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Der Autor: Thomas Richards war früher Gastdozent für Englische und Amerikanische Literatur an der Harvard University. Er hat bereits zwei Sachbücher und einen Roman veröffentlicht.
THOMAS RICHARDS
STAR TREK DIE PHILOSOPHIE EINES UNIVERSUMS
Aus dem Amerikanischen von BERNHARD KEMPEN
Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/10604 Besuchen Sie uns im Internet: http://www.heyne.de Titel der Originalausgabe THE MEANING OF STAR TREK
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Redaktion: Rainer-Michael Rahn Copyright © 1997 by Thomas Richards Copyright © 1998 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1998 Umschlagillustration: Bavaria Bildagentur/Stock Imagery Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-453-13674-8
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Anmerkung des Übersetzers: Die deutschen Titel der erwähnten Episoden, Filme und Bücher sind im Anhang aufgelistet. Die Zitate wurden nicht aus der Synchronfassung des deutschen Fernsehens übernommen, sondern nach dem amerikanischen Originaltext übersetzt.
Einführung Star Trek ist einzigartig. Die Reisen des Raumschiffs Enterprise finden in einem expandierenden Universum voller Planeten und Völker statt. Zuerst gab es die Klingonen und Romulaner, dann kamen die Ferengi und Cardassianer und schließlich die Kazon und Jem’Hadar. Das Star Trek-Universum wurde mit jeder neuen Episode und jeder neuen Serie erweitert. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sich die Raumschiffe der Föderation in allen vier Quadranten der Galaxis tummeln und mit neuen fremden Welten Kontakt aufnehmen. Von allen Universen der Science Fiction ist das Star Trek-Universum das bei weitem vielfältigste und umfangreichste, und Star Trek ist in jeder Hinsicht die populärste Science Fiction-Serie aller Zeiten. Aber wieso ausgerechnet Star Trek? Was ist das Besondere an dieser Serie? Was unterscheidet sie von all den anderen Fernsehserien? Wodurch konnte sie in den vergangenen dreißig Jahren ihr Publikum an sich fesseln? In den siebziger Jahren wurden die Fans von Star Trek verächtlich als ›Trekkies‹ bezeichnet, doch letztendlich hatten die Star Trek -Fans das letzte Wort. Star Trek ist mittlerweile das größte Wirtschaftsunternehmen in der Fernsehbranche. In der Geschichte dieses Mediums hat sich keine andere Serie als so anpassungsfähig erwiesen. Die Originalserie wurde von 1966 bis 1969 ausgestrahlt. In den Jahren 1973-74 gab es eine Zeichentrickversion der Originalserie mit den Stimmen der Originalschauspieler. Eine zweite Serie mit dem Titel Star Trek: The Next Generation lief von 1987 bis 1994 und konnte sich die treueste Fan-Gemeinde der Fernsehgeschichte schaffen. Acht Kinofilme wurden gedreht, und weitere sollen folgen. Zwei neue und erfolgreiche Star Trek Ableger – Star Trek: Deep Space Nine und Star Trek: Voyager – haben neue Zuschauergruppen gewonnen. Was früher als Geheimtip gehandelt wurde, hat
inzwischen den Wortschatz der modernen amerikanischen Kultur erweitert. Man denke nur an all die Begriffe und Redensarten, die zu einem Teil unserer Umgangssprache geworden sind – Begriffe wie ›Phaser‹ und ›Warpgeschwindigkeit‹, Wendungen wie ›Beam mich rauf!‹ oder ›Der Weltraum, unendliche Weiten…‹. Vor kurzem posierte die Besatzung einer amerikanischen Raumfähre in Starfleet-Uniformen, und es könnte durchaus sein, daß unsere Vorstellungen von der Raumfahrt mehr durch diese Serie als durch tatsächliche Ereignisse geprägt wurden. Star Trek ist allgegenwärtig, wie es scheint. Doch bislang hat sich kaum jemand nach dem Grund gefragt. Es gibt viele Bücher für Star Trek-Fans, doch nur wenige beschäftigen sich ernsthaft mit dem Thema. Nachschlagewerke zu jedem Detail des Universums der Föderation erscheinen alle paar Jahre in aktualisierten Ausgaben. Es gibt detaillierte technische Handbücher, die jede Apparatur erklären, die jemals in der Serie erwähnt wurde. Jetzt gibt es sogar ein Wörterbuch der klingonischen Sprache zu kaufen, dazu Audiokassetten, die von Lieutenant Worf besprochen wurden, um die korrekte Aussprache des Klingonischen zu demonstrieren. Doch das einzige, was es bislang nicht gibt, ist ein Buch über die eigentliche Bedeutung der Serie. Woher kommt Star Trek? Warum ist die Serie so beliebt? Wie konnte sie eine in sich schlüssige Welt schaffen? Literaturwissenschaftler beschäftigen sich ernsthaft mit Literatur, aber sie blicken oft skeptisch auf populäre Erscheinungsformen wie Fernsehserien herab. Ich sehe das anders. Ich glaube, daß die Bedeutung der Serie sich am besten erfassen läßt, wenn man betrachtet, wie sie auf erfolgreiche Weise ein geschlossenes Universum schafft. Wie jedes große Werk der Kunst oder Literatur weist das Star Trek-Universum eine Geschlossenheit auf, die von kaum einem anderem Werk der Science Fiction erreicht wird, ob Film, Fernsehserie oder Roman. Der außergewöhnliche Charakter der Serie, die keine Reihe lose verknüpfter Geschichten, sondern ein lebensfähiges Ganzes darstellt, ist das Thema dieses Buches.
Star Trek – Die Philosophie eines Universums beschäftigt sich mit der Organisation des Star Trek-Universums, und zwar in allen grundlegenden Aspekten. Die Grundthese dieses Buches geht davon aus, daß das Star Trek-Universum in sich geschlossen ist, daß alles, was darin existiert, zusammenpaßt und aus einem bestimmten Grund da ist. Ein Beispiel dafür wäre die Tatsache, daß das Star Trek-Universum eine spezielle Geographie aufweist. Trotz der vermuteten Unendlichkeit des Universums ist die Galaxis in dieser Serie auf verschiedene Imperien aufgeteilt, die von verschiedenen Völkern bewohnt werden, in unterschiedliche Dimensionen, in denen unterschiedliche Wesen leben, und von mehreren undurchdringlichen Energiebarrieren umschlossen. Die Aufgabe der Enterprise besteht nicht nur darin, diese Grenzen zu überwinden, sondern sie durch geeignete Maßnahmen zu sichern. In der Folge ›The Chase‹ aus der Serie The Next Generation wird Captain Jean-Luc Picard vorgeworfen, er würde sich verhalten ›wie ein römischer Zenturio auf Patrouille in den Provinzen‹, dessen Aufgabe darin besteht, ›die Macht eines schwerfälligen, aufgeblähten Imperiums‹ zu erhalten. Dieser Vorwurf ist nur teilweise berechtigt, aber er spricht Bände, was die Organisation des Star Trek-Universums betrifft. Immer wieder erleben wir, daß der Weltraum bei Star Trek keineswegs leer ist. Der Weltraum ist voller Leben – bei dem es sich nicht immer um menschliches Leben handelt –, das aber dennoch bestimmten politischen und sozialen Regelmäßigkeiten unterliegt. In den einzelnen Kapiteln dieses Buches wird die Organisation des Star Trek-Universums in den wesentlichen Aspekten untersucht. Das erste Kapitel befaßt sich mit der politischen Struktur des Quadranten, das zweite mit der psychologischen Struktur der individuellen Charaktere, das dritte mit der Struktur der Geschichten und Mythen, die in der Serie erzählt werden, und das letzte mit den religiösen Aspekten der Serie, die zwar nicht immer den herkömmlichen Vorstellungen entsprechen, aber dennoch einen gewissen Sense of
Wonder∗ heraufbeschwören. »Mir kommen die sieben Jahre eher wie eine lange Episode vor«, hat Michael Dorn einmal gesagt, der Darsteller des Lieutenant Worf in allen sieben Staffeln von The Next Generation, und damit hat er durchaus recht, denn die verschiedenen Folgen greifen letztlich immer wieder die gleichen Themen auf. Daher geht dieses Buch eher interpretierend als beschreibend vor. Es soll keineswegs der Versuch unternommen werden, jede auftretende Figur oder jede Episode zu behandeln, sondern mein Schwerpunkt liegt auf den Themen und Strukturen, die grundlegend für die Serie sind. Bei der Auswahl der Folgen, die analysiert werden sollen, habe ich mich keineswegs auf meine Lieblingsepisoden beschränkt. Wie jeder weiß, gibt es in der Serie gute und schlechte Episoden, doch aus der Perspektive des Kritikers verraten die schlechten Folgen oftmals viel mehr über die Organisation des Star Trek-Universums als die guten. Eine hervorragende Folge wie ›Darmok‹ mag in konzentrierter Form alle wesentlichen Themen der Serie enthalten, doch genauso bedeutend ist ›Skin of Evil‹, weil es die einzige Folge ist, in der eine Hauptfigur, nämlich Lieutenant Tasha Yar, stirbt. Ich habe mich bemüht, für dieses Buch möglichst repräsentative Folgen auszusuchen. Für die meisten gäbe es noch Dutzende weiterer Beispiele. Zusammenfassungen aller Folgen finden sich in verschiedenen Star Trek-Enzyklopädien, die jedoch im Gegensatz zu diesem Buch nicht danach fragen, was die Serie zu bedeuten hat. Trotz der interpretierenden Methode arbeitet Star Trek – Die Philosophie eines Universums mit Begriffen aus dem Star TrekUniversum. Dieses Buch bemüht keine kritische Terminologie von außen, um Dinge zu erklären, die typisch für Star Trek sind. ∗
Für diesen häufig in der Science Fiction verwendeten Begriff gibt es keine angemessene deutsche Übersetzung. Mit Sense of Wonder ist das Gefühl oder Bewußtsein des Wunderbaren gemeint, das ehrfürchtige Staunen vor den Wundern des Universums. Anm. d. Übers.
Star Trek ist deshalb so großartig, weil die Serie ein geschlossenes Universum schafft, dessen unterschiedliche Teile hervorragend zusammenpassen. Das Ziel dieses Buches ist die Analyse der Funktionsweise dieses Zusammenspiels. Ich möchte verständlich machen, wie das Star Trek-Universum zusammengefügt ist und warum es funktioniert. Star Trek ist keine Allegorie, sie bezieht sich weder auf unser vertrautes noch irgendein vergangenes politisches System und wurde auch nicht irgendeinem literarischen Vorbild entnommen. Die Serie kann nur mit ihren eigenen Begriffen erfaßt werden, denn genau darin liegt ihre Größe. Die Größe eines gelungenen Kunstwerks beruht darauf, daß es etwas Vorheriges übertrifft, und Star Trek stellt keine Ausnahme von dieser Regel dar. Die Serie übertrifft jedes bisherige Werk der Science Fiction an Tiefe und Weite. Star Trek ist in der Tat einzigartig, und wie wir sehen werden, sind eine ganze Reihe von Gründen erkennbar, warum diese Serie zur beliebtesten Science Fiction-Serie aller Zeiten wurde. Star Trek – Die Philosophie eines Universums beschäftigt sich ausführlich mit Beispielen aus The Next Generation, der zweiten Star Trek-Serie. Das geschieht nicht aus dem Grund, weil mir die Schauspieler oder die Geschichten besser gefallen, sondern weil erst in dieser zweiten Serie Gene Roddenberrys Vision von der Föderation zur vollen Reife gelangt ist. In The Making of Star Trek berichtet Roddenberry davon, wie er durch den Druck des Studios gezwungen wurde, seine ursprüngliche Vision zu ändern. Er mußte viele Drehbücher umschreiben, um mehr Actionszenen unterzubringen, in denen Kirk wie der Held einer Westernserie der sechziger Jahre auftritt. Die Folgen der Originalserie mit dem geringsten Anteil an Kampfszenen kommen Roddenberrys ursprünglichen Vorstellungen am nächsten, da er immer größeren Wert auf Diplomatie als auf militärische Kampfhandlungen legte. Obwohl die klassische Star Trek-Serie im allgemeinen als das Original betrachtet wird, wurde Roddenberrys ursprüngliche Vision erst mit The Next Generation umgesetzt. Vieles, was erst in der zweiten Serie verwirklicht wurde, wollte er bereits in der
ersten Serie benutzen, doch damals wurde es verhindert. 1987 ließ man Roddenberry zum ersten Mal in seiner Laufbahn freie Hand, und das Ergebnis ist eine wesentlich ausgereiftere Version der Föderation als in der ersten Serie. Die klassische Star TrekSerie ist der Rohentwurf für The Next Generation. The Next Generation ist die reife und unverfälschte Vision von Gene Roddenberry, hier gelangten alle ursprünglichen Elemente seiner Vorstellungen von Star Trek zur vollständigen Ausprägung. Es ist äußerst schwierig, eine lebensfähige und glaubwürdige fiktive Welt zu schaffen, die in ferner Zukunft angesiedelt ist. Obwohl die übrige Science Fiction sich viel Mühe gibt, durch großen Einfallsreichtum das gleiche zu erreichen, ist es ihr nur selten gelungen. Star Trek hatte erst beim zweiten Versuch Erfolg, und selbst dann fand die Serie erst mit der dritten Staffel von The Next Generation ihre eigene Richtung, also nach fast zweihundert Folgen und fünf Kinofilmen. Wie jeder Künstler benötigte auch Roddenberry Zeit, um zu reifen und eine deutlichere Vision zu entwickeln, während er mit der Welt, die er selbst geschaffen hatte, immer vertrauter wurde. Damit ist das Star Trek-Universum in der Tat ein immenses Universum, an dem seit nunmehr dreißig Jahren gearbeitet wird. Auch wenn alles als Vision eines einzigen Menschen begann, muß die Serie insgesamt als kollektive Leistung betrachtet werden, als das Ergebnis jahrelanger Zusammenarbeit zwischen vielen unterschiedlichen Autoren, Regisseuren, Schauspielern, Produzenten und Designern. Obwohl Gene Roddenberry zweifellos für den allgemeinen ›Look‹ der Serie verantwortlich war, wußte er als Ideenmensch genau, daß er die Hilfe anderer benötigte, um die weißen Flecken auf der Sternenkarte der Föderation auszufüllen. Hinter vielen Werken der Science Fiction stehen interessante Ideen, doch Star Trek legt großen Wert auf die Details, vom den Diensträngen und Abzeichen der Uniformen bis zum Design der Kulissen, der Raumschiffe und der Außerirdischen. Tatsache ist, daß es für einen einzigen Menschen sehr schwierig ist, sich ein vollständiges Gesellschaftssystem
vorzustellen. Nur wenigen Science Fiction-Romanen gelingt es, eine geschlossene Welt zu schaffen, die sich mit realistischen Romanen vergleichen läßt, in denen eine tatsächlich existierende Gesellschaft in allen Aspekten beschrieben wird. Daher weisen Science Fiction-Romane die deutliche Tendenz zur Serie auf, denn es ist mehr als nur ein Versuch nötig, um eine überzeugende Welt der Zukunft darzustellen. Aus diesem Grund sind die meisten dieser Versuche nicht sehr erfolgreich, weil sie sich zuviel vorgenommen haben. Star Trek hat es geschafft, zu einem in sich geschlossenen Universum zu wachsen, doch dazu waren jahrelange Detailarbeit und die Anstrengung sehr vieler Menschen nötig. Im Gegensatz zu anderen literarischen Genres läßt sich Science Fiction sehr gut in kreativer Zusammenarbeit gestalten. Daher entfaltet sich das Potential vieler klassischer Science Fiction-Romane erst in der Filmversion, da dem individuellen Autor bei der Ausarbeitung einer völlig imaginären Welt Grenzen gesetzt sind. Zusätzlich wurde die Serie von den Bedingungen des Fernsehens begünstigt. Die Star Trek-Filme sind oftmals sehr schlecht, wenn mehr Gewicht auf die Spezialeffekte als auf die Geschichte gelegt wurde und mehr das Schiff als die Besatzung im Vordergrund stand, wie in der berühmten Szene aus Star Trek – The Motion Picture, in der die neue Enterprise fast zehn Minuten lang im Bild zu sehen ist. In gewisser Weise haben die ökonomischen Einschränkungen des Fernsehens Star Trek ermöglicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zu viele Science Fiction-Filme sind reine Demonstrationen tricktechnischer Möglichkeiten. Das begrenzte Budget einer durchschnittlichen Folge von The Next Generation, das etwa eine Million Dollar betrug, führte dazu, daß der Schwerpunkt von der Technik auf die Charaktere und die Handlung verlagert wurde. Aufgrund solcher finanziellen Erwägungen wurden einige der besten Folgen komplett innerhalb der bestehenden Kulissen der Enterprise gedreht. In einer Fernsehfolge von Star Trek wird es niemals Szenen geben wie den spektakulären Angriff auf den
Todesstern in Star Wars. Die Trickszenen der Serie sind meist recht statisch und dienen nur dazu, den Schauplatz vorzustellen. Pressefotos aus Star Wars werden dem Film nicht gerecht, weil es darin fast nur um Action und Effekte geht. In Star Trek dagegen dienen die Spezialeffekte als Hintergrund, vor dem sich die Handlung entfaltet, ähnlich den Kulissen einer Theaterbühne. Die Originalserie ist voller Bilder, auf denen die Enterprise hübsche, farbenfrohe Planeten umkreist. Die Enterprise wirkt dann am beeindruckendsten, wenn sie bewegungslos einem romulanischen oder klingonischen Kampfkreuzer gegenübersteht. Die Enterprise und ihre ausgefeilte Technik sind in erster Linie der Schauplatz, auf dem sich menschliche Aktivitäten und Dramen abspielen. Man entschied sich seinerzeit für eine graue Enterprise, weil der Designer Matt Jefferies wollte, daß das Raumschiff ›eine verhältnismäßig glatte Oberfläche‹ aufweist, ›damit wir es in verschiedenen Farben beleuchten konnten, je nach Stimmung‹ Ein weiterer Punkt ist der Umstand, daß ein sechzigminütiger Sendeblock im kommerziellen Fernsehen eine Aufteilung in fünf Akte erfordert, damit die Werbepausen eingefügt werden können. ∗ Diese besonderen Bedingungen des Fernsehens beeinträchtigen die Serie nicht. Im Gegenteil, dadurch erhält die Serie nicht nur eine klare visuelle Gestaltung, sondern auch eine klassische, in fünf Akte gegliederte Struktur, die für die gesamte abendländische Dramaturgie typisch ist. Dieses Buch ist keine Geschichte der Science Fiction. Ein Grund dafür ist die Tatsache, daß die Geschichte der Science Fiction bereits von Brian Aldiss, einem großen Schriftsteller des Genres, in Billion Year Spree: The True History of Science Fiction (1973) erzählt wurde. (Die erweiterte Ausgabe dieses Werks wurde 1986 mit dem ›Hugo‹ ausgezeichnet.) Doch der ∗
Im Gegensatz zum deutschen Fernsehen, wo die Werbepausen nach Belieben geschaltet werden, hält sich das amerikanische Fernsehen an die dramaturgisch vorgesehenen Unterbrechungen, die meistens durch eine Schwarzblende markiert sind. Anm. d. Übers.
Hauptgrund liegt darin, daß Star Trek eine einzigartige Ausnahme darstellt, die weit über ihre Ursprünge hinausgeht. Gene Roddenberry wuchs mit den Science Fiction-Romanen der vierziger und fünfziger, den Science Fiction-Filmen der fünfziger und den Fernsehserien der sechziger Jahre auf. Doch Star Trek wurde nur möglich, weil er erkannte, daß Science Fiction viel mehr sein konnte, als sie bis zu diesem Zeitpunkt gewesen war. In vielerlei Hinsicht stützt sich Star Trek in weitaus größerem Ausmaß auf frühe Science Fiction-Schriftsteller wie Jules Verne und H. G. Wells und weniger auf spätere Autoren wie Isaac Asimov und Ray Bradbury. Die Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters glaubten an den Fortschritt. Sie waren davon überzeugt, daß die Welt in Zukunft besser und nicht schlechter sein würde. Ein Grund, warum Star Trek einen erheblich größeren Erfolg als andere Science Fiction hat, ist der Umstand, daß die Serie ein optimistisches Bild der Zukunft zeichnet. In der Zukunft von Star Trek gibt es keine Armut, keinen Hunger, keine Diskriminierung und keine Krankheit. In der Science Fiction muß man sehr weit zurückgehen, um einen solchen Optimismus wiederzufinden. Die Welt von Flash Gordon und Star Trek ist der Schauplatz des Kampfes zwischen dem Guten und dem Bösen. Neuromancer und Johnny Mnemonic zeigen eine Welt, die von Verbrechen und Zynismus dominiert wird. Gene Roddenberry war eine Ausnahme, ein Schöpfer moderner Science Fiction, der trotzdem daran glaubte, daß die Wissenschaft zu guter Letzt alle Ungerechtigkeiten dieser Welt beseitigen würde. Er setzte seine Serie bewußt von der übrigen Science Fiction ab und schenkte uns das Größte, was dieses Genre zu bieten hat, das Star TrekUniversum. Dieses Buch soll zeigen, wie und warum dieses Universum funktioniert.
I Kontakt und Konflikt
Eine Raumstation, die sich zu einem Walzer von Richard Strauß dreht. Ein kleines Raumschiff im Anflug, das sich der Station wie einem Tanzpartner nähert. Dieses Weltraumballett in Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968) war für mich schon immer der visuell beeindruckendste Moment des Science FictionKinos. In diesem Film zeigt Kubrick die Station, die wie ein doppeltes Rad gestaltet ist und im Orbit über der Erde rotiert, ohne daß sie das Bild beherrscht. Sie ist nur eine kleine Insel des Lebens in der unermeßlichen, stillen Einsamkeit des Weltalls. Kubrick macht deutlich, daß die Technik der Menschen von der Erde, der Sonne, dem Mond und den Sternen in den Schatten gestellt wird. Die Menschen sind keineswegs die Meister des Universums. Sie bewegen sich langsam, sind durch die Schwerelosigkeit behindert, in Raumanzüge eingesperrt und an Atemgeräte angeschlossen. In vielerlei Hinsicht bestätigt 2001: A Space Odyssey das, worauf die Astronauten aller Nationen seit Jahren immer wieder hingewiesen haben: daß der Weltraum ein kalter und leerer Ort ist. In Star Trek ist der Weltraum keineswegs leer. Bei Star Trek gibt es keine Szene, die mit dem Weltraumballett in Kubricks Film vergleichbar wäre. Eine auf den ersten Blick vergleichbare Szene im ersten Star Trek-Kinofilm zeigt deutlich den Unterschied. Im Film fliegt Captain James T. Kirk und seine alte Besatzung durch das Weltall zur modernisierten Enterprise. Das Weltraumdock und die Raumschiffe füllen das ganze Bild aus. Überall sind Menschen zu erkennen. Man sieht Kirk und seine Besatzung aus dem Fenster schauen. Diese Szene ist charakteristisch für den Umgang der Serie mit dem Weltraum. In Star Trek ist der Weltraum überall mit Leben erfüllt. Die Einsamkeit des Weltraums, wie sie von Kubrick gezeigt und von unseren Astronauten erlebt wurde, spielt in der Serie eine völlig untergeordnete Rolle. Statt dessen dient der Weltraum als Landschaft, als schöner und malerischer Hintergrund für menschliche Aktivitäten und zutiefst menschliche Sorgen. Die
visuell eindringlichsten Szenen in Star Trek finden auf bestimmten Planeten oder an Bord der Enterprise selbst statt. Von Zeit zu Zeit wird die Besatzung der Enterprise mit dem leeren Weltraum konfrontiert, aber in der ganzen Serie gibt es nichts, was dem Weltraumballett in 2001: A Spare Odyssey gleichkommt. Das Star Trefc-Universum ist vielmehr ein lauter und übervölkerter Ort. Stanley Kubrick nennt seinen Film eine Odyssee im Weltraum und er zeigt uns darin eine Vision des Weltraums, die nicht von ungefähr auf Homers Odyssee anspielt. Dieses Epos erzählt die Geschichte des einsamen Helden Odysseus, der nach dem trojanischen Krieg in seine Heimat zurückzukehren versucht. Doch unterwegs verirrt sich Odysseus auf dem Mittelmeer. Kubrick hat seine Geschichte von der Irrfahrt eines einsamen Astronauten im Weltraum nach Homers Erzählung gestaltet, in der ein Seefahrer in seinem kleinen Schiff auf den Weiten des Meeres unterwegs ist. Obwohl Star Trek durchaus einige Elemente der Odyssee enthält (auf die ich später eingehen werde), weist die Welt der Serie eine viel größere Ähnlichkeit zu Homers anderem Epos auf, nämlich der Ilias. Homers Ilias ist eine Geschichte über Diplomatie und den Konflikt zwischen unterschiedlichen Völkern, den Griechen und den Trojanern, die sich auf der Küstenebene der heutigen Türkei im Krieg befinden. In der Ilias ist die Welt des Mittelmeers keineswegs leer und trostlos, sondern voller Kriege und Konflikte, voller göttlicher und menschlicher Leidenschaften. In gewisser Weise ist Star Trek keine ›Odyssee im Weltraum‹, sondern eher eine ›Ilias im Weltraums‹ Die Serie zeigt eine Föderation von Planeten, die immer weiter ins Universum expandiert, wo sie nicht etwa auf Leere und Trostlosigkeit stößt, sondern auf ein verwirrendes Aufgebot fremdartiger Lebensformen. Im Star Trek-Universum wimmelt es von Völkern unterschiedlichster Art. Diese Behauptung mag vielleicht recht simpel klingen, aber sie trifft keineswegs auf jedes Werk der Science
Fiction zu. Isaac Asimovs Foundation-Serie entwirft eine Zukunft, in der die Menschheit eine Galaxis kolonisiert, die sich als leerer und ungastlicher Ort erweist. Star Trek beschäftigt sich nicht mit der Frage nach der Existenz außerirdischen Lebens, sondern mit der Tatsache und dem Problem kompatiblen Lebens im Universum, das niemals als selbstverständlich betrachtet wird. Der Weltraum ist niemals völlig fremdartig. In Star Trek gibt es nirgendwo eine Szene wie im Film Alien, wo es um einen Raumfrachter geht, der weit von jedem menschlichen Lebensraum entfernt ist und mit der schreckenerregenden Andersartigkeit eines völlig bösartigen, nichtmenschlichen Lebewesens konfrontiert wird. Selbst wenn ein Raumschiff wie in der neuesten Serie Star Trek: Voyager auf magische Weise in einen anderen Teil der Galaxis verschlagen wird, stößt es auch dort überall auf Leben und Planeten der Klasse M. Die Sternenkarte der Galaxis, wie sie in der Serie dargestellt ist, zeigt eine große Sternenspirale, die in die Territorien der Klingonen, Romulaner, Cardassianer, Ferengi und Borg aufgeteilt ist. Das Universum ist voller alter und junger Imperien, und die Föderation und ihre Kolonisten geraten ständig mit ihnen in Konflikt. Viele der besten Folgen der Serie handeln von Problemen mit fremden Kulturen, die aus der unaufhaltsamen Expansion der Föderation resultieren. Die Star Trek-Geschichten über den Kontakt und Konflikt mit anderen Spezies folgen im allgemeinen drei verschiedenen Mustern. Im ersten Fall ist die Föderation wesentlich mächtiger als eine primitive oder unterentwickelte Gesellschaft. Die Besatzungsmitglieder der Enterprise werden für Götter gehalten und häufig in religiöse Rituale eingebunden, in denen es um den Tod eines Gottes geht. Die erste Star Trek-Serie greift für einen Erstkontakt fast immer auf dieses Handlungsmuster zurück, wodurch die Besatzung der Enterprise die Rolle europäischer Seefahrer während des Zeitalters der Entdeckungen im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert übernimmt. Im zweiten Fall ist das Machtverhältnis zwischen der Föderation und einem
anderen Imperium in etwa ausgeglichen. Kontakte mit den Klingonen, Romulanern und Cardassianern folgen diesem Muster. Es findet sich vor allem in der zweiten Serie, Star Trek: The Next Generation; der interstellare Konflikt wird hier meist durch die Bemühungen von Captain Jean-Luc Picard, dem Meisterdiplomaten der Föderation, gelöst. Im dritten Fall ist die Föderation einem Gegner unterlegen und wird durch ihn in ihrer Existenz bedroht. Die besten Filme und Romane der Science Fiction, von H. G. Wells’ The War of the Worlds über Arthur C. Clarkes Childhood’s End bis zum Film Alien, folgen immer wieder diesem Muster. Die Folge solcher Begegnungen ist die Erschütterung der Stellung des Menschen im Universum, und Star Trek bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die Geschichte des ersten Kontakts mit den Borg, die in einer Trilogie aus bemerkenswerten Episoden erzählt wird, gehört zweifellos zu den größten Leistungen der Science Fiction.
1 In Star Trek ist die zentrale Erfahrung der Weltraumfahrt die Begegnung mit Leben. Angesichts unseres Wissens über den Weltraum hat eine solche Begegnung einen sehr fiktiven Charakter. Doch die Serie stellt die spekulativen Begegnungen nicht auf völlig fiktive Weise dar. Genauso wie die übrige Science Fiction füllt auch Star Trek unseren Mangel an Wissen durch historische Parallelen aus der irdischen Entdeckungsgeschichte aus. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert stießen Kolumbus, Magellan und Cortez in ›fremde neue Welten‹ vor, wie auch sie es nannten. Und in keinem Fall war das neue Land leer. Die Welten, die sie erkundeten, waren durchaus bewohnte Welten voller uralter Zivilisationen und gefestigter Traditionen. Die ersten Entdecker waren gleichzeitig Eroberer, und die Spanier nannten ihre Entdecker ja auch conquistadores, was auf spanisch ›Eroberer‹ bedeutet. In der
Geschichte gibt es kein Beispiel für eine Erkundung oder Entdeckung, die nur um der Neugier willen unternommen wurde. Die Entdeckung führt zwangsläufig zur Unterwerfung und die Unterwerfung zum Krieg. Gene Roddenberry war sich sehr wohl bewußt, daß die Entdeckungsfahrten unserer Geschichte häufig kaum mehr als ein Vorwand für Eroberung und Unterwerfung waren. Er machte die Föderation zu einer Organisation, deren Handeln einem allgemeinen Prinzip unterworfen war. Dieses Prinzip ist die Erste Direktive. Die Erste Direktive besagt, daß es den Mitgliedern von Starfleet verboten ist, sich in die natürliche Entwicklung der Gesellschaften einzumischen, denen sie begegnen. Von Anfang an war Roddenberrys Absicht, die er mit der Aufstellung der Ersten Direktive verfolgte, völlig klar: Das zentrale Prinzip von Starfleet verhindert auf wirksame Weise die Errichtung eines Sternenimperiums. In seinem Buch The Making of Star Trek heißt es, er wollte vermeiden, daß die Föderation noch einmal die Azteken auslöscht. Damit spielte er auf die brutale Eroberung Amerikas durch die Spanier im sechzehnten Jahrhundert an. Roddenberry sagte immer wieder, daß er die Erste Direktive deswegen aufstellte, weil er wollte, daß die Fehler der blutigen Eroberungsgeschichte durch die Föderation korrigiert werden. Doch dabei handelte es sich keineswegs um ein simples oder naives Gegenbeispiel. Heute werfen wir den Spaniern häufig vor, die Azteken niedergemetzelt zu haben, doch Roddenberry stellte in Star Trek wesentlich beunruhigendere Fragen. Was wäre, wenn wir bei der Erkundung des Weltraums tatsächlich auf eine Gesellschaft stoßen sollten, die sich auf Menschenopfer gründet? In der Folge ›A Taste of Armageddon‹ begegnet Kirk einer Kultur, die in regelmäßigen Zeitabständen Exekutionen durchführt. In ›Half a Life‹ hat Picard es mit einer Gesellschaft zu tun, in der jeder getötet wird, der über sechzig Jahre alt ist. Die große Errungenschaft von Star Trek ist nicht die Aufstellung eines theoretischen Prinzips, sondern die Darstellung verschiedener Umstände, unter denen es sich in der Praxis
bewähren muß. Die Erste Direktive ist keineswegs ein starres Prinzip. Die Art ihrer Anwendung hängt fast in jedem Fall von den Machtverhältnissen ab. Je deutlicher das Übergewicht auf der Seite der Föderation ist, desto wichtiger wird das Prinzip. Die Episoden, in denen es um die Erste Direktive geht, stellen fast immer eine Gesellschaft oder ein Wesen vor, daß allem Anschein nach über weniger Macht als die Föderation verfügt. Die Föderation ist durchaus in der Lage, mit großer Zurückhaltung aufzutreten, wenn sie es mit unterentwickelten Kulturen zu tun hat. Doch in einem Wettstreit ebenbürtiger Gegner verliert die Direktive ihre Bedeutung. Die Föderation setzt aktive Spionage gegen die Cardassianer ein. Die Beziehungen mit den Klingonen sind voller Intrigen. Botschafter Spock geht in der guten Absicht nach Romulus, die Wiedervereinigung der Romulaner und Vulkanier voranzutreiben; dabei mischt er sich gezielt in innere Angelegenheiten der Romulaner ein und verletzt damit die Erste Direktive. Und bei den Borg wird das Prinzip praktisch in sein Gegenteil verkehrt. Nachdem die Föderation siebenunddreißig Raumschiffe und elftausend Besatzungsmitglieder bei einer schweren Schlacht gegen die Borg verloren hat, zieht Picard ernsthaft in Erwägung, einen Plan zur Auslöschung der gesamten Spezies in die Wege zu leiten. Er entscheidet sich gegen diesen Plan, doch in einer späteren Folge tadelt ein Starfleet-Admiral den Captain dafür, daß er diesen Genozid nicht durchgeführt hat – einen Akt, der eine elementare Verletzung der Ersten Direktive dargestellt hätte. Es gibt noch ein weiteres Problem mit der Ersten Direktive. Es ist nicht nur sehr einfach, die Erste Direktive zu verletzen, sondern es ist sogar äußerst schwierig, sie nicht zu verletzen. Fast jede Aktion von Starfleet, von der vorsichtigen Erkundung bis zur Kolonisierung eines Planeten, ist streng genommen eine Verletzung der Ersten Direktive. Der Grund dafür ist nicht etwa ein Fehlverhalten einzelner Starfleet-Captains, sondern die Tatsache, daß die Erste Direktive ein unerreichbares Ideal und
gleichzeitig eine naturwissenschaftliche Unmöglichkeit darstellt. Hinter der Ersten Direktive steht die Vorstellung, daß es möglich sei, eine Gesellschaft nur zu beobachten, ohne Einfluß auf sie zu nehmen. In dieser Hinsicht ist die Erste Direktive eine Verletzung eines der beliebtesten wissenschaftlichen Prinzipien von Star Trek, nämlich der Heisenbergschen Unschärferelation. Dieses Prinzip besagt, daß ein Beobachter immer Einfluß auf das nimmt, was er beobachtet. Selbst ein versteckter Beobachter verursacht eine Störung. Diese Interferenz kann sehr klein sein, aber sie ist trotzdem vorhanden und meßbar. Wenn wir an Heisenbergs Prinzip glauben (wie es auch die Serie tut), müssen wir zugeben, daß die Erste Direktive auf einer wissenschaftlichen Unmöglichkeit beruht. Eine sichere Entfernung ist einfach nicht möglich in einem Universum, in dem auch die entferntesten Vorgänge weitreichende Konsequenzen haben. Ein Beobachter kann niemals neutral sein. Ein Beobachter ist notwendigerweise auch ein Beteiligter. An jedem Ort, den die Föderation in der Galaxis aufsucht, müssen ihre Vertreter Maßnahmen ergreifen, um die Störungen auszugleichen, die unvermeidlich durch ihre Tätigkeit des Beobachtens ausgelöst werden. Eine Verletzung der Ersten Direktive ist daher immer eine Frage des Ausmaßes. Aber es gibt solche und solche Verletzungen. In der Folge ›The Drumhead‹ droht Admiral Norah Satie damit, Picard vor Gericht zu bringen, weil er die Erste Direktive nicht weniger als neunmal verletzt hat. Lieutenant Worf verteidigt ihn ohne jedes Zögern und sagt: »Captain Picard hat nur das getan, was er tun mußte.« Dann nennt er dem Gericht verschiedene Beispiele für Picards Entscheidungen, mit denen er sein Schiff retten konnte. In dieser speziellen Episode, auf die ich später noch einmal genauer eingehen werde, wird die Richterin diskreditiert, und Picard muß nie persönlich vor Gericht erscheinen. Doch ihre Vorwürfe sind keineswegs unbegründet. Picard hat die Erste Direktive tatsächlich mindestens neunmal verletzt, aber in jedem Fall hatte er einen völlig berechtigten und vernünftigen Grund für diese Entscheidung. In jedem Fall gründet sich seine Entscheidung zum
Teil auf abstrakte Prinzipien und zum anderen Teil auf persönliche Beweggründe. Er berücksichtigt die besondere Situation und die Sicherheit seines Schiffes und seiner Besatzung. Es gibt keinen Fall, in dem Picard – wie auch schon Kirk – die Erste Direktive über die Unversehrtheit seines Schiffes gestellt hätte. Statt dessen schließen beide Captains eine Reihe von mehr oder weniger guten Kompromissen, die den Einfluß der Föderation auf die Galaxis minimieren sollen. Trotzdem machen sie Fehler, doch in der Zeitspanne von Kirk bis Picard hat die Föderation versucht, aus diesen Fehlern zu lernen und die Anwendung ihrer Direktive zu perfektionieren, auch wenn diese Lösungen aufgrund der inneren Widersprüchlichkeit des Prinzips niemals perfekt sein können. In der ersten Serie gibt es zahlreiche Verstöße gegen die Erste Direktive. In dieser Hinsicht wird James T. Kirk seinem zweiten Vornamen Tiberius gerecht – einem römischen Kaiser des ersten Jahrhunderts, den die Geschichte als Mann beschreibt, der einfach das getan hat, was er wollte, ohne auf Konsequenzen Rücksicht zu nehmen. Allerdings muß gerechtigkeitshalber erwähnt werden, daß Kirk und seine Besatzung oft sehr viel Zeit darauf verwenden müssen, um Schäden zu beheben, die durch frühere Verletzungen der Ersten Direktive angerichtet wurden. In der Folge ›Patterns of Force‹ hat ein Historiker der Föderation ein gesellschaftliches System nach dem Vorbild des deutschen Nationalsozialismus begründet. In ›A Piece of Action‹ hat jemand ein Buch über Gangster im Chicago der zwanziger Jahre auf einem Planeten zurückgelassen, dessen Bewohner daraufhin ihre Gesellschaft danach ausrichten. Doch in vielen anderen Folgen haben Kirk und seine Besatzung selbst den Schaden verursacht. Ein sehr häufiges Muster in der Originalserie ist das ›Utopia mit kleinen Fehlern‹. In diesen Geschichten stößt Kirk auf eine friedliche, aber totalitäre Gesellschaft. Je genauer er sich den Planeten ansieht, desto weniger gefällt er ihm, und schließlich kann er sich kaum zurückhalten, im Namen der Freiheit die Regierung zu stürzen. In ›The Return of the Archons‹ erschüttert er eine geordnete
Gesellschaft, nur weil sie für seinen Geschmack ein wenig zu autoritär ist. In ›A Private Little War‹ rüstet er einen Stamm auf einem primitiven Planeten mit Waffen aus. Gewöhnlich rechtfertigt Kirk in diesen Folgen seine Handlungen damit, daß sie zur Rettung seines Schiffes oder eines Besatzungsmitgliedes dienen. Doch in vielen anderen Episoden stellen seine Taten einen offenen Verstoß der Direktive dar. In ›The Omega Glory‹ findet Kirk heraus, daß die Klingonen eine Fraktion auf einem kriegerischen Planeten mit neuen Waffen und hochentwickelter Technik versorgen. Diese Situation eröffnet Kirk mehrere Handlungsmöglichkeiten: Er könnte die Waffen beschlagnahmen, sich den Klingonen im Weltraum stellen oder sich sogar zurückziehen. Aber er entscheidet sich dafür, die Gegenseite mit ebenbürtigen Waffen auszurüsten. Seine Handlung dient nicht der Bekräftigung der Ersten Direktive, sondern der Wahrung des Gleichgewichts der galaktischen Mächte. Wie wir in Kürze sehen werden, ist dies vielleicht die wichtigste Mission der StarfleetRaumschiffe. In The Next Generation wie schon in der Originalserie verliert die Erste Direktive angesichts des Gleichgewichts der Mächte immer mehr an Bedeutung. Es gibt jedoch einen mildernden Umstand, der unsere Beachtung verdient. Und zwar geht es um den Geltungsbereich der Ersten Direktive. Die Erste Direktive ist natürlich ein Gesetz, und Gesetze besitzen in der Regel keine Gültigkeit außerhalb der Gesellschaft, die sie erlassen hat. Doch für die Föderation ist die Erste Direktive viel mehr als nur ein Gesetz, das für das Territorium der Föderation gilt. Die Erste Direktive soll vielmehr für die ganze Galaxis Gültigkeit besitzen. Diese Tatsache macht sie zu einem einzigartigen Gesetz, da seine Gültigkeit nicht auf ein bestimmtes Territorium beschränkt ist. Gebiete, die auf unserem eigenen Planeten keiner legalen Gesetzgebung unterstanden, fielen in der Geschichte immer in den Zustand totaler Anarchie. Außerhalb der Zivilisation, an der äußersten Grenze, sind die Konventionen des Gesetzes und der Diplomatie nur schwer aufrechtzuerhalten. In den meisten Western geht es
beispielsweise um die Herstellung von Gerechtigkeit am Rande der Zivilisation, wo keine offizielle Rechtsprechung existiert. Auf die gleiche Weise muß James Tiberius Kirk die Erste Direktive häufig unter Wildwest-Bedingungen aufrechterhalten, wenn er weit und breit der einzige Vertreter von Recht und Gesetz ist. Unter Idealbedingungen wäre die Erste Direktive nur schwer durchzusetzen, doch unter den Extrembedingungen des Grenzbereichs erfordert die Erste Direktive eine geradezu heldenhafte Zurückhaltung, zu der Kirk nicht immer imstande ist. Es gibt einen guten Grund, warum es Kirk und seine Besatzung immer wieder in den Wilden Westen zu verschlagen scheint. Denn der Weltraum ist in der Tat der Wilde Westen der Zukunft, und die Durchsetzung der Ersten Direktive erinnert an die Durchsetzung von Recht und Gesetz im Amerika der Pionierzeit. Und wie wir gesehen haben, bewirken diese Bedingungen, daß Starfleet bei der Erfüllung der Allgemeinen Order Nr. 1 nicht sehr gut abschneidet. Die zweite Serie weist in dieser Hinsicht einen gewissen Fortschritt auf. Doch auch in The Next Generation kommt es zu Verletzungen der Ersten Direktive. Allerdings sind sie weniger auf die nachlässige Anwendung des Prinzips zurückzuführen, wie dies in der ersten Serie der Fall war. Hier liegen den Verstößen vielmehr die inneren Widersprüche des Prinzips zugrunde, der irrigen Annahme, daß es einem Beobachter möglich sei, jeden Einfluß auf die beobachtete Situation zu vermeiden. In der Folge ›Justice‹ besucht Wesley Crusher einen Vergnügungsplaneten und wird wegen eines geringfügigen Vergehens zum Tode verurteilt, worauf die Enterprise eingreifen muß, um ihn zu retten. In ›Pen Pals‹ unterhält Lieutenant Commander Data eine Brieffreundschaft mit einem kleinen Mädchen auf einem fernen Planeten; er kommt ihr zu Hilfe, als er erfährt, daß ihre Welt sterben wird. In ›The Masterpiece Society‹ rettet die Enterprise einen Planeten vor einem Asteroiden, um dann festzustellen, daß durch diesen Eingriff die Kultur des Planeten unwiderruflich verändert wurde. Wenige dieser Zwischenfälle hätten sich durch
einen Verzicht auf jeden Kontakt vermeiden lassen, und angesichts des Grundauftrags von Starfleet, das Universum zu erforschen, wären sie vermutlich überhaupt nicht zu vermeiden gewesen. In ›Who Watches the Watchers?‹ liegt eine ganz andere Situation vor. In dieser Folge hat Starfleet bewußt eine getarnte anthropologische Forschungsstation auf Mintaka Drei errichtet, dessen primitive Kultur nichts von der Existenz anderer Welten ahnt. Als einige Mintakaner auf die Station stoßen, erleidet einer von ihnen Verbrennungen und wird in die Krankenstation gebeamt, wo er nach dem Aufwachen Captain Picard sieht und erkennt, daß er den Verantwortlichen vor sich hat. Nach der Rückkehr auf seinen Planeten erzählt er den Bewohnern seines Dorfes, daß er von einem Gott namens ›Der Picard‹ geheilt wurde. Schließlich muß sich Picard persönlich auf den Planeten beamen lassen, um die Angelegenheit mit den Mintakanern zu klären. Dort zielt jemand mit einem Bogen auf Picard und versichert den anderen, daß der Pfeil von ihm abprallen wird, weil er ein Gott ist. Doch als der Mintakaner schießt, bohrt sich der Pfeil in Picards Schulter, und der Captain stürzt zu Boden. Der Bann ist zumindest vorläufig gebrochen, und die Mintakaner erkennen allmählich, daß die Besatzung der Enterprise nicht aus Göttern, sondern aus Menschen besteht. Der Schaden, den die Anthropologen angerichtet haben, wurde behoben – zumindest hofft man es. In dieser Folge wird die Situation der Anthropologen genauer beleuchtet. Zur Erfüllung seiner Aufgabe muß jeder Anthropologe eine Gesellschaft über einen verhältnismäßig langen Zeitraum beobachten. Anthropologen verbringen regelmäßig Jahre mit der Feldforschung, manchmal sogar Jahrzehnte. Anthropologen sind Beobachter, die in der Kultur leben, die sie studieren, und dabei werden sie immer wieder mit Problemen konfrontiert, wie wir sie bereits im Zusammenhang mit der Interpretation und Anwendung der Ersten Direktive besprochen haben. Sie nehmen die Position des Überlegenen ein
und halten sich nicht mit ihrer Neugier zurück. Und vor allem nehmen sie die unmögliche Position eines Beobachters ein, der versucht, keinen Einfluß auf das Beobachtete zu nehmen. Jede anthropologische Forschung ist im Grunde eine Verletzung der Ersten Direktive, und in einer Szene der Episode macht einer der Anthropologen Picard einen aufschlußreichen Vorschlag. Der Schaden durch die Verletzung der Ersten Direktive ist angerichtet, sagt er zu ihm. Also kann er den Ureinwohnern genausogut Richtlinien geben und ihnen mitteilen, was der Aufseher von ihnen erwartet. Damit ist die Beobachtung gescheitert, denn dieser Anthropologe würde alles tun, um zu gewährleisten, daß er seine Studien fortsetzen kann, auch wenn er dadurch bewußt und unwiderruflich die Entwicklung der Gesellschaft verändert, die er beobachtet. In ›Who Watches the Watchers?‹ haben sich die Anthropologen im Schutz des einseitig durchsichtigen Spiegels zu Anfang vielleicht sicher gefühlt, doch nachdem der Spiegel zersprungen ist, beeinflussen sie völlig unbefangen eine Kultur auf nachhaltige Weise, indem sie die Grundlagen ihres religiösen Glaubens verändern. Die Folgen anthropologischer Forschung auf Mintaka sind beinahe katastrophal, und die Anthropologen auf diesem Planeten schlagen eine geradezu alptraumhafte Verletzung der Ersten Direktive vor: Starfleet soll die Rolle einer göttlichen Macht übernehmen, die über technisch unterlegene Kulturen herrscht. Picard wendet die drohende Katastrophe dadurch ab, daß er den Mintakanern seine Sterblichkeit demonstriert. Als er erkennt, daß die Mintakaner seiner Versicherung, er sei ›nur ein Mensch und nicht mehr‹, nicht glauben, ermutigt er einen Bogenschützen, auf ihn zu schießen. Der Pfeil trifft Picard in die Schulter und läßt ihn zu Boden stürzen. Die Demonstration scheint gelungen, denn nachdem Picard verwundet ist, nähern sich ihm die Mintakaner ohne Angst oder Ehrfurcht. Das Problem ist jedoch, daß die Tötung oder Verstümmelung eines Gottes zu den am tiefsten verwurzelten religiösen Ritualen gehört. Primitive Gesellschaften vollziehen einen Akt des Vertrauens, wenn sie ihren Gott töten,
damit der Gott anschließend seine Macht zur Wiederauferstehung demonstrieren kann. Einen Moment lang liegt ›Der Picard‹ in dieser Folge schwer verwundet da. Es besteht kein Zweifel an seiner Sterblichkeit. Picard entfernt nicht auf magische Weise den Pfeil aus seiner Schulter, so daß die Mintakaner nun seine Sterblichkeit zu erkennen scheinen. Doch es bleibt die Frage, was geschehen wird, wenn die Enterprise davonfliegt und dieses Ereignis mit Picard zu einem Teil der mintakanischen Mythologie wird. In der Episode findet nur die erste Hälfte des Rituals statt, nämlich die scheinbare Tötung des Gottes. Die zweite Hälfte jedoch, die Wiedergeburt des Gottes in seiner ganzen erschreckenden Macht, wird völlig unterschlagen. Eine Schlußszene der Folge zeigt Picard auf der Planetenoberfläche, nachdem er in der Krankenstation durch Dr. Beverly Crusher auf wundersame Weise geheilt wurde. Niemand kann wissen, ob die Mintakaner die Vorstellung eines übermächtigen, aber trotzdem sterblichen Wesens annehmen werden. In dieser Episode geht es um die Tendenzen einer primitiven Gesellschaft zur Mythenbildung, und es besteht immerhin die Möglichkeit, daß die Mintakaner diesen speziellen Mythos mit der gewohnten Auflösung versehen werden, indem sie ›Den Picard‹ zum Schluß wieder in den Status eines Gottes erheben. Es hat nur diesen einzigen Kontakt zwischen den Mintakanern und der Föderation gegeben. Ohne weitere Kontakte ist es äußerst wahrscheinlich, daß sie zu ihrem gewohnten mythischen Weltbild zurückkehren werden. Doch der Schaden ist angerichtet, und zwar hauptsächlich durch einfache Beobachtung. Eine in der Episode benutzte Bezeichnung deutet klar auf die Gewalt hin, die sich hinter jeder Beobachtungstätigkeit verbirgt. In ›Who Watches the Watchers?‹ leben die Anthropologen in einer Station, die von allen als ›Hochsitz‹ bezeichnet wird, ein sehr aufschlußreicher Name für einen Beobachtungsposten. Ein Hochsitz ist ein erhöhtes Versteck, von dem aus Jäger auf Wild schießen. Die Jäger sehen das Wild, aber das Wild sieht die Jäger nicht, so daß es
ahnungslos erlegt werden kann. Der Hochsitz wird hier als Metapher für die Gewalt benutzt, die jeder Beobachtungstätigkeit implizit ist. Der Hochsitz ist nicht nur Beobachtungsposten, sondern auch Schießstand. In ›Who Watches the Watchers?‹ soll damit angedeutet werden, daß die Beobachter der Mintakaner keineswegs neutral sind. Es sind interessierte Beobachter, die eine große Zerstörungskraft entwickeln können. Die Geschichte der Anthropologie ist voller Beispiele für Anthropologen, die eine Kultur entdecken, um diese Entdeckung für politische oder wirtschaftliche Zwecke auszunutzen. Nach jahrelanger Isolation kann eine solche Kultur unter dem plötzlich Druck intensiver Untersuchung sehr leicht zusammenbrechen. So ist es mit den Tupi in Brasilien geschehen. Häufig wird die Kultur völlig ausgelöscht, bevor sie die Chance hat, sich der größeren globalen Gesellschaft anzuschließen, wie es bei den Guaranen in Paraguay der Fall war. Ein ähnliches Schicksal könnte den Mintakanern bevorstehen, deren Entwicklung unwiderruflich von den Anthropologen der Föderation auf ihrem Hochsitz verändert wurde. Am Schluß der Episode verläßt die Enterprise den Planeten, um den Schaden für die Mintakaner in Grenzen zu halten. Wir erfahren nie, was weiterhin mit den Mintakanern geschieht, doch die in dieser Folge benutzte Metapher für die Beobachtung, der Hochsitz, gibt eine klare und recht krasse Wertung. Demnach ist jede Beobachtungstätigkeit gleichzeitig eine beeinflussende und häufig sogar gewaltsame Tätigkeit. Die Notwendigkeit einer Tarnvorrichtung (hier wird sie als holographischer Generator bezeichnet) ist wiederum ein deutlicher Wink, denn in Star Trek werden Tarnvorrichtungen ansonsten nur von nicht vertrauenswürdigen Spezies und Völkern eingesetzt. Diese Episode geht sehr genau auf die Probleme der Selbstbeschränkung von Starfleet ein, doch letztlich stellt der Titel ›Who Watches the Watchers?‹ selbst die eindringlichste Frage: Wer beobachtet die Beobachter? Die Antwort lautet, daß die Beobachter sich selbst beobachten sollen, daß sie ihr Verhalten am zentralen Grundsatz der Föderation, an der Ersten
Direktive ausrichten sollen. Im Grunde soll die Erste Direktive den Beobachtern dabei helfen, sich selbst zu beobachten. In der Praxis können sich nur die Beobachter selbst beobachten. Die Erste Direktive besagt eindeutig, daß primitive Kulturen nicht beeinflußt werden dürfen, doch in der Praxis suchen die Mitglieder von Starfleet ständig nach Schlupflöchern in diesem Gesetz. Die Anthropologen in ›Who Watches the Watchers?‹ müssen geglaubt haben, daß sie hinter ihrer Tarnvorrichtung unsichtbar und in Sicherheit seien, doch als die Tarnung versagte, veränderten sie damit auf nachhaltige Weise das Weltbild der Gesellschaft, die sie beobachteten. Eine primitive Kultur lebt in verhältnismäßig sicherer Isolation. Eine Gesellschaft wird nur dann zu einer ›unterentwickeltem Kultur‹, wenn sie sich bewußt wird, daß es anderswo im Universum fortgeschrittenere Kulturen gibt. Starfleet transformiert ständig primitive Gesellschaften in unterentwickelte, indem diesen Gesellschaften bewußt gemacht wird, was sie nicht besitzen, um ihnen dann diese Dinge gemäß der Ersten Direktive vorzuenthalten. Eine primitive Gesellschaft kann in der Isolation mit sich selbst zufrieden sein. Doch eine unterentwickelte Gesellschaft ist sich schmerzlich dessen bewußt, daß es andere im Universum gibt, denen es viel besser geht, die einen Lebensstandard genießen, der für sie unerreichbar ist. ›Who Watches the Watchers?‹ endet damit, daß Picard den Mintakaner sagt, sie müßten noch viele Jahrtausende warten, um in den Genuß einer Kultur zu kommen, wie sie die Föderation repräsentiert. Dann läßt er sie mit dem neuen Bewußtsein der Unterlegenheit zurück. Für die Mintakaner wird nichts mehr wie früher sein. Jetzt werden sie sich als unterentwickelte Gesellschaft betrachten und plötzlich Bedürfnisse nach Dingen entwickeln, von denen sie wissen, daß sie andernorts im Überfluß vorhanden sind. Der Gerechtigkeit halber sollte erwähnt werden, daß die Föderation die Erste Direktive manchmal besser anwendet als in ›Who Watches the Watchers?‹. In der Folge ›Justice‹ gelingt es ihr zumindest, den Anschein von Respekt vor Gesetzen und Sitten
anderer Kulturen zu wahren. Aber in keinem Fall verläuft eine Einflußnahme durch die Föderation ausschließlich zum Wohl der Betroffenen. Ein Kontakt zieht immer einen Konflikt nach sich, und dieser Konflikt kann im Fall eines Erstkontakts besonders verheerend sein, wie wir am Beispiel von ›Who Watches the Watchers?‹ gesehen haben. Doch man kann Picard und seiner Besatzung kaum einen Vorwurf machen, weil es ihnen nicht gelingt, einem unerreichbaren Ideal zu entsprechen. Wenn ein Diplomat die Erste Direktive buchstabengetreu befolgen würde, gäbe es kaum eine Gelegenheit für irgendeinen Kontakt zwischen verschiedenen Spezies, weil die einzige Möglichkeit zur Vermeidung von Kontakt und Konflikt die Einstellung jeglicher Erkundung wäre. Die Enterprise befindet sich auf einer diplomatischen Mission, und das Ziel der Diplomatie ist nicht die Beobachtung, sondern die Einflußnahme. Jede diplomatische Tätigkeit hat mit Kontakten, Verhandlungen und Kompromissen zu tun. Und es gibt Situationen, in denen die Diplomatie versagt. Die Föderation kann sich mühelos behaupten, wenn sie mit Kulturen wie den Mintakanern zu tun hat, doch die Erste Direktive verliert im Star Trek-Universum häufig ihre Bedeutung, da nicht alle Gesellschaften, mit denen die Enterprise Kontakt aufnimmt, auf einem niedrigeren Entwicklungsstadium stehen. Es kommt immer wieder zu Kämpfen mit Klingonen, Romulanern und Cardassianern. In erster Linie wird das Star Trek-Universum von gleichrangigen Kulturen bevölkert, deren technische Entwicklung auf dem gleichen Niveau wie die Föderation steht. Kontakte mit diesen Kulturen führen zu völlig andersartigen Konflikten, die durch das Gleichgewicht der Mächte reguliert werden.
2 Die Föderation ist nicht das einzige politische Gebilde in der Galaxis. Die Föderation ist zwar die einzige ›Föderation‹, der einzige freiwillige Zusammenschluß verschiedener Welten, doch
sie ist umringt von Zivilisationen, die sich selbst als Imperien bezeichnen und entsprechend vom Motiv der imperialen Expansion bestimmt sind. Diese Gesellschaften repräsentieren eine lange Liste der üblichen Rechtfertigungen für die Gründung eines Imperiums. Das Motiv der Ferengi ist das Streben nach Reichtum. Das Motiv der Klingonen ist die Ehre. Das Motiv der Cardassianer und Romulaner ist die Macht. Jede dieser Kulturen ist technisch genauso hoch entwickelt wie die Föderation. Wenn das Universum nicht von ebenbürtigen Konkurrenten der Föderation bevölkert wäre, würde die Erste Direktive nur eine Abwandlung der alten Vorstellung von der Verantwortung des weißen Mannes darstellen, nach der eine Rasse die Bürde tragen muß, alle anderen zu beherrschen. Einige Folgen der Originalserie kommen dieser Idee recht nahe, daß die Föderation als unsichtbare und wohltätige Macht auftreten sollte. In The Next Generation jedoch befindet sich die Föderation in einem Universum, wo jede Aktion eine gleichwertige Reaktion nach sich ziehen kann. Das Wissen über die Galaxis hat sich von der Originalserie zu The Next Generation deutlich erweitert. Bei mehreren Gelegenheiten erfahren wir, daß im dreiundzwanzigsten Jahrhundert von James T. Kirk nur vier Prozent der Galaxis kartographisch erfaßt sind. Dieser Wert ist im vierundzwanzigsten Jahrhundert von Jean-Luc Picard auf 17 Prozent angestiegen. Das mag immer noch ein recht kleiner Teil der gesamten Galaxis sein, aber immerhin stellt es eine Steigerung von mehr als 400 Prozent dar. Tatsächlich ist die Galaxis in The Next Generation ein wesentlich stärker bevölkerter Ort. Obwohl die Enterprise immer wieder in unerforschte Regionen vorstößt, ist das Schiff nicht ein einziges Mal völlig im Weltall verloren, es befindet sich niemals auf einer Odyssee im Unbekannten. Jede Episode beginnt mit einem Logbucheintrag des Captains, in dem Datum und Position genau angegeben sind. Selbst wenn die Enterprise in ein Wurmloch gerät oder von Q in eine entlegene Region des Weltraums versetzt wird, kann der
Computer der Besatzung immer sagen, wo sie sich befinden. Die Phase der intensiven Erkundungen scheint größtenteils mit der Originalserie zusammenzufallen. In The Next Generation scheint sich die Föderation auf die Grenzen des erkundeten Raums zu beschränken. In den meisten Episoden bekommt es die Enterprise mit unbekannten Feinden oder Phänomenen zu tun, die zufällig in das Territorium der Föderation geraten sind. Der Enterprise verläßt das Territorium der Föderation nur selten, und dann nur aus schwerwiegenden Gründen. Obwohl der Weltraum unendlich ist und die Enterprise ihn angeblich erforschen soll, scheint die Föderation auf allen Seiten von feindlichen Kulturen, neutralen Zonen und undurchdringlichen Energiebarrieren umgeben zu sein. Einige dieser Kulturen weisen durchaus vertraute Züge auf. Die Romulaner und die Klingonen haben deutliche Vorbilder in unserer eigenen antiken Geschichte. Die alten Römer treten als Außerirdische von einem Planeten namens Romulus auf. Und die Barbaren nennen sich hier Klingonen. (Die Bezeichnung ›Klingonen‹ ist eine ähnliche Lautmalerei wie das altgriechische Wort ›Barbar‹; für die Griechen hörten sich die Sprachen fremder Völker wie ein unverständliches ›Bar-bar-bar‹-Gestammel an.) Die Romulaner haben ihre Raumschiffflotte wie eine römische Legion organisiert und bezeichnen ihre Admirale als Zenturionen. Die Klingonen gehören einer kriegerischen Gesellschaft an, deren Kostümierung und Ehrenkodex an die germanischen Stämme erinnert, gegen die die Römer in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten an den Grenzen ihres Imperiums kämpften. Auch in der Serie sind diese beiden Völker unversöhnliche Feinde, genauso wie es die Römer und die Barbaren waren. Die innere Organisation dieser Kulturen ist in vielen Folgen von The Next Generation thematisiert. Doch je mehr wir über sie erfahren, desto sympathischer werden sie und desto weniger eignen sie sich als potentielle Feinde der Föderation. Dies scheinen die Produzenten von The Next Generation erkannt zu haben, als sie mit den Cardassianern ein neues Volk einführten, das nun zur
größten Nemesis der Föderation wurde. Wir begegnen den Cardassianern zum ersten Mal in der Folge ›The Wounded‹. Ähnlich wie bei den Klingonen und Romulanern läßt sich kein genauer Moment des Erstkontakts angeben. Der Erstkontakt ist eine Erfahrung, die sich auf die Begegnung mit unterentwickelten oder völlig nichtmenschlichen Zivilisationen beschränkt. Der Kontakt mit Ebenbürtigen führt unmittelbar zur Rivalität, und die Erste Direktive scheint plötzlich null und nichtig. In dieser Episode ist ein abtrünniges Föderationsraumschiff unter Captain Benjamin Maxwell in das Reich der Cardassianer eingedrungen, um dort cardassianische Schiffe und Stationen zu zerstören. Starfleet bemüht sich verzweifelt darum, das Gleichgewicht der Mächte in dieser Region wiederherzustellen, und ist sogar bereit, Maxwell, einen Kriegshelden, zu opfern, um den Frieden zu erhalten. Als die Enterprise schließlich auf Maxwells Schiff, die Phoenix, stößt, läßt sich Maxwell an Bord beamen und erzählt Picard, daß die Cardassianer eine wissenschaftliche Station im Cuellar-System als heimlichen Militärstützpunkt benutzen. Um den Waffenstillstand zu erhalten und einen Krieg zu verhindern, verhaftet Picard den Captain und eskortiert die Phoenix zurück in den Föderations-Raum. Auch wenn Maxwell ein Abtrünniger ist, handelt er im Verlauf der Episode nach einem bestimmten Wertesystem. In ›The Wounded‹ ist Picard gezwungen, mit Gul Macet zu kooperieren, sein ebenbürtiges Gegenstück bei den Cardassianern. Zwischen ihnen entwickelt sich ein stillschweigender Respekt, als sie gemeinsam feststellen, daß abtrünnige Helden wie Benjamin Maxwell im vierundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß sind. »Ihm geht es um Rache«, sagt Macet, nachdem er mit dem Transporterchef Miles O’Brien gesprochen hat, der gemeinsam mit Maxwell Zeuge eines cardassianischen Angriffs auf Setlik Drei wurde. Gemeinsam schaffen es Picard und Macet, Maxwell aufzuspüren und ihn davon abzuhalten, ein cardassianisches Versorgungsschiff zu zerstören. Kurz bevor er
aufgibt, singt Maxwell ein Lied, das die ganze Episode wie ein Leitmotiv durchdringt. Es handelt sich um eine alte irische Ballade mit dem Titel The Minstrel Boy, in dem ein fahrender Sänger mit Harfe und dem Schwert seines Vaters in den Krieg zieht. Darin kommt zum Ausdruck, daß der traditionelle Heldenkodex angesichts der Probleme einer modernen politischen Welt unzulänglich geworden ist. Im Lied findet der junge Sänger als letzter Krieger der Welt einen sinnlosen und einsamen Tod. Von allen Spezies in Star Trek unterwerfen sich nur noch die Klingonen einem ähnlichen Heldenkodex mit den Tugenden der Ehre, der Treue und der Tapferkeit. Doch immer wieder geraten die Klingonen in Star Trek an den Rand der Selbstzerstörung. Sie sind kaum dazu fähig, ihre eigenen Probleme zu lösen. Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind mangelhaft. Auf ihrer Heimatwelt herrscht ein Chaos aus Privatfehden zwischen verfeindeten Familienclans. Lieutenant Worf handelt auf typisch klingonische Weise, wenn er in fast jeder Folge einen aggressiven Angriff vorschlägt. Als Zuschauer entwickeln wir allmählich Respekt vor Worfs Idealen, doch wir bemerken gleichzeitig, daß Captain Picard fast nie seinen Rat annimmt. Wenn es nach Worf gegangen wäre, hätte sein Heldenkodex mit ziemlicher Sicherheit längst zur Zerstörung der Enterprise geführt. Die Macht der Klingonen in der Galaxis zerbröckelt; sie gehören nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Genauso wie Worf und die übrigen Klingonen repräsentiert Captain Benjamin Maxwell eine aussterbende Lebensart. Er ist wie der junge Sänger im irischen Lied, das er immer wieder singt. Indem er einen Heldenkodex aufrechtzuerhalten versucht, der nicht mehr in die Gegenwart paßt, besiegelt er sein Ende. Die Cardassianer und die Föderation leben in einem anderen politischen Universum, das von den Geboten des Gleichgewichts der Kräfte bestimmt wird. In unserer eigenen Weltgeschichte setzte ein solches Gleichgewicht der Mächte voraus, daß keine der Nationen in der Lage war, die andere vollständig zu besiegen. Eine solche Situation entwickelt sich meistens nur sehr langsam.
Das offensichtliche Bild eines solchen Gleichgewichts ist eine sorgfältig ausbalancierte Waage, und eine Situation, in der die politische Macht zweier Gruppen in der Balance gehalten wird, ist meistens das Resultat zahlreicher Feinabstimmungen. Wie es diesem Bild entspricht, befand sich die Föderation oft im Krieg mit den Klingonen, Romulanern und Cardassianern, doch zur Zeit von The Next Generation liegen alle diese Kriege in der Vergangenheit. Der gegenwärtige Frieden ist das Ergebnis vieler Vereinbarungen, bei denen die Grenzen in der Galaxis festgeschrieben wurden. Unter den Bedingungen eines Gleichgewichts der Mächte suchen die rivalisierenden Parteien keinen intensiven Kontakt miteinander. Neutrale Zonen zwischen der Föderation und den Einflußbereichen der Klingonen und Romulaner wurden im Zuge der Waffenstillstandsabkommen als Puffer eingerichtet, um ebendiesen Kontakt zu vermeiden. Als wir den Cardassianern in der Folge ›The Wounded‹ begegnen, ist das Gleichgewicht bereits hergestellt und austariert worden. Das Ziel besteht nicht darin, die Dinge zu verbessern oder zu verschlechtern, sondern sie so zu lassen, wie sie sind. Der unverwüstliche und aggressive James T. Kirk der Originalserie ist durch Jean-Luc Picard ersetzt worden, einen kleineren und älteren Mann. Obwohl Picard ein meisterhafter Diplomat ist, erleben wir ihn nur selten bei der Aushandlung eines neuen Friedensvertrages. (In The Next Generation wird diese Aufgabe gewöhnlich von spezialisierten Vermittlern übernommen.) Es ist nicht Picards Aufgabe, Frieden zu schließen, sondern das Gleichgewicht der Mächte zu wahren. Seine Tätigkeit beschränkt sich oftmals darauf, die verschiedenen Mächte der Galaxis an bestimmten Handlungen zu hindern, damit die Konfliktsituationen nicht eskalieren. Genau dies geschieht in der Folge ›Chain of Command‹. Diese Folge besteht aus zwei Teilen, in denen zwei verschiedene Ansichten dargestellt werden, wie in Star Trek mit dem Gleichgewicht der Mächte umgegangen wird. Im ersten Teil von ›Chain of Command‹ geht es um eine typische Geschichte mit
Spionen, Geheimwaffen und subtiler Diplomatie. Der zweite Teil führt uns viel tiefer in das Problem des Gleichgewichts der Mächte ein. Hier wird die Funktion dieses Gleichgewichts gezeigt, indem Picard und Gul Madred in der Abgeschlossenheit einer Folterkammer miteinander konfrontiert werden. Der erste Teil von ›Chain of Command‹ beginnt damit, daß der Starfleet-Geheimdienst Beweise gefunden hat, daß die Cardassianer ›metagenetische‹ Waffen entwickeln. Das sind biologische Waffen, die eine Atmosphäre vergiften und daraufhin jede Form von DNS zerstören können. Starfleet ist davon überzeugt, daß die Cardassianer auf dem Planeten Celtris Drei eine neue Methode zur Verbreitung von metagenetischem Material getestet haben. Deshalb wird ein Einsatzteam aus Picard, Worf und Crusher dorthin geschickt, um das militärische Labor zu zerstören. Das Unternehmen scheitert, und Picard wird gefangengenommen. Worf und Crusher kehren auf die Enterprise zurück, wo der neue Captain Edward Jellico die Verhandlungen mit den Cardassianern führt. Jellico will nicht zugeben, daß sich Picard auf einer Mission der Föderation befand, und der cardassianische Vertreter Gul Lemec will keine Fragen zu den Einrichtungen auf Celtris Drei beantworten. Mißtrauen beherrscht die Stimmung. Dieser Teil der Folge vermittelt überzeugend die harte Realität eines Konflikts zwischen zwei Supermächten, der kaum durch Diplomatie in Schach gehalten werden kann. Die Weltraumszenen während der Verhandlungen zeigen die Enterprise neben zwei Galor-Kriegsschiffen der Cardassianer. Dieses Bild, das fast genau so in vielen anderen Folgen mit Romulanern und Klingonen zu sehen ist, vermittelt Spannung, ohne daß etwas geschieht. Die Raumschiffe verfügen über immense Feuerkraft, und das Ziel beider Seiten besteht darin, den anderen zu hindern, sie einzusetzen. Die großen Mächte der Galaxis stehen sich am Rand eines tiefen Abgrunds gegenüber. Der erste Teil von ›Chain of Command‹ endet mit dieser Pattsituation. Wenn es sich um eine gewöhnliche Folge von Star
Trek gehandelt hätte, wäre am Ende einfach die metagenetische Waffe entdeckt und zerstört worden. Lieutenant Geordi LaForge hätte irgendwie die Quelle einer Strahlung lokalisiert, oder Commander William Riker hätte die Cardassianer durch einen Trick dazu gebracht, die Position der Waffe zu verraten. Doch in diesem Fall gibt es gar keine metagenetische Waffe. Die Cardassianer haben dieses Gerücht verbreitet, weil sie genau wußten, daß die Föderation Picard schicken würde, der während seiner Zeit auf der Stargazer ausführliche Tests mit Trägerwellen im Theta-Spektrum durchgeführt hat. Die Cardassianer haben nicht der Föderation, sondern Picard eine Falle gestellt. Während des zweiten Teils von ›Chain of Command‹ befindet sich Picard die meiste Zeit in einem Verhörzimmer. Er ist an einen Stuhl gefesselt und wird von einem cardassianischen Inquisitor namens Gul Madred gefoltert. Von der Enterprise betrachtet, wirken die Dinge groß, während das Gespenst eines galaktischen Krieges heraufbeschworen wird, doch im Verhörzimmer wirkt alle sehr klein und sehr persönlich. Picards Folter ist eine der gewalttätigsten Szenen der gesamten Star Trek-Serie. Sie beginnt damit, daß Picard unter dem Einfluß einer Wahrheitsdroge jede Frage beantwortet, die ihm gestellt wird. Zu Anfang trägt Picard eine Augenbinde, und seine Hände sind gefesselt. Dann wird ihm ein winziges Gerät implantiert, das in jedem beliebigen Teil seines Körpers Schmerzen erzeugen kann. Darauf wird er entkleidet und an einem Metallgestell aufgehängt. Die Spannung wächst mit jeder weiteren Szene, weil wir nach einer gewissen Zeit wissen, daß Picard nicht wegen bestimmter Informationen gefoltert wird. Unter der Einwirkung der Droge hat er Gul Madred bereits alles erzählt, was er über die Mission auf Celtris Drei weiß. Doch Madred foltert Picard trotzdem weiter – aus Prinzip oder vielleicht aus reinem Vergnügen. In einer besonders erschreckenden Wendung erweist sich Picards Inquisitor als kultivierter und zivilisierter Mann. Er ist ein Feinschmecker, der Picard eine cardassianische Delikatesse
anbietet, gekochtes Taspar-Ei. Madred teilt Picards Interesse an der Archäologie und fragt ihn, ob er gerne die hebitianischen Grabkammern auf Cardassia Prime besuchen würde. In gewisser Weise ist Madred sogar ein Ästhet. Irgendwann sagt er etwas noch Außergewöhnlicheres zu Picard, als sie über seine Erfahrungen mit Haft und Folter sprechen – und Madred ihm anbietet, diese Erfahrung auf ›zivilisierte‹ Weise zu erleben. In dieser Szene kommen sich Zivilisation und Barbarentum äußerst nahe. Madred spricht nicht etwa bei einem gepflegten Abendessen über Zivilisiertheit, sondern er spricht zu einem Mann, der vor Schmerzen zittert. In unserer Zeit haben sich viele Menschen gefragt, wie es möglich war, daß zivilisierte Deutsche die Todeslager in Auschwitz, Birkenau und Buchenwald errichten konnten. Viele Menschen verstehen nicht, wie deutsche Soldaten das Gemetzel in den Lagern mit Bach und Beethoven, die in ihren Baracken gespielt wurden, und mit den Gärten, die sie außerhalb der Stacheldrähte anlegten, in Einklang bringen konnten. In ›Chain of Command‹ holt Madred schließlich seine Tochter, damit sie sich die Folter von Picard ansehen kann, und spielt mit dem Mädchen und ihrem Haustier, während Picard Todesqualen erleidet. Dieser Kontrast ist schockierend. Das zivilisierte Verhalten eines Vaters, der mit seiner Tochter spielt, und das barbarische Verhalten desselben Mannes, der einen anderen foltert. Diese Szene erinnert uns daran, daß selbst das rationalste Universum gleichzeitig irrationale Züge aufweist. Das Star TrekUniversum mag mit Nahrungsreplikatoren und Warpgeschwindigkeit technisch noch so weit fortgeschritten sein, doch die Serie ruft uns immer wieder ins Gedächtnis, daß auch der technischen Rationalität Grenzen gesetzt sind. Diese Episode versucht zu zeigen, daß selbst in einer Zeitepoche großer technischer Rationalität die Menschen niemals ganz ihre irrationalen Triebe überwinden können. Es gibt keinen Grund für Madred, Picards Folter fortzusetzen. Er will nur seine Macht demonstrieren. Es geht ihm nicht darum, Picard zur Preisgabe von Informationen zu veranlassen, sondern seine Persönlichkeit
zu brechen. Im Verhörzimmer von ›Chain of Command‹ sind die gewaltigen Probleme der interstellaren Diplomatie auf zwei Männer konzentriert, von denen der eine Schmerzen anwendet und der andere sie erlebt. Nach einer gewissen Zeit ist Madred gar nicht mehr an Informationen interessiert, sondern er verfolgt nur noch das Ziel, Picard zu brechen. Dieser Versuch, Kontrolle über die Persönlichkeit des Mannes zu gewinnen, führt zu einer der bemerkenswertesten Szenen der gesamten Serie. Im vierten Akt der Folge deutet Madred auf eine Reihe von Leuchtkörpern an der Wand und fragt Picard, wie viele Lampen er sieht. Es sind vier Lampen, und Picard antwortet, daß er vier sieht. »Ich sehe fünf«, sagt Madred daraufhin und aktiviert das Schmerzgerät, das in Picards Brust implantiert wurde. Madred fügt ihm immer neuen Schmerz zu, doch Picard gibt nicht nach und sagt weiterhin die Wahrheit. »Es sind vier Lampen«, wiederholt er hartnäckig. Selbst im Angesicht des Todes weigert sich Picard, sich selbst zu verleugnen.∗ Das Besondere an dieser Szene ist, daß die Anzahl der Leuchtkörper im Verhörzimmer zufällig ist und nichts mit der politischen Situation zu tun hat. Die Serie konzentriert sich immer wieder auf das Individuum. In Star Trek sind alle Handlungen individuelle Handlungen. Die politischen Probleme in ›Chain of Command‹ werden durch das in den Schatten gestellt, was Madred Picard antut. Es geht nur noch um Schmerzen, die Schmerzen durch Hunger, Wahnsinn und grelles Licht. Die Erfahrung von Schmerz dürfte für ein menschliches Individuum die am meisten mit dem Gefühl der Isolation verbundene Erfahrung sein. Am Ende von ›Chain of Command‹ ist Picard nackt und schreit, aber er ist immer noch er selbst. Jellico und Riker können die Cardassianer dazu zwingen, Picard freizulassen, doch in der letzten Szene der Episode trifft sich der Captain mit ∗
Es handelt sich hier um eine Anspielung auf die berühmte Verhörszene aus George Orwells Roman ›1984‹; Anm. d. Red.
Counselor Deanna Troi im Bereitschaftsraum und gesteht, wie knapp er vor dem völligen Zusammenbruch stand. »Ich war bereit, ihm alles zu sagen, was er hören wollte… einfach alles«, teilt er ihr mit. »Aber das Schlimmste war, daß ich allmählich wirklich daran glaubte, fünf Lampen zu sehen.« Hier wie auch in vielen anderen Episoden besteht der schrecklichste Alptraum der Serie nicht im Zusammenbruch der politischen Stabilität im Quadranten, sondern im Zusammenbruch der inneren Stabilität des Individuums. Das politische Gleichgewicht ist bei weitem nicht so wichtig wie das innere Gleichgewicht eines Individuums. Die zwei Teile von ›Chain of Command‹ zeigen eine deutliche Steigerung: Die Konfrontation der Supermächte im ersten Teil führt zur persönlichen Konfrontation im zweiten Teil. Wir sehen, daß Picard nach einiger Zeit nicht mehr versucht, das Gleichgewicht der Mächte zu erhalten, sondern nur noch seinen eigenen Verstand. Im Namen seines cardassianischen Gegners spiegelt sich dieser Kampf, denn Madred ist eine Zusammenziehung der englischen Wörter madness und dread, ›Wahnsinn‹ und ›Furcht‹, womit die Furcht vor dem Wahnsinn ausgedrückt wird, die in der ganzen Folge präsent ist. Doch zum Schluß wird das Gleichgewicht der Mächte vorläufig wieder hergestellt. Picard wird in die Enterprise zurückgebracht und erholt sich langsam von den Torturen. Die großen Mächte der Galaxis halten sich wieder gegenseitig in Schach, weil sie gleich stark sind. In ›Chain of Command‹ erweist sich die Drohung, daß eine der Seiten die Fähigkeit besitzen könnte, die andere zu vernichten, als Täuschung. Die Cardassianer mögen planen, die Föderation zu erobern, doch zu keiner Zeit haben sie die Absicht, den Waffenstillstand zu brechen, der auch das Verbot eines militärischen Einsatzes genetisch veränderter Viren beinhaltet. Sie sind gar nicht daran interessiert, das Gleichgewicht der Mächte zu stören, sondern sie wollen es wahren. Durch geschickte Täuschungsmanöver versuchen sie, Zeit zu gewinnen. Zu keinem Zeitpunkt wollen sie die Verhandlungen abbrechen. Und sie verfolgen klare und eng umrissene Ziele. In ›Chain of
Command‹ planen die Cardassianer nicht, die Föderation zu erobern, sondern nur einen kleinen Sektor namens Minos Korva. Der Name dieses Sektors zeigt, wie minimal die Drohung der Cardassianer in Wirklichkeit ist. Minos war der König des alten Kreta, der das sagenumwobene Labyrinth erbaute, aus dem es keinen Ausweg gab. Diese Episode endet damit, daß die cardassianische Invasionsflotte sich in der Nähe von Minos in einem Nebel verirrt, in dem ihre Sensoren nutzlos sind. Damit wird angedeutet, daß auch sie in einem Labyrinth gefangen sind. Es gibt keinen leichten Ausweg aus einem Gleichgewicht der Mächte, wenn jede Handlung eine ausgleichende Antwort der Gegenseite nach sich zieht. Wenn die Cardassianer mehr Raumschiffe an die Grenze schicken, wird die Föderation das gleiche tun. Die Metapher des Labyrinths beschreibt, daß es genauso unmöglich ist, aus einer Gleichgewichtssituation auszubrechen, wie den Ausweg aus einem Irrgarten zu finden. Im Universum der hohen Diplomatie scheint jede Handlung tausend unterschiedliche Konsequenzen nach sich zu ziehen. In ›Chain of Command‹ finden pausenlos Konferenzen statt, auf denen die Delegierten beider Seiten darüber debattieren, welcher Schritt als nächster unternommen werden soll. In der ganzen Episode verfolgen die Föderation und die Cardassianer im Grunde genau dasselbe Ziel: Niemand will das Gleichgewicht der Mächte stören, sondern es nur ein wenig zu seinen eigenen Gunsten verschieben. Wir sehen also, daß sich das Universum von The Next Generation zum größten Teil im Zustand der Ausgewogenheit befindet. Zu keinem Zeitpunkt stellt irgendeiner der konventionellen Gegner der Föderation eine echte Bedrohung ihrer Existenz dar. Die wahren Bedrohungen kommen aus einer anderen Richtung. Genauso wie in unserer Welt kommt die einzige Gefahr für die Bedrohung eines Gleichgewichts zwischen Supermächten aus dem Innern. Normalerweise verharren Gesellschaften nicht im Stillstand, wenn sie sich während eines längeren Zeitraums im Kräftegleichgewicht befinden. Sie müssen
sich verändern und sich den Bedingungen des Gleichgewichts anpassen. Ein Ausschlagen der Waage nach der einen oder anderen Seite wird nur selten durch einen direkten Angriff einer Macht auf die andere verursacht, sondern ist fast immer darauf zurückzuführen, daß eine Seite das Gleichgewicht nicht mehr aufrechterhalten kann. Genauso wie im Verlauf des Kalten Krieges, als die Sowjetunion durch ihre inneren Spannungen zusammenbrach, endet ein Gleichgewicht der Mächte in den meisten Fällen durch die innere Auflösung einer der beteiligten Mächte. In Star Trek gerät die Föderation nie in diese Gefahr (nur mit den Klingonen geschieht genau dies im Kinofilm Star Trek VI: The Undiscovered Country), obwohl es in der Serie immer wieder zu potentiell gefährlichen Spannungen innerhalb der Föderation kommt. Auch unter den höchsten Rängen der Föderation herrscht offenbar ständig ein äußerst labiles Gleichgewicht. Jeder Offizier im Rang eines Admirals ist grundsätzlich nicht vertrauenswürdig. In ›Descent‹ versucht Vizeadmiralin Alynna Nechayev Captain Picard dazu zu überreden, eine Massenvernichtungswaffe einzusetzen. In ›Ensign Ro‹ beteiligt sich Admiral Kenelly an einer Verschwörung, die eine Gruppe verschleppter Bajoraner töten will, um die Cardassianer zu beschwichtigen. In ›Conspiracy‹ werden mindestens vier Admirale als Spione entlarvt. Als Gene Roddenberry die Serie Mitte der sechziger Jahre plante, entschied er, daß die Enterprise niemals zur Erde zurückkehren sollte, und zwar aus einem guten Grund: die Führung von Starfleet ist keineswegs eine ideale Organisation. Je weiter wir uns von der Erde entfernen, desto besser wird sie. Die innere Gefahr variiert von Episode zu Episode. Meistens entsteht die Gefahr durch isolierte und sporadische Ereignisse wie in ›The Wounded‹, wo ein abtrünniger Captain mit seinem Schiff einen privaten Rachefeldzug gegen die Cardassianer startet. In ›The Drumhead‹ ist die Situation wesentlich beunruhigender, denn hier kommt die Bedrohung direkt aus dem System. In dieser Episode erzwingt ein weiterer hochrangiger Offizier eine
Konfrontation mit Picard. Die Admiralin a. D. Norah Satie kommt an Bord der Enterprise, um einen Sabotageakt auf das Warptriebwerk des Schiffes zu untersuchen. Sie verdächtigt einen medizinischen Assistenten namens Simon Tarses. Als man ihn befragt, gibt Tarses zu, zum Teil vulkanischer Herkunft zu sein. Als Satie herausfindet, daß er in diesem Punkt gelogen hat, weil er nämlich in Wirklichkeit einen romulanischen Vorfahren hat, beruft sie eine offizielle Untersuchung ein. Diese Verhandlung ist eine juristische Farce. Satie plädiert keineswegs ›im Zweifel für den Angeklagten‹, sondern ist von seiner Schuld überzeugt. Sie benutzt die Ansprache an die Zuschauer dazu, um Druck auf Picard auszuüben, den Angeklagten zu verurteilen. Und sie unterbricht Dr. Crusher, als die Ärztin über Tarses’ guten Charakter spricht. Während einer Verhandlungspause redet Picard mit Worf und vergleicht die Situation mit einem drumhead trial, einem Standgericht, das vor fünf Jahrhunderten von Offizieren vor einer umgedrehten Trommel abgehalten wurde, um mit einem Angeklagten ›kurzen Prozeß‹ zu machen. Als die Anhörung weitergeht, tritt Picard vor die Versammelten und sagt, daß man gegen einen Unschuldigen hetzt. Admiralin Satie droht damit, Picard entfernen zu lassen, wenn er ihr weiterhin im Weg steht. Sie sagt sogar, daß sie bereit ist, gegen jedes Besatzungsmitglied des Schiffes zu ermitteln, beginnend mit Picard. Als Picard sein Besatzungsmitglied Tarses zu verteidigen versucht, geht Satie noch einen Schritt weiter. Sie behauptet, über Beweise zu verfügen, daß Captain Picard die Erste Direktive insgesamt neunmal verletzt hätte. Als Worf seinen Captain zu verteidigen versucht, kritisiert sie seine Fähigkeiten als Sicherheitsoffizier und wendet sich wieder an Picard, dem sie Verrat an der Föderation vorwirft, weil er einmal als Gefangener in der Gewalt der Borg war. Natürlich wird Admiralin Satie das Handwerk gelegt, aber sie hätte es beinahe geschafft, einen geringfügigen Zwischenfall zu einer umfassenden Inquisition auszuweiten. Das erinnert uns daran, daß sich die Vereinte Föderation der Planeten oftmals nicht
sehr von den übrigen Regierungen der Galaxis unterscheidet. Aus der Perspektive der Enterprise scheinen die Klingonen, Romulaner und Cardassianer häufig in der Eigendynamik der Realpolitik gefangen zu sein, in der alles erlaubt ist, was möglich ist. Doch sobald wir über die Enterprise hinausgehen, stellen wir fest, daß die übrige Föderation genauso wie die meisten derartigen Organisationen in unserer Geschichte dazu neigen, so sehr auf ihre Selbsterhaltung zu achten, daß sie den Zweck ihrer Existenz aus den Augen verliert. In der Serie werden die anderen Kulturen in der Galaxis regelmäßig so dargestellt, daß sie als Imperien mit ihrem Handeln ausschließlich eigene Interessen verfolgen. Aber auch die Föderation kann sich bei ihrer unaufhaltsamen Expansion wie ein Imperium verhalten. An dieser Stelle sollte man sich vielleicht daran erinnern, daß die zweite Hälfte des Serientitels, Trek, ein Wort aus dem Afrikaans ist und eine langsame und beschwerliche Reise zu einer neuen Kolonie bezeichnet. Wenn wir daran denken, wie die niederländischen Kolonisten im neunzehnten Jahrhundert auf den afrikanischen Kontinent vordrangen, der bereits von einer Vielzahl von Stämmen bewohnt war, die aus ihrem angestammten Land vertrieben und fast ausgerottet wurden, dann erinnert uns das daran, daß eine Expansion immer auf Kosten anderer geschieht. Die Niederländer und später die Briten mußten ihre Prinzipien aufgeben, um in Südafrika ein Imperium zu errichten, wie ihnen erst viel zu spät bewußt wurde. Unter der Maxime der Apartheid wird das Gesetz zu einer Karikatur. Die Gefahr, in der die Föderation in Star Trek schwebt, ist die Möglichkeit, daß die Erkundung der Galaxis in Wirklichkeit zu einem ›Trek‹ werden könnte, bei dem die Ziele und Ideale der Föderation unterwegs auf der Strecke bleiben. Wenn das Gleichgewicht der Mächte – mit einigen geringfügigen Ausnahmen wie in ›The Drumhead‹ – im Universum von The Next Generation im allgemeinen gewahrt zu bleiben scheint, gibt es dafür einen wichtigen Grund. In der Galaxis sind sich die Spezies sämtlicher Supermächte nämlich alle sehr
ähnlich. Damit kommen wir wieder zur zentralen Voraussetzung von Star Trek: der Dominanz der Humanoiden in der Galaxis. Obwohl es viele nichtmenschliche Lebensformen im Universum gibt, treten die mächtigsten Spezies immer in humanoider Gestalt auf. Die Klingonen und Romulaner und Cardassianer besitzen allesamt ein recht menschenähnliches Aussehen. Selbst der durchtriebene Q und seine Freunde im Kontinuum erscheinen nur in menschlicher Gestalt. Genauso der Reisende. Als die Gestaltwandler des Dominion in Deep Space Nine zu einer Gefahr für die Föderation werden, treten sie immer nur in menschlicher Gestalt auf. Keine nichtmenschliche Spezies tritt in mehr als einer Episode auf. Diese Betonung der humanoiden Gestalt könnte als anthropozentrisch verstanden werden, als Rückkehr zum alten Glauben, daß der Mensch das Zentrum des Universums sei. Doch in Star Trek steht mehr dahinter. Gene Roddenberry hat ein Universum geschaffen, in dem sich die Spezies nicht isoliert voneinander entwickeln, sondern innerhalb eines größeren Beziehungsgeflechts stehen. Auch wenn die Klingonen Stirnwülste aufweisen, die Romulaner spitze Ohren haben und die Cardassianer mit Reptilienhaut ausgestattet sind, so haben doch alle vier Gliedmaßen, zwei Augen auf der Vorderseite des Kopfes und ein wiedererkennbares Gesicht. Dahinter stehen nicht nur die Arbeitsbedingungen der Maskenbildner des Studios. Star Trek ist durchaus in der Lage, Monstren heraufzubeschwören, wenn es sein muß. (Das letzte Kapitel wird sich ihnen widmen.) Es besteht also kein Zweifel daran, daß das Star Trek-Universum ein vertrautes Universum voller Lebewesen mit unvertrauten Gesichtern und vertrauten Gestalten ist. Könnten sie alle miteinander verwandt sein? Einer der großen spekulativen Momente der Serie findet in ›The Chase‹ statt, einer Folge von The Next Generation, die ganz bewußt dem Ursprung der vielen Spezies auf den Grund geht. Professor Richard Galen trifft in der Enterprise ein und bringt ein besonderes Geschenk mit. Der berühmte Archäologe und ehemalige Lehrer von Picard schenkt dem Captain eine
Terrakotta-Statue, die annähernd menschliche Gestalt aufweist. Es handelt sich um einen Naiskos vom Planeten Kurl, der über zwölftausend Jahre alt ist. Die obere Hälfte läßt sich ablösen, worauf ein Hohlraum erkennbar wird, in dem sich ein Dutzend kleinerer Figuren befinden, die die gleiche Form wie das Original aufweisen. Picard erklärt, daß ›die Kurl daran glauben, jedes Individuum sei eine Gemeinschaft aus Individuen… jedes mit eigenen Wünschen und eigenen Ansichten über die Welt‹. Kurz nachdem Galen die Enterprise verlassen hat, wird sein Shuttle von einem yridianischen Zerstörer angegriffen, und er findet den Tod. Die rätselhafte Frage ist nun, warum sich jemand solche Mühe wegen eines Archäologieprofessors macht. Als Dr. Crusher Galens Logbücher durchsieht, stellt sie fest, daß er DNSFragmente von Planeten des gesamten Quadranten gesammelt hat. Nach dem allgemeinen Muster der DNS muß diese über vier Milliarden Jahre alt sein. Offensichtlich hat irgend jemand dieses genetische Material über mindestens neunzehn verschiedene Planeten der Galaxis verstreut und damit die Ursuppe geimpft. Das allgemeine DNS-Muster scheint eine Botschaft von einer uralten und hochentwickelten Zivilisation zu enthalten, eine Botschaft, die im Stoff des Lebens selbst verborgen ist. Die rekonstruierte DNS-Sequenz ruft das holographische Bild eines Humanoiden hervor, der in ein schlichtes Gewand gekleidet ist und erklärt, daß sich das Leben auf seinem Planeten früher als auf allen anderen entwickelte und daß sein Volk dieses genetische Material über die Galaxis verstreute, weil es hoffte, daß es sich eines Tages zu einer harmonischen Gestalt entwickeln würde. Die Hoffnung des Boten, daß die verschiedenen Spezies der Galaxis in gemeinsamem Interesse ins Vilmor-System gekommen seien, erweist sich bestenfalls als naiv und schlimmstenfalls als gefährlich. Sie sind nicht aus unvoreingenommenem Wissensdrang gekommen, sondern weil jeder auf einen Vorteil innerhalb des Gleichgewichts der galaktischen Mächte hofft. Nur Picard erkennt die Möglichkeiten. In der letzten Szene
sehen wir, wie er nachdenklich den Naiskos betrachtet. Der Naiskos, eigentlich das Symbol für das Individuum mit seinen unterschiedlichen Motivationen, ist jetzt zu einem Symbol für die Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren geworden. In beiden Fällen könnte die Vielfalt vom einzelnen abgeleitet sein. In der letzten Einstellung kommt es zu einer symbolischen Übereinstimmung, als Picard im Bereitschaftsraum am Fenster steht und die Unendlichkeit des Alls betrachtet. Es geht um die Hoffnung, daß die vielen Spezies der Galaxis eines Tages ihren gemeinsamen Ursprung erkennen und sich als Teil eines größeren Ganzen sehen. Auch wenn ›The Chase‹ mit einer hoffnungsvollen Note zu enden scheint, erklärt diese Folge bei genauerem Hinsehen, warum die Situation im Star Trek-Universum so konfliktträchtig ist. In ›The Chase‹ stellt sich heraus, daß jeder mit jedem verwandt ist, und obwohl es in dieser Episode einen gewissen Anlaß zur Hoffnung gibt, wenn der romulanische Captain erkennt, daß die Gemeinsamkeiten letztlich größer als die Unterschiede sind, so hat diese Ähnlichkeit auch ihre Schattenseiten. Im Star Trek-Universum kommt es immer wieder zu Blutfehden. Eine Blutfehde ist ein Kampf zwischen nahen Verwandten und stellt womöglich die erbittertste Form eines Konflikts dar. In Star Trek ist ein erstaunlich hoher Prozentsatz aller Konflikte in der Galaxis auf Blutfehden zurückzuführen. Die Romulaner hassen die Vulkanier, weil sie mit ihnen verwandt sind, und in der Folge ›Unification‹ versuchen sie, den Planeten Vulkan zu erobern. Bei den Klingonen richtet sich die erbittertste Aggressivität gegen andere Klingonen. Gefahren für die Föderation haben oftmals in den höchsten Rängen der StarfleetZentrale ihren Ursprung und gehen meistens von Admiralen aus. In ›Let That Be Your Last Battlefield‹, einer der besten Folgen der Originalserie, gerät Kirk in den Konflikt zwischen den zwei verfeindeten Rassen einer Spezies, von denen die einen schwarzweiß gefärbte Gesichter haben und die anderen weiß-schwarze Gesichter. In The Next Generation schlichtet die Enterprise
immer wieder Blutfehden oder transportiert Vermittler, die diese Aufgabe übernehmen sollen. Die Blutfehde ist im wesentlichen das Modell für einen politischen Konflikt, der permanent ist und bei dem keine Seite gewinnen kann. Die Blutfehde ist das Paradebeispiel eines Gleichgewichts der Mächte, und viele Missionen der Enterprise reflektieren in kleinerem Rahmen die größeren Machtstrukturen einer Galaxis, die von rivalisierenden und gleich starken Spezies bevölkert ist. Doch in erster Linie ist die Blutfehde ein Modell für die Gleichartigkeit in einem Universum voller anscheinend ungleicher Spezies. Für die Besatzung der Enterprise ist es recht schwierig, starke Antipathien zu entwickeln oder sich gar in einen längeren Konflikt verwickeln zu lassen, wenn es um eine allzu nichtmenschliche Spezies geht. Sogar die Gestaltwandler aus dem Dominion müssen menschliche Gestalt annehmen, um zu einer Bedrohung für die Erde zu werden. Eine elementare Voraussetzung für einen Konflikt ist eine gewisse Ähnlichkeit. Die Häufigkeit von Blutfehden bestätigt überraschenderweise die Ähnlichkeit aller Lebensformen im Universum. Doch die Konsequenzen dieser Ähnlichkeit bleiben letztlich offen, wie in ›The Chase‹ zu sehen ist, wo die Entdeckung eines gemeinsamen Vorfahren beinahe zu einem Krieg zwischen den Großmächten der Galaxis führt. Der Föderation gelingt es zumeist, die inneren Gefahren zu besiegen und die äußeren Gefahren durch vergleichbare Spezies zumindest in Schach zu halten. Doch die Serie läßt das Universum keineswegs im Zustand der Ausgeglichenheit verharren. ›The Chase‹ zeigt, daß die Spezies der Galaxis sich bis zu einem gewissen Punkt entwickelt haben. Aber was wäre, wenn die menschliche Evolution eine geringfügig abweichende Richtung eingeschlagen hätte? Schließlich geht es in der Evolution um Veränderung. Eine heutige Spezies könnte nicht mehr die Spezies von morgen sein; das Gleichgewicht einer Spezies kann genauso gestört werden wie das Gleichgewicht der Mächte. In ›The Chase‹ impliziert die Vorstellung eines
gemeinsamen Vorfahren, der verschiedene Spezies hervorgebracht hat, gleichzeitig die Möglichkeit, daß einige dieser Spezies nicht für immer überleben werden. Als Charles Darwin das Buch Origin of Species schrieb, versuchte er darin die vielen Modifikationen nachzuzeichnen, durch die eine Spezies durch eine andere ersetzt wird, wenn es zu einer Weiterentwicklung kommt. In Star Trek stehen die Spezies alle auf ungefähr der gleichen evolutionären Stufe, doch nach Darwin muß es nicht dabei bleiben. Was wäre, wenn eine andere humanoide Spezies einen großen Schritt in der Evolution machen und alle anderen überflügeln würde? Darwins Buch ist voller Beispiele für Spezies, die irgendwann ausgestorben sind, weil sie durch besser angepaßte Spezies verdrängt wurden, die sich weiterentwickelt hatten. In ›The Chase‹ stellt sich heraus, daß sämtliche humanoiden Spezies der Galaxis miteinander verwandt und ungefähr gleichrangig sind, aber was wäre, wenn nach Darwin eine neue und fortgeschrittenere Mutation auf der Bildfläche erscheinen würde? Eine neue menschliche Spezies mit überlegener physischer, sozialer und technischer Organisation? Eine Spezies, die uns genauso überlegen ist wie wir dem Mesopithecus? Was würde dann mit dem Gleichgewicht der Mächte in der Galaxis geschehen? Und was würde dann aus der Ersten Direktive werden?
3 Eine solche Spezies sind die Borg. Sie stellen in vielerlei Hinsicht die klassischen Invasoren aus dem Weltraum dar. Sie kommen aus dem Nirgendwo. Sie sind unaufhaltsam und verfügen über eine überlegene Technik mit einer entsprechend hohen sozialen Organisation. Sie nehmen keine Rücksicht auf eigene Verluste. Sie sind die Invasoren schlechthin und stellen die einzige wirkliche Bedrohung der Föderation in allen vier Serien und acht Kinofilmen dar. Aber sie sind mehr als nur Invasoren. Sie sind
keine politische oder militärische Bedrohung, wie sie gelegentlich von den Klingonen, Romulanern oder Cardassianern ausgeht. Sie sind eine fundamentale Bedrohung jeglicher Existenz, des Lebens selbst, insbesondere der menschlichen Spezies. Sie sind zum Teil Mensch und zum Teil Maschine, und sie erobern, indem sie verändern. Sie bringen Menschen in ihre Gewalt, verstümmeln sie und transformieren sie zu Kombinationen aus organischen und elektronischen Elementen. Sie wollen keineswegs ein Imperium errichten, wie es Eroberer tun, die ihre Herrschaft auf möglichst viele andere Völker ausdehnen wollen. Sie wollen alle anderen Spezies zu Borg machen, indem sie ihren Widerstandswillen und ihre individuelle Identität zerstören. Im Verhältnis zu den anderen Spezies der Galaxis bilden die Borg eine eigene Klasse. Alle anderen Spezies im Star TrekUniversum benutzen Maschinen als Werkzeuge. Die Borg sind Lebewesen, die eine Einheit mit Maschinen bilden. Der Name der Borg ist eine Abkürzung von ›Cyborg‹, womit in der Science Fiction ein biologisch hergestellter kybernetischer Organismus bezeichnet wird. In den 1940er Jahren prägte der Mathematiker Norbert Wiener den Begriff ›Kybernetik‹, um damit die Wissenschaft der biologischen und mechanischen Kontrollsysteme zu beschreiben. Star Trek ist voller mechanischer Geräte, die eine Form von eigenem Leben entwickelt haben, beispielsweise die Exocomps in ›The Quality of Life‹ oder Lieutenant Commander Data. Doch Data ist streng genommen gar kein kybernetischer Organismus. Ein kybernetischer Organismus ist eine als Ganzes arbeitende Kombination aus Mensch und Maschine. Bei Star Trek existiert genauso wie in unserer Welt ein grundlegender Unterschied zwischen Mensch und Maschine. Die Technik eines Raumschiffs ist größtenteils völlig unabhängig vom menschlichen Körper. Die Warptriebwerke sorgen für den Transport, die Phaser für die Verteidigung und die Sensoren für Informationen. Die Serie distanziert sich von der meisten übrigen Science Fiction, indem sie im allgemeinen den Unterschied zwischen Mensch und
Maschine wahrt – mit Ausnahme einiger Prothesen, die körperliche Behinderungen ausgleichen, wie zum Beispiel Geordis VISOR oder Picards künstliches Herz. In der Serie gibt es nichts, das mit Luke Skywalkers Handprothese in Star Wars oder Johnnys Gehirndioden in Johnny Mnemonic vergleichbar wäre. Es gibt keine Episoden, in denen Data eine Verbindung zu lebendem Gewebe herstellt. Data kann mit fast jeder Art von Maschine eine direkte Verbindung eingehen, aber er ist laut Definition kein kybernetischer Organismus. Er ist eine Maschine unter Menschen. In der gesamten Serie wird der Abgrund zwischen Mensch und Maschine niemals überschritten. Aus diesem Grund sind die Borg eine so brillante Neuerung im Star Trek-Universum. Sie stellen eine technische Fusion von Mensch und Maschine dar, die in Star Trek geradezu als Tabu angesehen wird. Auch wenn die Welt der Föderation technisch hochentwickelt ist, handelt es sich keineswegs um eine kybernetische Welt. Der interessante Aspekt an Star Trek ist die sympathische Vision einer Zukunft, in der die menschliche Spezies ihre Menschlichkeit größtenteils bewahrt hat. Immer wieder halten Kirk und Picard Ansprachen, in denen auf die große Bedeutung der Menschlichkeit hingewiesen wird. Ich würde sogar behaupten, daß die Serie ihre Vision der Menschlichkeit dadurch verwirklicht, daß sie Menschen Menschen sein läßt, und dazu gehört, daß der Unterschied zwischen Mensch und Maschine gewahrt bleibt. Keine der anderen großen Spezies der Galaxis, weder die Klingonen noch die Romulaner oder die Cardassianer versuchen jemals, die Integrität des menschlichen Körpers zu verletzen. Alle benutzen die Technik in erster Linie als Werkzeug und als Diener. (Der Begriff ›Servomechanismus‹ enthält unmißverständlich die Idee, daß Maschinen im Grunde Sklaven sind.) Dinge, die in den menschlichen Körper eingebracht werden, wie zum Beispiel Implantate oder Parasiten, stellen in der Serie meistens Gefahren dar, die so schnell wie möglich entfernt oder unschädlich gemacht werden müssen. Die Integrität des menschlichen Körpers muß
gewahrt bleiben. Recht häufig werden mechanische Implantate als Mittel zur Gedankenkontrolle mißbraucht (beispielsweise in ›The Mind’s Eye‹, wo Geordis VISOR von Romulanern rekalibriert wird, um ihn zu beeinflussen) oder als Folterwerkzeuge eingesetzt (wie in ›Chain of Command‹, wo Picard mit einem Implantat Schmerz zugefügt wird). Als sollte diese Notwendigkeit zur Wahrung der Integrität der körperlichen Prozesse zusätzlich unterstrichen werden, zeigt The Next Generation immer wieder Kinder an Bord der Enterprise und widmet mehrere Episoden der Schwangerschaft der StarfleetBotanikerin Keiko O’Brien. Das vierundzwanzigste Jahrhundert bietet uns die detaillierte Vision einer humanen Gesellschaft, wie es scheint, weil die Grenze zwischen Mensch und Maschine niemals überschritten wird. Die Borg bedrohen dieses zutiefst menschliche Universum zum ersten Mal in der Episode mit dem Titel ›Q Who‹. Q hat Captain Picard in einem Shuttle zu einer unerforschten Region der Galaxis befördert, die von einer Spezies namens Borg bevölkert wird, um Picard zu warnen: »Die Klingonen und die Romulaner sind nichts gegen das, was Sie hier erwartet.« Q bietet sich als Führer durch die Wunder und Schrecken an, die vor ihnen liegen, doch Picard lehnt kategorisch ab. Q bringt ihn pikiert auf die Enterprise zurück und katapultiert das Schiff mit einem gigantischen Energiestoß siebentausend Lichtjahre weit fort. Die Enterprise befindet sich jetzt im Territorium der Borg, ›um Ihnen einen Vorgeschmack auf Ihre Zukunft zu geben‹, wie Q erklärt. Die Rolle von Q bei der Einführung der Borg muß etwas genauer erklärt werden, bevor wir fortfahren. Q ist im Grunde eine komische Figur, ein allmächtiges Wesen mit Sinn für Humor. Er treibt die Besatzung der Enterprise und insbesondere Picard regelmäßig zur Verzweiflung, doch trotz seiner Tricks bleibt er letztlich fast immer auf der Seite von Starfleet. In Q vermischt sich Komik mit der Erhabenheit eines höheren Wesens. Daß er so verspielt und durchtrieben ist, gibt uns einen Hinweis darauf, daß das Star Trek-Universum im Grunde komisch und
nicht tragisch ist, und daß die Menschlichkeit am Ende vermutlich siegen wird. Einige Science Fiction-Zyklen wie Isaac Asimovs Foundation und Frank Herberts Dune präsentieren eine tragische Vision, da der Schwerpunkt auf dem Tod des Helden, dem Niedergang der Zivilisation und der Sinnlosigkeit allen Handelns liegt. Andere Serien wie Star Trek präsentieren eine komische Vision und unterstreichen den Sieg des Helden, die Blüte der Zivilisation und die Wichtigkeit des Handelns. Star Trek enthält zweifellos auch tragische Elemente – so ist Picard immerhin ein Amateurarchäologe, der sich auf tote Kulturen spezialisiert hat –, doch insgesamt ist er der Captain eines Raumschiffs, das ein im wesentlichen komisches Universum erforscht, in dem die mächtigsten Wesen (Q ist eins, der Reisende ein weiteres) ein amüsiertes und mitfühlendes Interesse am Schicksal der Menschheit zeigen. In der Borg-Saga besteht die Funktion von Q darin, uns die Gewißheit zu geben, daß das Universum im Grunde ein gutes Universum ist, daß es sogar im Weltraum ein mächtiges Wesen mit Sinn für göttlichen Humor gibt. Obwohl Q häufig als Feind der Föderation erscheint, leistet er in Wirklichkeit einen bedeutenden Beitrag zur komischen Vision vom Universum bei Star Trek. Er soll zeigen, daß die Besatzung der Enterprise alle Gefahren überstehen wird, daß im Universum letztlich alles gut werden wird, auch wenn es auf dem Weg dahin große Probleme gibt. Deshalb wissen wir, daß sich alles zum Guten wenden wird, als Q die Besatzung der Enterprise mit den Borg bekannt macht. Natürlich verschwindet Q wieder, damit die Menschen selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen können. Ein Schritt folgt auf den nächsten. Nachdem er mit den Fingern schnippt, befindet sich die Enterprise plötzlich in einer fernen und unerforschten Region der Galaxis. Schon bald entdecken die Sensoren ein fremdes Schiff, das die Form eines Würfels hat. Plötzlich wird ein Scout der Borg ins Schiff gebeamt. Der Borg besitzt metallische Implantate im Kopf und einen künstlichen Arm mit Werkzeugen anstelle von Händen. Ein Auge ist eine technisch hochentwickelte Prothese.
Der Borg nähert sich einer Konsole und stellt mit den Geräten seines Arms einen Kontakt zu dem Computer her. Bald folgt ihm ein zweiter Borg, der sämtliche Informationen aus dem Bordcomputer der Enterprise holt. Bevor Picard verstehen kann, was vor sich geht, wird die Enterprise von den Borg gerufen. Eine Stimme, die klingt, als wäre sie aus Tausenden von Einzelstimmen zusammengesetzt, teilt ihnen mit: »Wir haben Ihre defensiven Kapazitäten analysiert und festgestellt, daß Sie uns keinen Widerstand leisten können.« Picard und seine Besatzung erkennen allmählich, daß sie es nicht mit einem individuellen Bewußtsein, sondern mit dem Kollektivbewußtsein der Borg zu tun haben, die zur biologisch-technischen Einheit des quadratischen schwarzen Borg-Schiffes mit der quadratischen Grundform verschmolzen sind. Das Quadrat ist eine äußerst angemessene Form für das BorgSchiff. Ein Quadrat ist eine geometrische Figur mit vier gleich langen Seiten und vier rechten Winkeln. Ein Quadrat ist das Produkt gleicher Faktoren. Mit ›Quadrat‹ bezeichnet man außerdem die zweite Potenz einer Zahl. Das Borg-Kollektiv repräsentiert diese beiden Aspekte des Quadrats auf erschreckende Weise: Das Kollektiv setzt sich aus gleichartigen Bestandteilen zusammen, und es besitzt die Potenz zur exponentiellen Reproduktion dieser Bestandteile durch Multiplikation im zweiten Quadrat. Diese Doppeldeutigkeit des Quadrats ist ein erschreckendes Symbol für die doppelte Bedrohung durch die Borg. Denn die Borg sind nicht nur ein Kollektiv, das den heiligsten Wert des Star Trek-Universums bedroht, die Integrität des menschlichen Individuums, sondern sie wollen nur noch ein einziges kollektives Bewußtsein im Universum dulden, was das Ende jeder menschlicher Individualität bedeuten würde. Die Form des Quadrats demonstriert der Besatzung der Enterprise ein kompaktes Symbol für die Gefährdung der menschlichen Existenz, die die Borg darstellen. Es besteht Anlaß zur Befürchtung, daß sie der nächste Schritt auf der Evolutionsleiter sind, eine Spezies, die viel besser
an das Leben im Weltraum angepaßt ist. Wieder ist das quadratische Schiff ein klares Symbol für die praktische Rationalität der Borg und die Entwicklungsrichtung ihrer Kultur, in der sich jede Form an funktionellen Kriterien orientiert. Während alle anderen Raumschiffe in der Serie aerodynamisch konstruiert sind und auf ihren Ursprung in der planetaren Luftfahrt verweisen, haben die Borg als einzige erkannt, daß ein Raumschiff nicht stromlinienförmig sein muß, sondern daß die quadratische Grundform wesentlich effizienter ist. Die Besatzungsmitglieder der Enterprise erfahren weitere Dinge über die Borg, als sie nach einem Feuergefecht das fremde Schiff entern. Sie sehen sich Hunderten, möglicherweise Tausenden von Borg gegenüber, die in individuellen Nischen an das Schiff angeschlossen sind. Sie entdecken auch eine Abteilung, in der sich Kinder in verschiedenen Stadien der kybernetischen Fusion mit Maschinen befinden. Über Subraumfunk teilt Riker Gaptain Picard mit, daß die Borg offenbar biologisch geboren werden, worauf ihnen dann die technischen Elemente implantiert werden. Außerdem scheint es keine weiblichen Exemplare ihrer Spezies zu geben. Riker hat recht, es gibt keine weiblichen Borg. Die Spezies ist ausschließlich männlich. Dies ist einer der unheimlichsten Augenblicke in der Borg-Trilogie, und zwar aus gutem Grund. Hier haben die Männer gelernt, sich ohne Frauen fortzupflanzen. In Mary Shelleys klassischer Geschichte von Dr. Frankenstein ist es einem Mann gelungen, einen anderen Mann zu schaffen, ohne daß eine Frau daran beteiligt war, und das Resultat ist ein Monster. Die Monstren in der Science Fiction sind genauso wie Frankensteins Monster in der Regel Wesen, die nicht auf dem gewohnten Weg der sexuellen Fortpflanzung zur Welt gekommen sind. In Star Trek wird keine Spezies mit geschlechtlichen Merkmalen jemals als monströs dargestellt. Wo es unterscheidbare Geschlechter gibt, gibt es keine Monstrosität. Star Trek hat immer großen Wert auf die Beibehaltung des Systems der zwei Geschlechter gelegt. Von Anfang an war es eine der ersten Science Fiction-Serien im Fernsehen, in der
Männer und Frauen gemeinsam im Weltraum gearbeitet haben. In The Next Generation gibt es sogar Familien an Bord von Raumschiffen. Ungeachtet der Spezies wird die Situation einer Mutter, die ihre Kinder beschützt, in Star Trek immer als etwas Positives dargestellt. Immer wieder hilft die Enterprise Kindern in Not – zum Beispiel in der Folge ›The Devil in the Dark‹ (Originalserie) und in ›Galaxy’s Child‹ (The Next Generation). Es gibt sogar eine Episode, ›The Outcast‹, in der es um ein androgynes Volk geht, in dem Geschlechtlichkeit als Verbrechen verfolgt wird. Bürger mit männlichen oder weiblichen Tendenzen werden mit einer Gehirnwäsche wieder zu Zwitterwesen gemacht. Das Bedürfnis zur Erhaltung der Geschlechtlichkeit ist so stark, daß Picard eine Verletzung der Ersten Direktive durch Riker und Worf duldet, damit sie eine Rettungsaktion unternehmen können, obwohl sie aufgefordert wurden, den Planeten zu verlassen. In ›Q Who‹ ist es völlig angemessen, daß Will Riker, das sexuell aktivste Besatzungsmitglied, die Kinderstation der Borg entdeckt. In zahlreichen Episoden fühlt er sich zu Frauen der unterschiedlichsten Spezies hingezogen. Nach James T. Kirk in der Originalserie setzt Riker die Notwendigkeit zur sexuellen Reproduktion des Menschen im Weltraum fort. Es ist kaum ein größerer Kontrast zwischen Riker und den Borg denkbar. Riker zeigt, daß die menschlichen Triebe nicht durch die interstellare Raumfahrt behindert werden. Die Borg zeigen, daß es möglich ist, das Leben als menschliches Wesen zu beginnen und als kybernetischer Organismus zu beenden. ›Q Who‹ endet damit, daß die Enterprise dem Zugriff der Borg im letzten Augenblick entkommen kann. Dann taucht Q wieder auf und verspottet Picard wegen seiner früheren Arroganz, um ihn zu fragen: »Wollen Sie immer noch behauptet, auf das vorbereitet zu sein, was Sie erwartet?« Q hat recht. In gewisser Hinsicht ist die Föderation arrogant. Die Besatzung der Enterprise ist ein wenig zu perfekt, ein wenig zu sehr davon überzeugt, daß es ihre offensichtliche Bestimmung ist, das Weltall zu erforschen. Q ist gekommen, um die Menschen und ihre Verbündeten von ihrem
selbstgeschaffenen Sockel zu stoßen, und wie wir gesehen haben, hat er guten Grund dazu. Bislang gab es im Star Trek-Universum nur unterentwickelte Kulturen, für die die Erste Direktive geschaffen wurde, und gleichrangige Zivilisationen, die durch das Gleichgewicht der Mächte in Schach gehalten werden. In der ganzen Serie sind die Borg die erste Spezies, die eine überlegene Stellung einnimmt. In dieser Episode besucht Q die Enterprise wie ein Gott, der zur Erde herabsteigt, um die Menschheit vor der Gefahr der Selbstüberschätzung zu warnen. Auch wenn Q die Enterprise schließlich mit einem Fingerschnippen in das Gebiet der Föderation zurückbefördert, bleibt seine Warnung eindringlich. Neben der Möglichkeit der stetigen menschlichen Weiterentwicklung droht in der Serie nun auch die Möglichkeit der plötzlichen Auslöschung der Menschheit. Die Selbstgefälligkeit, die gelegentlich in der Serie zu spüren ist, die unerschütterliche Zuversicht, daß die Bestimmung des Menschen in der Erforschung der Galaxis liegt, wird im zweiten Abschnitt der Borg-Trilogie weiter erschüttert, in der zweiteiligen Episode ›The Best of Both Worlds‹. In ›Q Who‹ hat Q eingegriffen, bevor wir erfahren, was die Borg mit besiegten Menschen machen. Im Rest der Borg-Trilogie spielt Q keine Rolle mehr, aber es bleiben Untertöne wohlwollender göttlicher Führung spürbar. Der Notruf am Anfang von ›The Best of Both Worlds‹ kommt von einer Kolonie namens New Providence (›Neue Vorsehung‹), womit erneut angedeutet wird, daß es dem Wohl der Menschheit dient, wenn sie mit den Borg konfrontiert wird. Doch in dieser Episode nimmt die Konfrontation einen erschreckenden neuen Charakter an. Bei der ersten Begegnung hat Starfleet erfahren, daß die Borg eine äußerst mächtige kybernetische Spezies darstellen. Aber was wollen die Borg? Was sind ihre Motive? Die Beantwortung dieser Fragen beansprucht die gesamte Episode, eine der bemerkenswertesten der ganzen Serien. Als die Enterprise dem Notruf von New Providence nachgeht, muß die Besatzung feststellen, daß die Kolonie komplett ausgelöscht
wurde. Bald begegnen sie einem Borg, der verlangt, daß Picard an Bord ihres Schiffes gebracht wird. Dieser Augenblick ist besonders eindrucksvoll. Die Borg sind schließlich eine kollektive Spezies ohne individuelle Unterschiede, und jetzt sind sie ausdrücklich an Picard interessiert. Es kommt zum Kampf, und die Enterprise erhält sofort einen schweren Treffer. Eine Gruppe von Borg durchdringt die Schilde und entert das Schiff. Auf der Brücke sehen sie sich kurz um, identifizieren Picard und nehmen ihn in ihre Mitte. Darauf entmaterialisiert er in einem Transporterstrahl. Picard findet sich im Innern des gigantischen Borg-Schiffes wieder. Er sagt zu den Borg, daß er ihnen bis zum Ende seiner Kräfte Widerstand leisten wird, doch die Borg sprechen wieder im vielstimmigen Chor zu ihm und erwidern, daß sein Widerstand zwecklos ist und sie seine Zivilisation assimilieren werden. Picard fragt daraufhin nicht nur, was sie tun, sondern auch, warum sie es tun. Schließlich geben die Borg eine lakonische Antwort auf Picards wiederholte Fragen: »Wir wollen uns verbessern.« Diese Aussage mag auf den ersten Blick unglaublich erscheinen, doch bei genauerer Betrachtung ist sie durchaus sinnvoll. Die Kultur der Borg hat die Selbstverbesserung perfektioniert. Sie demonstrieren, daß eine Kultur für jede Verbesserung einen Preis zu zahlen hat. Um sich zu vermehren und auszubreiten, muß eine Kultur konsumieren und andere Völker dominieren. Es gibt viele Beispiele in unserer eigenen Geschichte, wo die Expansion einer Kultur die Einverleibung einer anderen erfordert. Imperialistische Expansion schafft untergebene Völker. Neue Technologien benötigen Rohmaterialien und erzeugen Abfall. Selbst innerhalb einer Kultur dient die Masse in der Regel nur einigen wenigen. Die Kultur der Borg hat das Prinzip der Selbstverbesserung logisch konsequent weiterentwickelt. Um sich selbst zu verbessern, sind sie bereit, alles und jeden zu assimilieren, was ihnen in den Weg kommt. Doch jedesmal, wenn sich die Borg verbessern, geschieht
es auf Kosten einer anderen Kultur, deren Leben und Technik sie im Zuge ihres Strebens nach Weiterentwicklung assimiliert haben. Damit wird impliziert, daß die Borg ohne die Assimiliation neuer Kulturen möglicherweise nicht überlebensfähig wären. Für die Borg sind Kulturen wie Nahrung, und sie verfolgen sie wie ein Raubtier auf der Jagd nach Beute. Trotz ihrer perfekt funktionierenden Kultur leben sie nicht in einem selbstgenügsamen Universum. Sie brauchen andere Kulturen, wenn auch nur, um sie in sich aufzunehmen. Ihr Streben nach kollektiver Verbesserung ist demnach in Wirklichkeit eine Form von Abhängigkeit, denn eine kollektive Kultur wie die Borg muß immer wieder Individuen assimilieren, um ein Kollektiv zu bleiben. Daher haben sie Picard in ihre Gewalt gebracht, um sein Wissen über die Föderation gegen sein eigenes Volk einzusetzen. Als ein Stoßtrupp in das Borg-Schiff eindringt, stellt man fest, daß Picard in einen Borg verwandelt wurde. Eine Hälfte seines Gesichts ist durch schwarze schlauchförmige Implantate ersetzt worden. Die Leute von der Enterprise können ihn nicht zur Rückkehr bewegen und lassen sich wieder auf die Enterprise beamen, wo kurz darauf Picard auf dem Sichtschirm erscheint. Alle reagieren schockiert, als er verkündet: »Ich bin Locutus von Borg. Von jetzt an werdet ihr… uns dienen.« Das Bild des in einen Borg verwandelten Picard ist eines der berühmtesten der Serie geworden, und das aus gutem Grund. Das Bild repräsentiert die Konfrontation zwischen den Werten, die am tiefsten im Star Trek-Universums verwurzelt sind, den Werten der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung einerseits und dem absoluten Gegenteil dieser Werte. Das Star Trek-Universum erinnert in mancherlei Hinsicht an das Universum der Romane von Charles Dickens, die voller prägnanter und unvergeßlicher Charaktere sind, die sich durch komplexe und verwirrende Handlungen bewegen. Es ist oftmals schwierig, sich an die Details einer speziellen Star Trek-Folge zu erinnern, aber der Klebstoff, der alles zusammenhält, ist immer das einzelne Individuum. Die
Individualität überlebt jede Überraschung, mit dem das Universum die Enterprise konfrontiert, und ein besonderer Reiz der Serie liegt in den spezifischen Charakterzügen, die ständig und zuverlässig wiederholt werden – beispielsweise wenn Picard vom Replikator ›Tee, Earl Grey, heiß‹ verlangt, wenn Riker Posaune spielt, wenn Worf klingonische Gymnastik betreibt, wenn Data sich für Sir Arthur Conan Doyle interessiert. Auf ähnliche Weise werden die Freundschaften zwischen Individuen, zwischen Data und Geordi, Worf und Riker, Picard und Crusher, zur Grundlage von Geschichten und können ihren Verlauf oftmals entscheidend beeinflussen. Doch in der Welt der Borg gibt es keine Individualität. Picard wird seiner Identität beraubt, damit er als Sprecher der Borg dienen kann. Das Bild von Picard als Borg ist wie eine Symbol, in dem sich die Serie ihrer größten Angst stellt, der Angst vor der Zerstörung des Individuums durch die technische Gesellschaft. Der zweite Teil von ›The Best of Both Worlds‹ beschwört ein interstellares Harmageddon herauf, wie es noch nie zuvor in der Serie zu sehen war. Das Borg-Schiff hält unaufhaltsam Kurs auf die Erde. Picard ist vollständig zu einem Borg geworden und stellt dem Kollektiv sein Wissen und seine Erfahrung als JeanLuc Picard zur Verfügung, wodurch die Borg der Armada von Starfleet eine vernichtende Niederlage beibringen können. Wir bekommen die eigentliche Schlacht gar nicht zu Gesicht, doch die Trickaufnahmen von den Wracks der Armada gehören zu den unheimlichsten Bildern der Serie. Jetzt muß sich die Enterprise ganz allein den Borg stellen. Riker beschließt, das Borg-Schiff nicht anzugreifen, sondern einzudringen und Picard zurückzuholen. Ein kleines Enterkommando unter der Führung von Worf beamt in das Schiff und entführt Locutus. Die Besatzung der Enterprise befreit ihn von den verschiedenen Prothesen, die die Borg ihm eingepflanzt haben. Erst als Picard allmählich seine menschliche Identität wiedererlangt, weicht das Borg-Schiff vom Kurs auf die Erde ab und wendet sich nun der Enterprise zu. Picard kommt soweit zu
Bewußtsein, daß er einen Hinweis geben kann, ein einziges Wort: ›Schlafen!‹ Data interpretiert dies völlig korrekt als Vorschlag, einen Befehl ins kollektive Bewußtsein der Borg einzuschleusen. Über Picard gelingt es ihm, sie davon zu überzeugen, daß es Zeit zur Regeneration sei. Die Borg befolgen den Befehl und schlafen ein. Das Borg-Schiff bricht den Angriff ab und zieht sich aus unserem Sonnensystem zurück. Das Ende von ›The Best of Both Worlds‹ ist sehr vorläufig. Die Bedrohung durch die Borg ist keineswegs gebannt, Starfleet muß den Wiederaufbau in die Wege leiten und sich auf den nächsten Angriff vorbereiten. Die Borg haben nachdrücklich ihre haushohe technische Überlegenheit unter Beweis gestellt. Ein einziges Borg-Schiff hat es geschafft, die Hälfte der Föderationsflotte zu vernichten. Wir können uns kaum vorstellen, wozu eine Armada solcher Schiffe imstande wäre. Für Picard beginnt nun ein langer Weg der Genesung, der eine ganze Episode beansprucht (›Family‹). Die letzten Szenen dieser Folge vermitteln überzeugend das Ausmaß von Picards Erschöpfung. Diese Erfahrung hat ihn stärker als jedes andere Abenteuer als Captain der Enterprise verändert. Dennoch deutet der Titel der Episode ›The Best of Both Worlds‹ deutlich darauf hin, daß es sich um eine Veränderung zum Besseren handelt. Es mag zu diesem Moment noch nicht offensichtlich sein, aber Picard versteht jetzt die Borg. Als Gefangener der Borg hat man ihn gezwungen, sein Wissen über Starfleet gegen sein eigenes Volk einzusetzen. Doch nach seiner Rückkehr ist klar, daß er alles, was er bei den Borg erlebt und erfahren hat, nicht zum Ziel der Rache, sondern zum Allgemeinwohl einsetzen wird, zum ›Besten beider Welten‹. Genau das tut er in der abschließenden Episode der BorgTrilogie mit dem Titel ›I, Borg‹. Wie viele der besten Folgen von Star Trek bezieht sich diese Episode auf einen Wissensschatz, der sich im Laufe der Serie angehäuft hat. Die Enterprise empfängt einen Notruf vom kleinen Mond eines Planeten. Dort findet man die Absturzstelle eines Raumschiffs und entdeckt einen schwer verwundeten Überlebenden. Es handelt sich um einen Borg.
Picard ist einverstanden, ihn an Bord der Enterprise beamen zu lassen. Geordi beginnt mit der Arbeit an einer Programmsequenz, einem Computervirus, das durch diesen Borg ins Kollektiv eingeschleust werden soll, um es zu infizieren und das Nervensystem mit einem Schlag auszuschalten. Geordi fragt den Borg, ob er einen Namen hat. Der Borg sagt: »Dritter von fünf.« Das bedeutet, daß er das dritte von fünf Besatzungsmitgliedern seines kleinen Schiffes war. Der Borg versteht nicht, daß er eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln beginnt, daß er scheu, schwach und unschuldig ist, daß Geordi sich mit ihm anzufreunden versucht. Geordi ist die beste Wahl für eine Freundschaft zwischen einem Menschen und einem Borg. Er hat eine geradezu angeborene Affinität zu Maschinen. Er trägt nicht nur die einzige in der Serie sichtbare Prothese, sein VISOR, sondern sogar sein Name LaForge, ›die Schmiede‹, stellt eine Verbindung zur ältesten Tradition menschlicher Arbeit mit Maschinen her. In der westlichen Kultur besitzt die Schmiede eine doppelte Bedeutung. In der Schmiede werden Werkzeuge und Haushaltsgegenstände hergestellt, aber in der Schmiede entstehen auch Waffen, mit denen Menschen sich gegenseitig töten können. Die Figur des Schmieds kann einen friedfertigen oder einen kriegerischen Beigeschmack haben, und genau diese Spannung beherrscht die Beziehung zwischen Geordi und dem überlebenden Borg. Als Individuum mag dieser Borg harmlos wirken, aber als Mitglied seines Kollektivs ist er gefährlicher als jede andere Spezies aus dem Star Trek-Universum. Doch im Verlauf der Episode gewinnt der gefangene Borg eine Identität, die mehr ist als ein Mitglied des allgemeineren Borg-Kollektivs. Die Namensgebung des Borg ist die Schlüsselszene dieser Folge. Nachdem Geordi einige Tests durchgeführt hat, fragt er den Borg erneut nach seinem Namen. Diesmal jedoch unterhalten sie sich eher wie Freunde, die sich einander vorstellen. Dann kommt Geordi eine Idee, und er schlägt den Namen ›Hugh‹ vor. Der Borg zögert zunächst, bis er einen erstaunlichen Schritt
vollzieht und versteht. Er sagt: »Wir sind Hugh.« Dieser Schritt vom englischen ›you‹ (das ›du‹, ›Sie‹ oder ›ihr‹ bedeuten kann) zu ›Hugh‹, die sich in der Aussprache kaum unterscheiden, demonstriert auf bemerkenswerte Weise die Nähe von Individualität und Identität. ›You‹ ist die Anrede für ein anderes Individuum, und ›Hugh‹ ist ein Personenname. Damit wird impliziert, daß jedes Individuum auch einen Namen haben muß. Geordi hatte völlig recht, als er ›Dritter von fünf‹ als gültigen Namen betrachtete, doch jetzt gibt er dem Borg einen Namen, der gleichzeitig konkret und abstrakt ist. Der Name ist eine geniale Brücke zwischen dem abstrakten ›du‹ und dem konkreten ›Hugh‹. Darin klingt die kollektive Identität nach, und dennoch ist es ein völlig menschlicher und spezifischer Name. Ein entscheidender Übergang wurde vollzogen, vom Abstrakten zum Konkreten, vom Kollektiven zum Individuellen, vom Nicht-Menschlichen zum Fast-Menschlichen. Nachdem der Borg nun einen Namen hat, kann die Besatzung der Enterprise ihn nicht mehr als Monstrum betrachten. Vor allem Geordi entwickelt Bedenken, ob man Hugh als wandelnde Zeitbombe ins Kollektiv zurückschicken soll, um es zu vernichten. Doch dann trifft ein Borg-Schiff ein, um die Absturzstelle zu untersuchen, und Picard muß sehr schnell eine Entscheidung treffen. Picard redet mit dem Borg und stellt erstaunt fest, daß Hugh nun das Wort ›ich‹ statt ›wir‹ benutzt. Nach einem schweren inneren Kampf entscheidet Picard, daß die Ideale der Freiheit und Selbstbestimmung auch für die Borg gelten sollten. Sie bringen ihn auf den Mond zurück, wo er wieder mit den Borg des Rettungsschiffs verbunden wird. Doch kurz bevor sie auf die Enterprise zurückgebeamt werden, treffen sich die Blicke von Hugh und Geordi, der die Szene aus sicherer Entfernung beobachtet. Und Hughs Augen blicken immer noch mit unmißverständlicher Individualität. Die Borg treten in einigen weiteren Episoden auf, doch die Auseinandersetzung mit ihnen wird in dieser klar konzipierten Trilogie aus den Folgen ›Q Who‹, ›The Best of Both Worlds‹ und
›I, Borg‹ durchgespielt. Am Ende von ›I, Borg‹ ist klar geworden, daß die konsequent kollektive Kultur der Borg letztlich scheitern muß. Die Borg werden nicht durch eine mächtige Allianz oder eine Geheimwaffe besiegt. Die Borg gehen an einem einzigen Individuum zugrunde – oder allgemeiner ausgedrückt: an der allmählichen Auflösung des Kollektivs durch die Anfänge individuellen Bewußtseins. Wir erhalten einen Vorgeschmack auf diese Entwicklung, als es Picard gelingt, nach der Assimilation durch die Borg seine Identität zu wahren. Als er auf dem Bildschirm zu sehen ist und die Brückenbesatzung schockiert auf seine gebleichte Haut, die roten Augen und die technischen Implantate reagiert, stellt er sich trotz allem als ›Locutus von Borg‹ vor. Das heißt, trotz seiner Assimilation ist Picard das einzige Mitglied des Borg-Kollektivs, das einen Namen besitzt. Noch verblüffender ist, daß die Borg selbst ihm diesen Namen gegeben haben. Irgendwo in ihrem kollektiven Bewußtsein existiert ein Rest der Fähigkeit, bestimmte Individuen zu identifizieren. Locutus ist das Partizip des lateinischen Verbs loqui, das ›sprechen‹, ›reden‹ oder ›nennen‹ bedeutet. Picard wird hier sehr allgemein nach seiner Funktion als ›der Sprechende‹ bezeichnet. Allerdings ist diese Benennung nach der Funktion der eigentliche Ursprung jeglicher Namensgebung in unserer Kultur. Vor allem weit verbreitete Nachnamen sind ursprünglich von ganz bestimmten Funktionen abgeleitet. Ein Taylor oder Schneider ist jemand, der Kleidung herstellt, ein Cooper oder Böttcher ist jemand, der Fässer macht, ein Smith oder Schmidt ist jemand, der Metalle schmiedet. In der Borg-Trilogie ist vielleicht gar nicht die Föderation dafür verantwortlich, daß plötzlich die Individualität unter den Borg ausbricht. Sie haben bereits vorher über diese Fähigkeit verfügt, als sie Picard den Nachnamen Locutus gaben. Und vor allem sind sie in der Lage, ein bestimmtes Individuum für ihre Zwecke einzuspannen. Sie mußten nur noch lernen, was ein Vorname ist und wie man ihn benutzt. Hugh Borg wurde in ›I, Borg‹, dem dritten Teil der BorgTrilogie, zum Subjekt.
Die Borg-Trilogie wäre die beste längere Geschichte innerhalb der Star Trek-Serie gewesen, wenn man sie an dieser Stelle abgeschlossen hätte. Bedauerlicherweise treten die Borg noch in einigen späteren Folgen auf, wo ihre tragische Bedrohung allmählich zur komödiantischen Farce verkommt. In ›Descent‹ wird Datas böser Bruder zum Anführer einer Borg-Gruppe, die reichlich durch ihre neu entstandenen Identitäten verwirrt sind. Schließlich taumeln sie wie aufgezogene Spielzeugfiguren über den Bildschirm. Doch diese Tendenz zur Komik dürfte kaum überraschen. Wie ich bereits erklärt habe, geht es in Star Trek um ein grundsätzlich komisches Universum, und jede Episode weist eine deutlichere Tendenz zur Komödie als zur Tragödie auf. Tragödien werden in Star Trek immer mit einem komischen Rahmen versehen. Deshalb beginnt auch ›Q Who‹ mit einer längeren und im Grunde unwichtigen Szene, in der Captain Picard von einem jungen Fähnrich mit Kaffee bekleckert wird. Fast jede Folge der Serie endet mit einer komischen Szene, in der sich die Figuren gegenseitig mit einer bekannten Schwäche aufziehen, sei es Spocks Logik oder Picards Förmlichkeit. Obwohl einige dieser komischen Elemente schon in der Nähe von Gags angesiedelt sind, spielen sie eine wichtige Rolle im Star Trek-Universum. Eine typische Folge von Star Trek endet mit Humor. Auch wenn dieser Humor gelegentlich platt oder sogar dumm ist, erklärt sich daraus möglicherweise, warum Star Trek zur beliebtesten Science Fiction-Serie wurde. Die Science Fiction ist gewöhnlich ein recht düsteres Genre, in dem es um Kriege, Invasionen oder andere Schrecken geht, wenn ein Kontakt zum Konflikt und zur Auslöschung führt. Star Trek ist die einzige Science Fiction-Serie, die ein überzeugendes komisches Universum geschaffen hat, in dem ein Kontakt zu Konflikt, Auflösung, Frieden und schließlich zu Lachen führt.
4 Wir sehen also, daß das Schicksal der Föderation nicht gerade eindeutig und offensichtlich ist. Aus den drei untersuchten Geschichten über den Kontakt mit Aliens ergeben sich drei völlig unterschiedliche Versionen der Geschichte der Föderation. In ›Who Watches the Watchers?‹ befindet sich die Föderation unzweifelhaft in der überlegenen Position. In ›Chain of Command‹ wird die Föderation mit einem gleich starken Gegner konfrontiert. In der Borg-Trilogie droht der Föderation die völlige Vernichtung, Hierbei handelt es sich nicht nur um verschiedene Episoden in einer fortlaufenden Serie. Hier wird ein klares Geschichtsbild entworfen, in dem es nicht um ein eindeutiges Schicksal geht, sondern um eine Abfolge unendlich vieler Möglichkeiten. Die Cardassianer könnten irgendwann Erfolg mit ihren Plänen zur Invasion der Föderation haben, oder die Borg könnten zurückkehren und die gesamte Menschheit in ihr Kollektiv integrieren. Es ist unsicher, ob die Klingonen für immer Verbündete der Föderation bleiben werden. An jedem Punkt der Serie gibt es viele alternative Entwicklungen für die Zukunft oder die Vergangenheit. Kein Ereignis in der Serie ist endgültig oder bestimmt, nicht einmal der Tod. Der einzige Tod einer Hauptfigur der Serie, der Tod von Tasha Yar, wird als sinnloses und zufälliges Ereignis dargestellt. Sie stirbt durch die Laune eines Monstrums und zwingt die anderen Figuren dazu, über die Bedeutung des zufälligen Todes nachzudenken. Selbst wenn es um die Grundfragen von Leben und Tod geht, sind Zeit und Geschichte in Star Trek nicht festgelegt, sondern bleiben offen. Diese Vorstellung, daß es keinen vorbestimmten Weg der Geschichte gibt, wirkt im Kontext der Science Fiction noch verblüffender. Oberflächlich betrachtet unterscheidet sich ein großer Teil der Science Fiction gar nicht so sehr von der Astrologie. Die Astrologie, der Glaube, daß die Sterne Einfluß auf das menschliche Schicksal nehmen, ist vielleicht die älteste Form von Science Fiction, und in der modernen Science Fiction
hat sich ein großer Teil des ursprünglichen Glaubens an die Astrologie bewahrt, nach dem eine bestimmende Macht hinter menschlichen Ereignissen steht. Star Trek unterscheidet sich erheblich von den Phantasien der übrigen Science Fiction, indem die Serie größtenteils auf deterministische Strukturen verzichtet. In den Star Wars-Filmen wird Luke Skywalker dazu getrieben, seine Bestimmung als Jedi-Ritter zu erfüllen. In Asimovs Foundation-Serie diktieren die Vorhersagen eines einzigen Menschen das Schicksal der ganzen Galaxis. In Herberts DuneReihe prophezeien verschiedene heilige Schriften die Ankunft eines Messias. Die Föderation existiert in einem völlig anderen Universum. Kein Ereignis ist zwangsläufig. Obwohl wir sehen werden, daß Star Trek einige andere religiöse Elemente bewahrt hat, gibt es zwischen den Sternen keinen Platz für die Astrologie. Diese Vorstellung einer unvollendeten Geschichte wird am häufigsten in den Geschichten um Paralleluniversen ausgearbeitet. Immer wieder nutzt Star Trek andere Dimensionen, um die Eventualitäten historischer Ereignisse aufzuzeigen. Was wäre, wenn Captain Picard als Gefangener der Borg den Tod gefunden hätte? Was wäre, wenn Lieutenant LaForge nach einem Unfall im Maschinenraum an einer Plasmaverbrennung gestorben wäre? Was wäre, wenn Will Riker Captain der Enterprise wäre? All dies sind Möglichkeiten, mit denen Lieutenant Worf in der Episode ›Parallels‹ konfrontiert wird. Sie beginnt damit, daß Worf als Sieger eines Bat’lethSchwertkampfturniers von Forcas Drei zurückkehrt. Als er an seiner Station auf der Brücke arbeitet, erleidet er einen Schwindelanfall. Er reibt sich die Stirn und schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, stehen Data und Geordi plötzlich auf der anderen Seite des Raumes. Innerhalb eines Sekundenbruchteils hat sich die Position aller Anwesenden auf der Brücke verändert. In den nächsten Szenen erlebt Worf weitere Veränderungen. Nach Dienstschluß überprüft er seine persönlichen Logbuchaufzeichnungen. In dieser Welt kam sein Shuttle aufgrund einer Fehlfunktion niemals auf Forcas Drei zum
Bat’leth-Turnier an. Die Schwindelanfälle kehren wieder, und die Paralleluniversen werden immer fremdartiger. Von Szene zu Szene nimmt die Vertrautheit der Welt ab. Die Episode beginnt mit geringfügigen Veränderungen, zum Beispiel der Positionsänderung von Objekten, und endet mit größeren Transformationen wie andersartige Beziehungen und Lebensläufe. Im dritten Akt sind Datas Augen nicht mehr golden, sondern blau und menschlich. Im vierten Akt ist Worf mit Troi verheiratet. Und im fünften Akt ist Riker zum Captain der Enterprise geworden. Es stellt sich heraus, daß Worfs Shuttle einen Quantenriß im Raum-Zeit-Kontinuum durchquert hat. Dieser Riß ist ein Zugang zu vielen unterschiedlichen Wirklichkeiten, in die Worf immer tiefer eindringt. Data erklärt, daß nach der Quantenphysik theoretisch alle möglichen Wendungen eines Ereignisses tatsächlich in alternativen Quantenwirklichkeiten realisiert werden. Der Riß ist äußerst klein, und Wesley Crusher kommt auf die Idee, ihn mit einem Subraumimpuls zu scannen. Doch nach einem Angriff durch ein bajoranisches Raumschiff (in dieser Realität haben die Bajoraner das cardassianische Reich erobert), verstärkt sich der Subraumimpuls, und der Quantenriß wird instabil. Auf dem Bildschirm erscheint eine andere Enterprise, dann weitere, bis es Tausende sind. Schockiert erkennt die Besatzung, was geschieht. »Die Grenzen zwischen den Quantenrealitäten brechen zusammen. Andere Realitäten dringen in unsere ein«, beschreibt Data die Situation. Es gelingt der Besatzung, den Riß zu schließen, doch zuvor erhalten wir in einer beeindruckenden Trickaufnahme eine Vision der historischen Vielfalt, wenn Hunderte Versionen des Raumschiffs Enterprise das Bild füllen. Wesley informiert die Brücke, daß er 285000 Grußbotschaften von anderen Schiffen empfängt. Jedes repräsentiert eine mögliche geschichtliche Entwicklung der Föderation. Eine der Bildübertragungen zeigt Riker auf der Brücke. Er sieht abgezehrt und verzweifelt aus. Das Schiff ist voller Rauch, und die Notbeleuchtung flackert im Hin-
tergrund. Er sagt: »Sie haben keine Ahnung, wie es in unserem Universum aussieht. Die Föderation gibt es nicht mehr – überall sind die Borg. Bitte, Sie müssen uns helfen!« So hätte das Ende der Folge ›The Best of Both Worlds‹ aussehen können. In diesem Universum hat die Besatzung der Enterprise eine Katastrophe abwenden können, doch in der anderen Variante hat sich ein anderer Verlauf ergeben. Dieses Bild des verzweifelten Riker ist zu einem der am weitesten verbreiteten Standfotos aus der Serie geworden, und das aus gutem Grund. Der verzweifelte Riker zeigt, was hätte geschehen können und was immer noch geschehen kann. Star Trek arbeitet mit einem äußerst differenzieren Geschichtsbild, denn in der Serie wird die Vergangenheit niemals als vergangen und abgehakt dargestellt. Jegliche Unentschiedenheit der Vergangenheit, alle Hoffnungen, Träume und verpaßten Möglichkeiten reichen stets in die Gegenwart hinein. Selbst nach einem Ereignis ist das Geschehene keineswegs abgeschlossen. Es wirft seinen Schatten weit in viele mögliche Zukunftsversionen hinein. In Star Trek ist eine Handlung niemals beendet, denn auch die möglichen Ereignisse sind immer noch existent. Das Ende mancher Star Trek-Folgen ist auf beunruhigende Weise unentschieden, wenn die Lösung des Problems plötzlich nicht mehr sicher scheint. In ›Conspiracy‹ töten Picard und seine Leute einen Parasiten, der die höchsten Ränge von Starfleet infiltriert hat. Doch in der letzten Szene der Episode hören wir ein Signal, das der Parasit kurz vor seinem Tod ausgesandt hat. Das Pulsieren dieses Signals zerstört die Gewißheit des glücklichen Ausgangs. Die Parasiten wurden nur vorläufig getötet. Die Geschichte hätte völlig anders verlaufen können – und sie kann sich immer noch ändern. Das Motiv der parallelen Universen wird ohne besondere Erklärung oder wissenschaftliche Grundlage eingeführt. Am häufigsten wird in diesem Zusammenhang von ›Quantenfluktuationen‹ gesprochen. Das Paralleluniversum funktioniert wie ein literarischer Kunstgriff, bei dem es nicht um die
Plausibilität geht, sondern um die Möglichkeit zur Darstellung abweichender Geschichten. Mit Hilfe der Paralleluniversen sollen alternative Wirklichkeiten vor einem einigermaßen stabilen historischen Hintergrund dargestellt werden. Dabei sollte allerdings erwähnt werden, daß diese anderen Dimensionen keineswegs völlig fremdartige Welten sind. Ein Paralleluniversum weist grundsätzlich keine extremen Unterschiede zu unserem Universum auf, sondern lediglich geringfügige Abweichungen. Bestimmte Dinge scheinen sich in Paralleluniversen überhaupt nicht zu verändern. Das Design der Enterprise ist in ›Parallels‹ identisch, doch in anderen Episoden wie in ›Yesterday’s Enterprise‹ weisen das Schiff und die Uniformen der Besatzung im parallelen Universum deutliche Unterschiede auf. Interessanterweise ist die einzige Konstante in den 285 000 alternativen Universen von ›Parallels‹ der Charakter und die Identität der Menschen. Auch wenn einige überleben und andere gestorben sind, bleiben die Besatzungsmitglieder von einer Dimension zur nächsten letztlich dieselben. In parallelen Universen scheint die Persönlichkeit keinen Veränderungen zu unterliegen. Trotz seiner Desorientierung behält Worf seinen Charakter bei, genauso wie die übrigen Mitglieder der Besatzung. Die historischen Umstände variieren in den verschiedenen Dimensionen, doch die Identität jeder Figur bleibt unbeeinträchtigt. Auch wenn die Geschichte vom Element des Zufalls bestimmt wird, ist die Integrität der menschlichen Persönlichkeit unter keinen Umständen bedroht. Die Kontinuität des Charakters inmitten unwahrscheinlicher Ereignisse spielt die Bedeutung historischer Umstände in Star Trek herunter. Geschichtliche Faktoren haben kaum einen Einfluß auf die Charaktere. Die eigentlichen Bedrohungen der Föderation sind keineswegs Verletzungen des Territoriums der Föderation, sondern Bedrohungen der Integrität menschlicher Identität. Der Grund, warum die Borg eine viel gewaltigere Bedrohung als jeder andere Feind darstellen, liegt nicht in ihrer Aggressivität, sondern
in ihrer Fähigkeit zur Entindividualisierung. Das Ende der menschlichen Individualität ist der größte Alptraum von Star Trek, und es ist unwahrscheinlich, daß sich eine solche Entwicklung durch zufällige historische Veränderungen ergeben könnte. Obwohl wir gesehen haben, daß die Serie durchaus für den Wandel der Geschichte empfänglich ist, liegt das Hauptinteresse von Star Trek nicht in der historischen Welt. Der große, epische Entwurf einer Geschichte, wie er in vielen anderen Werken der Science Fiction anzutreffen ist, spielt bei Star Trek nur eine kleine Rolle. Die Enterprise ist schließlich ein Schiff einer Flotte aus Hunderten von Schiffen. Wenn Star Trek viel mehr ist als ein spektakulärer Kriegsfilm im Weltraum, dann liegt das größtenteils daran, daß sich die Serie mehr für Charakter und Identität als für Erkundung und Eroberung interessiert. Die Originalserie hatte acht Hauptfiguren. The Next Generation hat zehn. Die Serie beginnt am selben Punkt, an dem viele andere Werke der Science Fiction beginnen: mit der Erkundung des Weltraums. Doch es ist die Erkundung der Welten und Räume der menschlichen Identität, durch die Star Trek viel weiter ins Unbekannte vorstößt.
II Charakter und Identität
Die zentrale Erfahrung der heutigen Weltraumfahrt ist die Einsamkeit. Unsere Raumschiffe fliegen zu leeren Orten, wo unsere Astronauten völlig allein im Weltraum sind. Der Film Apollo 13 vermittelt auf eindringliche Weise das Gefühl der Verlorenheit, als die Raumkapsel auf dem Weg zum Mond außer Kontrolle gerät. Nur noch eine hauchdünne Nabelschnur verbindet die Kapsel mit der Erde, eine Verbindung, die sehr leicht brüchig werden oder reißen kann. Ein Mensch, der von den autonomen Lebenserhaltungssystemen eines Raumschiffs getrennt wird, ist ein zutiefst einsames menschliches Wesen, das sich seines Platzes im Universum nicht mehr sicher ist. Menschen sind soziale Lebewesen, und wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt wurde, hat Star Trek ein sehr soziales Universum geschaffen. Doch die besten Episoden der Serie sind nicht die, in denen das komplette Ensemble auftritt. Die typische Star TrekEpisode isoliert eine Figur vom Rest der Besatzung und konzentriert sich ganz auf die persönlichen Probleme dieser Figur. Trotz der unfaßbaren Größe des Weltalls erweist sich das Universum als ein sehr persönlicher Ort. Das Schicksal von Zivilisationen und Völkern hängt immer wieder von den Taten einzelner Personen ab. In den meisten Werken der Science Fiction kümmern sich die Götter um die Menschen, wie zum Beispiel in den Star Wars-Filmen, wo die Kämpfer gegen das böse Imperium von der Macht gelenkt werden. Star Trek ist möglicherweise das einzige Beispiel des Genres, in dem ein menschliches Individuum einem Gott das Leben rettet (wenn Picard in ›Déjà Q‹ Q rettet). Das Universum von Star Trek ist eine Welt, in der individuelle Taten viel bedeutsamer sind als göttliche oder kollektive Handlungen. In dieser Serie steht der auf sich gestellte Held im Mittelpunkt, der sich mit der Dynamik seiner Isolation auseinandersetzen muß. Auch wenn der Weltraum in Star Trek kein einsamer Ort mehr ist, spielt die Erfahrung der Einsamkeit dennoch eine wichtige Rolle in der Serie. Je weiter sich die Enterprise von der Erde
entfernt, desto mehr wird jedes Individuum zu einer Insel der Humanität in einer fernen und trostlosen Umgebung. Wenn sich eine Figur zudem von der Enterprise entfernt, wird ihre Humanität zu einem noch dringenderen Problem. Sehr viele Episoden der Serie beginnen mit einer Situation, in der ein Besatzungsmitglied von der Enterprise getrennt wird. In ›Liaisons‹ stürzt ein Shuttle ab. In ›Second Chances‹ bleibt Riker bei einem Transporterzwischenfall auf einem Planeten zurück. In ›Tapestry‹ stirbt Picard und erwacht allein im Leben nach dem Tode. Das Überleben im körperlichen Sinne wird nur selten zum Problem gemacht. In erster Linie geht es um die fundamentalen Fragen der menschlichen Identität. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Worin besteht die Integrität einer menschlichen Persönlichkeit? Welche Rechte besitzt ein Individuum? In diesen Geschichten tritt die Wissenschaft, die science in der Science Fiction, in den Hintergrund, und es geht um das übliche Thema der meisten Geschichten, um die Entwicklung einer zentralen Figur. Diese zutiefst psychologischen Fragen scheinen sich sehr weit von den Universen der übrigen Science Fiction zu entfernen. Sehr wenige Science Fiction-Romane geben uns Einblick in das Innenleben der Protagonisten. Gut und Böse sind oftmals streng unterschieden, so wie in den Star Wars-Filmen. Zweifel, Unsicherheit und Reue werden nur selten dargestellt. Diese Tendenz zur mythischen Konstruktion von Wirklichkeit werden wir im nächsten Kapitel untersuchen; vorläufig genügt es festzuhalten, daß eine solche Tendenz zum Mythos häufig eine Beschäftigung mit dem Innenleben einer Figur ausschließt. Statt dessen geht es um große Taten innerhalb eines epischen Rahmens. Das Schicksal des Universums mag oftmals von den Taten eines einzelnen Helden abhängen, aber die Erzählung bietet kaum Platz für die Vorgänge im Innern der Hauptfigur. Als die Marsianer in The War of the Worlds die Erde erobern, ist keine Zeit für Charakterstudien übrig. Schließlich wird ein Krieg geführt, und Fragen über Charakter und Identität werden häufig
für die Dauer der Geschichte zurückgestellt. Hier dürfte sogar einer der Gründe liegen, warum die Science Fiction eine literarische Randerscheinung geblieben ist, weil das Genre den Autoren nämlich erlaubt, großartige Themen auf Kosten des Charakterentwicklung zu verfolgen. Die Figuren aus den Romanen von Isaac Asimov bleiben nicht so gut im Gedächtnis des Lesers wie die Figuren aus einem Roman von Charles Dickens oder Joseph Conrad. Sie haben beinahe eine untergeordnete Funktion innerhalb der Geschichte, wie an Asimovs Foundation-Romanen deutlich wird, in denen von Menschen erwartet wird, daß sie sich nach den Vorhersagen der Statistik verhalten. In der Science Fiction werden Menschen immer wieder ihres freien Willens beraubt, womit sie zu Marionetten universaler Mächte werden, bei denen es sich um geplante Gesellschaften (wie im Foundation-Zyklus), um Systeme religiöser Prophezeiungen (wie im Dune-Zyklus) oder um soziale Verhaltensnormen (wie in Doris Lessings Shikasta) handeln kann. Die Science Fiction hat nicht mit solchen umfassenden Entwürfen begonnen. Die meisten Kritiker sind sich inzwischen darin einig, daß Mary Shelleys Roman Frankenstein (1818) das erste Werk der Science Fiction darstellt. Nachdem wir gesehen haben, wohin sich dieses Genre entwickelt hat, sollten wir erwarten, daß es in diesem Roman um schicksalhafte Ereignisse wie Invasion, Krieg und Vertreibung geht. Um interplanetare Verschwörungen, um Gut und Böse, die in einem entscheidenden letzten Kampf um die Zukunft des Universums ringen. Aber nichts könnte der Welt von Frankenstein ferner liegen. Shelleys Roman erzählt die Geschichte des isolierten und sehr in sich gekehrten Arztes Victor Frankenstein. Frankenstein ist ein unbedeutender Mensch, der sein Medizinstudium abgebrochen hat. Er ist der erste mad scientist, der erste aus der Riege der verrückten Wissenschaftler, und die Geschichte läßt keinen Zweifel daran, daß die Art von Wissenschaft, die er praktiziert, unrechtmäßig ist. Die Science Fiction beginnt mit einer sehr kritischen Haltung gegenüber der Wissenschaft, nicht mit einer
Verherrlichung von Wissenschaft. Die Wissenschaft bleibt in diesem Roman letztlich sogar unklar. Wir erfahren nie genau, nach welcher Theorie Frankenstein sein Monstrum schafft, weil Shelley überhaupt nicht an wissenschaftlichen Theorien interessiert ist. Das Bemerkenswerte an diesem ersten Werk der Science Fiction liegt darin, daß es eine sehr detaillierte Studie über die Entwicklung eines Charakters darstellt – das, was in der Literaturgeschichte als Bildungsroman bezeichnet wird. Dieses Interesse hat sich in späteren Werken der Science Fiction kaum erhalten. The Next Generation jedoch kehrt zu den Ursprüngen des Genres zurück, wenn der jugendliche Wesley Crusher in die Besatzung aufgenommen wird und wir ihn durch die Probleme seines Erwachsenwerdens begleiten. Ein weiterer bemerkenswerter Punkt an Frankenstein ist, daß sich der Roman nicht auf den Arzt, sondern auf das Monstrum konzentriert. Der Held dieses Romans über ein Monstrum ist das Monstrum selbst. Der Film von 1931 mit Boris Karloff, der das Monster als stammelndes, dummes Wesen darstellt, wird dem Roman nicht gerecht. Am Anfang der Geschichte verstößt Victor Frankenstein das Monstrum aus seinem Haus, worauf es sich in eine trostlose Region der Alpen flüchtet. Während es in den Bergen lebt, beobachtet das Monster das Treiben einer einfachen Bauernfamilie. Es bringt sich selbst Sprechen und Lesen bei und erlernt einen strengen Moralkodex, indem es das Verhalten der Bauern studiert. Es erzieht sich selbst, und zu der Zeit, als es dem eigentlichen Erzähler des Romans, Robert Walton, seine Geschichte erzählt, ist es ein gesittetes und sprachgewandtes Wesen. Das Geniale an diesem Roman ist der Umstand, daß das Monster die empfindsamste Figur darin ist. Der größte Teil des Romans widmet sich der Erzählung des Monsters über seine persönliche Entwicklung – in seinen Worten ein Bericht über ›Ereignisse, die mir Eindrücke verschafften, die aus dem, was ich war, den machten, der ich bin‹. Das Monster ist die einzige Figur im Roman, die sich verändert und entwickelt. Das Monster bleibt nicht dasselbe. Der heutigen Science Fiction wird oft zum
Vorwurf gemacht, daß sie ein tiefes Verständnis für die Wissenschaft und ein sehr oberflächliches Verständnis für Charaktere hat, aber man sollte nicht vergessen, daß die Science Fiction mit den Grundfragen über die Bildung des menschlichen Charakters begann. Wie bildet er sich? Wie stabil ist er? Wie entwickelt er sich im Lauf der Zeit? Die Star Trek-Serie kehrt häufig zu einigen der kaum realisierten Möglichkeiten des Genres zurück, wie wir sie in Frankenstein gesehen haben. Und es liegt geradezu in der Natur von Star Trek, die gewohnten Grenzen der Science Fiction zu überschreiten. Während es in der übrigen Science Fiction oft um Monstren geht, werden bei Star Trek Kulturen wie die der Klingonen im Detail dargestellt. Während die übrige Science Fiction häufig epische Entwürfe ausbreitet, legt Star Trek größten Wert auf winzigste Details. Und während die übrige Science Fiction ihre Charaktere in flüchtigen Umrissen skizziert, geht Star Trek intensiv auf das Innenleben der Hauptfiguren ein. Dieses Kapitel soll zeigen, daß die Serie viele der Fragen über Charakter und Identität anzusprechen versucht, die bereits im allerersten Science Fiction-Roman gestellt wurden. Frankenstein ist in erster Linie die Studie eines Charakters, der unter einem gewaltigem Druck steht. Die Wissenschaft spielt nur eine minimale Rolle in diesem ersten Werk der Science Fiction; Mary Shelley handelt Dr. Frankensteins Berechnungen in wenigen Sätzen ab. Die Erschaffungsszene, die in so vielen Filmen umgesetzt wurde, nimmt im Roman nur wenige Seiten ein. Shelley ist nicht an der Bedeutung von Frankensteins wissenschaftlicher Entdeckung für die Menschheit interessiert; seine wissenschaftlichen Geheimnisse sterben mit dem Monstrum. Ihr Interesse konzentriert sich auf die Bildung und die Deformierung des Charakters; während des ganzen Romans ist das Monstrum auf der Suche nach einer Identität. Seine Identität ist unsicher und ständig bedroht, denn es wird wie ein wildes Tier gejagt. Ein großer Teil des Romans wird sogar aus der Perspektive des Monstrums erzählt.
Viele Star Trek-Episoden werden ebenfalls aus der Perspektive einer bestimmten Figur dargestellt. Der Unterschied liegt allerdings darin, daß sich die meisten Figuren in Star Trek im Laufe der Zeit nicht weiterentwickeln. Sie behalten ihren Charakter bei, und sie verhalten sich in jeder Episode in charakteristischer Weise. Picard ist ein in sich gekehrter Mensch mit wissenschaftlichen Interessen, Riker stellt dem weiblichen Geschlecht nach, Worf vertieft sich in seine klingonische Kultur. In dieser Serie hat jede Figur eine starke Kernidentität. Identität ist etwas, das sie bereits besitzen, nicht etwas, wonach sie suchen, aber etwas, das sie durchaus verlieren können. Identität ist etwas Gegebenes, das wieder genommen werden kann. Wir lernen diese Figuren nicht dadurch kennen, daß wir ihre Entwicklung beobachten, sondern daß wir miterleben, wie sie ihre Identität verlieren und sie zurückzugewinnen versuchen. In der Serie sehen wir nicht die Entdeckung der Identität, sondern wir erleben ihren Verlust und ihre Wiedergewinnung. Identitätsverlust kann in vielen Formen auftreten und wird in zahlreichen Episoden zum Thema gemacht. Er kann zum Beispiel als Austausch auftreten, wenn eine Person einfach durch ein fremdes Wesen ersetzt wird, oder als Verdoppelung, wenn eine alte und neue Persönlichkeit gemeinsam in einer Person leben und sich um die Vorherrschaft streiten. Die zweite Möglichkeit wird bei weitem am häufigsten für Identitätskrisen in Star Trek verwendet. Eine Figur wird plötzlich vervielfacht, sie stellt fest, daß es sie plötzlich in doppelter Ausführung gibt, entweder körperlich getrennt oder in einem Körper. Diese Verdoppelung tritt gewöhnlich in einer von drei verschiedenen Formen auf: als Zwilling, als fremdes Wesen oder als Bewußtseinsspaltung. Zwillinge oder Doppelgänger sind in der Serie besonders beliebt. In verschiedenen Episoden treten zwei Kirks, zwei Rikers und zwei Picards auf. In der Folge ›Mirror, Mirror‹ aus der Originalserie gibt es sogar für jedes Besatzungsmitglied des Schiffes einen Doppelgänger. Fremde Wesen verschleiern gelegentlich die Identität wie in ›Frame of Mind‹, wo Riker in das
Irrenhaus auf einem fremden Planeten entführt wird, und manchmal verschmelzen vorhandene Personen wie in ›Attached‹, wo Picard und Beverly Crusher sich in einem gemeinsamen Bewußtsein zurechtfinden müssen. Vielleicht die Hälfte aller Folgen beschäftigt sich in irgendeiner Form mit dem Identitätsverlust. Die Serie ist sehr erfindungsreich hinsichtlich der Alter egos der Hauptfiguren. Doch in keinem Fall verläuft diese Verdoppelung problemlos, es kommt immer zum Kampf zwischen den Ichs, da jede Person ihre Identität behaupten möchte. Gelegentlich werden die Figuren in der Serie bis an den Rand der Schizophrenie getrieben. Warum ist das Ich in Star Trek so sehr bedroht? Warum legt die Serie so großen Wert darauf, die Identitäten ihrer Hauptfiguren immer wieder zu unterminieren? Wie wir sehen werden, liegt die Antwort darin, wie das individuelle Ich in Star Trek konzipiert ist.
1 Star Trek kann geradezu unerbittlich sein, wenn es um den Wert des Lebens jedes einzelnen Menschen geht. Die Serie baut auf einer kaum näher untersuchten Voraussetzung auf: daß sich ein Individuum bis an die Grenze seiner Möglichkeiten entwickeln muß. Diese Idee mag auf den ersten Blick unanfechtbar erscheinen, aber wir wollen sie trotzdem etwas genauer betrachten. Die Korridore der Enterprise sind voller hochtalentierter und erfahrener Menschen, die sich durch nichts einschüchtern lassen. Die Figuren erledigen ihre Arbeit auf geradezu perfekte Weise, doch diese Perfektion hat ihren Preis. Nur wenige von ihnen können sich eine dauerhafte Beziehung mit anderen leisten, die über reine Freundschaft hinausgeht. Sie sind zuallererst dem Schiff verpflichtet, und trotz des Netzwerks aus Freundschaften, von dem das Schiff durchzogen ist, gelingt es kaum jemandem, familiäre Beziehungen zu etablieren. Im Gegenteil, in der Serie werden pausenlos Familien vernichtet und
getötet, wie wir sehen werden. Die Erkundung des Weltraums scheint die menschliche Fortpflanzung auszuschließen oder führt zumindest zu einer strikten Arbeitsteilung zwischen Erforschern und Kolonisten, die zwar miteinander in Kontakt stehen, aber nur selten untereinander heiraten. Nur wenige Besatzungsmitglieder der Enterprise lassen sich jemals auf Affären mit seßhaften Partnern ein, und wenn sie es doch tun, sind die Konsequenzen katastrophal. Eine solche typische Szene steht am Anfang der Folge ›Silicon Avatar‹. Commander Riker hält sich auf dem Planeten Melona Vier auf, wo er einer Gruppe von Kolonisten bei der Erkundung ihrer neuen Heimat hilft. Der Planet ist grün und fruchtbar. Riker unterhält sich mit Carmen Davila, einer sehr hübschen Frau. Sie vergleichen ihr Leben miteinander. Riker sagt ihr, wieviel es ihm bedeutet, zur Besatzung eines Schiffes zu gehören, das die Galaxis erforscht. Sie sagt ihm, daß ihr Ziel darin besteht, eine Heimat aufzubauen und eine Familie zu gründen, um diesen leeren Planeten in einen Platz für Menschen zu verwandeln. Riker wird für einen Moment weich. Normalerweise ist er der große Verführer, doch ihre Worte haben etwas in ihm berührt, und so erklärt er sich einverstanden, mit der Frau zu Abend zu essen. Für ihn scheint sich die Möglichkeit eines anderen Lebens zu eröffnen, eines Lebens mit Frau und Kindern – aber nicht lange. Fast im selben Augenblick, als er sich das Leben in einer seßhaften Gemeinschaft vorstellt, steigt ein kristallines Wesen vom Himmel herab und verwandelt alles in der Nähe in Stein. Die Kolonisten versuchen zu fliehen, doch Carmen wird als einzige vom Wesen berührt und in ein Gespinst aus Quarz verwandelt. Natürlich soll keine kausale Verbindung zwischen dem Gespräch und der Gefahr hergestellt werden, aber es steckt trotzdem mehr als nur Zufall dahinter. Riker erlebt, wie sein Traum von einer Familie buchstäblich vor seinen Augen in Stücke geht. Die Versteinerung von Carmen Davila läßt sich als Symbol dafür betrachten, was Star Trek mit Familien anstellt. Die Serie geht nicht sehr freundlich mit Familien um, sondern verwandelt
sie geradezu in Stein. Keine der Hauptfiguren in The Next Generation kommt aus einer intakten Familie. Picard hat sich gegen die Wünsche seines Vaters aufgelehnt, als er in die Starfleet-Akademie eintrat, und wurde deshalb von ihm verstoßen. Rikers Mutter starb, als er zwei Jahre alt war, worauf er ohne besondere Fürsorge bei seinem Vater Kyle Riker aufwuchs, der ihn mit fünfzehn Jahren im Stich ließ und von dem er sich als Erwachsener entfremdet hat. Worfs Eltern kamen beide beim Khitomer-Massaker ums Leben, und er wurde von einem russischen Ehepaar auf der Erde adoptiert. Er hat es geschafft, einen Sohn in die Welt zu setzen, Alexander Rozhenko, doch in der Serie wurde seine Mutter K’Ehleyr schon eine Episode später getötet. Dr. Crusher ist Witwe und alleinerziehende Mutter. Die Eltern von Geordi LaForge sind ehrgeizige Starfleet-Offiziere, die niemals lange genug auf einem Planeten zusammenlebten, um ihn erziehen zu können. Fähnrich Ro Laren mußte zusehen, wie die Cardassianer ihren Vater zu Tode folterten. Tasha Yar wuchs auf den Straßen eines Planeten zwischen Banden aus Vergewaltigern auf, und sogar ihr Name erinnert an das Massaker durch die Nazis an jüdischen Familien in Babi Yar in Rußland. Guinans Herkunft ist unklar, aber auch sie wuchs auf der Flucht auf, nachdem ihr ganzes Volk von den Borg ins Exil getrieben worden war. Es ist unübersehbar, daß keine Hauptfigur aus Star Trek geordneten Familienverhältnissen entstammt. Außerdem hat die Serie eine Spur aus gescheiterten Beziehungen hinterlassen. Riker und Troi haben sich einmal geliebt und sind jetzt nur noch Freunde. Worfs Sohn ist das Ergebnis einer sehr kurzen und heftigen Affäre. Picard und Crusher kommen sich immer wieder recht nahe, halten sich jedoch letztlich zurück und wollen sich nie auf eine enge Beziehung einlassen. Die Distanziertheit und Unzugänglichkeit von Captain Picard, der Hauptfigur von The Next Generation, scheint geradezu ein Idealbild der Serie zu sein. Die Einsamkeit des Befehlshabers ist ein Symbol für die Einsamkeit und Isolation des Individuums, das ganz allein die Verantwortung für sich selbst
trägt. Viele Episoden enden damit, daß Picard an einem Fenster steht, seinen Gedanken nachhängt und in die Unendlichkeit des Weltalls hinausstarrt. Die Erkundung des Weltraums scheint zwangsläufig zu diesem elementaren Augenblick in The Next Generation zu führen, wenn ein einsames Individuum über seinen Platz in der Welt nachdenkt. Sogar in der Konstruktion der Enterprise spiegelt sich dieser extreme Individualismus. Normalerweise sind die Besatzungsquartiere eines Raumschiffs eng und überfüllt, doch in der Enterprise sind die Räume groß und fast leer, und jedes Besatzungsmitglied verfügt über eine große Wohnfläche. Ihre Zimmer liegen niemals nebeneinander; die Enterprise hat keineswegs einen Schlafsaal, in dem Picards Pritsche neben der von Riker und Worf steht. Die Innenausstattung der Enterprise macht den Eindruck, als hätte jedes Besatzungsmitglied das komplette Stockwerk eines Hotels für sich, als wäre jedes Individuum von einer neutralen Pufferzone umgeben, die es von den anderen abschirmt. Welchen Sinn hat diese extreme Isolierung des Individuums? Die Antwort lautet, daß das Individuum in Star Trek einen viel höheren Wert besitzt als jede Gruppe, selbst wenn es sich um die kleine Gruppe eines Ehepaars oder einer Familie handelt. Diese Ansicht wird immer wieder bekräftigt. Picard hält zahlreiche Ansprachen, in denen er die Werte der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung unterstreicht, so daß Q ihn in der Folge ›True Q‹ unterbricht und sagt, daß er alles schon einmal gehört hat und daß Picard im Grunde gar nicht versteht, wovon er redet. In gewisser Weise hat Q völlig recht. Die Serie erlaubt jeder Figur ein Maximum an Autonomie, aber sie hat ihren Preis. Die Hauptfiguren von Star Trek sind viel zu sehr mit sich selbst und ihren Karrieren beschäftigt, um enge familiäre Beziehungen zu anderen aufnehmen zu können. Diese Entwicklung der Individualität, vielleicht der höchste Wert der Serie, führt häufig zur Isolation des Individuums, selbst innerhalb der Besatzung eines Raumschiffs. Diese Betonung der Individualität scheint selbst an unerwarteten
Stellen immer wieder durch. Zeitreisen sind in Star Trek beispielsweise durchaus normal. In der übrigen Science Fiction beschwört die Zeitreise häufig den größtmöglichen historischen Rahmen herauf. In H. G. Wells’ The Time Machine führt die Reise durch die Zeit zu einem fernen Punkt in der Zukunft, an dem die Zivilisation, wie wir sie kennen, nicht mehr existiert, und wo nur noch die Gestalt des Landes geblieben ist, wie sie war. Einige Star Trek-Episoden folgen diesem Muster, wenn eine Reise über große Zeiträume hinweg unternommen wird. In ›All Good Things‹ kehren wir sogar zum Anfang des Lebens auf der Erde zurück. In der Serie geht es ständig um die Probleme, die sich aus Zeitreisen ergeben, die hier als ›Disruptionen des RaumZeit-Kontinuums‹ bezeichnet werden. Das klingt sehr gewaltig, aber in der Praxis sind diese ›Disruptionen‹ viel kleiner. In ›Tapestry‹ wird Picard von Q in der Zeit zurückgebracht, damit er noch einmal verschiedene Entscheidungen durchlebt, die er als junger Kadett an der Akademie getroffen hat. Eine Zeitreisegeschichte in Star Trek geht immer von der Prämisse aus, daß die Entscheidungen eines individuellen Lebenslaufs die Geschichte verändern können. Jedes einzelne Leben ist wichtig und kostbar. Der Wille und die Handlungen eines Individuums sind immer viel bedeutsamer als der Wille und die Aktionen eines Kollektivs. Trotz der Unendlichkeit der Zeit orientiert sich die Zeit am Leben des einzelnen Menschen. Die Zeit läuft nach menschlichen Maßstäben ab. Gelegentlich treibt Star Trek die individuelle Autonomie bis ins Extrem. In ›Man of the People‹ trifft Picard eine sehr interessante Entscheidung. Die Enterprise hat einen Botschafter namens Ves Alkar zu einem Planeten gebracht, damit er den dortigen kriegerischen Konflikt schlichtet. Von Alkar geht eine ansteckende Ruhe aus, die er benutzt, um Frieden zu stiften. Aber es stellt sich heraus, daß er eine Art Parasit ist, der sich nur dadurch am Leben erhält, daß er anderen die Lebenskraft entzieht. Im ersten Akt stirbt sein bisheriger Wirt, eine alte Frau, worauf er sich Deanna Troi als neuen Wirt aussucht, die nun
rapide zu altern beginnt. Doch Alkar benutzt ihre Energie zu einem guten Zweck. Er führt die Verhandlungen, um dem von Kriegen zerrissenen Planeten Frieden zu bringen. Deanna verfällt zusehends, aber der Botschafter benutzt ihr Leben dazu, die Verhandlungen abzuschließen und Millionen Planetenbewohnern das Leben zu retten. Als Picard die Hintergründe entdeckt, steht er vor einem Dilemma. Wenn der Botschafter Erfolg hat, wird er Millionen das Leben gerettet haben, doch dabei wird er Deanna töten. Picard muß zwei gegensätzliche Interessen abwägen, den Wert eines menschlichen Lebens gegen das Überleben einer ganzen Planetenbevölkerung. Er zögert keinen Augenblick lang mit seiner Entscheidung. Deannas Leben muß gerettet werden, und der Planet muß sterben. Er trennt die Verbindung zwischen dem Botschafter und Troi, worauf Deanna wieder normal wird. In dieser Episode muß Picard seine Drohung gar nicht wahr machen, aber er läßt keinen Zweifel daran, daß er nach festen Grundsätzen handeln will. Dieser Grundsatz lautet, daß niemand unter gar keinen Umständen das Recht hat, die Freiheit eines Individuums einzuschränken. Diese Geschichte geht den Konsequenzen seiner Entscheidung aus dem Weg, da Picard letztlich nicht gezwungen ist, einen Planten zum Tode zu verurteilen, um eine Frau zu retten. Picards Entscheidung und die Konsequenzen wären wesentlich erschütternder gewesen, wenn er Troi einfach früher befreit und den Planeten seinem Schicksal überlassen hätte. Trotzdem ist diese prinzipientreue Entscheidung symbolisch für die Entscheidungen, die in der Serie immer wieder getroffen werden. Das Individuum steht an erster Stelle, und die Gruppe ist sekundär. Die Situation in ›Man of the People‹ ist in mancher Hinsicht extrem, aber in anderer Hinsicht repräsentativ. Star Trek erkennt an, daß die Individualität ihren Preis hat, und die Serie bringt ihre Figuren immer wieder in Situationen, in denen sie sich den Grenzen der individuellen Selbstbestimmung stellen müssen. Diese Situationen sind äußerst vielfältig. Eine Figur mag auf die Familie treffen, die sie niemals hatte, während eine andere in eine
Zelle gesteckt wird, wo sie sich mit dem Gefängnis ihres Ichs auseinandersetzen muß. Es gibt sogar eine alptraumhafte Geschichte, in der die Besatzung der Enterprise sich in verschiedene ausgestorbene Tierarten verwandelt, die nichts miteinander gemeinsam haben. In jeder dieser Situationen werden die Figuren von der Enterprise getrennt und ihre Identitäten in Frage gestellt. In der extremsten Variante dieser Geschichten wird ein Doppelgänger erschaffen, ein zweiter Kirk, ein zweiter Riker, ein zweiter Data, meistens eine spiegelbildliche Version oder das genaue Gegenteil, wodurch nicht nur die Autonomie, sondern auch die Einzigartigkeit des Individuums in Frage gestellt wird. Die tiefsten Bindungen zu anderen Menschen sind gewöhnlich Familienbeziehungen, und obwohl die Hauptfiguren in der Serie kinderlos sind, treten Familienbeziehungen in Star Trek oft auf indirekte Weise zutage. In The Next Generation geht es recht häufig um unverhofften Familienbesuch. Die Handlung dieser Episoden ist meist sehr vorhersagbar. Die Enterprise macht irgendwo Halt, und ein unerwarteter Besucher wird an Bord gebeamt. Es könnte Kyle Riker sein, der gekommen ist, um seinen Sohn zu drängen, eine Beförderung zum Captain anzunehmen, oder es könnte Nikolai Rozhenko sein, Worfs Adoptivbruder, der die Enterprise für eine Rettungsmission benötigt. Ganz gleich, um wen es sich handelt, die Besatzungsmitglieder der Enterprise freuen sich niemals über den Besuch eines Verwandten. Diese Besuche kommen meistens überraschend und führen regelmäßig zu Problemen. Das typische Familienmitglied auf Besuch ist wohlmeinend, nur mit sich selbst beschäftigt und mischt sich in alles ein. In The Next Generation ist Lwaxana Troi die perfekte Verkörperung dieser Rolle. Lwaxana ist, wie sie ihrer Tochter Deanna ständig in Erinnerung ruft, ›die Hüterin der Ringe des Siebten Hauses von Betazed und Tochter des Königlichen Hauses der Troi‹. Sie wiederholt diesen albernen Titel wie ein Mantra in den zehn Episoden, in denen sie auftritt. Lwaxana ist die Karikatur einer Mutter. In ihrem Namen steckt die englische Redensart wax and wane, die ›kommen und
gehen‹ bedeutet und darauf hinweist, daß sie sich für ihr Alter viel zu unruhig verhält. Sie hat ihre Sexualität nicht unter Kontrolle und versucht beinahe jeden Mann in ihrer Nähe zu verführen. In den meisten Episoden muß Deanna sich um ihre Mutter kümmern statt umgekehrt. Nach einer Weile ist Lwaxana zu einer komischen Figur geworden. Immer, wenn sie auftaucht, flüchten die anderen und überlegen, wie sie sich am einfachsten von Bord schaffen läßt. In vielerlei Hinsicht ist Lwaxana Troi zu einem Exempel für Familienbeziehungen in der Serie geworden. In Star Trek scheint es zur Erkundung des Weltraums zu gehören, sich von Verwandten wie Lwaxana Troi zu entfernen. In der Episode ›Cost of Living‹ ist sie in Höchstform zu sehen. Hier wird sie an Bord des Schiffes gebeamt und gibt bekannt, daß sie einen Mann heiraten wird, dem sie noch nie zuvor begegnet ist. Als sie schließlich auf ihren Erwählten trifft, stellt er sich natürlich als Langweiler und Griesgram heraus. Doch Lwaxana ist eine starke Persönlichkeit, wie sie für die Serie typisch ist. Obwohl sie ihren Verlobten nicht mag, beschließt sie, trotzdem die Hochzeit über sich ergehen zu lassen. Schließlich muß die Zeremonie abgesagt werden, als Lwaxana nackt erscheint. Doch in dieser Episode geht es um mehr als nur eine gescheiterte Hochzeit. Lwaxanas Suche ist nämlich mit einer interessanten Nebenhandlung verknüpft. Während Lwaxana um ihren künftigen Partner wirbt, wird die Außenhülle des Schiffes langsam von Metall-Parasiten zerfressen. Diese Parasiten traten etwa zur selben Zeit auf, als Lwaxana an Bord gebeamt wurde, und Data schafft es auch, das Schiff von der Plage zu befreien, kurz bevor sie wieder abreist. Zwischen diesen beiden Geschichten wird keine direkte Beziehung hergestellt, aber es gibt doch ein paar auffällige Parallelen. Sowohl Deannas Mutter wie auch die Parasiten sind unwillkommene Besucher. Beide setzen dem Schiff zu, und jeder ist froh, nachdem sie verschwunden sind. Es ist fast, als wäre auch Lwaxana eine Art Parasit, wenn sie ihrer Tochter das Leben schwermacht, statt sie ihr eigenes Leben leben zu lassen. Die
symbolische Bedeutung ist recht deutlich: Die Familie verhält sich gegenüber dem freien Individuum wie ein Parasit. In ›Cost of Living‹ erwählt sich Lwaxana Troi ihren Ehemann nach dem Zufallsprinzip. Damit wird angedeutet, daß man sich eine Familie niemals gezielt aussuchen kann. Da die Figuren in einem Universum leben, in dem der freie Wille und die individuelle Entscheidung von höchster Wichtigkeit sind, muß die Familie einfach im Widerspruch zu jeder individuellen Autonomie stehen. Die Föderation selbst ist ein freiwilliges Bündnis vieler Welten, wie immer wieder betont wird. In Star Trek wird freiwilligen Zusammenschlüssen uneingeschränkt der Vorzug gegenüber unfreiwilligen gegeben, und diese Haltung erstreckt sich sogar auf den unfreiwilligsten Zusammenschluß überhaupt, die Familie. Familienbeziehungen werden in Star Trek zum Thema von Komödien gemacht, und zwar in einem Ausmaß, das keinen Zweifel daran läßt, daß die Familie in der Serie nicht ernst genommen wird. Mit der einzigen Ausnahme von Star Trek: Voyager, wo die Besatzung sehr weit von zu Hause fort ist, klammert die Serie vollständig die üblichste menschliche Reaktion auf lange Reisen aus, das Heimweh. Jede Marine dieser Welt muß sich ständig mit dem Problem des Heimwehs auseinandersetzen, einem Faktor, der ernsthaft die Moral beeinträchtigen kann. In den meisten Filmen über Matrosen auf See geht es um Menschen, die sich nach ihrer Heimat sehnen. Doch an Bord der Enterprise gibt es keine Briefe oder Anrufe nach Hause. Die Besatzungsmitglieder haben ihre Familien zurückgelassen, sie leiden niemals unter Heimweh, sondern verfolgen lieber eifrig ihre individuellen Interessen und Hobbys. Damit wird impliziert, daß diese Starfleet-Offiziere sich völlig auf ihre Karriere konzentrieren und daß das Schiff ihre Heimat und ihr Zuhause ist. Der Grund für diese mangelnde Sehnsucht ist sehr leicht zu erkennen. Die Familie ist eine direkte Bedrohung der Autonomie des Individuums. In der Serie ist immer wieder zu sehen, daß Familien den Umfang an persönlicher Freiheit nicht fördern, sondern einschränken. Ständig wird die Entwicklung des
Individuums unterstrichen und keineswegs die Festigung der Gruppe. Gruppenbewußtsein wird vielmehr als schlimmstmögliche Gefahr des Universums darstellt, wie im Fall der Borg deutlich wird. Wenn reale Familien in der Serie nicht ernst genommen werden, so gilt das nicht für imaginäre Familien. Reale Familien werden oft zum Thema von Komödien, und wir erleben die Besatzung der Enterprise immer wieder dabei, wie sie sich von den Dummheiten ihrer Verwandten peinlich berührt fühlt. Wenn die Figuren es mit Vorstellungen von imaginären Familien zu tun haben, ist die Stimmung dieser Episoden eher tragisch als komisch. Solche Phantasievorstellungen von einer Familie treten in Star Trek in unterschiedlichen Formen auf. Wie bereits festgestellt, hat keine der Hauptfiguren sämtlicher Serien jemals eine feste Beziehung aufgebaut, geheiratet und sich fortgepflanzt. Doch die Serie ist sich dieser Aspekte der menschlichen Erfahrung durchaus bewußt. Denn es wird versucht, sie auf imaginäre Weise nachzuholen, so daß zahlreiche Familienphantasien durch die Serie geistern. Eine kinderlose Frau wird mit der Erfahrung von Schwangerschaft, Geburt und Tod eines Kindes konfrontiert. Ein kinderloser Mann wird häufig mit einer plötzlich vorhandenen Familie ausgestattet. In einer Folge wird Deanna Troi durch einem Weltraum-Inkubus geschwängert. In einer anderen sieht man Geordi LaForge in der Zukunft als Ehemann mit drei Kindern. Manchmal haben diese Phantasien zur Folge, daß die Betroffenen gegen weitere solcher Phantasien immunisiert werden. Nach den Geschehnissen der Episode ›The Child‹ hören wir nichts mehr von Deanna Trois Kinderwünschen, und die Szenen, in denen Geordi als verheirateter Mann zu sehen ist, stellen sich als Teil einer Zukunft heraus, die wahrscheinlich niemals eintreten wird. Außerdem endet die Serie, bevor wir mehr über diese Dinge erfahren. Doch in der zweifellos am höchsten entwickelten Familienphantasie geht es um Jean-Luc Picard, den Captain der Enterprise. Unter den Hauptfiguren der Serie scheint Captain Picard den größten Widerstand gegen
familiäre Bindungen aufzuweisen, und daher wird er recht häufig mit der Familie konfrontiert, die er niemals hatte. Picards Ablehnung von Familienbeziehungen wird bereits zu Anfang der ersten Folge von The Next Generation deutlich. Nur wenige Minuten nach Beginn von ›Encounter at Farpoint‹ sehen wir Picard, wie er stirnrunzelnd einige Kinder betrachtet. Es ist ihm offensichtlich unangenehm, daß sich Familien an Bord der Enterprise befinden. Er will ihnen den Zugang zur Brücke verweigern und ihren Aufenthalt auf bestimmte Decks des Schiffes beschränken. Einige Episoden zwingen ihn dazu, sich seinem Problem mit Kindern zu stellen, wie in ›Disaster‹, wo er in einem ausgefallenen Turbolift mit drei Kindern eingeschlossen ist, die gerade Preise bei einem wissenschaftlichen Wettbewerb gewonnen haben. In anderen Folgen hat er sogar eine Frau, eine Familie oder einen erwachsenen Sohn. In der Originalserie wurden James T. Kirk gelegentlich Frau und Kinder an die Seite gestellt, doch meistens in Zusammenhang mit einem Gedächtnisverlust, nachdem er seiner Erinnerungen als StarfleetCaptain beraubt war, so in ›The Paradise Syndrome‹. Picards Erlebnisse stehen dazu in einem auffälligen Kontrast, weil es sich bei ihm um Erinnerungen an Erfahrungen handelt, die speziell auf ihn zugeschnitten sind. Im Bemühen um abgerundete Charaktere erforscht Star Trek immer wieder die Leerstellen im Leben der Hauptfiguren. Das Prinzip der imaginären Erfüllung des Nichtvorhandenen, wie man es nennen könnte, spielt eine bedeutende Rolle für die persönlichen Phantasien in der Serie: Sie erkundet nicht nur, wer oder was die Figuren sind, sondern auch, wer oder was sie nicht sind – und wer oder was sie hätten sein können.
2 In der Episode ›The Inner Light‹ findet sich die bei weitem ausführlichste Familienphantasie der Serie. Nachdem die Enterprise Magnetfelder untersucht hat und sich auf dem Rückweg zur Starbase 218 befindet, begegnet das Schiff im Weltraum einem fremden Objekt, einer Sonde. Die Sonde ignoriert jeden anderen auf der Brücke und kommt direkt auf Picard zu, und nach einem Lichtblitz verschwindet die Brücke der Enterprise, worauf Picard sich in einem tiefen Polstersessel wiederfindet. Vor ihm steht eine Frau und betupft seine Stirn mit einem feuchten Tuch. Es ist Picards Frau. Er ist offenbar zu Hause, wo immer das sein mag. Seine erste Reaktion besteht im Befehl: »Computer, Programm anhalten! Programm beenden!« Picard denkt, daß er sich in einer Holodeck-Phantasie befindet, die der Computer abschalten soll. Aber nichts geschieht. Eline steht immer noch vor ihm und teilt ihm mit einem bezaubernden Lächeln mit, daß er Fieber hat. Dies ist eindeutig keine neue Holodeck-Episode, in der eine Figur gegen ihren Willen in eine Geschichte verstrickt wird (mehr darüber im nächsten Kapitel). Picard wird nicht die Rolle eines Sherlock Holmes oder Beowulf spielen. Wir spüren sofort, daß Picard keine Geschichte erleben wird, die von einem anderen erfunden wurde. Statt dessen wird er etwas erleben, das aus ihm selbst kommt. Diese Geschichte kann er ebensowenig abschalten oder ausschließen wie sein eigenes Bewußtsein. Die fremde Sonde hat ihn nicht an einen weit entfernten Ort oder in eine fremde Geschichte befördert, sondern einfach nur tiefer in sein eigenes Ich hinein. ›The Inner Light‹ zeigt, wie Picard ein anderes Leben lebt, das sich als ebenso möglich wie sein eigenes erweist. Nach seinem Erwachen wird er von allen Kamin genannt. Er bewohnt eine kleine Villa, die zu einem Dorf gehört, das am Rand einer großen Wüste zu liegen scheint. Er stellt fest, daß er als Kamin im Dorf gut bekannt ist, nicht aufgrund beruflicher Leistungen oder
Positionen, sondern weil er ein guter Freund und Nachbar ist. Kamins offizielle Stellung spielt in ›The Inner Light‹ also keine Rolle. In dieser Episode ist alles sehr privat. Insgesamt vergehen in dieser Folge etwa zwanzig Jahre seines Lebens als Kamin. Irgendwann sagt seine Frau zu ihm, daß seine andere Existenz als Captain eines Raumschiffs außergewöhnlich gewesen sein muß, ›aber in allen Geschichten, die du erzählt hast, hast du nicht ein einziges Mal jemanden erwähnt, der dich so geliebt hat, wie ich dich liebe‹. Und damit hat sie völlig recht. In The Next Generation wird Picards Leben fast vollständig von seiner Karriere als Starfleet-Offizier bestimmt. Er hat zwar persönliche Interessen, aber nur wenige enge Freunde, zumindest nichts, was den Freundschaften zwischen Data und Geordi oder Riker und Worf nahekommt. Die Ereignisse in Picards Leben sind fast ausnahmslos offizielle Ereignisse, ein Teil der Starfleet-Geschichte, und er trifft immer wieder auf Fremde, die von seiner Gefangenschaft bei den Borg oder seiner Folter bei den Cardassianern wissen. Selbst seine Hobbys, seien sie auch noch so ungewöhnlich, sind sehr öffentlich und beinhalten zum Beispiel Vorträge auf archäologischen Konferenzen. Obwohl er ein sehr in sich gekehrter Mann ist, hat er fast gar kein Privatleben. In ›The Inner Light‹ hat er plötzlich ein Privatleben und eine enge Liebesbeziehung – alles, was er an Bord der Enterprise nie hatte. Zuerst sehen wir nur Kamin und Eline, doch nach fünf Jahren wollen sie eine Familie gründen. Diese Episode ist voller privater, familiärer Ereignisse. Ein deutliches Bild für diese Privatheit ist Kamins Flötenspiel. Wie immer wieder in der Episode zu sehen ist, spielt er nicht Flöte, um sich auf einen öffentlichen Auftritt vorzubereiten, sondern ausschließlich zu seiner eigenen Freude. Diese Tendenz spiegelt sich in der Berufswahl von Kamins Sohn wider. Sein Sohn entscheidet sich nicht für eine öffentliche Karriere als Wissenschaftler oder Beamter, sondern folgt seinen Neigungen, um genauso wie sein Vater Musiker zu werden. Auch dies ist sonst fast nie in Star Trek
zu sehen, daß Kinder in die Fußstapfen ihrer Eltern treten. Normalerweise ist der Generationenwechsel in den Familien von schweren Konflikten begleitet; nur in sehr wenigen Beispielen lebt die Familie einer Hauptperson gemeinsam auf einem Planeten oder arbeitet im selben Beruf. Es gibt keine stabilen Familien und keine verläßlichen Eltern. Doch auf der privaten Welt des Planeten Kataan liegt ein Schatten. Picard alias Kamin erkennt allmählich, daß der Planet zum Untergang verdammt ist. Kamin hat kaum eine andere Wahl, als sein Leben wie bisher weiterzuleben, doch er weiß jetzt, daß das Leben auf diesem Planeten nicht von Dauer sein wird. Je älter er wird, desto intensiver muß er sich der Tatsache stellen, daß seine Kinder niemals ihre natürliche Lebenserwartung erreichen werden. Unter der unausweichlichen Drohung dieser bevorstehenden Vernichtung wächst die Bedeutung jeder Handlung ins Unermeßliche. Ob er einen Schuh anzieht, sich einen Hut aufsetzt oder Flöte spielt – alles, was er jetzt tut, ist etwas, das schon bald ein Ende haben wird. Am Schluß der Episode beobachtet er zusammen mit seiner Tochter und seinem Enkel den Start einer Rakete, die eine Sonde ins Weltall bringt, die tausend Jahre in der Zukunft auf einen Starfleet-Captain namens Jean-Luc Picard stoßen wird, um ihm zu zeigen, wie das Leben auf dem Planeten Kataan war. »Alles andere von uns ist seit tausend Jahren vergangen«, sagt Eline zu ihm. Picard erwacht auf der Brücke der Enterprise, wo er in kürzester Zeit ein ganzes Leben durchlebt hat. Er ist jetzt das einzige Wesen im Universum, daß sich an dieses Volk und seine Kultur erinnern kann. Die Geschichte von ›The Inner Light‹ wird sehr komprimiert erzählt, und in einer einzigen Episode erlebt Picard ein glückliches Familienleben. Doch sogar dieses glückliche Leben findet unter der Drohung einer bevorstehenden Katastrophe statt. Picard weiß, daß seine Kinder vor einem natürlichen Ende ihres Lebens sterben werden. Ein glückliches Familienleben, wie es hier gezeigt wird, ist kurz und flüchtig. Die Episode vermittelt
nicht nur eine tragische Grundstimmung, sondern auch das Gefühl der Distanzierung und Entfremdung. Während der gesamten Zeit kann sich Picard daran erinnern, daß er einmal ein anderer war. Als Kamin macht er sich auf eine wochenlange Reise und durchstreift die Berge, um nach der erinnerten Identität zu suchen, die ihm immer wieder entgleitet. Picard fühlt sich niemals wohl in seiner neuen Identität als Kamin, und immer wieder sehen wir, wie er daraus auszubrechen versucht, indem er allein fortgeht, das Universum durch ein Teleskop betrachtet, sich für allgemeine politische Angelegenheiten interessiert und mit einem Regierungsvertreter diskutiert. Dieses Leben repräsentiert einen Weg, den er nicht gewählt hat, gegen den er sich zugunsten eines Lebens bei Starfleet entschieden hat. Als Parabel über Picards Familiensinn ist ›The Inner Light‹ sehr aufschlußreich. Sein Leben mit Eline findet tausend Jahre in der Vergangenheit statt, kurz bevor die Sonne ihres Systems zur Supernova wurde. Dieses glückliche Leben ist gleichzeitig fern und bedroht. Die Familie ist vergangen und zum Untergang verurteilt. Dementsprechend könnte die Betonung des Individuums in dieser Episode kaum größer sein. Der sterbende Planet schickt kein Archiv in den Weltraum, das Aufzeichnungen über die Geschichte und die Errungenschaften seiner Kultur enthält, und auch keine Kapsel, in der sich ausgewählte Dokumente und Artefakte befinden. Statt dessen wird eine Sonde geschickt, die direkt auf Picards Bewußtsein zielt. Die übrige Besatzung der Enterprise nimmt nicht an seiner Erfahrung teil, und in späteren Episoden versucht Picard nie, den anderen davon zu erzählen. Picard holt nur von Zeit zu Zeit seine Flöte hervor und schätzt sie in diesen Momenten offensichtlich als eine seiner privatesten Erinnerungen. Er wurde nicht einmal beauftragt, diese Erinnerungen als eine Art Bote oder Sprecher an andere weiterzugeben. Am Ende der Episode sagt Eline zu ihm, er solle nicht weitergeben, was er erlebt hat, sondern einfach nur sich selbst daran erinnern. »Wenn du dich erinnerst, wer wir waren und wie wir lebten«, sagt sie, »dann werden wir weiterleben.«
Dies ist auf jeden Fall eine seltsame Methode für eine Kultur, nicht in Vergessenheit zu geraten. Die Zivilisation von Kataan scheint nicht daran interessiert zu sein, daß man sich für alle Zeiten an sie erinnert, sondern nur für die verhältnismäßig kurze Zeitspanne, die Picards Leben dauern wird. Auch Picard wird irgendwann sterben, doch solange er lebt, wird er die Erinnerung an das Wesen der Kultur in sich tragen, bis auch sie mit ihm stirbt. Als Methode zur Erinnerung an eine verlorene Kultur scheint diese Sonde ein sinnloser und gescheiterter Versuch zu sein. Doch wenn wir ›The Inner Light‹ nicht als Geschichte über den Planeten Kataan, sondern als Geschichte über Picard betrachten, erscheint die Episode plötzlich viel sinnvoller. Die Grundthese von ›The Inner Light‹ lautet, daß ein einzelnes Individuum wie Jean-Luc Picard in der Lage ist, das Gedächtnis einer gesamten Kultur in sich zu tragen. Auch wenn diese Erinnerungen mit ihm sterben werden, bleibt die Tatsache, daß nur Picard allein für einige Zeit der Träger einer gesamten Kultur ist. Genauso wichtig ist die Tatsache, daß die wesentlichen Erfahrungen dieser Kultur sehr privat und nicht kommunizierbar sind. Picard hat als Kamin keine historischen oder mythischen Erzählungen aufgenommen, die er zur Enterprise mitbringen könnte. Solche Erzählungen zeigen im allgemeinen nur, wie eine Kultur sich selbst gerne sehen würde. Daher sind sie häufig irreführend wie die verschiedenen klingonischen Mythen über Kahless oder nur schwer zu verstehen wie in der Folge ›Darmok‹. Doch die Erfahrung der Kultur von Kataan ist Picard geblieben, und sie gehört ihm ganz allein. »Jetzt leben wir in dir weiter«, sagt Eline in einer der letzten Szenen der Episode zu ihm. Hier mag es wieder den Eindruck erwecken, als hätte Star Trek erneut die Familie ausgelöscht und die Wichtigkeit des Individuums übertrieben herausgestellt. Doch man sollte unbedingt berücksichtigen, daß durchaus historische Wahrheit in der Behauptung steckt, Kultur sei letztlich nicht kommunizierbar. Historiker merken immer wieder an, wie schwierig es ist, über
geschichtliche Namen und Daten hinauszugehen. Das Lebensgefühl einer Kultur stirbt gewöhnlich mit dem Tod dieser Kultur, und es gelingt Historikern tatsächlich nur selten, wirklich in das Leben einer Kultur einzudringen. Picards Erfahrung des Innenlebens einer verlorenen Kultur ist der Traum jedes Historikers. Heutzutage geht die historische Wissenschaft über die Beschäftigung mit äußerlichen und öffentlichen Dingen wie der Abfolge von Herrschern, Regierungserklärungen und Kriegen hinaus und konzentriert sich statt dessen auf die Umstände des alltäglichen Lebens, auf die Bedeutung von Familie, Arbeit und Freundschaft. ›The Inner Light‹ ist eine Art Plädoyer für die übersehenen Dinge des alltäglichen Lebens. Die Episode zeigt, wieviel dem forschenden Blick historischer Überlieferungen entgeht. Niemand außer Picard wird sich je mit dieser Vollständigkeit an Kamins Leben erinnern. Trotzdem enthält diese Erinnerung alle wesentlichen Erfahrungen der Kultur von Kataan. Die beunruhigende Aussage von ›The Inner Light‹ besteht darin, daß es den meisten Kulturen nie gelingt, ihre wichtigsten Erfahrungen zu erinnern, geschweige denn aufzuzeichnen. Viele der typischsten Eigenarten einer Kultur sterben mit dem Tod dieser Kultur, ohne daß sie der Nachwelt überliefert werden können. Auch wenn das ›innere Licht‹, das in Picard scheint, das Licht der Kultur von Kataan ist, wird niemand außer ihm es jemals zu Gesicht bekommen. In ›The Inner Light‹ geht es nicht darum, daß Picards Gedächtnis mit den Daten eines gewaltigen öffentlichen Archivs gefüllt wird, sondern mit Erinnerungen an private Momente, die nur für ihn und seine Familie von Bedeutung sein können. Außerdem gibt es in dieser Episode eine bemerkenswerte Auslassung. Denn das Volk dieses Planeten hat keinen Namen. ›The Inner Light‹ ist tatsächlich die einzige von fast dreihundert Star Trek-Folgen, in dem ein außerirdisches Volk keinen eigenen Namen hat. Die Star Trek-Encyclopedia fühlt sich zwar verpflichtet, einen Namen zu erfinden, die Ressikaner, aber diese Bezeichnung wird in der Episode nirgendwo erwähnt. Diese
Auslassung ist sehr aufschlußreich. Der Name eines Volkes ist normalerweise nicht der, mit dem es sich selbst bezeichnet, sondern der, den es von anderen Völkern erhalten hat. Die große Mehrheit der Völker der Erde hat sich selbst andere Namen gegeben als die, unter denen sie bei anderen Völkern bekannt sind. Ein Beispiel dafür ist der Begriff ›Sioux‹, ein Schimpfname, der von weißen Siedlern für die Prärie-Indianer erfunden wurde, während sie selbst natürlich ihre eigenen Stammesnamen haben. Der Grund, warum Picard niemals den Namen dieses Volkes erfährt, ist darin zu suchen, daß eine solche Bezeichnung eine sehr öffentliche Angelegenheit ist, während Picard das private Innenleben dieses Volkes vermittelt wird. Picard erfährt das private Gedächtnis des Volkes und keinerlei externen Angelegenheiten. Die politische Struktur der Gesellschaft bleibt unklar, genauso wie die kulturellen Leistungen des Volkes. Sie scheinen keine spezielle Technik zu haben. Picard erfährt nur, daß er sich in der Gemeinschaft von Ressik befindet, die in der Nordprovinz eines Planeten namens Kataan liegt. Er lernt dieses Volk nicht als Ressikaner kennen, sondern nur als Individuen, die in einer engen Familiengemeinschaft zusammenleben. Also nimmt Star Trek Familienbeziehungen in gewisser Hinsicht durchaus ernst. ›The Inner Light‹ unterscheidet sich erheblich von den Komödien, die sich anläßlich der Besuche Lwaxana Trois auf der Enterprise abspielen. Diese Episode stattet Picard mit einer Familie aus – und vor allen Dingen mit einer glücklichen Familie. Geschichten über glückliche Situationen sind in Star Trek genauso selten wie anderswo. Seit Aristoteles ist es ein Grundsatz der Literaturwissenschaft, daß unglückliche Situationen viel bessere Themen für Geschichten sind als glückliche. Übereinstimmend wird festgestellt, daß ein Konflikt viel leichter darzustellen ist als Harmonie, weil Harmonie nach innen gerichtet ist und Konflikt nach außen. Selbst unsere Grundbegriffe aus den Bereichen Handlung und Figuren offenbaren einiges über den Aufruhr, den wir von einer Geschichte und ihren Helden erwarten. Die Hauptperson einer
Geschichte wird als Protagonist bezeichnet, ein Begriff, der auf das griechische Wort agon zurückgeht, von dem auch unser Wort ›Agonie‹ abgeleitet ist. In unserer Tradition ist der Held einer typischen Geschichte ein Mensch in Agonie. Das Leiden ist ein sehr verbreitetes Thema in der westlichen Literatur, während das Glück fast völlig ausgeklammert wird. Selbst Star Trek steht eindeutig in dieser Tradition. Das Motiv des ›Utopia mit kleinen Fehlern‹, das weiter oben untersucht wurde, stellt scheinbar glückliche Gesellschaften in Frage, die sich fast immer als repressiv erweisen, worauf die Besatzung der Enterprise Maßnahmen ergreifen muß, um diese Gesellschaften aufzubrechen. Im Kontext dieser Tradition betrachtet, zeigt ›The Inner Light‹ einen bemerkenswerten Ablauf. Es geht darin um ein glückliches Leben, das in einer ausgewogenen Gesellschaft stattfindet. Es handelt sich um die überzeugendste Darstellung von ehelicher und familiärer Liebe in der gesamten Serie. Einem glücklich verheirateten Paar wird meistens mit Mißtrauen begegnet, wie in der Folge ›The Survivors‹, wo Rishon und Kevin Uxbridge, ein älteres Ehepaar, als einzige eine planetenweite Katastrophe überlebt haben. In dieser Episode wird ihre enge Vertrautheit zu einer Art Verschwörung, denn sie verbergen die Wahrheit über das Ende ihrer Welt vor den Föderationsangehörigen, die den Fall untersuchen sollen. Doch in ›The Inner Light‹ ist die Liebe zwischen Picard und Eline offensichtlich und wird im Verlauf der Zeit immer tiefer. Die Szene, in der sie sich entscheiden, Kinder zu haben, ist von großer Intimität. Die Taufszene, in der sie öffentlich ihre Liebe füreinander und für ihre Familie erklären, ist ohne jede Spur von Satire und einzigartig in der ganzen Serie. ›The Inner Light‹ repräsentiert also in gewisser Weise die Erfüllung einer Wunschphantasie von Picard. Die Bedeutung einer Wunschphantasie wird oftmals mißverstanden. Es handelt sich dabei nicht notwendigerweise um ein Bedürfnis, dessen Erfüllung wir tatsächlich anstreben. Es ist einfach nur ein Wunschtraum von etwas, das wir nicht haben und vielleicht nie
haben werden. In seinem Leben als Starfleet-Offizier gibt es nichts, was Picard bereuen würde. In der Episode ›Tapestry‹ bringt Q ihn zurück in die Vergangenheit, worauf Picard schließlich zugeben muß, daß er immer wieder dieselben Entscheidungen treffen würde, wenn er noch einmal die Gelegenheit dazu hätte. Eine Wunschphantasie ist vielmehr ein Traum von etwas Unerreichbarem, ein Traum, der die unausgefüllten Stellen unseres Lebens auszufüllen versucht. Die Träume haben die Funktion, uns auf die Entscheidungen aufmerksam zu machen, die wir getroffen haben, damit wir uns mit ihnen abfinden können. Picard ist sich genauestens bewußt, daß er im Alter von fünfundfünfzig keine Familie mehr gründen wird. Der Grund, warum er von Projektionen möglicher Familien umgeben ist, liegt darin, daß seine Entscheidung wirklich endgültig ist. Er wird niemals Kinder haben. Ein ähnlicher Traum, der vergleichsweise durch eine Art Weichzeichner zu sehen ist, findet sich in Star Trek: Generations, dem siebten Star Trek-Film, wo Picard ein Weihnachtsfest mit der Familie erlebt, die er niemals haben wird. In jedem dieser Fälle dient der Wunschtraum dazu, Picard mit den Entscheidungen zu versöhnen, die er im wahren Leben als Captain des Raumschiffs Enterprise getroffen hat. Die Wunschphantasie ist eine angenehme Sache, und im Fall von ›The Inner Light‹ hat auch Picards zweites Ich eine positive Seite. In dieser Episode wird das Thema der Bewußtseinsspaltung, das so häufig in der Serie auftritt, auf ungewöhnliche Weise variiert. Doppelgänger in Star Trek sind normalerweise unangenehme, böse Zwillinge (mit denen ich mich später näher befassen werde), und sie müssen fast immer vertrieben werden, damit das Ich wieder ein normales Leben führen kann. Doch in diesem Fall wird Picards Persönlichkeit durch den Doppelgänger nicht gespalten, sondern ergänzt. Das Leben, das er als Kamin erfährt, erweitert sein eigenes Leben. Die Episode ist geradezu eine Aufzählung all dessen, was in der Serie normalerweise nicht vorkommt. Es sind nur private Momente, das
Zusammensein mit seiner Frau, ein Gespräch mit seinem Sohn über dessen berufliche Zukunft, ein Spaziergang mit seiner Enkeltochter. Picard erlebt die Geburt eines Sohnes und den Tod eines Freundes. Dieses zweite Leben gibt seinem bisherigen Leben eine völlig neue Dimension, indem es ihm Charakterzüge entlockt, die am Captain der Enterprise nur selten sichtbar werden. Picard ist normalerweise mitfühlend, aber nicht weich, engagiert, aber nicht versessen. Als Kamin erweitert er den Umfang seiner Identität – der vorübergehende Verlust der Identität kann sich also letztlich als Gewinn erweisen. Nicht nur in ›The Inner Light‹, sondern in Star Trek allgemein scheint die Identität oft durch ihren zeitweisen Verlust zu profitieren. Das rekonstruierte Ich ist stärker als das ursprüngliche Ich. Die Konfrontation mit fremden geistigen Kräften festigt den Charakter und erweitert ihn um neue Richtungen. Nach seiner Begegnung mit den Borg kehrt Picard zur Erde zurück und knüpft neue Verbindungen zu seiner Familie. Seine Erfahrung mit einer eigenen Familie in ›The Inner Light‹ verbessert seine Einstellung zur Anwesenheit von Familien an Bord der Enterprise. Erstaunlicherweise führt eine Multiplikation des Bewußtseins nicht unbedingt zu Schizophrenie und Wahnsinn. Sie kann zu einem verstärkten Gefühl der Identität führen, wenn sich das Individuum der Gegenwart anderer Leben und Möglichkeiten bewußt wird. Das Individuum erfährt sich dabei nicht mehr als isolierte Entität, sondern als Quelle sozialer Vielfalt, womit eine effektive Gegentendenz zur Isolation der Individuen in der Serie geschaffen wird. Doch ›The Inner Light‹ geht sogar noch weiter, indem ein neuer Aspekt der multiplen Persönlichkeit beleuchtet wird. In seiner Rolle als Kamin erinnert sich Picard, daß er einmal ein anderer war, ein Mann mit einer großen Palette an Möglichkeiten zur Aktion und Interaktion. Diese Erinnerung läßt im Verlauf der Episode etwas nach, doch sie verfolgt ihn bis zu jenem Moment, als die Verbindung zwischen ihm und dem Planeten Kataan abreißt und er an Bord der Enterprise wieder zu sich kommt. Hier
wird der Eindruck vermittelt, daß Picard die Konfrontation mit dem anderen Leben brauchte, daß er sehen mußte, was aus ihm hätte werden können. Natürlich war sein Leben als Kamin eine Illusion, denn Picard hat dieses Leben nicht wirklich vor tausend Jahren an einem Ort verbracht, an dem er niemals war. Es bringt ihm zu Bewußtsein, was ihn zu dem gemacht hat, der er ist. Es scheint, daß Picard sich in ›The Inner Light‹ selbst erkennen und einschätzen kann, weil er eine andere Perspektive dazugewonnen hat. Er muß sich gleichzeitig beider Leben bewußt sein, und je besser wir ihn kennenlernen, desto deutlicher sehen wir, daß er beide Leben in sich hat. Es ist nicht wie bei Jekyll und Hyde, denn Picard braucht Kamin genauso, wie Kamin Picard braucht. Das Schöne an ›The Inner Light‹ ist, daß hier ein Doppelgänger von Picard geschaffen wird, der seiner würdig ist. Kamin ist tatsächlich der, zu dem Picard unter anderen Voraussetzungen hätte werden können. Er ist ein lebensfähiger Zwilling, der Picard nicht verdrängen muß, um überleben zu können. Beide ergänzen sich gegenseitig. Picards Persönlichkeit hat viele Aspekte, wie es scheint. Die gleiche Aussage wird auf etwas gröbere Weise in ›The Enemy Within‹ getroffen, einer Episode der Originalserie. Hier kommt es wieder einmal zu einer Fehlfunktion des Transporters, bei der Kirk in zwei verschiedene Captains der Enterprise aufgespalten wird. Der zivilisierte Kirk ist ruhig, überlegt und in sich gekehrt. Der wilde Kirk ist der personifizierte Exzeß. Er säuft und versucht, seine Adjutantin Janice Rand zu vergewaltigen. Er strebt nach Macht und betrachtet das Schiff nicht als etwas, für das er die Verantwortung übernommen hat, sondern als seinen persönlichen Besitz. Zuerst versucht der zivilisierte Kirk, das Kommando über die Enterprise zurückgewinnen, doch dann stellt er fest, daß er seine Führungsfähigkeiten verloren hat. Er ist unsicher und kann sich nicht entscheiden. Er weiß nur, daß er die Verdoppelung seiner Persönlichkeit geheimhalten will. Doch wie immer in Star Trek ist das Problem der Identität eine öffentliche Angelegenheit,
vielleicht sogar die wichtigste öffentliche Angelegenheit überhaupt, und der Zustand von James T. Kirk wird bald zu einem Problem, um das sich die gesamte Schiffsbesatzung sorgt. Zuerst versucht der wilde Kirk, den zivilisierten Kirk zu töten, doch sie stellen bald fest, daß sie sich gegenseitig brauchen, weil sie die getrennten Hälften ein und derselben Persönlichkeit sind. Während Scotty den Transporter vorbereitet, kommt es zu einem wunderbaren Bild, als Kirk sein anderes Ich umarmt, mit dem er wiedervereinigt werden soll. Es kommt zu Spannung, Haß und Trennung, aber auch zu Liebe. Natürlich ist Scottys Transporterschaltung erfolgreich. Sie werden vereinigt, und James T. Kirk ist wieder James T. Kirk, doch seine Verdoppelung, wie sie in ›The Enemy Within‹ zu sehen ist, bleibt auf wunderbare Weise als konstante Spiegelung in seinem Namen erhalten. Der Name Kirk geht auf ein schottisches Wort für ›Kirche‹ zurück und läßt an überlieferte Gesetze denken, mit denen soziale Institutionen wie die Kirche immer wieder das Ich regulierten. Doch die mittlere Initiale seines Namens steht für Tiberius, den römischen Kaiser des ersten Jahrhunderts, der für seine Exzesse und Ausschweifungen bekannt ist. James Tiberius Kirk findet sein ursprüngliches Ich wieder, doch dieses Ich ist per definitionem geteilt, wie wir auch schon im Fall von Jean-Luc Picard gesehen haben. Dieser Vorgang der Ergänzung einer Figur aus ihrem eigenen Innern ist ein Grundthema der Serie. Menschen sind multiple soziale Persönlichkeiten, ob es ihnen gefällt oder nicht. In Star Trek wird das Individuum als etwas dargestellt, das mehrere Dinge gleichzeitig ist, wie Planeten, die durch die Schwerkraft ihrer Sonne zusammengehalten werden. Der Titel der Episode ›The Inner Light‹ drückt nachhaltig dieses Bedürfnis nach sozialer Vielfalt aus. Als ›inneres Licht‹ bezeichnet man gewöhnlich eine Inspiration oder die innere Ausgeglichenheit eines Individuums. Das heißt, daß das innere Licht immer aus der Persönlichkeit selbst kommt. Doch in dieser Episode wird das innere Licht eines Individuums durch einen äußeren Faktor ent-
zündet, durch die Sonde. Die Doppelbedeutung dieses Bildes weist darauf hin, daß der Ort im Ich, wo das innere Licht brennt, kein privater und isolierter Ort ist. Tief in Picard gibt es nicht nur sein eigenes inneres Licht, sondern auch das innere Licht einer gesamten Kultur, ihrer Hoffnungen, Träume, Familienbeziehungen und religiösen Überzeugungen. Der privateste Ort einer Persönlichkeit stellt sich gleichzeitig als der sozialste heraus. In Picard existiert eine gesamte Kultur, eine Fülle, die er kaum irgend jemandem mitteilen kann. Im Zentrum des Ichs ist keine meditative Ruhe, sondern eine Welt voller sozialer Vorgänge wie Hochzeit und Geburt, Leben und Tod. ›The Inner Light‹ erinnert uns daran, daß jedes Individuum einen Schmelztiegel der Kultur darstellt. Auch wenn es zunächst überraschen mag, daß in der Serie alles unternommen wird, um die Integrität des Individuums zu wahren, so geschieht es aus einem bemerkenswerten Grund. Kein Mensch ist eine Insel, weil jeder Mensch ein Kontinent ist.
3 Diese Erkenntnis, daß das Individuum im Kern zutiefst sozial ist, erklärt eine Reihe von Standpunkten, die in einigen anderen Episoden deutlich werden. Star Trek steht Dingen wie Meditation oder ähnlichen isolierten spirituellen Aktivitäten nicht sehr positiv gegenüber. Sie werden als quietistisch und lebensfeindlich betrachtet. Spock strebt nach der strengen geistigen Disziplin eines Vulkaniers, die er jedoch aufgeben muß, um der Föderation dabei zu helfen, Frieden mit dem Klingonischen Imperium zu schließen. Lieutenant Worf beschäftigt sich mit religiösen Übungen der Klingonen, um in der Folge ›Rightful Heir‹ festzustellen, daß die Hohenpriester der klingonischen Religion eine gefälschte Legende weitergegeben haben. In beiden Fällen gerät das Individuum in die Gefahr, sich zu sehr zu isolieren, wenn es die heilige Flamme des Ichs verehrt. Wie wir im letzten
Kapitel dieses Buches sehen werden, ist die Tendenz von Star Trek grundsätzlich sozial. Selbst mystische Erfahrungen werden meistens von mehreren geteilt und sind niemals ausschließlich privat. In der Serie werden Figuren, die sich nur zu ihrem eigenen Gewinn mit religiösen Disziplinen beschäftigen, herablassend betrachtet. Es herrscht die Überzeugung vor, daß ein Individuum sich sozial engagieren muß, um gesund und ganz zu bleiben. In der Serie wird das soziale Engagement des Individuums keineswegs nur im Sinne einer populären Psychologie verstanden. Freud hat gesagt, daß sich das Ich nur durch eine große Bereitschaft zum Verzicht sozial engagieren kann. Wir müssen unsere antisozialen Triebe unterdrücken, in den Bereich des Unbewußten verdrängen und sie in soziale Bedürfnisse verwandeln. Die Erkenntnis, daß es innerhalb einer Persönlichkeit unbewußte Gegenstücke zum sozialen Ich gibt, führt in der Serie dazu, daß für viele Hauptfiguren unbewußte Gegenstücke oder Doppelgänger geschaffen werden. In Star Trek sind nur wenige Figuren von der Verdoppelung verschont geblieben. Die Spaltung einer Persönlichkeit ist im Normalfall recht simpel: Eine Hälfte des Ichs ist sozial engagiert und die andere nicht. Eine Hälfte ist nach außen orientiert, die andere nach innen. Eine Hälfte ist in sozialer Hinsicht konstruktiv, die andere destruktiv. Dieses Verhältnis liegt fast jedem Fall eines Auftretens von Doppelgängern in der Serie zugrunde. Data arbeitet an Bord der Enterprise, während sein böser Zwilling Lore in der Isolation erschaffen wird. Riker arbeitet als Offizier eines Raumschiffs, während sein Zwilling Thomas acht Jahre lang isoliert auf Rema Drei lebt. Selbst in Episoden, in denen die gesamte Besatzung auf irgendeine Weise verdoppelt wird, herrscht das gleiche Prinzip vor. In ›Mirror, Mirror‹, einer Episode der Originalserie, werden die Doppelgänger der Besatzung zu Piraten, die mit ihrem Schiff der Galaxy-Klasse den Quadranten unsicher machen. In Star Trek ist der Zwilling immer der isolierte Doppelgänger des Ichs. Der Zwilling soll zeigen, wie das Leben in einer Welt verläuft, in der es keinerlei soziale Verpflichtungen und Einschränkungen gibt. In
Star Trek tun Zwillinge regelmäßig das, was sie wollen, ohne sich um die Konsequenzen ihrer Handlungen zu bekümmern. Es sind Beispiele für die Gefahr des Abgleitens in den Solipsismus oder in einen Zustand, in dem jemand davon überzeugt ist, ganz allein auf der Welt zu sein. Zwillinge stellen hier notwendigerweise die Hälfte des Ichs dar, die unter maßloser Selbstüberschätzung leidet. Lore glaubt, daß er im Alleingang die Borg zum Kampf gegen die Föderation vereinen kann. Thomas Riker glaubt, daß er im Alleingang das Gleichgewicht der Mächte zugunsten einer bedrängten Guerilla-Organisation namens Maquis verschieben kann. Kirks Doppelgänger ist ein Größenwahnsinniger, der nur darauf aus ist, seine Feinde zu ermorden und seine persönliche Macht zu vergrößern. Es sind immer wieder andere Figuren, die verdoppelt werden, doch die Doppelgänger selbst handeln auf immer die gleiche Weise. In Star Trek ist der Doppelgänger stets eine Projektion des antisozialen Ichs, eines Individuums, das so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, daß es sich weigert, die Existenz anderer anzuerkennen. Er ist das isolierte, außer Kontrolle geratene Ich. Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, daß ein so hochzivilisiertes Milieu wie das Raumschiff Enterprise eine solche Anziehungskraft auf antisoziale Doppelgänger ausübt. Die Enterprise ist schließlich eine großartige technologische Leistung, und die Föderation, zu der es gehört, ist im Vergleich zu unserer eigenen Welt äußerst friedfertig. Warum wimmelt es also in den Korridoren der Enterprise von monströsen Doppelgängern der Hauptfiguren? Die Antwort liegt genau in dieser Vision von sozialer Perfektion. Wie jeder weiß, zeigt die Serie eine Welt, die viel besser ist als unsere Welt und die meisten Welten der Science Fiction. Doch ein Psychologe wie Freud weiß, daß eine solche bessere Welt auch ihren Preis hat. Je zivilisierter eine Kultur wird, desto tiefer werden nach Freud die antisozialen Triebe dieser Kultur ins Unbewußte verdrängt. Freud ist davon überzeugt, daß diese aggressiven Triebe niemals verschwinden.
Statt dessen halten sie sich eine Zeitlang versteckt, ohne daß man sie sieht oder bemerkt, bis sie wie Viren mutieren und schließlich in neuer und noch gefährlicherer Form wieder auftreten. Je mehr wir uns einer Gesellschaft annähern, in der solche Triebe keinen Platz mehr haben, desto wahrscheinlicher wird es nach Freud, daß diese Triebe sich neue Wege suchen. Auch wenn die Figuren von Star Trek in einer Welt leben, die frei von den sozialen Entgleisungen wie Armut, Intoleranz und Habgier ist, sind sie niemals vor den unbewußten Kräften sicher, die für die Schaffung einer solchen Gesellschaft unabdingbar waren, wie Freud sagen würde. In der Serie wird immer wieder anerkannt, daß die Zivilisation ihren Preis hat, wenn viele der zivilisiertesten Figuren mit einer grundsätzlichen Skepsis betrachtet werden. Eine äußerlich zivilisierte Gesellschaft stellt sich in Star Trek oft als im Innern barbarisch heraus, beispielsweise in ›The Masterpiece Society‹, wo eugenische Geburtenkontrolle praktiziert wird, oder in ›The Return of the Archons‹, wo Menschen von einer gefährlichen Maschine beherrscht werden. Eine häufig wiederkehrende Figur der Serie könnte man als den böswilligen Botschaften bezeichnen, eine unter normalen Umständen kultivierte und zivilisierte Person, der seine Ausgeglichenheit dadurch erlangt, daß er sie anderen entzieht, wie zum Beispiel in der bereits untersuchten Folge ›Man of the People‹, wo Ves Alkar es beinahe schafft, Deanna Troi ihrer Lebenskraft zu berauben. Gul Madred, der Picard in ›Chain of Command‹ foltert, ist ein hochkultivierter Mann. Star Trek erkennt genauso wie Freud an, daß Zivilisation ihren Preis hat, geht jedoch häufig über Freud hinaus, wenn sich unter der polierten Oberfläche einer Zivilisation die Barbarei verbirgt. In den Star Wars-Filmen gibt es keinen bösen Zwilling, obwohl das Böse dort eine so herausragende Rolle spielt. Diese lauernde Gefahr der Barbarei führte dazu, daß in der Serie eine spezielle Institution geschaffen wurde, die sich mit diesem Problem befassen soll. In der Originalserie gab es keinen Bordpsychologen auf der Enterprise (obwohl Sally Kellermanns
Rolle im zweiten Pilotfilm zur Originalserie in diese Richtung zielte), doch in The Next Generation wird die Aufgabe von Counselor Deanna Troi wahrgenommen. Ihre Funktion besteht darin, den Prozeß der Zivilisation aufrechtzuerhalten und sich um Probleme zu kümmern, die den reibungslosen Betrieb der Enterprise beeinträchtigen könnten. Die soziale Orientierung der Persönlichkeit ist in Star Trek so wichtig, daß Deanna Troi in The Next Generation mit ihrem Beratungszimmer ein eigenes psychologisches Büro erhalten hat. Trois Rat läuft immer wieder auf das gleiche hinaus: »Machen Sie sich keine Sorgen, lassen Sie sich Zeit, Sie werden damit zurechtkommen, Sie werden sich wieder einfügen.« Das Sich-Einfügen ist es, worum es in den meisten Star Trek-Geschichten geht; es sind Gleichnisse der Identität, und Troi kommt häufig in den Schlüsselszenen zu Wort, um sie zu ratifizieren. Es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, daß eine Folge von The Next Generation damit endet, wie Troi mit jemandem über dessen persönlichste Erlebnisse redet. Nach seinen Erfahrungen mit den Cardassianern teilt Picard ihr in einem Beratungsgespräch mit: »Etwas, das ich nicht in meinem Bericht erwähnte…« Was nicht in seinem Bericht steht, wird nun in Trois Protokoll eingehen. Sie soll verhindern, daß das Ich zu privat wird. Picard mag Starfleet nicht alles erzählen, aber dafür erzählt er es ihr. Sie soll dem Ich dabei helfen, sich wieder in das soziale Umfeld einzufügen. Der wahre Zweck ihrer Aufgabe wird dadurch deutlich, daß sie häufig von Offizieren verlangt, sich bei ihr auszusprechen. In ihrem Titel ›Counselor‹ vermischen sich die verschiedenen politischen und psychologischen Funktionen eines Beraters oder Anwalts. Selbst ihr Name Troi bedeutet ›drei‹ in verschiedenen Sprachen und deutet darauf hin, daß sie die Dritte, die Gesprächsleiterin oder Moderatorin ist, die im endlosen Dialog zwischen dem Ich und seinen verschiedenen Zwillingen vermitteln soll. Auch wenn ihre besonderen Fähigkeiten irrational erscheinen, werden sie stets zu äußerst rationalen Zwecken eingesetzt. Mit Deanna Troi gibt es an Bord der Enterprise letztlich keine Privatsphäre für die Besatzung mehr. In diesem
Sinne sagt sie immer wieder auf geradezu aufdringliche Weise: »Mein Büro steht Ihnen jederzeit offen.« Durch die Dienste von Counselor Troi wird gewährleistet, daß Starfleet jederzeit über das Privatleben aller Mitarbeiter informiert ist. In der Serie wird somit ständig versucht, das innere Leben der Besatzungsmitglieder der Enterprise zu verwalten, damit sie den Anforderungen des Lebens an Bord eines Raumschiffs so gut wie möglich gerecht werden. Doch gelegentlich können selbst die Bemühungen von Starfleet und Counselor Troi den schweren Zusammenbruch des Ichs nicht verhindern. Diese Zusammenbrüche treten plötzlich und ohne erkennbare Erklärung auf und können eine Figur oftmals bis an den Rand des Wahnsinns treiben. Wir haben bereits gesehen, wie Picard in einer Folge von Aliens entführt und in einer anderen von einer fremden Sonde manipuliert wurde. In ›Frame of Mind‹ wird Riker in eine außerirdische Irrenanstalt versetzt. In ›Schisms‹ werden mehrere Besatzungsmitglieder in eine andere Dimension entführt, wo Aliens medizinische Experimente an ihnen durchführen. In allen diesen Fällen ist die Ursache auf einen fremden Einfluß von außen oder durch Außerirdische zurückzuführen. In Star Trek kommt die Bedrohung der Identität niemals aus den Figuren selbst. Keine Figur gerät jemals in die Gefahr, aus inneren, psychologischen Gründen ihren Verstand zu verlieren. Eine Bedrohung der Integrität der Persönlichkeit kommt letztlich immer von außen. Mehrere Episoden beginnen damit, wie eine Figur durch die Korridore der Enterprise irrt und befürchtet, den Verstand zu verlieren. Vielleicht halluziniert der Betroffene, vielleicht glaubt er, jemand anderer zu sein oder an zwei Orten gleichzeitig zu existieren. Riker wirkt zu Beginn von ›Schisms‹ erschöpft und ausgezehrt; Picard taumelt in ›All Good Things‹ im Schlafanzug durch die Korridore. Für Außenstehende mögen sie verwirrt, paranoid oder wahnsinnig erscheinen, doch in jedem Fall ist ihre geistige Verwirrung manipuliert, ihre Paranoia gerechtfertigt und ihr Wahnsinn nicht selbstverschuldet. In jedem Fall sind Aliens für ihren Persönlichkeitsverlust verantwortlich,
und sobald der fremde Einfluß eliminiert wird, kehren sie nach einem schmerzhaften Prozeß der Selbstfindung zu ihrem früheren Ich-Zustand zurück. Die Tatsache, daß Aliens so häufig als Bedrohung der menschlichen Identität auftreten, führt mich zur Schlußfolgerung, daß außerirdische Kräfte symbolisch an die Stelle der dunklen Kräfte des Geistes treten. Der Identitätsverlust betrifft unterschiedliche Figuren auf unterschiedliche Weise. Jede erfährt die Beeinflussung durch Aliens auf eigene Art. Sehr häufig wirken sich diese Beeinflussungen dahingehend aus, daß die tiefsten und am stärksten verdrängten Wünsche der Hauptfiguren geweckt werden: Picards Mangel an Familienbeziehungen, Rikers Besorgnis, nicht das Kommando über die Enterprise (und damit über sich selbst) zu haben, Trois Kinderlosigkeit, Worfs unterdrückte Aggressionstriebe. Obwohl Aliens für die Weckung dieser angstvollen Zustände verantwortlich sind, sind diese Zustände selbst den Betroffenen nicht fremd. Picards Sohn in ›Bloodlines‹ mag auf eine außerirdische List zurückzuführen sein, nicht jedoch seine Kinderlosigkeit. Das gleiche gilt für Deanna Troi in der Folge ›The Child‹, wo sie durch ein Alien geschwängert wird und sich das gesamte Leben des Kindes in einer einzigen Episode vollzieht. Unter fremden Einflüssen verhalten sich die Figuren der Serie oftmals auf eine Weise, in der ihre tiefsten Wünsche zum Ausdruck kommen. Außerirdische Einflüsse stören die geordnete Welt der Identitäten in Star Trek, die vernünftige Verhaltenskontrolle, die durch Counselor Trois Büro repräsentiert wird, und setzen eine Art dämonische Besessenheit an ihre Stelle. Vor Jahrhunderten wurden Dämonen immer wieder als Symbol für Kräfte benutzt, die die Menschen nicht verstanden. Die Besessenheit durch Dämonen war ein primitiver Erklärungsversuch für die Vielfältigkeit des Ichs. In Star Trek ist ein ähnlicher Prozeß zu beobachten: Wir sehen niemals, wie die Aliens den Zusammenbruch einer Figur bewerkstelligen, oder wenn wir es doch sehen, dann höchstens am Ende der Episode. Statt dessen erleben wir den Vorgang des
Zusammenbrechens, die Gefühle, die der Betroffene während des allmählichen Identitätsverlusts erfährt. In der Serie wird von ›fremden‹ oder ›außerirdischen Einflüssen‹ gesprochen, früher sprach man von dämonischer Besessenheit. Ganz gleich, wie man es nennt, es ist die einzige wirkliche Bedrohung der Integrität der Personen in der Serie. Doch der Identitätsverlust erweist sich immer nur als vorübergehend. Kein einziger Fall in der Serie hat dauerhafte Folgen. Dutzende weiterer Episoden enden damit, daß eine Figur einen schmerzhaften und schwierigen Prozeß der Selbstfindung durchmachen muß, bevor sie wieder wie gewohnt weiterleben kann. Doch zum Schluß wird jedesmal der gewohnte Zustand wiederhergestellt. In der Serie gelingt es immer, die außerirdischen Dämonen zu exorzieren. Selbst im Fall der Zwillinge bleibt die Individualität letztlich ungebrochen, und der Zwilling wird gewöhnlich vertrieben oder findet den Tod, wodurch die betroffene Figur wieder ihre normale Identität annehmen kann. Diese Geschichten, in denen die Identität verloren und wiedergefunden wird, haben dazu geführt, daß die Charaktere in Star Trek ein wenig zu vollkommen erscheinen, ein wenig zu gefestigt. Picard wird durch eine Verstümmelung bei den Borg weder zerstört noch nachhaltig beeinträchtigt, wie es bei vielen Kriegsveteranen der Fall ist, sondern erholt sich ohne bleibende Folgen von dieser Erfahrung. Die Kraft des Individuums bleibt ungebrochen, die Serie behauptet am Ende immer wieder die innerliche Unverletzbarkeit des Individuums. Die Persönlichkeiten der Hauptfiguren sind so stark und stabil, daß die Produzenten von The Next Generation es für notwendig erachteten, einige Figuren mit unausgeprägten oder deformierten Identitäten einzuführen. Dabei handelt es sich um Wesley Crusher, Lieutenant Reginald Barclay und Lieutenant Commander Data. Wesley ist ein Jugendlicher, Barclay ein Neurotiker und Data ein Androide. Diese Figuren haben die Funktion eines Spiegels für die anderen, denn sie leben in einem
Zustand der ständigen Unvollständigkeit und Identitätssuche. Diesen Figuren fehlt die innere Ausgeglichenheit, die die meisten der anderen Hauptfiguren auszeichnet, die sich zur Aufrechterhaltung ihrer perfekten inneren Kontrolle verschiedenen Übungen widmen, die ihr inneres und äußeres Gleichgewicht stärken sollen. Worf, Troi, Crusher, Picard und Guinan praktizieren regelmäßig Kampfsport, Fechten oder eine klingonische Abart des Tai Chi. Im Gegensatz zu ihnen sind die unausgebildeten Persönlichkeiten unbeholfen und oftmals unsicher. Sie haben noch nicht gelernt, ihr inneres Leben auf das äußere Leben, wie es von Starfleet repräsentiert wird, abzustimmen. In den Folgen, die sich näher mit ihnen beschäftigen, geht es regelmäßig um ihre soziale Integration in die Besatzung. In ›Hollow Pursuits‹ muß Barclay lernen, seine Isolation zu überwinden und an Bord des Schiffes Freunde zu gewinnen. In ›The First Duty‹ muß Wesley lernen, sich so zu verhalten, wie es von einem Starfleet-Offizier erwartet wird. Damit wird impliziert, daß sie erst dann normal werden können, wenn sie sämtliche Normen, Vorschriften und Verhaltensregeln von Starfleet verinnerlicht haben. Lieutenant Commander Data ist ein wesentlich komplizierterer Fall. In gewisser Hinsicht stellt er die Summe aller Identitäten der Enterprise dar. Genauso wie Wesley ist seine Identität unvollständig, und er ist ständig auf der Suche – nicht nur nach dem, der er ist, sondern nach dem, der er sein wird. Genauso wie Barclay muß er sich mit seinen Mängeln auseinandersetzen, in Datas Fall mit dem Mangel an Emotionen. Genauso wie Picard und Riker verliert er gelegentlich seine Identität und muß darum kämpfen, sie zurückzugewinnen, wobei er häufig zu einer Bedrohung wie sein Bruder Lore oder der Cyborg aus den Terminator-Filmen wird. Doch der wichtigste Aspekt von Datas Identität ist fraglos seine Einzigartigkeit. Er ist das einzige Wesen seiner Art. In Star Trek wird Lieutenant Commander Data recht häufig dazu benutzt, sämtliche Register der Identitätsprobleme zu ziehen. Jedes Identitätsproblem, das in der Serie angesprochen
wird, tritt mit erhöhter Intensität bei Data auf. Er ist das einsame Individuum schlechthin, das per definitionem in einem Zustand der Isolation vom Rest der Besatzung lebt. Er hat keine Familie und muß sich dennoch mit einem bösen Zwilling auseinandersetzen. Er widmet sich vollständig seiner Karriere als Starfleet-Offizier und ist in der Lage, Tag und Nacht durchzuarbeiten. Und er ist im Kern seines Wesens sozial: Auch wenn er physisch ohne Gesellschaft auskommen kann, tut er es nur in einem Zustand der Stasis. Es gibt nur sehr wenige Szenen, in denen Data ganz allein zu sehen ist. Allein ist er kaum mehr als ein Roboter. Seine vielfältigen Versuche, sich künstlerisch zu betätigen, seine Malerei und seine Dichtung, sind im höchsten Grade mechanisch. Data existiert nur als Imitator, und er wird wunderbar von Brent Spiner gespielt, der sich ausgezeichnet auf Imitation versteht und der Rolle eine unerschütterliche, ruhige Komik verleiht, die an Buster Keaton erinnert. Als Imitator wird Data nur dann lebendig, wenn er sich in der Gesellschaft anderer befindet. Er lebt nur, wenn er mit anderen interagiert, sie ausfragt, von ihnen lernt und Freundschaften mit ihnen schließt. In Data konzentriert sich außerdem das, was wir als zentrale Idee der Serie erkannt haben: die Notwendigkeit von Gesellschaft. Immer wieder haben wir gesehen, daß Star Trek den Menschen als zutiefst soziales Wesen betrachtet, das in Gruppen gedeiht und allein oder in der Isolation nicht überleben kann. In Star Trek ist die Isolation immer der Nährboden für Selbsttäuschung und Größenwahn. Sämtliche verrückten Wissenschafter der Serie hecken ihre Pläne in einsamen Winkeln der Galaxis aus. Der schreckliche Khan beginnt seine Herrschaft des Terrors während eines langen Exils auf einem trostlosen Planeten. Zwielichtige Charaktere sind immer Renegaten, Piraten oder Einzelgänger, während sich die Mitglieder etablierter Gesellschaften wie der Klingonen oder Romulaner im allgemeinen ehrenhaft verhalten oder zumindest versuchen, den Anschein von Ehre zu wahren. In vielerlei Hinsicht führt Data uns zurück zu Mary Shelleys Frankenstein, wo viele der Ur-
sprünge der Serie zu finden sind, wie wir gesehen haben. Wir müssen uns nur daran erinnern, daß Frankenstein ein Roman über ein Monster ist, das durch seine Unfähigkeit, sich in die Gesellschaft einzufügen, zerstört wird. Das Monster entwickelt Selbstbewußtsein, während es sich versteckt und heimlich eine Familie beobachtet, doch als es sich den Menschen zeigt, wird es von ihnen vertrieben, aus seiner Heimat verstoßen und gnadenlos gejagt. In Shelleys Roman kann Dr. Frankensteins Monster niemals in die Gesellschaft zurückkehren, doch in Star Trek ist die Eingliederung in die menschliche Gesellschaft der Stoff, aus dem die meisten Geschichten über Identitätsprobleme gestrickt sind. Im Vergleich zur Geschichte von Frankensteins Monster mag die von Data ein besseres Ende haben, aber ihr liegt dieselbe Aussage zugrunde: daß jedes Leben sozial ist und sich in soziale Muster einfügen muß. Die eigentliche Mission der Enterprise besteht darin, andere Lebensformen zu entdecken und sie in ihrem sozialen Kontext zu verstehen, und es sind immer wieder die traurigsten Missionen, wenn die Enterprise auf Wesen trifft, die die letzten ihrer Art sind oder von der sozialen Basis abgeschnitten wurden, die ihnen das Leben ermöglicht. In diesem Licht betrachtet stellt die Grundhandlung von Star Trek: Voyager, in dem ein Schiff quer durch die Galaxis seinen Heimweg sucht, das Handlungsgerüst für die gesamte Serie dar: die Trennung und die lange Rückkehr nach Hause. Die Geschichte einer solchen Trennung von der Gesellschaft kann wie im Fall von Star Trek: Voyager physisch sein, aber in diesem Kapitel haben wir gesehen, daß sie genausogut psychisch sein kann. Die Figuren in Star Trek werden häufig durch den Verlust der Identität von der Gesellschaft getrennt, und genauso wie die Besatzung der Voyager müssen sie dann den Weg zurück finden. Wie wir gesehen haben, kann dieser Verlust auf vielfältige Weise geschehen, durch Isolation, Verdopplung, Gefangenschaft oder Folter, um nur einige Beispiele zu nennen. Doch diese Erfahrung des Verlusts erweist sich am Schluß immer als stärkender Faktor für die Entwicklung der Figur. Der Verlust
führt zu einem Gewinn; die Identität muß verloren werden, damit sie wiedergefunden werden kann. In der Serie entwickelt sich die Identität durch einen Vorgang, den Anthropologen als Grenzerfahrung bezeichnen. Die Grundidee einer solchen Erfahrung besteht darin, daß jemand das Leben außerhalb jeglicher Gesellschaft erfahren muß, damit er anschließend ein geordnetes Leben innerhalb der Gesellschaft führen kann. In den meisten Gesellschaften gibt es Rituale oder Verpflichtungen, durch die Menschen gezwungen werden, einige Zeit außerhalb ihres gewohnten Lebensbereiches zu verbringen, sei es in Form religiöser Exerzitien oder des Militärdienstes. Die Menschen werden gezwungen, an der Grenze zu leben. Diese Erfahrung kann physisch sein, wenn Riker in ein Irrenhaus entführt wird (in der Folge ›Frame of Mind‹, die im folgenden Kapitel analysiert wird), oder spirituell, wenn Spock sich in religiöse vulkanische Disziplinen vertieft. Nach einer Weile kehren sie mit gestärkter Zielstrebigkeit in die Gesellschaft zurück. Dahinter steckt die Idee, daß die soziale Integration ein gewisses Maß an Desintegration erfordert, um funktionieren zu können. Star Trek zeigt uns die Vision einer äußerst gut funktionierenden Zukunft, und es ist ein Teil dieser Vision, daß sogar in einer nahezu idealen Gesellschaft wie der Föderation Platz für Grenzerfahrungen bleiben muß. Es ist kein Zufall, daß in ›All Good Things‹, der letzten Folge der Serie, nur noch wenige Besatzungsmitglieder der Enterprise weiterhin den Weltraum erforschen. Die meisten haben neue Aufgaben auf der Erde übernommen, Picard als Botschafter im Ruhestand, Data als herausragender Professor in Cambridge, Geordi als berühmter Schriftsteller. Ihre Reisen durch die Galaxis haben sie letztlich wieder nach Hause geführt, wo sie nach ihrer Rückkehr eine höhere und vollständigere Identität gewonnen haben. Die Geschichte einer Grenzerfahrung beginnt immer mit einer Trennung und führt zur schließlichen Reintegration. Solche Geschichten klingen oftmals weit hergeholt, da eine Trennung nicht immer zur Reintegration führt, wie wir wissen.
Nicht jeder, der eine solche Erfahrung durchmacht, kann sich wieder in die Gesellschaft eingliedern. In der Serie gibt es keine aus der Bahn geworfenen Kriegsveteranen, keine ehemaligen Kriegsgefangenen, die von Erinnerungen an ihre Folterer gequält werden. Selbst die Desperados vom Maquis-Schiff in Star Trek: Voyager, die gegen die Föderation und ihre Lebensweise rebellierten, nehmen den Verhaltenskodex von Starfleet an und lernen sich einzufügen. Der Grund dafür ist, daß sich die Erholung vom Identitätsverlust der Erzählstruktur der Serie unterordnen muß. Schließlich ist die Entwicklung von der Trennung zur Reintegration in der westlichen Literatur sehr weit verbreitet und findet sich in Erzählungen von Homer bis Hemingway. Im wahren Leben hätte sich Captain Picard niemals so schnell von seinen Torturen bei den Borg erholen können, und Commander Riker hätte sich vermutlich niemals von seiner Entführung nach Tilonus Vier erholt. Doch in Star Trek erfordert die Serienstruktur, daß sie sich schnell erholen und reintegrieren, was demnach aller Realität zum Trotz gewöhnlich in den letzten Minuten der Episode geschieht. Alles wird auf wundersame Weise schließlich wieder wie gewohnt. In dieser Hinsicht entfalten die Figuren von Star Trek oftmals eine geradezu mythische Größe, wenn sie im Kampf niedergestreckt werden, um sich immer wieder von neuem zu erheben und sich den Herausforderungen der nächsten Episode zu stellen. Trotz der verhältnismäßig großen Komplexität der Charaktere bleibt Star Trek einigen der grundlegendsten Erzählstrukturen der westlichen Literatur verpflichtet. Die Geschichte der Trennung und Reintegration ist nur eine von vielen wiederkehrenden Geschichten in Star Trek, die die Serie nicht deshalb benötigt, weil sie realistisch wäre, sondern weil sie einige unserer grundlegendsten Werte bestätigt. Die Struktur der Geschichten, die in der Serie erzählt werden, ihre Tendenz zum Mythos und die Werte, die darin bestätigt werden, ist das Thema des nächsten Kapitels.
III Geschichten und Mythen
Star Trek hat mehr als nur eine Geschichte zu erzählen. Viele Werke der Science Fiction sind episch angelegt, und ein Epos erzählt gewöhnlich eine einzige längere Geschichte. Solche Epen haben meistens eine sehr große Spannweite und erstrecken sich über gewaltige zeitliche und räumliche Distanzen. Die DuneRomane erzählen die Geschichte eines Messias, der zum Wüstenplaneten kommt. Die Foundation-Romane von Isaac Asimov erzählen eine einzige Geschichte, die sich über mehrere tausend Jahre erstreckt. Die Star Wars-Filme erzählen die Geschichte des letzten Kampfes zwischen der Macht und dem Imperium des Bösen. Andere Beispiele aus der Science Fiction haben wenige Geschichten zu erzählen und weisen eine große Zahl von Protagonisten auf. Star Trek kommt mit wenigen Hauptfiguren aus und hat sehr, sehr viele Geschichten zu erzählen. Die Bandbreite der Serie ist bemerkenswert. In viel höherem Ausmaß als die übrige Science Fiction plündert Star Trek die gesamte Tradition des westlichen Geschichtenerzählens. Jede Episode ist eine straffe Erzählung, die von den Logbucheinträgen des Captains eingerahmt wird. Die Werbeunterbrechungen teilen die Handlung in fünf Akte ein, die der klassischen Fünf-AktStruktur der westlichen Dramaturgie entsprechen. Fernsehserien sind eine verhältnismäßig neue Entwicklung, doch Serien in der Literatur sind durchaus nichts Ungewöhnliches. Seit der Antike wurden immer wieder Geschichten in Serienform erzählt, und Star Trek beherrscht die Serienform in einer Weise, die nur von wenigen Fernsehserien jemals erreicht wurde. Die Serie baut ständig Anspielungen auf vorhergehende Geschichten ein, um in jeder Woche eine neue Episode erzählen zu können. Solche Referenzen sind geradezu ein Markenzeichen hoher Literatur. Die Serie weist eine Reihe von literarischen Anlehnungen auf, die man von T. S. Eliots The Waste Land erwarten würde und nicht von einer Fernsehserie. Shakespeare ist überall in Star Trek präsent, nicht nur in Form von Zitaten, sondern auch in der
Handlung und den Figuren, insbesondere in der des Jean-Luc Picard, der vom erfahrenen Shakespeare-Schauspieler Patrick Stewart verkörpert wird. Es gibt Episoden, in denen die Geschichten um Sherlock Holmes oder Captain Ahab, die Epen um Beowulf und Gilgamesch und die Gesänge Homers verarbeitet wurden. Ganze Planeten befinden sich immer wieder in der Lage der hebräischen Völker aus der Bibel. Das kulturelle Gedächtnis ist eins der großen Themen von Star Trek, vor allem seine Übermittlung durch Geschichten. In einer Folge trifft Picard auf ein Volk, das ausschließlich in metaphorischen Anspielungen auf bestimmte Schlüsselmythen spricht, ähnlich wie die Griechen Homer-Zitate benutzten, um damit sämtliche Aspekte ihrer Gesellschaft auszudrücken. In einer anderen Folge unterrichtet Worf eine Gruppe von klingonischen Kindern, indem er ihnen Geschichten erzählt, die die gemeinsame Basis ihrer Kultur bilden, damit sie sie nicht vergessen. In keiner anderen Fernsehserie wurden jemals so viele literarischen Themen verarbeitet. Doch das Geniale an Star Trek besteht nicht einfach nur in der Tatsache, daß auf viele andere Geschichten verwiesen wird. Es geht nicht um den Umfang, sondern die Bedeutung dieser Geschichten. Die Science Fiction ist ein ungewöhnlich offenes Genre, in dem solche Entlehnungen durchaus üblich sind. Hier geht es um die besonderen Assoziationen, mit denen die entlehnten Geschichten in der Serie verknüpft werden. Geschichten stellen in Star Trek immer wieder eine Falle dar, eine Täuschung, einen Trick oder einen Betrug. Auf dem Holodeck können Geschichten zu einer Sucht werden, wie Lieutenant Barclay zu seiner Bestürzung feststellen muß. Sie können auf unerwartete Weise zum Leben erwachen und danach streben, aus dem Holodeck zu entkommen, wie es Datas Professor Moriarty versucht. Gelegentlich können sie eine größere Kraft als die Wahrheit entwickeln, wie in den fortgesetzten Geschichten um die Rückkehr von Kahless, einem betrügerischen Messias der Klingonen. Die Botschaft, die Star
Trek zum Thema Geschichten vermittelt, ist klar und eindeutig. Geschichten sind gefährlich. Sie können außer Kontrolle geraten. Sie haben ein eigenes Leben, und man muß ihnen die Freiheit lassen, sich aus eigenem Antrieb zu entwickeln. Wie wir sehen werden, besteht eine der häufigsten Handlungsstrukturen der Serie darin, daß die Besatzung der Enterprise in eine fremde Geschichte verstrickt wird, aus der sie entkommen muß, um sich zu befreien oder dem Wahnsinn beziehungsweise Tod zu entgehen. Oftmals sind Geschichten so gefährliche Fallen, daß sich Besatzungsmitglieder in ihren eigenen Geschichten verfangen. Alle Episoden, in denen die Enterprise in Zeitschleifen oder temporalen Anomalien gefangen ist, in denen die Besatzung immer wieder dieselbe Geschichte durchleben muß, sind ein besonders frappantes Beispiel für diesen Zusammenhang zwischen Geschichten und Gefangenschaft. Dieses Problem mag überraschend erscheinen, da es unter den Hauptfiguren von The Next Generation keinen einzigen begabten Geschichtenerzähler gibt. Picard ist viel zu sehr in sich gekehrt, um Geschichten zu erzählen, außer einer gelegentlichen Anekdote aus seiner Akademiezeit. Worf fühlt sich von der klingonischen Tradition entfremdet und versucht immer wieder, seinen Sohn Alexander in klingonischen Sitten zu unterrichten; außerdem beklagt er sich häufig darüber, daß er das Vertrauen in die klingonische Tradition verloren hat. Rikers maskulines Auftreten verleitet ihn gelegentlich dazu, die Rolle des angeberischen Soldaten zu spielen, doch er hält sich zurück, mit seinen sexuellen Eroberungen zu prahlen, obwohl es Hinweise auf seine Interessen gibt, wenn er Captain Picard über Heldengeschichten seiner Jugendzeit ausfragt. Dr. Crusher ist besonders zurückhaltend hinsichtlich ihres verstorbenen Ehemannes und ihrer Vergangenheit. Und Deanna Troi neigt dazu, die Geschichten, die ihre Patienten ihr erzählen, zu unterbrechen und zu interpretieren, bevor sie zu Ende erzählt werden können. Data jedoch ist der schlechteste Geschichtenerzähler von allen. Die Rhythmik seiner Gedichte ist geradezu mechanisch, und wenn er von Ereignissen
berichtet, erzählt er sie nüchtern und ohne jede Spannung. Data versteht niemals die Pointe einer Geschichte oder eines Witzes und muß sie sich jedesmal erklären lassen. Seine Bemühungen kulminieren in der denkwürdigen Szene in ›The Outrageous Okona‹, als der Komiker Joe Piscopo auftritt, um ihm beizubringen, wie man sein Publikum zum Lachen bringt. In ihrer individuellen Beziehung zum Geschichtenerzählen scheinen die Hauptfiguren der Serie in vielerlei Hinsicht eine rationale und empirische Welt zu bewohnen, in der die Fähigkeit zum Erzählen unwichtig geworden und verkümmert ist. Picard ist natürlich in gewisser Weise durchaus ein Erzähler. Seine Logbuchkommentare, die jede Episode einleiten und abschließen, repräsentieren die Wahrheit schlechthin. Die Serie ist voller Figuren, die lügen, doch der Captain der Enterprise macht niemals einen unrichtigen Logbucheintrag. Das Logbuch bestätigt am Anfang und Ende jeder Episode die unverfälschte Wahrheit. Die Stimme aus dem Off vermittelt den Eindruck der Neutralität und Unparteilichkeit. Hier spricht ein vertrauenswürdiger Erzähler. Hier spricht eine Stimme, die den Zuschauer niemals in die Irre führen wird. Picards Kommentar ist oftmals die einzige Geschichte in einer Episode, der man vertrauen kann, wenn auch gelegentlich nicht in vollem Umfang. Die drei Dinge, die in jedem Logbucheintrag des Captains angegeben werden, sind Zeit, Datum und Ort. Damit wird die Enterprise in Zeit und Raum fixiert, doch selbst der gelegentliche Zuschauer weiß, daß sich die typische Star Trek-Folge genau in die entgegengesetzte Richtung entwickelt, wenn das Schiff nämlich in Zeit und Raum verloren geht. In fast jeder Episode geht es um eine unerklärliche Störung des Raum- oder Zeitgefüges. Die vielen Geschichten über Zeitreisen und plötzliche räumliche Versetzungen lassen die Gewißheiten von Zeit und Raum, die so zuversichtlich im Logbuch des Captains angegeben werden, als rein zufällig erscheinen. Und dennoch scheint es, daß die Geschichten trotz ihrer Gefahren und Unzuverlässigkeiten in gewisser Weise unab-
dingbar für die Erkundung des Weltraums sind, wie sie in der Serie dargestellt wird. Star Trek leistet mehr, als nur die guten Geschichten der westlichen literarischen Tradition zu plündern. Die Serie hat sie gezielt in das Schiff eingebaut. In The Next Generation gibt es eine bemerkenswerte Technologie, die als Holodeck bezeichnet wird. Das Holodeck ist eine Einrichtung, die jede Szene oder Person der Galaxis simulieren kann. Die Szenen sind keineswegs statisch wie Landschaften oder andere hübsche Orte. Doch in erster Linie ist das Holodeck eine Einrichtung, um Geschichten heraufzubeschwören. Geschichten sind an Bord der Enterprise dringend notwendig zur Erholung der Besatzung, die aus dem reichen Vorrat der Tradition auswählen kann. Auf dem Holodeck können die Besatzungsmitglieder zu einem Teil jeder von ihnen gewählten Geschichte werden. Picard zieht Detektivgeschichten nach den Romanen von Dashiell Hammett vor. Data mag Sherlock Holmes. Captain Kathryn Janeway von der Voyager entspannt sich am liebsten mit klassischen Schauergeschichten. Das Bedürfnis, das Holodeck zu besuchen, ist leicht zu verstehen: Je weiter sich menschliche Wesen in das Universum hinauswagen, desto wichtiger wird es für sie, sich an die Geschichten zu erinnern, die ihnen sagen, wer sie sind. In der Enterprise sind diese Geschichten mehr als nur eine Freizeitaktivität. Sie sind Teil der Grundausstattung des Schiffes, damit die Besatzung aus den Geschichten Selbsterkenntnis erlangen und dadurch neue Kraft schöpfen kann. Je weiter die Enterprise sich von zu Hause entfernt, desto dringender benötigt die Besatzung eine Technologie wie das Holodeck. Die zeigt sich sehr deutlich in der neuesten Serie Star Trek: Voyager, wo das Schiff im unerforschten Weltraum verschollen ist und das Holodeck in fast jeder Episode eine Rolle spielt. Um ihre geistige Ausgeglichenheit zu bewahren, müssen die Besatzungsmitglieder der Voyager ständig mit den Geschichten Verbindung halten, die die Grundlagen ihrer Kultur darstellen. Die Notwendigkeit von Geschichten ist eins der großen Themen von Star Trek, doch es bleibt ein äußerst zwiespältiges Thema. In
beinahe jeder Episode wird unterstrichen, wie sehr Geschichten täuschen können, doch in nur wenigen Folgen geht es darum, daß Geschichten die Wahrheit erzählen können. Die großen Geschichtenerzähler in Star Trek sind gewöhnlich Betrüger, oder sie betrügen sich selbst. Auch wenn Geschichten nicht in der Lage sind, die reine Wahrheit zu vermitteln, wird in der Serie durchaus vermittelt, daß Geschichten oftmals eine höhere Wahrheit aussprechen können. Immer wenn in Star Trek eine Geschichte in den Mythos abgleitet, zeigt sich, daß eine Geschichte mehr als eine Täuschung sein kann. Die Episoden, in denen Lieutenant Worf die klingonische Mythologie wiederentdeckt, sind dafür ein gutes Beispiel, wenn gerade durch den fiktionale Charakter der Mythen um Kahless das Wesen der klingonischen Identität zum Ausdruck kommt. Noch deutlicher wird dieser Aspekt in der Folge ›Darmok‹, in der sich die Sprache einer ganzen Kultur auf Geschichten stützt. Geschichten sind notwendig, und Geschichten sind notwendigerweise eine Täuschung, aber sie bleiben eine zentrales Thema für Star Trek, weil Geschichten in der Serie als Grundlage für Mythen und Mythen wiederum als wichtigste Vermittler kultureller Identität betrachtet werden. »Das sind unsere Geschichten«, sagt Lieutenant Worf in ›Birthright‹ zu einer Gruppe von klingonischen Kindern, nachdem er ihnen eins der mythischen Abenteuer von Kahless erzählt hat. »Sie sagen uns, wer wir sind.« Geschichten mögen in die Irre führen, doch das gilt nicht für Mythen. Das Wesen einer Kultur zeigt sich in Star Trek nicht an Raumschiffen oder Gebäuden, auch wenn sie deutlich voneinander unterscheidbar sind. Das Wesen einer Kultur kommt letztlich in ihren fundamentalen Geschichten und Mythen zum Ausdruck. Das ist der Grund, warum die Serie immer wieder dazu bereit ist, die Wahrheit im Gewand der Dichtung zu tolerieren.
1 Das Raumschiff Enterprise weist einige bemerkenswerte Konstruktionsmängel auf. Insgesamt mag das Schiff ein Wunder der Technik darstellen, doch es gibt zwei technische Einrichtungen, die besonders störanfällig zu sein scheinen. Dabei handelt es sich um den Transporter und das Holodeck. Fehlfunktionen des Transporters führen gewöhnlich zu Bedrohungen der Identität der Figuren, wie sie im letzten Kapitel besprochen wurden. Die Doppelgänger von Kirk und Riker wurden beide durch den Transporter erzeugt. Fehlfunktionen des Holodecks führen in der Regel zu einem völlig anderen Bereich von Problemen. Die Funktion des Transporters besteht darin, Menschen und Dinge an und von Bord des Schiffes zu befördern, und wenn die Technik versagt, kann eine äußere Bedrohung, die häufig fremdartigen Ursprungs ist, in das Raumschiff eindringen. Die Funktion des Holodecks besteht darin, Illusionen für die Besatzung zu erzeugen, und wenn hier ein Fehler auftritt, nimmt die Bedrohung meistens die Gestalt einer Illusion an. Das Holodeck ist das Spiegelkabinett der Enterprise, ein Ort, an dem die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung verwischen und unsicher werden. Es ist ein Ort der nahezu perfekten Illusionen, wo Geschichten mehr als nur Geschichten sein können, wo die Phantasie mehr zu einer Versuchung als zu einer Erholung werden kann. Das Holodeck ist oftmals ein recht anrüchiger Ort. Es wird von Besatzungsmitgliedern immer wieder dazu benutzt, um Szenen heraufzubeschwören, die einem Rotlichtbezirk angemessen wären. In den Programmen des Holodecks sind unzählige Bars, Nightclubs, Spielhöllen und sogar Bordelle und Vergnügungsplaneten gespeichert. In ›A Fistful of Datas‹ spielt die Schlüsselszene in einem Saloon des Wilden Westens. In ›The Outrageous Okona‹ landet Data in einem Comedy-Club mit ein paar Tischen vor der kleinen Bühne. In Star Trek: Voyager versammelt sich die Besatzung zur Erholung oft in einer Art
französischem Spielkasino, das von zahlreichen leichten Mädchen frequentiert zu werden scheint. In Deep Space Nine wird sogar regelmäßig angedeutet, daß Quark seine Holosuiten für pornographische Zwecke vermietet. Doch genauso wie die Orte, die das Holodeck repräsentiert, bietet es selbst gelegentlich mehr als nur einfache Erholung. Wenn die Sicherheitsmechanismen versagen, finden sich die Besatzungsmitglieder häufig in einem echten Nightclub oder Bordell wieder. Die Gefahr kann jedoch auch subtiler auftreten, wenn zum Beispiel Lieutenant Barclay feststellt, daß ihm die Phantasien des Holodecks viel angenehmer als das wahre Leben an Bord des Schiffes erscheinen. Und bei anderen Gelegenheiten geht die Bedrohung durch das Holodeck noch weiter, wenn sich die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit auflösen und kaum noch zwischen ihnen unterschieden werden kann. Die Freuden und Tücken des Holodecks kommen besonders intensiv in der Folge ›Hollow Pursuits‹ zum Ausdruck. Die Episode beginnt damit, daß der normalerweise neurotische Lieutenant Barclay mit ungewöhnlichem Selbstbewußtsein im Gesellschaftsraum der Enterprise auftritt, der weniger den Eindruck eines Freizeitraums, sondern eher den einer zwielichtigen Bar macht. Barclay beleidigt Guinan, verhält sich trotzig gegenüber LaForge und ringt Will Riker zu Boden. Erst als diese kleine Vignette durch Geordis Stimme unterbrochen wird, die Barclay in den Frachtraum fünf beordert, erkennen wir, daß es sich um eine Holodeck-Simulation handelt. Barclay meldet sich niedergeschlagen im Frachtraum, wo er wieder seinen gewohnten scheuen, zurückgezogenen und unglücklichen Charakter annimmt. Damit sind die Voraussetzungen für einen Konflikt zwischen Barclays Phantasien und seinem wirklichen Leben geschaffen. Seine Phantasien nehmen die Gestalt einer längeren Geschichte an, die Barclay sich selbst erzählt. Auf dem Holodeck tritt er als Mischung verschiedener Heldenfiguren auf, wenn er den wiegenden Gang eines John Wayne annimmt und wie einer der
drei Musketiere sein Schwert führt. Sein wirkliches Leben wird im Verlauf der Episode immer unwirklicher. Jedesmal, wenn im Maschinenraum etwas schiefgeht, kehrt Barclay auf das Holodeck zurück, um in seiner Phantasiewelt Zuflucht zu suchen. Bald verliert diese Welt jeden Erholungswert und entwickelt sich statt dessen zu einer Sucht. Die Nebenhandlung dieser Episode unterstreicht zusätzlich, wie ernst seine Sucht geworden ist. Die Enterprise befördert Gewebeproben, die zur Bekämpfung des Correllium-Fiebers auf Nahmi Vier benötigt werden. Doch dann wird einer der Behälter für diese Gewebeproben undicht. Die Abschirmung, die den Krankheitserreger vom Schiff isolieren soll, hat versagt. Genauso ist Barclay nicht in der Lage, seine Phantasiewelt, die sich eigentlich auf das Holodeck beschränken sollte, vom Rest des Schiffes zu isolieren. Eine weitere Parallele besteht darin, daß es in den Geschichten, die Barclay für sich selbst erfindet, um Krankheit, Tod und Vernichtung geht. Schließlich wird diese Parallele geradezu auf die Spitze getrieben, denn erst als er das Problem der undichten medizinischen Behälter löst und die Abschirmung zwischen den Krankheitserregern und dem Schiff wiederherstellen kann, kann er genügend Selbstvertrauen entwickeln, um auch seine Phantasiewelt von seinem wirklichen Leben zu isolieren. Damit wird sehr deutlich impliziert, daß seine Geschichten eine Art Seuche sind, die sich über das ganze Schiff ausbreiten kann, wenn er nicht achtgibt. Die Episode endet damit, daß Barclay das Holodeck aufsucht, um die Illusion zu beenden und die Geschichten zu löschen. Es gelingt Barclay, den größten Teil der Programme abzuschalten, doch die Macht der Geschichten und das suchterzeugende Potential des Holodecks bleiben unberührt. Geordi, der sich einmal in eine HolodeckIllusion verliebte (in der passend betitelten Folge ›Booby Trap‹, womit im Englischen eine versteckte Falle bezeichnet wird) und sich davon entwöhnen mußte, kann Barclays Situation sehr gut verstehen. »Jetzt können Sie ein Buch über die Holodeck-Sucht schreiben«, sagt er zu ihm. Im amerikanischen Original benutzt
Geordi den Begriff holodiction, ein Wortspiel mit holodeck, addiction (= Sucht) und diction (= Sprache, Aussprache), womit er auf elegante Weise ausdrückt, daß das Geschichtenerzählen und damit das Sprechen selbst eine wichtige Ursache des Problems darstellt. Doch die Macht der Geschichten ist trotz ihres suchterzeugenden Potentials auch eine notwendige und nützliche Macht. Im Verlauf der Episode versucht Guinan immer wieder, Geordi davon zu überzeugen, daß Lieutenant Barclay zum Ausgleich über eine Eigenschaft verfügt, die für die Arbeit an Bord eines Raumschiffs unabdingbar ist, nämlich die Phantasie. Dieser Begriff wird in der Folge immer wieder im Zusammenhang mit Barclay verwendet. Natürlich hat seine Phantasie eine sehr offensichtliche Kehrseite, die deutlich im krankhaften Charakter seiner Holodeck-Illusionen zum Ausdruck kommt. Doch in ›Hollow Pursuits‹ ist es ausgerechnet Barclays Phantasie, die sich letztlich als Rettung für das Schiff erweist. Kurz vor dem Ende der Episode ist das Schiff schwer angeschlagen und scheint unmittelbar vor der Vernichtung zu stehen. Im letzten Augenblick erkennt Barclay als einziger, daß ein Element namens Invidium, das in medizinischen Isolationsfeldern zum Einsatz kommt, das Problem mit dem Warpantrieb verursacht, worauf das Schiff gerettet werden kann. Anschließend versammelt sich die Besatzung, um Barclay zu gratulieren. »Ich bin froh, daß Sie heute bei uns in der wirklichen Welt waren, Mr. Barclay«, sagt Geordi zu ihm. Doch die Wahrheit ist, daß Barclay das Schiff retten konnte, weil er eben nicht ganz in der wirklichen Welt war, weil er seine Kraft und sein Vorstellungsvermögen aus einer Phantasiewelt bezieht, nach der er süchtig werden kann, wenn er nicht vorsichtig damit umgeht. Geschichten stellen am Ende dieser Episode somit ein zweischneidiges Schwert dar. Barclay erkennt, daß er seine Fähigkeit zum Geschichtenerfinden bewahren muß, weswegen er in der letzten Szene der Folge nicht alle seine Programme löscht. Doch gleichzeitig muß er seine Geschichten unter Kontrolle halten, damit sie sich nicht wie eine
Seuche über das Schiff ausbreiten und ihn zu einem willenlosen Süchtigen machen. Die spezielle Idee einer Holodeck-Sucht wird in einigen weiteren Episoden angesprochen, doch der suchterzeugende Charakter von Geschichten im allgemeinen zieht sich als wiederkehrendes Thema durch die ganze Serie. Ein weiteres solches Beispiel ist ›The Game‹. Hier geht es vordergründig gar nicht um eine richtige Geschichte, sondern um ein scheinbar einfaches Spiel. Dabei setzt der Spieler ein VISOR auf und sieht dann das Bild eines Spielfeldes. Mehrere kleine Kreise schweben über diesem Feld, die der Spieler ergreifen und auf das Feld zurücklegen muß. Das Spiel erscheint zunächst recht harmlos, doch es belohnt eine erfolgreiche Aktion mit einer Stimulation des Lustzentrums im Gehirn. Damit wird das Tabu gebrochen, nach dem in Star Trek niemals die Grenze zwischen Körper und Maschine überschritten werden darf (wie im ersten Kapitel anhand der Borg gezeigt wurde). Der Spieler wird zu einer einfachen Handlung verleitet, die er ständig wiederholen muß. Damit wird angedeutet, daß einfache und monoton wiederholte Geschichten die gefährlichsten von allen sind. Bestimmte Arten von höchstgradig suchterzeugenden Geschichten wie Romanzen oder die Pornographie folgen genau demselben Muster, indem verlockende Bilder wiederholt benutzt werden, um dieselbe Handlungssequenz immer aufs neue zu beginnen. In dieser Episode wird die wiederholte Geschichte auf das nackte Gerüst reduziert, doch die Auflösung des Dilemmas ist immer noch relativ einfach. Man muß nur das VISOR abnehmen und mit dem Spiel aufhören, was die Besatzung schließlich auch tut. Eine größere Gefahr droht dem Schiff, wenn Geschichten aus ihrer gewohnten Szenerie auszubrechen versuchen. Eine Geschichte, die danach strebt, zu mehr als nur einer Geschichte zu werden, nämlich real zu werden, ist das Thema einer Folge mit dem Titel ›Ship in a Bottle‹. Die Episode beginnt damit, daß Data auf dem Holodeck eins seiner Sherlock-Holmes-Programme durchspielt. Eine Sherlock-Holmes-Geschichte ist eine
hochgradig durchstrukturierte Detektivgeschichte mit festen Charakteren und Handlungsverläufen. Data beschäftigt sich mit diesem Programm, weil er ein eingeschränktes Problem innerhalb eines eingeschränkten Rahmens gut lösen kann. Doch in diesem Fall geraten das Problem und der Rahmen außer Kontrolle. Sherlock Holmes’ Todfeind Professor James Moriarty, der bereits in der Folge ›Elementary, Dear Data‹ aufgetreten war, erscheint und verlangt, mit Captain Picard zu sprechen. Als Figur eines Holodeck-Programms dürfte sich Moriarty überhaupt nicht bewußt sein, daß er nicht real ist, aber offensichtlich ist er es trotzdem. Er behauptet, daß er zu vollkommen geschaffen wurde: »Ich entwickelte ein eigenes Bewußtsein, ein eigenes Leben.« In den nächsten Szenen berichtet Moriarty in einem außergewöhnlichen Monolog von seinem Leiden als sich seiner selbst bewußte literarische Figur. Während er in den Datenbanken des Computers gespeichert war, hat er gespürt, wie die Zeit vergeht. Er erlebte ›kurze, erschreckende Phasen des Bewußtseins, körperlos, ohne Substanz‹. Dies ist ein bemerkenswertes Zeugnis für die Fähigkeit menschlicher Wesen, ihren Geschichten Leben einhauchen zu können. Es handelt sich um eine so realistische Figur, daß sie sogar an ihre eigene Realität zu glauben beginnt. Im Verlauf der Episode stellt sich natürlich heraus, daß Professor Moriarty niemals wirklich existiert oder existiert hat. Er konnte die Besatzung der Enterprise nur von seiner scheinbaren Realität überzeugen, indem er im Holodeck das gesamte Schiff simulierte und den Menschen eine ausgeklügelte Fiktion vorspielte. Doch die Verwirrung über den Punkt, an dem die Fiktion endet und die Realität beginnt, ist wiederum äußerst real. Im Verlauf der Folge ›Ship in a Bottle‹ verschiebt sich die Grenze der Geschichte von Akt zu Akt. Zunächst glauben wir, daß Moriarty und seine Geschichte in die Enterprise eingedrungen sind, dann scheint es, daß Moriarty die Besatzung in seine Simulation ihrer eigenen Welt gelockt hat, und schließlich erleben wir, wie die Besatzung Moriarty davon überzeugen kann, daß seine Existenz auf dem Holodeck wirklich real ist. Die Episode endet mit der
Wiederherstellung der Realität, indem Moriarty zurück auf das Holodeck verbannt wird und Picard und die Besatzung wieder aufs wirkliche Schiff zurückkehren. Doch die Menschen wurden offensichtlich von dieser Erfahrung mit einer Geschichte erschüttert. Auch wenn Moriarty nur eine Illusion war, wirkte er vorübergehend allzu wirklich. Somit stellt das Holodeck in ›Ship in a Bottle‹ genauso wie in den weiteren Holodeck-Episoden letztlich nur eine eingeschränkte Bedrohung der Wahrheit dar. Alle HolodeckEpisoden enden mit der Wiederherstellung der Realität. In jeder Episode wird das Buch der Dichtung geöffnet und wieder geschlossen. Am Ende jeder Holodeck-Episode kehren alle fiktiven Charaktere wieder zu ihrem angestammten Platz in einem Computerprogramm zurück, oftmals lösen sie sich einfach auf, wie es sich für eine Illusion gehört. Selbst Professor Moriarty wird am Ende als Illusion gezeigt, die sich innerhalb seiner Welt der Illusionen bewegt. Doch am Ende von ›Ship in a Bottle‹ stellt Picard eine interessante Frage. Er umfaßt den Raum mit einer Handbewegung und sagt: »Könnte all dies vielleicht auch nur eine geschickte Simulation sein, die von einem kleinen Gerät erzeugt wird, das von jemand anderem bedient wird?« Picard hat keineswegs nur eine rhetorische Frage gestellt. Wie wir sehen werden, beschäftigt sich Star Trek in vielen anderen Episoden in ernsthafter, wenn auch etwas unterschiedlicher Weise mit diesem Problem. Was wäre, wenn wir nur die Figuren in einer Geschichte wären? Wenn wir von Geschichten kontrolliert würden und nicht andersherum? Wenn Geschichten eine Art von Gefängnis wären?
2 Geschichten sind in Star Trek häufig im wörtlichen Sinne ein Gefängnis. Ein Raum, der über Wände und eine Tür verfügt, zu dem es einen Eingang, aber keinen Ausgang gibt. Wir haben bereits angesprochen, wie sich Professor Moriarty darüber
beschwert, in einer Holodeck-Geschichte eingesperrt zu sein, doch die Gefangenschaft durch Geschichten beschränkt sich nicht auf das Holodeck. Geschichten weisen die Tendenz auf, immer und immer wieder erzählt zu werden, und diese Tendenz führt in der Serie häufig dazu, Geschichten als Teufelskreis zu betrachten. Die Besatzung der Enterprise muß in mehreren Episoden bestimmte Ereignisse immer wieder in der simplen Form einer Zeitschleife durchleben. Andere Erfahrungen mit der Wiederholung einer Geschichte sind wesentlich komplexer, wenn die Besatzung sich aus dem Bann einer Geschichte befreien muß, in die sie ohne ihr Zutun hineingeraten ist. Noch andere Erlebnisse sind so unheimlich und kompliziert, daß kaum noch zu erkennen ist, woher die Geschichte kommt, wer sie erzählt und ob es sich überhaupt um eine Geschichte handelt. In allen diesen Fällen muß sich die Besatzung der Enterprise aus der kontrollierenden Macht der Geschichte befreien. Im günstigsten Fall kann eine Geschichte zum Mythos werden und die Macht einer religiösen Offenbarung entwickeln, wie wir sehen werden. Und im schlimmsten Fall ist eine Geschichte eine Art von Gefangenschaft, die zu Isolation und Wahnsinn führt. Doch in allen Fällen wird in irgendeiner Form angedeutet, daß Geschichten nicht nur befreiende Wirkung haben, sondern auch eine Falle sein können, eine unmittelbare Einschränkung der menschlichen Freiheit, die in der Serie einen so hohen Wert besitzt. Die einfachste Form einer Geschichte als Falle tritt in den Zeitschleifen-Episoden auf, von denen es viele Beispiele in der Serie gibt. Im allgemeinen wird ›Cause and Effect‹ als die beste dieser Folgen betrachtet. Sie beginnt mit der bei weitem spannendsten Eröffnungssequenz der gesamten Serie. In den ersten Minuten ist in einer Trickszene zu sehen, wie die Enterprise in einem Glutball explodiert. Das Schiff wird vollständig zerstört. Als nächstes sehen wir, wie das Schiff mit Impulsgeschwindigkeit unterwegs ist, als wäre nichts geschehen. Riker,
Data, Worf und Beverly spielen Poker in Rikers Quartier. Sie müssen das Spiel unterbrechen, als Dr. Crusher in die Krankenstation gerufen wird. Dabei hat sie ein plötzliches Déjàvu-Erlebnis, das Gefühl, daß sie all dies schon einmal erlebt hat. Die folgende Szene spielt am nächsten Tag, als wir sehen, wie ein Raumschiff aus einer Art Nebel hervorkommt. Das Schiff befindet sich eindeutig auf Kollisionskurs mit der Enterprise. Es stößt mit der Backbord-Triebwerksgondel der Enterprise zusammen, wodurch das Schiff in Rotation versetzt wird. Und nun geschieht alles so, wie wir es bereits aus der Eröffnungssequenz kennen. Wieder explodiert die Enterprise und wird vollständig vernichtet. Dieselbe Geschichte wiederholt sich im Verlauf dieser Episode noch viermal. Beim ersten Mal läuft sie nahezu ohne jede Variation ab, und dieser Durchgang ist für den Zuschauer am erschütterndsten. Die Besatzungsmitglieder sind in der Geschichte gefangen, ohne es zu wissen, und werden nur durch das undeutliche Gefühl irritiert, daß sie alles schon einmal erlebt haben. Wieder sehen wir, wie das fremde Schiff auftaucht, wie es zur Kollision und zur Vernichtung kommt. Nach der Werbepause fängt alles von vorne an. Die Geschichte verläuft zunächst genauso wie zuvor, doch dann kommt es zu einer entscheidenden Veränderung. Einige Besatzungsmitglieder erkennen allmählich, daß sie diese Geschichte schon einmal erlebt haben. Während des Pokerspiels können die Spieler nun die exakte Folge der ausgegebenen Karten vorhersagen. Als es schließlich wieder zur Zerstörung der Enterprise kommt, hat fast jeder an Bord das deutliche Gefühl, alles schon einmal erlebt zu haben. Die Enterprise kann erst dann gerettet werden, als die Besatzung den Teufelskreis durchbricht und zu einem linearen Zeitablauf zurückkehrt. Die Durchbrechung des Teufelskreises ist nur deshalb möglich, weil die Geschichte keinen vollkommenen Kreis beschreibt, sondern sich von Mal zu Mal ein wenig verändert. Nur durch genaueste Beobachtung der Abweichungen erkennen die Besatzungsmitglieder, wie sie sich vor der
bevorstehenden Kollision retten können. Als sie beginnen, vom vorgegebenen Muster der Geschichte abzuweichen, befreien sie sich aus ihrem Bann. Bereits indem sie sich der Wiederholungen bewußt werden, weichen sie vom Muster der Geschichte ab, und die gesamte Episode ist eine Chronik, wie sie sich letztlich der Macht der Geschichte bewußt werden. Die Geschichte wiederholt sich insgesamt sechsmal, und erst als die Crew das Grundmuster der Wiederholungen erkennt, kann sie sich daraus lösen. Die Besatzungsmitglieder schicken sich selbst Nachrichten von einer Geschichte in die nächste und durchbrechen damit den Zyklus. In der letzten Wiederholung kommt es zu deutlichen Abweichungen, womit klar wird, daß die Enterprise sich aus dem Zwang der Geschichte befreien wird. Jetzt werden in Rikers Quartier andere Pokerkarten gespielt. Als das fremde Schiff aus der Raum-ZeitVerzerrung kommt, weiß Data nun, daß seine Idee, den Traktorstrahl einzusetzen, das Schiff nicht retten wird. Er nimmt statt dessen Rikers Vorschlag an, die Luft aus einem ShuttleHangar abzulassen. Die Kollision wird vermieden, und das Schiff ist gerettet. Das Pokerspiel während dieser Episode verdeutlicht zusätzlich die Einschränkung der Möglichkeiten durch die Geschichte. Die Spielkarten sind ein gutes Bild für die scheinbar widersprüchlichen Eigenschaften der Wiederholung und der Variation beim Geschichtenerzählen. Ein Kartensatz besteht aus zweiundfünfzig Karten, was eine kleine Zahl ist, wenn man die Vielfalt der möglichen Kombinationen und Spielarten betrachtet. Der Ablauf eines Kartenspiels besitzt einen starken Wiederholungscharakter, und dennoch vermittelt das Spiel eine eigentümliche Art von Spannung. Diese Spannung beschränkt sich jedoch fast ausschließlich auf die Spieler selbst. Es gibt kein Kartenspiel, das jemals zu einer großen Attraktion für Zuschauer geworden wäre, denn Kartenspiele sind viel zu monoton, um mehr als geringfügige Variationen zuzulassen. Für einen Beobachter ist ein Kartenspiel nicht sehr spannend. Dennoch ist es schließlich eine leichte Variation im Pokerspiel, woran die
Besatzung der Enterprise in ›Cause and Effect‹ erkennt, daß sie in einer Zeitschleife gefangen ist, die ihr noch weniger Möglichkeiten als ein Kartenspiel läßt. Bei der Pokerrunde in Rikers Quartier kommt es zu einer unerwarteten Variation. Statt der bisher gespielten Karten – eine Acht, ein As, eine Dame und eine Vier – gibt Data plötzlich vier Dreien aus. Der Zyklus der Wiederholungen wurde durchbrochen, denn es ist ihnen erfolgreich gelungen, sich selbst eine Botschaft aus der vorigen Geschichte zu schicken. Diese Botschaft ist verhältnismäßig einfach: Ihr seid in einer Geschichte gefangen und müßt euch daraus befreien. Als sie aus der Zeitschleife ausbrechen, erscheint der Captain des anderen Schiffes auf dem Bildschirm. Er identifiziert sich als Captain der U.S.S. Bozeman, eines Raumschiffs der Soyuz-Klasse, das seit neunzig Jahren als verschollen gilt. Die Enterprise war nur siebzehn Tage lang in der Zeitschleife gefangen, doch dieses Schiff hat dort neunzig Jahre zugebracht. Vielleicht wäre es für alle Zeiten dort gefangen gewesen, wenn die Enterprise nicht in die Geschichte hineingeraten und den Kreislauf durchbrochen hätte. Das gleiche Motiv wird mit noch größerer Tiefe in einer Folge mit dem Titel ›The Royale‹ aufgegriffen, wenn es darum geht, wie sich die Besatzung wieder einmal in einer Geschichte verfängt. In Episoden wie ›The Game‹ und ›Cause and Effect‹ hängt die Enterprise in wiederholten Sequenzen von Ereignissen fest, die sich kaum als Geschichten bezeichnen lassen, da die ›Geschichten‹ eher rudimentäre und endlos wiederholte Szenarios eines Computerspiels darstellen als typische Geschichten mit klaren Figuren und stringentem Handlungsverlauf. Das ist in ›The Royale‹ anders. In dieser Episode gerät die Besatzung der Enterprise in den Bann einer ausgearbeiteten Geschichte mit Handlung, Figuren, Kulisse und eigenem Stil. Allerdings handelt es sich um eine schlechte Geschichte. Am Ende von ›Ship in a Bottle‹ sagt Picard, daß Professor Moriarty darüber glücklich sein müßte, den Rest seines Lebens mit der gründlichen Erkundung der Sherlock-Holmes-Geschichten zu verbringen. Damit will er
ausdrücken, daß eine gute Geschichte ein verhältnismäßig angenehmes Gefängnis sein kann und eine große Palette von Variationen zur Verfügung stellt. Doch eine schlechte Geschichte kann ein furchtbares Schicksal sein, nicht nur ein Teufelskreis und Gefängnis, sondern die schrecklichste Hölle. Solch eine schlechte Geschichte ist die Grundlage von ›The Royale‹. Die Episode beginnt damit, daß die Enterprise in den Orbit um einen Planeten im Sektor Theta 116 eintritt. Die Oberfläche dieses Planeten ist unbewohnbar, da sie von Stürmen und Gewittern heimgesucht wird. Riker informiert Picard, daß man unbekannte Trümmer im Orbit über dem Planeten entdeckt hat. Als ein Stück davon zur Analyse an Bord gebeamt wird, entdeckt man auf dem Metall einen weißen fünfzackigen Stern, das Symbol der US-Luftwaffe. Picard beschließt, einen kleinen Landetrupp hinunterzubeamen, der in einer fast stockdunklen Umgebung materialisiert. Das einzige sichtbare Objekt ist eine altertümliche Drehtür. Die Besatzungsmitglieder durchschreiten die Drehtür und finden sich in der Lobby des Hotels Royale wieder, das wie ein typisches Las Vegas-Hotel wirkt. Dort spielt sich eine abgeschmackte Geschichte ab, in der es um eine Dreiecksbeziehung zwischen einem Pagen, einem Gangster und seiner Geliebten geht. Als die Besatzungsmitglieder ein Zimmer betreten, finden sie dort das Skelett eines toten Menschen. Anhand der Uniform eines amerikanischen Astronauten kann er als Colonel S. Richey identifiziert werden. Auf dem Nachttisch neben dem Toten befinden sich zwei Dokumente, ein Roman und ein Tagebuch mit nur einem einzigen Eintrag. Riker liest das Tagebuch und erfährt, daß Colonel Richeys Raumschiff versehentlich durch Außerirdische zerstört wurde, die nun Wiedergutmachung zu leisten versuchen, indem sie die Welt des Romans rekonstruieren, den sie als Leitfaden für menschliches Verhalten interpretieren. Der Roman heißt Hotel Royale und erzählt eine höchstgradig konventionelle Geschichte. Die Figuren sind zweidimensional und handeln auf äußerst vorhersagbare Weise. Der Gangster tötet den Pagen, der sein Mädchen liebt. Die
Aliens, die das Hotel Royale geschaffen haben, wollten sich so nahe wie möglich an den Roman halten, doch der Roman war so schlecht, daß es ihnen lediglich gelungen ist, eine fiktive Hölle zu erschaffen, in der die Hölle eine schlechte Geschichte ist. Aber wie soll sich das Landeteam daraus befreien? Als die Leute von der Enterprise den Roman lesen, erkennen sie, daß sie sich an der Geschichte beteiligen müssen, wenn sie daraus entkommen wollen. Anscheinend geht es in einer Nebenhandlung von Hotel Royale um drei fremde Besucher, die plötzlich auftauchen und die Bank sprengen. Also übernehmen Riker, Data und Worf die Rolle dieser drei Fremden. Doch jetzt sind sie zu einem Teil der Geschichte geworden und werden von ihrer Dynamik mitgerissen. Nachdem Data an den Spieltischen des Kasinos die Bank gesprengt hat, gelingt es ihnen sogar, das Hotel selbst zu gewinnen. Das Hotel Royale gehört jetzt ihnen, womit sie frei sind, es zu verlassen. Im Gegensatz zum amerikanischen Astronauten, der an der Geschichte zugrunde ging, erkennt das Landeteam von der Enterprise, daß es keine Alternative zum Geschichtenerzählen gibt. Am Ende müssen sie die Geschichte in ihren Besitz bringen, um sich davon befreien zu können, und nachdem ihnen dies gelungen ist, sind sie in der Lage, das Hotel Royale wieder durch die Drehtür zu verlassen. In ›The Royale‹ gibt es kein Leben außerhalb der Geschichte. In der Episode wird das ausdrucksstarke Bild der Drehtür benutzt, um zu zeigen, daß es nicht viele Alternativen zum Geschichtenerzählen gibt. Auf der einen Seite der Drehtür ist eine Geschichte, auf der anderen nur gestaltlose, finstere Leere. Damit wird angedeutet, daß es außerhalb der Geschichten nichts gibt, kein Leben, kein Bewußtsein, keine Farbe und keine Variation. In ›The Royale‹ scheint ohne das Gerüst einer Geschichte kein Leben möglich zu sein, auch wenn es sich nur um ein klischeehaftes Leben wie das des Gangsters handelt. Es ist ein Grundbedürfnis der menschlichen Existenz, Geschichten zu konsumieren. Das wohlmeinende Wesen, das den amerikanischen Astronauten entführte, scheint diese Tatsache erkannt zu haben
und hat sich bemüht, ihm eine Geschichte zu geben, die in einer vertrauten Umgebung seine geistigen Bedürfnisse befriedigen sollte. Die grausame Ironie besteht in ›The Royale‹ darin, daß dieses Wesen die Geschichte nicht auf der Basis höherer Mythologie, sondern der niederer Unterhaltung rekonstruierte. Eine Gangstergeschichte dient nicht der Erbauung, sondern der Unterhaltung; sie soll vorübergehend von den Tatsachen des Lebens ablenken und sie nicht eingehend studieren. Das außerirdische Wesen hat richtig erkannt, daß sein menschlicher Schützling Geschichten benötigte, um im Weltall überleben zu können, aber es ging irrtümlicherweise davon aus, daß der Gangsterroman dieses Bedürfnis würde erfüllen können. Außerdem wußte das Wesen nicht, daß Geschichten niemals isoliert existieren, sondern immer in ein größeres System von Geschichten eingebettet sind. Wenn Data auf dem Holodeck die Rolle von Sherlock Holmes übernimmt, spielt er nicht einfach eine von Conan Doyles berühmten Erzählungen nach. Vielmehr programmiert er den Computer darauf, die Welt von Sherlock Holmes zu rekonstruieren und ihm Variationen der entsprechenden Themen zur Verfügung zu stellen. Colonel Richey jedoch ist in einer Geschichte ohne jede Variation gefangen. Seine Geschichte hat einen etwas größeren Umfang als die Zeitschleife in ›Cause and Effect‹, aber beiden ist die Wiederholung im Teufelskreis gemeinsam, eine Eigenschaft, die angemessen im Bild der Drehtür als Eingang zur Geschichte zum Ausdruck kommt. In den zwei Episoden ›Cause and Effect‹ und ›The Royale‹ ist das Schlimmste, was jemandem geschehen kann, in einer Geschichte gefangen zu sein, die sich ständig wiederholt. Immer wieder dasselbe tun zu müssen, ist zweifellos eine Art Hölle, und die Besatzungsmitglieder empfinden großes Mitleid für den amerikanischen Astronauten, der in dieser Drehtür-Geschichte starb. Doch es ist ein noch schlimmeres Schicksal als dieser Teufelskreis möglich. In Star Trek gibt es nämlich wiederholt Geschichten, in denen die Welt nicht gleich bleibt, sondern bei
jeder Wiederholung kleiner wird und schrumpft. Eine Geschichte kann nicht nur eine Falle sein, sondern sogar eine Schlinge, die sich immer enger zusammenzieht. Dieses Motiv der allmählichen Strangulation findet sich in ›Frame of Mind‹∗, einer der bemerkenswertesten Episoden der Serie. Sie beginnt in der Zelle einer Irrenanstalt, wo Will Riker von einem Mediziner befragt wird. Riker gibt sich kooperativ und versucht, den Arzt zufriedenzustellen und immer das Richtige zu sagen. Trotzdem ist er angespannt und verliert die Beherrschung. Dann enthüllt die Kamera, daß wir uns in einem Theatersaal des Raumschiffs Enterprise befinden und die Zelle in Wirklichkeit eine Bühnenkulisse ist. Im Saal halten sich neben Riker nur Data, der den Arzt spielt, und Beverly Crusher auf, die bei diesem Stück Regie führt. Sie brechen die Probe ab, und Riker gesteht, daß er Probleme mit seiner Rolle hat. Bei der Premiere liefert Riker eine hervorragende Darstellung ab und spielt den Verrückten mit großem Einfühlungsvermögen. Als das Stück vorbei ist, ist das Publikum verschwunden. Riker befindet sich nun in einem Gefängnis, das auch auf der Seite, wo die Zuschauer saßen, eine Wand hat. Statt Applaus erwartet ihn nun Stille. Diese Veränderung in Rikers Geisteszustand ist nur die erste während der Episode. Riker wechselt mehrere Male zwischen der Bühne und der Zelle, bis er nicht mehr zwischen Illusion und Realität unterscheiden kann. Die Irrenanstalt befindet sich auf Tilonus Vier, wo er offenbar des Mordes angeklagt und in Zelle siebenundvierzig des Tilonischen Instituts für geistige Störungen eingewiesen wurde. Ein Arzt kommt und teilt Riker mit ruhiger Stimme mit, daß er unter der Zwangsvorstellung leidet, Offizier an Bord eines Raumschiffs zu sein, und daß das Ziel seines ∗
Die vordergründige Bedeutung von frame of mind ist ›Geisteszustand‹ oder ›Stimrmmg‹, während die wörtliche Übersetzung als ›Rahmen des Geistes‹ auf die angesprochenen Geschichtenrahmen anspielt. Anm. d. Übers.
Aufenthalts in der Anstalt darin besteht, ihm sein Gedächtnis zurückzugeben. Nun folgt eine Reihe schneller Wechsel zwischen dem Gefängnis und der Bühne, wodurch Riker zunehmend die Gewißheit verliert, wer er ist und wo er gelebt hat. Der schnelle Wechsel von Geisteszuständen wird auf wunderbare Weise und mit großer filmischer Präzision dargestellt. Im letzten Bild befindet sich Riker stets in der Gefängniszelle, und allmählich glaubt er an die Beteuerungen des Arztes, daß er ein Mörder ist, der die Erinnerung an sein Verbrechen verdrängt hat. »Ich brauche Hilfe«, sagt Riker zu ihm, »ich will diesen Halluzinationen nicht länger hilflos ausgeliefert sein.« Kurz bevor Riker endgültig davon überzeugt ist, verrückt zu sein, tauchen Data und Worf auf und beamen ihn zur Enterprise zurück. Als Riker in der Krankenstation von Dr. Crusher untersucht wird, greift er nach einem Phaser und richtet die Waffe gegen sich selbst. Der Schuß hat jedoch keine Auswirkung auf ihn, sondern läßt statt dessen den Raum wie eine Glasscheibe zersplittern, worauf er sich in der Irrenanstalt wiederfindet. Als er erneut schießt, befindet er sich wieder auf der Bühne an Bord des Schiffes. Nun blickt Riker sich um und sieht die Kulissen. Er schlägt mit der Faust Löcher hinein, und plötzlich zersplittert die Szenerie ein letztes Mal, worauf er in die Wirklichkeit zurückkehrt. Er liegt auf einem Untersuchungstisch in einem fremden Labor, wo er sich die ganze Zeit befunden hat. Er schnappt sich seinen Kommunikator und befiehlt den sofortigen Einsatz des Transporters. Als er im Schiff materialisiert, erzählt Picard ihm, daß er entführt und auf Tilonus Vier mit Drogen behandelt wurde; so sollten ihm strategische Informationen entlockt werden. Picard sagt ihm, er solle sich jetzt ausruhen, doch Riker möchte zuvor noch etwas Wichtiges erledigen. In der letzten Szene der Episode kommt Riker in das Theater der Enterprise und zerstört die Bühnenkulissen der Zelle in einer Irrenanstalt. Diese Folge ist eine Studie über die Macht des Theaters. Eine Geschichte, die auf einer Bühne erzählt wird, ist eine verstärkte und viel gefährlichere Form des Geschichtenerzählens. Eine
Geschichte in einem Buch kann nach Belieben geöffnet und geschlossen werden. Doch im Theater erfordert eine Geschichte von den Schauspielern, und den Zuschauern, sich auf die Geschichte vollständig einzulassen. Im Theater muß sich das Publikum bis zum Ende der Vorstellung in einem abgedunkelten Raum aufhalten, und die Schauspieler müssen sich bemühen, zu jemand anderem zu werden. Eine Theateraufführung repräsentiert somit in gesteigerter Form all die Gefahren des Geschichtenerzählens, wie sie bisher in Star Trek aufgezeigt wurden. Ein Theaterstück erfordert von allen Beteiligten eine starke Identifikation durch Verkörperung und Fesselung, und alle großen Dramatiker von Shakespeare bis Pirandello waren sich der verführerischen Natur des Geschichtenerzählens auf der Bühne bewußt. In ›Frame of Mind‹ bildet genau dieser doppelte Aspekt des Theaters die Grundlage für Rikers alptraumhafte Entführung. Nachdem er zu Beginn der Episode in das Stück einsteigt, wird er von der Logik des Theaters in eine Welt der Verkörperung und Fesselung entführt. Im Verlauf der Episode wird Riker immer unsicherer, wer er ist, und immer stärker gefangen. »Ich bekomme es nicht mehr aus meinem Kopf heraus«, sagt er an einer Stelle über das Theaterstück. Die verstärkte Macht der Geschichte, wie sie durch das Theater repräsentiert wird, fesselt ihn an sich und läßt ihn nicht mehr los. Riker ist von so vielen Geschichtenhüllen umschlossen, daß er sie alle zerstören muß, um sich endlich befreien zu können. Dies geschieht in der bemerkenswerten Sequenz am Ende der Episode, als Riker eine Fiktion nach der anderen zerschmettert und sie als aufgezwungene Geisteszustände entlarvt. Nachdem auch die letzte Geschichte zerstört und Riker zur Enterprise zurückgekehrt ist, besteht seine erste Handlung darin, den Rahmen der erlebten Geschichte zu vernichten, indem er die Bühnenkulissen von Beverly Crushers Stück demontiert. ›Frame of Mind‹ ist der Titel von Dr. Crushers Stück, aber die Geschichte, die Riker in der Episode aufgezwungen wird, ist fremden Ursprungs. Die Flucht aus der Gewalt der Aliens ist mit
der Flucht aus der Geschichte und der Zerstörung des Theaters gleichzusetzen. Die beunruhigende Implikation lautet hier, daß Geschichten zwar einen unabdingbaren Teil der menschlichen Existenz darstellen, daß wir aber dennoch auf irgendeine Weise von den Geschichten, die wir erzählen, entfremdet sind. Geschichten sind etwas Fremdes, etwas Außerirdisches. Sie haben ihr eigenes Leben, das nicht mit unserem Leben übereinstimmt. In ›Frame of Mind‹ ist Commander Riker nur dann ganz er selbst, wenn es ihm gelingt, aus dem Rahmen einer Geschichte herauszutreten. Ansonsten ist er hilflos dem Strom einer Geschichte ausgeliefert, die nicht von ihm stammt. Geschichten haben uns in ihrer Gewalt und scheinen über ein eigenes Leben zu verfügen. In ›Frame of Mind‹ ist das Leben von Geschichten mehr als nur ein Ersatz für das Leben, sie können sogar an die Stelle des Lebens selbst treten. Eine Serie von Fiktionen kann tatsächlich zu etwas wie einer fremden Lebensform werden, die uns entführt, uns von uns selbst entfremdet und uns in eine andere oder mehrere andere Realitäten versetzt, wo wir nicht mehr zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden können. Das Theaterstück ist ein passender Rahmen für diese Reihe von Fiktionen. Die Episode beginnt damit, daß Riker unschlüssig ist, ob er in diesem Stück weiterspielen soll. Er hat Probleme, die Rolle in einem Schauspiel zu übernehmen, weil er dadurch zu jemand anderem wird, als er ist. Doch sobald Riker die Grenze überschreitet und beginnt, eine andere Person zu verkörpern, scheint es geradezu, als gäbe es plötzlich kein Zurück mehr für ihn. Nachdem er die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion überschritten hat, wird alles zur Fiktion. In der Welt des Schauspiels wird die Realität durch die Fiktion verhöhnt, und Riker kann nicht mehr unterscheiden, was zum Theaterstück und was zur wirklichen Welt gehört. Hier liegt nicht nur ein weiterer Fall einer Entführung durch Aliens vor. Riker wird nicht nur fortgeschafft, um befragt und gefoltert zu werden, wie es Picard in ›Chain of Command‹ widerfährt. Er wird entführt und seiner
Fähigkeit beraubt, zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden zu können. Die zunehmende Bedrohung in ›Frame of Mind‹ ist direkt auf die schnelle Abfolge von gleichermaßen plausiblen Fiktionen zurückzuführen. Immer wenn sich der Schauplatz verändert, steht Riker vor der Frage, ob die neue oder die vorherige Szene wirklich war oder ob überhaupt noch irgend etwas wirklich ist. Interessanterweise verlieren wir völlig die Frage aus den Augen, warum er überhaupt entführt wurde. Es ist, als hätte die schnelle Sequenz der Fiktionen ihre eigene Dynamik, von der Riker mitgerissen wird, ob es ihm gefällt oder nicht. Sogar am Ende von ›Frame of Mind‹ bleibt es unklar, was die Tilonier von ihm wollten. Genauso wie in Chain of Command< wird die Folter um ihrer selbst willen durchgeführt. In ›Frame of Mind‹ scheinen die Außerirdischen jedoch eine höhere Form der Folter entwickelt zu haben. Picard wird körperlich gefoltert. Riker jedoch wird seiner Fähigkeit beraubt, eine der grundlegendsten Leistungen des menschlichen Bewußtseins anzuwenden: die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität. Diese Unfähigkeit der Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität verwandelt jede Geschichte in ein Gefängnis. In ›Frame of Mind‹ gibt es eine Reihe von Gefängniszellen, die leichte Unterschiede aufweisen, doch allesamt gleichermaßen fiktiv sind. Diese Idee von einer Geschichte als Gefängnis ist in Star Trek so häufig anzutreffen, daß sie zwangsläufig zu ernsthaften und grundlegenden Fragen über das Wesen von Geschichten führt. Was ist es, das eine Geschichte zu einem tödlichen Teufelskreis macht? In unserer Tradition gibt es viele Geschichten über Geschichtenerzähler, die ihre Kunst dazu verwenden, um am Leben zu bleiben. Die Märchen aus tausendundeiner Nacht werden von Scheherazade erzählt, die damit ihren Tod hinauszögern will. Solange sie spricht und erzählt, wird sie am Leben bleiben. Nur wenige Geschichten erzählen davon, daß das Geschichtenerzählen zum Tod führt. In Star Trek trägt Datas böser Bruder den Namen Lore, ein Wort, das im Englischen ›Überlieferung‹ bedeutet und somit ein Synonym für ›Ge-
schichte‹ ist. Lore ist so gefährlich, daß Data ihn in der Episode ›Descent‹ töten muß. Warum sind Geschichten in Star Trek so gefährlich?
3 Die Antwort hat mit der engen Verwandtschaft zwischen Geschichten und Mythen zu tun. In Star Trek werden Geschichten immer in die Nähe der Lüge gerückt, während Mythen immer der Wahrheit nahekommen. Die Episoden, in denen die innere Struktur von Geschichten erkundet wird, neigen dazu, ihre Gefahren und Tücken zu betonen, während im Fall des Mythos die positiven und nützlichen Seiten unterstrichen werden. ›The Royale‹ ist ein deutliches Beispiel dafür. In dieser Folge wird eine Gangstergeschichte ohne jeglichen mythologischen Aspekt erzählt, und dementsprechend erweist sich die Geschichte als gefährlicher Teufelskreis. Darüber hinaus handelt es sich um eine schlechte Geschichte, und wie wir alle wissen, neigen schlechte Geschichten zur Wiederholung und Formelhaftigkeit. Die Besatzungsmitglieder, die in der Geschichte des Hotels Royale gefangen sind, müssen manchmal über ihre Lage lachen, doch in vielen anderen Episoden ist die Situation wesentlich gefährlicher, weil die Betroffenen gar nicht wissen, daß sie in einer Geschichte gefangen sind. In ›Frame of Mind‹ verliert Riker die Fähigkeit zu erkennen, daß er sich in einer Geschichte befindet, und in ›Cause and Effect‹ verliert die gesamte Schiffsbesatzung diese Fähigkeit und muß darum kämpfen, sie wiederzuerlangen. Hier besteht die einzige Alternative darin, aus der Geschichte auszubrechen und die Erzählung zu beenden, ›Frame of Mind‹ hat ein typisches Ende für solche Episoden, als wir in der letzten Szene sehen, wie Will Riker die Bühne zerstört, die zum Schauplatz seines geistigen Zusammenbruchs geworden ist. Diese Szene stellt eine klare und direkte Verbindung zwischen Geschichten und Gefangenschaft her, da es sich um den Bühnenaufbau einer
Gefängniszelle handelt. Um aus dem Gefängnis auszubrechen, muß er die Bühne zerstören und damit die Erzählung der Geschichte beenden. Doch das ist nicht bei allen Geschichten der Fall. Die Enterprise gerät immer wieder in den Teufelskreis einer Geschichte, aber nicht alle Geschichten erweisen sich als Teufelskreis. Bestimmte Geschichten scheinen trotz ihres fiktionalen Charakters durchaus über ein gewisses Erkenntnispotential zu verfügen. Je näher eine Geschichte in Star Trek dem Mythos kommt, desto stärker transzendiert sie ihren Status als Fiktion. Im gegenteiligen Fall gilt, daß ein Mythos, der einer Geschichte nahekommt, zunehmend als erfunden und falsch erscheint. Die Grenze zwischen Geschichten und Mythen ist in Star Trek sehr durchlässig und unklar, was zu einiger Verwirrung führen kann. Bei einem Erstkontakt mit einer neuen Kultur muß die Besatzung der Enterprise zunächst zwischen den grundlegenden Mythen und den unwesentlichen Geschichten dieser Zivilisation unterscheiden. Diese Aufgabe ist nicht immer einfach zu bewältigen. In der Serie werden Besatzungsmitglieder häufig von verschiedenen Personen getäuscht, die ihnen eine Geschichte im Gewand eines Mythos verkaufen wollen. So geschieht es in ›Man of the People‹, wo Deanna Troi von Ves Alkar dazu gebracht wird, einen Stein anzunehmen, den sie für einen wichtigen Teil eines Trauerrituals hält. Geschichten treten immer wieder in der Verkleidung des Mythos auf, um die Beteiligten in ihren Bann zu ziehen. In dieser Episode ist vorherzusehen, daß Deanna zunächst auf die gleiche Weise handelt wie die Frau, die ebenfalls mit diesem Stein zu tun hatte. Damit wird wieder einmal demonstriert, wie leicht es für eine Geschichte ist, sich zu wiederholen und mit einem Mythos verwechselt zu werden. Geschichten werden zur Unterhaltung erzählt und Mythen zur Erbauung, doch selbst in der Literaturgeschichte ist die Frage der Klassifizierung nicht eindeutig zu klären. Geschichten und Mythen gehen immer wieder ineinander über, und ein Teil der Mission der Enterprise besteht darin, sie voneinander zu
unterscheiden. Die Grauzone zwischen Geschichten und Mythen ist das Thema einer bemerkenswerten Reihe von Episoden, in denen es um Lieutenant Worfs Wiederentdeckung seiner klingonischen Identität geht. Die zweiteilige Folge ›Birthright‹ erzählt, wie Worf eine Gruppe klingonischer Flüchtlingskinder in der elementaren Mythologie der Klingonen unterrichtet. Hier haben Mythen kaum einen anderen Stellenwert als Geschichten; es sind erfundene Geschichten, die eine wichtige soziale Rolle als Träger der klingonischen kulturellen Identität spielen. Trotzdem bleiben es Geschichten, die nur wenig Bedeutung für die Realität besitzen. In ›Rightful Heir‹ ist die Situation ganz anders. Hier gewinnt der Mythos eine Bedeutung, die weit über die einer Geschichte hinausgeht. In einer Episode wie ›Birthright‹ werden Mythen als Geschichten dargestellt, die mehr für Kinder als für Erwachsene geeignet sind. In ›Rightful Heir‹ jedoch droht die Figur eines Mythos das Gefüge des Klingonischen Imperiums zu zerstören. Diese Episode handelt von einem Mythos, der plötzlich zum Leben erwacht, und sie zeigt, was geschieht, wenn die mythische Fiktion zur historischen Wirklichkeit wird. In ›Rightful Heir‹ spricht Worf mit Captain Picard darüber, daß seine Versuche, klingonische Kinder in der Mythologie ihres Volkes zu unterrichten, ihn zu der Erkenntnis geführt haben, daß sein Glaube an Kahless, den klingonischen Messias, unsicher geworden ist. Captain Picard gewährt Worf einen längeren Urlaub, damit er sich mit dem klingonischen Glauben beschäftigen und herausfinden kann, ob er für ihn noch eine Bedeutung hat. Die wesentliche Handlung dieser Episode steht schon nach kurzer Zeit fest: Worf nimmt sich Zeit, um die Macht des Mythos zu erforschen, Worf fliegt nun mit einem Shuttle zum Planeten Boreth, der allen Klingonen heilig ist, weil die Anhänger von Kahless dort auf die Rückkehr des Messias warten. Worf sucht einen Tempel in den Bergen auf und meditiert mehrere Tage lang, doch Kahless sieht er nicht. »Ich habe keine Visionen gehabt, ich habe keine
Erkenntnis gewonnen«, sagt er zum führenden Priester Koroth. Er packt seine Sachen, um zur Enterprise zurückzukehren. Doch Koroth kann Worf überzeugen, es noch einmal mit Meditation zu versuchen, und diesmal erscheint Kahless. Worf stellt die Kernfrage dieser Episode über den Mythos, als er von Kahless wissen will: »Bist du wirklich?« Kahless weicht der Frage mit der Versicherung aus: »Ich bin Kahless, und ich bin zurückgekehrt.« Worf scannt Kahless mit seinem Tricorder und stellt überrascht fest, daß seine Vision ein echter Klingone ist. Als Kahless von Worf wissen will, ob er an ihn glaubt, antwortet Worf: »Ich will glauben.« Die Möglichkeit eines solchen Glaubens wird im Verlauf der Episode immer fragwürdiger. Schließlich wird die Enterprise gerufen, um Kahless zur Heimatwelt der Klingonen zurückzubringen. Dort erzählt Kahless eine mythische Geschichte über einen Narren, der vor die Mauern seiner Stadt tritt und versucht, gegen den Wind zu kämpfen, bis er durch sein wahnsinniges Tun den Tod findet. Nachdem Kahless verstummt ist, herrscht eine Weile ehrfürchtiges Schweigen, bis Kanzler Gowron vom klingonischen Hohen Rat eine interessante Frage stellt: »Wie ist sein Name? Wenn du wirklich dabei warst, solltest du in der Lage sein, uns den Namen des Mannes zu nennen, der vor die Mauern seiner Stadt trat.« Dies ist ein bemerkenswerter Augenblick, denn hier wird der Mythos nicht auf seinen erzählerischen Wert, sondern seinen Realitätswert überprüft. Gowron ist nicht bereit, den Mythos zu dessen eigenen Bedingungen anzunehmen. Er behandelt den Mythos nicht als eine besondere Art von Geschichte, die eine besondere Art von Bedeutung transportiert, sondern einfach nur als eine sehr alte und äußerst fragwürdige Art von Geschichte. Gowrons Zweifel an Kahless bewahrheiten sich, nicht jedoch seine Zweifel an der Macht des Mythos. Kahless erweist sich als Klon, den die Hohenpriester von Boreth in einem Labor geschaffen haben, und Gowron kann ihn im Kampf Mann
gegen Mann besiegen. Der Mythos von Kahless ist jedoch viel mächtiger als die Realität des Klons. Kahless’ Fiktion mag eine Täuschung sein, aber die Fiktion ist stärker als die Täuschung. Gowron vertraut Picard an, daß die Idee von Kahless viel stärker als die Person selbst ist. »Haben Sie jemals gegen eine Idee gekämpft, Picard?« fragt er. »Sie hat keine Waffe, die man zerstören könnte, keinen Körper, den man töten könnte.« Die körperlose Idee von Kahless ist der Mythos von Kahless, der rote Faden der vielen Geschichten, die von Generation zu Generation unter den Klingonen weitergegeben wurden. Gowron kann den Klon von Kahless als Betrug entlarven, aber der Mythos von Kahless läßt sich nicht diskreditieren. Das Gerücht von Kahless’ Rückkehr hat sich bereits im Klingonischen Imperium verbreitet, und einige Klingonen verehren Kahless an Bord der Enterprise. Ihr Glaube scheint durch den fiktiven Status von Kahless nicht beeinträchtigt zu werden. Da ein Bürgerkrieg droht, schlägt Worf nun einen Kompromiß vor. Wenn Kahless zugibt, daß er ein Klon ist, darf er die repräsentative Stellung des klingonischen Imperators einnehmen, während Kanzler Gowron nach wie vor die Zügel der Macht in den Händen behält. Der Kompromiß erweist sich als akzeptabel, und das Klingonische Imperium ist für den Augenblick gerettet, als sich die Furcht vor der Auflösung in eine Hoffnung auf Erneuerung verwandelt. Der Mythos von Kahless scheint auf den ersten Blick Erneuerung zu versprechen, aber solche Erneuerungsmythen sind häufig verräterische Anzeichen für den Niedergang. In Star Trek steht das Klingonische Imperium immer wieder kurz vor dem Niedergang. In Star Trek VI: The Undiscovered Country schließt das Imperium Frieden mit der Föderation, weil es sich durch Verschwendung der natürlichen Ressourcen an den Rand der Selbstvernichtung gebracht hat. In jeder Episode ist zu sehen, daß das Klingonische Imperium kurz vor dem Zusammenbruch und dem Ausbruch eines Bürgerkrieges steht. Der Hohepriester Koroth befürchtet in ›Rightful Heir‹, daß die Klingonen weiterhin
ihre Ehre opfern werden, ›bis sie sich nicht mehr von den Romulanern unterscheiden‹. In Star Trek sind die Klingonen offensichtlich eine dem Untergang geweihte Kultur. Die Hoffnung, die sie in einen Mythos oder die Wiederbelebung eines alten Mythos setzen, ist in der Geschichte immer ein Symptom der Massenhysterie in einer Gesellschaft gewesen, die ihre Richtung und ihre Machtgrundlage verloren hat. In den 1890er Jahren breitete sich mit den sogenannten Geistertänzen eine Welle von Mythen unter den Prärie-Indianern der Vereinigten Staaten aus. Diese Mythen versprachen den Stämmen, die durch die weißen Siedler dezimiert worden waren, daß sie ihre ehemalige Vorherrschaft über ihr Land wiedergewinnen würden. Doch der wiederbelebte Mythos war nicht mehr als ein Trost, eine kollektive Selbsttäuschung in einer Zeit großer Verzweiflung. Im Star Trek-Universum scheinen die Klingonen in ›Rightful Heir‹ diese Phase erreicht zu haben. Am Ende dieser Episode ist ihre verzweifelte Hoffnung, ihren rechtmäßigen Platz in der Galaxis wiederzugewinnen, so groß geworden, daß sie sogar bereit sind, sich von einem künstlich geschaffenen Klon symbolisch beherrschen zu lassen. Was auf den ersten Blick als Zeichen für eine Wiederbelebung des Klingonischen Imperiums erscheint, mag in größerer Perspektive nur ein weiterer Schritt zum allmählichen Niedergang sein. Kahless ist ihre letzte Hoffnung; die religiöse Krise der Klingonen ist das Resultat der politischen Krise des Klingonischen Imperiums. (Imperien ändern häufig kurz vor ihrem Ende die religiöse Ausrichtung – wie im Fall des Römischen Reichs, das zum Christentum übertrat.) Gesellschaften, die Mythen wiederbeleben, haben in Star Trek immer große Probleme, wie zum Beispiel in der Folge ›Devil’s Due‹, wo die Besatzung der Enterprise einen alten Mythos von der Rückkehr eines Teufels entkräften muß. Die Föderation hat sich geradezu darauf spezialisiert, alte Mythen zu vernichten. Doch Mythen haben auch durchaus positive Begleitumstände. Während die Enterprise von Geschichten immer wieder in eine Welt der Geschichten hineingezogen wird, wird das Schiff von
Mythen immer wieder in die Welt der Mythen hineingezogen. Geschichten erweisen sich als Fallen, doch Mythen nehmen den Charakter von Labyrinthen an. Geschichten werden gewöhnlich mit Zeitschleifen, Gefängnissen und anderen Bildern für Wiederholung und Gefangenschaft assoziiert. Im Fall des Mythos ist die Wiederholung jedoch der befreiende Weg nach draußen und nicht der Beginn der Gefangenschaft. Wenn es in Star Trek um Mythen geht, muß die Besatzung sich an der Geschichte beteiligen, statt ihr zu entkommen. Das Problem besteht in diesen Episoden also darin, der Geschichte nicht auszuweichen, sondern zu versuchen, sie in ihren eigenen Begriffen zu verstehen. Das ist häufig keine leichte Aufgabe, da Mythen dazu neigen, ihre Geschichte hinter einem Schleier aus Symbolen zu verbergen. Die schlechte Geschichte, in deren Bann die Enterprise in ›The Royale‹ gerät, weist nur wenige symbolische Anklänge auf, doch die Mythen, mit denen das Schiff konfrontiert wird, sind voller Symbole, die in mühsamer Arbeit interpretiert werden müssen. In der Serie sind Geschichten Gefängnisse, aus denen man entfliehen muß, während Mythen einen Zugang ermöglichen, der interpretiert werden muß. In ›Rightful Heir‹ interpretiert Worf das Wiedererscheinen von Kahless völlig richtig als Möglichkeit zur Einigung des Klingonischen Imperiums. Auch wenn die Geschichte von Kahless streng genommen nicht der Wahrheit entspricht, ist der Mythos von Kahless dennoch wahr. Wer sich mit Mythen auseinandersetzt, muß sie zu ihren eigenen Bedingungen akzeptieren, wenn er sie nicht ignorieren will. Diese Herangehensweise an einen Mythos ist das Thema von ›Masks‹, einer der späteren Episoden von The Next Generation. In dieser Folge trifft die Enterprise im Sektor 1156 auf einen Kometen, einen großen Materiebrocken, der von einem Schleier aus Eis umgeben ist und der sich schon seit siebenundachtzig Millionen Jahren auf seinem Kurs durch die Galaxis befindet. Dann flackert kurz die Beleuchtung in der Enterprise auf. Offenbar wird das Schiff gescannt. Plötzlich wird von verschiedenen Decks gemeldet, daß überall auf dem Schiff
Artefakte, kleine Statuen und Säulen aufgetaucht sind. Unter diesen diversen Objekten ist auch eine Reihe von Masken, die mit fremden ideographischen Symbolen versehen sind. Um herauszufinden, was geschehen ist, feuert die Enterprise mit den Phasern auf den Kometen, um dessen äußere Hülle wegzuschmelzen. Es zeigt sich, daß im Kometen ein riesiges technisches Gebilde verborgen ist, das an die Kunst der Maya erinnert und mit den gleichen Masken und Zeichen versehen ist, die im Schiff materialisiert sind. Bei diesem Gebilde handelt es sich um ein Archiv. In Star Trek ist der Weltraum voller Archive, bei denen es sich gewöhnlich um die letzten Aufzeichnungen von ausgestorbenen Zivilisationen handelt. Es sind jedoch keine passiven Aufzeichnungen, keine High-Tech-Flaschenpost, sondern eher Boten oder Sonden, die aktiv die Erinnerungen alter Zivilisationen überbringen. In Star Trek scheint es in der Galaxis genauso viele tote wie lebende Zivilisationen zu geben. In mancher Hinsicht ist die Galaxis in Star Trek eher wie Europa, wo es viele tote und verschwundene Kulturen gibt, und weniger wie Amerika, wo menschliche Aktivitäten in einem größeren Ausmaß ein historisch jüngeres Phänomen darstellen. Trotz des Mottos der Serie, ›mutig dorthin zu gehen, wo noch niemand zuvor gewesen ist‹, ist der Weltraum voller Kulturen, die schon längst dort gewesen sind. In gewisser Weise ist es eine Schande, daß das originale Star Trek-Motto ›wo noch kein Mensch zuvor gewesen ist‹ in ›wo noch niemand zuvor gewesen ist‹ geändert wurde. Der originale Wortlaut ist im Grunde viel zutreffender. Die Enterprise geht ständig dorthin, wo noch kein Mensch zuvor gewesen ist, aber nicht dorthin, wo noch niemand war. Schon sehr viele Wesen waren dort, wo die Enterprise auftaucht; nur Menschen sind noch nie zuvor dort gewesen. Die vielen Archive im Weltraum sind ein beredtes Zeichen für die im Grunde historische Perspektive, aus der Mythen in Star Trek betrachtet werden. Mythen sind nicht ewig, sondern leben und sterben im Lebenszyklus der Gesellschaften, die sie geschaffen haben. Archive, die einer neuen Gesellschaft
eine alte Mythologie überstülpen wollen, müssen abgewehrt werden. Die alten Mythen müssen genauso wie die alten Götter in der Episode der Originalserie ›Who Mourns for Adonais?‹, zu Grabe getragen werden. Die wiedererstandenen Mythen in ›Masks‹ stellen schon bald eine Gefahr für das Schiff dar. Fremde Symbole schwirren in den Programmen des Schiffscomputers herum, Symbole, in denen das stilisierte Bild einer Sonne vorherrscht. Dann erscheinen weitere Symbole, die Data als Zeichen für ›Grenze‹, ›Straße‹, ›Gefährte‹, ›Botschaft‹, ›Bote‹ und ›Tod‹ interpretiert. Er geht sofort davon aus, daß diese Symbole keineswegs zufällig auftreten, sondern zu einem mythischen System gehören, das in Form einer bestimmten Geschichte organisiert ist. Das Problem ist nur, daß die Besatzung der Enterprise diese Geschichte nicht kennt. Im weiteren Verlauf der Episode geht es darum, die Geschichte zu enträtseln, auf der die mythologischen Symbole basieren. Die Symbole besitzen keine eigene Bedeutung, die der Besatzung einen Hinweis geben könnte, wie sie sich in der Geschichte zusammenfügen. Heutige Archäologen können häufig alte Sprachen entziffern, aber sie können sie oftmals nicht übersetzen oder interpretieren, weil sie nicht mit den mythischen Geschichten vertraut sind, auf die sich diese Sprachen beziehen. Als Michael Ventris im Jahr 1952 Linear B entzifferte, die uralte Schrift des minoischen Kreta, hoffte die Wissenschaft, damit endlich den Schlüssel zu dieser Sprache gefunden zu haben. Aber diese Hoffnung erwies sich als Irrtum. Ein großer Teil der Texte in dieser Sprache blieb bis heute unverständlich, selbst nach der Übersetzung, weil die Texte voller Eigennamen und Referenzen auf längst vergessene Mythen sind. Ein Mythos ist schließlich eine Geschichte über göttliche Schöpfungen. Wer diese Geschichte nicht kennt, kann den Mythos nicht verstehen, und eine Sprache, die sich auf diesen Mythos bezieht, muß unverständlich bleiben, selbst wenn die Grammatik entschlüsselt wurde. In ›Masks‹ muß die Besatzung der Enterprise also die
Grammatik der Geschichte entziffern, die den überall auftauchenden Mythen zugrunde liegt. Das ist keineswegs eine leichte Aufgabe. Das Archiv verwandelt Data in eine Variante von Johannes dem Täufer, einen gewissen Ihat, der vor dem bevorstehenden Erscheinen eines Gottes namens Masaka warnt. Picard bittet Data darum, mit Masaka sprechen zu dürfen, doch Data alias Ihat antwortet ihm, daß ›nur Korgano zu Masaka sprechen kann‹. Schließlich verrät Ihat, daß Picard einen Tempel errichten muß, in dem der Gott erscheinen kann, wenn er Masaka gegenübertreten will. Das Holodeck stellt Picard sofort einen solchen Tempel zur Verfügung, doch Picard ist immer noch in der Position eines Übersetzers einer ausgestorbenen Sprache und hat keine Ahnung, was er damit anfangen soll. Die Geschichte ist ihm immer noch unbekannt, doch jetzt versucht er, die Symbole zu interpretieren und sie zu einer sinnvollen Erzählung zusammenzusetzen. Die ›Sonne‹, der ›Mond‹, ein ›Tod‹… Bald erkennt Picard, daß die Symbole sich auf den Untergang der Sonne und den Aufgang des Mondes beziehen. Masaka ist die Sonnengöttin und Korgano der Mondgott, der in jeder Nacht ihre Stelle einnimmt. Also betritt Picard mit einer Maske des Mondgottes Korgano den Tempel der Sonnengöttin Masaka. In der Rolle von Korgano sagt er zu Masaka, daß es Zeit für sie ist, sich schlafen zu legen, um am Morgen wieder aufzuwachen. Erst als Masaka ihre Macht an Korgano abtritt, gewinnt Picard die Kontrolle über die Enterprise zurück. Data wird wieder normal, die Artefakte verschwinden aus dem Schiff, und in der letzten Szene sehen wir Data im Atelier, wo er eine der fremden Masken nachbildet. Der Stil der Masken, die im Schiff erscheinen, verleihen der mythischen Welt einen ganz besonderen Charakter. Laut Drehbuch für diese Episode sollten die Masken ›eine Art Kreuzung zwischen venezianischem und Maya-Stil‹ darstellen. Tatsächlich sind die Masken eine wunderbar ausgeführte Mischung zwischen diesen zwei Stilen, wie Opernmasken aus Stein mit herausgemeißelten Zügen. Die Entscheidung, diese
zwei speziellen Stile zu vermischen, ist recht interessant. Die mythische Gesellschaft, mit der die Enterprise in ›Masks‹ konfrontiert wird, trägt zwei verschiedene Arten von Masken. Die Maya-Masken beschwören das alte Mexiko herauf. Diese Masken sind primitiv und äußerst rituell. Sie verehren die Bewegungen einer bestimmten Sonne und eines bestimmten Mondes, was recht willkürlich erscheint, wenn man die lange Reise des Kometen durch den Weltraum betrachtet. Die venezianischen Masken haben ihren Ursprung im Venedig des vierzehnten Jahrhunderts, einer Stadt der Entdecker und Kaufleute, die über ein weitreichendes Handelsimperium herrschten. Diese Masken verdeutlichen somit zwei unterschiedliche Aspekte der Welt des Mythos. Der erste ist introvertiert und gründet sich auf eine landwirtschaftliche Kultur, die im großen und ganzen der Welt entspricht, die wir mit Gesellschaften assoziieren, die auf mythischen Systemen basieren. Der zweite, der venezianische Aspekt ist wesentlich irritierender. Er repräsentiert eine nach außen gerichtete, städtische und kultivierte Gesellschaft, die immer noch auf mythische Formeln und ein mythologisches Verständnis der Wirklichkeit gegründet ist. Die Masaka-Kultur ist gleichzeitig primitiv und technologisch hochentwickelt. Damit kommt ein beängstigender Aspekt der menschlichen Entwicklung zum Ausdruck, der des öfteren in Star Trek eine Rolle spielt. Es ist die Befürchtung, daß menschliche Wesen sich vielleicht gar nicht zu einer perfekten rationalen und technologischen Gesellschaft weiterentwickeln, sondern daß die technische Entwicklung letztendlich wieder zum Mythos zurückkehrt. Diese Idee wird häufig in der Science Fiction angesprochen, und bei Star Trek schlägt sie in eine besondere Richtung ein. Mythische Gesellschaften entwickeln im allgemeinen nur mangelhafte Technologien, da sie keine rationalen Erklärungen für Naturkräfte besitzen. Die Science Fiction spielt oft in einer vergangenen oder zukünftigen Zeit, in der die Menschheit ein größtenteils unbekanntes Universum erkundet. Die Konfrontation mit dem Unbekannten ruft die Erinnerung an frühe Erfahrungen
mit den unbekannten Mächten der Natur wach, wodurch die Menschen häufig in mythische Reaktionen zurückfallen. Mythen sind in Star Trek immer wieder mit unvollständigen Geschichten, unlösbaren Rätseln und Geheimnissen verbunden. Das Archiv in ›Masks‹ ist ein solches Geheimnis. Wir erfahren nie, wer es wann oder warum geschaffen hat. Doch das Geheimnis wird sofort in mythische Begriffe gehüllt. Wie ich weiter unten in diesem Kapitel zeigen werde, bedient man sich beim Erstkontakt mit einer fremden Kultur fast ausnahmslos mythischer Begriffe. Schließlich bietet der Mythos ein vertrautes Vokabular für den Umgang mit dem Unbekannten an. Auch wenn Lieutenant Worf nicht an das klingonische Jenseits, das Sto-Vo-Kor, glaubt, gibt ihm dieser Mythos dennoch eine Möglichkeit, das Geheimnis in sprachliche Begriffe zu fassen. Der Mythos ist eine Methode, mit den Geheimnissen des Universums umzugehen, indem diese durch eine grundlegende menschliche Fähigkeit bewältigt werden, nämlich die Sprache. Die Rückkehr zum Mythos kann sehr bedrohlich sein, wenn die Monumente in ›Masks‹ das Schiff zu zermalmen drohen, doch der Mythos bietet auch ein brauchbares und verständliches Erklärungssystem für die Welt. ›Masks‹ zeigt uns, daß ein Mythos keineswegs Unsinn ist. Picard ist in der Lage, es zu verstehen, als er die Stellung von Sonne und Mond im mythischen System erkennt, und kann dadurch das Schiff retten. In ›Masks‹ wird die Enterprise also durch die Anerkennung der Macht des Mythos vor der Vernichtung bewahrt. Erst als Picard versteht, daß Masaka eine Sonnengottheit ist, die zum Untergehen überredet werden muß, kann er die Macht über das Schiff zurückgewinnen. Dazu muß Picard freiwillig eine vorgegebene Rolle innerhalb des Mythos spielen. Er legt die rituelle Maske des Mythos an, um sie wieder ablegen zu können. Er muß in die mythische Welt eintreten, um sich davon zu befreien, indem er das tut, was Menschen seit Jahrtausenden tun, nämlich die Götter zu beschwichtigen, damit die Menschen eine gewisse eingeschränkte Freiheit erhalten. Dazu ist keinesfalls
Unterwerfung und Gehorsam nötig. Picard spielt die Götter gegeneinander aus, um sich von ihrer Macht zu befreien. Das ist einfacher, als es zunächst erscheint, weil die Götter des Mythos in Star Trek zwar allmächtig, aber nicht allwissend sind. Sie können das Universum nur durch den Rahmen ihrer speziellen Geschichte wahrnehmen, die sie ständig wiederholen müssen, wie die Geschichte vom Zögern des Sonnengöttin Masaka, sich zurückzuziehen und ihren Platz dem Mondgott zu überlassen. Das Universum des Mythos ist eine Art Gefängnis für die mythischen Figuren, die es bewohnen, und Picards Aufgabe in ›Masks‹ besteht darin, die Mythen dazu zu bringen, an ihren angemessenen Platz in einer durch und durch mythischen Welt zurückzukehren. Obwohl die Intention des Mythos zweifellos darin bestand, einen Kontakt zwischen der menschlichen und der göttlichen Welt herzustellen, geht es in den meisten Star TrekEpisoden, die sich mit Mythen beschäftigen, gar nicht darum, Kontakte zu knüpfen. Das Ziel besteht vielmehr darin, die geöffnete Tür zwischen Mythos und Realität wieder zu schließen, nach Möglichkeit für immer. Die einzigen Mythen, die in unserer Welt zugelassen werden, sind jene, die universell als falsch und machtlos betrachtet werden, wie beispielsweise der KahlessMythos. In ›Rightful Heir‹ wird der geklonte Kahless von Kanzler Gowron im Kampf besiegt, und die Tatsache, daß Kahless eben nicht allmächtig ist, macht einen Teil des Reizes für Lieutenant Worf aus, der die mythische Figur zum Vorschein bringen will, damit sie zugibt, daß sie eine Fiktion ist. Der Mythos als System von Geschichten, die eine zuverlässige Erklärung für die Welt liefern, ist in der Serie nur in verwässerter und verfremdeter Form zulässig. Worf zweifelt am göttlichen Kahless, doch den diskreditierten Kahless kann er akzeptieren. Die Natur der göttlichen Wesen in Star Trek verrät uns außerdem eine Menge darüber, wie die Serie an mythische Welten herangeht. Die Götter, mit denen Picard in ›Masks‹ konfrontiert wird, sind gleichermaßen verrückt und mit sich selbst beschäftigt. An den Folgen ihrer Entscheidungen für die
Menschheit sind sie nicht im geringsten interessiert. Sie sind allmächtig, sie beherrschen die elementaren Kräfte des Universums, sie lassen die Sonne untergehen und den Mond aufgehen, doch das Schicksal der Menschen bekümmert sie nicht. Damit sind sie weit vom wohltätigen Schöpfergott des Christentums oder dem zornigen Gott des Judentums entfernt. Auch wenn sie menschliche Gestalt annehmen können, ist trotzdem nichts Menschliches an ihnen. In ›Masks‹ wird die Enterprise von einer Unmenge steinerner Statuen überschwemmt. Die Götter des Mythos treten in Gestalt von steinernen Monumenten auf, sie sind unbeweglich, unveränderbar und nicht an menschlichen Bedürfnissen und Sorgen interessiert. Meistens ist es besser, wenn solche Götter die Menschen ignorieren und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Picards Plan in ›Masks‹ besteht darin, die mythischen Götter in ihr Reich zurückzuschicken, damit die Menschheit auf ihrem Weg fortschreiten kann, ohne durch den Kontakt mit Mythen behindert zu werden. Darin steckt der Gedanke, daß der Mythos zwar elementare Wahrheiten über die Ordnung des Universums verkünden kann, aber für einen dauerhaften Kontakt zu gefährlich ist. Die meisten Star Trek-Episoden über Mythen enden damit, daß die mythischen Figuren in ihre Welt des Mythos zurückkehren. In der Serie wird die mythische Welt als eine Art Gefängnis für mythische Gestalten dargestellt, aus dem sie gelegentlich ausbrechen können. Mythische Figuren können äußerst wichtige Arbeiten verrichten, zum Beispiel die Bewegung von Sonne und Mond bewirken, aber sie sind nur dazu imstande, wenn sie in ihrer eigenen Welt bleiben. In der Serie gibt es also eine wesentliche Unterscheidung zwischen der mythischen und der wirklichen Welt. Diese Grenze kann überschritten werden, aber letztlich muß sie wieder geschlossen werden. Mythen haben in Star Trek durchaus ihren Wert, aber nur aus einer gewissen Distanz. Obwohl in Star Trek versucht wird, den Mythos in seinen eigenen Begriffen zu akzeptieren, weigert sich die Serie, die Wirklichkeit der mythischen Welt anzuerkennen. Nicht nur in
›Masks‹, sondern auch in anderen Folgen wird ein Mythos durch eine Maschine am Leben erhalten. Mythen sind gewöhnlich das letzte Überbleibsel einer Zivilisation, sie werden entweder durch einen künstlich geschaffenen Wächter oder ein Archiv (wie in ›Masks‹) verkörpert oder von Amateurarchäologen wie Picard in Form von Artefakten studiert. Der Mythos ist etwas aus der Vergangenheit, eine rätselhafte Geschichte oder eine gefährliche Falle, der man wie einem Blindgänger auf dem Schlachtfeld ausweichen sollte. Wenn der Mythos zum Leben erwacht, geschieht dies im allgemeinen als Computerprogramm, das einen alten Mythos neu erschaffen (wie in ›Rightful Heir‹) oder konservieren (wie in ›Masks‹) soll. In sehr wenigen Episoden wird der Mythos tatsächlich als Interpretation einer göttlichen Welt gesehen, in der traditionellen Funktion als authentische Allegorie einer anderen, unsichtbaren Welt. In Star Trek wird die religiöse Funktion des Mythos immer in kulturellen Begriffen betrachtet, durch das Auge des Anthropologen, nicht durch das des Priesters. Der Mythos ist kein System absoluter Wahrheiten, sondern ein System aus variablen Zeichen, mit deren Hilfe eine Gesellschaft ihre Stellung im Universum interpretiert. Das mag wie eine Verwässerung des ursprünglichen Sinns eines Mythos erscheinen, der früher als Bindeglied zwischen Menschen und Göttern betrachtet wurde. Doch in Star Trek übt der Mythos eine lebenswichtige und vielfach unterschätzte Funktion aus, nämlich als Medium der Kommunikation zwischen verschiedenen Völkern und als Grundlage der Sprache. Der Mythos mag als Sprache zur Kommunikation mit den Göttern unbrauchbar geworden sein, aber er ist trotzdem eine wichtige Sprache geblieben. Die Bedeutung des Mythos als Sprache ist das Thema der meines Erachtens besten Episode der ganzen Serie, der Episode ›Darmok‹.
4 In ›Darmok‹ geht die Enterprise neben einem beeindruckenden Raumschiff der Tamarianer in den Orbit um den Planeten ElAdrel. Ein ehemaliger Starfleet-Captain beschrieb die Tamarianer als friedfertiges Volk mit guten Absichten, aber völlig unverständlicher Sprache. Als Dathon, der Captain der Tamarianer, auf dem Sichtschirm erscheint, lächelt er freundlich und sagt: »Darmok und Jalad in Tanagra.« Als Picard ihn fragt, was er damit meint, erklärt der Tamarianer: »Der Fluß Temarc. Im Winter.« Bevor das Gespräch fortgesetzt werden kann, zieht Captain Dathon zwei Dolche. Im gleichen Augenblick entmaterialisieren Dathon und Picard in einem Transporterstrahl. Nun befinden sich die beiden Captains allein auf der Oberfläche von El-Adrel. Dathon will Picard einen Dolch geben und wiederholt dabei die zwei Namen. Picard nimmt die Waffe nicht an und sagt zu Dathon, daß er keinen Krieg provozieren will. Dathon erklärt sich mit der Aussage: »Darmok von Kanza. Jalad vom Kituay.« Als Picard erkennt, daß es sich um Eigennamen handelt, antwortet er, indem er sich mit Namen vorstellt, doch seine Worte bleiben dem Außerirdischen unverständlich. Am nächsten Morgen werden die zwei Captains durch das laute Gebrüll eines Tieres geweckt. Captain Dathon eilt mit beiden Dolchen in den Händen zu Picard, drängt ihm eine der Waffen auf und sagt wieder: »Darmok und Jalad in Tanagra.« In der Nähe ist irgendein Wesen, dessen Gegenwart die Luft mit einem elektrischen Knistern erfüllt. Als sich das Wesen weiter nähert, zitiert Dathon einen anderen Namen, eine Armee ›mit geschlossener Faust‹. Endlich begreift Picard, daß Dathon mit Hilfe von Metaphern und Beispielen kommuniziert. Das Wesen greift erneut an, und der Tamarianer wird schwer verletzt. Dathon liegt im Sterben. Wieder sagt er: »Darmok und Jalad in Tanagra«, doch diesmal liegt eine Endgültigkeit in seiner Stimme, als wäre damit alles gesagt. Aus dem weiteren Gespräch kann Picard nun die Einzelteile des
Mythos von Darmok und Jalad in Tanagra zusammensetzen. Darmok und Jalad treffen auf unterschiedlichen Wegen in Tanagra ein. Darmok kommt über das Meer, Jalad über das Land. Sie kämpfen gegen ein wildes Tier, und nachdem sie es gemeinsam besiegt haben, ziehen sie zusammen weiter. Während Dathon im Sterben liegt, erzählt Picard ihm eine ähnliche Geschichte von der Erde, die aus dem Gilgamesch-Epos des alten Babylon stammt. Kurz bevor Picard zur Enterprise zurückgeholt werden kann, stirbt der Tamarianer. Die Enterprise feuert auf das tamarianische Schiff, doch als es das Feuer erwidert, scheint die Enterprise hoffnungslos unterlegen. Picard spricht über Bildverbindung mit dem Ersten Offizier der Tamarianer. Als dieser ›Darmok‹ sagt, hört er verblüfft, wie Picard den Satz vervollständigt, indem er erwidert: »Und Jalad. In Tanagra.« Die Aliens reagieren mit Bestürzung auf die Nachricht vom Tod Dathons, doch dann holen sie ein Buch hervor, in dem die Geschichte von Darmok und Jalad in Tanagra niedergeschrieben ist. Der Erste Offizier nimmt es in die Hand und sagt feierlich: »Picard und Dathon auf ElAdrel.« Darauf zieht sich das Schiff der Tamarianer zurück. Die Zusammenfassung mag etwas dünn erscheinen, aber die Geschichte ist hervorragend gespielt und gefilmt. Der Captain der Tamarianer versprüht geradezu Friedfertigkeit. Das Monster ist nicht allzu detailliert dargestellt, aber in der Science Fiction wirkt das Unbekannte immer viel bedrohlicher als etwas Bekanntes. Und die Sprache der Tamarianer besitzt große epische Fülle und Ausdruckskraft. Jede Aussage ist in metaphorische Formen gegossen, die einer heldenhaften Welt entstammen. ›Der Fluß Temarc‹ bedeutet die Überschreitung einer Grenze. ›Als die Mauern einstürzten‹ bedeutet eine plötzliche katastrophale Veränderung. ›Im Winter‹ bezeichnet eine Zeit der Trauer. ›Mit offenen Armen‹ bedeutet die Bereitschaft zum Gespräch. Picard greift die epische Form auf, wenn er dem Tamarianer schließlich die Geschichte von Gilgamesch erzählt. Der Tod des tamarianischen Captains ist ein sehr ernster Moment, und Patrick
Stewart verleiht seiner Rolle als Picard große Tiefe, als er zum sterbenden Dathon sagt: »Ich verstehe Ihr Opfer, Captain«. Die Vorstellung einer Gesellschaft, die jemanden opfert, weil es im Einklang mit einer Geschichte steht, ist gar nicht so weit hergeholt, wie sie zunächst klingen mag. Dem britischen Entdecker James Cook widerfuhr fast genau das gleiche, als er 1778 den ersten Kontakt mit den Einwohnern von Hawaii aufnahm. Captain Cook wurde auf Kauai ein königlicher Empfang bereitet, und sein erhaltenes Schiffslogbuch ist ein ausführliches Zeugnis für die Gastfreundschaft der Hawaiianer. Als seine Besatzung sich erholt hatte und das Schiff mit neuen Vorräten beladen war, stach er nach einigen Wochen wieder in See. Cook konnte es kaum erwarten, nach Hawaii zurückzukehren, und als er nach etwas über einem Jahr wieder in der Kealakekua Bay landete, wurden er und seine Leute am Strand niedergemetzelt. Was im Februar des Jahres 1779 geschah, war nicht nur Cook, sondern auch späteren Generationen von britischen Entdeckern unverständlich, doch für die Hawaiianer war die Situation völlig klar. Seine zweite Ankunft deckte sich genau mit ihrem Mythos über die Rückkehr eines Gottes. Cook wurde nicht getötet, weil er irgend etwas gesagt oder getan hatte. Er wurde getötet, um die Geschichte zu erfüllen, die von den zwei Besuchen des Orono erzählt, des Gottes der Ernte. Beim ersten Mal wurde der Gott willkommen geheißen, und bei seiner Rückkehr wurde er getötet. Die Hawaiianer handelten lediglich im Einklang mit ihrem Mythos. Das ist im wesentlichen die gleiche Situation wie in ›Darmok‹, wo die Tamarianer die Föderation durch das Prisma ihrer elementaren Geschichten betrachten. Die gesamte Episode ist eine Referenz an die große Bedeutung von Geschichten, wenn es darum geht, gegenseitiges Verständnis zu erreichen. Unsere Erzählungen sind so wichtig, daß sie um jeden Preis erfüllt werden müssen. In ›Darmok‹ opfert Captain Dathon sein Leben, um in Gegenwart von Captain Picard im Einklang mit einer grundlegenden Geschichte seiner Kultur zu handeln.
Diese Nachstellung einer Handlung muß nicht wie im Fall von Captain Cook auf Hawaii in jedem Punkt exakt sein. Es geht nur darum, daß die Geschichte noch einmal durchgespielt wird, ohne daß sie jedes Mal zum gleichen Ende führt. In der ursprünglichen Version der Darmok-Geschichte treffen Darmok und Jalad unabhängig voneinander in Tanagra ein, besiegen die Bestie und ziehen gemeinsam von dannen. In ›Darmok‹ findet die Geschichte ein anderes Ende, als Dathon stirbt und Picard allein zurückkehrt. Es geht nicht um eine exakte Wiederholung der Darmok-Geschichte, sondern um Picards Beteiligung an der Handlung der Geschichte. Indem Picard seine Rolle übernimmt, lernt er die Grundlagen der Sprache und Kultur der Tamarianer kennen. Als er in den letzten Minuten der Episode auf die Brücke der Enterprise zurückkehrt, ist er in der Lage, mit dem Ersten Offizier der Tamarianer in seiner Sprache zu reden, als er sagt: »Die Bestie von Tanagra.« Er schüttelt den Kopf und fügt hinzu: »Als die Mauern einstürzten.« Damit meint er, daß Dathon gestorben ist. Für die Tamarianer ist Picards Beteiligung an ihrer Geschichte ein Zeichen, daß er und die Föderation bereit sind, der großen Gemeinschaft beizutreten, die durch ihre gemeinsame Geschichte symbolisiert wird. Picard überlebt die Geschichte von Darmok und Jalad in Tanagra und studiert die Epen Homers, um über den Einfluß unserer eigenen Mythen auf die Erkundung des Weltalls durch die Föderation nachzudenken. Eine bemerkenswerte Eigenschaft solcher früher mythischer Geschichten ist der Umstand, daß sie immer noch ihren Einfluß auf eine Gesellschaft ausüben, selbst nachdem diese gar nicht mehr an ihre Wahrheit glaubt. Captain Dathon behauptet an keiner Stelle, daß die Geschichte, die er nachspielt, wahr sei. In Star Trek sind Mythen generell weder wahr noch falsch. Sie werden nur immer wieder durchgespielt, wobei oft die besten technischen Möglichkeiten des vierundzwanzigsten Jahrhunderts zum Einsatz kommen. In ›Darmok‹ wird die Geschichte von Darmok und Jalad in Tanagra unter Benutzung eines holographischen Monsters nachgespielt. Ähnliches geschieht in den
Kahless-Episoden, wenn eine Gruppe klingonischer Priester den Messias klont. Lieutenant Worf deckt den Schwindel auf, beschließt jedoch, ihn als gutes Mittel zur Wiederbelebung der alten Geschichte vom unvergeßlichen Kahless zu akzeptieren. In The Next Generation wurde das Holodeck in die Enterprise eingebaut, um der Besatzung zu ermöglichen, in jede Geschichte ihrer Wahl einzutreten. Wie ich bereits zu Anfang dieses Kapitels erwähnte, ist der Zweck des Holodecks sehr einfach zu erkennen: Je weiter sich menschliche Wesen in das Universum hinauswagen, desto wichtiger wird es für sie, sich an die Geschichten zu erinnern, die ihnen sagen, wer sie sind. In der Enterprise sind Geschichten mehr als nur eine Freizeitbeschäftigung. Sie sind ein Teil der Grundausstattung des Schiffes, die dazu dient, die Besatzungsmitglieder durch Geschichtenerzählen in ihrer Identität zu bestärken. Doch zu keinem Augenblick gehen die Menschen davon aus, daß die auf dem Holodeck stattfindenden Geschichten wahr sind. Auch wenn Geschichten äußerst wichtig für die Erhaltung der kulturellen Identität sind, wie sie in der Serie verstanden wird, ist es genauso wichtig, daß diese Geschichten dort bleiben, wohin sie gehören. Fiktionen, die in die Realität eindringen, werden in Star Trek immer als gefährlich dargestellt. Wie bereits besprochen, geht es in Dutzenden von Folgen darum, Fiktionen ins Holodeck zurückzutreiben und die Grenze zwischen Fiktion und Realität wiederherzustellen. Die Besatzung der Enterprise braucht das Holodeck, aber das Holodeck muß eine geschlossene Einrichtung bleiben. Das Thema von ›Darmok‹ ist also die Bedeutung von Geschichten für die Erklärung der Welt. Das Ende der Episode zeigt Picard in seinem Bereitschaftsraum, wie er sich in ein Buch vertieft hat. Riker kommt mit den Schadensberichten und fragt ihn, was er liest. »Die Epen von Homer«, antwortet der Captain. »Eine der grundlegenden Metaphern unserer eigenen Kultur.« Weiter erklärt er: »Eine größere Vertrautheit mit unserer eigenen Mythologie könnte uns dabei helfen, ihre Kultur zu verstehen.«
Dies ist vielleicht die eigentliche Botschaft dieser Episode: Obwohl sich der Captain der Tamarianer geopfert hat, um das gegenseitige Verständnis zu fördern, muß für uns das Verständnis unserer eigenen Mythologie an erster Stelle stehen, denn wir sind unentrinnbar in das System der Mythen eingebunden, die uns die Welt erklären. Es ist kein Wunder, daß ein so großer Teil der Science Fiction mythische Inhalte vermittelt. Das große Thema der Science Fiction ist die Erkundung des Universums, die zum Erstkontakt zwischen fremden Völkern führt. Doch in ›Darmok‹ ist der Erstkontakt keineswegs ein Augenblick der Transparenz und Klarheit, sondern des Unverständnisses und der Fehlinterpretation. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Erstkontakt wird durch Geschichten und Mythen hergestellt. Mythen sind unsere grundlegenden Geschichten, die vor langer Zeit entstanden, um das Unbekannte zu erklären, und sie dringen in dem Augenblick wieder an die Oberfläche, wo wir erneut mit dem Unbekannten konfrontiert werden. Solche Augenblicke sind Cooks Landung auf Hawaii oder, um ein vertrauteres Beispiel zu nehmen, Kolumbus’ erste Landung in der Karibik, wo er laut seinen Tagebüchern die Indianer, die er am Strand traf, als Figuren aus der biblischen Erzählung über den Garten Eden interpretierte. Die Star Trek-Episode ›Darmok‹ zeigt, daß wir unausweichlich an unsere alten Geschichten gebunden sind, ob es uns gefällt oder nicht. Doch ›Darmok‹ geht sogar noch einen Schritt weiter, was die Bedeutung des Mythos betrifft, wenn die gesamte Sprache einer Kultur von mythischen Inhalten bestimmt ist. Da die Besatzung der Enterprise nicht mit den Geschichten der Tamarianer vertraut ist, erweist es sich als äußerst schwierig, mit ihnen zu kommunizieren. Diese Lücke in der Kommunikation ist nicht nur auf mangelhaftes Wissen über die Mythologie der Tamarianer zurückzuführen. Die Schwierigkeiten resultieren daraus, daß die Mythen der Tamarianer in ihre Sprache eingebettet sind. Die Tamarianer benutzen nicht nur gelegentliche Metaphern, wie es in anderen Sprachen der Fall ist. Sie sprechen eine Sprache, die
ausschließlich aus metaphorischen Anspielungen auf ihre mythischen Geschichten besteht. Ohne einen Schlüssel zu ihrer Mythologie muß ihre Sprache unverständlich bleiben, denn für die Tamarianer sind Sprache und Mythos ein und dasselbe. Gegen Ende der Episode erklärt Counselor Troi die Situation folgendermaßen: »Es ist genauso, als würde ich zu Ihnen sagen: Julia. Auf dem Balkon.« Wenn Sie nicht wüßten, wer Julia ist und was sie auf dem Balkon getan hat, hätte dieses Bild für Sie keinerlei Bedeutung. Die Offiziere der Enterprise erkennen, daß sie die Geschichten kennenlernen müssen, denen die Tamarianer diese Bilder aufnehmen, wenn es zu einem sinnvollen Kontakt mit diesem Volk kommen soll. Sie müßten also beinahe selbst zu Tamarianern werden, um sich mit ihnen verständigen zu können, was natürlich unmöglich ist. Die Ironie liegt darin, daß die Besatzung der Enterprise selbst nach Dathons Tod bestenfalls auf eine lückenhafte Verständigung mit ihren neuen Freunden hoffen kann. Doch es gibt noch eine größere Ironie, die darin besteht, daß alle Geschichten, die Dathon erzählt, trotz ihrer Fremdartigkeit letztlich aus unserer eigenen Mythologie stammen. Schließlich ist die Mythologie der Tamarianer nur eine menschliche Projektion einer fremden Kultur. Natürlich hat man sich in dieser Star TrekEpisode nach Kräften bemüht, eine Kultur zu schaffen, die sich von unserer stark unterscheidet, doch letztendlich tut sie das gleiche, was menschliche Kulturen seit Jahrtausenden in dieser Situation immer wieder getan haben, nämlich das Unbekannte durch die Projektion alter Geschichten auf neue Zusammenhänge in vertraute Begriffe zu fassen. Denn im Grunde ist ›Darmok‹ kaum mehr als eine Neufassung des Gügamesch-Epos mit veränderten Namen für die Personen und Schauplätze. Dathon ist Enkidu, der Freund des Königs Gilgamesch, der im Kampf gegen das Himmelsstier den Tod findet. Picard ist Gilgamesch, der ihn mit folgenden Worten betrauert: »Mein Freund,…der mit mir durch alle Beschwernisse zog,…er ging dahin…« Das oberflächliche Thema der Episode ist das Opfer des Captains der
Tamarianer, der damit eine Möglichkeit zur Kommunikation zu finden versucht. Darunter liegt ein anderes Thema, das viel düsterer ist. Es geht um die Unmöglichkeit einer Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen. Geschichten sind kaum als Kommunikationsmittel zwischen verschiedenen Kulturen geeignet. Sie sind vielmehr eine interne Angelegenheit, da sie einer bestimmten Kultur zur Identifizierung dienen, doch hinsichtlich fremder Kulturen häufig in die Irre führen. Damit wird auf ein Phänomen hingewiesen, daß Studenten der Mythologie durchaus vertraut ist. Mythologien können nur in den seltensten Fällen koexistieren. Wenn zwei Mythologien miteinander in Kontakt kommen, dominiert gewöhnlich eine die andere, wie es vor zweitausend Jahren geschah, als das Christentum die klassische Götterwelt der Griechen und Römer ersetzte. Der gleiche Prozeß ist hier am Werk, wenn eine elementare Geschichte aus unserer Kultur, der Mythos von Gilgamesch und Enkidu, zur Schablone für eine Geschichte einer fremden Kultur wird, nämlich der Geschichte von Darmok und Jalad. Damit wird selbst diese Parabel von der Kommunikation zwischen zwei Kulturen von der Mythologie einer der beteiligten Kulturen dominiert, nämlich unserer, und zwar in einem epischen Vokabular, das verblüffend an das von Homer erinnert. ›Darmok‹ ist eine der besten Episoden von Star Trek. Nicht jede Episode ist so stringent erzählt oder so schön strukturiert. Die Folge ›Darmok‹ lief in der fünften Staffel von The Next Generation. Erst nach zwei Serien und sechs Kinofilmen ist es gelungen, eine so hervorragende Episode zu produzieren. ›Darmok‹ überschreitet viele Grenzen und reicht in die Literaturgeschichte, die Sozialgeschichte, die Anthropologie und den Mythos hinein. Aus Gründen der Klarheit habe ich dieses Buch in vier große Kapitel aufgeteilt, doch in ›Darmok‹ sind alle fundamentalen Themen von Star Trek in einer Episode zusammengefaßt. Für diese Episode muß man wirklich die Einstellung der Serie zu allen grundlegenden Themen kennen, zu Kontakt und Konflikt, zu Charakter und Identität und zu
Geschichten und Mythen, um zu verstehen, worum es geht. ›Darmok‹ beginnt mit der Vorstellung einer Gesellschaft, deren metaphorische Sprache auf einem literarischen Epos beruht. Dann tritt eine Situation ein, die aus unserem Zeitalter der Entdeckungen bekannt ist, ein kulturelles Mißverständnis durch einen Mythos, wie im Fall von Captain Cook. Dann folgt die Anatomie des klassischen Augenblicks der anthropologischen Forschung, des Erstkontakts. Und schließlich wird die Macht des Mythos über Sprache und kulturelle Identität offenbart. All dies findet sich komprimiert in einer einzigen Episode einer Fernsehserie, die auf ein großes Publikum zielt. Keine andere Fernsehserie hat jemals ein so großes literarisches oder kulturelles Feld abgedeckt. Diese Episode ist eine der großen Leistungen der Serie, und sie gilt bereits jetzt als Klassiker. Ein zuverlässiges Indiz ist die Tatsache, daß die Hauptfigur Captain Dathon mittlerweile zusammen mit Picard, Riker und der übrigen Stammbesatzung als Actionfigur verkauft wird. Dathon trat nur in einer einzigen Folge der Serie auf, dennoch ist diese Figur, die mit subtiler Zurückhaltung von Paul Winfield gespielt wird, zu einer der populärsten Gestalten von Star Trek geworden. Außerdem faßt diese Episode die Grundgedanken zum Thema Geschichten und Mythen zusammen, die wir in der ganzen Serie ausgemacht haben. In ›Darmok‹ tritt eine Geschichte in ihrer bereits zu erwartenden Funktion als Falle auf, wenn Picard und Dathon von einem Monstrum bedroht werden, das einer mythischen Erzählung entstammt. Das tödliche Element der Wiederholung ist ebenfalls vertreten, als Dathon durch das Monstrum getötet wird. Und auch die positiven Seiten von Geschichten werden in dieser Episode nicht ausgelassen. Nachdem Picard erkannt hat, daß Dathons Geschichte nicht nur irgendeine Geschichte ist, sondern ein Mythos, wird ihm klar, daß er auf ein ganz anderes Territorium geraten ist. Mythen sind mit den gleichen Gefahren verbunden, die in der Serie gewöhnlich mit Geschichten assoziiert werden, nämlich mit der Gefangenschaft im Teufelskreis, doch sie besitzen darüber hinaus eine
weitere, völlig andere Dimension. Diese Dimension ist nicht der göttliche Ursprung, den wir gewohnheitsmäßig mit Mythen assoziieren. In dieser Episode fehlt interessanterweise die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der angesprochenen mythischen Figuren, und es gibt keine Szenen wie in den Episoden um Kahless, wenn Worf die Existenz eines Gottes in Frage stellt. In ›Darmok‹ ist der Mythos keine Frage des Glaubens an einen Gott, sondern des Glaubens an die Sprache. Dieser Mangel an göttlichen Elementen in der Mythologie bedeutet jedoch nicht, daß es in Star Trek gar keine Religion gibt. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, läßt die Serie kaum eine Gelegenheit aus, um organisierte Religionen zu diskreditieren. Von den hohen Geistlichen der Klingonen bis zu den Priestern und Propheten der Bajoraner werden kirchliche Strukturen immer wieder mit einem Mißtrauen betrachtet, das sich in fast allen Fällen als berechtigt erweist. Damit nimmt Star Trek eine recht moderne Einstellung zur Mythologie ein. In der Serie ist die Welt der Götter bestenfalls eine Sache der Vergangenheit oder schlimmstenfalls ein Schwindel. Doch in ›Darmok‹ entdeckt die Serie die sehr moderne Idee, daß der Mythos eine Form von Sprache darstellt. Als Grammatik ist der Mythos keineswegs deterministisch. Picard und Dathon spielen die Geschichte von Darmok und Jalad in Tanagra nicht detailgetreu nach, sondern die Ereignisse entwickeln sich in der Episode anders als im Mythos. Es geht vielmehr darum, daß der Mythos der Sprache einen Rahmen verleiht, daß er ihr Struktur und Bedeutung gibt und daß er den Akt der Kommunikation überhaupt erst ermöglicht. In ›Darmok‹ ist der Mythos der Rahmen für die Bedeutung von Sprache, und auch wenn die künftige Kommunikation zwischen den Tamarianern und der Föderation nicht immer auf der mythischen Ebene angesiedelt sein muß, so war der Mythos dennoch der Stein des Anstoßes. In der Episode wird angedeutet – was sich übrigens mit jüngsten Forschungsergebnissen deckt –, daß die Erzählung von Mythen zu den ersten Akten der menschlichen Sprache gehört haben
könnte. Das Bedürfnis, wichtige Geschichten zu erzählen, könnte sogar der wesentliche Antrieb zu Entwicklung der Sprache gewesen sein. ›Darmok‹ rückt den Mythos an den ihm gebührenden Platz, nämlich an die erste Stelle. In Star Trek ist der Mythos mehr als nur eine Geschichte. Ein Mythos ist eine Geschichte, die in die Sprache integriert ist. Die Klingonen sprechen genauso wie die Tamarianer in Form ständiger Referenzen an ihre elementaren Mythen. Selbst die Geschichte der Föderation wird nicht in Form historischer Erzählungen vermittelt, sondern als Reihe einzelner Geschichten, die wiederum die Serie ergeben. Über die Gesamtgeschichte der Föderation wurden viele Bücher zusammengestellt, in denen die Ereignisse auf einer zeitlichen Linie organisiert wurden. Doch es bleibt eine Tatsache, daß die Geschichte der Föderation nicht aus einer Abfolge von historischen Daten besteht, sondern eine Sammlung von Geschichten darstellt, die eine nach der anderen erzählt werden, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Geschichten sind die einzige unausweichliche Realität von Star Trek. Die Besatzung kann in ihren Teufelskreis geraten, von ihnen getäuscht werden oder durch sie zur Erkenntnis gelangen und gelegentlich sogar befreit werden. Doch wenn Geschichten in den Bereich des Mythos hinüberwechseln, offenbaren sie einige der grundlegendsten menschlichen Erfahrungen. An erster Stelle steht die Erfahrung von Sprache in ihrer frühesten Form, der Form des Geschichtenerzählens. Wir haben gesehen, wie in Star Trek Mythen erkundet werden, ohne daß die Inhalte der Mythen als wahr betrachtet werden. Auch wenn Star Trek nicht an Geschichten glaubt, dem System mythologischer Wesen keinen Wahrheitsgehalt im herkömmlichen Sinne zugesteht, so gibt es in der Serie dennoch ein klares Glaubenssystem. Ein Teil davon ist der Glaube, daß Geschichten die Grundlage für menschliche Sprache sind. Doch in Star Trek gibt es ein weiteres Glaubenssystem, das oftmals über die Sprache hinausgeht. Die Serie ist voller Ereignisse, für die es in der Sprache keine oder nur unangemessene Beschreibungsmöglichkeiten gibt. Diese
Ereignisse und das Glaubenssystem, das ihnen zugrunde liegt, sind immer mit einem gewissen sense of wonder verbunden, was das Thema des folgenden Kapitels sein wird.
IV Der ›Sense of Wonder‹
Das Universum von Star Trek ist in vielerlei Hinsicht ein rationales Universum. Gene Roddenberrys Vision von der Vereinten Föderation der Planeten ist eine Vision des rationalen sozialen Fortschritts. In Star Trek ist die Menschheit zur Vernunft gekommen und hat eine funktionierende galaktische Demokratie geschaffen. Der Sinn für Religion ist bei den Menschen nur noch schwach ausgeprägt. In den vier Serien und acht Kinofilmen hat sich kein einziges menschliches Besatzungsmitglied irgendeines Föderationsraumschiffes jemals zu irgendeinem religiösen Glauben bekannt. Ritualisierte Religionen sind etwas, das nur bei Außerirdischen vorkommt und gewöhnlich als Zeichen kultureller Unterentwicklung angesehen wird. Keine der mächtigeren Kulturen im Star Trek-Universum besitzt mehr als Rudimente religiösen Glaubens. Die ebenbürtigen Rivalen der Föderation, die Romulaner und die Cardassianer, sind genauso wie die Föderation technologisch orientierte Gesellschaften, die in einer Galaxis leben, die von den Geboten der Realpolitik beherrscht wird. Die Klingonen besitzen ein religiöses System, an das sie nicht mehr glauben, und ihre Machtposition im Quadranten wird eindeutig schwächer. Religionen sind in Star Trek gewöhnlich auf randständige und leicht zu dominierende Kulturen wie die der Bajoraner beschränkt, die sich immer wieder ihrem Glauben an die Propheten zuwenden und Commander Benjamin Sisko in Deep Space Nine als einen Abgesandten aus einer göttlichen Welt betrachten. Die Bajoraner sind das religiöseste Volk in Star Trek und kaum dazu in der Lage, jemals größere Macht in der Galaxis zu entwickeln, wenn man von einem bestimmten Szenario in einem der vielen alternativen Universen von Star Trek absieht. Andere Gesellschaften, die von religiösen Systemen beherrscht werden, sind in der Regel durch ihren Irrglauben benachteiligt. Oberflächlich ergibt sich der Eindruck, daß Gene Roddenberry eine Galaxis geschaffen hat, in der die Vernunft an erster Stelle steht und in der göttliche Offenbarungen keinen Platz mehr haben.
In der Serie wird tatsächlich kaum eine Gelegenheit ausgelassen, organisierte Religionen in Mißkredit zu bringen. In Star Trek wird jede etablierte geistliche Bürokratie einheitlich als korrupt und eigennützig betrachtet. Die klingonischen Priester von Boreth schaffen in der Folge ›Rightful Heir‹ einen falschen Messias. In ›Devil’s Due‹ tritt ein betrügerischer Teufel auf, um eine Prophezeiung zu erfüllen. Ein hoher Geistlicher der Bajoraner versucht in der Episode ›In the Hands of the Prophets‹ den Frieden im Quadranten zu stören. Sogar im Fall von Spock ist organisierte Religion suspekt. In mehreren Episoden und Filmen widmet er sich verschiedenen vulkanischen spirituellen Disziplinen, in denen es um körperliche Entbehrungen und geistige Isolation geht. Doch nach seiner Rückkehr muß er in der Regel eingestehen, daß er zu weit gegangen ist, worauf er wieder eine wichtige politische Mission für Starfleet übernimmt. Es wird kaum der Eindruck erweckt, daß seine Phasen der kontemplativen religiösen Aktivität irgendeine positive Auswirkung auf sein öffentliches Leben haben. In Star Trek wird Religion grundsätzlich als etwas betrachtet, das aufgegeben werden muß, damit der Fortschritt in der Galaxis weitergeht. Es scheint, daß jede religiöse Empfindung im Sinne eines Glauben an ein Universum, das von göttlichen Einflüssen durchdrungen ist, im Star Trek-Universum vollständig verkümmert ist. Offenbar propagiert Star Trek eine Welt, in der Gott nicht mehr vorhanden ist. In der Serie werden immer wieder Aussagen zum Thema Religion getroffen, die sich auf eine klare Linie bringen lassen. Der Glaube an ein höheres Wesen oder einen bösen Gegenspieler sind Verirrungen der Vergangenheit. Nur noch Historiker und Archäologen interessieren sich dafür, nicht jedoch aufgeklärte Menschen der Gegenwart. Captain Picard sagt in ›Who Watches the Watchers?‹ ganz deutlich: »Wir haben diese Art von Glauben seit Jahrhunderten überwunden.« Doch die Serie begnügt sich keineswegs damit, Religionen in die ferne Vergangenheit zu verbannen. In Star Trek steht hinter den meisten Religionen ein Schwindel. In vielen Episoden geht es
darum, aktive Religionen zu diskreditieren, statt lediglich ausgestorbene zu sezieren. Der Respekt vor religiösen Überzeugungen beschränkt sich hauptsächlich auf religiöse Geschichten, nicht auf den Glauben selbst. Diese Geschichten werden mit der gewohnten Ambivalenz der Serie gegenüber Geschichten betrachtet. Auf der einen Seite sind solche Geschichten wichtige Artefakte einer Kultur, auf der anderen Seite betrügerische Fiktionen. Die Religion scheint in Star Trek nicht mehr als eine weitere Geschichte zu sein, der grundsätzlich mit Mißtrauen zu begegnen ist. Doch wenn wir noch einmal genauer hinschauen, stellen wir fest, daß Star Trek in Wirklichkeit voller Offenbarungen ist, wenn auch von ganz anderer Art, als wir sie gewöhnlich mit etablierten Religionen und ihren Systemen assoziieren. Star Trek mag wenig für religiöse Organisationen übrig haben – die Serie bringt ihnen sogar ein tiefes Mißtrauen entgegen –, doch die Essenz religiöser Erfahrungen hat sich in vielfältiger Form erhalten. In der Serie geht es immer wieder um das, was im Englischen mit sense of wonder bezeichnet wird. Immer wieder werden Visionen und wundersame Verletzungen der Naturgesetze gezeigt. In vielen Folgen wimmelt es geradezu vor unerklärlichen Ereignissen. Immer wieder treten Anomalien, Fluktuationen und Singularitäten auf. In vielen Episoden hat die Besatzung keine Ahnung, womit sie eigentlich konfrontiert wird. Die Enterprise gerät in das Unbekannte hinein und muß einen Weg hinaus finden. Viele Leute haben Star Trek vorgeworfen, es nicht sehr genau mit der Wissenschaft zu nehmen, und Arthur C. Clarke sagt, daß der Warpantrieb physikalisch unmöglich sei. Es mag sein, daß die Lichtgeschwindigkeit niemals überschritten werden kann, aber in Star Trek geht es nicht um Wahrscheinlichkeit. Star Trek ist eine phantastische Reise, die ihren Reiz aus den traditionellen Mitteln der Vision, des Traums, der Legende und des Staunens bezieht. Ein großer Teil der Wissenschaft in Star Trek hat die Qualität eines Wunders bewahrt: der Transport von Körpern durch Raum und Zeit, die Erschaffung von Nahrung aus
dem leeren Raum, die schnelle Heilung von Verletzungen und Krankheiten. Der Warpantrieb mag unser Verständnis der Naturgesetze verletzen, aber die Serie verletzt regelmäßig ihr eigenes Verständnis der Naturgesetze. Angeblich kann der Warpfaktor zehn niemals überschritten werden, und doch ist in vielen Episoden zu sehen, wie die Enterprise ihre eigenen festgesetzten Grenzen überschreitet. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den visionären Aspekten von Star Trek. Häufig geht es in der Serie um vertraute Themen, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln besprochen wurden, um Erkundung und Eroberung, um den Verlust der Identität oder um den Stellenwert von Geschichten. Doch genauso häufig handelt die Serie von der Reise ins Wunderbare. »Zu viele Szenen mit Schauspielern, die Spezialeffekte bestaunen«, urteilte die Zeitschrift Entertainment Weekly über einen Star Trek-Kinofilm. Der Kritiker hat nicht verstanden, worum es in Star Trek eigentlich geht. Es geht darum, Wunder zu bestaunen. Die Mission besteht darin, ›fremde Welten zu erkunden und mutig dorthin zu gehen, wo noch niemand zuvor gewesen ist‹. Dieses Kapitel wird erklären, warum es in Star Trek immer wieder um absolute Unmöglichkeiten geht, warum in so vielen Szenen Besatzungsmitglieder zu sehen sind, die Wunder bestaunen. In Buchhandlungen findet sich die Science Fiction häufig unter der Rubrik ›Science Fiction und Fantasy‹. Die Science Fiction ist das große moderne Genre, das den sense of wonder vermittelt, und Star Trek ist trotz der offensichtlichen Feindseligkeit gegenüber organisierten Religionen bedingungslos offen für die Dynamik religiöser Erfahrungen. Wir haben bereits gesehen, daß die Serie Geschichten gegenüber mißtrauisch ist, nicht jedoch gegenüber bestimmten Aspekten des Mythos. Der sense of wonder ist die Grunderfahrung des Mythos, und wie wir sehen, liegt hier der Grund, warum die religiöse Offenbarung in der Serie einen höheren Stellenwert als die Vernunft einnimmt. Die Episoden, in denen dieser Aspekt betont wird, gehören in vielen Fällen zu den schlechtesten Episoden von Star Trek.
Gelegentlich gerät die Enterprise in so große Schwierigkeiten, daß das Schiff nur noch durch ein Wunder gerettet werden kann. In diesen Fällen warten die Drehbücher mit Wundern auf, die sich im allgemeinen drei klar unterschiedenen Kategorien zuordnen lassen. Dabei handelt es sich um Technologien, Monster und Götter. Der Serie wird häufig vorgeworfen, daß sie sich zu sehr auf Spezialeffekte und fremdartige Techniken verläßt, auf sagenhafte Wesen und Monstren, auf Wunder und diverse gottähnliche Wesen. Ich gestehe ein, daß diese Wunder die Gesetze der Wahrscheinlichkeit arg strapazieren, aber es gibt einen Grund für diese Wunder. Ein öltriefendes Monstrum erhebt sich in der Folge ›Skin of Evil‹ aus dem Morast und tötet Tasha Yar. Picard stirbt in der Folge ›Tapestry‹ und wird von Q durch das Leben nach dem Tode geführt. In ›All Good Things‹ steht die Menschheit kurz vor der Auslöschung, und Q befördert Picard zurück zum Anfang der Zeit, um ihn die Geburt des Lebens auf der Erde beobachten zu lassen. In Star Trek ist der sense of wonder immer mit der Ehrfurcht vor dem Anfang und dem Ende verbunden. In der ganzen Serie beschränkt sich der sense of wonder auf Erfahrungen, die in wissenschaftlicher und technischer Hinsicht unverständlich sind, und vor allem auf die Erfahrung von Geburt und Tod. Geburt und Tod sind die zentralen Mysterien des Lebens, Augenblicke, in denen die Fähigkeit des Menschen, die natürliche Welt zu manipulieren, versagt. Diese Augenblicke können individuell oder kollektiv erfahren werden, von der Geburt eines Kindes oder dem Tod eines Besatzungsmitglieds bis zur Geburt eines Planeten und dem Tod einer Spezies. In Star Trek geht die Science Fiction genau dann in Fantasy über, wenn sich Leben und Tod begegnen, wenn Existenz und Nichtexistenz miteinander konfrontiert werden. Die Grenze zwischen Leben und Tod ist die Grenze zwischen Science Fiction und Fantasy. Es gibt eine Reihe von Geheimnissen, die die Wissenschaft selbst in ferner Zukunft nicht erklären kann. In diesen Fällen ist die Wissenschaft am Ende, und es bleibt nur noch die Ehrfurcht oder das Staunen, daß solche Dinge möglich sind.
1 Die Wissenschaft in Star Trek ist zum größten Teil Fiktion. Nur wenige Tatsachen der gegenwärtigen Raumfahrt finden Eingang in die Serie. Eine Reise durch den Weltraum ist heutzutage ein sehr mühsamer Prozeß. In Star Trek wird vollständig auf die kritischen Phasen von Start und Landung verzichtet. Es sind nur wenige Weltraumspaziergänge in der Serie zu sehen und erst recht keine im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Szene wie in Kubricks 2001: A Space Odyssey, als ein Astronaut die Verbindung verliert und hilflos durch den Weltraum treibt. In Star Trek ist der Weltraum einfach nur der Hintergrund, vor dem sich menschliche Aktivitäten entfalten. Die gewöhnlichen Schauplätze einer Episode sind das Raumschiff Enterprise oder eine Planetenoberfläche, und die Technik existiert nur zu dem Zweck, die Enterprise so schnell wie möglich von einem Schauplatz zum nächsten zu bringen. Die Raumfahrt selbst ist in Star Trek niemals ein Problem, und die vielen technischen Entwicklungen des vierundzwanzigsten Jahrhunderts haben die größten Behinderungen der Erkundung des Weltraums auf elegante Weise aus der Welt geschafft. Der Replikator überwindet das Problem der Lagerung von Lebensmitteln. Der Transporter überwindet das Problem der Anziehungskraft eines Planeten. Und der Warpantrieb überwindet das Problem der Lichtgeschwindigkeit. Die Technologie der Raumfahrt ist so ausgefeilt, daß alle diesbezüglichen technischen Entwicklungen in der Vergangenheit liegen. Natürlich arbeitet man an Verbesserungen, so sind Scotty und Geordi LaForge ständig bemüht, etwas mehr Leistung aus den Warptriebwerken herauszukitzeln. Doch in den vier Serien und acht Kinofilmen gibt es keinen Punkt, an dem irgendeine bedeutende technologische Neuerung bezüglich der Raumfahrt eingeführt wird. Die technischen Gerätschaften der Serie sind beeindruckend, aber sie existieren nicht aus technischen Gründen. Ein großer Teil
der Technik von Star Trek wurde von Gene Roddenberry, dem Schöpfer der Serie, hauptsächlich aus dramaturgischen Gründen entwickelt. In seinem Buch über die Entstehung der Serie sagt Roddenberry, daß er den Transporter deswegen eingeführt hat, um leichter zwischen den Handlungsschauplätzen wechseln zu können. Ihm war aufgefallen, daß viele Werke der Science Fiction unter langatmigen Szenen leiden, in denen Raumschiffe starten, landen oder andocken, um die Akteure auf möglichst wahrscheinliche Weise von einer Szene zur nächsten zu befördern. Der Transporter ist ein ausgesprochen effektives Mittel für den Wechsel zwischen zwei Schauplätzen, ohne daß die Figuren sich durch Zwischenszenen bewegen müssen. Roddenberry hatte einen ähnlichen dramaturgischen Grund für die Einführung des Warpantriebs. Um mit den vielen ›fremden Welten‹ Kontakt aufnehmen zu können, mußte das Schiff in der Lage sein, sich mit unglaublicher Geschwindigkeit fortzubewegen. Der Warpantrieb erfüllte den einfachen Zweck, dem Schiff zu ermöglichen, in jeder Episode einen anderen Sektor der Galaxis zu besuchen. Auf ähnliche Weise sollten die Replikatoren des Schiffes als unerschöpfliche Quelle für immer neue Requisiten dienen. Ganz gleich, wo sich die Enterprise gerade befand, sie konnte jeden benötigten Gegenstand praktisch aus dem Nichts erschaffen. Technische Einrichtungen wie der Transporter, der Warpantrieb und der Replikator sind letztlich nur Mittel zum dramaturgischen Zweck. Sie sind Teil der Drehbuchanweisungen, und da sie schnelle Bewegungen durch Raum und Zeit ermöglichen, verleihen sie jeder Episode eine gewisse dramaturgische Einheit. Aber die zentrale Technologie der Serie existiert nicht allein aus dramaturgischen Gründen. Sie liegt fast ausnahmslos im Bereich des Unmöglichen und entstammt eher der Magie als der Wissenschaft. Das Technical Manual zu The Next Generation unterstreicht diesen Punkt, denn es ist voller Zeichnungen von Requisiten aus der Serie, aber keine dieser Darstellungen zeigt das Innenleben der technischen Geräte. Es gibt keine
Rißzeichnungen, die die Funktionsweise der Technik enthüllen, da sich bisher niemand Gedanken gemacht hat, wie die Technik der Serie tatsächlich funktioniert. Das Kapitel über den Warpantrieb erläutert detailliert die Warpgeschwindigkeit von Faktor eins bis hinauf zu Faktor zehn, aber wenn es um die Theorie des Warpantriebs selbst geht, heißt es lediglich, daß er ›das Raum-Zeit-Kontinuum auf eine Weise verzerrt, um ein Raumschiff bewegen zu können‹. Selbst unter den Wissenschaftlern, die sich ernsthaft mit den Möglichkeiten der Raumfahrt beschäftigen, gibt es nur wenige, die daran glauben, daß ein Warpantrieb oder etwas Ähnliches jemals möglich sein wird. Das gleiche gilt für alle anderen technischen Entwicklungen der Serie. Es mag möglich sein, einen menschlichen Körper zu dematerialisieren (wie es zum Beispiel im Zentrum einer nuklearen Explosion geschieht), aber es ist unmöglich, ihn durch einen Transporter oder eine sonstige Vorrichtung wieder zusammenzusetzen. Die Entmaterialisierungskammern in der Folge ›A Taste of Armageddon‹ aus der Originalserie, wo sich Verletzte freiwillig auflösen lassen, kommen der Wahrheit der Transportertechnik vermutlich viel näher. Auch in Star Trek: Voyager wird auf diesen Punkt eingegangen, wenn die Kazon den Transporter als Mittel zur Vollstreckung der Todesstrafe einsetzen. Nur die Phaser aus der Serie bewegen sich nicht völlig im Rahmen des Unmöglichen, doch sogar ihre Wirkung beruht laut Technical Manual auf einem geheimnisvollen Kristall namens fushigi-no-umi. Innerhalb des Rahmens von Star Trek ist die Technik zwar plausibel, aber niemals realistisch. Die Technik ist vielmehr die elementare Form des sense of wonder in der Serie, sie ist immer vom Wunderbaren durchdrungen. In einer Serie, in der die Besatzung eines Raumschiffes jedes beliebige Objekt aus dem Nichts entstehen lassen kann, gibt es keine alltäglichen Handlungen mehr. Die ganze Serie verbreitet eine Atmosphäre des Wunderbaren, in jeder Episode haben wir das Gefühl, daß wir uns in einer Welt der Wunder befinden. In der Originalserie wird
dieses atmosphärische Gefühl häufig akustisch durch ein elektronisches Singen untermalt, das immer dann zu hören ist, wenn Kirk sich mit einem Landetrupp auf die Oberfläche eines fremden Planeten begibt. In The Next Generation gehört sogar das Summen der Schiffstriebwerke zu den Hintergrundgeräuschen jeder Episode, um uns ständig daran zu erinnern, daß sich die Ereignisse an Bord eines Raumschiffs abspielen. Beide Serien stecken voller gewöhnlicher Wunder, wie man sie nennen könnte, kleine Erinnerungen daran, daß die Besatzungsmitglieder der Enterprise in einer Welt der Wunder leben. Diese kleinen Wunder treten selbst in den unscheinbarsten Augenblicken des alltäglichen Lebens auf. Wenn Captain Picard sein Quartier betritt und ›Tee, Earl Grey, heiß‹ bestellt, erinnert uns die Zauberei des Replikators auf subtile Weise daran, daß Star Trek keinesfalls eine gewöhnliche Welt zeigt. Die Betten der Besatzungsmitglieder liegen immer unter einem gläsernen Baldachin, der von Sternenlicht beleuchtet ist. Selbst die Waschbecken sind hinter Gleittüren verborgen. Vor allem die Freizeit ist von diesen gewöhnlichen Wundern erfüllt, die von blauen Drinks in Guinans Bar bis zu phantastischen Landschaften auf dem Holodeck reichen. Es ist in der Tat schwierig, in allen vier Serien und acht Filmen auch nur eine einzige Szene zu finden, in die nicht irgendwo ein kleines Wunder eingefügt wurde. Star Trek präsentiert uns immer aufs neue eine Welt, in der sämtliche Umstände des Lebens bis hin zum winzigsten Detail vom sense of wonder durchdrungen sind. Der sense of wonder liegt in der Serie also im Großen wie im Kleinen. Bei den kleinen Wundern geht es zwar nicht um Leben und Tod, aber sie konditionieren uns darauf, ein Universum zu akzeptieren, in dem alles möglich ist. Die gewöhnlichen Wunder von Star Trek zeigen uns, daß wir uns nicht mehr auf unsere gewohnte Wahrnehmung verlassen können. Was wie leere Luft erscheint, kann sich plötzlich durch den Replikator in ein festes Objekt verwandeln. Und was wie ein festes Objekt erscheint,
kann sich plötzlich in Luft auflösen, wenn das Holodeck abgeschaltet wird. Die gewöhnlichen Wunder von Star Trek leisten mehr, als uns lediglich mit einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten vertraut zu machen. Sie deuten an, daß in dieser Welt nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die Voraussetzung für ein Wunder ist die Metamorphose, der fließende Wechsel von einem Existenzzustand in einen anderen. All die kleinen Wunder von Star Trek sind letztlich kleine Metamorphosen, in denen Objekte ihre Gestalt verändern. Diese Veränderung kann in jede Richtung gehen, ob plötzlich etwas im Replikator aus dem Nichts entsteht oder sich etwas auf dem Holodeck in Nichts auflöst. In jedem Fall geht es um die Veränderung der Gestalt. Trotzdem wird in der Serie der Eindruck vermittelt, daß diese gewöhnlichen Transformationen gewissen Einschränkungen unterliegen, daß eine Veränderung der Gestalt nicht mit einer vollständigen Veränderung des Wesens gleichzusetzen ist. Die Besatzungsmitglieder beklagen sich immer wieder darüber, daß die im Replikator synthetisierte Nahrung nicht so gut wie das Original schmeckt. Außerdem gibt es ständig Probleme mit dem Holodeck, einer Technik, die die Realität lebensecht simulieren kann, aber äußerst störanfällig ist. Die kleinen Wunder von Star Trek können die Gestalt, aber nicht das Wesen verändern. Die großen Wunder der Serie gehen viel weiter. In Star Trek gibt es Metamorphosen, die nicht nur die Gestalt, sondern auch das Wesen betreffen, Metamorphosen, in denen ein Ding in etwas völlig anderes verwandelt wird. Diese wesenhaften Metamorphosen sind die Grundlage des sense of wonder in der Serie. Wenn sich etwas verändert, verändert sich nicht nur die Gestalt und die Zusammensetzung, sondern das Wesen. Gestaltverwandlungen können rückgängig gemacht werden, doch Wesensveränderungen sind nur in einer Richtung möglich. Die kleinen Wunder von Star Trek sind im allgemeinen technischer Natur, und gewöhnlich wird angedeutet, daß sich jeder technische Prozeß wieder rückgängig machen läßt. Fast alle technischen
Probleme, mit denen die Enterprise konfrontiert wird, finden innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit eine Lösung. Selbst Leben und Tod werden manchmal auf ein solches technisches Problem reduziert. Die Serie ist voller Szenen, in denen es Dr. McCoy oder Dr. Crusher gelingt, ein verstorbenes Besatzungsmitglied ins Leben zurückzuholen. Doch viel häufiger entzieht sich die Grenze zwischen Leben und Tod jeder technischen Kontrolle, und Tote werden nicht allein durch medizinische Eingriffe wiederbelebt. Die Technik unterliegt bei Star Trek Einschränkungen, was ihre Befähigung zum Wunder betrifft. Selbst ein Arzt der Föderation kann die Toten nicht wiederauferstehen lassen. Diese Macht ist einer anderen Kategorie von Wesen vorbehalten, auf die ich später zurückkommen werde. Aber die Technik leistet gelegentlich mehr, als nur die Gestalt von Dingen zu verändern. Wenn sie ihre größte Macht entfaltet, kann sie sogar das Wesen von Dingen transformieren. In diesen Fällen kommen sich Leben und Tod sehr nahe. Die meisten technischen Mittel können das Wesen einer Sache verändern, indem sie es einfach töten oder vernichten. Zu den gewöhnlichen Wundern der Serie gehören die Waffen, die Leben in Tod verwandeln können, wie im Fall der Phaser und Photonentorpedos, die sicher nicht zufällig die gleiche Form wie die Särge besitzen, die gelegentlich für Weltraumbestattungen benutzt werden. Um eine außergewöhnliche Technik handelt es sich, wenn sie Tod in Leben verwandeln kann. Im ersten Star TrekFilm wird V-ger als eine solche transformative Technik dargestellt, wenn sie in der letzten Szene ein menschliches Paar in lebendem Licht badet und in sich aufnimmt. Doch das beste Beispiel für eine Technik, die Wunder bewirken kann, ist die Genesis-Maschine. Sie wurde von Dr. Carol Marcus entwickelt und konnte etwas aus dem Nichts schaffen. Sie konnte unbewohnbare Planeten in Welten mit Ozeanen, Flüssen, Seen und Atmosphäre verwandeln, ohne daß dazu eine Sonne in der Nähe sein mußte. Die Szenen in Star Trek II: The Wrath of Khan, die
die Erschaffung einer Welt zeigen, sind von geradezu biblischer Majestät. Trotzdem erwies sich die Maschine letztlich als Fehlentwicklung, und zwar nicht nur aufgrund technischer Schwierigkeiten. Der böse Khan stiehlt die Einrichtung, als er erkennt, daß sie sich auch als Waffe verwenden läßt. In Star Trek können sogar außergewöhnliche Technologien wie die GenesisMaschine wieder in den Status einer gewöhnlichen Technologie wie die der Phaser und Photonentorpedos zurückfallen. Im Star Trek-Universum steht die Macht zur Transformation von Tod in Leben nicht menschlichen Wesen zu, sondern nur gewissen viel mächtigeren, gottähnlichen Wesen, wie ich weiter unten zeigen werde. Doch das größte von Menschen geschaffene technische Wunder ist keine Waffe oder irgendein Servomechanismus, sondern eine Annäherung an das menschliche Leben selbst. Zweifellos erreicht die Technologie im Fall des Androiden ihre größte Nähe zu einem Wunder. Der Androide ist ein weiteres Wunder im Grenzbereich zwischen Leben und Tod, weil der Androide eine Maschine aus toter Materie darstellt, die die Grenze überschritten und eine Art Leben entwickelt hat. Lieutenant Commander Data in The Next Generation ist ein ständiger Beweis für den technologischen sense of wonder in der Serie. Data stellt weder eindeutig tote noch lebende Materie dar, wie es scheint. In zahlreichen Episoden wird er getötet und schließlich wiederbelebt. In ›Thine Own Self‹ liegt er zwei Meter unter der Erde begraben. In ›Time’s Arrow‹ ist sein Kopf vierhundert Jahre lang vom Rest seines Körpers getrennt. Jede Episode, in der es um Data geht, stellt die Frage, die für den sense of wonder so wesentlich ist: Was ist das Leben und wo beginnt es? Doch für Data im besonderen und den sense of wonder im allgemeinen gilt, daß diese Fragen letztlich nicht zu beantworten sind. Data mag in gewisser Weise am Leben sein, aber niemand ist sich völlig sicher, wie er eigentlich funktioniert. In einer Episode geht es um seinen ›Emotionschip‹, der sich jeglicher Laboranalyse entzieht. Doch am wichtigsten ist die Tatsache, daß seine Erschaffung und
sein Erschaffer von einem Geheimnis umgeben sind. Obwohl Data angeblich über ausführliche Aufzeichnungen von allen seinen Erfahrungen verfügt, kann er sich nicht an seine eigene Geburt erinnern. Er weiß nicht, wie er die Grenze zwischen Nichtexistenz und Existenz überschritten hat. Von seinem eigenen Tod spricht er mit einer gewissen Vorfreude, da ihm bewußt ist, daß die Erfahrungen von Geburt, Alterung und Tod die entscheidenden und am wenigsten verstandenen Erfahrungen des Menschen darstellen. Immer wenn Data auf dem Bildschirm erscheint, ist der sense of wonder in doppelter Hinsicht vertreten, denn Data sucht nicht nur nach einer Antwort auf die geheimnisvollsten aller Fragen, sondern er selbst stellt ein Wunder dar. Data ist ein Wunder auf der Suche nach dem Wunder, und in diesem Zusammenhang kann es nicht überraschen, daß seine Figur durch einen wißbegierigen Charakter geprägt ist und er jeder neuen Erfahrung mit einer fast kindlichen Neugier gegenübertritt. Nicht unerwähnt bleiben sollten die technischen Mittel, mit denen in Star Trek der sense of wonder heraufbeschworen wird, nämlich die Spezialeffekte. Sie bilden eine besondere Kategorie der technischen Wunder der Serie. Star Trek wird häufig wegen der zu vielen oder zu schlechten Spezialeffekte kritisiert. Die Planetenoberflächen aus Gips, die für die Originalserie hergestellt wurden, wirken in der Tat wenig überzeugend. Doch im rechten Licht betrachtet sind sie wichtige Elemente für die Bedeutung der Serie. Die unglaubwürdigen Planeten sind wie die Kulissen eines Krippenspiels, sie sollen nicht den Eindruck einer wirklichen Welt vermitteln, sondern die Existenz einer unsichtbaren Welt andeuten. Ein Planet der Originalserie zeichnet sich durch ungewohnte Spektralfarben und ein helles Singen als Hintergrundgeräusch aus. Die schlechten Planetenkulissen sind nicht die Schuld der Ausstatter, sondern stellen vielmehr die Mittel dar, durch die die Serie den Kontakt zu fremden Welten andeutet. Niemand würde diese Kulissen für die Oberfläche eines authentischen Planeten halten, denn hier geht es überhaupt nicht
um Realismus. Die Dekors der Originalserie haben etwas von der Qualität religiösen Kitsches, von Objekten, die ebenfalls die Gegenwart einer anderen Welt heraufbeschwören sollen. Die Planeten sind genauso wie Kitschobjekte in grellen und unnatürlichen Farben gehalten. Hier sollte angemerkt werden, daß die Originalserie sehr häufig mit krassen und unrealistischen Farbkontrasten arbeitete. Selbst die Enterprise ist immer wieder in grelle Farben getaucht, in Rot, Blau, Orange oder Violett. Im Gegensatz dazu ist die zweite Enterprise, die NCC-1701-D aus The Next Generation, in gedämpftere Farben gehüllt, in Beige, Graubraun, Weinrot und Hellbraun. Im Einklang mit dem größeren Realismus des zweiten Schiffes treten in der zweiten Serie auch weniger gottähnliche Wesen auf. Die Enterprise von Captain Kirk bekommt es in fast der Hälfte aller achtundsiebzig Episoden mit einem allmächtigen Wesen zu tun, während die Enterprise von Captain Picard nur sehr wenigen begegnet, hauptsächlich in den Episoden, in denen es um Q oder den Reisenden geht. Die Götter im Star Trek-Universum scheinen allmählich auszusterben. Die weiteren Spezialeffekte, die in der Serie zum Einsatz kommen, geben ebenfalls Anlaß zu Kritik. Dennoch sind die Spezialeffekte die Seele von Star Trek. Jeder Spezialeffekt ist eine Art Wunder. Spezialeffekte sind auf das Unmögliche spezialisiert. Die Wunder der Serie werden durch die Art, wie gewisse Szenen gefilmt sind, zusätzlich verstärkt. Wenn Dr. McCoy oder Dr. Crusher einen Patienten heilen, verharrt die Kamera auf der verwundeten Hautstelle, die unter einem Lichtstrahl wieder gesund wird. Als Lieutenant Worf eine neue Wirbelsäule implantiert werden soll, leuchtet das Transplantat zunächst in einem Kraftfeld. Spezialeffekte sind in der Regel mit Licht assoziiert. In Star Trek ist es genauso wie in der westlichen religiösen Tradition häufig ein Lichtstrahl, der Wunder bewirkt. Der Lichtstrahl kann eine Wunde heilen, wie im Fall der fortgeschrittenen medizinischen Instrumente, oder einen Feind vernichten, wie im Fall des Phasers. Er kann einen Körper von
einem Ort an den anderen versetzen, wie im Fall des Transporters, oder ein Schiff schneller als das Licht durch den Raum bewegen, wie im Fall des Warpantriebs. In allen diesen Fällen geht ein konzentrierter Lichtstrahl von einer bestimmten Quelle aus und wirkt auf ein Objekt ein. An dieser Stelle sollten wir uns noch einmal daran erinnern, daß die meisten Spezialeffekte in der Science Fiction als Ersatz für physikalische Unmöglichkeiten dienen. Jeder Spezialeffekt in Star Trek ist letztlich ein Eingeständnis, daß etwas nicht existiert oder nicht getan werden kann. Und dennoch sehen wir auf dem Bildschirm ein Objekt, das existiert, oder eine Aktion, die getan wird. Spezialeffekte bewegen sich immer an der Grenze zwischen Existenz und Nichtexistenz, womit sie den technologischen sense of wonder verstärken, der so prägend für die Serie ist.
2 Doch der sense of wonder umfaßt viel mehr als nur die Macht der Technik. Die Technik besteht schließlich nur aus Maschinen, seien sie auch noch so fortgeschritten, während der eigentliche sense of wonder immer die Ehrfurcht und das Staunen vor der Existenz des Lebens im Universum betrifft. Lieutenant Commander Data mag sich noch so sehr bemühen, zu einem menschlichen Wesen zu werden, doch dazu müßte er zu einem lebenden Wesen werden, was ihm natürlich niemals möglich ist. Die Technik kann dem sense of wonder nahekommen, vor allem, wenn sie durch Spezialeffekte verstärkt wird, aber sie kann ihn niemals erreichen. Der sense of wonder ist die Ehrfurcht vor dem Leben in jeglicher Form, und im Star Trek-Universum kann das Leben viele Formen annehmen. In der Serie treten neben den humanoiden zahlreiche nichtmenschliche Lebensformen auf, und ihr Leben und Sterben ist das Thema vieler Episoden. Insbesondere wimmelt es in der Serie von Monstern. Einige ähneln mythischen Wesen wie Greifen, Zentauren und
Einhörnern. Doch die meisten sind reine Phantasiewesen ohne Entsprechung in unserer Geschichte. Es gibt Geschöpfe, die sich ohne Schwierigkeiten durch festen Stein bewegen können. Es gibt Geschöpfe, die aus reiner Elektrizität bestehen. Und es gibt Geschöpfe, die aus einem einzigen Element bestehen, das auf irgendeine Weise zum Leben erwacht ist, wie das Schlammonster in ›Skin of Evil‹. Die Monster sind in Star Trek immer mit den elementaren Geheimnissen von Leben und Tod assoziiert, und wie wir sehen werden, ist es keine Überraschung, daß der einzige Tod einer Hauptfigur, der Tod von Tasha Yar in The Next Generation, nicht durch die Hände eines Humanoiden oder durch einen Gott, sondern durch ein Monster bewirkt wird. ›Monster‹ ist ein recht ungenauer Begriff zur Bezeichnung dieser Wesen. Die Monster in Star Trek scheinen auf den ersten Blick wundersame Geschöpfe zu sein, doch im Verlauf der Geschichte erweist sich gewöhnlich, daß sie einen sehr weltlichen Ursprung haben. Die Monster in Star Trek mögen demonstrieren, daß das Universum voller Überraschungen ist, doch das Überraschungsmoment nutzt sich sehr schnell ab, worauf das Monster zu einer von vielen Spezies der Serie degeneriert. Es gibt keine Monstren in der Serie, die mit Wesen wie dem Yeti oder dem Ungeheuer vom Loch Ness vergleichbar wären. In Star Trek sind Monstren im allgemeinen Mitglieder einer bislang unbekannten Spezies, die zunächst furchterregend wirken, im Laufe der Zeit jedoch ihren Schrecken verlieren. Das große Schuppenmonster aus ›Galaxy’s Child‹ erweist sich als werdende Mutter. Das Geschöpf das sich in ›The Devil in the Dark‹, einer Episode der Originalserie, durch Fels gräbt, erweist sich als Weibchen, das um seine Eier besorgt ist. In beiden Fällen wird aus dem Monstrum eine Spezies, die nichts weiter tut, als ihren Instinkten zu folgen. Trotzdem wird das Monster in beiden Fällen als gebärendes Wesen dargestellt, und Geburt wird in der Serie immer mit dem sense of wonder assoziiert. Der Schrecken beim Erstkontakt mit dem Monster weicht der Ehrfurcht vor dem Monster. Nachdem es zunächst als Bedrohung des Lebens
gesehen wird, wandelt es sich und repräsentiert dann die elementarste Funktion des Lebens überhaupt, die Fortpflanzung. Das Monster verliert seinen Schrecken und wird zu einer weiteren von vielen Lebensformen des Star Trek-Universums. Ein deutliches Beispiel für diese Wandlung vom Schrecken zur Ehrfurcht findet sich in ›Galaxy’s Child‹. In dieser Episode entdeckt die Enterprise in der Nähe des Systems Alpha Omicron eines riesiges Wesen, das im Weltraum lebt. Das Geschöpf sieht wie ein großer geschuppter Topflappen aus, und wie zu erwarten ist, greift es die Enterprise an. Das Schiff kann sich mühelos gegen das Geschöpf wehren, und dieses wird dabei getötet. Dann stellt sich heraus, daß das Wesen schwanger war, und Dr. Crusher bringt das Kind zur Welt, indem sie mit den Schiffsphasern einen Kaiserschnitt am Körper der toten Mutter durchführt. Nun denkt das neugeborene Wesen, daß die Enterprise seine Mutter ist, und muß behutsam vom Schiff entwöhnt werden. Schließlich wird es in einen Asteroidengürtel gebracht, wo es von anderen Mitgliedern seiner Spezies in Empfang genommen wird. Bereits der Handlungsverlauf dieser Folge müßte hinreichend erklären, warum es in der Serie keinen Platz für Horror gibt. In vielen anderen Werken der Science Fiction wimmelt es von furchterregenden und abgrundtief bösartigen Lebensformen, man denke nur an die Alien-Filme. Doch in Star Trek ist alles Leben wahres Leben, und Leben ist niemals auf Dauer erschreckend. Die Voraussetzung für Horror ist immer ein Gefühl von Abscheu, und in Star Trek läßt sich eine solche Empfindung nur schwer aufrechterhalten. Die wissenschaftliche Untersuchung ergibt jedesmal, daß die Monster, die in der Serie auftreten, sich gemäß vorhersagbarer biologischer Muster verhalten. Im Grunde gibt es im Star Trek-Universum überhaupt keine Monstren, sondern nur Lebewesen, mit denen die Menschen sich noch nicht vertraut gemacht haben. In vielen Szenen wird gezeigt, wie sich viele unterschiedliche Spezies in einer Bar treffen, womit angedeutet wird, wohin sich jede Monstrosität in der Serie letztlich entwickelt. Der Horror verflüchtigt sich, die Vertrautheit stellt
sich ein, und schließlich ist sogar die Koexistenz möglich. In solchen gemischten Bars kommt es immer wieder zu Streitereien und Kämpfen, doch insgesamt geht es dort wesentlich friedlicher zu als an den Schauplätzen des Erstkontakts mit den vielen Monstern der Serie. Echte Monster sind in Star Trek eine äußerst seltene Erscheinung, und wenn sie doch einmal auftreten, sind sie eher mit dem Tod als mit dem Leben assoziiert. In Star Trek sind echte Monster ausnahmslos einzigartige Wesen, Einzelphänomene, und wenn sie erscheinen, dann verbreiten sie wahren Schrecken. Völlig einzigartige Wesen sind in der Natur unbekannt, und die Monster in Star Trek scheinen gelegentlich auf den ersten Blick einzigartig zu sein, doch schließlich erweisen sie sich immer als einzige Überlebende einer Art oder als Individuen, die von ihren Artgenossen getrennt wurden. Ein einzeln existierendes Wesen ist in der Tat ein Schrecken, der jedes Naturgesetz verletzt, und wenn ein solcher Einzelgänger in der Serie auftaucht, gibt es ernsthafte Probleme. Monster, die zu einer Spezies gehören, streifen in Star Trek irgendwann ihre Monstrosität ab, wenn sie sich um ihre Kinder kümmern, und werden durch das Mysterium der Geburt eins mit all den anderen Spezies des Universum. Einzelne Monster verlieren niemals ihre monströsen Charakter, denn sie bleiben mit dem Tod assoziiert. Sie stellen eine Bedrohung des menschlichen Lebens dar, und die Furcht vor ihrer monströsen Erscheinung ist eine Erweiterung der Furcht vor dem Tod. Diese einzigartigen Monstren nehmen Menschen das Leben, gewöhnlich das eines unbedeutenden Besatzungsmitglieds, doch bei einer denkwürdigen Gelegenheit tötet ein solches Monstrum ein Mitglied der Brückenbesatzung, nämlich Tasha Yar. Diese mordwütigen Monstren besitzen oft keine klar umrissene Gestalt, falls sie nicht sogar ihre Gestalt verändern können. Ihre Herkunft und Geschichte ist ein Geheimnis, und im Gegensatz zu den vielen scheinbaren Monstren des Star Trek-Universums kann man sie niemals verstehen, sondern sie nur fürchten. Ein solches Monster tötet Tasha Yar in der Folge ›Skin of Evil‹. Commander
Riker stellt ein Landeteam zusammen, das aus Tasha, Crusher und Data besteht und auf die Oberfläche von Vagra Zwei hinuntergebeamt wird, wo ein Shuttle mit Counselor Troi an Bord abgestürzt ist. Sie finden das Shuttle, das sich in einen Hügel gebohrt hat, doch es ist von einer öligen schwarzen Lache umgeben. Wenn sie sich dem Shuttle zu nähern versuchen, bewegt sich der schleimige Fluß und versperrt ihnen den Weg. Dann verfestigt sich die Substanz zu einem Schleier, der das Landeteam anspricht. Riker bittet den Schleier darum, den Weg freizugeben, und sagt ihm, daß ›die Erhaltung jeglichen Lebens für uns von Bedeutung ist‹. Dann fügt er hinzu: »Wir glauben, daß alles im Universum das Recht auf Existenz hat.« Das Wesen antwortet: »Eine interessante Vorstellung, die ich jedoch nicht teile.« Der Schleier ist die Star Trek-Version des Schnitters, einer Repräsentation des Todes in all seinem Schrecken. Der Schleier spricht mit Baßstimme und sagt zu ihnen, daß sie den schwarzen Fluß nicht überschreiten dürfen. Doch für Tasha ist es jetzt genug. Sie schreitet auf den schleimigen Fluß zu, und dabei löst sich ein Energieblitz aus der Lache, der sie zu Boden wirft. Ihr Gesicht ist mit Schleim bedeckt. Sie wird sofort in die Krankenstation und an jedes verfügbare Instrument angeschlossen, doch man kann nur noch ihren Tod feststellen. Jegliche Gehirnaktivität ist erloschen, und alle Lebensanzeigen fallen auf Null. Die Besatzung der Enterprise muß sich nun weiterhin mit dem Monster auseinandersetzen, das sie getötet hat, und gleichzeitig die Tatsache ihres Todes verarbeiten. Das Schleimmonster sagt zu Counselor Troi, daß die Tötung von Tasha Yar ›keinerlei Bedeutung‹ hatte, daß es nur so handelte, ›weil ich es wollte, weil es mich amüsierte‹. Es wird kein Versuch gemacht, die grausame Tatsache ihres Todes zu beschönigen. Picard und die Besatzung sind sich bewußt, daß Tasha nicht infolge einer außergewöhnlichen oder heldenhaften Tat starb. Es wäre innerhalb der Serie durchaus möglich gewesen, Tashas Abgang mit einem Heldentod zu feiern oder ihr die Möglichkeit zu geben,
ihr Leben für eine gute Sache zu opfern. Doch statt dessen präsentiert uns ›Skin of Evil‹ die Anatomie eines sinnlosen Todes. Vom Augenblick ihres Todes an ist Picard und den anderen schmerzhaft bewußt, daß sie nicht hätte sterben müssen. Ihr Tod hat keine heldenhafte Unausweichlichkeit. »Es hat sie einfach nur getötet«, sagt Dr. Crusher über das Monster. »Ohne Grund. Ein sinnloser Akt der Grausamkeit.« Doch eben diese Sinnlosigkeit zwingt die Besatzung dazu, sich weniger mit den Umständen ihres Todes als mit der eigentlichen Tatsache des Todes auseinanderzusetzen. Irgendwann wird das Monstrum natürlich überlistet und schließlich in die Flucht geschlagen, aber das Monstrum ist gar nicht das Thema dieser Episode. Das Thema ist vielmehr die Konfrontation der Besatzung mit der absoluten Grenze zwischen Leben und Tod. All die Technik und Wissenschaft von Starfleet können Tashas Tod weder verhindern noch sie ins Leben zurückholen. Den Menschen bleibt nichts übrig, als der Tatsache des Todes ins Auge zu sehen. Doch dazu sind sie nicht in der Lage. Im letzten Kapitel geht es hauptsächlich um die Trauer über Tashas Tod, aber es gibt keine Bestattung, keine Beerdigung. Tasha hat für den Fall ihres Todes eine holographische Aufzeichnung vorbereitet, die nun erscheint und sich an die Besatzung wendet. Jeder wird der Reihe nach gewürdigt. Diese Szene ist eine Art verkehrter Totenehrung, wenn nicht die Lebenden der Toten gedenken, sondern die Tote die Lebenden preist. Die Betonung liegt nicht auf der Toten, sondern auf den Lebenden. Es wird nirgendwo der Eindruck vermittelt, Tasha würde aus dem Grab oder dem Jenseits zu ihnen sprechen. Sie war bei ihnen, und nun ist sie fort, und niemand weiß, wo sie jetzt ist. Das Mysterium des Todes bleibt, doch die Lebenden empfinden ihn hauptsächlich als Abwesenheit. Viele Zuschauer und Kritiker waren von dieser Episode enttäuscht. »Das einzige Mal, daß ein Trek-Hauptdarsteller stirbt«, kommentierte Entertainment Weekly, »aber auf diese Weise?« Es ist sicherlich richtig, daß in dieser Episode vieles
fehlt, was eine normale Star Trek-Folge ausmacht, die immer mit der glücklich wiedervereinten Besatzung endet, die sich auf den Weg zu ihrem nächsten galaktischen Abenteuer macht. Diese Episode endet mit einer eindringlichen Beschwörung der Grenze zwischen Leben und Tod. Theoretisch ist das Universum angeblich unendlich, aber in der Praxis der Serie haben wir gesehen, daß es viel kleiner ist, da es von Imperien und undurchdringlichen Energiebarrieren begrenzt wird. In Star Trek ist der Weltraum gar nicht so unendlich, und wie ich bereits erwähnte, werden in der Serie nur wenige Bilder gezeigt, die die Weite des Alls vermitteln. Statt dessen ist der Weltraum von Schiffen, Stationen und Kolonien erfüllt. Nur der Tod ist der einzige unendliche Faktor in Star Trek. Der Tod ist die große Barriere in der Serie, und das Schlammonster ist in gewisser Weise ein Bild für den Tod, wie er in der Serie gesehen wird. Das Monster zerfließt zu einem schwarzen Fluß, der das Leben vom Tod trennt. Auch Will Riker wird vom Fluß verschlungen, aber er wird wieder freigegeben. Tasha jedoch fordert den Fluß heraus und wird für ihren Frevel getötet. In dieser Szene klingen viele griechische Mythen an, in denen Menschen die unveränderlichen Mächte der Natur herausfordern und dafür bestraft werden. Tasha geht zu weit, als sie ihre Stellung als menschliches Wesen im Universum vergißt und den Tod selbst herausfordert. Doch der Tod ist unerbittlich, also muß sie sterben. Tashas Tod findet etwa nach einem Drittel der Episode statt, und im weiteren Verlauf von ›Skin of Evil‹ geht es hauptsächlich darum, die Tatsache ihres Todes zu verarbeiten. Die Besatzungsmitglieder sind schockiert. Angesichts des Todes bleibt ihnen nur eine gewisse stoische Haltung. Die Stoiker waren griechische Philosophen, die sagten, daß der Tod etwas Unbekanntes sei, dem man daher in jedem Fall mit Tapferkeit und Stärke begegnen müsse. Die Besatzungsmitglieder der Enterprise legen einen ähnlichen Stoizismus an den Tag, wenn sie das akzeptieren, was sich ohnehin nicht ändern läßt. Diese Akzeptanz ist jedoch nicht vollständig. Der Arbeitstitel dieser
Episode lautete ›The Shroud‹, was im Englischen ›Schleier‹, ›Leichentuch‹ oder ›Totenhemd‹ bedeuten kann. Damit wird die Assoziation hergestellt, daß das Schleimmonster die Rolle von Gevatter Tod spielt, der gekommen ist, um Tasha zu sich zu holen. Mit dem endgültigen Titel ›Skin of Evil‹ (›Haut des Bösen‹ oder ›Hülle des Bösen‹) verbinden sich ganz andere Vorstellungen. Anders als beispielsweise die Star Wars-Filme meidet Star Trek im allgemeinen die Extreme von Gut und Böse und neigt statt dessen zu einem moralisch ambivalenten Universum. Doch hier wird Tashas Tod als etwas Böses dargestellt, und das Monstrum, das sie tötet, ist die Inkarnation des Bösen. Der Tod ist das einzige wahre Böse im Star TrekUniversum, in dem Feinde nur vorübergehend Feinde sind. Selbst die Cardassianer werden schließlich (in Deep Space Nine) als mögliche Kandidaten für die Föderation gehandelt. Die Serie sieht den Tod mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schrecken. Die Lobreden und Nachrufe auf Tasha Yars Leben demonstrieren den sense of wonder angesichts des Todes, aber wir sehen nie ihre Leiche, sondern nur eine schimmernde Holographie, die Tasha wie eine Engelsgestalt erscheinen läßt. Beim Nachdenken über Tashas Tod erreicht Data seine bislang größte Menschlichkeit, und schließlich ist es sogar seine Erinnerung an sie, die ihn in der Folge ›The Measure of a Man‹ vor der Demontage bewahrt. Das Monster jedoch ist schrecklich und wird niemals als Spezies assimiliert. Nach der Episode wird der Planet Vagra Zwei einfach zur verbotenen Zone erklärt. Es scheint, daß das Monstrum nur deshalb in der Serie auftaucht, um Tasha töten zu können, worauf es sich wieder in das Reich des Todes zurückzieht. Die Besatzung reagiert mit Sprachlosigkeit und Stoizismus, aber in der Serie kann der Stoizismus viele Formen annehmen. Beim Tod eines klingonischen Gefährten in ›Reunion‹ blickt Worf in den Himmel und schreit. Der Tod ist schrecklich, und im Gegensatz zu allen anderen Phänomenen des Star Trek-Universums kann er nicht durch Erklärungen weggezaubert werden. Das einzige wahre Monster der Serie ist der Tod selbst.
Tasha Yar, die einzige verstorbene Hauptfigur der Serie, geistert durch alle sechs weiteren Staffeln von The Next Generation. In jeder Staffel gibt es Episoden, in denen man sich an sie erinnert oder in denen sie in verschiedener Form wiedererscheint. Gelegentlich sehen wir ihr holographisches Porträt, das zu Datas kostbarsten Schätzen gehört und das er von Zeit zu Zeit hervorholt, wie zum Beispiel in ›The Measure of a Man‹. Dann sehen wir Tasha-Darstellerin Denise Crosby in der Rolle ihrer eigenen Tochter, einer romulanischen Agentin namens Sela. Es ist eine ziemlich verwickelte Geschichte, wie Tashas Tochter dazu kam, für die Romulaner zu arbeiten. Tasha hatte natürlich niemals eine Tochter, da sie im Jahr 2364 starb, ohne jemals ein Kind zur Welt gebracht zu haben. Doch es wird vermutet, daß 2366 eine alternative Version von Yar aus einem Paralleluniversum in unser Kontinuum gelangte, dann in die Vergangenheit reiste und dort Sela zur Welt brachte. Diese Geschichte wirkt in der Tat reichlich an den Haaren herbeigezogen, und Sie können mir glauben, daß es keine klareren Äußerungen dazu gibt, doch letztendlich wird dadurch das Geheimnisvolle am Tod von Tasha Yar verstärkt. Die gewohnten Verhältnisse von Zeit und Raum werden unverständlich, wenn es um die Tatsache des Todes geht, und Star Trek kann darauf nur mit einem verworrenen Knoten reagieren, der sich nicht auflösen läßt, obwohl in der Serie gewöhnlich sehr geschickt mit komplizierten Geschichten umgegangen wird. Das Geheimnis und der sense of wonder angesichts des Todes wird durch die Reaktionen der Gesichter der Brückenbesatzung gesteigert, als sie Sela sehen. Sie verstummen, und ihre Gesichter erbleichen. Es ist, als würden sie einen Geist sehen, was in gewisser Weise sogar der Fall ist. Tasha ist in einen Bereich übergewechselt, in dem die gewohnten Gesetze von Zeit und Raum nicht mehr gelten. Auch wenn die Serie dafür berüchtigt ist, sehr flexibel mit diesen Gesetzen umzugehen, scheint es doch, daß im Fall des Todes keine entsprechenden Naturgesetze mehr gelten. Wir werden vielleicht niemals
verstehen, wie solche Dinge möglich sind. In ›Eye of the Beholder‹ faßt Lieutenant Worf die Grenzen des menschlichen Verständnisses sehr gut zusammen: »Es gibt Dinge, die wir nicht verstehen, aber sie existieren trotzdem.« Die Grenzen des menschlichen Verständnisses haben auch etwas mit den Grenzen der Darstellungsmöglichkeit für die Dinge zu tun, die wir nicht verstehen. Episoden, die die tiefsten Geheimnisse der Geburt und des Todes erkunden, stoßen an diese Grenzen der Darstellung. Die Fähigkeit zum Geschichtenerzählen beruht auf der Fähigkeit, eine Erzählung in linearer Form anzuordnen. Es kommt im buchstäblichen Sinne zu einem Zusammenbruch der Geschichte, wenn es um die Tatsache des Todes geht. Auch wenn der Tod zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet, liegt die Wirklichkeit des Todes außerhalb jeder Linearität und Zeitlichkeit, was die Möglichkeit zur Erzählung einer guten Geschichte zerstört. Deshalb gehören die Folgen der Serie, die sich mit Geburt und Tod beschäftigen, nicht zu den besten von Star Trek. Religiöse Kunst ist berüchtigt für ihre Nichtlinearität und Außerzeitlichkeit, wenn sie ein Reich jenseits von Zeit und Raum zu repräsentieren versucht, und auch Star Trek leidet beim Thema Tod unter dieser Störung unserer gewohnten Welt. Das Universum wird in Star Trek vielleicht nicht als heilig betrachtet, aber der Tod ist etwas Heiliges, weil er endgültig ist und die Serie einen großen Respekt vor endgültigen Dingen hat. In den Episoden treten immer wieder die letzten Überlebenden einer Kolonie, einer Zivilisationen oder Spezies auf. Eine bedeutende Konstante in Star Trek ist die Tatsache, daß alles irgendwann ein Ende hat, und die Galaxis ist voller Spuren ehemals vitaler Kulturen, die untergegangen sind. Auch wenn diese Kulturen häufig versuchen, der Endgültigkeit auszuweichen, indem sie Sonden (wie in ›The Inner Light‹) oder Archive (wie in ›Masks‹) auf den Weg schicken, bleibt das Ende unausweichlich. In ihren erhaltenen Geschichten überlebt bestenfalls ein kleiner Bruchteil des ursprünglichen Ganzen. Alles hat irgendwann ein Ende, abgesehen von ein oder zwei Ausnahmen.
3 Diese Ausnahmen sind Götter. Es sind keine Götter im christlichen Sinne eines höheren Wesens, das dieses Universum erschaffen hat. Star Trek präsentiert uns in der Regel ein polytheistisches Universum, das von verschiedenen mächtigen Wesen bewohnt wird, die auf einer höheren Ebene als die Menschheit existieren. Diese Götter sind allmächtig, aber nicht allwissend, und das ist eine wichtige Unterscheidung. Die Götter in Star Trek können alles tun, was sie wollen, aber sie wissen nicht immer, was sie tun. Der Gott eines monotheistischen Universums wird zumeist als erhaben, ausgeglichen und selbstsicher betrachtet. Die Götter eines polytheistischen Universums sind eher streitsüchtig, launisch und unentschlossen. Beide Kategorien von Göttern treten in Star Trek auf, und selbst wenn sie für das Gute einstehen, kommt es meistens zu einem Konflikt mit menschlichen Interessen. Captain Kirk gefällt es überhaupt nicht, als eine Rasse wohlmeinender gottähnlicher Wesen in ›Errand of Mercy‹ einen bevorstehenden Krieg zwischen der Föderation und den Klingonen zu verhindern versucht. Und Captain Picard kann sich niemals mit Q anfreunden. In beiden Fällen schränken die Götter die menschliche Freiheit ein, die in der Serie einen so hohen Stellenwert einnimmt. Auf den ersten Blick mag das Star TrekUniversum etwas von einer göttlichen Komödie an sich haben, die gleichzeitig lächerlich und erhaben ist, aber die Menschen können darüber nicht lachen. In Star Trek existieren Götter, aber es scheint, daß wir lieber von ihnen in Ruhe gelassen werden möchten. »Verschwinden Sie!« sagt Captain Picard am Ende von ›Encounter at Farpoint‹ zu Q. »Wir haben den Test bestanden.« Ein uneingeschränkt guter Gott ist im Star Trek-Universum nur selten anzutreffen. In der Serie bewohnen die Götter im allgemeinen keine heilige, sondern eine sehr profane Welt. Götter unterscheiden sich durch ihre Macht von der Menschheit, nicht durch ihre Göttlichkeit. Q verfügt über alle Macht eines
göttlichen Wesens, aber er hat nicht die geringste göttliche Aura der Heiligkeit. Obwohl es in Qs Verbindung zu den Geheimnissen des Lebens und des Todes etwas Heiliges gibt, ist im rationalen Universum von Star Trek generell nur wenig Platz für Heiligkeit. Das Streben nach Heiligkeit degeneriert meistens zu einem Machtkampf, wie im Fall von Kahless, dem klingonischen Messias, dessen Rückkehr einen heftigen Konkurrenzkampf im Klingonischen Imperium auslöst. Die Vorstellung, daß alles Leben von heiliger und göttlicher Bedeutung erfüllt ist, wird im allgemeinen als Überbleibsel primitiver Kulturen betrachtet, die unter das Nichteinmischungsgebot der Ersten Direktive fällt. Die Föderation selbst ist religionslos, und Starfleet-Mitglieder, die an religiösen Ritualen fremder Kulturen teilnehmen, werden häufig wegen Verletzung der Ersten Direktive getadelt. Meistens wird die Enterprise damit beauftragt, solche Missetäter zurückzuholen und den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, wie beispielsweise in ›Bread and Circuses‹, wo ein Bürger der Föderation in eine Art Römisches Imperium involviert ist, oder in ›Patterns of Force‹, wo ein anderer Bürger der Föderation eine Gesellschaft nach dem Vorbild des nationalsozialistischen Deutschland geschaffen hat. Das einzige gottähnliche Wesen, das einem gütigen und heiligen Gott recht nahe kommt, ist der Reisende, der in der Folge ›Journey’s End‹ erscheint, um Wesley Crusher in eine neue Welt zu führen. Irgendwann fragt der Reisende, was Wesley für heilig hält, worauf dieser eine typische Starfleet-Antwort gibt: »Im Grunde halte ich nichts für heilig.« In dieser Episode verläßt Wesley die Starfleet-Akademie und schließt sich dem Reisenden an, um nach dem Heiligen zu suchen, doch damit verschwindet er gleichzeitig aus der Serie. Obwohl der sense of wonder einen Beiklang der Heiligkeit besitzt, hat das Heilige selbst keinen Platz im Star TrekUniversum. Wesleys spirituelle Suche ist ungewöhnlich für Star Trek, und es ist bezeichnend, daß er nicht zu den wichtigen Hauptfiguren gehört. Zum Zeitpunkt, als Wesley in ›Journey’s
End‹ dem Reisenden begegnet, ist er schon seit einigen Jahren nicht mehr an Bord der Enterprise gewesen. Die meisten Hauptfiguren gehen keinen religiösen Aktivitäten nach, und wenn sie es doch einmal tun, wie zum Beispiel Worf, dann endet ihre Suche mit sehr gemischten Resultaten. Wesleys Suche ist eine der wenigen derartigen Unternehmen, die in günstigem Licht dargestellt werden, und zwar aus mehreren Gründen. Er ist ein sehr junger Mann, noch unausgebildet und unreif, und seine religiöse Suche steht im Zusammenhang mit dem Bedürfnis, seine Stellung in der Welt der Erwachsenen zu finden. Doch viel wichtiger ist der Umstand, daß er von einem Gott geführt wird, der die Mission der Enterprise auf ideale Weise ergänzt. Der Reisende ist ein mobiles göttliches Wesen, ein Gott ohne Heimat – er hat nicht einmal eine nebulöse Heimat wie das Kontinuum im Fall von Q –, und Star Trek hat keine gute Meinung von seßhaften Göttern. Im Gegenteil, hier sind die Götter rastlose Wesen, die ständig durch das Universum streifen. Götter, die in der Serie an festen Schauplätzen wie Tempeln oder Kirchen verehrt werden, sind meistens im Zusammenhang mit primitiven religiösen Ritualen dargestellt. Es ist kein Zufall, daß das göttliche Wesen, das in der Serie den positivsten Eindruck erweckt, als der Reisende bezeichnet wird. Der Reisende ist ein Gott in Bewegung, ein Gott der wundersamen Reisen, ein Wächter und Begleiter, der die Menschen zu neuen Planeten und weiteren Entdeckungen treibt. Auch wenn Wesley Starfleet verläßt, scheint es, daß seine spirituelle Mission ihn auf einen parallelen Kurs führen wird. Der Reisende wird auch deswegen günstig dargestellt, weil er von einer eigenen Ersten Direktive getrieben wird. Der Reisende verzichtet darauf, sich in menschliche Angelegenheiten einzumischen. Er versucht nicht, die Geschichte der Föderation zu lenken oder zu verändern, wie Q es tut, sondern drängt Wesley, sich von ihr abzuwenden. Die Serie hält nicht viel von göttlicher Einmischung und betrachtet derartige Eingriffe als die schlimmsten Verstöße gegen die Erste Direktive. Wenn diese als
kategorischer Imperativ verstanden würde, wäre es mächtigen Wesen verboten, sich in das Leben und Schicksal nicht so mächtiger Wesen einzumischen. Q ist natürlich das deutlichste Beispiel einer Verletzung der Ersten Direktive durch ein göttliches Wesen, und ich werde mich noch näher mit ihm befassen. Doch die vielen anderen gütigeren und nicht so launischen Wesen werden von der Serie ähnlich kritisch dargestellt. In ›Errand of Mercy‹, einer Episode der Originalserie, greifen wohlwollende allmächtige Wesen ein, die sich Organier nennen, und verhindern einen drohenden Krieg zwischen der Föderation und dem Klingonischen Imperium. Wie der Originaltitel (zu deutsch ›Rettungsaktion‹) andeutet, sind die Organier ein Volk hilfsbereiter Götter, die sich ausgezeichnet auf ihre Rolle als Schlichter im Universum verstehen. Dennoch bringen sie Captain Kirk in Rage, der eher in den sicheren Tod gehen würde, als sich dem Willen irgendeines Gottes zu fügen. Die Episode geht gut aus, da der Frieden vorläufig wiederhergestellt werden kann, doch das komische Ende ist das Resultat einer erzwungenen göttlichen Komödie. Hier erregt die göttliche Komödie die Wut der Menschen, die lieber ohne Zwang kämpfen würden, als unter Zwang Frieden zu halten. Selbst das Armageddon ist dem Verlust der Freiheit vorzuziehen. Auch wenn diese Episode auf den ersten Blick extrem erscheinen mag, entfaltet sie ein Szenario, das für die gesamte Serie typisch ist. Buchstäblich Dutzende von Star Trek-Folgen drehen sich um den Widerstand der Menschen gegen diverse göttliche Zwänge. Die Menschen sind eine ungestüme und nicht zu zügelnde Spezies, und in der Originalserie hat William Shatner eine hervorragende Leistung mit der Verkörperung des unerschütterlichen Captain Kirk abgeliefert, dessen unbeugsamer Menschengeist über jede Widrigkeit triumphiert. Kirks Zorn richtet sich vor allem gegen jene, die die menschliche Freiheit bedrohen, und obwohl Patrick Stewart mit Jean-Luc Picard einen beherrschteren Captain verkörpert, ist seine Figur des Picard genauso besorgt darum, die Freiheit des Menschen zu erhalten
und zu vermehren. Picard mag ein sehr zurückhaltender Mann sein, aber der einzige, der immer wieder seinen Zorn erregen kann und gegen den er leidenschaftlich die Menschheit verteidigt, ist Q. Q ist der Archetypus des höheren Wesens, das sich immer wieder in die Angelegenheiten anderer einmischt und dem die Serie ein so tiefes Mißtrauen entgegenbringt. Wie der Reisende ist er ein nichtseßhafter Gott, der rastlos durch das Universum zieht. Doch im Gegensatz zum Reisenden ist Q unerschütterlich auf das Schicksal der Menschheit fixiert. Der Reisende erwählt nur Wesley Crusher als werdenden Propheten oder Heiligen, während er anscheinend nicht bereit ist, sich in das Schicksal der Menschheit als Ganzes einzumischen. Q jedoch tritt immer wieder in Erscheinung, um die Menschheit auf die Probe zu stellen. Es ist kein Zufall, daß es in der ersten und letzten Folge von The Next Generation um solche Prüfungen durch Q geht. In erster Linie ist es die Aufgabe von Q, die Ambitionen der Menschen in Frage zu stellen und sie an die grausamen und erhabenen Wunder zu erinnern, die sie im Universum erwarten. Einige von Qs Eigenschaften decken sich mit denen anderer gottähnlicher Wesen im Star Trek-Universum. Er tritt in menschlicher Gestalt auf, obwohl er kein Mensch ist, und macht immer wieder Bemerkungen über die Unvollkommenheit des menschlichen Körpers. Er ist auch nicht sehr mitteilsam, was sein Wissen über die Struktur des Universums betrifft. Er hält die menschliche Intelligenz für äußerst beschränkt und bezeichnet die geistigen Fähigkeiten des Menschen regelmäßig als ›kläglich‹. Doch im Gegensatz zu den geistigen Fähigkeiten sind die Ambitionen des Menschen keineswegs kläglich. Das ist der Grund, warum Q gegenüber menschlichen Wesen die Rolle eines Wächters oder Führers spielt, und zwar in beiderlei Hinsicht, da er sie wohlwollend, aber gerecht ausübt. Einerseits taucht er mehrfach auf, um Picard zu warnen, daß die Menschen keine Ahnung haben, worauf sie sich mit der Expansion in die Galaxis einlassen. Andererseits kommt er gelegentlich mit der Botschaft, daß die Expansion ihren Preis hat. Die Menschheit ist durchaus
dazu in der Lage, das Universum durcheinanderzubringen und sich selbst zu zerstören, und Q tritt häufig auf den Plan, um den Menschen zu sagen, daß sie zu weit gegangen sind. Es gibt einen guten Grund, warum The Next Generation damit beginnt und endet, wie ein allmächtiges Wesen die Menschheit einer Prüfung unterzieht. Die Menschheit mag über unbegrenzte Ambitionen verfügen, doch genau diese Ambitionen können Gefahren heraufbeschwören, deren Ausmaß sich menschliche Wesen kaum vorstellen können. Die erste dieser Prüfungen findet in der allerersten Episode von The Next Generation statt. In ›Encounter at Farpoint‹ erscheint Q in der Tat als äußerst launischer Gott. Er entführt die Brückenbesatzung und stellt sie vor ein Femegericht. Doch die Menschen werden gar nicht wegen bestimmter Verbrechen angeklagt. Q wirft der Besatzung der Enterprise vielmehr vor, die Ordnung des Universums gestört zu haben. Die Veranstaltung ist eher ein Schauprozeß, und Q ist keinesfalls ein überzeugender Richter. Beim zweiten Prozeß am Ende der Serie tritt Q wesentlich ernsthafter auf. Er hat sich die Stellung eines Beschützers der Enterprise erworben, und Picard hat im Gegenzug ihn beschützt, ihm sogar eine Zeitlang Asyl gewährt (in ›Déjà Q‹), als Q vorübergehend aus dem Kontinuum verstoßen war. Und obwohl die Anklagepunkte im wesentlichen gleich geblieben sind, gibt es nach sieben Staffeln der Serie viele Gründe, den Einfluß der Menschheit auf das Universum in Frage zu stellen. Im Verlauf der Serie haben wir gesehen, wie Menschen wiederholt das Raum-Zeit-Kontinuum störten und mit dem Warpantrieb eine Technik verwendeten, die den Weltraum verschmutzt. Wir haben gesehen, wie die Föderation wiederholt, wenn nicht gar regelmäßig, ihre eigene Erste Direktive verletzte. Nach sieben Staffeln von The Next Generation haben menschliche Wesen genug angerichtet, um einen Prozeß zu rechtfertigen, und in ›All Good Things‹ wird das abschließende Urteil über die Serie gesprochen. Dieser Prozeß findet jedoch nicht in einem Gerichtssaal statt. In
›All Good Things‹ geht es vielmehr um eine klassische Prüfung, die eine moralische Herausforderung darstellt und der Feststellung erworbener Fähigkeiten dient. In vielerlei Hinsicht werden alle vorhergehenden Star Trek-Episoden in dieser letzten Folge zusammengefaßt, und so enthält diese Episode auch alle Themen, die ausführlich in den Kapiteln dieses Buches besprochen wurden. In ›All Good Things‹ muß Picard sich für den verheerenden Einfluß verantworten, den die Expansion der Föderation auf die Galaxis gehabt hat, auch wenn versucht wurde, diesen Schaden durch die Erste Direktive zu minimieren. Er muß seine eigene Identität in drei verschiedenen zeitlichen Rahmen erkunden, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er muß sich sehr schnell zwischen drei verschiedenen Geschichten hin und her bewegen, und jede dieser Geschichten behauptet von sich, wahr zu sein, obwohl jede zumindest zum Teil falsch ist. Und er muß sich den Tatsachen von Geburt und Tod auf einer höheren Ebene stellen, als er in die Frühzeit der Erde und zum Anfang des Lebens reist und mit der Möglichkeit konfrontiert wird, daß die Menschheit vielleicht niemals existieren wird. In ›All Good Things‹ geht es um mehr, als die Menschheit vor Gericht zu stellen. In dieser Episode werden all die unterschiedlichen Grenzen und Barrieren eingerissen, die die Struktur des Star Trek-Universums bestimmen. Wie wir an zahlreichen Beispielen gesehen haben, weist dieses Universum eine eigenartige, aber konsistente Struktur auf. Das Star Trek-Universum ist voller getrennter, aber aneinander angrenzender Bereiche. In Star Trek gibt es die unterschiedlichsten zeitlichen Rahmen, räumlichen Dimensionen und phantastischen Wesen, aber sie dürfen nicht miteinander in Berührung kommen. Sie existieren nebeneinander, aber sie koexistieren nicht. Vielmehr geht es in zahlreichen Episoden darum, eine Überschreitung der Grenzen zwischen diesen verschiedenen Bereichen zu verhindern. Und in ›All Good Things‹ wird die Sicherheit der Barrieren geprüft, die die Zeiten, Dimensionen und Lebensformen des Universums voneinander
trennen. Genauso wie zuvor in der ganzen Serie wird in dieser letzten Episode ein Universum gezeigt, das voller Grenzen ist, die nur unter großer Gefahr überschritten werden können. Dabei kann es sich um historische, räumliche oder spirituelle Grenzen handeln. Die historischen Grenzen beziehen sich auf das RaumZeit-Kontinuum und werden durch Zeitreisen bedroht. Räumliche Grenzen beziehen sich auf alternative Universen und werden durch die Implosion verschiedener Dimensionen bedroht. Und die spirituellen Grenzen beziehen sich auf göttliche Wesen und werden durch den Zusammenbruch der Hierarchie der Spezies bedroht. In jedem dieser Fälle übt ein anderer zeitlicher, räumlicher oder spiritueller Bereich Druck auf unser Universum aus, wobei die Enterprise sich zumeist genau am Druckpunkt befindet. Und jedesmal ist es die Aufgabe der Enterprise, die Gefahrenzeichen zu erkennen und die Grenzen zwischen uns und dem anderen Bereich wieder zu schließen. Wie ich bereits sagte, ist das Star Trek-Universum zwar angeblich so unendlich wie der Raum, aber die Unendlichkeit wird als sehr gefährliche Sache betrachtet. Die Menschheit muß lernen, in dem ihr zugewiesenen Raumsektor zu leben, und auch wenn es etwas dramatisch klingt, führt jede Überschreitung der menschlichen Grenzen unverzüglich zu Problemen. Die vielleicht schlimmste Katastrophe, die im Star TrekUniversum eintreten kann, ist der Zusammenstoß angrenzender Universen. Wenn zwei extrem unterschiedliche Arten von Materie denselben Raum einnehmen, werden nach der Wissenschaft der Serie beide zerstört. Auch wenn zwei benachbarte Universen zusammenstoßen, ist die gegenseitige Vernichtung vorprogrammiert. Das ist der eigentliche Grund, warum es im Star Trek-Universum so viele entmilitarisierte Zonen und undurchdringliche Energiebarrieren gibt. Die wichtigste Mission der Enterprise besteht darin, an diesen Grenzen zu patrouillieren und die Integrität des Universums zu bewahren. Alles, was diese Wesensbarrieren durchdringt, wird als große Gefahr betrachtet, die wieder in ihr eigenes Reich
zurückgedrängt werden muß. Jedes Wesen, das diese Grenzen nach Belieben überschreiten kann, stellt eine Bedrohung für die Galaxis dar, ganz gleich, wie gut seine Absichten sein mögen. Es muß um jeden Preis in sein eigenes Reich zurückgebracht werden, wenn beispielsweise in der Folge ›The Alternative Factor‹ aus der Originalserie ein Fremder namens Lazarus aus einem alternativen Universum flüchtet und durch einen Dimensionskorridor zurückbefördert werden muß. Jede Episode von Star Trek endet also mit der Rückkehr von Wesen in ihren angestammten räumlichen oder zeitlichen Bereich und mit einer Wiederherstellung der Wesensgrenzen des Universums. Man reagiert mit Staunen und Ehrfurcht auf die Existenz all dieser Reiche, aber auch mit Erleichterung über die Rückkehr alles Fremden an seinen angemessenen Platz im Universum. All diese unterschiedlichen Bereiche treffen in ›All Good Things‹ aufeinander. Die Episode ist beinahe ein Katalog der beliebtesten Katastrophen von Stör Trek und eine gelungene Vorstellung der Gefahren, die durch Grenzüberschreitungen drohen. Bereits zu Anfang scheinen die wichtigsten Barrieren des Universums brüchig zu werden. Captain Picard wechselt zwischen drei verschiedenen zeitlichen Bezugsrahmen hin und her, zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die Vergangenheit liegt sieben Jahre zurück, als er zum ersten Mal das Kommando über die Enterprise übernahm. Die Zukunft ist fünfundzwanzig Jahre später, wenn seine Besatzung neue Aufgaben übernommen oder Starfleet verlassen hat. Picard wechselt alle paar Minuten zwischen den Zeitebenen und muß nach einer Erklärung für das suchen, was mit ihm geschieht. Picard ist völlig ahnungslos, bis Q auftaucht und ihm sagt, daß er ihn durch die Zeiten geschickt hat. Verständlicherweise ist Picard wütend, doch Q behauptet, daß er es zu Picards eigenem Wohl tut – und zum Wohl der Menschheit. Q führt weiterhin aus, daß Picard allein für die vollständige Vernichtung der Menschheit verantwortlich ist. Picard muß nun herausfinden, was all das zu bedeuten hat. Die
Katastrophe, die die Menschheit auslöschen wird, ist auf ungewöhnliche Weise unabsichtlich von Picard ausgelöst worden. Es scheint, daß die Enterprise in der Zukunft einer räumlichen Anomalie begegnet, und da der Riß als Gefahr für die Stabilität von Zeit und Raum erkannt wird, versucht man ihn durch einen umgekehrten Tachyonenimpuls zu schließen. Doch der Tachyonenimpuls führt dazu, daß sich dieser Spalt auf unerwartete Weise vergrößert. Die Anomalie dehnt sich aus, aber in entgegengesetzter Richtung zum normalen Zeitverlauf. Er wird die Erde in ferner Vergangenheit erfassen und damit die Evolution der Menschheit verhindern. Picard, der immer noch schnell zwischen den Zeiten wechselt, kann die Einzelteile der Geschichte zusammensetzen und die Aktionen der drei Enterprises-Versionen in den drei verschiedenen Zeitebenen koordinieren. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden eins, als die drei Raumschiffe gleichzeitig den Riß im Weltraum versiegeln. Wie üblich sind die Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Bereichen des Universums Brennpunkte, die zu Krisen führen, die nur durch die Wiederherstellung der elementaren Barrieren des Universums gelöst werden können. Am Ende der Episode erscheint Q, um sich für seine Unterstützung der Menschheit danken zu lassen, diesmal nicht als Richter, sondern als Wächter und Mentor. Bei seinem letzten Auftritt in ›All Good Things‹ betont Q fast genau die gleichen Punkte, die er im Verlauf von The Next Generation immer wieder angesprochen hat. Er weist erneut auf die Unzulänglichkeit konventioneller rationaler Erklärungen für das Universum hin. »Sie haben keine Ahnung, wie weit Sie noch gehen müssen«, sagt er an einer Stelle zu Picard. Er spricht die zwei Aspekte des sense of wonder an, die überall in Star Trek präsent sind, nämlich die Existenz von Wundern und die Möglichkeit des Schreckens. Bereits das Wesen eines Wunders ist etwas so Mächtiges, daß es gleichzeitig erschreckend sein kann. Q stellt zu Recht fest, daß die Menschen eine sehr neugierige Spezies sind, die immer wieder nach neuen Wundern
im Universum sucht. Doch jeder seiner Auftritte in The Next Generation dient einem einzigen übergeordneten Zweck: die Besatzung der Enterprise davor zu warnen, daß das Gegenteil eines Wunders der Schrecken ist und daß jedes Wunder ein potentieller Schrecken ist. Das ist der Kernpunkt seiner Warnung, die er in den letzten Szenen von ›Encounter at Farpoint‹ ausspricht. Es ist auch der Grund, warum er die Enterprise in ›Q Who‹ zu den Borg befördert, um den Menschen zu zeigen, daß nicht jede neuentdeckte Spezies ein neues Wunder ist, sondern ein beträchtliches Potential an Schrecken bereithalten kann. Und dies ist der Beweggrund für seine letzte Einmischung in ›All Good Things‹. Der Titel ist wiederum ein Teil der Warnung von Q: Alle guten Dinge haben irgendwann ein Ende. Damit ist nicht nur gemeint, daß die Föderation eine zeitlich begrenzte Institution ist, die irgendwann ihr Ende finden wird, sondern auch, daß der Charakter aller guten Dinge, die in konzentrierter Form als sense of wonder empfunden werden, irgendwann ein Ende haben und durch ihr Gegenteil, den Schrecken, abgelöst werden. Diese Schrecken mögen klein wie ein einzelnes Monster oder groß wie eine ganze Spezies sein, aber der letzte Schrecken ist natürlich das Ende der Menschheit. Diese Verbindung von Wunder und Schrecken wird sehr gut in einer bemerkenswerten Szene von ›All Good Things‹ zusammengefaßt. Q hat Picard in die Urzeit der Erde zurückgebracht und lenkt seine Aufmerksamkeit auf einen kleinen schlammigen Teich. »Genau hier«, sagt Q zu Picard, »wird zum ersten Mal Leben auf diesem Planeten entstehen. Ein paar Aminosäuren werden sich zum ersten Protein verbinden.« Hier wird das Wunder des Lebens, das an diesem Punkt seinen Anfang auf der Erde nimmt, durch Picards Schrecken gebrochen, weil er, ganz allein er, den Anfang des Lebens auf der Erde vereitelte, indem er zuließ, daß sich die Raumanomalie in die Vergangenheit ausdehnen konnte. Wie immer in Star Trek ist die individuelle Tat eines Menschen von größter Bedeutung. »Sie vernichten die Menschheit«, sagt Q
an einer Stelle zu Picard. Die Tat eines einzigen Menschen kann für den Tod einer ganzen Spezies verantwortlich sein. Und wie immer bei Star Trek geht die Serie dem Determinismus historischer Kräfte aus dem Weg. Picard und Kirk retten immer wieder das Universum, und zwar so oft, daß sie darüber scherzen, als sie sich in Star Trek: Generations begegnen, wenn Kirk sagt: »Ich habe schon das Universum gerettet, bevor Sie geboren waren.« Die Bemerkung ist als Witz gemeint, aber ihr liegt eine bemerkenswerte Aussage zugrunde: Ein Mensch kann das Universum retten, also kann ein Mensch es auch zerstören. Trotz der Unermeßlichkeit des Star Trek-Universums stellt es sich in der Serie so dar, daß Menschen angesichts ihrer Entdeckungen niemals unbedeutend werden. Das Universum mag Tausende von Spezies und Millionen von Planeten beherbergen, doch immer kann das Schicksal des Universums von der Tat eines einzigen Individuums abhängen. Die Menschheit spielt in individueller wie in kollektiver Hinsicht eine große Rolle, und obwohl es zahlreiche, viel mächtigere göttliche Wesen im Universum gibt, hindert ihre Göttlichkeit sie daran, mit der uneingeschränkten Freiheit zu handeln, die nur menschliche Wesen besitzen. Sogar Q ist Einschränkungen seiner Macht unterworfen, die ihm das Kontinuum auferlegt hat. Menschen mögen keine Götter sein, aber sie sind freier als Götter, und genau diese Freiheit gibt ihnen große Macht. Die Götter in der Serie sind häufig Gefangene ihrer eigenen Göttlichkeit, und vielfach treten sie als Voyeure auf, denen es Vergnügen bereitet, die Menschen zu beobachten. Sie scheinen menschliche Aktivitäten zu brauchen, um nicht an der Langeweile der Unsterblichkeit zugrunde zu gehen. Dies läßt sich immer wieder beobachten, von ›The Gamesters of Triskelion‹, einer Folge der Originalserie, wo sich drei gottähnliche Gehirne damit vergnügen, Wetten auf Kämpfe zwischen Menschen abzuschließen, bis zu einer kürzlich ausgestrahlten Folge von Star Trek: Voyager, in der Captain Janeway in das Q-Kontinuum versetzt wird, das als Baracke voller Greise dargestellt wird, die in einer Wüste leben. In Star Trek sind mächtige Wesen trotz
ihrer Launen und scheinbaren Unberechenbarkeit in Wirklichkeit ziemlich berechenbar, und es gefällt ihnen im allgemeinen, Menschen zu beobachten, weil die Menschen wirklich frei und damit wirklich unberechenbar sind. Die Götter mögen allmächtig sein, aber die Menschheit besitzt uneingeschränkte Freiheit. Obwohl Q in ›All Good Things‹ als Lenker auftritt, sind die Menschen letztlich frei von allen Zwängen. Die Menschheit kann nicht durch einen Gott vernichtet werden, sondern sie kann nur sich selbst vernichten. »Ich bin es nicht, der die Auslöschung der Menschheit verursacht«, sagt Q zu Picard. »Sie sind es.« Q mag wesentlich mächtiger als jedes menschliche Wesen sein, doch während all seiner Auftritte in The Next Generation kann er den Menschen ihre Freiheit nicht nehmen. Q kommt vielmehr zur Enterprise, um die Menschen daran zu erinnern, daß ihre Freiheit unbegrenzt ist und daher unbegrenzt mißbraucht werden kann, wenn sie nicht achtgeben. Zu keinem Zeitpunkt wird Picard durch Q zu irgendeiner Handlung gedrängt oder gezwungen. Q ist da, um der Menschheit zu zeigen, daß sie sich selbst zerstören kann, und das Star Trek-Universum ist in der Tat voller toter Planeten und ausgestorbener Spezies, die genau dies getan haben. Das Star Trek-Universum ist voller Trümmer und Ruinen, aber es geschieht nur selten, daß eine Spezies von einer anderen ausgelöscht wird. Diese Welten haben sich selbst zerstört, und ihre Ruinen sind eine Warnung an die Menschheit, ihre Freiheit nicht zu mißbrauchen. Die Freiheit der Menschen, nach Belieben das Universum vernichten zu können, ist der wahre Grund, warum Q so häufig in The Next Generation auftritt. »Die Prüfungen gehen niemals zu Ende«, sagt er am Ende von ›All Good Things‹ zu Picard, »denn es gibt kein Ende der menschlichen Freiheit und deshalb auch kein Ende der menschlichen Verantwortung.« Q soll die Besatzung der Enterprise daran erinnern, daß jede menschliche Tat, sei sie auch noch so beiläufig, ihre Konsequenzen hat. Selbst in Episoden, in denen nicht das Schicksal des Universums auf dem Spiel steht, klingt dieses Thema an. In ›Tapestry‹ wird Pi-
card von Q gezwungen, sich den Konsequenzen verschiedener gedankenloser Handlungen seiner Jugendzeit zu stellen. Menschliche Handlungen haben nicht nur weitreichende Konsequenzen, sondern jede menschliche Handlung, sei sie auch noch so geringfügig, hat große Bedeutung. Auch wenn in der Serie keine klare Aussage über das Leben nach dem Tode getroffen wird, wird trotzdem eine gewisse Vorstellung von einer Art Jüngstem Gericht bewahrt, in der sich eine göttliche Instanz der Gerechtigkeit an jede menschliche Tat erinnert und sie schließlich beurteilt. Die sieben Staffeln von The Next Generation enden mit einem solchen Jüngsten Gericht, in dem von Q mit einer seltsamen Mischung aus Unbestimmtheit und Endgültigkeit das Urteil gesprochen wird: Wir wollten sehen, ob Sie die Fähigkeit besitzen, Ihren Geist und Ihre Horizonte zu erweitern, und für einen kurzen Moment ist es Ihnen gelungen… In diesem Bruchteil einer Sekunde standen Ihnen Möglichkeiten offen, an die Sie nie zuvor gedacht haben. Das ist die Entdeckung, die Sie erwartet, nicht die Kartographierung von Sternen und Nebeln, sondern die Erkundung der unbekannten Möglichkeiten der Existenz. Q erweist sich letztlich als überraschend gerechter und unparteiischer Richter. Obwohl er sowohl in ›Encounter at Farpoint‹ wie auch in ›All Good Things‹ zunächst mit einem vorgefaßten Urteil aufzutreten scheint, fällt er schließlich ein gerechtes Urteil und spricht die Menschheit von den ungerechtfertigten Anklagepunkten frei. Doch diese Anklagepunkte sind gar nicht so übertrieben, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, denn Q hat zur Genüge bewiesen, daß die Menschheit über die Macht verfügt, sich selbst und möglicherweise auch das Universum zu vernichten. Und er spricht die Menschheit auch nicht von allen Verbrechen frei. Q gewährt den Menschen vielmehr eine Art Galgenfrist. Es gibt keinen Hinweis, daß Qs Urteil in irgendeiner
Weise vorherbestimmt ist. Das Schicksal der Menschheit bleibt eine offene Frage. Darin liegt die eigentliche Bedeutung von Qs Namen, denn ›Q‹ steht im Englischen für ›question‹, ›Frage‹. Durch Q werden viel mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Die Episoden um Q stellen beharrlich die Fragen: Wer ist der Mensch? Welchen Einfluß hat der Mensch auf das Universum? Wieviel wissen wir? Die Anwesenheit von Q und seine beunruhigenden, nicht zu beantwortenden Fragen bestätigen, daß Geheimnisse und der sense of wonder sogar noch im vierundzwanzigsten Jahrhundert vorhanden sind, einem Jahrhundert, in dem auf nahezu jede vorstellbare Frage eine wissenschaftliche Antwort gefunden wurde. Die Anwesenheit von Q ist der Beweis für die Grenzen wissenschaftlicher Rationalität in einer Gesellschaft, die durch diese Rationalität bestimmt ist. In Star Trek scheint die Vernunft gelegentlich einen höheren Stellenwert als die Offenbarung einzunehmen, doch in letzter Konsequenz bringt die Serie der Vernunft nicht allzuviel Vertrauen entgegen. Im Star TrekUniversum muß die Offenbarung immer an die Seite der Vernunft treten, um eine allzu leblose Rationalität zu vermeiden. Wesley Crusher erlebt Starfleet als technisch hochentwickelte, aber spirituell tote Organisation und beschließt, die StarfleetAkademie zu verlassen, um sich dem Reisenden anzuschließen. Die am stärksten von Logik und Vernunft geprägten Figuren der Serie sind zweifellos Spock und Data, trotzdem werfen gerade diese beiden die interessantesten philosophischen Fragen über das Universum auf. Das Star Trek-Universum benötigt unbedingt ein Wesen wie Q, eine allmächtige Entität, die nicht auf eine Spezies reduzierbar ist, um die Fragen zu stellen, die Starfleet nicht stellen, geschweige denn beantworten kann. Wir haben bereits festgestellt, daß Starfleet in den höchsten Rängen eine recht fragwürdige Institution voller Rivalitäten und Intrigen darstellt. Gottähnliche Wesen wie Q und der Reisende erinnern die Besatzung der Enterprise daran, daß das bekannte Universum trotz seiner Größe immer noch winzig im Verhältnis zum
Unbekannten ist. Q eröffnet neue und oftmals gefährliche Horizonte, wenn er die Menschheit mit den Borg bekannt macht. Götter sind in Star Trek dazu da, die Menschheit ins Unbekannte zu locken und sie vor den kommenden Geheimnissen zu warnen. Diese vielen Geheimnisse des Universums wirken häufig überwältigend, und manchmal ist die einzige mögliche Reaktion darauf das Staunen mit offenem Mund, das sich in so vielen Episoden einstellt. Aber es gibt noch eine andere Reaktion. Die Geheimnisse des Lebens und Todes bleiben bestehen, aber genauso unerschütterlich ist der Mut und die Hoffnung angesichts dieser Geheimnisse. Die Erkundung der Galaxis durch die Föderation läßt sich nicht aufhalten. Die Menschheit ist immer in rastloser Bewegung, und in vier Serien und acht Filmen haben menschliche Wesen fremde Planeten und fremde Verhaltensweisen, Tausende von Lebensformen, Regierungen und Kulturen gesehen. Dennoch ist der Mensch im Grunde seines Herzens nie zufrieden, diese Unzufriedenheit nagt an uns und treibt uns in die unbereisten Regionen der Galaxis. Es gibt in Star Trek kein Ende der menschlichen Aktivitäten, während ein Raumschiff nach dem anderen zum Rand des bekannten Universums aufbricht. Auch wenn die Barriere des Todes niemals überwunden werden kann, stellt dennoch jede andere Barriere in der Galaxis eine unwiderstehliche Herausforderung dar. In Star Trek hat die Menschheit die Erde verlassen, ihre Heimat, zu der sie nicht häufig zurückkehrt. Eine Generation von Entdeckern wird alt und stirbt, doch sie wird durch eine nächste Generation von Entdeckern ersetzt, die ihre Mission fortführt. Die Kontinuität der Generationen ist sehr wichtig für Star Trek. In der Fernsehserie und den Kinofilmen sehen wir, wie Captain James T. Kirk mit seiner Besatzung altert und dem Tod entgegengeht, aber wir sehen auch, wie eine neue Generation die Bühne betritt, um ihren Platz auf einer neuen Enterprise zu übernehmen. Das Geheimnis des Todes bleibt, doch das Wunder des Lebens, des immer wieder erneuerten Lebens, hält an, während die Menschheit unaufhaltsam ins Universum strebt.
Nachwort Star Trek ist noch nicht zu Ende. Auch wenn die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise mit der letzten Episode von The Next Generation aufgehört haben, setzen neue Generationen von Starfleet-Offizieren die Mission der Föderation in der Galaxis fort. Als Gene Roddenberry 1991 starb, hatte seine Schöpfung längst ein eigenes Leben entwickelt, doch seitdem hat sich das Star Trek-Universum in eine neue Richtung bewegt. Die Originalserie und die ersten sechs Filme, die in Star Trek VI: The Undiscovered Country im Friedensvertrag zwischen der Föderation und den Klingonen gipfelten, behandelten im wesentlichen die Dynamik des Gleichgewichts der galaktischen Mächte. The Next Generation spielt zur Blütezeit dieses Gleichgewichts, während sich die Großmächte gegenseitig in Schach zu halten versuchen, woran Jean-Luc Picard, der Meisterdiplomat der Föderation, einen nicht unerheblichen Anteil hat. Doch Star Trek: Deep Space Nine und Star Trek: Voyager führen in eine Welt, in der das Selbstvertrauen der Föderation durch eine veränderte politische Situation untergraben wurde. Deep Space Nine stellt sich der Herausforderung eines festen Schauplatzes und vieler neuer Völker. Voyager sieht sich mit einer Galaxis konfrontiert, in der es keine Föderation gibt, weil das Schiff im Weltraum verloren ist und keinen Kontakt mit der Heimat mehr hat. In vielerlei Hinsicht ist der Weltraum in Deep Space Nine und Voyager ein viel gefährlicherer Ort geworden als noch in The Next Generation. Doch bereits in der siebten Staffel von The Next Generation gibt es deutliche Anzeichen für eine Veränderung des Star TrekUniversums, und zwar nicht zum Guten. In der vorletzten Episode erscheint die Föderation in einem völlig anderen Licht als zuvor. In ›Preemptive Strike‹ holt Starfleet zum Präventivschlag gegen den Maquis aus, eine RenegatenOrganisation, deren Aktivitäten an der cardassianischen Grenze
das Gleichgewicht des Quadranten zu stören drohen. Der Plan sieht vor, die vor kurzem zum Lieutenant beförderte Ro Laren als Spionin einzusetzen. Ihr Auftrag lautet, die Organisation des Maquis zu infiltrieren, wobei ihre früheren Probleme mit der Disziplin bei Starfleet ihr zu einer gewissen Glaubwürdigkeit verhelfen sollen. Sie erklärt sich mit der Mission einverstanden, nicht so sehr aufgrund ihrer politischen Überzeugungen, die sie eher dazu drängen würden, den Maquis im Kampf gegen das cardassianische Joch zu unterstützen, sondern vielmehr aus Loyalität zu Captain Picard, der ihr in der Vergangenheit häufig als Mentor durch schwere Zeiten geholfen hat. Eine Zeitlang läuft alles nach Plan. Ro erhält Zugang zu einer Maquis-Zelle und gewinnt rasch das Vertrauen des Anführers Macias. Bald jedoch leidet Ro unter einem klassischen Fall von Loyalitätskonflikt. Einerseits ist sie überzeugter Starfleet-Offizier und hat geschworen, die Gesetze und Ideale der Föderation zu achten. Andererseits entwickelt sie als Bajoranerin eine instinktive Sympathie für den Maquis und seine Ziele. Die Episode gipfelt darin, daß Ro sich zwischen diesen beiden Interessen entscheiden muß. Ro überzeugt den Maquis davon, im Gebiet der Föderation einen Konvoi anzugreifen, während Picard und seine Schiffe sich in der Nähe bereithalten und im HugoraNebel verstecken. Doch kurz bevor der Maquis in die Falle geht und die entmilitarisierte Zone verläßt, wechselt Ro die Fronten. Sie schießt einen schwachen Partikelstrahl in den Nebel, und verrät damit die versteckte Föderationsflotte. Die Renegaten fliehen, und Ro ist nun selbst zu einem Mitglied des Maquis geworden. Die Aussage von ›Preemptive Strike‹ lautet, daß die Föderation sich nicht mehr in einer Position der politischen oder moralischen Autorität befindet. Aus politischem Kalkül hat die Föderation viele Welten im Stich gelassen, um ihre Stabilität zu sichern. Zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Mächte geht sie berechnend und ziemlich rücksichtslos vor. Wie es scheint, ist Starfleet jedes Mittel recht, um die politische Ordnung im
Quadranten zu sichern, und dazu nimmt man sogar in Kauf, viele Bürger der Sklaverei zu überantworten. Auch in moralischer Hinsicht gibt es Defizite in der Föderation. Dies ist die einzige Episode von The Next Generation, in der Captain Picard in einem moralisch fragwürdigen Licht erscheint. In einer bemerkenswerten Szene trifft sich Ro mit ihm in einer Bar, um einen Aufschub der Operation zu erbitten. Picard spürt sofort ihren Loyalitätskonflikt und droht ihr mit einem Prozeß, falls sie die Operation auf irgendeine Weise sabotieren sollte. Er sorgt sogar dafür, daß Commander Riker in die Rolle eines Verwandten schlüpft und sie bei der Rückkehr zum Maquis begleitet, um sicherzustellen, daß sie ihre Befehle ausführt. In der Bar tritt Ro als Prostituierte auf, um sich einen Vorwand für das Gespräch mit dem Captain zu verschaffen. Als Picard sie ermahnt, die Befehle der Föderation zu befolgen, unterbricht sie das Gespräch mit lauten Bemerkungen, in denen sie um den Preis ihres Körpers feilscht. Die Parallele ist deutlich; Ro will sich nicht prostituieren, sie ist nicht käuflich. Picard tritt als eine Art Zuhälter der prostituierten Loyalität auf, und am Ende ist er der Betrogene, als Ro der Föderation einen Strich durch die Rechnung macht und mit dem Maquis flüchtet. Zum ersten Mal in der Geschichte von Star Trek scheint es, daß die Föderation vielleicht auf der falschen Seite eines Konflikts steht. Deep Space Nine zeigt das Star Trek-Universum in einem ähnlich krassen und unschmeichelhaften Licht. Es ist die erste Star Trek-Serie, die an einem festen Schauplatz spielt, einem Außenposten in der Nähe zum cardassianischen Reich. Trotz des Titels der Serie befindet sich die Raumstation keineswegs im ›deep space‹, im leeren Weltraum. Deep Space Nine liegt vielmehr in einer durchaus bevölkerten Region der Galaxis, einer Region voller alter Völker mit uralten Feindschaften, die sehr an den Nahen Osten erinnert. Die Cardassianer und Bajoraner blicken auf eine lange Geschichte der kriegerischen Konflikte zurück, und die Raumstation wird immer wieder zum Schauplatz von Listen und Intrigen. Die Station wirkt heruntergekommen
wie eine Goldgräberstadt, und ihr Zentrum ist keine Kommandobrücke, die die Kontrolle ausübt, sondern eine Promenade und Quarks Bar, in der sich Vertreter der unterschiedlichsten Völker tummeln. Es ist nicht leicht, die Kontrolle über die Station zu behalten, und Commander Benjamin Siskos Aufgabe besteht zu einem großen Teil in der Überwachung. Oftmals müssen er und Constable Odo sich auf ein weitläufiges Netz aus Informanten verlassen. Die gewohnten Föderationsvorschriften scheinen sich auf Deep Space Nine nicht immer anwenden zu lassen, und bezeichnenderweise wurde die Station nicht von der Föderation, sondern von den Cardassianern gebaut, die sie als Bergbaustützpunkt im Orbit um den Planeten Bajor nutzten. Daher hat die Station einen recht fremdartigen Charakter. Die Instrumente in der ganzen Station sind cardassianisch beschriftet, und die Innenarchitektur ist voller düsterer und ungleichmäßiger Flächen, ganz im Gegensatz zum gleichmäßig ausgeleuchteten rechtwinkligen Innenleben eines Föderationsraumschiffs. Auf Deep Space Nine scheinen die Menschen nicht mehr in ihrer eigenen Welt zu leben, sondern müssen sich an eine künstliche Umgebung anpassen, die von einem außerirdischen Volk konstruiert wurde. Diese Umgebung scheint immer fremdartiger zu werden. In gewisser Weise zeigt Deep Space Nine den Zusammenbruch des Gleichgewichts der Mächte, das Star Trek bislang beherrscht hat. Die Klingonen sind wieder auf dem Kriegspfad und haben vorläufig ihre Allianz mit der Föderation aufgekündigt, und die Stellung von Lieutenant Worf ist besonders prekär. Das Dominion und seine Verbündeten, die Jem’Hadar, haben vielleicht schon die Erde infiltriert. Es ist kein Zufall, daß Commander Sisko in der Episode ›Past Tense‹ der Serie Deep Space Mne die Erde in einer unruhigen Phase während des einundzwanzigsten Jahrhunderts besucht. In den Star Trek-Serien wurde so gut wie nie gezeigt, wie unsere heutige Welt sich zur utopischen Welt der Föderation entwickeln konnte, doch eine Episode wie ›Past Tense‹, in der sich Sisko mit politischen
Unruhen in San Francisco auseinandersetzen muß, verdeutlicht, daß die Welt von Deep Space Nine eine gewisse Affinität zu Epochen der Unsicherheit und des sozialen Umbruchs hat. Fraglos ist Deep Space Nine die düsterste der Star Trek-Serien, und auch in der Station kommt es immer wieder zu Unruhen, die durch die Polizeigewalt von Constable Odo bewältigt werden müssen. Deep Space Nine zeigt, daß das Gleichgewicht der Mächte, das so typisch für Star Trek ist, wie wir gesehen haben, ständig kurz vor dem Zusammenbruch steht. Die Station wird immer wieder mit Konflikten und drohenden Kriegen konfrontiert, und der sense of wonder wird immer häufiger durch ein Gefühl der Bedrohung abgelöst. Auf den Heimatplaneten der Klingonen und Bajoraner leben immer wieder religiöse und nationalistische Bewegungen auf. Gesellschaften wie die Cardassianer und die Föderation, die stärker von Rationalität geprägt sind, scheinen sich nunmehr in einer gefährdeteren Situation zu befinden, und die Aussicht auf einen längeren Frieden, das große Ziel von The Next Generation, scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Die Veränderung des Stellenwerts der Rationalität im Star TrekUniversum wird besonders in der Rolle von Commander Sisko an Bord von Deep Space Nine deutlich. Die Priesterschaft von Bajor hat ihm den Titel eines Abgesandten der Propheten verliehen. In typischer Star Trek-Manier handeln verschiedene Folgen wie ›In the Hands of the Prophets‹ vom Machthunger der bajoranischen Priester, doch Sisko ist sich durchaus bewußt, daß der Titel Abgesandter eine kaum greifbare Qualität hat, die sich nicht ohne weiteres auf Machtpolitik reduzieren läßt. Sisko will diesen Titel nicht, aber er weiß, daß er im Interesse des Friedens im Quadranten diese Rolle annehmen und sie nach besten Kräften spielen muß. Hier tritt ein Starfleet-Offizier als Priester einer außerirdischen Religion auf, was eine klare Verletzung der Ersten Direktive darstellt, der wichtigen Vernunftregel der Föderation, die die Einmischung in die Entwicklung fremder Kulturen verbietet. Starfleet jedoch verbietet Sisko keineswegs die
Teilnahme an religiösen Ritualen der Bajoraner, sondern ermutigt ihn sogar dazu. Damit wird überraschenderweise die Möglichkeit angedeutet, daß sich bei Starfleet die Interpretation der Ersten Direktive verändert. Den Offizieren ist es nicht mehr verboten, auf fremde Kulturen Einfluß zu nehmen. Man darf jedoch nicht vergessen, daß sich die Erste Direktive auf eine Situation der technischen Überlegenheit der Föderation bezieht. In einer Galaxis, in der sich immer mehr Ebenbürtige tummeln, scheinen die Tage der Ersten Direktive gezählt zu sein, und so überrascht es kaum, daß sich nur sehr wenige Episoden von Deep Space Nine mit der Interpretation und der Anwendung der Ersten Direktive befassen. Wieder verändert sich das Star TrekUniversum. Einige dieser Veränderungen werden noch deutlicher in Star Trek: Voyager, der neuesten Star Trek-Serie. Wie in Deep Space Nine ist die Besatzung der Voyager in eine Welt geworfen, in der die alten Regeln nicht mehr anwendbar sind, doch hier ist die Situation noch extremer. Das Schiff wurde durch einen Plasmasturm in den Delta-Quadranten versetzt, einen Bereich der Galaxis, der 75000 Lichtjahre von der Heimat entfernt ist. Die Voyager hat jeden Kontakt mit der Föderation verloren und muß daher alle Werte der Föderation fast in jeder Episode aufs neue bestätigen. Wie Commander Sisko steht auch Captain Kathryn Janeway vor der Aufgabe, die Werte der Föderation in einem Universum zu bewahren, in dem diese Werte nicht mehr gelten. Außerdem muß sie sich mit Maquis-Rebellen verbünden, den Feinden der Föderation im Heimatquadranten. In der Originalserie und in The Next Generation sind Captain Kirk und Captain Picard von der Richtigkeit ihrer Aufgabe und ihres Urteils überzeugt. Sie tun fast immer das Richtige und werden am Ende darin bestätigt. Doch Sisko und Janeway werden mit Situationen konfrontiert, in denen die alten Ideale der Föderation nicht mehr anzuwenden sind. Das Universum von Deep Space Nine und Voyager ist wesentlich ambivalenter geworden. Diese Ambivalenz und das Fehlen von eindeutigen Richtlinien
wird an einer Voyager-Episode mit dem Titel ›Tuvix‹ deutlich. Sie beginnt mit einem weiteren Transporterunfall. Wie ich bereits früher sagte, werfen Transporterunfälle fast immer Fragen nach Charakter und Identität auf, und ›Tuvix‹ ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Hier verschmilzt der Transporter Tuvok, den vulkanischen Wissenschaftsoffizier und Sicherheitschef, und Neelix, den Koch und Moraloffizier zu einer Person. Dieses Wesen nimmt den Namen Tuvix an und versucht sofort, Klarheit über seine Identität zu gewinnen. Doch gerade als es zu einem eigenständigen Individuum geworden ist, einer Synthese aus Tuvok und Neelix, finden Janeway und der holographische Arzt eine Möglichkeit, wie sie die beiden wieder voneinander trennen können. Das Problem liegt nun darin, daß Tuvix zu einer wirklich eigenständigen Persönlichkeit geworden ist, die die Trennung als Todesurteil empfindet. Tuvix will sein eigenes Leben nicht verlieren und muß schließlich durch einen Befehl dazu bewegen werden, sich der Trennung zu unterziehen. Die letzte Szene der Episode ist wirklich bemerkenswert, denn sie zeigt die einzige Exekution, die in Star Trek jemals durch die Föderation ausgeführt wurde. Captain Janeway vollstreckt eine Tat, die einer Todesstrafe gleichzusetzen ist. Als solche wird sie von Tuvix empfunden, der bis zum Ende um sein Leben kämpft. Auch der holographische Arzt weigert sich, den medizinischen Eingriff vorzunehmen, der die zwei Personen voneinander trennt, weil es den hippokratischen Eid verletzen würde, jemandem das Leben zu nehmen. Die anderen Besatzungsmitglieder sehen stumm zu, wie Janeway als ausgebildete Wissenschaftlerin die Kontrolle übernimmt und die Prozedur persönlich ausführt. Es wird nicht versucht, ihre Tat in irgendeiner Weise durch eine Rechtfertigung zu beschönigen. Wir sehen die Exekution; wir sehen, wie Janeway die Krankenstation verläßt und sichtlich durch ihre Tat bedrückt ist; dann sehen wir die Voyager durchs All rasen. Janeway hat eine schwierige Entscheidung zwischen zwei gleichermaßen unangenehmen Alternativen getroffen, und jetzt muß sie mit diesem Zwiespalt leben. Trotzdem hat der Tod einen
Schatten auf das Schiff geworfen, denn zum ersten Mal in der Serie hat die Föderation einen ihrer eigenen Angehörigen hingerichtet. Natürlich hat es im Star Trek-Universum immer wieder alternative Universen gegeben, und in gewisser Hinsicht zeigen uns die beiden neuen Serien zwei weitere. Doch die Episoden über alternative Universen enden gewöhnlich mit einer Wiederherstellung der Grenzen zwischen den Universen und einer Rückkehr der Beteiligten in ihre angestammten Bereiche. Die neuen Serien legen es viel stärker als zuvor darauf an, das Universum in Unordnung zu bringen. Wenn es zu einer Störung und Durchdringung kommt, wird die ursprüngliche Ordnung nicht immer wiederhergestellt. Es wäre durchaus möglich, daß die Klingonen einen Krieg gegen die Föderation beginnen oder daß die Voyager niemals in den Alpha-Quadranten zurückkehrt. Eine große Stärke des Star Trek-Universums liegt darin, daß es nicht statisch ist, aber darin liegt auch eine gewisse Schwäche. Das Gleichgewicht der Mächte, wie es in The Next Generation dargestellt wird, kann nicht unbegrenzt andauern. Das Star TrekUniversum ist ein Universum im Fluß, und ein Teil des anhaltenden Reizes der Serie besteht darin, daß die Föderation und die von ihr repräsentierte geordnete Welt keine dauerhaften Institutionen sind. Die Folge ›Mirror, Mirror‹ der Originalserie zeigt ein alternatives Universum, in dem die Föderation zu einem totalitären Staatssystem geworden ist. ›Preemptive Strike‹ zeigt, wie sich die Föderation in genau diese Richtung entwickelt. Doch letztlich ist alles möglich, denn das Star Trek-Universum ist nicht nur voller menschlicher Unruhen wie Kriege und Rebellionen, sondern auch voller natürlicher Störungen wie Anomalien, Singularitäten und Fluktuationen. Commander Sisko und Captain Janeway sind unterschiedliche Reaktionen auf dieses Universum in Veränderung, ein Universum, in dem sich eines Tages unweigerlich eine völlig neue politische Landschaft herausbilden wird. Der Name des Raumschiffs Enterprise ist angemessen. Enterprise bezeichnet im Englischen eine Unternehmung, ein
kühnes und wagemutiges Vorhaben, das die Bereitschaft zum Risiko und zu großen Abenteuern verlangt. Wenn eine neue Generation von Starfleet-Offizieren, die zweifellos irgendwann kommen wird, die Herausforderung annimmt, wird das Unternehmen Enterprise und die Vereinte Föderation der Planeten bereit sein, sich anzupassen und zu verändern, um mutig dorthin zu gehen, wo noch kein Mensch zuvor gewesen ist.