Horst Bastian
Die Brut der schönen Seele Kriminalroman Delikte Indizien Ermittlungen
3. Auflage © Verlag Das Neue Ber...
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Horst Bastian
Die Brut der schönen Seele Kriminalroman Delikte Indizien Ermittlungen
3. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1985 (1976) Lizenz-Nr. 409-160/214/85 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Oberleutnant Carla Wall fragt sich verzweifelt: Was haben wir falsch gemacht? Wo haben wir versagt? Wie konnte trotz sorgfältigster Sicherheitsmaßnahmen und menschenmöglicher Einsatzbereitschaft das Verbrechen dennoch geschehen? Wie lange hatte sie um das Zutrauen des Kindes gerungen und schließlich Antjes zärtliche Verneigung genossen. Doch die ausgeprägte kindliche Phantasie umriß das Bild des Täters nur vage, selbst für erfahrenste Kriminalisten kaum brauchbar. Sie müssen einen Mann finden, von dem es keine Personenbeschreibung gibt. Für Britta Pelzner-Bastian
1 Er hatte fleischige Hände, und seine nikotingelben Finger, Hautläppchen blätternd, hatten mit kurzen und um so dickeren Spargeln viel Ähnlichkeit. Sonnenflecke - der Wind in den Buchen streuselte gleichsam das Licht - tanzten auf seinen massigen Armen, rutschten weg nach den Seiten: als wäre die schweißnasse Haut zu glitschig für sie. Überhaupt schwitzte der Mann und war massig. Er wirkte hineingepfropft in den Rollstuhl, schmerzhaft eingeklemmt, und manchmal leckte er nach den salzigen Rinnsalen um seinen Mund. Aber gleichmäßig wie die Pleuelstangen einer langsam fahrenden Lokomotive drückten seine Arme das rostige Gefährt über die sandigen, wurzeldurchäderten Wege des Parks. Wie kleine Radarschirme stellten sich seine Augen bald auf diese, bald auf jene Richtung ein, verweilten dann auf festen Punkten, schienen nicht eigentlich zu sehen, eher zu lauschen, Vorposten seiner Ohren zu sein. Alles an seinem Gesicht war den Ohren untergeordnet, ihnen zu Diensten: die sich blähenden Nasenflügel, das merkwürdig vibrierende Kinn, der leicht geöffnete Mund. Ein Kuckuck rief. Auch andere Vögel hatten wahrscheinlich nur Liebe im Kopf oder sonstwo: Sie riefen und lockten sich. Es war eben Mai. Nicht schlecht bei den Vögeln, dachte der Mann, da sehen 3
die Männchen nach etwas aus, Gefieder, Farben…! Da kommen ihre Bräute nicht mit, bei den meisten Arten jedenfalls nicht. Logisch, daß die Weibchen auf so etwas fliegen, die Weiber… na ja. Auf einmal störte ihn das Gezwitscher ringsum, er fühlte sich verhöhnt. Gern hätte er jetzt ein solches gefiedertes Herrchen langsam in seiner Faust zerdrückt. Ganz langsam, wunderbar langsam, oh, das tut gut, ganz geil wird einem, man könnte sabbern vor Lust. Na, Freundchen, na, jetzt knirscht das Gerippe…. pfui Deiwel, Mistvieh, du suppst! Unwillkürlich machte er eine wegwerfende Bewegung mit der rechten Hand. Hinterher starrte er sie erschrocken an. Über sich selbst war er erschrocken. Kindlich-ratlos benagte er nun die Fingernägel. Aber viel zu benagen gab es nicht mehr; was nächtens wuchs, wurde am Tage ein Opfer der Zähne, seit über drei Jahrzehnten nun schon. Was sie ihn verspottet hatten deswegen, in der Schule bereits, und später die Mädchen…! Und Pappi hatte ihm über die Finger gedroschen, mit dem Lineal oder was gerade griffbereit lag. Hatte derartig zugehauen, daß einmal zwei Finger gebrochen waren. Nur geholfen hatte es nicht. In Angst und Not mußte er nagen, unbewußt längst. Und ohne Angst war er eigentlich nie. Nicht, wenn er sich unter Menschen bewegte. Und war er allein, so blieb doch die Angst, daß ihn unverhofft jemand erwischen könnte: schwitzend oder bei einem dummen Gesicht. Unter Gelächter duckte sich in ihm alles, nicht nur äußerlich duckte er sich. Dann war er in Not vor der Welt, weil sie kein Versteck für ihn hatte, Zeigefinger statt dessen: Ein Schwein glotzt intelligenter ins Uhrwerk. Ekelhaft, dieser Körpergeruch, möchte wissen, von wem er das hat… Wenn dich eine Frau sieht - ein Märchen für sie: Von einem, der sich auszog, das Gruseln zu lehren… In solchen Momenten begann er zu nagen, hielt sich mit den Zähnen irgendwie an sich selber fest. Hätte um sich schlagen können, gegen seine Eltern zuerst, dann gegen die kichernden Mädchen und Frauen, sie schinden, bis sie nach Hilfe verlangten, Hilfe brauchten: Seine Hilfe. Sein Streicheln. Seine zärtlichen Worte. Er war ja bereit dazu. Doch sie würden von ihm nichts wollen, er wußte es. Sein Streicheln erzeugte bei ihnen bestenfalls Gänsehaut, sie würden kreischen vor Entsetzen, gellend, gellend kreischen, immer
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nur kreischen… So schlug er erst gar nicht um sich, so saß er lieber geduckt und benagte die Fingernägel, in den Augen ein Brennen: nicht geheuer die Menschen. Sich selbst war er auch nicht geheuer - jetzt. Dieser scheußliche Gedanke mit dem zerquetschten Vogel… Gern wäre er von sich abgerückt. Nein, es behagte ihm nicht, wenn ihn die Phantasie überrannte. Und immer in ähnlicher Weise. Minuten danach plagte ihn stets das Gewissen. Und doch ließ er sich bald erneut darauf ein, nein, er wehrte sich nicht dagegen: Weil’s wie ein Rausch war, für Augenblicke Befriedigung brachte, ein Baden in Wollust. Angenehmer als Zigaretten und Wodka auf einmal. Viele Zigaretten und viel Wodka. Ähnlich zugleich. Er mußte nicht rauchen und trinken, niemand mußte. Es tat nur gut, es schmeckte. Ging die Gesundheit eben kaputt; danke, danke, spart euch das Mitleid, ich stör’ euch doch sowieso…! Nervös klopfte er seine Taschen ab, suchte nach Zigaretten, brannte sich eine an. Wenn er sie absetzte von den Lippen - immer erst nach mehreren Zügen -, hielt er die Glut nach unten, und der aufsteigende Qualm wärmte die Innenseite seiner Finger, vertiefte ihr giftiges Gelb. Viel Gelb, dachte der Mann, viel Gift in meinem Körper, sehr viel Gift schon bis heut… Wie das ein Körper aushalten soll! Er tat sich leid und rauchte hastiger. Vielleicht stieg ihm Rauch in die Augen, vielleicht war die Trauer auch pur, jedenfalls kamen ihm Tränen. Die Bäume und das Gestrüpp um ihn her verloren an Schärfe, keine Tiefe mehr, ein wehender, grüner Vorhang statt dessen, besetzt mit kupferfarbenen Schuppen aus Licht. Ja, wie Fischkraut im fließenden Wasser der Vorhang, daher der Schuppenbelag. Er hörte ein Knirpsen und strengte sich an, wieder klarer zu sehen. Auf dem Pfad dicht vor ihm bewegte sich etwas Braunes. Ein Eichhörnchen war es. Den Kopf geschrägt, hoch aufgerichtet, in den Pfötchen etwas Längliches, eine Brotkruste wohl, nagte es daran und blickte erwartungsvoll zu ihm her: gerade so, als sei es zum Plausch gekommen, zum geselligen Frühstücksschmaus. Das rührte den Mann, und er lächelte. Erst wenn das Eichhörnchen freiwillig Platz machen würde, wollte er weiterfahren. Gut wäre es, Eicheln bei sich
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zu haben, dachte er, wenigstens drei oder vier, es frißt ja nicht viel, es ist ja noch klein. Überhaupt muß ich aufmerksamer werden, immer was bei mir haben, zu jeder Gelegenheit. Ein paar Glaskugeln, ein paar Eicheln oder auch Nüsse, mein Gott, das kostet nicht viel. Vor allem Nüsse, daß ich erst jetzt daraufkomme, da freuen sie sich drüber, kleine Mädchen bestimmt so sehr wie die Eichhörnchen, Nüsse sind für beide sehr gut. Beim Knacken splittern die Schalen. Und manche Splitter fallen ins Kleidchen, piken sich in den Bauch. Die muß man dann suchen, das tut doch weh, wenn sie piken, nein, nein, keine Angst, die bösen Splitter sammeln wir weg. Aber Nüsse wird er für Antje besorgen! Wenn sie gekommen ist, wird er sie ihr versprechen, in dieser Stunde noch. Ehrensache, daß er seine Versprechen auch einlöst; ein Schuft, wer kleine Mädchen betrügt! Der Gedanke an Antje - und ob er sie finden würde - beunruhigte ihn. Überstürzt brachte er den Rollstuhl wieder in Fahrt. Aufgeschreckt huschte das Eichhörnchen zur Seite und erklomm einen Baum. Der Mann registrierte das kaum. Der Vorsatz, auf freie Bahn zu warten, war vergessen. Sein Schatten, noch relativ lang, eilte ihm voraus. Ohne die Bewegungen der Arme zu stoppen, schielte er nach der Uhr über dem linken Handgelenk: neun Uhr vormittags. Gut möglich, daß Antje schon hier war; sie liebte den Park und die frische Luft. Besonders am Morgen, wenn noch Tau auf den Gräsern lag und keine alten Leute mit Krückstöcken drohten und höchstens mal ein Radfahrer kam. Selbst der fehlte jetzt. Ein freundlicher, guter Tagesbeginn. Seitenweg um Seitenweg passierte der Mann. Die Orientierung verlor er nicht. Manchmal war sein Schatten links von ihm, dann wieder rechts, mitunter rutschte er hinter ihm her. Und unversehens spannte er sich erneut vor den Rollstuhl, nahm ihn in seinen Sog. Die Räder, mußten sie über Wurzeln hinweg, quietschten und ächzten. Unsinn, er hatte nicht vergessen, Fett in die Naben zu drücken. Eher wog er zuviel für die Karre, die Speichen machten gerade noch mit. Von hier aus war es nicht weit bis zum Teich, einer der Lieblingsplätze der Kleinen. Ja, am besten, er suchte erst dort. Auch ohne Ortskenntnis und sogar als Blinder hätte er nun die Nähe des Wassers
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erraten: Die Luft roch und schmeckte moorig und ganz entfernt nach Fisch. Einmal hatte Antje Steine in den Teich geworfen und irgendwelche Nixen beschworen, an Land zu kommen und für sie und den Onkel im Rollstuhl zwei, drei »betrübliche Schlager« zu singen: »Good-bye, my love, good-bye…« und »Tränen lügen nicht…« Doch das Wasser hatte sich nicht bewegt, kein bißchen, und alles war still geblieben. Da war sie böse geworden, zornig auf ihn, die Tränen waren ihr über die Lider gehopst, richtig gehopst, und sie hatte ihn fortgejagt: »Weil du heimlich gegen sie bist, die Nixen merken das nämlich! Wenn ich allein bin, singen sie schließlich, jeden Tag singen sie und meistens gleich jahrtausendelang! Und neulich haben sie sogar gesungen: ›Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad…!‹ Ha, da staunste! Und wie die Motorrad fährt! Los, hau endlich ab…!« Er hatte gehorcht, obwohl ihn das heute noch kränkte. Andererseits, wer sich Antje in solchen Fragen widersetzte, der hatte ihre Freundschaft verscherzt. In diesem Punkt kannte sie keine Verwandten. Ihm war dieser Preis zu hoch gewesen, die Flucht kam ihn billiger. Quälend seine Sehnsucht nach ihr. Unbewußt hatte er das Tempo des Rollstuhls erhöht, raste nun beinah! Das Horchen hatte er aufgegeben, die Augen hatten nun Augen zu sein, hatten zu spähen; das nasse, erhitzte Gesicht suchte mit, so aufgesperrt zeichneten sich die grobgerasterten Poren ab. Rechts von ihm teilte sich das Gebüsch, sekundenlang nur. Rotes leuchtete auf. Er bremste, rollte langsam zurück und ließ sich viel Zeit zum Erkennen. Ein rotes Kleid, vielleicht eine Bluse…. nein, bisher hatte er das bei ihr nicht gesehen. Wennschon, das besagte nichts. Immerhin war es ein Kind. Oder die Entfernung täuschte? Kaum. Sonst dürften die blonden Haare nicht sein, diese weichen und langen Haare, niemals geflochten, niemals zum Pferdeschwanz hochgesteckt…. ein Fräulein Antje, ganz und gar Dame, nur nicht so naserümpfend und kichernd, so arrogant gegen ihn, eine piekfeine Dame und keine sechs Jahre alt! Mit so einer auszugehen, wenn es bloß möglich wäre…. die andern vernutteten Weiber, sie kriegten vor Neid ihre Fressen nicht zu! Bald war er sich sicher: Wer sich dort drehte und hüpfte, konnte
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nur seine Antje sein. Das schönste Mädchen mit der schönsten Figur dieser Welt, höchstens einige Nummern zu klein. Aber wirklich schön würde sie morgen werden, übermorgen, in zehn, fünfzehn Jahren. Leider würde sie dann genauso verhurt wie die anderen sein, ihn nicht mehr sehen, so’n Rühr-mich-nicht-an auf der Straße, so ’n Achwie-bin-ich-was-Besseres…! Nee, laß man, darauf warte ich nicht. Wozu denn, dir macht’s ja den gleichen Spaß. Und grunzen kann ich wie ’n Eber und Trillerpfeifen aus Weidenholz schnitzen, und lange zuhören kann ich dir. Siehst du, so leicht bringt das keiner. Ja, ja, der Onkel im Rollstuhl, immerhin ist er wer! Er nickte, bestätigte sich sein Denken. Gelöst war er nun und überhaupt freundlich: Antje gab es an diesem Tag! Er machte sich los von dem fernen Bild, fuhr abermals hinter Büschen verborgen, dehnte absichtlich die Zeit bis zum endlichen Wiedersehen, genoß dieses Warten - Vorfreude, hatte die Gewißheit, war schließlich die schönste Freude - und gönnte sich Muße für Auge und Ohr. Weit und breit niemand. Bis auf den Kuckuck, der rief noch. Wie die anderen Vögel. Sollten sie balzen und lieben; der Mann hatte sehr viel Verständnis für sie Eine Wiese umrandete den Teich. Trauerweiden, alte Eichen und wucherndes Gebüsch grenzten sie ein, schienen die Absicht zu haben, sie zu verstecken und von Menschen nicht berühren zu lassen, standen gleichsam als Posten davor. Nur an einer einzigen Stelle war sie über den Pfad zu erreichen. Doch Antje könnte ihn dann schon von weitem bemerken und würde sich, verdreht wie sie war, fürs erste gewiß verstecken, einfach aus Schabernack. Das hätte ihm die Laune verdorben und ihn gleich in Verzug gebracht. Also ’runter vom Weg! Er zwängte den Rollstuhl zwischen Sträuchern hindurch. Zweige scharrten ihm übers Gesicht. Hier fuhr es sich schwer, die Reifen pflügten sich förmlich durch den Teppich aus vermodertem Laub. Trotzdem bemühte er sich, leise zu sein. Trockenen, am Boden liegenden Ästen, die unter den Rädern brechen und knacken könnten, wich er nach Möglichkeit aus. Endlich entdeckte er das Mädchen, keine zehn Meter von ihm entfernt. Es gestikulierte zum Wasser hin und erzählte etwas offensicht-
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lich sehr Geheimnisvolles. Wem aber, das war nicht zu erkennen. Wahrscheinlich den Kräuselwellen. Oder einem Dutzend Fröschen. Sich selbst wußte der Mann noch vor den Blicken des Kindes verborgen: Die tief herabhängenden Zweige einer Trauerweide tarnten ihn rundum ab. So hatte er Zeit, Antjes Bild in sich aufzunehmen, sich in Ruhe satt zu sehen an ihr. Zur roten Bluse trug sie einen knöchellangen schwarzen Rock. Verrückte Eltern! dachte er. Fehlt bloß noch, daß sie ihr Schuhe mit hohem Absatz besorgen. Nein, nein, nichts gegen die Eltern…. herrlich, wie sie das Mädchen kleiden, herrlicher geht es kaum… Höchstens noch Schuhe mit hohem Absatz, schön wär’s ja… Schuhe mit hohem Absatz… Dazu dieser kleine Schmollmund, dieses süße Gesicht… bei so langen Haaren, bis über die Schultern, bei so langen Fräulein-Röcken… Kann ich was dafür…? Ich kann nichts dafür…! Ich will… ich muß… noch nicht, nein, schönmachen muß ich mich erst für sie! Erregt zerrte er ein Tuch und einen kleinen Spiegel aus der Hosentasche, wischte sich den Schweiß von Stirn, Hals und Wangen, befeuchtete gleich darauf den linken Mittelfinger mit Speichel und zeichnete seine Brauen nach. Obwohl sich dort kaum etwas veränderte, benötigte er für diesen kosmetischen Akt Minuten. Die dunklen Brauen unter dem schütteren Kopfhaar waren ohne Zweifel sein Stolz, gewissermaßen sein Pfauenschwanz. Ein letzter Blick in den Spiegel, ein Zwinkern zu sich selbst: Gut so, das wäre geschafft. Behaglich lehnte er sich zurück und konzentrierte sich wieder auf Antje. Sie verbeugte sich vor ihrem unsichtbaren Publikum, raffte den Rock mit den Fingerspitzen, legte den Kopf nach hinten und schritt erhaben davon. Nach wenigen Schritten prustete sie los, krümmte sich, lachte. In ihrer Phantasie hatte sie fraglos irgendwem einen mächtigen Bären aufgebunden, und man war so dumm gewesen und hatte ihr alles geglaubt. Der Mann atmete in kurzen Stößen. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt, die Hände in Schulterhöhe, und seine kurzen, dickem Spargel sehr ähnlichen Finger krochen dort zitternd über den Stoff. Allmählich zog sich sein Mund zusammen, und die Lippen schoben sich vor, ganz allmählich. Plötzlich begann er eine Melodie zu pfei-
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fen, ein Kinderlied: »Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß…« Das konnte er gut, und das klang auch sehr gut hier im Park. Das mußte einfach gepfiffen werden, und es mußte vor einer Wiese geschehen, vor einem Teich und unter alten Bäumen hervor. Antje hatte sich durchaus nicht erschrocken. Freudig - überrascht war sie ein Stück zur Seite gelaufen, hatte bemerkt, daß dies die falsche Richtung war, die Melodie von woanders kam, war stehengeblieben und drehte nun suchend den Kopf. »Onkel!« rief sie. »Onkel, wo bist du…?« Jetzt hielt ihn nichts mehr. Er stieß mit dem Rollstuhl hinein in die Wand aus Weidengeäst, brach daraus hervor. Mit ausgebreiteten Armen lief ihm die Kleine entgegen, froh lachend: vom Kinn bis zur Stirn und von Ohr zu Ohr. Über die Seitenwand gebeugt, wollte er sie auffangen. Auf einmal, dicht vor ihm, stoppte sie ab. »Eigentlich bin ich böse auf dich«, sagte sie, »und zwar enorm grauenhaft!« »Warum?« fragte er und hatte gleich Angst. »Weil… weil… im Saziolismus kann man nämlich nicht Königin werden! Weil sie nicht genug Mägde haben und Knechte und Köche und Schmarutzer auch noch, die brauchen sie nämlich in der Fabrik! Der Saziolismus braucht enorm viel davon in der Fabrik. Hat mir ein Jungpionier erzählt, einer mit Halstuch, und so einem glaub’ ich das jedenfalls!« »Ja, und?« sagte er und begriff nichts. »Darum brauchst du auf mich doch nicht böse zu sein?« »Genau! Weil es nicht geht, daß ich Frau Königin heiße und ihre Kleider bekomme, wenn du erst mal entzaubert bist!« Sie grollte ihm sehr, ihre Augen funkelten. »Ach so…« Für eine Weile war er verwirrt und wußte ihr nichts zu antworten. In der Tat hatte er ihr erzählt, er wäre ein stattlicher junger König, von einem bösen Drachen verzaubert, häßlich gemacht und in diesen Rollstuhl verbannt. Allerdings habe es das Schicksal gefügt, daß er auf sie, auf Antje, getroffen sei. Ihr allein gelte nun seine Hoffnung. Wenn sie zu niemandem über ihn spräche und immer gut zu ihm wäre und lieb, dann würde die Macht des Drachens über ihn zerbrechen. Dann könnte er wieder
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König sein, jung und strahlend schön, und zum Lohn für ihr Schweigen würde er Antje zu seiner Gemahlin machen. Was warf sie ihm vor - sie selbst hatte ihn schließlich darauf gebracht! Ihr waren die Märchen doch wichtig, sie fing doch jedesmal davon an! »Na, was ist?« fragte sie fordernd. »Gar nichts!« sagte er hastig und wurde nervös: Am Ende hatte sie geredet, hatte von ihm erzählt…? Mit kurzen Blicken stocherte er zwischen Bäumen und Sträuchern herum. »Mein Königreich liegt hinter einer Menge Bergen, ganz woanders. In meinem Königreich ist der Saziolismus noch nicht!« Er machte eine Pause, schüttelte sich, als friere er plötzlich, und spielte den Traurigen: »Aber jetzt… es ist wohl zu spät, ich werde mein Königreich niemals mehr sehen und ewig im Rollstuhl bleiben.« »Warum?« sagte sie, und ihre Stimme kündigte Tränen an. »Weil du alles verraten hast, wie ich aussehe und daß du mich kennst…« »Gar nicht, Onkel«, sagte sie und lächelte wieder. »Nicht ein bißchen hab’ ich verraten. Eigentlich hab’ ich es mir gedacht, daß es dort liegt hinter den sieben Bergen, dein Königreich. Bestimmt das Land von Schneewittchen, ja?« »Genau!« sagte er und nickte entschieden. »Und wenn du sie triffst im gläsernen Sarg, ganz enorm scheintot und du als König, küßt du sie dann?« Verträumt kam sie näher und langte nach seiner Hand. »Vielleicht«, sagte er. »Wenn Schneewittchen aussieht wie du…?« Sie hielt ihm den Mund hin: »Küß mal!« Gleich riß sie sich los: »Ih, deine Zunge…!« Er schwieg und schluckte und schwieg. »Oder muß das so sein für Schneewittchen?« »Ich weiß nicht… Kann sein, es ist anders, wenn ich wieder ein König bin.« »Na gut«, sagte sie und sah das Problem als gelöst an. »Fährst du mich jetzt ein Stück?« »Natürlich. Außerdem hab’ ich ’ne Cola.« »’ne Pepsi? Gib!« Zärtlich umschloß er ihre ausgestreckte Hand. »Nachher, nachher.
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Zuerst muß ich dich bewundern, nicht wahr?« Behutsam hob er sie sich auf den Schoß. Vor Heiserkeit konnte er kaum sprechen. »Kleine, liebe Mädchen muß man immer zuerst bewundern.« Das Zittern seiner Hände nahm zu. So strich er ihr über den Kopf, die Schultern, über die Hüften und an den Schenkeln entlang. »Findste mich chic?« fragte sie und gefiel sich in ihrer Rolle. »Und wie!« sagte er. »Und wie!« Sein Mund war trocken. »Mutti sagt auch, ich bin enorm chic.« Antje erzählte im Plauderton. »Die andern Mädchen, die Kinder, sind alle Schnoddernasen gegen mich.« »Und dieser Rock, so ein herrlicher langer Rock… Oder schwitzt du darunter? Zeig mal, ich glaube, du schwitzt…« Nun stiegen seine fleischigen Hände an ihren nackten Beinen empor, verharrten unweit über den Knien. Auf einmal stöhnte er und hechelte. Die Hände drückten jetzt fester zu. Er keuchte. »Onkel!« rief Antje voll Mitleid. »Onkel, was ist dir? Onkel, bitte, warum ist dir schlecht?«
2 Die Wohnung befand sich zu ebener Erde. Auf dem Türschild stand: Berger. Kein Vorname. Ein Hoffnungsschimmer, immerhin: Was den Ehemann betraf. Geöffnet hatten der Kriminalistin Mutter und Tochter, beide blond, das gepflegte Haar lose über die Schultern fallend, beide in roter Bluse und knöchellangem schwarzem Rock. Beide sehr weiblich, auch schon das Kind. Ihre Gesichter sich ähnelnd wie die von Zwillingsschwestern. Und beide in vollendeter Körperhaltung, gerade so, als wären sie hier nicht im eigenen Flur, sondern in einem von Kronleuchtern erhellten Saal, Stehcocktail auf Parkett, Diplomatenempfang. »Bitte?« hatte die Mutter freundlich gefragt, interessiert keineswegs. »Oberleutnant Wall.« Sie hatte sich ausgewiesen. »Von der Kriminalpolizei.« »Ach, dieser Doktor!« Ein wenig belästigt, ein wenig amüsiert hatte Frau Berger geseufzt. »Mußte er Sie also verständigen, gewissenhaft wie er ist… Aber bitte, treten Sie ein.« »Das war seine Pflicht. Es wäre bereits Ihre Pflicht gewesen, unbe12
dingt.« Statt einer Antwort kniete sich die Mutter vor Antje hin und sagte zu ihr: »Da siehst du, was du angestellt hast. Sogar die Polizei haben wir jetzt auf dem Hals.« Die Kleine, durchaus nicht eingeschüchtert, warf einen eher geringschätzigen Blick nach oben und sagte: »Übrigens, wenn wir hier lange reden, ist der Tee enorm kalt.« Frau Berger erhob sich wieder. »Sie werden entschuldigen, Frau Oberleutnant… Ach, darf ich schlichter sagen: Frau Wall…? Danke. Sie müssen verzeih’n, wir sind gerade beim Abendbrot. Vielleicht essen Sie etwas mit? Oder wenigstens ein Glas Tee?« »Ich sage nicht nein - zum Tee.« »Gut, dann werden Sie in die Küche verfrachtet. Zu den Mahlzeiten sind wir immer nach dort verbannt, freiwillig. Außer Sonntags natürlich.« In der Küche saß eine - wie sich herausstellen sollte - Freundin Frau Bergers: Bubikopf, Brille, etwas salopp ihr Pullover, abgetragene Jeans. Die Freundin nickte und ließ es sich weiterhin schmecken, ganz wie daheim. Übrigens trug sie Hauspantöffelchen. Der Tisch, mit einem blau und weiß karierten Tuch überzogen, war reichlich und verlockend gedeckt: verschiedene Sorten Käse und Wurst, Fisch und Mayonnaisensalat, Tomaten, Zwiebeln, Weißbrot und Schwarzbrot, Pampelmusensaft, Tee und Milch. Bauernmöbel, unterschiedlich verziert, also zusammengetragen. Vor dem Fenster handgewebte blaue Leinengardinen; jedenfalls wirkten sie handgewebt. Hier steckte nicht nur Geschmack dahinter, vermutlich auch gutes Geld. Antje saß gerade, nur die Handkanten auf dem Tisch, aß mit Messer und Gabel, ganz wie die Erwachsenen. Einmal hatte Carla Wall sie gefragt, ob sie sich immer so gut benehme oder nur bei Besuch, und hatte lange auf Antwort warten müssen. Erst als der letzte Krümel heruntergeschluckt und das Mündchen mit einer Serviette abgetupft war, hatte das Kind ziemlich spitz gesagt: »Gewiß benehme ich mich immer so. Aber mit vollem Mund spricht man nicht.« »Natürlich nicht. Verzeih mir, ich war wohl sehr ungeschickt.« Die Kriminalistin wollte lachen, aber es gelang ihr nicht recht. Einerseits
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faszinierte die Kleine sie. So etwas von einer Dame en miniature hatte sie vorher noch nicht erlebt. Andererseits wirkten das Herausgeputzte, die altkluge Art - von der Mutter offenbar nicht nur geduldet, sondern gefördert - unnatürlich, geradezu provozierend. Dabei war sich Antje - im Moment wenigstens, der Appetit hatte Oberhand - ihres Aussehens gar nicht bewußt. Gewohnheitsmäßig bewegte sie sich, selbstverständlich dadurch. Und trotzdem, nein, deshalb besonders wirkte sie unnatürlich: Schließlich war sie ein Kind. Aber das war Sache der Eltern, wozu sich darüber den Kopf zerbrechen, nicht dieser Staffage wegen war die Polizei nun im Haus. Bisweilen, selten genug, sagte Frau Berger Allgemeines, ermunterte zuzulangen, blieb unverbindlich. Eindeutig war ihr nicht daran gelegen, während des Essens auf Unangenehmes zu sprechen zu kommen. Nun gut, Carla Wall konnte warten, mußte wieder mal warten lassen: die eigene Familie. Immerhin war die Kummer gewohnt. Mit Muttern. Ärgerlich war sie doch: Daß Kinder, weiß der Teufel, wie viele, größter Gefahr ausgesetzt waren, vielleicht noch heute und alles durch Antjes Schuld und die ihrer Eltern, nahm hier keinem das Gleichgewicht. Im Gegenteil, man machte in Eßkultur. Dennoch war es gut, sich zu beherrschen. Wollte sie von dem Mädchen etwas erfahren, so hatte sie auf es einzugehen, soviel war klar. Der Anruf war gegen Abend gekommen. Ein Dr. Peter Lehmann hatte gemeldet, eine kleine Patientin, Antje Berger, sechs Jahre alt, habe Medikamente, bedenklich viele, möglicherweise unter Altersgefährten in Umlauf gebracht. Nachdem die Mutter des Kindes festgestellt hatte, daß ihre Hausapotheke ausgeräumt war - über Jahre hatte sie Medikamente gehortet -, war ihr der Verdacht gekommen, Antje habe die Tabletten geschluckt, und sie war mit dem Mädchen zu ihm in die Praxis gekommen. Allerdings wäre das Kind so gesund und munter wie überhaupt möglich gewesen. Und es hätte zugegeben, die Medikamente entwendet zu haben. Wo sie jetzt aber wären, sei nicht zu erfahren gewesen. Die Kleine habe ihm lediglich ins Ohr geflüstert, die Tabletten und Tropfen wären für den verzauberten König, weil dem manchmal so schlecht werden würde. Gleich darauf habe sie geweint, mit den Füßen aufgestampft und behauptet, verraten
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hätte sie damit nichts. Er, Dr. Lehmann, mache sich ernsteste Sorgen und bitte die Polizei, sich der Sache anzunehmen. Wie die Erfahrung lehre, sei dies dringend erforderlich. O ja, die Erfahrung - der Arzt hatte recht. »Antje«, sagte die Kriminalistin, »eins muß ich gleich von dir wissen, da kann ich nicht warten: Hast du die Medikamente verschenkt - an Kinder? Sie würden krank davon werden, vielleicht sogar sterben.« Erneut tupfte sich das Mädchen den Mund erst mit der Serviette ab. »Längst hab’ ich das Mutti versprochen!« »Was?« »Daß ich so was nicht mache.« Und Frau Berger, nun ebenfalls eine Serviette benutzend, die Mahlzeit beendend, sagte mit leisem Unwillen: »Wir sollten ihr glauben. Das Wort eines Kindes von vornherein in Zweifel zu ziehen, muß es zwangsläufig zum Lügen verleiten. Es sagt dann bald einfach, um seine Ruhe zu haben -, was die Erwachsenen hören wollen, nicht das, was der Wahrheit entspricht.« »Aber die Kleine verschweigt doch, wo sie die Medikamente hat!« »Sie ist nun mal etwas… geheimnisvoll.« Die Mutter lächelte. »Mir muß es genügen, daß sie nichts Unrechtes damit angestellt hat. Oder anstellen wird. Hinzu kommt, das Zeug ist überlagert, Übriggebliebenes, vom Wert her bestimmt kein Verlust für uns.« Antje registrierte jedes Wort, gab sich als Partner des Gesprächs, nicht als Beschuldigte. »Vielleicht«, sagte sie, »bringe ich auch etwas zurück. Mal sehn, was ich brauche.« »Wozu brauchst du?« Carla Wall hätte sie jetzt gern durchgeschüttelt. »Begreife endlich: Die Tabletten sind Gift! Mit giftigen Sachen spielt man doch nicht!« Erstmals mischte sich die Freundin ein: »Spielen - in Antjes Fall ist dieser Begriff nicht treffend genug.« Sie sprach mit kleinem Mund, war wohl auch sonst bedacht darauf, intellektuell zu erscheinen. »Eher ergibt sie sich ihrer Phantasie. Klänge es nicht überdreht, ich müßte behaupten, sie ist die geborene Dichterin. Absolut ungewöhnlich. Wahrscheinlich hat sie ihr ›Diebesgut‹ vergraben und hofft nun, daß dort ein Gesundheitsbaum wachsen wird.«
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»Gesundheitsbaum!« echote Antje und kicherte. »Wachsen dort Gesundheiten dran? Wie Birnen und Pflaumen? Prima, die verkaufe ich dann, manche in Kisten und manche in Tüten. Bei unserm Gemüsehändler, nein, lieber woanders, lieber bei dem mit der Lederschürze, weißt, wen ich meine, Mutti, der mit der Lederschürze sieht enorm drollig aus!« »Falsch!« sagte Carla Wall und spielte mit. »Ein Gemüsehändler ist völlig falsch. Wenn am Gesundheitsbaum wirklich etwas wächst, ich sagte wenn, ein ganz großes Wenn, so muß man das in Apotheken verkaufen. In Apotheken und Drogerien.« »Na gut«, sagte Antje. Und: »Stimmt«, sagte sie. Und sagte gebannt: »Erzähl mir noch mehr!« »Später - eventuell. Vorher muß ich mich mit deiner Mutti unterhalten. Frau Berger…« »Gehn wir dazu ins Wohnzimmer, bitte.« Während des Weges dorthin sagte die Mutter: »Bei allem Respekt vor Ihrer Arbeit, ich finde, Sie bauschen hier etwas auf.« »Als Sie Antje in Verdacht hatten, zumindest einiges von den Medikamenten geschluckt zu haben, sind Sie mit ihr zum Arzt gefahren. Auf schnellstem Wege, wie ich vermute?« »Sicher.« »Anderen Eltern sind ihre Kinder ebenso wichtig.« »Was meinen Sie damit?« »Daß jeder ein Recht darauf hat, sein Kind in Sicherheit zu wissen.« »Ich sagte bereits, Antje gab mir ihr Ehrenwort. Wenn sie das tut… jedenfalls hat sie mich noch nie enttäuscht.« Sinnlos, darauf zu antworten, sich im Kreis zu bewegen; die Kriminalistin hob skeptisch die Brauen an. »Also schön denn: Fragen Sie.« Wie großzügig von Frau Berger: Sie gewährte der Polizei sozusagen ein Interview. In weichen Sesseln nahmen sie Platz, selbstredend auch Antje. Sie stützte das Kinn in die Hand, wirkte dabei nicht hingefläzt, war vielmehr »Dame mit höflichem Interesse«, erwartete offensichtlich gepflegte Konversation. Abseits, im Fernsehsessel, machte es sich die
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Freundin der Mutter bequem, auf den angewinkelten Knien ein Buch - Kazimierz Brandys’ »Briefe an Frau Z.«: die geistvolle Schrift zum blasierten Gesicht! Carla Wall ertappte sich dabei, nicht gerade Freundliches über diese Frau zu denken. Woher das Vorurteil? Nein, es war schon Gehässigkeit… Das Zimmer selbst war betont weiblich ausgestaltet: viele kleine Gefäße und Vasen, zwei Strohblumenkränze, anheimelnde Deckchen und Kissen, in der Bücherwand Trachtenpuppen, sie dominierend, babygroße und winzige, ansonsten noch Bilder und Bilderchen, das Originellste daran mitunter die Rahmen, und über der Couch ein farbiger Poster, aufgeblockt, schön: Er zeigte zwei junge, sehr gut aussehende Frauen, beide in langen Röcken, die eine blond, die andere schwarz. Knieend die Blonde. Sie umschlang die Beine der Freundin und drückte den Kopf - schläfenwärts - an deren Schoß. Die Schwarze hatte den Blick wehmütig in die Ferne gerichtet. Ihr Oberkörper war nackt und braun, und ihr Busen schien noch hier auf dem Foto vom Atem bewegt. Im Hintergrund roter Samt. Seitlich davor zwei Leuchter, fünfarmig, mit brennenden Kerzen. »Frau Berger«, sagte die Kriminalistin, »erinnern Sie sich an Art und Umfang der Ihnen fehlenden Arzneien?« Sie zuckte mit den Schultern. Was ihr schließlich nach und nach einfiel - alles etwas widerwillig aufgezählt - war beängstigend genug: Neben relativ harmlosen Mitteln - aber wirklich nur relativ - nannte sie Copyrkal und Titretta, also, in Überdosis genommen, äußerst gefährliche Schmerztabletten, dazu Faustan und Aponeuron, so ziemlich gegensätzlich wirkende Psycho-Pharmaka, Salben und Augentropfen »und irgend etwas mit Penicillin, gegen Angina hatte ich das… ich weiß nicht genau, ist schon zu lange her. Ach ja, und dann diese Verhütungsdinger, wie heißen sie bloß…?« »Ovosiston.« »Richtig, Ovosiston.« Plötzlich beugte sich die Freundin aus ihrem Fernsehsessel. »Du nimmst die Pille?« fragte sie überrumpelnd und auch ein wenig selber entsetzt. Für einen Moment war Frau Berger verwirrt und wurde sogar rot.
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»Wieso…«, sagte sie. »Ach, Unsinn. Vor zwei, drei Jahren zum letzten Mal.« Den nächsten Satz, ihrer Freundin entgegengebeugt, sagte sie beteuernd und zugleich aggressiv: »Das Zeug war liegengeblieben! Was du immer denkst! Schlicht und einfach liegengeblieben…« »Ist ja gut«, sagte die Freundin gereizt. »Ich versteh’ gar nicht, warum du dich aufregst.« Sie zog die Brauen hoch, schüttelte den Kopf, tat pikiert über soviel unkontrollierte Emotionen und vertiefte sich erneut in ihr kluges Buch. Über Sekunden trat eine peinliche Stille ein. Endlich gelang Frau Berger ein Lächeln, ein bißchen verkrampft. »Sie müssen entschuldigen«, sagte sie, »meine Freundin ist gegen Chemie, gegen Medikamente jeder Art. Sie schwört darauf, in erster Linie schadeten die dem Teint, und überhaupt wären sie gegen die Natur.« »Ich verstehe«, sagte Carla Wall. Und hatte tatsächlich verstanden. Nun, das ging sie nichts an. Trotzdem fragte sie, und natürlich war es nicht fair und hatte kaum mit ihrer Aufgabe hier zu tun, fragte neugierig oder auch boshaft: »Ihr Mann weiß von der TablettenGeschichte?« »Mein Mann ist seit Wochen im Ausland. Er ist Dirigent. Meistens ist er im Ausland. Oder er schwirrt in der Republik herum, bald in dieser Stadt, bald in jener.« Sie fand zu ihrer gelösten Haltung zurück, war wieder Dame im Plauderton. »Ganz wie ein Schmetterling, von Blüte zu Blüte…« »Ja, natürlich«. »Wieso natürlich?« »Bitte? Nun ja, weil er nicht hier ist. Viele Städte - viele Blüten, nicht wahr? Das dauert dann schon.« Wenn es gewünscht war, neckisch zu sein, konnte dies auch die Kriminalpolizei. »Sie sind charmant«, sagte Frau Berger, und ihr Blick verriet aufrichtige Bewunderung. »Danke«, sagte Carla Wall und freute sich. Tat es um so mehr, als sie den Seitenblick jener Freundin aus dem Fernsehsessel spürte. Charmant wollte sie sein, und wenn es ihr Mann nicht bald wieder an ihr bemerken sollte, laut und vernehmlich, so würde sie ihm die Schwenkkartoffeln versalzen. Oder das Rührei mit Bohnerwachs braten, mit farblosem, ätsch: Verzeih mir, Liebling, es sah so aus wie
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das Griebenschmalz. Mit dreißig Jahren durfte das jeder Frau noch passieren. Jeder, die von sich wußte, daß sie reizvoll und besser als die anderen war. Auch in der Liebe, na aber, auch im dreimal gesegneten Bett. Doch, sie wäre jetzt gern bei ihrem Mann gewesen. Beim Mann und bei den zwei Kindern. Da hat man’s, eine Rabenmutter bin ich. »Leider muß ich auch unbequem sein«, sagte sie und war nun entschlossen, mit ihrer Zeit zu geizen. »Vor allem brauche ich Ihre Hilfe, Frau Berger. Sollte doch etwas passieren - das auszuschließen wäre sträflicher Leichtsinn -, müßten wir Sie andernfalls dafür belangen. Dem Tatbestand nach wäre es Vernachlässigung der Aufsichtspflicht.« »Ich bitte Sie…! Welche Mutter hätte wohl Zeit, alle paar Minuten in Kästchen und Fächern nachzusehen, ob irgend etwas verschwunden ist! Wir haben als Kinder mal dieses oder jenes gemaust. Es sollte mich wundern, wenn es bei Ihnen anders gewesen wäre.« »Darum geht es gar nicht. Niemand hat seine Augen zu jeder Zeit überall. Obwohl es, verzeihen Sie - eine Unsitte ist, Arzneien zu horten. Da das Zeug nun aber weg ist, ist es unsere dringende Pflicht, Ihre und meine, herauszufinden, was daraus geworden ist. Wer es jetzt hat. Wer es morgen haben könnte. Ich bedaure es, aber… ich habe nicht den Eindruck, als bemühten Sie sich sehr, von Antje die Wahrheit zu erfahren.« Die Freundin räusperte sich vernehmlich. Für einen Moment schien es dann auch, als würde sich Frau Berger empören wollen; ihr Mund wurde schmal und hart. Plötzlich holte sie die Tochter vom Sessel, stellte sie unsanft vor sich hin, umklammerte sie bei den Oberarmen und sagte eindringlich: »Kind, sei vernünftig! Du verdirbst uns noch allen den Abend! Wo sind die Tabletten? So sprich doch!« Das Mädchen machte sich steif. Langsam drehte es den Kopf zur Kriminalistin hin, hatte bereits Tränen in den Augen, blickte zurück auf die Mutter und weinte nun laut. »Da haben Sie’s!« sagte die Mutter verärgert, pustete entnervt und warf sich zurück. Laut klappte die Freundin ihr Buch zu. »Vielleicht solltest du Antje foltern, wär’ das nicht was? Ein Geständnis abpressen - oder wie denkst du darüber? Mein Gott, wie kann man bloß so unsensibel
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sein! Von Verantwortungsbewußtsein reden, aber die kindliche Psyche vergewaltigen wollen…! Komm her, mein Kleines, komm zu Tante Anna-Maria.« Natürlich hatte sie diese Rede nur formal an Frau Berger gerichtet, der Inhalt galt Carla Wall. Die zog es vor, die Unverschämtheit zu schlucken: ihrer Aufgabe zuliebe. Blöde Kuh! dachte sie und tat, als hätte sie nichts gehört. Antje entzog sich der »Tante Anna-Maria« - das war wirklich sympathisch an ihr -, schnupfte noch etwas und kletterte in den Sessel zurück. Harrte dort aus. »Wie viele Puppen du hast!« sagte die Kriminalistin - um einen neuen Anlauf für das Gespräch bemüht - und trat vor die Bücherwand. »Du liebe Güte, eine schöner als die andere! Na, manche sehn tüchtig frech aus. Bestimmt haben sie Spitznamen, ja? Meine hatten meist welche: Purzel und Schmutzfink und Unikum…« »Unikum«, sagte Antje und wurde wieder lebendig, »das ist was zum Lachen, nicht?« »Und wie zum Lachen, stundenlang!« Das Mädchen lachte. »Unikum…! Bei mir heißt eine Ostfriese, weil die immer keine Witze behält. Und weil sie dauernd ’ne Beule hat, am Hinterkopf vom Klosettdeckel, wenn sie sich nämlich die Zähne putzt.« »Ooch, pfui…« »Wirklich. Willst du sie sehn? Das hier sind gar nicht meine, sind Muttis, bloß so zum Angucken sind die. Ich hab’ noch enorm viel mehr als Mutti. Was ist nun, willst du sie sehn?« »Unbedingt! O weia, jetzt bin ich aber gespannt!« Aller Schmerz war vergessen. Fröhlich zerrte sie Carla Wall am Ärmel, nahm sie mit ins Kinderzimmer, verschleppte sie regelrecht. Wahrhaftig, hier türmten sich Puppen und anderes Spielzeug: ein Paradies für kleine Menschen, etwa zehn Quadratmeter groß. Das Mädchen hüpfte begeistert, zappelte, jauchzte, war hingerissen vom Ach! und Oh! seiner verblüfften Besucherin. »Und erst mal die Bücher und Platten, lauter Märchen. Alles meine! Hat mir alle Vati geschenkt!« »Was - kannst du etwa schon lesen?« »Manchmal liest mir Mutti eins vor, wenn ich mich nicht schmut-
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zig gemacht hab’ beim Spielen. Aber meistens Vati, wenn er manchmal zu Hause ist.« Und unverhofft flehend sagte sie: »Bitte, bleib eine Weile bei mir, in meinem Zimmer!« »Ja, wenn du mich so herzlich einlädst…?« »Ganz enorm herzlich!« Selbstvergessen bohrte sie in der Nase herum, und ihre Augen waren zwei Bettler, unmöglich abzuschütteln. Eine verwandelte Antje, nun durch und durch Kind. Da kniete sich die Kriminalistin vor ihr hin und nahm sie in die Arme. »Ach, du bist mir schon eine…!« Die Kleine erwiderte ihre Zärtlichkeit, umschlang mit beiden Ärmchen ihren Hals und drückte, so fest es ihr möglich war. Danach räumte sie geschäftig farbige Kreide und eine bemalte Schiefertafel vom einzigen Stuhl im Zimmer. »Jetzt bleibst du, nicht wahr, jetzt setzt du dich hin?« »Gar keine Frage, wo es so enorm unwahrscheinlich gemütlich bei dir ist!« Antje setzte sich ihr gegenüber auf eine Liege, ihre Schlafgelegenheit. Kopfkissen und umgeschlagenes Federbett hatten einen geblümten Bezug. Sie faltete die Hände und hielt sie sanftmütig im Schoß. »Wie heißt’n du sonst noch?« »Carla.« »Gut, ich sag’ Carla - obwohl Carlinchen noch besser war’!« »Laß man, es langt, wenn du Carla sagst.« Gerade weil das Kind so ernst blieb, verschluckte sie sich beinah an ihrem Lachen. »Denn Tante«, erklärte Antje, »sage ich nur bei welchen mit Brille. Die sind dann immer so langweilig, und beim Reden spucken sie wie Tante Anna-Maria.« »Nö, alle mit Brille bestimmt nicht.« »Die spuckt ja für drei!« Für diesen Satz hatte sie einen Schmatz verdient. Bekam ihn auch prompt. »Und jetzt erzähl’n wir uns Märchen«, sagte Antje, als verkündete sie einen Beschluß. »Carla, du mußt zuerst.« »Nein, du! Weil nämlich… so viele Märchenbücher wie du hab’ ich nie im Leben gehabt.« »Aber dann mußt du sagen, was ich erzählen soll.«
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»Rotkäppchen und der Wolf.« »Ein Baby-Märchen.« »Prinzessin auf der Erbse.« »Die kann ich nicht leiden.« »Der Arme und der Reiche.« »Das mit der roten Grütze jeden Tag? Eigentlich bin ich satt.« Sie jubilierte über ihre klugen Absagen, zog sich unversehens die Schuhe aus und benutzte, deren Sohlen zum Klatschen. Großer Lärm war offensichtlich eine große Sache für sie. »Hans im Glück.« »Ach, den weiß ich nicht richtig… Frag mich doch mal, ob ich vielleicht Schneewittchen kann! Schneewittchen bei den sieben Zwergen!« »Ja, also, mir fällt überhaupt nichts mehr ein… Bloß eins. Aber das ist wahrscheinlich zu schwer für dich, hast es vielleicht noch gar nicht gehört. Oder solltest du… nein, nein, unmöglich… Macht nichts, ich frage dich trotzdem: Kennst du das Märchen, wo die böse Königin immer sagt: Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« »Schneewittchen! Schneewittchen!« Sie warf sich zurück in die Kissen, strampelte, jauchzte, war nichts als vierzig Pfund Glück. »Und wie enorm ich das kenne! Hahaha, das hast du bestimmt nicht gedacht!« Minuten darauf war sie schon mitten im Märchen, erzählte es Zeile für Zeile, nein, sie machte ein Schauspiel daraus. Hinreißend war sie, hier paßte das Wort. So war es nur logisch und konsequent, daß sie bald die Rollen verteilte: Sie selbst blieb Schneewittchen, und Carla hatte siebenmal Zwerg, sorgenvoll und zärtlich (Antjes Regieanweisungen ließen nie auf sich warten) und zwischendurch mordgierige, schmierig-freundliche Königin zu sein. Schon hatte Schneewittchen vom giftigen Apfel gegessen, lag scheintot im gläsernen Sarg. Großes Hallali bliesen nun Jäger. Und siehe, der rettende Prinz war da. Antje legte sich hin, verschränkte die Arme unter dem Kopf. »Carla, du mußt mich lebendig küssen.« Erwartend die Augen geschlossen, lag sie und hielt den Atem an. Nicht doch, nein, dachte die Kriminalistin und war entsetzt. Jetzt ist sie wieder die Dame en miniatu-
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re. So soll, so darf sie nicht sein! Um dem Kind das Spiel nicht zu verderben, drückte sie ihm ein Puppengesicht auf den halb geöffneten, feucht schimmernden Mund. Doch gut, nun wurde die Hochzeit gefeiert, Prinz und Schneewittchen, und die Hochzeit war wieder absolut kindlich, und Carla Wall beruhigte sich. »Bleib noch!« sagte Antje. »Bitte, bitte, geh noch nicht weg!« Merkwürdig, wie sehr das Mädchen Menschen brauchte, die ihm zuhören konnten. Ob es wirklich so einsam war, so sehr sich selbst überlassen? Aus dem Wohnzimmer drang bisweilen Lachen herüber, verrührt mit Schlagermusik. »Natürlich bleibe ich. Ich hab’ nur ein schlechtes Gewissen vor dir: Jetzt bin ich nämlich dran mit Erzählen. Und jenes Märchen… es war enorm, enorm geheimnisvoll… ich glaub’, ich hab’ das meiste davon vergessen… Was ich noch weiß… warte mal… Also da war ein verzauberter König… andererseits, man durfte zu niemandem darüber sprechen… Und dann gab es Tage, da wurde ihm immer so schlecht… Nein, ich krieg’ es doch nicht zusammen, es hat keinen Sinn…« Verzagt nahm sie die Fingerspitzen in den Mund. Antje musterte sie eine Weile, rätselnd, ernst. »Das ist schon ein richtiges Märchen?« fragte sie endlich. »Und was für eins! Wenn ich mich nur erinnern könnte…!« Abermals eine Pause. Dann sagte das Kind: »Wenn man ein Märchen erzählt, das ist nicht richtig über jemanden geredet?« »Über einen Menschen geredet? Du liebe Güte, als hätte der Mond mit der Sonne zu tun, sagen wir, mittags um zwei! Ein Märchen ist die Sonne, und ein Mensch ist der Mond. Oder umgekehrt. Sind sie etwa beide zu gleicher Zeit am Himmel?« Selbstverständlich - besonders an Wintertagen; hoffentlich wußte die Kleine das nicht. »Ein Märchen ist ein Märchen, da hast du mein Ehrenwort.« »Hm…«, machte Antje und sagte: »Weil ich nämlich auch bloß ein Märchen weiß über den verzauberten König… nicht richtig über einen Mann, nur so ein Märchen…« »Ob es am Ende dasselbe ist…? Du, jetzt bin ich gespannt wie ein Flitzbogen!«
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Das Mädchen seufzte, gab sich wohl einen inneren Ruck. Andächtig lauschte es den eigenen Worten: »Am Anfang die Personen, drei sind es. Wobei man den elendigen Drachen nicht zu sehen bekommt, den blöden, aber der ist die dritte Person. Und dann ein enorm schickes Kind, ich glaube, ein Mädchen, ungefähr paar Wochen weniger alt als ich. Zum Schluß noch der König. Aber wo sie sich treffen, war er schon lange verzaubert. Da mußte er im Rollstuhl fahren, und zwar gelähmt, und dick und schwabblig sah er aus. Bloß das Mädchen wußte natürlich Bescheid, daß er in Wahrheit von edlem Antlitz und enorm poppig war.« Sie erzählte lange und ausschweifend, ohne ihrer Geschichte einen Zusammenhang, ein tragendes Gerippe geben zu können, da und dort tauchten Elemente aus tatsächlich existierenden Märchen auf, und vieles war so wirklichkeitsfremd, so phantastisch und unverfroren, daß es schwerlich in einem anderen Kopf ausgebrütet worden sein konnte als in ihrem eigenen. Im Moment des Sprechens erfand sie es. Zuletzt sagte sie: »Jedenfalls… wenn er das Mädchen dann in den Armen hatte und die Beine streichelte und den Körper und das Gesicht - das Mädchen konnte ihn ja nur erlösen, nicht wahr -, dann spürte er die Macht des bösen Drachens in seinem Körper und wie der sich wehrte, der Drachen, verstehst du, und wie er um sich schlug, ganz wild und mit Feuerstößen, bis dem verzauberten König schlecht davon wurde, und zwar enorm unheimlich schlecht.« Vor Mitleid zitterte ihre Stimme, in ihre Augen kam Tränenglanz. Carla Wall war bestürzt. Sollte es möglich sein, daß…? Sie hatte Angst um das Kind, mütterliche Angst. Der Rollstuhl, der dicke, häßliche Mann darin, das alles war viel zu real, durchaus nicht der Märchenwelt entlehnt. Dazu die Medikamente… Gegenständliches konnte nur für wiederum Gegenständliches sein. Eine nur in der Phantasie existierende Figur ließ sich nicht füttern, nicht verarzten wie… eine Puppe oder ein aus den Nähten platzender Teddybär. Worauf hatte sich Antje eingelassen…! Nein, mit dieser Spur hatte die Kriminalistin nicht gerechnet. Trotz aller Scheußlichkeiten, mit denen sie in ihrem Beruf konfrontiert wurde, waren Delikte dieser Art bis heute das Widerwärtigste, das Schockierendste für sie. Wenn sich auch nur
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ein Teil ihrer Vermutungen bestätigen sollte, so blieb es ein Glück, daß dem Mädchen bisher nichts Ernstliches zugestoßen war. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Ein falsches Wort, und das Kind würde sich ihr verschließen, würde mißtrauisch werden, sich verraten fühlen. Nicht auszudenken die Gefahr, die ihm daraus erwachsen könnte! »Carla, war es dein Märchen? Oder wie findest du es?« »Schrecklich.« »Ja, schrecklich ist es.« »Mein Märchen ist aber so ähnlich, nur der Schluß ist anders, jetzt fällt er mir wieder ein.« »Bitte, erzähl ihn!« »Ich weiß nicht - er ist ziemlich traurig und gruselig dazu. Versprich mir, daß du tapfer sein wirst und nicht ein bißchen weinen.« Sofort hob Antje die Hand zum Schwur. »Also: Das Mädchen hatte ein sehr gutes Herz, und es tat ihm selbst am meisten weh, wenn sich der Mann im Rollstuhl quälte. Die Macht des Drachens in dessen Körper wurde immer gefährlicher. Manchmal weinte das Mädchen vor Mitleid, und in den Nächten träumte es von dem Mann und daß er schon richtig krank geworden war von seinen Schmerzen. Ich muß ihm helfen, dachte es von früh bis spät, ich muß ihm unbedingt helfen! Und eines Tages hatte es eine Idee: Es ging in eine Apotheke und kaufte Pflaster und Verbandzeug und vielerlei Tropfen und Pillen. Rote waren dabei und grüne und weiße, und wenn es mit der Zunge dagegen kam, schmeckten sie bitter. Fast alle Leute nahmen solche Pillen, wenn sie eine Krankheit hatten. Zwei- oder dreimal hatte das Mädchen selbst schon welche geschluckt!« »Noch öfter!« unterbrach sie Antje. »Ich denke, daß es noch öfter war!« »Richtig. Ein paarmal bei Fieber… und sogar bei einer Ohrenentzündung…?« Kein Widerspruch, statt dessen nickte Antje energisch. »Und stets war das Mädchen gesund geworden. Das mußte auch so sein, denn es gab eine Menge Menschen, die hatten es sehr lieb, besonders sein Vati. Doch nun sollten die Pillen dem Mann im Rollstuhl helfen.
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Leider wußte die Kleine nicht, daß die Idee dazu vom Drachen stammte. Als es schlief, war er bei ihr gewesen und hatte ihr seinen teuflischen Plan beschwörend ins Ohr geflüstert. Denn die Macht des Drachens war ja das Kranke im Mann, und für sie sollten die Pillen sein, damit sie sich wieder erholte, stärker und stärker wurde und für alle Zeiten Gewalt über den Mann im Rollstuhl bekam. Das Mädchen aber wollte sein Bestes. So ging es hin zu ihm und gab ihm alles, was es in der Apotheke erstanden hatte. Der Mann freute sich sehr, und er streichelte das Kind und nahm es wieder fest in seine Arme. Nach einer Weile wirkten die Pillen. Und das bedeutete, die Macht des Drachens über ihn war jetzt kräftiger als jemals zuvor. Unbesiegbar war sie geworden. Auch das Mädchen würde niemals mehr etwas gegen sie ausrichten können. Der Mann merkte das zu spät. Da überkam ihn eine große Verzweiflung, weil er nun ewig im Rollstuhl würde bleiben müssen, ewig und immer. Und plötzlich kam ihm ein furchtbarer Verdacht: Wie, wenn ihn das Mädchen absichtlich hereingelegt hatte…? Natürlich hatte sie! Sie und nur sie war die Schuldige! Vor Kummer und Zorn konnte er nicht mehr klar denken. In einem grausigen Anfall packte er das Kind bei den Haaren, riß und zerrte an seinen Kleidern und schlug und schlug und schlug auf es ein. Wenn es an jenem Tag gerettet wurde, so lag es nur daran, weil es dem tobenden Mann aus seinem vom Schweiß glitschigen Händen rutschte und über die Seitenwand des Rollstuhls in den Staub des Weges fiel. Der Mann selbst stöhnte und brüllte noch etwas, wurde dann stiller und stiller, seufzte noch einmal und erstarrte zu grauem Stein.« Auch Antje saß wie zu Stein erstarrt. Mehrmals schluckte sie. Unverwandt ruhten ihre Augen auf Carlas Gesicht. Schließlich erhob sie sich, ging schlafwandlerisch zu einer Truhe in einer Ecke des Zimmers und holte eine mit schreiend bunten Lackbildern beklebte Zigarrenkiste hervor. Die reichte sie ihrer neuen Freundin, gedanklich noch immer abwesend, setzte sich abermals auf die Liege und faltete die Händchen im Schoß. Ihre Erschütterung rührte zweifellos von der Vorstellung her, ihren verzauberten König um Haaresbreite ins gräßliche Verderben gestürzt zu haben. Doch wie versprochen, hielt sie
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sich tapfer, weinte tatsächlich nicht. Carla Wall warf nur einen flüchtigen Blick auf die Kiste, hätte es eigentlich nicht müssen, hatte auch so über den Inhalt Bescheid gewußt und schüttelte die Medikamente fast achtlos in ihre Tasche. Kein Wort darüber. Kein »Danke« und auch kein »Na siehst du, warum denn nicht gleich…!« Dann wartete sie und lächelte liebevoll über diesen kleinen Menschen ihr gegenüber. Weit mehr, als es ihre berufliche Pflicht war, empfand sie Sympathie für das Kind. Später kniete sie sich vor Antje hin und stupste sie mit der Nase an. »Hallo - hier möchte sich jemand gern unterhalten… Warum denn so traurig, hm? Schließlich ist nichts passiert. Was ich erzählt hab’, es war nur der Schluß eines Märchens, überhaupt keine Wirklichkeit.« Hoffnungsvoll hob das Mädchen den Kopf: »Nein, es ist nichts passiert, nicht?« »Kein Stück. Wir alle sind quicklebendig, auch der im Rollstuhl.« Sie kitzelte Antje, brachte sie zum Lachen und tobte eine Weile mit ihr. Zwischendurch sagte sie: »Obwohl, wie er aussieht, wie du ihn dir vorstellst, den mit der Macht des Drachens in sich, wissen möcht’ ich es schon. Wenn du ihn aufmalen könntest, hier auf der Schiefertafel? Mit der schönen farbigen Kreide… wo ist sie nur, vorhin hab’ ich sie noch gesehn… Ach, hier. Aber vielleicht macht es dir keinen Spaß zu malen? Manch einer hat einfach kein Geschick dafür.« Oh, da täuschte sie sich in Antje gewaltig! Augenblicklich brannte die darauf, zu zeigen, was in ihr steckte. Der Rollstuhl gelang ihr gut. Zu gut und zu genau, um noch Hoffnungen zuzulassen. Der Fahrer dagegen geriet ihr nicht nur unförmig, sondern bedeutend zu groß. »Huch«, sagte Carla, »der stößt ja mit dem Kopf in die Wolken.« Und Antje sagte überzeugt: »Manchmal pflückt er sie auch und schenkt mir ein paar.« Daß sie nicht mehr von einem fremden Mädchen, statt dessen von sich sprach, fiel ihr nicht auf. »Wolken pflücken! Das flunkerst du jetzt.« »Wetten, daß nicht?« Kühn, wie sie war, hielt sie sofort ihre Hand hin. »Na, besser nicht. Erzähl mir lieber, wie alt er ist.« »Enorm alt ist er schon ziemlich. Wie du ungefähr.« »Du, ich bin dreißig!«
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»Ja, so enorm alt.« Carla seufzte. »Komplimente machst du richtig erbaulich… Und groß ist er, ja?« »Er kann sogar Elefanten hochheben,« »Hat er gesagt?« »Nein, hab’ ich gesehen.« Antje nickte entschieden ein um das andere Mal. »Und wann du ihn immer getroffen hast, weißt du das auch?« »Wie - wann?« »Ich meine, an bestimmten Tagen?« Die Kleine lachte hell auf, weil Carla so mächtig unwissend war. »Das geht doch gar nicht. Verzauberte Leute, die sind immer ganz plötzlich da. Nie weiß man, woher. Es rauscht und zischt, manchmal auch Blitze, die Erde öffnet sich, und gleich erscheinen sie dir, wie enorm vom Himmel gefallen.« »Ah, ich begreife…. sie treten aus Dampf und Nebel hervor. Und wo, an welchen Orten geschieht das? Etwa in dieser Straße, mitten im Berufsverkehr?« »Gar nicht. Im Stadtpark geschieht es. Und dort geschieht es verwunderlich.« Sie gähnte. »Heiliger Strohsack!« sagte Carla nach einem Blick auf die Uhr. »Neun Uhr durch, und du liegst noch nicht im Bett.« Sie nahm ihre Tasche. »Ooch, bleib doch noch, bitte!« Antje umklammerte sie. »Andermal. Heut muß ich nach Hause. Weißt du, ich hab’ einen Mann, und der wartet auf mich, und zwei Kinder habe ich auch, ein Mädchen und einen Jungen, beide ein bißchen jünger als du.« »Dann schlafen sie längst!« »Hoffentlich. Also besser, ich überzeuge mich davon.« »Ooch…«, machte Antje und zog einen Flunsch. Dafür bekam sie einen freundschaftlichen Klaps. »Nichts mit ›Ooch…‹! Ab trimo in die Federn! Vorher waschen, Zähnchen putzen. Inzwischen sag’ ich deiner Mutti auf Wiedersehn. Und dir verspreche ich… Ja, vielleicht hole ich dich schon morgen vormittag ab. Zum Spazierengehen, im Stadtpark. Weil es dort so Verwunderliches gibt… für Verwunderli-
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ches interessiere ich mich enorm.« Als Antwort streckte Antje die Ärmchen nach oben und gab ihr einen schmatzenden Kuß. Im Wohnzimmer lief ein Tonband; ein Sänger erging sich in der sinnigen Lebenserfahrung, daß Tränen nicht lügen würden. Carla Wall hatte den Eindruck, diesen Schlager während der vergangenen Stunde schon zweimal durch die Wand gehört zu haben. Frau Berger und ihre Freundin befanden sich nun beide auf der Couch, die Beine angewinkelt, die Füße auf der Sitzfläche. Auf dem Tisch zwei Gläser und eine beinah geleerte Rotweinflasche: »Rosenthaler Kadarka«, selten zu kriegen, nicht schlecht. Die Gesichter der Frauen ließen auf Wohligkeit schließen, Besorgnis verrieten sie nicht. Dennoch erhob sich die Mutter des Kindes und sagte höflich-bedauernd: »Nun, hat Antje Sie mit ihren Geschichten traktiert? Wer ihr Zimmer betritt, ist ihr Gefangener. Rette sich dann, wer kann.« »Man muß sie gern haben«, sagte die Kriminalistin, und es hörte sich abweisend an. Die Kühle in ihrer Stimme überraschte sie selbst. »Frau Berger, ich möchte sie gern noch für drei Minuten sprechen unter vier Augen, falls Ihnen das möglich ist.« »Gewiß, warum nicht«, sagte die Mutter, und sie rückte einen Sessel zurecht und hielt sechs Augen wahrscheinlich für vier. So blieb Carla Wall denn stehen, sagte nichts mehr und wartete vorerst ab. Endlich erhob sich die Freundin, tat es geräuschvoll und griente verächtlich. »Schon gut, schon gut«, sagte sie, und ihr Mund war beim Sprechen kleiner als jemals zuvor. Blöde Kuh! dachte die Kriminalistin erneut und spürte Genugtuung, als die beleidigte Kuh mit der Zimmertür warf. »Sie haben etwas erreicht?« fragte Frau Berger. »Wie…? Ach, die Tabletten, ja, das geht in Ordnung. Antje hat mir die Wahrheit gesagt.« Sie machte eine Pause und überlegte, wie sie der Mutter die härtere Wahrheit beibringen sollte. Aber nein, Zartgefühl richtete hier nichts aus. Diese Frau mußte mit der Nase auf das mögliche Unglück gestoßen werden, wirklich gestoßen, sonst rückte doch nichts vor in ihren Kopf außer Modebewußtsein und gängiger Unterhaltungsmusik. So sagte Carla Wall unbeschönigt, in wenigen Sätzen,
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was letztlich nicht zu beschönigen war. »Mein Gott«, sagte Frau Berger schließlich. Und dann noch einmal: »Mein Gott…« Sie drückte den Daumen gegen die langen, lackierten Fingernägel der anderen Hand, und einer davon splitterte weg. Das merkte sie nicht, jedenfalls nahm sie im Augenblick keine Notiz davon. »Was soll denn nun werden…? Ich kann sie doch nicht anbinden hier zu Haus…« »Das ist auch nicht nötig«, sagte die Kriminalistin und konnte ihr Mitgefühl nicht mehr verbergen. »Wichtig, Sie behalten sie im Auge. Oder Sie wissen, bei wem sie ist. Auch wir werden sie beobachten.« Eine Zeitlang hing die Mutter ihren Gedanken nach. Auf einmal lächelte sie abwehrend und schüttelte den Kopf: »Ich kann es nicht glauben… Antje ist so selbständig, die traut sich alles, aber auch alles… So leicht macht der keiner was vor, die würde es merken. Außerdem, ich hab’ mal gelesen… Verbrecher, wie Sie meinen, die suchen sich hilflose Kinder, schüchterne… Nein, nein, meine Tochter ist dafür ganz und gar nicht der Typ.« Schon hatte sie ihre Überlegenheit zurückgewonnen, lachte sogar. »Mit Sicherheit hat sie Ihnen ein Märchen erzählt; Sie kennen sie eben nicht!« Bevor Carla Wall noch antworten konnte, betrat Antje das Zimmer. Sie trug ein sehr durchsichtiges Flatterhemdchen und die passenden Höschen dazu. Gleich fragte sie: »Bist du wirklich von der Polizei?« Dieser Gedanke mußte sie während des Waschens beschäftigt haben. »Ja«, sagte Carla. Sie beugte sich zu ihr herab. »Und außerdem bin ich deine Freundin, ganz ehrlich und ganz enorm.«
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Den Dienstwagen, einen Shiguli 2103 - andernorts auch Lada genannt -, hatten sie am Straßenrand abgestellt: Der Stadtpark war Fußgängerzone, im Normalfall genauso für die Polizei wie für jeden anderen Bürger. Manchmal schwappte Motorenlärm über die Bäume, sackte über den Lichtungen ab, und die Wiesen verschluckten ihn. Wie Hunde nach Fliegen schnappen, dachte Carla Wall und schmunzelte über ihren Vergleich. Eben brummen und summen sie noch, und plötzlich ist Stille, und der Hund hat den Kopf auf die Pfoten 30
gelegt, blinzelt bereits wieder träge, und nicht einmal die Lefzen beleckt er sich. War etwas? Nichts war. Er döst vor sich hin. Links außen ging Leutnant Lemke; Antje hatten sie in die Mitte genommen. Er bewegte sich linkisch, sprach nicht, und fortwährend drehte er den Kopf nach den Seiten und zurück: Kaum weil er Verdächtiges suchte; eher befürchtete er, von Passanten belächelt zu werden. Denn Händchen von Kindern zu halten, war durchaus nicht sein Fall. Carla wußte über ihn, daß er sich sogar genierte, wenn ihn jemand aufforderte, in einen Kinderwagen zu blicken. Ein Baby mußte etwas Unheimliches für ihn sein: Vielleicht, weil es unverhofft naß machen oder mit Ausdauer schreien konnte, gewissermaßen fanatisch, und alle Argumente, auch die klügsten, prallten an solch einem Baby ab, wurden zu geistigem Müll. Jürgen Lemke schwor auf die Autorität des Arguments, schwor auf die Ratio. Wer sich Argumenten verschloß - vorausgesetzt, daß sie stichhaltig und überzeugend waren -, wurde für ihn, so seine Blicke nicht trogen, reif für einen Platzverweis. Natürlich, beim Baby ging er nicht gar so weit, beim Baby war Sturheit entwicklungsbedingt, doch geheuer war es ihm deshalb noch lange nicht. Hinzu kam, er war noch ledig, vierundzwanzig Jahre alt, und Mädchen nannte er heiratswütig und albern, wurde trotzdem verlegen, errötete, wenn ihn die hübsche Sekretärin in der Dienststelle fragte, ob er den Tee mit Zucker möchte, und seine Bücher liebte er sehr. Nun war zwar Antje kein Baby mehr, erst recht noch kein Mädchen, vor dem er erröten mußte, vor ihrer Heiratswut flüchten, aber sie war ein Ergebnis, ein nämliches sozusagen, und wennschon ein Kind, dann höchstens von… ja also, mit und von der eigenen Frau. Und die genau ahnte bis jetzt nichts von ihm, und da er der Ratio verfallen war, mit ganzer Seele - oh, himmlischer Widerspruch -, mit Haut und Haaren, würden also Gezeiten vergehen, und sie, die noch nicht gewählte Auserwählte, würde sich anderweitig vergnügen, bis er die Fahndung nach ihr betriebe, im totalen Alleingang, versteht sich, und er sie auf Nummer Sicher brächte, Festung Ehe, Unbefugten Zutritt verboten, und den Schlüssel zum Herzen der Schönen gäbe er nie aus der Hand. Aus den Gedanken heraus feixte die Kriminalistin. »Ist was?« fragte
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Leutnant Lemke verwirrt. »Wieso?« Sie gab sich unschuldig wie ein frisch gebadetes Kind. »Was soll denn sein?« Antje spähte bisweilen zu seinem Gesicht hinauf: Er trug eine Brille, Drahtgestell, kreisrunde Gläser. Beim Sprechen spuckte er trotzdem nicht. Offenbar hatte das Antje schon im Moment des ersten Kennenlernens überprüft: Nachdem Carla die beiden miteinander bekannt gemacht hatte - »…und das ist Onkel Jürgen, ein Mitarbeiter von mir, außerdem fährt er das Auto« -, hatte sie die Hände vorgestreckt, als wollte sie überprüfen, regnet es oder regnet es nicht, und schließlich spendabel verkündet: »Mal sehn, vielleicht sag’ ich Jürgen zu dir. Obwohl ich Jörg besser finde - na, für deinen Namen kannst du nichts für.« Ansonsten schien er ihr zu gefallen: Putzte sie sich die Nase, oder pflückte sie Blümchen am Weg, stets zog sie ihn hinter sich her, machte sich los von Carlas Hand, doch seine gab sie nicht frei. Am Morgen, während der Dienstbesprechung, hatte Carla vom gestrigen Abend berichtet. Auch die Schiefertafel mit dem in farbiger Kreide gemalten Mann im Rollstuhl und die Medikamente hatte sie mit nach dort gebracht. Die Genossen, alles Männer, hörten ihr aufmerksam zu. Dann aber begannen sie Fragen zu stellen, allen voran Leutnant Lemke. »Genossin Oberleutnant, mir scheint, Sie sind emotional sehr engagiert. Wäre es möglich, daß Sie aus einer Art mütterlicher Sorge um Kinder überhaupt diese Kinder permanent bedroht sehen? Im konkreten Fall: Könnte es nicht sein, daß Sie eine Gefahr für dieses ungewöhnlich phantasiebegabte Mädchen - wie Sie es beschreiben - sehen wollen? Ich meine, vielleicht suchten Sie vorsätzlich - selbstverständlich unbewußt - nach einem Hinweis dieser Art?« - »Haben Sie nicht das Gefühl, die Kleine möchte sich wichtig machen? Bei dieser Erziehung durch die Mutter - übrigens erfahre ich soeben, daß Frau Berger privaten Schauspielunterricht nimmt, Hobby, keine Berufsabsicht - liegt ein übersteigertes Geltungsbedürfnis geradezu auf der Hand.« O ja, die Männer übertrafen sich mit ihren ach so rationalen Fragen. Nicht lange, und sie hatten sie nicht nur in die Verteidigung, sondern schier in die Ecke gedrängt. Aber schuld daran war sie ganz allein; was hatte sie auch so gefühlsbetont berich-
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ten müssen und ihre Sympathie für die Kleine, das Mitleid mit ihr, so gar nicht verbergen können! Recht hatten die Männer. Gefühle, daraus geborene Befürchtungen, waren keine akzeptablen Begründungen für einen größeren Polizeieinsatz. Wer Unbewiesenes, ja Vages zur Diskussion stellte, der mußte sich Fragen gefallen lassen, auch unangenehme, selbst wenn ihm die Tränen kamen - wie ihr. Dennoch war es kein anderer als Jürgen Lemke, der schließlich die Gegengewichte sorgsam zusammentrug: »Erstens, das Kind war sichtlich erregt, als es begriff, seinem verzauberten König mit den Tabletten beinah geschadet zu haben; zweitens, nicht das Mädchen begann damit, über den Unbekannten zu sprechen, vielmehr benötigte es die Rückversicherung, ein Märchen zu erzählen wäre durchaus etwas anderes, als richtig über jemanden zu reden, es teilte sich also nur auf dem Umweg über das Märchen der Genossin Oberleutnant mit - von Wichtigtuerei kann demnach keine Rede sein, drittens…« Er trug noch viele Punkte zusammen, logisch geordnet, sachlich. Für Carla war das alles nichts Neues, doch neidlos mußte sie anerkennen, daß Lemke sorgfältiger vorging als sie, systematischer. Ein System in die Fragen bringen: ein Lieblingssatz von ihm. Auch die übrigen Genossen trugen nunmehr zusammen, was Carlas Verdacht untermauern konnte. Vielleicht waren es diese Haltungen, dieses Verantwortungsbewußtsein, dieses Mit- und Füreinander, die sie immer wieder - auch in den bedrückendsten Augenblicken - zu der Erkenntnis brachten, einen nicht nur nützlichen, auch den für sie sinnvollsten Beruf ergriffen zu haben. Am Ende fällte der »Chef« die Entscheidung: »Im Stadtpark werden die Streifen verstärkt, ab sofort. Die Abschnittsbevollmächtigten sind einzuschalten. Schulen, Kindergärten verständigen. Weiterhin: Der fotografische Erkennungsdienst nimmt - ohne Unterschied - alle Rollstuhlfahrer auf. Selbstredend, daß dies so verdeckt wie irgend möglich zu geschehen hat. Wer einen Behinderten belästigt beziehungsweise zu Unrecht in Verruf bringt, der kann sich gleich selbst degradieren. Das ist mein schlichter Ernst! Als letztes: Oberleutnant Wall kümmert sich bis auf weiteres um das Kind Antje Berger. Zu ihrer Unterstützung wird Leutnant Lemke abgestellt. Ich danke Ih-
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nen. Guten Morgen.« Kein Zufall, dachte Carla, daß der »Alte« sie mit Jürgen gekoppelt hatte: Ratio und Emotionalität; ein solches Gespann bot für ein endgültiges Ergebnis - egal, wie es ausfallen würde - rein theoretisch eine optimale Chance. Zu den Seiten des Parkweges wucherte Gebüsch. Unverhofft machte sich Antje los, rannte ein Stück geradeaus und preschte dann zwischen die Sträucher. Von dort her rief sie: »Sucht mich, sucht mich, ratet mal, wo ich bin…!« Beim Raten blieb es leider nicht: Sie wollte gefangen werden. An sperrigen Zweigen holte sich Carla Schrammen, Spinnengewebe klebten sich über Hals und Gesicht. Die Strumpfhosen würde sie wegwerfen müssen - das reinste Laufmaschenfest! Ein teurer Spaß. Erheblich zu teuer die Strümpfe bei uns. Trotzdem - Antjes Quietschen entschädigte sie: Seligkeit, Seligkeit und noch lange kein Amen. Verdrossen hatte sich Jürgen Lemke auf eine Bank gesetzt. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, daß er dieses »Fang mich, ich bin der Frühling« für absolut Überflüssiges hielt; so klein war das Mädchen schließlich nicht mehr, um nicht klipp und klar sagen zu können, wo es dem Fremden begegnet war. Nicht einmal dessen Rufnamen wollte es kennen: Weil ein König Herr König hieße, und damit sei es genug. Und verzaubert hieße er Onkel, nur Onkel und mit nichts weiter dran. Längst war es Carla warm geworden, sie keuchte bereits. Unermüdlich war einzig Antje. Kaum eingefangen, drehte und sträubte sie sich, gab dann wieder vor, nun friedlich werden zu wollen, tat es mit List und Tücke, stand mit hängenden Armen, Hundetreue im Blick, juchte auf einmal und flitzte abermals fort. Gewiß, auch Carla hatte Freude am Spiel, es tat ihr gut, das Mädchen glücklich zu sehen. Allerdings war es des Guten nun bald zuviel. Auf einer Wiese - kleine Hasen hoppelten dort herum - erwischte sie Antje, lachte mit ihr um die Wette, nahm ihren Kopf in die Hände und sagte: »So, jetzt kann ich nicht mehr.« »Nein?« »Nein.« Zum Beweis dafür setzte sie sich ins Gras. Nach einer Weile sah Antje wohl ein, daß sie als Ausreißer keinen Verfolger mehr hätte, und nahm pustend neben ihr Platz. »Meinetwegen, ruh
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dich erst aus. Kannst mir solange etwas erzählen.« »Von wegen ich! Allmählich bist du an der Reihe!« »Womit?« »Ach, mit dir macht es gar keinen Spaß. Du hattest mir versprochen, du zeigst mir die Stelle.« »Welche Stelle?« »Tu nicht so dumm.« Antje überlegte. »Und wenn ich’s nicht weiß?« fragte sie lauernd. Schließlich ein eindeutiges Ablenkungsmanöver: »Carla, soll ich dir mal einen Fuchsbau zeigen? Einmal hab’ ich Herrn Fuchs schon gesehen. Und Frau Elster wohnt hoch in den Bäumen. Meistens zanken sie sich enorm.« »Aus dem Kinderfernsehen ist das«, sagte Carla und tat beleidigt. »Du denkst, ich weiß überhaupt nicht Bescheid.« Hinterher schwiegen sie lange. Was hatte das Kind, warum wich es ihr heute aus? Mißtraute es ihr? Vorsichtig sagte sie: »Antje? Hast du dir eigentlich mal überlegt…. der Mann im Rollstuhl, könnte er nicht auch ein Schwindler sein? Genau so, als würde ich jetzt behaupten, ich sei ein verzauberter Schmetterling.« »Gar nicht! Weil du nämlich gar nicht gelähmt bist und gar keinen Rollstuhl hast.« »Stimmt. Anderseits kenne ich eine Menge Märchen, wo die Verzauberten alles mögliche sind, Tiere, Bäume, Felsen, bloß Invaliden sind nicht dabei.« Sie seufzte traurig. »Na schön, behältst du dein Geheimnis eben für dich. Nur schade, daß ich mich vorher so riesig gefreut habe…« Hin und wieder schniefte sie noch, hatte keinen Blick mehr für Antje und saß mit hängendem Kopf. Dabei spürte sie körperlich, wie intensiv das Mädchen sie beobachtete. Mal sehn, wessen Ausdauer größer war! »Wenn ich wie ’n Ochse überlege«, sagte Antje endlich, »dann denk’ ich, vielleicht war es hier…?« Sie lächelte, wollte zweifellos trösten. »Nein, jetzt fällt es mir wieder ein: Es war überall. Über- und überall.« Mit den Armen beschrieb sie einen Kreis, und ihre Stimme lockte, verlockte wieder zum Albernsein. Carla reagierte nicht. Als später ein Händchen nach ihrer Hand tas-
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tete, stieß sie es grollend weg. So schwiegen sie nebeneinander, die Große und die Kleine, und ein bißchen hatten beide einen wirklichen Bock. Die Mittagszeit war vorüber. Jürgen Lemke kam über die Wiese. Fragend hob er die Brauen an. »Nichts«, sagte Carla und zuckte resignierend mit den Schultern. Mit einem säuberlich gefalteten Lederlappen putzte er die Gläser seiner Brille, setzte sie wieder auf, musterte Antje streng und sagte ungehalten: »Hör mal zu, Kind: Wir wollen dir helfen! Dein König im Rollstuhl ist böse, so böse, daß wir Angst um dich haben! Erst ist er freundlich, und hinterher tut er kleinen Mädchen sehr weh, wir wissen das. Also sei vernünftig und sag uns, wo ihr euch immer trefft!« Antje hatte sich erhoben. Aus brennenden Augen starrte sie ihn an, feindselig. »Du bist böse!« stieß sie hervor. »Du! Du! Du!« Und ging schubsend gegen ihn an. Im nächsten Moment begann sie zu weinen, drehte sich um und ging weg, erst langsam, dann immer schneller, und schließlich rannte sie. »Du bist ein Held«, sagte Carla verärgert. Am liebsten wäre sie dem Mädchen nachgelaufen und hätte es umarmt. »Wennschon«, sagte er und wollte durchaus nichts bestreiten. »Immerhin weiß ich jetzt, daß es ihn gibt - unseren Unbekannten.« »Ach…? Und woher?« »Ich weiß nicht - mehr ein Gefühl.« »So. Zu komisch: Leutnant Lemke vertraut dem Gefühl.« Sie verzieh ihm und wollte es nicht. Antje wartete hinter Sträuchern. Als sie Carla und Jürgen gewahrte, nahm sie den Weg wieder auf. Manchmal wandte sie sich um, verzögerte oder beschleunigte ihren Schritt, blieb auf gleich großen Abstand bedacht. Den Kopf trug sie weit nach hinten: eine kleine Persönlichkeit, die sich nicht beugt unter Kränkung und Schmerz. Einen Vorteil hatten diese Tage im Park für Carla: An den Armen und im Gesicht wurde sie braun wie ein Ostseeurlauber. Ganz nach dem Motto »Wer schön sein will, muß leiden« wählte sie sich meistens eine Bank in der prallen Sonne, spürte auch bald ihr Herz trom-
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meln, und abends ging sie mit Kopfschmerzen nach Hause. Es war abgemacht, daß Antje allein spielen sollte, stets in gewisser Entfernung von ihr, und das Kind besaß genügend Vorstellungskraft, um die Gesellschaft von Käfern, Blumen und Vögeln zu genießen, und über Langeweile klagte es nie. Natürlich kam die Kleine dann und wann angerannt, berichtete von allerlei umwerfenden Erlebnissen, holte sich ein Streicheln für ihr Köpfchen ab, ein Lächeln, ein Zwinkern von Carla, manchmal auch ein paar Kekse und trabte auf die Wiese zurück. Ihr Geheimnis, wo genau sie dem Mann im Rollstuhl begegnet war, gab sie bis heute nicht preis. Aber sie hatte Carla versprochen, sie bei einem erneuten Treffen mit dem Verzauberten von weitem zusehen zu lassen, selbstredend ohne dem Mann ein Sterbenswörtchen darüber zu sagen! »Überhaupt darfst du nur zu ihm rangehen«, hatte Carla ihr eingeflößt, »wenn ich in der Nähe bin. Denn vier Augen erkennen mehr als nur zwei, das siehst du doch ein? Dann werden wir schon dahinterkommen, wir beide, ob er wirklich die Wahrheit spricht, die reine Wahrheit, hm?« Wenn Antje es auch nicht zugab, einen leisen Zweifel an der Echtheit ihres Königs hatte Carla in ihr geweckt. Das war ein ziemlicher Fortschritt; man mußte Geduld mit ihr haben, nicht nur die Bohrung, auch steter Tropfen höhlte den Stein. Jürgen Lemke allerdings durfte sich hier nicht blicken lassen - nie und nimmer würde sie ihm glauben, daß er sich wie Carla für Märchenhelden interessierte und sie zu gern einmal erleben wollte, von Angesicht zu Angesicht. Vielmehr wollte er sie verscheuchen, ihnen ihre Erlösung verderben, so sah er schon aus hinter seiner rundglasigen Brille mit Drahtgestell. Dabei half es nur wenig, daß Carla ihr von Jürgens heimlicher Schwäche berichtet hatte: Dieser trockene Mensch spielte als Hobby Posaune, sehr schön übrigens. Und weil das in seiner Wohnung nicht möglich war - die Hausbewohner hätten sich an dem lauten Blasen gestört -, ging er in seiner Freizeit in die Autogarage eines Bekannten. Dort saß er ganz allein unter einer schwachen Glühbirne und spielte nicht selten bis in die Nacht hinein. Und an Sommerabenden zirpten die Grillen dazu, und so wurde es eine Nacht voll Musik. Diese Geschichte hatte Antje Vergnügen bereitet, und so ließ sie
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den Leutnant - mit besagten Abstrichen - gelten. Das langte für eine allgemeine Plauderei auf der Straße, vielleicht übers Wetter oder über den viel zu fetten Pudel im Nachbarhaus, nicht aber für die tiefen Probleme aus der Geister- und Märchenwelt. Kein großer Schaden: Er tat seine Pflicht an anderem Ort. Getrennt marschieren, vereint schlagen! hatte er zur Losung der letzten Tage gemacht. Was er inzwischen erkundet hatte, mit Name und Hausnummer, konnte schon mehr als ein Anfang sein. Ob es das war, hoffte Carla nun bald zu erfahren - und zwar hier im Park. Sie las eine Erzählung von Tschingis Aitmatow: »Goldspur der Garben«. Ein großartiger, wahrhaft menschlicher Autor. Ein großartiges, erschütterndes Buch. Dennoch geschah es öfter, daß sie bereits gelesene Seiten zurückblättern mußte und sie noch einmal zu lesen begann: nicht ungeteilt ihre Aufmerksamkeit. Manchmal verschwand das Mädchen hinter Bäumen, und sie hatte unruhige Sekunden, bis sie zwischen den Büschen das blonde Haar wie ein freundliches Winken entdeckte. Im Augenblick hörte sie häßliches Knattern. Auf einem die Wiese diagonal durchschneidenden Weg raste ein Mopedfahrer. Obwohl es bei dieser Entfernung nicht möglich war, glaubte Carla, Benzingestank in der Nase zu haben. Das störte sie sehr. Sollte sich nicht erwischen lassen, der Kerl! Gern hätte sie ihm höchstpersönlich einen Denkzettel verpaßt. Leider war dies nicht ratsam, und keineswegs deshalb, weil der Schuster sonst nicht bei seinen Leisten geblieben wär’! Was hatte das nun wieder zu bedeuten: Antje stand augenscheinlich mitten auf dem Weg und breitete - dem Mopedfahrer Halt gebietend - ihre Arme aus. Der schoß auf sie zu… großer Himmel, war sie denn ganz und gar nicht gescheit…! Im letzten Moment bremste der Mann oder Bursche das Moped, das Hinterrad rutschte zur Seite weg, vollzog einen Halbkreis, und eine Staubwand stellte sich auf. Antje hatte die Hände in die Hüften gestemmt und schimpfte wie ein Fischweib in italienischen Filmen. Bedauerlich, daß nicht zu verstehen war, was sie im einzelnen vom Stapel ließ. Lediglich Satzfetzen drangen herüber und mehrmals das Wörtchen »enorm«. Der Fahrer stand und hielt sein Moped, war durch diese Szene möglicherwei-
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se am Rande des Wahnsinns und brachte kein Wort heraus. Schließlich tippte er sich an den Kopf, zeigte Antje energisch den Vogel, schob sein Gefährt an ihr vorbei, schön mit Abstand, als wär sie ein bissiger Köter, setzte sich erneut in den Sattel und fuhr - nicht ohne sich vorher noch einmal umzuwenden und sich mit der Hand an die Stirn zu dreschen - mit Getöse davon. Carla Wall hatte ihren Schreck überwunden und lachte. Was für ein Kind, diese Antje! Zum Knuddeln, zum Anbeißen! Wie hatte ihre Mutter gesagt? »Die traut sich alles, aber auch alles. So leicht macht der keiner was vor!« Nein, wohl nicht. Und trotzdem war Carla damals unruhig geworden, unruhiger als sie ohnehin war. Sie hatte das Gefühl gehabt, sie würde sich gleich an etwas erinnern, an etwas ungemein Düsteres, aber dann war es doch nur eine Ahnung geblieben, nicht faßbar, das Wähnen einer Erinnerung. Auch jetzt erging es ihr so. Nein, diesmal war es anders, diesmal begriff sie, was sie an jenen Worten beunruhigt hatte, fand sie ihre Erinnerung… Als Kind hatte sie einen Teil ihrer Ferien stets bei den Großeltern auf dem Lande verbracht. Wunderbare Großeltern. Von früh bis spät schimpften sie auf Gott und die Welt und sich selber, waren gewiß nicht reich zu nennen, und Zärtlichkeiten kannten sie nicht. Nicht einmal Carla wurde gestreichelt, höchstens, wenn sie im Weg stand, vorsichtig mit dem Hintern geschubst. Eines Sommers hatte sie mit einem Kaninchen Freundschaft geschlossen, inniglich. Bald waren sie unzertrennlich, und im Garten hoppelte das eine dem anderen hinterher. Die Großeltern zeterten, Viehzeug wäre zum Schlachten, niemals zum Spielen bestimmt, und Carla weinte eine lange Nacht hindurch, weil sie das Leben ihres felligen Freundes aufs äußerste gefährdet sah. Der nächste Sommer: Sie traute ihren Augen nicht - das Kaninchen war noch am Leben. Blieb lange am Leben, besaß eine Einzelbucht für sich. Und eines Tages - Zufall oder nicht, wieder einmal war Ferienzeit - starb es an Altersschwäche. Bei gewiß nicht reichen Leuten. Großeltern: So zärtlich sind sie zu Carla gewesen. So zärtlich konnten sie sein. Und dann war da ein Junge im Dorf, acht oder zehn Jahre alt, Blinkerzähne und krauses Haar, der Held aller Mädchenträume, soweit diese Mädchen noch Zöpfe trugen, Hopse spielten
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und Einkriegezeck. Dieser Junge traute sich alles: Schlittschuh zu laufen auf dünnstem Eis, Äpfel zu stehlen, obwohl der Bauer im Garten war, dem Bürgermeister einen Schweineschwanz an den Hosenboden zu heften, und alles gelang ihm, niemand erwischte ihn. Das Dorf lag zur Hälfte im Wald, zur Hälfte war es von Äckern umgeben. Viele Lupinenfelder. Sie blühten gelb wie Butterblumen, Felder voll Gelb: als speicherte die Sonne ihre Farben in ihnen. Betäubender, herrlicher Duft stieg von den Blüten auf. Die Kinder erzählten, dieser Duft wäre giftig. Wer in einem solchen Feld einschlafen würde, liefe Gefahr, nicht mehr aufzuwachen. Jener Junge, den alle liebten und der bestimmt auch liebenswert war, hatte für solches Gerede nur Spott. Und da er nur Freund von Worten war, wenn er ihnen Taten folgen ließ, bezog er eines Vormittags Quartier zwischen den vielen Lupinenstauden. Andere Kinder wollten ihn wegholen, zerrten an ihm. Doch er verprügelte zwei von ihnen und legte sich - einen weiteren Sieg an seiner Fahne - wiederum in das Blütenmeer. Es machte ihm Spaß, nun gut, dann sollte er eben. Sie, die anderen Kinder alle, vergaßen ihn im Laufe des Tages. Erst als der Abend hereingebrochen war und die Eltern des Jungen sich sorgten - er kam und kam nicht nach Hause -, erinnerte sich Carla, ihn zuletzt im Lupinenfeld gesehen zu haben. Dort fand man ihn auch. Sein Körper war bereits kalt und steif Grausige Erinnerung - aber die Beklemmung ließ sich nicht abschütteln wie Wassertropfen nach dem Baden, sie saß zu tief, das Erschrecken aus der Vergangenheit kroch ihr gleichsam mit Spinnenbeinen ums Herz. Das Erschrecken regte sich, war also nicht tot, wollte also bedeutungsvoll sein, mahnende Erfahrung - Antje hatte es wach gemacht. Inzwischen spielte die Kleine wieder. Sie rannte Schleifen, und manchmal warf sie sich hin. Wahrscheinlich verfolgte sie einen Schmetterling. Heute trug sie ein Jeans-Röckchen, dazu einen breiten Gürtel mit blitzender, großer Schnalle. Folklore-Bluse. Die gleiche Kleidung hatte ihre Mutter am Morgen angehabt: keinen BH darunter. Wahrhaftig, sie zog die Tochter an, als wäre die modisches Beiwerk für sie. Na, bei dieser Schmetterlingsjagd würde Antje nicht sauber bleiben. Carla dachte nicht daran, den Anflug von Scha-
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denfreude zu unterdrücken. Würde sie eben dem Kind ein Märchen vorlesen, falls die Mutter es mit Schweigen bestrafte. Ein Schmutzfleck an der Kleidung von solchen Murkeln war schließlich nicht mehr und nicht weniger als Beleg für ein Stückchen erlebter Kinderwelt. Abermals nahm sie das Buch in die Hand und war bemüht, sich auf den Inhalt zu konzentrieren. Irgendwann quietschte etwas in ihrem Rücken. Sie nahm das Geräusch erst wahr, als es bereits aus der Nähe kam. Dort hinten, etwa fünfzehn Meter in der Tiefe des Laubwaldes, schlang sich ein Pfad vorbei. Ein Mann im Rollstuhl befuhr ihn! Ohne Eile fuhr er, und er hielt sein Gesicht den Wipfeln der Bäume entgegen, vielleicht auch den Resten des Himmels, die zwischen dem grünen Geäst bestimmt wie eine Kette von blauen Teichen, Flüssen und Seen aufleuchteten, und es war fast ein Wunder, daß er bei so viel Unachtsamkeit keinen Baum rammte und nicht abkam vom Pfad. Carla war rasch zur Seite gerückt und hatte sich geduckt. Ein aufgeplusterter Holunderbusch schirmte sie jetzt weitgehend ab. Einen Steinwurf von hier entfernt mündete der Pfad auf die Freifläche zur Wiese ein und führte ein Ende an deren Grenze entlang, bevor er sich erneut zwischen Bäumen und Sträuchern verlor. Bald tauchte der Behinderte am Wiesenrand auf. Er stoppte den Rollstuhl: Zweifellos hatte er eben Antje entdeckt. Mit einem Tuch wischte er sich den Nacken aus. Anschließend kämmte er sich; den Lichtblitzen nach zu urteilen, benutzte er einen Spiegel dabei. Dann blickte er zu dem Mädchen hinüber, unbeweglich, minutenlang. Aus dem Himmel stürzte ein Knall: Ein Düsenjäger hatte die Schallmauer durchbrochen. Er schwirrte als silberner Punkt durch das Blau. Augenblicklich setzte der Mann den Rollstuhl wieder in Gang. Seine Arme schnellten jetzt vor und zurück, plötzlich schien er es eilig zu haben: als hätte der Knall ihn nervös gemacht. Der Laubwald sog ihn in seinen Schlund. Fast eine Stunde zu spät, dachte Carla, vorausgesetzt, sie sind wirklich verabredet gewesen. Aber wenn Jürgen bis zu diesem Punkt recht behalten hatte, gab es eigentlich keinen Grund, das Weitere anzuzweifeln. Überhastet verstaute sie das Buch in ihrer Handtasche, und das wiederum bekam dem Verschluß nicht, und er
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erzwang sich die Ruhe der Hände und rastete dann erst ein. Sie winkte Antje, näher zu kommen. Die aber reagierte nicht, mach was dagegen, es gab zu viele Blumen und Käfer und Schmetterlinge im Park. So blieb Carla nichts, als ihr entgegenzulaufen. Zuletzt nahm sie die Hände als Trichter vor den Mund und rief - wobei dieser Laut mehr ein gerufenes Flüstern war. Die Kleine hob den Kopf und kam froh über die Abwechslung - lachend angerannt. »Jetzt, Antje«, sagte die Kriminalistin, »ich glaube, jetzt sind sie alle versammelt. Du weißt noch, was du nun machen sollst?« Das Mädchen nickte. »Gut. Und schön psst!« Sie legte sich den Finger vor den Mund, zog die Kleine hinter sich her und wählte den kürzesten Weg zum Tarnung bietenden Wald. Im Zickzack gingen sie vor, nutzten Sträucher und Bäume, und Antjes Gesicht glühte bereits, so sehr war sie bei der Sache. Für sie war alles ein Spiel, und zwar ein enorm spannendes. Sollte es auch sein. Absichtlich bewegte sich Carla vorsichtiger, tat sie geheimnisvoller, als es die Situation nach ihrem Ermessen erforderte. Auf einmal drückte sie das Mädchen in die Knie und ging neben ihr in die Hocke. Sacht drückte sie einen Zweig beiseite. Durch die entstandene Öffnung war eine kleine Lichtung zu erkennen, etwas erhöht. Drei Männer in Rollstühlen saßen sich dort sternförmig gegenüber, hatten eine dünne Platte, Hartfaser wahrscheinlich, auf den Knien und spielten Skat. Sie reizten ziemlich laut, doch von der Unterhaltung dazwischen war so gut wie nichts zu verstehen. Nur das Wort »Fernsehen« drang einige Male herüber. Der es aussprach, hatte schwarzes, welliges Haar und sah wie ein gebürtiger Ungar aus. Carla glaubte eine unendliche Gutmütigkeit in seinem Gesicht erkennen zu können, ein trotz Falten weich gebliebenes Muster für ein Onkelgesicht. Das mußte Heßheimer sein, Edi Heßheimer, der Naive, wie ihn Jürgen beschrieben hatte, der Mann mit dem einfachen, nicht einfältigen Humor. Die Gesichter seiner Mitspieler waren Carla und Antje abgewandt. Der eine hatte braunes, der andere rötlichblondes Haar. Schütter war es bei allen. »Lauf!« raunte die Kriminalistin. »Und wenn er dabei ist, geh auf ihn zu und gib ihm die Hand. Und sag ihm,
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so laut du kannst: ›Tag, Onkel, wo warst du so lange? Ich warte schon immerzu.‹ Dann weiß ich sofort, so also sieht er aus, der von sich sagt, daß er ein Verzauberter ist.« Antje atmete tief durch, kreuzte sich Haarschwänze unter dem Kinn zu den Ohren hinauf, ließ sie fallen und hüpfte davon. Je näher sie den Rollstuhlfahrern kam, um so übermütiger - vielleicht auch alberner - benahm sie sich. Keiner der Männer schenkte ihr Beachtung. Erst als sie bei ihnen stand und ihnen abwechselnd in die Karten und in die Gesichter guckte, blickten sie halb amüsiert, halb verwundert auf. Zum Fragen war es da allerdings zu spät: Antje kratzte sozusagen die Kurve. Kaum hatte sie ihnen den Rücken gewandt, da rief sie auch schon laut in Richtung Carla: »Er ist nicht dabei! Er ist nicht dabei! Er ist nicht dabei!« Jener Schwarze, der vom Typ her an einen Ungarn erinnerte, schüttelte befremdet den Kopf. Die beiden anderen zuckten nur mit den Schultern und wandten sich wieder dem Kartenspiel zu. »Ach, Antje!« sagte Carla und seufzte. Sie war enttäuscht.
4 Nachdem Leutnant Lemke geklingelt hatte, war es im Wohnungsflur still geblieben, zu lange für seine Geduld. Schon gewillt, wieder zu gehen, hatte er einen Surrer jener Art gehört, wie er sonst nur bei Haustüren eingebaut war. Mißtrauisch hatte er mit zwei Fingern gegen das Schloß gedrückt, und die Tür hatte nachgegeben, knarrend, doch fast ohne Widerstand. Niemand im Flur. Nicht einmal eine schwarze Katze mit kriegerischem Buckel und zum Zepter erhobenem Schwanz. Statt dessen eine Vielzahl altertümlicher Regenschirme an den Wänden, angeordnet wie Hieb- und Stichwaffen, obzwar Waffen besonderer Art, immerhin dekorativ. Hinter ihm dann wieder ein Surren, wieder ein Knarren, und gleich darauf klappte und knackte es: Der Schnapper der Tür saß im Schloß. Ach wo, Jürgen Lemke war nicht erschrocken. Ein Bastler, überlegte er nur, dazu ein Romantiker. Na gut, na schön. Peter Muzeniek hieß dieser Mensch, einer der Skatbrüder aus dem Park. Die erste Tür links war in voller Breite geöffnet. Ein wuchtiger Schreibtisch mit dem Modell einer in Verfall (oder Aufbau?) geratenen Burg bot sich dem Leutnant als Blickfang an. 43
»Ha!« rief ein Mann mit Rabenstimme und triumphierte. »Ich habe Besuch!« In einem kurzen, chromblitzenden Rollstuhl, die Beine senkrecht, die Füße unmittelbar über den Dielen, saß gertenschlank lang und vogelgesichtig der eingeschriebene Wohnungsinhaber. Vierzig Jahre alt war er und hatte das rötlichblonde Haar so lang wie Musikanten, die Beat und Hard-Rock spielten und vor allem äußerlich wirken mußten, spekulierten sie auf die Gunst der Fans. Er trug einen braunen, gestreiften Anzug mit sehr langer Jacke, ein weißes Hemd mit senkrecht verlaufenden Rüschen und eine prächtige braunsamtene Fliege unter dem leicht fliehenden Kinn. »Guten Tag«, sagte Jürgen Lemke und wies sich aus. »Egal«, sagte Muzeniek, »Mensch ist Mensch!« Und meckerte sein Lachen. Was die Kriminalpolizei zu ihm führte, interessierte ihn vorerst nicht. Er fragte genüßlich: »Wein? Kognak? Bier?« Als Lemke zum Thema kommen wollte, unterbrach er ihn mürrisch: »Was denn nun, haben Sie Zeit oder nicht? Wenn nein, dann kommen Sie bei Gelegenheit wieder. Zeit, lieber Freund, will nicht verschlungen werden wie Brotsuppe oder ein anderer Kleister. Zeit ist eine Delikatess’, man kostet sie, schwelgt gewissermaßen in ihr.« Ein vitaler Kerl ohnegleichen, soviel war klar. Ein harter Brocken für Jürgen Lemke: Zeit - eine Delikatess’! Darauf war er nicht eingestellt. Viel eher auf die Ökonomie der Zeit. Er sah auf die Uhr, lächelte säuerlich und erklärte, wenn es nicht unbedingt Bier sein müßte, eine Cola tränke er gern. »Hä!« krächzte Muzeniek, und es war abermals ein Triumph. »Als Giftmörder werde ich demnach nicht gesucht, das können wir streichen. Sonst…«, er hob voller Welterkenntnis den Zeigefinger, »von einem Giftmörder tränken Sie keine Cola nicht!« Begeistert fuhr er in die Küche. Leutnant Lemke nutzte die Zeit, das Zimmer eingehender zu betrachten. Von Ordnung konnte nicht gerade die Rede sein, um so mehr von Individualität und Verstand. Das Durcheinander von Zeitungen, Büchern und losen Manuskriptseiten - auch der Teppich war mit ihnen bestreut - wirkte interessant. Aufgelockert wurde das ganze durch volle Aschenbecher, Kaffeetassen mit eingetrocknetem Grund und verschiedene Wein- und Biergläser, nicht alle
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heute, wahrscheinlich auch gestern und vorvorgestern benutzt. An den Wänden alte Landkarten, ein Literaturkalender und zwei Gemälde mit dreimastigen Segelschiffen darauf, sogenannte Seestücke. Der Leutnant hatte darüber gelesen: Diese Schiffe waren von Seeleuten, meist Kapitänen - von Laienmalern also -, vorwiegend während des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts geschaffen worden und erfuhren nun unter Liebhabern ihre Hohe Zeit. In der Ofenecke befand sich ein kupferner Pfeifenständer mit fünfzig oder mehr originellen Exemplaren daran. Peter Muzeniek brachte die Cola. Nachdem er dem Leutnant eingeschenkt hatte, verschränkte er die Hände über dem nicht vorhandenen Bauch und griente erwartungsvoll. Als der Kriminalist jedoch zur ersten Frage ansetzte - sein Tonfall ließ schon zu Beginn auf eine Frage schließen -, hob Muzeniek abwehrend die Hände. »Nicht doch! Nicht so geradezu. Wissen Sie, lieber Freund, wir können uns alle nicht mehr richtig unterhalten. Das Fernsehen hat uns kaputt gemacht. Und haben wir mal was zu sagen - und sei’s eine Frage -, wir ballern sie weg, und he, schon sind wir zu Ende mit unserem Latein. Alles Pulver verschossen. Und warum? Weil wir uns nicht unterhalten können, kein Abendanzug um unsere Worte, alles nackt, dickbäuchig, fett!« Er verzog das Gesicht. »Auch Sätze gehören in dekolletierte, phantasievolle Kleider gesteckt, dürfen Schmuck und Blumen tragen. Konversation will geübt sein, Konversation ist Kultur, lieber Freund.« Er meckerte sein Lachen und langte freundschaftlich nach Jürgen Lemkes Arm. »Nichts für ungut. Ich fürchte nur manchmal, wir könnten alle langweilig werden, ohne Ausstrahlung, eine Rasse von Langweiligen. Hör’n Sie, ich kannte mal einen, der war so langweilig geworden, daß ihn kaum noch jemand bemerkte, man überrannte ihn regelrecht. Da ging er zum Arzt. ›Herr Doktor‹, sagte er, ›ich weiß nicht, was mit mir ist… Niemand nimmt mich zur Kenntnis, die Leute ignorieren mich.‹ Der Arzt erhob sich von seinem Schreibtisch, wo er eben noch etwas in ein Buch gekritzelt hatte - wahrscheinlich eine Notiz über den Patienten zuvor -, und öffnete die Tür zum Wartezimmer. ›Der nächste bitte!‹ rief er hinaus.« Alles an seinem Gesicht strahlte, sogar seine Hakennase, und dieses Strahlen war wieder Triumph. Auch, Leutnant
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Lemke mußte lachen. Dieser Muzeniek war in der Tat unterhaltend. Seine fortdauernde Selbstironie ließ im Zuhörer gar nicht erst das Gefühl aufkommen, persönlich angegriffen zu sein. Unmöglich fast, sich vorzustellen, daß ein derartig gelöster und selbstbewußter Mann vor der Polizei etwas zu verbergen haben könnte. Allerdings hatte Jürgen Lemke gerade in dieser Beziehung schon manche Überraschung erlebt. Und mehr noch hatte er in Fachbüchern darüber gelesen. Also nicht vorzeitig die Segel streichen. Wenn Muzeniek Konversation wünschte, bitte, Jürgen würde es versuchen. Viele Wege führten nach Rom. Er ging zum Pfeifenständer, fragte: »Darf ich?« und betrachtete eins der seltenen Stücke. Anerkennend sagte er: »Verführt zum Rauchen. Na ja, wie gehabt, der Teufel hat meistens ein interessantes Gesicht.« Topp, Peter Muzeniek stieg darauf ein, grienend: »Kriminalisten stehn ihm nicht nach.« »Danke. Darf ich das weitergeben, sozusagen an alle?« »Sie dürfen.« »Eine Menge Bücher«, sagte der Leutnant. »Bücher und Manuskripte. Dreist, wenn ich’s nicht wüßte - man ahnt sofort den Redakteur.« »Irrtum, der war ich. Aus, vorbei. Es war einmal…« Mit beiden Händen klopfte er gegen den Rollstuhl, erklärte mit dieser Geste den Abschied von der Vergangenheit. »Verzeihen Sie, bitte«, sagte der Kriminalist und bedauerte seine Ungeschicklichkeit. »Sachte, sachte!« Muzeniek ärgerte sich offenbar über das Mitleid. »Ich fühle mich auch so noch wohl auf der Welt, sehr wohl sogar. Übrigens versuche ich, ein Buch zu schreiben. Wahrscheinlich wird’s nichts.« Er benötigte eine Pause, um erneut ein gemeckertes Lachen loszuwerden. »Die meisten Journalisten versuchen, irgendwann ein Buch zu schreiben. Und bei den meisten wird’s dann auch nichts. Tja, und was ansonsten die Welt betrifft, die große und kugelrunde, ich hol’ sie mir her in mein Zimmer. Ha!« triumphierte er. »Die ganze Welt in einem Zimmer…!« »Ach?« sagte Jürgen Lemke und witterte etwas. »Da bin ich gespannt!«
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Muzeniek fuhr zu einem Stuhl, griff nach dessen Lehne und zog ihn hinter sich her an den Schreibtisch. »Bitte setzen Sie sich. Nein? Gut. Dann stützen Sie sich wenigstens auf.« Er wies auf das Modell der mittelalterlichen Burg, ließ deren Anblick eine Weile wirken und sah seinem Gast mit glänzenden Augen, Bewunderung erheischend, ins Gesicht. »Hier - meine Welt! Jeder Baustein birgt eine Geschichte, eine mit Kopf und Händen und Füßen, eine Geschichte über Land und Leute, über Gegenwart und Vergangenheit. Freunde, Bekannte bringen sie mir. Wenn sie verreisen, in Urlaub, auch dienstlich, sie müssen mir dort einen Stein aufheben und später erzählen: Wo hat der Stein gelegen, wie sah die Landschaft aus, wie waren die Menschen? Nebenbei, falls Sie viel rumkommen… also, ich habe jederzeit eine offene Tür für Sie. Und selbstverständlich ein offenes Ohr. Reisen bildet, nicht wahr? Bilden wir uns gleich beide. Hm, ja - wo war ich stehengeblieben? Na, ist nicht wichtig. Sie sehn jedenfalls, diese Burg ist gleichsam ein Mosaik dieser Welt: und zwar totaler, als ihr Gesunden sie seht! Ha!« In abermaligem Triumph rieb er sich die Hände. »Manchmal sitze ich davor, ganz allein, und werde zum Globetrotter. Kein Kolumbus, kein Scott und Amundsen hatten jemals die Chance, so viel zu erleben wie ich. Klar, daß ich Fremdsprachen brauche, ohne Fremdsprachen kommt man nicht weit. Russisch, Englisch, Französisch - wozu gibt’s Bücher, wozu…? Chinesisch geht mir nicht richtig ein, egal, ich bin Optimist. Und Völkerkunde muß man studieren, vor Antritt der Reise, versteht sich. Ist man da nicht beschlagen, kommt’s unterwegs zum Malheur. Einem Amerikaner passierte so eins, in Zypern. Er wollte den Leuten dort etwas Nettes sagen, freundliche Worte, eine Liebenswürdigkeit. Sagte er also: Die Türkei den Türken, Griechenland den Griechen und Zypern den Zypressen!« Ein bißchen nahm er sich selbst auf den Arm. Jürgen Lemke gestand sich ein, daß Zeit in Gegenwart dieses Mannes wahrhaftig zur Delikatesse wurde. Trotzdem mußte er zurück zur Hausmannskost, vielleicht ein wenig mit Petersilie garniert, das aber maximal. »Und aus dem hiesigen Stadtpark«, fragte er, »ist von dort auch ein Steinchen dabei?«
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»Na aber! Den allerdings habe ich selbst aufgehoben.« »Und darf man die Geschichte erfahren?« »Nein. Ausnahmsweise darf man das nicht.« Leutnant Lemke krauste fragend die Stirn. »Unsinn!« sagte Muzeniek, doch er benötigte einige Zeit, um eine Erklärung geben zu können. »Ich hab’ sie einem Schriftsteller erzählt, der schreibt was darüber - nennen wir ihn hier… Max Baldrian. Falscher Name, sonst gehn Sie womöglich noch hin. Wenn Sie Baldrian etwas erzählen… Sie müssen verdammt vorsichtig sein bei ihm, der schreibt gleich darüber, aus jedem Schrott macht der was. Neulich wurde er sogar vom Lektor aus seinem Stammverlag beim Schreiben von Kriminalromanen erwischt. Unlängst parodierte ich ihn. Wenn Sie möchten, lese ich es Ihnen vor…? Vorausgesetzt, Sie kennen seinen Roman ›Geballte Wirklichkeit‹? Nun, Parodie ist vielleicht nicht das richtige Wort für meine Arbeit über ihn. Ich habe ihn mehr gewissermaßen aus dem Märkischen übertragen…« Nein, er war nicht zu stoppen! Hatte er ein Thema beim Wickel, so baute er es weidlich aus. Die Kleider seiner Sätze waren sozusagen sehr, sehr tief dekolletiert, und die Worte trugen erdrückend viel Schmuck. Der Blick des Leutnants fiel auf die Fensterbretter. Hinter den Gardinen standen Blumentöpfe aufgereiht. Zuerst glaubte er nicht richtig zu sehen - so ging er hin und überzeugte sich. In den Töpfen, gut gepflegt, wuchsen Brennnesseln und Unkräuter anderer Art. Auch eine Distel war darunter. Also war Muzeniek originell um jeden Preis. Sehr angenehm, daß es solche Menschen noch gab. In eine Pause hinein fragte der Kriminalist: »Wenn Sie mir die Geschichte nicht erzählen wollen, die eigentliche… wie wär’s, Sie zeigten mir wenigstens den dazugehörigen Stein?« Ohne Zögern legte Muzeniek den Finger auf einen Kiesel ziemlich tief in der Wand. »Also ist es recht lange her?« »Über drei Jahre.« »Hm…« Lemke trat vor eine der Landkarten, betrachtete sie aber nicht, wollte nur Zeit zum Überlegen gewinnen. »Und - sind Sie regelmäßig im Park, oft, selten?« »Hören Sie, ermitteln Sie gegen mich?« Der Leutnant wandte ihm
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das Gesicht zu: »Gegen Unbekannt, Herr Muzeniek.« »In welcher Angelegenheit?« »Wenn Sie erst meine Frage beantworten würden?« Der Mann im Rollstuhl fuhr sich über die Stirn, pustete vernehmlich die Luft aus. »Wie oft ich im Park bin? Im Sommer fast täglich. Ich spiele dort Skat mit meinen Freunden.« »Mit Herrn Joachim Heinrich, genannt Jo, und Herrn Edi Heßheimer?« Muzeniek hob die Schultern an. Das mochte heißen: Was fragen Sie noch, wenn Sie es wissen? Dann sagte er: »Und jetzt wäre es freundlich von Ihnen, wenn Sie mir eine Erklärung gäben.« »Einverstanden.« Der Leutnant setzte sich nun doch auf den Stuhl neben dem Schreibtisch, und während er sprach, bemühte er sich, die Wirkung der Worte auf dem Gesicht seines Partners zu erkennen und sie zu enträtseln. Muzeniek aber hörte nur mit wachsendem Erstaunen, ja Unwillen zu. Die Wohnungsglocke schrillte. »Sie erwarten Besuch?« fragte der Leutnant. Er wollte zur Tür. »Ich öffne, wenn Sie gestatten.« Der Surrer ertönte. »Nicht nötig«, sagte Peter Muzeniek und hatte die Hand noch auf einem Knopf unterhalb der Schreibtischplatte. Er lachte zur noch immer offenen Tür hinaus: »Komm, Jo, fahr ein!« Lemke trat in eine Ecke des Zimmers, in der er für den Ankommenden nicht sofort zu entdecken war. Ein gleicher Rollstuhl, wie ihn der Hausherr in seiner Wohnung benutzte, ruckelte über die Schwelle. Sein Fahrer trug einen kurzen Backenbart, war im Verhältnis zu Muzeniek erheblich breiter, aber auch kleiner, er rauchte eine dicke Zigarre, schmunzelte wie ein Weihnachtsmann, der die bange harrenden Kindlein gleich respektabel bescheren wird, schwenkte nun die Zigarre, daß Asche auf den Teppich fiel, bekümmerte sich kein bißchen darum und schwärmte verzückt: »Mann, Peter, du hast was versäumt! Ein Gesäß, sag’ ich dir, eine Figur…« In der Luft beschrieb er mit den Händen sehr weibliche Formen. »Besuch bei uns, weißt du, eine Kollegin von meiner Frau. Zum Reinkneifen, oh-oh-oh, so etwas von einem herrlichen Weib…! Am
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liebsten hätte ich dich versetzt!« »Warum hast du nicht?« fragte Muzeniek und feixte. »Warum! Blöde Frage! Kennst ja Lola - und daß sie mich nicht aus den Augen läßt. War sowieso nichts zu machen. Außerdem ging die Kollegin auch bald. Aber dieses Gesäß, ein Traum, eine wirkliche Himmelsmacht…! Mit so einer verheiratet sein - vor Eifersucht… ich könnte Othello werden!« »Aha«, sagte Muzeniek mit herzlichem Spott, »der auch wieder mal.« Er drehte sich zur Seite und wies auf Jürgen Lemke. »Wenn ich übrigens vorstellen darf: Leutnant Lemke von der Kriminalpolizei - Joachim Heinrich, mein Leidensgefährte und Freund.« »Guck an«, sagte Heinrich überrumpelt. Und dann noch einmal und wieder kaum hörbar: »Guck an…« Im nächsten Moment lachte er: volltönend und sympathisch. »Ach was, von schönen Frauen begeistert zu sein ist schließlich beinahe jugendfrei.« Schon wieder guter Laune, pfiff er: »Kann denn Liebe Sünde sein…« Er fuhr auf den Leutnant zu und drückte ihm fest die Hand. Wie selten ein Mensch wirkte er kontaktfreudig, er strahlte Offenheit und Geselligkeit aus. Ein großer Genießer war er zweifellos auch. Genau wie sein Freund war er viel zu höflich, um sich sofort zu erkundigen, wozu und weshalb Polizei hier war. »Ein Künstler, unser Jo Heinrich«, sagte Muzeniek, und er konnte wahrscheinlich nicht anders, als mit dem Freund oder über ihn liebevoll-spöttisch zu sprechen. »Dieser Bart und diese Zigarren, man riecht direkt den Künstler an ihm.« »Ich rate mal«, sagte der Kriminalist. »Sie schnitzen, nicht wahr?« »Fax!« sagte der Hausherr. »Kunstgewerbe überläßt er den Leuten, die sowieso nichts davon verstehen. Nein, nein, er malt. Und zwar Sonnenblumen. Echt Öl. Und Fischerboote. Und Motive von Hiddensee. Spachteltechnik, warme, intensive Farben, unverwechselbar!« »Sie haben aber kein Bild Ihres Freundes zu hängen?« »Das besagt gar nichts. Ich hab’ auch keinen Modigliani und keinen Picasso hier.« »Hör’n Sie nicht drauf«, sagte Jo Heinrich und lachte. »Herr Mu-
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zeniek ist ein unmöglicher, vor Neid und Bosheit triefender Kerl!« »Bosheit, von wegen! Ich mache hier Reklame für dich.« Von Heiterkeit geschüttelt, wandte sich Muzeniek dem Leutnant zu: »Einmal hatte er sich Gäste eingeladen. Bei mir kriegen Sie Bilder zu sehen, hatte er versprochen, einfach umwerfend. So etwas finden Sie weder im Louvre noch in der Ermitage. Haha, und denken Sie sich das Erstaunen der Gäste: Jedes seiner Worte entpuppte sich als absolut wahr!« Dieses Mal meckerte er sein Lachen, bis ihm die Tränen kamen. Jo Heinrich ließ ihm die Freude und stimmte ins Lachen ein. »Ein Rabe wird nie eine Nachtigall«, sagte er hinterher und spielte auf mehr als nur das Gesicht seines Freundes an. »Hä, danke!« sagte Muzeniek, und dieses Mal war es durchaus kein Triumph. Überhaupt schien er auf einmal bösartig zu sein, zumindest suchte er einen Verbündeten gegen den Leutnant: »Erinnerst du dich an das Mädchen im Park? Wie es weggelaufen ist mit dem Ruf: Er ist nicht dabei!« Auch Joachim Heinrich veränderte sich nun mit einem Schlag. Als wäre er plötzlich von innen her zugefroren, so kalt sagte er: »Wenn Sie uns etwas anhängen wollen, bei Behinderten ist das ziemlich bequem!« Jürgen Lemke wollte etwas erwidern, aber Heinrich fuhr aufgebracht mit dem Arm durch die Luft und schnitt ihm das Wort ab: »Nein, bester Mann, suchen Sie Ihre Sünder woanders! Wollen Sie uns unmöglich machen?« Stichelnd nickte ihm Peter Muzeniek zu; er hatte also Verstärkung gebraucht. Heinrich war zweifellos der Resolutere von ihnen, auch kämpferischer. Oder er trug nur sein Herz auf der Zunge. »Die Volkspolizei hängt niemandem etwas an«, sagte der Leutnant. Unwillkürlich wurde er streng. »Wir beschuldigen nicht nur keinen Unschuldigen, sondern wir werden seinen guten Namen auch zu schätzen wissen! Allerdings muß ich Sie um Verständnis für unsere Arbeit, ja um Ihre Unterstützung dabei bitten!« Er machte eine Pause und sagte dann leise: »Ein Kind ist gefährdet. Und zwar in seiner gesamten Entwicklung. Sowohl psychisch wie physisch!« In diesem Moment sah er tatsächlich Antje vor sich, und er hätte dem Mädchen gerne das Haar zu Zöpfen geflochten: beschützend, aus heimlicher Sympathie.
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Die Freunde schwiegen. Jo Heinrich paffte wütend an seiner Zigarre; bei diesem Zug war der Raucherkrebs keine Frage von Jahren, er saß schon jetzt in der Tabakglut, machte sich für den Sturmangriff warm. Einlenkend sagte der Kriminalist: »Würden Sie es denn verantworten wollen…« »Schon gut«, sagte Jo Heinrich, und es hörte sich nach einer widerwilligen Entschuldigung an. »Wobei Sie zugeben müssen, daß Ihre Vermutung nicht gerade sehr schmeichelhaft für uns ist.« »Ich vermute gar nichts«, sagte Lemke, und seine Trockenheit störte ihn selbst. »Ich frage.« Vielleicht war es Ärger, vielleicht auch nur das Gefühl, jetzt irgend etwas mit seinen Händen tun zu müssen, jedenfalls schob er auf einmal die Rollstühle der beiden Männer nebeneinander, so daß sie wie auf einer Bank vor ihm saßen. »Sind Sie im Stadtpark vielleicht mal einem Körperbehinderten mit Rollstuhl begegnet, der Ihnen fremd gewesen ist?« »Nein, sind wir nicht!« sagte Heinrich und war unmittelbar vor einem Wutausbruch. »Und besser, wir begegnen auch keinem! Nach Ihren Fragen würde ich nicht sehr freundlich zu ihm sein!« Wiederum nickte Muzeniek. Er war zufrieden mit seinem Freund. Ein Drittel der Grundfläche im kombinierten Wohn- und Arbeitszimmer wurde von einem grobgetischlerten seesandweißen Tisch beansprucht. Die einfache Lampe mit der 500-Watt-Birne darüber war sowohl nach oben und unten wie auch nach den Seiten hin verstellbar. Auf der Platte türmten sich Rollen von Transparentpapier, Zeichenkarton, Blei- und Filzstifte unterschiedlichster Stärke und Länge, bekritzelte Zettel, manche auch mit Skizzen versehen, und immer wieder Aschenbecher, größtenteils aber mit Radiergummis, Büroklammern und Reißzwecken gefüllt. In einem Armstuhl hinter dem Schreibtisch saß Edi Heßheimer. Saß da und wirkte mit seinem verschmitzten Lächeln. So einer zog andere Menschen an, vom Kind bis zum Greis, so einer hatte die Fähigkeit, dem anderen zuzuhören. Unwillkürlich vertraute man ihm. Schon nach den ersten Minuten ihres Gesprächs hatte Leutnant Lemke über ihn gedacht: Das ist ein Mensch, der sehr viel erlebt und erlitten hat; zuviel mitunter, der
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trotzdem heiter und freundlich geblieben ist. Oder der sich diese Heiterkeit im Laufe vieler Jahre regelrecht erarbeitet hat, sich durchgebissen zu ihr. Wahrscheinlich hat er nunmehr Verständnis für jede und jeden und ebensoviel Verzeihen. Wenn überhaupt etwas an ihm störte, dann höchstens seine nikotingelben Finger; meistens hielt er die Zigarette mit der Glut nach unten, als wollte er sich am aufsteigenden Rauch die Finger wärmen. Hier in der Wohnung kam er ohne Rollstuhl zurecht. Wollte er an einen anderen Platz, in einen anderen Raum, so benutzte er einen Stock und stützte sich mit der zweiten Hand an Wänden und Möbeln ab. Er war Trickfilmzeichner und freiberuflich tätig. Doch offensichtlich gehörte seine größere Liebe dem »Witz ohne Worte«. Aus Serien dieser Art reichte er seit etwa einer halben Stunde Blatt für Blatt zu seinem Besucher hinüber. Momentan ging es um Autos. Da saß eine ausladende, überaus vollbusige Dame hinter dem Lenkrad - und also waren die vorderen Kotflügel und die Lampen des Wagens Metall und Glas gewordenes Abbild dieser verdrängenden Busenpracht. Warum auch sollten nur Hundebesitzer ihren Vierbeinern ähnlich werden! Oder die Hunde ihren Besitzern! Herrchen und Frauchen über ein Auto konnten bisweilen viel närrischer sein, unzurechnungsfähig sogar. Da lenkte ein Schornsteinfeger seinen Benzinfresser-Liebling - selbstredend war die Karosse hoch und von der Form her Zylinder, und natürlich befand sich der Fahrersitz auf, nicht unter dem Dach. Da gab es den Gangster mit Augenklappe, den Durch-und-durch-General mit Schießschartenblick, den Pfeife rauchenden Künstler mit Backenbart, und immer fand sich an ihrem Auto der ihnen entsprechende Beweis für Beruf und Charakter. Jürgen Lemke gefielen diese Arbeiten sehr, er amüsierte sich. Auch spürte er den zufriedenen und wohlwollenden Blick Edi Heßheimers auf seinem Gesicht, und so schmunzelte er besonders eifrig, da dies den Humoristen wohl freute, und solche Freude tat er ihm gern. Fast hatte er vergessen, daß der Behinderte noch mit keiner Silbe auf sein eigentliches Anliegen eingegangen war. Er hatte es ihm vorgetragen. Übrigens sprach der Mann zwar ein fließendes, aber von der Satzstellung her ein merkwürdig geschachteltes, geradezu verbogenes
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Deutsch. Ab und zu schielte er sehnsüchtig zum schweigenden Fernsehgerät hinüber. Es war ein weißes Standgerät mit dem gegenwärtig größten im Handel erhältlichen Bildschirm. Unerwartet sagte Heßheimer nun: »Aber hab’ ich gesehn den Film vor drei Jahren, kann sein auch fünf.« »Wie bitte?« Der Leutnant konnte nicht folgen. »Na mit diesem Sexual… - wie heißt gleich -… delikt an Kindern. War gute Probleme. Möcht’ schön sein, wenn sie bald wiederholen im Fernsehen.« Fraglos sah er nicht nur ungarisch aus. »Verzeihen Sie«, sagte der Kriminalist und war vollends verwirrt, »ich sprach mehr von einem tatsächlichen Vorgang.« Er holte noch einmal seinen Ausweis hervor. »Ich bin nicht vom Film, ich komme von der Polizei.« Edi Heßheimer ließ sich nicht beeindrucken. Er blieb die Ruhe selbst und lächelte nachsichtig. »Weiß ich, daß Sie nicht sind, was Sie nicht sind. Ich hab’ nur gemeint, der Film, was ich sagte - für alle Leute und was die Bevölkerung ist, möchten sie sehn, was man achtgeben muß auf Kinder und sein auf der Hut.« »Ah so, ja. Sie glauben, daß ein solcher Film bei der Aufklärung der Bevölkerung von Nutzen wäre.« »Glauben! Weiß man genau, wenn man gesehn hat Fernsehn und Film. Interessant.« Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme über der Brust und schien gewillt zu sein, einen grundsätzlichen Disput über die Kunst der bewegten Bilder auszutragen. »Und dann, was die Schauspieler sind, die von früher besonders. Manchen kenn’ ich schon lebenslänglich, wie heißt gleich… wie mit der Muttermilch. Die was die Garbo ist und der Lingen und Moser und ihre Übermütigkeit in den Betten, wo ich dagegen bin, daß die Zeitungen darüber schreiben. Sehr interessant. Aber zurück, wo Sie fragten. Nehmen wir ›M‹, zum Beispiel nur, ›M‹, deutscher Spielfilm, neunzehnhundertzweiunddreißig, kann sein auch, war früher…« Jürgen Lemke ließ für die nächsten Minuten alle Hoffnung fahren; dieser Mensch war ja besessen von der Film- und Fernsehleidenschaft! Dagegen kam ein geplagter Polizeileutnant nicht an. Allerdings war Heßheimers Rede nur für den oberflächlichen Zuhörer verworren: Immer wieder fand er zu seinem Ausgangspunkt zurück;
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der Kriminalfilm ›M‹ stand in klarer Beziehung dazu. Was er als Zwischentext einflocht, fiel ihm gewiß nur nebenbei ein, und er formulierte es deshalb nur laut, weil er rein in Gedanken nicht gleichzeitig sortieren und den Faden behalten konnte. Solche Menschen gab es nicht viele, aber es gab sie, und bei aller Verwirrung, die sie anrichteten, zeichnete sie doch gründliches Denken aus. Belustigt war Jürgen Lemke außerdem. Drei Freunde, dachte er, und jeder fast das Gegenteil des anderen. Muzeniek behauptet: Das Fernsehen hat uns kaputt gemacht. Heßheimer schwelgt im Fernsehen, als wär’ es der Himmel auf Erden. Und Heinrich benimmt sich fernsehgewandt: Ein Traum von einem Gesäß, ich könnte Othello sein…! Muß kiebig zugehen, wenn sie ihre Skatkarten dreschen. Ehrliche Freundschaft, ehrliche Freunde - ein nie ganz erklärbares Phänomen. Der Leutnant gestand sich ein, für diese Männer mehr als berufliches Interesse zu hegen. Er fühlte sich hingezogen zu ihnen, sehr persönlich. Das stimmte ihn mißtrauisch gegen sich selbst. Nun blickte er strenger drein. »Also, wie war«, sagte da Edi Heßheimer und wechselte sprunghaft den Gegenstand seiner Betrachtung, »im Stadtpark ein Fremder? Mit Rollstuhl? Interessant. Aber nicht sehr möglich, wäre mir aufgefallen.« »Und wenn Sie in Zukunft…« »Da wird er schon sorgen dafür«, fiel ihm der Humorist nun ganz gegen seine sonstige Art ins Wort. »Wird er piesacken uns, läßt er nicht so was sitzen auf sich, Polizei und so alles. Kriegt er womöglich sonst… na, wie heißt gleich… noch Herzimfrack. Hab’ ich ihm einmal, interessant, nicht geglaubt, er hat mir geschickt Prospekte. Von Karlovy Vary, wo war gerade Filmfestival. War Post schuld, hat vielleicht erst Vorfahrt gegeben Schnecke, wie ist im Leben so. Hat er nicht gesprochen mit mir, kann sein fast ein Jahr. Nur böse mit uns Karten gespielt, kein Wort nicht zu mir. Interessant.« Er grinste verschmitzt und erinnerungsträchtig. »Wer? Was?« sagte der Kriminalist und war nun doch der Verzweiflung nahe. »Ich verstehe kein Wort.« »Was ist zu verstehen? Sie haben Jo Heinrich beleidigt, weiß ich
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das so und so.« »Ach, ihn meinen Sie!« Erleichtert pustete der Leutnant die Luft aus. »Aber wieso beleidigt? Ich habe lediglich…« »Oh, meine Frau!« sagte Edi Heßheimer dazwischen und war auf einmal sehr aufgeregt: Draußen war jemand am Fenster vorbeigegangen. Hastig, mit gleichsam fliegenden Händen, versuchte er Ordnung in das Chaos auf seinem Arbeitstisch zu bringen. Dabei stieß er einen postkartengroßen Bilderrahmen um, und der fiel auf den Rücken. Das Foto zeigte zwei junge Damen, schwarzhaarig, sehr ungarisch und sehr gut aussehend, wahrscheinlich die Töchter des Marines. »Nun helfen Sie bitte!« sagte er und steckte Jürgen Lemke mit seiner Nervosität an. Beide benahmen sich wie Schuljungen, die um Haaresbreite vom Lehrer beim Abschreiben erwischt worden wären. Sie schichteten die Papiere über- und durcheinander, und später würde gewiß das große Suchen beginnen. Ordnung und Ordnung war zweierlei. Die Wohnungstür ging, und gleich darauf betrat Frau Heßheimer das Zimmer. Sie küßte ihren Mann auf den Mund, sagte mit gespieltem Erstaunen: »Wie denn - so aufgeräumt dein Arbeitsplatz?« Und mit einem Augenzwinkern zu Jürgen Lemke: »Er wußte wohl, daß er Besuch bekommt?« »Ja, also«, sagte der Humorist, und es war ihm nicht angenehm, »das ist meine Frau. Und dieser Herr ist… ja also, ist er Kriminalpolizei.« Frau Heßheimer erschrak. Dann lachte sie gezwungen. »Nicht doch!« Erneut küßte sie ihren Mann auf den Mund. »Bei dir doch nicht, Edi? Nicht doch bei dir!« Wie einem Kind strich sie ihm, als müßte sie ihn trösten, zärtlich über das Haar. Sie liebte ihn sorgenvoll -
5 Antje saß - schlapp wie ein Ballon, der immer mehr Luft verliert - am Schreibtisch in Carla Walls Arbeitszimmer, hatte den linken Ellenbogen aufgestützt, und ihr Kopf lastete auf der Hand. Sie blinzelte, als würde sie jeden Augenblick einschlafen können, gähnte, pustete, bot eine reife Schauspielerleistung, sperrte sich innerlich. Mit Ausdauer Fotos zu betrachten, alle sich ähnelnd und langweilig 56
darum, das war ganz und gar nicht ihr Fall… Rollstuhlfahrer. Nichts und gar nichts als Leute im Rollstuhl. Höchstens mal ein Paket auf der Spritzdecke über den Beinen. Oder ein Hund an ihrer Seite. Das war dann eine Art Sonntagsbild. Rollstuhlfahrer im Straßenverkehr, vor einem Blumengeschäft, vor einer Bäckerei mit Torten und Kuchen im Fenster und immer wieder im Straßenverkehr. Dagegen war Stubenarrest noch spannend. Wieder schob Carla dem Mädchen ein Foto zu. »Und der Onkel hier?« fragte sie erschöpft, strich der Kleinen aber zärtlich über das Haar. Ungnädig schob Antje das Foto von sich. »Nein! Sowieso kenne ich keinen!« Sie langte nach einer Limonadenflasche mit Strohhalm und nuckelte lustlos daran. »Aber Mäuschen, sieh ihn dir wenigstens an.« Antje rutschte vom Stuhl, wurde ihrem Einfall entsprechend lebendig, hangelte nach Carlas Kopf hinauf und fragte: »Soll ich dir Zöpfe flechten?« Entnervt zerrte sich die Kriminalistin die Perücke vom Haupt und warf sie auf den Tisch. »Meinetwegen, zerrupf mir mein bestes Stück! Aber nicht gleich - die paar Fotos schaffst du doch noch?« Das Kind lachte, immerhin ein Fortschritt. »Und dieser Herr?« fragte Carla und nutzte die Sekunde wie ein Sportler beim Wurftaubenschießen. »Auch nicht. Außerdem ist das ein Opa und nicht ein Herr!« Schon begann sie, an der Perücke herumzuziehen, ihr guter Wille war weggebrannt, weggepufft wie flüssiges Gas. »Antje, Kind«, sagte Carla und rang die Hände, »wie oft muß ich dir das erklären: Dieser verzauberte König… er ist gar keiner, er ist ein ganz gewöhnlicher Mann. Ein Schwindler und Betrüger, ein sehr böser Mensch. Wir haben viele Beweise dafür. Auch zu anderen Kindern in anderen Städten ist er unerhört schlecht gewesen. Von denen wissen wir’s ja.« Das entsprach nicht der Wahrheit, aber sie sah keine weitere Chance, dem Mädchen ins Gewissen zu reden. Daß die Kleine inzwischen überhaupt bereit war, sich derartiges anzuhören, war schon beinah ein Hauptgewinn. Allerdings hatte Carla ihr zugeben müssen, daß es vielleicht - möglicherweise, eventuell und wenn alle Stricke reißen - doch manchmal Wunder geben könnte und genauso
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Verzauberte. Im Gegenzug hatte Antje ihr eingeräumt, daß jener Fremde im Rollstuhl nicht hundertprozentig - absolut, schwör’ ich und gelobe und wirklich wahr - enorm verzaubert sein müsse. Jetzt musterte sie ihre erwachsene Freundin, tat es aus kleinen Augen, und nach einer Weile sagte sie unsicher: »Das erzählst du mir alles nur.« »Erzähle ich nicht nur!« »Erzählst du doch nur!« »Stimmt ja gar nicht!« »Stimmt genau!« »Lüge!« »Wahrheit!« »Du…!« Carla griff sich die Kleine und kitzelte sie durch. Gleich war das Dienstzimmer mit Quietschen und Lachen gefüllt, und schließlich willigte Antje sogar ein, sich die restlichen Fotos zu betrachten. Leider blieb auch dieser letzte Anlauf ergebnislos. Es klopfte: ein Meister der VP in Uniform stand in der Tür. Menz hieß er, glaubte sich Carla erinnern zu können. »Genossin Oberleutnant, gestatten Sie, daß ich näher trete?« »Bitte kommen Sie rein.« Er hielt ein dickes, in Kunstleder gebundenes Buch in der Hand. Lenin, Gesammelte Werke, Band drei. Im übrigen überbrachte er ihr den Befehl, sie möge sich sofort bei Major Rieger zu einer Besprechung einfinden. »Was - jetzt? Ist gut, Sie dürfen gehen.« Der Uniformierte blieb. »Gibt’s noch, was?« »Verzeihung, ich habe Befehl, dem Mädchen solange etwas vorzulesen.« »Was denn, daraus?« fragte Carla Wall, tippte auf den Leninband und prustete los. »Nicht direkt daraus. Mehr eigene Geschichten.« Verlegen trat der Meister von einem Bein auf das andere. »Und wo haben Sie die?« »Zu Hause, Genossin Oberleutnant.« »Aha. Und darum der Lenin - Sie haben wohl abgeschrieben bei ihm?« Ihr Spott war gutmütig, nicht verletzend. »Nein, das nicht«, sagte der Genosse Meister, und es war erstaunlich, wie viele Wellen verschiedenen Rots sein Gesicht überliefen. »Ungefähr habe ich
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meine Geschichten im Kopf. Das Buch ist nur… vielleicht nimmt mich das Kind nicht ernst ohne Buch.« Carla machte große Erkenntnisaugen. Trotzdem war ihr Interesse für den Meister geweckt, er imponierte ihr. »Ein schreibender Volkspolizist. Hervorragend. Ich hatte keine Ahnung davon.« »Na, gar so wild ist es nicht mit mir«, sagte er fast stimmlos, und sein Gesicht erlag dem Farbton Dunkelrot. »Genosse Meister, wenn ich mich richtig entsinne, Ihr Name war doch Wolfgang Menz?« »Jawohl, Genossin Oberleutnant.« »Ich würde mich freuen, wenn ich bei Gelegenheit etwas von Ihnen lesen dürfte. Wie ist es - rücken Sie etwas heraus?« »S-s-selbstverständlich«, stotterte er und war nun blaß geworden; die Farbe der größten Freude war offensichtlich nicht tiefstes Rot. Carla zog Antje zu sich heran und umarmte sie. »Staunste nicht, Deern? Onkel Wolfgang ist beinah ein richtiger Dichter! Wenn du mich also fragst - das grenzt schon an Zauberei!« Sie gab ihr einen Klaps. »Bis bald.« Der »Chef«, Major Rieger, und Leutnant Lemke warteten bereits. »Nichts«, sagte Carla Wall auf die Frage nach einem eventuellen Ergebnis aus der letzten Stunde mit Antje. »Und ehrlicherweise muß ich zugeben, ich hatte auch kaum noch etwas erwartet.« »Sie glauben«, fragte Major Rieger, »der Rollstuhlfahrer ist ein Phantom?« Unzufrieden blätterte er in einer Akte. »Ich weiß es nicht.« »Vermutungen, Annahmen, Spekulationen! Nein, so geht das nicht weiter! Sie waren nun beide vier Wochen lang mit dieser Antje Berger beschäftigt. Und nicht nur Sie! Das kostet den Staat und jeden einzelnen Bürger Geld. Und was legen Sie mir vor - vage Berichte, nichts Greifbares! Der Nebel wird dichter, könnte, man auf den Deckel der Akte schreiben, mich, gruselt’s, der Wind fegt ums Haus, und es knarrt eine Tür! Ein Märchenbuch, Oberleutnant Wall! Äußern Sie sich endlich konkret: Spinnt dieses Mädchen? Wäre es zweckmäßig, es einem Psychiater vorzustellen? Entschuldigen Sie, aber allmählich kommt mir der gesamte Vorgang etwas unernst vor!«
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Möglich, der »Chef« hatte in dieser Angelegenheit einen Rüffel von »weiter oben« bekommen, zumindest deutete sein Ungehaltensein darauf hin. »Genosse Major!« sagte Oberleutnant Wall und protestierte schon mit ihrem Stimmklang. »Antje Berger ist so gesund und normal, wie man sich eine Tochter nur wünschen kann.« Eine Tochter - ah so? Nein, nein, der Begriff hatte sich eingeschlichen. Hoffentlich hatten die Männer ihn überhört. Verletzt fühlte sie sich dennoch. Und zwar so verletzt, wie nur eine Mutter, deren Kind von Herzlosen beleidigt wurde, im wahren Herzen verletzt sein kann. »Außerdem, der Rollstuhlfahrer, von dem sie spricht und den sie gemalt hat, ist mir viel zu faßbar, um - wenn man so will - reine Dichtkunst zu sein.« Um Gottes willen, wie argumentierte sie bloß? Dichtkunst - wie kam sie darauf? Richtig, der schreibende Volkspolizist. »Also gibt es einen Täter?« fragte der Major versöhnlich. Bei einem Ja hätte er jetzt bestimmt gelächelt. »Ich weiß es nicht. Besser gesagt, überzeugt bin ich nicht mehr davon.« Leutnant Lemke meldete sich. »Sie sind mir auch so jemand«, sagte der »Chef« und war wieder mürrisch. »Angeblich finden Sie ein System für alles, und dann, was lese ich über Ihre Ermittlungsarbeit: Geschichten.« »Genosse Major, da Sie offenbar meinen Bericht über die drei befreundeten Rollstuhlfahrer meinen - ich hatte keinen Anlaß, sie im Sinne des Wortes zu verhören. Vielmehr hatte ich die Chance, sie zu erleben, sie kennenzulernen, das nützte mir mehr. Drei großartige Menschen, wenn ich das so formulieren darf. Ab und zu dürfen wir angeblich Gesunden getrost bei ihnen in die Schule gehen.« Er war nun ganz und gar Würde, Inkarnation der Würde, unantastbar und geweiht wie eine armlange, flackernde Kerze am Namenstag eines Heiligen im katholischen Kirchenschiff. Der »Chef« starrte ihn an, ungläubig. Auf einmal lachte er herzlich und laut. »Hör sie sich einer an, unsere wandelnde Dienstvorschrift! Sie qualifiziert sich, wird Mensch. Leutnant, ich nehme Sie beim Wort! Und wehe, Sie werden mir rückfällig!« Er machte eine Pause und wurde wieder sachlich und ernst. »Gut also, schießen Sie los.« Jürgen Lemke hatte ebenso-
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wenig wie seine Vorgesetzte ein Erfolgsrezept. Im Gegenteil, er zweifelte mehr. Schulterzuckend sagte er: »Wenn Sie meinen, daß wir die Fahndung abbrechen sollten…?« Damit hatte er den Major an seinem empfindlichsten Nerv getroffen. »Jetzt aber Schluß! Führe ich die Ermittlung? Leutnant Lemke, mäßigen Sie sich in Ihrem Ton!« Carla Wall kannte ihn genau: Er war nicht wirklich böse auf Jürgen! Nur Leichtfertigkeit konnte er nicht ertragen, er wollte, brauchte Sicherheit, jedenfalls soviel davon, wie nach menschlichem Ermessen überhaupt möglich war. Im Dienst war er vor einigen Jahren verwundet worden, Bauchschuß. Es fehlte nicht viel, und er hätte die Erde über sich gehabt. Sie hatten damals einen Autodieb für relativ harmlos gehalten. Vertrauensseligkeit. Der Mann war bewaffnet gewesen und außerdem geistesgestört »Verzeihen Sie, Genosse Major, ich hätte meinen Vorschlag zuerst begründen müssen.« »Ein Vorschlag war das? Klingt schon besser. Bitte erläutern Sie.« »Der wesentliche Punkt, welcher uns bisher einen Täter annehmen ließ, ist der von dem Mädchen genau beschriebene und gemalte Rollstuhl sowie der Versuch des Kindes, dessen Fahrer Medikamente zukommen zu lassen. Alle unsere Bemühungen, jenen Unbekannten zu ermitteln, sind absolut ergebnislos geblieben. Ja, es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt für dessen Existenz. Da Antje Berger einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit im Stadtpark verbringt respektive verbracht hat, ist anzunehmen, daß sie dort bereits mehrfach den Behinderten Heinrich, Muzeniek und Heßheimer begegnet war, ohne daß die Männer sie bewußt zur Kenntnis genommen hätten. Somit hatte sie reichlich Gelegenheit, sich den Rollstuhl als Gegenstand einzuprägen. Weiter: Wiederholt konnte Oberleutnant Wall an der Kleinen beobachten, daß sie - sobald es um! Schwächere oder Kranke geht sehr mitleidig und hilfsbereit ist. Wir halten es also für denkbar - die Genossin Oberleutnant und ich haben uns in all diesen Fragen selbstverständlich abgesprochen -, daß es die Absicht Antje Bergers gewesen sein könnte, ihre Tabletten jenen drei Freunden zu schenken. Da sie für ein solches Handeln eine kindgemäße Motivation benötigte,
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gewissermaßen einen zusätzlichen Antrieb, stattete sie ihr Vorhaben mit märchenhaften Attributen aus. Wenn sie uns diese These jetzt nicht bestätigen will, so wäre das damit zu erklären, daß sie sich schämt. Schließlich sind die Herren Muzeniek, Heßheimer und Heinrich Fremde für sie geblieben; ihr Plan ist nicht zur Ausführung gelangt. Von Fremden belächelt zu werden wäre ihr peinlich, zumal sie wahrscheinlich selbst kritischen Abstand zu ihrem gescheiterten Vorhaben gewonnen hat.« Er nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit seinem säuberlich gefalteten Lederlappen. Das Telefon hatte geklingelt, der »Chef« sprach mit jemandem, und so wartete er. »Ja, das ist überzeugend«, sagte Major Rieger endlich. »Gründlich und überzeugend.« Dann wandte er sich Carla zu: »Genossin Oberleutnant, möchten Sie das Gesagte ergänzen? Oder sehen Sie irgendeinen Fakt, und mag er noch so abwegig erscheinen, der einer weiteren Fahndung Inhalt und Zweck geben könnte?« »Nein, einen solchen Fakt gibt es nicht«, sagte Carla und war plötzlich sehr müde. »Dennoch habe ich kein gutes Gefühl in dieser Angelegenheit. Aber Gefühl zählt ja wohl nicht, ist auch kein Argument… Ich schlage vor, die Streifen im Stadtpark weiterhin in der jetzigen Stärke zu belassen. Mehr zu tun wäre im Augenblick nicht sinnvoll. Antje wird im September eingeschult. Ich werde ihre Mutter bitten, das Mädchen regelmäßig zur Schule zu begleiten und es auch wieder abzuholen. Das dürfte möglich sein, da Frau Berger nicht berufstätig ist. Selbst werde ich mich in Abständen um die Kleine kümmern und sie besuchen. Vielleicht erfahre ich dann doch etwas - vorausgesetzt, es gibt etwas zu erfahren.« Sie hatte leise und bedrückt gesprochen, hatte am Ende lächeln wollen, aber es war mehr ein resignierendes Schniefen geworden. Nachdenklich betrachtete sie der Major. »Nun denn…«, sagte er. »Bleiben wir also bei allen verfügbaren Vorsichtsmaßnahmen und nehmen diesen ›verzauberten König‹ ansonsten als eine Erfindung an. Ich bin einverstanden damit.« Gemeinsam mit Antje hatte Carla im Fond des Dienstwagens Platz genommen, und Jürgen Lemke saß hinter dem Lenkrad. Er fuhr ruhig
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und zuverlässig, beinahe langweilig, wechselte nie die Spur, es sei, daß er abbiegen wollte, und dabei behauptete er, Autofahren wäre seine einzige, dafür aber um so größere Leidenschaft. Seinen nüchternen Fahrstil bedenkend, fand Carla, daß er geradezu erregend leidenschaftlich war. Sie hatte den Arm um Antjes Schultern gelegt, und irgendwie war sie wehmütig: Abschiedsstunde. Abschied erinnerte immer an Bahnsteige, Lautsprecherstimmen, an hastende Leute mit Koffern und Taschen, an beklemmende Einsamkeit. Niemals hatte sie liebe Menschen gern bis auf den Bahnsteig gebracht. Hatte es trotzdem immer getan. Und war mit dem Feind-Freund Einsamkeit leise nach Hause gegangen. Sie kraulte das Mädchen unter dem Kinn und sagte lächelnd: »Ach, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß. Nun war er doch aus dem Märchen, dein verzauberter Mann. War ihm entsprungen - Stippvisite in Antjes Kopf.« Sofort war das Kind fasziniert: »Bitte, erzähl doch weiter…!« Leutnant Lemke drehte sich um, blickte das Kind an wie ein Förster einen Borkenkäfer. »Du meinst, jetzt sind wir dran mit dem Erzählen? Deine Geschichte haben wir weg?« »Hör mal, Mäuschen«, sagte da Carla, und es war ihr von letzter Hoffnung genährter Versuch, »ist das auch alles wahr, was du uns erzählt hast über deinen verzauberten König?« »Ist es nicht wahr, nein?« fragte Antje, und ihre Augen forschten ernst in Carlas Gesicht. Das war für Jürgen Lemke zuviel. Mit beiden Händen klatschte er auf das Lenkrad, lachte aufreizend schrill und lamentierte: »Das fragt sie uns - ein Prachtkerl von einem Kind! Seit Wochen suchen wir nun, belästigen Leute, kein Rollstuhl im Umkreis, den wir nicht kennen, die ausrangierten, die kaputten sogar! Ich träume von nichts anderem mehr, ein Rollstuhlfetischist, der Lemke, geht dem Kreisarzt auf den Wecker, den Polizeirevieren, der Sozialfürsorge - und diese kleine Wundertüte fragt uns, ob sie Wahres sprach!« Gleich guckte die Kleine ängstlich und böse. Sie tat Carla leid, und so zog sie das Mädchen näher zu sich heran. Tröstend sagte sie: »Ich denk’ schon, daß du meistens die Wahrheit sagst. Doch wenn du mal schwindelst - ein bißchen nur -, das kommt in den besten Familien
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vor, gibst du es hinterher zu. Oder nicht?« Dieser Appell verfehlte nicht seine Wirkung. Antje grübelte, und endlich fragte sie zögernd: »Und wenn ich enorm geschwindelt hätte, würdest du mich dann nicht mitnehmen zu deinen Kindern?« Richtig, die Kriminalistin hatte ihr das versprochen. Besonders attraktiv war für Antje der Hinweis gewesen, daß Carlas Junge mit Puppen, das Mädchen dagegen mit Autos und Kränen spiele. Sie hatte von Herzen gelacht. »Natürlich nehme ich dich mit zu meinen Kindern. Wenn Erwachsene etwas versprechen, dann halten sie es auch.« Auf Antjes Gesicht spiegelte sich wider, daß sie einen Konflikt mit sich austrug. »Eigentlich war es ganz anders«, sagte sie gedehnt. »So?« Das Mädchen nickte. »Und einmal bloß… überhaupt bloß einmal…« »Was - einmal?« »Daß er mich angefaßt hat und gestreichelt, der König. Ich war nämlich grauenhaft enorm hingefallen. Da hat er mir den Schmutz abgeklopft.« Der Leutnant drehte sich, um Antje sehen zu können, den Rückspiegel zurecht. »Und das ist jetzt die volle Wahrheit«, sagte Carla verblüfft, »mit ganz großem Ehrenwort?« Antje war besorgt. »Darf ich trotzdem zu deinen Kindern?« »Du darfst. Aber erst in drei Wochen. Jetzt sind sie mit ihrem Vati verreist.« »In drei Wochen ist Schule!« »Um so besser: Da kannst du gleich ein bißchen angeben mit deinen ersten guten Zensuren.« An einer Kreuzung zeigte die Ampel Rot. Ein Schwarm Fußgänger überquerte den Fahrdamm, und ihnen folgten zwei Rollstühle, ein Mann und eine Frau. Sie hatten sich die Gesichter zugewandt und lachten. Antje machte einen langen Hals. Der Mann war massig und groß. Dann ließ sie sich zurücksinken, legte den Kopf zur Seite und blinzelte zu den Fenstern der Häuser hinauf. Dort ging es wohl inte-
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ressanter zu. Besorgt hatte Carla das Verhalten der Kleinen registriert; hatte sie nun etwas zu verbergen oder nicht? Weshalb die plötzliche Neugier eben? Oder reagierte sie bereits unwillkürlich auf Männer im Rollstuhl: als Folge der ständigen Fragen an sie? Der Behinderte draußen hieß Domack, Achim Domack, und galt in seinem Wohngebiet als ein aktiver und lebensbejahender Mann. Allerbester Leumund. Glücklich verheiratet war er dazu. Carla seufzte - inzwischen kannte sie wohl jeden behinderten Mitbürger in dieser Stadt, der auf einen Rollstuhl angewiesen war, mit Namen. Und alles vergebens. Kaum zu glauben, doch wahr. Wenn es nicht ein Kind wäre, für dessen Sicherheit sie nun einmal zu sorgen hatten! Bei Erwachsenen war alles einfacher. Denen sagte man, verhalte dich so und so, das tue und das unterlaß, und man durfte - nicht in jedem Fall zwar, Unbelehrbare gab es immer - begründete Hoffnung hegen, Begünstigungen für einen Täter weitgehend ausgeschaltet zu haben. Wie anders dagegen verhielt sich ein Kind! Auch wenn es zehnmal versprochen hatte, hoch und heilig, nicht durch Pfützen zu spazieren, kein Wasser auf den Rhabarber zu trinken, nur auf dem Schutzweg über die Straße zu gehen, zehn Minuten darauf war jedes Gelöbnis vergessen: wenn sich nur eine Zeitung fand, um daraus Schiffchen zu kniffen und diese über die wellige Pfütze nach Amerika abdampfen konnten, wenn das verbotene Wasser nach dem Genuß des Rhabarbers rot und grün war und Brause hieß, wenn ein Ball auf die Fahrbahn rollte und dieser Ball viel wichtiger war als alle dröhnenden Autos der Welt. Nein, dachte die Kriminalistin, es war nicht umsonst, es war kein zum Fenster hinausgeworfenes Geld, daß wir uns um die Kleine bemühten, den bösen Verdacht überprüften. Worüber ärgere ich mich? Wenn es keinen Täter gibt - um so besser. Vorbeugen ist besser als heilen. Nein und nein, es war nicht umsonst! Leutnant Lemke hatte lange geschwiegen. Jetzt sagte er aus den Gedanken heraus: »Da stimmt doch was nicht! Warum haben wir den Mann im Rollstuhl nicht gefunden, der dich gestreichelt… gut, meinetwegen, der dir den Schmutz abgeklopft hat, als du hingefallen warst? Und meinetwegen auch bloß einmal.«
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Antje beschoß ihn förmlich mit Blicken: verkniffene Augen. »Er war gar nicht im Rollstuhl!« sagte sie schadenfroh. »Das hab’ ich mir nämlich enorm ausgedacht!« Sofort fuhr der Leutnant nach rechts an den Straßenrand und bremste für seinen besonnenen Fahrstil ungewöhnlich scharf. Er drehte sich um, pustete die Luft aus, Überdruck demnach, zeigte dem Kind die zusammengebissenen Zähne und knurrte es an. Knurrte wirklich und nicht nur im übertragenen Sinne des Wortes. Dann fuchtelte er mit der Hand und sagte: »Wenn du meine… Verwandte wärst, Fräulein, ich würde dich jetzt…! Ach was, du hättest von hier aus zu Fuß zu gehen!« So ärgerlich die Situation auch war, einer gewissen Komik entbehrte sie nicht: Wenn du meine Verwandte wärst… Meine Tochter, das mußte für Jürgen ein Zungenbrecher sein. Seine Vorstellungswelt weigerte sich offenbar, eine solche Möglichkeit in sich aufzunehmen oder ihr wenigstens ein Transit-Visum zu erteilen. Carla konnte den Spott nicht unterdrücken. »Sie ist nicht deine Verwandte, Jürgen. Tragisch, nicht wahr?« »Ja, es bricht mir das Herz!« Wütend legte er den Gang ein und fuhr wieder los. Das Mädchen wirkte nun ziemlich verstört. Der Schmollmund zuckte, und in den Augenwinkeln lagen zwei Tränen auf Abruf bereit. Jetzt nur kein Mitleid zeigen, dachte Carla und mußte ihre Hände zwingen, am eigenen Körper zu verharren, sonst geht’s los mit der Schreierei. Vielleicht war Jürgen Lemke nur neugierig, vielleicht bedauerte er auch seine Härte gegenüber dem Kind, jedenfalls drehte und drückte er am Rückspiegel, bis er Antje darin sehen konnte. Schließlich hielt er abermals an, kramte in der Innentasche seiner Jacke und holte - o Wunder! - einen grün und weiß gestreiften Lutscher hervor. Den reichte er ihr. »Hier, für hervorragende Wegverführung beim Eindringen der Kripo in die phantastische Märchenwelt!« Oh, so einfach schloß Antje nicht Friedensverträge! Sie war nicht bestechlich. »Kannst ihn mir ja ruhig geben!« sagte sie und hatte den Lutscher auch schon. »Mein Freund bist du trotzdem nicht wieder. Außerdem, wenn zwei Damen zusammen sind und nämlich enorme Damen, dann hat man für beide Konfekt. Sonst ist das be-
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trüblich, mein Herr!« Das war nicht komisch gesagt. Schulmeisterlich statt dessen. Sie lachten dennoch - etwas gezwungen.
6 Im Süden machte die Stadt einen Bogen um ihren Park. So gab es dort zwischen ihr und dem Laubwald Felder und Wiesen, eine Insel der Landwirtschaft. Nun aber war das Korn längst geschnitten und eingefahren, und die Äcker grünten das zweite Mal: Zwischenfrüchte, meistens Lupinen. Zum späteren Unterpflügen. Dünger. Oder als nahrhaftes Futter fürs Vieh. Später September. Blätterwirbel über die Landstraße neben dem Park. Weicher Wind, irgendwie dick: noch gesättigt vom Sommer. Auf dem Rücken des Windes, gerade erst sichtbar, eine graugrüne Wolkenplane. Einzelne Vögel, so aufgestört, scheinbar genauso herumgewirbelt wie die fallenden Blätter. Zitternd die sich beugenden Gräser. Das Laub der Bäume in Gold und Rost. Ein Drachen am Himmel, losgerissen wahrscheinlich: So hoch flog er, so wind verbündet eilig, und nirgends auf den Wiesen ein Kind. Um die Mittagszeit war es. Nur selten befuhr ein Auto die Straße; hier war Katzenkopfpflaster, und die nur wenig längere Ausweichstraße war breiter und asphaltiert. Ein Barkas - eine Art Kleinstbus dröhnte heran. Er besaß den Motor des Personenwagens Wartburg, einen Zweitakter also, hatte auch die gleichen Räder, war ein wendiges Fahrzeug und schnell. Nebelfarben war der Barkas, und außer den Fenstern am Fahrerhaus hatte er nur eine Scheibe am Heck. Nun rollte er aus, fuhr an den Grabenrand, stoppte. Der Motor lief weiter. Ein untersetzter Mann, der Fahrer, eine Lederschürze um den schon beträchtlichen Bauch, sprang auf die Straße. Er blickte zum Himmel und dann die Straße hinauf und hinab und hinüber zum Park. Jetzt schien es ihm einzufallen, was seine Absicht gewesen war: Er ging rings um das Auto und klopfte mit dem hohen Arbeitsschuh alle vier Reifen ab. Aber dabei spähte er in den Wald und über die Felder und Wiesen hinweg. Krachend und scheppernd und überhaupt lärmend näherte sich ein Tieflader mit Großplatten für den Strahlbetonbau, stieß schwarze Wolken aus seinem Auspuff und donnerte der Weststadt zu. Für eine Weile war die Luft nicht zu atmen; der Mann hielt 67
sich ein Tuch vor Nase und Mund. Gleich darauf kletterte er in das Fahrerhaus zurück. Der Motor heulte auf, die Räder machten einen Satz nach vorn, und der Barkas rollte wieder. Doch keine fünfzig Meter weiter bog er in eine Parkschneise ein. Hinter ihm schloß sich der herbstliche Wald. Der Schein trog: Sie saßen nicht wirklich gemütlich beisammen, schon gar nicht selbstvergessen und ganz in ihre Arbeit vertieft. Eher waren sie unzufrieden mit sich selbst und noch mehr mit den jeweils anderen, und ihre häufigen Seitenblicke waren keineswegs in Sympathie gebadet und mit Herzlichkeit gesalbt. Tag um Tag und Woche um Woche auf der Lichtung im Park zu verbringen - wen hätte das nicht nervös gemacht! Aber Jo Heinrich zeigte sich stur, ließ nicht mit sich verhandeln und trommelte ein um das andere Mal erbarmungslos seine Freunde zusammen. Wollte einer zu Hause bleiben, egal wie begründet, er drohte ihm gleich, die Freundschaft zu ihm überdenken zu müssen. »Daß euch das so kaltläßt«, sagte er dann, »solch eine Verdächtigung! Gestattet, daß ich mich wundere! Es wirkt fast, als wolltet ihr nicht, daß man diesen Ganoven erwischt. Sehr, sehr merkwürdig, in der Tat!« Nun gut, sie gaben ihm nach. Taten es ihm zuliebe, und nicht, weil sie an einen Erfolg ihrer Wachsamkeit glaubten. Doch Jo war nun einmal empört, fühlte sich persönlich angegriffen, und also war ihr Beistand für ihn selbstverständliche Freundespflicht. Karten allerdings spielten sie seit langem nicht mehr: Zu leicht waren sie darüber in Streit geraten, hatten sich vorgeworfen, einander ins Blatt geguckt oder »hühnerdoof« bedient zu haben, und waren im Zorn nach Hause gerollt. Wo ohnehin Streit in der Luft lag, bedurfte es stets nur des Kartenspiels, und die Zündschnur zum letztlichen Krach bin war gleichsam in die Hände von Pyromanen gelegt. Aus Schaden klug geworden, und auch, weil sie durchaus nicht Urlaubszeit hatten, waren sie dazu übergegangen, ihren Beruf im Park auszuüben: zurück zur Natur! Jo Heinrich hatte eine leichte, zusammenklappbare Staffelei neben sich aufgebaut, den weißen Zeichenkarton mit Reißzwecken befestigt und bannte in Aquarellfarben Himmel,
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Erde und Bäume darauf. Er tat es mit lockerer Hand, und die Ergebnisse seiner Arbeit durften sich sehen lassen. Trotzdem war er nicht zufrieden damit und bemängelte dauernd, den Bildern fehle es an »einer gewissen Heiterkeit«. Diese entschwundene Heiterkeit hatte vor allem Peter Muzeniek auf dem Gewissen. Der hatte ein großes schwarzes Buch auf den Knien und schrieb an seinem Roman. Jedenfalls gab er vor, solche Absicht zu hegen. Was er zwischendurch zum besten gab, bestätigte diese Absicht nicht. »Ha!« hatte er gerade eben erst gekrächzt und sein neuerdings unfrohes Lachen gemeckert. »Ich habe ein göttliches Werk geschaffen, eine Hymne auf unsere Wachsamheit hier! Gleichnishaft! Aufgemerkt also, und strengt gefälligst euer Abstraktionsvermögen an!« Daß die Freunde nichts Erfreuliches von ihm erwarteten und eigentlich auch nichts hören wollten, steigerte nur seine Vortragswut: »Im Sägewerk Nord an der Peene / sägt Otto heut nacht ganz alleene. / An der Wand stand’s gedruckt: / Meine Hand fürs Produkt! / Und so fiel sie dann auch mang die Späne.« Kein guter Tag für ihn: offenbar haderte er mit seinem Geschick. Stimmungen dieser Art unterlag er zwar selten, geschah es aber, so entwickelte er einen Hang zum seelischen Amoklauf. Jo Heinrich war dann am verletzlichsten - auch jetzt. Er konnte nicht lachen, nicht einmal grienen. Seufzen, das mußte er. Weit mehr erschreckte es ihn jedoch, wenn Muzeniek in schöner Regelmäßigkeit »Ha!« schrie und penetrant fragte: »Hab’ ich euch schon gesagt, daß ich gleich nach Hause fahre? Hier gefällt’s mir nämlich nicht!« Unter so gearteten Umständen war es nie und nimmer ein Wunder, daß Jos Bilder in Sachen Heiterkeit unterernährt und kränkelnd blieben. Übrigens froren sie alle etwas: das lange Sitzen, beinahe bewegungslos. Es war auch tatsächlich schon ziemlich kühl. Peter Muzeniek labte sich bisweilen aus einer Thermosflasche: Grog, hauptsächlich heiß gemachter Rum. Zwar wollte er abgeben davon, aber die Freunde zierten sich. Deren Fehler. Prost! Edi Heßheimer erwies sich wieder einmal als der Geduldigste von allen. Sein fast nie versiegendes verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht entwarf er in einem dünnen Heft »Witze ohne Worte«. Oder
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richtiger, er machte Skizzen dazu. Nur selten sagte er einen Satz. Diesen zum Beispiel: »War aber nicht gerecht, daß er ihn gestellt hat sofort vom Platz.« Und nach einer Pause sagte er noch: »Ist er Sachse, der Schiedsrichter. Und der Torwart ein in Berlin Geborener. Können sie sich vielleicht nicht leiden. Interessant.« Kompliziert, sicher. Aber kein Rätsel für die Freunde: Sie kannten ihren Edi genau und erinnerten sich, vor zwei Tagen über ein Fußballspiel gestritten zu haben. Oberliga. Das Fernsehen hatte das Spiel übertragen. Im Verlauf eines von beiden Seiten nicht gerade fair ausgetragenen Kampfes hatte der Schiedsrichter zunächst die Zügel schleifen lassen, dann aber bei einer Geringfügigkeit überhart durchgegriffen und einen Tormann des Feldes verwiesen. Nun war dieses Gesprächsthema zwar längst zu den Akten gelegt, doch Edi dachte halt gründlich und ließ während der Stunden im Park das Fernsehprogramm mancher Tage in seinem Gehirn Revue passieren. Und manchmal geschah es dann, daß er sich laut dazu äußerte, gewissermaßen hineinsprang in die Turbulenz des Geschehens - ohne Einführung, versteht sich. Dieses Mal aber hatte Jo Heinrich verärgert gesagt: »Mann, quatsch dich aus! Mit deinem Gesülze tötest du einem den letzten Nerv!« Muzenieks Attacken auf Jo erzielten somit Langzeitwirkung. Und wer den Schaden hatte, brauchte für den Spott nicht zu sorgen: Edi hatte nur hintergründig gelächelt und ein neues Blatt in seinem Heft mit eiligen Strichen bedeckt. Bald folgten das zweite und dritte Blatt. Es wurde ein Blätterregen. Obst malte Edi: Äpfel, Birnen, Kirschen, Pfirsiche und Zitronen. Dann gab er einige Striche dazu, und es wurden Damen-Gesäße, eins davon prächtiger als das andere. Gelungene Einzelstücke. »Schau, Jo«, sagte Edi in seiner harmlosen Art, »kannst du das zusammenstellen in Öl, Spachteltechnik. Ein Stilleben, weißt. Hast du es gut, beißt in Äpfel und Birnen und weißt, daß es in Wahrheit sind Himmelwunder von Ärschen. Oder wie heißt.« Jetzt langte es Jo. Er warf sich die Asche seiner Zigarre in den Schoß und fauchte die Freunde an: »Mensch, haut bloß ab! Wenn ihr euch mit mir streiten wollt, dann müßt ihr kommen, wenn ich nicht
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da bin! Ist doch wahr, Mensch, frag’ ich mich nur, was ich hier soll…!« Erregt riß er das noch feuchte Blatt von der Staffelei und rollte es zusammen. »Ha!« krächzte Peter Muzeniek, der gerade einen tüchtigen Schluck aus seiner Thermosflasche genommen hatte. »Soeben gelang mir ein neues Werk!« Zunächst schüttelte ihn sein Lachen. Auch sein folgender Vortrag ging bisweilen darin unter: »Drei Rollstuhlfahrer im Haufen, / die saßen seit Stunden beim Saufen. / Nach dem zwölften Manhattan / sprach einer: Woll’n wetten / jetzt könn’ wir bestimmt nicht mehr laufen.« »Nee, nee!« schnaufte Jo angewidert und klopfte sich empört an die Stirn. Edi dagegen grinste. »Schwarzer Humor«, sagte er. »Das ist wie manchmal jiddische Witze. Nein, vielleicht nicht so… vielleicht eher wie Muzeniek.« Er fuhr an den Freund heran, legte ihm die Hand auf den Arm und sagte auf einmal ernst: »Peter, trink nicht, wenn du hast Sorgen. Als einer im Rollstuhl, weißt. Mußt nicht kaputt machen dein Selbstgefühl, ist nicht nötig, verstehst? Gefällt mir das nicht an deinem Humor.« »Ha«, sagte Muzeniek und war plötzlich aggressiv; der Humorist hatte also richtig getippt. »Mein Humor gefällt dir nicht, na wunderbar!« Ohne ein weiteres Wort setzte er seinen Rollstuhl in Gang und fuhr ergrimmt davon. Lange sah ihm Edi hinterher, wehmütig lächelnd: Wie ein Weiser Kinder betrachtet, wenn er ihnen für heute und alle Zeit das Schwerste ersparen möchte und trotzdem nur zu gut weiß, daß jeder Mensch seine eigenen Erfahrungen machen muß, die bitteren und die süßen. Und daß dies Stärke erfordert und Zähigkeit. Und daß der Mensch - mehr als ihm meistens bewußt ist - tatsächlich stark ist und zäh. Heßheimer atmete tief ein und aus und drehte sich in Richtung Jo Heinrich. Er wollte ihm etwas Freundliches sagen, sich wieder versöhnen. Aber der Maler hatte sich bereits auf den Weg gemacht, grußlos. Dabei wählte er einen Parallelpfad zu dem, auf welchem schon Peter Muzeniek fuhr. Eine Kinderei ersten Grades! Und überhaupt, daß Jo vorzeitig die Zelte abbrach, ausgerechnet Jo, das mußte nachdenklich stimmen. Hatte er am Ende etwas vor und den Streit als Begründung gebraucht, um die Freunde verlassen
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zu können? Und Peter Muzeniek? Gewiß, er hatte nicht erst heute davon gesprochen, daß sie sich hier auf verlorenem Posten befänden, und auf den »Abbruch des Lagers« gedrängt. Allerdings hatte er es bisher mehr im Spaß als im Ernst gefordert: einfach um Jo zu reizen. Dessen rasches Aufbrausen war für den einstigen Redakteur gleichsam das Salz auf dem Butterbrot. Heute aber hatte Muzeniek Ernst gemacht, überraschend für Edi. Heßheimer grübelte. Nein, er begriff das alles nicht ganz. Er blickte zur Uhr: zehn Minuten nach zwölf. Eigentlich ganz gut, daß er jetzt allein war. Doch, bei näherem Hinsehen war es sogar sehr gut. Niemand würde behaupten können, daß er heute nicht hatte bleiben wollen. Er war der letzte auf der Lichtung. Wirklich sehr gut. Da konnte er noch etwas erledigen, wenigstens versuchen, etwas zu erledigen, wofür er während der letzten Wochen keine Gelegenheit mehr gefunden hatte. Er hob das Gesicht zum Himmel: Eine schwere Wolke flog heran und würde bald die Sonne verdecken. Zwischen den Bäumen regte sich nichts. Der Humorist lächelte gedankenfern. Bedächtig fuhr er los. Auch er wählte einen anderen Weg: einen für sich allein. Zwar würden sich alle drei Pfade in der Tiefe des Parks treffen, bis dahin aber war es ein gutes Stück Weg durch manchmal willkommene Einsamkeit Es wurde merklich windiger. Wenn der Mann im Rollstuhl zwischen den Bäumen hindurch zur Wiese hinüberblickte, konnte er sehen, wie der Wolkenschatten in breiter Front über die eben noch leuchtende Grasnarbe rannte, sich ausrollte über Gräsern und Blumen und dort grau wie Metallstaub liegenblieb. Nur vereinzelt waren noch Vögel zu hören, nervöse, aufgeregte Schreie. Vögel wie auf der Flucht, auch hektisch im Fluge. Die Luft roch nach vermoderndem Laub. Der Mann schwitzte sehr. Zum einen lag das an der dicken Joppe, deren Taschenpatten wie verkümmerte Flossen eines jungen Wals über die Seitenwände des Rollstuhls hingen. Innerhalb des Gefährts war bei bestem Willen kein Platz mehr für sie. Zum anderen schwitz-
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te der Mann, weil er angestrengt hoffte und bangte. Die Hoffnung: wie beim Vernehmen von Lottozahlen. Man hat die Tippscheine vor sich, viele Scheine, alles Geld darin angelegt, Gewaltversuch, das Glück einzufangen. Noch verkündet der Sprecher die Zahlen. Noch ist nichts verglichen, »ist alles, aber auch alles drin«. Die Bangigkeit: Was wird, wenn ich gar nichts gewinne, wenn alles umsonst war? Womit fang’ ich von vorne an? Wie denn? Womit? Zu lange hatte der Mann gewartet, nur von dem großen Erlebnis geträumt. Jetzt brauchte er es wieder. Brauchte es unbedingt! Ihm zitterten die Augenlider: Bitte, ich will nicht enttäuscht werden, bitte, bitte, was ich mir wünsche, es muß doch sein…! Ja, ja, es muß, weil einer wie ich genauso was abkriegen muß vom Glück, vom großen Kuchen. Er schmatzte. Weil die andern, immer die andern, sonst stets ihre Nase vorn haben, weit vor mir… diese dreckigen Schweine, diese Stutenbeschäler! Pfui Deiwel und nochmals pfui! Und erst mal die Stuten… worauf sie sich etwas einbilden mögen! So schön wie die bin ich jederzeit! Schönheit ist innerlich! Schönheit ist Seele. Und ob ich Seele besitze! Weiche Seele, liebliche Seele, lieblicher als ein Kaninchenfell, sogar als das vom Angorakaninchen… Ihr dreckigen Schweine, ihr. Zwei Tränen untermischten sich dem Schweiß im Gesicht des Mannes. Er betrauerte seine schöne Seele, die nichtbeachtete. Natürlich wußte er genau, daß er sich etwas einredete, daß er sich etwas zurechtbog. Oder daß er sich so eine Haut abstreifte, eine sehr behindernde. Seine Maßstäbe sollten gelten, wenigstens ab und zu, und er wollte die Stimmung, in der er an diese Maßstäbe glaubte. Diese Stimmung war angenehm. Vor allem aber: Er mochte darin kein Verbrechen sehn. Andere Menschen besoffen sich täglich, um heiter und gelöst zu werden, besorgten sich ihre Stimmung mit Schnaps. Arme, dreckige Schweine, dachte der Mann, keine Gedanken im Kopf, in der Brust keine Seele. Ich brauche keinen Alkohol für meine Stimmung - wenn es drauf ankommt, brauch’ ich ihn nicht! Nun war ihm der Mund trocken, und die Zunge empfand er als wulstig und dick. Dagegen half Zigarettenrauch. So stoppte er und
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gönnte sich einige Züge. Gierig sog er den Qualm ein, füllte sich nicht nur die Lungen damit, verschluckte ihn regelrecht. Besser noch hätte jetzt eine Zigarre geschmeckt. Leider benötigte man dafür Zeit und Ruhe. Beides hatte er nicht. Mit seinen kurzen, Hautläppchen blätternden, dicken Spargeln sehr ähnlichen Fingern tupfte er sich genüßlich gegen die Lippen. Seine Augen jedoch flackerten: Nichts, was sich bewegte - weder das Schaukeln der Baumwipfel noch das Flattern eines Papierfetzens im Unterholz -, entging seinem Blick. Wieder drückten seine Arme den Rollstuhl voran. Die Angst, vergeblich zu suchen, wurde größer. Auch mußte er in spätestens zwei Stunden weit entfernt von hier sein. Also kam großzügiges Warten erst gar nicht in Frage. Vor neun Wochen und drei Tagen hatte er letztmalig Glück gehabt. Hier. Danach war es einfach nicht möglich gewesen, zu viele andere Pflichten. Oder er hätte ausbrechen müssen, schier aus der Reihe tanzen. Ratsam war so etwas nie. Immerhin war es nun besonders fraglich, ob er Erfolg haben würde. Schließlich ging Antje seit Wochen zur Schule - vorausgesetzt, daß sie ihn nicht beschwindelt hatte. Leicht möglich, daß sie alle ihre Gewohnheiten abgelegt hatte und jetzt nach ganz anderem Rhythmus lebte. Wahrscheinlich sogar. Ein Zufall demnach, wenn er sie treffen sollte. Ein großer Zufall. Lieber, lieber, lieber Gott im Himmel, mach, daß der Zufall eintreffen kann…! Ohne die Fahrt zu unterbrechen, klopfte der Mann gegen die Brusttasche seiner Joppe. Ja, da drückten die Nüsse. Walnüsse und Haselnüsse, zwei Paranüsse dazu. Siehst du, Antje, ich halte Wort. Ich habe mir Mühe gegeben. Paranüsse - so ohne weiteres kriegt man die nicht. Aber für dich ist mir meine Zeit nicht zu schade, da unternehme ich allerhand. Weil du so schöne lange Röcke trägst. Und darunter ist es zu warm. Das muß ich prüfen, ob es darunter nicht viel zu warm ist. Wunderbar langsam prüfen. Bitte, hab doch Schuhe mit hohem Absatz an…! Auf direkter Strecke fuhr er zum Teich. An der gleichen Stelle wie beim letzten Mal verließ er den Pfad und zwängte den Rollstuhl durch das Gebüsch. Doch im Gegensatz zu damals gab er sich keine Mühe, leise zu sein. Wieder erreichte er den Stamm der Trauerweide,
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verharrte dort aber nicht, sondern durchbrach sofort den Vorhang aus Zweigen, und erst auf der Wiese hielt er an. Über den Teich liefen froschhohe Wellen, Schwarm auf Schwarm, und wenig später versteckten sie sich im Uferschilf. Aber immer weitere Wellen schwärmten dorthin, und es konnte verwundern, wie viele von ihnen Aufnahme fanden: bei so wenig Raum. Die Bäume ringsumher rauschten, warfen ihre Äste und Zweige bald nach dieser Seite, bald nach jener, ließen sie manchmal gar kreisen: als sollten die den sich lösenden, erdwärts trudelnden Blättern hinterherspringen, sie greifen, einfangen, retten für das Leben am Baum. Nach außen gedrückt die schwarzen Glotzaugen der Wiese: Maulwurfshaufen. Sie stierten bedrohlich. Der Mann im Rollstuhl nagte an den Fingernägeln, und seine Lippen zuckten dabei. Er nagte so heftig, versuchte so gewaltsam wenigstens ein Restchen abzubeißen, daß sein Nagelbett zu bluten begann. Keine Antje. Nirgends ihr wehendes blondes Haar… Im Nacken kühlte der Wind den Schweiß ab, und wenn der Mann den Kopf bewegte, war ihm das unangenehm. Plötzlich straffte er sich, riß die Arme zurück, stieß sie vor und riß sie wieder zurück; als ginge es um Sekunden, so gehetzt fuhr er nun. Hier gab es viele lauschige Plätze, viel Märchendekoration für Antje, und kein Mensch konnte auf allen Plätzen gleichzeitig sein. Auch nicht die Kleine. Die sowieso nicht. Wahrscheinlich spielte sie mit ihm nur Versteck. Ja, das war es, er sollte sie suchen, das wollte sie… erst suchen, damit es dann schöner wird… Nur bereitete ihm dieses Suchen durchaus kein Vergnügen. Eher betrieb er es mit Furcht und Entsetzen. Manchmal kamen Laute aus seinem Mund, eine Art hilfloses Greinen. Wenn ihn auf den engen Pfaden sperrige Zweige von Sträuchern peitschten, hätte er sie zur Strafe gern geknickt und wieder geknickt, bis sie nichts als blattverschmierter Zunder gewesen wären. Einzig aus Zeitmangel versagte er sich diesen Genuß. Er mußte Antje finden, es mußte sie geben in diesem Park! Zu sehr hatte er sich auf sie eingestellt, sein ganzes Denken und Fühlen. Das riß an seinen Nerven, hatte ein Spannungsfeld in ihm erzeugt, und nur Antje würde ihn erleichtern können, ihm wieder Ruhe
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geben… das süße, herrliche Fräulein Kind…! Sie saß auf einem Baumstumpf, zwischen sich und dem Pfad Gebüsch. Der Mann entdeckte sie schon von weitem, und im freudigen Schreck hätte er beinahe aufgeschrien. Langsam rollte er näher. An einem trockenen Ast, brusthoch über der Erde, hatte das Mädchen seine Schultasche aufgehängt. Es blickte streng geradeaus. Auf einmal sagte es: »Jaqueline und Kerstin, hört ihr wohl auf, mit KlausPeter zu schwatzen! Und du, Sven, setzt dich gefälligst anständig hin, guck auf dein eigenes Heft. Überhaupt, nehmt euch ein Beispiel an Max und Charlotte. Was - was sehe ich da: Die schreiben ja sogar ab voneinander! Sofort vorkommen! Da muß ich enorm böse werden!« Lehrerin Antje erhob sich und wartete mit gekrauster Nase und Stirn auf die Frechlinge Charlotte und Max. Daß der Himmel dunkelgrau und die Welt um sie her abendfarben geworden war, schien sie nicht zu bedrücken. Sie trug einen mit Blumen bestickten Jeans-Anzug. Ein bißchen war der Mann jetzt enttäuscht. Aber das seidige blonde Haar trug Antje auch heute offen. Es fiel ihr über Schultern und Rücken, so weich wie ein Angorakaninchenfell… Eine Weile wartete der Mann noch, bis er richtig zu Atem gekommen war. Dann spitzte er den Mund und pfiff sehr schön das Lied vom Vöglein, das geflogen kam mit einem Zettel in dem Schnabel, von der Mutter einen Gruß. Im ersten Moment machte sich Antje steif, erschrak sogar ein wenig. Schließlich blickte sie her zu ihm, keine Freude wie sonst im Gesicht, und sagte eher erstaunt: »Onkel…! Onkel, was machst du denn hier…?« Sie rührte sich nicht von der Stelle. Er war verwirrt und sagte im Tonfall der Selbstverteidigung: »Was denn? Ich mache doch nichts!« Ich habe sie überrumpelt, dachte er hinterher, das ist es, darum verhält sie sich so. »Bleib ruhig dort«, sagte er schmeichelnd, »du brauchst nicht zu kommen. Das muß ich… ich muß zu dir hin und dich herzlich begrüßen. Und dich um Gnade bitten, meine künftige Königin. Denn ich war’s, der unsere lange Trennung verschuldet hat.« Er drängte den Rollstuhl zwischen die Sträucher und war nun zufrieden, den Pfad verlassen zu haben: Aus der Ferne war er für niemanden mehr zu entdecken.
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Das Mädchen wich vor ihm zurück, und erst als ihr ein Baum im Rücken den Weg verstellte, beendete sie die Flucht. Verunsicherter als jemals zuvor, suchte der Mann nach Worten und belegte seine Joppe nervös mit den fleischigen Händen. Ihm fiel ein, daß er sich vor Aufregung für die Kleine nicht schöngemacht hatte, nicht einmal die Brauen vom Schweiß befreit und mit Speichel geglättet. Nun hoffte er auf den Wind; zwar kämmte der nicht, doch wie ein Handtuch konnte er sein. Schwer war es trotzdem, dem ernsten Kind in die Augen zu sehen und den eigenen Blick nicht springen zu lassen: wegspringen, wie beim Lügen ertappt. Zum Glück erinnerte er sich der Nüsse. Die klaubte er sich nun aus der Tasche, hielt sie der Kleinen hin, ausgestreckte Hand, Innenfläche nach oben, und sein ganzer Arm wackelte dermaßen, daß zwei von den Nüssen über den Ballen rollten und zwischen Laub und Gräser fielen. »Hier«, sagte er und hatte zuvor seine Stimme gesucht, »die versprochenen Nüsse.« Das folgende Lächeln kostete ihn äußerste Kraft, und er schwitzte jetzt wieder mehr. »Mein Gott, bist du groß geworden!« Diese Bewunderung tat Antje offensichtlich gut: Ein Schein von Freundlichkeit überzog ihr Gesicht. »Ich bin ja auch Jung-Pionier«, sagte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Und später lerne ich Gärtnerin und pflück’ mir enorm viele Blumen zusammen.« Weiterhin blieb sie auf Abstand bedacht, obwohl ihre Blicke Sehnsucht nach Nüssen verrieten. »Da kannst du also schon lesen?« fragte der Mann im Rollstuhl, und manche seiner Worte zerbrachen, Silben bröckelten ab. Stolz sagte Antje: »Und Gedichte aufsagen kann ich. Zwei schon über den Winter, und obwohl der noch lange nicht ist, nämlich erst viel später beim Schnee. Soll ich dir mal eins aufsagen, ja?« »Später. Jetzt glaub’ ich’s dir so. Du warst sehr tüchtig inzwischen.« Antje wurde zutraulicher: sich mitteilen zu dürfen machte ihr Spaß. »Heute hatten wir früher Schluß in der Schule. Ein Lehrer ist krank. Nicht, daß du denkst, wir sind womöglich faul. Andererseits…« Sie brach ab, und ihr Lächeln trug ihm den unausgesprochenen Rest des
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Satzes als ein zu lösendes Rätsel an. »Was - andererseits?« fragte er schnell. »…hättest du mich nicht getroffen!« sagte sie und lachte. »Sonst geh’ ich nämlich mit einem Jungen nach Hause, mit einem großen, der wohnt bei uns nebenan.« »Ein großer Junge?« fragte er und hatte Mühe, seine Eifersucht zu verbergen. »Ganz schön enorm groß.« Sie musterte ihn kritisch. »Oder warst du vielleicht krank?« »Ja. natürlich«, sagte er und war ordentlich froh, den Grund ihrer Frage begriffen zu haben. »Die ganze Zeit war ich krank.« Wieder nahm sich die Kleine reichlich Zeit, um ihn zu betrachten. »Jedenfalls«, sagte sie schließlich, und irgend etwas fügte sich in ihrem Kopf nicht zusammen, »abgemagert bist du nicht.« »Das ist…«, sagte er überstürzt, »ganz einfach, weil es die Verzauberung ist! Höchstens werde ich dicker!« Antje stand da, überlegte und guckte. Beängstigend lange guckte sie so. Sie war ihm heut nicht geheuer. Endlich gelang es ihm, seine Stimme weich zu machen: »Sag mal, bist du böse auf mich? Willst du mich gar nicht richtig begrüßen?« Zu lange schon streckte er dem Kind die Nüsse entgegen. Das Mädchen machte zwei Schritte auf ihn zu und blieb wieder stehen. »Nein, lieber nicht«, sagte es. Mit der freien Hand holte er eine Flasche hervor. »Wenn du nicht willst… sogar eine PepsiCola!« »Wirf her!« sagte sie und lauerte. Er schüttelte den Kopf. »Werfen - da ginge nur die Flasche kaputt.« Sie suchte nach Argumenten, sich wieder in Vorteil zu bringen; die Gedanken liefen ihr gleichsam als Licht und Schatten übers Gesicht. »Und warum? Weil du nämlich gar nicht verzaubert bist. Darum ginge die Flasche kaputt. Weil Wahrheit siegt, merk dir das mal!« Schadenfroh trumpfte sie auf. »Oder kannst du es vielleicht beweisen? Haha, genau kannst du es nicht!« Ihre Augen leuchteten, und sie beugte den Nacken nach vorn und hielt den Mund geöffnet und forderte mehrmals: »Na, na…?«
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Was sollte er tun? Was sagen? Er fühlte sich in die Enge gedrängt. In seinem Blickfeld die Schulmappe Antjes. Ja, die Schule. Damit fing alles Übel an. In der Schule wurden sie schlau gemacht, die kleinen Mädchen, überschlau, zur Vornehmheit wurden sie dort versaut. Und eines Tages rümpften sie die Nase über solche wie ihn. Man müßte es verbieten, daß sie erwachsen werden, dachte er und schloß voller Haß die Hände, auch die mit den Nüssen, krampfte Fäuste und hätte am liebsten geboxt. Nicht gegen Antje, nur gegen ihr Schlauerwerden. Wenn es bloß möglich gewesen wäre, er hätte es aus ihr herausgedroschen, jetzt gleich! Alles war gegen ihn, alles: sogar die Natur! »Dann nicht!« sagte er endlich und stopfte die Nüsse zurück in die Joppe. Dabei guckte er giftig - er konnte nicht anders -, wie Kinder im Streit. »Obwohl ich’s natürlich beweisen könnte«, sagte er zänkisch und hatte vor Wut nun eine Idee. »Ein bißchen Königskraft hab’ ich ja noch. Wenn ich will, ich meine, wenn ich befehle, daß eine Blume vor deine Füße fällt, dann wird es in dieser Minute geschehen.« »Glaub’ ich nicht…«, sagte Antje, aber alles an ihr - Stimme, Haltung, die Augen - verriet, daß sie sehr wohl bereit war zu glauben. Vorsichtshalber, um nicht auf einen Betrug hereinzufallen, betrachtete sie den Boden im Umkreis, ob dort nicht bereits eine Blume stand. Derartig abgesichert, sagte sie: »Mach!« »Wir müssen beide die Augen schließen.« »Gut. Du zuerst.« »Warum ich?« »Sonst seh’ ich ja nicht, ob du schummelst.« »Einverstanden. Aber du gleich hinterher.« Er tat es für wenige Sekunden. Als er dann zu ihr hinsah, hielt sie die Lider mit größter Energie aufeinandergepreßt. Rasch griff er unter die Spritzdecke und holte eine blaue Aster hervor; ohnehin war sie für die Kleine bestimmt. Er warf ihr die Blume unmittelbar vor die Füße und stellte sich sofort wieder blind. »Du hast zuletzt die Augen geschlossen, also mußt du sie zuerst wieder öffnen«, sagte er. Im nächsten Moment rief sie bereits: »Onkel, Onkel, guck doch
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bloß mal…« Begeistert wies sie die Aster vor. »Los, gleich noch mal. Und zwar einen enormen Strauß Rosen!« »Das geht nicht. Für heute ist meine Königskraft verbraucht.« Diese Absage drohte Antjes eben erst aufgeloderte Freude zu löschen. Natürlich gefiel das dem Mädchen nicht. »Oder es war trotzdem Schmu!« sagte es und wollte ihn mit dieser Unterstellung wahrscheinlich nur dazu verleiten, das letzte an Königskraft aus sich herauszuholen. Aber so schnell fiel ihm keine Erwiderung ein, und da sprang sie auch schon um ihn herum und sang aufreizend: »Es war Schmu! Es war Schmu! Es war Schmu…« Eine neue List fiel ihr ein: »Ich weiß ja was, was du nicht weißt…!« Beunruhigt sagte er: »Auf so was falle ich lange nicht ’rein.« Die Sicherheit, mit der sie ihn zu erpressen suchte, irritierte ihn. Inzwischen war es noch dunkler geworden, und die Bäume knarrten und ächzten jetzt. »Die Polizei sucht dich nämlich, haha!« Antje schwelgte in Überlegenheit. Das Erschrecken durchfuhr den Mann wie ein starker elektrischer Schlag. Hätte er nun nicht im Rollstuhl gesessen, ihm wären die Beine weggeknickt. Die Fingerspitzen beider Hände gleichzeitig fanden den Weg zu den Zähnen, und dicke Schweißtropfen wuchsen ihm aus der Stirn. Seine Blicke jagten zum Pfad hinüber und zwischen die Sträucher, er drehte sich, daß der Rollstuhl quietschte, schluckte ein um das andere Mal, und es dauerte rein eine Ewigkeit, ehe er sein Verhalten unter Kontrolle bekam. »Die Polizei…?« fragte er, und die Worte klangen dennoch aufgestört. Die Kleine nickte ernsthaft, gab sich geheimnisvoll. Ja, für sie schien die Sache zu allererst ein Geheimnis zu sein. »Weil ich ihr nämlich…. der Polizei, weißt du, weil ich ihr nämlich enorm verdächtig war. Und weil solche wie du das auch mit anderen Kindern machen, haben Carla und Jürgen gesagt, und dann bricht ihre Seele entzwei, und so was ist enorm grauenhaft!« Merkwürdig nur, sie fürchtete sich nicht vor ihm. Eher wirkte es so, als stellte sie ihr Geheimnis zur Diskussion. Der Mann im Rollstuhl gab keine Antwort. Vor Angst war ihm schlecht. Ihm war, als
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wäre er bereits eingekreist, als hörte er Polizeihunde jaulen. Doch nein, was dort jaulte, war nur der Sturm in den Wipfeln der Bäume. Weshalb sollte ausgerechnet an diesem Tag Polizei hier sein? Niemand außer ihm hatte wissen können, daß er heute versuchen würde, Antje zu treffen. Nur ruhig bleiben, immer schön ruhig…! Eigentlich durfte er damit rechnen, ungestört mit dem Mädchen zu bleiben. Spaziergänger, falls es die um diese Zeit überhaupt im Park gegeben hatte, waren inzwischen vom sich rasch verschlechternden Wetter ganz sicher vertrieben worden. Mehr Glück durfte er jetzt nicht erwarten. Wem in seiner Situation bot sich schon solch eine Chance…! Auf einmal konnte er die Kleine wieder ruhig ansehen. Traurig war er. Und mit traurigem Blick umfing er ihre begehrte Figur. Mitleidig war er. Und sein Mitleid reichte aus für ihn und für sie. Du kannst nichts dafür, dachte er, die Natur bescheißt dich, die dreckige, elende Natur! Dabei war es immer so schön mit dir, mir war so unheimlich geil… Wärst du bloß für ewig so geblieben, für ewig, hörst du, warum mußtest du Miststück auch größer werden und älter! Erdbeerstauden reißt man genauso aus, wenn sie über die Zeit sind, sonst brächten sie höchstens noch Kümmerlinge, hat keinen Zweck mehr mit ihnen… Und beim Spargel ist es ganz ähnlich, was weg muß, muß weg. Aber du kannst nichts dafür, du herrliches Ding. Denkst du, mir tut es nicht weh? Wo krieg’ ich jetzt wieder eine wie dich? Für mich ist es nämlich der größte Verlust. Danach fragt keiner, auch du nicht, da seid ihr alle zu egoistisch. Geschieht dir also ganz recht…! Nein, guck nicht so, Antje, ich muß es tun, ich muß dich retten vor dem Erwachsenwerden. Euch alle, ihr süßen kleinen Mädchen, müßte man davor retten. Und vorher mit euch spielen, vorher die große, geile Lust durch euch haben…! Und gleich hinterher - ihr könntet nie darüber reden, nie etwas petzen. Nur eine schöne Erinnerung… nichts Schlechtes würde ich über euch denken. Weil ihr’s nicht verdient, weil ihr so lieb seid und fein… Verschwommen sah er sie nun: durch einen Schleier aus Tränen. Plötzlich war ihre Stimme sehr nah: »Bitte, Onkel, du sollst nicht traurig sein. Weil nämlich… ein Märchen erzählen, das ist nicht richtig über jemanden reden. Du kannst noch genauso entzaubert werden
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und ein richtig enormer König. Ich hab’ ja nur ein Märchen erzählt… für die Polizei, weißt du, ich hab’ der nämlich doch nicht geglaubt.« Auch sie war nunmehr den Tränen nah. Mit dem Ärmel fuhr er sich über die Augen. Vielleicht konnte er sie bereits mit ausgestrecktem Arm erreichen, aber er verzichtete auf den Versuch. Es rührte ihn, wie schmächtig und klein sie dort vor ihm stand. Ich bin ein verzauberter König, dachte er, nein, ein richtiger König, innerlich, und die Menschen sind schuld, und die Natur ist schuld, daß ich dir diesen König nie und nimmer mehr zeigen kann. Er schluchzte auf. »Onkel!« klagte Antje und weinte nun mit. Trotzdem kam sie nicht völlig heran. »Du hast mich beschrieben?« fragte er leidend. »Wie ich aussehe, meine ich…?« »Schon«, sagte sie, und es stand außer Frage, daß sie sich bemühte, ehrlich zu sein. Danach aber machte sie eine Pause und biß sich auf die Unterlippe. Schließlich lächelte sie tröstend, und es schien, als koste sie das Lächeln sehr viel Kraft. »Aber ganz anders beschrieben! Wie ein Zwerg hab’ ich gesagt, und ohne Rollstuhl und wieselflink.« Später konnte sich der Mann nicht erinnern, ob es seine Absicht gewesen war oder ob er es unwillkürlich getan hatte: Jedenfalls beugte er sich nun jäh über die Lehne des Rollstuhls und versuchte, nach Antjes Arm zu schnappen. Erschreckt sprang das Kind zur Seite. Langsam nahm er die Hand zurück, betrachtete sie verstört und bemühte sich wiederum, die nicht vorhandenen Fingernägel abzunagen. Antje musterte ihn tückisch; daß er sie hatte überrumpeln wollen, nahm sie ihm übel, und ihr Mitleid verging dabei. »Wir hatten gar nichts ausgemacht, kein Spiel«, sagte sie und wartete wohl auf eine Erklärung. Er reagierte nicht. Da lenkte sie ein: »Na gut, wenn du willst… Spiel doch einfach Greifen mit mir. Ich renne, und du fährst schnell hinterher.« Schon sah sie sich um nach einer günstigen Strecke, die auch für ihn leicht passierbar wäre. »Bei drei geht’s los, ja? Eins, zwei, und die letzte
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Zahl heißt - drei!« Lachend rannte sie los, merkte aber bald, daß sie ohne Verfolger blieb, kehrte um und sagte: »Ooch, Mönsch…!« Ihre wiedergewonnene gute Laune ließ sie sich jedoch nicht verderben. Im Gegenteil, sie drehte auf, alles war nun Spiel für sie, lustiges Spiel, und so war durchaus nichts Böses dabei, als sie sagte: »Entweder du machst nun mit - oder…!« Atemlos fragte der Mann im Rollstuhl: »Was - oder?« Vor Vergnügen über ihre Schelmerei hüpfte sie. »Oder ich sage es doch der Polizei! Jawohl!« »Na und!« sagte der Mann und wurde sehr krötig. »Was willst du schon sagen! Hab’ ich was Schlimmes gemacht? Na bitte! Sowieso weißt du nichts!« Hinter seiner Gehässigkeit standen weder Würde noch Stolz. Auch Antje wurde nun aggressiv, blieb ihm nichts schuldig: »Wirst schon sehen, was du davon hast!« Jeglicher Respekt vor ihm war verflogen. »Nicht deswegen«, sagte der Mann im Rollstuhl, und er wußte jetzt, daß es Zeit für ihn geworden war, höchste Zeit. »Ich würd’ ja ganz gerne greifen, bloß… ich hab’ solchen Durst.« Sofort wurde Antje versöhnlich. »Trink doch die Cola!« sagte sie. Er patschte sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Daß ich nicht selbst daraufgekommen bin!« An einer Metallverstrebung seines Gefährts schlug er der Flasche den Deckel ab. Genüßlich trank er, grunzte vor Wohlbehagen, wischte sich über die colanassen Lippen, rieb sich den Bauch, brachte ein volles Lächeln zustande und reichte dem Mädchen die Flasche hin. »Hm…?« Verlangend blickte die Kleine auf das Getränk. Eine Weile zögerte sie noch, aber als der Mann gutmütig zwinkerte, kam sie mit zaghaften Schritten näher. Noch einmal drehte er sich und suchte die Umgebung ab, ruhig, sehr konzentriert. Die Hand mit der Flasche hielt er weiter für Antje hin. Fast war sie heran, da begann er den Arm unmerklich einzuziehen. Sie folgte, einzig die Cola sah sie jetzt noch. Endlich langte sie zu, mit beiden Händen. Doch der Mann gab die Flasche nicht frei. Statt dessen legte er seine zweite Hand um Antjes Nacken. Das Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht, starb lediglich ab, lag
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nun tot in den Falten der Haut. Mit der Brust berührte das Kind den Rollstuhl. »Ein König darf alles«, sagte der Mann und war heiser. »Einen König kann niemand bestrafen. Der König straft selbst.« Er spürte eine körperliche Erregung. Und diese Erregung war heftiger als sonst, wenn er nur hatte streicheln und anfassen wollen. Diese Entdeckung beglückte ihn. Wie wenn man einen Vogel zerquetscht, dachte er, ihn ruhig noch etwas piepen lassen… piepen… bis ihm die Puste ausgeht… Er röchelte vor Lust, stieß heißen Atem in Antjes Gesicht. Das mochte sie nicht, und sie wollte zur Seite weg und konnte es nicht und hatte eine Klammer im Nacken, und unverrückbar war die. Jetzt rüttelte der Mann an der Flasche, schüttelte Antjes Hände ab, und grienend goß er die Cola aus. Sie gluckste am Flaschenhals, und auf den Blättern am Boden raschelte sie. Verstört blickte Antje, begriff nichts. Brachte kein einziges Wort heraus. Diese Widersinnigkeit mit der Cola machte sie fassungslos. Die leere Flasche verstaute der Mann neben seinem rechten Bein. Danach brachte er auch die zweite Hand an den Kopf der Kleinen. Seine Erregung wuchs immer noch. »Ich bin ein König!« sagte er und keuchte und sabberte. »Das weißt du doch, Antje? Du weißt doch, daß ich ein König bin?« Zitternd strich er ihr über das Haar, erreichte den Hals und streichelte ihn. Im Nacken des Kindes fanden sich seine dicken Finger, verkeilten sich ineinander. Die Daumen berührten sich vorn am Hals, legten sich übereinander. Plötzlich jammerte Antje: »Onkel! Onkel… was machst du mit mir…?« Er stierte sie an, mußte stieren, unverwandt stieren… Später schloß er die Augen, röchelte und keuchte nur noch, schrie schließlich auf. Seine Hände lösten sich, gingen auseinander wie eine Zange. Ein dumpfes, plumpsendes Geräusch - er nahm es kaum wahr. Zufrieden und erschöpft ließ er sich zurücksinken. Angenehm kühlte der Wind. Als er die Augen öffnete, sah er vom Sturm zerzauste Baumkronen über sich und braungrüne Kleckse des Himmels. Allmählich kehrte seine Erinnerung zurück. Nun fuhr er hoch und beugte sich entsetzt über die Lehne des Rollstuhls. Dann hob er sich die Hände vor das
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Gesicht und glotzte sie an. Ein schreckliches, krankes Winseln kam aus seinem Hals. In panischer Furcht riß er den Rollstuhl etwas zur Seite und jagte davon. Tierisch seine Kraft dabei. Kein Blick mehr auf den Boden oder zur Schulmappe hin. Er hatte zu große Angst… Zufall oder nicht: Wo die drei Pfade in den Hauptweg des Parks einmündeten, hatten sich die Freunde nun doch wieder getroffen. Jo Heinrich und Edi Heßheimer waren fast gleichzeitig angelangt, und Peter Muzeniek hatte dort auf sie gewartet. Natürlich gab er das nicht zu und behauptete statt dessen, an seiner Bremse hätte etwas nicht funktioniert und er habe eine kleine Notreparatur ausführen müssen. Edi und Jo waren klug genug gewesen, um nicht nach Einzelheiten zu fragen, und so rollten sie jetzt wieder einträchtig neben- und hintereinanderher. Zwar schwiegen sie alle, doch das lag wahrscheinlich im Wetter begründet, der heftige Gegenwind machte das Fahren schwer, nahm ihnen den Atem, und noch vor dem drohenden Regen wollten sie ihr zu Hause erreichen. Jo Heinrich fuhr in letzter Position. Aufgewirbelter Staub schnellte ihnen in die Gesichter und ließ die Augen tränen. Siebzig bis achtzig Meter vor ihnen wurde dieser Hauptweg diagonal von einem Seitenpfad durchschnitten. Für Sekunden tauchte dort ein weiterer Rollstuhlfahrer auf. Jo Heinrich sah ihn zuerst. »Heh, Sie da…!« brüllte er gleich. »Warten Sie mal!« Der Fremde ruckte nur mit dem Kopf herum, gab keine Antwort, erhöhte aber mit einem Schlag seine Geschwindigkeit. Die Freunde verharrten zunächst in ihren Bewegungen, blieben fast stehen, fragten sich gegenseitig mit Blicken. Endlich schrie Jo: »Los, hinterher!« Und vielleicht stimmte es, daß Männer im Rollstuhl keine Leistungssportler waren. Stimmte im allgemeinen - vielleicht. Denn die hier entpuppten sich jetzt! Sie rasten hinein in den Sturm, wurden wahrhaftig selber zum Sturm! Manchmal, in Weinlaune, hatte Jo nicht sehr bescheiden verlautbart, welch bedeutender Boxer er in seiner frühen, unbehinderten Zeit wahr und wahrhaftig gewesen sei. Peter und Edi hatten es ihm von Herzen gegönnt und sich trotzdem
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zugeplinkert: ein bißchen mit Ironie. So etwas würde nie wieder geschehen: Ihr Jo stürmte an ihnen vorbei, seine Arme flogen, wie nur die Arme von Boxern fliegen, er rammte sie mit den Rädern, gab nichts darauf, und keine Macht dieser Erde hätte ihn jetzt noch gestoppt! Der Fremde war in der Tiefe des Parkes verschwunden. Als Jo aber einbog auf den schmaleren Pfad, sah er ihn wieder und war ihm näher gekommen. »Anhalten!« brüllte er und bedauerte, nicht so lange Arme zu haben, um dem Feigling dort vorn schon von hier aus eine hauen zu können. »Anhalten sollst du, Kerl!« Und hinter ihm krächzte, ergrimmt wie noch nie, der hagere Peter Muzeniek: »Tempo, Jo, Tempo! Halte das Schwein…!« Sie zweifelten nicht, den Gesuchten vor sich zu haben; dessen Verhalten bestätigte ihn. Und Edi, der Leise, donnerte seinen Fluch durch den Wald: »Hund, du verfluchter! Hund!« Das alles steigerte Jos Kraft in einer großartigen Weise. Er holte mehr und mehr auf. Keine fünfzig Meter mehr bis zu dem Fliehenden. Der Pfad war gleichsam von Krampfadern durchzogen: armdicke Wurzeln. Für einen Moment hatte Jo nicht aufgepaßt, das Vorderrad seines Rollstuhls schlug gegen eine besonders hohe Wurzel, prallte zur Seite weg, die Lenkung gab nach, und er geriet zwischen Sträucher. Sofort bemühte er sich, wieder freizukommen, fuhr rückwärts, da aber waren die Freunde heran, und er karambolierte mit ihnen. Niemand fluchte. Sie stießen sich ab voneinander, in ihren Bewegungen Hektik, alle wollten auf einmal los, das war nicht möglich, und sie verloren kostbare Zeit. »Den krieg’ ich!« sagte Jo schnaufend, nachdem er sich durchgesetzt hatte, und abermals wurde er förmlich zur Lokomotive. Der Abstand zum Fremden war inzwischen beträchtlich, viel größer als zu Beginn der Verfolgungsjagd. Von Zeit zu Zeit drehte er sich um, vergewisserte sich seines Vorsprungs, bog in andere Pfade ein, wollte sich ihren Blicken entziehen, doch für lange glückte es ihm nie. Erste schwere Regentropfen klatschten auf die Spritzdecken über
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den Beinen der Männer und ließen dort schwarze Flecken zurück. Sosehr der Fremde auch manövrierte, es zeigte sich immer deutlicher, daß sein Ziel die Landstraße war. Über die Schulter rief Jo Heinrich den Freunden zu: »Los, verteilen! Er will zur Straße! Versucht ihm den Weg abzuschneiden!« Bereits bei der nächsten Gabelung fuhr Peter Muzeniek - gertenschlank-lang wie er war - mit enormen Tempo nach links. Kurz darauf hatte auch Edi Heßheimer einen Abzweig nach rechts gefunden. Lautes, ständig lauter werdendes Bummern: Jo hatte den eigenen Herzschlag im Ohr. Lange würde er nicht mehr durchhalten können, die Anstrengung war zu groß und vor allem ungewohnt. Tränen der Wut drängten sich ihm in die Augen. Er hatte daran geglaubt, daß es mit dem gesuchten Kerl etwas Böses auf sich hatte. Jetzt wußte er es, auf einmal wußte er es. Und er wußte, daß von den Freunden und ihm Entscheidendes abhing, daß sie etwas verhindern mußten Grauenhaftes vielleicht. Nein, er gab nichts auf das rebellierende Herz, ein Infarkt würde es nicht gleich werden… Leg zu, Jo, leg zu…! Achtung, was bedeutete das? Stehengeblieben war der Fremde im Rollstuhl! Tatsächlich hielt er dort vorne an! Er konnte nicht mehr, es hatte sich also gelohnt, der Verfolgte konnte nicht mehr! Aber nein - er wälzte sich aus dem Rollstuhl, fiel fast der Länge nach hin, fing sich mit den Händen ab, sprang auf die Beine und - stand! Schob nun den Rollstuhl und rannte! Es rannte der dreimal verfluchte, dreimal dreckige, dreimal verlogene Kerl! Jos Kraft wuchs ins unheimliche, auch für ihn selbst. Einen solchen widerlichen Betrug hatte er noch nie erlebt, hatte ihn sich nicht einmal vorstellen können. Auf unsere Kosten, dachte er, du Drecksau… auf unsere Kosten…! Er stieß seine Arme nach vorn, links - rechts, links - rechts… Bei aller Liebe zur eigenen Jugend, bei aller Ehrlichkeit, niemals hatte er so verbissen geboxt… Trotzdem, er hatte jetzt keine Chance mehr: Der Verfolgte - ein Riesenkerl, schwergewichtig und offensichtlich noch relativ jung hob den Rollstuhl heraus aus dem Pfad, trug und schleifte ihn durch die Büsche, gelangte auf einen anderen Weg und stürmte erneut da-
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von. Nicht möglich für Jo, ihm dorthin zu folgen. Jetzt mußten die Wolken geplatzt sein: Wasser stürzte zur Erde, nicht in Strähnen, eher in Strahlen, jeder einzelne leitungsdick. Minutenlang schon hatte Jo den Fliehenden nicht mehr gesehen. Dennoch fuhr er mit ganzer Kraft, jagte er der Straße entgegen. Dort hin, nur dort hin konnte der Fremde gelangen. Ein Ausweichen gab es für ihn nicht mehr. Dann sah Jo ihn ein letztes Mal, etwa hundert Meter entfernt: kein Pfad zwischen ihnen, nur Sträucher und Bäume. Bei einem nebelgrauen Auto stand der Fremde mit dem Rollstuhl, ein Barkas war es, und eben riß er die Hecktür auf. Mit der Kraft des gediegenen Schwergewichtlers hob er den Rollstuhl vom Boden ab und warf ihn in das Innere des Wagens… Unmöglich, die Autonummer von hier aus lesen zu können! Das Ekel lief um sein Fahrzeug und sprang in das Fahrerhaus. Ohrenbetäubend, bis hin zu Jo, heulte der Motor auf. Gleich einem Tier, das erschreckt von dannen springt, setzte der Barkas nach vorn. Ungestüm ballte Jo seine Fäuste und weinte. Vielleicht war es nicht männlich, aber er weinte: weil er weit mehr Mann war als jener Kretin dort drüben und weil er ihm trotzdem unterlag. Er zögerte nicht, drehte sich nun selbst aus dem Rollstuhl, kippte ihn dabei um. Bewegte sich vorwärts. Wo Räder versagten, brach er kriechend immer noch durch. Ein Mann war ein Mann und hatte es schließlich zu zeigen: wenn Leben gefährdet war. Es war in Gefahr! Jo Heinrich robbte und kroch, hatte höllische Schmerzen dabei, gab trotzdem nicht nach und kroch. Von der Straße her hörte er wildes Autohupen. Dachte dabei: Wahrscheinlich ist der Barkas zu hastig heraus aus dem Park gefahren, hat ein anderes Auto behindert, ist doch egal, jetzt muß ich die Spuren retten… Der Körperbehinderte Joachim Heinrich, von seinen Freunden auch Jo genannt, erreichte die Spuren der Autoreifen, drückte sich zur Beugestütze hoch, schleifte die schmerzenden Füße hinter sich her und ließ sich über die eingedrückte, profilgenarbte und zum Glück noch nicht zerweichte Erde sinken. Der Wolkenbruch betrommelte seinen Rücken.
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Peter und Edi langten an. Sie fragten nicht, warum er dort läge und wie das alles gekommen sei. »Polizei, schnell!« wollte Jo brüllen, aber es war kein Brüllen mehr, höchstens ein Flüstern. Verstanden hatten sie ihn doch. Wenig später kreischten Autobremsen auf der Straße, und Peter Muzeniek krächzte: »Mann, quatschen sie nicht! Sonst nehm’ ich Ihnen die Karre weg und fahr’ Ihnen was vor mit Ihrem Trabant…!«
7 Minuten später klingelte in Carla Walls Dienstzimmer das Telefon. Ihr gegenüber, am zweiten Schreibtisch, saß Leutnant Lemke über einem schriftlichen Bericht. Sie selbst las gerade in einem Filmszenarium, das die Arbeit der Kriminalpolizei zum Inhalt hatte und worüber sie ein Fachgutachten anfertigen sollte. Ohne die Lektüre zu unterbrechen, tastete sie mit der linken Hand nach dem Hörer und meldete sich. »Wie? Noch einmal!« sagte sie im nächsten Moment und war erregt und ganz auf das Gespräch konzentriert. Mit fliegender Hand machte sie sich Notizen. »Und Antje Berger? Wo ist sie? Ich meine, hat jemand das Mädchen gesehen? Also gut… Fragen Sie sofort in der Schule nach. Auch bei ihrer Mutter. Die Adresse haben Sie? Gut. Ende.« Jürgen Lemke war aufgestanden und holte bereits seinen Mantel aus dem Schrank. Der Name des Mädchens und Carlas plötzliche Nervosität hatten genügt, ihn in Alarmstimmung zu versetzen. Seine Vorgesetzte dagegen blieb noch für Sekunden wie unter einem Schock vor dem Telefon sitzen. Sie zitterte. Dann sagte sie mühsam: »Das Phantom - es ist gar keins. Unser Mann ist im Stadtpark gewesen, trotz Rollstuhl durchaus nicht körperbehindert. Er ist mit einem Auto geflohen, nebelgrauer Barkas, vermutlich in Richtung Berlin.« Sie erhob sich und war sehr blaß. Er hielt ihr ihren Mantel hin, doch andere Hilfe brauchte sie jetzt wohl mehr: Zuspruch vielleicht. Den suchte sie in seinen Augen. Denn sie war nicht nur Kriminalistin, sie war auch Mutter und Frau. »Jürgen«, sagte sie leise, »ich weiß nicht, mir ist so merkwürdig…« Ihre Tatkraft kehrte zurück. Über Telefon meldete sie sich ab und bedeutete Leutnant 89
Lemke mit Gesten, schon in den Hof der Fahrbereitschaft zu laufen. Das tat er nicht und wartete statt dessen neben der Tür. Auch er war betroffen über die nicht mehr erwartete Wendung in diesem Fall, aber für keinen Augenblick verlor er die Fähigkeit, sachlich und in Ruhe zu überlegen. »Genossin Oberleutnant«, sagte er, als Carla aufgelegt hatte, »sollten wir nicht zuerst die Fahndung nach dem Barkas einleiten?« Sie stutzte. Sie lächelte dankbar und drängte ihn über die Schwelle der Tür. »Vom Auto aus, schnell!« Sie rannten. Der Hall ihrer Schritte über den Terrazzofußboden des langen Korridors schepperte von Wand zu Wand. An den Zufahrtstraßen unmittelbar vor der Hauptstadt waren seit Jahr und Tag polizeiliche Kontrollpunkte eingerichtet. Die hatten etwas mit dem Viermächtestatus über Berlin zu tun, was aber genau, war den wenigsten Bürgern der Stadt bekannt. Es gab hier vieles Verrücktes, von der Zeit Überholtes, wozu also fragen, so ungefähr ahnte man schon, wie das alles zusammenhing. Man hatte sich an die Kontrollpunkte gewöhnt, man lebte mit ihnen, und da sie nicht sonderlich lästig wurden, gab es nicht einmal Witze über sie. Längst war es üblich geworden, Fahrzeuge aus der DDR und der Hauptstadt ohne Stopp passieren zu lassen. Halten mußten lediglich Wagen mit den Kennzeichen anderer Staaten oder Autos aus Westberlin. Und denen war das nicht schädlich, im Gegenteil, sie nahmen es - so sie nicht völlig humorlos waren - als touristische Attraktion. Ein Sprichwort hieß: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Na bitte, die Hauptstadt bot Erlebnisse bereits vor ihren Toren an. Und ein Witz war nunmehr trotzdem geboren, kein besonders gepfefferter, aber das lag an den Kontrollpunkten selbst: Schärfer ging es dort eben nicht zu. Gerade gab Wachtmeister Faschina einem schwedischen Ehepaar die Ausweise zurück - sie fuhren einen großen Volvo, und da er ein Autoliebhaber war, konnte er bei diesem Wagen immer ein wenig neidisch werden - und wünschte ihnen gute Weiterfahrt, da kam sein aufgeregter Genosse aus dem Postenhäuschen gestürzt. »Hans-Jürgen«, rief der und hatte noch nicht die
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Straße überquert, »eben kam ein Fahndungsbefehl durch. Verschärfte Kontrolle aller kleinen Lastwagen und Barkasse, ob sie einen Rollstuhl geladen haben. Wenn ja, den Fahrer unbedingt festnehmen, vorläufig jedenfalls. Klang ziemlich ernst.« Hans-Jürgen Faschina überlegte nur kurz. »Was Kriminelles…?« sagte er. »Eben erst ist ein Barkas durch, längstens vor einer Minute.« Schon lief er zu seinem Dienstkrad und warf den Motor an. »Ich fahr hinterher!« Er zog eine gewagte Schleife, beugte sich tief über den Lenker und raste in Richtung Stadt. Links und rechts der Straße waren hier noch Felder, auch Baumgruppen, bisweilen sogar kleine Wälder. Noch immer regnete es etwas, und das Pflaster war gefährlich glatt. Voraus aber klarte der Himmel auf, und einzelne Wolken trieben über schon sichtbares Blau wie Segelschiffe bei einer Regatta. Der Wind roch nach Erde und Borke und überhaupt nicht nach Auspuffgasen. Die zweite Hälfte des Tages versprach sogar Sonnenschein. Bald glaubte Wachtmeister Faschina in der Ferne ein graues Fahrzeug erkennen zu können. Nach seiner Berechnung konnte das durchaus der von ihm gemeinte Barkas sein. Zunächst verlor er ihn jetzt aus den Augen: Die Straße verlief dort in einer Biegung und verschwand hinter Wald. Tatsächlich war es ein Barkas. Und mehr noch: In seinem Inneren krachte ein nicht befestigter Rollstuhl gegen Seitenwände und Hecktür. Dem Fahrer tropfte der Schweiß, sein Haar war durchnäßt, und die Innenflächen seiner fleischigen Hände juckten und brannten, so krampfhaft umspannte er das Lenkrad. Manchmal greinte er ein bißchen. Seine Blicke wanderten nicht von einem Punkt der Landschaft zum anderen, sie sprangen vielmehr, zuckten irgendwie mechanisch, schlugen in die Rückspiegel ein. Er wußte, daß rechter Hand gleich eine untergeordnete Straße, sehr gewunden und zum Teil durch Laubwald führend, kommen mußte. Die wollte er nun befahren, blinkte jedoch erst im letzten Moment. Von einem Zickzackkurs erhoffte er sich die größte Chance, ungehindert die Großgärtnerei zu erreichen. Hinter ihm war die Straße noch frei, nicht mehr für lange:
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Bevor er die letzte Biegung durchfuhr, hatte er in seinem Rücken einen Motorradfahrer entdeckt. Um so entschlossener hatte er das Gaspedal durchgetreten, und die Nadel des Tachometers war auf die Markierung 110 km/h geklettert. Für diesen Wagen die Höchstgeschwindigkeit. Jetzt drehte er das Lenkrad hastig nach rechts und fuhr in die Nebenstraße hinein, ihm entgegen kam dort ein Barkas, ebenfalls nebelgrau. Auch der blinkte rechts, wollte also in Richtung Berlin. Ein fast unglaubliches Glück! Ausgewechselt, dachte der Mann mit den fleischigen Händen, er fährt an meiner Stelle…! Auf einmal war er derartig froh, daß er langsamer fuhr und ein Liedchen zu pfeifen begann: »Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß…« Wachtmeister Faschina raste in die Biegung hinein und hatte nun wieder weit einzusehende Straße vor sich. Dem Barkas war er viel näher gekommen. Er zweifelte nicht mehr daran, jenes Fahrzeug, das vorhin den Kontrollpunkt passiert hatte, vor sich zu haben. Noch wenige hundert Meter, und er überholte den Wagen, streckte den rechten Arm aus und gebot dem Fahrer des Barkas, am Grabenrand zu stoppen. Selbst stellte er sein Motorrad ab und ging eilig zurück. Korrekt legte er die Hand an die Mütze. »Guten Tag. Wachtmeister Faschina. Darf ich, bitte, Ihre Papiere sehen?« Der Fahrer war ausgestiegen und nickte eifrig. »Klar. Könn’ Se, könn’ Se, könn’ Se!« sagte er. Er war gute sechzig Jahre alt und sah aus wie ein Operettenregisseur, wenn ein solcher in früheren Filmen, zum Beispiel in denen der UFA, gestaltet worden war: weißes Haar, Sonnenbrille (nach wie vor hatte der Regen nicht ganz aufgehört), Jacke aus Nappaleder, gestreiftes Hemd, eine sehr farbkräftige, jugendliche Krawatte, helle Hosen und Schuhe mit erheblichem Absatz. Aus seinen Papieren ging hervor, daß sein Name Felix Smarzewski war. »Herr Smarzewski, wo kommen Sie gerade her?« »Wat soll sin? Aus Neuenhagen. Kunden ha ick beliefert, wat ja immer schön Rechtens is, Herr Unteroffizier.« »Wachtmeister, bitte.«
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»Jut, meinetwejen, ick wollt’ Sie ja nischt wegnehmen, Herr!« Leutselig war er und nicht im geringsten verstört. »Andererseits, wo ick bei’n Kommiß war, wissen Se, wenn mir eener mit Jeneral anjered’ hätt’, war’ ick jenauso sauer jewor’n wie Sie. Weil zu ville drüber, det macht man ja nu ooch nich, wa?« »Herr Smarzewski, öffnen Sie bitte die Hecktür. Ich möchte gern sehen, was Sie geladen haben.« »Könn’ Se, könn’ Se, könn’ Se!« Dienstbeflissen ging er nach hinten. »Wenngleich ick Ihnen druff hinweisen muß, allet jute Ware bei Felixen von de Smarzewski-Farm: Karnickel, sauber jeschlacht’, und sonst’jet Jetier. Umsonst ha ick meine Konzession nich jekricht. Un ehrliche Preise, Herr Oberwachtmeester. Ick meine, eher zahl’ ick wat druff, bei ehrliche Freunde und sowat. Ob Se’t glob’n oder nich, wat so’n Kumpel, so’n rieht’jer is, kricht man ja rundum balle mit, den schenk’ ick det letzte Hemde. Kommt mir dajejen eener dämlich, jibt ja jenuch von die Sorte, den kassier’ ick ab, det Weiße aus de Oogen hol’ ick dem. Aber immer noch Rechtens, nich det Se denken, nu ham Se jleich widder wat for Ihre Fahndung oder wie det allet so heeßt.« Die Hecktür hatte er inzwischen geöffnet. Große Aluminiumbehälter standen im Wagen, randvoll mit Kaninchenfleisch, manche auch leer. »Wenn Se nu aber denken, ick will mir zu een Engel hochbefördern, denn is det jenauso falsch. Wat so die Frauens betrifft, jederzeit, sach ick Sie. Aber natura, wenn’s möchlich wär’. Nich wie een Kunde neulich, jibt mir so’ne Schachtel mit Loch, wa, uff de Breitseiten nackichte stramme Dinger, allens noch fest, ick denk’, det is so’n Taschenkino, wa, wo man rinkieken muß un irjendwie drücken, un denn loofen dauernd andere Bilder vor’t jeistige un überhaupt vor’t Ooge vorbei. Een Jlück, sach ick Sie, Herr Hauptwachmeester, det ick die Sonnenbrille uff jehabt habe, jejen Staubfluch, wissen Se, weil ick doch Haftschalen trare, det Ding nämlich, die Schachtel, det war een Jasfeuerzeuch. Nu stell’n Se sich det mit die Flamme mal vor…« Nein, er war noch längst nicht fertig mit seinem Monolog. Wachtmeister Faschina unterbrach ihn. »Schon gut, Herr Smarzewski. Und
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entschuldigen Sie bitte.« Er gab die Papiere zurück, wollte schon zu seinem Motorrad und fragte dann doch noch: »Sagen Sie, sind Sie in letzter Zeit einem Barkas, dem gleichen wie Ihrem, begegnet?« »Eem Barkas? Klar, eben is eener wechjemacht nach Neuenhagen ’rin.« Das also war es, so wurde aus dem X noch ein U! Hans-Jürgen Faschina rannte zu seinem Motorrad. Allerdings war er sich dessen bewußt, daß er wenig Aussicht hatte, jenen Barkas einzuholen. Trotzdem kam es auf den Versuch an. Gewiß war bereits eine Vielzahl von Polizisten in die Fahndung eingeschaltet, und wenn jeder von ihnen sein möglichstes tat, war die Chance für den Gesuchten, sich in Sicherheit zu bringen, äußerst gering. Felix Smarzewski stand noch neben dem Fahrerhaus, und als der Wachtmeister seine Höhe passierte, hob er bedauernd die Hände. Zu gern wohl hätte er die Unterhaltung fortgesetzt. Bestimmt war er ein geselliger Mensch Joachim Heinrich saß wieder in seinem Rollstuhl. Die Freunde hatten ihm hineingeholfen. Über den Reifenspuren hatten sie ihre Spritzdecken ausgebreitet. Durchnäßt bis auf die Haut waren sie alle, und wenn sie sich druckvoll über die Ärmel strichen, lief das Wasser aus dem Stoff und über die Handrücken ab. Edi Heßheimer klapperte mit den Zähnen, und der Maler schüttelte aus den Gedanken heraus immer wieder den Kopf: Der Trick mit dem Rollstuhl, dieser feige Betrug des Geflohenen, machte ihn fassungslos. Als er den Freunden das Geschehene mitteilte, hatten sie ihm anfangs nicht glauben wollen. Aber plötzlich hatte Peter Muzeniek gesagt: »Ich fahr’ mal zurück. Vielleicht finde ich was…« Dann hatte er die Hand vor den Mund genommen, erschrocken über sich selbst: als hätte er eben Schreckliches prophezeit. »Ich meine, der wollte doch was, der war doch nicht umsonst hier im Park.« Seit seiner Abfahrt waren etwa zehn Minuten vergangen. Edi und Jo warteten unterdessen neben der Landstraße auf das Eintreffen der Polizei. Von den Blättern der Bäume rutschte der dort aufgefangene Regen
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in schweren, einzelnen Tropfen und schlug in den Sand des Radweges ein. Fingerhutgroße Trichter entstanden. Kein Sturm mehr, nur noch ein bißchen weicher, irgendwie meergebadeter Wind. »Peter kommt,« sagte Edi und hatte seine Ungeduld, nein, seine bange Unruhe wohl eher, nicht mehr verbergen können. Auch Jo war nun in einer geradezu unnormalen Weise auf die Ankunft Muzenieks gespannt. Als könnten sie dessen Rollstuhl mit Blicken beschleunigen, ihn heranziehen, so zwingend starrten sie ihm entgegen. Aber wie zum Trotz fuhr der einstige Redakteur auffallend langsam, und er machte den Eindruck eines Menschen, der gar nicht weiß, wo er im Augenblick ist und was er tut. Endlich war er heran. »Und?« fragte Jo. Er gab keine Antwort. Hatte er die Frage überhaupt gehört? Bestürzung, aschgrau beinahe, lag auf seinem Gesicht. Wenn Muzeniek die Sprache einfror, mußte Ungeheuerliches geschehen sein. Einer wie der krächzte noch sein triumphierendes »Ha!«, wenn ihm der Arzt eine doppelseitige Lungenentzündung diagnostizierte. »Peter, wirst du nun reden, ob du gefunden hast was?« Entnervt rang Edi mit den Händen. Mehrmals versuchte Muzeniek etwas zu sagen: Sein Mund ging auf, doch die Stimme versagte ihm, und er hob - wie um Entschuldigung bittend - seine Schultern an. Vorerst wurden sie abgelenkt: Das Signalhorn eines Funkwagens grellte zu ihnen her. Er kam mit Blaulicht, dicht folgte ein zweites Auto. Edi stellte sich quer über die Straße. Die Fahrzeuge stoppten, und uniformierte Polizisten sprangen heraus. Gleich wollte Edi berichten, aber das war dann doch leicht unverständlich für Leute, die ihn nicht kannten, und so sprang ihm Jo zur Seite und erläuterte ihn. Daß sie die Reifenspuren des Barkas gesichert hatten, fand allgemeines Lob. Dennoch fragten die Polizisten zuerst, ob sie nicht wünschten, zunächst nach Hause gefahren zu werden. »Sie sind durchgeweicht.« »Nein!« schrie auf einmal Peter Muzeniek. »Nicht nach Hause! Ein Mord…! Dort hinten ein Mord…!« Mit ausgestrecktem Arm wies er in den Park hinein. Dabei heulte er los. Es war ein Heulen, kein Weinen mehr. Dieser lästerliche Mensch war im tiefsten Herzen erschüt-
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tert, wie es selbst seine Freunde noch nicht bei ihm beobachtet hatten. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, winkte er den Polizisten und fuhr ihnen voran in den Park hinein. Jo und Edi schlossen sich an, und plötzlich hatten sie beide keine Kraft in den Armen, und immer wieder blieben sie stehen. Nie war ihnen ein Weg so lang geworden wie dieser, und sie alle fühlten sich schuldig, in besonderem Maße Jo Heinrich. Ich hätte es ahnen müssen, warf er sich vor, es war ein Fehler, ewig nur auf der Lichtung zu warten: als müßten Verbrecher ausgerechnet dort vorbei! Es war noch keine Stunde vergangen, seit die sechsjährige Antje Berger an diesem Platz im Gebüsch Lehrerin gespielt hatte. Nun war der Platz zum Tatort geworden. An der unteren Kante der am Baum hängenden Schulmappe glänzten einzelne Regentropfen. Wie Tränen sahen die aus. Zwischen den Bäumen hielten mehrere Funkwagen und der Shiguli von Oberleutnant Wall. Auf der Fahrerseite war die Tür geöffnet, und Leutnant Lemke, die Füße auf dem Waldboden, lag halb im Wagen, hatte den Telefonhörer am Ohr, sprach mit jemandem. Über den frei gehaltenen Weg rollte jetzt ein Krankenauto heran, die Signalanlage auch hier im Park noch eingeschaltet. Sofort nach dem Halt öffneten zwei Männer in weißen Kitteln die Hecktür und zogen in großer Eile eine Krankentrage aus dem Innern des Wagens. Ein Mann in Zivil trat hinzu, der Polizeiarzt. »Warten Sie bitte«, sagte er leise. »Der Fotograf ist noch nicht fertig.« »Großer Gott!« sagte der eine im weißen-Kittel. Und sein Kollege sagte stockend: »Was denn… tatsächlich tot…?« Gute zehn Meter entfernt, aufgereiht neben dem Weg, die Blicke unverwandt zum Tatort hin gerichtet, saßen die drei Freunde in ihren Rollstühlen. Sie waren sehr blaß und wirkten irgendwie übernächtig. Von Zeit zu Zeit murmelte Edi Heßheimer die stets gleichen Worte, und er war sich seines Sprechens bestimmt nicht bewußt: »Hund, du verfluchter! Hund!« Und ebenfalls aus den Gedanken heraus, hieb Peter Muzeniek immer wieder mit beiden Fäusten auf die Lehnen des Rollstuhls, daß es ihn schmerzen mußte. Aber er schien es nicht zu
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spüren: zu groß war sein Schock. Jo Heinrich hielt die Lippen aufeinandergepreßt und hatte die Augen eng gemacht. Zweifellos rechnete er in seiner Phantasie mit dem Mörder ab, gnadenlos und mehr als genug. Antje lag noch auf dem nassen Laub. Ihr nach oben gedrehtes Gesicht war selbst noch im Tod mit Entsetzen gezeichnet. Verrenkt und unnatürlich lang wirkte ihr Hals. Im Stoff ihres blumenbestickten Jeans-Anzuges schimmerte das Regenwasser. Nichts Damenhaftes war mehr an ihr. Seit ihrer Ankunft stand Oberleutnant Wall vor dem kleinen Leichnam, ihr war übel, fast fehlte ihr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, aber sie konnte sich nicht losreißen von diesem Bild. Es war eine Qual für sie, eine Folter, doch sie wollte diese Qual auf sich nehmen, wollte diesen Schmerz durchleben, damit sie diesen Anblick, diese grauenhafte Wahrheit niemals würde vergessen können. Erziehung an sich selbst war schon immer Härte gegen sich selbst. Kindchen, mein kleines Mädchen! dachte sie unentwegt. Töchterchen, was ist nur mit uns, wer bricht so ein in unsere Welt, so widerlich und gemein…! Ach, du kleiner Wirrkopf mit deinen Märchen, du Märchen-Mensch, du… Es kostete sie größte Beherrschung, sich nicht über den Leichnam zu werfen, dem Mädchen ihren Atem einzuhauchen, hoffend auf Wunderkräfte. Manches hätte sie hergegeben, Gesundheit, Beruf, wenn es nur möglich gewesen wäre, das Kind zurück ins Leben zu holen. Aber Antje war tot, unwiderruflich, es gab nicht den geringsten Zweifel daran. Mein Mädchen, du meine mitleidige, begabte kleine Wundertüte…! Was meinst du, wieviel Großartiges und Schönes es gibt auf dieser Erde, du hast nur den Falschen getroffen, du mußt nicht denken, alle erwachsenen Menschen sind schlecht. Nein, Töchterchen, bestimmt nicht, das darfst du mir glauben… Oberleutnant Carla Wall weinte. Es war ein stummes Weinen: Die Verzweiflung würgte sie und drückte ihr die Stimmbänder ab. In der Hand knüllte sie ihr Taschentuch, und manchmal nahm sie es zwischen die Zähne und biß hinein. Gesprochen hatte sie noch kein einziges Wort. Ein Kriminaltechniker trat auf sie zu und erstattete Meldung: »Genossin Oberleutnant, wir haben alles abgesucht. Die Reifenspuren des Barkas wurden gesichert.« Carla Wall nickte. Mühsam
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fragte sie: »Und? Haben Sie etwas gefunden?« Hinterher biß sie sich auf die Unterlippe. »Außer der Aster am Tatort, zwei Haselnüssen, dem Cola-Deckel und den Reifenspuren«, sagte der Kriminaltechniker, und sie hörte ihn überlaut und wunderte sich, daß sie kein Megaphon bei ihm sah, »haben wir einige geknickte Zweige untersucht ohne Ergebnis. Keine Stoffreste, keine Haare.« »Danke. Lassen Sie eine Bodenprobe vom Tatort und vom Standort des Barkas machen.« War sie es, die eben gesprochen hatte? Geflüstert? Gebrüllt? Sie drehte sich um: Niemand in ihrem Rücken. Niemand mehr neben ihr. Der Fotograf hatte seine Arbeit beendet, und die Krankenpfleger brachten die Trage. Hastend kam Leutnant Lemke; vielleicht hatte er diesen Moment abgepaßt, um seiner Vorgesetzten das Zusehen beim Abtransport der Toten zu ersparen. Jedenfalls sagte er: »Carla, die Genossen der Park-Streife sind hier. Zur vermutlichen Tatzeit sind sie keine fünfhundert Meter von hier entfernt gewesen. Möchtest du sie sprechen?« »Ja, bitte.« Sie folgte ihm. Aber dann sah sie die drei Männer in ihren Rollstühlen, und zu ihnen ging sie zuerst. »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken«, sagte sie und hatte Mühe, nicht laut loszuweinen. »Ihr Verhalten war vorbildlich.« Jo Heinrich starrte zu ihr hoch. Er litt sehr. »Vorbildlich…?« Er klagte sich an: »Ich hätte es ahnen müssen, wir hätten es ahnen müssen…« »Niemand konnte es ahnen, Herr Heinrich, niemand.« Jetzt, da es darum ging, andere zu trösten, war ihre Stimme wieder fest. Gedanklich abwesend, murmelte Edi Heßheimer: »Hund, der verfluchte Hund!« Nur Peter Muzeniek, der Sprachgewandte, hatte für nichts und niemanden mehr Worte an diesem Tag. Angesichts dieser Männer wurde der Kriminalistin warm. Wichtig zu wissen, daß es solche Menschen im Lande gab, vorwiegend solche. Schließlich mußte es weitergehen, alles. Betont burschikos sagte sie: »Und jetzt werden Sie mit einem Funkwagen nach Hause befördert, und zwar sofort. Widersprechen Sie bitte nicht! Das ist eine polizeiliche Anordnung! Ihre Rollstühle werden Ihnen umgehend zugestellt.« Sie winkte nach Uniformierten, entschlossen, sehr wach -
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Auch diese schwerste Pflicht lag auf Carla Walls Schultern: Frau Berger und - wenn möglich - auch ihren Mann vom Tod der Tochter zu unterrichten. Sie stand vor der Wohnungstür und hatte bereits eine Weile geläutet, und sie fühlte sich derart schwach, daß es ihr schwer wurde, mit dem Finger den Klingelknopf durchzudrücken, und hinter der Tür blieb es still. Inzwischen ging es auf vierzehn Uhr zu. Schon wollte sie umkehren, da wurde die Tür zur Straße geöffnet, und untergehakt betraten Frau Berger und ihre Freundin Anna-Maria das Haus. Sie plauderten, lachten. Beim Anblick Carlas sagte Frau Berger: »Oh, welch ein… Besuch?« Gewiß hatte sie »seltener Besuch« sagen wollen und lästig, überflüssig damit gemeint. Aber rechtzeitig hatte sie die Polemik verschluckt und übertünchte nun ihr Begehren danach mit einem charmanten Lächeln: Höflich war sie noch allemal. »Falls Sie zu Antje möchten, die ist noch in der Schule, so Viertel nach zwei erwarte ich sie.« »Ich möchte zu Ihnen«, sagte die Kriminalistin, und für einen Moment schwindelte ihr. »Bitte.« Frau Berger ließ sie eintreten. Freundin Anna-Maria hatte als Gruß nur kühl genickt. »Wenn Sie ablegen wollen…?« »Nein, danke.« Es war warm in der Wohnung, doch Carla fror. Eigenartig unbewohnt kamen ihr Flur und Zimmer vor. Am liebsten wäre sie jetzt in das Kinderzimmer gerannt, hätte die Puppen und Bücher der Kleinen gestreichelt, sich auf ihr Bett geworfen und sich dort hemmungslos ausgeweint. Frau Berger machte es sich in einem Sessel bequem und schlug die Beine übereinander. Die kleinmündige Anna-Maria war offensichtlich gewillt, den Protokollchef zu spielen, legte sich auf der Couch zwei Kissen zurecht. »Es tut mir leid«, sagte Carla, an Antjes Mutter gewandt, »ich muß Sie wirklich alleine sprechen.« In bereits gewohnter Weise spitzte die Freundin Brauen und Mund und schniefte verächtlich. »Ich meine, was ich sage!« Carla erhob sich und guckte böse. »Also bitte!« Sie wußte sich im Recht: Die Freundin des Hauses hatte Antje Wärme gestohlen, Verständnis und Geborgenheit. Nicht ausstehen konnte sie diese Person, schon gar nicht ihr gemütvoll verzei-
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hen. Den Kopf im Nacken, verließ Hausherrin Anna-Maria den Raum. Seufzend sagte Frau Berger: »Ich höre. Ist es tatsächlich so geheimnisvoll?« »Können Sie Ihren Gatten erreichen?« »Sicher. Er ist in Amsterdam.« Carla sammelte ihre Kräfte, suchte ihre Stimme, sagte gepreßt: »Ich möchte es Ihnen ersparen, Frau Berger, zu gern… Dennoch, ich muß…. Antje lebt nicht mehr. Sie ist heute… ermordet worden…« Es dauerte, bis die Mutter den Sinn der Worte begriff. Dann wurde sie weiß und hob ein paarmal die angewinkelten Arme: als wollte sie fliegen, als hätte sie es immer gekonnt, als wären ihr unversehens die Flügel beschnitten worden. »Antje…? Ermordet…?« Sie lächelte: zu Tode erschrocken. Ihre Augen wurden naß. Gleich darauf schüttelte sie den Kopf, abweisend, energisch. »Was Sie mir erzählen…!« Jetzt schrie sie auf. Die Tränen quollen ihr über die Lider. »Nein, welch ein Wahnsinn…! Gar nicht komisch…! Das dürfen Sie gar nicht, Sie dürfen nicht so Schreckliches sagen…! Sie haben kein Recht dazu, hören Sie, kein Recht…! Was ist denn da witzig, es ist doch gar nichts witzig daran…!« Auf einmal begann sie irrsinnig zu kichern. Das Kichern schlug um in hysterisches Lachen, und die Tränen radierten nun Bahnen auf ihr Gesicht. Carla trat zu ihr und strich ihr über die Schultern. Es half nichts: Frau Bergers Lachen dauerte an Vieles hatte Oberleutnant Wall an diesem Tage noch in die Wege zu leiten, zu überprüfen, zur Kenntnis zu nehmen. Alles tat sie wie im Traum, nein, wie unter der Last eines Alptraums. Am Abend lehnte sie den Dienstwagen ab. Jürgen Lemke begleitete sie. Aber sie schwieg, Straße um Straße. »Carla«, sagte er endlich, und er mußte Hemmungen überwinden, »du kannst nichts dafür.« Nun blieb sie stehen, faßte nach seinem Arm. »Danke, Jürgen. Es ist nur… wir können immer etwas dafür. Ein einziger, richtiger Gedanke, verstehst du, der richtige, und…«
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»Nein!« sagte er und unterbrach sie damit. »Wir sind Menschen und keine Computer. Und selbst die rechnen nur aus, was man ihnen eingibt an Informationen. An richtigen, Carla - was wir nicht besitzen, hat ein Computer schon lange nicht.« Sie lehnte sich an ihn, drückte den Kopf an seine Schulter. »Wie soll’n wir denn weiterarbeiten in unserem Beruf…? Jetzt…?« Leutnant Jürgen Lemke putzte sich die kreisrunden Gläser seiner drahtgestelligen Brille und benutzte den weiterhin gut gefalteten Lederlappen dazu. »Wer sonst?« fragte er, und seine Sachlichkeit war umwerfend emotional. Carla faßte sich wieder. »Trotzdem glaube ich, wir müssen uns mehr abverlangen. Doch, doch, uns muß immer noch mehr möglich sein!« Lemke zuckte mit den Schultern. »Der Park war ständig unter Kontrolle. Heßheimer, Muzeniek und Heinrich waren dort. Die Streife war fünfhundert Meter entfernt. Daß es trotzdem passieren konnte, war ein Zufall. Wenn zur normalen Zeit Schulschluß gewesen wäre…« »Wennste, hättste - trotzdem!« fuhr sie ihm verzweifelt dazwischen. Nein, diese Vorgesetzte durfte er nicht verletzen. Außerdem beschämte sie ihn! So einfühlsam es ihm möglich war, sagte er: »Unser vergebliches Suchen ist Antje peinlich gewesen. Mit der Wahrheit kam sie sich vor wie eine große Lügnerin. Oder - auch das ist wahrscheinlich - sie hat uns bis zuletzt nicht getraut. Wir fügten uns einfach nicht ein, nicht überzeugend genug - in ihre Märchenwelt.« Minuten vergingen. Dann sagte Carla: »Ich werde ihn kriegen! Der ahnt nicht, wie schnell das passiert…!« Vor der Haustür verabschiedete sich Jürgen Lemke. »Versuche, dich auszuruhen. Wenn’s gar nicht geht, nimm eine Schlaftablette.« Die nahm sie nicht. Ihr Mann, ein Bauleiter für Heizungs-, Lüftungs- und Sanitäranlagen, wartete seit langem auf sie. Und weil es im Hochbau für seinen Bereich keine Technologie gab, keine ehrliche wenigstens, brachte er täglich Probleme nach Hause. Heute, während des Rapports, hatte ihn der Direktor getadelt: weil er einem Zulieferbetrieb nackte Tatsachen zugeschickt hatte. Zurückgekom-
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men war ein fragentriefender Brief. Demzufolge absolut klar: Der Bauleiter hatte die Interessen des Kombinats verraten! Es war’ seine Pflicht gewesen, zu lügen. Mit seiner fanatischen Wahrheitssuche brächte er nun den Plan in Gefahr! »Wie denn?« fragte Carlas Mann aufgebracht. »Soll man sich im Sozialismus betrügen? Soll man sich gegenseitig die Augen auswischen: Dort hinten, mein Freund, das geht uns nichts an?« Carla hatte ihm zugehört - wie jeden Abend. Dann plötzlich umarmte sie ihn und weinte laut. Da erst begriff er, streichelte sie, drückte sie an sich, benötigte Zeit, um Worte zu finden, und sagte doch nur: »Bitte, verzeih.«
8 Gegen -Morgen erst war Carla Wall eingeschlafen, und als sie erwachte, sprang ihr die furchtbare Wahrheit wieder in Herz und Hirn - nichts hatte die Nacht ausgelöscht, nichts ungeschehen gemacht. Natürlich war nicht jede kriminalistische Aufgabe dergestalt, daß die Substanz des eigenen Lebens grundsätzlich erschüttert wurde. Aber es gab ihn, diesen Fall, und für eine empfindsame Frau wurde er fast unvermeidlich, sobald Kinder in ihn verwickelt waren. Berufsrisiko? Nein, eigentlich natürliches Ergebnis, natürliche Antwort: Sage mir, wohin deine Empfindungen gehen, und ich sage dir, welchem Leben du angehörst, welche Welt du verteidigst. O ja, sie konnte sich alles erklären. Trotzdem blieb das alles so schwer. Nein, schwer war ein blasses Wort dafür, ein kränkliches, schwach Nun aber die Dienstbesprechung. Sie unterdrückte jedes Zittern in ihrer Stimme, berichtete dem »Chef«. Jürgen Lemke und Genossen des Kriminalistischen Instituts waren Zugegen. Im Rücken Major Riegers war eine Landkarte der DDR angebracht. Gerade sagte Oberleutnant Wall: »Der wesentliche Hinweis bis jetzt sind die Spuren des vom Täter benutzten Kraftfahrzeugs, die eindeutig auf einen Barkas schließen lassen - zwar hat dieses Auto die gleichen Reifen wie der Wartburg, aber jener Personenwagen hätte nicht so tiefe Eindrücke hinterlassen. Außerdem liegt uns die Aussage des Zeugen Joachim Heinrich vor. Als vermutlicher Wohnort des Täters ist Ber102
lin beziehungsweise der Raum um Berlin anzunehmen. Zur äußeren Erscheinung des Gesuchten liegen lediglich die - durch die große Entfernung, aus der sie gemacht wurden - vagen Beschreibungen der Bürger Heinrich, Muzeniek und Heßheimer vor. Genauere Anhaltspunkte könnte die Aussage des Genossen Wachtmeister Faschina vom Kontrollpunkt bieten - vorausgesetzt, der von ihm beschriebene Fahrer eines Barkas ist mit dem Täter identisch. Also handelt es sich hierbei ebenfalls nur um eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Als letztes noch: Die neben dem ermordeten Kind Antje Berger gefundenen zwei Haselnüsse sowie die Blume - eine blaue Aster - ergeben laut Untersuchung im KI keinen verwendbaren Anhaltspunkt. Anders verhält es sich mit dem Deckel der Cola-Flasche: An ihm wurden Reste eines Metallacks festgestellt, die auf eine unsachgemäße Öffnung der Flasche hindeuten. Die Vermutung scheint begründet, daß der Täter die Cola-Flasche an einem Eisenteil des von ihm benutzten Rollstuhls aufgeschlagen hat.« Major Rieger nickte ihr zu, aufmunternd. »Danke, Genossin Oberleutnant. Ist inzwischen ein Identi-Kit angefertigt worden?« Jürgen Lemke meldete sich: »Jawohl. Allerdings weichen die Aussagen unserer Zeugen wesentlich voneinander ab, so daß die einzelnen Identi-Kits in Beziehung auf ihre Nutzbarkeit hin stark anzuzweifeln sind.« Ein Genosse des Kriminalistischen Instituts legte Major Rieger jene Gesichtsdarstellungen vor. Sie entstanden nach Zeugenaussagen: Unterschiedliche Haar-, Stirn-, Augen-, Nasen-, Mund- und Kinnpartien - alle vorgefertigt - wurden so lange miteinander verbunden, ausgetauscht und wieder verbunden, bis der Zeuge mit größtmöglicher eigener Sicherheit sagte: Ja, so habe ich den Täter gesehen, das könnte er sein. Also war das Identi-Kit eine Hilfe für die Arbeit der Polizei, aber noch längst kein Beweis. Schon gar nicht, wenn es zwischen mehreren Aussagen äußerst geringe Übereinstimmungen gab. Unzufrieden hob Major Rieger die Schultern an. Er fragte: »Sind Fernschreiben an die Bezirksdirektionen der Volkspolizei rausgegangen?« »Ja, an alle«, sagte Leutnant Lemke.
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»Gut«, sagte der »Chef« und straffte sich. »Es ist unbedingt notwendig, jeden, aber auch jeden Rollstuhl zu erfassen. Engste Zusammenarbeit mit den Abschnittsbevollmächtigten und den ehrenamtlichen Helfern der Volkspolizei. Eile ist diesmal dringender denn je geboten. Überprüfen Sie alle einschlägig Vorbestraften, ob Exkulpierte oder nicht.« Im Sprechgerät vor ihm knackte es, und eine Stimme meldete: »Genosse Major, die Aufstellung aller im Ermittlungsraum zugelassenen Fahrzeuge vom Typ Barkas.« »Danke«, sagte er, »bringen Sie die Arbeit zu Oberleutnant Wall, in fünf Minuten.« Die Dienstbesprechung war im nächsten Augenblick beendet. Doch diese fünf Minuten benötigte er noch, um allein mit Carla zu sprechen. »Genossin Wall«, sagte er, »Sie sehen schlecht aus. Verzeihen Sie mir, wenn ich mich so wenig schmeichelhaft ausdrücke. Ich mache mir Sorgen um Sie.« Er sprach weiter, menschlich, irgendwie väterlich. Zuletzt fragte er, ob er sie von diesem Fall entbinden solle und jemand anderen damit betrauen. »Es hat keinen Sinn, daß Sie sich zugrunde richten.« Carla Wall sah ihm fest in die Augen. »Darf ein Mörder denn stärker sein, Genosse Major, stärker als ich…?« Es war kein Tag für eine Beerdigung: zu unbeschwert das Gezwitscher der Vögel, zu heiter die Sonne und im Wind zuviel Blumenduft. Pilzgeschmack auch - der Friedhof lag nahe beim Wald. Der Himmel so blau wie aus der Kostümabteilung des Sommers; bemerkenswert, wie der Herbst dazu kam. Es war ein Tag zum Wandern und Spielen, für Kartoffelkrautfeuer in weiten, nicht enden wollenden Feldern, für die Ernte vom Apfelbaum. Aber die Kinder, sich immer zu zweit an den Händen haltend, Schulanfänger wie vor wenigen Tagen auch Antje noch, lachten und tollten nicht. Befangen standen sie mit ihrer Lehrerin vor dem ausgehobenen Grab; traten höchstens von einem Bein auf das andere, zwickten sich vielleicht auch ein wenig, um den Nachbarn zum Grinsen zu bringen, ebenfalls nur ein wenig und um den Kloß im eigenen Hals schnellstens herunterzukriegen. Sie alle hielten ein Sträußchen
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Blumen, unterschiedlich in Form und Farbe, also bestimmt nicht von der Lehrerin zugeteilt, sondern mitgebracht von zu Haus. Leutnant Lemke war sich nicht sicher, ob die Teilnahme so kleiner Kinder an einem Begräbnis ratsam war. Die seelische Belastung war schließlich groß. Andererseits konnte es in jeder Familie und überall Sterbefälle geben, und gerade für junge Menschen war es dann wichtig, den Tod als etwas Natürliches zu erleben: Sonst drohte ihnen das Gefühl des Verlorenseins, der lähmenden Einsamkeit und Angst. Und dennoch war es vielleicht gut, von der Endgültigkeit dieses Todes eine Ahnung zu bekommen, frühzeitig schon: um mit dem Leben behutsamer umzugehen, auch mit dem eigenen, um von seiner Verletzlichkeit zu wissen. Mahnung genug war Antjes Geschick. Außer ehrlichem Mitgefühl hatte der Leutnant einen weiteren Grund für seine Anwesenheit: Nicht nur einmal war es schon vorgekommen, daß der Mörder zum Begräbnis seines Opfers erschienen war. Das Motiv war immer das gleiche: Ist mein wesentlichster Zeuge tatsächlich tot, oder habe ich von dessen Seite größte Gefahr zu befürchten? Zwar war der Wahrscheinlichkeitsgrad, den Täter hier zu entdecken, gering, doch auch die winzigste Chance durfte nicht ungenutzt verstreichen, mußte ernst genommen werden. Jürgen Lemke trug einen schwarzen Anzug und blies auf seiner Posaune. Er tat es inmitten einer Gruppe von Berufsmusikern und gemeinsam mit ihnen. Die waren Freunde und Kollegen des Vaters der Toten. Nein, um hier zu blasen, dafür hatte der Leutnant sein Hobby nicht gepflegt. Trotzdem blieb er nicht nur Statist, er dachte an ein kleines Mädchen, das großmütig darauf verzichtet hatte, ihn Onkel zu nennen, das ihn Jürgen gerufen hatte, nur Jürgen, und so blies er jetzt halt. Und vor ihnen stand der weiße Sarg. Warum mußte ein solcher Sarg dort stehen? Warum und wofür? Weißer Sarg - wofür? dachte Lemke. Wofür, wofür…? Herr Berger stützte seine laut schluchzende Frau. Er war bedeutend älter als sie, und sein Äußeres wies durchaus nicht auf einen Künstler hin, selbst die langen, bei Dirigenten oft gesehenen, während der Konzerte wirkungsvoll fliegenden Haare fehlten ihm. Er war breit in den Schultern und etwas gebeugt - wie
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ein betagter Lastenträger -, und sein Gesicht hätte gut über die Seekarte auf einem Walfänger aus der Zeit Moby Dicks gepaßt. Wer ein solches Gesicht besaß, mußte von größten Abenteuern und enormen Geheimnissen berichten können. Und für seine Tochter hatte dieser Mann wohl oft im Buch der Träume geblättert und hatte bestimmt auch gelesen, was täglich millionenfach begehrt und gewünscht wurde, was trotzdem zu selten geschrieben stand: Für dich, Kind, alle Blumen und Tiere der Erde, die Luft und das Wasser, für dich, Kind, sind die Sterne des Alls. Nun aber war das Gesicht dieses Vaters von Erschütterung zerstört. Er weinte nicht, er stützte seine weinende Frau. Ihn hätte man stützen müssen. Unaufdringlich hatte Leutnant Lemke die Trauergesellschaft betrachtet, auch zu anderen Gräbern hinübergeblickt und tiefer in den Friedhof hinein. Jetzt hoffte er nicht mehr, daß der Mörder gekommen war. Er dachte an Carla. Während der letzten Tage war sie ihm nur wie ein Schatten ihrer selbst begegnet. Gut, daß es ihr der »Chef« untersagt hatte, an der Beerdigung teilzunehmen. Schlimm oder gut, daß auch Polizisten nur Menschen waren? Beides, Genosse Lemke! Reiß dich gefälligst zusammen! Wozu spiegelst du dich in den Scherben deiner Gefühle! Dein Ruf ist, du hättest keine - also benimm dich danach…! Ein etwa vierzigjähriger Mann der weltliche Redner -sprach nun zu den Menschen am Grab. Pastoraler Tonfall und ebenso pastorale Gebärden. Jürgen Lemke war betroffen. Gewiß, der Mann legte Herz in seine Worte, sagte Liebes über Antje und Kluges über den Anspruch der Kinder auf Glück. Wandte sich an die Schulanfänger, dankte ihnen und tröstete sie. Und doch, seine Trauer - ihm so ganz und gar zum Beruf geworden - erzeugte eher Trostlosigkeit. Aber der Leutnant wollte nicht ungerecht sein: Er wußte, häufiger als aus traurigem Anlaß sprach ein Pfarrer aus frohem - er hatte die Taufe und Hochzeit und erst zuletzt die Beerdigung. Das mußte ihn heiterer machen, ausgeglichener auch. Der weltliche Redner wurde meistens zu Toten gerufen. Die Namensgebung und Hochzeit im weltlichen Sinne waren vorerst sehr viel weniger in Brauch. Plötzlich entstand zwischen entfernten Gräbern Be-
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wegung. Was denn, sollte das…? Lemke war zusammengezuckt: Ein Mann im Rollstuhl näherte sich! Auf den Beinen hatte er einen großen Blumenstrauß, soviel war bereits zu erkennen. Und wenig später tauchte ein Rollstuhl nach dem anderen auf! Ein Regiment von Rollstuhlfahrern. Und jeder von ihnen brachte für Antje Blumen, Chrysanthemen und Rosen, Astern und Nelken. Doch so viele Astern es auch waren, keine einzige blaue befand sich darunter - welch Maß an Takt! Es waren Männer und Frauen, Mädchen und Burschen, wohl alle Behinderten dieser Gegend - eine sehr menschliche Demonstration. An ihrer Spitze Jo Heinrich, Edi Heßheimer und Peter Muzeniek. Die Trauernden traten zurück, machten den Rollstuhlfahrern Platz. Jo Heinrich wollte etwas sagen, sein Hals war zu eng. Auch die Tränen konnte er nicht stoppen. Hilfesuchend drehte er sich nach den Freunden um. Denen erging es nicht besser. Peter Muzeniek, langhaarig und im Verhältnis dazu noch länger die Jacke seines maßgeschneiderten Anzugs, wurde des Zuckens seiner Wangen nicht Herr, und Edi Heßheimer wandte den Blick nicht vom weißen Sarg und bewegte die Lippen, als murmelte er: Es war ein kurzer Satz, und ein Wort darin schien sich zu wiederholen, ein offensichtlich prägnanter Satz. Vorsichtig legten sie die Blumen ab und fuhren weiter. Ihre Gefährten schlossen sich an. Niemand sprach. Es sei, der Berg aus Blumen tat es für sie. Er tat es bestimmt. Auf einmal vertraute. Leutnant Lemke der menschlichen Wärme in den noch nicht gesehenen Sonnenblumenbildern jenes Joachim Heinrich, der Lauterkeit im noch nicht erschienenen Buch jenes Peter Muzeniek, der Weisheit in den naiv anmutenden Zeichnungen jenes Edi Heßheimer. Und er beschloß, manchmal, nicht immer, doch manchmal weniger heftig, den eigenen Gefühlen schlechthin zu mißtrauen. Was immer der weltliche Redner noch sagte, wie er sich gab, der Berg aus Blumen am Grabe des Kindes Antje Berger zeugte von Lebenskraft. Und der Vater des Mädchens weinte inzwischen. Er stützte nicht seine Frau, er brauchte die Hand für das Taschentuch. Tante Anna-
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Maria war nicht auf dem Friedhof erschienen Natürlich lastete die breit angelegte Fahndung nach dem Mörder des Kindes nicht nur auf den Schultern von Oberleutnant Wall und Leutnant Lemke. An ihrer Seite ermittelte ein Stab von Mitarbeitern und trug ihnen Informationen zu. Aber Carla hatte zu entscheiden, der Suche Richtung zu geben, bei ihr liefen die Fäden zusammen, sie war das Nervenzentrum, der Kopf. An ihr war es, aus Einzelheiten ein Ganzes zu fügen. Jedoch: Sollten hundert Bausteine ein Mosaik ergeben, so durften sie zwar durcheinandergewürfelt, auch unvollständig sein, aber letztlich mußten sie zueinander gehören, also die Gemse zum Enzian, die Butterblume zur Kuh. Nichts dergleichen fand sich in Carlas Akten. Wenn die eine Information einer anderen überhaupt zuzuordnen war, so höchstens in negativer Weise: Beide schlossen die Täterschaft kurzzeitig Verdächtiger mit absoluter Sicherheit aus. Wen hatten sie inzwischen nicht alles überprüft: psychisch Kranke sowohl wie einschlägig Vorbestrafte. Dazu Personen, die der Polizei irgendwann in nämlichem Bezug gemeldet worden waren und denen man nichts hatte nachweisen können. Namen, Namen, Namen - und immer ein Alibi. Altersheime hatten sie erfaßt, Krankenhäuser, alle Institutionen, zu deren Ausrüstung Rollstühle gehörten. Doch nirgends war ein solches Gefährt abhanden gekommen, auch nicht vorübergehend. Jedenfalls hatte niemand etwas davon bemerkt. Stundenlang saß die Kriminalistin über den Akten. War ihr ein Fehler unterlaufen, hatte sie etwas übersehen, gab es vielleicht in dieser oder jener Notiz bei besserem Kombinieren doch einen Fingerzeig? Nein, dies war kein Weg und jenes erst recht nicht…! Carla Wall hatte Angst. Mitunter wurde ihr schlecht vor Beklemmung. Ihr Schläfenhaar war naß, und manchmal trat sie ans Fenster, öffnete es, zog ratlos die Unterlippe ein und starrte mit leerem Blick. Im nächsten Moment hastete sie zum Schreibtisch zurück und blätterte erneut in den Berichten, tat es wie jemand, der zu wissen glaubt, es kann nur hier sein, was ich suche, nur hier, ich muß nur noch einmal von vorn beginnen und vor allem ruhiger jetzt. Klingelte das
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Telefon, erschrak sie jedesmal: eine Hiobsbotschaft erwartend, die Wiederholung des gleichen Verbrechens. Bei alldem war sie zur Hilflosigkeit verdammt und hätte weinen können vor Wut über sich selbst. Daß sie sich derartig bedrängt fühlte, lag in einem psychiatrischen Gutachten begründet. Dem Arzt waren die der Polizei bekannten Einzelheiten und Umstände, die zu Antjes Tod führten, mitgeteilt worden. Der Psychiater sollte danach eine Studie zur mutmaßlichen Psychologie des Täters anfertigen. Da sich an der Toten keinerlei Spuren eines sexuellen Gewaltverbrechens hatten feststellen lassen, die früheren Aussagen der Geschädigten aber eindeutig auf einen Sittlichkeitsverbrecher hindeuteten, war der Arzt zu dem Schluß gelangt, der Täter könne nicht nur aus Furcht, entdeckt zu werden, gemordet haben, sondern er könnte auch durch die Erdrosselung selbst zu sexueller Befriedigung gekommen sein. Träfe das allerdings zu, so bestünde akute Gefahr eines weiteren Verbrechens dieser Art. Wörtlich hieß es: »Die zeitlichen Abstände derartiger Delikte würden sich in ihrer Aufeinanderfolge dann rapide verkürzen…« Nein, Carla hielt es am Schreibtisch nicht aus. Wieder riß sie das Fenster auf und starrte hinunter auf die Straße. Zwei nebelgraue Barkasse fuhren dort. Und wenn man alle Kraftfahrzeuge dieses Typs stoppte, jetzt noch…? Auch keine große Erfolgsaussicht: Jede Straße war nicht zu blockieren, schon gar nicht zu jeder Zeit. Außerdem, wer garantierte ihr, daß der gesuchte Wagen nicht eingefettet, ja eingemottet in einer Garage stand? Schluß damit, so durfte sie nicht denken! Die Spekulation mit dem Zufall gehörte zur Arbeit der Polizei! Oberleutnant Wall rannte aus dem Zimmer: ein bißchen erleichtert. Die Reifenabdrücke! dachte sie. Die Reifenabdrücke vervielfältigen…! Zwei Treppen tiefer befand sich das Kriminalistische Institut Es war am Abend desselben Tages. Der Mörder - er hieß Norbert Wenig - hatte in seinem Zimmer die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet und saß nun am Tisch. Der schwache Schein einer Quarzlampe mit ihr wurden Briefmarken gewissermaßen durchleuchtet - lag ihm
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graugrün über den Händen und auf dem Gesicht. Er hatte die Lippen wie zum Pfeifen gespitzt, blies aber nur warme Luft in den Raum: schwelgend in Seligkeit. Denn neben der Lampe stand ein geöffneter Schuhkarton, bis zur oberen Kante mit Briefmarken gefüllt: sogenannte Kiloware, meistens beschädigte oder wertlose Marken, in Millionenauflage gedruckt. Viel Makulatur. Allerdings kam es mitunter vor, daß sich zwei oder drei gesuchte Werte darunter befanden, Fehldrucke, Farbabweichungen und anderes mehr. Unter Philatelisten standen so geartete Marken besonders hoch im Kurs. Wollte ein Sammler nun glücklicher Finder werden, so mußte er zunächst ein geradezu phantastisches Maß an Geduld und Zeit aufbringen. Die Quarzlampe benutzte er, um Irrtümer weitestgehend auszuschließen, und außerdem sah sie nach etwas aus Technik im Dienst ernsthafter Arbeit, vielleicht gar der Wissenschaft. Heute hatte der Mörder bereits einen Sperrwert entdeckt, Katalogpreis sechs Mark, also durchaus geeignet zum Tausch. Eine Art Jagdfieber hatte ihn gepackt. Zärtlichkeit gegenüber den Briefmarken durchwallte ihn. Seine fleischige Hand zitterte, wenn sie eine weitere federleichte Marke im Schnabel einer zierlichen Pinzette vom Schuhkarton zur Lampe hinüberhob. Er schwitzte nur ein kleines bißchen, kaum der Rede wert war es, so glücklich und unbedrängt fühlte er sich. Manchmal, wenn Tauschpartner kamen, schwitzte er ebenfalls nicht sehr viel. Diese Leute mäkelten nämlich nicht an ihm herum, betrachteten ihn kaum, sie sahen auf seine Marken, bewunderten seine Marken, mit ihnen ließ es sich leben, sie hatten nicht den gemeinen Blick. Trotzdem blieb Vorsicht geboten: Womöglich machten sie lange Finger. Nach Briefmarken, sonst überhaupt nicht. Aber Briefmarken lockten sie immerhin. Was aber tun, wenn Norbert Wenig Besuch bei sich hatte und plötzlich austreten mußte? Oder hinaus in die Küche, um den Teekessel aufzusetzen? Manche Gäste, bot er ihnen nichts an, reagierten da seltsam, zeigten ihre besten Stücke erst gar nicht und verschwanden auch bald. Sie allein im Zimmer zu lassen war andererseits gefährlich.
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Schließlich hatte Norbert Wenig eines Tages eine beruhigende Idee gehabt. Er mußte nur einzelne Kopfhaare zwischen die Schranktüren klemmen, hinter denen seine nach Zeiten, Ländern und Motiven geordneten Alben standen. Ein Dieb würde die Haare nicht bemerken, sie aber beim Öffnen der Türen zwangsläufig herausreißen. Allein dadurch wäre er überführt. Seither klemmte der Mörder in Erwartung eines Tauschpartners jeweils einige seiner Kopfhaare zwischen die Türen, und er wurde nicht müde, den Lageort der Haare gewissenhaft zu kontrollieren. Zwar benötigte er etwas Zeit dazu, doch sehr viel mehr davon müßte er hergeben, wollte er jedes einzelne Album nach dem Fortgang seines Besuchers auf den vollzähligen Bestand hin überprüfen. O ja, so schlau wie andere war er schon allemal. Bei dem Gedanken an seine raffinierte List kicherte er. Abende wie diesen liebte er sehr. Man konnte Marken bestaunen, sich freuen und über tausend Dinge nachdenken. Mit großer Ruhe nachdenken, und das war fast immer ein Genuß. Zum Beispiel war er ganz von selbst daraufgekommen, daß es am günstigsten war, mit Kindern zu tauschen: Erstens sammelten die meistens wahllos, zweitens gefiel ihnen, was hübsch war - philatelistisch im allgemeinen wertloses Zeug -, drittens gelangten sie auf allerlei Böden an allerlei alte Briefe und somit bisweilen an Kostbarkeiten, und viertens hatten sie beinahe nie eine Ahnung davon. Entdeckte er im Album des Kindes einen ihn lockenden Wert, so tat er geringschätzig und großzügig zugleich: Wie häßlich die ist, diese Marke, was du auch alles zusammenramschst! Na, sei nicht traurig, ich verschenk’ sie an wen. Kriegst sogar drei schöne von mir, groß und bunt, richtig zum Angeben, wenn du willst. Es ist nämlich - ich kann dich leiden, tatsächlich gefällst du mir. Vor allem auf diese Art hatte er es zu einer kostbaren Sammlung gebracht. Selbst Papi beneidete ihn. Natürlich gab der es nicht zu und verhöhnte ihn lieber. Sein gieriger Blick auf die Marken verriet ihn trotz alledem. Und nicht nur Papi beneidete ihn. Ganz andere Leute noch! Draußen, in ihrer Schöntuer-Welt, da galten sie etwas, hier aber wurden sie klein wie Mäuse. Ein berühmter Schauspieler war darunter, ein
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Museumsdirektor sogar! O ja, Norbert Wenig konnte schon, wenn er wollte: die Puppen tanzen lassen! Genügend Fäden dafür hatte er in der Hand. Der Mörder röchelte verzückt. Ein herrlicher, ein angenehmer Abend! Der Speichel lief ihm im Mund zusammen. Mein Gott, war das schön, am Leben zu sein! Die einzige leise Trauer, eine kleine Verstimmung: Seine wunderbare Antje war tot. Hin und wieder dachte er an sie. Schade, daß er sie nicht mehr würde anfassen können. Doch, eigentlich war es richtig schade um sie. Auch jetzt war ihm eine Erinnerung an die Kleine gekommen, und er tat sich selbst leid, daß er diesen Verlust hatte hinnehmen müssen. Ein wenig vertränt blickte er in das Okular der Quarzlampe, und seine trüben Gedanken starben schlagartig ab: Was er erblickte… war denn das möglich… nein, nein, so viel Glück an einem Tag, so viel Glück…! Hingerissen von seinem Glück, sprang er auf, riß den Stuhl um dabei, brachte ihn krachend zurück auf die Beine und taumelte zur Tür. »Papi, Papi!« rief er in den Korridor hinein. »Komm mal, komm mal, ich muß dir was zeigen!« Er biß sich in den Zeigefinger der linken Hand und schaltete mit der rechten die Deckenlampe ein. Sein Stahlrohrbett wurde sichtbar, der Bücherschrank, nichts anderes als Briefmarken-Alben und -Kataloge enthaltend, ein handgesticktes Wandbild mit schwärmenden Engelchen, ausgestopfte Vögel und präparierte Schmetterlinge in flachen Kartons hinter einer durchsichtigen Folie und vor allem ein stählerner Vogelbauer. Ein Wellensittich erwachte darin und sagte sofort seinem Herrchen: »Na, du, mein kleiner Scheißer! Na, du, mein kleiner Scheißer! Oh, ihr kotzt mich so an!« Endlich kam Papi. Er trug eine graue Strickjacke und hatte Hauspantoffeln an. Dabei hielt er sich sehr gerade und kam dem Typ des pensionierten Preußen-Generals sehr nahe. Sein weißes Haar war militärisch kurz. Während des Krieges war er Kompanieschreiber gewesen, und bis heute arbeitete er als Kassierer in einer Bank. Maßregelnd sagte er: »Was schreist du so? Bin ich schwerhörig? Bitte, seit wann?« Gleich schwitzte der Mörder ein wenig mehr. Aber sein
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bevorstehender Triumph machte ihn kühn, und so zog er den Vater am Ärmel zum Tisch und wies mit seinem hautläppchenblätternden, nikotingelben Zeigefinger auf eine separat liegende Marke. »Hier, die Maigrüne!« stieß er überwältigt hervor. »Aus der Kiloware gefischt!« »Quack!« sagte der Vater und musterte den Sohn wie einen, der von Tag zu Tag blöder wird. Daß dieses schwitzende Ungetüm sein Junge sein sollte, hatte er immer als Strafe empfunden, als unverdiente dazu. Dennoch griff er jetzt zur Pinzette, hob sich die Marke in Augenhöhe und nahm vor der Quarzlampe Platz. »Licht aus!« befahl er dann. Atemlos wartete der Mörder auf das neidvolle »Donnerwetter!« seines Papis, nach wie vor war er von der Echtheit seines Fundes überzeugt. Deutlich hörte er seine Armbanduhr ticken, obwohl er die Hand am Lichtschalter hielt. »Trottel!« sagte der Vater nun. »Wieso, Papi, stimmt etwas nicht?« Irgendwie kam sich der Mörder geprügelt vor, er drängte den Hals zwischen die Schultern und duckte sich innerlich. »Sollte es etwa?« fragte der Vater und höhnte. Nunmehr war er der Graugrüngesichtige. In plötzlichem Mißtrauen schaltete Norbert Wenig die Deckenlampe ein: Er wollte das Gesicht seines Papis genau beobachten können, er glaubte ihm nicht. »Was glotzt du so! Sieh selbst nach, wenn du meinen Augen nicht traust! Eine primitive Fälschung, sogar ein Zehnjähriger bekäme das mit!« Der Mörder starrte weiter hin: Da war ein Zittern in Papis Stimme gewesen, eine gewisse Unsicherheit. Leicht möglich, er wollte die Marke für sich. Ja, ja, bestimmt verhielt sich das so! »Na, was ist!« forderte der Vater, und es hörte sich drohend an. »Nichts, gar nichts…!« Norbert Wenig beeilte sich, dem Papi recht zu geben; er fürchtete dessen Zorn. »Ich glaub’ es dir ja!« Mit dem Ausdruck des Ekels im Gesicht warf der Bankkassierer die Marke zurück in den Schuhkarton. Immerhin benutzte er die Pinzette dabei. Jetzt war sich der Mörder noch sicherer als vorher: Seine Maigrüne
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war echt! Papi gönnte sie ihm nur nicht, das war alles, doch bei nächster Gelegenheit würde der flink danach grapschen. Zappzarapp, war etwas - nein! Hastig trat der Sohn an den Tisch und ließ seine Blicke auf dem vom Karton umrandeten Markenbeet grasen. Dort lag sie, die liebliche Feine…! Gleich nachher, sobald er allein war, würde er sie in Sicherheit bringen. O ja, so schlau wie sein Papi war er noch allemal! Vom Flur her eine aufgebrachte Frauenstimme: »Bitte, das Essen! Wo bleibt ihr denn wieder?« Es war die Mutter des Mörders. Sie trug eine weiße, rüschenumgrenzte Schürze mit Latz, war wie ihr Mann ungefähr siebzig Jahre alt, lediglich zweimal so breit wie er. Und bestimmt auch doppelt so schwer. Ihre Beine waren ausgesprochene Stampfer: Elephantiasis, vielleicht. Ihre Wangen hingen, und ihre Mundwinkel hingen, und böse gemacht hatte sie sicher, daß sie keinen Spiegel brauchte, um ihr Äußeres zu betrachten: In dieser Beziehung genügte ihr vollauf der Sohn. Kaum hatte sie die Unordnung im Zimmer gewahrt - den Tisch wischte sie bereits mit den Augen ab -, da verspritzte sie ihren gewiß gallenbitteren Speichel: »Großer Gott, wie kann man bloß so liederlich sein!« Sie schlurfte zum Tisch - absolut verständnislos gegenüber der Freizeitbeschäftigung des Sohnes - und schob mit der Handkante die auf der Platte liegenden Briefmarken zusammen. Im Herzen getroffen, jammerte der Mörder auf: »Nicht doch, Mami, nicht!« Er wollte seine Kostbarkeiten beschützen, aber ein Ellenbogenhieb vor den Brustkorb lähmte ihn: als wäre der Arm seiner Mutter mindestens ein mit Kurare vergifteter Pfeil. Vater Wenig hatte sich inzwischen aus dem Zimmer geschlichen. Wahrscheinlich saß er nun brav am gedeckten Tisch und wartete ergeben. »Schweig!« sagte die dicke Frau zum Mörder, keifte sie ihn an. »Und wasch dich gefälligst, bevor du mit dem Essen beginnst. Du stinkst ja bis hier!« Nun schwitzte Norbert Wenig, daß ihm sein Hemd am Rücken klebte. Er streckte den Kopf vor, um sich nicht riechen zu müssen: Alle Welt behauptete schließlich, sein Geruch sei unangenehm. Immer mehr in Rage gelangend, schleppte die Mutter Schuhkarton,
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Quarzlampe, lose Marken und was noch sonst auf dem Tisch lag in alle möglichen Winkel des Zimmers, selbst auf das Fensterbrett. Dann griff sie zum Tischtuch - ihr Sohn hatte es ordentlich gefaltet auf einem Stuhl abgelegt -, hielt ihm zwei Zipfel hin und quäkte: »Da, faß mit an!« Daß er parierte, entsprach ihrem Selbstgefühl. Doch sie war nun einmal dabei, und so schurigelte sie ihn weiter: »Je größer der Mist, um so wohler fühlt sich der Kerl! Wird Zeit, daß dir eine Frau Benehmen beibringt! Allerhöchste Zeit, wenn du auf meine Meinung was gibst!« Sie lachte wie über einen dreckigen Witz. »Eine Frau! Selbst die zu finden, bist du zu dumm! Dabei warten sie auf Männer, warten, warten… Aber natürlich, als Trottel läuft man immer vorbei. Von deinen Eltern solltest du lernen; nimm dir ein Beispiel an mir: Ich hab’ deinen Vater! Ein korrekter Mann. Ist er nicht wer? Und außerdem einer, der weiß, wann und wo er zu schweigen hat!« Norbert Wenig drehte sich um, saugte zunächst mit dem Taschentuch den Schweiß ab von seinem Gesicht. Hinterher maulte er, zwar etwas kleinlaut, aber er maulte: »Du schimpfst nur immer, Mami. Eine Frau, sagst du. Und wenn ich doch keine mitbringen darf…!« Das nun war selbstverständlich der Höhepunkt! Fassungslos stemmte Mutter Wenig die an einen voll aufgegangenen, rohen Hefeteig erinnernden Fäuste in die Hüften. »Was - mitbringen? Eine Dirne! Sag mal, bist du total verrückt? Solange ich hier lebe, ist dies und wird dies kein Freudenhaus! Merk dir das endlich mal!« Ihre Wangen vibrierten; großer, allerhöchster Gott, wie schweinischunverfroren war doch ihr Sohn…!
9 Bis gestern hatte der Herbst die Blätter durch den grau gewordenen Wind gewirbelt, sie tanzen lassen und ihnen die breite Straße gegeben, von Hausfront zu Hausfront, und nur wenige von ihnen waren unter die Räder der Autos geraten, hatten sich dem Asphalt aufprägen lassen, und ihr Hauptschwarm war flatterhaft und lustig geblieben und hatte sich erst in windstiller Nacht zaghaft und flüchtig ein Bett gesucht: auf den schadhaften Bürgersteigen. Nun aber war seit dem Morgen Regen gefallen, hatte die Blätter zerweicht und 115
sie glitschig gemacht für jeden, der von der Arbeit kam, einkaufen oder spazieren ging. Hunderte Autos befuhren die Straße. Nebelfein sprühte die Nässe. Der Himmel schien sich zu schwer zu sein, und es fehlte nicht viel, und er hätte die Dächer der Stadt als Stützen benutzt. Vor einem Textilgeschäft parkte ein Barkas. Davor stand ein grünweißes Motorrad mit Sprechfunkanlage: Volkspolizei. Sein Fahrer, ein Oberwachtmeister, kniete bei dem rechten Vorderrad des Barkas und verglich das Profil des Reifens mit einem Foto und einer Gußform aus Gips. Besonders zufrieden war er offensichtlich nicht. Aus der Ladentür kam ein junger Mann in blauem Arbeitskittel. Gereizt fragte er: »Ist was, Genosse?« Er baute sich regelrecht vor dem Polizisten auf; wie die meisten Kraftfahrer störten ihn unbegründet anmutende Kontrollen sehr. Man konnte sich daran gewöhnen, aber man mußte es keineswegs. Der Oberwachtmeister erhob sich und grüßte, wie es die Dienstvorschrift von ihm verlangte. »Allerdings«, sagte er dann, »Ihr Reifenprofil entspricht in keiner Weise mehr den Sicherheitsbestimmungen für den Straßenverkehr. Ich muß Sie mit einer Ordnungsstrafe in Höhe von zehn Mark belangen. Außerdem verpflichte ich Sie, sich mit Ihrem Kraftfahrzeug innerhalb von drei Tagen bei Ihrem zuständigen Polizeirevier vorzustellen. Sind Sie bereit, die Strafe zu bezahlen?« Er hatte ohne persönliches Engagement gesprochen, eher einen Aufsagetext dahergesagt. Der junge Mann machte die Backen breit und die Mundwinkel schief und langte schließlich nach seiner Brieftasche. »Wenn Sie nicht anders können…«, sagte er und wurde rot und wußte genau, daß er sich im Unrecht befand. Auf dem Bürgersteig blieben Passanten stehen Felder mit Obstbäumen neben Feldern mit Obstbäumen, dann wieder Treibhaus an Treibhaus: Das war die Großgärtnerei. Und als Farbtupfer überall Blumenbeete. Sogar etwas Sonne kam da und dort durch. Die Maschinen- und Fahrzeughalle saß als häßlicher Klotz dazwischen. Vor einem der geöffneten Tore stand aufgebockt der
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Barkas des Mörders. Und daneben lagen vier Räder: die Decken mit schlechtem, mit ausgedelltem Profil - die Stoßdämpfer taugten nichts mehr. Norbert Wenig klopfte die Radkappen gegen die Felgen der ausgewechselten Räder. Man konnte nie wissen - Polizei war mitunter schlau. Na, so schlau wie die war er allemal! Neben der Pflasterstraße führte zwischen kaninchenhohem Gras ein wie ein Feuerwehrschlauch dicker oder dünner Pfad vorbei. Auf einem Fahrrad fuhr dort eine gutgewachsene, doch in ihren weiblichen Formen üppige junge Frau vorbei. Sie rief den Mörder an, und ihr Spott war irgendwie erotisch: »Morgen, Norbert! Spielt das Kind mit dem Autolein?« Hell lachend beugte sie den Kopf tiefer über den Lenker: als nähme sie an, der Provozierte würde gleich mit Eicheln oder gar Kastanien nach ihr werfen. Doch Norbert Wenig blickte nicht auf. Verbissen schlug er die letzte Radkappe an, bemerkte nicht einmal die Tropfen, die ihm von der Stirn auf den Handrücken fielen, und fühlte sich scheußlich in seiner Haut. Elende Weiber, dachte er, ihr stinkigen, elenden Weiber. Oh, er haßte die Frauen! Aber Antje hatte es gegeben, sein Fräulein Antje. Schade, ihr Miststücke von Weibern, daß es die Kleine nicht mehr gibt - erblassen würdet ihr vor Neid…! Irgendwo über den Wolken brummte ein Flugzeug. Dort oben war Sonne. Immer war über den Wolken Sonne - am Tage. Ein Leben über den Wolken: Wieviel Leichtigkeit müßte das bieten, wieviel heiteren Sinn gestatten. Für Maria Kerbel war es der Traum vom Glück. Sie träumte nicht viel mit wachen Augen. Das aber träumte sie immer wieder: sobald sie ein Flugzeug am Himmel vernahm. Schnittblumen im Arm, einen grauen Arbeitskittel am Körper, stand sie in einem Asternfeld und lauschte. Trotz der Arbeit in frischer Luft war sie blaß und wirkte ein bißchen ausgezehrt. Ihre blauen Augen verrieten Sehnsucht nach Schlaf, ob am Morgen oder am Abend, Sanftmut und Geduld sprach aus ihnen, und sehr viel Stille war darin. Das aschblonde Haar trug sie zum Dutt hochgesteckt. Er-
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holter wäre sie vielleicht schön gewesen; jung war sie noch allemal. Aber sie hatte drei Kinder, fünf, drei und zwei Jahre alt. Da wurden die Nächte kurz, und die Tage leierten aus wie minderwertige Textilien nach dem Waschen. So blieb nur wenig Schönes daran. Die Kinder wecken, zum Waschen anhalten, und selber sie waschen, das Frühstück bereiten, die Wege zur Krippe, zum Kindergarten, dann schon in Hast auf die Arbeitsstelle; nach Feierabend die Kinder abholen, einkaufen noch, oftmals Gedränge in den Geschäften, trotzdem auch Zeit für die Kleinen aufbringen, ein bißchen schmusen und zuhören können, das Abendbrot schließlich, jetzt nur noch die Kleinsten aufs Töpfchen setzen, sie waschen oder auch baden und abermals wickeln, vielleicht noch ein kleines Märchen am Bett und endlich Pause: für eine Zigarette und einen Kaffee. Danach die Kleidung in Ordnung bringen, Windeln kochen, Wäsche schleudern, bisweilen zur Elternversammlung und gar nicht so häufig die Freude: Keines meiner Kinder hat Fieber, alle sind sie gesund. Zuletzt noch ein Druck auf den Fernsehknopf, ein guter Film, sie hatte Großes darüber gehört, wollte auch zusehen bis zum Schluß, nickte aber im Sessel ein. Wie anders war es während der Zeit ihrer Ehe gewesen! Zwar hatte ihr Mann nicht gerade die Hausarbeit mit ihr geteilt, aber es hatte ihn gegeben, den Mann! Vieles, fast alles hatte sie als leichter empfunden. Besonders nach manchen Nächten - es gab keinen Grund, nicht auch in diesem Punkt ehrlich zu sein. Ihr inneres Gleichgewicht hatte gestimmt, sie hatte sich geborgen gewähnt, und außerdem: Zum Leben gehörte die Lust. Natürlich hatte sie nie an die Treue ihres Mannes geglaubt; dafür war er zu schön gewesen und viel zu athletisch gebaut, um nicht hübsche, auf Glanz bedachte Biesterchen zu locken und Schmuck an deren Seite zu sein. Doch sie hatte nicht gefragt, hatte es nicht wissen wollen: des Selbstschutzes wegen. Oder der Himmel sollte es wissen, aus welchem Grunde sonst noch. Ein Flugzeug brummte über den Wolken. Dort oben war Sonne am Tage. Schlimm nur, wenn’s plötzlich herunterging, und unten trieb Regen und Schnee.
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Nie hätte Maria Kerbel gedacht, daß ihr Mann so verantwortungslos und egoistisch sein könnte: Eines Abends war er gegangen und nie mehr wiedergekehrt. Seither kein einziger Brief, keine einzige Frage: Wie geht’s unsern Kindern? Selbst den Unterhalt schickte er nicht - sie klagte ihn ein. Dabei zog er von Frau zu Frau, und die Arbeitsstellen wechselte er, und es war nicht leicht, ihn zu finden. O ja, man war gleichberechtigt als Frau. Gleichberechtigter war lediglich noch der Mann. Ein Leben über den Wolken, dachte Maria Kerbel: Wieviel Leichtigkeit müßte das bieten, wieviel heiteren Sinn gestatten…! Noch immer hörte sie das schon ferne Flugzeug, und langsam ging sie durch das Blumenfeld. Von oben betrachtet, wurden die Sorgen der Menschen nichtig, ihre Trauer, ihr Glück. Vor Jahren war sie einmal geflogen; eine Urlaubsreise: von Berlin nach Budapest. Zum Teil hatten sie Wolken unter sich gehabt: nicht grau. Weiße KopfkissenWolken, Hunderttausende Kopfkissen. Sie hatte sich ihrer Kindheit erinnert und wäre am liebsten ausgestiegen: zur tollen, von Kreischen und Jauchzen begleiteten Kopfkissenschlacht. Und plötzlich die klare Sicht auf die Erde! Felder, Wiesen und Wälder, Dörfer und Städte, Seen, Straßen und Flüsse. Von so hoch oben sah diese Erde wie eine gezeichnete Landkarte aus. Sie hatte den Daumen gegen das Fenster gehalten und eine Stadt damit zugedeckt. Tausende von Menschen zugedeckt, Krankheiten und Sorgen, Verzweiflung und Hoffnung, Liebe und Haß, Schlagzeilen in Zeitungen von weiß ich welchen Kriegen nicht alles, auch überschäumende Freude, vielleicht einen riesigen Lottogewinn. Da hatte sie lächeln können, trostreich: weil Großes nur groß blieb im Verhältnis zu Kleinerem. Und am Leichteren wurde das Schwere gemessen. Also würde niemals ein Tag der dunkelste sein und niemals einer der hellste. Demnach war Hoffnung begründet, stetige Hoffnung. Kein Mensch brauchte mutlos zu sein. Maria Kerbel trug Blumen im Arm. Niemand hatte sie ihr geschenkt, sie hatte sie selbst geschnitten. Sie wurde dafür bezahlt. Aber andere würden mit diesen Astern wieder anderen Freude bereiten, vielleicht anstehen müssen im Blumengeschäft - macht nichts,
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für ein dankbares Lächeln lohnte sich das. Auf einem langen, grobgezimmerten Tisch - er diente als Verladerampe und wirkte wie ein an Land versetzter Bootssteg - legte sie ihre Blumen ab. Ein beträchtlicher Berg davon war dort bereits vorhanden. Dazu eine Menge Balkonpflanzen im Topf. Die Gewächshäuser im Hintergrund sahen aus wie über Elefantenherden gestülpte gigantische Regenpellerinen. Zwei Frauen, ebenfalls in Arbeitskitteln, hatten sich auf die Rampe gesetzt, rauchten abwechselnd von derselben Zigarette, unterhielten sich über eine Schneiderin, die gut und preiswert arbeiten würde, und warteten auf das Transportfahrzeug. Maria Kerbel stellte sich zu ihnen, mischte sich aber nicht ein. Was sollte ihr jetzt eine Schneiderin - wer schöne Kleider besaß, wollte sich auch darin zeigen; zum Ausgehen bot sich ihr wenig Gelegenheit. Äußerlichkeiten waren ihr ohnehin nicht mehr wichtig. Schon gar nicht bei Männern. Wenn einer nur seinen Pflichten nachkam, nicht gar zuviel trank und aufrichtig war, wenn er - von der Arbeit heimkehrend - den Kindern mitunter ein »Hasenbrot« brachte, dies als ein Streicheln in seiner Art, wenn er sich dann noch als häuslich erwies, sie würde ihm gut sein, ihn vielleicht sogar lieben, und wenn sein Gesicht auch ein Narbenfeld wäre und sein Körper um vieles zu schwer. Aus den Gedanken heraus, fragte sie: »Wo Norbert heut bleibt…?« Jene Frau mit den üppigen weiblichen Formen, die vorhin auf dem Fahrrad am Barkas vorübergekommen war, sagte freundlich: »Du und dein Norbert. Guckst dir noch die Augen aus nach ihm. Und er nicht die Spur kriegt der mit.« »Er wird schon«, sagte sie sanft. »Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.« »Nein, Rom nicht. Aber Rom stellt auch was dar.« Das verletzte Maria Kerbel; sie wollte sich nichts kaputt machen lassen und wehrte sich impulsiv: »Na und! Was nützt mir der großartigste Mann, wenn er verheiratet ist!« »Maria…?« Die sehr weiblich geformte Kollegin ließ sich von der Rampe gleiten und nahm nun ihrerseits eine feindliche Haltung ein. »War das vielleicht eine Spitze?«
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»Wieso eine Spitze? Was wahr ist, ist wahr!« »Brrr…!« machte die Durchgeformte, und auch ihre Zähne waren sehr schön. »Streitet euch nicht«, sagte nun die dritte Frau. Gut und gern hätte sie die Mutter der beiden anderen sein können. Und irgendwie mütterlich war ihre Art. »Es lohnt sich nicht um Männer, glaubt’s mir.« Sie zwinkerte, schrägte den Kopf und hatte eine Geschichte parat. »Siebzehn war ich und verliebt wie so ’n rauschiges Glücksschweinchen…. falls so was geht, der Vergleich, meine ich. Plötzlich läßt der Bengel mich sitzen. Bächlein aus Tränen plätschern mir über die Wangen, ach was, tosende Tränenströme reißen mir beinah die Füße weg. Ich steh’ an der Ostsee, soll ich ’rein, soll ich nicht? Am Ende werd’ ich zu spät rausgefischt. Auf einmal ist Großvater bei mir. Er fragt nichts. Und eigentlich weiß er auch gar nichts. Er schnauft nur ein bißchen und sieht sich um in der Welt: soweit das möglich ist von dem Platz aus, wo er sich grade befindet. ›Tja‹, sagt er endlich in seiner trockenen Art, ›so ist das. Haargenau so. Der Himmel ist voller Sterne. Und das Meer ist voller Fische. Und Männer gibt’s auf der Erde wie Sand unter deinen Füßen, für jedes Sandkorn ein Mann.‹ Hinterher ist Großvater weg, hat keine Antwort gewollt, wie es schien. Und ich Heulsuse wieder allein. Dann sticht mich was, keine Hornisse, innen drin, so ungefähr Seelengegend, sticht mich was. Schon renne ich los, immer frei weg über den Sand, unter die Fußsohlen nehme ich ihn, voll drauf, Tritt um Tritt, Millionen Körner kriegen was ab! Hinterher ist mir wohler… Na, was denn, Rache muß sein!« Maria Kerbel lachte. Sie mochte diese Kollegin sehr, vor allem der schrulligen Geschichten wegen - ihr Vorrat daran war offenbar unbegrenzt. »Was wird schon mit Norbert sein?« fragte die Ältere nun. »Wahrscheinlich hat er Panne gehabt.« Doch die sehr weiblich Geformte war auch jetzt noch nicht ausgesöhnt. Ironisch sagte sie: »Auf allen vier Reifen!« Die Ältere schüttelte den Kopf. Durchaus zuredend sagte sie: »Lieber etwas Dummes sagen als einmal nachgeben, stimmt’s?« »Von wegen Dummes. Natürlich hat er vier Reifen gewechselt!
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Schließlich bin ich vorbeigefahren.« Das Gestichel war Maria Kerbel sehr unangenehm. »Wennschon«, sagte sie leise. »Von seinem Auto versteht er halt was. Ist es denn das erste Mal, daß er es um und um bauen muß? Warum hackst du eigentlich immer auf ihm herum?« »Schön, bin ich eben nicht fair gegen ihn.« Das klang pikiert. »Bloß, daß die Blumen inzwischen vergammeln…« »Laß ihn in Ruhe!« sagte die Ältere und war jetzt ebenfalls ungehalten. »Da kommt er ja schon.« Auf dem verkrüppelten Fahrweg näherte sich der Barkas. Manchmal sah es aus, als lenkte Norbert Wenig den Wagen absichtlich durch Schlammkuhlen und Pfützen. Da er gewöhnlich sein Fahrzeug pflegte, wunderte sich Maria Kerbel über seine Fahrweise. Andererseits konnte sie sich gut vorstellen, wie schwer es sein mußte, auf solchem Weg überhaupt zu fahren. Im übrigen war da wieder die Stimme der mit begehrten Formen Ausgestatteten neben ihr: »Ich wüßte schon, wie du rankommst an ihn. Müßtest dich zacken und stempeln lassen, gewissermaßen Briefmarke werden; er fände bestimmt ein Plätzchen für dich!« »Halt jetzt endlich die Gusche!« sagte die Ältere und war verärgert. Maria Kerbel tat, als hätte sie nichts gehört. Sie ging zu dem Berg aus Astern und wartete darauf, ihn verladen zu dürfen. Du liebe Güte, dachte sie, wie die sich aufspielt! Natürlich hat sie es mit Verheirateten, ausschließlich mit solchen. Bestimmt spannt sie sich noch einen aus, egal, ob er fünf Kinder hat oder nicht, Hauptsache, er stellt etwas dar… Der Barkas hielt neben der Rampe. Norbert Wenigs Gesicht war rot, doch er wischte sich den Schweiß mit dem Taschentuch ab, bevor er das Fahrerhaus verließ. Er geniert sich, dachte Maria Kerbel und war ein bißchen gerührt. Er trug eine rissige Ledermütze und sagte muffig: »Morgen.« »Morgen, Norbert«, sagte Maria Kerbel und lächelte. Die mit Formen Begnadete sagte: »Mahlzeit paßt eher.« Und die ältere Kollegin sagte herzlich: »Hast uns ganz schön ins Schwitzen gebracht. Das heißt eher im Gegenteil.« Norbert Wenig kümmerte sich nicht um die Anspielungen. Er öffnete die Hecktür des Barkas, kletterte in das
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Innere des Wagens, nahm den Frauen die Blumen ab und verstaute sie fachgerecht. Nachher, als die Arbeit beendet war und er die Lieferscheine noch prüfte, ging die üppig Bebuste rings um das Auto, bückte sich bei den Rädern, schlug mit den Füßen dagegen und sagte: »Na, neu sind die auch nicht gerade.« Für eine Weile duckte sich Norbert Wenig, und sein starrer Blick hatte etwas von Ratlosigkeit. »Darum ja, was sonst!« sagte er endlich. »Für den Sommer sind die noch gut. Die besseren heb’ ich auf für den Winter.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, da nahm er die Fingerspitzen der rechten Hand vor die Zähne und bemühte sich, sie zu benagen. Jetzt drückte die Formgesegnete ihre Wangen heraus, ließ vernehmlich die Luft aus dem Mund entweichen und machte überhaupt ein Gesicht, als wollte sie sagen: Sieh mal an, er ist ein Planer und Denker. Danach klopfte sie sich ihre Kitteltaschen ab, fand nicht, wonach sie suchte, und fragte über die Schulter zurück: »Wie ist es, Maria, hast du eine Zigarette für mich?« Hatte sie, ja. Diesen Augenblick nutzte Norbert Wenig und wollte zurück ins Fahrerhaus. Aber bevor er die Tür zuschlagen konnte, war Maria Kerbel bei ihm. »Norbert«, sagte sie und irritierte ihn und war selbst sehr verlegen. »Ich hab’ für dich was gesammelt… Briefmarken… Wenn wir uns abends mal treffen könnten…?« Es dauerte, aber schließlich brach ein Lächeln durch in seinem Gesicht. »Danke«, sagte er. »Danke, Maria. Du bist richtig nett…« Hastig schlug er die Tür zu, startete den Motor und fuhr davon. Dabei streckte er den Arm aus dem Fenster und winkte, tollpatschig, ungeschlacht. Maria Kerbel lächelte. Und sie wußte, daß auch ihre ältere Kollegin jetzt lächelte und die sehr weiblich Geformte ein verächtliches »Ph!« über die sinnlichen Lippen stieß. Zunächst hatte es der Mörder weitgehend vermieden, bei seinen Fahrten innerhalb Berlins Hauptstraßen zu benutzen: Diese verleiteten zu überhöhter Geschwindigkeit, und erfahrungsgemäß führte die Polizei an solchen Strecken häufiger als anderswo ihre Verkehrskon-
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trollen durch. So hatte er Zeitverlust und Umwege in Kauf genommen, war dafür aber unbehelligt zu den Kunden und zurück in die Großgärtnerei gelangt. Einmal, als er etwa fünfzig Meter voraus eine zwar hinter Sträuchern verborgene, durch neugierige Kinder jedoch enttarnte Radaranlage bemerkte, hatte er gerade noch abbiegen können. Am meisten aber fürchtete er Männer im Rollstuhl. Die, fand er, hatten etwas geradezu Unheimliches an sich. Denen durfte er um keinen Preis trauen; wie Besessene hatten sie ihn gejagt. Na, hör mal, war so etwas vielleicht normal für Behinderte? War das vielleicht normal…! Wenn er jetzt einen Rollstuhl erblickte, erschrak er regelmäßig, drehte den Kopf zur Seite und suchte nach einem Fluchtweg für sich. Anders verhielt es sich mit der Polizei: Seit er die Reifen gewechselt hatte, wartete er förmlich auf eine Konfrontation mit ihr. Er glaubte nicht, daß sie Beweise gegen ihn hatten. Eine taugliche Personenbeschreibung erst recht nicht. Trotzdem brauchte er Gewißheit; mit der Angst im Nacken, plötzlich aufgestöbert zu werden, fand er an nichts mehr die volle Freude, selbst am Briefmarkensammeln nicht. Irrte er sich dagegen, und die Polizei hatte ihn bereits in Verdacht, so war er ohnehin chancenlos. Theorie, dachte er nun, daß sie mich kriegen, ist blanke Theorie! Da hätten sie früher aufstehen müssen, die von der Kripo, da müßten sie ausgeschlafener sein! Er kam aus dem Stadtteil Lichtenberg und fuhr nun durch die Frankfurter Allee in Richtung Alexanderplatz. Hier war für den Fahrzeugverkehr eine Grüne Welle installiert worden. Allerdings war von Ampel zu Ampel häufig eine andere Durchfahrtsgeschwindigkeit angegeben, und so ließ sich die Forderung nach zügigem und gleichmäßigem Fahren nur bedingt befolgen. Vollends brach die Grüne Welle in sich zusammen, wenn ein großer Lastwagen oder gar ein Sattelschlepper nur quälend von einer Kreuzung wegkam und den nachfolgenden Verkehr behinderte. Na ja, Fortschritt hat auch Tücken, dachte der Mörder, und er war bereit zum Verzeihen. Niemand brauchte zu denken, er wäre ein Nörgler. Was war denn schon perfekt auf dieser Erde? Die Technik nicht und auch nicht die Menschen. Also durfte er Nachsicht erwarten. Die
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anderen hatten ebenfalls Fehler, machten welche, bestenfalls verbargen sie die besser, waren gerissener als er! Klar, schön war es nicht, daß er Antje erdrosselt hatte. Gewiß war es für ihre Eltern ein tüchtiger Schreck gewesen. Aber schließlich hatte er zuallererst sich selbst einen Verlust zugefügt. Wer so etwas über sich brachte, handelte eigentlich selbstlos. Das mußte man nämlich auch dabei sehen: den positiven Charakterzug! Nicht daß er nunmehr ein Mörder war, bedrückte ihn übermäßig. Doch daß ihm die Tat so leichtgefallen und so angenehm geworden war, bereitete ihm Kummer. Denn er sehnte sich schon wieder danach, nach einem warmen jungen Hals und das Puckern der Schlagadern unter seinen Händen zu spüren. Am Ende würde das Töten noch zur Sucht für ihn werden…? Das war zu gefährlich, er wollte es nicht. Und er hatte eine Idee, wie er es würde verhindern können. Manchmal sprang dem Menschen der Zufall zur Seite - zum Glück! Oder war es etwa kein Zufall, daß Maria ihn heute gefragt hatte, ob sie sich nicht einmal treffen wollten, nach Feierabend? Bei dieser Gelegenheit würden manche Leute erfahren, daß er sehr wohl etwas anzufangen wußte mit Frauen. Konnte nur gut für ihn sein. Wer mit erwachsenen Frauen ins Bett ging, was hatte der mit kleinen Mädchen wie Antje zu tun? Außerdem, rein äußerlich war Maria nicht schlecht. Der Mörder griente, weil ihm eingefallen war, was er einmal auf einer Toilette gelesen hatte: »Nicht schlecht, sprach der Specht und hämmerte die Eule.« Woll’n sehn, woll’n sehn, dachte er weiter, war erneut guter Laune und bog in die Warschauer Straße ein; wenn sie was bringt, die Maria, wenn ich zurechtkomme mit ihr, wird es ihr Schade nicht sein. Und für mich - im Grunde genommen sind ’große Weiber ganz Klasse mit ihren Titten -, für mich wird es vielleicht gar ein Hauptgewinn! Dennoch, als er daran dachte, wie er sich mit Maria würde unterhalten sollen, wurde ihm unbehaglich. Elendes Gequatsche und Rumgesäusele! dachte er. Als würden die Weiber nicht auch nur das eine wollen, diese Zimtzicken, die…! Gerade hatte er den Fuß der etwas bergig verlaufenden Warschauer Brücke erreicht, da bemerkte er in der schon winterhaften Allee zwischen den Fahrbahnen eine
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Radaranlage der Volkspolizei. Eindeutig Routinekontrolle. Rasch bremste er ab, wahrscheinlich zu spät. Mit fünfzig Stundenkilometern rollte er über die Brücke. Unten ratterte eine S-Bahn, und weiter entfernt rangierten zwei Güterzüge. Die Lokomotiven stießen weiße Dampfwolken aus, und das breite Schienengeflecht sah nach verschorften Kratzwunden aus. Das sah der Mörder, und er sah es so deutlich, wie er selten etwas gesehen hatte - höchstens noch Antjes Schulmappe am vertrockneten Ast im Park -, und er schwitzte nun erheblich. Ja, er hatte sich diese Sekunden gewünscht, doch anders als erwartet war der Augenblick trotzdem: weitaus beklemmender. Jetzt hatte er den Kamm der Brücke erreicht, die Straße fiel wieder ab, und am Ende der Brücke erblickte er zwei Funkwagen auf der Innenseite des breiten Bürgersteigs, und am Straßenrand hielten mehrere Autos, auch ein Barkas darunter, und dort stand schon ein Verkehrspolizist und beorderte ihn nach rechts. Nur gut, daß vor ihm noch andere standen, so blieb ihm Zeit, sich den Schweiß vom Gesicht und aus dem Genick zu wischen. Ganz ruhig jetzt, dachte er, hämmerte er sich ein, die können mir gar nichts, die nicht, ich muß nur absolut ruhig sein…! Ein bißchen wimmerte er dennoch, und das ergrimmte ihn, und wütend schlug er sich auf den Mund. Im nächsten Moment zuckte er zusammen und hatte die Hand sofort am Schalthebel. Leider nützte das nichts, denn der Motor war abgestellt. Norbert, Kind, dachte er flehentlich, Norbert, Kind, was wird jetzt mir dir…? Der Verkehrspolizist und ein Mann in Zivil gingen an den übrigen Wagen vorbei und kamen direkt auf sein Fahrerhaus zu! Ein weiterer Zivilist machte sich sofort an den Reifen des Barkas zu schaffen. Der Verkehrspolizist grüßte. »Guten Tag, Fahrzeugkontrolle. Hauptwachtmeister Gatzsch. Darf ich mal Ihre Papiere sehen? Auch das Fahrtenbuch, bitte.« Der Mörder verspürte einen kaum widerstehbaren Drang, die Fingerspitzen beider Hände gegen die Zähne zu drücken. Dabei brauchte er seine Hände, um die Papiere vorzuweisen. Nach einer Weile hatte er sich in der Gewalt, und er fragte beherrscht: »Warum, was ist denn? Bin ich zu schnell gefahren?«
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»Sicher, Herr Wenig, sicher«, sagte Hauptwachtmeister Gatzsch von der Verkehrspolizei. »Siebzig sind Sie gefahren.« Offensichtlich wärmte auch seine weiße Mütze: Von den Schläfen perlten Schweißtropfen. Anscheinend in einem Fahndungsbuch blätterte inzwischen der Zivilist; vorher hatte er in den Fahrzeugpapieren den Namen des Mörders entziffert. Nee, dachte der Mörder, da steh’ ich nicht drin, nee, nee, Kameraden! Gleich fühlte er sich sicherer. Eifrig fragte er: »’n Zehner, was? Wenn’s ohne Stempel abgehen könnte?« »Leider nicht, Herr Wenig«, sagte Hauptwachtmeister Gatzsch und beließ es nicht bei der nüchternen Stimme, gab auch seinem Gesicht einen deutlichen Dienstanstrich. Mit ruhiger Hand drückte er zwei Stempel in den der Fahrerlaubnis beigefügten Berechtigungsschein. Jener Zivilist, der sich über die Reifen gebeugt hatte, trat nun gleichfalls ans Fahrerhaus. Flüsternd, aber nicht leise genug, um nicht vom Mörder verstanden zu werden, sagte er: »Ausgeschlossen. Ein viel zu gutes Profil.« Nun stieß der Zivilist mit dem Fahndungsbuch den Verkehrspolizisten irgendwie drängend mit dem Ellenbogen an. Sofort fragte Hauptwachtmeister Gatzsch: »Sagen Sie, Herr Wenig, wo sind Sie vor drei Tagen gewesen, also am Freitag?« »Wo schon? Stadtfahrten. Steht doch im Fahrtenbuch.« Alle drei Männer sahen ihn an: prüfend. Da sagte er - und es gelang ihm, den Empörten zu spielen: »Sie glauben nicht etwa, ich würde Schwarzfahrten machen! Nee, nee, so ’n Typ bin ich noch lange nicht…!« »Niemand hat Ihnen in dieser Art etwas unterstellt, Herr Wenig.« »Dann ist’s ja gut! Da bringt man anständig seine Arbeit über die Runden und tut und macht und schuftet, und schließlich hört man sich so was an…! Nicht doch, so etwas geht nicht bei mir!« »Herr Wenig, was transportieren Sie für Ihre Großgärtnerei?« »Blumen, was sonst? Wenn’s in den Geschäften zuwenig gibt, an mir liegt’s bestimmt nicht. Wir könnten schon, wenn wir wollten aber Export, Sie wissen ja selbst, Devisen oder wie das gerechnet wird.«
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»Schon gut«, sagte der Verkehrspolizist nach einem Einverständnis erfragenden Blick zu den Zivilisten hin. Er gab die Papiere zurück. »Gute Weiterfahrt. Und bitte, halten Sie sich in Zukunft an die Straßenverkehrsordnung.« Im Rückspiegel sah der Mörder einen nebelgrauen Barkas nahen. Gleich stand Hauptwachtmeister Gatzsch auf der Straße und befahl jenem Fahrzeug ein Stopp. Von einem Barkas wissen sie also, dachte der Mörder, nichts anderes noch, Tausende Barkasse fahren herum. Kam ein Vöglein geflogen, pfiff er auf einmal, fuhr los und war froh… Zwar saß oder ging Maria Kerbel nun bereits seit Stunden an Norbert Wenigs Seite, doch hätte sie nicht behaupten können, sich gut mit ihm unterhalten zu haben. Zunächst waren sie ins Kino gegangen; die Karten hatte Norbert von sich aus mit zum Treffpunkt gebracht. Ein künstlerisch starker Film: »Cabaret« mit Liza Minelli. Während der Vorführung war der Mann dennoch zweimal eingeschlafen und hatte sogar ein bißchen geschnarcht. Das war ihr peinlich gewesen und hatte ihr alles andere als geschmeichelt, aber in Gedanken hatte sie seine Müdigkeit entschuldigt: Wer sich am Tage nicht schonte, wer stets hilfsbereit zupackte wie Norbert, den überwältigte am Abend der Schlaf. Nur zu natürlich war das. Übrigens sah er heute einigermaßen ansprechend aus: gutsitzend der gestreifte Anzug, modisch das Hemd und der Binder. So wirkte er etwas schlanker als sonst. In der Pause zwischen Augenzeuge und Hauptfilm hatte er unvermittelt gesagt: »Nun zeig schon die Marken! Hast du sie mit?« Sofort hatte er sie sich aus dem Umschlag auf den Handteller geschüttet, war von Marke zu Marke sichtlich interessierter geworden, hatte mit der Nase beinahe den Ballen der Hand berührt und dann doch nur gesagt: »Na ja, Kleinvieh macht auch Mist. Danke, Maria.« Nach der Vorstellung wäre sie gern noch in ein Restaurant gegangen, doch Norbert hatte sich gesträubt. »Das ist mir nichts - die feinen Pinkels in solchen Läden! Und erst die überheblichen Kellner. Bei so was vergeht mir der Appetit, das beste Bier schmeckt mir da schal.« Nun, Maria Kerbel hatte zwar eher an eine Flasche Wein gedacht, aber sie wollte nicht starrköpfig sein.
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Als nächstes - Minuten waren inzwischen vergangen - hatte er gesagt: »Lieber wär’ ich mit dir allein… so schön gemütlich… los, wir gehen zu dir.« »Das geht nicht. In einem Zimmer schlafen die Kinder, und im anderen - meine Mutter ist zu Besuch.« »Mist, verdammter!« hatte er in aller Unschuld gesagt und ihr ein Schmunzeln abgelockt. Nein, wie unbeholfen er war! Seine folgende Ratlosigkeit rührte sie, und er tat ihr auch leid, und sie fragte: »Allerdings - wenn du mich einladen würdest…?« »Zu mir nach Hause?« »Hm-hm. Ein, zwei Stunden hab’ ich noch Zeit.« Es stand außer Frage für sie, daß er sich fair und sauber verhalten würde. »Also gut«, sagte er endlich. »Dann eben zu mir.« In der S-Bahn hakte sie ihn unter und lehnte sich ein bißchen an. Er wohnte im Stadtteil Treptow. Das Mietshaus - um die Jahrhundertwende erbaut - hatte hohe, dreiteilige Fenster, und die Fassade war mit einer Menge Verzierungen bestückt. Die Zimmer werden entsprechend sein, dachte Maria Kerbel, stucküberladen. Dazu Parkettfußböden, bestimmt. Nachdem Norbert Wenig die Haustür geöffnet hatte, wollte sie sogleich auf den erleuchteten Lichtschalter drücken. Er riß sie zurück. »Kein Licht!« Sie kicherte befangen. »Verstehe. Die Türen haben hier noch Spione.« »Leise! Sonst hört uns noch jemand. Außerdem - meine Mami schläft nicht sehr tief.« Merkwürdig war es schon, derartiges von einem erwachsenen Mann zu hören. Zum letztenmal hatte sie ähnliches erlebt, als sie siebzehn gewesen war. Also war er nicht gerade erfahren im Umgang mit Frauen. Eigentlich war ihr das angenehm. Andere Männer, andere Sitten, dachte sie und bemühte sich, dieser Geheimnistuerei die heitere Seite abzugewinnen. Norbert Wenig hatte sie mit etwas schwitziger Hand beim Armgelenk gefaßt und zog sie hinter sich her die Stufen hinauf. Auf einem der oberen Treppenabsätze zog er sich die Schuhe aus und nahm sie in die Hand. »Du auch!« flüsterte er drängend.
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Da seufzte sie, erfüllte ihm aber den Wunsch. Nicht daß es ihr auf einmal leid tat, mitgegangen zu sein, aber besonders Schönes erhoffte sie nicht mehr von diesem Abend. Dann mußte sie mit einem Streichholz leuchten. Während er die Wohnungstür öffnete, drückte er die zweite Hand als Schalldämpfer gegen den Türbeschlag, und vor Konzentration quoll ihm die Zunge zwischen den Lippen hervor. Bei aller Sympathie, gut sah das nicht aus. Schließlich der Korridor. Auch hier machte er kein Licht, ließ sie zunächst stehen und schlich zu seinem Zimmer voraus. Dort schaltete er die Deckenlampe ein. Jetzt winkte er ihr, ihm zu folgen. Kaum hatte sie die Schwelle zu seinem Raum überschritten, da rief er lauschend in den Korridor hinaus: »Mami…?« Und als nach fast einer Minute noch immer keine Antwort gekommen war, sagte er erleichtert: »Sie schläft.« Flüchtig blickte er Maria Kerbel an und grinste verlegen. Aus dem Nebenzimmer war der Ruf einer Kuckucksuhr zu hören: elf mal. »Zieh doch den Mantel aus«, sagte Norbert Wenig und war plötzlich heiser und kam und nahm ihr den Mantel ab. Er war rot im Gesicht, und seine Bewegungen hatten etwas Nervöses, Unkontrolliertes an sich: als wäre er fieberkrank. »Wenn du was trinken willst?« fragte er. »Einen Kleinen?« Was hatte sie nur: Das Lächeln rutschte ihr regelrecht weg. Um die Situation zu überbrücken, interessierte sie sich für die ausgestopften Vögel, die flachen Kästen mit Schmetterlingen und die Alben im Bücherschrank. Hinter der Übergardine mußte sich Norbert Wenigs Zimmerbar befinden. Jedenfalls brachte er von dort her eine Flasche »Nordhäuser Doppelkorn« und zwei Gläser. Beim Einschenken zitterten seine Hände. Er guckte nicht, er stierte sie an, als er ein Glas zu ihr brachte. »Da - trink!« forderte er. Sie tat es, und auch er kippte sich den Doppelkorn in den Mund, und gleich hinterher goß er sich ein zweites Mal ein. Trank wiederum aus. Schenkte abermals ein. Und hörte nicht auf zu stieren. Der zieht mich ja aus mit Blicken, dachte Maria Kerbel und war verwirrt. Nein, so etwas, wie benimmt er sich plötzlich…!
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Rasch ging sie zum Vogelbauer, zog das darüber gehängte Tuch herunter und lockte den Wellensittich: »Tsit-tsit-tsit…!« Am Aufzischen eines Zündholzes erriet sie, daß der Mann in ihrem Rücken sich eine Zigarette anbrannte. Um überhaupt etwas zu sagen, fragte sie, ob der Vogel sprechen könne. »Klar!« sagte Norbert Wenig, und es klang aggressiv. »Klar kann er sprechen!« Nun kam er zu ihr, entwand ihr das Tuch und deckte es wieder über den Käfig. »Möchte wissen, wie er da schlafen soll - bei Licht!« Schuldbewußt lächelte sie. Heftig zog er an seiner Zigarette, lockerte sich den Binder, Schweiß lief ihm über die Wangen, und aus engen Augen bedrängte er sie. »Erzähl mal was«, sagte sie und hielt sich in der Nähe ihres Mantels auf: »Oder soll ich besser wieder gehen?« »Was denn erzählen…?« sagte er gepreßt und gierte jetzt auch mit den Nasenflügeln und dem rundlochig geöffneten Mund. »Norbert, was ist denn?« fragte Maria Kerbel und wünschte sich weit weg von hier oder wenigstens auf die Straße hinaus. »Wie siehst du mich denn an?« Er stand am Tisch und drückte, ohne den Blick von ihr abzuwenden, die nicht einmal halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. Dann ging alles überrumpelnd schnell. Auf einmal war er bei ihr, hatte sie auch schon gepackt, preßte sie an sich, keuchte, zerrte an ihrer Bluse, Knöpfe sprangen ab, stieß sie brutal auf sein Stahlrohrbett und warf sich über sie. »Los, zieh dich aus…! ’runter das Zeug…!« Sie wand sich, doch unter seinem Gewicht blieb ihr nicht die geringste Chance, sie hörte Stoff reißen und ächzte. »Laß los! Loslassen sollst du! Du bist ja wahnsinnig, Norbert! Lump, du, ich schreie!« Es gelang ihr, sich ein wenig aufzurichten, aber da schlug er ihr mit dem Handballen gegen die Stirn, daß ihr Kopf zurück in die Kissen geschleudert wurde, und endlich gehorchte ihr wieder die Stimme, und sie schrie mit aller Kraft. Trotzdem hörte er nicht auf, zerfetzte ihr weiter die Kleidung, war fraglos von Sinnen, und erst, als jemand den schweren Aschenbecher donnernd gegen die Tischplatte schlug, erstarrte er, wimmerte leise und rollte sich schließlich
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vom Bett. Neben dem Tisch stand eine überaus dicke, Norbert Wenig verblüffend ähnliche alte Frau in langem Nachthemd. »Ekelhaft!« sagte sie. Und »Abscheulich!« sagte sie, und ihr Gesicht war entsprechend. »Ma-ma, Mami!« stammelte ihr Sohn. »Schweig!« sagte sie. »Wir sprechen uns noch!« Und gnadenlos zu Maria Kerbel: »Ich warte, ehrenwertes Fräulein!« Dabei wanderte ihr Blick zwischen Mantel und Tür hin und her. »Ihr Pech, nicht meins, daß dieses Haus kein Stundenhotel ist.« Zwecklos für Maria Kerbel, auch nur ein einziges Wort zu erwidern. Auch war sie viel zu schockiert dafür. Am Kopfende des Bettes stand geduckt - wie ein geprügelter, dummer Bengel - Norbert Wenig und glotzte zu Boden. Das sah sie als letztes. Im Treppenhaus erst warf sie sich den Mantel über, war viel zu aufgeregt, um mit den Knöpfen auf Anhieb zurechtzukommen, und als sie die Straße erreichte, rannte sie zunächst. Ihr einziger Gedanke war, Abstand zwischen sich und das schreckliche Haus zu bringen. Später, in einer Allee, lehnte sie sich gegen einen Baum, schluchzte auf und weinte. Weshalb mußte es immer dieselben treffen, die ohnehin Erniedrigten, weshalb gerade die…? Zur Polizei! dachte sie dann. Ja, ich melde ihn der Polizei…! Aber nein, er war ihr Kollege. Und was würden die anderen in der Gärtnerei dazu sagen? Einige Leute gab es immer, die sich an solchen Geschichten noch lüstern die Zunge wetzten. Außerdem hatte sie sich selbst bei diesem Kerl eingeladen. Sich aufgedrängt, wenn man so wollte. Wer sollte ihr jetzt noch glauben? Vergessen, dachte sie, ich muß es vergessen, meine einzige Möglichkeit… Über den Wolken brummte ein Flugzeug. Dort oben war… so wie hier unten Nacht. Kein Trost. Aber auch kein Anlaß zum Neid -
10 Wieder stand Leutnant Lemke vor dem Türschild mit dem Namen Muzeniek. Allerdings gab es einige Unterschiede im Verhältnis zu seinem ersten Besuch bei dem ehemaligen Redakteur. Dies war der markanteste: Niemand hatte ihn geschickt, sondern Muzeniek selbst hatte per Telefon eine baldige »Konsultation« angeboten; ach 132
ja, er hielt etwas von Wortkunst und gepflegter Konversation. Und ehrlicherweise war Lemke der Einladung gern gefolgt. Nicht daß er sich, von dieser »Konsultation« eine kriminalistische Ausbeute erhoffte - wie denn, woher denn? -, er freute sich einfach auf einen guten alten Bekannten. Doch, soviel bedeutete ihm dieser modebewußte Herr Muzeniek. Auch erstaunte es ihn heute durchaus nicht, nach seinem Klingeln einen Surrer zu hören, wie er sonst nur bei Haustüren eingebaut war - nein, bei Arztpraxen war der noch üblich , und es war ihm bereits vertraut, daß sich, sobald er den regenschirmdekorierten Korridor betreten hatte, die Wohnungstür hinter ihm schloß. Und er hätte etwas vermißt, wäre jetzt nicht, ein triumphierendes »Ha!« in seine Ohren gedrungen. »Wir haben Besuch!« meckerte Muzeniek herzlich. »Treten Sie ein, Leutnant Lemke! Auf daß mein Haus voll werde heut!« Seine weiteren Gäste waren Edi Heßheimer und Joachim Heinrich. Sie alle lächelten dem Leutnant entgegen, und sie begrüßten ihn freundschaftlich. Der Maler paffte wie gewöhnlich an einer dicken Zigarre, und Asche davon lag auf dem Teppich, seinen Hosen und sogar auf seiner Schulter herum. Wie sie auf die Schulter gekommen sein mochte…? Jürgen Lemke nahm am Tisch Platz und erkundigte sich, wie es den Herren inzwischen ergangen sei. Ja, er fragte sogar nach Fortschritten in ihrer Arbeit. Peter Muzeniek nickte begeistert. »So ist es richtig, junger Freund, so gehört sich’s. Stil muß man haben. Wer keinen Stil hat im Leben, was ist der schon? Ein Klumpen Fleisch, eine häßliche, hautüberzogene Masse!« Sein Freund Jo aber verzichtete in gewisser Weise auf den eben gepriesenen Stil, als er jetzt nicht mehr an sich halten konnte vor Ungeduld und hervorstieß: »Nun? Sind Sie weitergekommen mit der Fahndung? Liegen Ergebnisse vor?« Jürgen Lemke wich den Blicken der Männer nicht aus. Vielleicht war er nicht befugt zu einer wahrheitsgemäßen Auskunft, doch moralisch gesehen hatten die Männer ein Recht darauf. »Nein,« sagte er. »Wir bewegen uns wie im Nebel, immer noch.« Eine Pause entstand. Da und dort ein Seufzer: Die Enttäuschung
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war allgemein. »Suchen muß man im Fernsehen ihn«, sagte schließlich Edi Heßheimer. »Fernsehen, das sehen die Leute, wenn sie auch nicht lesen Zeitungen, Fernsehen, ja. Interessant.« »Wenn wir den Täter genauer beschreiben könnten«, sagte Leutnant Lemke, »hätte es vielleicht Sinn. So aber…? Und öffentlich nach einem Rollstuhl fahnden - man kann so etwas noch so eindeutig machen, Dummköpfe finden sich immer, die die Sache verdrehen.« »Sie meinen«, fragte Jo Heinrich, »aufkommendes Gerede könnte sich gegen Behinderte richten?« »Ich fürchte, ja!« »Ha!« krächzte Muzeniek plötzlich und wollte wohl die trübe Stimmung vertreiben und hatte unüberhörbar einen Trumpf auf Lager. »Wie ist es, Genosse Leutnant: Wenn man zwar nicht den Täter erwischt, aber - sagen wir - dreihundert in Frage kommende Personen überprüft und diese hinterher ausscheiden, nicht mehr verdächtig sind, dann ist man doch dem Mörder näher gekommen? Man hat ihn sozusagen weiter eingekreist?« »Gewiß.« Der Leutnant schmunzelte; die kriminalistische Neugier des Mannes amüsierte ihn. »Seht ihr«, sagte Peter Muzeniek, »war es also doch eine brauchbare Idee.« Er fuhr zu seinem mit dem Burgmodell bestückten Schreibtisch und holte mehrere zusammengefaltete Bogen Papier, sauber mit Maschine geschrieben. »Hier, das möchten wir Ihnen überreichen. Ein bescheidener Beitrag unsererseits.« »Was ist das?« fragte der Leutnant und wußte zunächst nichts damit anzufangen. »Eine Petition?« »Dreihundertundvier polizeiliche Kennzeichen von Kraftfahrzeugen, allesamt von Wagen des Typs Barkas«, sagte Muzeniek stolz. »Dazu Tag, Ort und Uhrzeit der von uns durchgeführten Kontrollen.« »Der was…?« Jürgen Lemke war blaß geworden. »Selbstverständlich«, sagte Joachim Heinrich. »Das waren wir dem ermordeten Kind schuldig.« »Sie haben Fahrzeuge kontrolliert?« »Nennen wir es freundlicher«, sagte Muzeniek, »wir haben -
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grundsätzlich nur Barkasfahrer - um kleine Gefälligkeiten gebeten, so zum Beispiel um die Auskunft, wie spät es gerade sei, oder auch um Feuer für eine Zigarette.« »Ah so. Und dreihundertundvier Kraftfahrzeuge des Typs Barkas stoppten zufällig gerade immer dort, wo Sie sich während der letzten Tage aufhielten oder bewegten.« »Das nicht«, sagte Joachim Heinrich sehr kleinlaut. »Vielmehr hatten wir uns an der Landstraße postiert. Nahte ein Barkas, so errichteten wir mit unseren Rollstühlen gewissermaßen eine kleine, alles in allem doch sehr harmlose Straßensperre. Immerhin wurde es uns auf diese Art möglich, die Fahrer genau und mit Muße zu betrachten.« Heßheimer und Muzeniek nickten heftig. Wie nach einer ungeheuerlichen Nachricht blies der Leutnant die Luft aus. »Was soll ich jetzt mit Ihnen machen? Das war Verkehrsgefährdung in gröblichster Weise… und überhaupt gegen Recht und Gesetz. Einsperren müßte ich Sie.« »Ha!« triumphierte Peter Muzeniek ein übriges Mal. »Dazu müßte ein Haftbefehl her!« Und bedächtig sagte Edi Heßheimer: »Ein solchener, ja.« Auf einmal lachten sie, auch der Kriminalist. Wäre er am Abend zuvor betrunken gewesen, bis zur Gesichtslähmung seinetwegen, es hätte ihm heute nicht schlechter gehen können. Ihm war elend bis zum Brechreiz, und er kam sich vor wie mit Dreck bespritzt. Immer wieder bemühte er sich, an seinen Fingernägeln zu nagen. Zum Hampelmann hatte diese Stricheule Maria ihn gemacht. Herumgetrampelt war sie auf seinen Gefühlen, hatte mit ihren Mistpfoten seine ungeschützte Seele zerkratzt. Was war er denn jetzt noch ein Nichts! Erniedrigt, wie es sich schlimmer nicht denken ließ. Frauen - ein durch und durch widerliches Gesochs! Hatte er es denn nötig, sich mit denen gemein zu machen? Sollten die sich andere Blödmänner suchen, die bereit waren, sich ausnehmen zu lassen, Alimente zu bezahlen und vielleicht noch fremde Gören aufzuziehen. Hinter dem Geld waren sie her, nur hinter dem Geld, und was sie von
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Liebe daher säuselten, war nichts als Lug und Trug. Oder man mußte so ’n Hübschling sein, blasierte Fresse, Ingenieur oder Schauspieler, da glauben sie, sie kriechen mit Jesus selbst in die Federn. Unsereins dagegen wird wie ein Trottel an der Nase herumgeführt. Am besten, gleich eins auf die Fresse hau’n, dann kuschen sie wenigstens. Nein, lieber nicht, ich mach’ mir die Hände nicht schmutzig an ihnen, können sie lange drauf warten, bei mir ist Feierabend damit. Wieder dachte der Mörder an Antje. Ihm brannten die Augen vor Trauer um sie. Wie wohltuend wäre es, ihr jetzt zu begegnen. Aber schön, daß ich sie in guter Erinnerung behalten kann. Die Gefahr, eine Nutte wie Maria zu werden, hab’ ich ihr Gott sei Dank erspart. Ich muß versuchen herauszufinden, wo sie begraben liegt. Mal sehn, vielleicht bring’ ich ihr bei Gelegenheit Blumen. Blaue Astern. Jene Blüte hat ihr damals gefallen, ja, sie hat richtig fröhlich gelacht… Er stand neben seinem Barkas an der einem Bootssteg ähnlichen Verladerampe in der Großgärtnerei. Viel war es nicht, was er heute zu transportieren hatte. Da gab es noch Platz im Wagen für etwas anderes. Natürlich - daß er erst jetzt daraufkam! Im Blumenfeld, zwei-, dreihundert Meter entfernt, bewegte sich Maria Kerbel. Na, besser, er blickte gar nicht erst hin, sonst kam ihm doch noch die Galle hoch! Der Hexenschuß sollte sie treffen, gleich jetzt! Aus einem Gewächshaus kam nun das größte Lästermaul der Gärtnerei. Bildete sich etwas darauf ein, daß sie ziemliche Kurven hatte, Arsch und vorn ihre Glocken. »Hier, die Rechnungen«, sagte sie und gab ihm ihren Papierkram. »Die ganze Ladung nach Buckow.« Der Mörder warf nur einen flüchtigen Blick auf die Zettel und steckte sie ein. Dabei spürte er, wie sie ihn ironisch musterte, und am liebsten hätte er ihr dafür einen Tritt verpaßt. »Hast wohl Maria ganz schön vorgenommen?« fragte sie lauernd. »Sie sagt ja heute kein Wort.« Er schubste sie zur Seite und ging zum Fahrerhaus und kletterte hinein. Sofort lief sie vor die Motorhaube und drückte dort ihre Formen heraus. Aufreizend lachte sie. »Wie ist es, Norbert - Maria gegen mich, wär’ das nicht ein pfundiger Tausch? Sozusagen ein Rassegeschäft?«
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Wütend startete er, fuhr augenblicklich los, und es hätte ihm nichts ausgemacht, sie unter die Räder zu nehmen. Im letzten Moment sprang sie jedoch zur Seite, und noch im Rückspiegel sah er, daß sie sich vor Lachen krümmte, und er vermeinte auch, sie zu hören, und das war nicht möglich bei dem hochtourigen Motorlärm. Rücksichtslos fuhr er durch Kuten und Pfützen, und von den geladenen Töpfen brach jetzt bestimmt so mancher entzwei. Erst als er die Maschinenund Werkzeughalle gewahrte, wurde er ruhiger. Er hatte noch Platz im Wagen, ausreichend Platz: den würde er zu nutzen verstehn… Selbst in der Kantine, bei einer Tasse Kaffee - übrigens schmeckte er nur türkisch, aus der Maschine war er höchstens für Leute mit unterentwickeltem Geschmackssinn zu genießen -, kam Oberleutnant Wall nicht von dem Mordfall Antje Berger los. Jürgen Lemke bemühte sich zwar, vom Wetter und anderen weniger aufregenden Dingen zu sprechen, bemerkte aber, daß ihm seine Vorgesetzte gar nicht zuhörte, und verstummte also bald. Die Gespräche an den Tischen ringsum zerfransten und verfusselten sich, und irgendwie schneiten die Restgeräusche auf die Kriminalisten herab. Fischgeruch, der das Mittagessen überdauert hatte, hing nicht nur in der Luft, schien sich sogar auf die Gesichter zu kleben und an den blankpolierten Tischen zu haften. Um die Polizeikantine größtmöglicher Tugend zu öffnen, hatte man Rauchverbot eingeführt. Unter Carla Walls Augen lagen breite, dunkle Schatten. Zu einem Scherz war sie überhaupt nicht, mehr aufgelegt. Jetzt blätterte sie schon wieder in der Aufstellung der im hauptsächlichen Ermittlungsraum zugelassenen Kraftfahrzeuge des Typs Barkas. Auch die von den körperbehinderten Freunden angefertigte Liste hatte sie vor sich. Jürgen Lemke hatte im Laufe des Vormittags recherchiert, zu welchen Betrieben jene Wagen gehörten. Dazu kam noch ein ganzer Stapel von Unterlagen, in denen all jene Fahrzeuge aufgeführt waren, an denen die Polizei eine Kontrolle der Bereifung vorgenommen hatte. Deprimiert schüttelte Carla den Kopf. »Unwahrscheinlich, wer alles Barkas fährt! Man möchte meinen, die Straßen sind zugestopft
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damit. Das Fernsehen, die Post, Zeitungsredaktionen, Betriebe, eine Großgärtnerei, ein Altwarenhändler…« »Großgärtnerei«, sagte Jürgen, »wenn du das gesehen hättest bei der Beerdigung… die Rollstuhlfahrer mit ihren Blumen, bestimmt hatten sie eine Großgärtnerei leergekauft.« Sein Lächeln verriet Gefühl, hatte sehr viel Wärme; früher, vor jenem gräßlichen Tag, war Carla so etwas nie an ihm aufgefallen. Plötzlich stutzte sie: Großgärtnerei… Das klang merkwürdig. Was hatte sie nur? Wieso klang das merkwürdig: Großgärtnerei…? Dann stach ihr die Erkenntnis vom Hirn hinunter ins Herz. »Sag mal, Jürgen, wie war das mit der Blume in Antjes Hand?« »Nichts weiter. Eine ziemlich hoch abgerissene blaue Aster. In jedem Geschäft kriegst du sie, in jedem Schrebergarten triffst du sie an.« Er machte eine Pause und überlegte. »Du meinst doch nicht etwa…?« »Doch«, sagte sie, »ich denke an die Großgärtnerei.« Überstürzt raffte sie ihre Papiere zusammen, ließ den »Kaffee türkisch« unberührt stehen und erhob sich. »Komm, wir fragen mal nach bei den Technikern.« Er nickte und folgte ihr. Wieder rannten sie über den Terrazzofußboden eines langen Korridors, und wieder schepperte der Hall ihrer Schritte von Wand zu Wand. Abgesehen von der Eile überhaupt, die für die Aufklärung jedes Gewaltverbrechens geboten war, im konkreten Falle besonders, gab es kein sachliches Argument für ihre momentane Nervosität und Hast. Vielmehr trieb sie die Hoffnung, mögliche Zusammenhänge könnten sich als reale erweisen, ihr Wunschdenken war gleichsam der Strohhalm, nach dem der Ertrinkende greift. Vor allem für Carla traf das zu: Längst zweifelte sie an sich selbst, überhäufte sich mit Vorwürfen - allesamt unbegründet, ja widersinnig: und doch! -, war oftmals unkonzentriert und hätte nach einer Wiederholungstat des Gesuchten vielleicht nicht mehr die für die Ausübung ihres Berufes notwendige Kraft aufgebracht. Im Kriminalistischen Institut mußten sie eine Weile auf den mit ihrem Vorgang befaßten Fachmann warten, Minuten, nicht mehr. Aber für Carla wurde die Zeit lang, und ungeduldig trommelten ihre Fin-
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ger über das Fensterbrett, hauchte sie gegen die Scheibe und malte gedanklich abwesend - ein kleines Haus mit rauchendem Schornstein auf das beschlagene Glas. Endlich erschien er: rundgesichtig, kahlköpfig und mit erheiternd funkelnder Brille. Gut hätte er in ein Haus wie das an der Fensterscheibe gepaßt. Allerdings wäre dann noch ein Garten notwendig geworden, ein Stückchen Rasen, zwei Apfelbäume, Regenwasser in einer Tonne und eine Gießkanne am Zaun. »Na, wo brennt’s denn?« fragte er aufgeräumt, doch nach einem prüfenden Blick auf Oberleutnant Wall wurde er ernst. »Ich seh’ schon - wo man’s nicht löschen kann. Macht nichts, wenn Onkel Paul helfen darf, hilft er. Und wenn er das tut - ungeheuerlich wirkt es meistens. Also ans Werk!« Andere zu trösten, ihnen Mut zu machen, gehörte offensichtlich zu seiner Natur. Auch zeigte er durchaus Verständnis für Carlas nochmalige, aber seit langem beantwortete Frage, ob die am Tatort gefundene Aster sowie die zwei Nüsse unter keinen Umständen einen brauchbaren Anhaltspunkt ergäben. »Und Erdreste«, sagte die Kriminalistin, »manchmal kleben doch Erdreste am Stiel oder an der Blüte… wäre es nicht möglich, anhand dieser Bodenproben den ungefähren Herkunftsort der Blume zu bestimmen?« »Natürlich. Ziemlich genau sogar. Leider hat der Regen die Aster gründlich gewaschen, Hochglanz, wenn man so will. Außerdem wenn sie erlauben -, Blumen dieser Art kauft man gewöhnlich im Geschäft. Ihr Züchter muß keineswegs identisch mit unserem Täter sein.« »Muß nicht, aber kann«, sagte Carla und war trotzdem enttäuscht. »Jedenfalls besten Dank.« »Moment noch!« sagte da Leutnant Lemke; für ihn war dieser Fragenkomplex zwar angezapft, aber vorerst nicht ausgeschöpft. »Sie verwahren diese Aster doch noch?« »Selbstverständlich.« »Wenn man nun aus demselben Garten noch andere Blumen brächte, zum Vergleich, meine ich - ergäbe eine chemische Analyse der Stengel und Blüten nicht Hinweise auf die Beschaffenheit des Bodens, aus dem diese Astern gewachsen sind?«
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Der Techniker überlegte, senke den Kopf, und das Funkeln in seinen Brillengläsern erlosch. »Schon denkbar«, sagte er, hob jedoch gleichzeitig die Schultern an, »zumindest, was den Dünger betrifft. Nein, nein, da gab’ es noch einiges mehr…« Er straffte sich und zwinkerte verheißungsvoll. »Also bringen Sie Onkel Paul diese Blumen. Wenn der sich dranmacht, meistens kommt ganz Erstaunliches ’raus, in dieser Beziehung kennt er sich manchmal selbst noch nicht.« Endlich wieder gelang Carla ein Lächeln. Nein, es gelang ihr nicht, denn sie tat nichts dazu, ganz und gar eigenmächtig überlief dieses Lächeln ihr abgespanntes Gesicht. Der Mörder war mit seinem Barkas rückwärts in die Fahrzeughalle gerollt und hielt dort unmittelbar vor einem Bretterverschlag. Dieser war vollgestopft mit allem möglichen Gerümpel: Gartengeräte, defekte Schubkarren, Säcke mit Dünger und Zement. Über all dem Zeug lag eine dicke Staubschicht, und ein dichtes Geflecht von Spinnengeweben zeugte hier in besonderer Weise von einem Stückchen unberührter Natur. Im Zentrum eines sauber gesponnenen Netzes, von der Form her an eine Schießscheibe erinnernd, kauerte eine ungewöhnliche dicke Spinne und registrierte das Erzittern ihres Reiches: Eine Fliege war auf das Gewebe geprallt und suchte nun in panischem Aufbegehren wieder freizukommen. Dabei verfing sie sich mit jedem Flügelschlag mehr, kreuzigte sich selbst an die Fäden, und erst als sie erschöpft und willenlos war, als sie schlaff »in den Seilen« hing, näherte sich ihr die Herrscherin über das Netz. Vorsichtig betastete die Spinne ihr Opfer, begann es schließlich zu drehen, schied einen feinen Faden aus und wickelte die Fliege damit ein, machte ein Paket, einen Ballen aus ihr. Danach erst zeigte es sich, daß die Spinne ein Vampir war: In aller Ruhe begann sie der Fliege das Blut - oder wie deren Lebenssaft sonst noch heißen mochte - auszusaugen. Übrigbleiben würde eine windleichte Hülle, bereit, in Staub zu zerfallen. Fasziniert hatte der Mörder dem Treiben der Spinne zugesehen. Jetzt atmete er erleichtert auf. Ein kluges Tier, dachte er, wie sie es macht - einfach per-
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fekt! Gern hätte er sie gestreichelt, unterließ es lediglich, weil er befürchtete, mit seinen Fingern ihr schönes Netz zu zerstören. So etwas hatte sie nicht verdient. Schließlich machte er sich los von dem Anblick und wandte sich einigen großen, kastenähnlich aufgestellten Hartfaserplatten zu. Durch das vergitterte Rundfenster fiel etwas Sonne in den Verschlag. Millionen scheinbar zu Leben erwachter Staubteilchen durchtanzten den goldenen Kegel aus Licht. Nach einem sichernden Blick in die Fahrzeughalle schob der Mörder die vordere Hartfaserplatte zur Seite und zog einen Rollstuhl aus dem Versteck. Geschickt und ohne große Mühe hob er ihn nun in den Barkas, zerrte ihn dort mit Stricken fest und warf die Hecktür ins Schloß. Danach stellte er die Hartfaserplatte wieder an ihren vorherigen Platz, verriegelte den Verschlag und fuhr hinaus in die Gärtnerei. Schön, daß heute die Sonne schien. Vielleicht wurde es trotz allem noch ein freundlicher Tag für ihn »Ich weiß es einfach«, sagte Oberleutnant Wall und schockierte ihren Unterstellten Lemke damit. »So etwas fühlt man eben! Man fühlt es, und damit Schluß!« Pure Würde streifte ihr Rückgrat, sie wollte keinen Widerspruch hören und blickte durch die Frontscheibe des Wagens hoheitsvoll geradeaus. Aber Leutnant Lemke dachte ohnehin nicht daran, ihr zu antworten. Einverstanden, Gefühle gehörten zum gesunden Menschen, obwohl sie ihm meistens Schwierigkeiten bereiteten. Den Gefühlen aber einen Heiligenschein aufzusetzen, sie gar berechenbar wie die Anziehungskraft der Erde zu finden - nein, das war zuviel von ihm verlangt, das ging ihm zu weit. Da wünschte sich Carla, den Mörder in der Großgärtnerei zu finden, und weil sie es wünschte, wußte sie, daß er tatsächlich dort war! Geradezu umwerfend die Logik der Frauen! Besorgt schielte er zu ihr hinüber. Wie soll sie das verkraften, dachte er, wenn es eine Enttäuschung wird? Tausend zu eins steht die Chance. Gegen uns, Carla, nicht für. »Schneller geht es wohl nicht?« fragte sie. »Nein«, sagte er, »sechzig sind erlaubt, und zweiundsech-
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zig fahre ich schon. Fast dreiundsechzig sogar.« Natürlich frotzelte er. Zu einem geringen Teil allerdings war es auch so etwas wie passiver Widerstand. Er wollte ihr helfen, ihre Gefühle, ihre Erwartungen herunterspielen: Das konnte nur gut sein für sie. Eben bog er in die Straße Am Treptower Park ein. Herrschaftliche Häuser. In den Wohnungen hier gab es meistens noch Mädchenkammern: Dame sucht Reinemachefrau oder so in der Art. Muß schrecklich gewesen sein. Obwohl es noch heute Menschen mit gehörigem Spleen gab, zunehmend wieder. Verdienten zu leicht ihr Geld. Prestigedenken! Großer Himmel, die hatten Sorgen…! Was, verdammt, war der Nährboden für dieses Spießbürgertum? Linker Hand jetzt der Park, Laubwald und Wiesen. Das sowjetische Ehrenmal. Davor eine Menge Busse: Sight-Seeing-Tours aus Westberlin. Rundsicht. Einsicht war’ besser, dachte Jürgen, Klarsicht… Zwanzig Millionen Gefallene. Auch für euch Touristen in den Sight-SeeingBussen. Ob ihr’s begreift, wenn ihr durch das Ehrenmal geht? Oder knipst ihr bloß Bilderchen, mitzunehmen nach Oklahoma, Andenkensport: In Ostberlin bei den Russen gewesen, den toten dazu. O wonderful! Ein bißchen Nebel im Herbsttag. Trotzdem überall Sonne. Die Baumkronen schon gelichtet. Wie Kanarienvögel die an den Zweigen verbliebenen Blätter. Im Rinnstein, auf dem Bürgersteig zu Hügeln angewehtes Laub. Aus manchen Schornsteinen Rauch. Unmittelbar vor der Ankunft der Kriminalisten schaltete sich die Ampelanlage Ecke Karpfenteichstraße auf Rot. »Auch das noch«, sagte Carla und seufzte. »Wir hätten einen Funkwagen anfordern sollen. Mit Blaulicht voraus, wären wir wahrscheinlich längst da.« »Blaulicht…«, sagte er. »Und womit sollten wir das begründen?« »Bitte, Jürgen!« Sie faßte nach seinem Arm und sah ihn flehendlich an. »So kann sich niemand täuschen, so nicht…!« Nein, er war auch jetzt nicht überzeugt von ihrer Annahme, auf der richtigen Spur zu sein. Doch der Ausdruck in ihren Augen ließ ihm keine andere Wahl: Kaum zeigte die Ampel Grün, da jagte er den Motor des Shiguli bereits im ersten Gang zur höchstmöglichen Drehzahl hinauf. Als sie die Köpenicker Landstraße durchfuhren, lag ihr
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Tempo gefährlich weit über dem von der Polizei gestatteten. Welch Glück, daß Jürgen Lemke keine Radarfalle passierte! Nie im Leben hätte er sich verzeihen können, Gefühlen, dazu noch den eigenen, auf den Leim gegangen zu sein. Carla Wall griff zum Telefonhörer, hielt das Untätigsein zusehends nicht mehr aus, wußte offenbar aber nicht, was sie in die Wege leiten, an wen sie sich wenden sollte, und legte den Hörer wieder auf.
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Zu beiden Seiten der neu asphaltierten Straße stand Kiefern-
wald. Wahrscheinlich gibt es noch Pilze, dachte der Mörder, ich muß mir mal Zeit dafür nehmen. Mami sagt immer Schwammerln zu Pilzen, richtig lustig hört sich das an. Bestimmt ist sie wieder gut, wenn ich ihr Grünlinge bringe. Und schöne feste Maronen. Vielleicht noch paar Pfifferlinge… manche halten sich ziemlich lange, im Heidekraut stehn die und unter Moos. Bloß Butterpilze sammle ich nicht, die sind zu glitschig, sowieso schmeißt Mami die weg. Aber sonst wird sie sich freuen. Mami, Schwammerln, werde ich sagen, Mami, jetzt freust du dich, stimmt’s? Häufig tauchten am Straßenrand Wegweiser auf: zu Erholungsheimen und Ferienlagern. Mitunter hingen Stofftransparente über der Einfahrt zu Seitenwegen. Er fuhr langsam genug, um die Aufschriften lesen zu können. Eben entzifferte er: »Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer! J. Korezack«. Hohles Zeug, dachte er und wußte absolut nichts anzufangen damit. Immerhin - und das söhnte ihn mit den Spruchbändern aus - war diese Gegend hauptsächlich für Kinder reserviert. Auch für liebe, kleine Mädchen. Hoho, die durften sich freuen! Er hatte Nüsse in der Tasche und Blumen im Auto, blaue Astern darunter. Herrlich blau. Blauer als ein Sommerhimmel, wenn die Schwalben zu Punkten wurden: so hoch flogen sie dann. Ja, ja, ihr kleinen Mädchen, der Onkel meint es sehr gut mit euch… sehr gut… Und ihr braucht gar nichts dafür zu tun, bloß ein bißchen nett sein zu dem lieben Onkel, bloß das… Ihr süßen Dingerchen, ihr! Und wo, wenn ich euch finde, treffen wir uns? Mitten im Sonnenlicht. Seht ihr, so ist das: wenn der 143
Onkel kommt, weiß sogar die Sonne Bescheid und wärmt und lacht und streichelt, wie sich das eben gehört. Fortwährend schickte der Mörder seine Blicke zwischen den Bäumen auf Pirsch. Mitunter entdeckte er Kinder, leider zu große. Nicht bange werden, dachte er, auf keinen Fall bange! Hier gibt es so viele Heime, Heim auf Heim gibt es hier schließlich, reichlich viel Kinder laufen herum. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte er sich wirklich wohl. In seiner Kindheit, so auf Weihnachten zu, wenn die Bescherung bevorstand, war er in ähnlicher Weise froh gewesen. Nein, dieses Gefühl jetzt war besser, ein größerer Nervenkitzel: aber sehr angenehm. Genüßlich spitzte der Mörder die Lippen. Kam ein Vöglein geflogen, pfiff er, und es hörte sich wieder sehr gut an, und er wußte, daß er sehr musikalisch war Im Fond des Wagens saß die Kaderleiterin der Großgärtnerei. Und Leutnant Lemke fuhr halsbrecherisch: nun allerdings! Er nahm keine Rücksicht auf den Shiguli, und der Feldweg seinerseits gab kein Pardon: Das Fahrgestell quietschte und ächzte, und bisweilen krachte etwas gegen den Wagenboden, Steine wahrscheinlich. Leuchtende Blumenfelder säumten den Weg, die Insassen des Autos aber hatten keinen Blick dafür. Sie spähten nach einem Barkas aus. Aber nur ein Gabelstapler und zwei Traktoren waren in der Ferne zu sehen. Frauen bewegten sich zwischen den Blumen. Ihre Kopftücher flatterten im Wind. »Anhalten!« befahl Oberleutnant Wall. Und an die Kaderleiterin gewandt, sagte sie: »Fragen Sie nach diesem Herrn Wenig! Ja doch, schnell!« Dann stieg sie ebenfalls aus. »Hallo, Kolleginnen!« rief die Kaderleiterin. »Wissen Sie, wo Norbert Wenig steckt, unser Barkasfahrer?« Sie war dick, und ihre Stimme klang männlich, und über der Oberlippe trug sie einen bemerkenswerten dunklen Flaum. Bei all ihrer Resolutheit wirkte sie wie eine Frau, die mindestens zehn Kinder großgezogen hat, mit Güte und Strenge. Eine Löwin vor ihren Jungen: Diese grundsätzlich kampfbereite Haltung hatte sie immer noch.
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Aus dem Asternfeld näherte sich eine üppig bebuste und auch sonst mit weiblichen Formen gesegnete Frau. »Warum, was soll er?« rief sie bereits von weitem. »Der ist schon vor ’ner Stunde weg.« Die Art, in der sie Kaderleiterin und Kriminalistin begegnete, wies auf Neugier und Tratschsucht hin. »Sein Ziel?« fragte Oberleutnant Wall. »Wo ist er hingefahren?« »Buckow… Ist was mit ihm?« »Wo ist die Garage?« »Ein Ende voraus«, sagte die Kaderleiterin. »Bitte, steigen Sie wieder ein!« Noch während Jürgen Lemke wendete, war die Vollbusige heran, klopfte gegen die Scheibe und rief: »Ist was passiert…?« Auch die übrigen Frauen im Feld hatten sich inzwischen aufgerichtet und blickten allesamt her. Der Mörder war von der asphaltierten Straße in eine untergeordnete eingebogen und rollte nun langsam über Katzenkopfpflaster. Bisher war er hier weder einem Auto noch einem Motorrad begegnet. Statt dessen lagen da und dort Pferdeäpfel auf den Steinen. Spatzen belagerten den Dung und schwirrten erst im letzten Moment - dem Anschein nach bereits unter die Räder geraten - nach beiden Seiten der Straße weg. Er hatte die Scheibe heruntergedreht, atmete nicht nur die einströmende Waldluft, nahm immer wieder den Mund voll damit und schmatzte genüßlich: Erddämpfe, leichte Blattfäule und auch schon eine Ahnung von nahendem Winter und Schnee. An dieser Strecke hatte er inzwischen zweimal kleinere Kinder gesichtet, allerdings Jungen: mit Tusche bemalte Gesichter, Federschmuck auf den Köpfen, in den Händen Katapulte, selbstgefertigte Flitzbogen und Knallbüchsen aus Holunderrohr. Dazu ein höllisches Angriffsgeschrei, wie die Indianerfilme es lehrten. Wieder zweigte ein Waldweg ab. Ein weißes Schild: »Kinderheim Sophie Scholl 1 km«. Unschlüssig kuppelte der Mörder aus und bremste. Vielleicht war es gut, bis dicht an das Heim heranzufahren? Nein, nein, zu auffällig wäre das, viel zu gefährlich. Die Erzieherinnen - und was da sonst noch an Erwachsenen herumkroch - würden
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sich über den Barkas wundern, ihn möglicherweise verdächtig finden. Gerissen, wie die Polizei nun einmal war, traute er es ihr zu, daß sie wegen so eines Wagens die halbe Welt in Alarm versetzt hatte. Widerwärtig, diese Bullen, jetzt zeigte es sich: Zu Recht hatte er sie noch nie gemocht! Andererseits, gewiß war dort hinten die Chance am größten, das passende kleine Mädchen zu finden! Es brauchte auch keine Angst zu haben - er würde versuchen, es bloß zu streicheln. Auf den Schoß heben würde er sich das Mädchen und es bloß ein bißchen anfassen und bloß ein bißchen streicheln. Jawohl, versuchen würde er es, und sollte ihm das reichen - er hoffte es, weil er richtig vernünftig war -, so wäre gar nichts dabei gewesen. Überhaupt nichts…! Trotzdem traute er sich nicht ganz; unwillkürlich hob er die Fingerspitzen gegen den Mund Im nächsten Moment gewahrte er etwas Gelbes zwischen den Bäumen. Ein Kleidchen…. etwa ein Kleidchen…? Ja, doch, es sah tatsächlich so aus! Und weit und breit keine anderen Kleider! Nur Bäume und Sträucher und in den Zweigen der Wind. Er legte den Gang ein, fuhr weiter: vorerst geradeaus. Auf der Höhe des gelben Kleidchens angelangt, glaubte er erkennen zu können: fünf bis acht Jahre alt jenes Kind. Da drückte er das Gaspedal durch. Zwei-, dreihundert Meter voraus wogte eine Birkenkussel. Es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn sich für den Barkas dort kein geeignetes Versteck finden ließ! Nun, der Teufel hatte die Hand im Spiel! Zwar gab es eine durchfahrbare flache Grabenstelle, auch eine winzige Lichtung, doch lag die dicht bei der Straße und war von dort her noch einzusehen. Egal! Jetzt war nicht die Zeit, um auf Schönheitsfehler zu achten! Dem Mörder tropfte der Schweiß, und er ließ den Zündschlüssel stecken und rannte zur Hecktür und witterte und sah das gelbe Kleidchen nicht mehr. Er zerrte am Rollstuhl und winselte wütend - das Drecksding war ja mit Stricken verankert -, und als er ihn endlich ins Freie hob, haßte er Gott und die Welt! »Einen Rollstuhl…?« hatte die Kaderleiterin - noch in ihrem Büro -
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gefragt und gelächelt. »Nicht, daß ich wüßte. Immerhin sind wir ein Produktionsbetrieb und keine Blumenschau, wo man notfalls auch solchen Service zu bieten hätte.« Ihre Sekterärin - eine Frau Mitte Dreißig und jedes zweite Haar bereits grau - war aufgestanden und vor einen Aktenschrank getreten. »Also nicht.« Oberleutnant Wall war enttäuscht gewesen. »Dennoch: Ist Ihnen zufällig bekannt, ob Ihr Barkasfahrer in letzter Zeit die Reifen seines Wagens gewechselt hat?« »Nein. Aber das läßt sich natürlich erfahren. Ich ruf mal in der Garage an.« So dick die Kaderleiterin auch war, in ihren Bewegungen steckte Dynamik, und sie war einer emsigen Hummel vergleichbar und hatte bereits den Hörer am Ohr. »So. Aha… Na, das ist interessant. Danke, Kollege, ich danke dir.« »Nun?« hatte Carla Wall ungeduldig gefragt. Und die dicke Frau hatte geschmunzelt, offensichtlich zufrieden, eine positive Auskunft geben zu können. »Mir scheint, Genossin Oberleutnant, Sie verstehen etwas von Ihrem Fach. In der Tat hat unser Kollege Wenig die fraglichen Reifen gewechselt, einen kompletten Satz. Ich frage mich nur, wenn Sie erlauben, weshalb Sie sich dafür interessieren? Norbert Wenig ist ein fleißiger und ordentlicher Mann, sogar zweifacher Aktivist.« Bei der Bestätigung des vorgenommenen Reifenwechsels hatten sich Carla und Jürgen einen jähen Blick zugeworfen: Das »Sesam, öffne dich« war gesprochen worden, ein Berg hatte sich aufgetan und die Sicht freigegeben auf den wahrscheinlichen Vorhof zur Hölle. »Bitte«, hatte die Kriminalistin schließlich gefragt, »was wollten Sie wissen?« »Moment, bitte.« Mit einem Kopfschütteln hatte die Kaderleiterin abgewehrt, ihrer flüsternden, zur Hälfte ergrauten Sekretärin gelauscht und in einer von der ihr vorgelegten Akte geblättert. »Und warum sagst du mir das erst jetzt?« »Ich wollte mich nicht einmischen«, hatte die Sekretärin schüchtern geantwortet und war rot wie ein Mohnblütenblatt geworden. »Ach, Mädchen…!« Selbst diesem Tadel hatte die dicke Frau ein gutherziges Lächeln beigefügt. Dann war sie aufgestanden. »Genos-
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sen, ich muß Sie um Entschuldigung bitten: Vor Jahren gab es hier einen Kollegen mit Rollstuhl, allerdings vor meiner Zeit in diesem Betrieb.« »Stimmt«, hatte die Sekretärin leise gesagt: noch immer ohne rechten Mut. »Er war gehbehindert… und in der Materialausgabe beschäftigt. Als er dann starb, im Betrieb war’s - Angehörige hatte er nicht -, gab’s noch ein ziemliches Hin und Her, was mit dem Rollstuhl nun werden sollte. Beschwören kann ich’s natürlich nicht, aber ich glaube, zuletzt wurde er irgendwo zum Gerümpel gestellt.« Carla Wall war zur Tür gelaufen und hatte die Kaderleiterin am Ärmel gezerrt. »Kommen Sie, bringen Sie uns zu diesem Wenig!« »Was ist denn…. worum geht es denn überhaupt?« Die Sekretärin hatte große Augen bekommen. »Um Mord!« hatte Leutnant Lemke gesagt und diese Mitteilung - den nahen Erfolg vor Augen - nicht unterdrücken können. Nun war die Sekretärin erblaßt, und ihre grauen Haare waren plötzlich dominierend gewesen: als hätten sie sich gesträubt - ausschließlich die grauen Haare. Das alles lag schon Minuten zurück. Jetzt parkte der Shiguli vor der Maschinen- und Fahrzeughalle. Ein alter Mann, unüberhörbar Asthmatiker, führte die Kriminalisten. Jeweils nach zehn bis zwölf schleppenden Schritten blieb er stehen und inhalierte aus einem Taschengerät. Er war hier als Wächter angestellt, fragte nichts und gab auch keine Antworten. Lediglich mit mürrisch wirkenden Handbewegungen bekundete er, das Anliegen der Polizei begriffen zu haben und bereit zur gewünschten Hilfe zu sein. Oberleutnant Wall fühlte sich jetzt gehetzt; am liebsten hätte sie den Mann geschoben. Aber sie brachte es einfach nicht über sich, ihn zur Eile aufzufordern. Endlich wies er in einen Winkel der Halle. Dort lagen Autoreifen gestapelt. »Die vordersten«, sagte er, und das Sprechen strengte ihn sichtlich an. Aus dem Kofferraum des Dienstwagens hatte Jürgen Lemke ein größeres Foto sowie einen Gipsabdruck der vom Täter hinterlassenen Reifenspur mitgebracht. Er lief nun voraus und verglich die Beweisstücke mit dem Profil der abgelegten Decken, benötigte keine
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drei Minuten dafür, richtete sich auf und sagte atemlos: »Einwandfrei identisch, Carla. Bitte, überzeuge dich selbst. Hier, diese Dellen entweder ist die Spur des Wagens nicht richtig eingestellt, oder ein Stoßdämpfer ist defekt. Auch möglich, daß die Räder nicht ordentlich ausgewuchtet sind.« Er war halt gründlich wie eh und je. Bedauerlich nur - für ihn bedauerlich -, daß diese Erkenntnisse bereits allesamt im Gutachten des Kriminalistischen Instituts enthalten waren. »Schon gut, Jürgen«, sagte sie nervös, »ich glaub’ es dir ja.« Dann wandte sie sich an den alten Mann: »Und von dem Rollstuhl wissen Sie auch?« Er nickte, deutete hinüber zum Bretterverschlag, auch dies eher ungehalten, benutzte den Inhalator und schleppte sich hinterher weiter. Bevor er heran war, hatte die Kriminalistin den Riegel zum Verschlag bereits zurückgeschoben und die knarrende Tür geöffnet. Einen Rollstuhl allerdings erblickte sie nicht. Auch war der Raum derartig vollgestopft, daß hier ein so großes Gefährt schwerlich noch Platz gefunden hätte. Wortlos drängte sich der alte Mann an ihr vorbei, zerrte keuchend eine große Hartfaserplatte zur Seite und bückte sich. Gleich darauf schob er Kopf und Oberkörper in den entstandenen Hohlraum und klopfte von innen her die Seitenwände ab: als vermutete er geheime Tresore darin. Als er wieder zum Vorschein kam, zitterte Hilflosigkeit um seinen Mund. »Versteh’ ich nicht…« Er murmelte nur. »Gestern war er noch hier, der Rollstuhl. Ich hab’ ihn doch gesehen… mit eigenen Augen…« Mit beiden Händen massierte er sich die Stirn und beugte sich erneut zum leeren Versteck hinab. Tiefe Stille. »Also mitgenommen,« sagte dann Carla Wall und schloß die Augen. Sehr elend sah sie nun aus. »Na, so etwas!« Empört stemmte die Kaderleiterin die Fäuste in die Hüften. »Allmählich wird mir die Sache faul!« Die Kriminalistin schwieg. Langsam verließ sie die Halle: äußerlich ruhig. Aber sie wußte, daß sie auf einmal so etwas wie ein Sprengmeister war. Eine Zeitbombe war zu entschärfen. Niemand kannte den Zeitpunkt, an dem die hochgehen würde. Vielleicht erst
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in Tagen? Vielleicht auch in Stunden? Vielleicht schon im nächsten Moment…? Oberleutnant Wall hörte gleichsam das Uhrwerk ticken Wieder einmal hatte sich der Mörder seine dicke Joppe übergezogen und sich so in den Rollstuhl gezwängt. Im Hochwald gab es keine Pfade wie im Park, statt dessen fahrzeugbreite Wege - selten genug. Sie boten keinen oder nur spärlichen Schutz gegen fremde Blicke. Aber es gab auch Vorteile in Wäldern dieser Art: Zwischen den Bäumen spielende Kinder ließen sich schon aus der Ferne entdecken. Dennoch blieb das gelbe Kleidchen verschwunden. Er stoppte den Rollstuhl und suchte nach Zigaretten. Nein, besser nicht…. das Rauchen im Wald war verboten. Niemand sollte ihm nachsagen können, daß er ein Brandstifter wäre. Und wenn ihm die Lunge hundertmal jieperte, er respektierte die Natur, geradezu Hochachtung hatte er vor ihr. Von ihm ging keine Gefahr für den Wald aus, er hatte Disziplin am Leibe, beherrschte sich, wenn es notwendig war. Deshalb machte er noch lange kein Gewese darum. Sollten andere mit ihrem Charakter protzen, die Hübschlinge, diese Weiberbespringer! Um alles und jedes machten die große Worte, und was steckte dahinter - nichts! Kein Mumm in den Knochen! Die kriegten es fertig und rauchten im Wald, die ja! So sah’n sie schon aus, diese Typen! Viel nützte ihm die Selbstbeweihräucherung nicht: Seine Unruhe wuchs. Wo, verdammt, war dieses Gelbkleid geblieben? So etwas löste sich nicht in Luft auf, und ebensowenig war er blind! Auch mußte er irgendwann die Blumen abliefern. Zu kostbar seine Zeit, um sie sinnlos zu vertrödeln. Der Mörder ärgerte sich, nicht sofort am Straßenrand geparkt zu haben. Da hätte er die Kleine erst gar nicht aus den Augen verloren. Überhaupt war es Quatsch, den Barkas zu tarnen. Schließlich hatte er während der Kontrolle an der Warschauer Brücke genau mitgekriegt, daß die Bullen im dunkeln tappten. Nein, sein Auto verriet ihn nicht. Ein schneller Bengel, der Wagen, zuverlässig und treu. Wahrscheinlich hatte er sogar eine Seele, ein braves Tier aus Metall. Abermals stießen seine Arme den Rollstuhl vorwärts. Unentwegt drehte er den Kopf, und manch ein ferner Sonnenfleck brachte ihm zunächst freudiges Erschrecken und gleich darauf die Enttäuschung
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ein. Was war los mit ihm, hatte er Tomaten auf den Augen oder vielleicht gar ein Brett vor dem Kopf? Allmählich erhöhte er sein Tempo. Während der Fahrt wischte er die Hände abwechselnd an seiner Kleidung trocken, ein um das andere Mal. Wenn sein Nacken den Kragen der Joppe berührte, empfand er die Nässe dort kalt. Schon überlegte er, ob es zweckmäßig wäre zu beten, da gewahrte er endlich das gelbe Kleid. Nicht das ganze Kleid, nur Fetzen davon: Das Mädchen spielte zwischen sehr jungen, wild wachsenden Kiefern der Hochwald hatte den Samen verstreut. Jetzt lächelte der Mörder und seufzte erlöst. Von hier aus sah die Kleine recht hübsch aus, dunkelhaarig, nicht älter als sieben, gerade noch annehmbar. Mit dem Ärmel wischte er sein Gesicht ab, betrachtete sich im Taschenspiegel, nahm etwas Speichel auf den Zeigefinger und zeichnete seine Brauen nach. Gleich, Kind, gleich ist der liebe Onkel bei dir…!
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Ein Funkwagen mit Blaulicht und akkustischem Warnsignal jagte dem Shiguli voraus und sorgte für freie Bahn. Manche Kraftfahrer schienen allerdings taub zu sein oder ihre Fahrerlaubnis beim Skat gewonnen zu haben: Entweder fuhren die gar nicht nach rechts und hielten dort, oder sie taten es erst, wenn die Polizei bereits an ihnen vorüber war. »Armleuchter«, murmelte Leutnant Lemke in solchen Fällen: ohne erkennbares Engagement. Immerhin zeigte es sich jetzt, daß seine einzige - zugegebene - Leidenschaft mit solidem Können untermauert war. Sie verließen Berlin. Als erstes hatte sich Oberleutnant Wall mit Major Rieger, dem »Chef«, in Verbindung gesetzt und umfassende Unterstützung erbeten. Minuten waren seither vergangen, und schon lief - weit über den Raum Berlin hinaus - eine Großfahndung an. Auch jetzt noch war die Kriminalistin krankhaft weiß im Gesicht. Immer wieder blickte sie nervös auf die Armbanduhr. Aber sie schwieg. Ihre Ruhe hatte etwas Unheimliches: wie die Stille zwischen Blitz und Donnerschlag. Eine Mutter, dachte Jürgen Lemke, sie ist ganz und gar Mutter, und irgendwie geht es um ihre eigenen Kinder. Sie wird sich davorwerfen, sie schützen, ungeheure Kräfte 151
entwickeln… Merkwürdig, da kennen wir uns so lange, doch daß sie durch und durch Mutter ist, und wie umwerfend das ist, wie großartig, eigentlich krieg’ ich es jetzt erst mit… Mit der Lichthupe forderte er den Funkwagen auf, nach Möglichkeit schneller zu werden. Wieder hatte Carla Wall den Telefonhörer am Ohr. »Soviel zur vermutlichen Wegstrecke des Wenig, Norbert«, sagte sie gerade. »Er ist fünfunddreißig Jahre alt, groß, massig, sehr schütteres rotblondes Haar. Polizeiliches Kennzeichen des von ihm benutzten Kraftfahrzeuges, Typ Barkas, Farbe Grau: Ida - Werner dreiundachtzig Strich zwoundsiebzig. Ich wiederhole…« Die Sonne warf bereits Schatten. Auf dem Parkplatz beim Kreisamt der Volkspolizei in Buckow waren zwei Funkwagen abgestellt. Kein Lärm in der Stadt. Ein heiterer Nachmittag: wie aus dem Urlaubsund Ferienbuch. Unmittelbar vor dem Polizeigebäude hatten sich zwei alte Frauen getroffen, beide in langen, schwarzen Röcken, die Kopftücher strohblumenfarben. Allein ihre Kleidung wies auf ferne Geburtsorte hin. Ihr Dialekt - über die breite Straße zu hören - grenzte die fraglichen Orte mit Schlesien und Ostpreußen ab. Eine der Frauen war hager, die andere rund, und außerdem hatte die einen Kropf. Die Runde zog sich die Hagere näher, vergewisserte sich nach allen Seiten, von niemandem belauscht zu werden, schlug die Hände in Höhe ihres Kopfs aneinander, verdrehte die Augen und raunte: »Wissen Sie’s schon. Unerdenkliches hat sich zugetragen! Der Ebert, Karl, was der Sohn ist vom Nachbarn bei mir, der mit dem Ziegenbock und wo er meilenweit selbst danach stinkt, ist er besoffen gewesen, der Sohn, wissen Sie, und hat er geklopft ans Fenster von dieser Marjell, was immer rumläuft für teures Geld angezogen und mit Ohrringe wie die Zigeuner und wo’s heißt in der Straße, daß ihre besten Freunde sind ihre Beine! Na, möcht’ ich nicht zählen, wie oft es passiert ist in der Welt, daß auch auseinandergegangen sind die besten Freunde; und wie er also gekratzt hat am Fenster und geschnüffelt, der Ebert, Karl, grad so wie ein läufiger Hund…« In diesem Moment wurde von innen her die Tür des Polizei-
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Kreisamtes aufgerissen, und mehrere Uniformierte hasteten über die Straße zum Parkplatz hin. Sekunden später rasten die Funkwagen los, vom Start an mit Blaulicht und Sirenensignal. Den beiden Frauen standen die Münder offen. Als erste faßte sich die mit dem Kropf. Sie schlug die Hände zusammen und raunte: »Unglaubliches hat sich wohl zugetragen! Ach, daß man nicht dabeisein kann, an Ort und Stelle…!« Doch die Hagere fragte: »Was war denn nun mit dem läufigen Hund?« »Nun was! Reicht’s nicht, wie ich’s berichtet habe? Reicht’s etwa nicht!« Eilig verabschiedete sie sich: Das frische Erlebnis, die neue Unglaublichkeit, mußte verbreitet werden. Eine Zeitbombe, dachte Carla Wall und glaubte wieder das Uhrwerk ticken zu hören. Aber nein, es war der Motor des Wagens, er »klingelte«. Jürgen Lemke sagte, als hätte er ihre Gedanken erraten: »Die Zündung muß nachgestellt werden. Am Benzin liegt es jedenfalls nicht.« Über vierzig Minuten waren sie nun schon unterwegs. Und von nirgends die Meldung, daß der Barkas gefunden sei. Sie knüllte ihr Taschentuch, rollte es zwischen den Händen, und manchmal biß sie hinein. Über Polizeifunk wurde sie laufend unterrichtet, welche Maßnahmen durchgeführt waren, welche noch eingeleitet wurden. Die Autokarte auf den Knien, befahl sie Korrekturen, ordnete Ergänzungen an. Ihre Stimme vibrierte. Wie lange würde sie es schaffen, dem seelischen Druck zu widerstehen? Für Augenblicke schien es jetzt, als verlöre sie die Nerven; durch das Telefon fuhr sie jemanden an: »Melden Sie gefälligst, wie es in der Dienstvorschrift steht! Sagenhaft, dieser schlampige Ton! Wie ist Ihre Dienstnummer? - Aha! Sie hören von mir!« Besorgt wandte ihr Jürgen Lemke das Gesicht zu. »Schon gut«, sagte sie da. »Ich dreh’ mal etwas die Scheibe herunter…« Dann atmete sie mehrmals tief ein und aus. Mitunter kamen ihnen Polizisten auf Krädern entgegen. Einmal kreuzte ein Funkwagen ihren Weg. Passierten sie einen Barkas, so stand der gewöhnlich am Grabenrand und wurde von Polizei kontrolliert. Im Vorüberfahren erkannten sie
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stets, daß jenes Fahrzeug nicht das von ihnen gesuchte war. Und dennoch: Das Fahndungsnetz war inzwischen derartig dicht, daß die Chance des Täters, nicht aufgespürt zu werden, theoretisch gleich Null sein mochte, annähernd jedenfalls. Wenn es überhaupt ein Versteck in diesem Hochwald gab, so war es hier inmitten der wild wachsenden jungen Kiefernkolonie. Sonne fand trotzdem genügend Platz. Der Mörder hatte sein Lied gepfiffen und hatte getan, als führte sein Weg zufällig an dem Mädchen vorbei. Das war mit dem Sammeln trockener Kienäpfel beschäftigt gewesen. »Guten Tag«, hatte er gesagt und war stehengeblieben. Die Kleine hatte ihn gemustert, sehr ernst. »Guten Tag«, hatte sie gewispert: lange nach seinem Gruß. Danach hatten sie beide zu Boden geblickt. »Du spielst wohl hier?« war seine nächste Frage gewesen. »Ja. Ich spiele meistens allein… und am liebsten sowieso.« Das war ihm als Absage erschienen, und für eine Weile hatte er nur geschwitzt und gespürt, daß ihre Augen unverwandt auf ihm ruhten. Große und dunkle Augen: mit einer Menge Argwohn darin. Wie weiter, was jetzt…? hatte er gedacht. Warum stiert sie mich so durchdringend an? Er hatte die Fingerspitzen gegen die Zähne gepreßt und zu nagen begonnen. »Und Sie…?« hatte das Mädchen schließlich gefragt. »Was ich? Ach so, ich erhole mich hier ein bißchen.« »Sind Sie auch im Erholungsheim?« »Natürlich. Bloß in einem anderen als du.« »Sie wissen ja gar nicht, in welchem ich bin.« »Hoho, und ob ich das weiß! Sophie Scholl heißt das Heim.« Nun hatte sie gelächelt. »Stimmt. Und sagen Sie mir Ihren Namen?« »Onkel. Für freundliche Kinder wie dich heiß’ ich Onkel. Dann mußt du aber auch du zu mir sagen.« Allmählich war er sicherer geworden, sogar sein Schmunzeln hatte geklappt. »Und wie heißt du?« »Gudrun. Ganz schön altmodisch, nicht?« »Wieso denn? Ich finde den Namen richtig Klasse, genauso wie dich.« Nach einer Pause hatte er sich den Namen zärtlich auf der
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Zunge zergehen lassen: »Gudrun.« Als Antwort darauf war sie etwas rückwärts gegangen: irgendwie erschrocken. Schon wahr, er hatte gelogen: Klasse fand er sie keinesfalls. Erstens fehlten ihr vorn oben zwei Zähne. Dadurch lispelte sie. Zweitens ging sie ihm viel zu kindlich angezogen mit ihrem gelben Trägerröckchen und dem affig gelben, selbstgestrickten Pulloverchen. Drittens hatte sie weder ein bißchen Hüftenschwenken drauf, noch besaß sie wie Antje einen rassigen Fräulein-Mund. Ach, Antje…! Ein Reinfall ist es, daß ich jetzt ohne dich leben muß. Und du siehst deinen verzauberten König nicht mehr. Trotzdem noch lange kein Grund zum Flennen für dich, du bist im Jenseits! Aber ich - wer fragt schon danach, etwa du, dich kümmert’s doch nicht -, ich hab’ nun zu sehen, wie ich zurechtkomm’ mit solchen Gänsen wie Gudrun. Die muß doch blöd sein, geht rückwärts, wenn ich was Zärtliches sage. So etwas stinkt mich vielleicht an… Plötzlich hatte er bemerkt, daß die Kleine ihn eher hingebungsvoll ansah. »Du bist nett, Onkel«, hatte sie aus der Entfernung gesagt. Ihr Gesicht war voller Wundergläubigkeit gewesen: wie das von Antje, wenn es um Märchen gegangen war. »Findest du mich wirklich richtige Klasse?« »Etwa nicht? Ein tipptoppes Mädchen, wenn du mich fragst. Super, wie man in Frankreich und Spanien und sogar in Italien sagt.« Ihr Wunderglaube war ihm auf einmal vertraut, er reizte und erregte ihn, brachte sie ihm näher. Auch sah er seine Überlegenheit inzwischen sichergestellt. So ging er zum Angriff über: »Wenn du lieber weiterspielen willst, alleine, ich kann ja woandershin fahren.« »Nein!« sagte sie und kam rasch um einige Schrittchen näher. Sie war rot geworden, druckste ein bißchen herum und bettelte endlich: »Pfeif das noch einmal: ›Kommt ein Vöglein geflogen…‹, und genauso schön wie vorhin.« Ihm stockte der Atem: Mann, war das ein kluges Mädchen! Und wie fein! Und wie lieb! Und wie schön! Er konnte sich nicht erinnern, jemals so klangrein gepfiffen zu haben wie jetzt. Die eigene schöne Seele ließ ihn erschauern, verzauberte ihn regelrecht. Gudrun war hingerissen von seinem Konzert und klatschte spontan.
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»Schön!« sagte sie. »Kannst du noch mehr hübsche Lieder?« Gut, daß sie inmitten von kleinen Kiefern stand: zu ihren leuchtenden Augen gehörte einfach ein Weihnachtsbaum. Der Mörder wölbte die Lippen vor, verhieß auf diese Art einen beträchtlichen Vorrat an Liedern. »Aber das war mein liebstes«, sagte er. »Wie eine Lieblingsspeise?« fragte sie. »Mindestens.« »Obwohl…«, sagte sie und überlegte, »meistens setzt sich das Vöglein nicht auf den Fuß. Höchstens ’ne Taube. Im Sommer war ich mit meiner Mutti in Krakow, bei den Polnischen ist das, und auf dem Marktplatz dort klettern sie dir dort, die Tauben, auf den Füßen und den Händen und den Schultern herum, wenn du ihnen paar Kuchenkrümel schenkst oder zwei, drei Fitzelchen von deinem Konfekt.« Sie seufzte erinnerungsträchtig. Er tat, als wischte er sich die Augen aus. Wehmütig sagte er: »Ja, man müßte ein Vöglein sein. Oder ein Kind… solches wie du…« »Warum wie ich?« »Weil ich dann laufen und springen könnte. Aber so… immer im Rollstuhl…?« In ihre Augen drang Mitgefühl. »Kannst du deine Beine gar nicht bewegen?« Ein Händchen vorgestreckt, wie zum Streicheln, kam sie abermals näher. Traurig schüttelte der Mörder den Kopf. »Deshalb bin ich ja so neidisch, wenn ich die flinken Kinder sehe. Verzweifelt bin ich und neidisch. Aber manchmal fahren sie mit bei mir, einfach aus Spaß… Dann müssen sie lachen, weil alles auf einmal so lustig ist, auch für mich, und plötzlich lache ich mit.« Probehalber röchelte er ihr sein Glückslachen vor. »Eigentlich möcht’ ich ganz gern mal mitfahren«, sagte das Mädchen und zwinkerte schelmisch, streckte ihm beide Arme entgegen, und der Mörder hob sie sich auf den Schoß. Ihm wurde heiß - nicht warm wie beim Schwitzen. Heiß wie vor der offenen Ofenklappe: wenn es in der Glut dort knackte, er Teufelchen zu sehen glaubte und ihm die Hölle heimisch erschien. »Fahr jetzt!« sagte die Kleine. Unmöglich: ihm war viel zu heiß dafür. Er drückte die Nase gegen
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ihren Hals, schnupperte am handgestrickten Pullover herum. Die Zunge wurde ihm schwer. »Hm, wie das duftet!« Seine Hände verschwanden unter dem Röckchen, wanderten zu den Hüften hinauf. »Ich muß dich überhaupt erst bewundern. Kleine, liebe Mädchen muß man immer zuerst bewundern.« Nun lehnte er sich zurück und hob sie hoch, so hoch, bis er ihr unter den Rock sehen konnte. Da wurde sie weinerlich und strampelte. »Nicht, Onkel, laß das, ich mag so was nicht!« Sofort merkte er, daß sie am liebsten weggerannt wäre. Sie zitterte, schien sich auf einmal vor ihm zu ekeln. Ihr Bier, nein, ihre Brause: wenn sie zu dußlig zum Saufen war! Immerhin hatte er sie jetzt in den Händen. Und dort würde sie bleiben: solange es ihm behagte, nicht ihr! Enttäuschender als ihr Gehabe war etwas anderes: Ihm war nicht heißer geworden. Im Gegenteil, die Zahnlücke in dem halb zum Plärren verzogenen Gesicht störte ihn mächtig. Aber er brauchte heut sein Erlebnis…. brauchte es doch unbedingt! Ich muß Maria vergessen, diese Stricheule, dieses Aas…! Ich bin wer, ich habe ein Recht auf Glück…! Sein Blick fiel auf Gudruns Hals. Ein trockener Ast fiel zu Boden. Ein großer Vogel schüttelte seine Flügel aus. Sonne. Hörbare Einsamkeit. Kernstück des Erholungsheims »Sophie Scholl« war ein ehemaliges Forsthaus: ein prächtiges Hirschgeweih über dem Eingang, grüne Fensterluken und Moos auf dem Dach. Natürlich waren im Laufe der Zeit - dem neuen Verwendungszweck entsprechend - allerlei Bauten hinzugekommen. Die aber wirkten im Gegensatz zum Forsthaus weder romantisch, noch regten sie an, geheimnisvolle Geschichten zu suchen. Von Schaden war das nicht, denn gerade der Kontrast des Neuen zum Alten provozierte die Phantasie der Kinder, ließ ihnen die Vergangenheit nicht selbstverständlich, sondern bemerkenswert erscheinen, gab ihren Spielen Inhalt und Richtung, und sie pflegten das Forsthaus mit seinen vielen Jagdtrophäen wie einen persönlichen Schatz. Neben dem Eingang hing eine Glocke. Mit ihr wurden die Mahlzeiten, das Wecken und das Schlafengehen eingeläutet. Während der übrigen Stunden des Tages war das weitläufige, mit einem
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Zaun umstellte Heimgelände vom Quietschen, Kreischen, Schreien und Lachen der spielenden Jungen und Mädchen erfüllt. Manche von ihnen überstiegen den Zaun, schoben auch lose Bretter beiseite und erweiterten also ihren Wirkungsbereich. Erlaubt war das nicht, jedoch auch kein Beinbruch: Man konnte sich schwerlich verlaufen, so nah lag das nächste Ferienheim. Über einen zerkuteten Waldweg raste ein Motorrad heran. Sein Fahrer, ein Polizist in Uniform, stieg immer wieder aus dem Sitz, riß am Lenker, und das Vorderrad hob sich dann jeweils vom Boden ab. Mit seiner Fahrweise erinnerte er an einen Jockei während eines Reit- und Springturniers. Vor dem Forsthaus angelangt, bockte er die Maschine auf, hastete zum Eingang und schloß nicht einmal die Tür hinter sich. Wenig später erschien er wieder im Freien, warf sein Motorrad an und jagte davon. Eine Frau in weißem Kittel kam aus dem Haus - die Heimleiterin wohl - und läutete mit der neben der Tür hängenden Glocke Sturm. Augenblicklich liefen die Kinder im umzäunten Gelände zusammen, ließen sich von Erzieherinnen dirigieren und traten in mehr oder minder krummen Reihen an. »Rasch, durchzählen!« rief die Heimleiterin aufgeregt. »Die Kleinen zuerst!« Doch sie wartete das Ergebnis nicht ab, zählte selbst, bewegte tonlos den Mund dabei, rätselte von Gesicht zu Gesicht, suchte sich zu erinnern, am Morgen unter all diesen Kindern nicht noch ein anderes Näschen, zwei andere Augen, einen anderen Mund gesehen zu haben. Ein Nachzügler trabte herbei. »Junge, Kind, was trödelst du so? - Seid ihr jetzt alle?« »Nein«, sagte ein Mädchen, »Gudrun fehlt. Gudrun Krause. Die zankt sich ja immer mit uns…!« »Wird wohl umgekehrt sein«, sagte eine Erzieherin und strich dem Mädchen über das Haar. »Gudrun? Um Gottes willen, die Gudrun…!« Hilflos drehte sich die Heimleiterin im Kreis. Dann beugte sie sich zu den Kindern hinab, schob einige von ihnen vorwärts. »Los, marsch ins Haus! Alle! Fragt jetzt nicht, schnell…!«
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Der Funkwagen war mit drei Polizisten besetzt und rollte über Katzenkopfpflaster. Rechts der Straße stand Hochwald, links zog sich eine Birkenkussel hin. Der Boden dort war wie mit goldenen Talern übersät, und das Weiß der dünnen Stämme hatte irgendwie abgefärbt auf die Luft zwischen ihnen. Plötzlich bremste der Fahrer. »Seht mal«, sagte er und wies mit dem Kopf zu den Birken hinüber. Ein Fahrzeug war zu erkennen - der gesuchte Barkas vielleicht…? Seine Genossen stiegen aus, überquerten die Straße geduckt und näherten sich dem Auto von zwei Seiten zugleich. In der Zwischenzeit meldete der Fahrer über Polizeifunk den eigenen Standort und daß sie soeben ein verdächtiges Fahrzeug gesichtet hätten. Ihm entgegen kam ein Motorradfahrer. Es war derselbe Polizist, der vor Minuten die Heimleiterin im Forsthaus aufgesucht hatte. Jetzt stoppte er neben dem Funkwagen und fragte nach letzten Ergebnissen der Fahndung. Als Antwort bekam er ein Daumenzeichen. »Ko-komisch«, stotterte er da. »Vo-vor fünf Minuten b-bin ich hier doch vvorbeigekommen.« »Aha? Wahrscheinlich zu hoch geflogen? Oder zu tief…?« Einer der Männer von der Funkbesatzung stürzte herbei, Zünd- und Türschlüssel des Barkas in der Hand, hochrot im Gesicht. Ohne eine Erklärung zu geben, griff er sofort zum Telefonhörer. Er keuchte. »Hier Toni siebenundzwanzig. Hier Toni siebenundzwanzig. Gesuchtes Kraftfahrzeug vom Typ Barkas, polizeiliches Kennzeichen: Ida - Werner dreiundachtzig Strich zwoundsiebzig, soeben verlassen - aufgefunden…« Oberleutnant Wall fuhr mit dem Zeigefinger der linken Hand über die Landkarte auf ihren Knien, deckte dann für einen Moment die Sprechmuschel des Telefons ab und sagte zu Leutnant Lemke: »Aufpassen jetzt! Bald muß eine Abzweigung kommen, Katzenkopfpflaster… dort ’rein…« Hinterher sprach sie erneut ins Telefon: »Habe verstanden. Nein, warten Sie nicht, nehmen Sie sofort die Suche auf! Gehen Sie umsichtig vor! Auf gar keinen Fall dürfen Kinder gefährdet werden! Wir sind unmittelbar in Ihrer Nähe. Ende.« Sie zog die Unterlippe ein und preßte die Zähne ins Fleisch, versuchte, ihre Angst mit diesem physischen Schmerz zu betäuben. Daß der in ei-
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nem Birkenwäldchen abgestellte Barkas entdeckt worden war, hatte sie nicht erleichtert. Eher war es ein Schock für sie gewesen. Bis zu jenem Augenblick hatte sie gehofft, der Täter würde zuerst seine Blumen abliefern und sie könnten ihm so etwas von seinem Zeitvorsprung nehmen. Nun war Entsetzen an die Stelle der Hoffnung getreten: Hatte Norbert Wenig ein weiteres Opfer gefunden? Oder suchte er noch? Oder kamen sie doch schon zu spät? Minuten zu spät nur. Welch Hohn, dieses Wörtchen nur! Nein, die Mutter Carla Wall, die Kriminalistin, Oberleutnant der Volkspolizei, fand keine Freude an irgendwelcher Gewalt. Aber auf einmal hatte sie ihre Pistole in den Händen, überprüfte das Magazin auf Vollzähligkeit der Patronen und behielt die Waffe auf ihrem Schoß. Die Abzweigung jetzt. Jürgen Lemke fuhr halsbrecherisch. Vom Pflaster getriezt, weinten die Reifen. Nebel wie schlingernde Spinnengewebe - noch drang die Sonne hindurch. Voraus zwei stehende Funkwagen. Nein, drei: Der dritte langte jetzt an. Die beiden anderen fuhren nun wieder, bogen ein in den Wald. Auf der Straße stand ein Uniformierter. Er wies die Funkwagen ein. Gudrun sträubte sich und jammerte: »Laß mich ’runter! Ich will nicht mehr! ’runter lassen sollen Sie mich…!« Der Mörder war einige Meter weit mit ihr gefahren und hatte sie dabei an sich gepreßt. Jetzt stellte er sie auf die Füße und drehte sie so, daß er ihr Gesicht vor sich hatte. »Gleich«, sagte er und schnaufte. »Gleich lass’ ich dich ’runter, herrlich tief ’runter… so tief, wie du dir gar nicht vorstellen kannst.« Ja, er würde es tun müssen, dieses letzte, und er war inzwischen bereit dazu. Es erregte ihn, daß er seine Absicht ausgesprochen hatte, dem Mädchen angekündigt als Überraschung, und daß es vielleicht noch gespannt war darauf. Ein angenehmes Kribbeln überlief seinen Rücken und drang ihm bis in die Schenkel vor. Während er sie mit der einen Hand im Genick festhielt, strich er mit der anderen an ihren Beinen hoch, berührte sie unter dem Rock. Er
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sabberte. »Richtige Klasse bist du…! Unwahrscheinliche Klasse… So etwas von Klasse kennt man ja kaum…« Die Kleine weinte laut und schlug nach seinem Gesicht, »’runter will ich! ’runter…! ’runter…! Ich melde das, wenn ich nicht ’runter darf…!« »Wa-was!« sagte er, und sein Atem flog, und er spürte, er würde bald sein Erlebnis haben, sein Glück dieses Tages, und auf die Drohung, ihn melden zu wollen, hatte er ohnehin nur gewartet, und nun zog er die Hand unter dem Rock hervor und schob sie über den Bauch des Mädchens, über die Brust hinauf zum Hals. »Melden willst du mich? Du Flittchen, du willst mich melden…? Dann paß mal auf, was eine Kleinigkeit vorher passiert…« Seine Finger fanden sich im Nacken der Kleinen, die Daumen unter dem Kinn. Ein Geräusch irritierte ihn. Was war das - Motorbrummen von der Straße? Flüchtig, nur für alle Fälle und ohne wirklich an eine Gefahr zu glauben, blickte er zur Seite. Aber das Brummen kam aus dem Wald. Aus furchtbarer Nähe kam es bereits. Auf mehreren Wegen rollten Autos. Funkwagen! erkannte er. Schlagartig wurde ihm klar, daß es um ihn ging. Also hatte er sich verraten, sie hatten ihn aufgespürt! »Nein…!« Er schrie auf und winselte hinterher. Sekunden vergingen, in denen er sich vor Schreck nicht bewegen konnte. Dann stieß er das Mädchen aus dem Rollstuhl. Er stützte sich mit den Armen ab, drückte sich aus dem Sitz und sprang auf die Erde. Nach wenigen Schritten kehrte er um und schnappte sich das Kind. Sonst schießen sie, dachte er, aber bei Kindern sind sie zu feige, da schießen sie nicht, bei Kindern sind die Bullen zu feige, viel zu feige sind sie…! Autotüren klappten, er hörte es deutlich. »Halt! Stehenbleiben!« schrie eine Frau. »Deutsche Volkspolizei! Stehenbleiben!« Und ein Mann brüllte nun: »Stehenbleiben, oder ich schieße!« Doch er schoß nicht, und er würde es auch nicht tun, solange er, der Mörder, das Kind mit sich trug! Er hastete, winselte, keuchte. Bloß weg von den Wegen, dachte er, quer durch den Wald geht’s
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nicht mit Autos, bloß von den Wegen weg…! Manchmal strauchelte er, stürzte sogar, kam aber jedesmal wieder hoch, und die Rufe in seinem Rücken nahmen an Lautstärke zu. »Mich kriegt ihr nicht!« stammelte er und heulte. »Mich nicht, ihr Schweine, mich nicht…!« Und er hatte auch schon die Idee, wie er sich retten würde. Besser allerdings, er entwischte jetzt gleich, ließ sich erst gar nicht zur Strecke bringen, auch nicht vorübergehend. Stellten sie ihn dagegen, passierte dies trotzdem… Haut ab! würde er brüllen. Verschwindet! Sonst ist das Mädchen geliefert! Los, ihr Kanaillen, den Weg frei für mich…! Diese Gedanken gaben ihm neue Kraft. Er schluchzte nun seltener, preschte durch Farnkraut, wütete einer Schonung entgegen. Gudrun war zu sich gekommen und bewegte sich wieder. Sie greinte. »Fresse!« schrie er entnervt. Zehn, zwölf Meter noch bis zur Schonung. Davor ein Waldweg, verfluchter Dreck, er mußte ihn überqueren! Sah Polizisten auf Motorrädern… Mami…. Papi, ich muß es doch schaffen…! Gurgelnd sprang er hinein in den Weg, brüllte auf und ließ das Kind ins Heidekraut fallen. Gudrun hatte den Kopf gedreht und ihn in die Hand gebissen. Ihm blieb keine Zeit, das Mädchen wieder an sich zu reißen: Die Polizisten auf Motorrädern waren keinen Steinwurf weit mehr entfernt. Die Zweige der Schonung peitschten den Mörder. Das machte ihn rasend, er trat nach den Bäumen, haßte die Bäume…. ob Bäume, ob Menschen, alles ein und dasselbe Gesochs…! Ihm voran drang sein Heulen, sirenenhaft. Nicht den Mann im Rollstuhl hatte Carla Wall als erstes erblickt. Nur Gelbes war ihr ins Auge gefallen. Kinderkleidung, wie sie später erkannte. Zu spät beinahe. Noch während der Fahrt hatte sie die Tür des Wagens geöffnet, war als erste im Freien gewesen und dem Kerl hinterhergerannt. Neben und hinter sich hatte sie ihre Genossen gehört, und doch war sie einsam gewesen: nicht teilbar die grauenvolle Angst um das Kind. Manchmal, für Sekunden oder Bruchteile von
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Sekunden nur, hatte sie das vorausschwankende Gelb nicht mehr erkennen können, hatten ihr Bäume die Sicht verstellt. Dann hatte sie geglaubt, den Verstand zu verlieren, war wie von Sinnen weitergerannt, hatte gestöhnt und war gerannt. War ebenso schnell wie die Männer gewesen, bisweilen auch schneller, hatte den Abstand zum bedrohten Mädchen verringert und - sah es nun im Heidekraut liegen, sich bewegen, hörte es schreien…! Während der letzten Schritte taumelte Carla Wall, fiel auf die Knie neben dem Kind und zog es sich in die Arme. Sie weinte und lachte auf einmal. Wild strichen ihre Hände über den Rücken der Kleinen, über das Haar. Sie küßte das angstverzerrte Gesicht, schmuste und küßte wieder. Nach einer Weile schob das Mädchen seine Ärmchen über die Schultern der Kriminalistin, umschlang deren Hals und schien sich gar nicht darüber zu wundern, daß diese Frau eine Fremde war. Am Wegrand knatterte ein liegengebliebenes Motorrad. Sonst war wieder Stille im Wald. Leutnant Lemke hatte einen Funkwagen gestoppt, war eingestiegen und hatte befohlen, dem Täter von der Gegenseite der Schonung her nach Möglichkeit den Weg abzuschneiden. Zwei Minuten darauf war der neue Standort erreicht. Hier endete der Wald überhaupt, und flaches Land schloß sich an. Felder und Wiesen. Nebelkrähen flatterten aufgestört umher und lärmten. Entfernt arbeiteten Frauen und Männer: wahrscheinlich in einem Zuckerrübenfeld. Tief durchhängend die langen und schweren Kabel zwischen Hochspannungsmasten. Der Himmel nun bereits seltener blau. Mitunter glaubte Jürgen Lemke Ästeknacken und Rufe aus der Schonung zu hören, bald von dieser Seite, bald von jener Seite her, und immer wieder fuhr er herum. Nein, so ging das nicht weiter, er mußte sich zur Ruhe zwingen! Leichter gedacht als getan. Auch ihm hatte dieser Tag ungewöhnlich zugesetzt, und er verspürte durchaus auch eine persönliche Feindschaft, einen keineswegs beruflich bedingten Haß gegen diesen Norbert Wenig, dieses Ungeheuer, diesen Widerling. Da - der Täter brach aus der Schonung hervor! Seine Joppe hing in Fetzen, und er wurachte in den Acker hinein. »Stehenbleiben!« brüll-
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te ein Uniformierter. Er hob die Pistole. »Stehenbleiben, oder…« »Nicht schießen!« Leutnant Lemke schlug ihm den Arm herunter. »Dort hinten arbeiten Menschen! Los, den kriegen wir so!« Noch während des Sprechens zog er den Kopf ein, winkelte die Ellenbogen an und jagte dem Täter nach. Norbert Wenig hatte auf den Anruf nicht reagiert. Zwar wankte er schon, flügelte auch mit den Armen, aber er gab nicht auf, war nicht am Ende mit seiner Kraft. Endlich, am Fuße eines Hochspannungsmastes, hielt er an. Die Arme gespreizt, faßte er in die Eisenverstrebung, stand gebeugt und japste nach Luft. Jetzt blickte er über die Schulter zurück. Der Kriminalist war ihm nahe genug, um das verquollene und durchheulte Gesicht erkennen zu können. Und dann geschah, womit wohl keiner der Verfolger gerechnet hatte: Norbert Wenig steckte nicht auf! Er tat das Widersinnigste vom Widersinnigen dieser Welt: trat eine Flucht nach oben an! Breitbeinig kletterte er, nahm Eisen Verstrebung um Eisenverstrebung, wirkte trotz Körperfülle behendig, und die Form des Mastes war die einer Pyramide, und sehr hoch oben zweigten die Kabel tragenden Arme ab, und in solch einen Arm stieß er vor, zwängte, klemmte sich ein. »’runterholen!« Leutnant Lemke hatte kein Mideid…’runter mit ihm!« Auch andere Verfolger waren heran. »Genosse Leutnant«, sagte ein Hauptwachtmeister, der Lemke seit der Fahrt im Funkwagen kannte, »ich denke…. das ist Sache der Feuerwehr. Wenigstens müßten Sprungtücher her. Möglicherweise stürzt er sich ab…« »Klettern Sie!« brüllte der Leutnant und war - zum ersten Mal, seit er zurückdenken konnte - nicht mehr Herr seiner Gefühle. »So ein Feigling stürzt sich nicht ab…. so einer wär’ kein Verlust…!« »Jawohl!« sagte der Hauptwachtmeister und war nicht einverstanden mit dem Kriminalisten und begann den Aufstieg sofort. Eine Weile starrte Jürgen Lemke auf den umgebrochenen Acker. Er dachte an Carla Wall. Wieviel Disziplin hatte sie aufgebracht bei der Verfolgung des Täters, wieviel Energie! Und sie hatte es nicht getan, um Rache zu nehmen. Hatte sich höchstpolizeilich und höchstpersönlich um das Leben von Kindern gebangt…
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Leutnant Jürgen Lemke schämte sich plötzlich, »’runterkommen!« rief er zum Hauptwachtmeister hinauf. »Kommen Sie ’runter, Mann! So was ist Sache der Feuerwehr…!«
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