch hinreichend ist, denn wenn rationale Akteure es miteinander zu tun bekommen, dann entstehen celeris paribus die genannten Probleme. Hinreichend ist die Rationalannahme aber nur unter bestimmten Bedingungen, nämlich wenn die Akteure interagieren und dann in "Intentionsinterferenzen" (Schimank 2010: 186ff.) geraten. Und zu einem Zusammenwirken des Handelns bzw. Interaktionen wird es nur dann kommen, wenn die Ressourcen knapp sind. Man muss sich nur koordinieren, miteinander kooperieren oder Ressourcen verteilen, wenn man nicht so viele und genau die Art von Ressourcen zur Verfügung hat, wie jeder einzelne Akteur benötigt. Im ScWaraffen1and gäbe es diese Probleme nicht, weil jeder individuelle Akteur genau die Art und Anzahl von Ressourcen vorftndet, die er gerade meint zu benötigen. Knappheit ist für viele Ressourcen als empirische Tatsache vermutlich eine plausible und faktisch richtige Annahme - weshalb die meisten Sozialtheorien dieses Miteinander-zu-tunbekommen ontologisch setzen. Wenn dies aber die einzige ontologisch plausible Annahme wäre, da ein Schlaraffenland zur Zeit6 nicht in Aussicht steht, wäre der homo oeconomicus folglich ein angemessenes, da zur Problemerzeugung notwendiges und hinreichendes Akteurmodell - wenn es nicht empirisch falsch wäre, Letztes ist Hedströms Argument. Teilt man diese Behauptung, dass der homo oeconomicus nicht nur unvollständig, sondern auch in unkontrollierter Art und Weise falsch ist, dann muss man ein anderes Modell anbringen. Leider ist ein solches alternatives, adäquates und empirisch 6
Da man nicht weiß, wie die zukünftige Gegenwart aussieht, können wir allerdings nur auf eine gegenwärtige Zukunft rekurrieren.
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Eiriführung in die Diskussion zurAnalYtischen Soifologie innerhalb bestimmter Genauigkeitsgrenzen gültiges Handlungs- oder AkteurmodelF bislang nicht entdeckt worden - ob die DBO-Theorie diese Alternativtheorie ist, steht aktuell zur Diskussion. Man kann insgesamt festha1ten, dass die Argumentation über Notwendigkeiten, wie Hedström sie einbringt, alleine nicht weiterführt, sondern auch die hinreichenden Bedingungen einbezogen werden müssen. Dementsprechend hält Luhmann einzig Kommunikation - ohne Akteure gedacht - für hinreichend, was allerdings lediglich, aber immerhin, per dejinitionem (vgl. Münch 1992) richtig ist, da Luhmann nur das für Sozial hält, was kommunikativ ist. Nun sind Akteure alleine nicht hinreichend für das Soziale, aber interagierende Akteure sind es möglicherweise. Die Bedingung, die bei Hedström die für das Soziale notwendige Bedingung der Akteure hinreichend ergänzt, ist die Interaktion. Kurz: Hedström nimmt schlicht an, dass die mit Bedürfnissen, Überzeugungen und in bestimmten, knappe Ressourcen einschließenden Opportunitätsstrukturen handelnden Akteure es miteinander zu tun bekommen und in ihrem Handeln wechselwirken. Dies ist schließlich auch Georg Simmels (1989: 115ff., 1992: 13ff.) sozialtheoretisches Argument gewesen, die aus den wechselwirkenden Akteuren (die Inhalte) hervorgehenden Formen zu untersuchen und nicht wie etwa Max Weber oder später Talcott Parsons spezifische Akteur-Eigenschaften (sinnhaftes Verhalten, gemessen am Maßstab der Zweckrationa1ität bzw. normative Orientierung des Handelns) vorauszusetzen - was Simmel u.a. den Ausschluss aus Parsons' Integrationsversuch in "The Structure rif Soda! Action" eingebracht hat (siehe Kron 2010: 189ff.). Ohne es zu explizieren, folgt Hedström hier eher Simmel als Weber, da es in der Analytischen Soziologie streng genommen nicht immer Akteure sein müssen, die den erklärenden Mechanismus tragen, sondern dies können verschiedene (mit Simmel gesprochen) Inhalte sein - hier öffnet sich die Analytische Soziologie z.B. für die Möglichkeit, Hybride aller Art zu inkludieren (vgl. Latour 2007; Schulz-Schaeffer 1998; Weyer 2006). Nicht die Art der Eigenschaften von Akteuren erscheint der Analytischen Soziologie relevant (solange diese notwendig und hinreichend zur Problemerzeugung sowie empirisch bestätigt sind). Entscheidend ist vielmehr, dass ein zu erklärendes Phänomen in seine Bestandteile zerlegt, das wechse!wirkende Verhalten dieser Bestandteile genau beleuchtet und letztendlich wieder zusammengeführt wird. Und nur dann, wenn dieser Vorgang das beobachtete Phänomen reproduziert, wird von einer "Erklärung" gesprochen. Das legt nahe, die Handlungstheorie unter diesen Vorgaben so einfach handhabbar wie möglich zu halten. Dieses Aufforderung zur Einfachheit wird noch da7
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Die Unterscheidung von HandIungs- und Akteurtheorie bezieht sich darauf, dass nicht alle Handlungstheorien automatisch Akteurtheorien sein müssen. Parsons' systemische HanclIungstheorie etwa war keine Akteurtheorie.
Thomas Kron / Thomas Grund durch gestützt, dass Hedström die chaostheoretische Einsicht mitführt, dass soziale Prozesse sensibel gegenüber den Anfangsbedingungen sind - kleine Veränderungen am Anfang können zu unterschiedlichen sozialen Verläufen mit völlig unterschiedlichen Resultaten führen. Krieg oder Frieden in der Welt kann so gesehen manchmal von einem kurzfristig desorientierten Kutscher abhängen... Wenn aber soziale Prozesse derart "chaotisch" ablaufen können, dann empfiehlt es sich, zur Modellierung dieser komplexen Abläufe die Kompliziertheit der aufeinander wirkenden Elemente so gering wie möglich zu halten, um jene Regelsätze formulieren zu können, mit denen komplexe Muster erzeugt werden können, was nur in einem geringen Parameterraum überhaupt möglich ist.B Dies ist nicht nur die Empfehlung von Coleman, sondern wird auch innerhalb der Forschung zur Komplexitätstheorie erhoben. Wird die Kompliziertheit der Entitäten an sich zu groß, explodiert der zu analysierende Parameterraum, so dass man letztlich nur noch zu dem Ergebnis kommt, dass alles mit allem (oder nichts mit nichts) zusammenhängt und es irgendwie auf mannigfaltigen Wegen - Stichwort: Äquifmalität bzw. Multifinalität - zu dem beobachteten Sozialmuster kommt. Kurz: Wenn die Analytische Soziologie auf generative Erklärungen komplexer sozialer Phänomene setzt - und es gibt gute Gründe dies zu tun - und dabei von handelnd-wechselwirkenden Akteuren ausgeht, dann muss das zugrundeliegende Akteurmodell möglichst einfach sein - so das gemeine Motto. Leider gibt es kein Maß für die Einfachheit und die Kompliziertheit bzw. für die pragmatische Handhabung von Akteurmodellen - genau dies hat die Suche nach einer Modellierungsstoppregel bislang erschwert. Die üblicherweise vorgetragene Antwort, es hänge ganz von dem empirischen Fall ab, den man zu analysieren gedenkt, wie reichhaltig man den Akteur modelliert9, ist unbefriedigend, weil damit keine Regel formuliert ist, aus der man folgern könnte, dass in dem einen Fall ein kompliziert-reichhaltiges Akteurmodell und in dem anderen Fall ein einfaches 8
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Wir verwenden hier den Begriff der "Komplexität" (oder ,,komplex"), um auf die Eigenschaften eines Systems zu verweisen, die sich aus dem Zusammenspiel der Entitäten ergeben, und den Begriff der ,,Kompliziertheit" (oder "kompliziert''), um eine Eigenschaft einer Entität zu erfassen. Folglich könnte man vielleicht sagen, dass soziologische Bezugsrahmen und Theorien durchaus kompli'(jert sein können oder dürfen, was bedeutet, dass diese zwar schwierig zu überblicken sind, aber eine Zerlegung in Untereinbeiten erlauben, was zu einer Auflösung der "Verwicklung" führt. Mit Hilfe der übersichtlichen Teile wird ein Verständnis des Gesamtsystems möglich. Für einen komplexen Bezugsrahmen oder eine komplexe Theorie ist die Unterteilbarkeit nicht möglich bzw. tragen die Untereinbeiten ftir sich nicht zu einer "Entwirrung" bei, denn gerade die Vernet:lJmg der vermeintlichen Einzelteile prägen die wesentlichen Eigenschaften des Gesamten, die mit Hilfe der getrennten Teile kaum erfassbar sind oder u.U. gar nicht existieren (vgl. Richter/Rost 2002: 3ff.; Vester 1983; 1999: 26ff.). Umgangssprachlich (und auch innerhalb der Sozialwissenschaften) ist diese Unterscheidung oft nicht klar. Dies ist auch die Auffassung von Hedström: "the explanatory task thus detertnines how rich the psychological assumptions must be." (Hedström/Ylikoski 2010: 60)
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Eiriführung in die Diskussion zurAnalYtischen 50ifologie Akteunnodell zum Zuge kommt. IO Aus dem bisher Gesagten können wir aber folgern, dass es nützlich wäre, wenn wir über einen akteurtheoretischen Bezugsrahmen verfügen könnten, der sowohl sehr einfach Akteurmodelle - z.B. rein ökonomisch orientiertes Handeln - als auch sehr kompliziert orientiertes Handeln zu modellieren in der Lage ist. Dann nämlich kann man die Vollständigkeit, Reichhaltigkeit und damit die Kompliziertheit experimentell bis zu dem Punkt steigern, an dem man mit einem möglichst vollständigen und reichhaltigen (und damit komplizierten) Akteurmodell genau jene Muster erzeugt, die man zu erklären beabsichtigt: 50 vollständig wie möglich und so einfach} d.h. so unvollständig wie nölig - dies ist die entsprechende Modellierungsregel. ll Man beginnt z.B. mit einem rationalen Akteurmodell, wechselt dann zu einem normorientierten Akteurmodell (homo sociologicus), dann zu einem Akteur, der affektua1 orientiert ist (emotional Man) usw. Die nächste Steigerung der Vollständigkeit/Reichhaltigkeit ist dann die Mischung dieser Akteurtypen, z.B. zu einem Modell eines rationalen und emotionalen und vielleicht zudem normativ-orientierten Akteurs. Auf diese Weise wird man vermutlich mit steigender Reichhaltigkeit des Akteunnodells immer mehr äqui- und multifinale Wege zu dem zu erklärenden sozialen Muster erhalten, da mit steigender Parameterkomplexität der Möglichkeitsraum für die Unterschiedlichkeit der weiteren Verläufe immer größer wird. Derart die Vollständigkeit des Akteunnodells steigernd kann man fortfahren, bis eine Grenze der Handhabbarkeit erreicht ist - was dem soziologisch sensiblen Bedürfnis entgegenkommt, so nah wie möglich an das tatsächliche Handeln von Menschen heranzutreten, ohne ein bestimmtes Generalisierungsniveau der Erklärung zu unterschreiten (siehe Schimank 2002).12 Wo die Grenze der Handhabbarkeit liegt, sollte dann aber nicht ausschließlich von dem Einsatz der eingesetzten Analysetechnik abhängen, sondern von der Erk/iirungsperformanz. Das bedeutet, zum einen sollte man im Sinne des Erklärens durch Mechanismen in der Lage sein darzulegen, warum und wie genau ein bestimmter Weg zu dem sozialer Muster führt, d.h. man sollte in der Lage sein, die gefundenen Wege anhand des Ineinandergreifens bestimmter Entitäten (Körper, z.B. Akteure) und Aktivitäten (Kräfte, z.B. äußere Kräfte wie Normen, Werte, Akteurkonstellationen des handelnden Zusammenwirkens, Systeme usw. sowie innere
10 Es überrascht dann auch nicht, wenn jene Forscher, die vorgeben, das Akteunnodell dem empirischen Fall anpassen zu wollen, de facto zumeist die (z.B. durch Fragebögen oder Interviews) eingefangene Wirklichkeit nach dem gerade bereitstehenden Akteunnodell ausrichten. 11 Es wird nicht überraschen, wenn wir an dieser Stelle auf den akteurtheoretischen Bezugsrabmen verweisen, den Kron (2005a) entwickelt hat. 12 Diese Modellierungsstopprege1 ist ganz im Sinne von Bunge (1963: 83f.) formuliert, der anmerkt: "If some rule has to be proposed, let it be the following: ,SimplifY in some respect as long as simplificarion does not elirninate interesring problems and does not carry a serve loss of generality, testability, or depth'."
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Thomas Kron / Thomas Grund
Kräfte, die durch den Sinnzusammenhang des Akteurs konstituiert werden) konkret nachzuvollziehen. 13 Dies wird besonders wichtig an jenen, in komplexen Prozessen möglicherweise mehrfach vorhandenen kritischen Verzweigungspunkten (CriticalJunctures), an denen sich der weitere Verlauf entscheidet: "Wenn historische Prozesse durch Multikausalität, Nichtlinearität und Interferenz geprägt sind, dann sind ihre Ergebnisse pfadabhängig, d.h. sie fallen unterschiedlich aus, je nachdem welchen Fortgang der Prozess an bestimmten Verzweigungspunkten nimmt, an denen alternative Wege offen stehen, ein bestimmter Schritt mithin möglich, aber nicht zwangsläufig ist." (Mayntz 1997d: 336).14 Zum anderen sollten alle gewonnen Wege empirisch plausibel sein, d.h., logisch mögliche, aber empirisch nicht vorkommende Pfade kann man (zunächst) ausschließen. Dieser empirische Abgleich sollte sich, wenn möglich, auf alle Teile des Mechanismus beziehen, also auf die Entitäten (Körper), die Aktivitäten (Kräfte) sowie auf die Art der Verlaufsform. Ist dies geleistet, dürfte die Gesamterklärung der Anforderung an eine Wirklichkeitswissenschaft entsprechen: "Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens [...] verstehen, [...] die Gründe ihres geschichtlichen So-und nicht anders-Gewordenseins." (Weber 1951a: 170f.)
13 ,,Mechanisms are composed of both entities (with their properties) and activities. Activities are the producers of change. Entities are the things that engage in activities. Activities usually require that entities have specific types of properties. [...] The organization of these entities and activities determines the ways in which they produce the phenomenon. Mechanisms are regular in that they work a1ways or for the most part in the same way under the same conditions [...]; what makes it regular is the protluctive continuity between stages." (Macharner/Darden/Craver 2000: 2) 14 Die Konzentration auf kritische Verbindungspunkte ist vor allem deshalb wichtig, weil somit in der historischen Analyse das Problem des infiniten Erlclärongsregresses in die Vergangenheit vermieden werden kann. Dieses Problem entsteht dann, wenn die Forschenden keine Kriterien zur Hand haben, die einen sinnvollen Startpunkt der Analyse von Pfadabhängigkeiten begründen könnten. Kritische Verbindungspunkte helfen, das Problem zu lösen, indem die Aufmerksamkeit auf Schlüsselereignisse gelenkt wird, die jene historischen Punkte markieren, die die Bandbreite möglicher Ergebnisse substanziell begrenzen. Auf diese Weise wird dem Subjektivismus der Identiflkation des Beginns eines historischen Pfades ein Stück weit Vorschub geleistet, dem etwa Popper (2000: 134) das Wort gesprochen hat: ,,Der Versuch, Kausalketten bis weit in die Vergangenheit zu verfolgen, würde nicht im geringsten helfen, denn jeder konktete Effekt, mit dem wir beginnen könnten, hat eine große Zahl verschiedener Teilursachen, d.h. die Randbedingungen sind sehr komplex und die meisten von ihnen interessieren uns nur wenig. Der einzige Ausweg aus dieser Schwierigkeit ist unserer Auffassung nach die bewusste Einführung eines vorgefassten selektiven 5tandpunkJs in die historische Forschung, d.h., wir schreiben die Geschichte, die uns intmssierl.". So gesehen begünstigen kritische Verbindungspunkte im Rahmen von Pfadabhängigkeiten strukturelle Selektionen (siehe Mahoney/Snyder 1999: 17; vgl. Schmid 1998a). Allerdings heißt das nicht, dass das Handeln aller anderen Akteure, die nicht dem aktuell eingeschlagenen Pfad folgen, nicht zu einem später Zeitpunkt wieder wichtig werden könnten, da, wie Thelen (2003: 231) es fonnuliert, "losers do not necessatily disappear".
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Eiriführung in die Diskussion zurAna!Jtischen Soifologie 2.2 Interaktionsprozesse Wie oben bereits angedeutet, ist der Kern des analytischen Ansatzes die (vielleicht wenig originelle, aber nichtsdestotrotz wichtige) Erkenntnis der Relevanz des Interaktionsprozesses. Soziale Mechanismen haben die Resultate der Dynamik des handelnden Zusammenwirkens von Akteuren zu entschlüsseln, indem sie diese Interaktionsprozesse nachbauen und am Computer durchspielen, bis das zu erklärende Phänomen erzeugt worden ist. Wenn wir die von Epstein (2006) und Kron (2005: 312) eingebrachte Mechanik-Analogie der "Zahnräder" bzw. "Zahnradkette" wieder aufnehmen, wird deutlich, dass nicht nur die Bestandteile an sich, sondern vor allem die Art und Weise, wie sie ineinandergreifen, von Bedeutung ist. Selbstverständlich hängt die Dynamik von sozialen wie nicht-sozialen Verlaufsformen auch von der Art der Bestandteile ab; Sand erzeugt z.B. schneller eine Lawine als Reiskörner. 15 Aber gleich welche Art von Bestandteilen wir annehmen: Eine Erklärung erhalten wir nur dann, wenn wir den Prozess des Zusammenwirkens beobachten. Um beispielsweise die Funktionsweise einer Uhr zu verstehen, genügt es nicht, wenn wir die "Zahnräder" ausgebreitet vor uns auf dem Tisch betrachten und uns vielleicht zusätzlich noch streiten, welche Eigenschaften der Zahnräder nun wirklich in die Analyse einbezogen werden müssen oder nicht. Erst durch das Arrangement der einzelnen Teile und durch die Darlegung der Verlaufs figur im Ineinandergreifen können wir erklären, wie eine Uhr funktioniert. Selbstverständlich behauptet die Analytische Soziologie nicht, dass sich soziale Prozesse als Uhrwerke betrachten ließen. Soziale Prozesse sind nicht (immer) deterministisch, sondern stellen sich oftmals als komplex dar. Wie gesagt, dies bedeutet nicht, dass etwas kompliziert ist, sondern dass die Interaktionsprozesse zwischen den Entitäten selbst bei einfachen Mechanismen kaum ermöglichen vorherzusagen, in welchen Mustern diese resultieren werden und welche Art von Regelmäßigkeit dahintersteckt. Die Analytische Soziologie berücksichtigt derartige Komplexitäten explizit. Man könnte sagen, dass der "ana!Jticai turn" auch ein Versuch darstellt, auf den noch viel zu wenig beachteten "compJexiry turn" CUrry 2005) in den Sozialwissenschaften zu reagieren. 16 Damit folgt die Analytische Soziologie der Auffassung sowohl von der Nicht-Reduzierbarkeit der spezifisch sozialen Eigenschaften auf die Akteure als auch der Ablehnung eines reinen Holismus und damit dem bekannten Schlagwort der "Dualität von Handeln und Strukturen" (siehe 15 Siehe zur Relevanz für selbstorganisiert-kritikale soziale Systeme (Bak 1996; Kron 2007; Kron/ Grund 2009). 16 In den zeitgenössischen deutschen soziologischen Theorien lässt sich allerdings ablesen, dass diese auf eine "soziologische Komplexitätstheorie" hin konvergieren; siehe dazu Kron (2010: 189ff.). Dies macht die deutsche Soziologie für die Fortentwicklung der Analytischen Soziologie besonders interessant.
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Thomas Kron / Thomas Grund Giddens 1984; Schimank 2000).J7 In diesem Sinne fordern Hedström und Ylikoski (2010: 63) die "Kollektivität als Ganzes, nicht aber als kollektive Entität [zu] untersuchen".
2.3 Computersimulation Eine äußerst geeignete Methode, komplexe, pfadabhängige soziale Prozesse zu analysieren, ist die Computersimulation (vgl. Flache/Maey 2006; Gilbert 1994, 1996, 2000, 2008; Gilbert/Troitzsch 2005; Maey/Flache 2009; Troitzsch 1997, 1999, 2000, 2009). Da die Computer-Analyse darin besteht, Phänomene künstlich zu erzeugen, liegt es nahe, Computersimulationen für soziologische Erklärung im Sinne einer "generativen Soziologie" einzusetzen. Im Gegensatz zu dem in der Soziologie üblichen ex-postjacto-Design der Erklärung setzt man hier auf ein experimentelles Design, das eine hohe interne Validität, d.h. vor allem: die Kontrolle von Störvariablen gewährleistet - eine notwendige Bedingung für die Analytische Soziologie unter "chaotischen" Rahmenbedingungen. In Kombination mit der oben zur Modellierungsstopprege1 beschriebenen Vorgehensweise wird zudem die externe Validität kontrolliert. Computersimulationen sind ganz grundsätzlich notwendig, weil man die komplexen sozialen Prozesse schlichtweg nicht durchdenken kann, wie bereits der Blick z.B. auf das Schachspiel zeigt, bei dem man in der Regel vor allem in der Mitte des Spiels kaum über besonders viele Züge hinweg die möglichen Verlaufsformen durchdenken kann - und das im Vergleich zur sozialen Wirklichkeit im Rahmen einer sehr begrenzten Topologie mit einer sehr begrenzten Anzahl von Akteuren, die sogar immer weniger werden. Schimank (1999) hat in Anlehnung an diese Analogie empfohlen, sich auf jene Situationen zu konzentrieren, die leichter durchdenkbar sind, wie im Schach die Anfangs- und Endsituationen, sich also auf die Analyse von theoretischen Pattialmustern für bestimmte Episoden sozialer Vorgänge zu konzentrieren. Die Analytische Soziologie mit ihrem generativen Erklärungsziel würde zusätzlich anraten, die dabei nicht durchdenkbaren Verläufe zu simulieren und zu analysieren. Dass die Sozialsimulation noch kein Standard in der Soziologie ist, liegt u.a. an dem noch unbefriedigenden Anschluss der Comrnunity der Sozialsimulation an die Soziologie. Sehr häufig werden im Rahmen von Sozialsimulationen willkürlich, 17 Damit soll nicht gesagt werden, dass Hedström sich an der Soziologie von Giddens (oder Schimank) orientieren würde. Gemeint ist vielmehr, dass jene (oft genug impliziten und diffusen) ontologischen, epistemologischen und methodologischen Annahmen, die unter dem Schlagwort der "Dualität" subsummierr werden, auch für die Analytische Soziologie gelten. Zu überlegen wäre allerdings, ob man auf dieses Sprachspiel zugunsten der in der Analytischen Soziologie geforderten Präzision und aufgrund der Vagheit des gemeinsam-soziologischen Verständnisses dieser Dualität nicht besser verzichten sollte.
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Eiriführung in die Diskussion zurAna!Jtischen Soifologie ohne weitere Kenntnisnahme soziologischer Handlungs- und Akteurtheorien, auf der Basis der uns ja allen zugänglichen Alltagserfahrungen über das Soziale G,schließlich leben wir doch alle in der sozialen Welt!'') Agenten gebastelt, so dass das in Frage stehende Problem gelöst werden kann. Ein empirischer Abgleich von Agent-Akteur-Mensch, wie er oben angesprochen wurde, fmdet dabei zumeist nicht statt. Diese Art der ad-hoc-Modellierung führt in der Regel nicht nur zu Ergebnissen mit sehr geringem Generalisierungspotential, sondern basiert zudem auf einem - für das generativ-epistemologische Anliegen der Analytischen Soziologie kontra-produktiven - Prozessdeterminismus: Wenn man nur irgendwie qua Simulation einen einigermaßen plausiblen Weg zum Explanandum generiert hat, sei Letzteres auch erklärt - womöglich noch soziologisch befriedigend. Hedström verdient an dieser Stelle außerordentlich Anerkennung dafür, dass er zum einen der Soziologie die Computersimulation als Analysemethode anträgt und zum anderen - vor allem - die angewandten Simulationsanalysen von Beginn an soifotogisch gerahmt wissen möchte. Das bedeutet, dass erstens die verwendeten Agentenmodelle möglichst mit den Erkenntnissen der soziologischen Handlungsund Akteurtheorien kompatibel sind. Zweitens setzt Hedström (2008: 188ff.) auf "empirisch kalibrierte Simulafionen". Es besteht vermutlich noch Bedarf an Klärung, an welchen Stellen des erklärenden Mechanismus eine empirische Kalibrierung ansetzen soll oder sogar muss. Dass es eine solche empirische Kalibrierung, wenn möglich1s, geben sollte, ist unbestritten. 19 Dass sich Soziologie und Sozialsimulation aufeinander zubewegen können, wird etwa anhand der Ne/i!Perkana!Jse deutlich, die als eine weitere Analysemethode gerne von der Analytischen Soziologie genutzt wird. Zum einen hat die soziale Netzwerkanalyse (vgl. Jansen 2006) längst erkannt, dass sie sich in Richtung der Analyse dynamischer Netzwerke fortentwickeln muss, denn soziale Beziehungen entstehen und verschwinden wieder. Inwieweit sodat fies von den Attributen der Akteure abhängig sind (selection), oder aber diese Attribute verändern (influence), steht im Zentrum dieser Debatte (z.B. Aral et al. 2009; Christakis/Fowler 2007; Snijders et al. 2010). Analytisch betrachtet sind beides höchst unterschiedliche Mechanismen, die zum selben Ergebnis führen können (z.B. dass jugendliche Raucher
18 Nicht alle die Soziologie interessierenden Situationen sind der Empirie zugänglich, z.B. nicht die "Ur-Situation" doppelter Kontingenz: ",Reine' doppelte Kontingenz, also eine sozial vollständig unbestimmte Situation, kommt in unserer sozialen Wirklichkeit zwar nie vor. Trotzdem eignet sich dieser Ausgangspunkt, wn bestimmte Fragen weiter zu verfolgen." (Lubmann 1984: 168; vgl. Dittrich/Kron 2002; Kron/Lasarczyk/Schirnank 2003; Lepperhoff2000). 19 Wobei anzumerken ist, dass manche Soziologen die Bedeutung von Computersimulationen für theoretische Gedankenexperimente betonen, die nicht versuchen, die reale Welt abzubilden (vgl. Fn. 17) (siebe Axeltod 1997: 25; Maey/Willer 2002: 147). Das heißt aber nicht, dass "empirisch kalibrierte Simulationen" in Frage gestellt werden.
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oft mit anderen Rauchern befreundet sind, siehe hierzu Mercken et al. 2009). Zum anderen haben jene Netzwerkforscher, die sich aus der Physik kommend der Analyse sozialer Phänomene widmen, verstanden, dass sie sowohl soziologische Erkenntnisse integrieren als auch ihre oftmals abstrakten Modelle empirisch untersuchen müssen. Ein gutes Beispiel dafür sind die small-world-network-Untersuchungen von Duncan J. Watts, der zunächst einen allgemeinen Mechanismus für das Phänomen der "six-degrees" (siehe Watts 1999) gefunden, diesen dann soziologisch zugänglich gemacht (siehe Watts 2003, 2004) und empirisch geprüft (siehe Kossinets/Watts 2006; Lopez-Pintado/Watts 2008) hat. Die Analytische Soziologie ist aufgefordert, ebenfalls diese noch oft getrennten Wissenswelten - Soziologie, Sozialsimulation und Netzwerkanalyse - miteinander ins Gespräch und synthetisiert zur Anwendung zu bringen.
3. Beiträge zur Diskussion Mit dieser kurzen Einführung wird einerseits das Innovationspotential der Analytischen Soziologie, andererseits der sicherlich vorhandene Diskussionsbedarf deutlich. Selbstverständlich ist damit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Weitere Diskussionspunkte schließen z.B. an die von Manzo (2010) identifizierten sieben Einwände gegen die Analytische Soziologie an. Diese sind: 1) Die Analytische Soziologie beruht auf dem Mechanismen-Konzept, das an sich nur ungenügend definiert ist (vgl. Bunge 2007: 259; Gross 2009). 2) Mechanismen haben einen mehrdeutigen erkenntnistheoretischen Status innerhalb der Analytischen Soziologie (siehe Brante 2008: 276; Reiss 2007: 166). 3) Die in der Analytischen Soziologie verwendete Handlungstheorie ist zu unterkomplex (siehe Abbott 2007a; Gross 2009; Lucchini 2008; Pisati 2008; Sawyer 2007: 257). 4) Die Relevanz von Beschreibungen wird vernachlässigt (siehe Bernardi 2007; Opp 2005, 2007; Pisati 2007; Reiss 2007: 164). 5) Die Analytische Soziologie lehnt einen nomologischen Ansatz von Erklärung ab (Norkus 2005: 352ff.; Opp 2005: 174ff., 2007: 117f.; Sawyer 2007: 259). 6) Mechanismenbasierte Erklärungen bleiben immer unvollständig, da Mechanismen immer auch weitere Mechanismen enthalten (vgl. Opp 2005: 169; Pisati 2007: 7; vgl. Steel2004: 61ff.). 7) Die Verwendung von agentenbasierter ModelIierung wird überbetont (so Abbott 2007b; Lucchini 2007: 236ff., 2008: 9ff.; Sawyer 2007: 260). Man wird in diesem Sammelband nicht auf alle Einwände, Kritiken, Anregungen eingehen können. Aber das Ziel ist es, die Diskussion zum "ana!Jtical turn" zu bereichern und einen kleinen weiteren Schritt zur Präzisierung der Analytischen Sozi19
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ologie zu machen. Denn nur wenn die analytische Soziologie ein besseres Verständnis von sozialen Phänomenen als alternative Ansätze liefert, ist die Verwendung dieser Forschungsstrategie gerechtfertigt. In diesem Sinne werden in den folgenden Beiträgen zentrale theoretische Begriffe verfeinert, erweitert und überdacht. Daneben gilt es, methodische Entwicklungen voranzutreiben und in empirischen Studien den analytischen Ansatz anzuwenden. Konkret erwartet den Leser folgende Beiträge: Michael Schmid legt ausführlich die entscheidungstheoretischen Grundlagen des von Hedström vorgelegten Ansatzes dar und plädiert dafür, die DBO Theorie als Spezialfall einer weiter gefassten Rationaltheorie zu sehen und nicht umgekehrt. Mit der Verwendung der DBO Theorie zur Erklärung individuellen Verhaltens begrenzt sich die Analytische Soziologie auf ein Forschungsfeld, das nur bestimmte Interdependenzverhältnisse (Koordinationsprobleme) bearbeiten kann. Vor diesem Hintergrund sieht Schmid den Nutzen einer Rationaltheorie des Handelns darin, andere Interdependenzgeflechte modellieren zu können (z.B. Verteilungskonflikte). Im Weiteren hält Schmid dem Hedströmschen Verständnis sozialer Mechanismen entgegen, dass für eine realistischere Deutung von Theorien und Modellen weniger auf deren induktive Bestätigung als auf deren Widerlegung Wert zu legen sei. Rainer Greshoff unterstreicht in seinem Beitrag, dass es notwendig ist, genauer als bisher die Grundbegrifflichkeiten der Analytischen Soziologie herauszuarbeiten, um die mechanismische Methodologie fruchtbar zu machen. In seiner Perspektive beeinflussen Akteure sich nicht einfach gegenseitig durch ouverte Handlungen in ihren Bedürfnissen, Überzeugungen und Opportunitäten, sondern auch durch wechselseitige Erwartungserwartungen. Greshoff argumentiert, dass folglich eine genauere Fassung der "Mikro-Prozesse" notwendig ist, um zu verstehen, wie soziale Kollektivitäten entstehen. Das Modell der Frame-Selection-Theory (FST) wird von ihm als eine Möglichkeit gesehen, um die Situations- und Selektionslogik des Handelns der Akteure zu entschlüsseln. Dabei wird die FST nicht als Gegenentwurf zu Hedström verstanden, sondern als ein Konzept, das genauer angeben kann, wie der Entscheidungshorizont (Bedürfnissen, Überzeugungen, Opportunitäten) im Entscheidungshandeln der Akteure definiert wird und darin auch das Handeln und die Erwartungen anderer Akteure berücksichtigt. Jiirgen Macker! diskutiert kritisch die Auseinandersetzung mit Mertons Theorien mittlerer Reichweite in der Analytischen Soziologie. Seiner Ansicht nach sind die Abgrenzungsbestrebungen von Hedström gegenüber Merton unbegründet und falsch. Stattdessen werden von Macker! Gemeinsamkeiten hervorgehoben, aber auch aufgezeigt, welche Elemente des Mertonschen Denkens stärkere Verwendung in der Analytischen Soziologie finden sollten. Für Macker! ist die Bedeutung jener Zwänge entscheidend, die Opportunitätsstrukturen dem Handeln der Akteure auf-
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Thomas Kron / Thomas Grund erlegen, sowie die Bedeutung sozialer Mechanismen im Sinne von Mertons Theorien mittlerer Reichweite. Christopher Edling und Jens Rydgren stellen die Notwendigkeit der Intentionalität des Handelns in der Analytischen Soziologie in Frage. Eine Beschränkung auf derartiges Handeln grenze den Erklärungsbereich unnötig ein. Stattdessen plädieren sie dafür, Interessen als eine von vielen Triebfedern für Handlungen zu verstehen. Die Analytische Soziologie täte gut daran, sich ernsthaft auch mit Sozialisationsprozessen und "weichen" Ideen wie "Kultur" und "Identität" auseinanderzusetzen. Nur mit derartigen Bezügen sei zu verstehen, warum Individuen das tun, was sie tun. Inwieweit diese Forderungen umzusetzen sind, ohne den analytischen Anspruch aufzugeben, zeigen sie exemplarisch an der Rolle von sozialer Identität. Markus Baum weist in seinem Beitrag auf den in der Diskussion um die Analytische Soziologie bislang kaum beachteten Punkt bin, dass es innerhalb der Analytischen Soziologie keine systematische Berücksichtigung und Darlegung des eigenen normativen Standpunkts gibt. Die Berücksichtigung der eigenen, oft genug impliziten Normativität müsse auch für die Analytische Soziologie eingefordert werden, besonders da sie für sozialpolitische Implementationsmaßnahmen offen ist. Zur Begründung dieser Forderung rekonstruiert Baum aus der Sicht der Kritischen Theorie die Theorie Hedströms und verortet dessen empirisches Beispiel schwedischer Arbeitsloser machttheoretisch im Anschluss an Foucault. An dieser Stelle wird Hedström als Vertreter einer neoliberalen Wirtschaftspolitik entlarvt, so dass sein entdeckter erklärender Mechanismus implizit dem hegemonialen Diskurs entspreche. Daraus resultiert die Forderung nach einer integrativen Theoriebildung, die die Reflexion des eigenen Standpunkts umfasst. Gunn Elisabeth Birke/und betont, dass Akteure kontextualisiert betrachtet werden müssen. Ein gutes analytisches Modell sollte die Effekte von Eigenschaften eines sozialen Aggregats, vor allem von Opportunitätsstrukturen, auf die Beschränkungen und Orientierungen der Akteure explizieren. Dies macht sie für Präferenzen deutlich. Verschiedene Kontexte und strukturelle Positionen führen dazu, dass Akteure als Träger multipler Präferenzen angesehen werden können. Damit einhergehend, so Birke/und, sind multiple Präferenzordnungen zu erwarten. Sozial Kontexte sind folglich nicht nur dahingehend wichtig, dass sie Möglichkeiten für Handlungen bieten, sondern auch die Wahl der geltenden Präferenzordnung bestimmen. Andrea Maurer bezieht sich in ihrem Beitrag auf das Verhältnis der Analytischen Soziologie zur Rational-Choice-Theorie. Sie kritisiert, dass die von Hedström verwendete DBO-Theorie im Gegensatz zu Rationaltheorien keine deduktiv belastbare Ableitungen zulässt, sondern aufgrund der vielfältigen möglichen Kombinationen von Bedürfnissen, Überzeugungen und Opportunitäten auf der Handlungsund Interaktionsebene theoretisch unbestimmt bleibt. Die von Hedström eingesetzten "elementaren Mechanismen" seien somit nichts weiter als ad-hoc-Hypothe21
Eiriführung in die Diskussion zurAnalYtischen Soifologie sen, die nicht systematisch erweitert werden können, weshalb Rationaltheorien vorzuziehen seien, die dies systematisch und theoretisch angeleitet leisten können. Andreas Diekmann sieht die von Hedström vorgelegten Konzepte sehr eng mit der Rational-Choice-Theorie verbunden. Hedströms Instrumentalismus-Vorwurf gegenüber der Rational-Choice-Theorie ist, so Diekmann, letztlich genauso unhaltbar wie die Unterscheidung von "deskriptiv unvollständigen" und "deskriptiv falschen" Theorieansätzen. Zudem sei die von Hedström verwendete DBO-Theorie gar keine Theorie, da sie im Sinne Poppers nicht falsifizierbar sei. Erst mit der Annahme einer Entscheidungsregel, wie z.B. der Maximierung des Erwartungsnutzens, wird die von Hedström gewählte DBO-Perspektive zu einer erklärenden Theorie. Diekmann betont die Allgegenwärtigkeit von strategischen - zukunftsgerichteten - Interaktionen (z.B. Kollektivgutprobleme, soziale Dilemmata und soziale Bewegungen) und die Notwendigkeit, die Analytische Soziologie um spieltheoretische Konzepte zu ergänzen. Die Spieltheorie ist präzise, auf viele Fälle anwendbar und hält eine formale Sprache bereit, die man benötigt, wenn man zeigen möchte, dass eine kleine Ursachenänderung eine große Wirkung haben kann. Im Weiteren sieht Diekmann Forschungsbedarf bei der Weiterentwicklung von evolutionären Modellen sowohl für das Forschungsprogramm des rationalen Handelns als auch für die von Hedström vorgelegte Analytische Soziologie. Peter Abell zeigt systematisch auf, wie kausale Schlüsse in Situationen mit nur wenigen Fällen oder gänzlich auf Fallstudien beruhend gezogen werden können. Hierfür bedient er sich des Konzepts Bayesscher Narrative. Sokhe Erzählungen lassen sich als Verknüpfungen von Handlungsketten und Einzelbelegen verstehen. Oftmals ist nur für Einzelfälle bekannt, wie eine bestimmte Handlung zu einer anderen führt. Mittels des Bayesschen-Theorems zeigt Abell, wie derartige singuläre Belege oder Mechanismen zusammengeführt werden können, um allgemeingültige Aussagen zu treffen. Damit bietet Abell eine wichtige Ergänzung zur Analytischen Soziologie, die ja gerade davon ausgeht, dass Mechanismen nicht immer deterministisch sind und auf singulärer Ebene (der einzelnen Individuen) nicht immer zu gleichen sozialen Ergebnissen führen. Das Konzept der Bayesschen Narrative ist auch dahingehend attraktiv, da es sich nicht nur bei kleinen Fallzahlen anwenden lässt, sondern eben auch dynamische Prozesse implizit berücksichtigt. Per Arne Trifte argumentiert, dass die Analytische Soziologie der Relevanz von Sinnverstehen und Interpretation noch nicht gerecht wird. Seiner Ansicht nach sind sowohl Beschreiben als auch Verstehen als Grundvoraussetzungen für adäquates Erklären zu begreifen. Soziale Phänomene können folglich nur durch das Entschlüsseln des individuellen und kollektiven Sinns verstanden werden, der ihnen beigemessen wird. Für diese Zwecke erachtet Trifte ein Zusammenspiel von sowohl quantitativen als auch qualitativen Methoden in der Analytischen Soziologie als angebracht.
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Thomas Kron / Thomas Grund Riccardo Boero und Flaminio Squa~oni unterstreichen die Rolle, die Computersimulationen in der Analytischen Soziologie spielen. Agentenbasiertes Modellieren erlaubt eine explizite Abbildung von Akteuren, deren Interaktionen und relevanten Mechanismen. Auf diese Weise 1J.ssen sich generative Prozesse direkt beobachten und untersuchen. Im Weiteren können oftmals Muster und d.h. auch: unvorhersehbare soziale Konsequenzen individuellen Handelns nachgebildet werden. Wenn die Analytische Soziologie Wert auf das Soziale erzeugende Prozesse legt, gehören Computersimulationen zum Standard-Werkzeug dieser Forschungsgemeinde. Boero und Squa~oni zeigen verschiedene Typen von Computersimulationen auf und legen dar, wo die Herausforderungen für den Einsatz von agentenbasierten Modellen in der Soziologie liegen. Gianluca Manzo demonstriert eine konkrete Anwendung solcher Computersimu1J.tionen und beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass Akteure objektive Bedingungen und Chancen oftmals als schlechter empfmden, je besser diese "objektiv" sind. Am Beispiel re1J.tiver Deprivation - der Tendenz, sich als benachteiligt im Vergleich zu Anderen zu fühlen - zeigt Manzo auf, wie allgemeine Bezüge zu verschiedenen lokalen und globalen Bezugsgruppen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen führen. Einen weiteren Beitrag liefert er mit der systematischen Unterscheidung zwischen dem Vorhandensein von re1J.tiver Deprivation und der Intensität eines dadurch verursachten Gefühls. Wir hoffen sehr, dass diese Beiträge Anregungen zur Fortentwicklung der Analytischen Soziologie geben können. Dass dies in einem Sammelband möglich ist, ist nicht alleine uns zuzuschreiben, sondern der Hilfe verschiedener mithandelnder Akteure geschuldet: Unser Dank gilt Kulbarsch & Partner für die Übersetzungen der englischen Beiträge (zudem wurden alle Passagen aus "Dissecting the Social" überall dort der deutschen Übersetzung angepasst, wo es auf die sprachlichen Differenzen offensichtlich nicht ankommt); Timur Ergen und Pascal Berger danken wir für die unermüdliche Unterstützung bei Formatierungs- und sonstigen Arbeiten, die nahezu mit detektivischem Geschick ausgeführt werden mussten, sowie für das Korrekturlesen, an dem auch Andreas Braun sehr hilfreich mitgewirkt hat. Dem Verlagftir SoiJalwissenschqften ist für die geduldige Kooperationsbereitschaft zu danken, nicht zuletzt auch in der Vertragsgestaltung, wofür Cori A. Mackrodt in diesem Fall ein besonderer Dank gebührt. Nicht zuletzt hat uns Peter Hedströ", bei Rückfragen stets bereitwillig Auskünfte über Details seiner Analytischen Soziologie verraten - auch diese Diskussionen tragen die Hoffnung, dass die Analytische Soziologie noch 1J.nge nicht an ihrem Ende angekommen ist.
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Sozialtheorie
MichaelSchmid
Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des Sozialen" Bemerkungen zum Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie
1. Einleitung Peter Hedström hat vor wenigen Jahren ein mitderweile auch ins Deutsche (und Italienische) übersetztes Buch! vorgelegt, in dem er sich für eine Neuorientierung der soziologischen (aber auch der "interdisziplinären" (Hedström/Swedberg 1996a: 282)) Theoriebildung einsetzt, die verspricht, wenigstens einige der überkommenen (sowohl erklärungslogischen als auch prüfungstheoretischen) Unzulänglichkeiten und zudem die "Fragmentarisierungen" (Hedström 2008: 25, 46) bzw. den (in den Augen Hedströms unhaltbaren) "theoretischen Pluralismus" (Hedström 2008: 59) der Disziplin zu meiden. Betrachtet man den genaueren Argumentationsgang des Traktats, der in den Augen seiner Anhänger als eine Art "Manifest der Analytischen Soziologie" gilt (Barbera 2006: 32), dann kann man ihn auch als den Versuch bewerten, ein "neues" Theorieparadigma zu begründen, das mit dem Ehrgeiz auftritt, marktgängige Theorieüberlieferungen ignorieren (Hedström 2008: 11, Fn. 2)2 und den immer wieder beklagten Hiatus zwischen theoretischer und empirischer Forschung überwinden zu können. 3
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Vgl. Hedström (2005, 2006, 200B). Ich halte mich an die deutsche Übersetzung, verwende abet dort, wo mir wichtig ist, dass der Leser dieses Kommentars die englischen Begriffskonnotationen kennt, die originale englische Nomenklatur. Freilich werden auch Max Weber (Hedström 2006c: 73, 200B: 17), Georg Simmel (Hedström/ Swedberg 199B: 5) und det frühe (Hedström 200B: 13, 17), wegen seiner funktionalistischen Behandlung sozialer Mechanismen aber nicht der späte Parsons (Hedström/Swedbetg 199B: 6, Fn. B) verschiedentlich erwähnt, und auch de Tocqueville findet sich in die Ahnenreihe der "analytischen Soziologen" aufgenommen (vgl. Hedström 2006c: 73, 2005; Edling/Hedström 2005). Barbera (2006: 34f.) und Nogueta (2006: 10) enthalten erweitette Listen von Autoren, die sie als (detzeitige) Vertreter der ,,Analytischen Soziologie" einstufen. Dem dienen offenbar auch weitete Vetöffentlichungen, in denen det Autor seinen ,,Ansatz" theoriepolitisch zum Durchbruch verhelfen möchte, vgl. Hedström/Witrrock (2009) und Hedström/ Bearman (2009).
31 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" Ich möchte in einem ersten Schritt diese programmatischen Vorschläge zur Etablierung einer integrativen "Analytischen Soziologie" bewerten4, um sie daraufhin einer - wie ich hoffe - teils klärenden, teils weiterführenden Kritik zu unterziehen.
2. Bewertung der Analytischen Soziologie Ich möchte zunächst diejenigen Überzeugungen des Hedströmschen Forschungsprogramms herauszustellen, die durchweg zu verteidigen sind. Wenn ich seine Auffassung nicht verfälsche, so möchte Hedström die Soziologie aus ihrer (theoretischen und zumal erkenntnistheoretischen) "Krise", die Raymond Boudon bereits vor über drei Jahrzehnten ausgemacht hatte (vgl. Boudon 1980: Hf.), befreien, indem er sie drängt, sich vom überkommenen Ballast metaphysischer, normativer und typologisch-narrativer Theorieauffassungen zu trennen und davon abzusehen, sich vornehmlich in empiriefernen "metatheoretischen" (Hedström 2008: 11) und "exegetischen Exkursen" (Hedström 2008: 26) zu ergehen. An die Stelle der "farbenfrohen" (Hedström 2008: 66) oder "holistischen" Begrifilichkeit (Hedström 2008: 210) und der "oft nichtssagenden Schriften der ,großen' soziologischen Theoretiker" (Hedström 2008: 11) soll eine kompromisslos wissenschaftliche und d.h. für den Autor vor allem: eine theorie- wie empiriegeleitete Soziologie treten, die dazu in der Lage ist, die "operative Logik" (Hedström 2008: 210) der sozialen Realität zu erklären, und sich den wissenschaftslogischen Anforderungen, die an ein derartiges Unternehmen zu stellen sind, unterwirft. 5 Dabei hängt der Erfolg des zu diesem Zweck entwickelten "explanatory framework" (Hedström 2005: 11) in der Tat von der Identifikation und formalen ModelIierung "generativer sozialer Mechanismen" (vgl. Hedström 2008: 25, 41 u.a.) ab, die logisch abzuleiten erlauben, wie sich "soziale Tatsachen" (Hedström 2008: 68) aus den jeweiligen Motiven und Handlungsorientierungen einzelner Akteure und ihren Interaktionsregimes zwangsläufig ergeben. Zur Bestimmung dieser Motive (Hedström 2008: 62) und deren "causal powers" (Hedström 2005: 105)6 wiederum benötigt der Forscher eine Theorie des 4
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Ich beschränke mich (weitgehend) auf die Ideen, die Hedström vorgelegt hat. Barbera (2006) und Noguera (2006) verbinden mit dem Begriff der ,,Analytischen Soziologie" offenbar unifikatorische und einheitsparadigmatische Ansprüche, die sich derart expressis verbis bei Hedström nicht finden lassen. Eine Implikarion dieser Anlehnung muss sein, dass die Soziologie darauf verzichten sollte, sich zur methodologischen Deckung ihrer luftigen Begriffsübungen und definitorischen Mystifikationen (Hedström 2008: 14) eine eigenständige Methoden- und Erkennmislehre zuzulegen, die sich von der Wissenschaftstheorie, die die Naturwissenschaften für verbindlich halten, unterscheiden müsste. Auf eine solche alternative Theorie der Wissenschaft sind vor allem jene Soziologen angewiesen, die weder Erklärungen geben noch ein realistisches Forschungsprogramm verfolgen wollen. Damit entfernt sich Hedström mit Nachdruck von allen Handlungsauffassungen, die auf (kausale) Handlungserklärungen glauben verzichten zu sollen, und steckt damit zugleich den Bereich ab, innerhalb dessen eine Zusammenarbeit mit der Handlungspsychologie naheliegt. Die Arbeiten von
MichaelSchmid individuellen Handelns (vgl. Hedström 2008: 56), die zugleich plausibel macht, wie "causal agents" (Hedström/Swedberg 1996a: 290) Interaktionsstrukturen und deren Kollektiveffekte vermittels ihrer (aufeinander bezogenen) Handlungen "generieren" (Hedström 2005: 111) oder "erzeugen" (Hedström 2008: 159). Soziologische Erklärungen verpflichten sich auf diese Weise einem kompromisslosen, aber keinesfalls (ontologisch) "extremen" Methodologischen Individualismus (Hedström 2008: 16, Fn. 4), der reduktionistische7 und strukturalistische Erklärungspraktiken zugunsten mehrstufiger und mikrofundierender ErklärungenB gleichermaßen vermeiden möchte. Auf der damit festgelegten Basis kann in der Tat ein heuristisch fruchtbringendes soziologisches Theorieprogramm entworfen werden, das - wie Hedström mehrfach zeigt - auf empirische Bestätigungen (oder fortschreitende Korrekturen9) nicht zu verzichten braucht. Die Leistungskraft dieser Heuristik lässt sich insofern genau abschätzen, als jedes Erklärungsargument im Ralunen eines handlungstheoretisch basierten Modells formalisiert werden muss, um die erwünschte Ableitungsgenauigkeit und damit eine, mit Hilfe empirischer Daten kontrollierbare, Vorhersagekraft zu garantieren. Insoweit der Modelleur die jeweils vorausgesetzten, in ganz unterschiedliche Richtungen weisenden Anwendungsbedingungen genau angeben kann, lassen sich im Rahmen eines derartigen Forschungsprogramms unterschiedliche Erklärungsszenarien (oder "Strukturmodelle", vgl. Esser 2002: 142ff.) voneinander unterscheiden, die Hedström - in Anlehnung an seinen Mentor Robert K. Merton - an verschiedenen Stellen als "Theorien mittlerer Reichweite" bezeichnet (Hedström 2008: 20f., 199; Hedström/Swedberg 1998: 5f.; Hedström/Swedberg/ Udehn 1998: 353).10 Da diese Kennzeichnung indessen niemanden daran hindern kann, zu fragen, wie sich diese Einze1modelle auseinander ableiten, miteinander verbinden und auch ausbauen lassen, braucht sich die Analytische Soziologie keine Jon Elster, der genau besehen keine "sozialen", sondern - in kritischer Auseinandersetzung mit der Rational Choice-Tradition - "psychische Mechanismen" untersucht (vgL Elster 1989: 9 u.a.), sind ihm dabei verbindliches Vorbiki. 7 Vgl. für ein solches Missverständnis Pickel (2006), das aber insoweit konsequent ist, als
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" Sorgen darüber zu machen, dass ihr Programm in absehbarer Zeit stagnieren oder in eine "degenerative Phase" (Lalcatos 1970: 116ff.) einmünden müsste.
2.2. Kritik der Analytischen Soziologie Obgleich somit kaum ein Zweifel daran bestehen kann, dass die "Prinzipien" einer analytischen und erklärenden Soziologie jederzeit akzeptabel erscheinen und versprechen, die soziologische Theoriebildung in einen methodisch und erklärungslogisch ebenso einheitlichen wie fruchtbringenden Rahmen zu stellenlI, bleiben doch einige Fragen offen. Ich möchte mir erlauben, drei Problembereiche zu besprechen: Zunächst will ich die Hedströmschen Überlegungen kommentieren, die ihn dazu veranlasst haben, aus einer Mehrzahl möglicher handlungstheoretischer Alternativen einer Theorie "guter Gründe" den Vorzug zu geben; sodann möchte ich auf die beengte Reichweite der von ihm vorgeschlagenen sozialen Mechanismen bzw. der von ihm behandelten Interaktionsprozesse aufmerksam machen, um zum Abschluss einen kritischen Blick auf einige Implikationen seiner Modelltheorie zu werfen.
3.2.1. Die DBO-Theorie des Randelns und ihre ,,Alternativen" Hedström sieht seine Desire-Belief-Opportunity-Theorie (DBOT) in Konkurrenz sowohl zur Rational Choice-Theorie (RCT) als auch zur Lemtheorie (LT) (Hedström 2008: 41)12, meint aber zeigen zu können, dass die DBOT die beiden Konkurrentinnen als Grenzfall in sich enthält und somit realistischer verfahrt: als ihre Nachbartheorien, was wiederum hinreichend dafür sein muss, um Mikrofundierungen ausschließlich mit ihrer Hilfe voranzutreiben (vgl. Hedström 2008: 65). Er entscheidet sich nicht zuletzt deshalb für eine DBOT, weil er infolgedessen glaubt, Fehler abwenden zu können, die mit der uneingeschränkten Akzeptierung der RCT und LT verbunden sind. Diese Ansicht scheint vordergründig keinesfalls abwegig zu seinl 3, wenngleich sich bei näherem Hinsehen zeigt, dass sie nicht wirklich schlüssig ist. Um zu demonstrieren, irlwieweit der Hedströmsche Vergleich der drei Theorien zu kurz greift, müssen wir indessen kurz deren logische Struktur (bzw. ihren Gehalt) be-
11 Vgl. meine Einordnung der Hedströmschen (ehemals auch vom Richard Swedberg mitgetragenen) Bemühungen in Schmid (2006: 102ff.). 12 Simulationen auf der Basis der LT hat die Porschergruppe um Michael Macy vorgelegt (vgL Maey 1990; Maey/Plache 2002 u.a.). Ich nehme an, dass sich Hedströms gegen diese Programmatik wendet. 13 Vgl. zur Verteidigung einer solchen - wie ich sie genannt habe - ,,Approximationstheorie" des Theori.envergleichs Schmid (2004: 23ff.).
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MichaelSchmid trachten. 14 Völlig akzeptabel ist zunächst Hedströms Weigerung, eine Handlungstheorie zur Grundlage mikrofundierender Erklärungen zu machen, die den Akteur zum "rein reaktiven" Anpasser degradiert, der nichts anderes tun kann, als sich seine Ziele und Überzeugungen von seinen jeweiligen Handlungsumständen vorgeben zu lassen (Hedström 1998: 310f.; Hedström/Swedberg/Udehn 1998: 355). Eine solche Theorie mag einem strukturalistischen Ansatz zuträglich sein, der davon ausgeht, dass das Handeln der Akteure durch ihre "soziale Lage", ihre "Rolle" oder andere gesellschaftlich vorgeprägte Handlungsprogramme gewissermaßen "festgeschrieben" wird. 15 In dem Umfang aber, in dem ein solcher Ansatz dem Akteur jede Möglichkeit verweigert, sein Handeln "intentional" und "sinnvoll" zu gestalten (Hedström 1998: 310) und mit "guten" oder "zwingenden Gründen" zu versehen (Hedström 1998: 311, 2008: 62), ohne dass sein Handeln für den Beobachter ganz unverständlich wird (Hedström 2008: 57f.), kann er diesem Theorievorschlag nicht folgen. 16 Er teilt damit die Kritik, die der Interaktionismus, die Phänomenologie oder die Ethnomethodologie, aber auch den Hedströmschen Überlegungen nahe stehende Handlungstheoretiker wie Raymond Boudon (1973, 2003) oder Hartmut Esser (2004: 19ff.) an solchen Vorstellungen vorgetragen hatten, weshalb es durchaus verständlich ist, wenn er sich - wie diese Vordenker - daran macht, eine (antistrukturalitische, d.h. streng individua1istische) Handlungstheorie auszuarbeiten. Zur Beantwortung der Frage, welche Handlungstheorie seinem Erklänmgsvorhaben dienlich sein könnte, neigt Hedström in jüngerer Zeit dazu, sich einer Theorie der "guten Gründe" zuzuwenden, wozu er sich vermutlich vor allem durch Raymond Boudon (1994), aber auch von Frank Jackson (vgl. Braddon-Mitchei/Jackson 1996) und Jon Elster (1983: 141ff., 1989: 13ff.) hat anregen lassen, die die Genese solcher Handlungsgründe dort nachzuweisen hoffen, wo sich Akteure darauf besinnen müssen, welche Handlungsziele sie verfolgen wollen, welche handlungsrelevanten Informationen und Überzeugungen sie dazu benötigen und ob die jeweilige "Gelegenheitsstruktur" ihrem Vorhaben Erfolg verspricht (Hedström 2008: 38ff.).J7 Insoweit das Handeln eines Akteurs sich mithin an unerfüllten Wün14 Ich verzichte auf jede (wie ich es gerne sähe: logische) Formalisierung der diskutierten Theorien, was notwendig wäre, um genalle Urteile über ihr Wechsdverhältnis zu fällen (vgl. Schtnid 2004: 42ff.) und diskutiere Hedströms Vorschläge auf derselben "qualitativen" Ebene wie er selbst es tut. 15 Theorien inrerner (etwa genetischer oder psychischer) Handlungsdetermination diskutiert der Autor nicht. Hedström muss - anders als etwa der Voluntarismus Parsons' - vorsichtig sein, denn seine Handlungstheorie ist als Kausaltbetrtie angelegt, was die ehemals intensiv diskutierte Frage aufwirft, inwieweit Intentionen oder Gründe Ursachen sein können (vgl. Beckermann 1977). 16 Eine auf die Erforschung adaptiven Handelns festgelegte Programmatik muss nicht zu falschen Analysen führen wie die evolutionäre Psychologie zeigt (vgl. Buss 2004), wird sich aber ihren Beschränkungen zu stellen haben. 17 Natürlich ist Hedström nicht der erste, der eine DBOT verwendet (vgl. Jackson/Pettit/Smith 2004); soweit ich sehe, stellt er sich aber nicht in eine erkennbare Theorietradition, weshalb ich
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" sehen und seinen zukünftigen Erfolgsaussichten orientiert, verläuft es in einem engen Sinne "forward-looking" (Hedström 2005: 41), wobei diese Zielvorhaben und Überzeugungen den Akteur dazu anregen, eine Handlung auszuführen, eben weil diese Faktorenkombination ihm "gute Gründe" für die Vermutung bietet, dass sein Handeln zweckdienlich verläuft. Unter diesen Umständen ,,(haben) Bedürfnisse und Überzeugungen [...] eine motivierende Kraft, die es uns erlaubt, Handlungen zu verstehen und in dieser Hinsicht zu erklären" (Hedström 2008: 62).18 In Hedströms Augen kann die LT diesen Fall nicht berücksichtigen, weil sie ein Handeln nur erklärt, solange der Akteur auf Erfahrungen mit seinen zurückliegenden Handlungen zurückgreifen kann; in diesem spezifischen Sinne versteht die LT jedes Handeln als "vergangenheitsorientiert" (Hedström 2008: 65) bzw. "backward-looking" (Hedström 2005: 41). Demgegenüber besagt die DBOT darüber, woher ein Akteur die "guten Gründe" für sein Handeln bezieht (zunächstl 9) nichts. Damit braucht sie einesteils nicht auszuschließen, dass ein Akteur bereits Erfahrungen mit seiner Bedürfniserfüllungsstrategie hat machen können, behauptet aber andererseits auch nicht, dass er nur erfahrungsbasierte Handlungen ausführen könne. Beides kann man als einen Hinweis darauf lesen kann, dass der Gehalt der DBOT umfangreicher ist als jener der LT, womit erstere zugleich behauptet, dass die LT dort versagen wird, wo der Akteur ein Ziel verfolgt, das er noch niemals hat erreichen können, bzw. wo er sich Überlegungen anvertrauen muss, über deren Zieldienlichkeit er (bislang noch) keine Erfahrungen hat sammeln können. Im technischen Wortsinne "faktua1isiert" die DBOT die LT, indem sie ihre Nachbartheorie mit einem Faktum konfrontiert, das sie übersehen hatte und dessenthalben sie in bestimmten Bereichen zu keinen zutreffenden Vorhersagen kommen kann. Wenn es überdies zu den logischen Folgerungen der DBOT gehören sollte, dass die Tatsache, wonach Akteure vergangenheitsorientiert handeln, (also solche) gar nicht kausal entscheidend für ein bestimmtes Handeln ist, sondern ausschließlich oder doch in erstere Linie, dass der Akteur ein aktuelles Ziel vor Augen hat und aktuelle Überlegungen anstellt, so enthüllt sie darüber hinaus, dass die LT streng genommen falsch ist. Aus Sicht der DBOT stellt die LT folglich eine "Idealisierung" dar, die allenfalls dort zu zutreffenden Vorhersagen gelangt, wo ihre Anwendbarkeit nicht unter ihren erwiesenermaßen falschen Annahmen leidet. auch keine Spekulationen darüber anstellen will, ob seine Theoriewahl dadutch bestinunt wutde, dass Robert Merton, der anerkannte Gründervater der ,,Analytischen Soziologie", eine solche Handlungstheotie empfohlen, wenn auch kaum systematisch entwickelt hatte (vgl. Merton 1936). 18 Dieses an Max Weber erinnernde Zitat scheint darauf hinzuweisen, dass auch die Analytische Soziologie das genaue Verhältnis von Verstehen und Erkliiren noch kliiren sollte. Eine Erklärungstheotie ist zu entdecken, kaum aber eine Theorie des Verstehens. 19 Wir werden noch sehen, dass Hedsttöm vor allem mit der aus der DBOT nicht ableitbaren "Btückeohypothese" arbeiten möchte, wonach Akteute ihre Zielsetzungen von Anderen übernehmen bzw. ihre Beliefs (in der Regel) danach ausrichten, was die Anderen tun.
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MichaelSchmid Aber das Problem, wie man das Verhältnis von DBOT und LT zu deuten und einzustufen habe, könnte auch anderswo liegen. Tatsächlich muss sich die LT nicht einseitig von der DBOT idealisieren lassen, sonders sie enthält ihrerseits eine von der DBOT unbeachtete Implikation, derzufolge die Ausführung einer aktuellen Handlung vor allem davon abhängt, welchen Bestrafungen und Belohnungen ein Akteur ausgesetzt war. Zwar kann die LT solche Belohnungs-Bestrafungs-Bilanzen nur dann berücksichtigen, wenn sie in der Vergangenheit angefallen sind, was aus der Sicht der DBOT nicht richtig sein kann. Kritischer aber ist es für sie in jedem Fall, wenn die LT damit sagen möchte, dass die DBOT den kausalen, handlungsgenerierenden Mechanismus insoweit fehlerhaft konzipiert, als sie übersieht, dass jedes Handeln (auch) durch die Belohnungen und Kosten verursacht ist, die ein Akteur damit verbindet. Logisch gesehen demonstriert die LT damit, dass die DOBT unvollständig ist, denn offensichtlich berücksichtigt sie nicht alle handlungsgenerisch wichtigen Faktoren und muss sich, sifern sie infolgedessen fehlerhafte Prognosen produziert, durch die LT "ergänzen" (oder vervollständigen) lassen. Damit aber impliziert die DBOT die LT nicht vollständig;20 vielmehr verliert sie durch die Aufnahme zusätzlicher Faktoren an Gehalt. Umgekehrt zeigt die LT, dass die DBOT nur dann richtig sein kann, wenn sie die Bedeutung von Belohnungen und Bestrafungen bei der Beschaffung guter Gründe beachtet. 21 D.h. jede der Theorien verfügt über einen eigenständigen Falschheitsgehalt und beide Theorien faktualisieren sich wechselseitig, indem sie sich auf diesen Mangel aufmerksam machen. In paralleler Weise muss ich auch Hedströms Einschätzung der RCT kommentieren, deren schädlicher Einfluss ihm - betrachtet man das relativ umfangreiche Kapitel, das Hedström der RCT widmet (vgl. Hedström 2008: 91 ff.) - offenbar noch mehr beunruhigt als die - wie er meint - jederzeit inkorporierbaren Ansprüche der LT. Dieser Teil meines Kommentars fillt etwas kritischer aus, weil ich nicht sehen kann, dass Hedströms Einschätzung der Sachlage berechtigt wäre. Hedström meint zunächst, dass die RCT "in verschiedener Hinsicht als ein spezifischer Typ der DBO-Theorie angesehen" (Hedström 2008: 65), aber nur unter spezifischen Bedingungen angewendet werden kann. 22 D.h. im Umkehrschluss: 20 Das wäre nur möglich, wenn die DOBT zeigen könnte, dass Belohnungs- und Bestrafungserfabrungen keinen Kausaleinfluss auf ein Handeln haben können. 21 Hedström sieht die Verstärkungswirkung bestimmter Handlungen für das Handeln anderer Akteure zwar vor, erklärt solche "Rückkoppelungen" aber nicht, sondern führt sie - was modelltecbnisch jederzeit vertretbar ist - als "boundary condition" seiner Mechanismusmodellierungen ein, vgl. z.B. Hedström (2008: 81). Die faJlige Ergänzung der DBOT durch die LT sollte klären, wie die Motivationskraft unerfülJter, aber erfiillbarer "Wünsche" mit den Kosten und Gewinnaussichten des projektierten Handelns ,,zusammenhängt" bzw. wie beide Faktorengruppen (förderlich oder hinderlich) aufeinander einwirken. Beide Theotien müssen diese Operation nicht unbedingt ungeschoren überstehen. 22 ... sofern sie nicht tautologisch fotmuliert und deshalb definitionsbedingt wahr ist (Hedström 2008: 65). Hedström spielt damit offenbar auf den immer wieder vorgetragenen Einwand gegen die
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" Wird sie jenseits dieses spezifischen (vorerst noch unbestimmten) Bedingungsbereichs herangezogen, sind keine haltbaren, realistischen Erklärungen die Folge, sondern "nicht-erklärende Als-ob-Geschichten" (Hedström 2008: 65). Was Hedström mit dieser These im Auge hat, klärt sich späterhin auf, wenn er seine Bedenken gegen die Erklärungsleistungen der RCT genauer begründet. Zur Klärung des mit der Hedströmschen Einschätzung der Leistungskraft der RCT verbundenen Problems ist es sinnvoll, sich zunächst deren Prämissen vor Augen zu führen. Hedström geht - wie ich meine völlig zutreffend - davon aus, dass die RCT "auf der grundlegenden Ebene" (Hedström 2008: 92) als eine Entscheidungstheone konzipiert werden muss, derzufolge die Akteure zwischen mehreren möglichen Handlungsalternativen zu wählen haben und zwar unter dem Gesichtspunkt, ob eine Handlung zur Realisierung ihrer "Vorlieben" (Hedström 2008: 92) dienlich und in diesem Sinne "rational" ist. Hernach aber identifiziert Hedström eine systematische Unfahigkeit der RCT, in "realweltlichen Situationen" (Hedström 2008: 92) genau anzugeben, wann eine Handlung "rational" sei. Das wird ihr vor allem überall dort zum Problem, wo die Akteure auf keine hinreichenden Informationen über die verfügbaren Alternativen und deren Effekte zurückgreifen können. Oder stärker noch: In "real world settings" (Hedström 2005: 61) sind die Bedingungen des rationalen Hande1ns: vollständige Bekanntheit aller Handlungsaltemativen und deren bewertbaren Folgen (in aller Regel) nicht zu erfüllen. Entsprechend müssen sich die Akteure von überzeugungen leiten lassen, die nicht sehr gut begründet sind, was rationales Agieren (offenbar) unmöglich macht, denn "Handlungen, die nicht auf evidenten überzeugungen basieren, können nicht als rational angesehen werden" (Hedström 2008: 92). Mit dieser These sucht der Autor zu zeigen, dass die RCT im Lichte seiner Theorie guter Gründe nicht wahr sein kann. Da es den Akteuren zugleich verwehrt ist, unendlich und kostenfrei nach validen Informationen über die Erfolgsbedingungen ihrer Handlungspläne zu suchen, und sie zudem den Wert einer Information, noch bevor sie ihnen zur Verfügung stehen, bereits kennen müssten, um deren Zweckdienlichkeit abzuschätzen (was offenbar in einem technischen Sinne "paradox" ist), ist es nicht möglich, ex ante über die Rationalität eines Handelns zu befinden. 23 Auch setze die RCT empirisch weit überzogene Rechenund Entscheidungsfahigkeiten der Akteure voraus, was Hedström zusätzlich daran
RCT an, dass die in machen ihrer Versionen enthaltene Nutzenvorstellung nur analytisch definiert werden könne bzw. dass es keine tautologiefreie Definition des Begriffs der "Rationalität" gebe. Ich halte diese Thesen für falsch bzw. für irreführend, will mich aber nicht mit ihrer Richtigstellung aufhalten, weil Hedströms Argumentation gegen die RCT nicht davon abhängt, dass sie zutreffen. 23 Ich bin unsicher, ob Hedsträm es für problematisch hält, dass es dem Akteur unmöglich ist, die Rationalität seines Handeln festzustellen (und weshalb ihm das wichtig sein sollte), oder dem theoretischen Beobachter seiner Handlungen. Ich denke, dass es Hinweise darauf gibt, dass der Autor den zweiten Fall behandelt wissen möchte, d.h. er wirft ein ,,methodologisches" und kein theoretisches Problem auf.
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MichaelSchmid hindert, ihr einen "erklärenden Nutzen" (Hedström 2008: 93) zuzusprechen. Zu guter letzt nimmt er seine negative Beurteilung der RCT auch deshalb nicht zurück, weil er nicht daran glauben kann, dass die Akteure angesichts derart restriktiver (bzw. unrealistischer) Bedingungen eine nutzenoptimierende Entscheidungsregel verwenden können (Hedström 2008: 97f.). In meinen Worten: Hedström meint (insoweit folgerichtig), dass die Handlungsprärnissen der von ihm untersuchten RCT keine zutreffende Darstellung der Entscheidungsbedingungen eines Akteur bzw. seines "Handlungsmechanismus" geben können und deshalb falsch sind. Nach Hempel - so könnte Hedström fortfahren - aber darf man zur Erklärung eines Explanandums nicht auf falsche Theorien zurückgreifen, weshalb Erklärungen mit Hilfe einer nachweislich feWgelagerten RCT unzulässig sind und durch realistischer Annahmen ersetzt werden müssen. Angesichts dessen erfüllt es Hedström mit Erstaunen, dass führende theoretische Köpfe auch weiterhin die RCT zur Mikrofundierung ihrer Modellentwürfe verwenden. Auf der Suche nach den Gründen für diese abwegige Einschätzung der SacWage findet er zwei Rechtfertigungen, die ihm gleichermaßen suspekt erscheinen. Zum einen stößt er auf den seit langem diskutierten VorscWag Milton Friedmans (vgl. Hedström 2008: 93ff.), dass sich der Wert einer Theorie nicht nach ihrer Wahrheit, sondern nach ihrer Vorhersagekraft bemesse, und eine inhaltlich falsche RCT alleine deshalb auch weiterhin verwendet werden sollte, weil sie sich durch eine Fülle interessanter Vorhersagen auszeichne. Hedström hält sich nicht lange mit der umfangreichen Literatur auf, die sich zu dieser These angesammelt hat, sondern bekennt sich ohne Umschweife zu einer nicht-instrumentalistischen Deutung von Theorien, die es ihm erlaubt, (in der Tat oftmals) "deskriptiv unvollständige" Theorien (Hedström 2008: 94) beizubehalten, woW aber solche zu eliminieren, deren Antecedenzbedingungen niemals erfüllt sein können. Indessen sind - wie Hedström zugesteht- die meisten soziologischen Vertreter des RC-Ansatzes keine Friedmanschen Instrumentalisten. Sie akzeptieren die RCT aus dem ganz anderen Grund, dass sich RC-Modellierungen durch große Präzision und einen hohen Formalisierungsgrad auszeichnen, weshalb sie dem Forscher "sparsame" bzw. "simple und (zugleich) elegante Modelle" (Hedström 2008: 94f.) zur Hand geben, die er nach allen Regeln der mathematischen Kunst manipulieren und auch dann auf ihre logisch implizierten Effekte hin untersuchen kann, wenn sich diese de facto und realiter niemals beobachten lassen und (deshalb) nichts dafür spricht, dass Akteure die AuswaW einer Handlung tatsächlich an der Steigerung ihres Nutzens orientieren. Werden diese Mängel aber nicht beachtet, so entstehen keine realitätsangemessenen Erklärungen, sondern "gänzlich fiktive Welten" (Hedström 2008: 96). Je stärkere Voraussetzungen die RCT macht, um dem Entscheidungshandeln ihre Akteure gerecht zu werden, desto mehr neigt sie demnach dazu, "fiktional und nicht erklärend" (Hedström 2008: 96) vorzugehen. Das Bemühen um hohe Präzision der RC-angeleiteten Modellformulierungen wird zur 39
Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" nutzlosen Investition angesichts der Tatsache, dass keine realen Verhältnisse zum Gegenstand eines erklärenden Arguments werden können, weshalb der Autor auf RC-Erklärungen zu verzichten vorschlägt, indem er summarisch fordert: "Handlungstheorien sollten auf empirisch begründetem Wissen basieren, nicht auf Optimalitätsannahmen" (Hedström 2008: 97f.).24 Man mag den Mut bewundem, mit dem Hedström seine anfangliche Theorieposition, die durchaus durch eine auffällige Nähe zur RCT gekennzeichnet war (vgl. Hedström 1998; Hedström/Swedberg/Udehn 1998; Hedström/Sandell/Stem 2000; Edling/Stem 2001: 6), räumt und dabei vielleicht sogar in Kauf nehmen muss, Beifall aus der falschen Richtung zu erhalten. Ich glaube aber, dass die möglichen Verdienste seines Positionswechsels geringer ausfallen als er vielleicht erwartet. Denn in meinen Augen sind Hedströms Argumente gegen die RCT weniger weitreichend als er meint, ja sie verhindern, dass er Gehalt und Erklärungsstatus seiner DBOT richtig bewerten kann. Meines Erachtens sind seine Überlegungen in ebenso mehrschichtiger wie verschlungener Weise unschlüssig. Zunächst muss auffallen, dass er einem Widerspruch aufsitzt, wenn er meint, die RCT habe durchaus ihre Verdienste und könne unter angebbaren Bedingungen verwendet werden (Hedström 2008: 91), dann aber darauf abzielt, ihr jeden Erklärungswert zu abzusprechen (Hedström 2008: 97). Beides kann nicht sein. Ich denke, dass man diese Unstimmigkeit auf die folgende Weise auflösen kann: Offenbar zielt die Hedströmsche Beschreibung der RCT auf eine ihrer überaus starken Versionen ab, wie sie etwa Savage (1954) vorgelegt hatte. In dieser Fassung können die Akteure dreierlei voraussetzen: Zum einen verfügen sie über einen vollständig und widerspruchsfrei geordneten Satz an Präferenzen, was seinerseits verlangt, dass sie alle entscheidungsrelevanten Weltzustände kennen und eindeutig bewerten können, und dass sie zudem dazu in der Lage sind festzustellen, welche ihrer Handlungsaltemativen mit welcher (objektiven) Erfolgswahrscheinlichkeit welche Zielzustände erreichen kann, weshalb sie davor geschützt sind, ihre Handlungsoption unter Unsicherheit oder Ungewissheit zu wählen. Zum anderen besitzen sie die unstrittige Fähigkeit, die Nutzenwerte ihrer Zielsetzungen mit den Wahrscheinlichkeitswerten ihrer Erfolgserwartungen zu "verrechnen", um daraus die genannte Präferenzordnung herzustellen, und endlich können sie auf einen reibungsfrei funktionierenden Selektionsalgorithmus zurückgreifen, der ihnen unzweideutig sagt, welche der verschieden präferierten Handlungsaltemativen sie wählen sollen, was allenfalls bei gleichwertigen Handlungsaltemativen zu Unschlüssigkeiten führt. Kurz: die RC-geleiteten Akteure können alle ihre in Erwägung ge-
24 Inwieweit sich Hedström damit der "behavioural economies" von Herbert Simon annähert, kann ich nicht klären; wenn er konsequent bleiben möchte, sollte er sie ablehnen, weil Simon keine DBOT verwendet, sondern recht besehen im Rahmen einer allenfalls modifizierten RCT verbleibt, vgl. Etzrodt (2003: 45ff.); Wolf (2005: 174f.).
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MichaelSchmid zogenen Ziele (m aller Regel) eindeutig evaluieren, sie kennen ihre Erfolgserwartungen in objektiver und d.h. (subjektiv) unbezweifelbarer Weise, und sie wissen, mit Hilfe welchen Produktions- bzw. Selektionskriteriums sie eine Handlung aus der erschöpfend gekennzeichneten Menge ihrer Handlungsalternativen wählen müssen. Dass Hedström diese starke Version der RCT als "fiktional" und "unrealistisch" ablehnt und allenfalls als "normative Theorie" gelten lassen möchte (Hedström 2008: 92), ist verständlich, erklärt aber nicht, weshalb er übersieht, dass die Entscheidungstheorie mittlerweile dazu übergegangen ist,jede der Savageschen Prämissen zu revidieren. Diese Revision ist mit dem Ziel vorangetrieben worden nachzuweisen, dass sich jeweils stärkere, aber zugestanden falsche Prämissenmengen durch kontinuierliche Korrekturen faktualisieren und genau jener Logik nach ordnen lassen, die Hedström bemüht, um zu zeigen, dass sich die RCT in zunehmend schwierigeres Gelände begibt, wenn sie immer realitätsfernere Voraussetzung akzeptiert (vgL Hedström 1998: 96). Richtig ist angesichts dessen natürlich, dass es der Entscheidungstheorie infolge derartiger Faktualisierungen nicht länger möglich ist, starke Rationalitätsansprüche zu verteidigen; wenn man aber sieht, dass sich die Erklärungsleistung einer derart korrigierten Entscheidungstheorie nicht danach bemessen lassen muss, ob sie uns eine normativ verwertbare Konzeption dessen zur Verfügung stellt, was wit gerne als "rational" einstufen, ja dass sie ohne Verlust an Erklärungskraft auf jeden Begriff der "Rationalität" verzichten kann (vgl. Schmid 1979), dann witd man ihre fortschreitenden Revision nicht beklagen müssen, sondern begrüßen. Die Folge aber ist, dass nichts dafür spricht, die RCT zur Gänze fallen zu lassen, nur weil sich ihre realitätsfernste, wenn man so will ,,idealtypischste" Anfangsversion empirisch nicht (oder wie Hedström zugesteht: nur in seltenen Fällen) bewährt. Das heißt dann auch, dass man die Hedströmsche Auffassung, wonach man "wissentlich falsche Unterstellungen" nicht verwenden sollte, weil man sonst in die Lage dessen gerät, der seinen anderswo verlorenen Schlüssel deshalb fortgesetzt unter einer zufällig vorhandenen Laterne sucht, weil es dort hell ist (Hedström 2008: 95), korrigieren sollte. Wissentlich falsche Annahmen kann man jederzeit dann benutzen, wenn man weiß, weshalb sie falsch sind; und man weiß dies, solange man auf eine sie faktualisierende Theorie zurückgreifen kann, die angibt, unter welchen Umständen die Verwendung falscher Annahmen keinen Schaden anrichtet. Die Entscheidungstheorie hat sich im Verlauf ihrer Revisionsgeschichte diese Möglichkeit verschafft und kann insoweit als ein prosperierendes (oder "progressives") Forschungsprogramrn (im Sinne Lakatos 1970: 116ff.) gelten, auch wenn Hedström dies sicher anders sieht. Diese Kritik hat eine bedauerliche Konsequenz insoweit, als sich Hedströms ihr nur dann anschließen kann, wenn er bereit dazu wäre, seine (Hedström 2008: 91f. diskutierte) These über das Wechselverhältnis seiner DBOT und der RCT aufzugeben oder doch zu berichtigen. Hedström hatte an dieser Stelle zunächst dazu an-
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" gesetzt, die Beziehung der DBOT zur RCT nach demselben Muster zu diskutieren, das er auch zur Beurteilung des Verhältnisses zwischen der DBOT und der LT verwendet hatte. So weist er darauf hin, dass die DBOT offensichtlich keine Annahmen darüber enthält, dass ein Akteur "rational handelt" (Hedström 2008: 91). Sie sei deshalb jederzeit dazu in der Lage, auch solche Handlungen zu erklären, die keinen rationalen Erwägungen folgen, sondern sich allenfalls als eine Art des Trialand-Error-Verhaltens zu erkennen geben. Damit macht - so könnte man folgerndie DBOT schwächere Annahmen und kann entsprechend auf ein weiteres Anwendungsfeld hoffen als die RCT. Für diese Hoffnung spricht auch, dass die DBOT keine Angaben darüber impliziert, was Akteure tun, wenn sie merken, dass sie nicht über genügend Infonnationen verfügen, um einer bestimmten Handlungsalternative den Vorzug zu geben, ja dass zweifelhaft bleibt, ob die DBOT überhaupt etwas über Notwendigkeiten sagen kann, sich Infonnationen zu beschaffen, weshalb sie impliziert, dass Akteure auch in den Fällen zu handlungsleitenden Überzeugungen gelangen können, in denen sie nicht dazu in der Lage sind, deren Richtigkeit abzuschätzen. Auf der anderen Seite wird die DBOT auch nicht ausschließen wollen, dass zu den "guten Gründen", die einen Akteur dazu bewegen, eine Handlung durchzuführen, gehören kann, dass Akteure die Befriedigungsmöglichkeiten ihrer Bedürfnisse tatsächlich kennen. Auf diese Weise scheint sich der Eindruck zu verstärken, dass die RCT dann in der DBOT enthalten sein könnte, wenn letztere voraussetzen darf, dass ihre Akteure (zuf:ill.igerweise und in der Tat) zutreffend über ihr Handlungsproblem infonniert sind, weshalb Hedström ihnen zugesteht, dass sie ,,in einer hinreichend transparenten Umwelt entsprechend den Grundsätzen der Rationaltheorie handeln" können (Hedström 2008: 92). Tatsächlich liegen die Dinge etwas anders. Eine solche "Approximationsbeziehung" zwischen der DBOT und der RCT wäre nur zu demonstrieren, wenn die DBOT ihrerseits - wie Hedström der RCT zugesteht - eine Entscheidungstheorie wäre. Aber das ist sie nicht und sie kann auch nicht zeigen, dass die Tatsache, dass Akteure sich entscheiden müssen, keine Rolle für die faktische Genese ihres Handelns spielt. Eine solche Behauptung gehört nicht zu ihrer logischen Folgerungsmenge, weshalb zu fragen ist, ob es sich nicht umgekehrt verhält und die DBOT ein Grenzfall der RCT darstellt, der ihre Geltung auf den Fall eingrenzt, dass der vorgelagerte Aufwand einer Handlungsentscheidung gering ist oder dass die Akteure ihren Entscheidungsprozess bereits abgeschlossen und sich auf eine ihrer möglichen Handlungsstrategien festgelegt haben. Es könnte sein, dass Hedström diese Möglichkeit übersieht, weil er in der Tat vor allem solche Fälle modelliert, in denen er davon ausgehen kann, dass seine Agenten über festgelegte Ziele verfügen, bestimmte Überzeugung hegen und die Realisationschancen ihres Handelns richtig einschätzen und deshalb in der Meinung handeln, sie hätten keine weiteren Entscheidungen zu treffen. Damit unterscheiden sich die Hedströmschen Modellierungsvorschläge zwar nicht von denen eines Gary Becker, der auch davon ausge-
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MichaelSchmid hen möchte, dass die Präferenzen der Akteure feststehen und dass sie keine weiteren Informationen für die Lösung ihres Handlungsproblems benötigen (vgl. Becker 1982: 3ff.), es wird aber zunehmend schwerer, die von Hedström ersonnenen Anwendungen der DBOT nicht als Unterfall einer Entscheidungstheorie zu verstehen. Tatsächlich verfällt Hedström an zahlreichen Stellen in eine entscheidungstheoretische Sprache (vgl. Hedström 2006b: 123; 2008: 72, 85, 128, 132f., 168 u.a.), weil er natürlich ahnen muss, dass die Akteure seiner DBOT nicht in allen Fällen wissen (werden oder können), welche Handlung sie ergreifen sollen (vgl. Hedström 2006b: 115), was zumal dann der Fall ist, wenn sie über schwankende Überzeugungen verfügen und noch nicht erkennen, mit welchen Erfolgsaussichten sie welche ihrer Zielsetzungen vorrangig realisieren wollen. Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn sich ein Forscher darauf beschränkt, genau jene Fälle zu untersuchen, in denen die Akteure wissen, was sie wollen, aber damit hat man den Erklärungsanspruch der RCT noch nicht vollständig abgewehrt. Denn aus der Tatsache, dass sich Akteure für eine Handlung bereits entschieden haben oder keinen aktuellen Anlass sehen, sich (erneut) zu entscheiden, folgt nicht, dass ihrem Handeln kein Optimierungsprozess zugrunde lag.25 Es dürfte im Gegenteil dazu außerordentlich schwer fallen, Hedströms Postulat zu erfüllen, wonach eine Handlung "verstehbar" modelliert werden müsse (Hedström 2008: 209), ohne zuzugestehen, dass Akteure darauf aus sind, durch ihr Handeln ihre Ertragslage zu "optimieren" oder eventuell auch nur zu beschönigen, wenn sie echte Verbesserungen nicht erwarten können und sich entsprechend dazu gezwungen sehen, zu "sour grape strategies" zu greifen oder zu "wishful thinking" Zuflucht zu suchen (Hedström 2005: 40).26 In diesem Zusammenhang ist mir ein weiterer Korrekturhinweis wichtig. Um eine derartige Vereinnahmung der DBOT durch die RCT zu verhindern, legt Hedström an einer Stelle großes Gewicht auf die Auffassung, dass von der "Rationalität einer Handlung" nur solange gesprochen werden könne, als die Akteure diese auf "optimale Überzeugungen" stützen können (vgl. Hedström 2008: 92). Ich glaube nicht, dass sich dieser Einwand gegen die RCT bewährt; in meinen Augen ist es 25 Das soziologische Standardargument, demzufolge ,,Routinen" oder ,,habituelles Handeln" nichtrational und entsprechend nicht-optimierend sein können, findet sich glücklicherweise nicht und wäre auch ganz verfehlt, weil es selbstverständlich Umstände geben kann, in denen das Beibehalten eines Handlungsmusters jederzeit lohnt bzw. angesichts der Kosten einer Änderung rational ist (vg1. Carnic 1986: 1044; Heiner 1988; Hodgson 1993: 259). Auch kann es sich lohnen Dispositionen auszubilden, die einem die beständige Neuorientierung an Nutzengesichtspunkten ersparen, vg1. Baurmann 1996; Vanberg 1994). 26 Es dürfte unstritrig sein, dass diese von Jon Elster zur Diskussion gestellten psychischen Mechanismen nicht im Vordergrund der rationaltheoretischen Forschungen stehen; aber es ist natürlich auch nicht richtig, dass sich im Rahmen der RCT nicht über das oftmals undurchsichtige Verhältnis von Zielsetzungen und Handlungsmitteln nicht systematisch nachdenken ließe (vgl. Homann 1980).
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" nicht richtig anzunehmen, dass ein Akteur nur rational agieren kann, solange die ihm zugrunde liegenden Informationen vollständig oder wahr wären und dass es in diesem Sinne so etwa wie ,,rational beliefs" geben müsse (vgl. Runciman 1991). Keine der nach-Savagesschen oder "post-neoklassischen" Versionen der RCT enthält eine Annahmen dieser Art. Verallgemeinert heißt dies, dass die Rationalität einer Entscheidung nicht von der Validität der Verfahren abhängt, mittels derer Akteure ihre überzeugungen gewinnen, weshalb man die RCT auch nicht durch den Hinweis kritisieren kann, sie könne nicht erklären, weshalb das Handeln der Akteure (bisweilen oder in der Regel) nur "unzureichend informiert" (Hedström 2008: 92) verlaufe. Zugleich kann man auch dem durchaus richtigen Hinweis des Autors, dass die Akteure kaum darüber werden entscheiden können, bestimmte Überzeugung für wahr zu halten (vgl. Hedström 2008: 68), keinen Einwand gegen die RCT entnehmen; kritikwürdig wäre nur der Nachweis, dass die RCT für den Fall, dass gleichwohl über "beliefs" entschieden wird, nichts zu derartigen Vorgängen zu sagen hätte. Ein äquivalentes Argument gilt für die unterschiedliche Wählbarkeit von "desires". Hedström verteidigt die möglicherweise zulässige These, dass ein Akteur "für gewöhnlich nicht entscheidet, was er begehrt" (Hedström 2008: 67), sieht aber nicht, dass daraus für die RCT keine kritische Folgerung entsteht. Keine noch so radikal formulierte RCT behauptet, dass alle Zielfindungsprozesse entscheidungsabhängig verlaufen, hat auf der anderen Seite aber auch keine Bedenken, Erklärungsvorschläge zu machen, wenn dies gleichwohl der Fall ist (vgl. Chong 2000).27 Entsprechend muss sich die entscheidungsrealistisch umformulierte RCT bei der Lösung der Frage, wie sich die Situationsumstände und Interaktionskontexte auch und gerade "hinter dem Rücken" der einzelnen Akteure (Hedström 2008: 68, 79) - auf deren Handlungswahlen auswirken, nicht schlechter stellen als die DOBT und kann - wie diese auch (vgl. Noguera 2006: 23f.) - auf alle denkbaren Ergebnisse der psychologischen Entscheidungsforschung zurückgreifen, ohne ihren Erklärungsanspruch mindern zu müssen. Dass der RCT aus solchen Leistungsvergleichen keine Nachteile erwachsen müssen, zeigt sich zudem, wenn Hedström zugesteht, dass seine DBOT weder dazu in der Lage sei, Willensschwächen gerecht zu werden noch Zeitinkonsistenzen bei der Präferenzbildung (vgl. Hedström 2008: 66)28 erklären zu können. Tatsächlich weist die RCT dieselben Unzulänglichkeiten 27 Damit erledigt sich die soziologische Standardkritik, die RCT sei unfahig, die "Soziogenese" von Zielen zu erklären. Ein solcher Einwand verwechselt die mangelnde Notwendigkeit, eine solche Erklärung zu liefern, mit der logischen Unfähigkeit, es zu tun. Richtig ist natürlich, dass auffällige, immer wieder kritisierte gegnerische Theorien (wie etwa die ökonomische Markttheorie) sich um solche Fragen nicht kümmern müssen, weil sie konstante Präferenzen voraussetzen. Dass man deren Entstehung (deshalbi) nicht erklären könne, stellt aber ein schlichtes "non sequitur" dar. 28 Man kann deshalb Hedströms Bemerkung, die beabsichtigten Modellierungen interessierten sich nicht für die Fülle der menschlichen Person, sondern für "ideal-typische Akteure" (Hedström 2008: 60), als ein Zugeständnis dafür lesen, dass die DBOT offenbar unvollständig ist - gänzlich falsch kann sie nicht sein, denn dann müsste Hedström auf ihre Hilfe - wie auf die der RCT - verzichten.
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MichaelSchmid auf, ihre Vertreter könnten zu ihren Gunsten aber darauf verweisen, dass sie sich seit geraumer Zeit um die Behebung der damit verbundenen Schäden bemühen (vgl. Bermudez 2009: 112ff.; Koboldt 1995 u.a.). Auch unterscheiden sich beide Theorien nicht in ihrer Unfähigkeit, die "nicht-intentionalen" Prozesse zu erklären, die im Vordergrund der Festingerschen Dissonanztheorie stehen (vgl. Hedström 2008: 78f.).29 Es dürfte kenntlich geworden sein, dass mich Hedströms Argumente gegen die weitere Verwendung der RCT nicht überzeugen, weshalb ich mich ermutigt fühle, den folgenden Vorschlag zu unterbreiten. Man sollte sich nicht länger dafür einsetzen, die DOBT zur Mikrofundierung sozialer Erklärungsargumente zu verwenden, sondern dazu eine revisionsoffene Entscheidungstheorie vorsehen,30 welche die Grundidee der RCT, derzufolge jedes Handeln nicht nur zielführend (bzw. intentional) verläuft, sondern immer auch ein optimierendes Wahlhandeln sein muss, beibehält. 31 Das hätte einen mehrfachen Vorteil. Zum einen kann man zeigen, dass und wie die DBOT in ein entscheidungstheoretisches Erklärungsprogramm integriert werden kann. Die RCT behandelt sie als einen Grenzfall, weshalb sie solange zu richtigen Vorhersagen führt, als die Fiktion richtig ist, dass die Akteure keine Entscheidungsprobleme zu lösen haben, bevor sie eine bestimmte Handlung durchführen, bzw. solange zu wahren Erklärungen führt, als der Forscher es mit Handlungen zu tun hat, zu deren Beschreibung es nicht wichtig ist zu wissen, ob und dass ihnen Problemlösungsentscheidungen zugrunde liegen. 32 Die erklärende Kernprämisse der DBOT, derzufo1ge ,,Akteure dann handeln, wenn sie überzeugt sind, dass die Handlung das gewünschte Ergebnis hervorbringen wird" (Hedström 2008: 115), ist jedenfalls dann ein logisches Implikat der RCT, wenn sich ein Ak29 Insofern als das Aufkommen solcher Dissonanzen damit zu tun hat, dass Akteure außer Stande sind, ihrer "expressive utility" (Kuran 1998) zu folgen, also ihren eigenen Zielen statt denen anderer Personen zu folgen, kann man das als einen Hinweis darauf verstehen, dass die Dissonanztheorie die Entscheidungstheorie nicht kritisiert, sondern ein Problem behandelt, dass typischerweise dort auftritt, wo Entscheidungen Folgen für das Selbstbild eines Entscheiders haben, die er nur schwer tolerieren kann. 30 Das konnte Hedsttöm bis vor kurzem durchaus akzeptieren, vgl. noch Hedström/Sandell/Stern (2000), wo die Autoren ihrer Modellierung eines organisatorischen Diffusionsprozesses die RCT zugrunde legen. 31 D.h. nicht, dass es keine "activities" (Hedström 2005: 25ff.) geben kann, die diese Bedingungen nicht erfüllen; die soziologische Theorie behandelt solche Fälle, aber in der Regel als "Verhalten" und erklärt es "behavioralistisch", was Hedström offenbar verabscheut. Homans hatte das seinerseits versucht, ist aber daran gescheitert, dass es nicht gelingen wollte, mechanismusbildende "Handlungsverknüpfungen" zu finden. Umgekehrt hätte die Beibehaltung des Optimierungsaspekts den großen Vorteil, an die sich zunehmend verbreiteten "ökonomistischen" Erklärungen soziologisch relevanter Verhältnisse anschließen zu können. 32 Eine solche Position wäre nur zu beziehen, wenn statt einer intentionalen Erklärung des sozialen Geschehens evolutionistische Erklärungen angesttebt werden. Die evolutionäre Psychologie befindet sich auf diesem Weg, vgL Cosmides/Tooby/Barkow (1992). Insoweit die DOBT keine Entscheidungen berücksichtigen (kann oder) möchte, scheint sie sich dieser Programmatik anzunähern.
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" teur zu seinem Handeln bereits entschlossen hat und vorerst keinen Grund sieht, von seiner Entscheidung abzurücken. 33 Sich bereit zu finden, die Mikrofundierungsaufgabe der Analytischen (oder erklärenden) Soziologie einer (revidierten und in die Richtung erhöhter Realitätsnähe korrigierten) Entscheidungstheorie anzuvertrauen, hätte endlich auch den Vorteil, den ich im folgenden Abschnitt wenigstens auszugsweise belegen möchte, dass der Handlungsforscher mit ihrer Hilfe die individuellen Handlungsprobleme, vor denen ein Akteur steht und die sein Handeln in die eine oder andere Richtung drängen, sehr viel präzisier erheben kann als dies mit Unterstützung der DBOT möglich erscheint, die insoweit ebenso ad hoc-artig verfährt, wie das Mertonsche Erklärungsprogramm. 34 3.2.2 SoiJale Mechanismen Ich hatte dem forschungsleitenden Ansinnen der Analytischen Soziologie bereits zugestanden, dass sachlich angemessene soziologische Mehrstufenerklärungen an zentraler Stelle einen Verweis auf die Funktionsfahigkeit eines "explanatory mechanisrn" (Hedström 2006b: 111) enthalten müssen. Dass ein solcher Verweis einen Gutteil der Erklärungslasten trägt, bleibt auch dann richtig, wenn man einzusehen hat, dass nicht jeder Anhänger eines Analytischen Forschungsprogramms unter einem "sozialen Mechanismus" dasselbe versteht. 35 Solche Mehrdeutigkeiten sind im übrigen durchaus verständlich, solange die Definition dessen, was dieser Begriff bezeichnen soll, durch den Hinweis auf seine kausale Wirkmächtigkeit festgelegt wird, ohne zuvor zu klären, welche handlungstheoretische Interpretation dieser Deutung zugrunde liegen muss. Tatsächlich ist in der Frage, welche begriffliche Festlegung Verbindlichkeit beanspruchen sollten, derzeit kein Konsens der Forschung in Sicht, weshalb man Hedström nicht dafür tadeln kann, dass er sich auf eine der möglichen Deutung festgelegt hat, um seine Modellbildung vorantreiben zu können; wohl aber sollte man anfragen dürfen, weshalb er nicht zu bemerken
33 Natürlich kann der Akteur darüber im Zweifel sein, ob er Erfolg haben kann. 34 Hedström (2008: 97) erkennt sehr wohl, dass dieser Mangel dadurch zustande kommt, dass Mertons Handlungstheorie keinen funktionierenden "Entscheidungskalkül" kennt, zieht aber aus dieser Einsicht für die Ausfonnulierung seiner eigenen Handlungstheorie keine sichtbaren Konsequenzen. Aber er scheint das damit aufkommende Problem wenigstens zu ahnen, wenn er unter dem Einfluss von Jon Elster eine kurze Uste individueller Handlungsstrategien vorlegt, die sich aus unterschiedlichen Kombinationen der basalen Handlungsfaktoren ergeben, die die DBOT berücksichtigen kann (vgl. Hedström 2008: 64). Aber weder leitet er diese Möglichkeiten in präziserer Weise aus seiner bevorzugren Handlungstheorie ab als er dies aus der RCT könnte, noch macht er kenntlich, weshalb und d.h. zur Lösung welcher Probleme die Akteure sie jeweils verwenden. 35 Auch Hedström unternimmt mehrere Anläufe, um festzulegen, was ein Mechanismus ist (vgl. Hedström 2008; Hedström/Swedberg 1996a, 1998). Selbst Jon Elster, der die jüngere Diskussion um den Wert mechanismischer Erklärungen angestoßen hat, kommt zu Hedströms Bedauern zu keiner eindeutigen Antwort auf die Frage, was ein ,,Mechanismus" ist und wie er modelliert werden muss (Hedsträm/Swedberg 1996a: 284).
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MichaelSchmid scheint, dass er damit die Erklärungsreichweite seiner Modellierungen erheblich und wie ich zeigen möchte: unnötigerweise - einschränkt. Mein Einwand ist der folgende: Die DOBT legt nahe, die mögliche Verkettung individueller Handlungen in sozialen Kontexten und damit die Festlegung der Bedingungen, unter denen ein sozialer Mechanismus zustande kommt und wirkt, so vorzunehmen, dass sich die Akteure (wechsel- oder auch einseitig) dadurch Restriktionen auferlegen, dass sie ihren Mitakteuren das Recht zugestehen, ihre Ziele, Beliefs oder Opportunitäten, ohne sich dagegen zur Wehr setzen zu wollen (oder zu können), zu beeiliflussen (vgl. am deutlichsten Hedström 2008: 67).36 Über opportunitätsgerichtete Beeinflussungen sagt Hedström praktisch nichts, was seinen Grund u.a. darin haben könnte, dass die DOBT Opportunitäten, trotz ihrer zugestandenen "Objektivität", nur dann für wirksam hält, wenn sie dem Akteur "bekannt" sind und (deshalb?) sein Handeln "über dessen Überzeugungen beeinflussen" (Hedström 2008: 62, Fn. 7).37 Statt dessen richtet sich der Hauptaugenmerk der Hedströmschen Modellbildung auf die Tatsache, dass soziale Mechanismen dadurch zustande kommen und daraufhin den Interaktionen der Akteure eine bestimmbare Richtung weisen, dass sie sich einer vorweg (1m Modell ganz willkürlich 3ll) festgelegten Selektionsregeln folgend dann für ein bestimmtes Handeln entscheiden, wenn sie bemerken (oder beobachten), dass ihre Mitakteure sich in bestimmter Weise verhalten. Das (im Kuhnschen Sinn verstandene) "Paradigma" dieser Art von Modellforschung stellt Thomas Schellings Segregationssrudie dar (vgl. Hedström 2008: 19f.), in der er zeigt, dass Nachbarschaften auch dann in zwei völlig getrennte "Lager" auseinander fallen, wenn etwa die dort wohnenden "Weißen" den Zuzug von "Afroamerikanern" zulassen oder sogar begrüßen, sich aber das Recht vorbehalten, ihren bisherige Wohnort zu verlassen, wenn der weiße Bevölkerungsanteil unter 50% sinkt (vgl. Schelling 1971 und ausführlicher Schelling 36 Dass Hedström vorzugsweise "Beein.flussungsprozesse" modellieren möchte, scheint aber unabhängig von der Rolle festzustehen, die die DOBT dabei spielt, d.h. auch dort, wo er (wahlweise?) eine RCf als Mikrofundierung verwendet, stehen Prozesse der ,,imitation" und der "persuasion" im Vordergrund, vgL Hedström (1994); Hedström/Sandell/Stem (2000). Tatsächlich kann es jederzeit sein, dass die Übernahme der Meinungen anderer (angesichts definierbarer Umstände wie: Unsicherheiten, Informationsbeschaffungskosten etc.) die - aus entscheidungstheotetischer Sicht - ,,rationale" Reaktion darstellt, vgL Hedström 1998. 37 Damit müsste zugelassen sein, dass die Akteure ihre Handlungssituation (und somit auch die Funktionsbedingungen ihres Mechanismus') fehkmaft einschätzen, was aber bislang offenbar noch nicht in die Heuristik der analytisch-soziologischen Modellierungen aufgenommen wurde; so untersucht sie z.B. nicht das Scheitern von Handlungen. Umgekehn halte ich die These, dass die Eigenheiten det Situation nur dann wirksam sind, wenn die Akteure diese wahrnehmen, nicht für überzeugend, solange damit verboten ist, dass es Fälle geben könnten, in denen die Akteure "nicht wissen, was ihnen geschieht" (vgl. zu diesem Problemfeld Schneider 2003). 38 Man benötigt deshalb an dieser Stelle eine Bruckenhypothese, die aus der DBOT alleine nicht ableitbar ist. Ich komme auf die damit verbundenen überprufungstechnischen Probleme noch zu sprechen.
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des Soifalen" 2006 und Hedströms Replikationsstudie in Hedström 2006c: 83ff., 2008: 112ff.). Die Pointe der damit beschriebenen Dynamik besteht darin, dass bei ganz beliebigen Ausgangsverteilungen der Residenzen jeder einzelne Akteur auf Veränderungen seiner Nahbereichsstruktur so reagiert, dass zunehmend mehr Mitakteure ihrerseits unter Druck geraten so zu handeln, dass sich die Verhältnisse aller derart ändern, dass letztlich keiner seinem anfanglichen Ziel, in einer "ethnisch" gemischten Nachbarschaft leben zu wollen, treu bleiben kann; solche Prozesse lassen sich mithin als Selbstdegenerationsdynamiken modellieren. Einen seiner "Handlungslogik" (Hedström 2008: 127) nach zumindest "strukturell ähnlichen" (Hedström 2005: 28), wenn auch mit erfreulicheren Ergebnissen verbundenen sozialen Interaktionsmechanismus verwenden auch Diffusionsstudien, deren bekannteste die von Coleman und Mitarbeitern über die Netzwerkabhängigkeit der Verbreitung von Informationen über die Güte von Arzneimittel sein dürfte (vgl. Coleman et al. 1957), die Hedström wiederholt als beispielshaft anführt (Hedström 2008: 129f., 204f. u.a.). Und auch seine eigene Untersuchung der langfristigen Arbeitslosigkeit Stockholmer Jugendlicher rekurriert auf einen ähnlich gelagerten Interaktionsmechanismus, der dafür sorgt, dass die untersuchten Jugendlichen überall dort länger (als im Durchschnitt) im Zustand der Beschäftigungslosigkeit verbleiben, wo sie auf gleichermaßen arbeitslose Freunde und Bekannte treffen, die sich - wie unterstellt wird - wechselseitig in der Meinung bekräftigen, dass ihre Lage angesichts der Tatsache erträglich sei, dass viele sie teilen müssen, was jeden einzelnen wiederum davon abhält, sich mit gesteigertem Eifer um einen neuen "Job" zu kümmern (Hedström 2008: 167ff.). Gegen eine derartige Auffassung darüber, wie soziale Mechanismen wirken und unvorhergesehene perverse Kollektiveffekte produzieren, ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Die vorgeschlagenen Formalisierungen der paradigmatischen Modelle sind verteidigungsfahig und höchst elegant, zeigen aus der Sicht des Theoretikers wie aus dem Blickwinkel der betroffenen Akteure in der Tat unerwartete oder überraschende Effekte und können zugleich helfen, deren Auftreten (wenigstens) "im Prinifp" (Hedström 2005: 20, Herv. MS.) oder in Form einer "Mustererklärung" (wie Hayek gesagt hätte)39 gerecht zu werden. Es muss aber auffallen, dass alle diese Modellierungen nur einen Problemtyp behandeln: den der Koordination. 40 In allen Fällen besteht das Handlungsproblem der Akteure, das sie mit Hilfe bestimmter sozialer Interaktionsmechanismen lösen können oder wollen, darin, ihr Handeln so aufeinander abzustimmen, dass sie es vermeiden können, eine Minderheitsposition beziehen zu müssen, dass sie verhindern, in ihrem Milieu durch das Ver-
39 Vgl. Hayek (1972: 18ff.). 40 Hedströnl (2008: 76, 133, 138 u.a.) verwendet zur Bezeichnung der vetmittds sozialer Mechanismen zu bearbeitenden Probleme des Meinungs- oder Interessensangleichs den "Kootdinationsbegriff" mehrfach.
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MichaelSchmid treten auffaIliger Überzeugungen "anzuecken" oder der letzte bei der Übernahme einer Ansicht zu sein, oder dass sie sich mit ihrem "Unglück" abfInden, weil sie in ihrem Milieu eine hinreichende Unterstützung ihrer Meinung erfahren, dass sie eh nichts an ihrer Lage ändern können etc. Interaktionsregime aber, mittels derer Akteure nicht nur Koordinations- sondern auch konfliktbe1J.dene Verteilungsproblerne lösen müssen oder genauer bezeichnet: Gefangendilemmata, Stag-hunt-Probleme, Geschlechterkämpfe, Hawk-dove-Konstellitionen oder gar Null-SurnmenKonflikte zu bearbeiten haben (vgl. McAdarns 2008) tauchen nicht auf, weshalb der daraus resultierende Mangel nicht bemerkt und in der Folge auch nicht als problematisch eingestuft werden kann. Ich bin unsicher, inwieweit diese Beschränkung des Erklärungsbereichs der analytischen Soziologie aus ihrer DBOT-Fundierung herrührt. Im Gegensatz zur RCT, die in den Augen ihrer Vertreter, zumal infolge ihrer spieltheoretischen Erweiterung, die Möglichkeit hat, eine letztlich unabschließbare Fülle von Interessenskonstellitionen auf ihre Reproduktionsbedingungen hin zu befragen (vgl. Knight 1995; North 1995; Ullmann-Margalit 1977 u.v.a.), wozu die Lösung von Koordinationsproblemen zwar gehört, den Katalog möglicher theoretischer Fragstellungen aber nicht erschöpft, legt sich die DBOT dadurch eine erhebliche Beschränkung ihrer thematischen Reichweite auf, dass sie zur Modellierung von sozialen Mechanismen und Interaktionsregimes nur Einflussbeziehungen zulässt, die zudem alle durch Anpassungsentscheidungen konsenswilliger Akteure bewältigt werden. Das kann für eine "paradigm unifIcation", auf die die Analytische Soziologie vorgeblich abzielt (vgl. Noguera 2006: 9), nicht ausreichen. Es macht in meinen Augen in diesem Zusammenhang auch keinerlei Sinn, wenn Hedström von dieser Schwäche der DBOT dadurch abzulenken versucht, dass er der RCT vorhält, sie habe zur Beantwortung der Frage, wie die Akteure ihre Handlungen miteinander in Beziehungen setzen und haltbare Interaktionsmuster ausbilden können, nichts beizutragen, weil sie ausschließlich "atomistische" Handlungsweisen modellieren könne (Hedström 2008: 59, 203). Ich vermute, dass Hedström diese fehlgelagerte Auffassung von Granovetter bezieht (vgl. Hedström 2008: 58), dass sich aber das Vertrauen, das er diesem Autor damit entgegenbringt, bei genauerern Hinsehen nicht rechtfertigen lässt. 41 Dabei hat die DOBT eine solche untaugliche Verteidigung gar nicht nötig; vielmehr bin ich eigentlich sicher, dass sie, sofern sie bereit ist, sich als Entscheidungstheorie reformulieren zu lassen, sich aus der angeführten Selbstbeschränkung je41
Oder positiv gewendet: Selbstverständlich kann die RCT relationale Präferenzen ebenso behandeln wie Koalitionsbildungen, Vertragsverhandlungen, das Poolen von Einsätzen oder die Bewirtschaftung von Allmenden, das Entstehen von Moralen oder Gemeinschaften, Herrschaftsverbänden oder Konflikten u.v.a.m. und d.h. auch alle Situationen, in denen Akteure nicht auf eigene Rechnung und ungeachtet der Erwartungen ihrer Mitakteure handeln (müssen oder dürfen). Zur entsprechenden Kritik der Granoverrerschen Theorieauffassung vgl. Schmid (2008).
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" derzeit aus eigenen Stücken wird befreien können; sie müsste nur zur Prüfung der Frage bereit sein, ob sich aus ihren Prämissen nicht ein reichhaltigeres Repertoire an mechanismusrelevanten Handlungsstrategien ableiten lässt, als bisher,42 und ob auf diese Weise nicht der Blick auch auf ganz andere Arten oder "Logiken" (Hedström 2008: 208) sozialer Mechanismen frei wird als sie den Vertretern der Analytischen Soziologie Gedenfalls bislang) vorschweben. 43 So sollte die DOBT durchaus zeigen können, dass Akteure, die sich anschicken, auf die Zielsetzungen ihrer Mitakteure oder auf deren Opportunitäten bzw. Ressourcenausstattung Einfluss zu nehmen, mit solchen Übergriffe nicht immer auf Zustimmung stoßen werden. Dann aber haben wir es mit "strukturellen Konfigurationen" (Hedström 2008: 44, 204) und entsprechenden "Interaktionsstrukturen" zu tun, in denen Unwilligkeiten und (zumindest partielle) Interessendivergenzen auftauchen, die mit der ausschließlichen Hilfe koordinativer Abstimmungsmechanismen nicht zu bewältigen sein werden. Ich hielte es nicht für einen wirklichen Vorteil, mit einer Handlungstheorie arbeiten zu müssen, die diesen Mangel weder sieht noch heuristisch ausmünzen kann. 44 Und vielleicht wäre zu hoffen, bei der Suche nach einem erweiterten Anwendungsfeld auf Prozesse zu stoßen, die sich mit Hilfe des Begriffs der "Beeinflussung" nur undeutlich und am Ende gar nicht beschreiben lassen. So sollte es einen Unterschied machen, ob die Akteure durch ihre freiwilligen Erwartungen darüber beeinflusst sind, was sie tun sollten, wenn andere in bestimmter Weise handeln, 42 In diesem Sinn ist es etwas ärgerlich für die RCf, wenn sie sich vorhalten lassen muss, Tritthrettfahren seien - wie Experimente zeigten - weniger verbreitet als sie annehme (Hedström 2008: 207f.). Sicher, aber hätte die DBOT dieses Phänomen überhaupt entdecken können? Und sind die in ihrem Rahmen vorgeschlagenen Lösungen des Collective action-Problems, wenn es sie denn gibt, besser? Der ausschließliche Hinweis auf Experimente, die die Bereitschaft der Akteure dokumentiere, sich gegen Trittbrettfahrer zur Wehr zu setzen, reicht für einen Entscheid nicht hin, solange die theoretische Interpretation der Ergebnisse offen bzw. unklar sind und keineswegs als erwiesen gelten kann, dass die DOBT dabei Vorteile zu verbuchen hat. 43 Ich selbst neige dazu, Mechanismen anband der Regulierungswirkungen von Rechten und (normativen) Erwartungen zu bestimmen und damit die Frage zu beantworten, wie man nicht nur relativ leicht lösbare Koordinationsprobleme, sondern auch Verteilungsprobleme und Konflikt1agen "institutionell" bewältigen kann, in denen sich die Erttagsinteressen der Akteure nachhaltig unterscheiden (vg1. Schmid 1998, 2004). Solange Hedström (2008: 209) der Meinung ist, er sollte den Begriff ,,Institution" (wegen dessen holistischer Nebentöne) nicht benutzen, wird es sich natürlich nicht lohnen, Erklärungsanstrengungen zusammenzulegen, auch wenn Hedström die Frage, wie Normen (und Rechte) entstehen, auch dann als eine zulässige Frage einstuft (vgl. Hedström 2008: 102), wenn er m.W. keine entsprechende Modellüberlegungen hat vorlegen wollen. 44 Die Forschergruppe, die sich um Joseph Berger, Mortis Zelditch, Thomas Fararo und andere versammelt hat, analysiert (mit Hilfe "überzeugungsbasierter Mechanismen", wie die Analytische Soziologie sagen würde) auch Macht- und Statusverteilungen, woraus man folgern kann, dass die Beschtänkung auf Koordinationen keine logische Notwendigkeit darstellt (vg1. Berger/Zelditch 1993). Ich sehe nicht, dass Hedström diese Versuche kennt und weiß nicht, wie er sich ihnen gegenüber positionieren möchte.
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MichaelSchmid oder ob ihnen ihre Mitakteure Strafaktionen für den Fall androhen, dass sie sich ihren Anforderungen gegenüber verweigern. Ebenso wird man vermuten dürfen, dass Interaktionsregime in Abhängigkeit davon eine jeweils andere Gestalt haben könnten, ob die Akteure wissen, dass die anderen wissen, was sie wissen, oder ob sie sich wechselseitige Ignoranz unterstellen müssen usf. Vor allem kann ich mir vorstellen, dass Interaktionen je nach Umfang und Art der Güter variieren, die die Akteure dadurch zu erhalten hoffen, dass sie sich beeinflussen lassen, und dass es endlich Fälle geben kann, in denen die Berücksichtigung der Kosten wichtig ist, die auch mit solchen Handlungen verbunden sind, die man gar nicht als Beeinflussungsversuche bewerten kann (z.B. infolge der Inanspruchnahme von Handlungsfreiheiten, die nur dann bestehen, wenn die anderen auf Beeinflussungen verzichten).45
3.2.3. Die Model/logik In diesem letzten Abschnitt möchte ich in gebotener Kürze drei Fragen aufwerfen: Wo genau liegt die Erklärungsfunktion der unterlegten Theorie (oder Theorien)? Weshalb sucht die Analytische Soziologie in erster Linie (oder ausschließlich?) soziale Regelmäßigkeiten zu modellieren? Und weshalb ist ihr Glauben an mögliche Modellierungserfolge daran gebunden, dass sie geschlossene Systeme behandeln darf?46 45 Modelle "freiwilliger Koordination" zwischen rationalen Akteuren, in denen Beeinflussungen keine Rolle spielen, werden verschiedentlich diskutiert (vgl. Chong 1991; Marwell/Oliver 1993 oder Medina 2007). Auch nehme ich nichr an, dass die ,,Analytische Soziologie" notwendigerweise auf die ModelIierung von Tauschsystemen und Verträgen, Geschenktransfers und Koalitionsbildung, Schiedsverfahren und Genossenschafren verzichten muss. 46 In diesem Zusammenhang wäre darüber hinaus das sogenannte ,,Aggregationsproblem" zu behandeln. Hedström (2008: 158E) vertraut dessen Lösung simuJationstechnischen Aggregationsregeln an. Man sollte aber sehen, dass diese selbst dabei keine Erklärungslasten tragen, sondern Bestandteil der Logik eines Erklärungsarguments sind - Esser (1993: 96ff) sprichr zu Recht von der "Logik der Aggregation". Daraus folgen zwei Bedenken: Ob die Annahmen, auf Grund derer "aggregiert" wird, handlungstheoretisch haltbar sind, ist immer die Frage (vgl. Schrnid 2009), was desgleichen Befürchtungen über den Fiktionalismus von Erklärungen aufkommen lassen kann. Ich sehe nicht, dass der Autor diese Gefahr diskutiert. Dass auf SirnuJationswegen identifizierte Verteilungsstrukturen ein logisches Implikot der Modellprämissen sind, gibt noch Zu einer zweiten Aornerkung Anlass. Ich kann, nachdem ich die zu erklärenden Verteilungswerte aus meinem Mechanismus-Modell 10gisch hergeleitet habe, zwar empirische Daten befragen, um herauszufinden, ob mein aktuelles Explanandum ihnen korrespondiert und wenn dies der Fall ist, (wenigstens vorläufig) sicher sein, dass meine Prämissen diesen Befund erklären. Wenn die Daten aber nichts mit den Sirnulationsergebnissen zu tun haben, weiß ich nichts über den Wahrheitswert meiner Prämissen; d.h. SirnuJationsresultate taugen zur Widerlegung der unterlegten Modellannahmen nicht und ich weiß (aufgtund des Quine-Duhem-Problems) auch nicht, woran das liegen mag. Um Modellirnplikationen zu falsifizieren, muss man anders vorgehen: Es gilt bislang unbekannte Prognosen aus den Modellannahmen (eventuell mir Hilfe von SirnuJationen) abzuleiren, und diese anschließend anband (modelllogisch) unabhängiger Daten zu prüfen. Man muss beachten, dass aus der Sicht einer am erkenntnistheoretischen Realismus orientierten Forschungspraxis, SirnuJationen leicht zu Glasperlenspielen degenerie-
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" Die Beantwortung der ersten Frage erfordert die bewusste Simplifizierung eines hochkomplexen Zusammenhangs, den Hedström (2008: 104ff.) unter dem Titel: "Das Individuelle und das Soziale: ontologische und methodologische Unterschiede" abhandelt. Zunächst sieht er ganz richtig, dass jedes soziologische Erklärungsargument, das einen "causal account" (Hedström 2005: 13) dafür geben will, weshalb bestimmte soziale Phänomene zu beobachten sind, alleine deshalb mikrofundierend angelegt sein muss, weil ohne Verwendung einer Handlungstheorie nicht gezeigt werden kann, aufgrund welcher "causal powers", die in den Motiven der einzelnen Akteure liegen, die zu erklärende soziale Dynamik "generiert" und vorangetrieben wird. D.h. die "desires" und "beliefs" sind die "proximate causes", die unmittelbar auslösenden Ursachen der Akteurshandlungen (Hedström 2005: 38). Auf der anderen Seite wird Hedström nicht müde, darauf hinzuweisen, dass ohne präzise Kenntnis der "Interaktionsregimes" oder Interaktionsstrukturen, die den Mechanismus der Handlungsverknüpfungen liefern, Erklärungen alleine deshalb unvollständig bleiben, weil man die zu untersuchenden SozjaJphänomene nicht direkt aus den Handlungen einzelner Akteure ableiten kann, ohne zu berücksichtigen, wie sich die sie motovierenden "Konstellationen von Bedürfnissen, Überlegungen und Opportunitäten" (Hedström 2008: 62) im Rahmen wechselwirksamer Beeinflussungsprozesse ausbilden. Nun scheint Hedström anzunehmen, dass diese Interaktionsstrukturen ihrerseits Kausalcharakter haben, indem sie einesteils auf die Handlungen der einzelnen Akteure zurückwirken (Hedström 2008: 68, 83f., 104 u.a.) bzw. andererseits von "decisive importance of its own right" bei der Genese von "social outcomes" (Hedström 2005: 93) sind, was es nahegelegt, zur Erklärung sozialer Sachverhalte neben der "Handlungstheorie" auch eine "Interaktionstheorie" (Hedström 2008: 98) vorzusehen. Und endlich unterstellt der Autor in gleicher Weise, dass auch die aus dem Zusammenwirken von individuellen Handlungsgründen und interaktiven Strukturen entstehenden "emergenten" sozialen Phänomene kausale Rückwirkungen auf die individuellen Handlungen haben werden (siehe Hedström 2008: 194); entsprechend sollte man vermuten, dass es auch für die damit entstehenden rekursiven Dynarniken eine (eigene) "Theorie" geben sollte. 47 An dieser Stelle aber zögert Hedström, denn ihm will nicht plausibel erscheinen, dass kollektive Verteilungs- oder Aggregationseffekte eine eigenständige ontologische Ebene darstellen können, der man eine handlungsbestimmende Kausalität zurechnen sollte (siehe Hedström 2008: 10M.) oder auf der eigenmächtige "macrolevel mechanisms" (Hedström/Swedberg 1996a: 299) nachweisbar wären. Aber ren können. Wie Hedströms Kritik an der RCT erkennen lässt, weiß er darum, dass die logische Exaktheit modellgesteuerter Deduktionen nichts mit der empirischen Relevanz der Modelle zu tun haben muss. 47 Eine kurze Ergänzung: Wenn es solche "Rekursionen" tatsächlich gibt, dann sind mikrofundierende soziologische Handlungserklärungen nicht dreistufig, sondern vierstufig strukturiert, vgl. Schmid (2006: 16ff.).
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MichaelSchmid auch weil er bezweifelt, dass es eine (empirisch valide) Methode gebe, die den Modelleur in die Lage versetzt, derartige eigenständige Kausalitäten zu identifizieren (siehe Hedström 2008: 107f.), möchte er (unter Zurückweisung der gegenteiligen These von Keith Sawyer (vgL 2005)) solchen "sozialen Effekten" oder "Tatsachen" nur einen epiphänomenalen Charakter zugestehen, d.h. es gibt in diesem Bereich keine "sozialen Gesetze" oder theoriefähigen "soziale Kräfte" (Hedström 2008: 109), weshalb der Theoretiker nicht darauf verzichten kann, Erklärungen mithilfe von Annahmen über die "Prozesse auf der Individualebene zu formulieren" (Hedström 2008: 109). Ich bin von der Tragfähigkeit dieser Argumentation nicht zur Gänze überzeugt. Zwar würde ich zugestehen, dass es auf der Ebene der "sozialen Tatsachen" keine Gesetze oder "Kollektivkräfte" (und damit auch keine ontologisch eigenmächtigen Kausalmechanismen) gibt, was aber niemanden (auch Hedström nicht) davon abhalten muss, der Tatsache, dass solche Effekte auftreten, einen kausalen Einfluss auf die Handlungsentscheidungen der Akteure zuzuschreiben. Die Schwierigkeit, die mit diesem Zugeständnis verbunden ist, resultiert nun aber daraus, dass infolgedessen die Identifikation von Kausalitäten nicht notwendig mit dem Wertbereich einer Theorie zusammenfallen muss. D.h. aber, wir sollten Theorien, die "proximate causes" und "causal powers" sozialer Dynamiken behandeln, von genau in diesem Sinne theorieunfähigen Annahmen darüber unterscheiden, welchen strukturellen Restriktionen ein individuelles Handeln ausgesetzt sein wird. Das bedeutet nicht, dass man kein Recht hätte, auch dort von "Kausalität" zu sprechen, wo die (inneren und äußeren) Umstände eines Akteurs sein Entscheidungshandeln beengen oder auch ermöglichen; aber in dem Wortsinn, in dem Handlungstheorien dies können, werden strukturelle Mechanismen und deren Rückwirkungseffekte Handlungen nicht "generieren" oder "erzeugen" (vgl. Uoyd 1986).48 Am leichtesten wird man sich tun, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass es "Wirkkrijie" nur auf der Ebene der (wie immer beeinflussten) mentalen Entscheidungsprozesse gibt, weshalb es angemessen ist, "generative (Handlungs-)Theorien" von "Situations-" oder "Strukturmodellen" zu unterscheiden,49 die die kontingenten Restriktionen nennen (oder beschreiben), denen Handlungsentscheidungen ausgesetzt sind, über deren Zusammenhänge und Entstehungsbedingungen es vielleicht empirisch konstatier-
48 Mit der in der Philosophie der Geschichte üblichen Gegenüberstellung von "proximate" und ,,remote" oder "ultimare causes" hat Hedströms Wortgebntuch offensichtlich nichts zu tun; auch sehe ich nicht, ob der Autor mit der Verwendung dieser Terminologie die Diskussion mit Jaekson/ Pettit (2004<1) aufnehmen möchte, die darauf hinweisen, dass die IdentifIkation "remoter" Kausalfaktoren dem erklärenden Theoretiker Information zur Verfügung stellt, die über das hinausgehen, was die Benennung proximativer Ursachen leistet. 49 Vertraut man sich Barberas (2006: 46ff.) Rekonstruktion der ,,Analytischen Soziologie" an, dann beachtet sie diese Differenzierung keinesfalls.
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" bare "Regelhaftigkeiten" (dazu gleich mehr), aber keine (generischen) Theorien gibt. 50 Meiner Meinung nach gilt diese Einschränkung indessen auch - und hier müsste ich mich offenbar gegen Hedströms Anschauung stellen - für die vorgebliche Existenz einer "Interaktions theorie". Natürlich wirken sich die empirisch beobachteten Einflussnahmen ihrer Mitakteure auf die jeweiligen Zielsetzungen und Überzeugungen der Akteure aus, und ebenso einsichtig dürfte die These sein, dass die jeweils vorherrschende Interaktionsstruktur Art und Reichweite solcher Beeinflussungen (trgendwie) bestimmt oder festlegt; aber gibt es dafür eine autonome Kausaltheorie, und wenn ja, wie lautet deren "selektionswirksamer Kern"? Gibt es irgendwo eine (onto-)Iogisch eigenständige Theorie des Interagierens, die etwas anderes beinhaltet als das, was die jeweilige Handlungstheorie besagt und behandeln kann, wenn wir sie in unterschiedlichen Interdependenzkontexten anwenden? Ich würde diese Untiefen, in die man infolge der unterschwelligen Anlehnung an die Millsche Kausalverständnis gerät, das zwischen dem "energetisierenden" Handlungspotenzial und den Restriktionseinflüssen einer Handlungstopologie nicht unterscheiden kann, gerne verlassen,51 indem ich das Hedströmsche Ontologie- oder Epiphänomenalismusproblem in der folgenden Weise umdeute und dadurch löse. Hedström sieht an einer früheren Stelle seiner Darlegungen (offenbar auch in diesem Fall angeregt von John Elster), dass die Verfertigung mechanismischer Erklärungen keine eigenständigen bzw. "universellen Gesetze" erfordert (vgl. Hedström 2008: 42). Das ist richtig, zwingt aber zu der Folgerung, dass es damit auch keine "mechanismischen" Theorien und d.h. im Sprachgebrauch von Hedström: keine "Interaktionstheorien" (und schon gar keine Interaktionsgesetze) ge50 Genau das hatten soziologische Makroansätze oder Makro-"Theorien" aller couleur angenommen. Deshalb kann man den methodologischen Individwilismus nicht besteigen und verlassen "wie einen Fiaker". Solange man diese Lehre unter anderem deshalb akzeptiert, weil man an die "Entwicklungsgesetzlichkeit des Kapitalismus" oder an die "Gesetze des Marktes" so wenig glaubt wie an die ,,lichre Zukunft des Sozialismus" oder "das Ende der Geschichte", gilt, dass Erklärungen logisch von "Prozessen auf der Individualebene" (Hedström 2008: 109) abhängen (was aber nicht impliziert, dass alle überindividuellen Sachverhalte nur über die "Vorstellungen" und "aus der Sicht" der Akteure wirken). D.h. wie der Theoretiker die "explanatorische Bedeutsamkeit vorgegebener (siel) sozialer Strukturen" (Hedströrn 2008: 16, Fn. 4; ich habe die Übersetzung verändert und ergänzt) beurteilt, hängt auch dann aNsschließlich vom Informationsgehalt unserer Handlungstheorien ab, wenn wir die deskriptive "Emergenz" von Mechanismen und deren komposirorischer Effekte jederzeit zugestehen können - denn wie anders sollten sie sonst überhaupt "explanatory importance" (Hedström 2005: 5, Fn. 4) gewinnen? 51 Für MiII sind Ursachen immer die Gest111ltheil der ,,Antezedentien" einer Wirkung, die auf sie "unbedingt" und "unveränderlich" folgt (Mi111868: 401), weshalb Kausalität auch nur anband der Regelhaftigkeit des damit genannten Zusammenhangs erkannt werden kann. D.h., wenn gegenläufIge Ursachen wirken, ist der betreffende Effekt nicht mehr eindeutig erkennbar und benennbar. Wie man die MiIIsche Rede von der "pluraUty of causes" im Zusammenhang mit Handlungserklärungen deuten muss, ist allerdings umstritten (vgl. Tuck 2008: 58ff.).
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MichaelSchmid ben kann. Tatsächlich gewinnen wir eine Vorstellung davon, wie ein "sozialer Mechanismus" funktioniert und damit wie "eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die so organisiert sind, dass sie regelmäßig einen besonderen Ereignistyp erzeugen [...] beschrieben"52 (Hedström 2008: 42) werden muss, dadurch, dass wir ebenso kontingente wie singuläre - wie Esser (1999: 15f., 76f., 261ff., 399ff., 403ff.) und Lindenberg (1996) sie nennen - Bmcken!?Jpothesen darüber formulieren, welche dieser Konstellationen vorherrschend sein könnten und wie sie sich auf verschiedenartig disponierte Akteure auswirken, um sodann deren Nah- und Ferneffekte zu erkunden. Die Beantwortung der Frage, welche handlungsleitenden Beziehungskonstellationen es geben kann, liefert uns keine eigene Theorie, sondern muss aus unserem Versuch resultieren, im Lichte unserer Handlungstheorie aus der Fülle logisch möglicher Handlungsverknüpfungen jene zu bestimmen, deren Effekte uns zum Erklärungsproblem geworden sind, und darüber Modelle zu erstellen. Mögliche Tests eines daraufhin ausgearbeiteten Erklärungsarguments richten sich dann (eingegrenzt auf das vorliegenden Problem) in der Tat nicht auf eine nichtvorhandene Theorie der Handlungsverknüpfungen (oder Interaktionen), sondern darauf, ob die zu Deduktionszwecken ausgewählte Handlungskonstellation tatsächlich realisiert war und die unterstellten Auswirkungen auf die einzelnen Akteure wirklich hatte. 53 Derartige Anwendungshypothesen stellen den "protoctive belt" eines analytischen Forschungsprogramms dar, nicht seinen (zum Zweck der Erklärung jeweils konstant gesetzten) Kern (vgl. Lakatos 1970: 134ff.).54 Wenn sich solche "Schutzhypothesen" als falsch erweisen, ist keine Theorie in Gefahr, sondern wir ändern sie nach Belieben und mit dem einzigen Ziel, zur Identifikation des möglichen Anwendungsbereichs unserer handlungstheoretischen Prämissen bislang unbedachte (und testbare) Prognosen zu formulieren. Natürlich spricht nichts dagegen, (auch) die Brückenannahmen (gelegentlich empirisch) zu prüfen und nicht nur die mit ihrer Hilfe deduktiv gewonnenen Prognosen, denn von ihrer Wahrheit hängt ab, ob letztere zutreffen; aber wir leiten diese Hilfsthesen nicht aus einem eigenständigen Theoriegebäude ab, weil es dieses nicht gibt. Bedingung ist nur, dass ihre Auswahl psychologisch und soziologisch "plausibel" sein muss, wie Hedström richtig vermutet (vgl. Hedström 2008: 56), was heißt, dass sie mit unserem handlungstheoretischen Wissen, das die "proximativen Ursachen" des HandeIns, aber nicht dessen (strukturellen und effektvermittelten) Restriktionen benennt, nicht in
52 Das ist Hedströms Wortwahl, die ich für völlig zutreffend halte, weshalb ich sie kursiv setze. 53 D.h. auch im vorliegenden FaU ,,kalibrieren" wir ModeUparameter und testen keine theoretischen Hypothesen - um im Wortgebrauch Hedströms zu bleiben. 54 Diesen Kern werden wir erst dann verändern, wenn sich zeigt, dass die untersuchten "Strukturen" sich nie so auswirken wie die jeweilige Handlungstheorie (vorher)sagt. So müsste man die ökonomisch applizierte RCT ändern, wenn sich nachweisen lässt, dass Mechanismen und deren Verteilungsstrukturen keine Anreizwitkungen haben können.
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des Soifalen" Widerspruch stehen dürfen, denn sonst entstehen in der Tat die von Hedström befürchteten, rein flktionalistischen Erklärungen. Die zweite zu behandelnde Frage war, welche Bedeutung es hat, dass die Analytische Soziologie in erster Linie (typische 55) "Regelmäßigkeiten" (des sozialen Geschehens) erklären möchte. Tatsächlich lesen wir mit monotoner Insistenz, dass sie (vielleicht ausschließlich) darauf aus sei, jene Interaktionsmechanismen zu thematisieren, die darauf hinwirken, dass sich die fraglichen sozialen Phänomene, um deren Erklärung es ihr geht, als ein ,,regelmäßiger" Effekt jener interaktiven Handlungsverknüpfungen ergeben sollten, deren Eigenart im Lichte der unterlegten Handlungstheorie bestimmt werden muss (siehe Hedström 2008: 13, 25, 42 u.a., 2005: 145). Die Explananda mechanismischer Erklärungen beschreiben demnach Phänomene, die sich regelmäßig dann einstellen, wenn sich die im Modell unterlegten Funktionsbedingungen eines sozialen Mechanismus bei verschiedenen Modellanwendungen herstellen oder beobachten lassen. Im vorliegenden Fall interessiert mich nicht das Korrelat dieser These, demzufolge sich dann unterschiedliche Effekte einstellen müssen, wenn sich im Konstellationsgefüge der unterlegten Mechanismen Veränderungen ergeben, sondern die Frage, weshalb die Analytische Soziologie so sicher ist, dass solche Veränderungen nur dann auftreten, wenn im Satz der Funktionsbedingung des betreffenden Mechanismus Veränderungen zu konstatieren sind. Tatsächlich könnte es ja auch sein, dass konstant und repetitiv verlaufende mechanismische Prozesse differenzielle oder chaotische Effekte nach sich ziehen, dass bestimmte soziale Mechanismen als "strange attractors" wirken, deren einzige Regelmäßigkeit darin besteht, keine regelmäßigen (oder eben eher: "noisy'') Effekte zu produzieren. Dass solche "fremdartigen" Prozesse deterministisch generiert werden, wie sie Hedström zu modellieren vorschlägt, kann unbestritten bleiben, nur kann man sich nicht länger darauf verlassen, die dahinter stehenden "Regelmäßigkeiten" anband ihrer wiederholten Wirkungen zu erkennen (vgL Smith 1998: 143 u.a.).56 Das daraus folgende erklärungslogische Problem ist dann natürlich, wie sich Prognosen, die auf der Suche nach "Regelmäßigkeiten" formuliert wurden, sich aber als falsch herausstellen, von jenen Vorhersagen unterscheiden lassen, die annehmen müssen, dass sich die beobachteten Effekte bei jedem erneuten Nachse55 Vgl. etwa Hedström/Swedberg/Udehn (1998: 358). Ich muss gestehen, dass ich die Bedeutung dieser Bezeichnung nicht verstehe, wenn damit etwa anderes gemeint ist als die Tatsache, dass es um die Erklärung von ,,Regelhaftigkeit" oder aber um die Erklärung bestimmter ,,Arten von Effekten" (="Ergebnistypen") gehe (vgI. Hedström 2008: 42). An eine Assoziation zu Weberschen "Idea1typen" ist wohl nur dort gedacht, wo Hedström (2008: 60) meint, dass seine unvollständige (oder abstrakte) Handlungstheorie allenfalls das Handeln ,,idealtypischer Akteure" zu behandeln erlaubt. 56 Den gegenläufigen Fall, demzufolge sich identische kollektive Sachverhalte oder Effekte aufgrund divergierender Individualeigenschaften einstellen, scheint Hedström berücksichtigen zu wollen, vgl. Hedström (2008: 108f.). Dass es Fälle geben könnte, in denen deterministische "generative Mechanismen" stochastische Verteilungen produzieren, sieht der Autor nicht vor.
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MichaelSchmid hen ändern werden. Ich halte diese Regelmäßigkeitsthese für falsch. Sie ist ein spätes Erbe des Millschen (und Hempelschen) Empirizismus, dessen Faszination sich bei Hedström auch in seiner Neigung zeigt, aus der vorgeblichen Nichtbeobachtbarkeit psychischer Prozesse ein "Verifikationsproblem" zu machen (vgl. Hedström 2005: 39, Fn. 9). In dieser Wissenschaftsphilosophie wird eine Gleichsetzung von Kausalität, Regelmäßigkeit und Prüfbarkeit vorgenommen, die nicht unter allen Bedingungen haltbar sein wird (vgl. Bunge 1987: 24). D.h. aber wir sollten nicht zwangsläufig damit rechnen, dass der erfolgreiche Test eines Modells die Wiederholbarkeit unserer Befunde voraussetzt. Das Millsche Erbe wird auch im Zusammenhang mit der dritten Frage sichtbar, die ich ansprechen wollte, und die mit dem zuletzt behandelten Problem eng verwoben ist. Wie alle Modelltheoretiker, so steht auch Hedström nicht nur vor dem Problem, unter welchen situativen oder strukturellen Bedingungen er ein Modell anwenden, sondern auch, wie er die unterlegten Prämissen seiner DBOT testen kann. Wenn man auf jeden Lakatosschen Dogmatismus verzichtet und die prinzipielle Überprüfungsnotwendigkeit auch des theoretischen Kerns (des Hedströmschen Forschungsprogramms) zugesteht, dann wird man - wie im letzten Absatz angedeutet - im üblichen Verfahren nach logisch ableitbaren Implikationen der verwendeten Annahmen suchen und die gewonnene Ableitung sodann mit den "Fakten" konfrontieren. Bestätigt eine solche Konfrontation die Vorhersage, so kann der Modelleur mit Recht darauf hoffen, die richtigen (theoretischen) Prämissen verwendet zu haben; scheitert sie hingegen, entsteht nicht nur das berüchtigte Quine-Duhem-Problem, demzufolge man nicht wissen kann, welche der verwendeten Prämissen für den Misserfolg verantwortlich sind und - solange man einen "methodologischen Revisionismus" (Albert 2000) vertritt - in der Folge berichtigt werden sollten; vielmehr taucht daneben auch die gravierendere Frage auf, ob dieses Scheitern darauf zurückzuführen ist, dass man den "falschen Kausalmechanismus" (Hedström 2008: 32, 202) zu testen versuchte oder ob er nur nicht vollständig beschrieben worden war (siehe Hedström 2008: 94). Wie man nachlesen kann (siehe Hedström 2008: 94), legt Hedström auf die Nachvollziehbarkeit dieser Unterscheidung größten Wert, weil er - wie geschildert - bereit ist, (grundsätzlich) falsche Theorien zu eliminieren, nicht aber Theorien vorschnell aufzugeben, die, wie er sagt, (nur) "deskriptiv unvollständig" (Hedström 2008: 94) sind. Diese Fragen sind nicht unlösbar (vgl. Andersson 1988; Gadenne 1984; Herrmann 1976; Lindenberg 1992; Schmid 2004 u,a.), nur sollte man sich ihre Beantwortung nicht mit Hilfe der These erleichtern, es wäre hinreichend, wenn sich der Modellbauer (oder Theoretiker) zur Überprüfung seiner theoretischen Unterstellungen darauf verpflichtet, dass der zu erklärende Prozess tatsächlich so ablaufen müsse, wie es für den Fall zu erwarten wäre, dass die verwendeten Annahmen tatsächlich zuträfen (vgl. Hedström 2008: 50, 154). Eine solche methodologische Forderung macht solange Sinn, als es im Prinzip und am Ende empirisch belegbar 57
Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" möglich ist, alle Kausalfaktoren, die ein interessierendes Geschehen "generieren", zu kennen und solange es entsprechend zulässig ist, ein modelliertes System als "gescWossen" (Hedström 2008: 113) zu betrachten. Die Millsche Kausalitätstheorie impliziert eine solche Annahme in der Tat und sie würde (logisch gesehen tatsächlich) erlauben, Kausalgesetze empirisch zu "verifizieren" (vgl. Popper 1979: 332); nur steht die Unhaltbarkeit dieser Kausalitätsauffassung ebenso unverrückbar fest (vgl. Popper 1968 und direkt gegen Mill gewendet Little 1991: 29ff., Little 1998: 220ff.). Damit aber sollten wir - jedenfalls solange wir die Poppersehe Revision der Millschen Position akzeptieren - erkennen, dass wir Qn einem epistemischen Sinne) niemals wissen können, ob wir alle theoretischen Erklärungsfaktoren vollständig erfasst haben, weshalb eine methodologische Anweisung, die vom (zudem zugestandenen) Gegenteil ausgeht, ins Leere gteift. 57 Auch der Hinweis, dass man schwankende Testergebnisse als Ausfluss der Tatsache bewerten dürfe, dass "mechanism-based explanations can be decribed as propositions about probabilities conditional upon general cetris-paribus clauses" (Hedström 2005: 31), führt m.E. in die Irre. 58 Zum einen hatte Hedström an anderer Stelle dafür plädiert, mechanismische Erklärungen als deterministische behandeln zu wollen bzw. Wahrscheinlichkeitsthesen unbeachtet zu lassen, und zum anderen bleibt - um die Gefahr einer "Immunisierung" von Theorieannahmen gegen ge57 Die angeführten Belege dokumentieren meine überzeugung, dass der Kritische Rationalismus die angemahnren Problem gelöst hat; ich möchte aber nicht in eine wissenscllitftsheoretische Auseinandersetzung mit der Analytischen Soziologie eintreten, und mich auf die Bemerkung beschränken, dass sich deren Hauptanliegen auch ohne jeden empitizistischen Ballast verteidigen lässt. Es kann sein, dass Hedströms Millsche Wendung eine Antwort auf das Problem datstellen soll, dass seine überzeugung, Modelle könnten ihres "abstrakten" Charakters wegen nicht anhand ihres "Wahrheitswertes" beurteilt werden (Hedström/Swedberg!Udehn 1998: 352), ihn - genau besehen gegen jeden "analytischen Realismus" - zu einem Modellimtrumentalisten macht, der Modelle statt dessen aufgrund ihres Qeerformelhaften) "purpose at hand" (Hedström/Swedberg/Udehn 1998: 353) begutachtet. Tatsächlich ist eine solche Position insoweit unhaltbar, als sie jeden Versuch unterminiert, ein heuristisch fruchtbares Forschungsprogramm zu entwickeln, das aus Fehlern lernen kann. Sich zur Rechtfertigung einer derartigen Imrnunisierungsmethodologie auf Popper zu berufen (Hedström/Swedberg!Udehn 1998: 351ff.), kann nicht angehen; man muss Popper stattdessen dafür kritisieren, dass er den Sozialwissenschaften (überflüssigerweise) anrät, den Falsifikationismus aufzugeben (vgl. Schmid 1979: 16ff). 58 Hedström sieht an dieser Stelle sehr wohl, dass dieses "empitical commitment" (Hedström 2005: 31) nicht dazu hinreicht, Widerlegungen auszuschließen, meint aber, fiir diese in allen Fällen Coumot-Effekten verantwortlich machen zu können. Weshalb er das glaubt, sagt er nicht - aber auch diese Idee geht auf John St. Mill zurück. Man könnte zugestehen, dass solche Coumoteffekte einen Hinweis darauf enthalten, dass (auch) mechanismischen Kausalmodelle unvollständig formuliert sind; ich habe aber nie die von Hedström zitierte Mills-Stelle verstanden (Hedström 2005: 32), der zufolge man den Tatbestand, dass unsere Modellvorhersagen bisweilen nicht zutreffen, als einen Hinweis darauf verstehen dürfe, dass sie die vermuteten Kausalverhältnisse (wenigstens?) "tendenziell" richtig widergeben. Das kann man nur wissen, solange man an die Möglichkeit einer "vollständigen Zustandsbeschreibung" (wie Camap gesagt hätte) einer kausal geordneten Welt glaubt. Ich weiß nicht, ob diese Metaphysik wirklich aktuell ist.
58
MichaelSchmid genläufige Testerfahrungen zu vermeiden (vgl. Albert 1967: 331 ff.) - jeder prüfbare Verweis auf "Ceteris paribus-Klauseln" darauf angewiesen, dass man die faktualisierende Theorie kennt, die angibt, unter welchen Beschränkungen die faktualisierte Theorie gilt. Ohne diese Vergleichsmöglichkeit kann man "Störgrößen" als solche nicht identifizieren (vgl. Gadenne 1984) und sind ceteris-paribus-klausulierte Theorien - die Hedström durchaus für unverzichtbar hält - von schlicht falschen Annahmen grundsätzlich nicht zu unterscheiden. Mehr noch: Da auch diese faktualisierende Theorie im Prinzip falsch oder unvollständig sein kann, wird jede These, man sei über alle (im untersuchten Referenzmodell zu parametrisierende) Hintergrundbedingungen informiert, falsch sein. Die unbesehene Annahme des Gegenteils unterminiert jeden Aufbau eines Forschungsprogramms, dessen Progressivität darauf angewiesen bleibt, hintergründige (oder bislang zur Gänze übersehene) Einflussfaktoren erst noch zu "entdecken" und für den weiteren Fortgang der Modellbildung und deren Tests nutzbar zu machen. D.h. die Suche nach Fehlern und der Versuch, sie zu beseitigen, gibt der Forschung eine Richtung, die sie durch die beliebige Varianz von "Annahmen" (mit Hilfe einer - wie Hedström sie nennt "what-if analysis" (Hedström 2006b: 122)) nicht gewinnen kann; so mag es unbestritten bleiben, dass - wie zwei andere Vertreter der ,,Analytischen Soziologie", auf die sich Hedström bisweilen bezieht, formulieren - "alternative assumptions and questions [...] lead to quite different lines of inquiry and theorizing" (Marwell/ Oliver 1993: 180), aber ohne den Richtungsgeber einer systematischen Fehlerelimination, die die zu stellenden Fragen fest- und nahelegt, wird sich der von Hedström verschiedentlich befürchtete "Eklektizismus" der von ihm favorisierten Forschungen kaum vermeiden lassen. 59 Zugleich sind zur Absicherung des Bewährungsrads theoretisch allgemeiner Annahmen auch alle Verweise auf deren Überprüfungsgeschichte sinnlos, weil es keine logisch haltbaren Induktionsverfahren gibt, die erfolgreiche Tests in Sicherheits- oder Wahrheitsgarantien für die jeweils verwendete Theorie transferieren könnten (vgl. u.a. auch gegen Mill: Popper 1968: 373, Popper 1979: XVIII, 7). Das gilt auch dann, wenn wir ausschließen können, dass sich 59 Tatsächlich habe ich den Eindruck, als ließe sich Hedsttöm seine Forschungsfragen weit ehet von den wechselnden Etfordernissen der (schwedischen) Wohlfahrtspolitik bzw. det jeweils vorfindbaren Dat:en1lge als von den Fehldiagnosen diktieren, die seine Modellierungen aufwetfen. Hedsttöms Meinung, solche Modellierungen besäßen keine realistische Interpretation, sondern allenfalls eine ,,illustrative Natur" (Hedsttöm 2006b: 122) entwertet seine analytisch-realistische Ausgangsposition und überantwortet ihn einem ,,Modellinstrumentalismus", gegen den dieselben Vorwürfe am Platze wären, die et an die RCT richtet. Ich bin unsichet, ob dieset Nachteil dadurch ausgeglichen wird, dass man die ,,Logik" bestimmte Modellierungen zur Darstellung von Prozessen verwenden kann, die in ganz andeten (d.h. nicht-soziologischen) Disziplinen erforscht wetden (siehe Hedsttöm 2006b: 123f.). Barberas Darstellung der ,,Analytischen Soziologie" betont hingegen die durch ihten Realismus etzwungene Testbedürftigkeit "theoretischer Modelle" (vgL Barbera 2006: 32); abet auch dieser Autor bemerkt die "deskriptive Unvollständigkeit" von Modellen und sagt nicht, was mit ihnen geschehen soll, wenn sie sich nicht bewähten (vgL Barbera 2006: 46f.).
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Mechanismische Erklärungen und die ,,Anatomie des SoiJalen" Prognosefehler aufgrund der Tatsache einstellen, dass unsere Brücken- und/oder Anwendungshypothesen falsch waren. Den Tatbestand, dass wir kein unbezweifelbares, in einem strengen empirizistischen Sinne "verifizierbares" theoretisches Wissen (vgl. Hedström 2008: 197) besitzen können, mit Hilfe einer Millschen Theorielehre zu umgehen, führt auch in diesem, auf der wissenschaftstheoretischen Metaebene liegenden Fall zu jenem "Fiktionalismus", den Hedström auf der substanziellen Theorieebene (mit einigem Recht) geradezu perhortisziert.
3. Zusammenfassung Dieser Kommentar endet mit einem - wie ich zugestehen muss - zwiespältigen Ergebnis. Es kann in meinen Augen kein Zweifel darüber aufkommen, dass Peter Hedströms Korrektur der Hempelschen Erklärungslogik ebenso richtig ist wie seine insistente Betonung, dass sich theoretische Reduktionsprogramme ebenso wenig durchsetzen werden wie die Suche nach "sozialen Gesetzen"; und seine Kritik an der "Variablensoziologie" weist durchweg in eine gangbare Richtung. Wie Hedströms wissenschaftslogische Recherchen belegen, müssen - daran ist in der Folge kaum zu rütteln - soziologische Erklärungen kollektiver Effekte handlungstheoretisch miktofundierte "soziale Mechanismen" benennen, wozu wir eine Handlungstheorie benötigen, die dazu in der Lage ist, die "Verknüpfungen", die zwischen den Handlungen der Akteure bestehen können, zu entdecken und heuristisch in Form von Brückenhypothesen zu nutzen. Nur sollte man auch sehen, dass die Hedströmsche Argumentation zugunsten eines solchen struktur-individualistische Paradigmas zu gleichen Teilen unter dem hintergründigen Millschen Erbe, das Hedström ohne erkennbare Not akzeptiert hat, und unter seinem (handlungstheoretisch) ganz unbegründeten Unwillen leidet, etwas anderes als Koordinationsverhältnisse zu modellieren. Im ersten Fall akzeptiert er eine "Schatten-Methodologie" (Lindenberg 1983: 149ff.), die ihm den Verzicht aufnötigt, eine fruchtbringende Forschungsprogrammatik zu entwickeln, die den von ihm selbst beklagten "Eklektizismus" der von Merton angeregten Theorie- und Modellarbeit überwinden könnte; und im zweiten Fall möchte er die ,,Analytische Soziologie" auf ein Forschungsfeld festlegen, das offenbar nur ausgewählte Interdependenzverhältnisse bearbeiten kann, was sich als ein Vorschlag zur Theorie- und Modellintegration indessen nur schwerlich empfiehlt. 6o Ich habe plausibel zu machen versucht, dass sich die Analytische Soziologie dieser Beschränkung entledigen kann, sofern sie auf die Hilfe einer DBOT verzichtet und sich statt dessen einem entscheidungstheoretisch fundierten Erklärungs-
60 Jüngst hat Hedström die von mir kritisierte Position offenbar geräumt, vgl. Hedström/Ylikoski (2010: 53).
60
MichaelSchmid programm anschließt (bzw. - was Hedström angeht - sich darauf zurückbesinnt).61 Und für eine Aufgabe der Mill'schen Kausal- und Testtheorie zugunsten eines Kritischen Realismus und dessen Bewährungstheorie wollte ich plädieren, weil auf diesem Weg sichtbar wird, dass wir gerade dann, wenn wir - wie dies auch Hedström beabsichtigt - unseren Theorien und Modellen eine realistische Deutung geben wollen, weniger auf deren induktive Bestätigung als auf deren Widerlegung Wert zu legen haben. 62 Dafür spricht umso mehr, als wir ohne systematische Widerlegungsarbeit nur höchst fallweise und entsprechend eklektizistisch vorgehen und infolgedessen kein ausbaufahiges Forschungsprogramm entwerfen und vorantreiben können.
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Hedsträm/Swedberg/Udehn (1998: 357f.) können sich durchaus die Existenz von Erklärungsargumenten vorstellen, die die Zielgerichtetheit des Handelns mit seiner (instrumentellen) Rationalität kombinieren. Und auch Lerntheorien können in eine RCT integriert werden, vgL Schmid (1993). 62 Eine (auch ftir Simulationen) relevante Theorie der Fehlerelimination gibt es mittlerweile, vgl. Mayo (1996).
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Rainer Greshrff
Wie aussage- und erklärungskräftig sind die sozialtheoretischen Konzepte Peter Hedströms?
1. Einleitung In den Sozialwissenschaften sind seit einiger Zeit "soziale Mechanismen" Gegenstände der Theoriearbeit.! Hintergrund dafür ist die Unzufriedenheit mit den Erklärungsmöglichkeiten überindividueller Sozialphänomene, sei es mittels Korrelations- und multivariater Analyse, sei es mittels "covering laws". Der Anspruch ist, soziale Mechanismen als regelmäßige Prozesse von einem Ausgangs- zu einem Endpunkt in ihren kausalen Teilschritten im Sozialgeschehen identiftzieren und für Erklärungen nutzen zu können. 2 Ob dies gelingt, hängt wesentlich auch von der sozialtheoretischen Fundierung der Mechanismenkonzepte ab. Denn zu fragen ist etwa: Sind die sozialtheoretischen Konzepte, die jeweiligen Mechanismenbegriffen - implizit oder explizit - zugrunde liegen, geeignet, soziale Mechanismen so zu erfassen, dass der genannte Anspruch eingelöst werden kann? Unter dieser Fragestellung wird im Folgenden die Analytische Soziologie Peter Hedströms untersucht. Dies geschieht mit Blick auf die Konzeptualisierung sozialer Mechanismen, der in dieser Soziologie ein hoher Stellenwert für "mechanismusbasierte Erklärungen" (Hedström 2008: 12) zugemessen wird. Die Analyse erfolgt in drei Schritten. Zunächst werden die grundlegenden Konzepte der Sozialtheorie Hedströms dargelegt. Anschließend werden diese in der Perspektive der eben ge-
2
Dass und warum man sich vom Wort ,,Mechanismus" nicht abschrecken lassen muss, findet sich bei Luhmann begründet ,,Das Wort ,Mechanismus' hat keinen guten Ruf. Es erinnert an die große Zeit der Uhrmacher. Gleichwohl beginnt es erneut, aus der Physiologie in die Persönlichkeitspsychologie und von dort in die Soziologie vorzudringen. Man kann es daher, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, heute verwenden, ohne damit eine Reduzierbarkeit psychischer oder sozialer Systeme auf komplizierte physikalische Abläufe zu implizieren" (Luhmann 1974: 92). Siehe zum Anspruch etwa Mayntz (2005: 207f.). Man muss allerdings beachten, was jeweils mit "sozialem Mechanismus" gemeint wird, denn: "in social sciences as a whole, a substantial intelleetual movement has formed to adopt mechanism- and process-based explanations as complements to variable-based explanations, or even as substitutes for them. As is always the case in new movements, competing definitions and practical proposals for the analysis of mechanisms and processes have proliferated wildly [...] No conceptual, theoretical, or methodological consensus has so far emerged" (filly 2008: 9). Schmid (2006) etwa geht es mit seinem Mechanismenkonzept nicht nur um die Erfassung von Regelmäßigkeiten, sondern er schlägt damit einen umfassenden soziologischen Erklätungsansatz vor.
67 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Wie aussage- und erklärungskriiftig sind die so!(ja/theoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? nannten Fragestellung beurteilt. Vor dem Hintergrund der Skizze eines sozialen Phänomens, die als Beurteilungsfolie dient, wird sich zeigen, dass die sozialtheoretischen Konzepte Hedströms Ergänzungen benötigen. Im abschließenden Kapitel geht es darum, welcher Erlclärungsargumente es für mechanismusbasierte Erklärungen bedarf. Im Lichte der Auseinandersetzung mit Hedströms Begrifflichkeiten werden dafür Konzepte vorgestellt.
2. Hedsttöms Sozialtheorie Zunächst zu den Eckpunkten von Hedströms Sozialtheorie. Ihr zentraler Punkt ist die Erklärung der Entstehung und des Wandels überindividueller sozialer Phänomene, die er "Eigenschaften von Gruppen von Individuen", "Kollektivitäten bzw. "soziale Auswirkungen" nennt (Hedström 2008: 16,44, 104). Als wesentliche Beispiele für solche Kollektivitäten nennt Hedström a) typische Handlungen, "beliefs" oder Bedürfnisse, b) Verteilungen und Aggregationsmuster, c) Netzwerktypologien3 sowie d) informelle Regeln bzw. Normen (Hedström 2008: 16f.). Solcherart Soziales bildet den Erklärungsgegenstand seiner Analytischen Soziologie. Dieses Soziale hat, so eine ihrer Grundannahmen, für sich als soziale Einheit genommen keine eigene kausale Kraft. Es kann also nichts hervorbringen, wohl aber beeinflussen - und das, wie noch zu erläutern sein wird, in beachtenswerter Weise. Kausale Kräfte kommen nach Hedström nur Akteuren/Individuen zu, die mit ihren Handlungen solche sozialen Einheiten erzeugen (Hedström 2008: 104ff.). Aus diesem Grunde bilden Akteure in sozialen Systemen für Hedström (2008: 44) die "KernEntitäten" und deren Handlungen die "Kern-Aktivitäten" soziologischer Theorie. 4 In dieser Erzeugungs-Referenz interessieren ihn aber nicht einzelne Akteure/ Handlungen, sondern die im Zusammenhandeln miteinander verbundenen Akteure/Handlungen. 5 Von daher werden als "Kern" neben Handlungen auch Interaktionen genannt. Die Struktur solcher Interaktionen begreift er in zweierlei Hinsicht 3 4
5
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Vermutlich meint Hedsttöm nicht "Netzwerktypologien", sondern ,,NetzwerkDPen". "In soziologischen Erhebungen sind die Hauptentitäten meistens die Akteure im analysierten System und die Hauptaktivitäten sind meistens deren Handlungen. Akteure lassen die Gesellschaft durch ihre Handlungen erst ,ticken' und ohne ihre Handlungen würden soziale Prozesse zum Stillstand kommen. Handlungstheorien sind daher von fundamentaler Bedeutung für erklärende soziologische Theorien" (Hedsttöm 2008: 16). "Gruppe", "soziales System" sowie auch "soziale Situation" als soziale Operationen und Strukturen umfassende Einheiten scheinen bei Hedsttöm ähnliches zu bedeuten. Näher bestimmt wird meines Wissens keine von ihnen. Dies betont Hedsttöm an verschiedenen Stellen. So etwa wenn er schreibt, dass "soziale Auswirkungen" nicht von den Eigenschaften einzelner Individuen abgelesen werden können (z.B. Hedsttöm 2008: 16, 104ff.). Und: Der Bezug auf die individuellen Akteure und deren Handlungen ist nur Mittel, allerdings notwendiges Mittel, um den Wandel auf der Ebene des Sozialen erkläten zu können.
Rainer Greshriff als soziologisch bedeutsam. Zum einen sind die jeweiligen Handlungen der Akteure erst aus den so oder so strukturierten Interaktionszusammenhängen heraus verständlich, in die sie eingebettet sind. Und zum anderen - und damit zusammenhängend - sind die sozialen Ko11ektivitäten in ihrer Beschaffenheit wesentlich dadurch bedingt, wie die Individuen in Interaktionen miteinander relationiert sind. Die sozialtheoretische Position, die durch die vorstehend umrissenen Konzepte zum Ausdruck kommt, nennt Hedström auch "strukturellen Individualismus" (Hedström 2008: 16). Gemeint ist damit eine bestimmte Beziehung zwischen der sozialen und der individuellen Ebene, die meiner Deutung nach als eine Art rekursiver Prozess mit folgender Gestalt zu begreifen ist: Relationiertes Handeln der Akteure wird maßgeblich von vorgängigen sozialen Strukturen/Situationen - jeweiligen Regeln, Normen, Verteilungen usw. - beeinflusst. Auch das, was Hedström die Struktur von Interaktionen nennt, nämlich auf welche Art und Weise Individuen und deren Handlungen miteinander relationiert sind, ist durch den genannten Ausgangspunkt bedingt. Aus einem derart strukturierten Zusammenhandeln resultieren dann als Folge diese oder jene sozialen Kollektivitäten, etwa reproduzierte oder gewandelte Regeln, Normen, Verteilungen usw., die als "soziale Auswirkungen" dann wiederum die individuellen Handlungen der Akteure und somit das darüber gebildete interaktive Zusammenhandeln und dessen Strukturen beeinflussen, welche dann wiederum die "sozialen Auswirkungen" bedingen usw. usf. 6 Im Anschluss an diese Darstellung von Hedströms Position sind folgende Punkte hervorzuheben, die er mit Blick auf soziologische Erklärungen immer wieder nennt: • Die maßgebliche, in Erklärungen angemessen zu berücksichtigende Bedeutung, die Strukturen von Interaktionen dafür zukommt, dass unterschiedliche soziale Kollektivitäten erzeugt werden. • Dass es, weil die sozialen Phänomene durch individuelle Akteure und deren Handeln hergestellt werden, Konzepte bedarf, die die entsprechenden Beschaffenheiten und Vorgänge auf der individuellen Ebene erklären lassen. • Wie vorzustellen ist, dass aus von verschiedenen Akteuren je individuell Produziertem soziale Kollektivitäten hervorgehen und mit welchen Konzepten dieser übergang von der individuellen zur sozialen Ebene erklärt werden kann. • Ein weiterer zentraler Punkt ist Hedströms Annahme, dass sich auf beiden Ebenen, auf der des Sozialen wie auf der des Individuellen, Regelmäßigkeiten identifizieren lassen. Diesen Regelmäßigkeiten liegen Konstellationen und Vorgänge zugrunde, deren Konzeptualisierung zur Erklärung sozialer bzw. indivi-
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Die Ähnlichkeiten zum ,,Modell der soziologischen Erklärung" (MSE) sind unverkennbar. Siehe auch die Bezugnahme von Hedström auf die Colemansche "Badewanne" (Hedström 2008: lOHf.).
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Wie aussage- und erklärungskriiftig sind die so!(ja/theoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? dueller Vorgänge genutzt werden kann. Entsprechende Konstellationen und Vorgänge nennt er "Mechanismen" und die über die Konzeptualisierung von Mechanismen möglichen Erklärungen "mechanismusbasierte Erklärungen". Auf diesen Punkt ist als erstes etwas ausführlicher einzugehen, die anderen werden dann nach und nach einbezogen. Hedström beschreibt Mechanismen als Konstellationen von Entitäten und Aktivitäten, welche in einer solchen Weise miteinander verknüpft sind, dass sie regelmäßig bestimmte Resultate/Folgen hervorbringen.7 Weil mit derartigen Konstellationen Regelmäßigkeiten einhergehen, kann ein Wissen um sie für Erklärungen genutzt werden. Dafür sind Mechanismen auf den Begriff zu bringen, d.h., es muss Verschiedenes transparent gemacht werden. So sind die Eigenschaften der Entitäten, in welchen Verbindungen sie stehen sowie die Aktivitäten der Entitäten klar zu benennen. Darauf aufbauend ist dann auszubuchstabieren, wie diese Aktivitäten das Prozessgeschehen erzeugen, aus dem - je nach dem - die (Re-) Produktion oder der Wandel von XY mit Regelmäßigkeit resultieren8; weiter, auf welche Weise dabei der Typ der (Re-)Produktion bzw. des Wandels von den Eigenschaften der Entitäten sowie der Art und Weise abhängt, in der sie miteinander verbunden sind. Ein solches Ausbuchstabieren muss vor allem eines herausarbeiten: das Kausalgefüge, welches das Prozessgeschehen und die daraus erwachsenden Resultate/Folgen mit Regelmäßigkeit bewirkt. Denn erst durch ein solches Herausarbeiten kann man dann wissen, warum/aus welchen Gründen durch jeweilige Konstellationen von Entitäten und Aktivitäten - also durch jeweilige Mechanismen - bestimmte
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Es ist nicht immer ganz klar, ob Hedström mit ,,Mechanismus" etwas Gegenständliches oder ein Konzept auf der Erfassungsebene meint (vgl. auch Brante 2008: 276). In früheren Publikationen steht ,,Mechanismus" wohl eher für ein Konzept auf der Erfassungsebene: "what exactly is a mechanism [...] one key defining characteristic of an explanatory mechanism is the function it performs in an explanatory account. Assume that we have observed a systematic relationship between two entities, say land O. In order to explain the relationship between them we search for a mechanism, M, which is such that on the occurrence of the cause or input, I, it generates the effect or outcome, 0 [...] a rnechanism can be seen as a systematic set of statements that provide a plausihle account ofhow I and 0 are linked to one another" (Hedström/Swedberg 1998: 7). Heute dagegen scheint "Mechanismus" eher etwas Gegenständliches zu meinen. Dass das aber nicht immer ganz leicht auszumachen ist, belegen folgende Zitate: "Ein sozialer Mechanismus, wie er hier definiert wird, ist eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten" (Hedström 2008: 25); "Ein sozialer Mechanismus, so wie er hier defIniert wird, beschreibt [Herv. R.G.] eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten" (Hedström 2008: 42). Den Aspekt der Reproduktion thematisiert Hedsträm meinem Eindruck nach erstaunlich wenig. Da nichts dagegen zu sprechen scheint, ihn auch zu nennen, fuge ich ihn aus systematischen Gründen hinzu.
Rainer Greshriff Resultate/Folgen regelmäßig produziert werden. Dieses Wissen kann dann für Erklärungen genutzt werden, die "Mechanismen-basiert" zu nennen sind. 9 Der nächste Schritt ist, dass Hedström entsprechend der Differenz von sozialer/individueller Ebene soziale von elementaren (Handlungs-)Mechanismen unterscheidet. a) Als Entitäten und Aktivitäten sozialer Mechanismen nennt Hedström Akteure und deren Handlungen, die auf bestimmte Weise miteinander verbunden sind. Diese Verbindung bildet mit ihrer Struktur das Interaktionsgefüge, in dem die Akteure mit ihren Handlungen stehen und bedingt die "sozialen Auswirkungen", welche als Resultat/Folge durch die Mechanismen hervorgebracht werden. Soziale Mechanismen unterscheiden sich dahin gehend voneinander, dass es unterschiedliche Typen struktureller Verbundenheit gibt, durch welche jeweilige "soziale Auswirkungen" erzeugt werden. b) In den sozialen Mechanismen gibt es elementare (Handlungs-)Mechanismen, durch die die individuellen Handlungen der Akteure und darüber dann letztendlich, wie oben skizziert, das Interaktionsgefüge sowie die sozialen Kollektivitäten - hergestellt werden.t° Als "Kern-Entitäten" der elementaren Mechanismen begreift Hedström "Bedürfnisse, überzeugungen und Opportunitäten" (= DBOs) von Akteuren. Aus bestimmten Konstellationen dieser Entitäten - die DBOs können auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden sein, das ist auch das Kriterium, wonach sich elementare Mechanismen unterscheiden resultieren dann bestimmte Handlungen der Akteure. D.h., solche Konstellationen von DBOs werden als direkte Gründe von Handlungen angenommen (Hedström 2008: 60ff.).11 Der Konzeptualisierung elementarer Mechanismen auf der Basis von DBOs kommt in der erklärenden Soziologie Hedströms zentrale Bedeutung zu. Das macht seine - perspektivisch gemeinte - Aussage deutlich: "Der Wert der DBOTheorie wird sich, so steht es zu hoffen, erweisen, wenn sie genutzt wird, um zu analysieren, wie die sozialen Situationen, in die Akteure eingebunden sind, möglicherweise ihre Bedürfnisse, Überzeugungen und Opportunitäten beeinflussen und wie Gruppen von Akteuren, auf der Basis dieser Bedürfnisse, Überzeugungen und Opportunitäten handelnd, verschieden intendierte und nicht-intendierte Konsequenzen hervorbringen" (Hedström 2008: 67). Diese Aussage unterstreicht, dass es 9
Mecllimismusbasierte Erklärungen haben gegenüber so genannten "black-box-Erklärungen" den Vorteil, dass sie den Prozess transparent machen und sich auf solche PteY.lesse konzentrieren, "die uns erlauben würden zu verstehen, warum ein spezifischer Faktor wahrscheinlich von erklärender Relevanz ist" (Hedsträm 2008: 35). Der Punkt ist, "ein Mechanismus expliziert die Details, wie Regelmäßigkeiten hervorgebracht werden" (Hedström 2008: 42). 10 Hedström nennt elementare Mechanismen in Anspielung auf die Makto-/Mikroebenenunterscheidung des MSE auch ,,Mikroebenen-Prozesse" (Hedström 2008: 142). 11 Was die typischen Aktivitäten elementarer Mechanismen sind, ist mir nicht klar gewotden. Die eben genannten Handlungen können es eigentlich nicht sein, sind sie doch Resultat elementarer Mechanismen.
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Wie aussage- und erklärungskriiftig sind die so!(ja/theoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? Hedström um DBO-Konstellationen in sozialen Zusammenhängen geht. Dies macht auch eine weitere Perspektive deutlich, die Folgendes in den Blick nimmt: Wenn wir wissen, welche Bedürfnisse und Überzeugungen operativ tätig waren und wenn wir die zugrunde liegende Struktur der Interaktion kennen, dann sollten wir das Handeln der Akteure einigermaßen sicher voraussagen können (vgl. Hedström 2008: 66, Fn. 12). Um solcherart Annahmen nachvollziehen zu können, ist zu vergegenwärtigen, was Hedström mit "DBO" bzw. mit elementare Mechanismen konstituierende DBO-Konstellationen meint. Zunächst ist der wesentliche Punkt, dass Hedström Konstellationen von DBOs als handlungsverursachend begreift. Begrifflich gewendet heißt das: Das DBO-Konzept dient ihm zur Analyse von Handlungen, genauer, zur Analyse von Handlungen in Interaktionen. Durch diese Rillunensetzung ist der Bezug zur sozialen Ebene, vor allem zu sozialen Mechanismen und deren ,,Auswirkungen" gewährleistet. Von diesem Rahmen her erschließt sich auch die besondere Relevanz, die er dem DBO-Konzept für die Analytische Soziologie zumisst. Denn es gilt, so Hedström, dass "aggregierte soziale Muster typischerweise nur sehr wenig über die Prozesse auf der Mikroebene aussagen, die sie hervorgebracht haben. Wenn wir erklären wollen, warum wir bestimmte soziale Ergebnisse beobachten - und das wollen bestimmt die meisten von uns -, dann gibt es keinen Ersatz für eine detaillierte Untersuchung der wahrscheinlich wirksamen Mechanismen auf der Handlungsebene" (Hedström 2008: 204). Solche "detaillierten Untersuchungen der wahrscheinlich wirksamen Mechanismen auf der Handlungsebene" soll das DBO-Konzept leisten. Von daher wird dann auch verständlich, warum er es in ,,Anatomie des So!(ja/en" relativ ausführlich behandelt. Die wesentlichen Annahmen des Konzeptes lassen sich so umreißen: "DBO" knüpft, gegenständlich gedacht, an die intentionale Seite von Handlungen an. "Bedürfnisse" (desire) meint den Wunsch oder das Bedürfnis eines Akteurs, "Überzeugungen" (be/iif) eine Annahme über die Welt, die von ihm für wahr gehalten wird und mit "Opportunitäten" (opportunities) sind die für einen Akteur verfügbaren Handlungsalternativen gemeint, die unabhängig von den Überzeugungen des Akteurs über sie existieren. 12 12 Das DBO-Korn:ept nimmt, wie Hedström mehrfach sagt, Bezug auf "mentale Zustände" (Hedström 2008: 62, 64, 69). Er (2008: 60ff.) betont von daher völlig zu Recht, dass DBOs nicht direkt beobachtbar, sondern nur über Introspektion zu erschließen sind. Diese Einsicht lässt sich folgendermaßen breiter fassen: Da zu allem sinnhaft Sozialen ,,mentale Zustände" als regulierende Faktoren gehören (zu nennen sind hier vor allem die Intentionen der Akteure), stellt Introspektion ein für eine nicht-behavioristische Sinnwissenschaft - unabdingbares sozialwissenschaftliches Forschungsinstturnent dar (siehe dazu etwa die Arbeiten von Gerhard Kleining). "Opportunitäten" scheint Hedström, worauf das "unablliingig von den Überzeugungen des Akteurs" hindeutet, nicht zu den "mentalen Zuständen" zu zählen. Das ist zwar verständlich, soweit mit "Opportunitäten" die rein gegenständlich-materielle Seite von Handlungsaltemativen gemeint ist. Da "Opportunitäten" aber nur bezogen auf bestimmte Ziele/Zwecke der Akteure Handlungsaltemativen sind, sind
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Rainer Greshriff Die zentrale Aussage des DBO-Konzeptes besteht nun darin, dass es eine jeweilige Konstellation von Bedürfnissen, überzeugungen und Opportunitäten ist, die dem Handeln der Akteure zugrunde liegt. Anders ausgedrückt: Handlungen gründen in/resultieren aus DBO-Konstellationen. Dieser Zusammenhang ist für Interaktionen dahingehend erweitert vorzustellen, dass handlungsverursachende DBO-Konstellationen sowie die daraus resultierende Handlung auf Seiten Egos, durch Handlungen von Alter beeinflusst werden. Der wichtige Punkt ist, dass dabei Handlungen nicht direkt durch Handlungen, sondern vermittelt über jeweilige DBOs bedingt sind: ,,In dem Ausmaß, in dem die Handlung eines Akteurs i die Handlungen eines anderen Akteurs j beeinflusst, muss dieser Einfluss über die Handlungsmöglichkeiten oder die mentalen Zustände des Akteurs j vermittelt werden. In den Begrifflichkeiten der DBO-Theorie kann die Handlung (oder das Verhalten) des Akteurs i die Bedürfnisse des Akteurs j und dadurch die Handlungen von j beeinflussen; sie kann die Überzeugungen von j und deshalb dessen Handlungen beeinflussen und/oder sie kann die Opportunitäten von j und somit dessen Handlungen beeinflussen" (Hedström 2008: 69). Durch die Untersuchung solcher Vermittlungsverhältnisse will Hedström jeweilige Gründe für die Gründe von Handlungen in ihrer Relevanz für die Interaktionen in den Blick nehmen. Dies muss hinreichend genau geschehen können, denn, so Hedström, die "Verbindung zwischen dem Individuellen und dem Sozialen [ist] nicht transparent und linear, sondern komplex und unsicher [...] kleine Veränderungen in der sozialen Interaktionsstruktur - sowohl zwischen Akteuren als auch zwischen verschiedenen mentalen Zuständen - [haben] einen tiefgreifenden Effekt auf die emergierenden sozialen Phänomene." (Hedström 2008: 143) Die genügende Genauigkeit soll insbesondere über eine differenzierte Konzeptualisierung der eben genannten Vermittlungsverhältnisse geleistet werden, wie Hedström sie im Zitat am Ende des vorstehenden Abschnittes skizziert hat. 13 Denn über solche Vermittlungen erschließt sich, wie Akteure relationiert sind. Das DBO-Konzept bildet für eine solche Konzeptualisierung die Grundlage.
,,mentale Zustände" auch bei "Opportunitäten" immer zentral beteiligt, nämlich eben als regulierender Faktor. 13 Wie wichtig es ist, um solche Vermittlungsverhälmisse zu wissen, macht folgende Aussage Hedströms deutlich: "Soziale Folgen sind wie alle emergenten Phänomene schwierig zu antizipieren, weil die Folgen von zu einem hohen Grade davon abhängen, wie die individuellen Teile wechsdwirken. [...] [S]oziale Folgen [können] nicht einfach aus den Eigenschaften der Individuen, die diese erzeugen, ,herausgdesen' werden" (Hedströrn 2008: 111).
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Wie aussage- und erklärungskrijiig sind die so!(jaltheoretischen Konzepte Peter Hedstrijms?
3. Kritik Soweit die Darstellung der Eckpunkte von Hedströms Sozialtheorie. Ich komme nun zu einer ersten Beurteilung seiner Konzepte. Mit der Grundlinie seiner sozialtheoretischen Position stimme ich völlig überein. So vor allem mit der Annahme, dass die Aufgabe der Soziologie die (mechanismenbasierte) Erklärung sozialer Kollektivitäten ist, wie sie stets durch sozial situierte, also von sozialen Situationen beeinflusste individuelle Akteure und deren Zusammenhandeln (m Regelmäßigkeiten) hervorbracht werden. Weiter ist - mit dem Vorstehenden zusammenhängend - seiner Absage an Makrokausalität und Makrodetermination zuzustimmen. Wichtig ist auch, dass er Erklärungen bestimmter "mentale Zustände" und dabei Introspektion als Methode - einen zentralen Stellenwert für die Erklärung sozialen Geschehens zumisst. Diesen und weiteren Punkten, auf die noch zu kommen sein wird, ist aus Gründen, die gleich deutlich werden, nachdrücklich beizupflichten. Gleichzeitig halte ich seine Konzepte jedoch für ergänzungs- bzw. konkretisierungsbedürftig, und zwar in folgender Weise: Die Begrifflichkeit seiner so!(jaltheoretischen Position ist i!' abstrakt und i!' unbestimmt angelegt. Mit ihr ist nicht zu leisten, was er als angemessene Erklärung sozialen Geschehens folgendermaßen beschreibt: Eine solche Erklärung wird ,,immer zeigen, wie soziale Phänomene die individuellen Handlungen zu einem bestimmten Zeitpunkt beeinflussen und wie diese Handlungen die sozialen Phänomene erzeugen, die wir zu einem späteren Zeitpunkt erklären wollen" (Hedström 2008: 162). Meine These ist, dass mit Hedströms Konzepten in der Abstraktionslage, wie er sie präsentiert, das im Zitat genannte "zeigen" nicht möglich ist. Weder kann der Vorgang, wie "soziale Auswirkungen" Handlungen der Akteure beeinflussen, noch der Prozess, auf welche Weise diese Handlungen soziale Kollektivitäten hervorbringen, in seiner Charakteristik erfasst bzw. erklärt werden. Und das bedeutet auch: Es fehlen bei Hedström die geeigneten Konzepte, um soziale und elementare Mechanismen in einer Weise auf den Begriff bringen zu können, dass sie tatsächlich für Erklärungen, wie er sie anstrebt, zu nutzen sind. Worauf ich mit diesen Kritikpunkten hinaus will, soll nun anband der kurzen Skizze eines sozialen Phänomens erläutert werden. Exemplarisch wird diese Skizze mit Normen/Regeln auch solche Kollektivitäten einbeziehen, die für Hedström von besonderer Bedeutung sind (siehe oben). Als soziales Phänomen wähle ich einen zentralen Gegenstand der Sozialwissenschaften, nämlich soziale Gebilde bzw. - was Gleiches meint - soziale Systeme. Solche Gebilde bestehen in ihren Operationen aus wechselseitig aufeinander ausgerichteten, aneinander anschließenden Handlungen mindestens zweier personaler Prozessoren (Alter und Ego, gege-
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Rainer Greshriff benenfalls Tertius usw.).l4 Die Strukturen sozialer Systeme - Normen, Regeln werden von ebenso ausgerichteten sowie geteilten, also im Zusammenhandeln immer wieder als sozial gültig bestätigten und darüber reproduzierten Erwartungserwartungen dieser Prozessoren (Akteure) gebildet.l 5 Sie dienen den Akteuren zur Orientierung ihrer Handlungen. Wie die genannten Operationen und Strukturen etwas detaillierter vorzustellen sind, ist nun am Fall der Änderung sozialer Strukturen zu erläutem. 16 Um exemplarisch und vereinfacht einen Wandlungsvorgang vorzustellen, sei als Ausgangspunkt eine soziale Situation als ein Stadium eines sozialen Gebildes angenommen, also eine bestimmte Konstellation des Zusammenhandelns sowie der damit verbundenen und auch - über Symbole - zum Ausdruck kommenden Strukturen. Es sei weiter angenommen, dass ein systemzugehöriger Akteur, der sich einer solchen Situation gegenüber sieht, an diese Situation dadurch anschließt, dass er sich auf das Tun der jeweiligen Gegenüber richtet17 und im Anschluss daran über die Selektion einer strukturellen Orientierung (also von Erwartungserwartungen) sowie einer daran ausgerichteten Handlung in die Situation einbringt. Dieses Handeln geht im Moment seiner Umsetzung für andere Akteure des Systems irgendwie wahrnehmbar18 in die soziale Situation ein und verändert diese, so sei weiter angenommen, dahingehend, dass als Folge der strukturellen Orientierung, an der das Handeln ausgerichtet war, bislang gültige Strukturen des sozialen Gebildes in Frage gestellt werden. Die Veränderung geschieht dadurch, dass dieses Handeln von anderen Akteuren dahingehend gedeutet und zugerechnet wird, dass es dieses in Fragestellen zum Ausdruck bringt. Desweiteren wird dieses Handeln von ihnen derart verarbeitet, dass im Zuge ihrer Selektion einer strukturellen Orientierung für die Situation die veränderte Situation so reflektiert wird, dass sie ihre strukturrelevanten Erwartungen modifizieren und der neuen Situation anpassen. Das anschließende ouverte Handeln dieser Akteure ist somit durch entsprechend gewandelte Erwartungen geprägt - und wird dann wieder von anderen Gegenübern, wie gerade dargelegt, gedeutet, zugerechnet und verarbeitet. Auf diese Weise kann es, wenn die Änderungen weiter aufgegriffen werden, nach und nach - aggre14 Gemeint sind damit sowue Handlungen im Horizont von doppeltet Kontingenz (vgL für eine konzise Darstellung doppelter Kontingenz Undemann 2009, Kapitel 4); abkürzend schreibe ich für diese wechselseitigen Handlungen auch von "Zusanunenhandeln". 15 Solche Erwartungen lassen sich vermutlich als eine Variante dessen begreifen, was Hedström "Überzeugungen von den Ansichten andetet Akteute" nennt (Hedströrn 2008: 76). Zu beachten ist aber, dass er sie nut auf det individuellen Ebene thematisiert. 16 Was hier mit Blick auf Struktutwandel skizziert wird, ließe sich in ähnlichet Weise auch für die Reproduktion von Struktuten darlegen. 17 D.h., er deutet das Tun als dem Gebilde zugehörig und an dessen Strukturen orientiert. 18 Wegen der Wahmehmbarkeit wird dieses Handeln als "ouvert" bezeichnet. Eine Mitteilung mit Gesten, Worten oder dergleichen ist ein Beispiel dafür.
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Wie aussage- und erklärungskrijiig sind die so!(jaltheoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? gierend - zu einer Verbreitung der Änderungen bei den das soziale Gebilde tragenden Akteuren und schließlich zu neuen sozialen Strukturen kommen. 19 Soweit die Skizze; sie soll zunächst deutlich machen, dass sich ein soziales System nicht allein durch das Ouvertwerden einer Handlung ändern kann, sondern erst dadurch, dass dieses Handeln iterativ von jeweiligen Gegenübern als Teil einer geänderten Situation gedeutet, zugerechnet sowie in bestimmter Weise verarbeitet wird und dies deren daran anschließendes ouvertes Handeln prägt. Es soll also nachvollziehbar werden, dass sozialstrukturelle Änderungen nicht als bloß individuelle Änderungen einzelner Akteure zu begreifen sind, sondern als Änderungen auf dem Niveau eines sozialen Gebildes, welches - wie eben dargestellt - von bestimmten Selektionen mindestens zweier Akteure produziert wird. Strukturwandel im Horizont von sozialer Gültigkeit ist somit daran festzumachen, dass eine genügend qualifizierte Anzahl von Trägern eines sozialen Gebildes für sich und ihre zum sozialen Gebilde gehörenden Gegenüber davon ausgeht, und zwar wechselseitig irgendwie bestätigt davon ausgeht, dass "jetzt" die gewandelten/neuen Erwartungen für die Orientierung ihrer Handlungen in diesem Gebilde maßgeblich sind. Für Erklärungen sozialsystemischen Geschehens haben diese Annahmen folgende Konsequenzen: Unter den Prämissen der Skizze ist davon auszugehen, dass eine Änderung von sozialen Strukturen nur über eine Veränderung der diese Strukturen ausmachenden Erwartungen von Alter und Ego (sowie gegebenenfalls Tertius usw.) erfolgen kann. Daran ist festzumachen, dass für die Erklärung von Strukturdynamiken die Erklärungen allein von ouverten Handlungen noch nicht viel aussagen. Denn diese Handlungen werden zwar an den genannten Erwartungen ausgerichtet, sie sind aber nicht das Geschehen, über welches diese Erwartungen gewandelt werden. Um dies zu erklären, ist - wie eben beschrieben - das Deuten/Zurechnen/Verarbeiten in den Blick zu nehmen. Man darf somit nicht nur den individuellen "Output" (ouvertes Handeln), sondern muss ebenso den individuellen "Input", das Deuten/Zurechnen/Verarbeiten erfassen, welches als ein jeweils (primär couvertes) soziales Handeln begriffen wird. "Input" meint hier dann auch, dass (z.B.) Alters ouvertes Handeln Teil jeweiligen Sozialgebildegeschehens erst über Egos Deuten, Zurechnen usw. dieses ouverten Handelns sowie des Berücksichtigen der gedeuteten/zugerechneten ouverten Handlung Alters bei dessen (Egos) daran anschließendem ouverten Handeln wird. Aus den Ausführungen des vorstehenden Abschnittes ergibt sich, dass man ohne ein Wissen um die verschiedenen individuellen sozialen Handlungen, die aus 19 Letztere können ein Resultat sein, das von den einzelnen Akteuren, welche mit ihren intentionalen Selektionen den Strukturwandel herbeiführen, nicht intendiert war - etwa im Sinne v. Hayeks, dass etwas Folge menschlichen Handelns, aber nicht Folge menschlichen Entwurfs ist.
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Rainer Greshriff diesen oder jenen Gründen von Alter/Ego (bzw. Tertius usw.) vorgenommen werden, kein empirisch begründetes Wissen darüber haben kann, wie soziale Strukturen von den Akteuren verarbeitet werden und wie sich dieses Verarbeiten, nachdem es in ouverte Handlungen umgesetzt wurde, aggregativ auf die Gültigkeit der Strukturen auswirkt. Man muss von diesen Vorgängen wissen, um den aggregativen Prozess auf den Begriff zu bringen und darüber - gegebenenfalls - der Regelmäßigkeit (dem Mechanismus) auf die Spur zu kommen, welche(r) dem Strukturwandel zugrunde liegt. Es bedarf also a) Erklärungen von den verschiedenen individuellen Selektionen, damit diese Erklärungen dann als Material genutzt werden können, um b) erklärende Hypothesen aufstellen und prüfen zu können, die Aussagen über einen überindividuellen Sachverhalt machen: nämlich dass die unter bestimmten Bedingungen so oder so verlaufenden Selektionen der Handlungen der Akteure aus diesen oder jenen Gründen - und z.B. mit einer bestimmten Regelmäßigkeit zum Wandel der sozialen Strukturen XY führen. Soweit die Skizze sowie einige erklärungsrelevante Konsequenzen, die damit zu verbinden sind. Beides ist nun auf die sozialtheoretische Position Hedströms zu beziehen, um die Beurteilung seiner Konzepte fortzusetzen. Dafür knüpfe ich an seine grundlegende Aussage an, dass Soziologie zu erforschen hat, "wie soziale Phänomene durch die individuellen Handlungen zu einem bestimmten Zeitpunkt beeinflusst werden und wie diese Handlungen die sozialen Phänomene erzeugen, die wir zu einem späteren Zeitpunkt erklären wollen" (Hedström 2008: 162). Der in der Aussage beschriebene zentrale Vorgang "soziale Phänomene beeinflussen die individuellen Handlungen, und diese Handlungen erzeugen die sozialen Phänomene" korrespondiert, so kann man sagen, in knapper Form dem sozialen Geschehen, welches in der obigen Skizze Gegenstand ist. Zunächst zum Vorgang des "Beeinflussen". Worin Letzteres besteht, umschreibt Hedström etwas detaillierter mit "wie die Bedürfnisse, Überzeugungen, Opportunitäten etc. durch die sozialen Kontexte beeinflusst werden, in die Akteure eingebettet sind" (Hedström 2008: 202). Aus der im vorstehenden Abschnitt zitierten Aussage ergibt sich, dass das "soziale Situationen beeinflussen die Bedürfnisse, Überzeugungen und Opportunitäten" um "und Handlungen" ergänzt werden muss. Wie man sich das "Beeinflussen" als Vorgang konkreter vorzustellen hat, wird von Hedström allerdings nicht näher erläutert. Verortet man es in der Skizze, dann wird deutlich, dass ihm dort - vereinfacht dargestellt - das Deuten/Zurechnen/Verarbeiten entspricht, an das sich, von diesen Handlungen her reguliert, ein ouvertes Handeln anschließt. 2o Genauer: Das "Beeinflussen" kommt darüber zustande, dass Akteure über ein Deuten/Zurechnen/Verarbeiten eine Situationsdefi20 Es geht also der gtoben Linie nach um das Geschehen, welches ich oben mit "Input/Output" umschrieben habe.
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Wie aussage- und erklärungskrijiig sind die so!(jaltheoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? nition bzw. -bestimmung vornehmen. Von diesem Tun her ergibt sich, aus welchen Gründen sie welche Überzeugungen/Erwartungen und anschließend welches ouverte Handeln wählen. Dieses mehrgliedrige Geschehen kommt durch Hedströms Angabe "soziale Situationen beeinflussen die Bedürfnisse, Überzeugungen, Opportunitäten und Handlungen" nicht in den Blick. Von daher ist sie ist auch zu unspezifisch, um dieses Geschehen als kausalen Prozess erklären zu können. Erst wenn man den Vorgang des "Beeinflussens" - wie gerade mittels der Konzepte der Skizze geschehen - genauer charakterisiert, lässt sich das DBOKonzept aussagekräftig einsetzen. Denn "Bedürfnisse" etwa werden allen in der Skizze genannten sozialen Handlungen zugrunde liegen, aber eben bestimmte Bedürfnisse, je nachdem, ob man das Deuten, das Zurechnen, das Verarbeiten bzw. das Selegieren einer ouverten Handlung in den Blick nimmt. Gleiches ist für "Opportunitäten" anzunehmen Qedenfalls soweit es nicht um so etwas wie gewohnheitsmäßige - also nicht-reflexive - Handlungen geht). Und welche "Überzeugungen" auf der individuellen Ebene vom jeweiligen Akteur als gültig angenommen werden, ergibt sich aus dem so oder so gestalteten Deuten/Zurechnen/Verarbeiten. Ein weiterer Punkt, der in diesem Zusammenhang auffillt, ist, dass sich bei Hedström nicht näher beschrieben findet, was eine soziale Situation kennzeichnet, ,,in die Akteure eingebettet" sind. Wie das beschaffen ist, wovon die Akteure beeinflusst werden, bleibt somit ebenfalls dunkel. Man kann also festhalten: Es fehlen bei Hedström Begrifflichkeiten, die angeben, was eine soziale Situation ausmacht und wie es geschieht, dass sich Akteure in einer solchen Situation so oder so zunächst verorten und dann einbringen. 21 Analoge Probleme ergeben sich für den - neben dem "Beeinflussen" - zweiten zentralen Punkt, nämlich das "Handlungen bringen soziale Auswirkungen hervor". Auch dieser Vorgang des "Hervorbringens" bleibt bei Hedström zu unbestimmt. Als eine etwas nähere Beschreibung ist folgende Aussage von ihm heranzuziehen: "Die Art und Weise, wie die Akteure miteinander verbunden sind, definiert die soziale Interaktionsstruktur und diese beeinflusst wahrscheinlich auf eigene Weise die erzeugten sozialen Folgen. Das bedeutet, von den gleichen Entitäten (individuellen Akteuren), die auf unterschiedliche Art und Weise zusammengesetzt sind, kann erwartet werden, dass sie regelmäßig verschiedene Ergebnistypen erzeugen." (Hedström 2008: 44) Wichtig ist hier zweierlei: Zum einen, dass man bei Hedström nichts darüber erfahrt, was die im Zitat genannten Strukturen charakterisiert. Dass soziale Strukturen wie Normen/Regeln sozial gültige Überzeugungen sind, also von Alter und Ego (sowie Tertius usw.) geteilte und als geteilt bestätigte Annahmen darüber, dass XY der Fall sein soll und dass sie sich daran in ihrem Zusam21 Mein Eindruck ist, dass Hedström mit den von DBO geprägten Handlungen, die er thematisiert, allein ouverte Handlungen - also Output-Geschehen - meint.
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Rainer Greshriff menhandeln orientieren, wird - etwa durch das "die Art und Weise, in der Akteure zusammengesetzt sind" - nicht deutlich. Zum anderen bleibt unklar, wie der Vorgang aussieht, durch den soziale Strukturen hervorgebracht werden. Es wird nicht expliziert wie vorzustellen ist, dass in bestimmter Weise miteinander verbundene Akteure "bestimmte Typen von Folgen hervorbringen" (Hedström 2008: 25). Orientiert man sich wiederum, um das "hervorbringen" vorstellen zu können, an der obigen Skizze, dann wäre auszubuchstabieren, was soziale Strukturen als etwas sozial Gültiges kennzeichnet und welcher wie verknüpfter sozialer Handlungen mit welchen Folgen es bedarf, damit solche Strukturen reproduziert/gewandelt werden. Es müsste nachvollziehbar sein, im Ausgang von welchen sozialen Situationen aus welchen Gründen über welches iterativ-relationierte Input-/OutputGeschehen mindestens zweier Akteure welche von diesen gegenseitig als geteilt bestätigten Überzeugungen (Erwartungserwartungen) resultieren. Die Konsequenzen der in den vorstehenden Abschnitten festgestellten Unbestimmtheiten bei Hedström sind für sein Ziel, soziale und elementare Mechanismen zu identifizieren und dadurch mechanismusbasierte Erklärungen zu ermöglichen, erheblich. Wenn er soziale Mechanismen umschreibt als eine "Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die miteinander derartig verbunden sind, dass sie regelmäßig bestimmte Typen von Folgen hervorbringen" (Hedström 2008: 25), dann ist das "regelmäßig hervorbringen" nur dann erforschbar, wenn die Vorgänge klar bestimmt sind, die das "hervorbringen" im Grundsätzlichen ausmachen. Das aber ist, wie vorstehend ausgeführt, bei ihm gerade nicht der Fall. Und es ist auch kein Wunder, dass dies nicht der Fall ist, wenn die Abläufe auf der individuellen Ebene so unspezifisch konzipiert werden, wie es bei Hedström geschieht. Anders ausgedrückt: Wenn sozialer Strukturwandel, wie gerade noch einmal umrissen, kausal aus einem iterativen Input-/Output-Geschehen resultiert, dann kann man von diesem Geschehen nur wissen, wenn man - im in der Skizze angenommenen sozialen Zuschnitt - um das je individuelle Input-/Output-Geschehen weiß. 22 Damit dies aber möglich ist, muss die individuelle Ebene als ein solches Input/Output-Geschehen konzipiert werden - was bei Hedström wie oben gezeigt nicht geschieht. Und das hat dann eben zur Folge, dass der Vorgang des "Hervor22 Die Wichtigkeit des "Deutens/Zurechnens/Verarbeitens" macht auch Kurzman stark: "aggregate phenomena [...] rely on the existence of particu1Lr inner states among enough individuals to genemce the specified macro-level outcomes [...]. The term inner states is intended to include the broadest possible range of mental struetures and processes, among them preference structures, motivations, and emotions. Some of these may be conscious or available to consciousness upon reflection, while others may not [...]. In any case, causation opetates through these inner states. As a result, individuals' inner states constitute a proving ground for explanatory hypotheses [...]. Explanation needs to address understanding" (Kurzman 2004: 329f.; siehe auch 347f.). Und bei Mayntz (2005: 218) ist zu lesen, dass "die Gestalt des Gesameprozesses (des Mechanismus, RG.)" auch vom "Re'~eptivitätsprofllaller beteiligten Individuen" abhängt.
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Wie aussage- und erklärungskrijiig sind die so!(jaltheoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? bringens" nicht als ein kausaler Prozess expliziert und nachvollzogen werden kann. 23 Systematisch betrachtet heißt das: Ermangelt es an Konzepten, um die "Mikroebenen-Prozesse" zu erklären, können elementare Mechanismen nicht erforscht werden. Ist Letzteres der Fall, fehlt ein unerlässlicher Baustein, um das "Hervorbringen" von sozialen Kollektivitäten auf den Begriff zu bringen und zu erklären. Und das wiederum heißt, dass soziale Mechanismen nicht erforscht werden können. Und wenn soziale und elementare Mechanismen nicht erforscht werden können, fehlt die Grundlage für mechanismusbasierte Erklärungen. Treffen diese Annahmen zu, lässt sich festhalten, dass nicht gut begründet eingelöst werden kann, was Hedström anstrebt: "Wir erklären ein beobachtetes Phänomen in Bezug auf die sozialen Mechanismen, die dieses Phänomen regelmäßig erzeugen." (Hedström 2008: 25). Eine solche Erklärungsweise wird meiner Ansicht nach erst möglich auf der Basis von - solchen oder ähnlichen - Konzepten, wie sie in der obigen Skizze expliziert wurden. Mit einer solchen Konzeptualisierung schafft man die Voraussetzungen, elementares wie soziales Mechanismengeschehen erforschen und nachvollziehbar ausbuchstabieren zu können.
4. Mechanismusbasiertes Erklären und Erklärungsargument Nun werden mit den Konzepten der Skizze bestimmte Gegenstandsbeschaffenheiten und -verläufe des Sozialen zunächst nur beschrieben. Solche Beschreibungen sind als Grundlage unbedingt notwendig. Erklärungen, auch solche mechanismusbasierter Art, sind damit allein aber noch nicht möglich. Jedenfalls dann nicht, wenn man mit "Erklären" bestimmte Ansprüche verbindet. Nämlich die Anwendung eines expliziten Erklärungsargumentes (eines Explanans), das so etwas wie Adäquatheitsbedingungen zum Ausdruck bringt, die für gültige Erklärungen maßgeblich sind. Ein Erklärungsargument ermöglicht es, Aussagen logisch zwingend abzuleiten oder, schwächer gemeint, als mehr oder weniger sicher herzuleiten. Und zwar Aussagen darüber, a) was einen beschriebenen Sachverhalt (das Explanan23 Erst durch eine höhere Bestimmtheit kann auch folgender - bereits oben zitierter - Aussage Hedströms Rechnung getragen werden: ,,Dies bedeutet, dass die Verbindung zwischen dem Individuellen und dem Sozialen nicht transparent und linear, sondern komplex und unsicher ist. [...] kleine Veränderungen in der sozialen Interaktionsstruktur - sowohl zwischen Akteuren als auch zwischen verschiedenen mentalen Zuständen - einen tiefgreifenden Effekt auf die emergierenden sozialen Phänomene haben. Wenn unsere Konzepte und Theorien nicht hinreichend präzise sind, um solche Differenzen aufzugreifen, können sie nicht erklären, warum wit beobachten, was wit beobachten." (Hedström 2008: 142f.). Um sokhe "kleinen Veränderungen" erfassen zu können, ist das soziale Geschehen so differertziert zu konzeptwilisieren, dass daran - über das Input-/üutputGeschehen - "kleine Veränderungen" in ihten Konsequenzen sichtbar werden können.
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Rainer Greshriff dum), welchen es zu erklären gilt, unter bestimmten Bedingungen eben logisch zwingend oder mehr oder weniger sicher erwartbar ausmacht, respektive b) warum der Sachverhalt der Fall ist. 24 Legt man das gerade umrissene Erklärungsverstänclnis zugrunde, implizieren auch mechanismusbasierte Erklärungen - als Spezialfall kausaler Erklärungen - ein Erklärungsargument. Wie ein solches Argument hinsichtlich der Erklärung sozialer Kollektivitäten vorzustellen ist, jedenfalls im Prinzip, will ich nun im Anschluss an Konzepte von Hartmut Esser darlegen, die hier in etwas modiftzierter Form aufgriffen werden. Die genannten Konzepte fmden sich bei Esser im Rahmen dessen entwickelt, was er "Logik der Aggregation" nennt. Bei dieser Logik geht es um die Erklärung der Vorgänge, die Hedström mit "Übergang von der Individualebene zur Sozialebene" (Hedström 2008: 197) umschreibt. Für diesen "Übergang" ftndet sich bei Esser so etwas wie eine Transformationshypothese entwickelt, die Aggregationen wie z.B. die Strukturen eines sozialen Gebildes als Explanandum in den Blick nimmt (vgl. Esser 2000: 13ff.).25 Transformationshypothesen bestehen aus drei miteinander verbundenen Teilen. Ein Teil sind die Transformationsregeln. Diese deftnieren in allgemeiner Weise die Aggregation, die zu erklären ist. Der zweite Teil sind die Transformationsbedingungen. Diese formulieren eine - als empirisch gültig zu belegende - allgemeine Annahme über den Aggregationsprozess. Nämlich eine Annahme darüber, von welcher sozialen Ausgangskonstellation her sich über welche individuellen Selektionen26 die zu erklärende Aggregation mit einer bestimmten Regelmäßigkeit entwickelt. Es wird also das Muster des Aggregationsprozesses benannt, aus dem die zu erklärende Aggregation resultiert. Und der dritte Teil schließlich sind die so genannten individuellen Effekte, die nichts anderes als Erklärungen der jeweiligen individuellen Selektionen sind, anband derer für das zu erklärende Aggregationsphänomen zu belegen ist, dass bzw. ob die Selektionen so abgelaufen sind, wie in den Transformationsbedingungen angegeben. Diese drei Teile27 lassen sich dann in die Form eines allgemeinen Wenn-Dann-Aussagenzusammenhanges bringen, der als Erklärungsargument für Aggregationen fungiert. Abstrakt ist das Argument so vorzustellen: Wenn die Transformationsregel so und so lautet, und wenn die Transformationsbedingung in der so und so skizzierten Form tatsächlich gilt, und 24 Ein solches Erklärungsverständnis wnfasst also nicht nur kausale Erklärungen; ausführlicher dazu siehe Greshoff/Schimank (2005). 25 Aufgrund verschiedener Unklarheiten in der Darstellung bei Esser ist das Erklärungsargurnent "Transforrnationshypothese" dort nicht ganz leicht zu identifizieren (vgl. Greshoff 2008: 130). 26 Vor dem Hintergrund der Skizze sind mit diesen Selektionen die der verschiedenen sozialen Handlungen und strukturellen Orientierungen gemeint, die das Input-Output-Geschehen ausmachen. 27 Um sich nicht in Unwesentlichem zu verlieren, wird es wichtig sein, für alle drei Teile "gute" Typisierungen zu bilden; vgl Schimank (2002: 155f.).
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Wie aussage- und erklärungskriiftig sind die so!(ja/theoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? wenn die individuellen Effekte so und so der Fall sind, dann liegt das ExplanandumXYvor. Solche Transformationshypothesen aufzustellen, die, wie ausgeführt, explizit Aggregationen - soziale Gebilde, deren Strukturen oder dergleichen - zum Gegenstand haben, ist ein eigener Forschungsschritt. Denn gut begründet herauszufinden, unter welchen Bedingungen z.B. welche Strukturänderungen sozialer Gebilde wahrscheinlich sind, macht es notwendig zu erforschen, unter welchen Bedingungen, d.h. im Ausgang von welchen Situationen, die Entwicklung welcher Art von strukturellen Orientierungen bei Alter und Ego (Tertius usw.) wahrscheinlich ist. Das bedeutet also, man muss von den verschiedenen individuellen Handlungen, über die strukturelle Orientierungen entstehen bzw. bearbeitet werden, wissen und sie erklären, um - gegebenenfalls - dem Mechanismus und somit der Regelmäßigkeit auf die Spur kommen zu können, der sozialem Strukturwandel zugrunde liegt. Denn die Gründe für eine Regelmäßigkeit ergeben sich auf diese oder jene Weise allein aus dem iterativen Input-/Output-Geschehen. Und um diese Gründe herauszufinden bedarf es eben Erklärungen von den verschiedenen individuellen Selektionen, die dann als Material genutzt werden können, um erklärende Transformationshypothesen aufstellen und prüfen zu können. 28 Dem zuletzt genannten Punkt, den Erklärungen der individuellen Entitäten, kommt meiner Ansicht nach in zwei Hinsichten bislang zu wenig Aufmerksamkeit zu. Es wird einmal zu wenig beachtet, dass die Gründe für eine Regelmäßigkeit sozialer Mechanismen sich auf diese oder jene Weise allein aus dem iterativen Input-/Output-Geschehen ergeben und dass deshalb Untersuchungen sowie Erklärungen dieses Geschehens eine große Bedeutung zukommt. Hedström benennt zwar diese Bedeutung von "Mikroebenen-Prozessen" - "Wenn wir erklären wollen, warum wir bestimmte soziale Ergebnisse beobachten - und das wollen be28 Vorausgesetzt wird dabei, dass die vetschiedenen individuellen Entitäten als Komponenten von überindividuell Sozialem - sozialen Gebilden, Strukturen usw. - konzjpiert sind, Erklärungen dieser individuellen Entitäten also Erklärungen von solchen Komponenten sind (weshalb auch die Aussage von Abbott (2007: 5), "Mechanism means reduetion", in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend ist). Anders ausgedrückt, es wird hier somit davon ausgegangen, dass die Konzepte von solchem Sozialen eine methodologisch individualistische Fundierung haben und damit angenommen, dass überindividuelles Sozialgeschehen sich aus verschiedenen individuellen Handlungen, Erwartungen usw. von Akteuren zusammensetzt - wie in der Skizze dargelegr. Um diese Konzeptualisierung zu unterstreichen und Missverständnisse zu vermeiden, nenne ich das, was Hedström (2008: 55) "lndividualebene" nennt, "Sozial-Individualebene". Auf dieser Ebene wird also sozialsystemisches Geschehen verortet - und nur um bestimmte Kausallinien nachvollziehen zu können (etwa das oben diskutierte "Beeinflussen"), wird diese Ebene analytisch vov "Sozialebene" (Hedström 2008: 44) unterschieden, den ich "Sozial-Aggregatebene" nenne (vgl. Greshoff 2008: 112f., 134; zur methodologisch-individualistischen Fundierung von Sozialrheotien siehe Greshoff 2004, 2009a). Da Hedström vor allem die "Sozialebene" nicht näher bestimmt, bin ich mir nicht sicher, ob er meine gerade vorgetragene Konzeprualisierung reilr.
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Rainer Greshriff stimmt die meisten von uns -, dann gibt es keinen Ersatz für eine detaillierte Untersuchung der wahrscheinlich wirksamen Mechanismen auf der Handlungsebene" (Hedström 2008: 204), aber was das "wirksam" im Einzelnen für Erklärungen heißt, wird vom ihm, wie oben dargelegt, nicht erläutert. Damit bin ich bei der zweiten Hinsicht. Zu wenig diskutiert wird, mit welchen Konzepten die individuellen Entitäten zu erklären sind. Bezogen auf Hedströms Konzepte formuliert: Mit welchen Konzepten ist zu erklären, warum welche DBOs und als Folge welche Handlungen gewählt werden? Ein Vorschlag für entsprechende Erklärungskonzepte ist die "FrameSelektions-Theorie" (FST) von Hartmut Esser und Clemens Kroneberg. Da dieser Ansatz meiner Ansicht nach in die richtige Richtung geht und um die Diskussion zu den beiden vorstehend genannten Hinsichten zu befördern, greife ich ihn hier mit ergänzenden Überlegungen - in den wesentlichen Grundlinien auf. Die FST ist als übergreifende Handlungstheorie angelegt.29 Als solche ist sie der "Versuch, die [...] strukturellen Gegebenheiten (einer sozialen Situation, R.G.) [...] in ein handlungstheoretisches Argument einzubauen, so dass aus gewissen Konstellationen von Interessen, Institutionen und Ideen (mit dieser Trias meint Esser die typischen Strukturen sozialer Situationen30; RG.) bestimmte Handlungen der Akteure abgeleitet und (nomologisch) erklärt werden können" (Esser 2003: 158; siehe auch 2001: 308, 329f.).31 Die Grundeinheit der FST bildet also folgendes Geschehen: Akteure verorten sich auf eine bestimmte Weise über eine Situationsdeftnition in einer sozialen Situation und selegieren im Anschluss an diese Situationsverortung sowie geprägt durch sie ein ouvertes Handeln, mit dem sie sich in die Situation einbringen. Erklärt wird im Rahmen der FST dann Folgendes: Einmal, wie Akteure die Situation deftnieren, d.h., welches Modell der Situation - welchen Frame und welches Skript - sie wählen. Erklärt wird weiter, in welchem Modus der Informationsverarbeitung die Akteure die Situationsdeftnition treffen: ob die Situation, etwa weil sie auf Grund der äußeren Anzeichen völlig vertraut erscheint, unreflektiertautomatisch eingeschätzt wird (= as-modus) oder ob die Situation etwa unbekannt und wichtig erscheint und daher alternative Frames (usw.) bedacht werden (= rcmodus).32 Und schließlich wird die Wahl einer ouverten Handlung erklärt, welche die Akteure auf der Basis ihrer Situationsdeftnitionen vornehmen und die sie dann 29 Sie basiert wesentlich auf sozialpsychologischen K0112epten so geruumter "dual-process-rheories"; vgl. für einen überblick Chaiken/Trope (1999). 30 Zum Siruationsko112epr, dass in den Grundzügen dem in der Skizze ähnelt, vgL Greshoff (2008: 119f.). 31 Zur detaillierteren Beschaffenheir dieses Erklärungsargumentes siehe Greshoff (2008a: 430ff.). 32 Das, was ich oben ,,Deuten/Zurechnen/Verarbeiten" genannt habe, entspricht - der groben Linie nach - dem Vorgang der Siruationsdefinition.
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Wie aussage- und erklärungskriiftig sind die so!(ja/theoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? in der Situation umsetzen (Esser 1999: 165f.). Der Wechsel von einem gewählten Modell der Situation bzw. Modus der Informationsverarbeitung zu einem anderen wird ebenfalls im Rahmen der FST konzipiert und erklärt. Alle Erklärungen von Selektionen sind dem Anspruch nach Erllirungen im Hempel-Oppenheim-Schema unter Bezug auf Gesetze (Esser 1999: 204ff.).33 SowoW die Erllirungen der Modell- und der Modusselektionen als auch die des ouverten Handelns erfolgen dabei mittels der Regeln der Wert-Erwartungs-Theorie (WE-Theorie).34 Letztere wird allerdings auf eine modifizierte Weise verwendet (Esser 1999: 241ff., 357f.), nämlich (auch) in einem nur "formalen" Sinne, um so unreflektiert-automatische Selektionen - wie etwa gewohnheitsmäßiges Handeln als nicht-kalkulierende Selektionen berücksichtigen zu können (Esser 2001: 269).35 Selektionen werden also nicht, wie etwa in einem Re-Ansatz, als durchweg zukunftsorientiert-kalkulierende Selektionen angenommen. 36 Dies ist deshalb möglich, weil von folgendem Sachverhalt ausgegangen wird: Wenn Akteure sich in sozialen Situationen verorten, geschieht das zunächst auf eine ebenso unbewusste wie unreflektiert-automatische Weise. Diese Vorgehensweise hat sich sozusagen im Laufe der Menschheitsevolution bewährt und eingespielt. Welche systematische Problemlage hinter dieser Vorgehensweise stehen mag, lässt sich, so mein über die Esser-Kronebergschen Konzepte hinausgehender VorscWag, hypothetisch folgendermaßen konstruieren: 33 Zur Verwendung des Hempel-Oppenheim-Schemas siehe die Erläuterungen von Kronebetg (2008). Ob Selektionen tatsächlich untet Bezug auf Gesetze zu erklären sind oder ob auch an dieser Stelle, wie bei Aggtegationsetklärungen, nur Etklärungen untet Bezug auf Regehnäßigkeiten möglich sind, ist eine strittige Frage. Vgl. dazu etwa die grundsätzlichen Erörterungen bei Keil (2000) sowie Gteshoff/Schimank (2005). 34 Die WB-Theorie ist eine Entscheidungstheorie. In ihr wird davon ausgegangen, dass jedem Handeln eine Wahl zwischen alternativen Handlungsoptionen voraus geht, zwischen denen gesetzmäßig entschieden wird, und zwar folgendennaßen. Die Akteure bewerten die Folgen, die mit einet jeweiligen Handlungsalrernative vetbunden sind, wenn sie tealisiett würde. Weitet bilden sie Erwartungen darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Ereignisse als Folge der jeweiligen Handlungsalrernative eintreten. Danach nehmen die Akteure anband det Bewertungen und Erwartungen mittels einer Gewichtungsregel eine Evaluation (Kalk:ulation) der Handlungsalternativen vor und wählen die Alternative, die nach det Regel der Nutzenrnaximietung den größten Nutzen erwarten lässt. Die Akteure nehmen also die Auswahl kalkulierend, d.h. folgen- und damit zukunftsorientiert vor (vgl. Gteshoff2008: 121f.). 35 "Fonnal" in dem Sinne, dass zwar angenommen wird, dass jegliches Handeln vor dem Hintergrund bestimmtet Bewertungen und Erwartungen selegiert wird, abet nicht angenommen wird, dass dies immer in der kalkulierenden Weise geschieht, die in der vorstehenden Anmerkung beschrieben wird. 36 Dass in der FST von zwei Selektionstypen ausgegangen wird, solchen im as-modus und solchen im re-modus, wirft die Frage auf, ob es auch einen die beiden Typen übergreifenden Selektionstyp gibt. Anders ausgedrückt: Kann die FST eine übergreifende Handlungstheorie sein, wenn es nicht einen solchen übergreifenden Selektionstyp gibt? Eine Antwort auf diese Ftage steht noch aus.
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Rainer Greshriff Akteure haben das Ziel herauszufinden, in welcher Situation sie sich befmden und wie sie sich dort handelnd einbringen. Sie machen das, so sei weiter angenommen, zunächst unter der Regel: "Suche ohne Aufwand nach bewährter Problernlösung". Für die Abarbeitung dieses Zieles wendet ein Akteur folgende Alltagshypothese an: "Um das Ziel zu erreichen, hat sich bewährt, die Situation, in der ich mich befinde (die ,Objekte' darin), wahrzunehmen und die Situationswahrnehmung mit den Situationsmodellen in meinem Gedächtnis zu verbinden. Anschließend ist das Modell als zu realisieren zu setzen, welches, von seinen mit ihm verbundenen Erwartungen über das Vorliegen bestimmter Objekte in der Situation her, durch meine Wahrnehmung der konkreten Situation aktiviert wird und perfekt damit (dem Wahrgenommenen) zusammen passt. Dieses Modell X ist dann das, an dem ich mich gewohnheitsmäßig-automatisch sicher orientieren kann und von dem her sich ebenso sicher ergibt, wie ich in der Situation zu handeln habe - und so handele ich dann auch. Wenn ich diese Alltagshypothese anwende, mich also entsprechend selegierend verhalte, kann ich mein Ziel erreichen". Die Umsetzung dieser Alltagshypothese und die sich daraus ergebende, vereinfacht angenommen, Übereinstimmung von wahrgenommenen Situationsobjekten mit denen, die etwa mit Modell X in meiner Vorstellung verbunden sind, aktiviert, wenn Modell X zugänglich in meinem Gedächtnis verankert ist, Modell X als das, an dem ich mich orientiere und von dem her ich dann weiß, wie ich zu handeln habe - was ich dann im nächsten Schritt durch die Ausführung dieses Handelns umsetze. Was hier - absichtlich - umständlich-ausführlich (und hypothetisch!) konstruiert wird, entspricht vom zu Grunde liegenden Sachverhalt her im Wesentlichen dem, was Esser mit "perfektem match" meint. Er geht davon aus, dass die im Gedächtnis gespeicherten Frames der Akteure "gedanklich mit der unbewussten Erwartung von bestimmten signifikanten Hinweiszeichen in der Situation verbunden (sind, R.G.), bei deren Auftreten die gedanklichen Muster, sofern sie verankert sind, spontan aktiviert werden [.. .]. [Weiter ist, RG.] jeder Frame vom Akteur gedanklich mit bestimmten Bewertungen versehen [...]. Ausgelöst wird der jeweilige Frame dann, wenn er als gedankliches Modell im Gedächtnis verankert und damit ,zugänglich' ist, wenn in der betreffenden Situation das zugehörige signifikante Symbol auftritt und wenn es ansonsten keinerlei Störungen der gewohnten Umstände gibt. Alle diese drei Größen zusammen bestimmen den Match m [...] von extern [in der Situation, R.G.] vorhandenem und beobachtetem Symbol und dem im Gedächtnis gespeicherten (kognitiven) Modell" (Esser 2006: 148). Wenn ein Frame wie gerade im Zitat beschrieben ausgelöst wird, geht Esser von einem "perfekten matching" aus. Die "Geltungserwartung" für das Modell ist dann m = 1 (Esser 2001: 333).31 Mit der Modell-Selektion verbundenen ist nicht nur die (m der 37m = 1 wird inzwischen in der von Kroneberg (2005) präzisierten FST als ein SpemufaIl belw1delr.
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Wie aussage- und erklärungskrijiig sind die so!(jaltheoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? Regel) direkt anschließende Selektion eines (ouverten) Handelns, sondern zunächst (und vorgängig der Selektion eines ouverten Handelns) auch die Selektion eines Modus der Informationsverarbeitung, nämlich - alles läuft ja automatisiertunreflektiert ab - die des as-Modus der Informationsverarbeitung. Dass sich auf diese Weise eines perfekten matchings eine Modell-Selektion einstellt, kann man als daran liegend beschreiben, dass die von der WE-Theorie als zu belegen geforderten Bewertungs- und Erwartungswerte der Selektion ,,Alltagshypothese" so stark und eindeutig sind - Bewertung: Die Folge der Selektion ist eine ganz sichere Orientierung; Erwartung: Die Folge wird mit ganz großer Sicherheit durch die Umsetzung der Selektion ,,Alltagshypothese" realisiert -, dass keine Alternativen bedacht und gewichtet werden. Gleiches gilt für die Werte der Kriterien, die für die Auswahl der Modus-Selektion relevant sind. Erst wenn das perfekte matching sich nicht einstellt, sondern ein so genannter "mis-match", und somit kein Modell automatisch aktiviert wird, etwa weil die Situation diffus oder uneindeutig ist, kann es zum Umschalten in den re-modus der Informationsverarbeitung ~,Reflexion'') und dann zu einem "re-framing", somit zu einer bewussten und kalkulierenden Entscheidung darüber kommen, welches Modell - und in der Folge welches ouverte Handeln - denn nun zu wählen ist. Bei einem mis-match treten also Irritationen auf, das Bewusstsein wird eingeschaltet und man sucht nach Informationen zur Klärung der Situation. Je weniger vertraut eine Situation ist und als je wichtiger sie vom Akteur bewertet wird, umso stärker ist die Aufmerksamkeitserregung. Ob dann tatsächlich auf den re-modus umgeschaltet wird, hängt wesentlich von drei Faktoren ab: welcher Ertrag davon erwartet wird (Motivation), wie wahrscheinlich ein solcher Ertrag zu haben ist (Opportunitäten) und welche Such- und Reflexionskosten damit verbunden sind (Aufwand). "Eine elaboriertere Informationsverarbeitung wird [...] immer von einem Mismatch eingeleitet. Der aber ist noch nicht genug. Für den Wechsel vom as- auf den re-Modus müssen zusätzlich das Reflexions-Motiv möglichst hoch und der Reflexions-Aufwand niedrig und es müssen Reflexions-Opportunitäten vorhanden sein" (Esser 2001: 276). Bei einer Situationsverortung, die sich, vom Ende her gedacht, als perfektes matching erweist, kommt es zur Wahrnehmung der Situationsobjekte im as-modus der Informationsverarbeitung vor allem deshalb, weil das Reflexions-Motiv sehr niedrig ist (und erst einmal so bleibt), so dass von daher die Kriterien "Reflexions-Aufwand" und "Reflexions-Opportunitäten" - als nicht weiter relevant - faktisch keine Bedeutung haben. 38 Kommt es dagegen, weil die im 38 Analytisch wird das ,,Kommt es zur Wahrnehmung der Situationsobjekte im as-modus der Informationsverarbeitung" wie eine Modus-Selektion konzeptualisiert, bei der die Parameter "Reflexions-Motiv", "Reflexions-Aufwand" sowie "Reflexions-Opportunitäten" umgekehrt belegt (wie im obigen Zitat beschrieben) zu modellieren sind. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Aussage von Kroneberg, dass es sieb bei dieser "Modus-Selektion um einen unbewussten Prozess
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Rainer Greshriff vorstehenden Zitat genannten Bedingungen erfüllt sind, zu Reflexion, Umschalten in den rc-modus und re-framing, dann sind dies Selektionen, die nach den Regeln der WE-Theorie ablaufen. Soweit die Grundlinien der FST. Als sozialwissenschaftlich relevant werden die individuellen Entitäten, die sie erklärt, von der Annahme her eingeschätzt, dass es nicht die sozialen Situationen/Gebilde ",sui generis'" sind, die den sozialen Prozess vorantreiben und ihm seine Dynamik geben, "sondern die Akteure, deren Probleme und Situationssichten, das daraus folgende Handeln und die daraus entstehenden Folgen" (Esser 1999: 26). Wenn das eine zutreffende Beschreibung ist, muss man, will man (etwa) als sozialen Prozess die Entwicklung sozialer Gebilde erfassen können, von den genannten Entitäten Erklärungen haben. Exemplarisch und nur auf den individuellen Fall eines Akteurs bezogen formuliert: Wenn von der Art der Situationsdefinition abhängt, welche strukturelle Orientierung sowie welches ouverte Handeln selegiert und darüber an anderes Handeln angeschlossen wird, und wenn die eine oder andere Art der Situationsdefinition unter diesen oder jenen Bedingungen erfolgt, braucht man Erklärungswissen darüber, wann was der Fall ist. Von diesen Überlegungen her lässt sich nun der Bogen zum Thema "soziale Mechanismen" - und damit zu dem Argument, dass Erklärungen der individuellen Entitäten für dieses Thema wichtig sind - auf folgende Weise zurückschlagen. Setzt man beim vorstehenden "sui generis-Zitat" an die Stelle von "sozialen Situationen/Gebilde" "soziale Mechanismen" ein, dann lässt sich die prinzipielle Bedeutung einer Theorie wie der FST für die Erforschung solcher Mechanismen ermessen. In der Sprache der Skizze ist dies noch einmal so auf den Punkt zu bringen: Was sich als strukturelle, sozial gültige Folge aus dem iterativen Input-/OutputGeschehen ergibt, ist nichts jenseits der Erwartungen, Einstellungen, Annahmen der Akteure, die dieses Geschehen und darüber diese Folge produziert haben. Sondern diese Folgen bestehen aus bestimmten Erwartungen (usw.) der Akteure, die diese mittels ihrer individuellen Selektionen erzeugt haben. Auf soziale Mechanismen bezogen bedeutet das: Gibt es Regelmäßigkeiten bei der Erzeugung solcher Folgen, dann ergeben sich diese Regelmäßigkeiten allein aus den so oder so vorgenommenen Selektionen dieser Akteure. D.h., die Regelmäßigkeiten lassen sich nur von diesen Selektionen her aufklären und erklären - die natürlich, wie oben (Anm. 28) erläutert, sozialtheoretisch fundiert zu konzipieren sind. Sollen, was ja auch Hedströms Position ist, mechanismusbasierte Erklärungen der Entwicklungen sozialer Gebilde das Gegenteil von B1ack-Box-Erklärungen
[handelt, R.G....] (d)er [...]1edigIich aus Gründen der Präzision mit Hilfe der Entscheidungstheorie fonnalisiert" wird (Kroneberg 2005: 353).
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Wie aussage- und erklärungskrijiig sind die so!(jaltheoretischen Konzepte Peter Hedstrijms? sein,39 dann muss in Form einer Kausalkette ausbuchstabiert werden können, "durch welche Zwischenschritte [...] ein bestimmtes Ereignis aus einem bestimmten Satz von Anfangsbedingungen hervorgeht" (Mayntz: 2005: 208). Um solche Zwischenschritte kann man nur wissen, wenn erforscht wird, aus welchen Gründen Akteure sich in Situationen so oder so verorten und im Anschluss daran diese oder jene strukturelle Orientierung/ Handlung selegieren. Erst solche Forschungen "provide information about the reasons why the independent variables have the effects they do" (Mahoney 2003: 2). Zugleich machen derartige Forschungen deutlich, dass die einzigen kausalen Kräfte innerhalb sozialer Mechanismen Akteure und nicht soziale Gebilde sind. 40 Sozialwissenschaftlich bedeutsam im hier gemeinten Sinne können solche Untersuchungen aber erst dann sein, wenn sie im Rahmen bestimmter sozialtheoretischer Konzepte vorgenommen werden. Wie ein solcher Rahmen aussehen kann bzw. welchen Problemen er gerecht werden müsste, dafür sollte hier durch die Auseinandersetzung mit der Position Hedströms ein Vorschlag gemacht werden.
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Jürgen Macker!
Auf den Schultern von Robert Merton? Zu Peter Hedströms Analytischer Soziologie Wie wenige Andere hat Peter Hedström in den vergangenen Jahren die Debatte um eine erklärende, mechanismische Soziologie vorangetrieben. Die Forderung, dass die Soziologie ihre Wissenschaftlichkeit steigern müsse, indem sie sich zu einer erklärenden Disziplin fortentwickelt, wird von ihm allerdings nicht zum ersten Mal erhoben. Für die Soziologie kommt dieses Verdienst Robert K Merton zu, der zugleich auch als Gründervater einer Analytischen Soziologie gelten darf. Diese doppelte Parallele legt es nahe, nach dem spezifischen Verhältnis beider Ansätze zu fragen. Auf der Grundlage einer Rekonstruktion des Mertonschen Erklärungsprogramms lautet die These des Aufsatzes, dass der entscheidende Unterschied zu jenem der Analytischen Soziologie in der grundlegenden Bedeutung von Opportunitätsstrukturen, der Rolle von Konflikten sowie der spezifischen Erklärung durch Mechanismen zu suchen ist. Um diese Einschätzung zu belegen, geht es im Folgenden in einem ersten Schritt zunächst darum., die unterschiedlichen Ausgangpositionen der beiden Ansätze zu skizzieren; in einem zweiten Schritt wird der von Hedström gegen Mertons Konzeption der Theorien mittlerer Reichweite erhobene Empirizismus- und Eklektizismusvorwurf widerlegt. Im Hinblick auf die zentrale Bedeutung von Opportunitätsstrukturen, das Interesse an den aus ihnen resultierenden Konflikten und die Funktionsweise von Mechanismen für die Erklärung sozialer Prozesse wird abschließend ein knapper vergleichender Blick auf die Erklärungsprogramme beider Ansätze geworfen.
1. Einleitung Nicht zum ersten Mal fordert mit Hedström ein namhafter Vertreter des Faches die Soziologie zu einem radikalen Richtungswechsel auf. Die Skepsis gegenüber allgemeiner soziologischer Theorie, die Forderung, die Soziologie zu einer erklärenden Wissenschaft weiterzuentwickeln sowie die Überzeugung, dass die Steigerung der Wissenschaftlichkeit der Disziplin nur in dem Maße gelingen kann, in dem soziale Prozesse durch die Identifikation wirksamer sozialer Mechanismen erklärt werden, teilt Hedströms Projekt einer Analytischen Soziologie mit der Programmatik eines Merton. Bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat dieser in der Auseinandersetzung mit Talcott Parsons und der empiristischen Tradition der 91 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Aufden Schultern von Robert Merton? amerikanischen Soziologie genau diese Kritik formuliert und dieselben Forderungen erhoben (siehe Merton 1945, 1948a, 1948b; Parsons 1945, 1948). Ohne Zweifel gilt Merton deshalb als der Gründervater einer Analytischen Soziologie und als Ahnherr einer mechanismischen Soziologie. Nicht nur, dass das von Hedström und Swedberg (1996, 1998a) angestoßene und von Hedström (2005, dt. 2008) weiter vorangetriebene Projekt der Analytischen Soziologie hier die Idee entlehnt hat; dies gilt nicht weniger für Mertons Ideen einer auf Mechanismen gründenden, erklärenden Soziologie und die von ihm verfochtene Bedeutung der Theorien mittlerer Reichweite (siehe Merton 1968a). Bereits in einem frühen Stadium der Entwicklung der Analytischen Soziologie (siehe Hedström/Swedberg 1996, 1998a) war allerdings zu erkennen, dass der eigene Ansatz stark gegen Merton profiliert witd. Das schien hier noch recht unproblematisch, da Hedström und Swedberg als Handlungstheorie zunächst ein klares, an Colemans (1990) theoretischem Ansatz geschultes Rational-Choice-Modell präferierten.! Doch hier zeigt sich schnell, dass Mertons Ansatz eine nur schwer nachvollziehbare Interpretation und Kritik erfährt, die der Ausgangsposition seines theoretischen Projektes, seiner Position gegenüber allgemeiner Theorie sowie seinem Verständnis des Verhältnisses von Theorien mittlerer Reichweite und sozialen Mechanismen nicht gerecht witd. Noch deutlicher witd die Abgrenzung gegen Mertons theoretisches Projekt in dem von Hedström (2005: 9) erhobenen Vorwurf, seine Konzeption der Theorien mittlerer Reichweite sei empirizistisch und eklektizistisch. Meines Erachtens ist diese harsche Distanzierung für die Profilierung seines Ansatzes weder überzeugend noch erforderlich, doch sie scheint in dem Maße an Schärfe zuzunehmen, wie die von Hedström (2005: 38ff.) der Analytischen Soziologie zugrundegelegte Handlungstheorie (DBO-Theorie) sich von früheren Rational-Choice-Annahmen (siehe Hedström/Swedberg 1996, 1998a) gelöst hat und an Mertons handlungstheoretischen Ansatz heranrückt. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Ansätzen scheint also nicht mehr unbedingt in der handlungstheoretischen Grundlage beider Projekte zu liegen, sondern, so meine Annahme, vielmehr in den unterschiedlichen Erklärungsprogrammen sowie im unterschiedlichen Verständnis von sozialen Mechanismen. Die These lautet, dass die Rekonstruktion des Mertonschen Erklärungsprogramms einen eigenständigen und keineswegs eklektizistischen Ansatz deutlich werden lässt und dass dieses Erklärungsprogramm zugleich den entscheidenden Unterschied zu jenem der Analytischen Soziologie darstellt: Im Zentrum stehen die von Opportunitätsstrukturen ausgehenden Zwänge und Einschränkungen des Handelns sozialer Akteure, aus diesen Strukturen resultierende Konflikte für AkMit den entsprechenden Konsequenzen für die Modellierung von drei Typen von Mechanismen, die hier nicht weiter diskutiert werden müssen.
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Jiirgen Macker! teure und zwischen ihnen sowie ein spezifisches Verständnis von sozialen Mechanismen. Es ist dieses anspruchsvolle Programm, gegen das die Analytische Soziologie sich profilieren muss; sie muss dies aber nicht, wie Hedström meint, gegen den angeblichen Empirizismus und Eklektizismus der Mertonschen Konzeption von Theorien mittlerer Reichweite tun. Um diese These zu belegen, geht der folgende Beitrag in drei Schritten vor: In einem ersten Schritt skizziert er zunächst die, trotz gleicher Ausgangsprobleme, unterschiedlichen Ausgangspositionen der beiden Ansätze. In einem zweiten Schritt entkräftet er den Empirizismus- und Eklektizismusvorwurf gegen Mertons Konzeption der Theorien mittlerer Reichweite, während er abschließend, in einem dritten Schritt, auf die unterschiedlichen Erklärungsprogramme und hier insbesondere auf die unterschiedliche Bedeutung von Opportunitätsstrukturen wie auch der Funktionsweise sozialer Mechanismen hinweist.
2. Unterschiedliche Ausgangspositionen Das Programm einer Analytischen Soziologie steht in der Tradition der Arbeiten von Elster, Schelling, Coleman und Boudon (vgl. Hedström 2005: 6f.). Mit diesen Theoretikern teilt Hedström eine grundlegende Skepsis gegenüber ganz unterschiedliche Arten wissenschaftlicher Arbeiten, wie Beschreibungen, Begriffsbildungen oder die Entwicklung von Typologien (vgl. Merton 1945). Im Wesentlichen grenzt sich eine erklärende Soziologie, wie die Analytische Soziologie sie vertreten will, aber gegen zwei Extreme soziologischen Arbeitens und "Erklärens" ab: zum einen von der Vorstellung, es könne so etwas wie "soziale Gesetze" geben, womit in wissenschaftstheoretischer Perspektive das Hempel-Oppenheim-Schema deduktiv-nomologischer Erklärungen zurückgewiesen wird; zum anderen von der Idee, eine Variablensoziologie sei dazu in der Lage, allein über statistische Korrelationen zu kausalen Erklärungen des Zusammenhangs zwischen Variablen zu gelangen. Lange vor dem vorliegenden Entwurf einer Analytischen Soziologie hat Boudon die erforderliche Abgrenzung zu derartigen "Erklärungsversuchen" in ganz ähnlicher Form markiert: Zum einen hat er in der bekannten Replik auf Hausers (1976) Behauptung, die Korrelation zwischen Variablen stellten eine "statistische Erklärung" dar, deutlich gemacht, dass derartige statistische Zusammenhänge erst noch einer theoretischen Erklärung bedürfen, da die Korrelation selbst keine ursächliche Erklärung eines Zusammenhangs liefern könne: ,,[We] must go beyond the statistical relationships to explore the generative mechanism responsib1e for them" (Boudon 1976: 117, Herv. J.M.). Zum anderen hat Boudon (1983, 1986) eine fundierte Kritik an gängigen Vorstellungen sozialen Wandels in der Soziologie präsentiert, wobei er einerseits die verbreitete Ansicht kritisiert hat, es gebe histori93
Aufden Schultern von Robert Merton? sche Gesetze sozialen Wandels, wie etwa Stadiengesetze, Gesetze einer fortschreitenden sozialen Differenzierung oder einer notwendig fortschreitenden Arbeitsteilung mit einer immer stärker anwachsenden Konzentration der Arbeitskräfte; andererseits hat Boudon zugleich aber auch die Idee "bedingter" Gesetze nach dem Muster "Wenn A dann B", bzw. "Wenn A, dann wahrscheinlich B" zurückgewiesen. Seine Überzeugung begründete er nicht nur damit, dass der historische Verlauf Gesetzesaussagen solcher Art in der Regel Lügen strafe, sondern vor allem mit der theoretischen Einsicht, dass es gewöhnlich so viele Ausnahmen von allgemeinen Gesetzen gebe, dass ihre Aussagekraft gering und die Gesetze selbst wertlos seien (vgL Boudon 1983: 9). Diese Abgrenzung sowohl gegenüber "statistischen Erklärungen" als auch gegenüber Erklärungen durch "soziale Gesetze" gehört in der aktuellen Debatte um eine erklärende Soziologie mittlerweile zur allgemein geteilten Überzeugung und markiert den Ausgangspunkt nicht nur für Ansätze methoclologischer Individualisten, sondern nicht weniger für gänzlich anders gelagerte theoretische Ansätze einer erklärenden mechanismischen Soziologie wie etwa jene Bunges oder Tillys - aber eben auch den von Hedströms Analytischer Soziologie. Wie Boudon geht auch Hedström davon aus, dass Erklärung durch generative Mechanismen erfolgen müsse. Was unter einem Mechanismus zu verstehen sei, hatten Hedström und Swedberg (1998a: 24) in einer formalen DefInition deutlich gemacht: "A social mechanism is an integral part of an explanation which (1) adheres to the four core principles stated previously [action, precision, abstraction, reduction], and (2) is such that on the occurrence of the cause or input, I, it generates the effect or outcome, 0." Hedström (2008: 42) bietet nun in diesem Sinne eine weitere DefInition, indem er davon ausgeht, "dass Mechanismen aus den Entitäten (mit ihren Eigenschaften) und den Aktivitäten, in die sich die Entitäten, entweder alleine oder mit anderen Entitäten engagieren, bestehen. Diese Aktivitäten erzeugen Veränderungen und die Art der erzeugten Veränderung hängt von den Eigenschaften der Entitäten und der Art und Weise ab, wie diese miteinander verknüpft sind. Ein sozialer Mechanismus, so wie er hier defIniert witd, beschreibt eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die so organisiert sind, dass sie regelmäßig einen besonderen Ergebnistyp erzeugen. Wir erklären ein beobachtetes Phänomen, indem wit uns auf den sozialen Mechanismus beziehen, durch den solche Phänomene hervorgebracht werden." Es sind also Mechanismen, die es erlauben sollen, "Warum"-Fragen zu beantworten (siehe Hedström 2005: 12), und in diesem Sinne hatten Hedström und Swedberg (1998a: 12) behauptet: "Understanding is enhanced by making explicit the underlying generative mechanisms that link one state or event to another, and in the social sciences, actions constitute this link". In diesem Beitrag zu einer Analytischen Soziologie hatten Hedström und Swedberg im Anschluss an Coleman (1990) den Anspruch erhoben, alleine auf der 94
Jiirgen Mackert Grundlage von Rational-Choice und dem Akteursmodell des "homo oeconomicus" seien in überzeugender Weise Erklärungen sozialer Prozesse möglich. Ihr Plädoyer für eine erklärende Sozialwissenschaft ging hier von der Vorstellung aus, dass Fortschritte in der Sozialtheorie nur in dem Maße möglich seien, in dem ein analytischer Ansatz den Versuch unternehme, systematisch jene sozialen Mechanismen zu bestimmen, die beobachtete Zusammenhänge zwischen sozialen Prozessen erzeugen und erklären (vgl. Hedström/Swedberg 1998a: 1). Mit diesem Plädoyer sollte einerseits der methodologische Individualismus und insbesondere Rational-Choice als einzig mögliche theoretische Grundlage einer erklärenden Sozialwissenschaft profiliert, andererseits aber zugleich ein spezifisches Verständnis von sozialen Mechanismen postuliert werden. Dieses entschiedene Plädoyer für Rational-Choice hat Hedström in seiner aktuellen Fassung der theoretischen Grundlage einer Analytischen Soziologie nun offensichtlich zugunsten einer Handlungstheorie aufgegeben, die er als DBO-Theorie bezeichnet. Hier geht es darum, dass Akteure aufgrund ihrer Wünsche (desires) und Glaubensvorstellungen (beliifs) und angesichts bestimmter Handlungsmöglichkeiten (opportunities) auf spezifische Weise handeln. Mit Vehemenz verteidigt Hedström dieses handlungstheoretische Modell gegen jedwede andere Form allgemeiner Theorie als einzig gültige, die mit großer Wahrscheinlichkeit allgemein Anerkennung finden werde. Die Positionierung des Ansatzes zwischen "Gesetzen" und "statistischen Erklärungen" wurde bereits in der gemeinsamen Arbeit mit Swedberg vorgenommen und ganz offensichtlich soll Merton hier als Gewährsmann herangezogen werden. Doch der Bezug auf ihn bleibt ganz oberlliichlich an seine angeblich radikale Ablehnung gegenüber allgemeiner Theorie gebunden. Sie dient daher nur der Positionierung des eigenen Ansatzes und des eigenen Verständnisses von sozialen Mechanismen. Die entscheidende Stelle bei Hedström und Swedberg lautet: "Merton firmly rejected all attempts to develop general systems of sociological theory and advocated instead that sodological theory should deal with ,sodal mechanisms.' The point is to locate a middle ground between social laws and description, Merton said, and ,mechanisms' constitute such a middle ground" (Hedström/Swedberg 1998a: 6). Beide Behauptungen, so meine These, treffen nicht genau die Mertonsche Position und sie sind deshalb auch beide äußerst problematisch. In theoriestrategischer Hinsicht wird behauptet, dass Merton prinzipiell jeglichen Versuch ablehnte, allgemeine Systeme soziologischer Theorie zu entwickeln. Es ist aber gerade ein spezifisches Verhältnis von allgemeiner Theorie und den von Merton entwickelten Theorien mittlerer Reichweite, die den Ansatz prägt, und zudem liegt Mertons Ansatz, wie gezeigt werden soll, sehr wohl eine allgemeine Theorie zugrunde. In konzeptioneller Hinsicht hingegen wird der "Ort" sozialer Mechanismen missverstanden. Weder forderte Merton, die Soziologie solle sich anstelle allgemeiner Theorie mit 95
Aufden Schultern von Robert Merton? sozialen Mechanismen beschäftigen, noch war er der Auffassung, dass es Mechanismen seien, die zwischen sozialen Gesetzen und bloßer Deskription liegen - in beiden Fällen ging es ihm nicht schlicht um ein Theoretisieren mit sozialen Mechanismen, sondern entscheidend um Theorien mittlerer Reichweite: Sie werden angesiedelt zwischen allgemeinen theoretischen Systemen einerseits, Empirizismus andererseits, und sie stellen damit einen eigenständigen Theorietypus dar, dem ein spezifisches Erklärungsprogramm eigen ist. Beide Kritikpunkte müssen hier etwas näher diskutiert werden. 2.1 Theoriestrategie: Zum Verhältnis von allgemeiner Theorie und Theorien mittlerer Reichweite Merton hat seine Idee der Theorien mittlerer Reichweite in Auseinandersetzung mit Parsons' Bestrebungen entwickelt, immer abstraktere Begriffsschemata zu einer "grand theory" zusammenzufügen. Gegen derartige Versuche machte Merton zwei Argumente geltend: Das metatheoretische Argument widerspricht Parsons' Überzeugung, es könne ein einziges umfassendes Paradigma geben, von dem alle relevanten Forschungsfragen abgeleitet werden können. Zwar vertrat auch Merton (1948a) in seiner Entgegnung auf Parsons die Auffassung, dass die Zeit miteinander rivalisierender, sich in doktrinären Lehren ergehender soziologischer Theorien vorbei sei (siehe Merton 1948a: 164f.), doch im Gegensatz zu Parsons war er keineswegs der Ansicht, dass es künftig die zentrale Aufgabe der Soziologie sei, sich um die Entwicklung einer einheitlichen und verbindlichen "Theorie" zu kümmern, statr sich mit "Theorien" zu beschäftigen. Ganz im Gegenteil vertrat er die Auffassung, dass eine Pluralität von Perspektiven und Paradigmen die positive Konsequenz habe, spezifische Forschungsfragen nicht aufgrund des Zuschnitts eines einzig gültigen Paradigmas per definitionem auszublenden (siehe Merton 1978). Die Behauptung, ein umfassendes theoretisches System könne für die gesamte Spannbreite der für die Disziplin relevanten Probleme einen verbindlichen Interpretationsrahmen bieten, wies Merton deshalb zurück (vgl. Coser 1976). Mertons inhaltliches Argument gegen Parsons zielte hingegen darauf ab, Schwächen eines simplen Funktionalismus aufzudecken. Obwohl er selbst eine im weitesten Sinne funktionale Perspektive beibehält, war Merton der Überzeugung, jenseits funktionalistischer Zwangsläufigkeiten zu Erklärungen sozialer Prozesse gelangen zu können, die nicht apriori als systemerhaltend oder für ein System bestandsgefahrdend zu klassifizieren seien. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt kündigt sich hier Mertons Entwicklung von der funktionalen zur strukturellen Analyse an, denn er verweist nachdrücklich auf die Bedeutung von Dysfunktionen, Konflikten und Widersprüchen, die aus der spezifischen Organisation der sozialen Struktur resultieren (vgl. Merton 1978).
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Jiirgen Macker! Ohne Zweifel sind die Unterschiede beider Positionen gravierend, doch alleine aus diesen konträren Positionen ableiten zu wollen, dass das Verhältnis von Parsons' "grand theory" und Mertons Theorien mittlerer Reichweite nicht anders als ein wechselseitig sich ausschließendes verstanden werden kann, geht sicherlich zu weit (vgl. Ammassari 1990: 49f.). Beide Konzeptionen stehen in einem weitaus komplexeren Verhältnis zueinander, und Mertons Position zu allgemeinen theoretischen Systemen und deren Verhältnis zu den Theorien mittlerer Reichweite ist weitaus differenzierter, als Hedström und Swedberg es darstellen. Freilich, es gibt in der Auseinandersetzung mit Parsons die entschiedene und radikale Zurückweisung des strukturfunktionalistischen Systems, doch wie in allen klassischen Beiträgen zur Soziologie lassen sich neben dieser "radikalen" Kritik auch "gemäßigte" Varianten identifizieren (vgl. Clark 1990: 17), die für Mertons Position viel entscheidender sind. Die radikale Variante weist tatsächlich jeglichen Versuch eines einzelnen Wissenschaftlers zurück, eine umfassende Theorie entwickeln zu können und war explizit gegen Parsons (1937) gerichtet: "We cannot expect any individual to create an architectonic system of theory which provides a complete vade mecum to the solution of sociological problems. Science, even sociological science isn't that simple" (Merton 1948a: 165). Die Entwicklung genereller Begriffssysteme scheint der Weiterentwicklung der Disziplin eher im Wege zu stehen. Merton erwartete von ihnen nur einen geringen Mehrwert und prophezeite ihnen deshalb das Schicksal vieler in Vergessenheit geratener philosophischer Systeme (siehe Merton 1968a: 45, 1948a). Die gemäßigte Kritik eröffnet hingegen erst die Perspektive auf ein realistischeres Verhältnis der Theorien mittlerer Reichweite zu allgemeinen theoretischen Systemen. Dabei können drei Hypothesen unterschieden werden: 1) Die time-lag-Hypothese geht davon aus, dass die Soziologie als junge Disziplin die Fehler älterer wissenschaftlicher Disziplinen wiederholt, wenn sie sich ausschließlich auf die Suche nach umfassenden theoretischen Systemen begibt. Ein solch ehrgeiziger Versuch sei zwar legitimer Ausgangspunkt einer neuen Wissenschaft. Fortschritte, so Merton, seien für die Soziologie jedoch nur zu erwarten, wenn sie sich im Hinblick auf die Wissenschaftlichkeit ihres Theoriebegriffes wie auch ihrer Arbeitsweise an den "alten" Naturwissenschaften orientiere (vgl. Boudon 1991; Merton 1948a: 165). 2) Die Effiktivitiits-Hypothese legt pragmatisch nahe, Ressourcen zu bündeln und das Augenmerk auf die Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite zu richten. Zwar erscheinen Merton beide Strategien - die Konzeption umfassender Begriffssysteme wie auch die Entwicklung vielfältiger Theorien mittlerer Reichweite wichtig und berechtigt, um die knappen, zur Verfügung stehenden Ressourcen
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Aufden Schultern von Robert Merton? sinnvoll zu nutzen, plädiert er jedoch für den Vorrang Letzterer (vgl. Merton 1948a: 166).2 3) Die Arbeitsteilungs-Hypothese3 betont schließlich die gleichberechtigte Arbeit in beiden theoretischen Lagern. Merton geht keineswegs davon aus, dass zwischen Parsons' umfassenden Begriffssystemen und seinem eigenen Ansatz ein unlösbarer Widerspruch bestehe oder die Soziologie sich künftig nur noch ausschließlich mit Theorien mittlerer Reichweite befassen solle. Vielmehr fordert er innerhalb der Soziologie Platz für solch unterschiedliche theoretische Ansätze. Sie sollten ihrer eigenen Logik folgen, was nicht ausschließt, ihre Erkenntnisse und Ergebnisse von Zeit zu Zeit abzugleichen, um Übereinstimmungen und Widersprüche erkennen zu können (vgl. Merton 1957a: 109; Parsons 1950). Dass Hedström und Swedberg diese differenzierte Position nicht zur Kenntnis nehmen und sich lediglich auf Mertons radikale Kritik konzentrieren, ist schwer zu verstehen. In theoriestrategischer Hinsicht ließe sich vermuten, dass die Behauptung, Merton habe jegliche allgemeine Theorie radikal zurückgewiesen, auf eine fehlende allgemeintheoretische, bzw. handlungstheoretische Grundlage der Theorien mittlerer Reichweite hinweisen will. Diese Lücke wurde in der frühen Fassung der Analytischen Soziologie im Anschluss an Coleman zunächst mit RationalChoice gefüllt, der als einziger der Status einer allgemeinen Theorie zugesprochen wurde. 4 Alternativen sozialtheoretischen Ansätzen wurde in diesem Zusammenhang schlicht der Theoriestatus abgesprochen. Sie seien, so Hedström und Swedberg (1998a: 6), zu verstehen als "conceptual or sensitizing schemes, and not as explanatory theory proper. "5 An dieser Einschätzung hat sich ganz offensichtlich auch mit dem Schwenk hin zur DBO-Theorie nichts geändert (vgl. Hedström 2008: 4).
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Diese Hypothesen sind keineswegs mit:eiruulder unvereinbar (vgl. dazu Maekert 2006; Meja/Stehr 1995; Merton 1948a: 166; 1957b: 110; 1968: 51; Parsons 1950: 6f.). Auch Giddens (1990) geht fälschlicherweise davon aus, dass Merton die Theorien mittlerer Reiehweite als einzig mögliche Form theoretischer Arbeit begriff. Van den Berg (1998) macht das in seinem Beitrag zu Hedström/Swedberg (1998) dann explizit: Colemans Theorie wird im Gegensatz zu Habermas (1981a, 1981b), Bourdieu (1970, 1979, 1982, 1987), Giddens (1976, 1979, 1984) und Alexander (1982a, 1982b, 1983a, 1983b, 1984, 1987a, 1987b) als die einzige Theorie bestimmt, die legitimerweise als allgemeine Theorie verstanden werden könne. Im Gegensatz Zu dieser undifferenzierten Behauptung lassen sich im Anschluss an Turner (1987, 1991) Formen theorie- und erklärungsfahiger Strategien unterscheiden. So etwa gerade der Unterschied zwischen "conceptual schernes" im Sinne Parsons' und sogenannten "sensitizing analytical schemes", die in unterschiedlichen s
Jiirgen Macker! 2.2 Konzeptionelle Unschärfen: Mechanismen oder Theorien mittlerer Reichweite Auch die zweite Interpretation des Mertonschen Ansatzes ist problematisch. Es geht Merton nicht darum, dass soziale Mechanismen einen "middle ground" zwischen Gesetzen und Beschreibungen konstituieren, sondern darum, dass Theorien mittlerer Reichweite diesen "Ort" bezeichnen, der dann auch zwischen "grand theory" und Empirizismus liegt. Merton wollte mit den Theorien mittlerer Reichweite zunächst einen eigenständigen Theorietypus entwickeln, der die Schwächen großer Theorie vermeidet und einer spezifischen Erklärungslogik folgt. Soziale Mechanismen hingegen gelten ihm als die "building blocks" der Theorien mittlerer Reichweite und Merton definiert sie als "the social processes having designated consequences for designated parts of the social structure" (Merton 1968a: 43). Sie sind damit der erklärende Kern von Theorien mittlerer Reichweite und nicht selbst schon theoretische Ansätze (vgl. Stinchcombe 1993). Deutlich sollte hier werden, dass Hedströms und Swedbergs Interpretation der Mertonschen Positionen tatsächlich ungenau ist und zu Missverständnissen führen muss. Weder ist seine Position zu allgemeinen theoretischen Ansätzen so einfach, wie es von ihnen dargestellt wird, noch ist in theorietechnischer Hinsicht die Rolle und Position sozialer Mechanismen korrekt bestimmt. Diese Ungenauigkeiten setzen sich in Hedströms ,,Anatomie des Sozialen" fort, und so zeigt sich, dass in der aktuellen Fassung des Projektes der Analytischen Soziologie zwei weitere Vorwürfe gegen Merton erhoben werden: Seine Konzeption der Theorien mittlerer Reichweite sei empirizistisch und eklektizistisch, im Gegensatz dazu vermeide Hedströms eigener Ansatz diese Probleme: "Dieser Typ analytischer Theorie ist abstrakt, realistisch und präzise. Und er versucht, spezifische soziale Phänomene auf der Basis explizit formulierter Handlungs- und Interaktionstheorien zu erklären." (Hedström 2008: 21) Das ist kein geringer Vorwurf an Merton, weshalb der Stichhaltigkeit dieser Behauptung im Folgenden nachgegangen werden muss.
3. Empirizismusvorwurf Wenn es einen Vorwurf gibt, der zu Unrecht gegen Mertons Verständnis der Theorien mittlerer Reichweite erhoben werden kann, dann ist es der des Empirizismus. Nicht minder deutlich wie gegen Parsons' "grand theory" und alternative Vorstellungen dessen, was in der Soziologie als Theorie gelten solle, hat Merton gerade vehement gegen den Empirizismus, den entgegengesetzten Pol der damaligen amerikanischen Soziologie, Stellung bezogen. Ganz im Gegensatz zu Hedströms Behauptung ist ein wechselseitiges Verhältnis von Theorie und Empirie das entscheidende Kennzeichen der Theorien mittlerer Reichweite (vgl. Schrnid 1996). 99
Aufden Schultern von Robert Merton? 3.1 Der Einfluss der Theorie auf die empirische Forschung Bereits in "Sociological Theory" (1945) profilierte Merton seinen Theoriebegriff und sprach in diesem Zusammenhang einer Methodologie, allgemeinen soziologischen Orientierungen, der Analyse soziologischer Begriffe, soziologischen post factum Interpretationen sowie empirischen Verallgemeinerungen ab, den Theoriestatus für sich reklamieren zu können. 6 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist hier lediglich Mertons Abgrenzung zu einfachen empirischen Verallgemeinerungen. Diese zielen darauf ab, aus der beobachteten Regelmäßigkeit des Zusammenhanges zwischen zwei oder mehreren Variablen verallgemeinernde Behauptungen abzuleiten. Für Merton stellt dieses tatsächlich empirizistische Vorgehen freilich noch keine theoretische Arbeit dar. Diese beginnt vielmehr erst dann, wenn derartige Korrelationen mit einem System miteinander verbundener theoretischer Behauptungen verknüpft werden. Und hier kommt im Mertonschen Sinne soziologische Theorie in Form eines zweiten Typus soziologischer Verallgemeinerung ins Spiel, die sich von empirischen Verallgemeinerungen insofern unterscheidet, als sie von einer Theorie ableitbare Aussagen über spezifische Zusammenhänge macht. Dieses Theorieverständnis, den Zusammenhang von empirischen Verallgemeinerungen und theoretischen Annahmen, erläutert Merton beispielhaft an den von Durkheim im "Selbstmord" (1987) beobachteten Regelmäßigkeiten unterschiedlicher Suizidraten in katholischen und protestantischen Gemeinschaften. An fünf Punkten kann der Einfluss von Theorie auf empirische Forschung verdeutlicht werden: Erstens resultiert theoretische Relevanz nicht unmittelbar aus der Verallgemeinerung empirischer Fakten. Sie erschließt sich vielmehr erst dann, wenn diese Verallgemeinerungen auf einer abstrakteren Ebene erfolgen, wie etwa durch Annahmen über den Zusammenhang von Katholizismus, sozialer Kohäsion, gemilderten Ängsten und Selbstmordraten. Zweitens ermöglicht diese theoretische Relevanz der gefundenen empirischen Regelmäßigkeiten theoretische und empirische Fortschritte, indem die empirischen Ergebnisse theoretische Annahmen, von denen sie abgeleitet wurden, bestätigen oder aber ihre Überprüfung erforderlich machen. Drittens eröffnet erst die theoretische Reformulierung und Begründung der empirischen Ergebnisse, dass durch die Überprüfung der Implikationen der theoretischen Annahmen über das Feld suizidalen Verhaltens hinaus weitere Bereiche menschlichen Verhaltens, wie etwa die Auswirkungen von Gruppenkohäsion, für die empirische Forschung Bedeutung erhalten. Viertens eröffnet die Angabe von Gründen für empirische Regelmäßigkeiten der Soziologie darüber hinaus die Möglichkeit, Vorhersagen über wahrscheinlich eintretende Entwicklungen zu machen.
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Diese Abgrenzungen hat auch Patsons vorgenommen. Auf das unterschiedliche Verständnis etwa empirischer Generalisierungen bei Merton und Parsons weist Ammassati (1990) bin.
Jiirgen Mackert Damit schließlich die Theorie zu eindeutigen Aussagen kommen kann, muss sie ftinftens ausreichend präzise sein. Zwei Aspekte sind für die Überprüfbarkeit einer Theorie entscheidend: zum einen die Präzision der Schlussfolgerungen, die aus theoretischen Annahmen gezogen werden können; zum anderen die interne Kohärenz der Theorie, die alternative Hypothesen oder theoretische Annahmen ausschließt. 7 Bereits diese knappe Darstellung des Einflusses von Theorie auf empirische Forschung legt nahe, dass Mertons Konzeption der Theorien mittlerer Reichweite mitnichten ein empirizistisches Verständnis zum Ausdruck bringt. Ein Blick auf den Einfluss, den Merton der empirischen Forschung auf die Theorie zuschreibt, bestätigt diese Einschätzung.
3.2 Der Einfluss empirischer Forschung auf die Theorie Der empirischen Forschung schreibt Merton zentrale Bedeutung für die Entwicklung von Theorie zu. In "The Bearing of Empirical Research upon the Development of Social Theory" (Merton 1948b) macht er deutlich, dass empirische Forschung nicht schlicht dazu da sei, Hypothesen zu "testen" oder zu "veriftzieren". Ihre Aufgabe, so die These, gehe vielmehr weit über eine derart passive Rolle hinaus: "Research plays an active role: it performs at least four major functions which help shape the development of theory. It initiates, it reformulates, it deJlects and clariftes theory" (Merton 1948b: 506). Die erste Funktion empirischer Forschung beruht darin, neue Hypothesen zu generieren. Merton (1957a: 104) beschreibt sie mit dem Begriff des serendipiry patteroß "Serendipity refers to the fairly common experience of observing an unanticipated, anomalous and strategie datum which becomes the occasion for developing a new theory or for extending an existing theory." Diese speziftsche Funktion umfasst drei verschiedene Effekte empirischer Forschung: Sie kann unerwartete Resultate zeitigen, die als "Nebenprodukt" zu neuen theoretischen Überlegungen anregen; Beobachtungen können ferner ungewöhnlich sein und deshalb weder mit theoretischen Annahmen noch mit anderen Beobachtungen übereinstimmen. Erst im Zuge weiterer Untersuchungen werden diese ungewöhnlichen Beobachtungen sinnvoll interpretierbar, doch dazu bedarf es der Erweiterung der zugrunde liegenden Theorie oder eines anderen theoretischen Ansatzes; schließlich können unerwartete Ergebnisse empirischer Forschung strategisch wichtig sein, d.h., durch sie kann es zu ei-
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Merton sah freilich die Gefahr, die mit diesen beiden Aspekten einhergeht, denn sowohl voreiliges Beharren auf Präzision wie auch auf übertriebene Kohärenz können für den Forschungsprozess kontra-produktiv werden, indem sie neue Hypothesen verhindern oder alternative Sichtweisen von vorneherein ausschließen. VgL zur Idee der "serendipity" Maniscalco (1998); Merton/Barber (2004).
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Aufden Schultern von Robert Merton? ner grundlegenden theoretischen Reflexion kommen. Alle drei Fonnen des serendipity pattern üben damit Druck auf den Forscher aus, seiner Untersuchung eine neue Richtung zu geben, die zu einer Ausweitung des theoretischen Rahmens führt (siehe Merton 1957a: 507). Eine Erweiterung des Begriffsrystems, die zweite Funktion empirischer Forschung, wird durch die wiederholte Beobachtung von zuvor unbeachtet oder vernachlässigt gebliebenen Fakten erforderlich. Kann das angewandte Begriffssystem diese Fakten nicht erfassen, so führen die empirischen Ergebnisse notwendig zu seiner Reformulierung. Eine dritte Funktion besteht in der Prä~sie rung des theoretischen Interesses durch neue Forschungsmethoden. Hier geht es nicht um einen veränderten theoretischen Zugang aufgrund empirischer Ergebnisse, sondern darum, dass sich das Forschungsinteresse aufgrund neuer Forschungsmethoden verschieben kann. Daten, die erst durch diese neuen Methoden erhoben werden können, ennöglichen dann die Bildung neuer Hypothesen und deren Überprüfung. Diese Funktion empirischer Forschung ist auch abhängig von veränderten historischen Situationen oder ideologischen Konstellationen sowie von wirtschaftlichen Interessen. Schließlich weist Merton der Präifsierung theoretischer Begriffe einen hohen Stellenwert zu, da deren Unschärfe häufig negative Konsequenzen für die empirische Forschung zeitigt. Allerdings geht er davon aus, dass ein methodologischer Empirizismus, der sich mit dem Design einer Untersuchung, nicht aber mit den entscheidenden Variablen beschäftigt, dazu führt, dass zwischen Variablen zwar Beziehungen gefunden werden, die Variablen selbst aber völlig unklar bleiben. Begriffsklärungen sind häufig Ergebnis empirischer Forschung, die auf diese Begriffe und eindeutige Definitionen von Variablen für den Forschungsprozess angewiesen ist. Dies stellt für Merton ein zentrales Erfordernis dar, "easily and unwittingly not met in the kind of discursive exposition which is often miscalled ,sociological theory'" (Merton 1957a: 514).
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Jiirgen Macker! Abbildung 1: Die Effekte von Empirie auf Theorie
Empirie
G~;s:uet
'--_----:-=--
Wiederholte Beobachtungen
Theorie -
unerwartet (Nebenprodukt)
- ungewöhnlich ----J1 -
Ausweitung des
-----7)
theoretischen Ralunens
strategisch
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- - - - - - - - - - - - - - - 7 ) '--__B_egrif:....-·li_ss-,-ys_tem_s_ _ 1
Neue Forschungsmethoden
)
Begriffliche Unschärfen
)
Priizisierung des
theoretischen Interesses
Priizisierung theoretischer Begriffe
Diese Analyse der unterschiedlichsten Effekte empirischer Forschung auf soziologische Theorie zeigt, dass es hier nicht schlicht um empirische Verallgemeinerungen geht, sondern dass Merton unter soziologischer Theorie logisch miteinander verbundene Behauptungen verstanden wissen will, von denen empirische Regelmäßigkeiten abgeleitet werden können (siehe Merton 1968a: 39). Merton führt in seiner Konzeption der Theorien mittlerer Reichweite damit theoretische und empirische Interessen zusammen (vgl. Blau 1990: 148), wodurch unmissverständlich deutlich wird, dass seine wissenschaftstheoretische Strategie eine "sehr viel engere Beziehung zur Sozialforschung und eine weit positivere Einschätzung empirischer Forschung für die Entwicklung soziologischer Theorien und für die Herausbildung soziologischer Begriffe" (Meja/Stehr 1995: XII) impliziert, als dies noch in Parsons' "grand theory" der Fall war. Es sollte deutlich geworden sein, dass Mertons Vorgehen mitnichten empirizistisch genannt werden kann. Ganz im Gegenteil1ehnte er einen theoriefreien Empirizismus strikt ab und forderte, dass empirische Forschung immer theoriegeleitet sein müsse. Das entscheidende Moment der Bestimmung von Theorie ist für Merton ein spezifisch wechselseitiges Verhältnis von Theorie und Empirie. Das mag für eine Analytische Soziologie zu nah an den realen Dingen sein - empirizistisch ist eine solche Konzeption aber nicht. 103
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4. Eklektizismusvo1"WU1'f So wenig haltbar wie der Vorwurf des Empirizismus ist der des Eklektizismus, zumal er von Hedström auch gar nicht begründet wird. Unklar bleibt deshalb, ob Hedström etwa moniert, dass sich bei Merton - dem "eminent europäischen Denker"9 - Spuren der Gründerväter Marx, Weber, Durkheim und Simmel finden und für sein theoretisches Verständnis eine entscheidende Rolle spielen. Daran scheint mir nun aber nichts problematisch zu sein; nicht weniger gründet Hedströms DBO-Theorie ganz offensichtlich auf den handlungstheoretischen Ansätzen Colemans, Elsters, Boudons, Schellings und nicht zuletzt auch auf dem Werk Mertons. Es dürfte keine Frage sein, dass Soziologen heute alle auf den Schultern von Riesen stehen, die Frage ist doch nur, was auf diesen Schultern geschieht. Für Merton jedenfalls lässt sich zeigen, dass es ihm tatsächlich gelungen ist, mit seinem strukturellen Programm eine grundlegende Neuorientierung der theoretischen Soziologie in Gang zu setzen und dass er dabei einen eigenständigen und keineswegs eklektizistischen Beitrag zur soziologischen Theorie geleistet hat. Das zeigt sich sowohl an der kritisierten Konzeption der Theorien mittlerer Reichweite wie auch an dem mit ihnen verbunden Erklärungsprogramm.
4.1 Theorien mitderer Reichweite Theorien mittlerer Reichweite liegen zwischen den Extremen des Empirizismus und in kritischer Distanz zu allgemeinen theoretischen Systemen. Merton überwindet mit ihnen sowohl die Schwächen beider Traditionen als auch deren wechselseitige Ignoranz: "Merton situated himself at the crossroad of a discipline of almost mutually oblivious approaches and thereby managed to come as near as anyone to directing traffic" (Collins 1981: 298). Und auch Blau (1990: 153) hat auf die Bedeutung der Theorien mittlerer Reichweite hingewiesen. Ihm gelten sie als "a needed step for moving sociology from speculative social thought to a scientific discipline".t° Entscheidend aber ist, dass Merton mit diesem neuen Theorietypus auf eine spezifische Art von Erklärung abzielte, für die ein naturwissenschaftliches Theorieverständnis Pate stand und das Merton (1948a: 165) als Modell für die Sozialwissenschaften begriff. Boudon hat diesen Zusammenhang von Wissenschaftlichkeit einer Theorie und ihrer Erklärungsleistung hervorgehoben: "In other words: MRT (middle-range theory, J.M.) describes effectively what other sciences call simply Diese Bemerkung macht Coset im Gesptäch mit Nisbet in Coset/Nisbet (1975). Vgl. auch Schmid (1998). 10 Vgl. dazu AlexandetS (1987b: 112) Hinweis, dass PatSons der Ansicht war, gerade mit seinem umfassenden theoretischen Gebäude zu Erklärungen beizutragen.
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Jiirgen Macker! ,theory'. As we all know from our studies in the philosophy and history of the natural sciences, a ,scientific theory' is a set of statements that organize a set of hypotheses and relate them to segregated observations. If a ,theory' is valid, it ,explains' and in other words ,consolidates' and federates ernpirical regularities which on their side would otherwise appear segregated. This amounts also to saying that mere empiricism is oflittle worth" (Boudon 1991: 520, Berv. J.M.).l1 Darauf zielt bereits Mertons Definition. Theorien mittlerer Reichweite gelten ihm als "theories that lie between the minor but necessary working hypotheses that evolve in abundance during day-ta-day research and the all-inclusive systematic efforts to develop a unified theory that will explain all the observed uniformities of social behavior, social organization and social change" (Merton 1968a: 39, Berv. J.M.). Jenseits abstrakter Begriffssysteme führt der Anspruch, Erklärungen für beobachtete Regelmäßigkeiten sozialen Verhaltens, sozialer Organisation und sozialen Wandels bieten zu können, zu einer einfachen Struktur: "Such theories of the middle range consist of sets of relatively simple ideas, which link together a limited number of facts about the structure and functions of social formations and suggest further observations" (Merton 1957a: 108).1 2 Aus dieser Konzeption lassen sich drei zentrale Kennzeichen von Theorien mittlerer Reichweite bestimmen: Erstens ist es ihre zentrale Aufgabe, empirische Forschung anzuleiten. Forschungsstrategisch bedeutet dies zweitens, dass ihre theoretisch abstrakten Annahmen nahe genug an beobachtbaren Daten bleiben, um in empirisch überprüfbare Aussagen gefasst werden zu können. Drittens schließlich bezieht sich ihr Geltungsbereich auf die Behandlung spezifischer Aspekte der empirischen Realität. Insofern es Theorien mittlerer Reichweite gelingt, diese Forderungen einzuholen, ist es ihr eigentliches Ziel, genuin soziologische Erklärungen sozialer Prozesse zu liefern. Erklärung resultiert dabei aus der Wirkungsweise soifaler Mechanismen, die Merton als soziale Prozesse begreift und die das entscheidende Element dieses Theorietypus und Kern des erklärenden Zugriffs sind (siehe Merton 1968a: 43). Angesichts dieser Aspekte lässt sich von einem eigenständigen Theorietypus sprechen. Geklärt werden muss nun, wie das ihm zugrunde liegende Erklärungsprogramm zu verstehen ist.
11 Nicht selten ist bemängelt worden, dass unklar bleibt, was Menon mit den Theorien mittlerer Reichweite gemeint hat. So bemerkte erwa auch Paul Lazarsfeld (zit. nach Boudon 1991: 519): ,,[It's] an important notion but I don't know how to define it". 12 Hilben (1990: 179) hat darauf hingewiesen, dass Merton mit seinem Zugang "hinter" die beobachtete soziale Ordnung schauen wollte: "His concepts were nevertheless intended to be general and struetural through their Iocation in the wider normative order. They were, ultimately, to be preeise, to designate formal struetural causes that lie behind the observed soeial order."
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Aufden Schultern von Robert Merton?
5. Das Erklämngsprogramm Es ist wiederholt bemerkt worden, dass Mertons Interesse sich im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere von der funktionalen hin zur strukturellen Analyse und zur allgemeinen Theorie verschoben hat (siehe Blau 1975, 1990; erothers 1987; Stinchcombe 1975). Insbesondere Blau (1975) betont die Bedeutung struktureller Zwänge als entscheidendes Kennzeichen des Mertonschen theoretischen Programms. Schmid (1998: 72) folgt dieser Einschätzung, erweitert zugleich aber diese Perspektive, indem er Merton als "Theoretiker struktureller Selektion auf handlungstheoretischer Basis" begreift. Interessant sind hier angesichts der von Hedström vorgestellten DBO-Theorie zunächst die entscheidenden Faktoren, mit deren Hilfe Merton das Handeln sozialer Akteure kennzeichnet: "Erstens wird Handeln als tfelgerichtet oder absichtsvoll charakterisiert, sodann als Wahl- oder Entscheidungshandeln, d.h. als Folge eines Entscheidungsprozesses, drittens verläuft es (wenigstens bisweilen in Grenzen) zweckvoll und rational und letztlich gilt es als motiviert" (Schmid 1998: 72.). Damit zielt Merton aber nicht auf ein "voluntaristic image of action" (vgl. Sztompka 1986: 228f.); entscheidend für ein Verständnis der im Kontext von Theorien mittlerer Reichweite spezifischen Form von Erklärung ist vielmehr das Verhältnis dieses Handelns zu seinen strukturellen Bedingungen (vgl. Merton 1957b). Die objektive Handlungssituation, in der sich ein Akteur befindet, besteht aus der kulturellen Struktur, cLh. den verbindlichen Zielen und Normen,13 sowie der sozialen Struktur, d.h. den zwischen Personen bestehenden faktischen Interaktionsbeziehungen (vgl. Merton 1968b). Die so bestimmte objektive Handlungssituation hat als "OpportunitätsStruktur"14 für das Handeln sozialer Akteure spezifische Konsequenzen: "Der Akteur handelt zwar angesichts einer vorgegebenen Handlungssituation, kann im Rahmen der hierbei auftretenden Beschränkungen aber durchaus auf sie einwirken, indem sein Handeln Effekte generiert, die die Ausgangslage von Anschlusshandlungen verändern. In gleicher Weise und gleichzeitig verändert er auch die Rahmenbedingungen aller übrigen Akteure, die sich grundsätzlich in eben derselben Lage befinden wie er selbst: nämlich in Rücksicht auf eine vorliegende und im Augenblick nicht veränderbare ,opportunity structure' handeln zu müssen. Zum anderen wird genau dadurch verständlich, wie es überhaupt möglich ist, dass die Handlungen anderer Akteure den Möglichkeitsspielraum eines spezifischen Akteurs einschränken. Sie tun dies, indem die Folgen 13 Schmid macht deutlich, dass Merton davon ausgeht, dass soziale Akteure sich entscheiden müssen, "ob und in welchem Ausmaß sie die vorgegebenen Ziele verfolgen oder davon ablassen wollen" (Schmid 1998: 7'S). 14 VgI. zum Konzept der "opportunity strucrure" Merton (1995) und Blau (1994). Ferner allgemein zum Strukturverständnis Merton (1976,1978).
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Jiirgen Macker! bestimmter Handlungen die Situationsbedingungen bestimmen, unter denen Ziele überhaupt erst verfolgt werden können" (Schmid 1998: 76). Dieses "strukturelle Erklärungsprogramm" stellt den Kern des theoretischen Projektes von Merton dar und es ist diese strukturelle Fragestellung, die zur Untersuchung ansteht und die als genuine theoretische Leistung Mertons hervorgehoben werden muss (vgL Schmid 1998: 77). Darüber hinaus leistet Merton damit aber auch einen ganz grundlegenden Beitrag zur allgemeinen Theorie, denn dem eben skizzierten Erklärungsprogramm liegt, ganz im Gegensatz zu Hedströms und Swedbergs Einschätzung, ein klares eigenständiges theoretisches Programm zugrunde: ,,(His) greatest contribution [...] has been to advance general theory to e:Kplain sociallife in terms of structural constraints" (Blau 1990: 141). Die von der Opportunitätsstruktur ausgehenden Zwänge, mithin die Einschränkung der den Akteuren zur Verfügung stehenden Optionen, wird bei Merton deshalb theoretisch fassbar, weil er in seinem Handlungsmodell mit der Idee der "unanticipated consequences of purposive social action" (Merton 1936) Handlungsfolgen und Handlungskonsequenzen berücksichtigt (vgl. Boudon 1990; Elster 1990; Merton 1957a; Schmid 1998: 75).
6. Fazit Das gemeinsame Interesse und Ziel der beiden hier diskutierten Ansätze ist unübersehbar, wenngleich sie sich, wenig überraschend, gegen ganz unterschiedliche theoretische Lager positionieren müssen. Überraschend ist dann aber doch die Vehemenz, mit der Hedström glaubt, sich auch gegenüber Merton abgrenzen zu müssen. Mit der Behauptung, Merton habe jegliche Art allgemeiner Theorie abgelehnt und seine Theorien mittlerer Reichweite seien empirizistisch und eklektizistisch, wird man Mertons Leistung, die Soziologie als erklärende Wissenschaft zu etablieren, jedenfalls nicht gerecht, und Hedström gewinnt damit auch nichts für die Profilierung des eigenen Ansatzes. Ich möchte abschließend in einer knappen vergleichenden Perspektive auf zwei entscheidende Probleme hinweisen. Zunächst komme ich noch einmal auf die Bedeutung der Opportunitäten bzw. der Opportunitätsstrukturen des Handelns sozialer Akteure zurück und richte den Blick dann auf das Problem der Analyse und Erklärung konfliktbeladener Prozesse. Im Anschluss an eine allgemeine Kritik an theoretischen Ansätzen, die die Opportunitäten von Akteuren zwar berücksichtigten, sie dort aber nicht genügend theoretisiert würden, betont Hedström (2008: 84) für seinen eigenen Ansatz: "wir interessieren uns hier für opportunitätsvermittelte Interaktionen und dabei ist das dynamische Zusammenspiel zwischen den Handlungen Einiger und den Möglich107
Aufden Schultern von Robert Merton? keiten Anderer ein zentraler Gegenstand." Als Ideal einer "opportunitätsbasierten Erklärung" gilt ihm Whites' (1970) "Chains rif Opportunitief'; das Beispiel, das für "opportunitätsbasierten Interaktion" herangezogen wird, ist dann Granovetters (1974) Analyse, wie Arbeitslose über Freunde und Bekannte von freien Stellen erfahren und so ihre Chancen, einen]ob zu finden, wachsen. Das Problem allerdings ist, dass Hedström hier zwar auf Beispiele verweist, er zur "opportunitätsbasierten Erklärung" aber praktisch nichts Sagt.15 Ich denke, es ist ein Problem des Ansatzes, dass Opportunitäten hier immer nur als Möglichkeiten erscheinen, nie als Zwänge des Handelns oder als blockierte Wege, die für Akteure in unterschiedlichen Positionen in der Sozialstruktur ganz verschieden sind. Darüber hinaus ist fraglich, ob sich Hedströms Überzeugung, dass die spezifischen Randbedingungen des Handelns den Akteuren tatsächlich bewusst sind, durchhalten lässt: "Obwohl Opportunitäten unabhängig von den Überzeugungen eines Akteurs existieren, müssen sie dem Akteur bekannt sein und infolgedessen kann man sagen, dass Opportunitäten die Handlungen des Akteurs vermittelt über dessen Überzeugungen beeinflussen." (Hedström 2008: 62) Ist das tatsächlich so? Wäre es nicht realistischer davon auszugehen, dass die Randbedingungen des Handelns sozialer Akteure diesen eben nicht immer vollständig bewusst sind? Das würden zumindest das Mertonsche Handlungsmodell und der strukturelle Erklämngsansatz nahe legen. Im Anschluss an die von Ullmann-Margalit (1977) entwickelte Typologie von Handlungsproblemen weist Schmid (in diesem Band) auf ein weiteres Problem hin. Er zeigt, dass Hedström bei der Frage, wie Mechanismen wirken, eigentlich ausschließlich Koordinationsprobleme diskutiert: "Es muss aber auffallen, dass alle diese Modelliemngen nur einen Problem!JP behandeln: den der Koordination. In allen Fällen besteht das Handlungsproblem der Akteure, das sie mit Hilfe bestimmter sozialer Interaktionsmechanismen lösen können oder wollen, darin, ihr Handeln so aufeinander abzustimmen, dass sie es vermeiden können, eine Minderheitsposition beziehen zu müssen, dass sie verhindern, in ihrem Milieu durch das Vertreten auffälliger Überzeugungen ,anzuecken' oder der letzte bei der Übernahme einer Ansicht zu sein, oder dass sie sich mit ihrem ,Unglück' abfinden, weil sie in ihrem Milieu eine hinreichende Unterstützung ihrer Meinung erfahren, das sie eh nichts an ihrer Lage ändern können etc. Interaktionsregime aber, mittels derer Akteure nicht nur Koordinations- sondern auch konfliktbeladene Verteilungsprobleme lösen müssen, [...] tauchen nicht auf, weshalb der daraus resultierende Mangel nicht bemerkt und in der Folge auch nicht als problematisch eingestuft wird" (Schmid in diesem Band: 49).
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VgL Schmid und Birkelund in diesem Band.
Jiirgen Macker! Beide Probleme scheinen mir eng miteinander zusammenzuhängen, und wenn unklar bleibt, wie die Analytische Soziologie mit diesen Problemen umgehen will, so ist es hilfreich, sich Mertons Erklärungsangebot für eine derartige Situation anzuschauen: Am Beispiel der Role-Set-Theorie wird nur zu deutlich, wie genau er sich mit den aus gegebenen Opportunitätsstrukturen resultierenden Konflikten auseinandergesetzt hat und gerade für diese konfliktbeladenen Handlungsanforderungen nach Erklärungen sucht: "Thus he analyzes how role-sets may engender cross pressures, because role partners differently located in the status structure have conflicting role expectations; the problems ego differences in power among role partners create; and the various mechanisms that help individuals cope with these conflicts and problems. Examples of such mechanisms are: greater involvement in some role relations than in others; insulating role performance in one role from observability by other role partners; getting support from others in the same shoes" (Blau 1990: 147f.). Fasst man zusammen, so wird deutlich, dass die Probleme, die Hedström und Merton für die Entwicklung der Soziologie hin zu einer reifen Wissenschaft sehen, eigentlich dieselben sind. Mit dem Entwurf einer Analytischen Soziologie erweist Hedström der Mertonschen analytischen Soziologie zwar Reverenz, er vermeidet aber tunlichst, in zu große Nähe zu ihr zu geraten oder sich gar auf Mertons Schultern zu stellen. Ich habe versucht zu zeigen, dass die Abgrenzung von Merton und die Kritiken, die an seinem Ansatz entwickelt werden, nicht überzeugen können. Hinzu kommt, dass Hedström, nachdem er Rational-Choice als Handlungsgrundlage zugunsten der DBO-Theorie aufgegeben hat, sehr nah an Mertons handlungstheoretische Grundlage heranrückt. Der entscheidende Unterschied scheint mir dann aber darin zu liegen, dass Merton sich immer stärker zur strukturellen Analyse entwickelt hat, freilich ohne ein überzeugendes Handlungsmodell aufzugeben. Die Bedeutung der Zwänge, die Opportunitätsstrukturen dem Handeln der Akteure auferlegen, sowie die Bedeutung sozialer Mechanismen, die für die Überwindung von Konflikten und Problemen, die aus den strukturellen Bedingungen resultieren, entscheidend sind, sind nach wie vor relevante Elemente eines sehr überzeugenden Erklärungsprogramms. Gegen dieses Programm muss sich die Analytische Soziologie künftig profilieren, nicht aber gegen eine angeblich empirizistische und eklektizistische Konzeption von Theorien mittlerer Reichweite.
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Christofer EdJing / Jens Rydgren
Auf der Suche nach Identität Analytische Soziologie und die Makro-Mikro-Verbindung Wir bieten in diesem Beitrag eine kritische Betrachtung der Analytischen Soziologie, wie sie von Peter Hedström in seinem Buch "Dissecting the soaat' (2005, dt. Anatomie des So'{jalen, 2008) vorgestellt hat. Es ist für uns von größter Wichtigkeit, schon an dieser Stelle zu bemerken, dass wir eine definitiv positive Einstellung gegenüber der Analytischen Soziologie haben. Wir beide sind in den 1990er Jahren unter Hedströms Betreuung an der Stockholmer Universität ausgebildet worden. In unserer eigenen Forschungstätigkeit streben wir ebenfalls danach, seinen Ansatz weiter zu verfolgen. Deswegen entsteht unsere Kritik größtenteils aus dem Wunsch heraus, das Programm weiter zu stärken und sein bereits großes Potential noch besser nutzbar zu machen. Mit anderen Worten: Wir sehen es als erwiesen an, dass der von Hedström (2005) skizzierte Ansatz grundsätzlich der richtige Weg ist, ein signifIkantes Verständnis der sozialen Weh zu erzielen. Unsere Kritik zielt zuerst einmal auf die mangelnde Aufmerksamkeit, die der Makro-Mikro-Verbindung geschenkt wurde und zweitens auf das Beharren auf Intentionalität als Triebfeder sozialen Handelns, so wie dies in der Anatomie des So'{jalen ausgearbeitet worden ist. Im Folgenden fahren wir mit einer ersten Bewertung der Rolle sozialer Mechanismen in der Analytischen Soziologie und ihren Konsequenzen für eine zufriedenstellende Erklärung fort. Wie begreifen dies als die erste Grundlage der Analytischen Soziologie. Diese setzen wir dann in Bezug zur zweiten Grundlage der Analytischen Soziologie, nämlich Colemans methodologischen Makro-zu-Mikro-zu-Makro-Ansatz fort. Unsere Schlussfolgerung aus dieser Diskussion ist, dass die geringe Gewichtung, die der Makro-zu-Mikro-Verbindung zugestanden wird sowie der auf die Intentionalität des Handelns eingeschränkte Fokus in Anatomie des So'{jalen, den Geltungsbereich der Analytischen Soziologie stark beschneidet. Im zweiten Teil unserer Arbeit führen wir aus, dass die Analytische Soziologie sich mit den Makro-Mikro-Verbindungen ebenso befassen kann und sollte wie mit motivierenden Faktoren für soziale Handlungen, die über die "einfache" Intentionalität hinausgehen. Wir sind davon überzeugt, dass diese Erweiterung sich in Hedströms allgemeine Vorstellung von Analytischer Soziologie perfekt einpassen lässt.
115 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Aufder Sliehe nach Identität
1. Grundlage I - Soziale Mechanismen In Anatomie des So'.(jalen führt Hedström die starke Argumentation zugunsten von mechanismenbasierten Erklärungen fort, die so erfolgreich mit Social meehanisms (Hedström/Swedberg 1998) ihren Anfang genommen hat, indem überzeugende Begründungen dafür vorgebracht wurden, warum gesetzesmäßige und statistisch basierte Erklärungen für die Klärung dessen, was gerade in der Gesellschaft vor sich geht, unzureichend sind. Wie schon anfangs im Buch festgestellt wird, bilden soziale Mechanismen die Grundlage für eine soziologische Erklärung und somit auch das Herzstück der Analytischen Soziologie. Es ist uns wichtig darauf hinzuweisen, dass wir völlig von den von Hedström (2005) und Anderen (siehe Hedström/Swedberg 1998) vorgebrachten Argumenten für die Überlegenheit mechanismenbasierter Erklärung überzeugt sind. So basiert die Argumentation, die wir in diesem Aufsatz vorantreiben wollen, exakt auf dieser Überzeugung und dem, was wir als potentielle Widersprüchlichkeit zwischen der Vorrangstellung der sozialen Mechanismen und einigen anderen Bausteinen Analytischer Soziologie empfinden. Und selbst wenn dies keinen Widerspruch darstellt, so nehmen wir es doch mindestens als eine unnötige und stark begrenzende Einschränkung wahr. Um unserer Argumentation einen Weg zu ebnen, möchten wir einige wenige Sätze dazu nutzen, die konzeptuelle Essenz von sozialen Mechanismen auf den Punkt zu bringen. Um es vorwegzunehmen: ein "sozialer Mechanismus, so wie er hier definiert wird, beschreibt eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die so organisiert sind, dass sie regelmäßig einen besonderen Ereignistyp erzeugen" (Hedström 2008: 42) Genauso wichtig ist jedoch, wie Hedström (2008: 29, Fn. 6) in einer interessanten Fußnote erklärt, dass soziale Mechanismen an sich keine theoretischen Konstrukte sind. Tatsächlich sind sie reale Gegebenheiten und beziehen sich auf "die tatsächlichen empirischen Entitäten und Aktivitäten, die Phänomene erzeugen t~ Unserer Ansicht nach zieht diese starke Konzentration auf Mechanismen wenigstens drei wichtige Konsequenzen für die Soziologie nach sich. Erstens impliziert die Konzentration auf soziale Mechanismen, dass es sich bei der Analytischen Soziologie im Ganzen nur um die Öffnung der Black-Box und die Aufdeckung der Logik des Sozialen dreht, die Anlass zu weiteren "Warum?"-Fragen geben (siehe Hedström 2008: 44). Was die Frage angeht, welche die "endgültige" Box ist, die geöffnet werden muss, halten wir die Antwort Hedströms (2008: 44ff.) für einwandfrei - nämlich die, dass die soziologische Tradition selbst die Randbedingungen vorgeben muss. Es stand von Anfang an fest, dass das soziologisch kleinste relevante Element der soziale Akteur ist, d.h. die Entitäten, die das Tun bestimmen. Die soziologische Debatte hat sich immer - und tut dies immer noch - darauf konzentriert, ob dies 116
Christofer Edling / Jens Rydgren eigentlich zu sehr ins Detail geht oder nicht. Es hat niemals zur Debatte gestanden, ob dies vielleicht zu einfach ist oder nicht. Und sogar heute, wo wir eine stärkere Einflussnahme der Kognitionswissenschaft und der Genetik auf die gegenwärtige Soziologie erlauben, zeigen sich keine Tendenzen oder Argumente zugunsten einer Neudeftnition dieser unteren Begrenzung (siehe z.B. Freese 2008). Zweitens bedeutet dies, dass sich die Analytische Soziologie hauptsächlich mit dem Empirischen befasst. In dieser Hinsicht ist Analytische Soziologie keine Theorie, genauso wenig wie Mechanismen Theorien sind. Im Gegenteil, die Analytische Soziologie gibt die Methodologie vor, die uns für die Konstruktion unserer Theorien (und Modelle, ohne den verschwommenen Unterschied zwischen diesen Theorien und Modellen weiter verfolgen zu wollen) empfohlen wird, wenn wir in der Lage sein wollen, die Black-Boxes zu öffnen. Die Analytische Soziologie beruht auf der Annahme, dass die reale Welt existiert und darüber hinaus aus empirischen Fakten besteht, die soziale Mechanismen genannt werden. Indessen gibt es noch eine dritte Implikation für die Analytische Soziologie, die in Anatomie des SoifaJen nicht genauso deutlich und elegant erklärt wird, nämlich dass es bei der Analytischen Soziologie darum geht, was Weber (1978: 4) "Sinnverstehen" nannte, d.h., "die sinnhaft orientierten Handlungen deutend zu verstehen [...]. ,Soziales' Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist." Hierauf wird sich als Argument für handlungsbasierte Mechanismen bezogen, als würden diese "ein tieferes und empathischeres Verstehen des kausalen Prozesses" (Hedström 2008: 47) bereitstellen. Dennoch, und das ist der "Knackpunkt", von dem aus sich unsere weitere Argumentation entfalten wird, ist dies eine Aussage, in der die Idee der Intentionalität zum ersten Mal in die Diskussion eingebracht wird. Der ganze Satz lautet: "Sich auf Handlungen zu konzentrieren und diese in intentionalen Begriffen zu erklären, stellt ein tieferes und empathischeres Verstehen des kausalen Prozesses bereit als andere, nicht handlungsbasierte Erklärungen." Während also handlungsbasierte soziale Mechanismen, so wie sie hier dargestellt werden, die fundamentale Bedeutung von deutendem Verstehen anerkennen, scheint dieser Gedanke viel zu schnell beiseite gewischt worden zu sein. Nun sind wir weder die Richtigen, noch ist dies der passende Ort, bei den Feinheiten von Weber zu verweilen - es soll uns also genügen zu erwähnen, dass die Betonung, die Weber auf die subjektive Bedeutung legt, im Zuge der Konzentration auf Intentionalität, die für die Anatomie des SoifaJen charakteristisch ist, offenbar verloren geht. Im Rest dieses Aufsatzes konzentrieren wir uns auf das, was wir für eine ausgesprochen problematische Konsequenz aus der exklusiven Konzentration auf intentionale Handlungen halten. Wir halten diesen Standpunkt angesichts der zugrundeliegenden DBO-Theorie - die individuelle Handlungen durch die Bedürfnisse, 117
Aufder Sliehe nach Identität überzeugungen und ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einer Person erklärt - für einigermaßen befremdlich. Dennoch, wie von Elster (1983: 70) so treffend bemerkt wurde, "müssten die Überzeugungen und Bedürfnisse selbst erst einmal erklärt werden [.. .]. Eine intentionale Erklärung ist von einer Ursachenanalyse weit entfernt". Außerdem sind intentionale Erklärungen vermutlich nicht besonders effektiv, wenn es darum geht, Überzeugungen und Bedürfnisse zu erläutern. Wie auch bei Hedström (2008: 68) nachzulesen ist, sind Bedürfnisse und überzeugungen normalerweise das Resultat unbeabsichtigter - und oft unbewusster - Prozesse. Daraus lassen sich zwei Dingen folgern: Erstens müssen wir mehr darüber in Erfahrung bringen, wie Überzeugungen und Bedürfnisse entstehen. Obwohl dieses Thema in einem Kapitel der Anatomie des So'{jalen behandelt wird, zeigen wir in diesem Aufsatz einige Begrenzungen auf (die unserer Meinung nach durch die Vernachlässigung der Makro-zu-Mikro-Faktoren zustande kommen), denen die Diskussion unterworfen ist. Zweitens müssen wir mehr darüber erfahren, wer oder was die sozialen Akteure, d.h. Individuen, genau zu ihrem Entscheidungsprozess hinführt und was den Rahmen der Bedürfnisse, Überzeugungen und Möglichkeiten zu sprengen vermag. Wenn man von intentionaler Handlung spricht, können soziale Akteure offensichtlich nicht einfach nur als Container für Bedürfnisse und Überzeugungen begriffen werden, sondern müssen auch hinsichtlich der ausgeführten Handlungen bedeutsam sein. Andernfalls würde es mehr Sinn ergeben, von "kausalen Handlungserklärungen" zu sprechen. Leider diskutiert Hedström (2008) diese Frage nicht explizit, und es erscheint uns einigermaßen paradox, dass die Begriffe ,,intentional" und ,,Intentionalität" nicht einmal im Index von "Disseeting the Social' zu finden sind. Im Folgenden argumentieren wir so, dass dies vermutlich aus dem vorbehaltlosen Vertrauen gegenüber Theoretikern resultiert, die fest in der Tradition des RationalChoice verwurzelt sind, bei denen Interessen als Antriebskraft für individuelle Handlungen angesehen werden. Wir behaupten, dass Interessen nur eine der Triebfedern für Handlungen sind und dass wir die Identität genauso berücksichtigen müssen. Dies zu tun, würde die Analytische Soziologie für soziale Handlungen öffnen, die nicht intentional, aber trotzdem in hohem Maße relevant für das soziologische Verstehen sind. Um zu der Frage zurückzukehren, wie Bedürfnisse und Überzeugungen entstehen, müssen wir über die Grenzen der Analytischen Soziologie, wie sie in Anatomie des So'{jalen dargestellt werden, in einigen wichtigen Punkten hinausgehen. Zuerst müssen wir uns intensiv auf die Makro-zu-Mikro-Verbindung konzentrieren, die in Anatomie des So'{jalen eindeutig zu Gunsten der Mikro-zu-Mikro-Verbindung vernachlässigt wird. Die Position eines Individuums innerhalb der (Makro-)Sttuktur der Gesellschaft ebenso wie seine Identiftkation mit Gruppen, sozialen Kategorien 118
Christofer Edling / Jens Rydgren und Kollektiven formen ihre Bedürfnisse und überzeugungen und somit ihre Handlungen in entscheidender Hinsicht. Wir schenken in diesem Aufsatz der Relevanz sozialer Identität und Identifikation besondere Aufmerksamkeit, welche von der Analytischen Soziologie bisher größtenteils ignoriert wurden. Unser Hauptanliegen ist es, die Analytische Soziologie weiter zu schärfen. Die Fragen von Identität und IdentifIkation aufzuwerfen, wird die Analytische Soziologie mit besseren Mitteln ausstatten, um Black-Boxes öffnen zu können. Der Grund dafür ist, dass uns dies helfen kann, soziale Mechanismen außerhalb der engen Grenzen identifIzieren zu können, die der Kanon der Analytischen Soziologie vorgibt (welcher unserer Meinung nach immer noch zu eng mit der RationalChoice-Theorie verbandelt ist). Im Weiteren sehen wir es als ertragreich, Konzepte wie Identität und Kultur in die Analytische Soziologie einzuflechten. Die Analytische Soziologie bietet einen soliden Unterbau für die erklärenden Sozialwissenschaften. Indem sie hohe wissenschaftliche Standards und strenge Konzepte bemüht, distanziert sich die Analytische Soziologie absichtlich von einem Großteil soziologischer Theorie und schreckt so viele Soziologen ab. Für sich gesehen ist das kein großes Problem und wir stimmen vollständig damit überein, dass hohe wissenschaftliche Standards und konzeptionelle Klarheit etwas ist, wonach jede Sozialwissenschaft streben sollten. Wir sehen vielmehr einen wesentlich bedenklicheren Nebeneffekt, der sich daraus entwickeln könnte, dass die Analytische Soziologie sich selbst dergestalt an den Rand stellt. Die (Mainstream-)Soziologie hat sich um einen Kern aus ungelösten Fragestellungen herum aufgebaut, den wir verstehen wollen und müssen. Selbst wenn sie intuitiv einen Sinn ergeben, sind manche der Sachverhalte und Konzepte, die aus der Theoriebildung heraus entstehen, schon von Natur aus so konzipiert, dass man sich ihnen schwer annähern kann - man ist manchmal versucht, sich einfach von ihnen abzuwenden und diese Konzepte links liegen zu lassen. Die Umgangsweise mit Bourdieus Habitus-DefInition in Anatomie des Soifalen (Hedström 2008: 15) ist ein Beispiel dafür. Wir möchten in diesem Aufsatz warnen und aufzeigen, dass Analytische Soziologie einige der "weichen" Ideen wie "Kultur" und "Identität", die das Herzstück der (Mainstream)-Soziologie ausmachen, ernst nehmen sollte, wenn sie sich selbst beweisen will. Wir behaupten, dass es in der Literatur mannigfaltige Inspirationsquellen dazu gibt und dass mit Kultur und Identität innerhalb der Grenzen der Analytischen Soziologie umgegangen und selbige tatsächlich dadurch verbessert werden kann.
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2. Grundlage 11 - Der Makro-zu-Mikro-zu-Makro Ansatz Die Aufgabe soziologischer Theorie ist es, die Gesellschaft zu erklären, indem diese mit den Handlungen und Interaktionen sozialer Akteure in Verbindung gesetzt wird. Dies beinhaltet das "Erklären des Verhaltens eines sozialen Systems anhand von drei Komponenten: die Auswirkungen der systemimmanenten Eigenschaften auf Beschränkungen oder Orientierungen von Akteuren, die Handlungen von Akteuren, die dem System angehören, und die Verknüpfung oder Interaktion dieser Handlungen, die das Systemverhalten entstehen lassen." (Coleman 1990: 27) Wie von Coleman (1990: 10) so vortrefflich illustriert, schließt dies die Isolation dreier kausaler Schritte mit ein: 1) von Makro-zu-Mikto, 2) von Mikro-zu-Mikro, 3) von Mikro-zu-Makro. In Übereinstimmung mit Hedström (2008: 163) sollten wir dem dritten Schritt besondere Aufmerksamkeit schenken, von dem er behauptet, er sei in der Soziologie im Gegensatz zu den ersten beiden zu wenig erforscht worden. Aus diesem Grund vernachlässigt Hedström den ersten Schritt, die Makro-zuMikro-Verbindung. Dies ist eine grundsätzliche Entscheidung mit dem Ziel, sich auf die anderen beiden zu konzentrieren - die Mikro-zu-Mikro und die Mikro-zuMakro-Verbindungen - und dabei die Theorie so klar und transparent wie möglich zu halten: "Um eine größere Komplexität in den letzteren beiden Komponenten zu erlauben, welche normalerweise von größerem soziologischen Interesse sind, muss man die Handlungskomponente so einfach wie möglich halten, indem man alle Elemente außer Acht lässt, die nicht als ausschlaggebend betrachtet werden." (Hedström 2008: 57) Unserer Ansicht nach ist bei diesem Manöver zu viel außer Acht gelassen worden und das Ergebnis davon ist, dass die eigentliche Annahme der Makro-zuMikro-Verbindung stillschweigend übergangen wird. Während es für die Soziologie und die Sozialwissenschaften insgesamt als richtig erachtet werden kann, dass der letzte Schritt das geringste theoretische Interesse auf sich gezogen hat, indem man sich nur auf jene soziologischen Theorien und Forschungen konzentriert hat, die den Colemanschen Ansatz zur soziologischen Theorie1 ernst genommen haben, bezweifeln wir die Stichhaltigkeit dieser Behauptung. Und mehr noch, wenn man das Programm ernst nimmt, folgt daraus, dass alle drei Komponenten die gleiche Gewichtung hinsichtlich ihrer Bedeutung haben müssten. Wenn wir also das Soziale analytisch sezieren, müssen wir sicherstellen, dass dies innerhalb des Bezugssystems von Colemans meta-theoretischer Synthese geschieht. Eine der drei Komponenten aus den Augen zu verlieren hieße, theoretischen Trugschlüssen Tür und Tor zu öffnen. Coleman spricht übet S
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Christofer Edling / Jens Rydgren Selbst wenn wir im Sinne Hedströms (2008: 210) argumentieren könnten, dass man Kultur als "ein Ouster von Bedürfnissen und überzeugungen, die von einem Kollektiv geteilt werden"2 definieren kann, bleibt die Anerkennung der Tatsache ein zentrales Anliegen, dass Kultur laut dieser Definition durch bestimmte individuelle Handlungs- und Interaktionsmuster entsteht und gleichzeitig bestimmte Handlungs- und Interaktionsmuster entstehen lässt. Mit anderen Worten: Wenn wir die Idee akzeptieren, dass eine so definierte Kultur ein Ergebnis sozialer Handlungen ist, müssen wir auch den Gedanken akzeptieren, dass eine derartig defInierte Kultur soziale Handlungen durch die Einflussnahme auf die Bedürfnisse, Liberzeugungen und Möglichkeiten eines Akteurs verursacht. Wir glauben, dass die Analytische Soziologie nicht vor der Aufgabe zurückschrecken darf zu erklären, wieso Kollektive diese Bedürfnisse und Überzeugungen teilen, d.h. die Mechanismen aufzuspüren, die bei der Bewegung von Makro-zu-Mikro eine Rolle spielen. Wir kommen zu unserem Hauptargument zurück, nämlich dass die enge Konzeption sozialer Handlung, wie sie in Anatomie des So'{jalen dargestellt wird, den Handlungsspielraum der Analytischen Soziologie unnötig einschränkt. Durch ihre solide Basis auf Colemans Schema soziologischer Erklärung ist klar erkennbar, dass die Analytische Soziologie mit der Idee von Handlung als theoretischem Schlüsselmechanismus beginnt, d.h., dass soziologische Erklärungen sich auf Annahmen über die Handlungen idealtypischer Akteure stützen (siehe Hedström 2008: 60). Die Analytische Soziologie jedoch befasst sich, wie dem Leser schnell klar wird, nur mit einem bestimmten Typ von Handlungstheorie. "Das Konzept der ,Handlung' bezieht sich darauf, was Individuen vorsätzlich tun, in Unterschied zu bloßem ,Verhalten', wie z.B. nächtliches Schnarchen oder versehentlich über einen Stein stolpern." (Hedström 2008: 61) Dies bedeutet Folgendes: Intentionale Handlung ist die theoretische Basiskomponente. Alle nicht-intentionalen Handlungen werden als unerklärlich angesehen und sind damit für die Analytische Soziologie von keinerlei Interesse. Wir stimmen selbstverständlich damit überein, dass soziologische Theorie sich nicht per se mit Schnarchen oder Stolpern befassen sollte, aber das Abgleiten in die Intentionalität erscheint uns ein bisschen zu überstürzt zu sein. Erstens scheint es, wie oben bereits erwähnt, unklar zu sein, warum soziale Handlungen auf intentionale Handlungen reduziert werden. Es gibt überzeugende Argumente (wie z.B. von Weber), dass alle Arten sozialer Handlung nicht das sind, was wir intentional nennen würden. Z.B. scheint traditionales Handeln nach Weber (1978: 24ff.) in der Tat ein absolut wichtiger Aspekt gesellschaftlichen Lebens zu sein und sollte vollständig durch die Bedürfnisse und Überzeugungen sozialer Akteure und den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erklärbar sein. 2
Das Problem dieser Definition besteht darin, dass sie den potentiellen Einfluss kultutellet Artefakte - wie z.B. von Büchern oder Monwnenten - unberücksichtigt lässt.
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Aufder SIIche nach Identität Zweitens bleibt unklar, was durch die scharfe Trennung zwischen sozialer Handlung und Verhalten erreicht werden soll. Wir wären wohl die ersten, die dem begrenzten Erfolg Beifall zollen würden, den eine Disziplin wie die Ökonomie damit erzielt hat, alle nicht-intentionalen und unbewusst sozial orientierten Handlungen und ebensolches Verhalten aus ihren Modellen auszuschließen. Zur gleichen Zeit jedoch - und wir sind überzeugt, dass Hedström uns hier zustimmen würde - kann man mit Sicherheit sagen, dass dieser Versuch mit dem Ziel, eine vorhersagende Kraft zu gewinnen, auf Kosten der erklärenden Kraft vonstattenging. In diesem Zusammenhang verstehen wir den Begriff "erklärend" im Sinne der Wortbedeutung in der Analytischen Soziologie, nämlich als Methode, Black-Boxes zu öffnen und einem Als-üb-Theoretisieren zu entsagen. Es sollte auch erwähnt werden, dass Menschen nur in Situationen ziemlich extremer Unsicherheit auf Andere schauen, um herauszufinden, welches Besteckteil sie jetzt benutzen müssen, wie es in Anatomie des So'{jalen als exemplarisch dafür geschildert wurde, wie sozialer Einfluss auf der Mikro-zu-Mikro-Ebene ausgeübt wird. Wie von den Kognitionswissenschaften behauptet wird, folgen Menschen meistens vorgefertigten Drehbüchern, die vorschreiben, wie man sich in Restaurants oder anderen, ähnlich leicht zu identifizierenden sozialen Situationen zu verhalten hat (vgl. Hirt et.al. 1998; Schank/Abelson 1977: 41). Und meist tun Menschen alles, um zu vermeiden, dass sie in solche Situationen kommen, in denen sie sich unsicher fühlen (d.h. in Situationen, in denen die festgelegten Drehbücher fehlen).3 Menschen sind sich dieser Drehbücher - die als ein System aus Bedürfnissen und Überzeugungen angesehen werden können - selten bewusst, wodurch ihr Verhalten schwerlich in irgendeinem Sinne als intentional angesehen werden kann. Dies ist nicht zuletzt der Fall, weil diese festgelegten Drehbücher - als Bestandteil des frühkindlich erworbenen Wissens - in hohem Maße durch kulturelle Muster geformt werden und infolgedessen innerhalb von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen oder anderen Kollektiven unterschiedlich ausfallen können. Aus diesen Gründen hinterlässt uns die Konzentration auf Intentionen irgendwie unbefriedigt und mit einem schalen Beigeschmack in Bezug auf die mikrotheoretische Grundlage der Analytischen Soziologie. Uns scheint die Überbetonung intentionaler Handlungen das Risiko nach sich zu ziehen, einem Als-üb-Theoretisieren darüber zu erliegen, wie die sozialen Akteure die Dinge tun, die sie tatsächlich tun.
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Gemäß der Kognit:ionspsychologie neigen Menschen in ihrem Streben ruu:h Verständnis ihrer Umwelt dazu, bei einem "funktionierenden Verständnis" Halt Zu machen (siehe Keil 2006: 241). Menschen verharren in diesem Stadium des "funktionierenden Verstehens", so1ulge es seinen Zweck erfüllt
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Christofer Edling / Jens Rydgren Wenn wir versuchen wollen, den Ursprung der unserer Meinung nach unglücklichen Beschränkung der Analytischen Soziologie zu klären, würden wir zuerst auf die Wurzeln der Analytischen Soziologie selbst schauen oder, um genau zu sein, auf ihre modernen Ausläufer. Wir vermuten, dass die starke Neigung zur RationalChoice-Theorie der späteren Jahre dazu geführt hat, dass die Analytische Soziologie ihren Blickwinkel unnötig stark einschränkt (und ihre Anziehungskraft eingebüßt) hat. Hedström (2008: 17ff.) stößt zu den Wurzeln vor, indem er Weber und Tocqueville als der früheren Geschichte der Analytischen Soziologie zugehörig einordnet (siehe auch Edling/Hedström 2005) und Parsons und Merton als Zwischenstadium. Wenngleich Weber und Tocqueville manchmal als Urväter der Rational-Choice-Theorie beschworen werden, glauben wir, dass eine solche Atgumentation auf einer eher uninspirierten Lesart ihrer Atbeiten beruht. Sicherlich spielt für beide die rationale Handlung eine bedeutende Rolle. Doch zweifellos beruht ihr enormer Einfluss auf die Sozialwissenschaften nicht darauf, dass sie ein Konzept von sozialer Handlung entwickelt und dieses dann in jeder ihrer Analysen angewendet haben. Stattdessen bleiben sie in ihren Theorien für die Mechanismen der realen Welt aufmerksam, die sie unter verschiedenen Motivationsgesichtspunkten für die Analyse sozialer Handlungen studiert haben. Und während kein Soziologe ernsthaft behaupten würde, dass Parsons oder Merton sich selbst auf einen einzigen Handlungsmechanismus begrenzt hätten, sieht es mit den gegenwärtigen Einflüssen schon ganz anders aus - Boudon, Coleman, Elster, Schelling - sie alle sind eng mit der Rational-Choice-Theorie verbunden. 4 Es ist interessant, dass Hedström, wenn er die Implikationen ihrer Atbeit für die Analytische Soziologie darstellt (Hedström 2008: 17ff.), keinesfalls ihre Konzepte sozialen Handelns in den Vordergrund rückt. Stattdessen fmdet Boudon für seine Konzentration auf generative Modelle, Coleman für seine Verdienste für die Methodologie einer erklärenden Theorie, Elster für den Analytischen Realismus und Schelling für seine Atbeit zur Mikro-zu-Makro-Verbindung Erwähnung. Zentrales Element der Atbeiten aller vier Autoren ist die Aufmerksamkeit, die sie der Intentionalität gewidmet haben, die sozusagen dann zum Zuge kommt, wenn man ihre Ideen übernimmt. Der Tatsache zum Trotz, dass Hedström (2008: 89f.) sich von dem zu distanzieren sucht, was er Instrurnentalisierung der RationalChoice-Theorie nennt, bleibt er in der Anatomie des SoifaJen als Konsequenz dieser zeitgenössischen Einflüsse der Tradition des Rational-Choice verhaftet. Vielleicht ist dies eine unfreiwillige Konsequenz?
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Natürlich sind alle genannten Autoren wohlbekannt für ihre bahnbrechenden Arbeiten über die Entstehung und die Grenzen der Rotional-Choice-Theorie aus der Perspektive s
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3. Interessen und Identitäten Lassen sie uns die enge Konzeption sozialen Handelns in den Begrifflichkeiten von Interesse und Identität neu formulieren. Selbstverständlich handeln Akteure aus einem Interesse heraus und dieser Handlungstyp ist relativ gut mit der Bezeichnung ,,intentionale Handlung" abgedeckt, wie in Anatomie des Soifalen ausgeführt. Allerdings handeln soziale Akteure auch aus ihrer Identität heraus, die sich aus gemeinsamen Handlungspotentialen zusammensetzt, die nicht auf individuelle Intentionalität reduziert werden können. Soziale Identität könnte deftniert werden als "der Teil eines individuellen Selbstkonzeptes, der herrührt aus dem Wissen um die Mitgliedschaft in einer sozialen Gruppe (oder Gruppen), zusammen mit dem Wert und der emotionalen Signiftkanz, die dieser Zugehörigkeit beigemessen wird" (fajfel1981: 255). Somit ist "objektive" Kategorisierung keine hinreichende Bedingung für Identität, obwohl soziale Identität ursprünglich aus einer Kategorisierung entspringt und sich durch Unterschiede deftniert und Geltung verschafft: Menschen müssen sich auch als Teil einer bestimmten Kategorie verstehen. Die Welt der Gesellschaft besteht aus einer Vielzahl von sozialen Kategorien, einige davon sind weiter gefasst wie Klasse, Religion, Volkszugehörigkeit und Geschlecht, andere kleiner wie Freizeitvereine. Jedes Individuum gehört gleichzeitig zu verschiedenen Gruppen und Kategorien und identiftziert sich mit ihnen. Dies ermöglicht es uns, von einem übergreifenden Identiftkationssystem zu sprechen. Nun haben diese Identiftzierungen weder den gleichen Grad an Salienz und somit nicht den gleichen Einfluss auf soziales Handeln, noch bleibt ihre Salienz im Laufe der Zeit stabil. Manchmal wird Identität durch gemeinsame Interessen gestützt, an anderer Stelle ist den Interessen einer Person vielleicht am besten mit einer Handlung gedient, die im Konflikt mit ihrer Identität steht. Interessen stehen klar in Verbindung zur gesellschaftlichen Position und zwar in der Art, dass Akteure in strukturell äquivalenten Positionen wahrscheinlich die gleichen Interessen teilen. Es gibt aber auch noch einen indirekteren Einfluss, den meine Position auf meine Interessen nehmen kann, nämlich dadurch, dass meine Interessen eine Funktion sowohl aus meinem persönlichen sozialen Netzwerk als auch aus meiner Zugehörigkeit zu sozialen Kategorien sein kann. Wenn wir dies als gegeben annehmen, nehmen wir gleichzeitig hin, dass die Implikation darüber, was die Analytische Soziologie uns über die Makro-zu-Mikro-Verbindung sagen kann, offensichtlich ist. Weiterhin sind meine Zugehörigkeiten zu sozialen Kategorien und meine sozialen Verbindungen zu anderen sozialen Akteuren die Basis für jene Identiftkation, die meine Handlungen beeinflussen kann und wird.
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Christofer Edling / Jens Rydgren Diese Gedanken bilden die Grundvoraussetzung für den nächsten Abschnitt, wo wir dem Einmaleins der Handlungstheorie, der in Anatomie des SoifaJen aufgestellten DBO-Theorie, auf den Grund gehen wollen.
4. Bedürfnisse, Überzeugungen und Handlungsmotivationen Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie ist zuvorderst wichtig als Vektor sozialer Identität, weil sie die Art und Weise beeinflusst, wie Informationen validiert werden (siehe Rydgren 2009). Wie wir im Weiteren demonstrieren werden, beeinflusst die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe oder Kategorie oder der Wunsch, zu einer sozialen Gruppe oder Kategorie zu gehören - oft die Bedürfnisse und Überzeugungen von Menschen. Dieser Effekt erfolgt sowohl direkt (Makro-zu-Mikro) als auch indirekt, seine Wirkung durch die Art entfaltend, in der Individuen sich gegenseitig in unterschiedlichen Formen der Interaktion beeinflussen (Mikro-zu-Mikro). Lassen sie uns mit Ersterem beginnen. Schellings (1978: Kap. 4) bekanntes Segregationsmodell ist für die Analytische Soziologie beispielhaft und wird zu Recht in Anatomie des Soifaien für eine Demonstration der optimalen Modellierung der Mikro-zu-Makro-Verbindung gepriesen. Kurz gefasst zeigt Schellings Modell, dass Segregationsmuster sogar in Situationen entstehen können, wo nur eine schwache Bevorzugung der eigenen Gruppe (in-group) vorherrscht. Weiterhin wird unterstellt, dass Menschen es vorziehen, in der Nähe von wenigstens ein paar Menschen zu leben, die ihnen ähnlich sind, d.h., von Menschen, die if/r selben soifaJen Kategorie gehören. Dies ist intuitiv eine plausible Annahme. Nun ist die Analytische Soziologie, da sie den Faktor der sozialen Identifikation nicht mit in Betracht zieht, leider nicht in der Lage zu erklären, warum dies eine plausible Annahme ist. Um genau zu sein, versagt sie bei der Erklärung dafür, warum Gruppen oder soziale Kategorien in dieser Situation vorrangig sind, d.h., warum die Akteure in ihren Bedürfnissen nicht blind für über-individuelle Eigenschaften sind. Darüber hinaus versagt sie bei der Erklärung dafür, warum sogar eine schwach ausgeprägte Präferenz für das enge Zusammenleben von Mitgliedern der gleichen ethnischen oder rassischen Gruppe (d.h. der sozialen Kategorie) als plausible Annahme angesehen wird, während die räumliche Nähe zu Menschen, die überdurchschnittlich groß oder rothaarig sind, als weniger wahrscheinliches Bedürfnis angesehen wird. Um dies zu verstehen, müssen wir in Erfahrung bringen, wie salient die soziale Kategorie für die Beteiligten ist. Saliente soziale Kategorien bringen wahrscheinlich stärkere Identitäten hervor und so ist hier die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie Auswirkungen auf die Bedürfnisse und Überzeugungen von Menschen haben. Daraus resultiert, dass die Konformität der Bedürfnisse und Überzeugungen wahrscheinlich viel stärker und ausgeprägter für 125
Aufder Suche nach Identität Menschen sein wird, die zu sozialen Kategorien gehören, die für hochgradig salient erachtet werden. Obwohl die Salienz sozialer Kategorien immer in Abhängigkeit zum Kontext steht (Schwede zu sein, ist für einen in Deutschland lebenden Schweden wahrscheinlich eine salientere soziale Kategorie als für einen Schweden, der in Schweden lebt), sind es drei spezifische Dinge, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die Salienz einer sozialen Kategorie beeinflussen: Zuerst einmal kristallisieren sich soziale Kategorien "an Markierungspunkten, die systematische Konsequenzen für das Wohlergehen von Menschen haben" (Hechter 2000: 98), oder denen man diese Implikationen zuschreibt. Von diesen Kategorien wird angenommen, dass sie von höherer Salienz als andere Kategorien sind. Zweitens sind solche Kategorien, über die man sich nicht hinwegsetzen kann, meist solche Kategorien, die einem eher zugeschrieben werden, als jene sozialen Kategorien, die man erreicht hat. D.h. diejenigen Kategorien, in die man hineingeboren wurde, sind wahrscheinlich salienter und beinhalten stärkere soziale Identitäten und größere Konformität in Bezug auf Bedürfnisse und Überzeugungen. Drittens hängt die Salienz sozialer Kategorien wohl von der Dichte der sozialen Bindungen innerhalb einer Kategorie ab - d.h., von dem Umfang, in dem eine Kategorie zugleich eine Gruppe konstituiert (vgl. Tilly 1978; White 2008) - und den Grad von Geschlossenheit, d.h. dem Maß, in welchem sich die Gruppe von Außenseitern abschottet. Als Ergebnis hieraus wird die Salienz bestimmter sozialer Gruppen in Situationen mit starker Polarisation ansteigen, und es scheint eine vernünftige Annahme zu sein, dass der Effekt sozialer Identifikation auf Bedürfnisse und Überzeugungen und damit auf soziale Handlungen - in solchen Situationen stärker ist. Ethnische Konflikte und die damit einhergehende Mobilmachung von Gruppen sind ein typisches Beispiel dafür, wie die Bewusstmachung der Rolle, die soziale Identifikation mit Gruppen oder sozialen Kategorien spielt, dabei helfen kann, erklärende Mechanismen zu identifizieren (d.h. Makro-zu-Mikro-Mechanismen). Ohne sie wären wir kaum in der Lage, verständlich zu erklären, wie Bedürfnisse und Überzeugungen und somit auch soziale Handlungen mit sozialen Kategorien konform gehen oder sich zwischen den Kategorien systematisch unterscheiden. Es sollte noch einmal betont werden, wie unnötig einseitig und eingeschränkt wir die ausschließliche Konzentration auf die Mikro-zu-Mikro-Mechanismen in Anatomie des Soifalen empfinden. Egal, wie wichtig soziales Handeln für die Meinungsbildung in unsicheren Situationen sein mag, der wohl größte Einfluss auf die Bedürfnisse und Überzeugungen findet durch Sozialisationsprozesse in der frühesten Kindheit statt, in einem Stadium, in dem Menschen noch in keinster Weise als soziale Akteure im eigentlichen Wortsinne bezeichnet werden können. Diese Tatsache macht es nötig, den sozialen Hintergrund von Personen zu beleuchten, um ihre Überzeugungen und Bedürfnisse einschätzen zu können. 126
Christofer Edling / Jens Rydgren Außerdem beeinflussen sich Individuen in verschiedenen Formen von Interaktionen wechselseitig. Wie oben schon angeführt, spielt hier auch soziale Identität eine Rolle, aber auf indirekterem Wege. Sie greift durch die Art und Weise, in der sich Individuen gegenseitig in verschiedenen Interaktionsformen beeinflussen, in das Geschehen ein (Mikro-zu-Mikro). Wir behaupten, dass soziale Interaktion wesentlich wahrscheinlicher in unsicheren Situationen Auswirkungen auf Bedürfnisse und Meinungen von Akteuren haben, in denen Menschen Gegebenheiten gegenüberstehen, bei denen ihre kognitiven Standardstrategien versagen, und/oder wenn ihre Bedürfnisse und Überzeugungen von denen meisten anderen Menschen in ihrer sozialen Umgebung abweichen. Insbesondere dann, wenn sich die Person mit einer Gruppe identifiziert, die den Signiftkanten Anderen konstituiert und zu dieser Gruppe gehören (oder zugehörig bleiben) möchte. Zuerst sollte unterstrichen werden, dass Menschen nicht planlos und willkürlich durch unsichere Situationen navigieren, sondern durch soziale Faktoren beeinflusst werden. Die Informationen werden nicht gleichwertig verarbeitet: Informationen, die unter dem Einfluss einer anderen Person empfangen worden sind, werden sich substantiell unterscheiden, abhängig davon, wer der Sender ist. Genauer gesagt, hängt es in unsicheren Situationen davon ab, wem man traut und wen man als Autorität empftndet, auf wen man sich in solchen Situationen verlässt. Für diese beiden Faktoren ist die Gruppenzugehörigkeit fundamental. Psychologische Untersuchungen haben herausgefunden, dass wir dazu neigen, Informationen aus bestimmten Quellen und bestimmte Akteure als vertrauenswürdiger und kompetenter als andere anzusehen. Sie werden epistemische Autoritäten genannt (siehe Kruglanski 1989). Menschen haben größeres Vertrauen in Informationen, die von solchen epistemischen Autoritäten stammen und werden die von ihnen vertretene Überzeugungen eher übernehmen, insbesondere, wenn diese epistemischen Autoritäten aus derselben Gruppe oder sozialen Kategorie stammen wie sie selbst (vgL Hardin/ Higgins 1996: 65; Raviv et al. 1993: 132). Zusätzlich zur Gruppenzugehörigkeit leitet sich die epistemische Autorität aus ihrer gesellschaftlichen Rolle ab, die oft mit einer Machtposition verbunden ist. Eliteakteure wie politische, intellektuelle und religiöse Führer sind typische Beispiele für epistemische Autoritäten (siehe Bar-Tal 1990: 71). Desweiteren sind Menschen nicht nur in unsicheren Situationen für soziale Einflussnahme empfanglich, sondern auch dann, wenn sie feststellen, dass ihre ureigenen Bedürfnisse und Überzeugungen sich von denen der meisten Anderen in ihrer sozialen Umgebung unterscheiden. Auch hier ist ein starker Einfluss der Gruppenzugehörigkeit und der Identiftkation auf den sozialen Einfluss erkennbar. Wie von Festinger (1950, 1954) notiert, tendieren Menschen in Situationen subjektiver Unsicherheit, in denen es ihnen an objektiven Referenzpunkten für ihre Überzeugungen mangelt, dazu, ihre Überzeugungen mit denen ihrer Bezugsperso127
Aufder Suehe nach Identität nen zu vergleichen. Je mehr ihre eigenen Überzeugungen mit denen ihrer Bezugspersonen harmonieren, desto mehr Stichhaltigkeit wird ihnen beigemessen. Wenn Menschen entdecken, dass ihre überzeugungen mit denen der meisten anderen Gruppenmitglieder übereinstimmen, fühlen sie sich bestätigt und ändern ihre Ansichten nur noch selten. Situationen, in denen die Überzeugungen von Menschen nur in geringem Maße mit denen ihrer Bezugspersonen übereinstimmen, verschärfen das Gefühl der subjektiven Unsicherheit noch. Um diesem Zustand abzuhelfen, könnten die Menschen ihre Gruppe verlassen und sich eine neue Gruppe und obendrein die dazu gehörenden Bezugspersonen suchen - was meist nicht ganz einfach zu bewerkstelligen ist - oder sie versuchen entweder, die Überzeugungen der anderen Gruppenmitglieder in ihrem Sinne zu verändern oder verändern ihre eigenen Überzeugungen dergestalt, dass sie jene Überzeugungen der restlichen Gruppenmitglieder widerspiegeln, was oft der wesentlich einfachere Weg ist. Dieser Konformitätsprozess wurde von Asch (1956) in maßgeblichen Experimenten beeindruckend dokumentiert. Individuen wurden gebeten, die Länge einer Linie im Vergleich zu Linien mit anderen, verschiedenen Längen abzuschätzen. Alle Akteure der Gruppe - bis auf einen - wurden instruiert, eine ganz offensichtlich falsche Schätzung abzugeben. Wenn die nicht eingeweihten Akteure als letzte nach ihrer Einschätzung gefragt wurden, stimmte ein Drittel von ihnen der offensichtlich falschen Schätzung der Mehrheit zu. Die Mehrheit dieser Mitläufer hat angegeben, dass sie zugestimmt hatten, weil sie ihrer eigenen Schätzung misstrauten und schlussfolgerten, dass ihr Ergebnis falsch und das der Mehrheit richtig sein müsse. Die zweithäufigste Begründung war die, dass man genau gewusst habe, dass die Mehrheit im Unrecht war, man sich aber nicht von der Gruppe abspalten und aus der Reihe tanzen wollte. 5 Weitere Forschungen ergaben, dass Menschen eher dazu neigen, sich mehrheitskonform zu verhalten, wenn die Mehrheit aus in-groupMitgliedern besteht, also aus Menschen, die zur selben sozialen Kategorie gehören. Wenn die Mehrheit aus out-group-Mitgliedern besteht, ist dies in viel geringerem Maße der Fall (siehe z.B. Bond/Smith 1996: 115). Wie Turner bereits argumentiert hat, indiziert diese Tatsache, dass Gruppenidentität ein salienter Faktor für das Verstehen von Konformität in Bedürfnissen und Überzeugungen ist. Wie in Aschs Studie ganz klar dargestellt wird, ist es von enormer Wichtigkeit, zwischen Überzeugungskonformität auf der einen und Handlungskonformität auf der anderen Seite zu unterscheiden. Um negativen Sanktionen zu entgehen oder in sozialer oder ökonomischer Hinsicht belohnt zu werden, verändern Menschen unter Umständen ihre Handlungsweise, um mit der Gruppe konform zu gehen, ohne die eigenen abwei5
Asch hat gezeigt, dass eine Mehrheit von drei Personen hinreichend ist, wn diesen Effekt zu erzielen. Dennoch ist es unabdingbar, dass die Mehrheit einer Meinung ist, ansonsten sinkt die Übereinstimmung in dramatischer Weise ab.
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Christofer Edling / Jens Rydgren chenden überzeugungen preiszugeben (siehe z.B. Deutsch/Gerard 1955). Festinger betont diese Unterscheidung, indem er unterschieden hat zwischen Internalisierung, d.h. Überzeugungs- wie auch Handlungskonformität und Bifolgung, d.h. Konformität in der Handlung, nicht jedoch gleichzeitig in den Überzeugungen. Nach Festinger ist Befolgung wahrscheinlicher, wenn es einer Person unmöglich ist, die Gruppe zu verlassen und wenn die Gefahr einer ökonomischen, sozialen oder physischen Bestrafung für Nicht-Befolgung droht. Die Wahrscheinlichkeit für Internalisierung wiederum steigt, wenn die Person zur Gruppe gehört und Mitglied bleiben will, d.h., wenn sie sich in hohem Grade mit der Gruppe identifiziert. Infolgedessen erfahren Menschen oftmals das Gefühl von Dissonanz, wenn sie ihre Überzeugungen mit denen von Anderen vergleichen. Wie auch von Hedström (2008: 79ff.) dargestellt, wird die Ausprägung der Dissonanz - genau wie die Wahrscheinlichkeit für einen Überzeugungswandel oder veränderte Bedürfnisse - davon abhängen, wie stark oder schwach ausgeprägt das Bedürfnis des Akteurs ist, genauso oder anders als die ihn umgebenden Bezugspersonen zu sein. Hedström erkennt in dieser Diskussion implizit die Bedeutsamkeit der sozialen Identität an, obwohl das Konzept nicht benutzt und nicht alle nötigen Schlussfolgerungen aus der Argumentation gezogen werden. Lassen sie uns die Diskussion in nahezu vollem Umfang wiedergeben: "Wenn die Bedürfnisse eines bestimmten Akteurs sich markant von denen der Individuen unterscheiden, mit denen er interagiert, ist es wahrscheinlich, dass Dissonanz entsteht. Wenn ich zum Beispiel im Milieu der Arbeiterklasse aufgewachsen bin, wird dies wahrscheinlich meine kulturellen Präferenzen beeinflusst haben. Wenn meine Freunde und Kollegen einen eher "gehobenen", hochintellektuellen Hintergrund haben, kann dies psychologisch und sozial anstrengend für mich sein und daher unbewusst dissonanzreduzierende Prozesse in Gang setzen. Wenn diese Prozesse erfolgreich sind, werden sich meine Bedürfnisse an die derjenigen anpassen, mit denen ich interagiere. Dies wäre dann ein weiterer Weg, auf dem die Handlungen einiger Akteure die Bedürfnisse und nachfolgenden Handlungen von anderen Akteuren beeinflussen können." (Hedström 2008: 81f.) Wir haben dem nichts hinzuzufügen. Dennoch wird von Hedström nicht genügend anerkannt, dass (1) der einfache Umstand, in einer bestimmten Nachbarschaft aufgewachsen zu sein, ebenfalls ein potentieller Mechanismus ist und dass es a priori keine Begründung gibt, um diesen Mechanismus als weniger wichtig für erklärende Zwecke als den Mechanismus der Dissonanzreduktion zu halten und (2), dass Identität wahrscheinlich den Effekt dieses Mechanismus verstärkt oder schwächt. Wenn sich das "Ich" im obigen Beispiel in hohem Maße mit der Arbeiterklasse identifiziert, wird es sich weniger wahrscheinlich mit den es aktuell umgebenden Menschen identifizieren (d.h., so wie diese sein wollen) und weder Dissonanz erfahren, noch sich anpassen. Darüber hinaus argumentieren wir wie oben schon angedeutet so, dass die Stärke der Identifikation mit früheren oder gegen129
Aufder Sliehe nach Identität wärtigen Gruppen nicht zufillig ist, sondern durch soziale Faktoren beeinflusst wird (siehe Bearman 1993 und Gould 1995 für soziale Faktoren, die Identität stärken oder schwächen). Diese sozialen Faktoren sind potentielle Mechanismen. Weiterhin sollten wir uns bei dem Versuch, Überzeugungskonformität zu verstehen, bewusst sein, dass der Druck, die Übereinstimmung zwischen sich und den Anderen zu erhöhen, in verschieden strukturierten Situationen variiert. Es ist insbesondere wichtig, die "Handlungsorte" mit in Betracht zu ziehen (vgl. Feld 1981). Solche Orte (beispielsweise Arbeitsplätze oder Nachbarschaften) sind insofern wichtig, als dass sie Menschen mit wiederholten Interaktionen zusammenführen und so ihre sozialen Beziehungen organisieren. Wir können annehmen, dass Menschen den Druck, Übereinstimmung zwischen sich und den Anderen zu erreichen, als niedriger empfinden, wenn sie mit diesen nur ein oder zwei Handlungsschauplätze teilen als im Vergleich zu Personen, mit denen sie an vielen Orten zusammentreffen. Im ersten Fall werden mehr Inkonsistenzen gestattet sein. Es ist hier wichtig zu betonen, dass soziale Identiftkation oft an Orte gebunden ist und den Effekt verstärkt, den Orte auf die Suche nach Kontinuität haben. Ganz generell hängt das Ausmaß, in dem soziale Kategorien intersubjektive Uniformität unterstützt, von zwei Hauptfaktoren ab: Erstens vom Umfang, in dem Mitglieder einer sozialen Kategorie zu sich überschneidenden oder sich überlappenden Kategorien gehören (siehe Simmel 1955). Im ersteren Falle - wenn zwei Menschen zu den gleichen ein oder zwei sozialen Kategorien gehören, zu mehreren anderen Kategorien jedoch nicht - wird die Intersubjektivität höchstwahrscheinlich eher schwach und begrenzt ausfallen, während sie stark und ausgeprägt sein wird, wenn zwei Menschen zu einer großen Auswahl gleicher sozialer Kategorien gehören. In wirklich stark ausgeprägten Fällen von Zugehörigkeit zu sich überschneidenden sozialen Kategorien, wie z.B. bei traditionellen Stammesgesellschaften, kann man, wie schon Bar-Tal (1990) anführte, fast schon von kollektiven Überzeugungen sprechen. In modemen Gesellschaften hingegen wird man solche Fälle ausgeprägter Überschneidungen aufgrund der zunehmenden Rollendifferenzierung nur selten antreffen.
5. Schlussbemerkung Anatomie des So:dalen ist clevere, professionelle und enorm ambitionierte Literatur. Unserer Überzeugung nach sind die hier gestellten Ansprüche wegweisend für eine empirisch begründete soziologische Theorie. Nichtsdestotrotz waren wir nach eingehendem Studium der Anatomie des So:dalen ein wenig unzufrieden mit dem, was wir als einen zu engen Fokus auf das übergeordnete Colemansche Schema betrachten, der unserer Meinung nach die Natur des sozialen Handelns zu stark ein130
Christofer Edling / Jens Rydgren schränkt. Wir haben in diesem Aufsatz versucht nachzuweisen, dass diese hier nicht nur lästige Beschränkungen darstellen, sondern dass sie sogar weiterhin unerwähnt bleiben, nachdem die beiden Grundlagen der Analytischen Soziologie sorgfältig festgelegt wurden. Wir haben angedeutet, dass Jemand, der der Anatomie des So:dalen wortwörtlich folgen würde, ernsthaft riskiert, auf ein Als-Ob-Theoretisieren zurückzufallen, anstatt erfolgreich Black-Boxes zu öffnen. Indem wir ausführlich für eine weitere und unvoreingenommene Sichtweise auf Handlung und Interaktion plädieren, die soziale Identifikationsprozesse mit einschließt- insbesondere, was die Überzeugungsentwicklung angeht -, versuchen wir zu beweisen, dass die Analytische Soziologie ihren Zielen treu bleiben kann, während sie gleichzeitig signifikante Forschungsergebnisse über die Natur des menschlichen Sozialverhaltens mit einbezieht. Wir behaupten, dass ein solcher "synthetischer" - wenn der Ausdruck gestattet ist - Ansatz für die Analytische Soziologie dringend benötigt wird, wenn wir dem oben erwähnten hohen Anspruch gerecht werden wollen.
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Der soziale Wandel der Analytischen Soziologie im Lichte kritischer Reflexion "Freiheit des Geistes, der dem Diktat des Fachwissens nicht pariert." Theodor w: AdfJmo
1. Einleitung Eine Antwort auf die Frage, was Soziologie als Wissenschaft leisten solle, versucht Peter Hedström in seiner "Anatomie des Sozialen" zu geben: Sie soll erklären und zwar anhand von Mechanismen. Damit sind seine soziologischen Gedanken zu verorten in der Mechanismendebatte, die er selbst mit dem 1998 erschienenen Sammelband "Socia1 Mechanism" ins Rollen brachte. In eindrucksvoller Weise integriert Hedström auf nur zweihundertdreizehn Seiten epistemologische Grundlagen, handlungs- und interaktionstheoretische Überlegungen und eine experimentelle Umsetzung in Form einer konkreten akteursbasierten Modellierung in einer Schrift, der "Anatomie des Sozialen" (vgl. Kron 2008: 7f.). Im Sinne einer Anschlussfahigkeit an die Mechanismendebatte mag diese Schrift überzeugen, so auch durch ihre kohärente Theoriebildung. Mein Anliegen hier ist es jedoch, bei allem Respekt, nicht durch den Glanz der Anschlussfahigkeit und der theoretischen Kohärenz zu erblinden für weitere, sozi.a1wissenschaftlich relevante Aspekte der Theoriebildung. Daher möchte ich im Folgenden Fragen stellen, die auf einer metatheoretischen Ebene Bezug nehmen auf den normativen Standpunkt forschender Wissenschafder sowie auf die Verwendung wissenschafdicher Erkenntnis. Der hier eingenommenen Perspektive ist es geschuldet, dass viele Aspekte der Theorie Hedströms unbedacht bleiben, jedoch nicht ungelesen. Mein Vorgehen ist dabei nicht abstrakt und ohne Bezug zu Hedströms Schrift selbst. Ich nehme Hedström in dieser Arbeit beim Wort und gehe im Kontext kritischer Reflexion seinen - vielleicht gar nicht getätigten - Aussagen über den eigenen normativen Standpunkt sowie den von ihm gezogenen Schlussfolgerungen seines Fallbeispiels nach, das ihm als Exemplifikation seiner Theorie gilt. Meinem Vorgehen liegt die These zugrunde, in der empirischen Sozialforschung zeige sich eine theorieimmanente Schwäche, keine überraschende 133
T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Der Wandel der AnalYtischen Soifologie im üchte kritischer Reflexion Annahme in Anbetracht Hedströms expliziten Versuch, die empirische Forschung im Kontext seiner Theorie zu betrachten. Meine Reflexionen finden somit an zwei Orten statt, derer die Leitfrage der Arbeit als Medium der Vermittlung dient. Diese Frage, anhand derer sich der rote Faden der Arbeit spinnt, ist zu konkretisieren als Versuch, problematischen Aspekten der ausbleibenden Thematisierung eigener Normativität im Hinblick auf die Anwendung eigner Erkenntnis nachzugehen. Inwiefern ist es problematisch, den eigenen Standpunkt im Prozess wissenschaftlichen Arbeitens - unausgesprochen1 - als neutral zu verstehen, wenn die Erkenntnisse der entsprechenden Arbeit in sozialpolitische Prozesse implementiert werden können? Mein Anliegen ist es nie, Hedströms Gedanken abstrakt zu negieren. Vielmehr will ich sie in einen kritischen Dialog mit weiteren Theoretikern bringen, um einer produktiven Fortsetzung der Analytischen Soziologie behilflich zu sein. Als Dialogpartner der ersten Ebene der Reflexion, die des eigenen Standpunkts, dienen mir sozialtheoretische Überlegungen Laclaus und Mouffes, zudem die Stellungnahmen der Frankfurter Schule im so genannten Positivismusstreit der sechziger Jahre, in dem sie sich dem Kritischen Rationalismus gegenüber sah, hauptsächlich vertreten durch Popper. Zwar ist der Positivismusstreit ein Ereignis vergangener Tage, jedoch will ich die Debatten unter der Annahme ihrer fortwährenden Aktualität bei der Beantwortung meiner Fragen zur Hilfe nehmen. Für die Schärfung meines Blicks im Kontext der zweiten Ebene, die der Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnis, suche ich Rat bei Bauman und seiner Schrift "Dialektik der Ordnung". Darin reflektiert er unter anderem die Verwissenschaftlichung sozialpolitischer Maßnahmen in der Moderne oder umgekehrt: Die politische Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnis. Dies ist auch mein Anliegen, so dass sich am Ende der Arbeit ein VorscWag oder gar mehr, nämlich ein Plädoyer für eine erweiterte Perspektive soziologischen Forschens herauskristallisiert. Auf dem Weg dorthin rekonstruiere ich Hedströms Theorie in Hinblick auf die Neutralität des Forschers (2.1) und setze sie in Beziehung zur Position der Frankfurter Schule im Positivismusstreit (2.2). Dem folgend rekonstruiere ich kritisch Hedströms Beispiel agentenbasierter Modellierung (3.1), um diese in machtheoretischer Hinsicht im sozialen Kontext zu verorten (3.2) In der Betrachtung des zweiten und dritten Kapitels im Hinblick auf die Leitfrage meiner Arbeit kristallisieren sich schließlich die problematischen Aspekte der Theorie Hedströms im letzten Teil der Arbeit heraus (3.3), dementsprechend nimmt das dritte Kapitel einen größeren Raum ein. Mein methodisches Vorgehen kann mit Adorno als sozial- und wissenschaftstheoretische Zuspitzung und übertreibung gefasst werden, das in Im Sinne Jacques Derridas suche ich in Hedströms Theorie freizulegen, was sie unausgesprochen impliziert.
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dieser Form notwendig ist, um die inhärenten Tendenzen und problematischen Aspekte klar hervortreten zu lassen, die sonst ungesehen blieben,2 ein Vorgehen, auf das sich einzulassen dem Leser abverlangt wird, genauso einzulassen, wie ich im Folgenden mich auf Hedströms Konzeption einer Analytischen Soziologie einlassen werde. Damit sind der Rahmen der Arbeit wie mein folgendes Vorgehen umrissen. Schauen wir nun, wohin uns die Leitfrage im Dialog führt.
2. Hedströms Theorie in kritischer Rekonstruktion Der Titel meiner Arbeit gibt einen Ausblick, was auf den folgenden Seiten passieren wird. Jedoch ist vorher zu klären, was ich unter einer Analytischen Soziologie sowie unter einem sozialen Wandeln verstehe und was es bedeutet, beides kritisch zu reflektieren. Da ich mich in diesem Kapitel auf die Bestimmung der Analytischen Soziologie und die Form der Kritik beschränke, sei hier nur einleitend gesagt, als Analytische Soziologie verstehe ich, was ich im folgenden Unterkapitel durch einen Abriss Hedströms Theorie rekonstruieren werde, gerade so viel, wie es für mein Vorhaben bedarf. Mein Anliegen ist es, Hedströms Theorie immanent nach problematischen Aspekten zu befragen, um am Ende der Arbeit eine produktive Fortführung der Theorie zu ermöglichen. 3
2.1 Hedströrns Theorie in Hinblick auf den Standpunkt des Forschers Hedström konzipiert seine Theorie in Abgrenzung zu und als Kritik an verschiedenen Formen der historischen und gegenwärtigen Soziologie (vgl. Hedström 2008: 11). Sein Anliegen ist es, Theorie und Empirie sowie die Mirko- und Makroebene der klassischen soziologischen Erklärung nach Coleman (1991: 10ff) in einem Ansatz zu integrieren. Der Vermittlung von Mikro- und Makroebene liegt die DBOTheorie zugrunde, die auch als Hedströms eigene Handlungstheorie fungiert. Im Rahmen dieser Theorie versteht Hedström "affektive Prozesse (Desires), Überzeugungen im Sinne kognitiver Vorgängen (Beliefs) und Opportunitäten (Opportunities)" (Hedström 2008: 60) als unmittelbare Ursache der Handlungen und Interaktionen idealtypischer Akteure, aus denen soziale Phänomene entstehen. 4 Diese Phänomene will Hedström in ihre einzelnen Entitäten und deren Eigenschaften
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Dem Gedanken "ist wesentlich ein Element det Übertreibung, des übet die Sachen Hinausschießens, von der Schwere des Faktischen sich Loslösens, kraft dessen er anstelle der bloßen Reproduktion des Seins dessen Bestimmung, streng und frei zugleich, vollzieht" (Adoroo 2003a: 144f.). Der Begriff des sozialen Wandelns wird hauptsächlich Gegenstand des dritten Kapitels sein, weshalb ich hier noch von einet genaueten Bestimmung absehe. Hedström also führt soziale Phänomene immer auf die handelnden Individuen zurück.
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Der Wandel der AnalYtischen Soifologie im üchte kritischer Reflexion zerlegen, um sie durch einen mechanismischen Ansatz zu erklären (vgl. Hedström 2008: 41ff.). Ein sozialer Mechanismus wird von Hedström verstanden als "eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die miteinander derartig verbunden sind, dass sie regelmäßig bestimmte Typen von Folgen hervorbringen." (Hedström 2008: 25) Eine Erklärung antwortet hier nun auf Warum-Fragen: Warum findet ein sozialer Prozess in seiner spezifischen Form statt und welcher Mechanismus liegt dem zugrunde, wie wirken die Entitäten in Konstellationen zusammen (vgl. Hedström 2008: 12)?5 Bewusst grenzt Hedström sich von Theoretikern ab, deren Selbstverständnis als Wissenschaftler es ist, gesellschaftliche Tendenzen ausfindig zu machen und deren Gefahren herauszuarbeiten, versteht er diese nur als beschreibende, nicht aber als erklärende Verfahren (vgl. Hedström 2008: 26ff.). Demgegenüber begreift Hedsttöm sich in jedem Moment seines Forschens als Soziologen, dessen Anliegen einzig die von ihm als solche beschriebene Form des Erklärens ist und zwar anband empirisch nachweisbarer Mechanismen, die es in agentenbasierten, computergestützten Modellen zu analysieren gilt. 6 Hedströms Position und Theorie ist bis hierhin von mir umrissen worden, woraufhin ich mich im folgenden Unterkapitel der Frage nach dem Ungesagten dieser Theorie widmen werde. Anschließend dienen mir diskurstheoretische Überlegungen sowie die Stellungnahmen der Frankfurter Schule im Positivismusstreit als Argument gegen Hedsttöms Implikationen. Ein wesentlich größerer Anteil eigener Gedanken kommt dem dann folgenden dritten Kapitel zu, in dem die geübte Kritik im Zusammenhang gebracht wird mit der Schlussfolgerung, die Hedsttöm aus seiner ModelIierung in der ,,Anatomie des Sozialen" zieht. 2.2 Der eigene Standpunkt - Zur Selbstreflexion der Sozialwissenschaft Hier nun sei mir eine erste kritische Bemerkung gegenüber Hedströms Theorie erlaubt. Hedströms Selbstverständnis, geprägt durch die analytische Tradition in der Soziologie (vgl. Hedström 2008: 17ff.), offenbart einen blinden Fleck seiner Theorie, nämlich die Thematisierung des eigenen Standpunkts innerhalb sozialer Diskurse 7, aus denen spezifische Deutungsmuster sozialer Phänomene hervorge-
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ScWagwonartig zusammengefasst soll Hedsttöms Theorie eine präzise, abstrakte, realistische und handlungsbasiene Erklärung leisten. Laut Hedsttöm sind die Folgen sozialer Interaktionen aufgrund zu hoher Komplexität nicht absehbar, so dass es einer computergestützten ModelIierung bedarf, die mit formal analytischen Werkzeugen, sprich mathematischen Formel opetien (vg1. Hedsttäm 2008: 11Off., 142f.). Foucault versteht Diskurse als "Praktiken [...], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen" (Foucauit 1973: 74). Man muss den ,,Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen" (Foucault 1991: 34f.).
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hen, die nie objektiv sein können (vgl. Nonhoff 2007: 3).8 Einzelne Diskurse können eine hegemoniale Position einnehmen, wodurch die Deutung der sozialen Welt, auch die des Soziologen analytischer Prägung, einzig aus der Perspektive einer dominierenden sozialen Gruppe möglich ist (vgl. Laclau/Mouffe 1991: 105, 112, 127ff.).9 Durch die Abgrenzung zu anderen Verständnissen der Soziologie verliert Hedström jedoch aus dem Blick, was die später hier umrissenen Theorien Adomos oder Baumans prägt: Die Reflexionen des eigenen Standpunktes und die Gefahren positiv festgelegter Ideale. Hier wäre zu prüfen, inwiefem Hedströms rein auf Mechanismen fokussierte Theorie soziologischen Erklärens die Möglichkeit liefert, diese Ebene der Reflexion zu integrieren, in der ,,Anatomie des Sozialen" jedenfalls unterlässt er dies. Nun bringt die ausbleibende Thematisierung der eignen Normativität implizit ein Verständnis mit sich, nach dem man selbst als neutraler Beobachter forscht, denn: Wenn sich jeglicher Reflexion auf hegemoniale Diskurse sowie der Frage der eigenen Verortung darin enthalten wird, bleibt die konzipierte Theorie indifferent gegenüber gesellschaftlichen Interessen. Ein indifferente Theorie kann nun weder Parteilichkeit reflektieren, noch eine solche beziehen, so ist sie schlicht als - scheinbar - neutral zu verstehen. Wider diesen blinden Fleck gilt es mir, die Position der Frankfurter Schule in Erinnerung zu rufen. Adomo versteht Erkenntnis als verflochten mit dem Kontext - idealistischer Begrifflichkeiten folgend verwendet er hierfür den Begriff der Totalität -, in dem diese sich vollzieht (vgL Adomo 2003d: 283f.) 10, und problematisiert anderorts eine positive Setzung von durchzusetzenden Interessen einer Gruppe, wegen der innenwohnenden autoritär-repressiven Komponente (vgl. Adomo 1996: 8
VgL zum blinden Fleck beispielsweise Boudon (1980: 207ff). Boudon versucht darzulegen, inwiefern eine verstehende Soziologie nach Weber objektiv sein kann, indem er ein simples Bespiel bemüht, das wohl eher als Verhalten, denn als soziales Handeln zu verstehen ist. Das aber die kontextspezifische Dimension soziologischen Verstehens nicht einfach ignoriert werden kann, dass er als Wissenschafcl.er selbst in hegemoniale Deutungsschemata eingebunden ist, dem schenkt er keine Beachtung. 9 Dies ist ein Aspekt, der mich im dritten Kapitel weiter besclliifrigen wird und für meine Arbeit einen zentralen Stellenwert hat. Für die Weiterentwicklung des Foucaultschen Diskursbegriffs im Kontext der Hegemonietheorie Gramscis vgL Laclau/Mouffe (1991). 10 Dies äußere sich in der Wahl des Untersuchungsgegenstandes, der Begrifflichkeiten sowie in dem Wahrheitsgehalt einer Aussage, die nicht nur an der Realität, sondern zudem an moralischen oder politischen Vorstellung zu messen seien. "Ob das Positivisten akzeptieren mögen, steht dahin; es rührt kritisch an die Grundthese von der absoluten Eigenständigkeit der Wissenschaft, von ihrem konstitutiven Charakter für jegliche Erkennmis. Zu fragen wäre, ob eine bündige Disjunktion gilt zwischen der Erkennmis und dem realen Lebensprozess; ob nicht vielmehr die Erkenntnis zu jenem vermittelt sei, ja ob nicht ihre eigene Autonomie, durch welche sie gegenüber ihrer Genese sich produktiv verselbständigt und objektiviert bat, ihrerseits aus ihrer gesellschaftlichen Funkrion sich herleite; ob sie nicht einen Immanenzzusammenhang bildet und gleichwohl ihrer Konstitution als solcher nach in einem sie urngreifenden Feld angesiedelt ist, das auch in ihr immanentes Gefüge hineinwirkt" (Adomo 2003d: 283).
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Der Wandel der AnalYtischen Soifologie im üchte kritischer Reflexion 251). Auf den besonderen Charakter des Forschungsgegenstandes verweisend, das Soziale, schließt Habermas daran verschärfend an und problematisiert den Aspekt der Erhebung der Realität zur Instanz, an der eine Theorie zu prüfen sei (vgl. Habennas 1975: 159). Dann nämlich, so Habermas, werde die Realität zum Maßstab wissenschaftlicher Erkenntnis, die wiederum, ohne die Möglichkeit einer kritischen Perspektive, einzig als Reflex auf die Wirklichkeit zu verstehen sei und auf diesem Wege den Status quo legitimiere. Diesem Vorwurf muss sich ebenfalls Hedström gefallen lassen, dem es einer nicht nur kritischen, sondern generell einer Reflexion der Neutralität in seiner Schrift mangelt. In Anbetracht der hier rekonstruierten Positionen halte ich fest, der eigene Standpunkt sei nicht als neutral zu verstehen, sondern als vermittelt mit dem eigenen Kontext. Dabei ist es nicht daran, eine eigene Position zu formulieren, sondern diese in die Reflexion der Theoriebildung und deren sozialwissenschaftliche Umsetzung einzubeziehen, damit die Erkenntnis keine ist, die zumindest gegenwärtigen partikularen Interessen entspricht. ll Fassen wir nun kurz das bisher Vorgetragene zusammen.
2.3 Zusammenfassung Die Rekonstruktion Hedströms im Kontext der Tradition Analytischer Soziologie diente mir des Aufzeigens eines nicht thematisierten Aspekts, dem der Neutralität. In Abgrenzung dazu referierte ich in AnscWuss an Foucault sozialtheoretische Überlegungen Laclaus und Mouffes sowie die Position der Frankfurter Schule im Positivismusstreit. Mein Ziel war es dabei, die theoretischen Grundlagen für den weiteren Verlauf meiner Arbeit zu liefern. Vielleicht scheint es, als stehen die beiden bisherigen Teile in einem eher konstruierten Zusammenhang, zumindest ein unbefriedigendes GefüW mag sich jetzt noch einstellen, und die Frage, wozu der Verweis auf Laclau, Mouffe und Adorno diene, lasse ich mir gern gefallen. Jedoch erbitte ich weitere Geduld, so wird sich am Ende des folgenden Kapitels herausstellen, inwiefern sich die Annahme eigener Neutralität als problematisch erweist, indem ich ihren konkreten Ausdruck in Hedströms Modellierung aufspüre.
3. Der soziale Wande1- Zwischen Erklären und Steuern Um auf problematische Aspekte Hedströms Theorie aufmerksam zu machen, betrachte ich nun seine konkrete Modellierung in der "Anatomie des Sozialen" im Kontext von Baumans Diagnose der Modeme und ihrer inhärenten Tendenzen, 11 Auf lange Sicht bleibt sicherlich schwer auszuschließen, die eigene Theorie entspreche irgendwann nicht einmal doch eben partikularen Interessen.
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sowie der im vorherigen Kapitel rekonstruierten Position der Frankfurter Schule und der Sozialtheorie Foucaults, Laclaus und Mouffes. Dabei wäre es achtlos anzunehmen, es handle sich um einen unwichtigen Aspekt, der sich lediglich auf einen vereinzelten Versuch der Modellierung beziehe. Vielmehr versuche ich einen Blick auf ein grundlegendes Problem anband dieser Modellierung zu werfen. t2 Dabei beziehe ich mich auf zwei Konnotationen des Begriffs des sozialen Wandelns. Zum Einen verstehe ich sozialen Wandel als Prozess, dessen Erklärung sich die Analytische Soziologie Hedströms zur Aufgabe macht, zum anderen als einen Prozess, dessen Steuerung durch eine Implementierung wissenschaftlicher Erkenntnisse in sozialpolitische Praktiken gewährleistet werden soll. Das der zweiten Bedeutung zugrunde liegende Verständnis reflektiert Bauman als Verwissenschaftlichung der Politik in der Modeme, oder als: Politisierung der Wissenschaft. Die Ausgangsfrage bleibt im Folgenden die gleiche: Inwiefern ist es problematisch, den eigenen Standpunkt im Prozess wissenschaftlichen Arbeitens - unausgesprochen als neutral zu verstehen, wenn die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen der entsprechenden Arbeit in sozialpolitische Prozesse implementiert werden können? Die Beantwortung dessen ist nun mein Anliegen, so wende ich mich auf der Grundlage dieser Gedanken zuerst Hedströms konkretem Beispiel einer akteursbasierten Modellierung zu, wie er es in der "Anatomie des Sozialen" gibt. 3.1 Eine kritische Rekonstruktion Hedströms Exemplifizierung seiner Theorie anband des Beispiels schwedischer Arbeitsloser Anband jugendlicher Arbeitsloser in Stockholm im Jahre 1990 will Hedström eine Verbindung von agentenbasierter Modellierung und qualitativer Sozialforschung leisten, wobei durchgehend die Frage gestellt wird, "wie die individuelle Wahrscheinlichkeit des Austritts aus der Arbeitslosigkeit durch vielfältige Phänomene der Individual- und Sozialebene beeinflusst werden kann" (Hedström 2008: 165). Hedströms Formulierung oszilliert offensichtlich zwischen dem Versuch einer Prognose und dem der sozialen Steuerung. 13 Ausgehend von der Annahme, soziale Interaktionen handelnder Individuen bringen soziale Phänomene hervor, formuliert Hedström unter dem Gesichtspunkt der DBO-Theorie, Individuen mit engen Beziehungen zu ebenfalls arbeitslosen Individuen erhalten weniger Informationen über zu vergebende Arbeitsplätze 12 Ich folge hier ebenfalls Adornos wie auch Benjamins Einsicht, auch im einzeln reflektierten Besonderen (in meinem Fall die konkrete Umsetzung einer Modellierung) offenbare sich die Tendenz des Allgemeinen, somit der gesamten Theorie: ,,[..,] die kleinste Zelle angeschauter Wirklichkeit wiege den Rest der ganzen Welt auf" (Adomo 2003c: 247). 13 Ich nehme Hedsttöm ernst und somit auch hier bei seinem Wort, ohne mich in wilden Spekulationen zu ergehen. Die von mir hervorgehobene Bedeurung des Satzes ist schließlich explizit nachzulesen.
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Der Wandel der AnalYtischen Soifologie im üchte kritischer Reflexion (Opportunitäten), haben geringere Erwartungen, Arbeit zu ftnden (Überzeugungen), und sind geringerem normativen Druck ausgesetzt, Arbeit zu suchen (Bedürfnisse) (vgl. Hedström 2008: 168ft). Gestützt ftndet er seine Einschätzung durch eine computerbasierte Modellierung. Hedström führt nun die Höhe der Arbeitslosenquote hauptsächlich zurück auf den Faktor der sozialen Interaktionseffekte (vgl. Hedström 2008: 192) und schlussfolgert, der Arbeitslosigkeit sei beizukommen durch die Verminderung sozialer Interaktionen zwischen Arbeitslosen (vgl. Hedström 2008: 195f.). Das Problem ist also in siedlungspolitischen Kategorien zu verstehen, das zumindest suggeriert Hedströms Schlussfolgerung.14 Verbleibt der Blick in der Theorie Hedströms, ist dies ein logischer Schluss aus der zugrunde liegenden Annahme, soziale Interaktionen seien vermittelt über die DBO-Theorie. Nun möchte ich nicht diese sozialtheoretischen Überlegungen zur Interaktion von Individuen in Frage stellen. In Frage stelle ich jedoch die konkreten Schlussfolgerungen Hedströms. Wie sind diese nämlich in einer Arbeitsgesellschaft zu bewerten, der die Arbeit ausgeht - ich folge hier der These Arendts (2002: 12f.)? Die fortwährende Technisierung und Mechanisierung der Arbeitsprozesse hat zur Folge, dass in vielen Bereichen der Arbeitswelt menschliche Kräfte obsolet werden, so dass ein speziftsches Spektrum an Arbeitsplätzen nicht mehr vorhanden ist. 15 Bezieht man diese Einsicht in die Reflexion auf Hedströms Schlussfolgerung ein, stellt sich die Frage nach ihrer sozialen Relevanz, in Anbetracht Hedströms Versuch, Aussagen über die Ursachen der Arbeitslosigkeit zu treffen. 16 In einer Gesellschaft, in der ein Spektrum an Arbeitsplätzen zunehmend nicht mehr existiert, ist sicher wenig geholfen, oder mit geringerem Anspruch: wenig erklärt durch die Bezugnahme auf städteplanerische Maßnahmen, speziftsche Wohnsituationen und die daran gebundenen Interaktionsbeziehungen. Der ausschlaggebende Aspekt ist hier, dass Hedströms Prognose sich statistischer Arbeitsmarktdaten bedient, jedoch daraufhin das Ergebnis der Modellierung allein unter dem Gesichtspunkt der Erwartung und dem Bedürfnis deutet, Arbeit zu ftnden und zwar im Kontext der sozialen Interaktion mit ebenfalls Arbeitslosen (vgl. Hedström 2008: 176f., 179). Das Unausgesprochene dieser Schlussfolgerung, die implizit enthaltene Annahme ist, es gäbe auch in Zukunft weiterhin die fakti-
14 Hedströnl verweist selbst mehrfach auf den Umstand direkter Nachbarschaft (vgl. Hedström 2008: 193). 15 Eine Einsicht, mit der sich abzufInden bedeutet, andere Fragen zu stellen. Dies sind keine Fragen nach einer erneuten Einbindung in den Arbeitsmarkt, sondern Fragen nach anderen Formen der Integration von Individuen in die Gesellschaft, die sich nicht über die Arbeit vollziehen (vgl. Arendt 2002: 13f.). 16 Erinnern wir uns an Hedströms Formulierung zu Beginn diese Unterkapitels, die auf eine Prognose und Steuerung zielt.
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sche Möglichkeit, einer traditionellen Lohnarbeit nachzugehenP Eine arbeitslose Schlosserin jedoch wird in der realen Welt gegenwärtig weiterhin mit wohl geringem Erfolg eine Arbeitsstelle suchen, selbst wenn sie meist mit Vollzeitbeschäftigen interagiert. Die Gründe dafür habe ich benannt. 18 Hier sei es mir erlaubt, eine Frage zu stellen, die zu umgehen nicht mehr möglich scheint. Wenn Hedströms Mechanismus logisch konsistent erklärt, was wohlmöglich empirisch nicht nachzuvollziehen ist (vgL Hedström 2008: 154), welche Relevanz kommt der Analyse Hedströms dann noch, oder besser: zusätzlich bei?19 Zur Beantwortungen dieser Frage kehre ich zurück zu den sozialtheoretischen Überlegungen Laclaus und Mouffes sowie zu gegenwärtigen Rezeptionen und Fortführungen der machtheoretischen Reflexionen Michel Foucaults.
3.2 Eine Verortung von Hedströms Modellierung in machttheoretischer Hinsicht Foucault prägt im Rahmen einer Analytik der Macht den Neologismus "Gouvemementalität"20 zur Analyse der Subjektwerdung sowie der spezifischen Objektivierungsformen und verknüpft Staatstransformationen auf der Makro- mit der Genea17 Dies wird ersichtlich in der Annahme des der Exemplifiziemng zugrundliegenden, agentenbasierten Modells, man könne immer handeln (vgl. Hedsttöm 2008: 112ff., 188), die Möglichkeit zu arbeiten sei also immer gegeben und besonders in der Setzung der konstanten Kontextvariablen (vgl. Hedsttöm 2008: 173, 181). Diese Annahme und Setzung verstehe ich nicht als zufaJlig, sondern als Ausdruck der gesamten Theorie und ihrer Einbettung in den sozialen Kontext, der im Folgenden von mir umrissen wird. 18 Hedsttöms Gegenargument sei hier in Voraussicht ebenfalls genannt: Der von ihm entschlüsselte Mechanismus sei latent vorhanden, werde aber von weiteren überdeckt und sei somit nicht dominant (vgl. Hedsttöm 2008: 50f.). Ich scheue mich hier nicht, dieses Gegenargument als Form der Immunisierung zu verstehen, da es impliziert, es gebe zwar diesen Mechanismus in der sozialen Realität, nur könne man diesen nicht empirisch wahrnehmen. Hedsttöms sprachliche Ungenauigkeiten helfen hier nicht weiter. "Ein Mechanismus sollte demnach als eine empirische Zustimmung zu dem Teil der Theorie betrachtet werden, nach dem der Prozess sich entfalten würde, wenn die Annahmen, auf denen der Prozess beruht, gut begründet sind." (Hedsttöm 2008: 50) Was nur könnte hier "gut begründet" bedeuten, vielleicht eine empirische Zustimmung? Das Argument scheint zirkulär: Man habe eine Theorie, derer der empirische Mechanismus entspreche, wenn die theoretischen Annahmen sich als empirisch begründet erweisen, selbst, wenn der Mechanismus nicht beobachtbar sei. 19 Mein Anliegen ist es nicht, den Erklärungen Hedsttöms ihre Relevanz abzusprechen. Lediglich nehme ich eine machttheoretische Perspektive ein, die der Herauskristallisierung problematischer Aspekte zu Gute kommt und somit der FortjiJhrung Hedsttöms Theotie. Diese Aspekte sind im Konrext der angenommenen Neuttalität zu verorten, nicht aber in einem Fragenkomplex nach der Relevanz der Theorie überhaupt. Zudem zielt mein Vorgehen nicht auf weitere Aspekte, die Hedsttöm übersehen hat, z.B. die faktische Vorhandeinheit von Arbeitsplätzen, sondern auf die Verortung seiner Theorie. 20 Eingeführt wird der Begriff in seinen Vorlesungen am College de France in den Jahren 1977 und 1978 (vgl. Foucault 200Ga, 200Gb).
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Der Wandel der AnalYtischen Soifologie im üchte kritischer Reflexion logie des Subjekts auf der Mikroebene. Aus den Begriffen gouvemer (regieren) und mentaliM (Denkweise) zusammengesetzt, bezieht sich der Begriff Gouvernementalität auf drei Aspekte (vgl. Foucault 2005: 171): Zum einen auf eine spezifische Form der politischen Rationalität und Machtausübung mittels Institutionen, Verfahren, Taktiken, Analysen und (Selbst)Reflexionen, mit dem Ziel der Steuerung der Bevölkerung. Desweiteren verweist er auf die Vorrangstellung des Machttypus Regieren, bei dem Macht als Verschränkung von Fremd- und Selbstführung der Individuen verstanden wird. Schließlich ist er Ausdruck einer Transformation des Staates zum Verwaltungsstaat, in dem das Regieren eine (Neu-)Bestimmung der Bereiche von privat und öffentlich sowie der Zuständigkeiten von Akteuren ermöglicht. Im Zentrum der Machtanalyse Foucaults (2005: 240) steht das Subjekt, welches er als Produkt von Wissens- und Machtformationen versteht, die unzertrennlich verbunden sind. In Wissensbeständen werden die Wirklichkeit, Probleme und Akteure erst definiert. Macht als Ausdruck asymmetrischer Kräfteverhältnisse ist dabei nicht mehr allein Mittel der Unterdrückung, sondern wird als produktiv gedacht. Die rhizomatische, das Subjekt durchdringende relationale Gestalt der Macht ist an spezifische Anordnungen staatlicher Institutionen und Praktiken geknüpft. In dezentraler Gestalt wird Macht zurück in die Subjekte verlagert und formt diese nach der Logik einer rationalen, selbstreflexiven Souveränität. So ist das Subjekt nicht nur unterworfenes, sondern auch ein sich eigenverantwortlich selbst führendes Subjekt. An diese Überlegungen knüpfen unterschiedliche Wissenschafder an und zeichnen nach, wie die soziale Realität von einer ökonomischen Rationalität des Neoliberalismus geprägt wird, nach deren Verständnis die Individuen freie Agenten in eigener Sache seien (vgl. dazu die Beiträge in Lemke/Krasmann/Bröckling 2001). Neoliberalismus wird hier unter anderem als Form des Denkens verstanden, dem die Vorstellung zugrunde liegt, Handeln sei immer möglich (vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2001: 29).21 Dem entspricht auf der ökonomischen Ebene jene Vorstellung, Individuen werden über die Sphäre marktwirtschafdicher Kontakte optimal und fehlerfrei vermittelt. Die Marktwirtschaft ermögliche dabei die vollständige Integration aller in die Welt arbeitsteiliger Lohnarbeit. Da der Markt demnach die Sphäre individueller Vermittlung ist, herrscht das Interesse vor, Personen weiterhin in Marktwirtschaftsprozess zu integrieren. Der Neoliberalismus ist nun aber nicht nur eine Denkweise, die über dem Sozialen schwebt. Er ist ein Produkt gesellschaftlicher Machtkämpfe, institutioneller
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Somit die gleiche Vorstellung, die auch das agentenbasierten Modell Hedströms (Z008: 112ff.) kennzeichnet.
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Praktiken und Wissensgenerierungen22 und an Interessen gebunden, die im sozialen Machtgefüge die dominierende Position inne haben. Aus dieser Perspektive ist Hedström zu verstehen als Subjekt neoliberaler Subjektivierungsformen, die seine Wahrnehmung und Deutung der Welt wie auch seines Forschens prägen. In dessen hegemonialem Diskurs ist Hedström zu verorten, dort erhält seine Erkenntnis ihre weitere Relevanz. Hedströms angebliche Neutralität entpuppt sich aus dieser Perspektive als parteiliche Interpretation sozialer Prozesse. So schlussfolgert er im Sinne einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die weiterhin am reibungslosen Funktionieren arbeitsteiliger Markwirtschaft festhält. Lohnarbeit sei keine Frage der Möglichkeit, da sie aufgrund der marktwirtschaftlichen Verfasstheit der Gesellschaft konstanter Bestandteil des Daseins sei. Das Problem, so Hedström, sei hauptsächlich eines der Interaktion. Sein erkannter Mechanismus entspricht implizit dem hegemonia1en Diskurs. Was Hedström übersieht, ist seine eigene Position im neoliberalen Diskurs, denn der qualitativ-inhaltliche Gehalt seiner Schlussfolgerungen wird von ihm nicht umfassend sozia1theoretisch durchdrungen; er bleibt schlicht unreflektiert in Bezug auf seine normativen Implikationen und seine Positionierung im Kontext hegemonialer machtpolitischer Konstellationen. Der Grund dafür, und hier treffen sich die beiden Kapitel meiner Arbeit, ist Hedströms implizite Annahme eigener Neutralität - denn ist man neutral, bedarf es keiner Selbstreflexion über die eigene Position im diskursiven Raum -, wie das dem folgenden Ausbleiben von sozialtheoretischen und philosophischen Reflexionen macht- und herrschaftstheoretischer Art. 23 Die Anrwort seiner Modellierung ist dann aber genau der Reflex der Theorie auf die gegebene Gesellschaftsformation. Die Konsequenz davon ist die Dienlichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis für herrschende Interessen, die im Zuge sozialpolitischer Praktiken ohne weiteres für hegemoniale Zielsetzungen verwendet werden können. Meine Vorbehalte richten sich also nicht generell gegen Formen der ModelIierung der Soziologie. Die hier geäußerte Kritik bezieht sich allein auf den Prozess der Schlussfolgerungen, die Hedström selbst zieht. 24 Zur Beanrwortung der Frage, inwiefern dies problematisch sei, wende ich mich Baumans Blick auf die Modeme zu. 22 Auch Soziologie ist eine Fonn der Wissensgenerierung. Die Stärke der Foucaultschen Perspektive liegt hier darin, genau dies als Herstellung einer Objektivität zu reflektieren. 23 Auch Lulci.cs übte Kritik an Formen der Wissenschaft, die sich bei ihrem Vorgehen auf einen eingeschränkten Rahmen beschränken und sich eines Blicks auf die Verfasstheit der Gesellschaft entsagen (vgl. Lukacs 1968: 18ff.). Adomo reflektiert das arbeitsteilige Verständnis von Wissenschaft als Reflex auf die arbeitsteilige Gesellschaft. Er selbst tritt ein für eine "Theorie [...], welche die Arbeitsteilung selbst als abgeleitet, vennittelt durchsichtig machen, ihrer falschen Autorität entkleiden könnte" (Adomo 2003b: 465). 24 Auch geht es mir nicht darum, weitere Aspekte in die Modellierung einzubeziehen, sondern darum, warum der Aspekt der faktisch vorhandenen Arbeitsmäglichkeiten auf die von mir dargestellte Weise behandelt wird.
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Der Wandel der AnalYtischen Soifologie im üchte kritischer Reflexion 3.3 Verwissenschaftlichung der Politik - Politisierung der Wissenschaft Baumans Analyse des Holocaust als genuin modemes Phänomen wirft einen kritischen Blick auf die Verschränkung von Rassismus und Antisemitismus mit modernen Formen der Wissenschaft und Technik sowie einer politischen Praxis (vgL Bauman 2002: 76). Die Modeme, so Bauman, setze im Zuge der Aufklärung die Wissenschaft als einzig legitimen Kult, der im Kontext dessen betrieben werde, was Bauman unter dem Begriff "Social Engineering" fasst (Bauman 2002: 81f.). Die Wissenschaft wird hier in den Dienst sozialpolitischer Maßnahmen genommen und dient gleichzeitig als deren Legitimation durch ihr angeblich objektives Wissen. Der zivilisationsgeschichtliche Rahmen dessen lässt sich als Prozess beschreiben, in dem sich die westliche Kultur als Subjekt geschichtlich-gesellschaftlicher Planung mit dem Ziel erkannte, Vorstellungen einer richtigen Gesellschaft umzusetzen (vgL Bauman 2002: 85, 10M.). Damit sind hier einige der Faktoren umrissen, die nach Bauman die Grundlage des Holocausts darstellen. Eine Distanzierung von sozialpolitischen Maßnahmen könnte als Versuch verstanden werden, eben nicht in die von Bauman beschriebenen Prozesse einbezogen zu werden, daher die formale Verpflichtung auf eine objektive Forschung in der Tradition Analytischer Soziologie. Jedoch widerspricht dem bei genauerer Prüfung bereits Hedströms zu Beginn des Kapitels 3.1 zitierte Formulierung, in der der Anspruch zwischen Prognose und sozialen Nutzen bereits auf sprachlicher Ebene vorhanden ist. Und so mögen es gegenwärtig "nur" neoliberale Interessen sein, denen man die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung stellt, in den Zeiten, derer sich Baumans Analyse widmet, waren es andere. Diese Interessen sind alles andere als vergangen2s, so auch die Möglichkeiten moderner Massenvernichtung (vgl. Bauman 2002: 98ff.). Gerade aufgrund der Möglichkeit der Veränderung machtpolitischer Konstellationen (vgl. Laclau/Mouffe 1991: 112), in denen sich Wissenschaft vollzieht, wären diese im Kontext wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis immer selbst von dem Wissenschaftler zu reflektieren. Um die Frage zu beantworten, in wessen Diskurs die eigene Erkenntnis zu verorten ist, bedarf es dann mehr als nur einer Theorie, die allein der akteurstheoretischen ModelIierung filig ist. Dabei geht es nicht darum, eine eigene Position einzunehmen, sondern die eigene Forschung und entsprechende Forschungsfelder mittels einer umfassenden Sozialtheorie im Kontext gesellschaftlicher Interessen zur reflektieren. 26 "Die 25 Sie sind weiterhin vorhanden und kämpfen, auch mir Mittel physischer Gewalt, um eine hegemoniale Position (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz 2008: 46ff.). 26 Nicht ist es damn, willkürlich die Vatiablen der Modellierung in andere Abhängigkeiten zu setzten, Hedsttöm hätte dies sicherlich tun können, sondern daran, die Möglichkeit der Reflexion darüber zu gewährleisten, warum dies überhaupt zu tun ist: Damit die eigenen Deutungen nicht einer hegemonialen Machtkonstellation geschuldet sind.
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Sehnsucht des Gedankens, dem einmal die Sinnlosigkeit dessen, was bloß ist, unerträglich war, hat sich säkularisiert in dem Drang zur Entzauberung. Sie möchte den Stein aufheben, unter dem das Unwesen brütet; in seiner Erkenntnis allein ist ihr der Sinn bewahrt. Gegen solchen Drang sträubt sich die soziologische Tatsachenforschung [...]. Eine jede Ansicht von der Gesellschaft als ganzer transzendiert notwendig deren zerstreute Tatsachen. Die Konstruktion der Totale hat zur ersten Bedingung einen Begriff von der Sache, an dem die disparaten Daten sich organisieren [...]. Sie muss die Starrheit des hier und heute fixierten Gegenstandes auflösen in ein Spannungsfeld des Möglichen und des Wirklichen: jedes von beiden ist, um nur sein zu können, aufs andere verwiesen. Mit anderen Worten, Theorie ist unabdingbar kritisch" (Adorno 2003e: 196f.). An dieser Stelle halte ich inne, fasse das dritte Kapitel zusammen und formuliere dabei die konkrete vorgetragenen Einwände an Hedströms Schlussfolgerungen auf einem höheren Abstraktionsniveau, um zu verdeutlichen, es handelt sich nicht nur um einen problematischen Aspekt des konkreten Beispiels, sondern um ein grundlegendes, ein theorieimmanentes Problem.
3.4 Eine zuspitzende Zusammenfassung In diesem Kapitel vollzog ich die Herausarbeitung des problematischen Aspekts der Theorie Hedströms und der Form, in der dieser sich zeigt. Dafür wurden von mir verschiedene Ebenen zusammengedacht und in die Reflexion einbezogen: Zum einen Reflexionen über den eigenen normativen Standpunkt, der umrissen wurde als Legitimierung des Status quo hegemonialer Weltdeutungen und machtpolitischer Konstellationen; zum anderen die Ebene der geschlussfolgerten Erkenntnis Hedströms über den erklärende Mechanismus seines Beispiels. Dabei kam zum Vorschein: Gerade dem Anspruch Hedströms auf Neutralität so wie dem Anspruch der Analytischen Soziologie, in deren Tradition Hedström sich verortet, ist es geschuldet, dass der Blick für gegenwärtig dominante gesellschaftliche Interessen versperrt wird: Wie könnte man auch diesen dienlich sein, erhebt man doch den Anspruch, neutral und objektiv zu forschen. Die Übereinstimmung von der hegemonialen Wahrnehmung des Sozialen und der Auswahl der Variablen sowie die Deutung der Ergebnisse ist die Folge. Dies macht nicht nur die Theorie Hedströms, sondern jegliche Theorie, die auf eine macht- und herrschaftstheoretische Reflexion verzichtet, anfaIlig dafür, in den Dienst sozialpolitischer Maßnahmen genommen zu werden. Problematisch etweist sich dieser Aspekt unter dem Gesichtspunkt, dass die Moderne alle Mittel bereitstellt, die Grundlagen der Soziologie, das menschliche Leben, zu vernichten.27 Die Frage, die dann vor, während und Tl Zu beachten ist: Bauman wie auch mir geht es hier immer um Tendenzen, die, so Bauman, latent in der Modeme vorhanden sind. Dies jedoch ist kein Vorwurf an Hedström, seine Theorie laufe
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Der Wandel der AnalYtischen Soifologie im üchte kritischer Reflexion am Ende des Forschens fortwährend an sich selbst als Forscher zu stellen wäre, ist herrschaftskritischen, machtpolitischen Charakters: Auf welcher Seite stehen meine Erkenntnis und ich? Nie kann sie als willkürlicher Zusatz zur eigentlichen Theoriebildung und empirischer Forschung verstanden werden, sondern einzig als zentraler Bestandteil davon.
4. Resümee Hier nun komme ich an das Ende meiner Befragung der Analytischen Soziologie Hedströms, in der Hoffnung, auf eine klar formulierte Frage - nach den problematischen Aspekten eines nicht thematisierten Standpunkts - eine überzeugende Antwort geliefert zu haben. Um dies gelingen zu lassen, bedarf es mehr als nur einer klaren Argumentation. Wenn diese wohl der Ausgangspunkt des Gelingens sei, so braucht es immer einen Leser, der bereit ist, ihr zu folgen, denn nie betreibt man Theorie, die sich an jemanden richtet, allein. Im Rahmen dieses Verständnisses von Theorie ging ich der Frage nach, inwiefern ist es problematisch sei, den eigenen Standpunkt im Prozess wissenschaftlichen Arbeitens nicht zu reflektieren, wenn die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen der entsprechenden Arbeit in sozialpolitische Prozesse implementiert werden. Den Ausgangspunkt der Beantwortung bildete die Rekonstruktion Hedströms Analytischer Soziologie mit dem Hinweis auf deren blinden Fleck: Die Reflexion über die Normativität der eigenen Theorie. Dem hielt ich im Gespräch mit der Frankfurter Schule den Versuch entgegen, die eigene Position während des wissenschaftlichen Arbeitens nie als neutral zu verstehen, sondern vielmehr sich ihres normativen Gehalts bewusst zu bleiben. Es folgte die Suche nach der Wirkung des blinden Flecks im weiteren Umgang mit der zugrundeliegenden Theorie. Die Suche führte mich zur Exemplifizierung Hedströms Theorie mittels einer agentenbasierten, computergestützten Modellierung, bei der ich anhand des Variablensettings und der schlussfolgernden Interpretationen Hedströms Theorie im Kontext eines hegemonialen Diskurses neoliberaler Färbung verortete. Meine These war nun hier, Hedströms Modellierung sei als eine Entsprechung des hegemonialen Diskurses zu zwingend auf die Tötung von Leben hinaus, nichts liegt mir ferner. Zudem bin ich mir der normativen Implikation meiner eigenen Arbeit bewusst. Zu beachten ist dabei ihre negativ fonnulierte Forderung, im wissenschaftlichen Forschen dem Töten nicht dienlich zu sein. Daran nun ließe sich vortrefflich eine weitreichende Diskussion über die Legitimation des Lebens sowie dessen Politisierung überhaupt anschließen: Wie ist Sterbehilfe zu bewerten? Dürfen Kinder abgetrieben werden und wann beginnt eigentlich Leben? Dafür allerdings fehlt es mir hier an Raum, so verweise ich auf Agarnbens (2002) Reihe mit dem Titel "Homo sacer", in der er genau diesen Aspekt mittels des Begriffs der Biopolitik kritisch reflektiert. Ich selbst sehe meinen Fokus hier auf der Ebene kollektiver Tötungsszenatien, nicht jedoch auf der Ebene individueller Entscheidungen.
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Markus Baum verstehen, gerade weil er der Dimension machtpolitischer Konstellationen keine Aufmerksamkeit schenke und sich implizit formal als neutral und objektiv verstehe. So steht seine Wissenschaft, im Sinne Foucaults, Laclaus und Mouffes, im Dienste herrschender Interessen. Diesen Aspekt problematisierte ich durch Baumans Analyse der Modeme als Ort der Verschränkung von Politik und Wissenschaft. In Anbetracht dessen entpuppt sich die Entsprechung von hegemonialen Interessen und einer wissenschaftlichen Forschung, die dies nicht reflektiert, als ein Problem, da die latenten Tendenzen der Modeme weiterhin das Potential der Zuspitzung bereitstellen, einer Zuspitzung, die in der kollektiven Vernichtung menschlichen Lebens kulminiert, so bald machtpolitische Konstellationen sich dementsprechend verändern. Eine Wissenschaft, ohne herrschaftstheoretische Reflexion, wäre dem dann dienlich. Demgegenüber plädiere ich für einen integrativen Ansatz der Theoriebildung. Ein integrativer Ansatz, in dessen Kontext ich diese Arbeit selbst verstehe,28 ist kein bloßes Nebeneinander verschiedener Theorien, sondern ein Versuch einer Einnahme verschiedener Perspektiven auf den Gegenstand der Theoriebildung und deren sozialwissenschaftlicher Umsetzung in Form empirischen Forschens. Dies aber ist keine Hintertür, durch die eine Willkür zur Vermischung beliebiger Theorien einfallen könnte. Die notwendige Bedingung eines integrativen Ansatzes zur Leistung einer kohärenten Theorie ist die Entsprechung der unterschiedlichen Denkfiguren, derer man sich bedient. Hier wäre genau zu prüfen, inwiefern Hedströms Theorie sich als anschlussfihig für eine Reflexion des eigenen Standpunkts und machtheoretischer Fragestellungen erweist. Die Ideengeschichte samt ihrer soziologisch forschenden Vertretern zumindest bietet einen reichhaltigen Fundus an möglichen Theorien, die zu leisten dies im Stande sind: Das negativ dialektisches Denken Adomos ist ein Versuch, die Normativität des Denkens zu reflektieren, ohne einer moralischen Positivität zu verfallen - einen Zug, den es im Kontext methodologischer Aspekte der Theoriebildung zu beachte gilt. Foucault wiederum ging in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität intensiv machttheoretischen Fragen nach (vgl. Foucault 2006a, 2006b). Außer Acht gelassen werden darf dabei jedoch nicht der historische Wahrheitskern einer jeden Theorie. Daher bedarf es immer des Versuchs einer Aktualistisierung und Weiterentwicklung derselbigen, um die Gegenwart angemessen zu reflektieren. Im Falle Foucaults sind diese selbstreflexiven Versuche zahlreich vorzufinden: In Bereich der Theoriebildung verwies ich bereits auf die Arbeiten Laclaus und Mouffes. Aber auch im Bereich der Operationalisierung wird man auf der Suche nach Anschlussmöglichkeiten fündig (vgl. Lemke/Ktasmann/Bröckling 2001: 23f.; Pieper 2003). Die Möglichkeiten für 28 Zur Möglichkeit einer konzeptionellen Verschränkung einer eher ideologiekritischen Position der Frankfuner Schule und poststrukturalistischer Positionen vgl. Ziai (2003).
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Der Wandel der AnalYtischen Soifologie im üchte kritischer Reflexion eine von mir geforderte Theorie sind also gegeben - sie sind zu nutzen. Die Gründe dafür einsichtig zu machen, war das Ziel dieser Arbeit.
5. Literatur Adomo, Theodor W. (1996): Probleme der Moralphilosophie. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Adomo, Theodor W. (2003): Minima Moralia. RBflexilmen Suhrkamp.
aNS
dem beschädigten Leben. Frankfurt/Main:
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Handlungstheorie
Gunn Elisabeth Birke/und
Die Kontextualisierung von Akteuren und ihren Präferenzen 1.
Einleitung1
Soziologen pendeln zwischen zwei Welten: Die, in der wir leben und jene, die wir kreieren (vgl. Hernes 1998). Es ist unser Hauptanliegen, die soziale Welt, in der wir leben, zu verstehen und da die Realität komplex ist, konstruieren wir virtuelle Realitäten: Analytische Modelle. Diese Modelle sind Abbilder der Realität, wobei die Konstruktion guter Nachbildungen keine leichte Aufgabe ist. Vielleicht werden deshalb so selten fruchtbare neue Modelle präsentiert. In diesem Beitrag werde ich die Hauptrnerkmale eines guten analytischen Modells für die Soziologie diskutieren. Ich glaube, wir würden davon profitieren, wenn wir bezüglich des Einflusses des sozialen Kontextes von Akteuren expliziter wären, um ihre Präferenzen und Handlungen zu verstehen. Ich werde hauptsächlich die Konsequenzen der strukturellen Verortung eines Akteurs für die Entstehung seiner Präferenzen erörtern. Strukturelle Positionen unterscheiden sich in Bezug auf Interessen, Rollenerwartungen, Belohnungen und Sanktionen, Zugang zu Informationen und zu sozialen Netzwerken. Folglich lässt sich die Heterogenität von ren besser verstehen, wenn wir diese in Opportunitätsstrukturen verorten. Die Analytische Soziologie würde in vielerlei Hinsicht davon profitieren, Erkenntnisse dieser strukturalistischen Perspektive zu integrieren. In der Ökonomie verwendete Rational-Choice-Modelle machen sich das Konzept der Prijerenzen zunutze, während Soziologen, die das DBO-Modell anwenden, dazu neigen, sich der Konzepte wie Bedürfnisse und Überzeugungen zu bedienen (siehe Elster 1983, 2007; Hedström 2005). Wie Freese (2009: 3) darlegt: "Wir begehren die Dinge an sich, aber vor allem ziehen wir Dinge anderen Dingen vor." In der realen Welt sind die Möglichkeiten unseres Handelns fast immer eingeschränkt, wir können nicht alles bekommen, was wir uns wünschen. Wenn wir wissen, was wir mit gegebenen Ressourcen erreichen können, was z.B. in unserer Reichweite liegt, haben wir unseren Möglichkeitsbereich ermittelt. Erst dann treffen wir auf Grundlage unserer Präferenzen eine Handlungswahl. Aus diesem Grund sind Präferenzen
Eine frühere Version dieses Textes wurde beim Workshop über ,,Mechanismen und Analytische Soziologie" (in Turin vom 15.-16. Juni 2009) vorgestellt. Ich dankeJohn Eriksen, Arne Mastekaasa, Per-Arne Tufte und den Seminarteilnehrnern für ihre Kommentare.
153 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen analytisch wichtiger als Bedürfnisse, wenn wir unsere Handlungswahl verstehen wollen. Ich werde in diesem Artikel hauptsächlich das Konzept der Präferenzen verwenden.
2. Modelle sind wichtig Ein Modell ist naturgemäß eine Vereinfachung der Wirklichkeit. Die Frage ist, wie wir vorgehen sollten, um die Wirklichkeit zu vereinfachen. Für analytische Zwecke sollten unsere Modelle die uns interessierenden spezifischen sozialen Phänomene und die wichtigsten Eigenschaften dieser Phänomene herausstellen. Ärzte sind am menschlichen Körper interessiert, folglich wird ein Arzt für Innere Medizin den menschlichen Körper in Bezug auf die inneren Organe darstellen, während ein Orthopäde ein Modell des menschlichen Skelettes benutzen wird. Dies reflektiert eine Arbeitsteilung - verschiedene Teile des Körpers benötigen verschiedene Modelle.2 Dies verhält sich in den Sozialwissenschaften nicht viel anders. Psychologen agieren oft anhand von Modellen, bei denen der Akteur in verschiedene innere Bestandteile oder Identitäten aufgeteilt ist. Dieser Ansatz hat sich für das Verstehen psychologischer Prozesse als nützlich erwiesen. 3 In den Wirtschaftswissenschaften ist das neoklassische Modell der Ökonomie relevant. In diesem Modell sind die Akteure Nutzenmaximierer und betreiben einen ökonomischen Austausch auf dem Markt. 4 Dieses Modell hat sich auch für andere Gebiete als ökonomische Transaktionen als stabil und informativ erwiesen, wie z.B. im Bereich der Partnerwahl auf dem, was wir Heiratsmarkt nennen. Wir haben in der Soziologie viel Zeit damit verbracht, die Modelle anderer Disziplinen zu kritisieren, vor allem die in der Ökonomie verwendeten, neo-klassischen Modelle, und dabei die Unzulänglichkeiten unserer eigenen Disziplin geflissentlich ignoriert. Innerhalb der Soziologie ist sogar die Idee der Anwendung von Modellen an sich diskutiert worden. Dennoch, wenn man daran interessiert ist, die Gesellschaft zu beschreiben und zu verstehen, müssen wir bessere Modelle entwickeln. Um im Alltagsleben zu funktionieren, sind wir durch Erziehung und viel2 3
4
Diese Modelle sind oft deskriptiv, und Mediziner befassen sich schon seit Hippokrates damit, wie körperliche Prozesse erklärt und verstanden werden können. Fteuds Modell vom Es, Ich und Übet-Ich ist ein klassisches Beispiel dafür. Ferner sind die Modelle so konstruiert, dass sie Forschenden dabei helfen, den Gegenstand ihrer Recherchen besser zu verstehen. Die Strukturen des Marktes können differieren. Die drei bekanntesten (idealtypischen) Marktformen sind: Freie Marktwirtschaft, mit einer großen Anzahl von Akteuren sowohl auf der Seite der Nachfrage als auch des Angebotes; das Oligopol mit wenigen Akteuren auf einer der beiden Seiten und das Monopol, das nur einen Akteur auf einer dieser Seiten umfasst.
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Gunn Elisabeth Birke/und leicht auch genetisch als Staatsbürger programmiert, um nur einige Aspekte der komplexen Realität, in der wir leben und die wir beobachten, zu selegieren und uns nur mit diesen zu befassen. Folglich selegieren und abstrahieren wir unbewusst die ganze Zeit, da es Myriaden von Impressionen gibt, die wir aufnehmen und verarbeiten müssten, wenn wir alles und allem erlauben würden, relevant zu sein. Für Forschende ist die Fähigkeit, sich auf einige wenige isolierte Punkte zu konzentrieren und die Realität zu sezieren, noch ungleich wichtiger, da wir mehr als nur unsere Alltagsimpressionen zu verstehen suchen. Damit wird offensichtlich: Wir brauchen gute Modelle der Gesellschaft.
3. Was zeichnet ein gutes Modell aus? Das Rational-Choice-Modell und die DBO-Theorie beinhalten beide Vorstellungen von Akteuren und Strukturen. Das ursprüngliche RC-Modell nimmt an, dass Akteure rationale, nutzenmaximierende Individuen sind, wohingegen andere Versionen auf der Annahme beruhen, dass Individuen nach Befriedigung und nicht nach Maximierung streben und mit der Maximierungsstrategie verknüpfte Erwartungen als Vorhersage für irrationales Verhalten (für eine endlose Suche nach und Verarbeitung von Informationen etc.) verstanden werden kann. Die strukturellen Anteile dieser Modelle sind trotzdem oft nicht besonders spezifiziert. Das RC-Modell beinhaltet keinesfalls expliifte Annahmen über Strukturen, basiert aber auf Annahmen über den Markt, der eine spezifische Art von Struktur mit Grenzen ist, die durch soziale Verträge definiert sind - inklusive Eigentumsregelungen, Transaktionsregeln, dem Finanzsystem, wie z.B. den Kredit- und Finanzmarkt etc. Folglich beinha1tet das RC-Modell einen, wenn auch nicht spezifizierten, Strukturgedanken. Das DBO-Modell ist expliziter bezüglich struktureller Annahmen, da es den Opportunitätsbegriff enthält. Aber genauso wie das RC-Modell ist das DBOModell ein abstraktes und allgemeines Modell, das besonders hinsichtlich dessen, was wir mit "Opportunitätsstruktur" meinen, spezifiziert werden muss, um fruchtbar auf konkrete Forschungsbereiche angewendet werden zu können.
3.1 Zeit und Raum Elster (2007) argumentiert, dass opportunitätsbasierte Erklärungen sozialen Verhaltens wichtig sind, besonders um die Varianz des Verhaltens im Zeitverlauf erklären zu können. Ich würde hinzufügen, dass opportunitätsbasierte Erklärungen auch wichtig sind, um die Varianz des sozialen Verhaltens im soifa/en Raum zu erklären. Der Grundgedanke eines strukturellen Arguments ist, dass Unterschiede in den Möglichkeiten und Beschränkungen mit unterschiedlichen strukturellen Positionen
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Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen einhergehen. In der Soziologie werden Individuen nicht als autonome Akteure betrachtet, sondern als eingebunden in soziale Strukturen, oftmals definiert durch festgelegte Rollen-Sets, organisatorische Positionen, Arbeitsstätten etc. Daher werden die Möglichkeiten und Beschränkungen, mit denen sich Akteure auseinandersetzen müssen, normalerweise eng mit ihren strukturellen Positionen, ihrem Zugang zum Netzwerk usw. verbunden.
3.2 Strukturelle Positionen Abhängig davon, wie "Struktur" definiert ist, kann man normalerweise verschiedene Interessen und normative Verhaltensregeln anhand ihrer strukturellen Position identifizieren. Zum Beispiel sind Arbeitnehmer in Lohnverhandlungen eher am eigenen Verdienst interessiert, während Arbeitgeber zuerst das Wohl der Firma im Auge haben: Die Arbeiter wollen ihren Verdienst maximieren, der Arbeitgeber seinen Profit. 5 Dahingehend sind - per definitionem - verschiedene strukturelle Positionen mit unterschiedlichen Interessen verbunden. Wir würden annehmen, dass diese positionalen Unterschiede verschiedene Weltsichten implizieren - nicht für alle möglichen Aspekte, aber für jene Angelegenheiten, die mit klassenbasierten Interessen zusammenhängen (siehe Wright 1995). Daher wären wir auch nicht überrascht, wenn es eine Verbindung zwischen der Position innerhalb der Klassenstruktur und des politischen Wahlverhaltens gäbe (siehe z.B. Chan/Goldthorpe 2007). Die Klassenposition beeinflusst die Wahrnehmung der Interessen von Akteuren, was wiederum ihre politischen Präferenzen beeinflusst - zumindest insoweit wie ihre klassenverbundenen Interessen reichen. Der für das Verstehen von Präferenzen und Entscheidungen höchst relevante Zugang zu Informationen (siehe Morgan 2002) ist oft von der Verortung eines Akteurs innerhalb der Opportunitätsstruktur abhängig.
3.3 Soziale Netzwerke Man kann davon ausgehen, dass die sozialen Netzwerke, in denen Individuen eingebunden sind, einen Einfluss auf die Präferenzen jener Akteure ausüben, die sich in ihnen bewegen. Das DBO-Modell befürwortend, diskutiert Hedström (2005) bedürfnisorientierte und überzeugungsorientierte soziale Interaktionen. Diese Konzepte erfassen Situationen, in denen die Bedürfnisse und Überzeugungen von Akteuren von ihrer Interaktion mit anderen Akteuren, z.B. mit ihren Freunden, beeinflusst werden. 5
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Es gibt Regeln für Tarifverhandlungen, die besagen, dass der Verhandlungsprozess Fortschritte macht, wenn keine der Parteien eine bedingungslose Maximierungsstrategie anstrebt (siebe H0gsnes 1994).
Gunn Elisabeth Birke/und Netzwerke haben ihre eigene Struktur (z.B. Small-World-Netzwerke). Zudem können Netzwerke in Abhängigkeit von den involvierten Personen mehr oder weniger einflussreich sein. Ein stark verbundenes Netzwerk wird wahrscheinlich weniger neue Informationen bieten, z.B. in Bezug auf Karrierechancen (vgl. Granovetter 1995). Und ein eng geknüpftes Netzwerk kann Menschen auch in soziale Zellen einschließen (soziale Schließung), was den Beteiligten je nach Menge der verfügbaren Ressourcen neben Nachteilen auch Vorteile einbringen kann. Starke soziale Verbindungen z.B. in Imrnigrantengemeinschafen können für das soziale Wohlbefinden nützlich sein, aber nicht für die Integration. 6 Daher müssen soziale Netzwerke aus vielen Untersuchungszwecken mit Opportunitätsstrukturen verknüpft werden, die einen unterschiedlichen Zugang zu sozio-ökonomischen und politischen Ressourcen aufweisen.
4. Akteure und Strukturen Die strukturalistische Tradition in der Soziologie würde argumentieren, dass Strukturen wichtiger sind als Akteure. Besonders die strukturell-funktionalistische Tradition wurde bezichtigt, Akteure gar nicht oder wenn überhaupt, dann als ein übersozialisiertes Konzept des Menschen zu verstehen (siehe Wrong 1961). Meiner Ansicht nach würde eine Diskussion über die analytische Priorität den Akteur an die vorderste Front stellen: Soziale Strukturen existieren nicht, ohne durch Akteure kontinuierlich von innen heraus oder von außen erzeugt, aufrechterhalten oder verändert zu werden. Wenn wir wissen wollen, wo Strukturen "herkommen", fInden wir uns in einem unendlichen Regress zwischen Akteur und Struktur wieder, wenn wir in der Zeit zurückgehen. Trotzdem nehmen wir, meistens aus analytischen Zwecken, die Geschichte und die Existenz sozialer Systeme als gegeben an und versuchen, die Effekte der Eigenschaften eines sozialen Systems mittels der Beschränkungen und Orientierungen des Akteurs zu erläutern. Dies ist die erste Komponente des Makro-Mikro-Makro-Modells von James Coleman. Die zweite Komponente bezieht sich auf die Handlungen von Akteuren, die sich innerhalb des Systems befInden, und die dritte Komponente ist die Kombination oder Interaktion dieser Handlungen, die das Systemverhalten bzw. die emergenten Eigenschaften hervorbringen (Coleman 1990: 27). Ein gutes analytisches Modell besteht daher aus Akteuren, der Struktur und der Wechselbeziehung zwischen diesen beiden (vgl. Hernes 1998). Annahmen über die Akteure, über die Strukturen und ihre Wechselbeziehungen müssen spezifIziert werden, wenn wir die reale Welt verstehen wollen.
6
Siehe zum Beispiel zum Konzept des negativen sozialen Kapitals Portes (1998).
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Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen Lassen sie uns mit einem Beispiel fortfahren: Es gibt ein gesellschaftliches Gefille bei Bildungsabschlüssen. Kinder von Eltern mit einem hohen Bildungsabschluss kommen eher als Kinder von Eltern mit einem niedrigen Bildungsabschluss in den Genuss hoher Bildung.B Warum ist das so? Wie können wir derartige Bildungsleistungen modellieren?
4.1 Akteure Das erste und einfachste Modell lässt die Struktur außen vor und differenziert zwischen den Eigenschaften der Akteure. Mit diesem Modell nehmen wir an, dass die Differenz zwischen Akteuren der einzige Mechanismus ist, der Unterschiede im Ergebnis produziert (vgl. Hernes 1998). Dies ist ein sehr einfaches Handlungsmodell. In unserem Fall könnten wir argumentieren, dass einige Kinder eine bessere Arbeitseinstellung, größeren Ehrgeiz und bessere Noten haben und deswegen eher eine höhere Bildung verfolgen. Wir könnten weiterhin eine genetische Komponente einbeziehen und annehmen, dass die Lernfahigkeit und der Intelligenzquotient ungleich zugunsten dieser Kinder verteilt sind. Für manche Zwecke, speziell wenn wir nicht daran interessiert sind, warnm die Akteure sich unterscheiden, mag dieses Modell völlig ausreichen. Es sagt nichts über die Umwelt der Individuen aus, was gleichbedeutend mit der Annahme ist, dass alle Kinder in der gleichen Umwelt aufwachsen, und/oder ihre Umwelt nicht relevant ist. Für viele Erklärungszwecke ist dieses Modell jedoch zu limitiert. Wir möchten nämlich ebenfalls den Einfluss der Umwelt verstehen. 9
4.2 Struktur In einem weiteren Modell wird angenommen, dass die Akteure identisch sind, sich jedoch in ihrer Position innerhalb einer Sozialstruktur unterscheiden. Dies ist ein strukturalistisches Modell und hier muss spezifizieren werden, welche Art von Sozialstruktur gemeint ist. Um bei unserem Beispiel zu bleiben, ließe sich argumentieren, dass die identischen Akteure in zwei verschiedenen Orten lokalisiert sind, definiert durch den Bildungsgrad der Eltern: Familien mit hohem und Familien mit niedrigem Status. lO Ihre Kinder haben dieselben Fähigkeiten und Ambitionen. Jedoch ist höhere Bildung eine ökonomische und gesellschaftliche Investition und es ließe sich eher von Kindern aus höhergestellten Familien erwarten, dass sie die besDies ist eine ziemlich allgemeine Erkenntnis, obwohl der angesprochene Zusammenhang im Laufe der Zeit und in verschiedenen Ländern variiert (siehe Birkelund 2007; Hout/diPrete 2006). 9 Wir hegen als Soziologen ein spezielles Interesse am so:dafen Umfeld des Akteurs (obschon andere Teilbereiche ihres Umfeldes damit verflochten sind, wie z.B. ökonotnische, politische, technologische und andere sozio-materielle Aspekte). 10 Empirisch existiert eine positive Korrelation zwischen sozialem Status und dem Bildungsweg (vgL Chan/GoldthOlpe 2007). 8
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Gunn Elisabeth Birke/und sere Bildung erhalten. Die Gründe hierfür liegen in den Unterschieden zwischen den Umwehen, in denen die Kinder erzogen werden: Familien mit einem höheren Status sind ökonomisch bessergestellt und deshalb eher in der Lage, ihre Kinder finanziell zu unterstützen, wenn sie sich für einen höheren Bildungsweg entscheiden. 11 Also würde die einfache Version dieses Modells die Akteure als einander ähnlich begreifen, ausgestattet mit denselben (wahrscheinlichkeitsverteilten) Ambitionen und Fähigkeiten. Dieses Modell würde voraussetzen, dass Unterschiede in ihren strukturellen Positionen unterschiedliche Möglichkeiten (und Einschränkungen) implizieren. Dies wäre der Mechanismus, der die im Ergebnis Unterschiede hervorruft, z.B. im BildungsabscWuss. 4.3 Akteure und Strokturen Schließlich sind Modelle, die die Interaktionen zwischen Akteuren und ihrer Umwelt einbeziehen, aus vielerlei Gründen wichtig. In diesen Modellen sind Akteure heterogen (unterschiedliche Charakteristika) bezogen auf ihre Position in unterschiedlichen Umwelten. Dies erlaubt uns, komplexere Modelle aufzubauen, und komplexe Modelle sind näher an der Realität. Um unser Beispiel fortzusetzen: In diesem Interaktionsmodell würden wir erwarten, dass Eltern mit niedriger Bildung ihre Kinder weniger dazu ermuntern, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen als Ehern mit höherer Bildung. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Akteure von Geburt an dieselben (wahrscheinlichkeitsverteilten) Eigenschaften haben, was (kognitive und nicht-kognitive) LernEihigkeiten angeht, beeinflusst ihre Erziehung sie in einer Weise, dass Kinder von Eltern mit einem höheren Status eine bessere Arbeitseinstellung, höhere Ansprüche und bessere Noten haben und deswegen mit höherer Wahrscheinlichkeit einen höheren Bildungsweg einschlagen. 12 Wir könnten auch davon ausgehen, dass besser gestellte Familien die Ausbildung ihrer Kinder fmanziell eher unterstützen werden und ihnen die Entscheidung für eine Hochschulausbildung erleichtern. Demzufolge wären Kinder in niedriger gestellten Familien nicht denselben Einflüssen ausgesetzt und würden folglich nicht herausgefordert, ihre Fähigkeiten auszunut11 Ein bekanntes Modell zur Wahl des Bildungsweges, vertreten durch Boudon (1974) und später durch Erikson und Jonsson (1996) sowie durch Breen und Goldthorpe (1999) weiterentwickelt, argumentiert in der Weise, dass Kinder aus Familien mit hohem sozialen Status wahrscheinlicher einen akademischen Bildungsgrad anstreben werden, da ihre Kosten-Nutzen-Analyse eine andere ist. Im Prinzip sind die Präferenzen die gleichen und sie möchten einen Abstieg vermeiden. Da ihnen aber eine andere strukturelle Verorrung gegeben ist, sieht ihre Kosten-Nutzen-Rechnung anders aus. 12 Es ist zu beachten, dass wir hier keine ungleiche Verteilung genetischer Faktoren voraussetzen, die die erwartete Ungleichmäßigkeit vergrößern würde.
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Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen zen, in der Schule hart zu arbeiten oder den Wert von Bildung höher einzuschätzen als andere Aktivitäten. Dieses Modell würde also sowohl unterschiedliche Präferenzen als auch Opportunitäten für Kinder mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund erwarten. 13 Die empirische Forschung scheint eher mit diesem Modell im Einklang zu stehen. Morgans (2002) Status-Sozialisations-Theorie führt aus, dass der Vorsatz von Schülern., eine Hochschule zu besuchen, durch ihre eigenen Erwartungen geformt werden sowie dadurch, wie diese Erwartungen mit denen ihrer Eltern, Lehrer und Clique korrespondieren. Akteure verschiedener sozialer Herkunft können unterschiedlichen Zugang zu präzisen Informationen Z.B. über ein Hochschulstudium haben. Hinzu kommt, dass normative Erwartungen im Zusammenhang mit strukturellen Positionen variieren. "Es scheint unbestreitbar zu sein, dass die Verteilung der Überzeugungen von Schülern im Austausch mit den Ansichten und Handlungen ihrer Signifikanten Anderen gebildet wird." (Morgan 2002: 422). Diese Kontexteffekte können normativ oder nachahmend sein: Ein Schüler könnte sich dafür entscheiden, eine Hochschule zu besuchen, weil seine Eltern dies von ihm erwarten (normativ geleitetes Verhalten). Oder er kann sich entscheiden, zur Universität zu gehen, weil seine Freunde dies auch tun (nachahmendes Verhalten). Zusammengefasst: Soziologen haben lange Zeit behauptet, dass es wichtige Wechselbeziehungen zwischen exogenen strukturellen Mechanismen, endogenen sozialen Einflussmechanismen und dem Verhalten von Individuen gibt. Indem die Interaktionen zwischen Akteuren und Strukturen integriert werden, bekommen wir ein besseres Verständnis dafür, wie die Auswirkungen der Eigenschaften eines sozialen Gebildes auf die Orientierungen eines Akteurs erklärt werden können (vgl. Coleman 1990).
5. Die Ausbildung von Präferenzen Ökonomen haben behauptet, dass es "nützlich sein kann, Geschmäcker als stabil im Zeitablauf und unter den Menschen als gleichartig zu behandeln" (Stigler/ Becker 1977: 76). Unterschiedliche Handlungswahlen wären dann das Resultat unterschiedlicher Opportunitäten, nicht verschiedener Präferenzen oder Geschmäcker. Obwohl Sclgler und Becker anerkennen, dass Priiferenzen giformtwerden, argumentieren sie, dass eine Analyse des Präferenzwande1s für die Ökonomie nicht angebracht ist. Dies ist ein altes Mantra in der Ökonomie. 1962 führte Milton Friedrnan an, dass "Veränderungen von Präferenzen und die Erforschung ihrer Ursprünge besser anderen Disziplinen überlassen werden sollte." (Friedman 1962: 13 Einige Forschende haben auch das Argument vorgebracht, dass sich eine Kultur der Ablehnung der Schule unter den Kindern der Arbeiterklasse entwickeln könnte.
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Gunn Elisabeth Birke/und 12f.; vgl. Rizvi 2001: 141) In dieser Perspektive sollte jedes Verhalten, das auf Veränderungen von Präferenzen zu basieren scheint, in ein strikt ökonomisches Problem umgeformt werden, bei dem Änderungen im Verhalten als Resultat von Veränderungen von Preisen und Einkommen (d.h. Opportunitäten) und nicht als Veränderungen der Präferenzen angesehen werden (vgl. Rizvi 2001: 141). Diese Vereinfachung wird durch die Tatsache möglich gemacht, dass ökonomische Modelle im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaften auf der Idee eines gemeinsamen Bewertungsmaßstabs (Geld) aufbauen, der eine metrische Rangordnung aller Güter und Dienstleistungen erlaubt. Annahmen zu den Präferenzen von Individuen können auf diese Weise rigoroser etabliert werden als ohne diesen gemeinsamen Nenner. Man kann vernünftigerweise annehmen, dass Jeder ein Objekt mit höherem Wert einem Objekt mit niedrigerem Wert vorziehen würde (beispielsweise einen BMW einem Fiat). Dennoch sind diese analytischen Vereinfachungen kritisiert worden, und insbesondere Psychologen haben eine empirisch basierte Kritik lanciert, indem sie zeigen konnten, dass Präferenzen konstruiert sind. Mehr als vierzig Jahre experimenteller Forschung auf diesem Gebiet zusammenfassend argumentieren Lichtenstein und Slovic (2006), dass die Entscheidungen von Menschen auf "einer Mischung aus Kosten-Nutzen-Abwägungen und wahrnehmungsähnlichen Prozessen basieren, die die Bearbeitung [...] und Rahmung mit einbeziehen." (Lichtenstein/Slovic 2006: 26) Akteure wollen sicher sein, dass sie das auswählen, was für sie richtig ist und bewerten Objekte anband ihrer Attraktivität. Die Attraktivität eines Objektes "setzt sich sowohl aus kognitiven/bewertenden und affektiven/emotionalen Komponenten zusammen" und die Urteile des Akteurs über die Attraktivität der Objekte werden "beispielsweise durch die Variabilität im Strom umweltbeclingter Inputs und durch die inneren Prozesse des Entscheidungsträgers verursacht, inklusive der Unsicherheit über die Ziele und die instabilen Zuordnungen der Ziele zu den Entscheidungsprob1emen" (Svenson 2006: 362). Einiges an dieser Unsicherheit mag dem verwendeten, experimentellen Forschungsdesign geschuldet sein, dennoch ist der Einfluss von Umgebungsvariablen auf die Präferenzen für unterschiedliche Ergebnisse von Bedeutung. Diese Art der Forschung hat in einer Suche nach neuen Theorien über Präferenzkonstruktion resultiert, besonders da die Vorstellung von Transitivität und Vollständigkeit der Präferenzordnungen empirisch nicht mehr aufrecht zu halten ist. Wenn wir die Entstehung von Präferenzen als einen Prozess verstehen, sind einige Einflüsse entscheidender als andere: Persönlichkeitsunterschiede wie biologi-
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Die Kontextualisiernng von Akteuren und ihren Priiferenzen sche oder psychologische Neigungen, eingescWossen der Kognition, haben sich als wichtig herausgestellt. 14 In einer Lebenslaufperspektive sind interpersonelle Einflüsse derart vielfältig, dass diese Veränderungen in den Präferenzen wahrscheinlich machen. Daher gibt es eine Reihe von Argumenten, die nahe legen, dass die in den Standardmodellen der Ökonomie verwendeten Präferenzen sehr spezieller Natur sind und sich nur schwer verallgemeinern lassen. Problemfelder sind: Inkonsistenz der Präferenzen, nicht-autonome Präferenzen, Heuristiken, Meta-Präferenzen und multiple Präferenzordnungen.
5.1 Multiple Präferenzordnungen Unterstellt, dass Individuen multiple Rollen innehaben (Ehefrau, Mutter, Berufstätige usw.), würden wir auch multiple Präferenzordnungen erwarten, beispielsweise aufgrund ihrer Zeitverfügung. Als Mutter möchte ich mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen, als Professorin hätte ich gerne mehr Zeit für die Forschung. Die leidige Frage ist nun, wie ich mich entscheiden soll, d.h., was meine Prioritäten (präferenzen) zwischen konkurrierenden Zeitpräferenz-Schemata steuert. 15 Multiple Präferenzordnungen sind beständig und wir sollten nicht erwarten, dass sie zu einer einzigen Präferenzordnung "konvergieren". Bei multiplen Präferenzordnungen sind Konsistenzprobleme in der HandlungswaW offensichtlich, weshalb wir die HandlungswaWen von Individuen nicht als Information über ihre einzelnen Präferenzordnungen interpretieren können, (d.h., wir können keine RückscWüsse von der AuswaW auf die Präferenzen ziehen). Multiple Präferenzordnungen als gegeben unterstellt, wäre die entscheidende Frage, wann diese Einflüsse für die HandlungswaWen der Akteure entscheidend sind. Wir müssen genauer verstehen, was entscheidende Einflüsse auf die waW von Präferenzen (aus multiplen Präferenzen) hat, die soziales Verhalten beeinflussen.
5.2 Mikro-Makro-Link Wir gehen mit komplizierten Sachverhalten um, wenn wir versuchen, die individuelle Handlungstheorie mit den beiden anderen Komponenten zu verbinden, die wir brauchen, um ein soziales Phänomen zu erklären. Daher, so Coleman, sollte die Handlungstheorie einfach gestaltet sein: "Für eine Sozialtheorie, die aus den drei Komponenten besteht - einer Makro-zu-Mikro-Komponente, einer individuellen
14 Wie bereits Freese (2009) vorgeschlagen hat, wären Soziologen vielleicht besser damit beraten, das Individuum als Black-Box anzuseben und Diskussionen über den intrapersonaIen Aspekt anderen Disziplinen wie der Psychologie zu überlassen. 15 In solchen Siruationen mag der von Anderen ausgeübte Druck fiir unsere Entscheidungen wichtiger sein als sonst.
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Gunn Elisabeth Birke/und Handlungskomponente und eine Mikro-zu-Makro-Komponente - ist es überaus wichtig, dass die individuelle Handlungskomponente einfach bleibt." (Coleman 1990: 19). Dieser Aufsatz hat sich hauptsächlich mit der ersten Komponente befasst und für ein kontextualisiertes Modell sozialer Handlung argumentiert. Es gestaltet sich schwierig, die letzte Verbindung von der sozialen Interaktion zum Makroebenen-Ergebnis darzustellen. Wenn wir uns z.B. mit reiner Aggression beschäftigen, ist das einfach. Aber normalerweise ist die Mikro-zu-Makro-Komponente wesentlich komplizjerter, da sie mehr als einen Mechanismus involviert. 16
6. Zusammenfassung Ein gutes analytisches Modell setzt sich aus Annahmen über Akteure, Annahmen über Strukturen und Annahmen über deren Wechselbeziehungen zusammen. Soziologen wären mit Stiglers und Beckers Behauptung, dass Geschmäcker im Zeitverlauf stabil bleiben und bei allen Menschen gleich sind, nicht einverstanden. Wir gehen davon aus, dass Unterschiede in den Präferenzen nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Um die Sache noch komplizierter zu machen, führen Soziologen an, dass Individuen in Strukturen wie zum Beispiel in Rollen innerhalb der Familie, Arbeitsplätzen, Netzwerken, usw. eingebunden sind. Da diese Positionen wahrscheinlich unterschiedliche Präferenzen und Handlungen mit sich bringen, würden wir Akteure mit multiplen Präferenzordnungen erwarten. Wenn mit einer bestimmten Position verbundene Präferenzen im Gegensatz zu Präferenzen einer anderen Position stehen, wird es oftmals schwierig sein, ein Ergebnis vorherzusagen. Das in diesem Beitrag vertretene Hauptargument ist, dass unsere Modelle die Effekte von Eigenschaften eines sozialen Gebildes auf die Beschränkungen und Orientierungen der Akteure explizjeren sollten.
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16 Siebe Manzo (2009) für ein sehr interessantes, agentenbasiertes Modell des BildungsabscWusses, das Mechanismen der Kosren-Nutzen-Wahmehmung von Akteuren mit einschließt, die er als heterogen modelliert - abhängig von ihrem sozialen Hintergrund.
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Andrea Maurer
Die Analytische Soziologie Peter Hedströms und die Tradition der rationalen Sozialtheorie
1. Einleitung Peter Hedström gehört zweifelsohne zu denjenigen, die die Soziologie als Wissenschaft vom Sozialen anlegen und zu diesem Zweck präzise, durch Abstraktion gewonnene Begriffe und kausale Erklärungen vorlegen wollen. Hedström tut dies im Anschluss an neuere Theorieentwicklungen im Kontext der Makro-Mikro-Diskussion, die den methodologischen Primat auf der Handlungsebene und die analytische Perspektive auf der Strukturebene verorten. "Sociology that really matters ... to me" ist für Hedström (2007) theoriegeleitetes Arbeiten mit dem Ziel, kausale Rekonstruktionen sozialer Prozesse in Form von Mechanismus-basierten Erklärungen auszuarbeiten. Die primäre Aufgabe einer so verstandenen Soziologie bestünde mithin darin, eine Sammlung Mechanismus-basierter Erklärungen anzulegen und diese der alltäglichen Arbeit zugrunde zu legen. Seit den Gesellschaftslehren der Aufklärung, vor allem aber mit der Schottischen Moralphilosophie,1 wird der Anspruch vertreten, die soziale Welt denkend, mit den Mitteln der Vernunft, einer präzisen Sprache und der formalen Logik "durchschaubar" zu machen und bis dato unverstandene soziale Prozesse analytisch "aufzuklären" und ihre Wirkungsweise kausal "aufzuhellen". Die Soziologie greift dies in der Diskussion um die Grundlagen und Mechanismen sozialer Ordnungsbildung bis heute in verschiedenen Theorietraditionen auf. Ob und inwieweit der von Hedström vertretene "mechanism approach" der Tradition rationaler Sozialtheorien zuzurechnen ist, will ich hier diskutieren. Ich werde dazu den methodologischen Rahmen der "ana!Jtischen So~ologie" (Abschnitt 3) rekonstruieren und darin eingebettet die Grundlagen (Abschnitt 4), die soziologische Heuristik (Abschnitt 5) und das Verhältnis des "mechanism approach" zu den rationalen Sozialtheorien (Abschnitt 6) erschließen und einschätzen.
Ich werde unten noch auf die Bedeutung der handlungstheoretischen Rekonstruktion des Marktmechanismus seit Adam Smith zu sprechen kommen.
165 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie
2. Aufklären sozialer Prozesse Die Idee, mit den Mitteln der Vemunft und einer präzisen Begriffsbildung2 eine denkende Ordnung in die komplexe soziale Welt zu bringen, hat in der Soziologie insbesondere Max Weber aufgegriffen. Weber hat die Entwicklung der (westlichen) Welt als umfassenden Rationalisierungsprozess rekonstruiert, der neben einem zunehmend bewusst geplanten individuellen Handeln auch die Systematisierung des Denkens, der Weltbilder und der Wissenschaft sowie die rationale Gestaltung sozialer Institutionen beinhaltet. Der ifVeckrationalen Handlungsorientierung kommt dabei eine doppelte Bedeutung zu: Sie wird zum Ausgangspunkt soziologischer Erklärungen gemacht, da Zweck-Mittel-Relationen objektiv am evidentesten und am besten nachzuvollziehen sind, und sie wird als dominanter Handlungstyp der Modeme vorgestellt (vgl. insbes. Weber 1980: Kap. 1). Davon ausgehend stellt Weber soziale Ordnungsbildung als Problem wechselseitig verständlicher und stabiler Erwartungen dar und beschreibt allgemeine, bewusst und vor allem zweckrational gesatzte Regeln als formal rationale Grundlage sozialer Beziehungen. Die Verbreitung großer, rational organisierter Verbände mit formal-legalen Herrschaftsstrukturen ist für Weber die unausweichliche, wenngleich individuell ungeplante Begleiterscheinung der Modeme. Mit Popper, Albert u.a. Vertretern des kritischen Rationalismus, einer Variante der analytischen Philosophie, der sich Hedsttöm zurechnet (vgl. Abschnitt 2), findet sich auf der anderen Seite ein erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Bezugspunkt, der das analytische Denken, die Möglichkeit objektiver Wahrheitsfindung und die wissenschaftliche Kritik als Mittel der Erkenntnisfmdung ansetzt, dabei aber grundsätzlich von der Vorläufigkeit allen menschlichen Wissens und Erkennens ausgeht (vgl. insbes. Albert 1968; Popper 1969). Die Soziologie kann sich demzufolge als eigenständige Disziplin profilieren, indem sie "situationslogische AnalYsen" vornimmt, die Makrostrukturen als Handlungssituationen aus Sicht rationaler Akteure erschließen. Es geht dabei vor allem darum, den Problemgehalt sozialer Konstellationen zu erkennen und das dafür adäquate Handeln zu rekonstruieren. Das individuelle Handeln wird als "rationales" dargestellt, das den individuellen Absichten in der gegebenen Handlungssituation am besten entspricht (Rationalitätsprinifp; vgL Esser 1993: Kap. 4, 5; Hedström/Swedberg/Udehn 1998). Eine sozial-
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Das Postulat, präzise Begriffe und Aussagen zu formulieren, erinnert an das der Logik entnommene Postulat, dass der Gehalt einer Aussage umso höher ist, je präziser sie formuliert ist und je genauer und enger sie ihren Gegenstandsbereirh kennzeichnet (und damit erkennbar von bestimmten Aspekten abstrahiert und andere hervorhebt), und dass rein logische Aussagen keine neuen Erkenntnisse bergen, sondern dass dazu empirisch gehaltvolle Aussagen notwendig sind (vgl. Albert 1968; Popper 2000).
Andrea Maurer und gesellschaftstheoretische Wendung bekommt diese Methodologie, wenn "Alles Leben als Problemlösen"3 aufgefasst und die soziale Welt aus Sicht an sich vernünftiger Individuen als Ansammlung rational bearbeitbarer Probleme analysiert wird. Da zugleich von der Vorläufigkeit menschlichen Wissens ausgegangen wird, sind auch theoretische Gestaltungsvorschläge weiter unter dem Fokus "unintendierter" Folgeprobleme zu betrachten (vgl. Popper 1969,2008). Auf dieser Basis hat die Ökonomie früh damit begonnen, die kollektiven Effekte eines individuell rationalen und vor allem eigennutzorientierten Handelns zu thematisieren. Seit Smith wird materieller WoWstand (dessen Quelle ja seit den Physiokraten auf menschliche Leistungen zurückgeführt wird) als ökonomischer Problemfokus gewäWt und analysiert, unter welchen institutionellen Gegebenheiten eigennützige Wirtschaftsakteure dieses erreichen. In der Ökonomie wurde der Markt- respektive Wettbewerbsmechanismus lange als universell effiziente Form wirtschaftlichen Handelns betrachtet. Dahinter steht eine frühe Form der situationslogischen Analyse. Der Konkurrenzmechanismus benennt den eigennützigen Begehr der Akteure nach materiellen Konsumgütern als Ursache von Tauschhandlungen, die auf Wettbewerbsmärkten so lange andauern, bis durch eine zusätzliche Mengeneinheit kein Nutzenzuwachs mehr zu realisieren ist. Dies ist dann der Fall, wenn der Grenzertrag gleich dem Marktpreis ist. Oder anders gesagt: Rationale Akteure, die durch ihren Eigennutz getrieben sind, generieren unter den Bedingungen eines vollkommenen Wettbewerbsmarktes allein durch ihre autonomen, freiwilligen Tauschhandlungen eine aus individueller und kollektiver Sicht optimale Verteilungsstruktur. Und Letzteres, ohne dies zu wissen oder anzustreben (vgl. ausführlicher Maurer/ Schrnid 2010: Kap. 6). Die solcherart erscWossene Logik des Wettbewerbsmechanismus wird sowoW in der Soziologie als auch in der Ökonomie (vgl. Hedström 2005; Hedström/Swedberg/Udehn 1998) aufgrund der stark vereinfachten Modelle auf der Handlungsebene (homo oeconomicus) und der Strukturebene (vollkommener Wettbewerbsmark~ als "unrealistisch" kritisiert, was aber nichts daran ändert, dass er kausal und durch Abstraktion präzise erklärt, warum individuelle Tauschhandlungen zu pareto-optimalen Gleichgewichten führen können. Innerhalb der Soziologie wurde vor allem das Handlungsmodell des homo oeconomicus wegen der dabei angenommenen vollständigen Information bzw. umfassenden Rationalität der Akteure und auch wegen des als universell unterstellten Handlungsprinzips der Nutzenmaximierung kritisiert (vgl. Hedström 2005). Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass das Handeln auf Wettbewerbsmärkten an die individuelle Rationalität keine größeren Anforderun3
So der bekannte Titel eines Vortrags und einer danach benannten Schriftensammlung Poppers. Problemerkennung, Fehlerkorrektur und Kritik spielen demnach eine zentrale Rolle bei der bewussten Verbesserung der Lebensumstände (siehe Popper 2008: 255ff.).
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie gen stellt, als Marktpreise richtig wahrzunehmen und sich an diesen zu orientieren. Aus der Logik des Wettbewerbs folgt dann, dass diejenigen, die dies nicht tun, weil sie zu hohe Preise verlangen oder zu niedrige anbieten, aus dem Markt herausfallen. Nur daher können Marktakteure so beschrieben werden, als ob sie rational handeln würden (siehe noch unten). Wesentlich zentraler scheint mir aus soziologischer Sicht jedoch die Kritik am Modell des vollkommenen Wettbewerbsmarktes zu sein, da dies grundsätzlich bedeutet, vom autonomen Entscheiden einzelner Akteure (welche Gütermenge er/sie bei gegebenen Preisen nachfragt oder anbietet) auszugehen und die Wirkung sozialer Verflechtungen wie Macht, Vertrauen oder Einfluss völlig zu ignorieren. Dies würde aber dem Grundanliegen und dem Selbstverständnis der Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln widersprechen. Es ist mir wichtig deutlich zu machen, dass soziologische Erklärungen gut beraten sind, zwischen Erweiterungen auf der Handlungs- und der Strukturebene zu unterscheiden, denn nur im zweiten Fall bzw. in Kombination von Handlungs- und Strukturannahmen werden so~ale Erklärungsfaktoren starkgemacht und ihre Wirkung auf das individuelle Handeln erkannt. Nur auf der Basis eines allgemeinen und deterministisch eindeutigen handlungstheoretischen Kerns ist es möglich, Situationskonstellationen4 in ihrer handlungsleitenden Wirkung zu erschließen und Handlungen eindeutig abzuleiten. Der Verzicht auf einen solchen festen handlungstheoretischen Kern bedeutet, die Wirkung von Situationsfaktoren nicht mehr klar erfassen zu können, sodass letztlich auch keine Heuristik anzulegen ist, wann, warum und an welcher Stelle Spezifikationen und Konkretionen vorzunehmen sind. Eine "erklärende So~ologie", die so:dale Strukturen über Handlungsannahmen erfassen und daraus soziale Prozesse erklären will, hat sich erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sichtbar institutionalisiert (vgl. dazu etwa Boudon 1980; Coleman 1990; Esser 1993). Der Hintergrund dafür ist zum einen die kritische Auseinandersetzung mit funktionalistischen Argumenten (insbesondere mit Parsons) bzw. reduktionistisch-individualistischen Ansätzen (vor allem von Homans und Blau) und zum Anderen die Kritik an der Variablensoziologie (vgl. Boudon 1980; Hedström 2005,2007; Mayntz 2004). Coleman, Schüler von Blau, Parsons und Merton (vgl. Hedström/Wittrock 2009; Marsden 2005), hat, diese Auseinandersetzungen auf4
Der Vorschlag im Rational-Choice-Approach dazu ist, die allgemeine Wahlregel "situationsspezifisch" über Brockenhypothesen empirisch und theoretisch zu konkretisieren, um den inhaltlich leeren Interessen- und Nutzenbegriff zu fiillen. Lindenberg (1996) hat dazu etwa vorgeschlagen, "soziale Produktionsfunktionen" einzusetzen. Notwendig wären dann noch zusätzliche Annahmen über die mehr oder weniger vorhandenen Fähigkeiten der Akteure, rational handeln zu können, d.h., einerseits die objektive Situation im Lichte ihrer Intentionen wahrzunehmen und zu bewerten und andererseits sich auch über ihre Intentionen bewusst zu werden. Darauf stellt vor allern Hedström ab (vgl. Abschnitt 2).
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Andrea Maurer greifend, eine Sozialtheorie auf der Basis der Rational-Choice-Theorie vorgelegt (Coleman 1990), die analYtisch zwischen Struktur- und Handlungsebene unterscheidet und beide Ebenen mithilfe zusätzlicher, theoretischer und empirischer Hypothesen wieder verbindet, was sich im Bild einer "Badewanne" bzw. eines "Bootes" einprägsam abbilden lässt (siehe Coleman 1990: 8ff.). Coleman nutzt die situationslogische Analyse und soziologisiert die ökonomischen Situationsmodelle, indem er Situationen als je typische Verteilungen soi/ai konstituierter Handiungsrechte anlegt, die zum Tausch von Handlungsrechten und darüber zu Handlungssystemen mit ganz eigenen Funktionslogiken und Folgeproblemen führen, die eben nicht stabilen und optimalen Gleichgewichten entsprechen (vgl. ausführlich Maurer 2004, 2009). Hedström, der zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn längere Zeit in Harvard und im Umfeld von Coleman sowie den kritischen Rational-Choice-Theoretikern S0rensen und Elster verbracht hat (vgl. Edling/Stern 2003)5, ist durch diese Arbeiten geprägt (vgl. Hedström 2007, 2009) und sein "mechanism approach" erschließt sich auch in manchen Punkten erst vor dem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit Coleman.
3. Der methodologische Rahmen: Analytische Soziologie Hedström (2005: Kap. 1; 2009) rechnet sich der analytischen Philosophie zu und benennt vier methodoJogische Grundprinifpien für sein Arbeiten: 1) Erklären, 2) Methodologischer Individualismus, 3) Abstraktion und Sezieren6 komplexer Sachverhalte sowie 4) Präzision in der Begriffs- und AussagenformulierungJ Er greift damit vor allem eine Forderung der analytischen Modell- und Theoriebildung auf (vgl. z.B. Esser/Klenovits 1991) und überträgt diese auf die Soziologie: die gedankliche Zerlegung der komplexen sozialen Welt in ihre Einzelkomponenten (Sezieren) in Verbindung mit dem Hervorheben bzw. Ausblenden einzelner Faktoren (Abstrahieren), um darin möglichst präzise beschriebene Kausalzusammenhänge finden zu 5
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In ihrer Expertise des skandinavischen Rational-Choice-Prograrnms geben Edling/Stem (2003) den Hinweis, dass Hedström bei Korpi, dem exponiertesten Rational-Choice-Soziologen in Schweden, studiert hat. Nach dem Hintergrund des englischen Originaltitels seines Hauptwerkes "Dissecting rbe sooo" befragt, gibt Hedström an, dass es ihm wirklich um die Anatomie und das Sezieren des Sozialen gehe. Hedström bezieht sich explizit auf die analytische Philosophie, ohne indes seine Bezugspunkte ausfiihrlich offenzulegen; so bleibt insbesondere sein Verhältnis zum kritischen Rationalismus weitgehend ungeklärt (vgl. als Ausnahmen Hedström/Swedberg 1998c; Hedström/Swedberg/Udehn 1998). Seine Referenzpunkte für die analytische Theoriehildung wie für rnehrstufJge, handlungstheoretisch fundierte Erklärungen sind einerseits die Klassiker Weber, Parsons und Merton sowie aktuelle Vertreter eines weiter und kritisch gefassten Rational-Choice-Ansatzes wie Boudon, Elster oder Schelling (Hedström 2005: 6; Hedström/Stem 2008).
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Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie können: ,,00 explain complex social processes by carefully dissecting them, bringing into focus their most important constituent components, and then to construct appropriate models which help us to understand why we observe what we observe" (Hedström 2009: 332). Die analytische Theorie- und Modellbildung ist innerhalb der Soziologie mehrfachen Anfragen und Kritiken ausgesetzt, die vor allem den Realitätsgehalt und den Stellenwert der Handlungsannahmen adressieren. Hedström problematisiert vor allem, wie Annahmen auf der Handlungsebene gegenüber der Rational-ChoiceTheorie realitätsgerechter gefasst werden und wie falsche AnnahmenB vermieden werden können. Genauer formuliert bedeutet dies zu klären, an welchen Stellen und inwieweit Annahmen "vereinfacht" werden dürfen, welche Handlungstheorie für die Soziologie adäquat ist und wie Handlungs- und Strukturebene miteinander in Beziehung zu setzen sind. Das weist Hedström als Kritiker reiner Makroerklärungen (Strukturfunktionalismus, Neo-Funktionalismus, Neo-Marxismus) sowie rein individualistischer Erklärungsprogramme (Austauschtheorien, Symbolischer Interaktionismus) aus. Zugleich ist er damit auch von rein deskriptiven Beschreibungen, Gesellschaftsdiagnosen und der Variablensoziologie 9 abzusetzen. Innerhalb der erklärenden Soziologie differenziert er sich durch die Kritik am HempelOppenheim-Schema (siehe Hedström 2005: Kap. 2), dem er vorwirft, durch das deduktiv-nomologische Ableiten die Einmaligkeit und Pfadabhängigkeit sozialer Erscheinungen wie auch die Varianz des individuellen Handelns nicht berücksichtigen zu können. IO Hedström reiht sich stattdessen mit Merton in die Tradition der Theorien mittlerer Reichweite einll und schlägt dazu eben Erklärungen in Form kausaler Mechanismusrekonstruktionen vor, die regelmäßig wiederkehrende Prozesse aus Konstellationen von Akteuren und deren Handeln ableiten: "the purpose of theorizing, it seems to me, should always be to clarify matters, to make the complex and seemingly obscure clear and understandable" (Hedström 2005: 49). In der Frage des Realitätsgehalts bezieht Hedström, der Modelle ja als Abstraktion und nicht als Abbild der Welt sieht, entschieden Position gegen eine "instrumentalistische Umgangsweise" mit Annahmen. Unvollständige Abstraktionen sind von Modellen zu unterscheiden, die "falsche" Annahmen beinhalten. Weil daraus 8
"Wir nennen eine Aussage ,wahr', wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt oder den Tatsachen entspricht oder wenn we Dinge so sind, wie we Aussage sie darstellt." (popper 1969: 117) 9 Gegen staristische Kausalmodelle sowie auch große Längsschnittstuclien wendet er - wie andere auch (vgL z.B. Mayntz 2004) - immer wieder ein, dass sie "nur" Zusammenhänge zwischen Faktoren ausweisen ohne sagen zu können, warum wese Zusammenhänge vorliegen (vgl. Hedsrröm 2005: Kap. 2). lOlch werde genau wesern Argument hier widersprechen und zeigen, dass dies sehr wohl mög1ich und fruchtbar ist (vgl. Boudon 1980; Esser 1993, 2003; Esser/Klenovits 1991; Lindenberg 1992, 1996; Maurer/Schmid 2010: Kap. 2 sowie bier in Abschnitt 4.3). 11 Vgl. Mackert in wesern Band.
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Andrea Maurer falsche Erklärungen folgen, legt Hedström die DBO-Theorie anstelle der Theorie der rationalen Wahl12 als eine weite Entscheidungstheorie zugrunde. Dem ist jedoch das logische Argument entgegenzuhalten, dass zwar aus wahren Annahmen logisch wahre Theorien folgen, dass aber auch aus falschen Annahmen richtige Theorien deduziert werden können (vgl. Albert 1986; Coleman 1990: Kap. 1; Popper 1969: 116f.).13 "Ein gültiges deduktives Argument sagt nichts über die Wahrheit seiner Komponenten, das heißt genauer: In einem solchen Argument können alle Komponenten falsch sein, es können auch die Prämissen alle oder teilweise falsch und die Konklusionen wahr oder falsch sein; nur ein Fall kann nicht eintreten: aus ausschließlich wahren Prämissen können nicht falsche Konklusionen folgen." (Albert 1968: 14) Für die konkrete soziologische Erklärungsarbeit ist indes die auch von Hedström geteilte Auffassung bedeutsam, wonach Modellannahmen expliziert und durch Prüfung vervollständigt werden können bzw. müssen. Der Prüfung und Verbesserung von Modellen über Simulationen kommt daher bei ihm eine große Bedeutung zu, wohingegen er auf eine theoriegeleitete Erweiterung verzichtet. Damit vergibt er die Chance mehrstufiger, handlungstheoretisch fundierter Erklärungen, nämlich ausgehend von einem allgemeinen, deterministischen Handlungsprinzip, Faktoren als erklärungsrelevant "erkennen" und systematisch "einfacher" oder "komplexer" beschreiben zu können, weil eben deren Wirkung auf das Handeln explizit angegeben wird. Damit wäre dem vorzubeugen, was auch Hedström kritisiert: dass soziologische Analysen immer wieder von Neuem beginnen, dass sich eine scheinbar unaufhaltsame Auflösung in Bindestrichsoziologien vollzieht und dass die Soziologie unverbunden mit den anderen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen arbeitet (vgl. Hedström 2009; Mayntz 2004 u.a.).
4. Die Erklämngslogik: Mechanismus-basierte Erklämngen Hedström präsentiert den "mechanism approach" als eine eigenständige Erklärungsform vor allem in Unterscheidung zum Hempel-Oppenheim-Schema. Mechanismus-basierte Erklärungen benennen typische Konstellationen von Akteuren (Einheiten) und Handlungen (Aktivitäten) als kausale Ursache für typische soziale Prozesse, die in unterschiedlichen Feldern immer wieder gleich ablaufen. "A social me12 Die Heuristik der Theorie der rationalen Wahl für die Soziologie liegt darin, dass sie den Handlungsparameter ,,Intentionen" mit Sitwltionsfaktoren in funktionale Zusammenhänge bringt und damit etwa in Fonn "sozialer Produktionsfunktionen" auch situationsspezi.fisch konktetisieren kann. Vgl. zur soziologischen Diskussion der Rational-Choice-Theorie etwa Abell (1991), Cook/ Levi (1990) oder Coleman/Fararo (1992). 13 Davon zu unterscheiden ist die These Poppers (1969: 116): "Wenn alle Prämissen wahr sind und der Schluss gültig ist, dann mllJs auch die Konklusion wahr sein; und wenn daher in einem gültigen Schluss die Konklusion falsch ist, so ist es nicht möglich, dass die Prämissen alle wahr sind."
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie chanism is an integral part of an explanation wruch (1) adheres to the four core principles stated previously, and (2) is such that on the occurrence of the cause or input, it generates the effect or outcome." (Hedström/Swedberg 1996: 25) Ein sozialer Sachverhalt wird durch die Angabe eines passenden Mechanismus erklärt: "to explain facts of a type is to exhibit or hypothesize the mechanisms that bring them about" (Bunge 2007: 258; vgl. Hedström 2005: 11). Der "mechanism approach" ist eine soziologische Arbeitsweise, die sich auf die kausale Rekonstruktion von Mechanismen konzentriert und eine "tool box" aus Mechanismus-Modellen erstellen will (siehe Hedström 2009: 341; Hedström/Bearman 2009). 4.1 Konstruktionsprinzip und Elemente: Mikrofundierung und Mehrstuitgkeit Mechanismus-basierte Erklärungen grenzen sich explizit vom Hempel-Oppenheim-Schema ab, das vorsieht, ein Explanandum logisch aus empirischen Anfangsbedingungen und einem allgemeinen Gesetz abzuleiten (vgl. Hempel/Oppenheim 1948; Popper 1969: 117f.). Im "mechanism approach" werden hingegen logische Ableitungen ohne einen festen, erklärenden Kern vorgenommen. An dessen Stelle treten alle möglichen Konstellationen aus Akteuren (beschrieben durch soziale Interaktionsformen und Beeinflussungschancen) und deren Handlungen (abgeleitet aus spezifischen Konstellationen aus Bedürfnissen, Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten). "Ein sozialer Mechanismus, wie er hier definiert wird, ist eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die miteinander derart verbunden sind, dass sie regelmäßig bestimmte Typen von Folgen hervorbringen." (Hedström 2008: 25) Damit geht jedoch die deduktive Stärke verloren, Ursachen für soziale Prozesse eindeutig angeben und Nebenbedingungen unterscheiden zu können. Anstelle dessen werden theoretisch nicht näher zu kennzeichnende Konstellationen als Ursache für soziale Prozesse erschlossen. 14 Diese theoretische Unterbestimmtheit ließe sich jedoch aufheben, wenn elementare Mechanismen und soziale Mechanismen durch eine Handlungstheorie wie z.B. die Theorie der rationalen Wahl begründet und als systematische Erweiterungen eines einfachen Typs angelegt werden würden. Dann wäre auch die Suche und Explikation von Mechanismus-basierten Erklärungen nicht mehr beliebig und zufällig, sondern könnte etwa über unterschiedliche Problemtypiken oder -gehalte angeleitet werden. "Die Kernidee hinter dem Mechanismen-Ansatz ist, dass wire in soziale Phänomen erklären, indem wir uns auf eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten beziehen, typischerweise 14 Genau dies hat meines Erachtens auch Webet mit dem von ihm präferierten und praktizierten Nachweis von Begünstigungskonstellationen getan, was ja bekanntlich dazu geführt hat, dass die These det Protestantischen Ethik so offen ist, dass die Suche nach weiteren Faktoren bis heute anhält.
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Andrea Maurer Akteure und ihre Handlungen, die in einer Art und Weise miteinander verbunden sind, dass sie regelmäßig den Typ von Phänomen hervorbringen, die wir erklären möchten." (Hedström 2008: 42) Hedström (2009: 341) stellt den "mechanism approach" nicht als integratives Programm unter einem theoretischen Dach und mit einem Problemfokus vor, wie dies Hobbes, Weber und Coleman tun (vgl. Abschnitr 2). Die theoretische Last im "mechanism approacH' trägt die deduktiv schwache DBO-Theorie. Die Rekonstruktion von Mechanismen bleibt theoretisch beliebig, was indes aber die Chance birgt, immer wieder neue Entdeckungen in Form neuer Mechanismen machen zu können. Beides ließe sich meiner Ansicht nach aber gut vereinbaren, wenn die Modellrekonstruktion15 auf der Grundlage eines allgemeinen und möglichst einfachen handlungstheoretischen Kerns erfolgen würde, der situationsbezogene Erweiterungen und Speziftkationen anzuleiten vermag.
4.1.1 Die DBO-Theone als Mikrofundierung Die DBO-Theorie16 beschreibt das individuelle Handeln allgemein als Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, der durch unterschiedliche Konstellationen zwischen den Bedürfnissen (desires) und den Vorstellungen (beliefs) der Akteure auf der einen Seite und der objektiven Situation auf der anderen Seite bestimmt wird. Individuelles Handeln ist das Ergebnis variabler Konstellationen aus individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen unter der Berücksichtigung objektiver Handlungsmöglichkeiten. Es wird nicht von gegebenen und stabilen individuellen Bedürfnissen ausgegangen, um darüber handlungsrelevante Faktoren und Konstellationen zu ermitteln, sondern es werden Prozesse der Priiferenzbildung als Folge verschiedenster Kombinationen aus Vorstellungen und objektiven Gegebenheiten eingeführt, ohne diese jedoch theoretisch zu formulieren. Dies hat zur Folge, dass alle logisch möglichen Kombinationen aus den drei Parametern als relevant erachtet werden können, ohne dass theoretisch über deren Relevanz und Wirkung entschieden werden könnte. Der "mechanism approach" unterscheidet sich von mehrstuftgen Erklärungen auf der Basis einer Rational-Choice-Theorie dadurch, dass beliebige, logisch mögliche Konstellationen aus Bedürfnissen, Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten mit ebenso beliebigen Situationskonstellationen kombiniert werden, bis typische 15 Diese würden nach meinem Dafürhalten eher in das Aufgabenfeld der Psychologie oder einer sozialwissenschaftlichen Verhaltensforschung fallen. 16 Hedsttäm nimmt in neueren Arbeiten eine kritische Haltung gegenüber der Rational-ChoiceTheorie ein und begründet dies mit deren insttumentalistischer Verwendung. Ich habe weiter oben schon darauf hingewiesen, dass diese Unterscheidung aus logischen Gründen keinen Sinn macht, dass falsche Aussagen nicht grundsätzlich zu verwerten sind und dass es zielführender wäre, die Rational-Choice-Theorie auszubauen bzw. integrative Handlungsmodelle zu entwickeln und zu nutzen (vgl. Esser 2001; Undenberg 1994 u.a.).
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Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie soziale Prozesse abgebildet werden, die dann als Folge dieser Konstellationen gelten. Wann und warum aber Vorstellungen Bedürfnisse überlagern (das alte Thema Webers und der Soziologie) oder wann gar der Zwang der Situation so groß wird, dass weder Vorstellungen noch Präferenzen wichtig sind, oder wann eben doch die Bedürfnisse und eine richtig eingeschätzte Situation das Handeln bestimmen, bleibt ungeklärt. Tautologischen Erklärungen wird dadurch Tür und Tor geöffnet. Den Wechsel von Präferenzen wie auch von Handlungsorientierungen ad hoc einzuführen, birgt nicht nur die Gefahr tautologischer Erklärungen, sondern gibt auch keine theoretische Handhabe, Konstellationen als besonders wichtig und daher erklärungsrelevant einzustufen. Dies macht den "mechanism approach" offen für viele Fragen und Situationen, lässt ihn aber auch theoretisch unterbestimmt wirken.
4.1.2 Ariforderungen an das Mikrofundament mehrsttifiger Erkkirungen Es ist eine der großen Stärken der Rational-Choice-Soziologie, darauf hingewiesen zu haben, dass eine allgemeine Handlungstheorie immer zusätzlicher Annahmen oder Hypothesen bedarf, die die Handlungsparameter mit der Situation in Verbindung setzen können, um den leeren Nutzenbegriff des ökonomischen Programms zu vermeiden und empirisch prüfbare Thesen über situationsspezifische Bedürfnisse einerseits und die Wirkung von Vorstellungen in konkreten Situationen andererseits aufstellen, prüfen und einsetzen zu können/müssen (vgl. dazu insbesondere Lindenberg 1996; Weede 1989). Die Theorie der rationalen Wahl ist zum einen eine in Grenzen 17 gut bestätigte Theorie und erlaubt es zum Anderen, derzeit als einzige Handlungstheorie, Struktur- und Handlungsebene funktional zu verbinden und damit den notwendigen Makro-Mikro-Link herzustellen (vgl. Boudon 1980; Coleman 1990; Esser 1993). Darüber hinaus kann die Rational-Choice-Theorie präzise Aussagen darüber treffen, wie Situationskonstellationen das Handeln bestimmen und kann daher auch die Konkretion von Situationsfaktoren anleiten. Für mehrstufige, handlungstheoretisch fundierte Erklärungen gilt, dass wenn dieselben Akteure (die über die allgemeine Handlungstheorie und Zusatzannahmen beschrieben werden) in variablen sozialen Konstellationen agieren, immer ein bestimmter sozialer Prozess oder sozialer Effekt zu erwarten ist. Seien dies nun Feudalherm im Mittelalter, die um knappes Land konkurrieren (Elias 1976), oder Unternehmen, die auf einem begrenzten Markt konkurrieren: Dahinter steht der Machtrnechanismus, der zeigt, warum immer wieder aus wenig Macht mehr Macht wird (vgl. Maurer/Schrnid 2008). Die Rekonstruktion von Mechanismen setzt bewusste Abstraktion voraus, was nichts anderes meint, als dass bestimmte Eigenschaften der Akteure und ihres Handelns sowie der Handlungssituation bewusst als nicht relevant ausgeblendet, 17 Vgl. dazu schon die Experimente von Kahnemann/Slovic/Tversky (1982).
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Andrea Maurer andere dagegen als bedeutsam besonders hervorgehoben werden, um die kausalen Zusammenhänge zwischen diesen auszuleuchten: "ein Mechanismus expliziert die Details, wie Regelmäßigkeiten hervorgebracht werden." (Hedström 2008: 42) Während Ausarbeitungen des Hempel-Oppenheim-Schemas (vgl. Lindenberg 1996) dabei der Regel folgen, die relevanten Situationsfaktoren durch die Parameter der Handlungstheorie zu erschließen und dafür empirisch gehaltvolle, prüfbare Brückenhypothesen aufzustellen, die Konkretionen des Handlungsparameters und der Situationsfaktoren erlauben, kombiniert Hedström beliebige Interaktionsformen mit logischen Konstellationen aus Bedürfnissen, Weltbildern und Handlungsmöglichkeiten. Damit ist aber weder eine theoriegeleitete Erweiterung der Handlungsannahmen noch eine systematische Erfassung von Situationsfaktoren und -konstellationen mehr möglich.
4.2 Elementare Mechanismen Elementare Mechanismen bilden das mikrotheoretische Fundament im "mechanism approach": "Handlungs- und Interaktionstheorien bieten somit die Basis für erklärende soziologische Theorien und der Typus der Handlungstheorie, den wir suchen, sollte mindestens die folgenden drei Basis-Desiderata erfüllen: 1. er sollte psychologisch und soziologisch plausibel sein; 2. er sollte so einfach wie möglich sein; 3. er sollte in sinnvollen, aussagekräftigen Formeln erklären." (Hedström 2008: 56; vgl. Hedström/Swedberg 1996, 1998a)
4.2.1 Realitäts- und Wahrheitsgehalt Die erste Forderung, dass die Theorie des individuellen Handelns psychologisch und die des sozialen Handelns soziologisch plausibel (1m Sinne von realistisch und empirisch nachvollziehbar) sein sollten, deutet Hedström als Absage an die Möglichkeit von ,,Als-ob-Annahmen", etwa dass die Akteure komplexe Sachverhalte völlig durchschauen und mathematisch genau berechnen (Hedström 2005: 138). Das überzeugt im Kontext mehrstufiger soziologischer Erklärungen aus mehreren Gründen nicht völlig. Die Theorie des individuellen Handelns hat dort andere Aufgaben als die des sozialen Handelns. Soziologische Erklärungen wollen mithilfe von Annahmen über das individuelle Handeln soziale Sachverhalte und nicht das menschliche Handeln in a11 seiner Vielfalt erklären, weshalb schon Weber vorgescWagen hat, neben dem konkreten individuellen Handeln auch das "durchschnittliehe Handeln" Vieler oder auch Idealtypen des Handelns zu erfassen. Zum Zweiten lässt sich die an dieser Stelle bei Hedström durchscheinende Konfrontationslinie zwischen "empirisch plausiblen Handlungsannahmen" und "rationalen Konstruktionen von Handlungen" auflösen, wenn der von Weber angedachte und von Popper, Albert, Lindenberg, Esser u.v.a. weiterbeschrittene Weg gewäWt und die 175
Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie Annahme eines zweckrationalen Handelns als rationale Rekonstruktion verstanden wird, die theoretisch begründet für realistische Erweiterungen offen ist, wenn die anHinglich möglichst "einfach" und "abstrakt" formulierten Handlungsmodelle nicht "ausreichen".18 Und drittens trägt auch der von Hedström vorgetragene Hinweis nicht, wonach zwischen unvollständigen und falschen Annahmen zu unterscheiden ist und dass nur "wahre Annahmen" im Sinne von empirisch bestätigten Annahmen verwendet werden dürfen. Es wäre also nicht der Einsatz der Theorie der rationalen Wahl abzulehnen und diese durch eine deduktiv schwächere Handlungstheorie zu ersetzen, sondern deren systematische und theoriegeleitete Erweiterung dort anzustreben, wo es für Erklärungszwecke notwendig ist, ansonsten aber die methodologischen Prinzipien der Einfachheit, der Eindeutigkeit und der Präzision als Auswahlregel gelten zu lassen, zumindest so lange, bis sich eine bessere handlungstheoretische Alternative abzeichnet. Hedström will das für die analytische Theorie- und Modellbildung unausweichliche Abwägen zwischen Einfachheit und Komplexität oder Realitätsnähe dadurch auflösen, dass er zwar eine Entscheidungstheorie als Mikrofundierung wählt, aber nicht die deduktiv starke Theorie der rationalen Wahl, sondern die nicht-deterministische Variante der DBO-Theorie. Das Handeln der Individuen wird wahlweise als intentionales und rationales Handeln im Sinne einer bewussten Konsequenzenorientierung, als von Vorstellungen geleitetes Handeln erklärt, bei dem die individuellen Intentionen überlagert, verfälscht oder gar außer Kraft gesetzt werden (vgl. Hedström 1998: 307; mit Bezug auf Elster 2005: 60f.). Eindeutige Ableitungen der individuellen Handlungswahl angesichts gleicher Situationskonstellationen sind daher nicht mehr zu erwarten, da zwei kausale Handlungsparameter unbestimmt nebeneinander wirken: Bedürfnisse und Vorstellungen.
4.2.2 Begründung undAuswahl elementarer Mechanismen Eine theoriegeleitete Heuristik zum Umgang mit Annahmen (vgl. ausführlich Esser 1993; Lindenberg 1992; Maurer/Schmid 2010), die auch die Option kennzeichnen würde, auf einfachere Annahmen und Modellierungen zurückzugreifen, fehlt dem "mechanism approach" daher. Das theoretisch nicht näher gefasste Wechselspiel von Bedürfnissen, Vorstellungen und objektiven Handlungsmöglichkeiten widerspricht nicht nur einer eindeutigen Ableitung von Handlungen, sondern vielmehr noch der 18 Die Bedenken Hedsttöms (etwa 2005: 60ff.) gegen die Re-Theorie als allgemeines handlungstheoretisches Fundament scheinen sich auf die in manchen (ökonomischen) Modellen zu findende Ausarbeitung des Modells des homo oeconomicus und das dort unterstellte vollständig informierte Handeln und nicht gegen die Annahme eines bewussten und intentionalen Handelns an sich zu richten. Eine gegenteilige Annahme ist jedoch der Mechanismus, dass Akteure das anstreben, was sie für unmöglich halten (das "grünere Gras des Nachbars" bzw. im Deutschen "Die Kirschen in Nachbars Garten'').
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Andrea Maurer Übersetzung von Situationskonstellationen in Handlungsmöglichkeiten. Aus den drei Faktoren auf der Mikroebene sind logisch 3n Verbindungen abzuleiten und zu modellieren. Hedström greift daraus relativ willkürlich drei Kombinationen heraus und betrachtet sie als für soziologische Erklärungen besonders wichtig: (a) adaptive preferences, (b) counteradaptive preferences und (c) wishful thinking (siehe Hedström 2005: 40,2008: 64). a) Pri!ftrenzanpassung: Gewollt wir~ was miJ"glich erscheint. Der erste Mechanismus beschreibt die Konstellation, dass die Bedürfnisse der Akteure durch ihre Vorstellungen bestimmt werden. Damit wird die Annahme exogen gegebener und stabiler Präferenzen bzw. Interessen aufgegeben, was bedeutet, dass die Handlungssituation auch nicht mehr allein über Intentionen bzw. Ressourcen erschlossen wird, sondern auch über Vorstellungen, ohne dass ein theoretisches Leitargument angegeben wird, wie sich diese im Konfliktfall zueinander verhalten. Vielmehr wird bei diesem Mechanismus unterstellt, dass die Interessen von den Vorstellungen dominiert werden. Hedström scheint damit implizit Situationen im Auge zu haben, in denen die Orientierung an Vorstellungen die Interessenverfolgung stützt, wie dies für die rationale Imitation19 gilt. Solange dies aber nicht theoretisch beschrieben wird, besteht die Gefahr tautologischer Erklärungen, denn Varianzen können dann ad hoc als Präferenzwechsel angesehen werden, ohne dass dies empirisch nachprüfbar ist, da ja Präferenzen nicht direkt erfassbar sind. Die Ökonomie und die RationalChoice-Soziologie haben daher die Empfehlung aufgestellt, auf Erweiterungen durch einen Präferenzwechsel zu verzichten, zumindest solange kein empirisch überprüfbares theoretisches Argument für die Präferenzänderung angegeben werden kann. b) Pri!ftrenzanpassung: Gewollt wir~ was nicht miJ"glich erscheint. Der zweite Mechanismus setzt ebenfalls die Annahme gegebener und stabiler Bedürfnisse außer Kraft und beschreibt, dass die Präferenzen negativ von den Vorstellungen beeinflusst werden. Im Gegensatz zum obigen Mechanismus wird angenommen, dass die Akteure nur solche Bedürfnisse verfolgen, von denen sie glauben, dass sie nicht zu realisieren sind. Die Kirschen in Nachbars Garten werden nur deshalb begehrt, weil sie nicht zu haben sind. Die Rationalität der Akteure wird damit außer Kraft gesetzt. Es ist nicht rational erklärbar, dass intentionale Akteure nicht-realisierbare Ziele verfolgen, wenn mit ,,rational" ganz einfach gemeint ist, dass die Individuen Intentionen haben, diese kennen und ihr Handeln bewusst darauf abstellen. Dann ist logisch kein Handeln mehr möglich, es sei denn, es gäbe einen triftigen Grund, 19 Von Coleman wird dies im Rahmen der RC-Theorie damit erklärt, dass ein Akteur Kontrollrechte an seinen Handlungen dann auf Andere überträgt, wenn er davon ausgeht, dass sich seine Situation verbessert, wenn er sich der ,,Lenkung des Anderen" anvertraut (was z.B. auch Phänomene wie die charismatische Herrschaft einer rationalen Erkliirung zugänglich macht (vg1. ausführlich Coleman 1990: 90ff., 96f.).
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Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie den eigenen Intentionen nicht mehr zu trauen (dies unterstellen sowoW Freud als auch die Kritische Theorie). An dieser Stelle feWt wiederum eine theoretische Aussage darüber, wann und warum intentionale Akteure nach "unrealistischen Zielen" streben sollten und wann eine solche Annahme für die Erklärung sozialer Sachverhalte realistischerweise sinnvoll ist. c) Wunschdenken. Der dritte Mechanismus beschreibt schließlich die Konstellation, dass die Bedürfnisse die Vorstellungen der Akteure so beeinflussen, dass sie alles für möglich halten, was sie wollen. Das besagt im Grunde, dass die Akteure nicht mehr zu einer realitätsgerechten Situationswahrnehmung filig sind und sie daher immer das tun, was sie wollen. Dies hätte für intentionale Akteure den mitunter individuell wünschenswerten Effekt, dass sie sich "unabhängig" von Erfolgsschätzungen dazu aufraffen, unrealistisch scheinende, aber wichtige Ziele zu verfolgen. Das macht aber wirklich nur dann Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass die subjektive Einschätzung der Lage nicht richtig ist, denn sonst wäre auch das irrational. Beispiele wären der aussichtslose, aber als vorteilhaft betrachtete Kampf gegen mächtige Gegner, moralisches Handeln in korrupten Systemen, Beiträge zu öffentlichen Gütern. ObwoW die Erfolgsaussichten gleich null sind und daher bei vollkommener Rationalität das Handeln ausbliebe, würde also gehandelt werden, was im Falle öffentlicher Güter auch ein kollektives Problem lösen würde. Ob Wunschdenken aber tatsächlich ein brauchbares Mittel für intentionale Akteure ist, bleibt an dieser Stelle bei Hedström unklar, da er nichts darüber sagt, wann und warum Aus- und Überblendungen von Erfolgsschätzungen eintreten (sie könnten ja auch Ideologie und Herrschaftsmittel sein). Genau dies war und ist ja schon die Schwäche der Mikrofundierung durch eine theoretisch nicht eindeutige Handlungstypologie bei Weber, die Abweichungen vom Modell des zweckrationalen Handelns durch "beliebige" empirische Faktoren zu erklären sucht.
4.2.3 Situationslogische AnalYsen und die theoretische Integration elementarer Mechanismen Dieses Problem können mehrstufIg und handlungstheoretisch angelegte Erklärungen auflösen, die der Popperschen Situationsanalyse (etwa Popper 1969, 2000: 337ff.) entsprechen (vgl. Esser 1993; Lindenberg 1996; Maurer/Schmid 2010). Der handlungstheoretische Kern trägt dann nämlich die analytische Last und beschreibt eindeutig die Wirkung sozialer Konstellationen auf das Handeln. Dies ist möglich, weil ein Handlungsparameter die Situationsfaktoren "aufschließt" und Aussagen darüber trifft, warum und wie sie handlungsrelevant werden. Im Falle eines konsequenzenorientierten Handelns werden dafür Zweck-Mittel-Relationen relevant (siehe Lindenberg 1994, 1996; Weber 1980), die sich noch durch subjektive Schätzungen spezifIzieren lassen. Im einfachsten Fall würden die in einer Situation relevanten Zweck-Mittel-Relationen aber sagen, welches Handeln als rationales zu erwarten ist. Zusätzliche Annahmen, welche die Fähigkeiten der Akteure spezifizieren, ihre 178
Andrea Maurer Zwecke operationalisieren und objektive Opportunitäten wahrnehmen und richtig beurteilen zu können, würden ,,Abweichungen" erklären lassen. Der homo oeconomicus beschreibt so gesehen den einfachsten Fall, dass die Akteure über eine geordnete, stabile und konsistente Präferenzordnung verfügen (sie wissen, was sie wollen und tun dies), aus dem Konsum materieller Güter ihren Nutzen ziehen und alle relevanten Informationen auch richtig wahrnehmen und deuten (das muss in diesem Fall keine komplexe mathematische Berechnung sein). Last but not least besagt das Handlungsgesetz dann "nur", dass sie die Handlung wählen, die den maximalen Ertrag hat. Realitäts- aber auch komplexitätssteigernde Erweiterungen sind an drei methodologisch zu unterscheidenden Stellen möglich: 1) Präzisierungen des handlungstheoretischen Kerns in Form einer inhaltlichen Füllung der Intentionen, 2) Präzisierungen der Fähigkeiten der Akteure (Rationalitätsgrad), Intentionen bewusst und konsistent zu realisieren, und 3) Präzisierungen der sozialen Handlungssituation über soziale Interaktionen, Interdependenzen usw. Mehrstufige, durch die Theorie der rationalen Wahl fundierte Erklärungen verfügen mit der Methode der abnehmenden Abstraktion (vgl. Lindenberg 1992) über eine systematische Heuristik, die sagt, wann und an welcher Stelle realitätsgerechtere Erweiterungen vorzunehmen sind oder wann diese auch zurückgenommen werden können, um dem Prinzip der Abstraktion zu entsprechen. Kurz zusammengefasst 1mtet die Anweisung: Unterscheide zwischen den Haupterklärungsfaktoren (in der Soziologie: soziale Konstellationen) und minoren Erklärungsfaktoren wie den individuellen Fähigkeiten und erweitere im ersten Schritt die Situationsbeschreibung, um so die Wirkung der sozialen Erklärungsfaktoren zuzuspitzen. Am handlungstheoretischen Kern wäre indes so lange wie möglich festzuhalten, um eben Tautologien zu vermeiden. In der Rational-Choice-Soziologie hat dies die Entwicklung komplexer, integrativer Handlungsmodelle forciert, die längst schon den Wechsel zwischen dem rein zweckrationalen Handeln und dem wertrationalen sowie auch zwischen traditionellem und affektuellem Handeln im Rahmen der Theorie der rationalen Wahl modellieren können (vgl. vor allem Esser 2001) bzw. verschiedene Rationalitätsmodi einsetzen (vgl. vor allem Boudon 1993; Elster 1986).
Die DBO-Theorie ist, wie schon Webers Handlungstypologie, ein deterministisch schwaches Handlungsfundament, da auch sie verschiedene Handlungsparameter nennt, ohne diese theoretisch zu verknüpfen. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Situationsfaktoren und den Handlungsparametern ist damit nicht herzustellen. Deshalb analysiert Hedström auch beliebige soziale Situationen daraufhin, wie Bedürfnis-Vorstellungs-Handlungs-Konstellationen soziale Prozesse in Gang setzen. Seine Hintergrundannahme dabei ist, dass die Stärke bzw. Dichte der Interaktion den Einflussprozess ausmacht. Da die DBO-Theorie aber als allgemeine Entscheidungstheorie angelegt ist, die das individuelle Handeln als Ergebnis 179
Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie zweier kausaler Kräfte erklärt, den Bedürfnissen (desires) und den Vorstellungen (heliefs) der Akteure unter Berücksichtigung objektiver Handlungsmöglichkeiten, kann sie auch als Sonderform der Theorie der rationalen Wahl gefasst und die elementaren Mechanismen so unter einem Dach "in ihrer Funktionsweise" theoretisiert werden. So wäre etwa relativ problemlos zu erfassen, dass sich Vorstellungen und Bedürfnisse wechselseitig verstärken, weil dann andere Handlungsmöglichkeiten, die geringere Erfolgschancen haben, einfach schlechter bewertet werden, sich also Wert und Erfolgsschätzung zu einem zwingenden Argument verbinden. Komplexer anzulegen wäre indes die Überlagerung von Bedürfnissen durch Vorstellungen. Dazu wäre bei rationalen Akteuren anzunehmen, dass die Orientierung an Vorstellungen immer dann besser ist als die individuelle Abwägung, wenn individuelle Wahrnehmungskapazitäten begrenzt sind, etwa wenn Konventionen20 die Lösung festlegen helfen, Rituale oder Symbole Licht ins Dunkel bringen, Signale Informationen ins Rampenlicht rücken usw. Und auch das Außer-Kraft-Setzen der Konsequenzenkalkulation durch Gewohnheiten oder Werte kann rational begründet werden und so erklären, warum etwa bei relativ unspektakulären Alltagshandlungen, zudem wenn "erfolgreiche" Muster zur Verfügung stehen, die die Akteure überdies kennen oder einfach erschließen können, Gewohnheiten oder Kultur das Handeln leiten (vgl Esser 2001). Erst wenn auch durch die "realitätsgerechteren Annahmen" hinsichtlich der begrenzten Rationalität keine empirisch zu bestätigenden Ergebnisse zu erzielen sind, wäre die Annahme des bewussten und intentionalen Handelns aufzugeben, was aber letztlich bedeuten würde, auf die Möglichkeit verstehenden und rationalen Erklärens zu verzichten.
4.2.4 Deduktive Stärke oder Komplexität atif der Handlungsebene? Es dürfte deutlich geworden sein, dass die von Hedström eingesetzten elementaren Mechanismen Ad-Hoc-Hypothesen sind, die einer systematischen Erweiterung zunächst nicht zugänglich sind, sondern erst im Rahmen einer Theorie der rationalen Wahl integriert und theoretisch erweitert werden können. Nur dann sind gehaltvolle und überprüfbare Thesen darüber aufzustellen, wann und warum Präferenzanpassung, wann und warum kontrafaktische Präferenzen und wann und warum Wunschdenken bei an sich intentionalen Akteuren zu erwarten sind. Nur dann wäre die Standardanwendung der Theorie der rationalen Wahl zu erweitern, bzw. im negativen Fall würden dann die einfachen, aber allgemeineren Aussagen der 20 Dies würde den Erkennmissen aus Schellings (1960) Experimenr über das Koordinationsproblem zweier Freunde entsprechen, die sich in New York treffen wollen, aber keinen privaten Treffpunkt vereinbart haben. Im Experiment zeigre sich, dass die Orientierung an kollektiven wie an privaten Wissensbeständen dann vorteilhaft ist.
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Andrea Maurer Rational-Choice-Theorie ausreichen. Das macht letztlich den Mehrwert solcher Erweiterungen auf der Mikroebene aus und diesen auch erkenn- und nutzbar. So gesehen schlägt der "mechanism approach" auf der Ebene der Handlungsannahmen lediglich vor, die in der Ökonomie geläufige, methodologisch durch das Vermeiden von Tautologien begründete Annahme exogen gegebener und stabiler Intentionen zugunsten der Annahme aufzugeben, dass sich die individuellen Intentionen "mitunter" durch die Vorstellungen der Akteure ändern, so dass die Akteure entweder das wollen, was sie für möglich halten, oder das, was sie für unmöglich halten. Besonders problematisch erscheint mir die dritte vorgestellte Erweiterung, denn diese würde ja besagen, dass die Handlungsentscheidung ohne Anbindung an die objektive Situation erfolgt bzw. die Akteure Bedürfnisse ohne Rücksicht auf die Situation zu realisieren suchen. Im Grunde reicht es dann zu wissen, wie die Bedürfnishierarchie aussieht. Anders gewendet: soziale Faktoren würden so als unwichtig angesehen werden, das wäre gegenüber der situationslogischen Analyse ein Rückschritt. Der ,,mechanism approach" ließe sich systematisieren, wenn Bedingungen benannt werden würden, unter denen intentionale Akteure ihre Präferenzen an positive bzw. negative Erfolgswahrscheinlichkeiten anpassen bzw. diese völlig ausblenden. Erst dann wären auch, was das ökonomische Erklärungsprogramm durch den Verzicht auf Präferenzänderungen zu erreichen suchte, tautologische Erklärungen zu vermeiden. Für soziologische Erklärungen wäre außerdem festzuhalten, dass die Annahme stabiler Bedürfnisse ja nicht bedeutet, auf eine Erklärung der sozialen Konstitution von Präferenzen zu verzichten, sondern nur dies als einen gesonderten Erklärungsschritt anzulegen (vgl. schon Hirschrnan 1977).
4.3 Soziale Mechanismen "Wir erklären ein beobachtetes Phänomen, indem wir uns auf den sozialen Mechanismus beziehen, durch den solche Phänomene regelmäßig hervorgebracht werden." (Hedström 2008: 42) Neben elementaren Mechanismen modelliert Hedström soziale Mechanismen, um die Wirkung so~aler Interaktioniformen auf die Vorstellungen, die Bedürfnisse und die Handlungsmöglichkeiten einzelner Akteure zu erfassen und Einzelhandlungen in soziale Effekte zu transformieren (Hedström 2005: 43ff.).
4.3.1 Konstruktionsprinifp Aus der Vielzahl der möglichen Interaktionsformen stellt er drei heraus (vgl. Hedström 2005: 68ff.).21 Die Grundidee ist, dass durch das Handeln Anderer eine An21
Im Modell der "Badewanne" wären dazu Annahmen über die soziale Verflechtung der Akteure als Situationsmodell vorzusehen, etwa derart wie Coleman zwischen Situationen unterscheidet, in de-
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Die AnalYtische S o~ologie Peter Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~altheorie gleichung a) der Bedürfnisse, b) der Vorstellungen und/oder c) der Handlungsmöglichkeiten eintritt. Durch welchen Wirkmechanismus - etwa Vorteilsüberlegungen oder positiv gemachte Erfahrungen - dies geschieht, bleibt wiederum offen (vgl. Hedström 2005: 73ff.; 1998). Entsprechend offen wie die Wirkungsweise sozialer Interaktionsformen (vgl. die zusammenfassende Darstellung in Hedström 2005: 59), wird auch die Verkettung mehrerer Mechanismen, insbesondere die von elementaren und sozialen Mechanismen (siehe als Beispiel Hedström 2005: 58, 110), angelegt. Es fehlt eine Integrations- und Vergleichsbasis, um Mechanismen systematisch aufeinander zu beziehen. Der ,,mechanism approach" ist daher frei, Einzelmechanismen zu rekonstruieren und zu kombinieren. Diesen Weg scheint Hedström auch deshalb einschlagen zu wollen und zu können, weil sich dadurch das enorme Potenzial handlungsbasierter, formalisierter Mechanismus-Modelle22 und von Computersimulationen voll nutzen lässt und einer mathematisch fundierten Soziologie neue Impulse verleiht (vgl. die Anwendungsbeispiele in Hedström 2005: Kap. 4ff.). Die Stärke liegt darin, verschiedenste Variationen sozialer Interaktionsformen unter Berücksichtigung komplexester wechselseitiger Beeinflussungen auf der Mikroebene modellieren23 und durch die formal-mathematischen Modelle'1A präzise Aussagen über die jeweils zu erwartenden sozialen Effekte machen zu können. Die diversen Konstellationen können beliebig modifiziert und auf verschiedene Felder bezogen werden. Die in den jeweiligen Modellen eingefangenen Zusammenhänge sagen, warum Akteure in spezifischen Konstellationen typische Prozesse in Gang setzen. "Problemtypen" in Form verbesserbarer und gestaltbarer Situationen, wie sie die rationalen Sozialtheorien einfangen, stehen zwar nicht im Fokus, könnten aber erkannt und in ihrer Logik erläutert werden. 4.3.2 Anwendung: Das Problem des kollektiven Handeins undgemischte Gruppen Dies lässt sich besonders schön an der Modellierung des Problems des kollektiven Handelns durch Hedström zeigen. Die neue Modellierung der auf Olson (1965; nen die Akteure ein gemeinsames oder auch ein unterschiedliches, aber komplementäres Interesse an Handlungsrechten haben, was im ersten Fall zum Zusammenlegen von Handlungsrechten und im zweiten Fall zum Tausch von Handlungsrechten motiviert, was je typische soziale Formen zur Folge hätte (konjunkte versus disjunkte Handlungssysteme; vgl. Coleman 1990; interpretierend Maurer 2004). 22 Hedström (ZOOS: 57) bezieht sich dafür auf Michael Macy. 23 Klassische Rational-Choice-Erklärungen würden rein auf die Variation der objektiven wie subjektiv wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten setzen und neuere Rational-Choice-Erklärungen auf den Wechsel von Handlungsorientierungen, der aber im Rahmen der RC-Theorie (vgl. exemplarisch Esser 2001; Lindenberg 1992, 1994) bzw. durch gute Gründe (Boudon 1993) rational erklärt wird. 24 Vgl. dazu exemplarisch Hedström (2005: Kap. 6; 2007) und Hedström/Sandell/Stem (2000).
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Andrea Maurer vgl. auch Hobbes 1966; Hernes 1993) zurückgehenden Situationslogik des "kollektiven HandeIns" greift Erkenntnisse der behavioral economics bzw. sozialer Experimente in der Ökonomie auf (vgl. Hedström 2007: 8) und beschreibt gemischte Akteursgruppen bestehend aus 1) rationalen Egoisten, 2) bedingten Altruisten und 3) wahren Altruisten. Die DBO-Theorie erlaubt es, die bedingten Altruisten derart einzuführen, dass bestimmte Akteure abhängig von gemachten Erfahrungen auch dann kooperieren, wenn Abweichungsgewinne möglich wären. Die Problematik "öffentlicher Güter" liegt ja bekanntlich darin, dass Viele oder Alle an einem Gut interessiert sind und nach dessen Herstellung niemand vom Konsum ausgeschlossen werden kann oder soll, für dessen Herstellung aber gleichwohl die Beiträge einer Mindestzahl oder auch Aller erforderlich sind. Für rationale Akteure gilt daher, dass sie systematisch keinen Beitrag leisten werden, weil das für sie immer die beste Auszahlung ergibt. Entweder müssen sie davon ausgehen, dass ihr Beitrag für die Herstellung des öffentlichen Gutes irrelevant ist, es also ohnehin nicht zustande kommt, bzw. wenn es erstellt wird, sie auch profitieren, ohne zu kooperieren. In größeren Gruppen, wo der individuelle Beitrag in der Regel unerheblich ist, werden öffentliche Güter der Theorie zufolge also zu wenig oder gar nicht erstellt. Die RationalChoice-Theorie bietet als mögliche Auswege mächtige Akteure wie Unternehmer oder Kirchengründer, intrinsisch durch Werte motivierte Revolutionsführer, Agitatoren, Reformer oder zufaJJige selektive Außenanreize wie soziale Anerkennung, soziale Positionen, Vertrauen, Sozialkapital und nutzt dann Schwellenwertmodelle, um zu modellieren, dass diese Impulsgeber die Erfolgsrechnungen der Anderen positiv verändern. Hedström schlägt einen anderen Weg ein. Er hebt die Annahme auf, dass ausschließlich rational handelnde Egoisten aufeinander treffen. Dazu unterstellt er im ersten Schritt, dass neben rationalen Egoisten im realen Leben meist auch Altruisten in realen Gruppen anzutreffen sind und dass allein schon durch deren Existenz bzw. durch die Zusammensetzung der Gruppe direkt auf den Grad der Kooperation geschlossen werden kann: Gruppen mit einem Anteil von 10% rationalen Egoisten erreichen demnach 90% Kooperation, bei 20% immerhin noch 80% und bei 30% noch 70% und so weiter. Noch stärker ist die Wirkung, wenn Interaktionseffekte durch die Altruisten in einem zweiten Schritt eingeführt werden. Hedström tut dies, indem er zwischen absoluten und bedingten Altruisten unterscheidet und annimmt, dass sich die Kooperationsbereitschaft der bedingten Altruisten aus deren Erfahrungen in der Gruppe speist, was zu dem interessanten Ergebnis führt, dass in Gruppen, in die 5% rationale Egoisten eingeführt werden, sich die Kooperation auf 60% und bei 10% bereits auf 40% reduzieren würde (vgl. zu diesen Simulationen ausführlich Hedström 2005: 94ff., 2007: 8ff.). Dies erklärt sich daraus, dass die Kooperationsrate in der Gruppe nicht mehr allein durch den rationalen Egoismus bestimmt wird, sondern nun auch durch positive Lerneffekte, deren 183
Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie Höhe von der Gruppenzusammensetzung bzw. dem Anteil an absoluten und bedingten Altruisten abhängt. Die soziologische Relevanz dieses Modells ist beeindruckend, denn damit lässt sich die Herrschaftstechnik von "teile und herrsche" erklären. Schon das Einschleusen einiger weniger rationaler Egoisten würde ja den Aufbau revolutionärer Gruppen, einer kritischer Opposition oder allgemein von Teams be- und verhindern. Und umgekehrt folgt daraus, wer kreative und produktive Teams etablieren und stützen will, sollte Trittbrettfahren durch strukturelle Maßnahmen wie selektive Anreize oder Kontrollen bzw. auch durch Sozialisation und Kultur soweit als möglich einschränken (da hatte die klassische Gruppensoziologie mit ihrem Modell durchaus recht) und zwar möglichst zu 100%, denn schon wenige rationale Egoisten würden den bedingten Altruismus außer Kraft setzen. 25 Die Logik kollektiven Handelns als Ordnungsproblem expliziert zu haben, ist und bleibt der Verdienst der rationalen Sozialtheorien. Denn es ist ja die Annahme des rationalen Handelns, die bei gemeinsamen Interessen die Abweichungsgewinne entdecken und mit Bezug auf rationalen Egoismus problematisieren hilft. Das Ordnungsmodell des Marxismus, des Humanismus und der klassischen Soziologie konnte nur auf dieser Basis als ,)dealisierendes Modell sozialer Ordnungsbildung" erkannt werden. Die Grenzen dieses Modells hat die rationale Sozialtheorie benannt. Die ModelIierung Hedströms stellt so gesehen eine wichtige ,,realitätsgerechtere" Fassung gegenüber sowohl der Rational-Choice- wie auch der klassischen Norm- und Gruppensoziologie dar.
5. Die soziologische Heuristik Die Soziologie ist den rationalen Sozialtheorien und den Gesellschaftslehren der Aufklärung vor allem dadurch verbunden, dass sie von Anfang an einen Beitrag zur Analyse und Behebung sozialer Problemlagen leisten wollte. Wir ftnden bis heute verschiedene Adaptionen des Anspruchs, soziale Problemlagen zu benennen, etwa Handlungs- und Abstimmungsprobleme (popper, Neue Institutionenökonomik, Coleman u.a.), die Analyse von Macht- und Entfremdungsstrukturen (Marxismus, Kritische Theorie), die Erfassung von Rationalisierungs- und Differenzierungsprozessen (Weber, Giddens, Bourdieu). Je nach erkenntnistheoretischer Position und Erklärungsanspruch werden dazu bis heute soziale Regeln, Herrschaft, Normen,
25 Auch innerhalb der Rational-Choice-Theorie liegen vieJfa1tige Anstrengungen vor, das mitunter empirisch zu beobachtende Auflösen des Kollektivgutproblems zu erklären (vgl. zusammenfassend Maurer/Schmid 2010). Mit scheint indes nach wie vor die eigentliche sozialwissenschaft:liche Heuristik darin zu liegen, explizieren zu können, dass gemeinsame Interessen keineswegs hinreichen, um kollektives Handeln zu bewirken und dass deshalb zum Beispiel auch schlechte Ordnungen so lange Bestand haben können bzw. Revolutionen so selten in der Geschichte zu beobachten sind.
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Andrea Maurer Moral, Gruppen oder Tausch vorgescWagen und in ihrer Wirkungsweise und ihren Effekten analysiert. Einer solch primär durch praktische gesellschaftliche Problemlagen inspirierten Soziologie will sich Hedström nicht zuordnen, er versteht sich vielmehr als Vertreter eines "theory-driven approach", der den Startpunkt der soziologischen Arbeit in theoretischen Ideen und Konzepten mittlerer Reichweite sieht. Es sind die Konzepte des kollektiven Handelns, Diffusionsprozesse in Netzwerken, der Bandwagon-Effekt oder die großen Effekte kleiner Ursachen, die Hedström (2007; vgl. die frühen Arbeiten wie Hedström 1991, 1994; sowie Hedström/ Sandell/Stem 2000) in formalen, mathematischen Modellen einfangen und über Akteurs- und Handlungskonstellationen aufzuhellen trachtet. 26 Aus dem Anspruch, Mechanismen als Konzepte und Theorien mittlerer Reichweite anzulegen folgt, dass Hedström nicht, wie das rationale Sozialtheorien, die Rational-Choice-Soziologie oder auch die Neue Institutionenökonomik27 tun, ein zentrales Problem thematisiert und darauf bezogen Mechanismen zu rekonstruieren sucht. Er strebt sichtlich kein integratives Erklärungsprogramm an und "the structure of theoretical knowledge is better understood as a theoretical toolbox than as a deductively organized axiomatic system." (Hedström 2009: 341) Das schließt jedoch nicht aus, dass der "mechanism approach" nicht auch soziologisch und gesellschaftlich relevante Fragen aufgreifen und erhellen könnte. Die soziologische Heuristik ist vielmehr breit und folgt aus den verwendeten Konzepten. Mir scheint zudem, dass Hedström diese Konzepte nicht zufällig aus dem RationalChoke-Programm bezieht: kollektives Handeln, Ungleichheit, soziale Dynamiken. Damit kann er den "mechanism approach" als Alternative (eventuell besser als Erweiterung) zur Standardanwendung der Rational-Choice-Theotie profilieren (vgl. insbesondere Hedström 2005: Kap. 3 und 4, 2009; Hedström/Swedberg 1996). Aber auch ModelIierungen sozialer Interaktionen wie sie die Spieltheorie (also Koordination und Kooperation), das Tipping-Point-Modell von Schelling, die Tragödie der Allmende oder auch neo-klassische Marktmodelle vorgeben, kommen für die Rekonstruktion von Mechanismen nach Hedström in Frage.28 Mechanismus-Modelle
26 Als erkenntnistheoretische Grundlage wird dazu die analytische Philosophie tnit ihrem Plädoyer für eine präzise und daher formale Sprache und den Eiosatz der formalen Logik (vor allem io Form mathematischer Modellierung) und der analytischen Abstraktion zentraler und weniger zentraler Erkliirungsfaktoren benannt (siebe oben). Z7 Auch io der Neuen Institutionenökonomik findet sich dieser Weg, "problembehaftete Situationen" aus Sicht rationaler, egoistischer und begrenzt rationaler Akteure zu thematisieren und so rationale Erklärungen für klassisch soziologische Phänomene wie Herrschaft und Vettrauen vorzulegen (vgl. Maurer 2004). 28 Vgl. zur Spieltheorie Diekmann io diesem Band.
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie können daher auch Problemlösungen für "soziale Dilemmata"29 wie etwa die Rolle von Agitatoren beim Aufbau sozialer Bewegungen benennen und in ihrer Wirkung entscWüsseln. 30 Als starke und eigentliche Leistung des "mechanism approach" erweist sich dabei, dass auch noch bei komplexen Handlungsmodellen und Interaktionsformen erklärende Modelle konstruiert und mithilfe von Computersimulationen in soziale Effekte übersetzt werden können. 31
6. Mechanismus-basierte Erklärungen und die rationale Sozialtheorie Rationalen Sozialtheorien unterliegt die Prämisse von der prinzipiellen Vemunftfähigkeit der Individuen. Daraus leiten sie zum einen die Möglichkeit eines denkenden, analytischen Aufklärens komplexer sozialer Prozesse und zum Anderen auch die einer bewussten und vorteilhaften Gestaltung der sozialen Welt ab. In der Soziologie hat sich diese Grundfigur beim Nachweis von Situationen als fruchtbar erwiesen, die aus Sicht der Individuen "verbessert" werden können, was zur Frage führt, wie es denn den Individuen in ihren sozialen Verhältnissen gelingen kann, darauf bezogen rational zu handeln und vorteilhafte soziale Ordnungsformen wie etwa Normen, Tausch, Herrschaft und Organisation, Moral, Vertrauen, Sozialkapital, Positionsgefüge zu etablieren, zu gestalten und aufrechtzuerhalten. Bereits bei Hobbes fmdet sich schon die spätere Leitproblemarik der Soziologie angelegt: die erträgliche oder gar vorteilhafte Gestaltung des Zusammenlebens formal freier und intentionaler Akteure. Hobbes hat ein Problem "entscWüsselt", das für viele soziale Situationen kennzeichnend ist: wie intentionale und formal freie Akteure gemeinsame Interessen durch Kooperation realisieren können. Sein Argument war, dass bilaterale Absprachen dazu nicht hinreichen, weil die dadurch in Aussicht gestellten ,,Abweichungsgewinne" rationale Egoisten dazu anhalten, die notwendigen Absprachen nicht einzuhalten, sodass Gesellschaft immer auch Herrschaft bedeutet.
29 Es wäre eine eigene Aufgabe, in diesem Kontext zu prüfen, ob und inwiefem sich soziale Institutionen als helfender Rahmen für die in den elementaren Mechanismen beschriebenen Abweichungen vom vernunft:geleiteten Handeln systematisieren und erklären ließen. 30 Bereits in seinen frühen Arbeiten hat sich Hedsttöm mit dem Aufbau kollektiver Bewegungen und Organisationen - konkret der Sozialdemokratie in Schweden von 1860 bis 1920 - beschäftigt und Agitatoren als relevante "Durchbrecher" des Trittbrettfahrerproblems erkannt und deren Funktion darin benannt, die Vorstellungen der anderen Akreure zu beeinflussen. Dies wäre im Übrigen auch durch die Standardanwendung der RationaI-Choice-Theorie zu erklären, die mithilfe von SchwellenwertmodelIen die Wirkung von werttational agierenden Führern modelliert (vgl. Coleman 1990: Kap. 18). 31 Es kann auch als Weiterfiihrung des "alten Vorschlags" von Coleman (1990; vgl. Boudon 1980) einer "mathematischen Soziologie" gelesen werden (vgL etwa Hedsttöm 2005: Kap. 5, 2007).
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Andrea Maurer Weber hat grundsätzlich thematisiert, wie es formal freien und sinnhaft handelnden Akteuren gelingen kann, wechselseitig verständliche und stabile Handlungserwartungen zu etablieren, und sah die Grundlage für ein gemeinsames Zweckhandeln ebenfalls in rational organisierten Herrschaftsverbänden. Coleman hat diese Fragen aufgegriffen und weitergeführt. Er hält dabei einerseits an der Prämisse fest, dass die Menschen die Welt gestalten und zielorientiert handeln und tritt daher auch für eine analytische Theoriebildung ein, die neben präzisen Begriffen und dem Einsatz einer mathematisch-formalen Sprache auch eine starke Handlungstheorie nutzt (Coleman 1990: Kap. 1). Seine Erklärungslogik, die analytisch zwischen Annahmen auf der Handlungs- und der Strukturebene unterscheidet und beide Ebenen mittels zusätzlicher, auch empirischer Theorien und Modelle zu verbinden sucht, hat als Mikrofundament eine Theorie des zielgerichteten Handelns. Dies begründet Coleman ausdrücklich mit dem Hinweis, dass Bezugspunkt und Gegenstand der Sozialwissenschaften das menschliche Verhalten und dessen Ergebnisse sind, die Menschen mithin als absichtsvolle Urheber der sozialen Welt anzusehen sind (vgl. Coleman 1990: 17ff.).32 Dabei gesteht Coleman zu, dass Akteure nicht immer rational handeln und dass viele ihre Handlungen externen Beobachtern als irrational erscheinen, dass es ihm aber darum geht, die "Sichtweise rationaler Akteure" zu erschließen, um das Funktionieren sozialer Systeme zu analysieren (Coleman 1990: 18f.) Dabei tritt Coleman aber gegen einen "naiven Aufklärungsoptirnismus" und zu einfache Erklärungen an, die direkt aus dem individuell rationalen Handeln sozial vorteilhafte Ergebnisse ableiten wollen und macht gegen ökonomische Erklärungen stark, dass individuelle und kollektive Rationalität analytisch zu trennen sind. Um dies umzusetzen, werden zwei getrennte Erklärungsschritte angelegt: die rationale Rekonstruktion von Handlungen mit Bezug auf Situationen (Makro-Mikround Mikro-Mikro-Link) und die Transformation der so "erklärten individuellen Handlungen" in Makroeffekte verrnittels Transformationsregeln wie Institutionentheorien oder mathematischen Regeln. Der zweite Erklärungsschritt nutzt "Modelle sozialer Interdependenzen", die gegenüber den statischen Gleichgewichtsanalysen der Ökonomie emergente Effekte und soziale Dynarniken erfassen sollen. Soziologischen Gehalt gewinnt Coleman durch eine Erweiterung auf der Makroebene: Er charakterisiert Handlungssituationen als Verteilung von Handlungsrechten, die zum einen die Macht der Akteure (Verfügung über die Ressource 32 Bei Coleman findet sich, wie oben ausführlich dargestellt, auch der Hinweis, dass diese Theorie spezifiziert werden muss, etwa durch die Nutzentheorie, dass diese aber auch allgemeiner als ,,intentionales" Handeln gefasst werden kann, dann aber auch einer SpezifIkation der Intentionen bedarf, wie er sie etwa über das Konzept der Handlungsrechte vornimmt: Das individuelle Handeln ist motiviert durch das Interesse an Handlungsrechten und =öglicht durch das Halten von Kontrollrechten über Handlungen (Coleman 1990: Kap. 1).
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie Handlungsrechte) und zum Anderen deren Interessen an Handlungsrechten wiedergeben. Coleman konzentriert seine Analysen auf die seit Hobbes zentrale soziologische Frage, wie gemeinsame Interessen und die in der Ökonomie behandelten, z.B. komplementären Interessen vorteilhaft realisiert werden können. Gemeinsame Interessen motivieren rationale Akteure demnach dazu, Handlungsrechte zusammenzulegen und "kollektiv" zu regeln. Die Analyse sagt, dass in solchen Handlungssystemen immer Regeln zu einer optimalen Aufteilung der Rechte zwischen dem Kollektiv und den Individuen und darüber hinaus aber auch zur Abwendung des allgegenwärtigen Trittbrettfahrens gefunden, eingerichtet und nachjustiert werden müssen. Im Fall von Handlungssystemen, die aufgrund unterschiedlicher, aber komplementärer Interessen über den Tausch von Handlungsrechten entstehen, sind hingegen typischerweise Kontrollprobleme zu erwarten und daher Anreizoder Normsysteme zur Nachgestaltung wichtig. Die Logik solcher Handlungssysterne entspricht dem der Prinzipal-Agenten-Beziehung, denn die Käufer der Handlungsrechte (Wirtschaftsunternehmer, politische Führer, Kirchenbegründer usw.) wollen ja das Handeln der Anderen in ihrem Sinne einsetzen. Da diese aber Träger der Handlung bleiben und ihnen dieses Ansinnen regelmäßig Kosten auferlegt, sind Kontrollprobleme allgegenwärtig. Im Mittelpunkt der Gesellschaftsanalyse Colemans steht, wie schon bei Hobbes und Weber, die Errichtung und massenhafte Verbreitung "kollektiver Akteure" in modemen Gesellschaften. Diesen Prozess problematisiert Coleman nun ausgehend von der Prämisse formal freier Akteure, indem er darstellt, dass so zunehmend mehr Handlungsrechte von kollektiven Akteuren und nicht mehr von individuellen Akteuren gehalten werden, d.h., die Machtverhältnisse in modernen Gesellschaften haben sich durch die eigenen freiwilligen Tauschakte zu deren Ungunsten verändert. Die Analyse verweist zudem darauf, dass freiwillig und intentional errichtete soziale Verhältnisse zumeist Folgeprobleme und emergente Effekte nach sich ziehen, also keine stabilen und pareto-optimalen Gleichgewichte sind. Für Coleman kennzeichnend ist, dass er diese Folgen aus Sicht der "mächtigen Akteure" betrachtet und auch ausschließlich aus dieser Perspektive Gestaltungsvorschläge entwirft, was ihm zurecht den Vorwurf einbringt, für Probleme schwacher Gruppen blind zu sein. Dabei sind beide Situationsmodellierungen für Konkretionen offen, sodass theoriegeleitete Analysen ganz konkreter Handlungsbereiche und auch verschiedenste Lösungswege in den Blick genommen werden können: Normen, Herrschaft, Kultur und Vertrauen. Und auch die Aufgaben und Probleme der Soziologie und der Sozialwissenschaften reflektiert Coleman in diesem Kontext, indem er die Frage stellt, wer an deren Analysen interessiert ist und welche Themen sie als relevant erachten sollte. Sozialforschung kann nach Coleman einerseits als "öffentliches Gut" thematisiert werden, andererseits aber auch als Auftrag mächtiger Akteure, je nachdem muss die 188
Andrea Maurer Institutionalisierung anders aussehen: Im ersten Fall müssen Anreize zu deren Sicherstellung geschaffen werden, im anderen muss verhindert werden, dass nur mächtige Interessen bedient werden. Hedström folgt zwar den Grundprinzipien der analytischen Theoriebildung, ohne indes die Prämisse der Vernunftfahigkeit der Menschen explizit zu verwenden und auch ohne den sozialtheoretischen Bezug herzustellen. Dies wird etwa daran deutlich, dass Hedström zwar wie Hobbes, Smith, Weber, Coleman u.a. die Soziologie sowohl als Handlungs- wie auch als Erfahrungswissenschaft versteht und im Unterschied zur Philosophie nicht nach der idealen Welt sucht, sondern aus dem Handeln intentionaler Akteure3 3 angesichts sozialer Interaktionsformen soziale Prozesse und Effekte zu erschließen und zu erhellen sucht. Ihm fehlt indes der Bezug auf die individuellen Intentionen, um "soziale Problemlagen" zu erschließen und zu fokussieren. Daraus erklärt sich denn auch, dass Hedström keinen "rahmenden Problemfokus" verwendet und zum Bezugspunkt seiner Rekonstruktion von Mechanismus-Modellen macht. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass er kein integratives Erklärungsprogramm anstreben kann und will und dass die von ihm entwickelten Modelle zwar soziologisch wichtige und spannende Prozesse einfangen, aber keinen expliziten Bezug zu den rationalen Sozialtheorien haben und sich scheinbar auch der Grundfrage der Soziologie nicht in systematischer Absicht annehmen möchten. 34 Die analytische Soziologie Hedströms ist vielmehr der Versuch, für vielfältige soziale Prozesse handlungstheoretisch fundierte MechanismusModelle anzulegen, um so wirkende Kräfte in ihrer kausalen Wirkung kenntlich zu machen und möglichst gehaltvolle und gut bewährte Erklärungen für theoretische Probleme anzubieten. Ein sozial- und gesellschaftstheoretischer Anspruch wird aber nicht explizit erhoben. Die starke Attraktivität des "mechanism approach" geht derzeit aber von der Möglichkeit aus, auch komplexeste Konstellationen auf der 33 Eine realitätsgerechtere Erweiterung scheint für He,iström durchaus die auf Elster (1986b) zurückgehende Idee zu sein, dass die Akteure nicht nur in ihren Fähigkeiten zum rationalen oder intentionalen Handeln eingeschränkt sind, sondern dass ihnen ihr "mind" mitunter auch ein Schnippchen schlägt (vgL Hedström 2005: Kap. 3), wie dies Elster für kurz- und langfristige Interessen und das "comrnitment" der Akteure diskutiert. 34 Der erste Schritt von der Makro- zur Mikroebene wird in anderen Ausarbeitungen (vgl. Coleman 1990; Esser 1993) als Logik der Situation angelegt und explizit von der Erklärung der Handlungswahl mithilfe der Handlungstheorie unterschieden (Logik der Selektion oder Mikro-Mikro) und der dritte Erklärungsschritt als Logik der Aggregation oder Transformation bezeichnet und als bislang am wenigsten "geklärt" beschrieben (dazu finden sich bis dato vor allem Institutionentheorien, Schwellenwertmodelle oder einfache mathematische Regeln eingesetzt). An dieser Stelle bietet der "mcchanism-approach" durch das "agent-based modelling" und den Einsatz der Computersimulation einen wesentlichen Beitrag zur Lösung des Mikro-Makro-Übergangs, der bemerkenswerterweise an den "alten Vorschlag" (vgl. Boudon 1980; Coleman 1990) einer "mathematischen Soziologie" anschließt und dazu die neuen Möglichkeiten der EDV effektiv nutzt (vgI. etwa Hedström 2005: Kap. 5; 2007).
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Die AnalYtische S o~ologie Peler Hedströ"ms und die Tradition der rationalen S o~allheorie Handlungs- und Strukturebene mithilfe der agentenbasierten Modelle und Simulationen in Makroeffekte zu übersetzen.
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Andreas Diekmann
Analytische Soziologie und Rational Choice!
1. Analytische Soziologie Mit den "Prinzipien der Analytischen Soziologie" hat Peter Hedström ein prägnant formuliertes Traktat vorgelegt, das zugleich den Charakter von "Toolbox" und Manifest aufweist. Vier Prinzipien werden der Arbeit vorangestellt: Das Prinzip der Erklärung, das Prinzip von Analyse und Abstraktion, das Prinzip der Präzision und Klarheit und das Prinzip, menschliche Handlungen als Ausgangspunkt von Erklärungen zu wählen. Wir wollen hier nicht auf die Unterschiede in der Logik der Erklärung gemäß dem Mechanismus-Design und dem Schema der Erklärung nach Hempel und Oppenheim eingehen (dazu Opp 2007). Offenkundig sind aber die Parallelen zur Präzision analytischer Philosophie und die Orientierung am methodologischen Individualismus. Daneben geht es um Abgrenzungen, die mitunter auf die Spitze getrieben werden, und nicht selten werden Gegensätze behauptet, wo keine sind. Dazu zählen insbesondere die Kritik am Instrumentalismus und die Abgrenzung zur RationalChoice-Theorie (RC-Theorie). Faktisch überwiegen aber die Gemeinsamkeiten mit den kritisierten Ansätzen. Alle in dem Buch diskutierten Beispiele aus Untersuchungen werden von RC-Theoretikern nicht anders behandelt und viele der Beispiele wie etwa das Segregationsmodell von Schelling, die klassische Studie von Coleman, Katz und Menzel über die Ausbreitung von Innovationen in sozialen Netzwerken oder die Analyse von Boudon über Beförderungschancen und relative Deprivation stammen ohnehin aus der Tradition der RC-Forschung. Wenn überhaupt, handelt es sich bei der wissenschaftstheoretischen und methodologischen Ortsbestimmung eher um Familienzwistigkeiten. Ausgangspunkt von soziologischen Erklärungen sind menschliche Handlungen und deren Wechselwirkungen. Um Handlungen zu erklären, bedarf es einer Handlungstheorie. Der Kern erklärender Modelle heißt "desire, belief, opportunity" oder DBo. Mit DBO werden wir uns im folgenden Abschnitt auseinandersetzen. Ziel der Erklärung in der Soziologie sind soziale Ereignisse und Prozesse, die sich aus den Interaktionen von Akteuren ergeben. Hedström behandelt zahlreiche BeispieFür Anregungen und Hinweise bedanke ich mich bei Matthias Näf und Manuela Vieth.
193 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
AnalYtische So'.(jologie und Rational Choice le, vernacWässigt aber Modelle, die gerade zu diesem Zweck von großem Nutzen sein können, nämlich die Modelle der Spieltheorie. Davon wird in Abschnitt drei die Rede sein. Abschnitt vier behandelt einen blinden Fleck der RC-Soziologie, die VernacWässigung evolutionärer Prozesse. Im Schlussabschnitt wird auf den Instrumentalismusvorwurf und auf das Verhältnis von Analytischer Soziologie und RCSoziologie eingegangen.
2. DBO ist noch keine Theorie Im Mittelpunkt steht der zweckorientiert handelnde Akteur, "eingebettet" in die Handlungen der Mit-Akteure. "Desire" sind Wünsche oder Ziele von Akteuren. Bei "Beliefs" handelt es sich um die Wahrnehmung von Alternativen und Handlungskonsequenzen. Dazu zählen insbesondere auch subjektive Wahrscheinlichkeiten, mit denen Konsequenzen von Handlungen erwartet werden. "Opportunities" sind Gelegenheiten, die objektiv zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen. In der Sprache der Ökonomie handelt es sich bei "desire" um Präferenzen, "beliefs" sind subjektive Wahrscheinlichkeiten und "opportunities" sind Restriktionen oder positiv fonnuliert: Ressourcen. D, B und 0 sind erklärende Merkmale, das Explanandum ist die Handlung A. DBO steht weder im Widerspruch zur neoklassischen Ökonomie noch zur soziologischen RC-Theorie. DBO ist ein heuristisch stimulierendes Konzept, das auch von Ökonomen wie Gintis (2007) vertreten wird. Dort wird es unter der Bezeichnung BPC-Modell vorgestellt mit B für "beliefs", P für Präferenzen und C für "constraints" (= Opportunitäten). Ein großer Vorteil von DBO ist die "Anschlussflihigkeit" an Ökonomie und Psychologie. Gibt es einen Grund dafür, dass Ökonomen eine andere Handlungstheorie als Soziologen zu Grunde legen sollten? DBO ist ein grundlegendes, integrierendes Konzept, eine Vorstufe zur Erklärung von Handlungen in allen Sozialwissenschaften. DBO bezeichnet allerdings nur Bausteine in einem heuristischen Schema, aber noch keine Theorie. Insofern ist der Begriff "DBO-Theorie" missverständlich. Wenn man Anhänger der Wissenschaftsphilosophie von Karl Popper ist, gibt es einen einfachen Test dafür, um zu zeigen, dass DBO keine empirisch gehaltvolle Theorie ist. Man kann die Frage stellen, ob es irgendeine intendierte Handlung gibt, die im Widerspruch zu DBO stehen könnte. Diese Frage muss man verneinen, d.h. DBO ist nichtfalsift'.(jerbar. Selbst wenn man angibt, wie die einzelnen Elemente D, B und 0 gemessen werden können, kann DBO nicht falsifiziert werden. Das heißt aber keineswegs, dass das DBO-Schema unzweckmäßig wäre. Das Gegenteil ist der Fall. D, B, 0 und A sind Werkzeuge einer "toolbox", die zentralen Elemente im Baukasten der Handlungstheorie. Sie müssen nur sinnvoll zusammengesetzt werden. Das Schema ist ausbaufahig zu einer Handlungstheorie und 194
Andreas Diekmann insbesondere hilfreiche Richtschnur bei der Konstruktion von "Theorien mittlerer Reichweite". DBO ist Prototheorie. Zur Theorie wird diese durch Brückenhypothesen, möglichst die Endogenisierung von D, Bund 0 und durch Regeln, die eine Verknüpfung von D, B und 0 angeben, so dass eine Handlung A erklärbar und prognostizierbar ist. Instruktive Beispiele für diese Strategie fInden wir in der ,,Analytischen Soziologie". So wendet Hedström (2007: 56) DBO auf die Erklärung von Kriminalität an. Grundlage ist ein Entscheidungsbaum mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten für die Konsequenzen der alternativen Handlungen. Erstere sind die "beliefs", Letztere die Opportunitäten. Die subjektive Wahrscheinlichkeit, nicht ertappt zu werden, ist p, und 1-p die Entdeckungswahrscheinlichkeit. Die "desires" werden mit d1, d2 und d3 bezeichnet. d1 bezeichnet den Nutzen des Erfolgs einer kriminellen Handlung, d2 ist die Strafe, falls eine Person entdeckt wird und d3 ist der Wert des Status quo, wenn keine kriminelle Handlung erfolgt. Es gilt d1 > d3 > d2. Die "beliefs" werden nun endogenisiert mit der Hypothese, dass p mit der Anzahl krimineller Akteure ansteigt, da Strafverfolgungsbehörden nur ein begrenztes Budget zur Verfügung haben. Hedström argumentiert sodann, dass der Erwartungswert der kriminellen Aktivität pd1 + (1-p)d2 ansteigt, wenn weitere Personen kriminelle Handlungen ausführen. Außerdem werden dann auch die Verbotsnormen geschwächt, so dass auf diesem Weg die kriminelle Handlung zusätzlich attraktiver wird. Mit dieser Hypothese werden auch die Präferenzen D endogenisiert. Man beachte, dass mit DBO alleine aber überhaupt keine Erklärung möglich ist, selbst wenn die Randbedingung über die Intensität der Präferenzen (D), die "beliefs" (B) und die Alternativen und Konsequenzen (0) bekannt sind. Erst mit der Annahme einer Entscheidungsregel, hier die Maximierung des Erwartungsnutzens, wird DBO zu einer erklärenden Theorie. Implizit muss zudem angenommen werden, dass die Präferenzen kardinal messbar sind und die Axiome der Nutzentheorie erfüllen. Hedström bewegt sich bei diesem und anderen Beispielen auf dem Boden einer Re-Theorie im "engeren Sinne", d.h. einer Entscheidungstheorie, die das klassische Prinzip der Maximierung des Erwartungsnutzens zu Grunde legt. Aber natürlich ist DBO auch ausbaufähig durch andere Entscheidungsregeln, etwa durch Prinzipien begrenzter Rationalität. Zu einer erkliirungskriiftigen Theorie wird DBO erst durch die Festlegung von Messoder Bmckenhypothesen und durch die Präifsierung der Entscheidungstheorie.
3. Soziale Interaktionen und Spieltheorie Die Spieltheorie befasst sich mit einer Teilmenge sozialer Interaktionen, nämlich mit strategischen Interaktionen. In sozialen Interaktionen werden D, B oder 0 wechselseitig durch die an einer Interaktion beteiligten Akteure beeinflusst. In 195
AnalYtische So'.(jologie und Rational Choice spieltheoretischen Modellen ist D durch die Auszahlungen gegeben. 0 dagegen ist in dem Sinne endogen, dass die Handlungsresultate von den Entscheidungen der anderen Akteure abhängen. Bei einer Klasse sehr interessanter Spiele, nämlich Spiele mit unvollständiger und asymmetrischer Information sind auch die "beliefs" endogen. In Signalspielen z.B. ändert sich B in Abhängigkeit der Handlungen ~,Signale'') der Mitspieler. Obwohl soziale Interaktionen im Mittelpunkt der ,,Analytischen Soziologie" stehen, werden spieltheoretische Modelle fast völlig ausgespart. Das ist erstaunlich für eine Analytische Soziologie, die die Präzision von Aussagen zu ihren obersten Prinzipien zählt. Dies ist übrigens keine Besonderheit von Hedströms Arbeit, denn auch viele soziologische RC-Theoretiker ignorieren spieltheoretische Modelle in ihren Arbeiten. Die Begründung erfahren wir in einer Fußnote. Hedström (2007: 44) argumentiert, dass nicht-strategische Interaktionen im Alltagsleben wichtiger seien als strategische Interaktionen. Die Spieltheorie, so wird nahe gelegt, sei deshalb weniger bedeutsam in der Soziologie. Wenn man an die Fülle von Beispielen strategischer Interaktion bei klassischen Problemen der Soziologie, aber auch bei vielen anderen Fragestellungen ebenso wie bei alltäglichen sozialen Interaktionen denkt, überrascht diese Einschätzung. Denken wir an das klassische Problem sozialer Ordnung, das Hobbessche Problem. Spieltheoretische Arbeiten haben nicht nur zur Präzisierung beigetragen, sondern auch neue Lösungen aufgezeigt und ein äußerst fruchtbares Forschungsprogramm aufgespannt, das bis heute aktuell ist. Normen und Sanktionen waren und sind ein Kernthema der Soziologie. Strategische Interaktionen und das Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung, das Problem des Sanktionsvollzugs, sind grundlegend für jede Theorie sozialer Normen. Kollektivgutprobleme, soziale Dilemmata und soziale Bewegungen sind ohne Annahmen über strategisches Handeln nicht angemessen erklärbar. Sozialer Austausch und Reziprozität sind Grundkategorien soziologischen Denkens. Jede zeitverzögerte Transaktion impliziert ein Vertrauensproblem. Sozialkapital, Reputation, Reziprozitätsnormen oder Institutionen wie Pfänder und Kautionen sind mögliche Lösungen von Vertrauensproblemen. Mittels spieltheoretischer Modelle, mit dem Vertrauensspiel und seinen diversen Varianten, kann der Charakter der strategischen Situation präzise beschrieben werden. Auch im Alltagsleben überwiegen strategische Interaktionen. Wo die Konflikte nicht direkt bemerkt werden, liegt es daran, dass Regelungen und Institutionen existieren, die Lösungen für strategische Interaktionen darstellen. Von der Verkehrsampel über Höflichkeitsnormen bezüglich Vortrittsrechten bis hin zu Mietkautionen oder der stillschweigenden Übereinkunft, bei Akkordarbeit auf Höchsdeistungen zu verzichten, sind Menschen mit stillschweigenden oder expliziten Regeln konfrontiert, die nur auf dem Hintergrund strategischer Interaktion erklärbar sind.
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Andreas Diekmann Solche Situationen sind angemessen und präzise durch spieltheoretische Modelle beschreibbar. Deshalb kann eine Analytische und RC-Soziologie nicht auf Spieltheorie verzichten. Hedström (2007: 57) selbst befasst sich mit einem spieltheoretischen Modell von Boudon, ohne aber explizit den spieltheoretischen Charakter hervorzuheben (siehe auch Boudon 1979). Mit dem Modell wird versucht zu erklären, dass - im Anschluss an eine Hypothese von Toqueville und einer Studie über Beförderungschancen von Stouffer - zusätzliche Aufstiegschancen parado:Kerweise zu abnehmender Zufriedenheit führen können. Die Akteure stehen vor der Entscheidung, Ressourcen in eine Aufstiegsmöglichkeit zu investieren. Erreichen sie ihr Ziel, beträgt die Auszahlung dt. Verlieren Sie trotz Investition, erhalten sie die Auszahlung dz (der status qua abzüglich der Investitionskosten). Investieren sie nicht, d.h., begnügen sie sich mit ihrer derzeitigen Stellung, bekommen sie d3. Es gilt dt > d3 > dz. Natürlich sind die Aufstiegspositionen eine knappe Ressource, d.h. die Anzahl der Positionen nt ist kleiner als die Zahl der Mitglieder n der Gruppe. Das parado:Ke Resultat erhält man unter der Bedingung, dass nt derart erhöht wird, dass sich alle Akteure entschließen, am Wettbewerb um die knappen Positionen teilzunehmen. Dies ist der Fall, wenn der Erwartungswert für Investitionen größer ist als die Auszahlung im status quo, also (1)
Unter dieser Bedingung werden alle Mitglieder der Gruppe investieren mit dem Ergebnis, dass es nt zufriedene Gewinner und n-nt unzufriedene Verlierer gibt. Wenn die Unzufriedenheit der Verlierer insgesamt stärker gewachsen ist als die Zufriedenheit der Erfolgreichen, wird das Niveau der Zufriedenheit in der Gruppe absinken. Wie bei allen Problemen, bei denen mehrere Akteure um eine knappe Ressource konkurrieren, handelt es sich um eine Situation strategischer Interaktion. Im Beispiel, das Hedström untersucht, ist "investieren" die dominierende Strategie mit dem Ergebnis eines Nash-Gleichgewichts. Hedström skizziert in aller Kürze das zentrale Argument. Um die Wettbewerbssituation genauer zu analysieren, müsste man allerdings auch die anderen Konstellationen berücksichtigen. Nur für den trivialen Fall nt = 0 ist "nicht investieren" eine dominierende Strategie. Und nur wenn die oben angegebene Ungleichung (1) erfüllt ist, wird ,,investieren" zur dominierenden Strategie. Ob die Ungleichung erfüllt ist, hängt von den Parametern nt, n, dt, dz, d3 ab. Nehmen wir an, es existiert ein Schwellenwert nt*, so dass die Ungleichung für nt2:nt* erfüllt ist. Wächst also die Zahl der Positionen von null auf nt2:nt*, dann werden sämtliche Akteure zur Alternative "investieren" wechseln. Was passiert aber, wenn keine dominierende Strategie existiert? Ob sich "investieren" oder "nicht investieren" lohnt, hängt in diesem Fall davon ab, wie viele Per197
AnalYtische So'.(jologie und Rational Choice sonen (:K) sich an dem Wettbewerb beteiligen. Der Erwartungswert für ,,investieren" ist E(:K)=dl, falls :K:Snl und E(:K)= (nt/:K) 'dl +((:K-nl)/:K) 'dz, falls :K~nl. Investieren lohnt sich, wenn die Zahl der Mitbewerber gering ist. Bei einer größeren Zahl von Mitbewerbern kann es dagegen ratsam sein, sich mit dem status quo zu begnügen (falls E(:K)R> P>S definiert das Gefangenendilemma. Eine Vertauschung von nur zwei benachbarten Präferenzen (P und S) verändert den strategischen Charakter des Spiels grundlegend. Gilt nämlich T>R>S>P, wird aus dem Gefangenendilemma ein Chickenspiel. Hat das Gefangenendilemma ein inefftzientes NashGleichgewicht, so fmden wir im Chickenspiel zwei effiziente, Pareto-optimale Gleichgewichte. Eine kleine Ursache, eine kleine Differenz bei den Anfangsbedin198
Andreas Diekmann gungen, hat große Folgen für die strategischen Eigenschaften der sozialen Interaktion. Die Alltagssprache würde solche feinen Unterschiede mit gravierenden Konsequenzen nicht erkennen. Selbst wenn man den Wert der klassischen Spieltheorie als deskriptive, prognosefähige Theorie in vielen Situationen bezweifeln mag, so ist die Spieltheorie doch eine präzise, formale Sprache zur differenzierten Analyse sozialer Interaktionen. Hedström hätte also allen Grund, die Spieltheorie explizit und als integralen Bestandteil einer Analytischen Soziologie zu behandeln. Gerade eine Akteur-zentrierte Soziologie sollte der Spieltheorie mehr Beachtung schenken.
4. Begrenzte Rationalität und Evolution - Der blinde Fleck der Re-Soziologie In der Analytischen und der Re-Soziologie wird angenommen, dass Akteure zielorientiert handeln, Alternativen abwägen und über die Konsequenzen der Handlungen mehr oder minder genau informiert sind (siehe auch Diekmann 2009). Häufig ist es aber so, dass die Voraussicht und das Wissen über Handlungskonsequenzen sehr begrenzt sind. Akteure lernen in solchen Situationen durch Versuch und Irrtum oder sie imitieren erfolgreiche Verhaltensweisen. Sitten, Konventionen, soziale Normen und Institutionen sind zumeist nicht das Ergebnis rationalen, zielorientierten Handelns, sondern das Resultat kultureller Evolution. Variation und Selektion führen im Zuge eines evolutionären Prozesses zur Herausbildung erfolgreicher Strategien. Ein Beispiel für einen solchen Prozess ist das "ökologische Turnier" von Axe1rod (1987), aus dem die "Tit-For-Tat-Strategie" als Sieger hervorgegangen ist. Axelrods Simulation kannte keine Mutationen. Können mit geringer Wahrscheinlichkeit "Fehler" ~,Mutationen'') bei der übernahme von Strategien auftreten, so entstehen durch kulturelle Evolution neue, eventuell erfolgreiche Strategien. Oft genügt es, dass Akteure einfachen Regeln folgen wie z.B. ,,imitiere in Runde t+1 die erfolgreichste Strategie aus Runde t", um stabile Muster sozialer Ordnung hervorzubringen. Oder es existieren Interaktionen in begrenzten Nachbarschaften, "lokale Interaktionen", die sich durch Kettenreaktionen in einer Gesellschaft ausbreiten und eventuell zu stabilen Mustern sozialer Ordnung führen. Ein Beispiel ist das in der Analytischen Soziologie behandelte Segregationsmodell von Schelling. An dem historischen Beispiel der Ausbreitung von Verkehrsregeln in Mitteleuropa demonstriert Young (1998) die Anwendung von Modellen evolutionärer Spieltheorie auf die Entstehung von Normen und Institutionen. In der evolutionären Spieltheorie ist rationales Handeln keine notwendige Voraussetzung für ein evolutionär stabiles Gleichgewicht. Auch im Experiment kann man zeigen, dass Institutionen ihre Existenz nicht Planung und Einsicht zu verdanken haben, sondern oft erst aus einem dynamischen, evolutionären Prozess hervorgehen. 199
AnalYtische So'.(jologie und Rational Choice Ein aufschlussreiches Beispiel ist das Experiment von Gürerk, Irlenbusch und Rockenbach (2006). Ihre Studie basiert auf einem bekannten Experiment über Kooperation bei der Herstellung öffentlicher Güter von Fehr und Gächter (2002), das in den Grundzügen zunächst skizziert sei. Die beiden Autoren konnten demonstrieren, dass die Teilnehmer im Experiment bereit waren, sich an der Produktion kollektiver Güter zu beteiligen, wenn jeder Akteur die Möglichkeit hatte, Trittbrettfahren zu bestrafen. Die Bestrafung war nicht nur für den Empfänger der Strafe mit Kosten verbunden, sondern auch für den sanktionierenden Akteur. Ein homo oeconomicus würde von einer "altruistischen Sanktionierung" absehen, so dass Kooperation keine Chance hätte. Tatsächlich scheuten die Teilnehmer aber nicht die Kosten, Trittbrettfahrer zu bestrafen. Unter dem Sanktionsregime, genauer: unter einem Regime altruistischer Sanktionierung konnte sich ein hohes Ausmaß kooperativen Handelns entwickeln. Was passiert nun, wenn die Akteure die Wahl haben zwischen einem Regime A ohne Möglichkeit altruistischer Sanktionierung und einem Regime B mit Sanktionsmöglichkeit? Gürerk et al. haben die Teilnehmer an ihrem Experiment nach jeder Runde entscheiden lassen, ob sie sich Institution A oder B anschließen. Jeweils vier Akteure spielen in einer Runde zusammen. Jeder Akteur trifft nacheinander drei Entscheidungen: Über das Ausmaß der Beteiligung am öffentlichen Gut, über eine eventuelle Sanktionierung von Mitspielern und über einen eventuellen Wechsel zur Institution A oder B. Gespielt wird über 30 Runden, wobei es sich aber um einmalige, "nicht-wiederholte" Spiele handelt, d.h., ein Akteur interagiert mit wechselnden, ihm unbekannten Teilnehmern. Alle Akteure wurden fortlaufend über die Gewinne der Teilnehmer in den beiden Institutionen A und B informiert. Um eine plastische Vorstellung zu erhalten, könnte man annehmen, die Teilnehmer leben in einer Wohngemeinschaft und haben nach jeder Periode die Wahl zwischen einem libertären Regime und einem Regime mit einer Möglichkeit zur Sanktionierung der Trittbrettfahrer. Zu Beginn wählten die meisten Teilnehmer das sanktionsfreie Regime. In den ersten drei Runden lagen die Auszahlungen an die Trittbrettfahrer im libertären Regime A auch höher als die Gewinne kooperativer Akteure im Sanktionsregime B. Danach schnitten die kooperativen Spieler in B aber besser ab als die Spieler in A. In wachsendem Maße wechselten Spieler von A zu B, wobei Trittbrettfahrer rasch die Norm kooperativen Verhaltens übernahmen. Dieser Prozess führte zu einer extremen Polarisierung. Am Ende, in Runde 30, befand sich nur noch eine kleine Minderheit im sanktionsfreien Regime, während mehr als 90% der Versuchspersonen die Institution B vorzogen und sich fast vollständig kooperativ verhielten. "Die Ergebnisse demonstrieren den Wettbewerbsvorteil von Sanktionsinstitutionen und sind ein Beispiel für die Emergenz und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung, angetrieben von einem Prozess der Selektion von Institutionen", kommentieren Gürek et al. (Übersetzung A.D.). Bemerkenswert ist, dass die Entstehung sozialer Ordnung und 200
Andreas Diekmann Kooperation nicht der Voraussicht rationaler Akteure zu verdanken ist. Die wesentliche Rolle spielten vielmehr Prinzipien kultureller Evolution wie Lernen, Imitation und Selektion. Die Teilnehmer haben zu Beginn das sanktionsfreie Regime gewäWt. Erst im Zuge eines evolutionären Prozesses haben die Akteure Schritt für Schritt erfolgreiche Strategien kopiert, die sich dadurch in der Population verbreiten konnten. Die soziale Ordnung hat sich dabei quasi als nicht-intendierte Nebenfolge der Handlungen der Akteure herausgebildet. Im Extrem können evolutionäre Prozesse zu "rationalen" Lösungen führen, ohne dass es der Annahme eines rationalen Akteurs bedarf. Häufig aber handeln die Akteure zielorientiert gemäß der DBO-Heuristik, verfügen jedoch nur über begrenzte Informationen und eingeschränkte Kapazitäten der Informationsverarbeitung. Sie maximieren nicht Erwartungswerte, sondern begnügen sich mit Alternativen, deren erwarteter Nutzen gewissen Kriterien genügt ~,satisficing"). Auch die Axiome einer strikten Rationalitätstheorie (von Neumann und Morgenstern) sind nicht erfüllt. Die Akteure handeln in diesem Sinne nur "begrenzt rational". Wenn nun der Erfolg von Strategien ablesbar und zwischen den Akteuren transparent ist, Strategien gewechselt werden können und somit eine Wettbewerbssituation unterschiedlicher Strategien vorliegt, wird sich die relative Häufigkeit verschiedener Typen von Strategien im Zeitablauf verschieben. Das Experiment von Gürerk et al. ist eine empirische Demonstration eines solchen Prozesses. Variation und Selektion von Strategien, Normen und Institutionen führen im Zuge eines Prozesses kultureller Evolution zur Herausbildung sozialer Ordnung und neuer sozialer Muster. Der blinde Fleck der RC-Theorie ist, dass das Gewicht rational handelnder Akteure in Erklärungen sozialer Phänomene überschätzt wird. Die RC-Theorie legt bei Erklärungen den Schwerpunkt auf rationales, Alternativen abwägendes, maximierendes Handeln. Man könnte sagen, sie vertraut zu sehr einer Erklärung nach dem Muster ,,intelligenten Designs", während tatsächlich viele soziale Phänomene aus evolutionären Prozessen hervorgehen. Wenn man über die enge Version der RC-Theorie hinausgehen möchte, dann ist es gerade dieses Zusammenspiel von begrenzter Rationalität und Evolution, das Erklärungen für die Entstehung neuer Muster sozialer Ordnung liefert. Zugleich ist es ein Konzept zur Lösung des Mikro-Makro-Problems. Auf der Mikroebene handeln Akteure begrenzt rational, wobei sich Makro-Resultate im Zuge eines evolutionären Prozesses durch die Selektion erfolgreicher Strategien herausbilden. Für eine Analytische Soziologie ist dies eine viel versprechende Perspektive, um zu gehaltvollen Erklärungen zu gelangen. Freilich müsste man sich dann für präzise Erklärungen formaler Mittel bedienen, etwa der Modelle evolutionärer Spieltheorie.
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AnalYtische So'.(jologie und Rational Choice
5. Analytische Soziologie und Re-Soziologie In einem engeren Sinne heißt "rationales Handeln", dass Entscheidungen in Übereinstimmung mit den Axiomen der Nutzentheorie von Neumanns und Morgensterns oder der Axiomatik von Savage getroffen werden (siehe z.B. Eisenführ/Weber 2003). Gewählt wird die Handlungsalternative mit dem maximalen subjektiv erwarteten Nutzen (SEU). Diese Rationalitätstheorie oder RC-Theorie im "engeren Sinne" ist eine spezielle Variante von DBO. Viele RC-Soziologen legen aber das Wort "rational" in einem sehr weiten Sinne aus. Versteht man darunter ganz allgemein, dass Akteure zwischen Alternativen so wählen, dass sie ihre Ziele möglichst gut erreichen, dann gibt es keinen Unterschied zwischen Analytischer und RCSoziologie. Analytische Soziologie und RC-Soziologie verwenden DBO gleichermaßen als heuristischen Kern von Erklärungen. Allerdings ist der Begriff "rational" für eine weite Fassung der Theorie irreführend und hat auch häufig Konfusion und überflüssige Debatten hervorgerufen. Insofern ist die Bezeichnung ,,Analytische Soziologie" weniger missverständlich. 2 Ein Einwand Analytischer Soziologie gegenüber der RC-Soziologie verbleibt allerdings noch. Hedström (2007: 60ff.) wirft der RC-Soziologie (bzw. einigen Varianten der Theorie) vor, dass sie instrumentalistischen Charakter hätten. Für Instrumentalisten zählt nicht die Wahrheit der Annahmen einer Theorie oder eines Modells, sondern nur, ob die Theorie oder das Modell zutreffende Prognosen ermöglicht. Ein extremer Vertreter dieser Auffassung ist Milton Friedman. Nun stimmen aber die Annahmen eines jeden Modells nicht im vollen Umfang mit der Realität überein. Eine Landkarte vergröbert je nach Zweck bestimmte Details und lässt andere weg. Sind so gesehen nicht alle Theorien instrumentalistisch? Auch Hedström konzediert, dass die Annahmen die Ausgangssituation niemals vollständig beschreiben. Er unterscheidet allerdings zwischen "deskriptiv falschen" und "deskriptiv unvollständigen" Aussagen. Nehmen wir an, eine Situation A wird vollständig durch die Elemente A = {a, b, c, d} beschrieben, so Hedströms Beispiel. Wenn wir jetzt von der Annahme A = {e, f} ausgehen, so wäre diese An2
Ganz zufrieden kann man mit dem Etikett "analytisch" aber auch nicht sein. Die analytische Arbeit ist die Separlerung der einzelnen Elemente einer Erklärung oder eines erklärenden Mechanismus. Dazu zählen D, B, 0 und die Handlungen A der Akteure, Entscheidungsregeln (z.B. SEU-Maximierung) und Brückenhypothesen. Hierauf aufbauend folgt eine Synthese, der übergang von den Handlungen auf der Mikroebene zu den zu erklärenden sozialen Phänomenen der Makroebene (siehe auch Raub/Voss 1981). Coleman (1964) spricht bezeichnenderweise von "synthetischen Theorien". Der übergang von der Mikro- zur Makroebene ist der synthetische Teil einer Erklärung, wobei meist die einzelnen Elemente in einem Modell (Spieltheorie, agentenbasierte Simulation etc.) "synthetisiert" werden. Der Begriff "analytisch" bezeichnet demnach nur einen Teil der Erklärungsarbeit.
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Andreas Diekmann nahme "deskriptiv falsch". Dagegen wäre die Annahme A = {a, d} "deskriptiv unvollständig". Hedströms Wissenschaftsphilosophie erlaubt unvollständige, nicht aber deskriptiv falsche Aussagen. Alle Modelle und Theorien gehen von unvollständigen Annahmen aus, auch die Modelle der Analytischen Soziologie. Dagegen würden nach Hedström Vertreter der RC-Soziologie auch instrumentalistische Modelle und Theorien zulassen, die auf deskriptiv falschen Annahmen basieren, sofern nur die Prognosen mit den Beobachtungen übereinstimmen. Unseres Erachtens ist jedoch die Unterscheidung zwischen (1) "deskriptiv falsch" und (2) "deskriptiv unvollständig" nicht haltbar. Aussagen des Typs (2) können so umformuliert werden, dass sie Aussagen des Typs (1) entsprechen. Betrachten wir als Beispiel die Endgeschwindigkeit v eines Steins, welcher von einem 100 Meter hohen Turm fällt. Relevante Merkmale der Situation A sind die Erdbeschleunigungg 9,8m/sec 2 , die Höhe des Turms h, die Dichte der Luft dund die Windgeschwindigkeit w. Das einfache Fallgesetz abstrahiert von d und w und berücksichtigt nur g und h, d.h. die Annahmen der Theorie sind unvollständig. Prognostiziert wird eine Geschwindigkeit von Il = ~ = 44,3 rn/sec oder 159 km/ho Genau so könnten wir aber die Situation beschreiben durch g = 9,8m/sec 2 , h = 100m und d = 0 und w = 0, d.h., wir nehmen fälschlich an, der Steinwurf erfolge in einem Vakuum. Sobald man messbare Eigenschaften zur Situationsbeschreibung einführt, ist der Unterschied zwischen "unvollständigen" und "deskriptiv falschen" Annahmen hinfällig. Man kann sagen, dass die Annahmen eines Modells die relevanten Merkmale einer Situation mehr oder minder gut beschreiben und damit Näherungen darstellen. Die methodologische Regel lautet, dass die Annahmen eines Modells die relevanten Merkmale möglichst genau approximieren sollen. Die Kritik an einer instrumentalistischen RC-Theorie mit den Konzepten "unvollständig" und "deskriptiv falsch" kann dagegen nicht überzeugen, denn unvollständige Theorien können von der "Wahrheit" genau so weit entfernt sein wie "deskriptiv falsche" Theorien. Darüber hinaus könnte man mit einigem Recht sagen, dass die im Buch präsentierten Beispiele - im Gegensatz zur Behauptung des Autors - ebenfalls einer instrumentalistischen Konzeption folgen. So wird die Entscheidung zu kriminellem Handeln mit der Maximierung des erwarteten Nutzens erklärt, einer Theorie also, die mehrfach falsiftziert wurde. Auch wird niemand annehmen, dass Entscheidungsprozesse wirklich so ablaufen, dass Personen das Produkt aus "beliefs" und Nutzenwerten der Handlungsfolgen maximieren. Vielmehr handelt es sich um ein einfaches Modell für Entscheidungen, das mit geeigneten Brückenhypothesen und Messverfahren in vielen Situationen zutreffende Prognosen erlaubt, aber eben nicht immer und nicht unter allen Umständen. Wenn man dieses Modell aus pragmati-
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AnalYtische So'.(jologie und Rational Choice schen Gründen - es ist einfach und oft hilfreich - verwendet, befindet man sich schon auf instrumentalistischem Terrain. Die Diskussion der Abgrenzung Analytischer Soziologie von der Re-Soziologie ist aber der weniger wichtige Teil des Buches. Die Analytische Soziologie gibt der theoretischen und empirischen Soziologie wichtige Impulse und skizziert insgesamt eine äußerst anregende Forschungsperspektive. Die Rezeption von spieltheoretischen Modellen sozialer Interaktion und von Modellen evolutionärer Prozesse würde das Forschungsprogramm Analytischer Soziologie noch verstärken.
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Methodologie
PeterAbelJ
Singuläre Mechanismen und Bayessche Narrative 1. Einleitung Ich beabsichtige, die Sozialwissenschaften einschließlich der Soziologie als Suche nach kausalen Mechanismen zu interpretieren. Dabei bleibt es unklar, wie wir Situationen behandeln, in denen es schwierig oder gar unmöglich zu sein scheint, sich wiederholende Beobachtungen von Ereignissen zu fmden, die vorgeblich in kausalem Zusammenhang stehen. Historisch orientierte Fallstudien scheinen oft einzigartige oder seltene Ereignisse einzubeziehen, obwohl routinemäßig mutmaßliche Kausalverbindungen vorausgesetzt werden. 1 Die Untersuchung kausaler Mechanismen, die sich darauf bezieht (oder demonstriert) wie Ko-Variation durch menschliche Handlungen etabliert (oder generiert) wird, ist im Kern der Analytischen Soziologie verankert. Solche Mechanismen können auf einer latent theoretischen Ebene postuliert werden oder Gegenstand direkter Beobachtungen sein. Die Abgrenzung zwischen beobachtenden und theoretischen Bestimmungen ist oft flexibel, was mit verbesserten Beobachtungs- und Messtechniken zusammenhängt. Die Methode der kausalen Inferenz, bei der sich die Ereignisse wiederholen, gilt als gut verstanden, auch wenn sie immer provisorischer Gegenstand bisher unerforschter Exogenitäts-Überprüfungen bleibt. Dies aber gilt nicht bei Ereignissen, die relativ selten auftreten. Wie können, wenn überhaupt, unter solchen Umständen kausale Rückschlüsse gezogen werden? Bevor wir dieses Problem analysieren, wird es sich als nützlich erweisen, einen kurzen Rückblick auf die Art und Weise zu werfen, wie kausale Rückschlüsse in wiederholten Beobachtungsstudien (z.B. Studien mit großer Fallzahl) erbracht werden.
Es stellt sich als seht schwierig dar, eine klare Definition fili: die ,,Fallstudie" zu finden (siehe z.B. Ragin/Becker 1992). Wiederholte Beobachtungen einer einzigen Analyseeinheit kann natürlich eine (uni- oder multivariate) Zeitreihe generieren, die fili: kausale Analysen offen ist. Es ist nicht üblich, eine Zeitreibe als Fallstudie anzusehen, auch wenn ein Fall eine Zeitreihe beinhalten kann. Eine Fallstudie beinhaltet wahtschlich wiederholte Beobachtungen einer Einze1einbeit, aber eine Auswahl an Konzepten/Variablen zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
207 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative
2. Kausale Inferenz in Beobachtungsstudien mit großer Fallzahl Bei der Beschäftigung mit Studien mit großer Fallzahl ist es gängige Praxis, eine Humesche konstante Verbindung als Interpretation jeder kausalen Verbindung C (Ursache) - E (Effekt) anzunehmen. Wenn brauchbare Kontrollen etabliert sind, müssen wiederholte Fälle von C, die zu E führen und auch Fälle, in denen Nicht-C zu Nicht-E führen (z.B. mittels vergleichender Methode) untersucht werden. Wir alle wissen, dass konstante Verbindungen (Ko-Variation) weder Kausalität implizieren, noch von ihr impliziert werden - aber mit behutsamer funktionaler Spezifikation, Kontrollen und expliziten Annahmen können Ko-Variation und Kausalität tatsächlich abgestimmt werden (vgl. Pearl 2000; Spirtes et al 2000). Alle kausalen Inferenzen sind trotzdem vorläufig und im Sinne noch nicht ausgeführter Endogenitätstests der Revision ausgesetzt. Alle technischen Details beiseitegelassen, ist die zugrundeliegende Logik trotzdem deutlich: Beide, die vergleichende Methode (z.B. der Vergleich von Analyseeinheiten oder Fällen) und die Generalisierung (vorzugsweise nomothetische) sind Voraussetzungen für die Entdeckung jeder kausalen Erklärung (und Vorhersage). Die Reihung der "Trinität" - Erklärung, die vorangehende Vergleiche und Generalisierung erzwingt - ist ein möglicher Weg, die erkenntnistheoretischen Annahmen des Positivismus zu verstehen, die sich sowohl im hypothetisch-deduktiven (gesetzesartigen) als auch im induktiv-probalistischen Modell der Erklärung verbergen. Im Rahmen der Letzteren nimmt die Generalisierung die Form einer ansteigenden Wahrscheinlichkeit von E an, wenn C gegeben ist, im Vergleich zu E bei der Abwesenheit von C. Ich habe an anderer Stelle (siehe Abe1l2001, 2004) bereits erwähnt, dass es notwendig ist, die (positivistische?) Trinität (Erklärung, komparative Methode, Generalisierung) neu zu ordnen, um in einer Situation mit kleiner Fallzahl die kausalen Inferenzen zu belegen. 2 Singulare kausale Erklärungen (z.B. der Schluss ohne die Unterstützung einer bekannten Generalisierung, dass C in einem bestimmten Fall E verursacht) müssen sowohl vor einem Vergleich als auch vor einer Generalisierung logisch erbracht werden. Anschließend können wir stichhaltige Fragen danach stellen, ob eine Erklärung generalisiert werden kann oder nicht, indem wir kausale Erklärungen verschiedener Fälle vergleichen. Die Neuordnung, für die ich plädiere, ist nicht einfach eine Neuformulierung der Grundsätze der klassischen induktiven-probabilistischen Form der Erklärung.
2
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Im Hinblick auf Fußnote 1 verwende ich den Term/Begriff "n", um die Anzahl der Haupteinheiten der Analyse zu bezeichnen, nicht die Anzahl der Beobachtungen.
Pe/erAbell In diesen werden mit E verknüpfte Fälle von C (oder mit Nicht-E verknüpfte Nicht-C) mit der Zielsetzung angesammelt, um zu eruieren, ob eine (probabilistische) Generalisierung besteht oder nicht, so dass wir erfassen können, ob eine erklärende kausale Verbindung zwischen ihnen besteht. Im Gegensatz dazu würde ich nach einer Lesart suchen, die induktiv Fälle (sofern sie existieren) mit Hinblick auf die Frage sammelt, ob (oder in welchem Maße) sich bekannte singuläre kausale Erklärungen generalisieren lassen oder nicht.
3. Singulare Kausalität Folglich hängt viel davon ab, eine zufriedenstellende Konzeption von singulärer Kausalität zu finden und die Bedingungen zu spezifIzieren, unter denen sie beobachtet werden kann. Aus dieser Anschauungsweise heraus habe ich Von Wrigths (1971) Konzept des praktischen Syllogismus adaptiert (vgl. Abell 1987, 2004, 2009).3 Individuelle und kollektive Handlungen, so meine Argumentation, können als singuläre Ursachen nachfolgender Handlungen angesehen werden. Wenn dem so ist, sind Sequenzen kausal verbundener Handlungen der Schwerpunkt der Untersuchungen (z.B. Erzählungen). Im Hinblick darauf, dass wir Anhaltspunkte für Handlungen als auch für ihre kausalen Verbindungen haben, macht es Sinn nachzufragen, ob "jenseits aller berechtigten Zweifel" (ein Konzept, auf das unten zurückzukommen ist) eine singuläre kausale Beziehung existiert. Ohne Frage kann eine Ursache aus einem komparativen Muster von (Humeschen) konstanten Handlungsverknüpfungen herausgelesen werden, obwohl intentionale Erklärungen natürlich auch zufillig von generalisierten (vielleicht gesetzesmäßigen) Verbindungen zwischen Ereignissen der realen Welt abhängen können. Sie ermöglichen eindeutig Handlungen in der physikalischen Welt. Wenn ich versuche, X zu tun, in dem Glauben, dass dann in der physischen Welt Ereignis E eintreten wird, und X und E nicht kausal verlinkt sind., dann werde ich zwangsläufIg enttäuscht werden. Ich unterscheide zwischen einer notwendigen Komponente und den möglichen Grundlagen einer kausalen Erklärung (vgl. Danto 1985). Physikalische Kausalität bietet die Grundlage für narrative Kausalität und Letztere hat ihre eigenen logischen Strukturen. Sozialwissenschafder interessieren sich oft für kausale Relationen in der Form: "Wenn (J( Xl macht, veranlasst das, sagen wir mal ... ß, etwas anderes zu tun" (z.B.
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Von Wright unterstützt meinet Ansicht nach nicht den Gedanken einet singulären Vorstellung von Kausalität.
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Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative irgendeine Form der "sozialen" Interaktion).4 Die Frage ist nun, wie diese Art von Kausalität in singulären Begriffen abgefasst werden kann. Singuläre, handlungsgesteuerte Kausalität ermöglicht eine unorthodo:Ke Interpretation kontrafaktischer Beweisführung. Nehmen wir an, wir möchten untersuchen, ob "ß XZ getan hat", weil "CX Xl getan hat".5 Also zeigen wir, dass die Handlung Xl von cx wiederum ß veranlasste, Xz zu tun. Wir könnten im Besitz des kontrafaktischen Beweises sein, der zur Aussage berechtigt, dass "ß nicht Xz getan hätte, wenn cx nicht Xl getan hätte". In der Tat hätte ß etwas anderes getan. Wenn verlässliche Beweise/Aussagen dieser Art, trotz ihrer kontroversen Natur erlaubt sind, ist eine Erklärung des vorliegenden Kausaleffektes gegeben, ohne Zuflucht in Vergleichen oder Generalisierungen zu suchen (d.h. über verschiedene cx und ß hinweg). Die naheliegendste Art von Beweisen in der Analyse gegenwärtiger Fälle sind Aussagen der betroffenen Akteure, entweder spontan oder nach Aufforderung getätigt. Wo solche Belege nicht eingeholt werden können (z.B. bei historischen Fallstudien), sind die Belege etwas indirekter - manchmal sehr indirekt. Sie mögen die Form protokollierter Aussagen von zeitgenössischen Protagonisten oder von Beobachtern oder von Historikern selbst annehmen. In letzterem Sinne suchen Historiker nach Unterschieden in indirekten Beweisen, um eine Annahme zu unterstützen, die z.B. Interaktionen wie diese beschreibt: "ß tat Xz , weil cx Xl tat". Der wichtigste Gesichtspunkt hier ist, dass die Historiker, indem sie die Gesamtheit der Belege sichten, es typischerweise nicht für angemessen halten werden, nach passenden Interaktionen zu suchen, sondern einfach so viele Belege anzusammeln, wie sie für diese spezielle, unter Beobachtung stehende Interaktion fmden können. Es ist jedoch meiner Meinung nach geboten, diese Suche nach detaillierten Belegen nicht als Berechtigung zu einer rein deterministischen Sichtweise dieser Übung zu interpretieren, wie es viele Befürworter der Fallstudien tun. Die Beziehung zwischen den angesammelten Beweisen für eine Kausalverbindung und seiner "Wahrheit" muss immer noch in wahrscheinlichkeitstheoretischen Begriffen konzipiert werden. 6 Die Rolle des Kontrafaktischen in dieser Denkweise entsteht nicht
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Die Verbindung zwischen "Cl tut X," und "ß tut etwas andetes" kann die Intention von Cl sein odet auch nicht. Um der Verständlichkeit willen ignoriere ich diese Komplikation. Alles, was die narrative Analyse benötigt ist, dass ein bestimmter Zustand, durch die Handlung von Cl hervorgetufen, einen Einfluss auf die Argumentation und eventuell Handlungen von ß hat. Das "weil" ist hier in Bezug auf die (durch ß) begründete Notwendigkeit oder HinlängIichkeit mehrdeutig. Wie Goldthorpe (2000) herausgestellt hat, existiert unter den Fürsprechern der Fallstudien eine völlig ungerechtfertigte Neigung anzunehmen, dass Fälle fehlerfrei beobachtet wurden (deterministisch), weil sie mit größter Gründlichkeit studiert worden sind. Wie ich im Folgenden auf.leigen werde, sind Bayessche Narrative, wie ihr Name schon andeutet, grundlegend wahtscheinlichkeits-
PeterAbell aus einem Vergleich, sondern endogen und aus dem jeweiligen Fall heraus. Wenn Belege gefunden werden können, die die gegenteilige Aussage unterstützen, dass "ß nicht X2getan hätte, wenn oc nicht Xl getan hätte", dann enthält dies die Schlussfolgerung, dass Ersteres durch Letzteres verursacht wurde. So1che Belege, in denen die kausale Schlussfolgerung fehlt, sind abgeschwächt, aber nicht widerlegt, denn andere Arten von Beweisen für die Kausalverbindung könnten zur Verfügung stehen. Ich habe in den vorhergehenden Abschnitten und ausführlicher an anderer Stelle (siehe Abell2009) versucht, Einzelfillen in der Kausalanalyse eine spezifische Rolle zuzuweisen. Meine Argument ist zuerst einmal von der Akzeptanz einer singulären Auffassung von (handlungsgesteuerter) Kausalität abhängig, zweitens aber auch von einer bestimmten Strukturierung der Handlungen innerhalb von Fällen, mithilfe derer Interaktionspfade aufgespürt werden können. Das bedeutet, wir kommen nun zur narrativen Konzeption.
4. Narrationen Ich beginne mit einer kurzen Darstellung des narrativen Konzeptes. Ich werde indes nur eine informelle Präsentation der Ideen anbieten (für eine ausführlichere Darstellung siehe Abe111987, 1993; für einen ähnlichen Ansatz siehe auch Heise 1989). Im Wesentlichen enthält eine Narration einen zeitlich geordneten, a-zyklischen, mehrfach verbundenen biparriten Graphen, in dem die Knoten die Zustände der Welt wiedergeben und die gerichteten Kanten die Handlungen darstellen, die diese Zustände transformieren. Zwei oder mehr in einen Knoten eingehende Kanten implizieren, dass sie (d.h. die Handlungen) gemeinsam für die Entstehung des Knotens hinreichend sind. Zwei oder mehr Kanten, die einen Knoten verlassen, implizieren, dass der Knoten eine Bedingung für jede dieser Handlungen repräsentiert. In Abbildung 1 bezeichnet D eine Handlung, die eine einfache narrative Struktur generiert, in der erstens die Handlungen OCDXl (oc macht Xl) und ßDX2 gemeinsam die Welt von Eo zu EI verändern. Anschließend stellt EI die Bedingung für die Handlungen von y und 8 her, die jeweils E2 und E3 realisieren. In jedem Falle werden die Handlungen durch die Bedingungen C verursacht.
theoretisch, obschon die Wahrscheinlichkeiren eher auf graduellen Abstufungen der subjektiven Überzeugungen als auf Frequenzen oder aleatorischen Erwägungen basieren.
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Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative Abbildung 1: Narrative
Wenn E2 = E3, dann sind yDXJ und 8D~ gemeinsam hinreichend für diesen Zustand. Oft wird es der Fall sein, dass Cl = C2 = C3 = C4 als gemeinschaftliche Bedingung dieser Handlungen die Erzählung konstituiert. Weiterhin kann aus praktischen Gründen die Struktur in Abbildung 1 als bipartiter Graph in Abbildung 2 abgebildet werden, wo Knotenpunkte Handlungen darstellen (inklusive der Bedingungen C) und die Reaktion auf die Zustände der Welt beiseitegelassen werden ein Handlungsskelett. Es ist oft zweckdienlich, in Begriffen eines solchen bipartiten Graphen zu denken und ich werde dies bei dem, was auf die Benutzung der einfachen Darstellungsart al, a2, ... , etc. folgt, beherzigen.
212
Pe/erAbell
Abbildung 2: Ein Handlungsskelett
a 1 = cxDX1
az= ßDXz a3 = yDX3 a4 = BDX4
Eine Erzählung mag entweder erklären, wie die/der Endknoten kausal generiert werden/wird oder wie der/die Initialknoten in den/die Endknoten umgewandelt wird/werden (zwei alternative Explicanda). Im Kontext mit Ersterem bedeutet dies, dass je weiter die Erzählung in die Vergangenheit hineinteicht, desto mehr der detaillierten Geschichte in ihrer kausalen Entstehung (Mechanismen) wird erkennbar.
5. Erzählungen und kausale Inferenz Viele Historiker sind der Ansicht, dass die Kausalverbindungen in einer Erzählung solange herunter gebrochen werden sollten, bis man so fein strukturierte Kausalverbindungen erhält, dass man sie in Begriffen von "Gesetzmäßigkeiten, die wir aus unserer Alltagserfahrung ableiten können" (Roberts 1996), verständlich machen kann. Roberts nennt diese Dekomposition Mikro-Kolligation, und da die dekomponierten Kausalitäten explizit von Gesetzen abhängen, passt die Erklärung nun in das klassische hypothetisch-deduktive Paradigma. Als Konsequenz ist die Mikro-Kolligation konsistent mit der Ordnung der Trinität Erklärung/Vergleich/ Generalisierung. Es scheint trotz alledem nicht haltbar zu sein, so zu argumentieren, dass die feinstrukturierten Kausalverbindungen charakteristische Beispiele für Kausalgesetze sein könnten. Was Dekomposition meiner Meinung nach eher erzielen sollte, ist eine Narration, die hinsichtlich sequentieller Handlungen, die singuläre Kausalinterpretationen hervorbringen, formuliert ist. 213
Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative 5.1 Kolligation und Bayessche Narrative Die Speziftzierung der "Knoten" einer Narration, die eine Chronologie der zeitlichen Abfolge von Ereignissen (Handlungen) enthält, erweist sich oft als wenig kontrovers. Historiker bestreiten nur selten die Erscheinung und die Datierung von Ereignissen und Handlungen. Es ist die Integration von Kausalverbindungen zwischen Ereignis- oder Handlungspaaren, die auf diese Weise eine Narration kreiert -, die in vielen Fällen ein Problem aufkommen lässt. Im Folgenden werde ich annehmen, dass die Handlungschronologie gegeben ist und dass der Diskussionsgegenstand der ist, wie Kausalverbindungen zwischen diese Handlungen zwischengeschaltet werden können. Die vorgeschlagenen Techniken könnten jedoch genauso gut auf unbekannte Ereignisse und Handlungen angewandt werden. Die Grundbausteine einer Narration (in Abbildung 2 als Handlungsskelett dargestellt) nehmen folgende Gestalt an: Die Handlung aj von Cl( verursacht eine Handlung az von ß, wobei Cl( und ß jeweils Individuen oder Kollektive sowie gleichartig oder unterschiedlich sein können.? Die generelle Frage, die wir uns stellen müssen, ist, wie sich die Wahrscheinlichkeiten für das Bestehen einer Kausalverbindung ändern, wenn die verschiedenen Beweise, die wir gesammelt haben, eingesetzt werden. Die gesammelten Beweise, manche für und manche gegen die Existenz einer kausalen Verbindung sprechend, können entweder unabhängig oder abhängig von der Verbindung sein (z.B. Aussagen zweier oder mehrerer unabhängiger Beobachter im Gegensatz zu kolludierten Beobachtern). Das Ziel der Kausalanalyse ist es, die einzelnen Beweise in konsistenter Weise so zu kombinieren, dass sie demonstrieren, dass die Wahrscheinlichkeit für die Existenz einer Verbindung "über alle Zweifel erhaben" ist. Lassen Sie uns die Hypothese, dass eine Kausalverbindung in diesem Falle existiert, A nennen, und ihre Verneinung '<4. Also fragen wir jetzt, was in diesem speziellen Fall der Beweis für die Richtigkeit von A ist. Lassen Sie uns zu Beginn annehmen, dass nur ein Beweis b existiert (z.B. ein Bericht von ß, dass sie az tat, weil Cl( aj getan hat)8, der die Wahrscheinlichkeit P(A Ib) bekräftigt, dass eine Kau7 8
In Abbildung 2 führt die Handlung al von 0( nicht Zu lI2, sondern zu 113 und :14. Der Beweis b kann indirekrer sein als der Berichr eines Teilnehmers. Selbsr solche Berichte müssen lediglich wahrscheinlichkeitstheoretisch in Bezug auf die Kausalverbindung A angesehen werden. Teilnehmer könnren die Unwahrheit sagen erc. Die einzige Maßgabe ist, dass P (A Ib) > 0 oder P (rA Ib) > 0; d.h., dass das Ereignis in der einen oder anderen Hinsicht fiir die kausale Inferenz relevant sein kann. Die präzise Inrerpreration von P (b IA) wird von der Natur des Beweises b abhängen. In dem speziellen Falle eines Reports eines Teilnehmers ~, dass "Ich rat 112 wegen al", dann ist P(b IA) die Wahrscheinlichkeit, dass ~ einen solchen Bericht abgibt, vorausgesetzt dass A wahr ist. Genauso ist P(b IoA) die Wahrscheinlichkeit des Reports, wenn A falsch ist. Selbsrverständlich hängen solche Berichre, wenn sie genauer untersucht werden, von einer Schätzung (des Analysierenden) ab, inwieweit ~ seiner eigenen Motivation und Neigung folgt und wahrheitsgetreu berich-
214
Pe/erAbell salverbindung existiert, vorausgesetzt, dass ß berichtet, dass "sie az tat, weil cx at getan hat". Benutzen wir jetzt das Bayessche Gesetz, so haben wir:
und
P(b) . P(A Ib) = P(A) . P(b IA) P(b) . P(oA Ib) = P(oA) . P(b IoA)
(1)
Wo P(A) die Wahrscheinlichkeit von A ist, ist P(b) die Wahrscheinlichkeit von b; P(b IA) ist dann die Wahrscheinlichkeit von b gegeben A und P(b IoA) ist die Wahrscheinlichkeit von b gegeben oA. Folglich ist P(AI~)
P(oAlb)
P(A) . P(b IA) P(oA) . P(b IoA)
(2)
Also gilt: Odds((A : oA) Ib) = Odds (A : oA) . L b Wobei L b = P(b IA) A und oAist.
(3)
/ P(b I oA) der Wahrscheinlichkeitsquotient des Beweises b für
Folglich gilt: Log L b = Log Odds ((A : oA) Ib) - Log Odds (A : oA)
(4)
Log L b (vgl. Good 1983) ist ein Maß, wie sich die Odds von A gegenüber oA als Konsequenz aus Beweis b verändern. Es ist ein Maß für die erwiesene Unterstützung von b für die Existenz der Kausalverbindung A, indem es die apriori Wahrscheinlichkeiten in aposteriori Wahrscheinlichkeiten umwandelt. 9 Die Gleichung (3) in logarithmischen Termen (Gleichung (4» auszudrücken, ist eindeutig möglich. Dies erlaubt aber lediglich, die Wahrscheinlichkeitsveränderungen hinsichtlich eines Unterschiedes zu interpretieren und legt keine nennenswerte Auswirkungen bei null fest. §
Log L b = 0 (d.h. L b = 1), wenn b keine Auswirkungen auf die Wahrscheinlich-
keiten hat; P(b IA) = P(b I oA),
9
tet. Die Wamscheinlichkeiten sowohl von dem Motivationsvetständnis als auch det Wahtheitsliebe von ß (bedingt durch A und 'A) können in dieser feiner strukturierten Analyse als intervenierende Zustände bezüglich der Inferenz zwischen A und b interpretiert werden. Ich werde im Folgenden aufzeigen, wie man mit solchen Zuständen wnzugehen hat Siehe, dass P(bt, b2} = P(bt} P(btl b2} = P(b2} P(b21 bt} - die konditionale Abhängigkeit ist symmetrisch.
215
Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative Log L b > 0 (d.h. L b > 1), wenn b positive Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeiten hat; P(b IA) > P( b I ~), § Log L b < 0 (d.h. L b < 1), wenn b negative Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeiten hat; P(b IA) < P(b I ~). In der Praxis können zwei oder mehr Anhaltspunkte bezüglich der Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Hypothese A existieren. Beginnen wir mit der Annahme, dass es zwei Anhaltspunkte gibt (b, und b2), die gegenseitig unabhängig von A und ~ bedingt sind (z.B. zwei gänzlich unabhängige Berichte). Dann ergibt sich: §
und
P(A I b"bd . P(b,) . P(bd = P(A) . P(b, IA) . P (b2I A ) P( ~ I b"bd . P(b,) . P(bd = P(~) . P(b,1 ~) . P(b2
I ~)
(5)
Teilen wir die erste Gleichung durch die zweite:
=
P(A)· P(b,IAI . PChl.AJ P(~) ·P( b,l ~) ·P(b21~)
Kürzen wir P(b,) und P(bd ergibt sich:
Odds «A : ~I Ib,Jzd. = ---fllz, I~I . P~hl4L- = Odds(A : ~) P(b,I~) . P(b21 ~)
L b,· L b2
(6)
Folglich ist; Log Odds ((A: ~) Ib" bd - Log Odds (A :~) = Log L b, + Log L b2
(!)
Lassen wir
(8) wobei ~ der Wahrscheinlichkeitsquotient von b, und b2 bedingt durch A und ~ ist. Demnach werden wir für n konditional unabhängige Anhaltspunkte folgendes vorfmden:
(9) und
(10)
216
Pe/erAbell Gleichung (10) beinhaltet, wie alle Anhaltspunkte konditional unabhängiger Beweise sich zur Bestätigung oder Verneinung der Hypothese A (alternativ: Bestätigung oder Verneinung der Hypothese oA) zusammenfügen. Wie wir im Folgenden sehen werden, liefert uns ~ einen Schätzwert dessen, inwieweit die kombinierten (von A und oA konditional unabhängigen) Anhaltspunkte die Log-Odds von A ebenso wie gegen --,A verändern; genauer gesagt, die Log-Odds für die Existenz einer Kausalverbindung zwischen den chronologisch spezifizierten Handlungen/Ereignissen. Nehmen wir nun an, dass b1 und b2 nicht bedingt durch A und --,A sind (z.B. in zwei teilweise gemeinschaftlichen Berichten). Dann gilt,lO
P(A Ib/Jbd . P(b/Jbd = P(A.) . P(bl IA) . P(b2I A ,b1) P(oA Ib/Jbd . P(b/Jbd = P(oA) . P (bl I oA) . P(b21 oA,b1)
(11)
Dividieren und logarithmieren wir,
Log Odds ((A.: oA) Ib1,bd - Log Odds (A.: oA) = Log L b1 + Log L b2/ b1
(12)
wobei L b2/ b1 der Wahrscheinlichkeitsquotient von b2 ist, gegeben b1 konditional zu A und --,A. Daraus folgt, dass wir, bei multiplen konditional abhängigen Anhaltspunkten, Gleichungen ähnlich denen in [T) und (8) erzielen, die aber das Muster der konditionalen Abhängigkeit unter den Anhaltspunkten widerspiegeln. Der Vergleich der Gleichungen (12) und [T) demonstriert, dass die konditionale Abhängigkeit der Anhaltspunkte das Gesamtbild nicht grundlegend verändert. Der Wandel der Log-Odds bei zwei Beweisstücken ist in beiden Fällen die Summe des entsprechenden Logarithmus der Wahrscheinlichkeitsquotienten. Es ist klar ersichtlich, dass die Analyse auf jede beliebige Zahl von konditional abhängigen Anhaltspunkten ausgedehnt werden kann. Um analytische Erkenntnisse zu gewinnen, ziehen wir zunächst in Betracht, dass die einzelne, in Abbildung 3 dargestellt Dekomposition, bei der Hypothese A o (es existiert eine Kausalverbindung zwischen al und a3) in zwei Hypothesen dekomponiert (kolligiert) wird, namentlich in AI (es besteht eine Kausalverbindung zwischen al und a2) und in A 2 (es besteht eine Kausalverbindung zwischen a2 und a3). 10 Hier ist zu beachten, dass die Bayessche Analyse die gleiche Wahrscheinlichkeit der Existenz und der Nichtexistenz einer Kausalverbindung als "Null-Hypothese" ansieht und nicht das NichtVorhandenseins einer Kausalverbindung. Beweise deuren dann in die ein oder in die andere Richtung.
217
Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative
Abbildung 3: Kolligation
at
•
•
I
At
~)\ Al)
)
a2
at
.a3
•a3
b,
Nehmen wir weiter an, dass wir zwei Beweisstücke bt und b2 haben, jeweils einer bezogen auf die Hypothesen At und A z. Gehen wir nun davon aus, dass: (1) bt und b2 konditional unabhängig von A ound ""A osind. (2) bt unabhängig von A ound ""A obedingt durch At und ""A t ist. Dies wird durch die in Abbildung 3 fehlende, direkte Verbindung zwischenAo und bt impliziert. (3) b2 unabhängig von A o und ""Ao und bedingt durch At and ""A t ist. Dies wird wieder durch die fehlende direkte Verbindung zwischenA o und b2 impliziert. (4) At and A 2 konditional unabhängig von A o and ""Ao sind. Folgen wir nun Abbildung 4, könnten wir festschreiben:
218
Pe/erAbell Abbildung 4: Dekomposition der Hypothese Ao oder ""Ao
P(b1 IAoJ = P(A1I A oJ . P (b1 IAtJ + P(~1 IAoJ . P (b1 I~tJ P(b1 I~oJ = P(A1 I ~oJ . P(b1 IAtJ + P(~1 I ~oJ . P(b1 I~tJ
(13)
Also gilt: L b1 =
PV41~t-lA1)+ P(~1~11 ~1J P(A11~oJ· P(b1I A 1) +P(~11~oJ· P(b11~1)
(14)
genauso wie
(15) und
(16)
Generalisiert für n Beweisstücke: L B = L b1 . L b2
·Lbn
(17)
Daraus folgt: Mit n Beweisstücken, die alle paarweise konditional unabhängig von der untersuchten endgültigen Hypothese (A o und ""A o) sind, wird die gesamte Beweiskraft der Belege wie zuvor durch die Multiplikation der Wahrscheinlichkeitsquotienten von jedem Beweisstück errechnet. Da dennoch intervenierende Hypo219
Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative thesen (AI and A 2) zwischen den Beweisstücken undAo and --'Ao stehen, errechnen sich die Wahrscheinlichkeitsquotienten aus den konstituierenden Komponenten (Gleichungen (14) und (15)). Nimmt man eine Verallgemeinerung der Annahme (1) vor, so dass die Beweisstücke b, und b2 nun konditional abhängig von A o und --'Ao sind, gilt
(18) Wobei
Generalisiert auf n Beweisstücke:
Ln = L bl • L b2/ bl • L bJ/ b2'b1
••••••••••••••
L bn/bl. b2.......b.(n-Ij
(20)
Um diese Art von Gleichungen schlussfolgernd nutzen zu können, werden Schätzungen der verschiedenen Wahrscheinlichkeitsquotienten benötigt. Diesen wenden wir uns nun zu.
5.2 Schlussfolgernde Verfahren Angenommen, wir vermuten eine Kausalverbindung in einer Chronologie (oben A o genannt), die dann endgültig in feinkörnige Kausalverbindungen dekomponiert wird, von denen jede mit einem/mehreren Beweisstück(en) (bI' b2 •••) verbunden ist, dann wollen wir den nachfolgenden Wahrscheinlichkeiten einen Wert in Anbetracht unserer Belege zuzuteilen. Aufgrund des Mangels an wiederholten Beobachtungen (Frequenzen) muss der Wert aus der "Stärke der Überzeugung" des Analysierenden ermittelt werden (vgl. Schum 1994). Der Analysierende wiederum mag sich auf die Schätzungen informierter Gesprächspartner stützen, beispielsweise auf sachkundige Historiker. Natürlich gibt es in der Soziologie eine lange Tradition, sich in sorgfältiger Weise auf die Aussagen von Experten oder "Schlüssel-Informanten" zu verlassen. March et al. (1991) schreiben in ihrem provokant titulierten Aufsatz "Leamingfrom Samples if One or Fewel': "Theorien historischen Schließens tendieren dazu, auf ein Zusammenlegen von Beobachtungen Wert zu legen. Die Bildung eines Zusammenschlusses von Beobachtern scheint in einigen alltäglichen Situationen Vorteile zu haben, aber in Abwesenheit einer klaren Formulierung der involvierten Gewinne und Verluste gestaltet es sich schwierig, die präzisen Bedingungen zu spezifizieren, wann eine Strategie der anderen vorzuziehen ist." Ich vermute, dass Bayessche Narrative in dieser Hinsicht hilfreich sein könnten. 220
Pe/erAbell
Es ist schwierig zu erkennen, wie man ohne diese Mutmaßung auskommen soll, wenn die Vergleichsfälle fehlen. Natürlich kann die Dekomposition der Verbindung A o zu feiner strukturierten Verbindungen führen, welche jeweils wiederholt beobachtet werden können, wenn die zuvor vermuteten Korrelationen zwischen den durch die Kausalverbindung verknüpften Zustände in die Chronologie eingefügt werden können. Da die Schätzung der bedingt durch den vorliegenden Beweis nachfolgenden Wahrscheinlichkeiten unser Hauptanliegen ist, könnten wir bei jedem "Schlüssel-Befragten" ihren Wert auf die Probe stellen. Wir könnten auch einfach nach Simon den Durchschnitt über eine bestimmte Anzahl von Befragten ermitteln. Solche Schätzungen abzugeben würde sich indes als schwierig erweisen, sowohl für die Befragten, wenn sie zuverlässig erscheinen sollen, als auch für Vergleichsschätzungen der Auswirkungen der individuellen Beweisstücke für die späteren Wahrscheinlichkeiten. Den Befragten sollte vielmehr ein Bezugsrahmen geboten werden, in dem sie ihre geschätzten Wahrscheinlichkeiten für das jeweilige Ereignis ansammeln können, während sie die Folgerichtigkeit ihrer Schlussfolgerung überprüfen. Die generelle Inferenz-Struktur der vorangegangenen Analyse sieht so aus: Odds((A:~)
Ibf J2.~,J.
Odds(A:~)
=~=
L bf • L b2 / bf ••• ·LbJ:/bf... bk-f··· ·LIm/ bf ... bn-f·
(21)
Um die a posteriori Odds((A:~) Ibf, b2 ••••• • ,b,J von ~ abzuschätzen, brauchen wir immer noch zuerst einen Schätzwert der apriori Odds. Auf diesen Umstand komme ich gleich zurück. Sachkundige Informanten können Schätzwerte erstellen durch: 1. Die konstituierenden Wahrscheinlichkeiten der entsprechenden Gleichung für ~.
2. Die globale Wahrscheinlichkeit für Ln. Der Analysierende kann dann diese Schätzwerte auf ihre Konsistenz hin prüfen, bevor er die Schätzung des globalen Wahrscheinlichkeitsquotienten ~ als gegeben annimmt. Alternativ kann die Wahrscheinlichkeit auch so geschätzt werden, als ob die Beweisstücke für sich gesondert konditional unabhängig von A o and -'A o und ihren unterschiedlichen Produkten wären. Der globale Schätzwert von ~ könnte dann der konditionalen Abhängigkeit zwischen den Beweisstücken zugeschrieben werden. Im Allgemeinen wird der Analysierende bei diesen Schätzwerten berücksichtigen, dass manche Schlüssel-Informanten weder konsistent sind, noch eine große Bandbreite an Anhaltspunkten umfassen. 221
Singuläre Mechanismen und Bqyessche Narrative Da unsere Zielsetzung darin besteht, die Odds((A:~) Ib"b2 ••• ,b,J abzuschätzen, benötigen wir noch immer einen Schätzwert bezüglich der apriori Odds A o zu --'Ao' Hierbei stehen uns zwei sinnvolle Ansätze zur Verfügung: § Wir nehmen an, dass die Wahrscheinlichkeiten 1 sind (d.h., wenn jeglicher Beleg fehlt, sind A o und --'A o gleichermaßen möglich). § Wir fragen den Schlüssel-Informanten nach einer Schätzung (siehe Schum (1994) für eine entsprechende Analyse). Dann können in jedem Fall die aposteriori Odds aus den apriori Odds und den entsprechenden Wahrscheinlichkeitsquotienten berechnet werden. Ermöglichen uns die so berechneten Odds schlussendlich, "über jeden Zweifel erhaben" zu schlussfolgern, dass entweder A o oder --'Ao richtig ist? Wie bei jeder auf Häufigkeiten basierenden Konzeption von Kausalität kann man mehr oder weniger strenge Kriterien bezüglich der Signifikanz aufstellen. Die Werte von P(AaJ und p(~aJ sind vorgegeben durch:
P(AaJ =
XI (1 +X)
(22)
P(~aJ
= 11(1+X)
(23)
wobei X zu 1 der Wert der Odds ist, dass A o richtig ist. Indem wir die apriori Odds auf 1 fesdegen setzen wir voraus, dass - ohne Beweise - P(AaJ und P(~aJ im Wert identisch und daher beide gleich 0.5 sind. Wenn Beweise vorliegen, könnten wir folgerichtig annehmen, dass A o "zweifellos" richtig sein muss, wenn die aposteriori Odds 100:1 sind (in Abbildung 3 existiert eine Kausalverbindung zwischen at und a3). Wenn weiterhin die Odds bei 1:100 stehen, dann ist --'A o unzweifelhaft richtig (es besteht keine Kausalverbindung zwischen at und a3). Die Wahrscheinlichkeiten verändern sich über vier Log-Einheiten. Der Leser mag über die subjektive Natur dieser verschiedenen Schätzwerte ein wenig befremdet sein, aber mein Ziel ist es, durch Genauigkeit bezüglich der Inferenzen und Berücksichtigung der internen Konsistenzprüfungen eine systematisch schlussfolgernde Prozedur zu entwickeln, die kausale Inferenz erlaubt, ohne verschiedene Fälle miteinander zu vergleichen.
6. Fazit Die Befürworter der Analytischen Soziologie nehmen an, dass wir die Natur der kausalen Mechanismen erforschen können, inklusive menschlicher Handlungsweisen (und Unterlassungen), die den Wandel der Gesellschaft verursachen. Die Methode, dieses Ziel zu erreichen, wenn Ereignisse wiederholbar sind und statistische
222
PeterAbell
Inferenzen realisiert werden können, sind allgemein bekannt. Wenn jedoch Ereignisse nur seltener auftreten, ist aus Mangel an etablierten kausalen Generalisierungen kausale Inferenz problematischer. Ich habe eine alternative Methode kausaler Inferenz erarbeitet, die auf solche Umstände angewandt werden kann und nenne sie die Methode der Bayesschen Narrative.
7. Literatur Abell, Peter (1987): Tbe Syntax of Social Lift: The Theory and Method of Comparative Narratives. Oxford: Oxford Univ.-Press. Abell, Peter (1993): Some Aspects of Narrative Method. In: Journal ofMathematical Sociology, 18: 93-134. Abell, Peter (2001): Causality and Low-Frequency Complex Events. The Role of Comparative Narratives. In: SociologicalMethods and Research, 30: 57-80. Abell, Peter (2004): Narrative Explanation: An Alternative to Variable Centered Explanation. In: AnnuaL Rev. Soc., 30: 287-310. Abell, Peter (2009): A Case for Cases. In: SociologicalMethods and Research (im Erscheinen). Cartwright, Nancy (1989): Nature's Capacities and Their Measurement. Oxford: Oxford Univ.Press. Danto, Arthur C. (1985): Narration and Knowledge. New York: Columbia Univ.-Press. Goldthorpe,)ohn H. (2000): On Sociology. Oxford: Oxford Univ.-Press. Good, Irving J. (1983): Good Tbinking: The Foundations of Probabiliry and its Applications. Minneapolis: University of Minnesota Press. Heise, D. (1989): ModeI1ing Event Structures. In: Journal ofMathematical Sociology, 14: 39-169. March, )ames G./Lee S. Sproull!Michal Tamuz (1991): Learning From Sampies of One or Fewer. In: Organization Science, 2: 1-13. Pearl, )udea. (2000): Causaliry: Models, Reasoning, and Inftrence. Cambridge: Cambridge Univ.Press. Roberts, Clayton (1996): The Logic ofHistorical Explanation. Pennsylvania: Pennsylvania Univ.Press. Schum, David A. (1994): The Evidential Foundations ofProbabiiistic Reasoning. Evanston: Northwestern Univ.-Press. Spirtes, Peter!Clark Glymour!Richard S. Scheines (2000): Causation, Prediction and Search. New York: Springer. Von-Wright, Georg H. (1971): Explanation and Understanding. London: Rout1edge.
223
PerArne Trifte
Kritik der Analytischen Soziologie 1 Zur Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden zur Erklärung durch Mechanismen 1. Einleitung Die Analytische Soziologie ist in immer größerem Maße Diskussionsgegenstand unter den Soziologen Norwegens geworden. In der Abteilung für Soziologie und Humane Geographie an der Universität in Oslo hat sich ein Forum für Analytische und Quantitative Soziologie gegründet und für Forscher mit Interesse an sozialen Mechanismen und einem analytischen Ansatz hat sich am Nationalen Institut für Verbraucherforschung ein Diskussionsforum gebildet. Dieser Artikel basiert auf verschiedenen Fragen, Kommentaren und Kritikpunkten, die sich in diesen Diskussionsgruppen in Bezug auf die Analytische Soziologie ergeben haben. Einige dieser kritischen Anmerkungen habe ich hier unter allgemein gefassteren Überschriften gesammelt und klassifiziert. Einige der Argumente gründen sich meiner Meinung nach auf Missverständnissen oder Fehlinterpretationen. Andere stellen interessante Herausforderungen für den analytischen Ansatz dar. Die Kritikpunkte und Fragen werden unter zwei Überschriften eingeordnet: erkenntnistheoretische und methodologische Argumente. Einen zentralen Aspekt der Diskussion wird die Beziehung zwischen der Analytischen Soziologie und anderen soziologischen Traditionen darstellen. Es ist mein Hauptanliegen, eine Grundlage für die Kommunikation zwischen den Fürsprechern der Analytischen Soziologie auf der einen und anderen soziologischen Traditionen auf der anderen Seite zu schaffen. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Austausch wichtig für den Erfolg eines "ana!Jtical turn" der Sozialwissenschaften ist.
2. Erkenntnistheoretische Argumente Ich beginne mit einigen erkenntnistheoretischen Inhalten. Eine der zentralen Fragen ist, wie die Analytische Soziologie im Verhältnis zu anderen soziologischen Ich danke Professor Gunn Elisabeth Birkelund und den Teilnehmern des Workshops ,,Mechanismen und Analytische Soziologie" in Turin am 15. und 16. Juni 2009 für wertvolle Kommentare zu einer vorausgehenden Version dieses Artikels.
225 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Kritik der AnalYtischen Soif%gie Traditionen einzuordnen ist. Weitere Punkte befassen sich hauptsächlich mit dem Schwerpunkt, den die Analytische Soziologie auf das Erklären legt. Die Argumente sind, dass die Unterscheidung zwischen Erklären und Beschreiben in der Soziologie unklar ist und dass die Analytische Soziologie der Relevanz von Sinn und Interpretation in den Sozialwissenschaften keine Aufmerksamkeit schenkt. Meine Antwort darauf lautet, dass sowohl Beschreiben als auch Verstehen oft Grundvoraussetzungen für adäquate Erklärungen gesellschaftlicher Phänomene sind.
2.1 Die Beziehung zu anderen soziologischen Traditionen Die analytische Neuausrichtung der Soziologie (anaIYtica/ turn) ist nicht auf bestimmte Traditionen der soziologischen Forschung begrenzt. Nichtsdestotrotz hat die Analytische Soziologie bestimmte Eigenschaften, die sie zu bestimmten Traditionen besser passen lässt als zu anderen. Eine mögliche Klassiflkation aus der Wissenschaftstheorie basiert auf der Kreuzung zweier Dimensionen: der erkenntnistheoretischen Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen und der methodologischen Unterscheidung zwischen Holismus und Individualismus (vgL Hollies 1994):
Erklären
Verstehen
Holismus
Systeme
"Spiele"
Individualismus
Agenten
Akteure
Der rystemische Ansatz konzentriert sich auf (funktionale und kausale) Makro-Erklärungen sozialer Phänomene. Der agentenorientierte Ansatz vereint die Idee des methodologischen Individualismus mit der des Erklärens. Soziale Phänomene werden mittels einer Kombination von kausalen und intentionalen Erklärungen erklärt. Auf den ersten Blick scheint es nur natürlich, die Analytische Soziologie in dieses Bezugssystem einzupassen. Der akteurorientierte Ansatz kombiniert das Verstehen mit einem Individualismus. Die Aufgabe der Soziologie ist es dann, den Sinn hinter der individuellen Handlung zu verstehen. Der spie/theoretische Ansatz vereint die holistische Perspektive mit Interpretieren/Verstehen. Dieser Ansatz basiert auf einer erweiterten Konzeption von Sinn. Das reine Verstehen des individuellen Sinns hinter Handlungen wird hier als nicht zufriedenstellend begriffen. Der Forscher muss sich auch auf den sozialen Sinn des Handelns beziehen. "Sinn" ist kein gebräuchlicher Begriff in der Analytischen Soziologie. Auf die Verbindung zwischen Erklären und Verstehen gehe ich im Folgenden noch detaillierter ein.
226
PerArne Ttifte Darüber hinaus existieren weitere, verschiedene Klassifikationen sozialer Traditionen. Collins (1994) unterscheidet z.B. vier soziologische Traditionen: Die makro-orientierte K01iflikt-Tradition, die Durkheimsche "Soifale Ordnung"-Tradition, die mikro-orientierte rationale/utilitaristische Tradition und die mikro-interaktionistische Tradition. Ritzer (2008) identifiziert drei andere Paradigmen in der Soziologie: das Paradigma der soifalen Fakten, das Paradigma der soifalen Difinitionen und das Paradigma des soifalen Verhaltens. Nach Collins Klassifikation würde die Analytische Soziologie woW am besten in die rationale/utilitaristische Tradition passen. Hedsträm (2005: 61) hingegen betont, dass es für die Analytische Soziologie unangebracht sei, ihren Ausgangspunkt in der Rational-Choice-Theorie zu sehen. Somit ist diese Einordnung nicht optimal, obwoW bestimmte Aspekte wie begrenzte Informationsverarbeitung und begrenzte Rationalität oder Paradoxa kognitiver WaWen in der Rational-Choice-Theorie inbegriffen sind (siehe Collins 1994: 4). Eine Einordnung der Analytischen Soziologie in Ritzers Schema ist ein wenig komplizierter. Einerseits teilt die Analytische Soziologie das Interesse an sozialen Handlungen mit dem Paradigma der sozialen Definition. Andererseits teilen Analytische Soziologen - vor allem jene, die durch die Verhaltensäkonomie beeinflusst sind - die Ansicht über die Relevanz von Belohnungen und Bestrafungen im sozialen Austausch mit dem sozialbehavioristischen Verhaltensparadigma. Der norwegische Soziologe Lars Mj0set führt eine Typologie dreier methodologischer Bezugsrahmen in die Soziologie ein: der Standarabezugsrahmen, der sich auf Erklärungen in der Form von Gesetzen und Mechanismen konzentriert; der soifalphilosophische Bezugsrahmen, der Sinn und Verstehen in den Mittelpunkt rückt, und der pragmatistische/partizipatorische (später als kontextualistisch bezeichneteZ) Bezugsrahmen, der den Schwerpunkt auf Erklärungen mittlerer Reichweite und die Relevanz des Kontextes legt. Die Analytische Soziologie lässt sich auch hier nicht klar einordnen. Elemente aus allen drei Bezugsrahmen kommen in ihr vor, am wenigsten konsistent ist sie vielleicht mit dem sozialphilosophischen Bezugsrahmen. Der methodologische Individualismus und der Schwerpunkt auf Mechanismen passen auf den ersten Blick zum Standardbezugsrahmen. Auf der anderen Seite stimmt der Fokus auf die Kontextualität von Mechanismen und Interaktionen mehr mit dem kontextualistischen Bezugsrahmen überein. Sofern man auch individuelle Motive und Beweggründe untersuchen mächte, ist hier auch Platz für den interpretativen Ansatz - demzufolge passt die Analytische Soziologie auch zu einigen Elementen der sozialphilosophischen Tradition. Dazu kommt, dass eine Verbindung zum sozialphilosophischen Bezugsrahmen existieren muss, wenn theoretische "Brücken" zwischen Analytischer Soziologie und einigen Versionen des symbolischen Interaktionismus bestehen. 2
Vgl. dazu Birkelund in diesem Band.
227
Kritik der Ana!Jtischen Soifologie Die Frage, wo in der soziologischen Landschaft die Analytische Soziologie ihren Standort hat, ist schwerer zu beantworten, als es auf den ersten Blick scheint. Methodologiseher Individualismus, der Fokus auf Erklärung, sozialen Mechanismen und Handlungstheorien, eine gewisse Tendenz zu Rational-Choice-Erklärongen: Diese Eigenschaften implizieren den Agenten-Ansatz (Hollies), die rational/ utilitaristische Tradition (Collins) oder den Standard-Bezugsrahmen (Mj0set). Der Bruch mit Theorien rationalen Handelns, die Kontextualität von Mechanismen, der Fokus auf Theorien mittlerer Reichweite, die Erklärung konkreter Fälle und der unklare Status von Sinn und Verstehen passen besser zu anderen soziologischen Traditionen. Ich werde nun die Verbindungen zwischen Analytischer Soziologie und anderen soziologischen Positionen weiter untersuchen. Zuerst analysiere ich das Verhältnis zu Erklärung, Beschreibung und Verstehen.
2.2 Erklärung und Beschreibung Eins der vier Elemente in Hedströms Definition der Analytischen Soziologie ist, dass die soziologische Analyse sich darauf konzentrieren sollte zu erklären, warum soziale Ereignisse auftreten und diese nicht einfach nur zu beschreiben. "Die analytische Soziologie konzentriert sich auf Erklärungen. Anders als Beschreibungen, die typischerweise Antworten auf ,Was'-Fragen suchen, bieten Erklärungen Antworten auf ,Warum'-Fragen. Erklärungen begründen, warum Ereignisse stattfinden, warum sich etwas im Laufe der Zeit verändert hat oder warum Ereignisse in Raum und Zeit kovariieren" (Hedström 2008: 12). Die grundlegende Herangehensweise für Erklärongen ist, Mechanismen zu bestimmen, d.h. "eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die so organisiert sind, dass sie regelmäßig einen besonderen Ereignistyp erzeugen." (Hedström 2008: 42) Diese Sichtweise ist in zweifacher Hinsicht zu kritisieren. Erstens behaupten manche Kritiker, dass die Fürsprecher des "ana!Jtical turn" (Elster 2008: 455) die Anwendbarkeit der Analytischen Soziologie durch diese Inanspruchnahme unnötig begrenzen. Der Zweck einer soziologischen Analyse kann entweder beschreibend oder erklärend oder beides zugleich sein. Kompetente Soziologen sollten in der Lage sein, sowohl "Was" als auch "Warum"-Fragen zu stellen und zu beantworten. Durch die Beschränkung auf "Warum"-Fragen ist die Analytische Soziologie für die Praxis weniger relevant. Zweitens behaupten manche Kritiker, dass eine reine Erklärung unmöglich ist: Man muss immer viele "Was"-Fragen beantworten, bevor man eine "Warum"-Frage beantworten kann. Erklärungen beruhen immer auf Beschreibungen. Dieses Argument ist verwandt mit der Ansicht, dass keine Untersuchung rein empirisch oder "theoriefrei" sein kann, "Beobachtung ist immer Beobachtung im Lichte der Theorie" (popper 2002: 37). Wenn wit beispielsweise erklären wollen, warum manche 228
PerArne Ttifte überschuldete Personen nur widerwillig ihr Kaufverhalten ihren finanziellen Rahmenbedingungen anpassen, brauchen wir zuerst eine präzise Beschreibung ihrer finanziellen Probleme und anderer Charakteristika des Individuums (Alter, gesellschaftlicher Status, Gesundheit, etc.). Erklärungen können nicht getestet werden, bevor wir nicht zuvor eine Menge "Was"-Fragen beantwortet haben (z.B.: Welcher Art sind die fInanziellen Probleme? In welcher Lebensphase befIndet sich die Person? Etc.). Deshalb ist die Erklärung von Ereignissen nur möglich, wenn man vorab über eine angemessene Beschreibung dieser Ereignisse verfügt. Hinzu kommt, dass Beschreibungen in Erklärungen enthalten sind. Die Beschreibung eines Ereignisses impliziert oft eine Beschreibung der involvierten Mechanismen und Prozesse. Bei der ModelIierung sozialen Handelns sollten wir nachweislich sicherstellen, ob unser Forschungsanliegen es wert ist, analysiert zu werden oder nicht. Wie Merton (und Lieberson) (1985) erinnert haben: "Bevor man beginnt, ein Phänomen zu interpretieren, ist es angeraten sicherzustellen, dass das Phänomen wirklich existiert, dass es mit genügender Regelmäßigkeit auftritt, um eine Erklärung zu benötigen und zu rechtfertigen." (Merton 1987: 2) Diese Standpunkte sind nachvollziehbar, aber auch nicht unvereinbar mit der Analytischen Soziologie. Dessen generelle Idee ist nicht, dass sich die Soziologie auf Erklärungszwecke beschränken soll, sondern dass die soziologische Analyse sich nicht ausschließlich auf Beschreibungen konzentrieren sollte. Eine soziologische Analyse muss ebenso die Mechanismen bereitstellen, die verschiedenste soziale Ereignisse beeinflussen. Ab einem bestimmten Punkt reicht es nicht mehr aus, einfach nur die Situation überschuldeter Haushalte zu beschreiben. Schließlich wollen wir auch die Mechanismen kennen, die erklären, warum sich einige Individuen schneller der veränderten finanziellen Situation anpassen, andere langsamer und wieder andere überhaupt nicht. 3 Folglich ist die Beschreibung ein notwendiger, aber nicht hinreichender Bestandteil der Sozialwissenschaft. Eine andere Möglichkeit, dieses Argument vorzutragen, ist zu betonen, dass sich die Analytische Soziologie, aber auch die Soziologie im Allgemeinen, mit "Wie"-Fragen auseinander setzten sollte. Solche "Wie"-Fragen erzwingen sowohl Beschreibungen als auch Erklärungen. Wir müssen beschreiben und erklären, wie Ereignisse stattfInden, wie sich etwas im Laufe der Zeit verändert oder wie Zustände oder Ereignisse sich gegenseitig in Zeit und Raum beeinflussen. Die Frage "Wie geht das?" ist eine Frage nach Beschreibungen/Erklärungen im Sinne von Mechanismen.
3
Mögliche Erklärungen könnten sem: der Wunsch, den sozialen Status beizubehalten; mangelnde Selbstkontrolle angesichts von hoher Rabatte; Kaufsucht usw.
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Kritik der Ana!Jtischen Soifologie 2.3 Erklärung und Verstehen Einige soziologische Traditionen betonen die Interpretation und das Verstehen. Ihnen zufolge ist die Aufgabe der Sozialwissenschaft, intentionale Phänomene zu verstehen, indem ihr Sinn interpretiert wird. Manche Kritiker führen an, dass die Analytische Soziologie die Relevanz des Sinnverstehens bei sozialen Ereignissen ignoriert. 4 Die Wichtigkeit des Sinns im sozialen Leben impliziert, dass soziale Praktiken, Institutionen und Verhalten an sich bedeutungsvoll sind und dass der Sinn sozialer Ereignisse durch die Bedeutung konstituiert wird, die soziale Akteure diesen Ereignissen zuschreiben. Soziale Phänomene können also nur durch das Entschlüsseln des Sinns verstanden werden, der ihnen beigemessen wird. Dies bedeutet, dass soziale Phänomene aus der Sicht der Akteure heraus verstanden werden müssen. Demzufolge werden kausale Erklärungen als wenig oder überhaupt nicht wichtig erachtet (siehe Martin/MacIntyre 1994). In Hollies' Typologie stellen sowohl der akteurorientierte als auch der spieltheoretische Ansatz das Verstehen und nicht das Erklären sozialer Phänomene in den Vordergrund. Im akteurorientierten Ansatz ist das Ziel phänomenologisch, d.h., die Welt und die Handlungen von Individuen soll so beschrieben werden, wie der Akteur diese Handlungen sieht und interpretiert. Handlungen sind mehr als bloße physische Bewegungen, sie haben auch einen Sinn. Dieser individuelle Sinn ist oft nur schwer aufzuzeigen. Die verordnete Forschungsmethode ist daher qualitativer Natur. Analysen bestehen darin, diesen subjektiven Handlungssinn aufzudecken und, wenn möglich, gemeinsame Bedeutungen oder typische Variationen von Bedeutungen in sozialen Gruppen zu finden. Einbindung und Empathie werden zu den zentralen Orientierungspunkten der Forschenden. Der spieltheoretische Ansatz betont, dass sozialer Sinn nicht nur eine individuelle Angelegenheit ist. Goffmans Rahmenana!Jse kann als Beispiel für diese Position dienen: "Ich gehe davon aus, dass wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse - zumindest für soziale - und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Deftnitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihre Herausarbeitung gelingt, nenne ich ,Rahmen'." (Gaffman 1980: 19) Nach Goffmans Auffassung tendieren wir dazu, Ereignisse in sogenannten primären Bezugsrahmen wahrzunehmen und zu beschreiben, z.B. Interpretationsschemata, die Sinnaspekte in einer Situation hervorheben, die andernfalls bedeutungslos wären. Solche primären Bezugsrahmen sind soziale Standards, die Handlungen Sinn verleihen. Wie man sieht, existieren zwei verschiedene Deftnitionen von "Sinn": eine individuelle Deftnition, die auf die individuelle Bedeutung einer Handlung oder eines Ereignisses abhebt und eine gesellschaftliche Deftnition, die den Sinn von Hand4
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Vgl. dazu auch Edling/Rydgren in wesern Band.
PerArne Ttifte lungen und Ereignissen in einer Kollektivität verankert. "Sinn", zumindest im Sinne der letzteren Deftnition, ist nahe daran, eines jener verschleiernden Konzepte zu werden, vor denen Hedsttöm (2005) warnt. Trotz alledem sollten wir die Relevanz, die das Sinnverstehen für die Analytische Soziologie hat, nicht unterschätzen. Es gibt wenigstens vier verschiedene Standpunkte zum Verhältnis von Erklärung und Verstehen. Eine Position ist, dass Soziologie grundsätzlich erklärend ist und Interpretationen für die Erklärung sozialer Ereignisse von geringer Relevanz sind. Dementsprechend sollten soziale Ereignisse kausal erklärt werden, vorzugsweise durch Bezugnahme auf soziale Gesetze. Diese Position wird z.B. von Comte (1853) vertreten. Eine andere Position vertritt die Ansicht, dass Soziologie grundsätzlich interpretativ ist und Erklärungen wenig oder gar nicht relevant sind. Taylor ist ein berülunter Vertreter dieser Sichtweise: "in einer hermeneutischen Wissenschaft ist ein bestimmtes Maß an Erkenntnis unabdingbar, und diese Erkenntnis kann nicht durch die Sammlung roher Daten oder durch die Einführung formaler Begründungen oder Kombinationen von diesen beiden kommuniziert werden. Sie ist nicht formalisierbar." (Taylor: 1994: 207) Eine dritte Ansicht ist, dass Verstehen und Erklärung komplementär sind, d.h., sie liefern z.B. verschiedene Arten von Kenntnissen über soziale Ereignisse. "Die sozialwissenschaftliche Wissenschaftstheorie ist durchweg durch zwei aufeinander bezogene Dichotomien geplagt worden: die zwischen Verstehen und Erklären und die zwischen Verursachung und Bedeutung. [...]. Was an jeder dieser Sichtweisen falsch ist, die sich ausschließlich auf eine Art von Theorien fokussiert, ist, dass sie notwendigerweise bestimmte Typen von Fragen und damit bestimmte Typen von Antworten unberücksichtigt lassen." (pay 1996: 133) Die vierte Position - die meiner eigenen sehr nahe kommt - ist, dass Verstehen und Bedeutung auf der einen und Erklärungen und Verursachungen auf der anderen Seite sich nicht widersprechen müssen. Verstehen genauso wie Beschreiben ist oft Voraussetzung für angemessene Erklärungen sozialer Ereignisse. Diese Position stimmt mit der Ansicht Webers überein, der Soziologie als "eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will" (Weber 1978: 4), bezeichnet. Weber hebt hervor, dass Verstehen auf zwei Arten stattftnden kann. Die erste Art ist das direkt beobachtende Verstehen des Handlungssinns. Wenn Ideen ausgedrückt werden, verstehen wir sie. Mimische und körperliche Expressionen ermöglichen es, emotionale Reaktionen zu verstehen. Manchmal kann man Handlungen direkt verstehen, indem man sie beobachtet. Die andere Art des Verstehens ist das erklärende Verstehen. Hier verstehen wir die Motivation einer Handlung, unabhängig davon, ob sie auf rationalen oder irrationalen, affektiven Motiven beruht: "Alles dies sind verständliche Sinni!'sammenhiinge, deren Verstehen wir als ein Erklären des tatsächlichen 231
Kritik der AnalYtischen Soifologie Ablaufs des Handelns ansehen" (Weber 1978: 9). Die Validität unseres Verständnisses von Sinn kann entweder auf rationalen Annahmen oder auf Empathie und mitfühlender Anteilnahme beruhen. Weber empfieWt, mit einer rationalen Hypothese des Handelns zu beginnen. Abweichungen von diesem rationalen Modell lassen uns die irrationalen, emotional determinierten Elemente des Verhaltens erkennen. Hier entwirft Weber eine wichtige Strategie für Erklärungen von Verhalten: Beginne mit rationalen Hypothesen und modifiziere diese dann, wenn sie nicht mit den Beobachtungen übereinstimmen. Dies stimmt mit der Argumentation F0llesdals (1979) überein. Er hebt hervor, dass Rationalitätsannahmen eine Voraussetzung zum Verstehen sind. Wir verstehen Handlungen, wenn wir ihre Gründe oder ihre bewussten Motive kennen, die Individuen für bestimmtes Verhalten haben. Eine Rationalitätshypothese des Handelns unterstellt, dass ein Individuum die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gegeneinander abwägt, um sich dann für jene zu entscheiden, die seiner Meinung nach seinen Nutzen maximiert. Wenn wir nicht in der Lage sind, eine Handlung im Lichte einer Rationalitätshypothese zu erklären, kann sie vielleicht kausal, mit Bezug auf psychologische oder neurologische Ursachen erklärt werden. Demzufolge können kausale Erklärungen und Verstehen als zwei verschiedene Wege gesehen werden, Handlungen zu erklären. Vetstehen ist gewöhnlich mit der hermeneutischen Methode gekoppelt, einer Methode zur Interpretation des Sinns von Texten oder sozialen Phänomenen (siehe Gadamer 1989). Ein zentraler Aspekt dieser Methode ist der "hermeneutische Zirkel", bei dem der Interpretierende schrittweise ein Verständnis gewinnt, indem er sich zwischen der Interpretation des Ganzen und seiner einzelnen Teile fortlaufend hin und her bewegt. Im Allgemeinen wird die hermeneutische Methode von der hypothetisch-deduktiven Methode abgegrenzt. Diese erfordert eine gewisse Form des Eingebundenseins und der Bewusstheit des Verhältnisses zwischen Forscher und Informant(en), was normalerweise kein Bestandteil der hypothetisch-deduktiven Methode ist. Allerdings demonstriert F0llesdal überzeugend, dass die hermeneutische Methode eine Unterart der hypothetisch-deduktiven Methode sein kann. Die hermeneutische Methode arbeitet, indem sie deduktiv Rationalitätshypothesen entwickelt, die anhand des Textes oder der Daten aus einem bestimmten sozialen Feld überprüft werden. Somit gibt es hier keinen Konflikt zwischen Verstehen und Erklärung. Im Gegenteil besteht Verstehen sogar aus der Überprüfung von Rationalitätshypothesen auf der Grundlage von Vor- und Rückwärtsbewegungen zwischen der Interpretation des Ganzen und seiner einzelnen Teile. Es sollte dennoch erwähnt werden, dass mir das Verstehen um des Verstehens Willen sehr unbefriedigend erscheint. Ich bin der Meinung, dass die Bedeutungen von Handlungen, egal ob sie individuell oder gesellschaftlich sind, vor allem dann soziologisch bedeutsam sind, wenn wir durch ihre EntscWüsselung verstehen, warum Menschen in genau dieser Weise agieren
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PerArne Ttifte oder interagieren. Das reine Verstehen gleicht in vielerlei Hinsicht reinen Beschreibungen. Dies bedeutet, dass das Verstehen von Sinn der Suche nach Erklärungen für Handlungen und Ereignisse gleichkommt. In diesem Falle ist es wichtig nachzufragen, was Sinn in der DBO-Theorie repräsentiert. Ich halte es für angemessen, Sinn als Überzeugungen (belieft) anzusehen. Sie sind Definitionen, Meinungen oder Evaluationen verschiedener Handlungsalternativen und von Handlungen anderer Menschen. Dementsprechend beeinflussen sie die Art und Weise, in der Menschen agieren. Sozialer Sinn ist als Erklärung insoweit relevant, soweit er die Handlungen eines Individuums oder die Reaktion eines anderen Individuums auf seine oder ihre Handlung anleitet (z.B. in der Form von Zustimmung oder Missbilligung).
3. Methodologische Argumente Ähnlich der erkenntnistheoretischen Dichotomie zwischen Erklärung und Verstehen existiert auch die methodologische Dichotomie zwischen quantitativer und qualitativer Methode. Ich diskutiere hier einige methodologische Fragestellungen: Sind qualitative Methoden kompatibel mit der Analytischen Soziologie oder baut der "ana!Jtical turn" der Sozialwissenschaft auf der Verwendung quantitativer Methodologie auf? Und sind quantitative Methoden adäquat, um soziale Mechanismen zu untersuchen? Ich denke, dass die qualitative Forschung mit der Analytischen Soziologie kompatibel ist, insbesondere, wenn sie mit quantitativen Methoden kombiniert wird. 3.1 Qualitative Methode Große Teile der empirischen Forschung innerhalb der analytischen Tradition basiert auf quantitativen Daten. Bedeutet dies, dass die qualitative Forschung nicht analytisch sein kann? Meiner Meinung nach ist die Analytische Soziologie sowohl mit der qualitativen als auch mit der quantitativen Methode kompatibel Ich halte es für eine der großen Stärken der Analytischen Soziologie, dass sie eine Basis für die Integration beider methodologischen Traditionen bietet. Aus der Sicht der Analytischen Soziologie mag die qualitative Methode sowohl Stärken als auch Schwächen haben. Goldthorpe (2007) zeigt zwei potentielle Unzulänglichkeiten auf: Ablehnung oder Abkehr von der Logik der Inferenz, die allen Wissenschaften gemein ist und das Problem der Variation (z.B. gültige Verallgemeinerungen einer Population betreffend). Dennoch weist Goldthorpe auch auf eine potentielle Stärke hin, nämlich dass die qualitative oder ethnographische Forschung einen Vorteil hat, wenn es um kontextuelle Probleme geht (z.B. bei der Analyse sozialer Prozesse oder Mechanismen). Erstens haben sich bezüglich der
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Kritik der AnalYtischen Soif%gie
Logik der Inferenz einige in Verbindung mit bestimmten qualitativen Methoden stehende soziologische Positionen von einer wissenschaftlichen Logik abgesondert (oder gelöst), die Evidenzen und Argumente verbindet: "Die Anwendung dieser Logik setzt voraus, dass eine Welt existiert, die unabhängig von unseren Vorstellungen über diese Welt ist und dass wir mit unseren wissenschaftlichen Untersuchungen das Ziel verfolgen, Informationen oder Daten über diese Welt zu sammeln, die wir dann als Grundlage für Verallgemeinerungen benutzen, die über diese Daten hinausgehen, sei es in einer beschreibenden oder erklärenden Art." (Goldthrope 2007: 63) Für die qualitative Methode ist diese Charakterisierung dennoch nicht allgemeingültig. Elster (2008) klassifiziert die Sozialwissenschaft anhand von drei Oberkategorien: weiche, qualitative und quantitative Sozialwissenschaft. Er wendet vier Kriterien zur Evaluation des wissenschaftlichen Status dieser Kategorien an: (1) Es sollte eine allgemeingültige Übereinkunft darüber herrschen, was wahr und was unwahr ist; (2) es sollte einen kumulativen Prozess geben, durch den falsifizierte Theorien falsifiziert bleiben; (3) Konzepte und Theorien sollten in klaren und eindeutigen Begriffen formuliert sein; (4) man sollte nicht von den "Klassikern" der Disziplin voreingenommen sein. Die Schlussfolgerung, die sich für ihn hieraus selbstverständlich ergibt ist, dass weiche Sozialwissenschaften, wie die Postmoderne, Postkolonialistische Theorie oder Dekonstruktivismus usw. kein einziges der Kriterien erfüllen, um wissenschaftlich genannt werden zu können. Was die über Fallstudien definierte qualitative Forschung angeht, identifiziert Elster einige Schwächen, anerkennt aber eine analytische Wende mit einer größeren Betonung auf Klarheit und Eindeutigkeit. Einige der Merkmale dieser "analytischen Wende" in der qualitativen Sozialforschung sind folgende: • Ein Schwerpunkt auf der Differenzierung konzeptueller und kausaler Verbindungen zwischen den Untersuchungsobjekten. • Weniger Essentialismus, d.h., Definitionen müssen daraufhin geprüft werden, inwieweit sie uns ermöglichen, gute Erklärungen zu finden - und nicht, wie gut sie zugrundeliegende Essenzen/Realitäten einfangen. • Die Abkehr von der "nicht-deduktiven abstrakten" Beweisführung, d.h. von Konzepten, die ihren Gehalt während einer Diskussion ändern, was wiederum zu einer unlogischen Argumentation, zu einem Appell oder zu Analogiebildung führt. Auf dieser Grundlage schließt Elster, dass der anaIYtica/ turn der Soziologie "nicht auf dem Gebrauch von quantitativer Methodologie, sondern auf einem nahezu besessenen Beharren auf Klarheit und Genauigkeit beruht" (Elster 2008: 455). Dem-
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PerArne Ttifte nach können sowohl qualitative als auch quantitative Forschung als analytisch gelten und die Logik des Schlussfolgerns beinhalten. 5 Was das Aufstellen von Schlussfolgerungen angeht, ist es möglicherweise problematisch, dass Messungen in qualitativen Studien oftmals ungenauer sind als in quantitativen Studien. Auf einigen Gebieten existieren etablierte und validierte quantitative Messungen für bestimmte Phänomene, wie Z.B. die Hopkins-Syndrom-Checkliste (HSCL) für das Maß geistiger Gesundheit. Auf anderen Gebieten sind die Messinstrumente weniger entwickelt, so gibt es z.B. keine Messungen für Phänomene wie soziale Klasse und Armut, über die Einigkeit erzielt werden konnte. Wie Elster (2008) richtig bemerkt, können diese variierenden Messinstrumente zu unterschiedlichen Resultaten führen. Da qualitative Interviews oft weniger präzise Kriterien für die Kodierung und die KlassifIkationen benutzen, dürfte das Problem hier noch schwerer wiegen. Dies muss aber nicht notwendigerweise so sein. Qualitative Interviews werden z.B. genutzt, um quantitative Messwerte wie die HSCL zu validieren. Gute qualitative Interviews können dem Forscher reichhaltigere Daten und eine solidere Basis für Klassiftkationen bieten als standardisierte Interviews. Außerdem basieren viele quantitative Messungen in Experimenten auf Experteneinschätzungen. Ich möchte ebenso darauf hinweisen, dass es nicht in der Natur der qualitativen Methode liegt, exakte Messungen von vorneherein auszuschließen. In der Haushaltsökonornie etwa können qualitative Interviews herangezogen werden, um sowohl Daten über den Sinn und die Intentionen als auch präzise Informationen über fInanzielle Angelegenheiten wie Einnahmen, Ausgaben, Verschuldung etc. zu gewinnen. Zweitens - das Problem der Variation betreffend - treten Schwierigkeiten bei der Verallgemeinerung von Ergebnissen auf, da qualitative Forschungen selten eine Stichprobenauswahl vornehmen (aber sie könnten dies defInitiv), sondern normalerweise Interview-Partner strategisch auswählen. Es ist schlicht nicht bekannt, wie repräsentativ die ausgewählten Fälle oder Beobachtungen für die Gesamtbevölkerung sind. Dies macht es unmöglich, Hypothesen und Erklärungen statistisch zu überprüfen. Eine Lösung dieses Problem ist es gewesen, zwischen zwei verschiedenen Arten der Generalisierung zu unterscheiden: statistische und theoretische bzw. analytische Generalisierung. Der Gedanke hinter der analytischen Generalisierung ist, dass Erklärungen und Mechanismen aus einer Studie zwar nur für eine begrenzte und ausgewählte Gruppe von Menschen gelten, sie dennoch für diese Gruppe gültig sind. Daraus können wir sozusagen eine theoretische oder analytische Generalisierung kreieren. Wir wissen, dass die Erklärung mindestens für die Gruppe relevant ist, die wir untersucht haben und wahrscheinlich auch für eine größere Gruppe von Menschen, da die Stichprobe strategisch gezogen wurde. Wir können 5
Vgl. dazu auch Abell in diesem Band.
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Kritik der AnalYtischen Soifologie Erklärungen in Form von Mechanismen entwickeln, aber wir können nicht sicher sein, inwieweit diese Erklärungen für die Gesarntpopulation repräsentativ sind. Für Goldthorpe (2007) ist die analytische Generalisierung keine zufriedenstelIende Art der Vera11gemeinerung. Auf analytischer Generalisierung aufbauende ethnographische Studien können als Basis zur Entwicklung von Theorien, Erklärungen oder Mechanismen genutzt werden, müssen sich aber daraufhin testen lassen, inwieweit sie nur Erklärungen ganz spezieller sozialer Ereignisse sind. Es mag daher eine angemessene Forschungsstrategie sein, eine Art Triangulation zu nutzen: Quantitative Forschung folgt qualitativen Untersuchungen, um jene Erklärungen zu überprüfen, die in den qualitativer Untersuchungen entwickelt wurden. Kontextuelle Probleme betreffend hat die qualitative Forschung drittens einige Vorteile gegenüber der quantitativen Forschung. Der qualitativen Forschung wird oft ein sekundärer Status eingeräumt. Innerhalb der evidenzbasierten Forschung hat die qualitative Sozialwissenschaft diesen untergeordneten Rang, weil sie oft für ungeeignet zur Untersuchung von Erklärungen gehalten wird. Qualitative Untersuchungen werden oft im Rahmen explorativer Studien und zur Vorbereitung für wissenschaftlichere quantitative Forschungen eingesetzt. Im Prinzip ist die qualitative Forschung aber nicht auf einfache beschreibende oder explorative Verfahren begrenzt. Gute Untersuchungen weniger Fälle können den Forscher mit reichhaltigen Daten versorgen, die ihm ermöglichen, realistische analytische Mechanismen zu formulieren. Qualitative Studien können für erklärende Zwecke genutzt werden und sind eine ideale Datenquelle für DBO-Erklärungen. Auf diese Art und Weise ermöglichen qualitative Interviews und Beobachtungen es dem Forscher manchmal, "Black Boxes" zu öffnen. Qualitative Studien können nicht beweisen, dass spezifische Mechanismen am Werke sind, aber das können quantitative Untersuchungen genauso wenig. Quantitative Untersuchungen, insbesondere Real-Experimente bieten die Möglichkeit, auf Störvariablen hin zu kontrollieren und reduzieren so das Risiko, verfiilschende Beziehungen aufzudecken, obwohl dieses Risiko immer besteht (siehe Lieberson 1985). Ferner heben Shadish, Cook und Carnpbell (2002) hervor, dass Experimente zwar überlegen sind, wenn es darum geht herauszufmden, ob eine kausale Beziehung zwischen zwei Variablen existiert oder nicht, sie aber nicht geeignet sind, um Mechanismen oder "kausale Beschreibungen" aufzudecken. Hier mag qualitative Forschung tatsächlich angemessener sein. 3.2 Quantitative Methode Ein weiterer methodologischer Vorbehalt hängt mit der Möglichkeit zusammen, die theoretischen Amhitionen der Analytischen Soziologie mit statistischen Analysen zu kombinieren. Statistische Verfahren sind begrenzt in ihrer Fähigkeit, Erklärungen im Sinne von Mechanismen zu liefern. Das Hauptproblem besteht darin,
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PerArne Ttifte dass Erklärungen in der Statistik oft Variablen-Erklärungen oder Black-Box-Erklärungen ohne Überprüfung spezifischer Mechanismen sind. Elster (2008) betont, dass es der quantitativen Forschung oft an Übereinstimmung darüber mangelt, was wahr und was falsch ist und dass der Forschungsprozess nicht in dem Maße kumulativ ist, wie wir es gerne hätten. Er unterscheidet drei Variationen quantitativer Sozialwissenschaft: Messungen, Datenanalyse und ModelIierung. Er verweist auf die großen Messprobleme in den Sozialwissenschaften und folgert, dass Variationen in empirischen Ergebnissen oftmals auf unterschiedliche Messverfahren zurückgeführt werden können. Die Datenanalyse betreffend können Forscher gleich in mehrere Fallen tappen: Datamining, Willkürlichkeit, Scheinkorrelationen, Autokorrelationen, Fehleinschätzung kausaler Richtungen, nicht vergleichbare Analyseeinheiten usw. Bezüglich der Modellierung ist die zugrunde liegende Annahme normalerweise die Rational-Choice-Theorie, manchmal aber auch evolutionäre oder mechanistische Prozesse. Diese Annahmen führen oft zu ziemlich unrealistischen Erklärungen. Ein weiteres mögliches Problem ist, dass insbesondere in der Soziologie und in der Politikwissenschaft die Modellierung oft nicht explizit gemacht ist. Lineare Regressionsmodelle unterstellen in diesen Wissenschaften meist, dass kausale Effekte linear und additiv sind, ohne dafür Unterstützung in der Theorie zu finden. Es gibt aber brauchbare Lösungen für das Black-Box-Problem. Erstens könnte die Lösung die Sammlungfeinkiirnzgerer Daten sein. Manchmal kann man reichhaltige quantitative Daten erzielen, die mit fortgeschrittenen statistischen Techniken analysiert werden können. Elster (2008: 36) definiert Mechanismen als "regelmäßig auftretende und leicht erkennbare kausale Muster, die im Allgemeinen unter unbekannten Bedingungen oder mit unbestimmten Konsequenzen ausgelöst werden". In meiner Interpretation bedeutet dies, dass Mechanismen von spezifischen Kontexten abhängig sind. Es ist möglich, Variablen zu erheben, die verschiedenste Kontexte spezifizieren und diese in Datenanalysen als (statistische) Interaktionsvariablen aufzunehmen. Im Prinzip ist es möglich, Hypothesen darüber zu testen, welche kontextuellen Eigenschaften verschiedene Mechanismen "triggern" (verstanden als gestiegene Wahrscheinlichkeit). Im Idealfall sollten quantitative Daten sowohl Makro- als auch Mikro-Ebenen-Variablen enthalten. Es stehen verschiedene statistische Techniken für die Untersuchung solcher Daten zur Verfügung, wie z.B. die Multilevel-Analyse oder die mehrstufige Zeitreihenanalyse. Diese Techniken erlauben es dem Forscher, weitere Verbindungen und Mechanismen zu entdecken, die sich zwischen Mikro- und Makrolevel einschalten. Dies stellt zwar eine Herausforderung dar, ist aber nicht grundsätzlich unmöglich. Zweitens gibt es zwei interessante Gebiete, die weiterentwickelt werden sollten. Das eine ist die soiJale Neo/erkana!Jse. Statistische Techniken zur Analyse von Netzwerkdaten sind bereits vorhanden und werden weiter entwickelt. Ein anderes
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Kritik der AnalYtischen Soif%gie Gebiet ist die Soifa/simu/ation, im Besonderen die agentenbasierte Modellierung. Die agentenbasierte Modellierung erlaubt dem Forscher, den Effekt von Mechanismen der Mikro-Ebene auf Makrostrukturen und den Einfluss solcher Makro-Veränderungen auf die Handlungen und Interaktionen von Individuen zu simulieren (vgl. Epstein 2006). Ein weiterer leistungsstarker Weg, quantitative und qualitative Daten miteinander zu verknüpfen ist es drittens, einer quantitativen Studie eine qualitative Studie folgen zu lassen. Korrelationen und Black-Box-Erklärungen von quantitativen Studien können mit einer nachfolgenden qualitativen Studie genauer untersucht werden, die darauf abzielt, Mechanismus-Erklärungen zu finden. Ich halte diese Forschungsstrategie für sehr effektiv. Daher möchte ich sie mit einem Beispiel aus meiner eigenen Forschungsarbeit über Überschuldung und Schuldenbereinigung illustrieren. Das Beispiel zeigt, wie quantitative und qualitative Methoden kombiniert werden können, aber auch, wie die Konzentration auf Sinn-Verstehen eine Basis für die Entwicklung von Erklärungen im Sinne von Mechanismen sein kann.
3.3 Beispiel Das folgende Beispiel entnehme ich meinen eigenen Forschungen (siehe Tufte 2005). Es wurde eine Untersuchung während der Finanzkrise 1992 durchgeführt, um die Vorbehalte gegenüber einem neuen GesetzesvorscWag zu untersuchen, der es überschuldeten Akteuren ermöglicht hätte, sich in Zusammenarbeit mit ihren Gläubigem zu entschulden. Eine solche Schuldenbereinigung bedeutet, dass der Schuldner über einen Zeitraum von fünf Jahren ein bestimmtes Einkommen behalten darf, während der Rest des Einkommens an die Gläubiger zurückgezaWt werden muss. Nach Ablauf der fünf Jahre ist der Schuldner von seiner Schuldenlast befreit und entschuldet. Die Untersuchung ergab, dass Menschen mit einem höheren Bildungsgrad und höherem Einkommen eine strengere Auffassung über die legitime Höhe des Eigenbedarfs der Betroffenen hatten. Sie neigten auch eher dazu, denjenigen, die von diesem Insolvenzverfahren betroffen waren, nur ein sehr geringes Einkommen zuzugestehen. Dies ist nur eine Korrelation und natürlich keine befriedigende Erklärung gewesen. Die Frage war also, warum dies der Fall war. Um sie zu beantworten, wurden Interviews mit Individuen verschiedenen Alters und mit unterschiedlichem Beschäftigungsstatus durchgeführt. Zur Vereinfachung wurden die Befragten in vier verschiedene Gruppen eingeteilt: Junge Angehörige der Arbeiterklasse, ältere Angehörige dieser Klasse, junge Angehörige der Mittelklasse und ältere Angehörige der Mittelklasse. Der Hauptgrund für die Durchführung einer qualitativen Untersuchung war, dass es in einer Umfrage schwierig sein würde sicherzustellen, dass alle relevanten vermittelnden Variablen mit einbezogen wer-
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PerArne Ttifte den. Ein qualitatives Design bot dagegen eine adäquate Flexibilität, um mögliche Erklärungen zu identifizieren. Der Preis, den man für diesen Ansatz zweifellos zahlen muss, ist das Unvermögen, die Ergebnisse statistisch zu generalisieren. Der qualitative Ansatz erlaubt zwar, mögliche Mechanismen zu entdecken, aber wir können nicht belegen, wie weit verbreitet sie sind Der Hauptgrund, Interviews mit bestimmten Gruppen durchzuführen war, dass ich Standpunkte zur sozialen Gerechtigkeit aufdecken wollte. In Gruppeninterviews diskutieren Menschen miteinander und innerhalb dieser Diskussionen lassen sich ihre Ansichten und Wertvorstellungen sehr viel leichter feststellen als in Einzelinterviews. Interessanterweise wiesen die Gruppeninterviews dieselben Muster wie die Umfrage auf: Befragte aus der Mitteklasse hatten in der Regel viel strengere Vorstellungen als die Befragten aus der Arbeiterklasse. Die Diskussionen ließen mehrere mögliche Erklärungen für diesen Unterschied erkennen: Ein Mechanismus verlief über die wahrgenommene gesellscheiftliche Distanz. Die Befragten aus der Arbeiterklasse kannten Menschen mit Schuldenproblemen und waren sich bewusst, dass diese Probleme auch sie selbst betreffen könnten. Verschuldete Menschen sind lebendige Beispiele für Situationen, die finanzielle Probleme verursachen können. In der Mittelklasse kannten nur sehr wenige Befragte Menschen, die Schulden hatten und Letztere drückten aus, dass überschuldete Menschen zu einer anderen gesellschaftlichen Klassen gehören müssten, insbesondere zur Arbeiterklasse. Zusammengefasst zeigten die Interviews, dass je größer die gesellschaftliche Distanz war, desto eher wurde für niedrigere Budgets während der Schuldenbereinigung plädiert. Im Zusammenhang mit der wahrgenommenen gesellschaftlichen Distanz steht die wahrgenommene Verantwortung. Die Mitteklasseangehörigen waren eher bereit, die Schuld für ihre Zahlungsprobleme den Schuldnern selbst anzulasten. Da sie die finanziellen Probleme mindestens teilweise als selbst verschuldet ansahen, setzten sie das Budget für den Eigenbedarf wesentlich geringer an als die Befragten aus der Arbeiterklasse. Ebenfalls mit der wahrgenommenen gesellschaftlichen Distanz hängt der moralische Stellenwert der Schulden zusammen. Die Befragten unterschieden zwischen "guten" Schulden wie Hypotheken und "schlechten" Schulden wie Kreditkartenschulden oder Schulden, die mit Konsumgütern zusammenhängen. Die Schuldenart hat ebenfalls eine Signalfunktion bezüglich der Fähigkeit zur Selbstkontrolle und damit zusammenhängend bezüglich der moralischen Integrität der Schuldner. Schuldner mit "guten" Schulden waren achtbare Akteure, die weniger eingeschränkte Lebensumstände während der Insolvenzphase verdienten. Gleichzeitig, zusammenhängend mit der wahrgenommenen gesellschaftlichen Distanz, hielten Befragte aus der Mittelklasse es für gegeben, dass überschuldete Personen "schlechte" Schulden hatten und daher mit kleineren Budgets zurechtkommen sollten. Diese und andere
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Kritik der AnalYtischen Soif%gie Mechanismen könnten als Erklärungen für die Korrelation zwischen der gesellschaftlichen Position, gemessen an Bildung und Einkommen, und der Bewertung der Schulden dienen. Sie sind "dichte Beschreibungen" (Geertz 1973) in dem Sinne, dass sie demonstrieren, wie sich Vorbehalte und Vorverurteilungen "logisch" aus den verschiedenen gesellschaftlichen Positionen der Befragten aus der Mittelklasse- und Arbeiterklasse ergeben. Diese Mechanismen sind analytische Abstraktionen, aber sie sind trotzdem realistisch, da sie auf empirischen Daten basieren. In diesem Fall sind die qualitativen Interviews empirische Daten.
4. Fazit Dieser Artikel hat einige erkenntnistheoretische und methodologische Anmerkungen zur Analytischen Soziologie kommentiert. Der Hauptaspekt ist, dass die Analytische Soziologie sich auf viele soziologische Traditionen und Perspektiven bezieht. Die Konzentration auf die Erklärung sozialer Phänomene impliziert nicht, dass Beschreiben und Verstehen nicht Bestandteil der soziologischen Analyse sein können. Zudem sollte sich die Analytische Soziologie nicht auf quantitative Methoden beschränken. Qualitative Untersuchungen können Mechanismen aufdecken, die zur Erklärung statistischer Korrelationen in quantitativen Analysen genutzt werden können.
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Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni
Agentenbasierte Modelle in der Soziologie über die Integration von Empirie und Modellierung
1. Einführung Dieser Beitrag zielt darauf ab zu illustrieren, wie agentenbasiertes Modellieren für die Integration von Theorie und Empirie bei mechanismenbasierten Erklärungen hilfreich sein kann. Unser Ausgangspunkt ist, dass die Erforschung der MikroGrundlagen sozialer Resultate der wichtigste Stützpfeiler bei Untersuchungen in der Analytischen Soziologie ist. Wenn Makro-Resultate auf Handlungen, Motivationen und Interaktionen von Individuen zurückgeführt werden, kann die Soziologie weit informativere Erklärungen liefern als nur durch aggregierte Perspektiven (vgl. z.B. Bruch/Mare 2006: 667f.). Darüber hinaus gibt es unwiderlegbare Beweise dafür, dass soziale Ergebnisse in hohem Maße von Mikro-Details beeinflusst werden, die sich empirischer Beobachtung oft entziehen und in Großtheorien oder Makro-Darstellungen unterschätzt werden. Unserer Ansicht nach ist agentenbasiertes Modellieren für die Aufdeckung von relevanten Details von ausschlaggebender Bedeutung, wenn man ihre analytischen Konsequenzen im rechten Licht erscheinen lassen will. Um diese Argumentation zu illustrieren, fassen wir verschiedene Komponenten der Analytischen Soziologie und der Sozialsimulation zusammen. Sozialsimulation ist die Analyse sozialer Auswirkungen mit Hilfe von Computersimulationen, in denen das Verhalten von Agenten, ihre Interaktionen untereinander und ihre umweltbedingten (räumlichen, strukturellen, institutionellen) Beschränkungen explizit modelliert werden, um jene mikrobasierten Thesen zu untersuchen, die für uns interessante Makro-Regelmäßigkeiten erklären (vgl. Squazzoni 200Ba). Wir hoffen demonstrieren zu können, dass das Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie in hohem Maße von der Adaption der agentenbasierten Modellierungsperspektive der Simulationsstudien profitieren kann, da Letztere zugleich aussagekräftige erkenntnistheoretische Elemente aus der Analytischen Soziologie absorbieren können. Diese Argumente haben uns dazu gebracht, eine gegenseitige Befruchtung dieser beiden Stränge in diesem Beitrag zu unterstützen. Der Artikel ist folgendermaßen aufgebaut: Im zweiten Abschnitt geht es um den Grundgedanken der mechanismenbasierten Erklärungen. Unser Ziel ist es, eine knappe Zusammenfassung des Forschungsstandes zu geben, unser Verständ243 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie nis dessen, was einen Mechanismus ausmacht, zu illustrieren und die Hauptbestandteile einer mechanismenbasierten Erklärung zu identifizieren. Der dritte Abschnitt versucht, den mechanistischen Gedanken mit Modellierungsmethoden zu vernetzen, indem die agentenbasierten Modelle kurz vorgestellt und ihre Bedeutung für (1) die Erforschung und Identiftzierung von Mechanismen, (2) informative Beschreibungen über die Wirkungsweise von Mechanismen auf soziale Konsequenzen und (3) die Integtation von Theorie und Empirie angedeutet wird. Wir vertreten die Ansicht, dass agentenbasierte Modelle alle notwendigen ontologischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Eigenschaften aufweisen, die sie zu natürlichen Verbindungsgliedern, zu einem naturgegebenen Werkzeug der Analytischen Soziologen des 21. Jahrhunderts machen, welches es der Soziologie erlaubt, Theorie und Datenmengen zu kombinieren und informative und beschreibende Erklärungen sozialer Phänomene anzubieten. Der vierte Abschnitt bietet eine Modell-Klassiftkation an, die die Relevanz von Theorien mittlerer Reichweite für die Analytische Soziologie betont, während das fünfte Kapitel erläutert, warum wir für eine Verbindung von Empirie und Modellierung plädieren. Im letzten Abschnitt fassen wir die Hauptargumente des Aufsatzes noch einmal zusammen und schlagen einige zukunftsweisende Maßnahmen vor, agentenbasierte Modelle in das Forschungsprogtarnm der Analytischen Soziologie zu integrieren.
2. Mechanismenbasierte Erklärungen In Begriffen von Mechanismen zu denken bedeutet in den Sozialwissenschaften, dass zur Erklärung eines bestimmten Ergebnisses diejenigen Kapazitäten zur Speziftzierung und zum Verstehen der zugtundeliegenden mikroskopischen Handlungssysteme benötigt werden, die für die Auswirkungen auf der für uns interessanten Makro-Ebene verantwortlich sind. D.h., dass es sich bei dem, was Sozialwissenschaftler in der empirischen Realität messen und beobachten können, um das Makro-Resultat (intentional oder unbeabsichtigt, geplant oder ungeplant) basaler Prozesse auf der Mikro-Ebene handelt. Diese zugtundeliegenden Prozesse können unter der Bedingung, dass Wissenschaftler ein Verständnis für/eine Beschreibung von ihren generativen Mechanismen anbieten können - eindeutig dargelegt werden. Faktisch sind oft nur die Auswirkungen nachweisbar, während die dahinter stehenden Ursachen und Motivationen unbeobachtbar bleiben. Die Offen1egung dieser generativen Kräfte ist die conditio sine qua non für eine Sozialwissenschaft, die in der Lage sein will, erklätende Kraft zu erlangen. Dieser Denkansatz hat in der Philosophie eine ehrwürdige Tradition, die bis zum kritischen Realismus des 17. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann (vgl. Manicas 2006; Mayntz 2004; Salmon 1984). Viele Begtünder der klassischen Sozi244
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni alwissenschaften hatten ebenfalls einen solchen Denkansatz vor Augen. So argumentierte Merton (1986) bei der Verteidigung seiner Idee von Theorien mittlerer Reichweite, dass das Verstehen sozialer Funktionen unter der Bedingung möglich sei, dass Sozialwissenschaftler eine "konkrete und detaillierte Darstellung der operierenden Mechanismen, die eine bestimmte Funktion ausüben" geben könnten. Schon vor Merton behauptete Schumpeter (1912), dass der Aufgabenbereich der Ökonomen nicht in der Vorhersage von Ereignissen liege, sondern in der Untersuchung des "Wie" der ökonomischen Prozesse, da sich die Wirtschaft durch Innovationen, Kreativität und Unvorhersehbarkeit auszeichnet. Viele soziale Mechanismen wurden durch Sozialwissenschaftler entdeckt, etwa das Marktgleichgewicht, monopolistische Konkurrenz, se!lfu!ft1Jing prophecies, kreative Zerstörung, räumliche Segregation und tertius gaudens, um nur einige zu nennen (vgl. Bunge 2004; Hedström/Swedberg 1998; Manicas 2006; Mayntz 2004). Auf den Mechanismus der se!llu!ftlling prophery wurde zuerst von Merton (1968) hingewiesen. Merton zeigte auf, dass in bestimmten vorgegebenen Situationen von Individuen formulierte Erwartungen genau die vorher formulierten erwarteten sozialen Ergebnisse erzeugen können: "Die sich selbst erfüllende Prophezeiung ist anfangs nur eine falsche Definition der Situation, die aber ein neues Verhalten hervorruft, welches die ursprünglich falsche Konzeption wahr werden lässt. Der trügerische Wahrheitsgehalt der sich selbst erfüllenden Prophezeiung erzeugt einen endlosen Kreislauf von Irrtümern. Der Prophet nämlich wird den gegenwärtigen Ereignisablauf als Beweis dafür ansehen, dass er von Anfang an Recht hatte." (Merton 1968: 477) Indem er das inzwischen berühmte Beispiel des Bankrotts einer Bank benutzte, nach dem durch eine unwahres Gerüchte über eine Insolvenz eben diese verursacht wird, folgert er, dass die "öffentlichen Definitionen einer Situation (prophezeiungen oder Vorhersagen) zu ihrem festen Bestandteil werden und somit die nachfolgenden Ereignisse beeinflussen. Dies ist menschlichen Angelegenheiten eigen." (Merton 1968: 477) Der soziale Mechanismus der sich-selbst-erfüllendenProphezeiung ist derartig allgemeingültig und abstrahiert, dass er völlig verschiedene empirische soziale Auswirkungen, von der Kaffeeknappheit über eine insolvente Bank bis hin zu einem Verkehrsstau erklären kann. Andere klassische Beispiele könnten die Mechanismen der "totalen Institution", zuerst beschrieben von Goffman (1961), oder der "Verhöflichung" sein, die für den gesellschaftlichen Wandel von feudaler Agrarwirtschaft zu industrieller Verstädterung verantwortlich war, wie Elias (1969) sehr schön beschrieben hat. Im ersten Fall haben wir zwei gänzlich widerstreitende Agententypen, die in einer klar definierten sozialen Relation zueinander stehen, beispielsweise die Manager und die Gemanagten, die auf Ressourcen zurückgreifen können, welche von strikt regulierten Rollen mit einer gegenseitigen sozialen Distanz abhängen, die formal vorgeschrieben ist. Jeder Agent hat Ziele und Überzeugungen ebenso wie strukturierte Erfolgskapazitäten. Während bei245
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie spielsweise Manager Einfluss auf die Untergebenen ausüben können, indem sie diese unterdrücken, können diese die Regelungen anfechten, sich fraternisieren und die Situation aussitzen. Institutionelle Zeremonien werden organisiert, um ein gemeinschaftliches Engagement für die offiziellen Ziele der Institution zu zeigen. Starke Wechselwirkungen implizieren, dass die Überzeugungen von Agenten - ob falsch oder richtig - die Reproduktion der Institutionen ebenso wie die Ro11enhierarchie, die gesellschaftliche Distanz und die Unterdrückung begünstigen. Dieselben Auswirkungen zeigen sich in völlig verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen, wenn auch mit unterschiedlich starker Ausprägung, wie z.B. in Internaten, Konzentrationslagern, Gefangnissen, Konventen und Kasernen, um nur ein paar zu nennen. In Elias' Fall haben wir drei gesellschaftliche Gruppen von Höflingen (der König und seine Dynastie, die Aristokratie und die Bourgeoisie), die - um ihr Prestige in einem neuen konkurrenzbetonten politischen Umfeld, das sich um die sozialen Wechselbeziehungen am Hofe herum aufbaut, zu maximieren - mit auffallender Verschwendungssucht und unbedingter Befolgung der höfischen Rituale darin enden, dass sie die ökonomische und politische Macht des Hofes unterstützen und damit zur Revolution der Außenstehenden und der Zerstörung des Hofes als politische Institution ermuntern. Dieses Beispiel von Elias wirft ein interessantes Licht auf einige soziale Mechanismen (z.B. selbstbezügliche Vergleiche unter Insidern), die für viele gesellschaftliche Umwandlungen in der Geschichte der modernen Wissenschaften verantwortlich sein können (vgl Squazzoni 2008b; Timmermanns/de Haan/Squazzoni 2008). In den 1990er Jahren erfuhr der mechanismenbasierte Ansatz eine Verjüngungskur durch erneuernde Impulse aus der Biologie, Chemie, Medizin, den Geistes- und Sozialwissenschaften (vgl. Coleman 1990; Giorganni et al. 1997; Hedström/Swedberg 1998; Little 1998; Raffel et al. 1995; Srinchcombe 1991). Mittlerweile sind viele Definitionen für den Begriff des "Mechanismus" erstellt worden (siehe Hedström 2005: 24f. für einen Überblick): Mechanismen werden verstanden als • "Entitäten und Aktivitäten, die so organisiert sind, dass sie regelmäßig Veränderungen vom Anfang bis zum Ende produzieren" (Machamer/Darden/Craver 2000: 3); • "eine detaillierte Beschreibung der Komponenten eines Systems und ihrer Interaktionen" (Sawyer 2004: 261); • "ein Prozess (oder eine Sequenz von Zuständen oder Verlauf) in einem konkreten System, natürlich oder sozial" (Bunge 2004: 186); • "Sequenz kausal vernetzter Ereignisse, die sich unter bestimmten Umständen regelmäßig wiederholen" (Mayntz 2004: 241);
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Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni •
"eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die miteinander derartig verbunden sind, dass sie regelmäßig bestimmte Typen von Folgen hervorbringen" (Hedström 2008: 25); • "Struktur oder Prozess auf der grundlegenden Ebene, die/der ursächlich für das Ereignis oder das Phänomen auf der empirischen Ebene verantwortlich ist (oder, in einigen Darstellungen, eine Repräsentation der zugrunde liegenden Struktur oder des Prozesses)" (Reiss 2007: 166). Der mechanismenbasierte Ansatz unterscheidet sich sowohl von allgemeinen Wissen und Beschreibungen, statistischen Erklärungen als auch von deduktiv-nomologischen Erklärungen. Er bezieht sich weder auf allgemeingültige oder deterministische Gesetze, noch auf statistische Beziehungen zwischen Variablen, noch auf detailliert beschreibende Berichte über die soziale Realität. Er versteht Erklärungen nicht im Sinne linearer Ursache-Wirkungsprinzipien, nach denen zwischen einem vorhergehenden Ereignis (Ursache) und einem folgenden Ereignis (Effekt) eine Kausalität besteht. Ühlicherweise werden Ursachen und Wirkungen in den Sozialwissenschaften nicht einfach als Ereignisse angesehen, sondern als Attribute von Agenten oder Aggregaten, die genauso als Nicht-Ereignisse oder nicht direkt sichtbar angesehen werden können (vgl. Mahoney 2001). Eine mechanismenbasierte Erklärung beinhaltet, dass das zu erklärende Objekt ein soziales Ergebnis ist, Aktion und Interaktion die zu modellierenden Bausteine sind und ein kausaler, generativer Mikto-Makro-Mechanismus das theoretische Konstrukt darstellt, das isoliert untersucht werden muss und zwar in dem Sinne, dass ein solches Konstrukt es dem Wissenschaftler ermöglicht, unter spezifischen Bedingungen, die wiederholt in der Realität angetroffen werden, das Objekt zu erklären (siehe Goldthorpe 2000). Wie Elster anführte, ist die mechanismenbasierte Erklärung in Hinsicht auf BlackBox-Erklärungen nach einer detaillierten Logik aufgebaut, wonach "wenn A [der Mechanismus], dann manchmal B, C und D [soziale Ergebnisse]", so dass "der Unterschied zwischen einem Gesetz und einem Mechanismus derselbe ist wie zwischen einer statischen Korrelation ~,wenn X, dann Y'') und einem Prozess ~,X führt über die Schritte A, B, C zu Y'') (siehe George/Bennett 2004: 141). Dies liegt an der Rolle, die die spezifischen empirischen Bedingungen spielen sowie an der Möglichkeit, dass Mechanismen paarweise und sich gegenseitig ausschließend auftreten können, ebenso wie sie simultan mit gegenteiligen Effekten auf das Objekt wirken können, wie im Beispiel des Einflusses von Steuern auf das Angebot von Arbeitskräften, das von Elster (1998) aufgegriffen wurde. Tatsächlich werden Mechanismen oftmals von Bündeln oder Konfigurationen von Mechanismen hervorgebracht, "von denen einige den Effekt unterstützen und wieder andere dem Effekt entgegenwirken oder seine Ausmaße reduzieren." Im Folgenden ein einfaches Beispiel, aufgezeichnet von Paul Hurnphreys: "ein Auto wird aus der Kurve getra247
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie gen - wegen überhöhter Geschwindigkeit und sandiger Fahrbahn, trotz klarer Sicht und eines aufmerksamen Fahrers. Jener stellt fest, dass die Hinzunahme eines anderen Mechanismus oder kontextuellen Faktors eine mitwirkende Ursache in eine kontraproduktive verwandeln kann oder vice versa: Sand verrringert die Reibungsfähigkeit auf trockenem Untergrund, erhöht sie aber, wenn die Straße vereist ist." (George/Bennett 2004: 145f.) Jenseits aller Differenzen zwischen all den oben erwähnten Definitionen und Perspektiven - einige eher mit realistisch orientierten Begriffsinhalten, andere eher den erkenntnistheoretischen Bedeutungen des Begriffes "Mechanismen" zugeneigt - bedeutet das Denken in Begriffen von sozialen Mechanismen eine Konzentration auf erklärende Modelle, die auf folgenden wesentlichen Bestandteilen beruhen: a) Initiale Konditionen und Hemmnisse. b) Entitäten (z.B. individuelle Agenten) mit spezifischen Eigenschaften. c) Aktivitäten, also die Prozesse, in denen sich Entitäten engagieren und durch die Veränderungen verursacht werden, oftmals in Begriffen der Interaktion zwischen Entitäten ausgedrückt. d) RBgelmi!ßige, erwartete E'l,ebnisse, also stabile Konsequenzen auf der MakroEbene, die Entitäten und Aktivitäten unter bestimmten Startbedingungen und Hemmnissen normalerweise hervorrufen. Ein Mechanismus ist nur dann als solcher identifiziert, wenn der generative Prozess (z.B. Entitäten und Aktivitäten), der Startbedingungen und Ergebnisse miteinander verbindet, genau erklärt und gründlich spezifiziert worden ist. Wie von Machamer, Darden und Craver (2000: 22) richtig behauptet, beinhaltet eine Erklärung eine Aufdeckung des generativen Prozesses, seine Nachvollziehbarkeit, die genaue Beschreibung seiner Wirkungsweise und ein Verständnis seines speziellen Wirkungskreises: "Die Erklärung macht ein Phänomen nachvollziehbar. Mechanismus-Beschreibungen zeigen, wie Dinge miiglicherweise, wie sie plausiblerweise oder wie sie tatsächlich arbeiten. Nachvollziehbarkeit entsteht nicht durch die Korrektheit einer Erklärung, sondern eher durch die erhellende Beziehung zwischen dem explanans (den Grundbedingungen und den intermediäten Entitäten und Aktivitäten) und dem explanandum (der bestimmenden Bedingung oder dem zu erklärenden Phänomen)." Demzufolge kann ein bestimmter Modelltyp den generativen Prozess des zu erklärenden Ergebnisses nur durch die Erforschung der Relevanz der Startbedingungen und Hemmnisse, die im Falle sozialer Systeme sehr kritisch sind, erhellen, indem er spezifiziert, wie Entitäten und Aktivitäten tatsächlich verbunden sind. In dieser Vollständigkeit liegt der genuin beschreibende Wert einer mechanismenbasierten Erklärung in Hinblick auf statistische und gesetzesmäßige Erklärungen. Ihr Mehrwert in Bezug auf empirische Befunde und narrative Beschreibungen liegt in ihrem Vermögen, generative Mechanismen sozialer Ergebnisse durch Reduktion, Simplifikation und Abstraktion zu erfassen. 248
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni
3. Mechanismen erfordern agentenbasiertes Modellieren Unserer Ansicht nach ist es nur schwer möglich, ohne Formalisierung und Modellierung mechanismenbasierte Erklärungen zu erreichen. Erstens hilft Formalisierung dabei, einen Mechanismus von der Vielzahl empirischer oder substantieller Details zu abstrahieren, ihn klar darzustellen und seinen kontextuellen Wirkungsbereich genau zu untersuchen. Zweitens zwingt sie dazu, Theorien in kurzer und knapper Form auszudrücken und logische Schlussfolgerungen aus den Voraussetzungen zu ziehen. Drittens ist sie unabdingbar, um intersubjektive Kontrolle und eine Steigerung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu garantieren, beispielsweise um die VerifIzierung des Gültigkeitsbereiches von Wissen zu begünstigen und zunehmende Extensionen zu ermöglichen. Der Punkt ist, dass nicht alle Formalisierungen und Modellierungstechniken für das Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie geeignet sind. Hedström (2007) argumentiert, dass der geradlinigste Weg, die Relevanz von Agenten und Interaktionen für das Verstehen von sozialen Ergebnissen aus einer mechanismenbasierten Perspektive heraus zu demonstrieren, darin besteht, agentenbasierte Modelle zu benutzen. Die Begründung hierfür ist, dass agentenbasierte Modelle Soziologen erlauben, alle Bestandteile des mechanismenbasierten Erklärungsstils explizit in das Herzstück des Modells einzufügen (siehe Abbildung 1) und nach den generativen Bedingungen zu suchen, z.B. den speziellen Bedingungen und Modi, unter denen Entitäten und Aktivitäten zusammenarbeiten, um das soziale Ergebnis zu generieren, das für uns von Interesse ist. Agentenbasierte Computersimulationen erlauben dem Analytiker, die Verbindung zwischen explanans und explanandum genauestens zu untersuchen und die Nachweisbarkeit der Effekte verständlich zu machen, die die vermutlichen generativen Ursachen auf Ergebnisse haben. In diesem Sinne kann die Bedeutung von "ein Ergebnis erklären" und "ein Ergebnis generieren" innerhalb eines Computers naturgemäß miteinander verschmelzen (siehe Epstein 2006; Epstein/Axtell 1996). Agentenbasierte Modelle erlauben, das Verbindungsglied zwischen Mikro-Hypothesen und Makro-Auswirkungen sowie den Einfluss initialer Konditionen und von Makro-Beschränkungen auf resultierende Ergebnisse zu entschlüsseln, das Verhalten von Agenten und die Netzwerkstrukturen zu identifIzieren, die sich für das Ergebnis verantwortlich zeichnen und Langzeit-Konsequenzen der Interaktionen von Agenten zu erforschen. Die ontologischen und erkenntnistheoretischen Verbindlichkeiten der Analytischen Soziologie vorausgesetzt, beispielsweise den Mehrwert handlungsbasierter Erklärungen für soziale Ergebnisse (vgl. z.B. Hedström 2007), verlangt jede soziologische Recherche aus dieser analytischen Perspektive heraus, dass man sich mit 249
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie dem Dreh- und Angelpunkt der Modell-Agenten, also der Interaktion und dem Verhalten, ausführlich befasst. Wie Abbildung 1 zeigt, stimmt die mechanismenbasierte Form der Erklärung mit den agentenbasierten Praktiken überein, die es ermöglichen zu verstehen, wie x (= initiale Bedingungen und Hemmnisse) undy (= Entitäten und Aktivitäten) regelmäßig Z hervorbringen (= die relevante soziale Auswirkung). Jedes agentenbasierte Modell hilft bei der Formalisierung von Hypothesen darüber, wie x undy beteiligt sind, Z zu generieren (siehe Gilbert 2008). In einem praxisbezogenen Sinne ist ein Mechanismus der Prozess, der Z hervorbringt, indem er x und y koppelt, und das Modell ist das Hilfsmittel, um den Mechanismus zu finden und zu illustrieren.
Abbildung 1: Darstellung der Bausteine der mechanismenbasierten Form der Erklärung durch agentenbasierte Modelle
Anfangsbedingungen und Beschränkungen
Entitäten und Aktivitäten
Soziale Auswirkung
Agentenbasiertes Modell
Der Mechanismus
Ein Standardbeispiel dafür findet man in der Sozialsimulation im SegregationsModell von Schelling. Schellings Ziel war es ursprünglich, die Dynamik der wohnortbezogenen Mobilität und Segregation durch Rassen und ethnische Zugehörigkeit zu illustrieren, d.h., ein Langzeitmuster vieler Großstädte in den USA zu erstellen. In seinem einfachen und abstrahierten Modell, zuerst mit weißen und schwarzen Steinen auf einem Schachbrett dargestellt, hat er aufgezeigt, dass sich die individuellen Präferenzen bei der Wohnortwahl in kumulierten räumlichen Mustern wohnortsbezogener Segregation zusammenfügen. Schelling hat die Kraft gegenseitig voneinander abhängender Mechanismen demonstriert, um die Mikro-MakroVerbindung zu erklären (vgl. Squazzoni 2008a). 250
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni Die erste Version dieses Modells basierte auf einem rechteckigen Flächenraster von 16*13 Zellen, die in Schellings idealisierter Darstellung das Stadtgebiet repräsentierten. In diesem Raum stellt jede Zelle einen von 138 Haushalten dar, schwarz oder weiß, wobei ungefähr ein Viertel der Zellen frei blieb. Folglich existierten 3(16x13)= 3 208 ,.. 1099 mögliche Systemversionen, von denen jede ein mögliches Verteilungsmuster der Wohnorte der schwarzen und weißen Haushalte repräsentierten (siehe Casti 1994). Die Annahme ist, dass Agenten (Haushalte), die zu einer von zwei Gruppen (schwarz oder weiß) gehören, es vorziehen, einen bestimmten Prozentsatz (50% oder mehr) ihrer acht Nachbarn (sog. "Moore-Umgebung'') aus derselben Gruppe zu haben, dass sie in der Lage sind, die Zusammensetzung ihrer Nachbarschaft zu erkennen und dass sie die Motivation haben, an den nächsten erreichbaren Ort zu ziehen, an dem der Prozentsatz der ähnlichen Nachbarn akzeptabel ist. Erlaubt man den Haushalten, im Raum zu interagieren, resultiert daraus, dass die Haushalte durch die gegenseitige zeitliche und räumliche Abhängigkeit ihrer Umzugs-/Verweil-Entscheidungen ihren Umschlagspunkt in einer Spiralbewegung erreichen. Jeder, der seinen Umschlagspunkt erreicht und aus seiner Nachbarschaft wegzieht, verkleinert die Anzahl der Haushalte der Gruppe in der Nachbarschaft, zu der sie/er gehört und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anderer aus dieser Gruppe ebenfalls seinen Umschlagspunkt erreicht. Darüber hinaus impliziert dies, dass die nachrückenden Neuankömmlinge, die den Platz derjenigen einnahmen, die weggezogen sind, überwiegend die Minorität darstellen und dass der Prozess ultimativ und irreversibel die Zusammensetzung einer Nachbarschaft verändere. Dies war der Nachweis dafür, dass es keine rassistischen Agenten braucht, um Segregation zu verursachen. Es verhält sich eher so, dass ihr Auftreten von Interaktionsmechanismen abhängt, bei denen Agenten sich vor Ort und innerhalb einer bestimmten zeitlichen Abfolge wechselseitig beeinflussen. Granovetter und Soong (1988: 103) haben die neuen Ansätze Schelling-ähnlicher Modelle wie folgt zusammengefasst: "Diese Modelle haben gegenüber den meisten herkömmlichen Modellen drei entscheidende Vorteile: (1) Sie befassen sich explizit und zentral mit der Dynamik (z.B. verfahren sie nicht mit komparativen Statistiken); (2) sie stellen keine Hypothesen über lineare Beziehungen zwischen Variablen auf und (3) sie werden nicht von Korrelationen, sondern von genau definierten kausalen Mechanismen gesteuert. Wir betrachten derartige Modelle als Teil einer größeren Bewegung hin zu expliziten, konkreten und dynamischen Analysen innerhalb der Soziologie, weg von generalisierten linearen Modellen, welche uns in der Annahme, dass das Ausmaß der Ursachen das Ausmaß der Konsequenzen bestimmt, nur ungenügend auf die vielen Überraschungen vorbereitet, die das soziale Leben für uns bereithält."
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Agentenbasierte Modelle in der Soifologie In den vergangenen Jahren hat sich das durch Schelling inspirierte Segregationsmodell zu einer starken Strömung entwickelt. Epstein und Axtell (1996) haben eine Von-Neumann-Umgebung (4 Agenten) vorgestellt, ein 50*50 Gitter mit 2000 Haushalten, 20% der Haushalte vakant, mit toleranteren Grenzwert-Präferenzen (z.B. von 50% bis 25% Haushalte derselben Gruppe in der direkten Nachbarschaft), anderen Gesetzmäßigkeiten in Bezug auf Umzüge und einer begrenzten Lebensdauer der Haushalte. Die Resultate belegen, dass sogar ein klein wenig Rassismus ausreicht, um eine Gesellschaft in ein segregiertes Muster kippen zu lassen. Andere Varianten wurden von Pancs und Vriend (2007) untersucht, die Haushalte mit Tendenzen zur Integration und bewusster Ablehnung gegenüber Segregation eingeführt haben. Lauri und Jaggi (2003) haben den Effekt der vergrößerten räumlichen Sichtweite von Haushalten analysiert. Gilbert (2002) hat die Standardversion modifiziert, um auftretende Eigenschaften zweiter Ordnung einzuführen, wie die Kriminalitätsrate und die Fähigkeit der Agenten, das jeweilige subjektive positive oder negative "Image" der ihnen zur Wahl stehenden Nachbarschaften zu erkennen. In Übereinstimmung mit dem altbekannten Argument der "multiplen Realisierbarkeit" sozialer Ergebnisse zeigen Gilberts Simulationen, dass sehr unterschiedliche Mikro-Hypothesen dasselbe Makro-Ergebnis erzeugen können - beispielsweise ein räumliches Segregationsmuster. Die Konsequenz ist, dass empirisch die Unterschiede zwischen dem Verhalten verschiedener Individuen auf einer Mikro-Ebene, was Begrifflichkeiten wie Überzeugungen, Gründe und Motivationen angeht, insbesondere dann wichtig werden, wenn Licht auf ein derartiges soziales Ergebnis geworfen werden soll. Dieser Anregung folgend, zeigen Bruch und Mare in jüngster Zeit (2006), wie sehr das Segregationsmuster des Schelling-Standard-Modells kritisch von der Art der angenommenen Präferenzen auf der Mikro-Ebene abhängt. Das Schelling-Modell basiert auf einer Übersetzung des angenommenen Schwellenwert-Verhaltens auf der Mikro-Ebene in einen Schwellenwert auf der Ebene des Gesamtwertes. Sie zeigen, dass eine kleine Veränderung an der Art der Präferenzen (beispielsweise die Annahme kontinuierlicher Funktionen) den Haushalten erlaubt, sich an die Zusammensetzung ihrer Nachbarschaft anzupassen und ein enorm unterschiedliches Bild auf der Makro-Ebene generiert. Als Konsequenz argumentieren sie, dass wohnortbezogene Umschlagspunkte in höchstem Masse modellabhängig sind. Darüber hinaus schlagen sie empirisch validierte Simulationen ihrer Segregationsmodelle vor, indem sie ihr agentenbasiertes Modell mit Daten aus der ,,Multi-City 5 tu4J 0/ Urban Inequality" (1992, 1994) und der "Detroit Area Studies" (1976, 1992) verbinden, welche zeigen, dass Menschen Nachbarschaften eher nach kontinuierlichen als nach grenzwertbezogenen Präferenzfunktionen evaluieren. Es ist erwähnenswert, dass die Aussage dieser Studie zum Gegenstand einer neuen Kontroverse wurde, in der lineare und Grenzwert-Präferenzen ebenso wie unterschiedliche Parameterbe252
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni reiche der Wahrscheinlichkeitsabhängigkeit sowie der Wandel Letzterer sorgfältig als Quelle für Erklärungen für Segregation oder Integration gegenüber gestellt wurden (siehe Bruch/Mare 2009; Van Rijt/Siegel/Macy 2009). Diese hier nur kurz zusammengefassten Beispiele untermauern zweierlei Evidenzen mit einer gewissen Relevanz. Erstens demonstrieren sie, dass formalisierte Modelle den Fortschritt des Wissenschaftsprozesses unterstützen, indem sie Möglichkeiten zur Erforschung des Gültigkeitsbereiches des produzierten theoretischen Wissens anbieten. Durch die Untersuchung verschiedener initialer Makro- Bedingungen und Hemmnisse, verschiedener Verhaltensmaßregeln und Interaktionsstrukturen können Sozialwissenschaftler die erkenntnistheoretischen Grenzen des untersuchten erklärenden Mechanismus umreißen und weitere Studien anregen. Zweitens zeigt der genannte Disput, dass der Aufstieg auf die Höhen der makrosoziologischen Sichtweise in Richtung von Mikro-Details und dem Einbringen empirischer Nachweise in agentenbasierte Modelle essentiell für die Erfassung der wirklich relevanten Details ist.
4. Typen agentenbasierter Modelle Auf einem unserer vorherigen Aufsätze aufbauend (siehe Boero/Squazzoni 2005) identiftzieren wir drei Typen von agentenbasierten Modellen in den Sozialwissenschaften: Fallbasierte Modelle, Modelle mittlerer Reichweite und abstrahierte Modelle (siehe auch Gilbert 2008). Ahstrahierte Modelle zielen darauf ab, einige grundlegende soziale Mechanismen zu untersuchen, die hinter vielen empirisch konkreten Realitäten stehen. Sie sind weder eine Darstellung konkreter empirischer Phänomene, noch eine Typisierung einer speziftschen Familie von empirischen Phänomenen. Abstraktionen haben dann eine konkrete Bedeutung, wenn sie generalisiert und abstrakt genug sind, um sich selbst von jeglicher empirischen Situation zu differenzieren. Fallbasierte Modelle haben einen empirisch, räumlich-zeitlich begrenzten Zielbereich. Das Phänomen wird durch idiosynkratische und individuelle Merkmale charakterisiert. Das Modell ist oft eine Art Faksimile oder ein ad hoc- Modell. Modelle mittlerer Reichweite sind theoretische Konstrukte mit dem Ziel, diverse Eigenschaften zu untersuchen, die für eine große Bandbreite von empirischen Phänomenen gelten, die sich einige Gemeinsamkeiten teilen - sozusagen eine bestimmte "Familie" von Phänomenen. Sie zielen darauf ab, Mechanismen zu verstehen, die in einer speziftschen Familie empirischer Phänomene von Interesse sind. Sie repräsentieren nicht alle möglichen empirischen Neigungen der Familie selbst (vgl. Willer/Webster 1970). Diese Modelle benötigen Typisierungen in Bezug auf
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Agentenbasierte Modelle in der Soifologie komplexe und kontingente Generalisierungen, die dabei behilflich sein können, Theorie und empirische Nachweise zu verbinden (siehe Merton 1957). Fallbasierte Modelle können aus verschiedenen Gründen sehr wichtig sein, sowoW für wissenschaftliche Bestätigungen als auch für wissenschaftliche Entdeckungen. Erstens sind sie oft Beispiele für eine "Ereigniskategorie" (George/Bennett 2004: 17), d.h. ein fundamentaler Teil zur Konstruktion einer Theorie mittlerer Reichweite. Die Vorteile von fallbasierten Modellen liegen in ihrer konzeptionellen Validität, der Möglichkeit, neue theoretische Hypothesen zu entwickeln, und - als wichtigstes von allen - in der detaillierten Untersuchung kausaler Mechanismen vermittels des Modellierens und der Untersuchung komplexer kausaler Verbindungen (siehe George/Bennett 2004: 19ff.). In fallbasierten Modellen neigt sich die Waagschale zwischen theoretischer Sparsamkeit und Simplifizierung und erklärender Reichhaltigkeit eindeutig in die Richtung Letzterer. Eine erschöpfende Taxonomie fallbasierter Modelle enthält Beispiele wie diese: "a-theoretische idiographische" Fallstudien; "disziplinierte konfigurative Fallstudien", die benutzt werden, um etablierte Theorien zu testen; "heuristische" Fallstudien, die zur Identifizierung neuer Hypothesen oder kausaler Mechanismen benutzt werden; Fallstudien zur Theorienprüfung, die zur Überprüfung der Validität und des Gültigkeitsbereiches einzelner oder konkurrierender Theorien genutzt werden; "Plausibilitätsproben"Modelle, die als vorhergehende Studien über relativ ungeprüfte Theorien angesehen werden, und nicht zuletzt "Baustein-Studien bestimmter Typen von Unterarten eines Phänomens". In diesem letzten Fall geht es darum, "kumulativ kontingente Generalisierungen, die genau definierte Typen oder Unterarten von Fällen mit einem hohen Grad an erklärender Reichhaltigkeit betreffen" (George/Bennett 2004: 31), zu entwickeln. Somit können fallbasierte Modelle in Hinblick auf die Perspektive mittlerer Reichweite gedacht werden. Die Möglichkeit, fallbasierte Modelle zu nutzen, um durch Prozessüberwachung und strukturierte Vergleiche einwandfreie Implikationen für die Theorieentwicklung oder -überprüfung zu ziehen, ist für den wissenschaftlichen Prozess von größter Bedeutung. Dies liegt daran, dass fallbasierte Modelle oft die einzigen Mittel darstellen, um "kontingente Generalisierungen" zu finden - ein Versuch der Generalisierung innerhalb einer Familie von Phänomenen, aber auch zwischen verschiedenen Familien von Phänomenen durch Tests und Analysen dessen, was "am wahrscheinlichsten, am unwahrscheinlichsten und was am wichtigsten" ist, oder um konkurrierende Erklärungen von bestimmten Fällen zu überprüfen (siehe George/Bennett 2004: 110ff.). Abstrahierungen sind wichtige Instrumente für die wissenschaftliche Analyse, weil sie bei der Erforschung und Entwicklung von Theorien helfen und neue Einsichten in den Aufbauprozess von Theorien verschaffen. Sie erlauben dem Analysierenden, sich Gegenständen zuzuwenden, die empirisch schwer zu erfassen und 254
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni zu verstehen sind, wie etwa Langzeit-Evolution oder die Rolle, die sehr komplizierte Interaktionsstrukturen bei Mikro-Makro-Ergebnissen spielen. Diese Modelle haben den Vorteil, einfach, transparent, in hohem Grade formalisiert und efftzienter intersubjektiver Kontrolle unterzogen zu sein. Gleichzeitig aber bilden sie in der ergodischen Welt der Sozialwissenschaften generisches Fachwissen aus, "mit einer Fülle von Interpretationen", die nur sehr schwer zu falsifIzieren und anzubringen sind (vgL Carley 2000). Darüber hinaus können abstrakte Modelle mangels eines seriösen Anschlusses an empirische Beweisbarkeit keine konkrete mechanismenbasierte Erklärung liefern. Modelle mittlerer Reichweite bieten einen Weg, um komplexe Interaktionen oder kausale Mechanismen zu modellieren, indem wiederkehrende Kombinationen hypothetischer Mechanismen als eindeutige KonfIgurations-Typen einbezogen werden. Sie bilden "ein Repertoire an kausalen Mechanismen", die eine breit angelegte, aber spezifIsche Familie von empirischen Phänomenen zu erklären helfen, da sie auf dem Schnittpunkt zwischen der SpezifItät des individuellen kausalen Mechanismus (fallbasierte Modelle) und der in höchstem Grade abstrahierten Ebene der allgemeingültigen Theorien angesiedelt sind (vgl. Miller 1988). Modelle mittlerer Reichweite können sowohl Ergebnis von vorangegangenen fallbasierten als auch von abstrahierten Modellen sein. Sie können eine Möglichkeit darstellen, fallbasierte Modelle zu generalisieren oder vice versa hochgradig abstrahierten Modellen eine empirische Beweiskraft zu verleihen. Mit ihrer Positionierung in der Mitte sind diese Modelle von enormer Bedeutung für die Vereinigung von theoretischen Abstraktionen und empirischer Beweiskraft im Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie. Die oben erwähnte Studie von Bruch und Mare (2006) gibt ein gutes Beispiel für ein agentenbasiertes Modell mittlerer Reichweite ab, das zwischen empirischen Fallstudien und Abstrahierungen angesiedelt ist. Tatsächlich handelt es sich hier nicht um ein allgemeingültiges Schwellenwert-Modell, das darauf abzielt, Rückkopplungseffekte aus Mikro- und Makroprozessen zu erfassen und dabei auf einer hoch stilisierten Ebene bleibt, fern von jedem empirischen Sinnbezug wie z.B. der Bandbreite der Meinungen, dem Auftreten von Moden oder Ausbrüchen von Kriminalität in Großstädten (siehe Bruch/Mare 2006: 668). Vielmehr soll das Modell ein Licht auf eine spezifIsche Familie sozialer Ergebnisse werfen, d.h. ethnische Wohnraum-Segregationsmuster. Das Modell ist dementsprechend aufgebaut, mit einer eindeutigen Repräsentation einer Stadt, räumlichen Begrenzungen, Wohneinheiten, ethnischen Gruppen, Verteilung von Haushalten, Präferenzen-Funktionen und der Dynamik des räumlichen Wandels, so dass das dieses Modell empirisch spezifIzierter ist als ein generisches, abstrahiertes Schwellenwert-Modell. Zugleich ist es aber kein Modell, das nur einen ausgewählten Fall beleuchten will, z.B. die Wohnraum-Segregationsmuster in Chicago. Es wurde nicht im Hinblick auf eine 255
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie spezielle empirische Situation geschaffen, der Raum gleicht keiner besonderen Stadt, die ethnische Verteilung reflektiert keine reale Nachbarschaft, auch zielen die Präferenz-Funktionen nicht darauf ab, die aktuelle Komplexität der Entscheidungen von Menschen oder der Faktoren zu reproduzieren, die bei der Wohnortwahl eine Rolle spielen. Gleichzeitig ist das Modell mit empirischen Daten abgestimmt, um die Präferenzen der Agenten zu kalibrieren und so eine effektive Verbindung zwischen theoretischen und empirischen Dimensionen zu erlauben. Auf diese Weise - einige festgelegte Beschränkungen vorausgesetzt - generieren die empirisch kalibrierten Präferenzen regelmäßig im Sinne der strukturellen Elemente von Modellen (wie der Raumstruktur, der Agentenverteilung, der Agentenkomposition und der Anzahl der Agenten sowie der Interaktionsregeln) spezielle soziale Ergebnisse. Andere Beispiele für diese drei Modelltypen können bei Boero/Squazzoni (2005) gefunden werden.
5. Empirische Daten und ihre Relevanz für das Modellieren Mechanismen werden im philosophischen Diskurs und im sozialwissenschaftlichen Gebrauch generell als konkrete und reale Kräfte angesehen oder als rein analytische Konstrukte, die reale Phänomene beleuchten sollen. Der kausal-realistischen Auffassung nach, die wir in diesem Kapitel vertreten, ist der Zweck der Analytischen Soziologie, die unsichtbaren kausalen Mechanismen und die Pfade zu entschlüsseln, die es Wissenschaftlern erlauben, jene Faktoren empirisch zu begründen, die in bestimmten generativen Prozessen am Werke sind, um das zur Debatte stehende Ergebnis zu erklären. Die Notwendigkeit eines empirischen Unterbaus für Modelle besteht simultan aus den drei folgenden Gründen: Erstens benötigen agentenbasiert-analytisch arbeitende Soziologen empirische Datenmengen und Belege über die beobachteten sozialen Ergebnisse, die mit Makro-Simulations-Resultaten abgeglichen werden können. Dies soll die Voraussetzungen des so genannten "generativen Prinzips" der Erklärung erfüllen, nach dem es eine notwendige Bedingung für die Erklärung an sich ist, in der Lage zu sein, die interessierende Makto-Regelmäßigkeit durch ein agentenbasiertes Modell zu (re-)generieren (siehe Epstein 2006: 8). Zweitens werden Daten benötigt, die dem Schöpfer des Modells behilflich sind, einige kritische Simulationsparameter zu kalibrieren, beispielsweise die Interaktionsstruktur oder die Anzahl der Agenten, die das Ergebnis und folglich auch die Erklärung hochgradig beeinflussen können (vgl. Fagiolo/Moneta/Windrum 2007). Da es drittens eine Menge experimenteller und empirischer Belege gibt, dass die Standard-Rational-Choice-Theorie bei der Bereitstellung fehlerfreier Mikro-Unterbauten für sozialwissenschaftliche Modelle defizitär arbeitet, weil Agenten sehr heterogen in Be256
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni zug auf Überzeugungen, leicht durch Andere zu beeinflussen und sozialen Nonnen und Konventionen unterworfen sind (z. B. Bowles 2004; Fehr/Gintis 2007; Gintis et al. 2002; Heinrich et al. 2005), können empirische Daten über das Verhalten von Agenten helfen, detaillierte Mikro-Unterbauten aufzunehmen und zwischen den möglichen Mikro-Verhaltensmechanismen zu unterscheiden, die starken Einfluss auf die Entstehung des betreffenden sozialen Ergebnisses haben. Empirische Evidenz ist besonders entscheidend im Falle eines sozialen Ergebnisses, das einer "multiplen Realisierbarkeit" und "Aquifinalität" unterliegt. Jeder Computer-gestützt arbeitende Wissenschaftler weiß, dass das Zusammenführen von Mikro und Makro eine Quelle von Problemen ist, die große Herausforderungen bedeuten. Dafür gibt es zwei Gründe: Der erste ist, wenn wir Colemans (1990) Inspiration folgen, dass sich die Erklärung sozialer Ergebnisse auf eine Menge von generativen Mikro-zu-Makro-Mechanismen beziehen (im Sinne der Verkettung von MakroSituation - Mikro-Interaktion - Makro-Aggregation), mit der Konsequenz, dass in Übereinstimmung mit der berühmten Duhem-Quine-These - es nicht möglich ist, eine einzelne Hypothese isoliert zu veriftzieren/falsiftzieren (vgl. Windrum/Fagiolo/Moneta 2007). Der zweite Grund ist, dass - wenn man einmal vernünftigerweise Rational-Choice-Standard-Modelle aufgegeben hat - es sich ohne einen gewissenhaften Bezug auf empirisch begründete Mechanismen sehr schwierig gestaltet, zwischen all den alternativen Mikro-Unterbauten denjenigen herauszufinden, der es dem Forscher erlaubt, das betreffende Ergebnis präzise zu erklären. Dieses zweite Problem verlangt nach dem berühmten Argument der "multiplen Realisierbarkeit". Jenes ist in der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie wohlbekannt - insbesondere zwischen Unterstützern und Gegnern der "Emergenz" (vgl. Clayton/Davies 2006; Sawyer 2005) - ebenso wie in den Sozialwissenschaften, hier unter den Begriffen der ,,Aquifinalität" und "Multifinalität" (vgl. George/Bennett 2004; Sayer 1992). Die These der "multiplen Realisierbarkeit" meint im Grunde, dass ein Makro-Ergebnis M durch gänzlich unterschiedliches Mikroverhalten der Komponenten generiert werden könnte. M könnte prinzipiell durch N" ... N., ebenso aber auch durch K" ... K., oder durch Z" ... Z. erzeugt werden. Mit anderen Worten: Da das Zusammenführen von Mikro zu Makro an sich und auch de facto ein Abgleich von vielen Elementen auf ein Ganzes darstellt, könnte es der Fall sein, dass eine Menge ganz verschiedener Mikro-Unterbauten es dem Wissenschaftler ennöglichen würden, das gleiche zur Debatte stehende theoretisch Ergebnis zu erklären. In den Sozialwissenschaften beinhaltet die These der Aquifinalität oder Multifinalität, dass "die Arbeitsweise ein und desselben Mechanismus ganz verschiedene Resultate hervorrufen kann und alternativ dazu unterschiedliche Mechanismen dieselben empirischen Resultate zeitigen können." (Sayer 1992: 121) Oder, mit anderen Worten, "viele kausale Pfade zum selben Ergebnis" kommen und "viele Ergeb257
Agentenbasierte Modelle in der Soifologie nisse im Einklang mit einer bestimmten Ursache" (George/Bennett 2004: 10) stehen. Eine solche Argumentation verkompliziert die Deduktions-/Induktionsprozesse, die in die wissenschaftlichen Untersuchung involviert sind, indem sie Modelle benötigen, die es dem Forscher ermöglichen, alternative Erklärungsmechanismen - mit dem Schwerpunkt auf empirischen Spezifthtionen und Belegen gleichzeitig zu untersuchen (vgL George/Bennett 2004: 161). An diesem Punkt stellt sich folgende entscheidende Frage: Angenommen, dass (1) der Grund, ein agentenbasiertes Modell zu erstellen ist, ein Werkzeug zur Verfügung zu haben, um eine mechanismenbasierte Erklärung eines sozialen Ergebnisses via eines Mikro-Makro-Modelles zu ftnden, (2) soziale Ergebnisse oft unter die erkenntnistheoretische Kategorie der multiplen Realisierbarkeit fallen und (3) Mechanismen Äquiftnalität oder Multiftnalität hervorbringen können - was erlaubt der Analytischen Soziologie die Entdeckung eines mikro-generativen Mechanismus, der das betreffende Ergebnis erklärt, wenn nicht ein Rückgriff auf empirische Grundlagen und Spezifthtionen? Diese Fragestellung ist von besonderer Relevanz, wenn das Problem der Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen und -beschränkungen und all die anderen Konfliktherde ernsthaft mit einbezogen werden sollen, die für soziale Interaktionen nun einmal typisch sind und darüber hinaus jedwede theoretische Untersuchung und eventuelle Generalisierung verkomplizieren (vgL z.B. Miller/Page 2007). In der Sozialsimulation wird zurzeit ein intensiver Disput zwischen den Unterstützern der theoretischen Simpliftzierung und Abstraktion (dem KISS-Prinzip: "Keep It Simple, Stupid" und Befürwortern der deskriptiv-empirischen Annahmen (das KIDS-Prinzip: "Keep It Descriptive, Stupid', geführt (siehe Moss/Edmonds 2005). Der Punkt ist - wenn unsere These korrekt sein sollte -, dass ein rein theoretisches Modell, egal ob es einfach oder kompliziert ist, eine Auswahl möglicher oder plausibler zur Verfügung stehender Mikro-Spezifthtionen anbieten kann, vergleichbar mit einer abstrahierten Untersuchung innerhalb ihres theoretischen Parameter-Wirkungskreises, aber noch lange keine einwandfreie Erklärung des betreffenden Ergebnisses liefert (vgl. de Marchi 2005). Wenn eine Schlussfolgerung unzweifelhaft aus sozialen Simulationsmodellen und der Komplexitätsforschung gezogen werden kann, dann die, dass soziale Ergebnisse in höchstem Maße von kleinen Mikro-Details bezüglich des Verhaltens und der Interaktion von Agenten abhängig sind. Es ist daher unabdingbar, empirische Daten und Beweise für diese Aspekte zu ftnden, um informative Erklärungen anzuhieten. Gleichzeitig liegt eine schiere Replikation der Realität mit Faksimile-Modellen außerhalb des Wirkungsbereiches eines jeden ernsthaften Wissenschaftlers, da Replikation bei der Erstellung theoretischer Generalisierungen nicht behilflich sein kann - und auf ihnen basiert der wissenschaftliche Fortschritt nun einmal. Dies ist ein gutes Argument für die Arbeit mit Modellen mittlerer Reichweite, die Theorie und Empirie verknüpfen 258
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni und den Unterbau für theoretisch geleitete empirische Untersuchungen oder graduelle theoretische Abstraktionen bilden. Das Streben nach empirischen Unterbauten für agentenbasierte Modelle bezieht sich nicht einfach auf die empirische Validation von Simulationsresultaten, ebenso wenig auf die empirische Kalibrierung von Simulationsparametem. Neben der Tatsache, dass die Validationstechniken sich für verschiedene Typen von agentenbasierten Modellen unterscheiden, wie wir (siehe Boero/Squazzoni 2005) an anderem Ort bereits gezeigt haben, ist ihnen eine Eigenschaft gemeinsam: ihr mehrstufiger Charakter. Ohne über die lebhafte methodologische Debatte über empirische Validation agentenbasierter Modelle ins Detail gehen zu wollen1, ist der Punkt, dass ein mechanismenbasierter Ansatz einer mehrstufigen Erklärung und einer Spezifizierung des Makro-Mikro-Makro-Verkettungsprozesses nahe kommt, der für die Generierung eines bestimmten Ergebnisses verantwortlich ist. Die Herausforderung, eine gute Erklärung zu erstellen, ist demnach nicht einfach ein Problem von Daten und empirischen Belegen. Es geht nicht einfach um eine direkte oder indirekte Validierung, um eine ex-ante-Parameter-Kalibrierung oder um eine expost-Ergebnis-Validierung. Es geht vielmehr darum, dass mechanismenbasierte Erklärungen günstigstenfalls die empirische Spezifizierung der gesamten Kausalkette, die den "mechanistischen" Inhalt eines Mikro-Makro-Prozesses, der bei der Generierung eines Ergebnisses eine Rolle spielt, und - zuletzt und am wichtigsten die Mikro-Unterbauten (d.h. sowohl quantitative als auch qualitative Parameter) des Modells offen legen.
6. Schlussbemerkung Wie schon von Reiss (2007) bemerkt, sind mechanismenbasierte Erklärungen nur eine der vielen Ziele, die wir in der pluralistischen Welt der sozialwissenschaftlichen Methodologie verfolgen sollten, z.B. neben Vorhersagen, narrativen Beschreibungen und politischer Beratung. Dennoch würde es all diesen Aspekten zugutekommen, wenn die empirische Realität im Sinne sozialer Mechanismen verständlich gemacht werden könnte, indem belastbares Wissen zur Verfügung gestellt würde, wie das gesellschaftliche Leben konkret funktioniert. Anders gesagt, bevor wir versuchen, das "Warum" eines bestimmten sozialen Ergebnisses zu verstehen (und ebenso das "Wann''), ist es von immenser Wichtigkeit, das "Wie" zu erfassen, d.h., wie bestimmte soziale Ergebnisse durch mikro-generative Prozesse entstehen können.
Für den jüngsten Übetblick siehe Fagiolo/Windrum/Moneta (2007) und einige Beittäge in Squazzoni (2009).
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Agentenbasierte Modelle in der Soifologie Die Suche nach dem "Wie" verlangt zusätzlich nach einer Speziftkation kausaler Verbindungen, der informativen Beschreibung der Art und Weise, wie Dinge wirklich funktionieren und in letzter Konsequenz nach der Vorrangstellung des Modellierens und agentenbasierter Modelle. Aus der Perspektive der Analytischen Soziologie hat die Anwendung agentenbasierter Modelle viele Vorteile (siehe z.B. Bruch/Mare 2006; Frank/Squazzoni/ Troitzsch 2009; Manzo 2005, 2007): Indem man erstens den Computer als "virtuelles Labor" nutzt, kann ein sozialer Mechanismus auf einfache und "ökonomische" Weise vollständig beschrieben, formalisiert, erforscht und verstanden werden. Alle Bausteine eines mechanismenbasierten Erklärungsstils, den wir in Abbildung 1 dargestellt haben, können via Computersimulation modiftziert, ausgedehnt, kombiniert, neu kombiniert und verstanden werden. Agentenbasierte Modelle sind gut geeignete Werkzeuge, um die verfolgbaren Effekte eines generativen Prozesses sichtbar und verständlich zu machen. Agentenbasierte Modelle erlauben es dem Forscher zweitens, die Mikro-Makro-Verbindung in einer generativen, dynamischen Art und Weise festzulegen, die uns dabei helfen kann, die beiden Ebenen pragmatisch zu kombinieren und gleichzeitig einen ontologischen Streit über die Vorrangstellung zu vermeiden (siehe Squazzoni 2008). Indem sie drittens den Wandel und Einfluss qualitativer und quantitativer Parameter untersuchen, bieten agentenbasierte Modelle eine erste Orientierung, um den Gültigkeitsbereich eines Mechanismus zu prüfen. Indem sie beispielsweise Belege für eine multiple Realisierbarkeit eines bestimmten sozialen Ergebnisses liefern, können diese Modelle anzeigen, wie dringlich die Suche nach empirischen Mikro-Unterbauten in diesem speziellen Falle ist. Darüber hinaus unterstützen sie die Analytisch Soziologie, ihre theoretisch orientierten, empirischen Analysen durchzuführen. Auf der anderen Seite können sie bestätigen - indem sie Belege für die Robustheit des sozialen Ergebnisses bei Variationen von Mikro-Unterbauten beibringen -, dass der fragliche erklärende Mechanismus empirisch generalisiert werden und einen Anreiz für weitergehende empirische Analysen schaffen könnte, um den identiftzierten Mechanismus zu untermauern und seinen Wirkungsbereich auszudehnen. Anders als die Erkenntnistheorie und die Wissenschaftsphilosophie impliziert eine modellorientierte pragmatische Perspektive, dass die realistischen und die erkenntnistheoretischen Bedeutungen von "Mechanismen" nicht so drastisch voneinander getrennt werden können. Während wir der realistischen Sichtweise folgen, nach welcher der Mechanismus die aktuelle und konkrete Kraft darstellt, die das soziale Ergebnis von Interesse "strukturiert" (Manicas 2006), ist es gleichzeitig völlig klar, dass Soziologen, die mit Modellen umgehen, sich früher oder später in zunehmendem Maße daran gewöhnen, sich einer Erklärung für ein gegebenes soziales Ergebnis mittels eines "mechanistischen Werkzeugkastens" zu bedienen, d.h., sich ihm im Sinn eines potentiellen Mechanismus x,y oder Z anzunähern. Wie im 260
Riccardo Boero / Flaminio Squazzoni Falle der Idee des "Modells", das Objekt einer ähnlich gelagerten erkenntnistheoretischen Diskussion ist, ist es sinnvoll, dass Sozialwissenschaftler, die an der Erklärung und dem Verstehen von sozialen Ergebnissen interessiert sind, dieses "heiße Thema" den Philosophen und Erkenntnistheoretikem überlassen. Zusammengefasst verlangen die in diesem Beitrag angesprochenen Thesen zukünftig nach einer engen Verknüpfung zwischen der Analytischen Soziologie und den Sozialsimulation. Tatsächlich hängt die Etablierung und Verbesserung dieser Verbindung von zwei Bedingungen ab: Erstens von der Fähigkeit der Analytischen Soziologie, von denjenigen, die bereits Modellieren, die Einstellung zu übernehmen und mit diesen zu kooperieren, etwa mit den Akteuren der Gemeinschaft der Sozialsimulation. Anders als in mathematischen, statistischen oder Standard-Simulationsmodellen kann die Analytische Soziologie aus agentenbasierten Modellen den Vorteil ziehen, einen Formalismus zu übernehmen, ohne dabei die Einzelheiten oder die qualitative Natur sozialer Fakten, d.h. die Relevanz des Verhaltens der Agenten aus den Augen zu verlieren (vgl. Frank/Squazzoni/Troitzsch 2009; Gilbert 2008). Zweifellos impliziert dies weitere Schritte in Richtung auf die enorme Herausforderung, qualitative Belege in formale Modelle zu übersetzen (siehe GeIler 2008; Yang/Gilbert 2008). Zweitens, auf eine Langzeitperspektive hin gesehen, hängt diese Verbindung (unserer Ansicht nach der Fortschritt der Soziologie an sich) von den Kapazitäten der Gemeinschaft unserer Disziplin ab, eine neue Generation soziologisch Forschender heranwachsen zu lassen, die computergestützte Methoden schon mit der Muttermilch aufgesogen haben. Unserer Ansicht nach werden die frühen agentenbasierten Modelle Standardkomponenten im "Werkzeugkasten" von Soziologen darstellen, und je eher das Forschungsprogramm der Analytischen Soziologie Bekehrte für sich gewinnen kann, desto besser wird die Soziologie als Wissenschaft dazu in der Lage sein, denselben wissenschaftlichen Standard zu erreichen wie fortgeschrittenere Disziplinen.
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Gianluca Manzo
Populationsbasierte versus nachbarschaftsbasierte soziale Vergleiche Ein agentenbasiertes Modell für das Ausmaß und die Gefühle relativer Deprivation1
1. Einleitung Das Konzept der relativen Deprivation ist eines der meistgenutzten in der Ökonomie (siehe Clarks et al. 2008), der Sozialpsychologie (vgl. Tyler et al. 1997: Kap. 2; Walker/Smith 2001: Kap. 1) und in der Soziologie (vgl. Cherkaoui 2001; Coleman 1990: Kap. 8; Lundquist 2008). Trotz seiner Verbreitung sind formale Analysen der Mechanismen, die den Grad und die Gefühle relativer Deprivation generieren, weniger gebräuchlich. 2 In der Soziologie sind die bemerkenswertesten Ausnahmen zum einen Boudons (1979: 52ff.; 1982: Kap. 5) Analyse, die später von Kosaka (1986) und Yamaguchi (1998) aufgegriffen wurde und zum anderen Butts (1982: Kap. 5, 191ff.) Beitrag. Diese Analysen haben indessen unterschiedliche Schwerpunkte. Die erste Gruppe verfügt über folgende Charakteristika: a) Sie sind am Grad der relativen Deprivation interessiert; b) sie tendieren dazu, zu demonstrieren, dass die Beziehung zwischen objektiver Opportunitätsstruktur und -proportion unzufriedener Akteure sowohl positiv als auch negativ sein kann; c) sie beziehen sich implizit auf Akteure, die sich mit einer vorgegebenen Gruppe als Ganzes vergleichen (globale Vergleiche). Im Gegensatz dazu kann Burts Modell wie folgt charakterisiert werden: a) Es konzentriert sich auf die individuellen Gefühle der Deprivation; b) es stellt sich nicht die Frage nach der positiven oder negativen Natur der Beziehung zwischen objektiver Opportunitätsstruktur und der Intensität des Gefühls des Un-
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Ich möchte Marc Barbut, earlo Barone, Thomas Fararo, Michel Farse und Kenji Kosaka dafür, dass sie einen ersten Entwurf dieser Arbeit gelesen und kommentiert haben, sowie Alexandra Frenod für die Korrektur dieses deutschen Textes danken. Davis (1959) scheint der erste gewesen zu sein, der den Versuch machte, den Kemgedanken in " Tbc American So/dict" zu formalisieren. Sein Modell befasst sich mit dem Mengenverhältnis von benachteiligten Akteuren und es setzt völlig unstrukturierte Vergleiche zwischen Akteuren voraus. Dennoch enthält das Modell keinen generativen Mechanismus des Grades relativer Deprivation.
265 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche befriedigtseins; c) Es involviert Vergleiche zwischen Menschen, die in soziale Netzwerke eingebettet sind Ookale Vergleiche). Mein Ziel ist es, hier einen einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen zu entwickeln, der uns in die Lage versetzt, die Beziehung zwischen all diesen Aspekten gleichzeitig formal zu analysieren. Ich werde versuchen, folgende Punkte zu demonstrieren und zu erklären: a) dass die vierfache Beziehung zwischen der Attraktivität der zur Verfügung stehenden Güter, der objektiven Opportunitätsstruktur, dem Prozentsatz der unzufriedenen Akteure und der Intensität ihrer Gefühle der Unzufriedenheit verschiedene Formen annehmen kann, nur nicht jene, die am naheliegensten wäre, z.B. das Muster "Mehr-Möglichkeiten-weniger-unzufriedene-und-weniger-intensiv-unzufriedene-Akteure"; b) dass die Präsenz dyadischer Interaktion bestimmte Aspekte dieser vierfachen Beziehung signifikant verändern kann, so wie dies in einem Mikrokosmos der Fall ist, in dem Agenten vollkommen isoliert sind und wo nur globale Vergleiche gezogen werden. Verglichen mit den oben erwähnten formalen Analysen gibt es hier das zusätzliche besondere Merkmal, dass ich nach einer Lösung für diese Probleme gesucht habe, indem ich ein agentenbasiertes Modell programmiert und analysiert habe (vgl. Ferber 1999; Gilbert 2007).3 Im Kontext dieses Buches dient diese Anwendung noch einem weiteren Zweck. Ich behaupte, wenn wir erklärende Modi funktionsfahig erstellen wollen, wie sie von der Analytischen Soziologen befürwortet werden, dass die beste methodologische Lösung ist, agentenbasierte Modelle zu konstruieren und zu simulieren (vgl. Manzo 2005, 2007a, 2007b).4 Der Grund dafür ist einfach. Über die Unterschiede zwischen den Definitionen hinaus, die immer noch in der Literatur gefunden werden können (siehe Hedström 2005: 37ff.; Mahoney 2001: 577ff.), kann ein Mechanismus mindestens als eine Folge von Ketten aus "Entitäten, Eigenschaften und Aktivitäten" definiert werden, der die Fähigkeit aufweist, ein bestimmtes Bündel von Ergebnissen mit einiger Regehnäßigkeit zu generieren (vgl. Elster 2007: 36; Machamer/Darden/Craver 2000: 3). Das besondere Merkmal eines Mechanismus ist dann seine "Generativität" (vgl. Cherkaoui 2005; Fararo 2009). Und es gibt keinen direkteren Weg, diese grundlegende Bedingung zu erfüllen, als sie künstlich nachzubilden. Ein agentenbasiertes Modell zu simulieren heißt,
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Die Simulationsmethode ist kürzlich für ihre konzeptuelle Flexibilität und rechnerische Stärke (siehe Miller/Page 2007) in der Ökonomie (siehe AxteU 2000; Tesfatsion/Judd 2006), in der Finanzwelt (siehe Mathieu et al 2005), in den Politikwissenschaften (siehe Axelrod 1997; Cederman 2001;Johnson 1999), in der Geographie (siehe Sanders 2007) und zuletzt teilweise in der Soziologie (siehe Hummon/Fararo 1995; Maey/Willer 2002; Sawyer 2003; Squazzoni/Boero 200S) hervorgehoben worden. Vgl. auch Tufte in diesem Band.
Gianluca Manzo theoretische Mehrebenen-Systeme zu konstruieren, die Regelmäßigkeiten generieren. 5 Diese Verbindung sollte aktiv verfolgt werden. Nach der Ansicht vieler Soziologen ist die Analytische Soziologie lediglich eine leere Hülle. Morgan (2006: 26) z.B. schreibt wie folgt über die von Hedström und Swedberg (1998) gesammelten Beiträge: "Zweifellos haben sie ein Hauptproblem quantitativ orientierter Soziologie korrekt identifiziert. Sie haben aber keine zufriedenstellende komplette Lösung angeboten." Pisati (2007: 7f.) meint kürzlich: "Es ist nicht klar, wie die Erklärungsstrategie in der Praxis angewandt werden kann, um komplexe Systeme zu erklären - und das ist es, was soziale Phänomene stets darstellen". Obwohl wir zustimmen, dass "es keine Methode gibt - ganz zu schweigen von einer logischen -, um Mechanismen zu erahnen. [...] dies ist eine Kunst, keine Technik" (Bunge 2004: 200), scheint es mir dringlich, dass diese "Kunst" dem agentenbasierten Modellieren einen Platz einräumt, wenn wir derartige Mechanismen analysieren. Wenn wir uns nicht überwinden können, diesen Schritt zu gehen, dann könnte diese falsche Deftnition der Situation - z.B. "Analytische Soziologie ist eine leere Hülle" - wahr werden. Es liegt mir fern zu bestreiten, dass andere Methoden auch eine Rolle spielen, wenn es zur Anwendung des analytischen Ansatzes kommt. Dennoch ist es wichtig, zwischen 1) der Analyse der Prozesse der postulierten Mechanismen und der von ihnen produzierten Effekte sowie 2) ihrer empirischen überprüfung oder Validation zu unterscheiden. Die erste Aufgabe ist spezifisch für die Analytische Soziologie; der Anspruch ist, Mikrokosmen zu konstruieren, die in übereinstimmung mit dem einen oder anderen Regelwerk in der Lage sind, das eine oder das andere Set von kollektiven und individuellen Zuständen zu generieren. Diese AufgabensteIlung erfordert neue Methoden. Die zweite Aufgabe ist im Gegensatz dazu nicht spezifisch für die Analytische Soziologie: Es bedarf der Injektion empirischer Informationen am Ein- oder Ausgang dieser Mikrokosmen. Wir sind bereits im Besitz eines breiten Spektrums von (qualitativen und quantitativen) Werkzeugen, um dies zu bewerkstelligen. Offensichtlich geht es darum einen Weg zu finden, diese zwei Phasen miteinander zu verbinden. Zu behaupten, dass wir einen Mechanismus empirisch überprü-
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Auf die Wahlverwandtschaft zwischen generativer Erkenntnistheorie und der agentenbasierten Methode wurde bereits hingewiesen (siehe Cederman 2005; Epstein 2006). Auch wurde die agentenbasierte Methode kürzlich in die Agenda der Analytischen Soziologie aufgenommen (siehe Hedström 2005: Kap. 6)
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche fen können, bevor wir ihn rigoros formalen Analysen unterziehen, hieße, die Reihenfolge zu verkehren, in der die Probleme gelöst werden sollten.6 Das Kapitel ist wie folgt organisiert: Zuerst gebe ich einen Literaturüberblick über relative Deprivation und postuliere einige nützliche konzeptuelle Unterscheidungen. Dann präsentiere ich die theoretische Struktur des von mir mit dem Ziel entworfenen agentenbasierten Modells, gleichzeitig den Grad und die Gefühle der relativen Deprivation zu analysieren. Zuletzt diskutiere ich die computergestützten Resultate, die durch Simulation dieser künstlichen Gesellschaft unter mehreren Parametervorgaben erzielt wurden. Die Schlussfolgerung fasst die Fragestellungen, mit denen ich mich befasst habe ebenso wie die Hauptresultate und die Beschränkungen, denen die Analyse unterliegt, noch einmal zusammen.
2. Eine nützliche analytische Unterscheidung: RDprequenz und RDintensität Die empirischen Untersuchungen, welche die Verbreitung des Konzepts der relativen Deprivation (im Folgenden RD genannt) zur Folge hatten, beobachteten alle eine inverse Relation zwischen dem, wie Akteure die Bedingungen wahrnehmen, unter denen sie handeln und der "objektiven" Qualität dieser Bedingungen.? Stouffer und seine Kollegen (1956: Bd. I: 52, 125) waren die ersten, die dieses Konzept benutzt haben, um diese anscheinend paradoxe Korrelation zu erklären. Die in dieser "interpretativ intervenierenden Variable", wie Merton (1957: 229) sie nannte, enthaltene Hypothese ist die, dass die Abschätzungen von Akteuren hinsichtlich ihrer objektiven Möglichkeiten von ihren Vergleichsstandards abhängt (siehe Stouffer et al. 1965: Bd. I: 125).8 Obwohl es die empirische Beobachtung 6
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Ich habe versucht, beiden Anforderungen in meiner (2006, 2007c) Analyse der bildungserzieherischen Ungleichheiten in Frankreich und Italien gerecht zu werden. Zwei andere Beispiele für empirisch kalibrierte agentenbasierte Modelle sind Hedström (2005: Kap. 6) und Bruch/Mare (2006). Die bekannteste ist natürlich die inverse Korrelation im Kern von" The American Soldie'" (Stouffer et aL 1965: 251f.) zwischen den Beförderungsraten in der Armee und der subjektiven Wahrnehmung der Möglichkeiten zur Beförderung. Noch vor dem ,,American Soldiet" beobachtete Toqueville (1955: III, Kap. 4, 176), dass "es genau die Gegenden Frankreichs waren, in denen der größte Fortschritt stattgefunden hatte, in denen das Missbehagen der Bevölkerung am höchsten war." Durkheim (1951: II, Kap. V, 244) bemerkte, dass "ein ungewöhnlicher Anstieg von Suiziden unter diesen kollektiven Renaissance zu verzeichnen ist". Nach dem ,,Ameman Soldiet" bestätigte Runciman (1966: 3), dass "Unzufriedenheit mit dem Belohnungssystem und den Privilegien in einer Gesellschaft niemals in gleichem Maße empfunden wird wie der Grad der Ungleichheit, dem ihre verschiedenen Mitglieder ausgesetzt sind." Runciman lieferte als erster eine weiterentwickelte Deftnition: "Wir können annähernd sicher sein, dass A relativ benachteiligt in Bezug auf X ist, wenn (i) er X nicht bekommt, (ii) er eine oder mehrere Personen sieht, was ihn selbst zu einer früheren oder späteren Zeit einschließen kann, die im Besitz von X sein werden (egal, ob dies tatsächlich der Fall sein wird oder nicht), (üi) er X will und (iv) er es als realisierbar ansieht, dass er X bekommen könnte". Eine bahnbrechende Definition, die
Gianluca Manzo einer linear inversen Beziehung zwischen objektiven Opportunitätsstrukturen und den Wahrnehmungen von Menschen hinsichtlich dieser Opportunitäten gewesen ist, die die Anwendung des RD-Konzeptes ursprünglich motivierte, wurde das Problem, inwieweit diese Beziehung Allgemeingültigkeit hat, noch nicht vollständig gelöst. 9 Es handelt sich um ein komplexes Problem, da es in zwei unterschiedlichen, aber sich überlappenden Dimensionen entsteht. Einerseits bezieht das RDPhänomen zwei Aspekte mit ein, andererseits kann eine Vielfalt von verantwortlichen Mechanismen am Werke sein. Was den ersten Punkt angeht, sollte man genau unterscheiden zwischen RDprequenz - d.h. dem Verhältnis von Akteuren, die nicht das haben, was sie wollen und RDIntensität - der Stärke der Geftihle, die die Akteure mit dieser Diskrepanz verbinden (siehe Elster 2007: 58; Runciman 1966:10). Dies setzt voraus, dass die Mechanismen, die eine bestimmte Anzahl von Akteuren dazu bewegen, eine Diskrepanz zwischen ihren Bedürfnissen und der Realität wahrzunehmen, sich von denen unterscheiden lassen, die spezifische Reaktionen auf diese Wahrnehmung erzeugen. Daraus folgt wiederum, dass die Beziehungen zwischen objektiven Bedingungen des WoWgefühls und der subjektiven Wahrnehmung dieser Bedingungen unterschiedliche Formen annehmen können, je nachdem, welcher Aspekt der RD untersucht wird und welcher Mechanismus im Gange ist.l° In Bezug auf den zweiten Punkt können RD generierende Mechanismen auf einen basalen analytischen Raum bezogen werden, mit Achsen, die mit den von den in der Sozialpsychologie entwickelt wurde, fügt eine fünfte Komponente hinzu: "den Mangel an dem Gefühl der eigenen Verantwortung für das Verfehlen von X" (Crosby 1976: Tabelle 1). 9 Die Autoren von "Th. American Soldi.,., scheinen sich dieses Prohlems bewusst gewesen zu sein: "Um zurückhaltend zu bleiben, sollten wir unsere Schlussfolgerung darauf beschränken, dass eine Einheit mit relativ geringen Aufstiegsmöglichkeiten dazu neigt, einen größeren Anteil an Männern zu haben, die vorteilhaft über Beförderungschancen sprechen als in Einheiten mit geringeren Aufstiegsmöglichkeiten." (Stouffer et al. 1965: 257) Dieser Punkt wurde auch von Metton (1957: 237, 7) gestreift: ,,Mutmaßlich ist diese Beziehung kurvilinear und dies nötigt den Soziologen dazu, die Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen die beobachtete lineare Relation nicht aufttitt". Runciman (1966: 19f.) nahm den Faden fast zehn Jahre später wieder auf: "diese Relation ist sowohl kompliziert als auch variabel [...] sie kann ebenso die Form einer inversen als auch einer direkten Korrelation annehmen." (Runciman 1966: 247) In der Ökonomie wurde das EasterlinParadox, dass "steigendes Einkommen für Alle nicht das Glücksgefühl Aller ansteigen lässt" (Easterlin 1973: 4), wiederholt analysiert (siehe Clark et al. 200S), um zu demonstrieren, dass eine positive Relation zwischen Einkommen und Lebensglück existiert, nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern auch auf der Gesamtebene, und nicht nur in einem bestimmten Land, sondern auch zwischen Ländern (vgl. Wolfers/Stevenson 200S). 10 Diese analytische Unterscheidung ist in zeitgenössischen Definitionen der RD in der Sozialpsychologie klar zu erkennen: "das Urteil, dass man im Vergleich zu einem gewissen Standard schlechter gestellt ist; dieses Urteil wiederum steht in enger Verbindung mit dem Gefühl von Wut und Verbitterung" (fyler et al 1997: 17); "ein subjektiver Zustand, der Emotionen und Kognitionen formt und das Verhalten beeinflusst" (pettigtew 2002: 353).
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche Akteuren verwendeten Vergleichsbezugspunkten korrespondieren (für eine spezifischere analytische Abbildung siehe Gambetta 1998: 114ff.). Zwei Haupttypen (vgl. Tyler et al. 1997: Kap. 2) sind dabei identifiziert worden: a) akteurspezifische Bezugspunkte, nämlich eigene vergangene Bedingungen oder eigene Erwartungen (mtrapersonelle Vergleiche) und b) externe Bezugspunkte des Akteurs, nämlich andere Individuen oder Gruppen (interindividuelle und gruppenübergreifende Vergleiche). Jüngste sozialpsychologische Studien haben zu zeigen versucht, dass diese beiden Vergleichstypen aus einem einzelnen, viel generelleren Typ resultieren, bekannt als kontrafaktischer Vergleich: "Vergleiche gegenwärtiger Ergebnisse mit Ergebnissen, die man hätte erreichen können." (Olson/Roese 2002: 266)11 Verglichen mit der statistischen Analyse von Untersuchungsdaten (vgl. Clark et al. 2008: 111ff.), scheint die Konstruktion formaler Modelle RD-generierender Mechanismen und ihre deduktive Analyse ein attraktiver Weg für den Versuch zu sein, die Art der Beziehung zwischen objektiven Opportunitätsstrukturen und RDprequenz und RD:mtensität zu ermitteln. Diese Strategie versetzt uns tatsächlich in die Lage, all die Ergebnisse festzulegen, die logisch mit einem (oder mehreren) gegebenen Mechanismus in Verbindung stehen und dann diese Reihe von Möglichkeiten mit dem spezifischen Bereich der Realität zu vergleichen, der von den aus der Studie hervorgegangenen empirischen Daten abgedeckt wird. Wie bereits erwähnt, legt Boudons formales Modell die Vermutung nahe, dass diese Beziehung sowoW negativ als auch positiv sein kann, eine Ansicht, die durch Kosakas und Yamaguchis Re-Analyse des Modells bestätigt wurde. Der Mechanismus, der dieses Resultat generiert, ist einfach: eine kombinierte Reihe von Regeln, individuelle ScWussfolgerungen und eine Abhängigkeitsstruktur, die eine bestimmte AnzaW von Akteure dazu bringen, rationalerweise darauf zu hoffen, mehr zu 11 Aus historischer Sicht betrachtet finden wir intrapersonelle Vergleiche in Toquevilles (1955: 177) "DM &gime and the French Rwolulion": "Geblendet von der Aussicht auf eine bisher unbekannte und nun zum Greifen nahe Glückseligkeit war das Volk blind für den Fortschritt, der wirklich stattgefunden hatte und ebenso gegenüber den jüngsten Eteignissen. [...] geduldig etttagen, solange er unabänderlich erschien, kann ein Missstand nicht länger toleriert werden, sobald die Möglichkeit, ihn abzuschaffen sich einmal im Bewusstsein des Menschen manifestiert hat" (siehe Cherkaoui 2005: Kap.l für eine perzeptive Lesart dieser Mechanismen in Toquevilles Arbeit). Wir finden - mit erstaunlicher Parallelität - auch in Durkheims Denken intrapersonelle Vergleiche: "FoJglich will man immer mehr, je mehr man hat, da die Befriedigung nur Stimulationen erfuhr, statt Bedürfnisse erfüllt zu bekommen" (Durkheim 1951: 248) und "je weniger eingeschränkt man sich fühlt, desto weniger werden Einschränkungen an sich toleriert" (Durkheim 1951: 254). Durkheim scheint auch sensibel für gruppenübergreifende Vergleiche gewesen zu sein: ,,Der Mensch gewöhnt sich an den Mangel an Macht und erzwungene Mäßigung, solange nichts Neid erzeugen kann, weil niemand im Überfluss lebt" (Durkheim 1951: 254). Die Punkte in "TheAmerican So/dier" (Stouffer et al 1949: Bd.1, 251), die sich auf soziale Vergleiche bezogen, waren der Anlass für Mertons Analyse (1957: Kap. VII und VIII) über das Konzept der "Bezugsgruppe". Runciman (1966: 24f.) hat beide kombiniert, indem er einen Kreislauf zwischen dem Anstieg individueller Erwartungen und einem Anstieg des Niveaus in der Bezugsgruppe des Akteurs voraussetzt hat.
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bekommen, als sie objektiv erreichen können (nach Gurrs (1970: 51) Typologie ist dies ein "aspirationaler" Deprivations-Mechanismus). Im Sinne der oben genannten Unterscheidung zwischen RDPrcquenz und RDIntcnsitit haben sich all diese Autoren jedoch ausschließlich mit der RD prcquenz befasst. Aber wie sieht die Art der Beziehung zwischen objektiver Opportunitätsstruktur und RDmtcnsität aus? Und darüber hinaus, wie sind diese drei Elemente miteinander verknüpft?
3. Ein agentenbasiertes Modell der RDprequenz und der RDintensitiit Um diese Fragen zu beantworten, habe ich ein agentenbasiertes Modell programmiert, das sechs Komponenten enthält. Während die ersten fünf einfach Boudons Modell generalisieren, führt das sechste ein neues Modul ein, welches die Enttäuschung, den Neid und die Reue benachteiligter Akteure quantiftziert, die sie unter dem Druck intrapersoneller Vergleiche, populationsbasierter oder nachbarschaftsbasierter interindividueller Vergleiche oder kontrafaktischer Schlussfolgerung fühlen könnten. 12 (1) Opportunitiitsstruktur des Agenten: Sie wird durch die folgenden Elemente speziftziert: A) eine Population von NAgenten; B) eine limitierte Anzahl zweier Typen von Stellen L1 und L2; C) die Summe von L1 plus L2 ist immer gleich N; D) L1 und L2 unterscheiden sich in ihrer Attraktivität in dem Sinne, dass der Nutzen Bl (>0) verbunden mit L1 höher ist als der Nutzen B2 (? 0) verbunden mitL2; E) L1 und L2 unterscheiden sich ebenfalls in ihrer Zugänglichkeit, d.h., L1 kann nur erreicht werden, wenn der Agent Cl aufwendet (> 0 und< Bl), wohingegen L2 nur erreicht werden kann, wenn der Agent C2 (2':...0, S B2 und< Cl) aufbringt; F) alle Agenten haben genügend Ressourcen, um in der Lage zu sein, Cl oder C2 aufzuwenden. (2) Überzeugungen des Agenten. Diese bauen auf den folgenden Elementen auf: A) Jeder Agent kennt die Anzahl der in der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Stellen L1 und L2, nicht aber die jeweilige Zahl der Agenten A(Sl) und A(S2),
12 Ein Multiagenten-System zu konstruieren und zu analysieren, ist noch immer ein ziemlich aufwändiges Unterfangen (vgl. Janssen et al. 2008). Ich nutze hier die Möglichkeit einer agentenbasierten SimuJationsplattform (vgl. Railsback et al. 2006), genauer: NetLogo 4.0.3 (siehe Tisue/Wilensky 2004a, 2004b; Wilensky 1999).
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soifale Vergleiche die die Strategie Sl (Cl aufwenden, um Bl zu erreichen) oder S2 (C2 aufwenden, um B2 zu erreichen) anwenden; B) Jeder Agent muss daher den zu erwartenden Gewinn G[Sl] aus Gl im Vergleich zu dem zu erwartenden Gewinn G[S2] aus S2 als eine Funktion der Anzahl der Agenten A(Sl) abschätzen, die wahrscheinlich Sl wählen werden (und somit die wahrscheinliche Anzahl derer, die S2 wählen werden).13 (3) Bedürfnisse des Agenten. Jeder Agent möchte einen Nettogewinn aus seiner Wahl ziehen, so dass für jede Anzahl von Agenten A(Sl), die wahrscheinlich Sl wählen werden, der Agent dann - und nur dann - Sl wählen wird, wenn G(Sl) G(S2) > r (wobei r den Gewinn darstellt, den er mindestens erwartet). (4) Die endgültige Entscheidung des Agenten. Angesichts des durch die dynamische Konjunktion der Überzeugungen und Bedürfnisse des Agenten erzeugten vorgegebenen Entscheidungs-Vektors für oder gegen Sl steigt die Wahrscheinlichkeit einer endgültigen Entscheidung des Agenten für oder gegen Sl nichtIinear als eine Funktion des Verhältnisses der Fälle, in denen der Agent Sl wählt. Ich habe eine logistische Funktion gewählt, die durch lO-Einheiten-Intervalle diskreditiert wird.l 4
13 Insbesondere solange A(S') < LI, G[SI] = BI - C' G[S"J = (B2 - Cl)
(1)
*U /
(2)
A(S")
Stattdessen, wenn A(Sl) > LI, G[sl] = (Bl- Cl) * (LI / A(Sl)) + (B2 - Cl) = ((Bl- B2) * LI / A(Sl)) + (B2 - Cl) G[S2] = B2 - C2
* (A(Sl) -
LI) / A(Sl)
(3) (4)
Es ist erwähnenswert, dass weder Boudon (1982: 117) noch Kosaka (1986: 36ff.) den Fall in Bettacht gezogen haben, in dem A(Sl) < LI. Diese Auslassung ist sicher dem Umstand geschuldet, dass beide Autoren das Modell nur unter dem Gesichtspunkt B2 = C2 = 0 und r = 0 analysiert haben. Unter der Bedingung r = 0 ist der Fall A(Sl) < LI nicht von Interesse, da SI immer vorteilhafter als S2 sein wird. Wenn die Intention die ist, die Simulation über einen umfassenderen Bereich von Parameterkombinationen auszudehnen, muss diese Generalisierung der Überzeugungen des Agenten mit eingescbIossen werden. 14 Die beiden ursprünglich von Boudon (1979: 52ff.) untersuchten Situationen - SI wird in 50% der Fälle und SI wird in 100% der Fälle gewählt (SI als dominante Sttategie) - werden dadurch jeweils zu Gleichgewichtspunkten und Obergrenzen einer generelleren Entscheidungsfunktion. Die Entscheidung stellt hier dann die Hauptquelle für Heterogenität unter Agenten dar - ein Punkt, auf dem Yamaguchi (1998) nachdrücklich beharrt. Die Ursprünge der Heterogenität werden in der sechsten Komponente des Modells wesentlich umfangreicher.
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Gianluca Manzo (5) Das End~el des Agenten. Sobald sich die Agenten deftnitiv für Sl oder S2 entschieden haben, müssen die Ll- und L2-Stellen auf die verschiedenen Teilnehmer verteilt werden. Es gibt drei mögliche Situationen: A) Wenn die Anzahl der Agenten, die deftnitiv für Sl votiert haben, genau gleich der Anzahl der Ll-Stellen ist, sind alle Agenten zufrieden: Diejenigen, die Ll wollten, haben Ll bekommen, diejenigen, welche L2 wollten, haben L2 bekommen. B) Wenn die Anzahl der Agenten, die deftnitiv für Sl votierten, größer ist als die Anzahl von Ll-Stellen, werden einige der Agenten, die Cl aufgewendet haben, um B1 zu erreichen, lediglich B2 bekommen. Da keine individuellen oder sozialen Selektionsmerkmale existieren, werden die Agenten, die geringeren Nutzen aus höheren Kosten ziehen, durch zufillige Selektion bestimmt. C) Wenn die Anzahl der Agenten, die für Sl votieren, geringer ist als die Anzahl der Ll-Stellen, wird die Anzahl der für S2 votierenden Agenten größer sein als die Anzahl der L2-Stellen. Wenn die Spielregel fesdegt, dass Bl nicht durch die Aufwendung von C2 erreicht werden kann, schließt dies die für S2 votierenden Agenten von vorneherein von den Ll Stellen aus. Die einfachste Lösung hierfür besteht darin, dem Überschuss der L2 begehrenden Agenten durch ein zufilliges Auswahlverfahren einen Nullgewinn zuzuweisen. In dieser Art und Weise programmiert, kann Baudans Modell nicht nur einen, sondern zwei RD-Typen erzeugen (im folgenden RDl und RD2 genannt), deren Frequenz wir nun analysieren können (mit Bezug auf die Frequenzen im Folgenden als RDhreq und RD2Preq gekennzeichnet). Der erste Typ betrifft Agenten, die trotz ihrer Wahl Ll nur L2 erreichen konnten, da nicht genügend Ll-Stellen zur Verfügung standen. Der zweite Typ bezieht sich auf Agenten, die L2 wollten, aber der Spielregeln wegen und aufgrund der zu kleinen Anzahl von L2-Stellen gar nichts bekamen. (6) Emotionen der Agenten. Die Erfahrung RDl könnte ein anderes Bündel von Gefühlen des Unbefriedigtseins erzeugen als die Erfahrung RD2. In diesem Zusammenhang stelle ich folgende Behauptungen auf: A) Intrapersonelle Vergleiche werden in beiden Fällen vorgenommen. Die Stärke der Enttäuschung, die sie generieren, ist proportional zu der Differenz zwischen dem erwarteten und dem am Ende wirklich erzielten Gewinn. B) Interindividuelle Vergleiche existieren sowohl für RDl als auch für RD2. Die Stärke des empfundenen Neides, den sie erzeugen, ist umgekehrt proportional zum Grad der relativen Deprivation. 15 15 Nach Elster (1999: 141) ist Neid eine der häufigsten vergleichsbasierten Emotionen (diejenigen, die "durch günstige oder ungünstige Vergl.eiche mit jenen Individuen, mir denen wir niemals interagieren werden, ausgelöst werden"). Ich quantifiziere hier detaillierter die Stärke dieser Emotion mit ei-
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche C) RD2 kann weiterhin eine spezifische Quelle der Unzufriedenheit implizieren. Agenten, die sich selbst in dieser Situation wiederfinden, könnten den Tatsachen widersprechend so argumentieren: "Wenn die Regeln des Spieles anders wären, gäbe es keine Verschwendung von Ll-Stellen".16 Sie könnten annehmen, dass die nicht verteilten Ll-Stellen zu einem geringeren Preis wieder ins Spiel eingebracht werden könnten - ausnahmsweise. Meine Annahme ist, dass eine solche Kritik, die implizit auf das Regelsystem an sich abzielt, ein Bedauern hervorrufen könnte und dass der Umfang dieses Bedauerns proportional zu der Anzahl der nicht verteilten Ll-Stellen ist. Mit der RDhntensität und RD2Intensität, welche den Grad der Unzufriedenheit der Agenten abbildet, die RDl oder RD2 erfahren, können wir die folgende einfache Darstellung dieser drei Hypothesen formulieren: RD1Intensität
=
RD2Intensilät =
a[(Bl - Cl) - (B2 - Cl)] + b(l/ RDlpreq)
(5)
c[(B2 - C2) - (0 - C2)] + d(l/ RD2Pre
(6)
wobei a, b, c, d zufaIlig ausgewählte, aus Gleichverteilungen (0,5) gezogene Werte sind, die die Idee repräsentieren, dass die drei Mechanismen, die Gefühle der Deprivation generieren, unterschiedlich voneinander operieren.J7 Tatsächlich impliziert diese Formalisierung eine weitere Vermutung. Der zweite Term in (5) und (6) verbindet die Intensität des von den Agenten empfundenen Neids spiegelverkehrt zu dem Gesamtanteil jener Agenten, die sich in derselben Deprivations-Situation befinden. Wir könnten vernünftigerweise erlauben, dass die Agenten nur die lokale Ausbreitung von RDl und RD2 in Betracht ziehen, wenn sie bestimmen, wie stark sie ihrer Meinung nach benachteiligt worden sind, indem sie nicht das bekommen nem Mechanismus, der von Stouffer et al. (1949: Bd. 1: 251) implizit postuliert wurde und bei dem die Intensität der individuellen Gefühle von Unzufriedenheit spiegelbildlich mit der Verbreitung des Versagens verbunden sind. 16 Elster (1999: 241f.) etabliert eine direkte Verbindung zwischen kontrafaktischem Denken und Emotionen: "Fünftens werden kontrafaktische Emotionen durch Gedanken daran generiert, was hätte geschehen können, es aber nicht tat - Bedauern, Jubel, Enttäuschung, Begeisterung - und sehnsüchtige GefiihJe werden durch Gedanken an das, was immer noch geschehen könnte generiert, jedoch mit zu geringer Wahrscheinlichkeit, um Hoffnung oder Furcht zu generieren". 17 Um RDhn.,.,.;....- und RD2In""';tirWerte zu gewinnen, die zwischen zwei votgegebenen Extremen variieren, können wir jeden Term von (5) und (6) standardisieren (siehe unten Fußnote 23). Es wäre ebenso sinnvoll zu untersuchen, wie das Modell sich verhält, wenn wir einen "Quotienten" (oder einen "Log-Quotienten") für die Differenz im ersten Term von (5), (6) und (7), (8) einführen würden, da die algebraischen Eigenschaften dieser funktionalen Form beträchtlich sind (siehe Jasso 2008).
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Gianluca Manzo haben, was sie gewollt hätten - vor allem verglichen mit denjenigen, die genauso viel wie sie selbst investiert haben und die gewünschte Stelle erreichten. Obwohl diese Hypothese uns vernünftig erscheint - einer ihrer Vorteile ist, dass sie uns nicht dazu zwingt zu unterstellen, dass Agenten permanentes Wissen über den Gesamtzustand des Systems innehaben - wirft sie dennoch das Problem der Definition dessen auf, was als "lokal" zu bezeichnen ist. Wie vom zweiten Term in (1) und (8) angedeutet, ist meine Hypothese, dass das, was den Horizont ausmacht, innerhalb dessen die Agenten die Ausbreitung von RD-Situationen ansiedeln, die Zusammensetzung dyadischer Bindungen ist, in die sie eingebettet sind ~,Nbs" steht hier für die "Nachbarschaft" des Agenten, d.h. für jene Agenten, mit denen die Agenten in engem Kontakt stehen.)18 RD1Intensität=
RD2Intensität =
a[(Bl - Cl) - (B2 - Cl)] + b(l/ RDlpreq[Nbs]) c[(B2 - C2) - (0 - C2)] + e[nicht-verteilte Li]
(1)
+ d(l/ RD2Preq[Nbs]) (8)
Formal gesehen wirft diese Definition von Personen ,,im selben Boot", um mit Stouffer zu sprechen, ein Problem auf, dem wir nicht mit den in (5) und (6) implizierten "globalen Vergleichen" begegnen können: Wie gehen wir mit der Situation um, in der RDlpreq und RD2Preq in der Nachbarschaft nicht vorkommen? Um mit dem postulierten Mechanismus in Einklang zu bleiben, könnten die Neidgefühle des Agenten nur das absolute Maximum erreichen (wenn er in dieser Situation der Einzige ist, der nicht das bekommen hat, was er wollte). Um diesen Gedanken d.h. "null Nachbarn erfahren RD" darzustellen, verwandelte ich 0 in 0.01, wenn die Situation sich so darstellt (anders wäre die Berechnung unmöglich), dabei Maxima verwendend, die mit der Größe der Nachbarschaft des Agenten varneren. 19 18 Wie Gartrell (1987) anmerkte, tendiert die Uteratur über relative Deprivation dazu zu ignorieren, dass ego-zentrierte soziale Netzwerke leistungsstarke Ausgangspunkte zur Eruierung des "Wer vergleicht sich mit wem" darstellen. Gartrell (2001: 173ff.) demonstriert im Besonderen, dass dyadische Eigenschaften wie Frequenz, ,,Multiplexität" und Dichte der Kontakte fiir die Voraussage des Bezugspunktes eines vorgegebenen Agenten besonders wichtig sind. Wie ich schon in der Einführung sagte, bezieht nur Butt (1982) unter den formalen Analysen über relative Deprivation die Rolle der sozialen Netzwerke explizit mit ein. Er stellt heraus, dass Akteure sich dann untereinander vergleichen, wenn sie strukturell äquivalent sind. Vorausgesetzt, dass die Signifikanten Anderen des Akteurs seine direkten Kontakte darstellen, plädiere ich fiir eine allgemeingültigere, dyadische Vergleichsregel 19 Wie oben bereits bemerkt, stellt Elster (1999: 141) "Neid" als eine vergleichsbasierte Emotion dar (siehe ebenso in den Gleichungen (5) und (6)). In Gleichung (7) und (8) wiederum, wo ich voraussetzt habe, dass Agenten in ein Netzwerk dyadischer Verbindungen eingebettet sind, wird ,,Neid" als interaktionsbasierte Emotion verstanden (eine Emotion, die nur dann entsteht "wenn es soziale Interaktion gibt", siehe Elster 1999: 141).
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche
4. Simultanes Generieren von Mustern der RDprequenz und RDIntensltät
Die folgende Sensitivitätsanalyse zielt darauf ab zu demonstrieren, dass innerhalb einer künstlichen, durch den eben beschriebenen Mechanismus gesteuerten Gesellschaft die vierfache Beziehung zwischen der Attraktivität der Strategie SI (Cl aufwenden, um BI zu erreichen) über Strategie S2 (C2 aufwenden, um B2 zu erreichen), dem "Reichtum" an objektiver Opportunitätssttuktur, der Anzahl unzufriedener Agenten (RDIPreq und RD2Preq) und der Intensität der Unzufriedenheit (RDIIntensität und RD2Intensität) verschiedene Formen annimmt, die nicht unabhängig von der Interaktionskonfiguration sind, die Agenten miteinander verbindet. 20 Um dies zu beweisen, setze ich einen Mikrokosmos mit dyadischen Interaktionen zwischen Agenten voraus und führe dann diese Interaktionen ein, zuerst in der Form eines Zufalls-Netzwerkes und dann in Form eines skaleninvarianten Netzwerkes. 21
4.1 Der populationsbasierte, interindividuelle Vergleichsfall Abbildung 1 (Anhang) stellt die durch das Modell generierte RD2Intensität und RDIIntensität für jede Ebene der RD2Preq und RDlpn:q dar. Um die Lesbarkeit des
20 Die Attraktivität von S1 über S2 wird durch R(B) = (BI- CI) / (B2- 0) und R(K) = [(B' - C')(B2- C2)] / (Cl - 0) gemessen (siehe entsprechend Boudon 1982: 118 und Kosaka 1986: 38); auf der anderen Seite wird der "Reichtum" an objektiver Opportunitätssttuktur durch den Prozentsatz der Ll-Stellen repräsentiert. 21 In einer vorhergehenden Analyse (vgI. Manzo 2009) habe ich nur die Beziehung zwischen den ersten drei Elementen tiefergehend untersucht. Die durch die Analyse von nahezu 26000 Parameterkombinationen der Alternativen zero und non-zero-second-Altemativf:illen gewonnenen numetischen Hauptresultate (d.h. die Situation, in welcher gilt B2 = 0 = 0 und B2 0 und C2 2': 0), können wie folgt zusammengefasst werden: A) Die Relation zwischen einer Verbesserung der objektiven Opportunitätssttuktur und dem Prozentsatz der unzuftiedenen Agenten kann eine positiv lineare Form annehmen (mehr Opportunitäten, mehr un'lf4!riedene Agenten), eine negative Form (mehr Opportuni/äten, weniger un,?!,jriedene Agenten) oder beide Formen zugleich. B) Wir nähern uns der negativen linearen Farm (mehr Opportunitäten, weniger un
*-
276
Gianluca Manzo Graphen zu verbessern, habe ich die Verläufe der Anteile jener Agenten ausgespart, die erreichen, was sie wollen. 22 Wir sehen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die RD2Prcq und die RD2Intensität in die gleiche Richtung verlaufen, höher ist als die Kurven bezüglich der RDIprcq und RDI Intensität. Im ersten Fall scheint die Zunahme des Anteiles an Agenten, die L2 wollten, aber 0 bekamen, mit einem intensiveren Gefühl von Deprivation einherzugehen und umgekehrt. Im zweiten Falle dagegen tendiert die Zunahme des Anteils an Agenten, die LI wollten, aber nur L2 bekamen, dazu, mit weniger intensiven Gefühlen der Deprivation einherzugehen, während deren Intensität zunimmt, wenn die Zahl dieser Agenten abnimmt. Die gesamte RD2Prcq-Quantität und die individuelle RD2Intensilät scheinen daher durch eine positive Relation verbunden zu sein G,mehr stärker-intensiv-unzufriedene-Individuen" oder "weniger schwächer-intensiv-unzufriedene-Individuen), wohingegen RDI prcq und RDIIntensität anscheinend durch eine negative Relation ,,(mehr schwächer-intensiv-unzufriedene-Individuen" oder "weniger stärker-intensiv-unzufriedene Individuen'') miteinander verbunden zu sein scheinen. Das spiegelt die Tatsache wider, dass die Mechanismen, die ich für die Generierung der Unzufriedenheit von Agenten mit jeweils RDI oder RD2 für verantwortlich halte, nicht in beiden Fällen dieselben sind (vergleiche die Gleichungen (5) und (6)). RDI ist ein einfacher Fall. Wir gehen hier davon aus, dass das Gefühl der Deprivation aus zwei verschiedenen Quellen entsteht: Einem Gefühl der Enttäuschung, dessen Intensität proportional zum Ausmaß der Kluft zwischen dem erwarteten und dem tatsächlich verwirklichtem Gewinn ist und dem Gefühl von Neid, dessen Intensität umgekehrt proportional zum Grad der Deprivation in der Bevölkerung verläuft. Unter diesen Bedingungen und für einen gegebenen Wert R(K) (wobei der Wert des Terms, der die erste Quelle quantifiziert, stabil ist) sinkt der Wert des Terms, der die zweite quantifiziert, wenn die RDIprcq steigt und umgekehrt. Das bedeutet, dass wir einer feststehenden Quantität zuerst eine graduell sinkende Quantität und dann eine graduell steigende Quantität hinzufügen. In allen 22 Ich biete hier eine Zusammenstellung typischer Muster an, die durch das Modell einer spezifischen Serie von R(B)- und R(K)-Werten generiert werden. Tatsächlich habe ich etwa 1976 verschiedene Kombinationen von BI_, C', B2_ und O-Werten erforscht Qeweils variierend zwischen 10 und 100; 1,5 und 95; 5 und 90 sowie 0 und 50), die Sl-Attraktivitätsniveaus zwischen (R(K)= =-0,90 bis (R(K)=98,5 oder alternativ (R(B» = 0,09 bis R(B» 99,5 produzieren. Auch die Variationen der Prozentsätze von Ll-Stellen in Betracht ziehend, habe ich das Modell für 20700 Parameterkombinationen simuliert, ein Gesamtwert von 207.000 Simulationen, da jede Kombination 10 mal simuliert wurde, um auf die Variabilität des Modellverhaltens in Verbindung mit seinen Zufallselementen zuzugreifen (um es kurz zu machen, habe ich hier die Werte der von mir benutzten "len seedt' ausgelassen). Alle Simulationen setzen Populationen von 100 Agenten voraus, die einen Minimalgewinn von r = 1 erwarten. Diese Sensitivitätsanalyse wurde mir dem NetLogo 4.0.3 "Verhaltensraum"-Modul durchgefiihrt.
277
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche Situationen, in denen die RDlpttq erst steigt und dann sinkt, wird das Ergebnis eine abgeflachte U-Kurve für die RDhntensität sein. Dennoch, wenn wir uns der negativen Form der Relation zwischen der Opportunitätsstruktur und der RDlpreq nähern, wird die RD1Intensität mehr oder weniger langsam ansteigen, da in diesem Falle die RDl preq nur fillt. Der Fall RD2 ist etwas komplexer. Hier entsteht das Gefühl der Deprivation aus einem dritten Mechanismus, der sich zu den beiden anderen Quellen addiert, die für RDl berücksichtigt werden; nämlich dass Agenten, die RD2 erfahren, kontrafaktisch denken und dies wiederum ein Gefühl des Bedauerns generiert, dessen Intensität proportional zu der Anzahl nicht genutzter Ll-Stellen ist. Unter diesen Umständen neigt der Term, der den Effekt des kontrafaktischen Denkens quantifiziert, dazu anzusteigen, obwoW der Wert des den Effekt der intrapersonellen Vergleiche quantifizierenden Terms sinkt, wenn die RD2Preq ansteigt. Das bedeutet, dass je abrupter der Anstieg und das Ausmaß der RD2Pttq sind, desto wahrscheinlicher ist ein begleitender Anstieg der RD2Intensität. Wenn andererseits die RD2Pttq niedrig ist und nur wenig ansteigt, ist es wahrscheinlicher, dass die RD2Intensität stabil bleibt (die Effekte der anderen beiden Mechanismen schließen sich gegenseitig aus) oder gar umgekehrt zur RD2Prcq variiert (und hier kehren wir zu der Situation zurück, die RD1Intensität charakterisiert, bei der die interindividuellen Vergleiche Priorität haben).23 Sobald wir die vielfachen Formen beider bis hierher analysierter Gruppen miteinander kombinieren - einerseits die Beziehung zwischen einer verbesserten objektiven Opportunitätsstruktur und dem Prozentsatz unzufriedener Agenten (RD2Prcq und RDlpreq) (siehe Fußnote 20); andererseits die Verbindung zwischen dem Prozentsatz der unzufriedenen Agenten mit der Intensität ihres Gefühls der Deprivation (RD2Intensität und RD1Intensität) - entsteht das folgende allgemeingültige Ergebnis: Die Anreicherung der objektiven Opportunitätsstruktur kann in der Tat zu einer Verbindung zwischen dieser Struktur und sowoW der Quote unzufriedener Agenten G,mehr Möglichkeiten, weniger unzufriedene Individuen") als auch der Intensität der individuellen Gefühle der Unzufriedenheit G,mehr Möglichkeiten, geringfügigere Unzufriedenheit") führen. Es tritt das Problem auf, dass die Re23 Das Profil der gerade diskutierten und interpretierten Kurven ist stabil, wenn wir das Modell nach der Eliminierung der Ursprünge der interindividuellen Variabilität simulieren, die ich jedem der drei Mechanismen, die für die RDIInten,;tit und RD2Inten,;tit zuständig sind, zugewiesen habe. Und ihre Form ist nicht einmal mit dem Bereich der drei Terme verbunden, die die Handlungsweisen dieser Mechanismen formalisieren. Ich habe auch die wahrscheinlichkeitstheoretische und die deterministische Version des Modells simuliert, indem ich jeden der Terme dadurch standardisiert habe, dass ich sie mit dem Unterschied zwischen ihren minimalen und maximalen theoretischen Werten in Verbindung gesetzt habe. Obwohl diese standardisierte Version ohne Frage formal eleganter ist, ändert sie das Kurvenprofll in Abbildung 1 (Anhang) nicht, außer dass sie die Silhnuette weiter abflacht.
278
Gianluca Manzo gionen, in denen diese zwei Relationen Geltung haben, sich unter Umständen überhaupt nicht überlappen, wenn intrapersonelle Vergleiche in Kraft treten, die umgekehrt das Gefühl der Unzufriedenheit mit dem "Mangel" an DeprivationsErfahrungen verknüpfen. In diesem Falle wird die Intensität der Unzufriedenheit dazu neigen zu sinken, wenn die Anzahl der unzufriedenen Agenten steigt, während die Intensität dazu tendiert zu steigen, wenn ihre Anzahl sinkt. 3.2 Der nachbarschaftsbasierte Fall interindividueller Vergleiche N
Wenn wir eine dyadische Beziehung einführen, die die Agenten innerhalb des künstlichen Mikrokosmos miteinander verbindet (Gleichungen (J) und (8)): Wie wird die komplexe Relation zwischen der objektiven Opportunitätsstruktur (hier die Anzahl der Ll-Stellen), dem Prozentsatz der unzufriedenen Agenten (RD2Preq und RDhreq) und der Intensität des Deprivationsgefühls (RDIntensität) verändert? Die Relation zwischen Ll und RD2Preq - RDhreq sollte nicht beeinflusst werden. In der gegenwärtigen Version des Modells determinieren dyadische Interaktionen von Agenten nur diejenige Menge von Agenten, mit denen sich derjenige Agent, der RD erfahrt, selbst vergleicht. Daher wird es wohl die RD2- und RD1Intensität sein, die durch solche Interaktionen beeinflusst wird. Um zu sehen, in welchem Umfang sich dies bestätigt, versetze ich die Agenten in ein Zufalls-Netzwerk mit einer kleinen räumlichen Verzerrung (die durchschnittliche Kantenzahl per Knoten liegt hier bei 10). Abbildung 2 (Anlage) fügt der Abbildung 1 die RD2Intensitäts- und die RD1Intensitäts-Werte hinzu, die ich durch die Simulation des Modells unter diesen neuen Bedingungen gewonnen habe. 24 Wir können zuerst Situationen betrachten, in denen die Sl-Attraktivität gering ist, die, wie wir wissen, zu einem extrem hohen Grad an RD2Preq führen. In diesem Fall beobachten wir, dass im Vergleich zu einer künstlichen Welt ohne Netzwerk a) die Relation zwischen einem Anstieg von L1 und der RD2Intensität nicht ausschließlich positiv, sondern eher sowohl positiv als auch negativ ist; b) dass die RD2Intensität um ein Vielfaches höher ist, wenn die RD2Preq niedrig ist, dass sich aber die RD2Intensität wesentlich mehr dem Grad annähert, den wir beobachten, wenn keine Verbindungen zwischen den Agenten bestehen, wenn die RD2Preq ansteigt. Was ist für diese Unterschiede verantwortlich? Vorausgesetzt, dass Agenten, die in dyadische Interaktionen eingebettet sind, sich selbst mit unmittelbaren Nachbarn vergleichen, die RD2 erfahren, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass ein
24 Um das Netzwerk Zu konstruieren, wurde ein Algorithmus benutzt, der in NetLogo ab der Version 4.0.3 (siehe Stonedahl/WJ1ensky 2008) zur Verfügung steht. Er arbeitet wie folgt: a) wir nehmen einen zufällig ausgewählten Agent; b) wir bestimmen den Agenten, der ihm am nächsten steht (Euklidischer Abstand); c) wir erstellen eine Verbindung; cl) wir wiederholen diese Operationen, bis der durchschnittliche Netzwerkgtad den vor Beginn festgelegten Durchschnittsgrad erreicht.
279
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche Agent andere Agenten, die sich in derselben Situation befinden, in seiner unmittelbaren Umgebung vorfindet, wenn die RD2Preq niedrig ist. Das impliziert, dass der Term der Gleichung (J), der die interpersonellen Vergleiche quantifiziert, für viele Agenten einen extrem hohen Stellenwert einnimmt und ein besonders hohes Niveau an RD2Intensität generiert. Steigt die RD2Preq an, verschwindet diese Bedingung: Der Term, der relativ zu den intrapersonellen Vergleichen ist, wird zunehmend niedrigere Werte annehmen, während der Term, der mit dem kontrafaktischen Denken in Verbindung steht, kontinuierlich ansteigen wird. Daher können durchschnittliche RD2Intensi tär Niveaus erst abfallen und dann wieder ansteigen. Wenn wir nun Situationen betrachten, in denen die RD1Preq die RD2Preq ersetzt, weil die Sl-Attraktivität stärker ist, beobachten wir gleichermaßen signifikante Modifizierungen. Verglichen mit der künstlichen Welt ohne Netzwerk verändert sich die Form der Relation zwischen einem Anstieg von L1 und der RD1Intensität nicht wir bewegen uns graduell von einer gemischt positiv/negativen Relation hin zu einer gänzlich positiven ~,mehr Möglichkeiten, stärkere Unzufriedenheit) - aber der Grad der RD1Intensität ist in den Spitzen wesentlich höher und zwar dann, wenn die RD1Prcq gering ist. Dies liegt wieder daran, dass der allumfassende "Mangel" an RD1 die Existenz vieler "Nachbarschaften" impliziert, in denen Agenten, die RD1 erfahren, keine Nachbarn haben, die dieselbe Erfahrung machen. Da dieser Agent der einzige ist, der nicht bekommen hat, was er wollte, fühlt er ein Maximum an Neid. 25 Wie Abbildung 3 (Anhang) zeigt, wird die Existenz dieser Strukturen durch die Resultate der Simulation mit einem durchschnittlichen Vemetzungsgrad (Kanten per Knoten) von 10 bis 50 bewiesen. Unter diesen Bedingungen tendieren die Unterschiede zwischen den durchschnittlichen RD1Intensitäts- und RD2Intensitäts-Niveaus, die zwischen Gesellschaften mit und Gesellschaften ohne Zufalls-Netzwerke existieren, dazu sich aufzulösen. Dies liegt daran, dass (vorausgesetzt die "Nachbarschaft" des Agenten wird ausgedehnt) der Agent sehr viel wahrscheinlicher jemanden trifft, der ebenfalls RD erfahrt, und das trotz der Tatsache, dass die Gesamtrate von RD1 und RD2 gering ist. Ein ziemlich fester Bestandteil des Effektes ist der spektakuläre Anstieg des Terms, der die nachbarschaftsbasierten interindividuellen Vergleiche quantifiziert. Wir können deutlichere Belege für dieses Phänomen erreichen, indem wir ein skalenfreies Netzwerk (anstelle eines Zufalls-Netzwerks) in das Modell einführen. 25 Dieser aggregiette Effekt wird natürlich mehr oder weniger deutlich erscheinen, ahhängig von der Funktionsform, die zur Formalisierung des die interpersonalen Vergleiche quantifizierenden Terms für den Fall, in dem der Agent keine Nachbarn in der gleichen Deprivationssitwltion wie er selbst hat, gewählt wurde. Er kann fast gänzlich beseitigt werden, z.B. indem man diesem Term eine logarithmische Transformation in den Gleichungen (J) und (8) hinzufügt. Nach der Analyse des Modellverhaltens unter diesen Bedingungen habe ich indessen den Schluss gezogen, dass diese Art der Manipulation die Präsenz eines signifikanten theoretischen Phänomens eher verschleiert.
280
Gianluca Manzo
Der Zweck dieser Vorgehensweise ist die standardmäßige Konstruktion einer Situation mit einer großen Anzahl kleiner "Nachbarschaften" und der dadurch erfolgenden strukturellen Multiplikation von Situationen, in denen es unwahrscheinlich wird, dass ein Agent, der RD1 oder RD2 erfahrt, einen anderen Agenten in derselben Situation fIndet. Dies sollte die durchschnittlichen RDIntensitäts-Niveaus deutlich erweitern. 26 Abbildung 4 (Anhang) zeigt, dass exakt dies passiert. Unabhängig von der S1Attraktivität sind RD2Intensität oder RD1Intensität in der Tat in der künstlichen Gesellschaft, der ein skalenfreies Netzwerk zugrunde liegt, regelmäßig höher als in derjenigen künstlichen Gesellschaft ohne dyadische Interaktionen. Die Agenten, mit denen man sich selbst vergleicht, sind nur eingeschränkt zu fInden. Dasselbe gilt, wenn wir den skalenfreien Netzwerk-Mikrokosmos mit dem Zufa1ls-NetzwerkMikrokosmos (siehe Abbildung 2, Anhang) vergleichen, ausgenommen in Extremsituationen, d.h., wenn die RD2Preq oder die RDlpreq gering ist. Das ist schnell erklärt. Obwohl im skalenfreien Netzwerk tatsächlich eine große Anzahl kleiner "Nachbarschaften" existiert - und dies die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein RD erfahrender Agent keinen anderen in derselben Situation beftndlichen Agenten in der Nachbarschaft antreffen wird -, bedeuten dieselben kleinen Nachbarschaften, dass der Agent mit seiner Erfahrung allein unter einer kleinen Anzahl zufriedener Agenten dasteht. Trotz der Tatsache, dass die Unzufriedenheit hier im Vergleich zu der Situation maximal ist, in der man wenigstens ein paar Nachbarn hat, die dieselben RD erfahren, wird dieses Maximum im Vergleich zur Zufalls-Netzwerk-Gesellschaft (mit einem durchschnittlichen Vemetzungsgrad von 10), wo ein Agent allein unter einer großen Anzahl zufriedener Agenten sein wird, dennoch geringer sein. Tabelle 1 und 2 demonstrieren (für die extremen Werte von R(B) - R(K)) deutlich diese strukturellen Grundlagen für die Unterschiede im RD2Inrcnsitäts- und RD1Intensitäts-Niveau, die in der künstlichen Gesellschaft mit Zufalls-Netzwerk und in der skalenfreien Netzwerk-Gesellschaft in Erscheinung treten. In den gerade kommentierten Simulationen sehen wir zum einen, dass der Anteil der Agenten, die RD2 und RD1 erfahren, im Durchschnitt in den skalenfreien Netzwerken niedriger ist als in denen, die nahezu Zufalls-Netzwerke sind, und zum anderen, dass 26 Zur Konstruktion dieses Netzwerkes habe ich einen in NetLogo (Wilensky 2005) enthaltenen Logatithmus benutzt, der auf einer Fonnalisierung des ,;FreftntialAttachmenf'-Mechanismus basiert, zuerst vorgebracht von Barabasi/Reka (1999). Forscher sind laufend damit beschäftigt, Algorithmen zu konstruieren, die Mechanismen fonnalisieren, die wiederum skalenfreie (und small-world-)Netzwerke generieren, welche soziologisch signifikanter sind als derjenige, den ich mit dem von mir benutzten Algorithmus implementiert habe (siehe beispielsweise Pujol et al. 2005). Was mich bier indessen interessiert, sind vielmehr die strukturellen Charakteristika eines skalenfreien Netzwerkes, nicht die Prozesse, die diese herausbilden.
281
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche der Prozentsatz der Agenten, die als einzige ihrer Nachbarschaft RD erfahren, im ersten Falle im Durchschnitt höher ist als im zweiten Fall.
Tabelle 1: Durchschnittliche Rate von Agenten, die RD2 erfahren und Prozentsatz dieser Agenten, die keine Nachbam in RD2 haben (Durchschnittswerte mit Standardabweichung in Klammem), für jede der drei genutzten Netzwerkstrukturen (im Falle von R(K) = -0,09 siehe Abbildungen 2,3 und 4 für die RD prequenr und RDIntensitäts-Trends) ZufaI1snetzwerk (durchschnittlicher Vemetzungsgrad 10)
=
Zufallsnetzwerk (durchschnittlicher Vemetzungsgrad 50)
=
Skalenfreies Netzwerk
% der % der % der RD2 RD2 RD2 Agenten, Agenten, Agenten, durchschnittlicher die keine durchschnittlicher die keine durchschnittlicher die keine Vemetzungsgrad Nachbarn Vemetzungsgrad Nachbarn Vemetzungsgrad Nachbarn inRD2 des Agenten inRD2 des Agenten inRD2 des Agenten haben haben haben 5 10 15 20 25 30
35 40
45 50 55 60 65 70 75 80 85 90
95 100
282
9,9 10,2 9,9 9,9 9,9 9,9 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 9,9
-
1,5) 0,8) 0,7 0,5 0,5 0,4 0,24) 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,2
52,0 (24,0) 35,0 (18,6) 16,7 (10,4) 13,0 (6,0 10,0 6,' 4,7 3,4 1,7 1,9 0,5 1,0 0,9 1,S' 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0
-
52,5 51,2 50,9 49,7 49,9 49,6 49,0 49,5 49,9 49,7 50,0 49,9 49,9 49,8 49,9 49,8 49,7 49,8 49,7
-
5,2 3,3 3,3 2,6 2,2 2,6 2,3 2,1 2,0 1,4 1,1 1,2 1,0 0,8 0,7. 0,8 0,6 0,5 0,8
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 6,0 (12,8)
-
1,7 1,7 2,1 2,0 1,9 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1 2,1
0,8 0,7 1,0 0,8 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,2 0,2 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1
-
88,0 18,3 80,0 15,5 74,0 18,2 71,5 14,8 66,0 13,4 59,0 12,3 52,0 9,7) 49,8 (12,2 42,4 8,6 36,4 7,3 28,4 7,1 25,8 7,7 22,3 4,8 20,6 4,5 17,7 4,1 13,8 5,'i 9,4 (3,8 6,8 (4,1 25,3 (7,9)
-
Gianluca Manzo
Tabelle 2: Durchschnittliche Rate von Agenten, die RDl erfahren und Prozentsatz dieser Agenten, die keine Nachbarn in RDl haben (Durchschnittswerte mit Standardabweichung in Klammern), für jede der drei genutzten Netzwerkstrukturen (im Falle von R(K) = 23.75, siehe Abbildungen 2, 3 und 4 für die RD prequenzund RDrnt<nsitäts-Trends) Zufallsnetzwerk Zufallsnetzwerk Skalenfreies (durchschnittlicher (durchschnittlicher Netzwerk Vernetzungsgrad = 10) Vernetzungsgrad = 50) % der % der % der RD2 Agenten, RD2 Agenten, RD2 Agenten, durchschnittlicher die keine durchschnittlicher die keine durchschnittlicher die keine Vemetzungsgrad Nachbarn Vemetzungsgrad Nachbarn Vemetzungsgrad Nachbarn des Agenten inRD2 des Agenten inRD2 des Agenten inRD2 haben haben haben 5 10 15 20 25 30
35 40
45 50 55 60 65 70 75 80 85 90
95 100
10,0 10,0 10,0 10,0 10,1 10,1 10,1 10,1 10,1 10,1 10,3 10,3 10,4 10,4 10,3 10,4 10,5 10,4 10,3 -
0,1 0,1 0,1 0,1 0,2 0,2 0,2 0,2 0,3 0,2 0,2 0,3 0,3 0,4 0,4 0,4 0,5 0,7 1,1)
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,4 0,8 0,4 0,9 0,8 0,1 1,4 1,8 1,7 1,7 5,6 3,7 9,0 6,2 18,7 (8,8) 32,0 (19,4) 60,0 (32,2) -
50,0 50,0 49,7 49,7 49,7 50,2 50,3 50,2 50,1 50,1 50,0 49,8 49,7 49,6 49,5 49,6 49,6 49,1 50,0
0,3 0,3 0,5 0,7 0,7 0,9 1,1 1,2 1,2 0,9 1,7 2,0 2,0 2,5 3,2 3,2 3,3 4,6 0,3
0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 10,0 (13,4)
2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 2,1 2,0 2,1 2,1 1,8 1,8 1,8 1,5
0,1 0,1 0,1 0,1 0,2 0,2 0,2 0,2 0,3 0,4 0,4 0,4 0,5 0,6 0,7 0,6 0,5 0,6 0,3 -
3,7 (2,4 7,2 (4,3 9,6 (5,6] 12,6 6,5) 18,5 9,4 22,4 10,4 24,3 10,8 26,0 10,5 32,0 14,5 37,6 17,1 41,6 16,0 44,0 12,9 50,0 14,2 55,3 16,6 57,6 13,5 70,5 14,2 72,7 16,5 78,0 18,3 92,0 16,0 -
Diese Resultate lassen darauf schließen, dass dyadische Interaktionen von Bedeutung sind. In meinem minimalistischen hypothetischen Schema - meine einzige Annahme ist gewesen, dass ein Netzwerk die Vergleichspunkte von Akteuren beeinflusst - zeigen diese Simulationen, dass die Präsenz von Interaktionen jene individuelle Ausprägung der Unzufriedenheit signifikant verändert, die einen Mikrokosmos charakterisiert, dessen Agenten völlig isoliert sind. Die Einschränkung der Grundlagen für interindividuelle Vergleiche läuft paradoxerweise auf eine erhöhte 283
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche Wahrscheinlichkeit für stärkere individuelle Unzufriedenheit hinaus. Je mehr die dyadische Interaktionskonfiguration die Anzahl der Nachbarschaften multipliziert, in denen der Agent der einzige ist, der nicht bekommen hat, was er wollte, desto weiter entfernen wir uns von den Unzufriedenheitsniveaus, die entstehen, wenn der Agent in einer künstlichen Welt seine Deprivationssituation mit der allgemeinen Verbreitung von Deprivation in der Gesamtbevölkerung vergleicht.
5. Schlussbemerkungen Dieser Artikel zielt darauf ab, bestimmte Problemstellungen zu behandeln, mit denen sich die wenigen existierenden formalen Modelle der relative Deprivation generierender Mechanismen noch nicht auseinander gesetzt haben. Im Besonderen habe ich versucht, einen vereinheitlichten theoretischen Bezugsrahmen zu skizzieren, der zwei Problemklassiftzierungen miteinander verbindet: zum einen, dass der Umfang unzufriedener Akteure sowie heterogene intensive individuelle Gefühle der Unzufriedenheit simultan generiert werden; zum anderen die Möglichkeit zur Bestimmung, ob diese Unzufriedenheit die gleiche wäre, wenn Individuen die Erfolgsrate ihrer unmittelbaren Umgebung anstatt allgemeiner Erfolgsraten in Betracht ziehen. Der methodologische Ansatzpunkt ist hier zu zeigen, dass dieses Unterfangen von Computer-Modellierungen und Simulationstechniken - agentenbasierte Modellierung - profitieren kann, die es sowohl ermöglichen, die konzeptuelle Struktur eines Bündels von Mechanismen auf hochgradig flexible Art zu spezifizieren, als auch ihre Effekte unter einem weiträurnigen Bereich von Bedingungen zu untersuchen. Indem ich gleichzeitig generative Mechanismen relativer Deprivationsgtade und Deprivationsgefühle einbracht habe, kann ermittelt werden, dass ein verbessertes Opportunitätssystem mit zwei verschiedenen Situationen einhergehen kann. Erstens kann ich ein "mehr Opportunitäten, mehr unzufriedene-jedoch-weniger-intensiv-unzufriedene Agenten"-Muster produzieren; zweitens könnte dies mit einem "mehr Opportunitäten, weniger unzufriedene-jedoch-intensiver-unzufriedene Agenten"-Muster einhergehen. Die Bedingung, unter der das hier analysierte Modell zur Emergenz dieser komplexen Relationen führt, ist die Präsenz interpersoneller Vergleiche, die individuelle Unzufriedenheit spiegelbildlich mit der Verbreitung von Deprivationssituationen verknüpft. Diese computergestützten Resultate sind von theoretischem Interesse, weil sie die Erweiterung des klassischen "mehr Opportunitäten, höhere Unzufriedenheitsniveaus"-Muster umschreiben, indem sie zeigen, dass das umgekehrte Muster, d.h. "mehr Opportunitäten, niedrigere Unzufriedenheitsniveaus" ebenfalls möglich ist. Dennoch zeigen sie ebenso, dass die beiden Muster inkompatibel sein könnten.
284
Gianluca Manzo Diese Unvereinbarkeit wird in dem extremen Fall beispielhaft erläutert, in dem alle Akteure die attraktivsten Güter erreichen wollen, unabhängig davon, wie viele Mitbewerber sie vielleicht haben. Wenn sich in diesem Falle die Opportunitäten verbessern, fant die Anzahl der unzufriedenen Agenten, während die Intensität der Frustration der Agenten, die Deprivation erfahren, nur anwachsen kann. Bezüglich der absoluten Intensität dieses Gefühls könnte das Niveau der individuellen Unzufriedenheit in der Bevölkerung letztendlich fallen (wenn diese Agenten nicht intensiv unzufrieden sind) oder, im gegenteiligen Fall, ansteigen (wenn die Anzahl dieser Agenten gering ist und sie auch intensiv unzufrieden sind). Dyadische Interaktions-Konfigurationen können dann eine entscheidende Rolle beim Auftreten des einen oder anderen systemischen Gleichgewichtes spielen. Die letzte Variante des hier simulierten Modells nimmt an, dass individuelle Unzufriedenheitszustände dazu tendieren anzusteigen, wenn wir unterstellen, dass Akteure die Verteilung von Deprivation in ihrer lokalen Nachbarschaft eher wahrnehmen als die innerhalb der Gesamtbevölkerung. Wenn das Netzwerk wenige Knoten mit geringem Verbindungsgrad enthält, tritt diese Explosion dann zutage, wenn die globale Quote unzufriedener Agenten reduziert ist; im Gegensatz dazu scheint ein genereller Anstieg stattzufinden, wenn es viele Knoten mit geringem Verbindungsgrad gibt. In diesem Falle, unabhängig von der globalen Menge unzufriedener Agenten, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass jeder Agent für sich genommen der Einzige in seinem Umfeld ist, der nicht bekommen hat, was er wollte. Das theoretische Interesse daran, mehrere Strukturen dyadischer Bindungen einzuführen, was durch das agentenbasierte Modellieren sehr vereinfacht wurde, ist offensichtlich. Erstens - obwohl die Idee nicht neu ist - hat Merton seinerseits bereits Vergleiche mit solchen Menschen, die "in relevanter Hinsicht den gleichen Status haben oder in der gleichen Kategorie sind" unterschieden von Vergleichen "mit der Situation Anderer, mit denen [man] in direkter Verbindung, in fortwährenden sozialen Beziehungen [war]" (Metton 1957: 231). Ein formales Modell zur Implementierung dieser Unterscheidung hat weithin gefehlt. Dies scheint einen wirklichen Fortschritt darzustellen, da, wie Gartrell (1987: 49) bemerkte, "der Netzwerk-Ansatz helfen wird, um fundamentale, unbeantwortete Fragen über soziale Evaluation, zuerst von Merton und Rossi 1950 gestellt, zu lösen - insbesondere die Entstehungsgeschichte der vergleichenden Bezugsrahmen und der Verbindung zwischen Individuum und kategorischen oder gruppenabhängigen Referenzpunkten". Zweitens bietet uns die Einführung von nachbarschaftsbasierten Vergleichen die Gelegenheit, einige existierende konzeptuelle Unterscheidungen aufzubereiten. Zum einen scheint es vernünftig, sofern die letzte Modellversion "Neid" als Nebenprodukt von Vergleichen begreift, die durch dyadische Verbindungen zwischen Akteuren gesteuert werden, eine Hybridkategorie einzuführen, d.h. das, was man in Elsters (1999: 141f.) Typologie "vergleichs-interaktionsbasierte Emotionen" nenn285
Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiiale Vergleiche en könnte, welche zwischen vergleichsbasierten Emotionen und interaktionsbasierten Emotionen unterscheidet. Andererseits neigt dieses Konzept dazu, Hedströms (2005: Kap. 3, Abbildung 3.2) Typologie sozialer Interaktionen komplexer zu gestalten. Zusätzlich zu "überzeugungsvennittelten", "opportunitätsvennittelten" und "bedürfnisvermittelten" Interaktionen sollten wir tatsächlich auch die Möglichkeit "emotionsvermittelter" Interaktionen in Betracht ziehen. Die Haupteinschränkungen der diskutierten Resultate sind ebenso offensichtlich. Erstens ist das hier präsentierte Modell ausgesprochen einfach im Vergleich mit den Mechanismen, von denen wir uns vorstellen, dass sie realiter sowohl die Ziffer der unzufriedenen Agenten in einer gegebenen Gesellschaft als auch die Intensität ihrer Gefühle erzeugen. Zweitens, welchen Grad der theoretischen Komplexität wir diesen Mechanismen auch immer zugestehen, wir müssten ihre Wirksamkeit in realen Gesellschaftsformationen aufzeigen. Wonach ich in dieser vorläufigen Analyse gesucht habe, war schlicht Material, das dazu dienen könnte, den Leser davon zu überzeugen, dass agentenbasierte Simulation ein sehr brauchbares Werkzeug für die Analytische Soziologie darstellt, da es Soziologen auf diesem Gebiet ermöglicht, die angestrebten Effekte theoretischer Modelle zu konstruieren und so umfassend wie möglich zu analysieren. Hinsichtlich einer Anreicherung der Theorie sollte es offensichtlich sein, dass wir diesen Analysetyp soweit wie möglich weiterentwickeln sollten. Die Technik kann zudem extrem nützlich sein, wenn es Ziel das ist, das Modell mit der Realität in Verbindung zu bringen. Es ist in hohem Maße dazu in der Lage, detaillierte empirische Daten über Argumentationen, Vergleiche, Gefühle und/oder spezifische Objekte zu behandeln, die auf individuellen Zuständen der Deprivation basieren. Gleichermaßen können die hier diskutierten Regelmäßigkeiten ebenso leicht mit empirischen Untersuchungen über die Anzahl unzufriedener Akteure sowie mit Komponenten des individuellen Gefühls der Unzufriedenheit verglichen werden. Aus dieser Perspektive offerieren agentenbasierte Modelle noch einen zusätzlichen Nutzen: Sie legen genau fest, wo unsere empirischen Daten unzureichend sind und zeigen nebenbei auf, wie wir unsere Erhebungsmethoden neu aufstellen können.
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289
Populationsbasierte versus nachbarschtiftsbasierte soifale Vergleiche
7. Anhang Abbildung 1: Für eine typische Serie von R(K) - R(B) Werten (d.h. Attraktivität von Sl verglichen mit S2), Prozentsätze (95% Konfidenzintervall) von Agenten, die am Ende B2 oder nichts erreichen, nachdem sie auf Cl und C2 gesetzt hatten und Durchschnittswerte der RDlrntensität und RD2Intensität (durchschnittlich 95% Konfidenzintervall) für diese Agenten (y-Achse) als eine Funktion des Prozentsatzes der verfügbaren Ll-Stellen (x-Achse)
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte sozjale Vergleiche
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Abbildung 2: Für eine typische Serie von R(K) - R(B) Werten (d.h. Attraktivität von Sl verglichen mit S2), Prozentsätze (95% Konfidenzintervall) von Agenten, die am Ende B2 oder nichts erreichen, nachdem sie auf Cl und C2 gesetzt hatten und Durchschnittswerte der RDhntensität und RD2Intensität (durchschnittlich 95% Konfidenzintervall) für diese Agenten (y-Achse) in einem small-world-Netzwerk und in einem Zufalls-Netzwerk, Durchschnittsdegree = 10 als eine Funktion des Prozentsatzes der verfügbaren Ll-Stellen (x-Achse) -
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Populationsbasierte versus nachbarschqftsbasierte so:dale Vergleiche
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Abbildung 3: Für eine typische Serie von R(K) - R(B) Werten (d.h. Attraktivität von Si verglichen mit S2), Prozentsätze (95% Konfidenzintervall) von Agenten, die am Ende B2 oder nichts erreichen, nachdem sie auf Cl und C2 gesetzt hatten und Durchschnittswerte der RDhntensität und RD2rntensität (durchschnittlich 95% Konfidenzintervall) für diese Agenten (y-Achse) in einem small-world-Netzwerk und in einem Zufalls-Netzwerk, Durchschnittsdegree = 50 als eine Funktion des Prozentsatzes der verfügbaren Li-Stellen (x-Achse)
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Populationsbasierte versus nachbarschaftsbasierte so'{jale Vergleiche
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R(K) = 23,750; R(8) = 24,750 ; 81 = 100; Cl = 4.5 ; 82 = 1 ; C2 = 0.5
Abbildung 4: Für eine typische Serie von R(K) - R(B) Werten (d,h, Attraktivität von Sl verglichen mit S2), Prozentsätze (95% Konfidenzintervall) von Agenten, die am Ende B2 oder nichts erreichen, nachdem sie auf Cl und C2 gesetzt hatten und Durchschnittswerte der der RDhntensität und RD2Intensität (durchschnittlich 95% Konfidenzintervall) für diese Agenten (y-Achse) in einem small-world-Netzwerk und in einem skalenfreien Netzwerk, Durchschnittsdegree = 50 als eine Funktion des Prozentsatzes der verfügbaren Ll-Stellen (x-Achse). -
RDIFrequenz (% der Agenten. die B2 erlYJlten. nach 6nsatz Cl)
-
RD2Frequenz
""""6 -
RDlIntensität [dJrch Formel (6)]
--<) -
RDlIntensität [dJrch Formel (8)] [sl
er. derAgenten, die 0 erilalten, rod1
Ein~
x
RD2Intensität [durch Formel (7)]
o
RD2Intensität [durch Formel (9)] [sl
C2)
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Populationsbasierte versus nachbarscheiftsbasierte soiJale Vergleiche
.,.. Ll-Stellen
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Ö
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% LI-Stellen
100 90 80
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\f .J:: Cl c<
70 60 50 40
30 20 10 0
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8
Gianfuca Manzo
'"t. Ll-Stellen
Ö
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8
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8
% LI-Stellen
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Autoren Peter Abe/~ PhD, ist Professor Emeritus an der London School of Economics, Professor in Soziologischer Methodenlehre an der Copenhagen Business School und mit dem Nuffield College in Oxford assoziiert. Momentan liegt sein Forschungsschwerpunkt auf der Evolution von Netzwerken. Markus Baum, BA., arbeitet am Institut für Soziologie der RWTH Aachen University. Seine Forschungsinteressen liegen im Verhältnis von Politischer Theorie, Literatur und Narrativen sowie in methodologischen Überlegungen zum Verhältnis von Gesellschaftstheorien und sozialen Akteuren. Dr. Gunn Elisabeth Birke/und ist Professor in Soziologie der Universität Oslo. Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Ungleichheit und Studien zum Arbeitsmarkt. Dr. Riccardo Boem ist Dozent in Makroökonomie an der Universität Turin und Mitglied der GECS-Forschungsgruppe zu Experimenteller und Computergestützter Soziologie. Forschungsinteressen sind Komplexität, experimentelle und computergestützte Ökonomie, mit besonderem Schwerpunktauf der Mikrofundierung von makroökonomischen Phänomenen. Dr. Andreas Diekmann ist Professor für Soziologie im Departement Geistes-, Sozialund Staatswissenschaften der ETH-Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Theorie sozialer Kooperation, Umweltsoziologie, Methoden empirischer Sozialforschung. Dr. Christrifer Ed/ing ist Professor der Soziologie an der Jacobs Universität in Bremen mit den Forschungsschwerpunkten Soziale Netzwerkanalyse, Soziologische Theorie und Methoden. Dr. Rainer Greshoff ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg. Forschungsinteressen: Sozialtheorie, Theorienvergleich/Theorienintegration, sozialwissenschaftliche Interdisziplinarität. Thomas Grund, MPhil, ist Doktorand der Soziologie am Nuffield College, University of Oxford und Gastwissenschaftlter am Social Dynamics Laboratory an der Cornell University. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich hauptsächlich mit agentenbasierter Modellierung und sozialen Netzwerken.
301 T. Kron, T. Grund (Hrsg.), Die Analytische Soziologie in der Diskussion, DOI 10.1007/978-3-531-92510-3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Autoren Dr. Thomas Kron ist Professor für Soziologie an der RWTH Aachen University. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Allgemeine Soziologie und soziologische Theorien, besonders Akteur- und Systemtheorien; Fuzzy-Logik in der Soziologie; Gegenwartsdiagnosen, Analysen komplexer dynamischer Systeme (mittels Sozialsimulation), Terrorismus. Dr. Gianluca Manzo ist Soziologe am Centre National de la Recherche Scientique (CNRS) und unterrichtet Statistik und Computergestützte Methoden an der Universität Paris-Sorbonne. Dr. Andrea Maurer ist Professorin für Soziologie an der Universität der Bundeswehr München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Soziologische Theorien, Wirtschafts- und Organisationssoziologie, Neuer Institutionalismus. Dr. Jens Rydgren ist Professor an der Stockholm University, wo er auch den Vorsitz hält. Forschungsinteressen sind Politische Soziologie, Soziologie ethnischer Beziehungen und Soziologische Theorie. Dr. Dr. MichaeiSchmid (pensioniert) war Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität der Bundeswehr München. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften und soziologische Theorie. Dr. Flaminio Squazzoni ist Assistant Professor in Wirtschaftssoziologie und Direktor der GECS-Forschungsgruppe zu Experimenteller und Computergestützter Soziologie an der Universität Brescia. Seine Forschungsinteressen sind: Soziale Simulation und experimentelle soziologische Forschung. Dr. Per Ame Tlffte ist Associate Professor an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Oslo und Forscher am National Institute for Consumer Research. Seine Forschungsschwerpunkte sind Finanzpolitik, Schattenwirtschaft, Evaluationsforschung und Umweltsoziologie.
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