Das Stilett, vom Schwung der Bewegung vorwärtsgetragen, stach tief in Lolas Brust. An einem Nebentisch schrie ein Mädch...
28 downloads
804 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Stilett, vom Schwung der Bewegung vorwärtsgetragen, stach tief in Lolas Brust. An einem Nebentisch schrie ein Mädchen auf. Lyn dagegen entspannte sich, denn sie wußte, daß unter Lolas Siliziumhülle kein Herz schlug. Die Schreie der Mädchen, die von allen Seiten erklangen, wurden vom Gelächter der Männer übertönt. Die verwundete Spanierin taumelte in den Zwischengang, ging schwankend vorwärts, trippelte dann auf die Bühne und zog das Stilett aus ihrer Brust. Lola stand mit der Waffe in der Hand da und machte eine schwungvolle Verbeugung, als eine Stimme über das Lautsprechersystem verkündete: »Wir stellen Ihnen Lola Oachoa vor, Cal Techs Antwort auf Onan.«
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31022 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE DOOMSDAY GENE Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Weidemann Deutsche Erstausgabe Umschlagillustration: Dell Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1973 by John Boyd Printed in Germany 1981 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31022 2 Januar 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Boyd, John: Die schwarze Kartei: Science-fictionRoman/John Boyd. Hrsg. von Walter Spiegl. [Aus d. Amerikan. übers. von Klaus Weidemann]. – Dt. Erstausg. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1981. (Ullstein-Buch; Nr. 31022: Sciencefiction) Einheitssacht.: The doomsday gene «dt.» ISBN 3-548-31022-2
John Boyd
Die schwarze Kartei Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
Science Fiction
Für Mac – der es bestellt hat
1 An einem sonnigen Januarmorgen fuhr Dr. John Heywood hinunter zu seinem Büro im Fachbereich für Experimentelle Genetik im zwanzigsten Stockwerk des Turms des California Institute of Technology, kurz Cal Tech genannt, wünschte seiner Sekretärin einen guten Morgen und betrat sein Arbeitszimmer. Er wollte gerade den Mantel ablegen, als sein Blick auf die auf dem Schreibtisch ausgelegte Post fiel und er einen Brief mit dem Absender US-Außenministerium, Büro E, bemerkte. Heywood behielt den Mantel an, setzte sich unverzüglich und nahm einen Brieföffner in die Hand, dessen Elfenbeingriff der Davidstatue von Michelangelo nachgebildet war. Aus dem aufgeschlitzten Umschlag fielen zwei holographische Computerkarten. Beide waren lederfarben, jedoch war eine mit einer schwarzen Umrandung versehen. Außerdem war noch ein stümperhaft getippter Brief dabei, dessen formloser vertraulicher Stil in einem merkwürdigen Kontrast zu der plötzlichen Aufmerksamkeit stand, mit der der Mann, der ihn in den Händen hielt, nun las. Johnny, alter Knabe, überlassen Sie den Kleinkram den Leuten vom Cal Tech!
Eine Korkenzieher-Helix aus Bagdad wird Ihnen demnächst über den Weg laufen. Amal Eugene Severn – der Idealmensch für einen überbevölkerten Planet – wechselt zum seismologischen Fachbereich am Cal Tech über, um die San-AdreasVerwerfung zu studieren. Um Ihr Gedächtnis aufzufrischen – falls sich das bei Ihnen jemals als notwendig erweisen sollte –, er ist der vierte von fünf Prototypen aus dem Ambulant-Eugenik-Experiment-Sieben. Am besten also, Sie halten sich über den Werdegang seiner drei Artgenossen auf dem laufenden, bevor sein eigenes Thanatos-Syndrom ausgelöst wird, was schätzungsweise um den 1. Mai herum der Fall sein dürfte, da er darauf programmiert ist, seinen Beitrag gegen Ende April zu leisten. Seine Genkarten, die weiße und schwarze, liegen bei. Mir ist zu Ohren gekommen, daß die Jungs im Hinterzimmer von Kiew darum wetten, wann sich ihr Prototyp, ein weibliches Exemplar namens Ailya Eugenia Semonovna, selbst auslöschen wird. Na, wenn das kein wissenschaftliches, russisches Roulette ist! Vergessen wir nicht, daß Amal unser Kind ist, nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch tatsächlich. Deshalb sollten wir gut auf ihn aufpassen.
Die Erdbebler könnten etwas argwöhnen, wenn Amal aktiv wird, aber bevor sich irgendwelche Verdachtsmomente erhärten können, wird die menschliche Maifliege davongeflogen sein, und mit ihr alle Hinweise auf den Thanatos-SyndromFaktor. Da wir gerade vom T.S-Faktor reden, jemand aus meinem Stab mit einem Tick für archaische Slangausdrücke meinte zu mir, daß ›T.S.‹ im Jargon des Zweiten Weltkrieges vorsichtig umschrieben soviel bedeutete wie tough sugar oder that's all, brother. Hals- und Beinbruch Eddie Doktor Heywood faltete den Brief zusammen und warf ihn in einen Behälter, der an der Seitenwand des Schreibtischs befestigt war. Als das Papier auf dem Boden des Behälters auftraf, löste es sich auf. Anschließend nahm Heywood einige Manipulationen an der Schalttafel einer Computereingabevorrichtung vor und betrachtete einen Moment das auf dem Bildschirm aufleuchtende Resultat. Er nahm den Telefonhörer ab, wählte eine Nummer und sagte: »Sie haben einen Nils Larsen in Ihrer Klasse, Doktor. Ich möchte ihn sprechen.« Heywood hatte in sachlichem, nüchternem Tonfall zu dem Professor am anderen Ende der Leitung ge-
sprochen. Er wartete einen Augenblick, und als sich sein Gesprächspartner meldete, klang seine Stimme auf einmal impulsiv und herzlich. »Guten Morgen, Nils. Hier spricht Doktor Heywood. Was würden Sie davon halten, Ihr Arabisch aufzufrischen und Ihr Wohnquartier mit einem oberhalb des sechzigsten Stockwerks zu tauschen? ... Ausgezeichnet! Rufen Sie mich heute abend um sieben in meinem Apartment an. Ich habe da einen Vorschlag, den ich Ihnen erläutern möchte. Noch etwas, Nils. Behandeln Sie diese Angelegenheit vertraulich. Also dann bis sieben.« Heywood legte auf. Er rief seine Sekretärin herein und überreichte ihr die weiße Computerkarte. »Ordnen Sie die unter ›Raum Los Angeles – zeitweiliger Aufenthalt‹ ein.« Nachdem die Sekretärin aus dem Zimmer gegangen war, zog Heywood den Mantel aus, nahm die schwarz umrandete Karte an sich und begab sich in einen hinteren Teil der keilförmigen Verwaltungsabteilung des Fachbereichs, die ein Achtel der kreisförmigen Grundfläche des Turms in dieser Etage einnahm. Er machte vor einem Wolframstahlsafe halt und stellte die Kombination ein. In Gedanken war er bei der Wette, die seine russischen Kollegen in Kiew abgeschlossen hatten. Die Russen genossen das Privileg, streng geheimes Informationsmaterial ungehin-
dert unter sich verbreiten zu dürfen. Die russische Abteilung für Gentechnik war eine Unterabteilung der Sowjetischen Staatspolizei. In den Vereinigten Staaten waren alle Hochschulfachbereiche für Experimentelle Genetik dem Eugenikbüro im Außenministerium verantwortlich und fielen daher theoretisch in den Zuständigkeitsbereich der Politik. Mit Neid auf die Wissenschaftsfreiheit seiner russischen Kollegen steckte Heywood die Karte mit den der Öffentlichkeit unzugänglichen genetischen Kennziffern von Amal Severn in die schwarze Kartei und verschloß den Safe. Am Cal Tech würden nur diejenigen, die es unbedingt wissen mußten, von der Ankunft eines der ersten fünf Menschen auf dem Campus erfahren, die vom Fötusstadium an darauf programmiert worden waren, große Leistungen zu vollbringen und, durch einen genetisch eingebauten Selbstzerstörungsmechanismus, eines frühen Todes zu sterben. Die junge Frau, die am Fenster stand, und die Stadt, die sich im Zwielicht der Februarsonne unter ihr erstreckte, schienen, was Gestalt und Farbnuancen betraf, zueinander zu passen. Es hatte fast den Anschein, als wäre auch sie aus Metall und Mineralien gemacht, ein Kunsterzeugnis aus Marmor, Goldgespinst und Jade. Ihr Körper, anmutig, geschmeidig,
breitschultrig, strahlte eine Würde aus, die der Pracht der Türme, auf die sie hinausschaute, durchaus vergleichbar war. Und gleich der Schönheit der Stadt verbarg die Schönheit der jungen Frau Risse. Hinter Lyn Oberlins perfekten Gesichtszügen und hinter den kühlen grünen Augen war ein von einer ebenso bizarren wie ausgeprägten Vorahnung aufgewühlter Verstand. Von Kindheit an war ihr Leben von präkognitiven Vorahnungen überschattet gewesen. Es war, als wäre ein geheimnisvolles inneres Auge auf die Zukunft gerichtet und erblicke die sich dort herausbildenden Formen. Manchmal schienen diese Formen sehr nahe zu sein und ihrerseits zu beobachten, anstatt beobachtet zu werden. In solchen Augenblicken beunruhigte sie ihre übernatürliche Sehergabe auf unbestimmte Weise, vielleicht so, wie einen der eigene Herzschlag des Nachts unangenehm daran erinnert, daß man sterblich ist. Heute abend war das Gefühl, daß etwas auf sie wartete, so stark, daß sie ans Fenster getreten war und nachdenklich die Stadt betrachtete. Seit über hundert Jahren nannte man die Stadt ›die Stadt der Zukunft‹. Die bunten Türme, deren Lichter über einer dicht bewaldeten Ebene zwischen schneebedeckten Bergen und dem Meer glitzerten, glichen titanischen Minaretten. Mitten auf einem zentral gelegenen Hügel standen acht Türme aus gelbem Pla-
stistahl in einer kreisförmigen Anordnung. Sie waren enger aneinander gruppiert als die umliegenden Türme und in Höhe der fünfzigsten Stockwerke durch eine ringförmige Laufröhre miteinander verbunden. Mit ihren Moscheenkuppeln auf den Dächern, in deren Innern sich Restaurants befanden, ähnelten die zentralen Türme einer Goldkrone. Das war ein gestalterisch beabsichtigter Effekt, denn auf spanisch hieß die Stadt ›die Stadt der Mutter Gottes, der Königin der Engel‹, und die Krone symbolisierte das Diadem der ›Reina de Los Angeles‹. Einige Kritiker sahen das Verwaltungszentrum von Los Angeles, von dem moslemischen Einfluß auf die Architektur, die den christlichen Ursprung der Stadt reflektierte, einmal ganz abgesehen, als übermäßig pompös an. Die wirklichen Schönheitsfehler waren jedoch unsichtbar. Unterhalb der Senke, auf der die Stadt ruhte, und durch das Fundament der umliegenden Berge verliefen Verwerfungen: die SylmarVerwerfung, die Inglewood/Newport-Verwerfung, die Hollywood-Verwerfung. Weit im Norden und Osten der Stadt zog sich die große San-AndreasVerwerfung dahin, die vor vielen Zeitaltern eine gewaltige Halbinsel vom Festland abgespalten und so einen Meerbusen geschaffen hatte. In einem früheren Jahrhundert hatte sie ganz San Francisco zerstört. Auch hier erbebte die Erde oft, doch Los Angeles
glänzte unversehrt im Sonnenlicht und glitzerte nachts in der Dunkelheit. Lyn Oberlin wandte sich vom Fenster ab und ging ins Schlafzimmer. Sie bewegte sich mit einer Anmut, die den Durchschnittsstudent der Geisteswissenschaften gewöhnlich dazu inspirierte, sie mit Diana, der Göttin der Jagd, zu vergleichen. Allerdings sehr zum Nachteil der romantischen Vorhaben, mit denen er sich tragen mochte. Denn erstens haßte Lyn Klischees, und zweitens konnte sie, hatte sie einen bestimmten Gedanken erst einmal einem bestimmten Gesichtsausdruck zugeordnet, die Gedanken eines jungen Mannes praktisch mühelos lesen. Und Flirten war für eine ›Gedankenleserin‹ – sie setzte den Begriff stets in Anführungszeichen – ebenso reizvoll, wie Poker mit aufgedeckten Karten zu spielen. Um so bizarrer deshalb ihre heutige Vorahnung. Zweifellos hatten Millionen junger Frauen, die sich zu einem Ball zurechtmachten, mit hellseherischer Gewißheit gedacht: »Heute abend lerne ich den Mann kennen, den ich lieben und heiraten werde.« Von diesen Millionen, davon konnte sie getrost ausgehen, besaß wohl keine einen Sinn für Romantik, der so nachhaltig zerstört worden war wie der ihre. Aristoteles hatte einmal gesagt, alles verstehen, hieße, alles verzeihen. Aber der alte Grieche war auch nie Student am Universitätskomplex von Los Angeles gewesen.
Denn alles zu verstehen, was im Kopf eines Studenten vorging, hieß hier, sich entweder gelangweilt oder abgestoßen und entsetzt zu fühlen. Als sie das Schmuckkästchen öffnete, verharrte sie einen Augenblick und dachte erneut mit Verwunderung über ihre Vorahnung nach. Die Eugenikbehörde hatte ihr das Recht auf zwei steuerfreie Kinder zugestanden, aber der Gedanke an eine Heirat war ihr niemals in den Sinn gekommen. Welcher Mann konnte es wohl lange mit einer Frau aushalten, die seine Gedanken lesen konnte? Der einzige Bewerber am USC, den Lyn jemals auch nur flüchtig in Betracht gezogen hatte, war Red Benton, ein Jurastudent im fortgeschrittenen Fachsemester, der ihr Interesse an politischen Vorgängen teilte. Reds Gedanken waren von einer so kristallklaren Reinheit und Komplexität, daß sie sich nur selten abgestoßen fühlte. Aber beim Cal-Tech-Ball würde sie den USC-Student nicht treffen. Sie entschied sich für die Medaillonuhr ihrer Großmutter. Sie paßte gut zu dem V-Ausschnitt des Minikleids aus dem zwanzigsten Jahrhundert, das sie als Kostüm trug. Das Kleid war angesichts des Neoviktorianismus der jungen Generation eine Verwegenheit, aber es brachte ihre Beine vorteilhaft zur Geltung. Sie legte die Kette um, ließ den Verschluß zuschnappen und überlegte, ob die Tatsache, daß sie
nun zum zweiten Mal zum Wissenschaftler- und Modelleball im Cal Tech eingeladen wurde, bedeutete, daß die Studenten von der Daedalus-Gesellschaft sie bitten wollten, für eines ihrer lebensgroßen, computergesteuerten Gynodrone Modell zu stehen. Sollte das der Fall sein, würde sie die Ehrung zurückweisen. Sie zog es vor, wenn man sie für prüde hielt und glaubte, daß sie der Vorstellung, eine naturgetreue Nachbildung ihrer selbst könnte während der SadieHawkins-Stunde in den Korridoren der Männerwohnheime die Runde machen und jedermann gegen eine entsprechende Leihgebühr zur Verfügung stehen, ablehnend gegenüberstand. Noch immer mit einer erwartungsvollen Vorfreude auf den Abend erfüllt, verließ sie das Zimmer. Studenten der Naturwissenschaften kannten sich im allgemeinen mit Mythologien nicht gut aus und neigten daher weniger dazu, sie mit Diana zu vergleichen. Folglich würde sie aller Voraussicht nach keinen sofortigen Schlüssel erhalten, der ihr Zugang zu ihren Gedanken verschaffte, und würde sich zumindest für eine Weile der Illusion hingeben können, sie wäre ein Mädchen wie jedes andere. Schwungvoll trat sie aus ihrem Apartment in den kreisförmigen Korridor des Turms hinaus, ging zum Fahrstuhl hinüber und drückte den Knopf für die Tiefgarage. Zwanzig Minuten später, als sie ihren
Dunemaster im Kellergeschoß des Cal-Tech-Turms abstellte und den Expreßlift zur obersten Etage, zur studentischen Vergnügungskuppel, nahm, hatte ihr Elan noch keineswegs nachgelassen. Der Raum hinter der Bühne, wo die Gäste auf die Ansage ihres Namens warteten, war mit dem Stimmengewirr der weiblichen Elite des Universitätskomplexes von Los Angeles erfüllt. Die meisten Mädchen schilderten ihre Reaktionen auf die Einladungskarten. Lyn sah nur zwei bekannte Gesichter unter ihnen. Eines gehörte zu einer vielumworbenen Rothaarigen vom USC namens Gloria Jaffee, die im Hauptfach Theaterwissenschaft studierte. Lyn mochte sie zwar nicht besonders, war ihr aber doch einigermaßen wohlgesinnt. Gloria hatte, wenn sie es auch geschickt verbarg, heftiges Lampenfieber. Lyn verwickelte sie in ein Gespräch, um sie zu beruhigen, und erklärte ihr, was sie zu erwarten hatte. »Du mußt immer auf Überraschungen gefaßt sein. Thema des letzten Jahres war der Bezirksjahrmarkt. Zuerst gab es einen holographischen Volkstanz auf der Bühne, dann lösten sich die Tänzerinnen auf, aber die Tänzer liefen im Publikum umher und küßten die Mädchen. Eins fiel in Ohnmacht, als es von einem Hologramm aus Fleisch und Blut geküßt wurde. Natürlich hatten wirkliche Tänzer mit ihren Schattenpartnerinnen getanzt.«
Das andere bekannte Gesicht gab Lyn ein beruhigendes Gefühl. Lyn hatte das Mädchen schon letztes Jahr gesehen. Es hatte dasselbe Kostüm angehabt wie heute abend, nämlich das einer spanischen Zigeunerin mit einer Mantilla im Haar. Lyn erinnerte sich auch noch an seinen Namen, Lola Oachoa, denn die Gäste wurden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt, und Oachoa kam unmittelbar vor Oberlin. Das vergangene Jahr hatte an dem Körper des Mädchens Wunder gewirkt. Es war eine Austauschstudentin aus Madrid, wie Lyn sich entsann. Lola Oachoa stand neben der Tür, und ihre makellosen Gesichtszüge hatten den würdevollen Ausdruck einer Doña. Ihre Gedanken blieben Lyn aber wegen der fremden Sprache verborgen. Lyn war sich sicher, daß sich die Gynodronmacher mit dem Gedanken trugen, ein Modell auszuwählen. Wenn sie also ablehnte, war hier ein willkommener Ersatz für die Daedalus-Gesellschaft. Die Spanierin wurde unmittelbar vor Lyn über den Lautsprecher aufgerufen. Mit der Grazie und Arroganz einer Tangotänzerin trat sie hinaus auf die Bühne. Der mäßige Höflichkeitsapplaus, mit dem jeder Gast begrüßt wurde, schwoll bei Lola Oachoas Erscheinen zu einem begeisterten Beifallssturm an. Lola ging über die Bühne und stieg die Stufen hinab zum Saal, um sich ihren Partner für die Nacht auszusuchen.
Lyn kam sich plötzlich auf absurde Weise provinzlerisch vor, und als sie aufgerufen wurde, warf sie trotzig den Kopf in den Nacken und trat herausfordernd auf die Bühne hinaus. Der donnernde Applaus legte sich bei ihrem Erscheinen merklich, bis plötzlich jemand mit den Gepflogenheiten des Hauses brach und einen beifälligen Pfiff ausstieß. Derart ermutigt, verfiel Lyn wieder in ihre normale Gangart, und der Applaus schwoll wieder an. Hätte sie den jungen Mann, der gepfiffen hatte, ausfindig machen können, sie hätte sich aus schierem Patriotismus für ihn entschieden. Lyn trat die Stufen hinab in den Saal und ging zwischen den Tischen hindurch, um sich einen Überblick über das Angebot zu verschaffen. An jedem Tisch saßen je ein blonder und ein dunkelhaariger junger Mann, zwischen denen sie später ihre Wahl treffen konnte. Lyn suchte jemand, der in der Größe zu ihr paßte, vorzugsweise einen jungen Mann mit einem kontrollierten, zurückhaltenden Gesichtsausdruck. Sie stellte fest, daß heute abend Kontaktlinsenzwang war; die Statussymbole der Cal-Tech-Studenten, die dicken Hornbrillen, glänzten durch Abwesenheit. Um so glänzender waren dafür die Augen der jungen Männer, die von den hellen Tischlampen angestrahlt wurden. Jedes normalbegabte Mädchen hatte daran und an der Art, wie die Männer sich den Hals ver-
renkten, ablesen können, was in ihren Köpfen vorging. Lyn blieb stehen. Ein junger Mann an einem der Tische sah sie mit gedankenverlorenem Gesichtsausdruck an, ein Umstand, der auf reizvolle Gedankenabläufe schließen ließ. Groß genug wäre er, entschied Lyn. Er war blond und breitschultrig, und ihn umgab eine Aura der Männlichkeit, der eine Mensurnarbe nichts hätte hinzufügen können. Neben ihm saß ein schlanker dunkelhaariger Student mit olivbrauner Hautfarbe, die in einem seltsamen Kontrast zu seinen grauen Augen stand. Er war so groß wie ein germanischer Ritter, und seine Gesichtszüge waren zu scharf, um ansprechend zu wirken; außerdem war er sehr schlank. »Ich nehme diesen Tisch«, sagte sie zu ihnen. »Ich bin Lyn Oberlin, Studentin im fortgeschrittenen Fachsemester am USC. Vormittags arbeite ich als Sekretärin bei Doktor Kley. An den Nachmittagen studiere ich oder arbeite in der sozialpsychologischen Beratungsstelle der Klinik.« Sie wandte sich beim Sprechen hauptsächlich an den dunkelhaarigen jungen Mann, um die Spannung zu erhöhen. Ihre endgültige Entscheidung würde erst fallen, wenn eine Glocke ertönte. Die beiden standen auf, und der Blonde ergriff zu-
erst das Wort. »Ich bin Nils Larsen, Hauptfachstudent der Genetik aus West-Covina. Wir haben hier zu zwei verschiedenen Göttern gebetet, um Ihre Schritte an diesen Tisch zu lenken. Amal, mein Zimmergefährte, ist Mohammedaner.« Der dunkelhaarige junge Mann nahm Haltung an und schlug die Hacken zusammen. »Amal Eugene Severn, Seismologe und Transferstudent aus Bagdad. Es ist uns eine Ehre.« Lyn fand, daß sie sich den falschen als ihren Studentenprinz ausgesucht hatte. Der Araber stand hochmütig da, während Nils Larsen ihr einen Sessel zurechtrückte und die Tischbeleuchtung dämpfte, um anzuzeigen, daß der Tisch erwählt worden war. Amal Severn stand aufrecht da, bis Lyn Platz genommen hatte, und auch als er sich setzte, veränderte sich seine steife Körperhaltung kaum. »Sie machten wirklich einen geistesabwesenden Eindruck«, meinte Lyn zu Nils. »Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß Sie beteten.« »Wir fingen in dem Moment an zu beten – Amal stimmte sogar einen Singsang an, er hatte nämlich eine Teilzeitbeschäftigung als Gebetsrufer in einer Bagdader Moschee –, als Sie die Bühne betraten und vor aller Augen wie Diana, die Göttin der Jagd, über das Parkett schritten.« Das kann doch nicht wahr sein, dachte sie und
wandte ihre Aufmerksamkeit Amal zu. Der Araber starrte wie hypnotisiert auf ihre Anhängeuhr, die kurz über dem V-Ausschnitt ihres Kleides auf ihrer Brust ruhte. Leicht verwirrt lächelte sie ihm zu und sagte: »Lassen Sie Amal doch auch mal zu Wort kommen.« »Wir sind hocherfreut«, sagte Amal mit deutlich britischem Akzent. »Sie haben in Oxford studiert«, rief sie aus. »Keineswegs«, erwiderte er, den Blick weiter auf die Uhr gerichtet. »Sein Vater war Engländer«, sagte Nils erklärend. »Seine Mutter eine Araberin.« Vom Vater stammen also diese grauen klaren Augen, in denen sich weite Wüsten zu spiegeln schienen und die sie mit ihrem starren Blick verwirrten. »Was für Hobbys haben Sie?« fragte sie Nils. »Meine sind Sprachen. Ich beherrsche mehrere. Amal liebt die Reitkunst und Bogenschießen.« »Bei Amal hätte ich eher auf Horologie getippt.« Amal riß den Blick von ihrer Uhr los und wandte sich an Nils auf arabisch. Sein Profil, fand sie, sah dem einer Büste Julius Cäsars ähnlich. Lyn verstand nur ein Wort, aber es genügte, um sie erkennen zu lassen, daß er Nils nach der Bedeutung von ›Horologie‹ fragte. Nils antwortete ihm auf arabisch, und kurz darauf
wandte sich Amal wieder ihr zu. In seiner Stimme schwang eine Spur Mißbilligung mit, als er sagte: »Ich habe nicht auf Ihre Uhr geachtet.« »Amal kommt aus einem Landesteil des Irak, wo die Frauen auch heute noch ihr Gesicht verschleiern«, erklärte Nils verlegen. »Er ist erst seit zwei Wochen hier.« »Sagen Sie Amal bitte, daß mein Kostüm voll und ganz den Bestimmungen des Ballkomitees entspricht.« »Seien Sie so freundlich und sprechen Sie mich direkt an«, sagte Amal. »Ich bin keine königliche Hoheit.« Er sah sie mit solchem Hochmut an, daß sie wünschte, er würde den Blick wieder auf ihre Uhr richten. Offensichtlich hatte er durch den Wechsel vom Irak in den fremden Kulturkreis der Vereinigten Staaten einen Schock erlitten, einen sogenannten ›Kulturschock‹. Und seine Behauptung, er stammte aus keiner königlichen Familie, konnte eine Lüge sein. Jedenfalls kam sie sich in seiner Gegenwart wie eine Bäuerin vor. »Demnach mißfällt Ihnen mein Kleid?« »Spielt das eine Rolle? Ich bin nicht Allah.« Vielleicht doch, dachte sie, auf alle Fälle benahm er sich so. Irgend etwas stimmte nicht mit ihrer Vorahnung. Sie hatte sich einen Tisch mit zwei jungen Män-
nern ausgesucht, von denen der eine Klischeebegriffe verwendete und der andere ein arroganter Snob war. Sie gab es mit Amal auf und wandte sich Nils zu, der ihr langsam besser gefiel. Er war ein stattlicher junger Mann mit guten Manieren, und trotz des Klischees von vorhin waren ihr seine Gedanken bislang noch verborgen. »Worum geht es bei der Aufführung heute abend?« »Um die Inszenierung einer Schwarzen Messe aus dem Mittelalter, mit Menschenopfern und einem richtigen Mensch als Hauptakteur. Ein Schüler wird sich aus Enttäuschung über seinen guten BNotendurchschnitt, der gemessen an Cal-TechNormen schlecht ist, vor den Augen der Zuschauer töten lassen. Wenn Sie nicht schon Teufelsanbeterin sind, bereiten Sie sich darauf vor, eine zu werden.« Lyn mußte die Mißbilligung wohl vom Gesicht abzulesen sein, denn Nils fragte: »Interessieren Sie sich nicht für Okkultistisches?« »Mit so etwas sollte man nicht spielen«, erwiderte sie. »Es kann gefährlich sein. Es gibt Dinge in der menschlichen Psyche, die wir nicht verstehen.« »Sie haben sich mit solchen Dingen beschäftigt?« Amals Frage und die Eindringlichkeit, mit der er sie stellte, überraschten sie. »Meine Großmutter war Parapsychologin«, entgegnete sie. »Sie hat mir beigebracht, daß man sich
mit dem Urteil über die sogenannten übersinnlichen Phänomene zurückhalten soll.« »Nun hören Sie aber auf, Lyn«, sagte Nils. »Was man nicht wiegen oder messen kann, gibt es nicht. Entspannen Sie sich lieber und genießen Sie das Schauspiel.« »Über manche Dinge rege ich mich halt auf«, sagte Lyn. »Haben Sie etwas gegen Gewalt?« »Allerdings«, antwortete Lyn auf Amals merkwürdige Frage. »Jedenfalls wenn es der Regisseur echt genug aussehen läßt.« »Dann möchte ich Sie davon unterrichten«, sagte Amal, »daß ...« Nils unterbrach ihn und sagte etwas auf arabisch zu ihm. Amal zuckte die Achseln und meinte: »Wenn das hier so Brauch ist.« Amal hatte ihr etwas mitteilen wollen, und Nils hatte ihm einen verbalen Tritt gegen das Schienbein gegeben. Wie um sich zu entschuldigen, fragte Amal sie: »Darf ich Ihnen Tee bestellen?« »Vielleicht mag Lyn keinen Tee«, sagte Nils. »Ich bestelle welchen. Sie trinkt ihn schon«, sagte Amal. Er hob die Arme und klatschte in die Hände. Ein Kellner, Student wie sie, kam herbeigeeilt. Nils warf ihr einen verlegenen Blick zu; anscheinend war ihm Amals Benehmen peinlich. Lyn lächelte ihm zu.
»Ich habe nichts gegen Tee einzuwenden«, sagte sie zu Nils. Das Benehmen des Arabers war so gebieterisch, daß es sie langsam zu interessieren begann. Man konnte ihn zwar nicht gutaussehend nennen, aber es war etwas Besonderes an ihm, und Nils schien eine gewisse Scheu vor ihm zu haben. Lyns Interesse war hauptsächlich beruflicher Art. Es war ihr unmöglich, einen Eindruck von Amals Gedankengängen zu erhalten, zweifellos deswegen, weil er auf arabisch dachte. Aber das wäre ohnehin schwierig gewesen, da er im Gegensatz zu amerikanischen jungen Männern völlig unzugänglich war. Er hatte die Gesichtszüge eines Wüstenfalken und die Manieren eines Scheichs, dachte sie, und er mußte gleichermaßen gezähmt wie akkulturiert werden. Versuchsweise stellte Lyn Amal eine scheinbar unverfängliche Frage; tatsächlich war es eine der Schlüsselfragen, die bei sozialpsychologischen Befragungsverfahren angewendet wurden. »Warum studieren Sie Seismologie?« »Meine Mutter kam bei einem Erdbeben ums Leben.« Er sagte es mit einer Leidenschaftlichkeit, die auf eine irrationale Einstellung gegenüber Erdbeben schließen ließ, fast so, als wollte er persönlich Blutrache an ihnen üben. Die Leidenschaftlichkeit in seiner
Antwort war für sie aufschlußreicher als das darin ausgedrückte Motiv. Aus Freudscher Sicht konnte man seine Einstellung als ödipale Feindschaft gegenüber der erbebenden Erde interpretieren. Doch ein Jungianer mochte dem entgegenhalten, daß das Erdbeben Amals Libido symbolisierte. Lyn hatte zu viele Gerüchte über Wüstenscheiche gehört, um die Jungianer völlig abzutun. »Gefällt Ihnen dieses Land?« »Es war mir gegenüber sehr großzügig.« »Ich fasse Ihre Antwort als ein diplomatisches ›Nein‹ auf«, sagte Lyn. »Wenn Sie Schwierigkeiten bei der Anpassung an unsere Kultur haben, können Sie mich ruhig beruflich konsultieren. Ich habe nächsten Mittwoch ab halb vier Sprechstunde.« Ihr Angebot war ehrlich gemeint. Für den Fall, daß sie sich beim Läuten der Glocke gegen ihn entschied, wollte sie sich die Option offenhalten, ihn später noch kennenzulernen. Er verdiente vielleicht eine Fußnote in einer Abhandlung über Kulturschock, die ihr vorschwebte. Amal stimmte ihrem Vorschlag weder zu, noch lehnte er ihn ab. Statt dessen fragte er: »Dieser Doktor Kley, für den Sie arbeiten, ist er nicht Vorsitzender des Rats der Supervisoren?« »Ja«, erwiderte sie und wandte sich an Nils. »Warum haben Sie sich für Cal Tech, eine lokale
Universität, entschieden? Schließlich hatten Sie doch das ganze Land zur Auswahl.« »Der genetische Fachbereich hier ist der beste. Doktor Heywood hat einen tüchtigen Mitarbeiterstab, und der Genetik gehört die Zukunft.« Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen, als der Kellner den Tee servierte. Lyn war froh über die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. Bei ihrer letzten Einladung zum Cal-Tech-Ball war sie an einen Spezialisten für kosmische Strahlen geraten, der sie den ganzen Abend über mit Geschwätz über Mesonen bombardiert hatte. Lyn brachte einen Toast auf ihren selbsternannten Gastgeber aus, und die drei stießen mit ihren Tassen an. »Auf den zweiten Ozymandias, unseren Seismologen, mögen seine Karawanen stets reich beladen sein.« Ihre obskure Anspielung auf einen Wüstentyrannen, die aus einem englischen Gedicht stammte, würde von Amal mit Sicherheit als Kompliment aufgefaßt werden, denn er war Seismologe und noch nie in Oxford gewesen. Er deutete ein Lächeln an und erwiderte prompt: »Auf die neue Helena von Troja, unsere Psychosoziologin, mögen ihre Wachtürme niemals wanken.« Sein Toast kam ihr sofort verdächtig vor. Da er schon lange genug in den Staaten war, um zu wissen, daß USC Troja genannt wurde, konnte sein Verdre-
hen von ›Sozialpsychologin‹ beabsichtigt gewesen sein. Und die Anspielung auf ihre wankenden Wachtürme klang ziemlich zweideutig. Mit einemmal genoß sie das Zusammensein mit ihren beiden Gesprächspartnern auf eine Weise, wie es ihr selten vergönnt war. Von keinem der beiden hatte sie bisher belästigende Gedanken aufgefangen. Amal gegenüber reagierte sie wie ein ganz gewöhnliches Mädchen, und alles, was aus Nils Bewußtseinsinhalt zu ihr drang, war ein gelegentliches Gefühl der Fassungslosigkeit, wenn er fand, daß Amal sich zu arrogant verhielt. »Es wird mir schwerfallen, mich zwischen euch beiden zu entscheiden«, gestand sie. »Ich überlege, ob man nicht das Reglement ändern könnte, damit ich euch beide behalten kann.« Bevor einer von ihnen antworten konnte, ertönte von einem Tisch auf der anderen Seite des Zwischengangs ein schrilles ›Caramba‹. Nils drehte den Kopf, um in die Richtung zu schauen, aus der der Ruf gekommen war. Lyn konnte das Geschehen von ihrem Sitzplatz aus direkt verfolgen. Sie sah, daß Lola Oachoa aufstand und einem der jungen Männer an ihrem Tisch, offensichtlich ein Chicano, heftige Worte auf spanisch an den Kopf warf. Der zweite junge Mann am Tisch, ein Angelsachse, starrte Lola wie betäubt an, als sie hochmütig zurücktrat, auf die leer-
stehenden Tische im Hintergrund deutete und dem Mexikaner zurief: »Vamose!« Der junge Mann stand auf, rührte sich aber nicht von der Stelle, sondern fing an, Lola ebenfalls mit einem Wortschwall auf spanisch zu überschütten. Nils drehte Lyn den Kopf zu und erklärte ihr, daß der Mexikaner sich darüber beschwerte, daß Lolas Bevorzugung eines Gringos einen Verrat an der spanischen Ehre darstellte. Lyn, erst vor kurzem von dem beifälligen Pfiff eines Landsmannes ermuntert, war geneigt, Partei für den Mexikaner zu ergreifen. Und da ihr Amals arrogantes scheichhaftes Benehmen noch in frischer Erinnerung war, gingen ihre Sympathien vollends auf den jungen Mann über, als sie von Nils hörte, daß Lola ihn in aristokratischer Manier mit Schmähungen bedachte. Schließlich mußte sie wohl seine Männlichkeit angezweifelt haben, denn der Mexikaner rief hitzig: »Puta!« Das ist nicht gerade eine höfliche Titulierung für eine Frau, weder in Los Angeles, noch in Madrid, aber sie mußte ins Schwarze getroffen haben, entschied Lyn, denn unter der äußeren Aufmachung der Doña schlug das Herz einer spanischen Zigeunerin. Sie griff nach dem hohen Kamm unter der Mantilla in ihrem Haar, und plötzlich blitzte ein Stilett in ihrer
Hand auf. Sie holte seitlich aus mit dem Messer und ging auf den jungen Mann los. Dieser ließ eine Hand vorschnellen, traf Lolas Arm am Ellbogen, ergriff mit der freien Hand ihr Handgelenk und verkürzte so den Bogen der Waffe. Das Stilett, vom Schwung der ausgeführten Bewegung vorwärtsgetragen, stach tief in Lolas Brust. An einem Nebentisch schrie ein Mädchen auf. Lyn dagegen entspannte sich, denn sie wußte, daß unter Lolas Siliziumhülle kein Herz schlug. Amal hatte nämlich, von Nils unbemerkt, ihre Hand umfaßt, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als sie ihn angeschaut hatte, hatte sie ihn warnend den Kopf schütteln sehen. Das Intermezzo gehörte zur Schau. Die Schreie der Mädchen, die von allen Seiten erklangen, wurden vom Gelächter der Männer übertönt. Die verwundete Spanierin taumelte in den Zwischengang, ging schwankend vorwärts, trippelte dann auf die Bühne und zog das Stilett aus ihrer Brust. Das Blut, das aus der Einstichstelle hervorquoll, wurde von der Wunde augenblicklich wieder aufgesaugt. Lola stand mit der Waffe in der Hand da und machte eine schwungvolle Verbeugung, als eine Stimme über das Lautsprechersystem verkündete: »Wir stellen Ihnen Lola Oachoa vor, Cal Techs Antwort auf Onan.« Lola schleuderte das Stilett in die Holzplanken der Bühne und begann zu einer Marimbamusik einen
mexikanischen Tanz aufzuführen. Das Gynodron, eine Puppe aus Metall und Kunststoff, gesteuert von einem Computer im Inneren des Körpers, den Lyn so beneidet hatte, gab auf der Bühne einen aufreizenden Tanz zum besten. Das Mädchen, das dafür Modell gestanden hatte, dachte Lyn, konnte sich in diesem Moment ebensogut in einem spanischen Kloster aufhalten. Veränderte man seine Programmierung ein wenig, würde das dunkelhaarige Mannequin die Hüften zu anderen Rhythmen bei weniger spektakulären Anlässen in diesem Turm wiegen, wo sich ohne Zweifel gewisse Studenten der Hoffnung hingaben, das Gynodron könnte eine Kollegin in Gestalt einer lebensgroßen Nachbildung Lyn Oberlins bekommen. Lyn fühlte sich abgestoßen. Ihre Abscheu war so groß, daß sie in diesem Moment am liebsten hocherhobenen Hauptes den Saal verlassen hätte. Doch sie entsann sich, daß Amal ihr die Hand gedrückt hatte, um sie vor der scheinbaren Gewalttat zu warnen. Der Araber mochte hochmütig sein, aber er hatte sich freundlich gezeigt, und vielleicht hielt er sich noch nicht lange genug am Cal Tech auf, um den Verlokkungen der Erzeugnisse der Daedalus-Gesellschaft erlegen zu sein. Gewiß, er war stolz und arrogant, aber ihre Ausbildung und ihr natürliches Talent befähigten sie durchaus, einen Wüstenfalken unter ihre Fittiche zu nehmen.
Außerdem würde es Spaß machen, ihn zu zähmen. Sein fester und zugleich zarter Händedruck hatte ihr ein erregendes Gefühl gegeben. Ein Glockenschlag hallte durch die Vergnügungskuppel. Die Zeit war gekommen, daß die Mädchen ihre Wahl trafen. Lyn stand auf, und ihre beiden Gegenüber erhoben sich ebenfalls, um die formelle Verkündung ihrer Entscheidung entgegenzunehmen. »Meine Herren, ich wähle Amal Severn als Partner für den Abend.« »Danke, daß Sie mich in Betracht gezogen haben, Lyn«, sagte Nils höflich. »Meinen Glückwunsch, Amal.« Amal schlug die Hacken zusammen, nahm Haltung an und sagte: »Es ist mir eine Ehre.« Da hatte sie sich ja was aufgehalst, dachte sie. Einen jungen Mann, der in Habachtstellung dastand und -saß. Sie sagte zu ihm: »Wir werden den Abend nicht in diesem computerisierten Bordell verbringen und uns die Aufführung einer kindischen Schwarzen Messe ansehen. Ich fahre Sie durch die Landschaft und zeige Ihnen etwas wirklich Sehenswertes. Zum Henker mit simuliertem Realismus.« Sie hakte sich bei ihm unter, um ihn aus der Vergnügungskuppel zu führen. Seine Muskeln waren so kräftig wie gespannte Drahtseile, wie ihr ein leichter
Druck gegen seinen Oberarm sagte. Als sie sich zum Gehen wandten, erhielt sie zum erstenmal einen deutlichen Eindruck von Nils Larsens Bewußtseinsinhalt. Es war kein Gedanke, sondern eine Empfindung, die stark genug war, um bei einem flüchtigen Seitenblick auf ihn zu ihr durchzudringen. Als sie durch den Saal gingen, war sie sich bewußt, daß sie in gewisser Hinsicht Geschichte machte, insofern, als zum erstenmal ein Mädchen einen Cal-Tech-Ball verließ, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte. Was sie jedoch mehr beschäftigte, war die Empfindung, die sie von Nils empfangen hatte. Es war ein heftiges, aber schwer zu deutendes Gefühl gewesen, eine Mischung aus Enttäuschung über den Verlust, den er erlitten hatte, einer Hoffnung für Amal und, beides überschattend, eine tiefe Traurigkeit, die zu diffus war, um sie das zugrundeliegende Motiv erkennen zu lassen, ohne seine Gesichtszüge zu studieren.
2 »Brot und Arenakämpfe«, murmelte Amal, während er es sich im Sitz des Dunemasters bequem machte, der in diesem Moment auf das Leitband fuhr. Lyn steckte eine Routenkarte in den Schlitz der Steuerautomatik des Wagens und drehte Amal den Kopf zu. »Brot und Arenakämpfe?« »Die Gaben, mit denen Nero die Römer bei guter Laune hielt. Heute gibt es dafür Automobile und spektakuläre Filme.« »Ich kann mich über Nero nicht beschweren«, sagte sie. Sie war leicht verstimmt über die herablassende Art, mit der er sich über ihren Wagen geäußert hatte. »Dieses Auto schafft Steigungen von bis zu siebzig Grad, und das Führerhaus bleibt dabei stets in der Senkrechten. Außerdem hat es einen eingebauten Fernseher.« »An Ihrem rechten Venturellischen Nasenflügel haben Sie einen Grat«, erwiderte er unbeeindruckt. »Wenn Sie mich heute abend langweilen sollten, können Sie ja fernsehen, und ich feile Ihnen den Grat ab.« Hier draußen wirkte er wesentlich lockerer als in der Vergnügungskuppel. »Manchmal glaube ich fast, Sie haben Sinn für
Humor«, sagte sie. »Aber ich bin mir noch nicht sicher.« »Sie sind Psychologin. Sie müßten es doch wissen ... Sagen Sie, können Sie den ›Kaputten‹ wirklich helfen?« »Wir titulieren sie niemals so«, sagte sie. »Und ja, ich kann ihnen helfen. Im allgemeinen brauchen sie nur jemand, mit dem sie sich aussprechen können.« »Womit haben Sie es zu tun?« »Zumeist mit Fällen kultureller Unangepaßtheit. Viele Transferstudenten verkraften den Umgebungswechsel nicht und entwickeln Depressionen.« »Sie meinen, sie bekommen Heimweh?« »Ja, aber der Begriff ist unzureichend. Er trägt nicht der Tatsache Rechnung, daß es sich um ein Leiden handelt, das in extremen Fällen zum Selbstmord führen kann. Einige meiner Patienten habe ich in künstlich angelegte Umgebungen in der Nähe von San Bernadino geschickt. Sie sind den jeweiligen Heimatländern der Betreffenden nachgebildet. Sollte Ihnen jemals nach einem Burnus oder einem Kamel verlangen, lassen Sie es mich wissen.« »Erst müssen Sie die Wigwams in der Wildwestsiedlung meines Landes besucht haben«, erwiderte er. »Oh, Cowboys und Indianer haben wir hier auch. Unsere historischen Forschungsdörfer werden von Gelehrten aus aller Welt besucht.«
Sie schwiegen. Amal betrachtete aufmerksam die vorüberziehenden Türme des Verwaltungszentrums, die hell erleuchtet im Scheinwerferlicht dastanden und mit ihrem Glanz den Mond überstrahlten. Nur das Sausen der Luft, die von dem kuppelförmigen Führerhaus verdrängt wurde, war zu hören. Lyn nutzte das Licht, um Amals Gesichtszüge zu studieren. Das unbewegte, wie aus Stein gemeißelte Gesicht vermittelte den Eindruck eines starken, unbeugsamen Willens seines Besitzers, aber es enthüllte nicht ein Jota der Gedankengänge, die hinter der Stirn ihres Begleiters abliefen. Selbst wenn er in Englisch gedacht hätte, wäre es ihr nicht leichtgefallen, seine Gedanken zu lesen. Er versetzte sie in mehrfacher Hinsicht in die Rolle eines typischen amerikanischen Mädchens, ein Umstand, den sie genoß. Wortlos und ohne einen Annäherungsversuch zu machen, starrte er aus dem Fenster, während sie an dem blauen Turm von Echo-Park und dem silbrigglänzenden Turm von Silver Lake vorbeirollten. Plötzlich hatte sie Angst, diesen arroganten und doch so faszinierenden Moslem zu verlieren; seine Geschmacksrichtung in bezug auf Frauen war vielleicht zu exotisch. Aber keine voreiligen Schlüsse, ermahnte sie sich. Sie hatte eine Routenkarte ausgesucht, die sie zum Yosemite-Park führen würde, in der Annahme, daß der ungewohnte Anblick von Schnee und Wasser den Beduinen
›auftauen‹ würde. Als sie den Turm des WilshireBezirks passierten und er immer noch nichts gesagt hatte, begann sie sich zu fragen, ob er sich in der Mohavewüste nicht vielleicht sicherer gefühlt haben würde. Als der Dunemaster am purpurroten Turm Hollywoods vorbeirauschte, schaute Amal zu ihm auf, und Lyn bemerkte, daß sich sein Gesichtsausdruck veränderte. »Kommen Sie ja nicht auf die Idee, daß wir hier haltmachen und einen trinken gehen«, sagte sie. »Anständige Mädchen lassen sich im Hollywood-Turm nicht blicken.« Er hatte nichts dergleichen im Sinn. »Bei einem Erdbeben der Stärke Sieben-KommaFünf würden die Turmbausteine von diesem Gerüst herunterfallen wie faule Äpfel von einem Baum.« Der Vergleich gefiel ihr, doch da ihr die Fachsimpelei über Mesonen vom letzten Jahr noch im Gedächtnis haftete, hatte sie sich fest vorgenommen, das Gesprächsthema nicht auf sein Fachgebiet kommen zu lassen. Seine Bemerkung war jedoch eine Anspielung auf die Schludrigkeit der Stadtverwaltung, die sie nicht kommentarlos hinnehmen konnte. »In Los Angeles ist man sich der Erdbebengefahr nur zu bewußt. Doktor Kley achtet genau darauf, daß die Bauvorschriften eingehalten werden.« »Dann sollte er diese Vorschriften einer Revision unterziehen, und zwar schnell.«
»Wieso? Sagen Sie vielleicht ein Erdbeben voraus?« »Man kann sie bislang nicht voraussagen. Aber ich arbeite an einem Modell. Im Moment habe ich allerdings ein Problem damit.« »Probleme! Probleme!« warf sie hastig ein, unabsichtlich Doktor Kley nachahmend, der diese Worte häufig zu gebrauchen pflegte. »Sind Sie schon einmal in diesem Teil von Los Angeles gewesen?« »Ich bin einmal weiter im Norden an einem Abschnitt der San-Andreas-Verwerfung entlanggewandert. Es war ...« »Das ist gewiß eine interessante Gegend. In wenigen Minuten fahren wir durch das Gebiet des alten Tejon-Forts.« »Ich weiß. Es wurde bei einem Erdbeben im Jahr ...« »Das Reservat der Skinheads, der Glatzköpfe, liegt ganz in der Nähe.« »Ein merkwürdiger Name – Skinhead«, meinte er. Sie ergriff die Gelegenheit, das Thema zu wechseln, beim Schopf und sagte: »Sie scheren sich aus religiösen Gründen die Köpfe kahl. Das Reservat ist eine geschützte kulturelle Enklave und unterliegt in keiner Weise den städtischen Verordnungen. Die Frauen dürfen dort steuerfreie Kinder bekommen. Ökologen können so die Auswirkungen eines unkontrollierten Bevölkerungswachstums auf die Umgebung studie-
ren. Ich habe einmal eine Abhandlung über sie geschrieben. Doktor Kiefer, ihr Oberhaupt, lehrte früher Wirtschaftswissenschaft am USC. Er ist der Technik gegenüber so feindselig eingestellt, daß er nicht mal Radios im Reservat duldet.« »Sie müssen reizvolle Menschen sein.« »Reizvoll! Ich würde ihnen schleunigst aus dem Weg gehen, wenn ich einen sähe.« »Wie konnten Sie dann eine Abhandlung über sie schreiben?« Um ihn von Seismologie abzulenken, ließ sich Lyn lang und breit über die Methodik aus, mit der man eine sozialpsychologische Abhandlung verfaßte, und erklärte, daß man sich das Material dazu aus anderen Arbeiten über ein Thema zusammensuchte. »Dann schreiben Sie eine Abhandlung über andere Abhandlungen.« »Ich überarbeite die Begriffe neu und korreliere früher gesammelte Daten«, sagte sie erläuternd. »Aha«, meinte er und schaute nachdenklich zum Mond auf. Das schien ihr ein gutes Zeichen zu sein, und sie schwieg in der Hoffnung, daß er vielleicht einen Annäherungsversuch machen würde. Sie fuhren jetzt zwischen der im fahlen Mondlicht daliegenden Hügelkette der Ridge-Route dahin. »Diese Straße kreuzt die San-Andreas-Verwerfung
an drei Stellen«, sagte er schließlich. »Wenn ein Erdbeben die Leitbänder zerstörte, würden die Autos wie Eier an diesen Felsblöcken zerplatzen.« »Ganz bestimmt ... Zu Ihrer Rechten, Amal, ist übrigens das Angeles-Crest-Jagdgehege. Es ist das zweitgrößte im ganzen Land.« »Was jagt man denn hier?« »Rotwild, Bären und Elche, wenn sie von den Naturschützern freigegeben werden. Manchmal auch abgeurteilte Verbrecher.« »Man jagt Menschen in diesem Land?« Sein mißbilligender Tonfall überraschte sie. »Ja. Der Verkauf von Jagdlizenzen erhöht die Steuereinnahmen. Es ist ein völlig faires Unterfangen. Ein Verbrecher kann zwischen der Gaskammer und dem Jagdgehege wählen, wo immer nur sieben Jäger zugleich jagen dürfen. Wenn es ihm gelingt, zu den Skinheads zu flüchten, kann ihm Asyl gewährt werden, außer die Skinheads tauschen ihn gegen Versorgungsgüter ein.« »Dagegen war Nero ein Menschenfreund«, sagte Amal. »Das hat nichts mit Neros Arenakämpfen zu tun«, entgegnete Lyn. »Die Idee basiert auf William James ›moralischem Äquivalent zum Krieg‹. Ein Schwerverbrecher entkam einmal, erbot sich dann, sich gegen Versorgungsgüter für die Skinheads eintauschen
zu lassen, wurde ein zweites Mal gejagt und entkam wiederum. Danach war er frei, jedenfalls bis er das nächste Verbrechen beging.« Amal schaute zum Mond und meinte: »Ich beneide diesen Mann. Er nahm die Herausforderung an und siegte.« Er hatte merkwürdige Vorstellungen, dachte sie. Aber immerhin hatte sie ihn von seinen Erdbeben abgebracht. Sie hatte noch nie jemand kennengelernt, der staatliche Autoritäten so spontan, und ohne sich auf zuverlässige Quellen zu beziehen, kritisierte. Aber er war Ausländer und autokratisch eingestellt, und sie erwartete nicht, daß er ihren Enthusiasmus für die demokratische Regierungsform teilte. Andererseits umgab ihn etwas Fremdes und Faszinierendes, und aus der Art, wie er immer wieder zum Mond aufschaute, ließ sich vielleicht schließen, daß er romantisch veranlagt war. »Ist der Mond nicht wunderschön heute abend?« versuchte sie ihn zu ermutigen. »Nicht solange er dort ist und wir hier sind.« »Wie meinen Sie das?« »Er befindet sich relativ zur Erde in genauer Opposition zur Sonne, und seine entgegengesetzte Anziehungskraft übt auf das Plasma im Erdkern einen gezeitenähnlichen Effekt aus. Dadurch wird die Erdkruste einer maximalen Belastung ausgesetzt. Ich ha-
be ein Gerät gebastelt, mit dem man die Belastung entlang der Verwerfungslinien der Erde messen kann ...« Sie gab es auf. Sollte er sich ruhig über seine Ängste auslassen – ob man sie als Tremorphobie bezeichnen konnte? –, vielleicht brachte ihr der Abend dann wenigstens Stoff für eine Abhandlung. Sie hörte ihm mit halbem Ohr zu und unterbrach ihn ein einziges Mal, als er nämlich meinte: »Wenn ich in die Mohos der Cal-Edison-Werke gelangen könnte, könnte ich Belastungssensoren in einer Tiefe von siebentausend Metern an den Verwerfungslinien anbringen.« »Ich könnte dafür sorgen, daß Sie eine Genehmigung erhalten«, sagte sie. »Wenn das gelänge, hätte ich vielleicht die nötige Ausrüstung zusammen, um das nächste Erdbeben vorherzusagen.« »Ich lasse meine Beziehungen spielen«, versprach sie. ›Ihre Beziehungen spielen lassen‹ hieß in diesem Fall, ein Antragsformular für eine Besichtigung der Mohos aus einem Aktenschrank zu nehmen und es mit Doktor Kleys Namensstempel zu versehen. Aber das würde sie Amal nicht verraten, denn sie wollte keinesfalls den Schleier der Mystik lüften, der über Verwaltungsprozeduren lag. Sie sollte, daß dieser
junge Mann, dessen Gesichtszüge im Mondlicht fast ansprechend wirkten, sich ihr verpflichtet fühlte. Im Zweifelsfalle lieber eine Gunst gewähren, pflegte Doktor Kley zu sagen, und Kley war Idealpolitiker. Am Ende des Leitbands, El Portat, war Amal in seinem Enthusiasmus näher zu ihr gerückt, um ihr die Kräfte, die bei der Friktion zwischen Landmassen eine Rolle spielten, zu veranschaulichen. Sie überließ ihm das Steuerrad, als sie in den Park fuhren. Erst da, beim Anblick der eindrucksvollen winterlichen Schönheit von Yosemite, verfiel er in Schweigen. Eine dünne Schicht Neuschnee lag auf der Straßendecke; zu beiden Seiten der Straße zogen sich die Wälle des schon beiseite geräumten Schnees dahin. Als Amal neben der sich dahinschlängelnden Merced herfuhr, ließ Lyn eine Bemerkung über die Leichtigkeit fallen, mit der er das Fahrzeug steuerte und zugleich die Landschaft betrachtete. Er schien instinktiv zu wissen, wann eine Kurve kam, und er fuhr nicht gerade im Schneckentempo. »Sie sind ein guter Fahrer. Wo haben Sie es gelernt?« »In den Straßen von Bagdad, wo man immerzu Kamelkarawanen ausweichen muß«, erwiderte er. Sie meinte, Ironie aus seiner Bemerkung herauszuhören. »Sie halten mich wohl für ziemlich provinziell?« »Wie käme ich dazu? Ich weiß nicht einmal, was
›provinziell‹ bedeutet. Aber wenn ich Ihr Auto zu Schrott fahren sollte, müssen Sie angeben, Sie wären gefahren. Ich habe nämlich keinen Führerschein.« »Wieso nicht?« »Ich bin kein Staatsbürger.« »Das ist kein Grund, jemand einen Führerschein zu verweigern.« »Mir hat man ihn verweigert.« Um ihm einen Überblick über die Sehenswürdigkeiten des Parks zu verschaffen, ließ sie ihn in einem weiten Bogen fahren, vorbei an Wahanee Lodge, das hell erleuchtet zwischen den Kiefern stand. Als sie die Musik hörte, fragte sie: »Tanzen Sie?« »Vorzüglich.« »Hätten Sie Lust dazu, nachher, wenn ich Ihnen die Bridalveil-Fälle gezeigt habe?« »Nein.« Nun, dann eben nicht, dachte sie. El Capitan und Half-Dome, die hoch über ihnen aufragten, warfen den Mondschein auf den Talboden hinab und tauchten den Nadelwald, dessen Äste sich unter dem auf ihnen lastenden Schnee neigten, in ein diffuses Zwielicht. Lyn war von dem Anblick so hingerissen, daß sie ihrem Entzücken unwillkürlich mit einem leisen andächtigen Seufzer Ausdruck verlieh. Amal teilte ihre Empfindungen. »Dies ist ein herrliches Fleckchen Erde – eine heilige und verzauberte
Stätte unter einem abnehmenden Mond, jeder ebenbürtig, die eine Huri aufsuchen würde, um ihren moslemischen Geliebten zu beweinen.« Seine treffende Wortwahl nach ihrem eher sprachlosen Staunen gab ihr ein unbestimmtes Gefühl der Verdrossenheit, das anhielt, bis sie kurz vor dem Pfad, der zum Wasserfall führte, anhielten. Lyn holte zwei Thermaloveralls aus dem Gepäckfach, und kurz darauf waren sie gegen die Kälte gewappnet. Amal stapfte voraus und bahnte einen Weg durch die verkrustete Schneedecke. Von vorn hörten sie das Tosen des Wasserfalls. Das Wasser war im Mondlicht schwarz und stürzte von einem Felsvorsprung hoch über ihnen; die äußeren Gischtspritzer fielen als Schneeflocken herab. Das Tosen machte hier jede Unterhaltung unmöglich. Sie standen schweigend da und nahmen das Naturschauspiel in sich auf. Normalerweise küßte sich ein junges Paar hier, aber Amal nahm nicht einmal ihre Hand. Heimlich betrachtete sie ihn von der Seite. Seine Abstammung von Beduinen war unverkennbar. Das Profil, die Form des Kinns und die Raubvogelnase ließen an weite Wüsten denken. Sie meinte fast, die in Burnusse gekleideten Stammeskrieger auf ihren arabischen Pferden sehen und deren Hufgetrappel, übertönt vom Kriegsgeschrei von Sarazenen, hören zu
können. Amal sah und hörte nur herabstürzendes Wasser. Sie formte die Hände zu einem Sprachrohr und rief ihm zu: »Man nennt sie die ›Brautschleier‹-Fälle, weil die Gischt einem weißen Schleier ähnelt. Nehmen sich Araber eigentlich noch Bräute?« Er legte eine Hand seitlich an den Mund und rief, ohne sie anzuschauen, zurück: »Nur wenn sie Lust haben, Babysitter zu spielen.« »Ich habe gehört, daß sich arabische Männer einen Harem halten.« »Und ich habe gehört, daß amerikanische Mädchen ein Andron namens ›Ken‹ richtigen jungen Männern vorziehen.« Was er da gehört hatte, traf zu, wenn die Dinge auch komplizierter waren. Der jüngsten Umfrage zufolge zogen Mädchen in Lyns Altersgruppe das Gynodron Barbie dem Andron Ken vor. Aber dies war nicht der richtige Ort, um einen Ausländer mit dem amerikanischen System, das Bevölkerungswachstum auf Null zu halten, vertraut zu machen. Plötzlich senkte er den Kopf und hielt den Mund dicht an ihr Ohr. Er roch nach Zedern- und Sandelholz. »Gehen wir«, sagte er. »Ich habe genug gesehen.« Mißmutig und enttäuscht drehte sie sich um und stapfte durch den tiefen Schnee zurück zum Wagen.
Ob es in Persien wohl tabu war, ein Mädchen zu küssen, vergleichbar den Verboten, Schweinefleisch zu essen oder in einer Moschee Schuhe zu tragen? Als das Tosen des Wasserfalls allmählich nachließ, drangen die Klänge neu einsetzender Musik von der Berghütte, an der sie vorhin vorbeigefahren waren, an ihr Ohr. Sie wünschte, sie hätte sich für Nils Larsen entschieden. Amal holte sie ein und meinte: »Danke, daß Sie mich hergebracht haben. Yosemite ist vielleicht das drittschönste Naturwunder, das ich je gesehen habe.« Er stieß die Worte mühsam hervor, so daß sie sich fragte, ob ihm der Höhenunterschied oder die fremde Sprache zu schaffen machte. »Da bin ich aber gespannt«, entgegnete sie mit einem Hochmut, der seinen weit in den Schatten stellte. »Auf der Rückfahrt nach Los Angeles müssen Sie die beiden ersten beschreiben, während ich fernsehe.« Am Wagen angekommen, legte Amal die Hand auf den Türgriff und hielt inne. Lyn warf ihm einen raschen Blick zu. Offenbar wollte er etwas sagen und bemühte sich, seine Gedanken in Englisch auszudrücken. »Ich kann nicht einmal Yosemite beschreiben, das drittschönste Naturwunder. Wie könnte ich da das Tal von Schalimar beschreiben, das an erster Stelle steht, oder Lyn Oberlin, die gleich danach kommt?«
Impulsiv nahm sie sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn. »Das ist das schönste Kompliment, das ich je erhalten habe, Amal.« Zum erstenmal lächelte er. Es war eher ein beschämtes und verlegenes Grinsen, wie sie feststellte, und sie hätte trotz der Dunkelheit darauf schwören können, daß er errötete. Diese neue Wendung der Ereignisse und ihre völlige Fehleinschätzung verblüfften Lyn. Was sie für die hochmütige Ablehnung eines Wüstenscheichs gehalten hatte, erwies sich als die Schüchternheit eines unerfahrenen jungen Mannes. Amal Eugene Severn hatte Angst vor Mädchen. »Amal, Sie werden ja rot«, lachte sie. »Und ich dachte schon, ich gefiele Ihnen nicht.« »Ich war noch nie ohne Begleitung mit einem Mädchen zusammen«, gestand er. »Was sagen amerikanische junge Männer zu einem Mädchen, das keine Mathematikerin ist?« »Wenn sie es sehr geschickt anstellen, sagen sie ihr, daß sie etwas weniger schön als das Tal von Schalimar und ein bißchen schöner als Yosemite ist. Ich hoffe, Sie lernen nie, auf englisch zu denken.« »Aber das tue ich«, sagte er. Er hatte die Wagentür endlich geöffnet und stieg ein. Lyn rutschte auf den Fahrersitz im Führerhaus und dachte überrascht über seine letzte Bemerkung
nach. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß ihr völliges Unvermögen, sein Mienenspiel zu deuten, zum Teil auf der Sprachbarriere beruhte. Es mußte irgendein anderes Element in seiner Psyche geben, das sie daran hinderte, seine Gedanken zu lesen. »Sie müssen in Sprachen sehr gut gewesen sein als Schüler«, sagte sie. »Nur in Englisch und Hindi«, entgegnete er. »Als ich Englisch lernte, kam es mir beinah so vor, als würde mir meine Muttersprache einfallen. Es war irgendwie ein unheimliches Gefühl. Das Alphabet kam mir sofort bekannt vor. Und manchmal stellte ich fest, oder meinte festzustellen, daß ich mich an Worte und Redewendungen erinnerte, die ich noch nie gehört hatte.« Lyn hatte den Motor anlassen wollen, doch nun zögerte sie. Was er sagte, interessierte sie, und sie wollte nicht, daß ihr Abend mit einer, wenn auch stillen, Dissonanz ausklang. »Vermeintliche Erinnerungen sind ein unter älteren Menschen weit verbreitetes Phänomen«, sagte sie. »Bei jungen Menschen nennt man es déjà vu.« »Es ist mehr als das«, sagte er. »Manchmal habe ich das Gefühl, daß mich nur ein dünner Schleier von einem anderen Leben trennt, und zuweilen benutze ich Redewendungen, sogar typisch amerikanische, die mir einfach so in den Sinn kommen. Immer dann hab ich Gefühle, die irgendwie nicht meine eigenen sind.«
»Haben Sie sich schon einmal mit einem Psychologen unterhalten?« fragte sie. »Nur mit Ihnen«, erwiderte er. »Ich wollte nicht für verrückt gehalten werden. Als Sie heute abend von den geheimnisvollen Dingen in der menschlichen Psyche sprachen, hatte ich das Gefühl, Sie würden mich vielleicht verstehen. Außerdem weiß ich, daß es Ihnen Ihr Berufsethos verbietet, über Ihnen anvertraute Geheimnisse zu reden.« Was er sagte, traf in allen Einzelheiten zu und zeugte von genauer Beobachtungsgabe. Seine Geheimnisse waren bei ihr sicher aufgehoben, nicht nur weil sie das Berufsethos, sondern weil sie sogar das Gesetz zum Schweigen verpflichtete. Sie trug ähnliche Geheimnisse wie er mit sich herum, aber leider konnte sie sie ihm nicht anvertrauen. »Werden Sie häufig von Alpträumen oder wiederkehrenden Träumen geplagt?« »Als Junge hatte ich einen immer wiederkehrenden Traum«, sagte er, »aber er war keineswegs unangenehm. Ich träumte, daß ich meinen Vater meiner Pflegemutter vorstellte und daß die beiden sich ineinander verliebten.« Sein Traum hatte weder ödipalen Charakter, noch war er ungewöhnlich, dachte Lyn. Kinder zogen häufig die Frauen, die sie zur Welt brachten, ihren genetischen Müttern vor.
Sie konnte ihm gegenüber nicht so offen sein wie er zu ihr, aber wenn sie sein Problem verstehen lernte, würde sie vielleicht ein tieferes Verständnis für ihr eigenes entwickeln können. Dazu mußte sie ihm aber irgendwie über seine Schüchternheit hinweghelfen und ihn dazu bewegen, noch eine Weile mit ihr zusammen zu bleiben. Die ferne Musik brachte sie auf eine Idee. Sie ergriff Amals flach auf dem Sitz liegende Hand und sah ihn mit einem bittenden Blick an. Die Berührung sollte sein Vertrauen in sie stärken, und der Blick war dazu gedacht, ihm mehr Selbstbewußtsein zu geben. »In der Berghütte wird getanzt, Amal. Würden Sie mich dorthin bringen, wenn es Ihnen Ihre Religion erlaubt?« Sie hielt sich an jene Vorgehensweise, der die Doktrin zugrunde lag, daß in Fällen von Schüchternheit dem anderen Geschlecht gegenüber der betreffenden Person eine Rückzugsmöglichkeit offengehalten werden sollte. Amal konnte Religion als Vorwand benutzen, ihre Bitte abzulehnen, aber sie hatte ihm eine moralische und emotionelle Fessel angelegt. Wenn er jetzt ablehnte, käme das einem Verrat an einem Freund gleich. »Im Heim wurden uns nur alte Tänze beigebracht«, sagte er stotternd. »Hier in Amerika tanzt man aber mehr oder weniger auf demselben Fleck.«
Sie drückte ihm beruhigend die Hand. »Ich habe klassisches Tanzen in der Schule gelernt. Wir kommen bestimmt miteinander zurecht.« Der Gebrauch des Wortes ›wir‹ war bewußt darauf ausgerichtet, einem Gefühl der Zusammengehörigkeit und eines gemeinsamen Vorhabens Nachdruck zu verleihen. »Es wäre mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu tanzen«, sagte er. Seine förmliche Ausdrucksweise, dachte Lyn, deutete darauf hin, daß er in einem getrenntgeschlechtlichen Heim aufgewachsen war. Das würde seine Schüchternheit zum Teil erklären. »Hätten Sie Lust zu fahren?« »Und ob!« sagte er. Wenn sie nur halb soviel Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hätte wie Automobile, sinnierte Lyn, wäre es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Als sie den kleinen Tanzsaal der Berghütte betraten, hatte sie vollkommen vergessen, daß sie ein Kleid aus einem anderen Jahrhundert anhatte. Es fiel ihr erst ein, als sie an der Garderobe den Wärmeoverall abstreifte. Als sie dann dem Oberkellner über die von den Scheinwerfern eines im Moment unbesetzten Musikkapellenpodiums angestrahlte Tanzfläche folgte, ertönten Rufe und Pfiffe aus der Menge, die zumeist aus Kollegiaten bestand. Amal schien der Aufruhr nichts auszumachen. Er wählte einen Tisch am
Rand der Tanzfläche, und der Kellner nahm das ›Reserviert‹-Schild fort. Lyn hätte einen gemütlicheren unauffälligeren Tisch und weniger Ehrerbietigkeit vom Kellner vorgezogen, aber Amal, plötzlich seltsam gelassen, schien auf die allgemeine Aufmerksamkeit, die der stille Neid der Gäste an den Nebentischen auf sie lenkte, gefaßt zu sein. Als Lyn die Gesichter der Frauen an den benachbarten Tischen forschend betrachtete und ihre Gedanken las, erkannte sie, daß Amals Schüchternheit keineswegs auf Erfolglosigkeit bei Frauen zurückzuführen war. Einem Mann mit einer so scharfen Beobachtungsgabe, wie er sie zu besitzen schien, konnte die Anziehungskraft, die er auf das andere Geschlecht ausübte, nicht entgehen. Während er die Weinkarte las und der Kellner höflich abwartend neben ihm stand, kam ihr ein absurder, aber nichtsdestoweniger einleuchtender Gedanke. Konnte Amal auf sexuelle Verklemmtheit konditioniert worden sein? Schüchternheit, so wußte sie, konnte auf sehr einfache Weise herbeigeführt werden. Ein sensibles Kind, das wiederholt schroffen Zurückweisungen ausgesetzt wurde, konnte leicht entsprechende Abwehrmechanismen entwickeln. Als sie den Kellner anschaute, bemerkte sie auf den ersten Blick, daß er zutiefst verwirrt war. Wie kam dieser junge Mann zu einer grünen Kreditkarte des Außenministeriums?
In der Tat, überlegte Lyn, sich dem neuen Rätsel zuwendend. Als sie vorhin am Eingang vor ihm hergegangen war, hatte sie nicht auf seine Karte geachtet, weil sie automatisch angenommen hatte, er besäße die rosafarbene Kreditkarte eines gewöhnlichen Transferstudenten. Grüne Karten, die unbegrenzten Kredit gewährten, wurden vom Außenministerium nur für Botschafter, Staatsoberhäupter auf Besuch in den Staaten, Schützlinge von Königshäusern und für andere bedeutende Persönlichkeiten ausgestellt. Amal hatte zwar behauptet, er wäre nicht königlichen Geblüts, aber das konnte ein bescheidenes Dementi gewesen sein. Vielleicht war er mit einem Ölscheich verwandt und auf Schüchternheit konditioniert worden, um sich nicht mit Mädchen aus dem gemeinen Volk einzulassen. Der Gedanke war der Überlegung wert. Amal fragte sie höflich, ob sie mit dem Thrazienischen Andros einverstanden wäre, und sie bejahte lächelnd. Er gab die Weinkarte dem Kellner zurück, der eilig fortging. Jetzt wirkte er unsicher und schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Lyn versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. »Ich dachte, Moslems trinken keinen Alkohol.« »Das war nur ein Scherz von Nils«, erwiderte er lächelnd. »Ich ließ ihn gewähren. In Wirklichkeit bin ich koptischer Christ.«
Weniger vertraut mit koptischem Christentum als mit Thrazienischem Andros, wechselte sie das Thema. »Wie kommen Sie eigentlich zu einem Genetiker als Zimmergefährten?« »Oh, ich bin kein religiöser Fanatiker. Er suchte jemand, mit dem er Arabisch üben konnte, und ich brauchte jemand, der das Zimmer in Ordnung hält und mir ein paar allgemeine Tips gibt. So kamen wir zusammen.« Sein Lächeln nahm die Schärfe von seinem unausgesprochenen Vorwurf, und Lyn fiel auf, daß er sich immer mehr entspannte. Er schien sich in ihrer Gesellschaft langsam wohl zu fühlen. »Dieser Service heute überwältigt mich geradezu«, sagte sie. »Hat vielleicht jemand den Kellnern ins Ohr geflüstert, Sie wären der Sohn eines Schahs?« »Das liegt an Ihnen. Sie haben sie beeindruckt.« »So beeindruckend bin ich nicht. Man könnte meinen, Sie hätten eine grüne Kreditkarte.« »Also haben Sie es bemerkt«, sagte er. »Bei mir ist sie aber kein Statussymbol. Meine Forschungen werden als wichtig angesehen, deshalb stellte mir Ihre Regierung die grüne Karte aus. So brauche ich meine Zeit nicht mit lästigen Gesuchen um die Bewilligung finanzieller Mittel vergeuden.« Lyn wußte, daß ein Gesuch um Bewilligung finanzieller Mittel für ein Forschungsvorhaben in der Re-
gel innerhalb von zwei Wochen genehmigt wurde. Seine Experimente mußten sehr hohe Priorität genießen, wenn sie mit solcher Eile vorangetrieben werden sollten. »Befürchtet man nicht, Sie könnten eine Yacht kaufen und nach Tahiti segeln?« »Wer immer ›man‹ ist, man war sich sicher, daß ich nie auf die Idee gekommen wäre – hätte ich Sie nicht kennengelernt. Nein. Ich führe ein sehr zurückgezogenes und pflichtbewußtes Leben; ein ziemliches Einerlei, abgesehen von den unerklärlichen Erinnerungen und einigen merkwürdigen Zwängen.« »Was sind das für Zwänge?« fragte sie. In diesem Moment kam der Kellner mit dem Wein, schenkte Amal einen Schluck zum Vorschmecken ein und trat zurück. Amal kostete. »Dies ist kein gealterter, sondern ein prozessierter Wein, Kellner. Die Griechen schütten so ein Gesöff vor die Säue. Haben Sie keinen natürlich gealterten Wein?« »Ich werde noch einmal nachsehen, Sir«, entgegnete der Kellner. Lyn, die ihm einen schnellen Blick zuwarf, sah, daß er dachte: Den würde ich sogar einem Weinkenner andrehen. Die Verdrossenheit des Kellners amüsierte sie, doch Amal sagte entschuldigend: »Tut mir leid, daß
ich ihn in Ihrer Gegenwart zurechtweisen mußte, aber er hätte mir sonst einen sehr teuren Wein auf die Rechnung gesetzt, und ich muß mit den Geldern Ihrer Regierung schonend umgehen.« »Es gibt soviel Unehrlichkeit heutzutage«, sagte sie. »Dabei wird Ehrlichkeit als die wichtigste Tugend überhaupt angepriesen.« »Die Heuchler predigen Ehrlichkeit, um sich die Gutgläubigkeit der Menschen zunutze zu machen«, entgegnete er. »Trotzdem würde ich lieber zehn Heuchlern vertrauen als einem einzigen aufrichtigen Menschen zu mißtrauen.« Seine Gedankengänge schienen sich in tieferen Kanälen zu bewegen als die amerikanischer junger Männer, dachte Lyn, und ihr ging langsam auf, daß sie Amal gegenüber voreingenommen war. »Was sind das für merkwürdige Zwänge?« fragte sie wieder. »Sie sind unheimlich«, sagte er. »Ich bin mitten in der Arbeit, und plötzlich überkommt mich das Gefühl, daß ich eigentlich woanders sein sollte, um Herausforderungen zu begegnen, die eines Tages auf mich zukommen werden. Es ist nicht nur ein Gefühl, sondern ein unumstößliches sicheres Wissen. Ich komme mir vor wie eine Marionette, die an den falschen Fäden hängt und von dem falschen Drahtzieher vor dem falschen Publikum dirigiert wird.«
Lyn hatte selbst ähnliche Empfindungen, aber sie sagte: »Das liegt vielleicht an Ihrer Isolation. Es ist schlichtweg abnorm, daß Sie noch nie mit einem Mädchen allein waren.« »Nicht für einen Jungen aus einem koptischen Heim«, entgegnete er. »Wir trafen mit unseren Heimschwestern nur bei formellen Anlässen zusammen, und uns war eingetrichtert worden, sie wie hohen Besuch zu behandeln. Ein amerikanisches Mädchen wie Sie kennenzulernen, hat meine Verwerfungsbruchlinien zutage treten lassen.« »Kein Wunder«, sagte sie lächelnd. »Sie müssen ein ziemliches Zerrbild von Mädchen haben, da Sie doch keinerlei Erfahrungen im Umgang mit Frauen haben.« »Oh, ich hatte meine Pflegemutter, eine gütige und wundervolle Frau. Sie sorgte für mich, nachdem meine Eltern ums Leben gekommen waren. Aber ich verlor sie, als ich vierzehn war. Sie starb bei einem großen Erdbeben im Iran.« »Wurden Sie dabei verletzt?« fragte Lyn. Sie wollte ihn von der schmerzlichen Erinnerung abbringen. »Nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich hielt mich in Bagdad auf. Mutter lag im Wochenbett in einem iranischen koptischen Entbindungsheim. Das ganze Heim stürzte in eine sich öffnende Erdspalte. Und die Narren in Bagdad ließen die Zeitungen mit den gan-
zen schauerlichen Einzelheiten einfach herumliegen. Eine Zeitlang war ich wie am Boden zerstört. Damals faßte ich den Entschluß zu versuchen, eine Methode zu finden, mit der sich solche Katastrophen vorhersagen ließen.« Schritt für Schritt hatte er ihr eben, ob er sich dessen bewußt war oder nicht, ein klassisches Beispiel Pawlowscher Konditionierung skizziert, einer Konditionierung, die zum Studium der Seismologie getrieben hatte. Die Ferne zum anderen Geschlecht hatte ihn auf eine idealisierte Mutterfigur fixiert, die dann von der Erde verschlungen worden war. Die Geschichte klang so mythisch, daß sich in Lyn Skepsis regte. Sie entsann sich dumpf, daß im Nahen Osten immer noch intrigiert wurde. Amals Erdbebenbesessenheit konnte das Resultat einer bewußten Konditionierung sein, die ihn daran hindern sollte, seine rechtmäßige Erbschaft in irgendeinem Ölscheichtum anzutreten. Aber das war natürlich eine an den Haaren herbeigezogene, romantische Idee, ebenso absurd wie die Vorstellung, daß das Schicksal ausschließlich Pawlowschen Gesetzen unterlag. »Da wundert es mich nicht, daß Sie sich neue Erinnerungen wünschen«, meinte sie. »Aber die Erinnerung, von der ich sprach, hat nichts mit meinem Leben oder diesem Zeitalter zu tun.«
Der Kellner kehrte mit einer anderen Weinflasche zurück und wischte vor ihren Augen feierlich den Staub ab. Diesmal wurde er nach einer Geschmacksprobe von Amal akzeptiert. Es war ein trockener Wein mit einem schwachen Süßholzwurzelbeigeschmack. Lyn äußerte sich anerkennend über ihn, obwohl er, soweit sie wußte, erst vor einer Woche aus dem Napa-Valley herbeigeschafft worden sein konnte. Auch ihr Leben war von ungewöhnlichen, unerklärlichen Ereignissen überschattet gewesen, von Visionen, die ihr Angst machten. Vielleicht half es ihm, wen er erfuhr, daß es anderen ähnlich erging wie ihm. Doch Verschwiegenheit hatte in ihr feste Wurzeln gefaßt. Amal war nicht durch Gesetz oder Berufsethos daran gebunden, ihre Geheimnisse für sich zu behalten, und es gab Dinge – Neurotizismen? –, die sie verschweigen mußte, wenn sie das Bild, das er sich von ihr machte, nicht zerstören wollte. Andererseits hatte er sich ihr anvertraut und gesagt, er könnte einem aufrichtigen Mensch nicht mißtrauen. Moralisch gesehen befand sie sich im Unrecht, wenn sie einem Mann, der Vertrauen in sie setzte, argwöhnisch gegenüberstand, und ein kleines Eingeständnis von ihrer Seite konnte für ihn vielleicht sehr hilfreich sein. »Ich werde Ihnen auch ein Geheimnis anvertrauen, Amal«, sagte sie abrupt. »Daß Sie eine grüne Karte
hatten, wußte ich von dem Kellner. Ich las seine Gedanken.« »Sie meinen, Sie lasen es aus seiner ehrerbietigen Haltung heraus?« »Nein. Aus seinem Gesicht. Ich kann die vollständigen Gedankengänge einer Person erfassen. Zwar nicht verbal – nur wenige Gedanken werden verbalisiert –, aber wenn der Betreffende sehr verwirrt oder erregt ist, kann ich seine Gedanken an seinem Mienenspiel ablesen.« »Na, hören Sie mal, Lyn. So was gibt es nicht. Das ist unmöglich wie – wie eine zweite Erinnerung.« Er lächelte, von seiner Logik widerlegt. »Können Sie Ihre Fähigkeit demonstrieren?« »An Ihnen nicht, wie ich gestehen muß. Anfangs dachte ich, es ginge deshalb nicht, weil Sie auf arabisch dachten. Jetzt weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Sie sind der einzige, der mir bisher widerstanden hat.« »Stellen wir Sie auf die Probe«, sagte er. »Beobachten Sie aufmerksam mein Gesicht. Ich werde Ihnen gedanklich eine wichtige Botschaft übermitteln.« »Mein starrer Blick wird Sie vielleicht erschrecken.« »So leicht erschreckt man mich nicht. Beobachten Sie mich jetzt.« Sie starrte ihn intensiv an und konzentrierte sich ganz auf seinen Gesichtsausdruck. Eine wirbelnde
Energie war das einzige, was sie an dem Mann, der ihr gegenüber saß, wahrnahm. Ihr war, als stünde sie am Rand eines gewaltigen finsteren Mahlstroms, und schließlich war sie es selbst, die den Blick abwandte. Sein Bewußtseinsinhalt war ihren Sinnesorganen völlig verschlossen geblieben. Sie sah ihn jetzt wieder normal an und gestand ihr Versagen ein. Amal lächelte; er wirkte jetzt vollkommen gelassen. »Ich habe gerade die Rangfolge der drei größten Naturwunder, die ich bisher gesehen habe, in Gedanken umgruppiert ... Wann sind Sie zum erstenmal auf Ihre Gabe aufmerksam geworden?« »Als ›Gabe‹ kann man es wohl bezeichnen«, erwiderte sie lächelnd, »wie ich damals zu meinem Verdruß feststellen mußte. Es war in der ersten Schulklasse. Ich fing an, die Fragen meiner Klassenkameradinnen zu beantworten, noch bevor sie sie gestellt hatten. Sie beschuldigten mich, ich wäre eine Hexe, und eines Nachmittags kreisten mich mehrere der älteren Mädchen ein und wollten mich steinigen. Die kleinen Herzchen hatten irgendwo aufgeschnappt, daß man Hexen steinigen müßte. Ich brach aus dem Kreis aus und rannte ihnen davon, aber vorher hatten sie mir beigebracht, in Zukunft den Mund zu halten. Ein Jahrzehnt später, und das war das Ironische daran, wurde Hexenzauber zur großen Mode in den
Grundschulen. Zu der Zeit hätte man mich wahrscheinlich zur Oberhexe beim Hexensabbat ernannt.« Er griff auf einmal über den Tisch und drückte ihre Hand. »Heute können Sie darüber lachen, aber für das kleine Mädchen, das Sie damals waren, muß das Erlebnis ziemlich erschütternd gewesen sein.« Seine Anteilnahme wühlte sie so sehr auf, daß sie fast die Fassung verloren hätte, doch seine grauen Augen mit dem starken und gelassenen Blick gaben ihr Kraft. »Oh, das war nur der Anfang. Das Schlimmste blieb mir zwar erspart, weil meine Eltern kurze Zeit später an die Westküste zogen. Aber acht Jahre später fanden in meiner Klasse die Aufnahmeprüfungen für die höhere Schule statt. Die Prüfungsteile, die sich auf den Psi-Faktor, Telepathie und Hellsehen bezogen, wurden von einem Parapsychologen vorgenommen. Auf meine Antworten achtete er besonders – ich las es in seinen Gedanken –, und so war ich besonders darauf bedacht, ihm die falschen Antworten zu geben. Als er den Fragebogen zum Schluß noch einmal durchging, spürte ich deutlich seine Enttäuschung und den Gedanken: haben sie sich also wieder einmal geirrt. Sie sprachen vorhin von Marionetten. Sind ›sie‹ die Drahtzieher? Oder leide ich an Verfolgungswahn? Ich glaube es eigentlich nicht, besonders da ich mich jetzt
mit Ihnen unterhalten habe. Aber manchmal kam mir der Gedanke, ich könnte auch zu den ›Kaputten‹ gehören. Vielleicht ist das der Grund, warum ich Psychologie studiere und mir eine Stellung bei der Regierung gesucht habe. So kann ich einerseits mehr über mich selbst lernen und andererseits vielleicht herausfinden, wer ›sie‹ sind.« Amal nickte und sagte: »Es kommt einem gerade so vor, als würden sie nur darauf warten, daß Sie sich zu erkennen geben. Aber Sie haben Ihre Verabredung nicht eingehalten.« »Das ist genau mein Eindruck.« »Vielleicht sind Sie die implantierte Tochter eines Mediums, und der Parapsychologe hatte davon gewußt.« »Nein. Meine Mutter brachte mich zur Welt. Ich komme aus einer Familie, in der die Frauen ihre Kinder schon seit langer Zeit selbst austragen. Und meine Eltern hätten niemandem von meiner Fähigkeit erzählen können. Ihre Ehe machte damals eine Krise durch, deshalb verbarg ich mein Geheimnis vor ihnen. Da ich ihre Gedanken lesen konnte, wollte ich nicht die Schwatztante zwischen ihnen spielen.« »So eine Situation muß doch eine starke Belastung für ein Kind gewesen sein.« »Später dann war ich den banalen Gedanken meiner Kommilitonen ausgesetzt, besonders denen
heißsporniger junger Männer, deren Verhalten und insgeheime Absicht ihre Worte so oft Lügen straften. Deshalb ist es für mich wirklich ein erfreuliches Erlebnis, Ihnen meine ›Gabe‹ nicht demonstrieren zu können.« In diesem Moment kehrte die Musikkapelle zurück. Amal schaute hinüber und meinte: »Mit etwas Glück und Unterstützung vom Kapellmeister kann ich Ihnen mein ›zweites Gedächtnis‹ vielleicht gleich unter Beweis stellen.« Er stand auf, nahm ihre Hand und führte Lyn auf die Tanzfläche. Er bewegte sich mit solcher Gelassenheit, daß Lyn an ihrer Theorie zu zweifeln anfing. Wenn er tatsächlich auf Schüchternheit konditioniert gewesen wäre, hätte ein einziger Abend des Beisammenseins mit einem Mädchen diese Konditionierung nicht durchbrechen können. Solche, einer Persönlichkeit eingeimpften Charakterzüge konnten entweder nur durch heftige Gefühlsaufwallungen wie Wut, Angst oder Verzweiflung überwunden werden oder durch eine Monate dauernde Therapie. Ein grauhaariger Dirigent auf dem Podium schaute zu Amal herab und wiederholte dessen Wunsch, so als meinte er, nicht richtig gehört zu haben. »Ein Tanzmusikpotpourri früherer amerikanischer Komponisten?« Er dachte: so ein Armleuchter. Will er vielleicht einen Volkstanz veranstalten?
Aber er entgegnete: »Es ist mir ein Vergnügen, Sir.« Er drückte einige Knöpfe an seinem Notenpult. Amal wandte sich an Lyn und sagte: »Es dürfte Ihnen nicht schwerfallen. Ich führe sehr gut.« Amal war ein ausgezeichneter Tänzer mit einem vorzüglichen Gespür für Rhythmen, und größenmäßig paßten sie gut zusammen. Keine Buhrufe ertönten, als er sie über den Tanzboden wirbelte. Lyn war mit den Walzerschritten aus ihrem Unterricht in interpretativem und klassischem Tanzen vertraut, aber auch eine Anfängerin hätte wenig Mühe gehabt. Unter seiner Führung war es ein Kinderspiel, den Walzer zu tanzen. Das Orchester ging ohne Unterbrechung über die verschiedenen Weisen des Potpourris hinweg und stimmte eine neue Melodie an. Amal zog sie enger an sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie für ein arabisches Kosewort hielt: »Begintha begeen!« Sie waren das einzige Paar auf der Tanzfläche. Die Menge blieb sitzen und sah ihnen zu. Jemand dämpfte die Saalbeleuchtung und richtete einen Deckenscheinwerfer auf sie. Das Orchester und die Gesichter im Dunkel verschwanden aus ihrem Blickfeld, und sie waren mit sich und der Musik allein im Lichtkegel des Scheinwerfers. Amal legte mit ihr einen Tango aufs Parkett, und Lyn fühlte sich so leicht wie ein herabfallendes Blatt, das in einem leichten Herbst-
wind kreiselt. Als die Musik zu Ende ging, wirbelte Amal sie in einem weiten Bogen herum, und sie verhielten starr, bis die letzte Note ausklang. Das kreiselnde Blatt war in einem stillen Gewässer zur Ruhe gekommen. Als die Lichter wieder angingen, ertönte Applaus. Sie richteten sich auf, bedankten sich dann mit einer Verbeugung. Beide erkannten, daß die Zuschauer, denen der Tanz unbekannt war, sie für Schautänzer gehalten hatten. Die Band stimmte den ›Berkley Bounce‹ an, und die Menge begann auf die Tanzfläche zu strömen. Als sie sich einen Weg durch das Gedränge zu ihrem Tisch bahnte, ihr Gesicht vor den hochgerissenen Armen der Tanzenden schützend, trauerte Lyn ein wenig um die alte Tanzart. Nach der Massenvernichtung und nach zwei Generationen der Bevölkerungsstagnation bestand eigentlich keine Notwendigkeit mehr für das ›Auf-demselben-Fleck-Tanzen‹, doch der alte platzsparende Brauch lebte fort. Der Lärm von den Tänzern erschwerte die Unterhaltung an ihrem Tisch, der direkt an die Tanzfläche grenzte. Doch Amal übertönte das Stampfen von Schuhsohlen auf dem Hartholz und erklärte, was die Worte, die Lyn irrtümlich für einen arabischen Kosenamen gehalten hatte, zu bedeuten hatten. »Ich weiß wenig über Musik und so gut wie nichts
über amerikanische Komponisten, aber vorhin fiel mir plötzlich der Titel eines der Stücke aus dem Potpourri ein. Obwohl ich es noch nie gehört habe, gehe ich jede Wette ein, daß, wenn Sie morgen in der Bibliothek nachschlagen, Sie einen amerikanischen Walzer mit dem Titel ›Begin the Beguine‹ verzeichnet finden werden.« »Das können wir sofort nachprüfen. In meinem Dunemaster ist ein Telefon. Wir können die Datenbank anrufen.« »Sollen wir gehen? Unsere Position hier ist exponiert.« Lyn wollte gern mit ihm allein sein, und daß ihr Tisch von den umherhüpfenden Tänzern gefährdet war, stimmte, doch sie fühlte sich genötigt, ihn an etwas zu erinnern. »Was ist mit den Steuergeldern, mit denen wir schonend umgehen müssen? Die Regierung hat in Thrazienischen Andros investiert, und wir haben ihn kaum angerührt.« Amal grinste und gab unmißverständlich zu erkennen, daß er Sinn für Humor, Ironie und vielleicht mehr besaß. Er sagte nämlich: »Lassen wir ihn für den Kellner stehen. Als Lohn für seine Ehrlichkeit – er kann die Flasche wieder auffüllen und sie als ungeöffnete jemand anderem andrehen. Außerdem brauche ich keine Konversationsbrücke mehr.« Seine Schüchternheit war so vollständig ver-
schwunden, daß Lyn sich fragte, ob nicht vielleicht eine Gemütsbewegung dafür verantwortlich zeichnete, die zwar so stark wie Ärger, Verzweiflung oder Angst, aber am positiven Ende der Gefühlsskala zu suchen war. Die Überlegung roch stark nach Eitelkeit, wie ihr klar wurde; nichtsdestoweniger erfüllte sie sie mit einem warmen Gefühl, als sie die Overalls anlegten und durch den Schnee zum Wagen liefen. Als sie im Führerhaus den Thermalanzug abstreifte, um ihn wieder im Gepäckfach zu verstauen, fühlte sie sich plötzlich auf absurde Weise gehemmt. Der bloße Akt des Sichausziehens in seiner Gegenwart erfüllte sie mit dem jungfräulichen Zittern; eine Scheu, die technisch gesehen durchaus begründet gewesen wäre. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte sich Amal, der neben ihr stand und sich an seinem Overall zu schaffen machte, in einem Umkleideraum für Männer befinden können. Was wieder einmal bewies, dachte Lyn, und zu dieser Erkenntnis war sie schon vor langer Zeit gekommen, daß das Mysteriöse der bessere Teil einer Romanze war und daß nicht Eros, sondern Tantalus Gott der Liebe hätte sein sollen. Sie schaltete das Telefon ein und wählte die Nummer der Datenbank. Dann beugte sie sich vor und sagte, jede Silbe klar und deutlich aussprechend: »Musik. Amerikanische. Titel des Lieds: ›Begin the Beguine‹.« Nach einer Pause von drei Sekunden antwortete
eine Tonbandstimme: »Komponist: Cole Porter. Erschienen: 1934.« Sie schaute zu Amal und sagte: »Meinen Glückwunsch. Ihre amerikanischen Erinnerungen reichen über hundert Jahre zurück.« »Fragen Sie, ob es eine historische Person namens Baby Ruth gibt.« Lyn stellte die Frage, und die Stimme erwiderte: »Es gibt keine historische Baby Ruth.« »›Baby Ruth‹ ist wieder so ein Wort, das mir als Junge in Bagdad durch den Kopf schoß«, erklärte er. »Es könnte der Name meiner Schwester gewesen sein, die sich vielleicht niemals durch etwas hervortat und deshalb nicht verzeichnet ist. Was ereignete sich 1934 in den Vereinigten Staaten?« Geschichte war nicht Lyns Stärke, aber einem Ausländer keine Antwort auf seine Frage über ihr Land zu geben, wäre wohl unfreundlich gewesen, dachte sie. »Ein Ereignis von größter Wichtigkeit«, meinte sie zögernd. »Ich glaube, wir haben entweder eine Atombombe zur Explosion gebracht oder einen Mann auf dem Mond gelandet. Aber sehen wir doch mal nach ... Amerikanische Geschichte. Ereignisse ersten Ranges. Was geschah 1934?« »Nichts«, erwiderte die Automatenstimme. »Zweiten oder sonstigen Ranges?« fragte sie. »Jahr der großen Wirtschaftsdepression, die zur
Konsolidierung der paternalistischen Wirtschaftstheorie unter der Präsidentschaft Franklin Delano ...« Sie legte auf und sagte: »Das könnte noch stundenlang so weitergehen. Statistiken über Statistiken. Die Stadt unterhält südlich von San Bernadino historische Dörfer, die den jeweiligen Zeitabschnitten genau nachgebildet sind, so daß Geschichts- und Altertumsforscher solche Bagatelldaten mühelos in sich aufsaugen können.« Amal schien nicht zuzuhören. Er starrte mit geistesabwesendem, leicht verwundertem Gesichtsausdruck vor sich hin, so als wäre ihm eine verblüffende Idee gekommen. Er sagte wie zu sich selbst: »Es könnte damals gewesen sein.« Er schaute sie an, sich seiner Umgebung offenbar wieder bewußt werdend, und sagte: »Den ganzen Abend über hatte ich das Gefühl, daß ich Ihnen schon einmal begegnet wäre. Ich frage mich, ob es damals gewesen sein könnte. Sie erinnern mich an ein altmodisches Mädchen.« »Das liegt wahrscheinlich an dem Punktmuster meines Kleides. Es sei denn, Sie glauben an die Theorie der Reinkarnation.« »Ich halte mich lieber an statistische Wahrscheinlichkeiten«, erwiderte er. »Von einer Million Affen, die wahllos auf Papier herumkritzeln, könnte einer eventuell den Koran neu schreiben.«
»Den Spruch habe ich aber etwas anders in Erinnerung«, sagte sie lächelnd. Sie rutschte ein Stück zu ihm herüber. Sein Arm lag auf der Rückenlehne und berührte fast ihre Schultern. Sie sagte scheinbar schmollend: »Wenn ich Sie in 1934 gekannt hätte, hätte ich Sie nicht in nur anderthalb Jahrhunderten vergessen.« Er bewegte den Arm nicht von der Stelle. »Natürlich waren nicht Sie es, aber Sie erwecken in mir die Erinnerung an ein schwer zu deutendes, aber seltsam bewegendes Gefühl.« »Schildern Sie es«, befahl sie. »Was man nicht analysieren und definieren kann, existiert nicht.« »Es ist etwas Trauriges daran.« Seine Stimme vibrierte, und sein Blick war in weite Ferne gerichtet. Für einen Augenblick befürchtete sie, er würde in Trance sinken, und ihr schauderte. Er bemühte sich, die richtigen Worte zu finden. »Es ist ein etwas wehmütiges Gefühl, wie die Trauer um eine verlorene Liebe, aber vermischt mit einem Triumphgefühl, als hätte man einen Sieg errungen, nach dem man zwar getrachtet, den man aber eigentlich nicht wirklich gewollt hatte. Ich schildere das Gefühl in einer Parabel«, sagte er in verändertem, plötzlich munterem Tonfall. »Irgendwann in der Vergangenheit liebte ich ein Mädchen, das mich wegen eines anderen Mannes mit bes-
seren Berufsaussichten abwies. Als ich Jahre später in meinen Geburtsort zurückkehrte, erfuhr ich, daß der junge Bankier, den meine Angebetete geheiratet hatte, wegen Unterschlagung im Gefängnis saß ... Genau so war's. Ein wehmütiges Traurigsein vermischt mit einem traurigen Triumph.« Seine seltsam gelungene, wenn auch verworrene Geschichte brachte sie zum Lachen. »Sie können jederzeit ins Jahr 1934 zurückgehen«, sagte sie. »Sie brauchen nur die U-Bahn nach Hemet zu nehmen. Für nostalgische Anwandlungen ist Disneyland genau das richtige.« Amal nahm ihre scherzhaft gemeinte Bemerkung ernst. »Es hat nichts mit Nostalgie zu tun. Es ist eine Suche nach meinem Gedächtnis. Sagen Sie, Lyn, würden Sie mit mir gehen? Ich möchte Ihnen den Hof machen – nach altem Stil.« »Du liebe Güte! Damals dauerte es Wochen, bis ein junger Mann den Mut faßte, ein Mädchen auch nur zu küssen. Und daß die Frauen die Initiative ergriffen, galt als verpönt. Sie wurden damals ziemlich unterdrückt.« »Was tut's? Dieses Tempo wäre mir gerade recht. Die Epikureer waren der Auffassung, daß Brot ein Festmahl für einen Hungrigen wäre. Was sollte ein dem Hungertod nahestehender Bursche wie ich mit einem üppigen Bankett wie Ihnen anfangen?«
Sie lachte. »Der Aufenthalt dort kostet Geld, auch nach Ende der Besuchszeit und an den Wochenenden. Die meisten Forscher, die dort arbeiten, werden subventioniert.« »Ich habe eine grüne Karte. Ich könnte für Sie mitbezahlen.« »Das kommt nicht in Frage«, sagte sie. »Ich bin vielleicht ein altmodisches Mädchen, aber ich bin niemandes altmodische Mätresse.« »Da sehen Sie, wie altmodisch Sie sind«, lachte er. »Schon sind Sie um Ihre Tugend besorgt. Ich weiß, daß die Mädchen in Amerika an gleiche Rechte und Pflichten glauben, aber ich kann Sie ja als psychologische Betreuerin bezahlen.« »Die Klinik, in der ich arbeite, stellt ihre Dienste unentgeltlich zur Verfügung«, sagte sie. »Außerdem habe ich meinen Doktortitel noch nicht. Doch Ihr Problem verdient Beachtung. Und es ist wahr: im Milieu dieses vergangenen Zeitalters ließe sich Ihr Gedächtnis vielleicht wiederherstellen.« Sie war sich durchaus darüber im klaren, daß sie nach einem Weg suchte, seinem Vorschlag zuzustimmen. Nachdenklich fuhr sie fort: »Wenn ich angebe, einen mir zugewiesenen Patient aus therapeutischen Gründen in einem historischen Milieu beobachten zu müssen, könnte ich vielleicht ein paar Beziehungen spielen lassen und von der Gesellschaft für
Altertumspflege einen Preisnachlaß erhalten. Besuchen Sie mich am Mittwoch in meiner Sprechstunde. Wir denken uns dann aus, wie wir an Ihre Fixierung auf die Vergangenheit herangehen, und bis dahin habe ich auch die Genehmigung für Ihre Besichtigung der Mohos.« Amal nahm den Arm von der Rückenlehne. Er ergriff ihre Hand und küßte sie. Es war eine bedächtige und formelle Dankesbezeigung, die dennoch auf einiges hoffen ließ. Wenn seine Schüchternheit erst einmal überwunden war, so wußte sie, würde er aus dem faden Kokon des zwanzigsten Jahrhunderts hinausschlüpfen und vielleicht eine eindrucksvolle Persönlichkeit enthüllen. »Ich zahle selbst für mich, Amal. Das ist endgültig. Und ich kann Ihnen höchstens drei Wochen Zeit zum Werben zugestehen.«
3 Lyns erster Eindruck von dem historischen Dorf Dotham, Bundesstaat Alabama (man schrieb hier etwa das Jahr 1934), war enttäuschend. Nach ihrer Ankunft in der originalgetreuen Nachbildung einer Bahnstation legte sie im Umkleideraum des Gebäudes zeitgenössische Kleidung an und verstauchte sich fast den Fuß, als sie ihren Reisekoffer in den hochhackigen Schuhen der Ära durch den Wartesaal schleppen wollte. Sie komplizierte ihre mißliche Lage noch, indem sie den Gepäckträger, der ihr zu Hilfe eilte, mit ›Mister‹ anredete. Verlegen wies sie dieser darauf hin, daß diese Anrede den Gepflogenheiten des alten Südens zuwiderlief. Der Fehler hätte ihr nicht unterlaufen dürfen, nicht, nachdem sie sich so intensiv mit Vom Winde verweht im Ära-Akkulturationsunterricht, einer Veranstaltung der Historischen Gesellschaft, beschäftigt hatte. Und das Dorf machte einen so leblosen Eindruck. Rund um den Dorfplatz – eine bewaldete Rasenfläche, deren hervorstechende Sehenswürdigkeit ausgerechnet ein Soldatendenkmal war – standen niedrige Holz- und Backsteinhäuser, die wie Kästen aussahen. Sie wirkten statisch, unbeweglich, erinnerten sie nicht im entferntesten an die farbenfrohen Kunststofftürme
von Los Angeles. Einige Dorfbewohner, zumeist Neger, saßen oder standen untätig vor dem Stationseingang und den Gehwegen herum und trugen ihren Teil zur Trägheit der Szenerie bei. Rechts am Gehweg befand sich in einiger Entfernung ein altmodisches Filmtheater, dessen Reklameplakate den Film Die rothaarige Frau mit Jean Harlow in der Hauptrolle anpriesen. Auf dem Schirmdach darüber war in pompösen Buchstaben der Name des Kinos zu lesen: Das Imperium. ›Imperialismus‹ war im Jahr 1934 offensichtlich kein anstößiges Wort. Auf den hohen Absätzen mühsam die Balance haltend, die Brüste in einen Büstenhalter gezwängt, stand Lyn vor der Bahnstation und wartete geschlagene zwanzig Minuten auf ein Taxi. Schließlich kam ein kastenförmiges Vehikel mit einer auffälligen schwarzweißen Schachbrettmusterlackierung angerattert. Den Geräuschen, die der Motor von sich gab, nach zu urteilen, lag er in den letzten Zügen. Klappernd kam das Gefährt am Bordstein zum Stehen. Mit Hilfe des Fahrers stieg sie aufs Trittbrett und zwängte sich ins Wageninnere. Die Klimaanlage, so stellte sie fest, funktionierte auf erstaunlich einfache Weise; man kurbelte ein Fenster rauf oder runter. Sie hatte von Doktor Kley die Erlaubnis erhalten, ihren Arbeitsplatz früher als gewöhnlich zu verlassen, um ihren Patient bei seiner Ankunft in einem fremden
Milieu in Empfang nehmen zu können. Aber wenn sich der Taxidienst bis fünf Uhr nachmittags nicht entscheidend verbesserte, würde sich Amal ohne ihren professionellen Beistand in seiner neuen Umgebung zurechtfinden müssen. Das Taxi fuhr sie aus dem Geschäftsviertel heraus durch eine Gegend mit weißen Holzhäusern, die alle breite Veranden hatten und ein gutes Stück abseits der Straße auf Rasenflächen im Schutz von Bäumen lagen. Das Wohnviertel machte einen verschlafenen Eindruck. Unglaublich, aber man hatte ihr versichert, daß die Einwohnerschaft dieses Dorfes, wo man den Kalender auf 1930 zurückgedreht hatte, zu sechzig Prozent aus Menschen bestand, die dem einundzwanzigsten Jahrhundert den Rücken gekehrt hatten und auf Dauer hier lebten. Lyns Bestimmungsort lag eine halbe Meile jenseits der Stelle, wo die Straßenpflasterung aufhörte, an einem Weg, der sich zwischen Bäumen dahinschlängelte, einen Bach überquerte und dann nach Norden abbog. Hinter einer Hecke verborgen, wo nur ein Briefkasten auf die Lücke in dem undurchdringlichen Gestrüpp aufmerksam machte, und dort nochmals von einer Gruppe Myrtenbüsche und einem Seifenbaum verdeckt, lag das Haus der Emersons. Der Taxifahrer trug Lyns Koffer zur Veranda. Daß hier eine Geländersäule fehlte, störte nicht weiter an-
gesichts der Tatsache, daß das ganze Haus einen neuen Anstrich dringend nötig gehabt hätte. Aber die Emersons, vom Rattern des Taxis auf die Veranda gelockt, um ihre neue Mieterin zu begrüßen, schienen über die Schäbigkeit ihrer Residenz erhaben zu sein. Beide waren in den Fünfzigern, hochgewachsen und hatten schmale kantige Gesichter. Mrs. Emerson hatte ein schwarzes Kreppkleid mit langen Ärmeln an, und ihr Mann trug eine Arbeitslose und ein blaues Baumwollhemd mit hohem Kragen. Während ihrer Vorbereitungen auf den Besuch in Dotham hatte Lyn erfahren, daß die Emersons Literaturhistoriker waren, die kurz vor dem Ablauf ihres mit öffentlichen Geldern geförderten zweijährigen Forschungsaufenthalt in dem historischen Dorf standen. Sie hatten sich dem Studium der Ursprünge der Science Fiction verschrieben, einem unbedeutenden Auswuchs der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, der nach kurzem Höhenflug durch den wissenschaftlichen Fortschritt, der die romantischen Spekulationen des Genres zu drittklassigen Tatsachenreportagen herabwürdigte, wieder in der Versenkung verschwunden war. Der Anblick ihres Zimmers setzte Lyns Enttäuschung die Krone auf. Einen Teppich gab es nicht. Nur vor dem Bett, dessen Sprungfedern quietschten, wenn man sich auf die harte Matratze setzte, lag ein ovaler Vorleger. Die Wände wurden von einer Tapete
geziert, die eine einzelne Rosenknospe in einem endlosen Muster wiederholte. Ein Kleiderschrank war vorhanden, doch fehlte ein eigenes Bad. Der Spiegel über der Kommode warf ein verzerrtes Bild zurück. In einem vergeblichen Versuch, das Unmögliche möglich zu machen und dem Zimmer etwas Glanz zu verleihen, hatten die Emersons eine flache breite Vase mit einem Deckel in den Raum gestellt, aber nicht etwa auf die Kommode, sondern unters Bett. Nach der Inspizierung des Zimmers zeigte Mrs. Emerson Lyn die anderen Räumlichkeiten. In der Küche machte sie sie mit Dilsey, der Köchin, bekannt. Beim Anblick der Küche erreichten Lyns Gefühle einen neuen Tiefpunkt, und auch die übertriebene Herzlichkeit, mit der die Köchin den neuen Gast begrüßte, vermochte daran nichts zu ändern. Gekocht wurde auf einem Herd, in dem ein Holzfeuer brannte. Von einem Kühlschrank oder fließendem Wasser war nichts zu sehen. »Wo wird denn gebadet?« fragte Lyn Mrs. Emerson. »Im Sommer auf der hinteren Veranda, und im Winter in der Küche. Wir nehmen dazu den Waschbottich und holen uns das Wasser aus dem Brunnen, der gleich hier bei der Veranda ist.« Der Brunnen war von der Veranda aus leicht zu erreichen, aber die rund fünfzehn Meter Seil, die um
die Winde gewickelt waren, deuteten darauf hin, daß das Wasser alles andere als leicht erreichbar war. An den Werktagen würde sie vormittags in der Stadt arbeiten, erinnerte sie sich, und konnte somit in ihrem Apartment duschen. Über die viertägigen Wochenenden würde sie sich eben mit einem starken Parfüm hinweghelfen müssen. Lyn überblickte von der Veranda aus den Hinterhof. Jede weitere Frage nach sanitären Einrichtungen erübrigte sich. Deutlich sichtbar und ein gutes Stück von der Veranda entfernt stand ein Abort. Sie erkundigte sich, welche Vorkehrungen für den Fall getroffen worden seien, daß man in finsteren Nächten oder bei regnerischem Wetter auf die Toilette mußte. »Unter Ihrem Bett ist ein Nachtgeschirr«, sagte Mrs. Emerson. Aha, dachte Lyn, auf der Kommode wäre die Porzellanvase also schlechterdings fehl am Platz gewesen. Von einer dicht bewaldeten Gegend im Osten her drangen seltsam vertraute Quiek- und Grunzlaute an ihr Ohr, die sie zu der Frage veranlaßten: »Ist da hinten etwa ein Schweinestall?« »Allerdings«, verkündete Mrs. Emerson mit seltsamem Stolz. »Und ein Hühnerverschlag. Wir schlachten auch selbst.« Lyn starrte ausdruckslos zu dem Waldstück hin-
über. Der Mangel an Komfort, den sie im Laufe des Tages in zunehmendem Maße erfahren hatte, hatten ihre Enttäuschungen zu einem Berg anwachsen lassen, und der Schweinestall hinter dem Schuppen war nun der Gipfel. Wenig erquickende Düfte waren von dort zu erwarten. Ein Zephir aus dem Osten würde sich auf die romantischen Vorstellungen, die Amal hegen mochte, ziemlich desillusionierend auswirken. Trotzdem, wo ein Bad zu nehmen hier solche Umstände machte, würde sie am Ende eines ereignisreichen Wochenendes eine leichte Brise aus dem Osten als das kleinere Übel vielleicht sogar herbeiwünschen. Liebeswerbung war ein so langwieriger Prozeß im zwanzigsten Jahrhundert, dachte sie wehmütig. Vermutlich war man auf kleine Wunder und günstige Winde angewiesen. Mrs. Emerson schlug vor, ins Wohnzimmer zu gehen und es sich dort gemütlich zu machen, um einander näher kennenzulernen. Lyn folgte ihr durch einen Korridor mit knarrenden Dielen, setzte sich auf ein Pferdehaarsofa mit quietschenden Sprungfedern und lauschte dem Knarren von Mr. Emersons Schaukelstuhl, der am Fenster saß und den Sportteil der Zeitung las. Mrs. Emerson begann die Unterhaltung mit der Frage, was Lyn denn nach Dotham geführt habe.
»Ich bin Psychologin und möchte einem jungen Mann bei der Bewältigung seiner Probleme helfen. Ich hoffe, eine indirekte Therapieform anwenden zu können und ihn von seinen Problemen abzulenken. Was tut man in Dotham, um sich abzulenken?« »Mr. Emerson und ich haben unsere Arbeit. Für die jungen Leute gibt es die Gemeinschaftstreffen in der Kirche, Ballspiele, Filmvorführungen und natürlich die Rendezvous. Wenn Sie Ihren Gefährten bei uns unterhalten möchten, nun, wir haben ein Grammophon, falls er gern Musik hört. Bis zehn Uhr dürfen Sie sich im Wohnzimmer aufhalten, dann machen wir die Lampen aus. Anschließend können Sie sich auf die Schaukel auf der Veranda setzen, aber nur bis elf. Mr. Emerson und ich müssen unseren Schlaf bekommen. Natürlich ist da noch der Mühlteich, aber anständige Mädchen lassen sich nach halb elf nicht dort blicken.« »Wie kommt man zum Kino?« »Sie können den Bus drüben bei Johnny Reb's nehmen. Vernon und ich gehen selten hin. Der Fahrpreis nach Jitney plus Kinokarten für zwei macht zusammen siebzig Cents.« Lyn hatte Johnny Reb's auf der Herfahrt gesehen. Es war ein Holzhaus, das nur noch von den Reklameschildern aus Blech, die man in seine Wände genagelt hatte, zusammengehalten wurde. Es war eine halbe Meile entfernt, an der Stelle, wo die Straßenpflasterung aufhörte.
Die Niedergeschlagenheit mußte ihr vom Gesicht abzulesen sein, denn klar und deutlich drangen Mrs. Emersons Gedanken zu ihr durch: Armes Ding, sie ist so sehr auf Vergnügungen aus, daß sie sich der wirklichen Welt niemals anpassen wird. Lyn war verblüfft. Ihre Wirtin schien Dotham für real und Los Angeles für die Scheinwelt zu halten. »Mein Patient wird um fünf Uhr an der Bahnstation ankommen«, sagte Lyn mit einem Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. »Ich denke, ich rufe am besten ein Taxi und hole ihn ab.« »Das wäre Verschwendung«, sagte Mrs. Emerson. »Das nächste Telefon ist an der Bushaltestelle. Der Anruf kostet einen Nickel, und das ist genau der Preis für eine Busfahrt in die Stadt.« »Mist! Mist! Mist!« Lyns Ausruf rüttelte Mr. Emerson wach. Er schaute von der Zeitung auf und fragte: »Wo wohnt Ihr Patient, Miss Oberlin?« »Auf der Culpepperfarm.« »Die ist nur eine halbe Meile von hier entfernt. Wenn er nicht gerade gehbehindert ist, kann er den Weg in fünfzehn Minuten zurücklegen.« Vermutlich hatte Mr. Emerson recht. Amal sollte sie um sieben Uhr abholen, aber so, wie die Dinge lagen, würde es nun wahrscheinlich halb acht werden. Vielleicht war es nur gut. Wenn Amal einen Vorge-
schmack von der primitiven Lebensweise erhielt, würde er sein Liebeswerben vielleicht beschleunigen, um so rasch wie möglich wieder in die Zivilisation zurückkehren zu können. Lyns düstere Stimmung hellte sich ein wenig auf, als Dilsey hereinkam und ihnen Schälchen mit selbstgemachter Eiscreme und Kekse servierte. Mr. Emerson legte die Zeitung beiseite, nahm seine Portion entgegen und beteiligte sich auch an der Unterhaltung, die gemäß den Vorschriften der Historischen Gesellschaft jedes Thema vermied, das sich auf Ereignisse nach 1934 bezog. In der entspannten geselligen Atmosphäre – draußen auf dem Seifenbaum sang sogar eine Spottdrossel – gestand sich Lyn ein, daß die mädchenhafte Vorfreude auf ein Abenteuer, mit der sie hierher gekommen war, ihrem Beruf unangemessen war und daß die Enttäuschungen allesamt der Frau in ihr, nicht der Therapeutin, widerfahren waren. Sie hatte Amals falsche Erinnerung kurzerhand als Déjà-vu-Phänomen eingeschätzt. Doch der Song ›Begin the Beguine‹ hatte auch über die Jahre hinweg eine gewisse Popularität behalten. Wahrscheinlich hatte Amal den Titel irgendwann einmal gehört und dann schlicht und einfach vergessen. Sein Hauptproblem war seine Schüchternheit, und dem konnte durch eine enge Beziehung zu einer verständnisvollen Therapeutin begegnet werden.
»Ich habe eben in der Zeitung gelesen, Emily«, sagte Mr. Emerson, »daß Babe Ruth behauptet, er würde dies Jahr wieder sechzig Treffer erzielen.« »Wer ist Babe Ruth?« Beide lächelten über ihre naive Frage. »Babe Ruth ist der beste Baseballspieler aller Zeiten«, sagte Mr. Emerson. Lyn dachte an Yosemite und an den Namen, den sie und Amal dem Auskunftscomputer eingegeben hatten, ›Baby Ruth‹. Die falsche Silbe in dem Wort, für einen Mensch ohne jede Bedeutung, hatte die Maschine vor ein unlösbares Problem gestellt und die Eingabe unlesbar gemacht. Die Vorstellung, ein irakischer junger Mann könnte jemals von einem amerikanischen Athleten gehört haben, der eine Sportart betrieb, die im Irak praktisch unbekannt war, war ebenso unglaubwürdig wie die Annahme, eben dieser junge Mann könnte eine Erinnerung an ein Amerika der Vergangenheit besitzen. Wie es schien, mußte sie sich nun erneut Amals fixer Idee zuwenden und sie auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüfen. Während ihr diese Gedanken durch den Kopf gingen, hörte man von Norden her das Motorgeräusch eines Autos, und Mr. Emerson meinte, als er aufstand, um ans Fenster zu gehen: »Den vorbeifahrenden Autos zuzuschauen, gehört auch zu unserem Zeitvertreib.«
Lyn hatte großes Interesse an altertümlichen Automobilen. Sie stand auf und ging an die Tür mit dem Fliegengitter. Nördlich des Heckenzauns vor dem Haus war ein Streifen Ackerland, der den Blick auf die Straße freigab, so daß man herankommende Fahrzeuge gut beobachten konnte. Der Wagen kurvte um eine Baumgruppe und geriet in ihr Blickfeld. Es war ein Sportwagen mit zurückgeschlagenem Verdeck und Speichenrädern. Ein ästhetisches Fahrzeug, alles was recht war, dachte Lyn und sah neidisch auf den Fahrer. Trotz der Wollmütze, die dieser tief in die Stirn gezogen hatte, erkannte sie Amal. Mit einem Satz war sie zur Tür hinaus und eilte auf die Landstraße zu. Der Wagen verschwand inzwischen hinter der Hecke und hielt beim Briefkasten der Emersons. Noch bevor er den Motor abgestellt hatte, war Lyn am Straßenrand und rief: »Wo hast du denn den her?« Amal, in Blue jeans und einem buntkarierten Hemd, kam mit stolzer Besitzermiene um das Auto herum und gab ihr die Hand. Da er sich zu einer herzlicheren Begrüßung offenbar nicht hinreißen ließ, gab sie sich mit dem Händedruck zufrieden. Ihr Blick glitt immer noch staunend über die großen Scheinwerfer, die vorragende Stoßstange, das Chromzeug und den glänzenden roten Lack.
»Ich habe ihn in Dotham gekauft«, sagte er. »Es ist ein Essex, Modell A, mit einer V-8-Maschine. Auf der Dothamer Rennbahn bringt er es auf neunzig Kilometer pro Stunde. Hast du Lust, ihn zu fahren?« »Ich brenne darauf«, erwiderte sie. »Aber du mußt erst die Emersons kennenlernen. Mr. Emerson hat vorhin eine hochinteressante Bemerkung gemacht. Der Name aus dieser Ära, an den du dich erinnert hast, lautet ›Babe‹, nicht ›Baby Ruth‹.« »Nein«, widersprach er, während sie auf das Haus zugingen. »Es war Baby Ruth, der Name einer Bonbonsorte. Ich habe welche in der Bahnstation entdeckt. In meinem früheren Leben waren es meine Lieblingsbonbons.« Er sagte es, ohne zu lächeln. Sie stiegen die Stufen zur Veranda hinauf, wo die Emersons warteten. »Wie gefällt es Ihnen in Dotham?« war Mr. Emersons erste Frage. »Größte kleine Stadt auf der Welt«, entgegnete Amal mit so schwärmerischem Tonfall, daß Lyn entsetzt war. »Ich war kaum eine Stunde hier, und schon traf ich den Bürgermeister und kaufte ihm ein Auto ab ... Was halten Sie von einer kleinen Spazierfahrt?« Sein Angebot war an sie alle gerichtet, und er hatte Mrs. Emerson beim Sprechen angesehen. »Aber mit dem größten Vergnügen«, erwiderte sie und dachte: er ist einer von uns, und sein Übermut ist
richtig erfrischend nach der Trübseligkeit des Mädchens. Er war wirklich übermütig, dachte Lyn. Zu übermütig. Es war eine Facette seiner Persönlichkeit, die sie bisher nicht an ihm beobachtet hatte, und war wahrscheinlich als Überkompensation seiner Schüchternheit zu deuten. Mrs. Emersons gehässiger Vergleich kümmerte Lyn nicht. Ihre scheinheilige, jeden Pfennig zweimal umdrehende Vermieterin war auch kein Musterbeispiel an Frohsinn. »Allerdings wäre es mir lieber, Sie fahren nicht schneller als zwanzig, wo doch Mutter im Wagen ist«, sagte Mr. Emerson. »Keine Sorge«, beschwichtigte ihn Amal mit einer selbstsicheren Geste. »Ich fahre ganz vorsichtig. Ich werde mir immerzu vor Augen halten, daß das Leben, das ich schütze, vielleicht das meiner Ururgroßmutter ist.« Amals Bemerkung bewegte sich dicht am Rand von Tabuzonen, Emerson grinste jedoch. »Mir scheint, Sie waren bei Johnny Reb.« Emerson dachte: nicht ohne von seinem schwarzgebrannten Schnaps zu kosten. Lyn las den Gedanken deutlich, konnte jedoch nichts damit anfangen. Amal hatte in der hiesigen Umgangssprache schon weitaus größere Fortschritte gemacht als sie, wie sie sich eingestehen mußte. Im
Gegensatz zu ihr schien er zu verstehen, worauf Emerson mit seiner Bemerkung anspielte. »Ganz recht, Sir! Und ich kann Ihnen sagen, der gute alte Johnny und ich kommen prima miteinander aus.« Plötzlich wandte Amal seine Aufmerksamkeit Lyn zu. In onkelhafter Manier legte er ihr den Arm um die Schultern und drückte sie mit scheinbarer Ungezwungenheit an sich; ebenfalls eine Handlung, die offensichtlich seine Schüchternheit verbergen sollte. Er hatte sich das Gesicht sogar mit einem aufdringlich riechenden Rasierwasser eingerieben, wie sie feststellte. »Wir müssen heute abend unbedingt in Die rothaarige Frau gehen, Schatz. In der Spielhalle hat man mir gesagt, daß es ein heißer Film ist und daß Jean Harlow es wirklich ›drauf‹ hat.« »Was hat sie ›drauf‹?« fragte Lyn. Amal schlug sich mit gespielter Verzweiflung an die Stirn. »Schatz, haben sie dir in Biologieunterricht denn rein gar nichts beigebracht?« Die Emersons lachten. Offenbar war es ein Scherz, den nur Eingeweihte verstanden. »Du scheinst ja schon ganz schön herumgekommen zu sein«, sagte Lyn. »Wann bist du angekommen?« »Heute früh. Ich hörte, daß in Alabama schwere Zeiten herrschen. Also dachte ich mir, komm früh her
und bring ein bißchen Regierungsgeld unter die Leute. Da habe ich eben das Auto gekauft. Wir wollen doch nicht, daß du auf dem Land hier versauerst und vor lauter Langeweile vielleicht noch die Schweine fütterst.« Er drückte sie enger an sich. »Ich wußte doch, daß mein kleines Mädel keine Lust hat, dauernd in billigen Kneipen herumzuhocken.« Sein angeberisches Getue diente dazu, seine Unsicherheit vor den Emersons zu verbergen. Doch obwohl sie wußte, daß seine Selbstsicherheit nur Fassade war, hatte sich Lyn noch nie so sehr auf jemand angewiesen gefühlt. Es war ein widerwärtiges Gefühl – und sie genoß es. Amal schien in diese Zeit und Umgebung hineingeboren zu sein. Schon an ihrem ersten Wochenende spielte er in der Dothamer Baseballmannschaft mit und entschloß sich, den geplanten Aufenthalt um eine Woche zu verlängern, um mit seinem Essex an dem Rennen für Serienwagen auf der Sandbahn südlich von Dotham teilzunehmen. Noch bevor ihre erste Woche halb verstrichen war, wurde er zu einer örtlichen Sagengestalt – anzusiedeln irgendwo zwischen Diamanten-Jim und John L. Sullivan –, indem er bei Johnny Reb's einen jungen Burschen zusammenschlug und ihm anschließend die Arztkosten erstattete. Unter seinesgleichen war Amal unbekümmert,
hitzig und angesehen. Als Lyns zukünftiger Liebhaber konnte er keine Fortschritte aufweisen. Auf Drängen der Clique in der Eisdiele, die zugleich als Tanzsaal, Bumslokal und Wettbüro für die Autorennen diente, schlossen sie sich der Baptistenunion für junge Leute an. Aus Gesprächen mit anderen Mädchen, in denen immer wieder die Wendung ›die Reinheit der Frauen des Südens‹, wie es in der Öffentlichkeit vorsichtig umschrieben wurde, auftauchte, erfuhr Lyn, daß Amal selbst nach Dothamer Maßstäben ein langsamer Werber war. Nach ihrer dritten Verabredung hätte er ihr einen Gutenachtkuß geben müssen. Nach ihrer vierten hatte er ihr noch nicht einmal zum Abschied die Hand gereicht. Als die Emersons die Lampen ausbliesen, wünschte Amal ihr eine gute Nacht und machte sich eilig davon. Den Fortschritten nach zu urteilen, die er während ihres ersten Wochenendes gemacht hatte, würden sie den Mühlteich schätzungsweise zu Beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts erreichen, dachte Lyn. Trotzdem, Amals Enthusiasmus riß sie mit, und allmählich gewöhnte sie sich an harte Betten und fand sogar Gefallen am Lichtschein von Kerosinlampen. Er kaufte ihr eine Grammophonplatte von Elmer Pressley, der zur Gitarrenbegleitung von Bix Beiderbecke das ›Heartbreak Hotel‹ sang. Es wurde zu ›ihrem Lied‹, wenn auch mehr zu Lyns als zu Amals.
Sein Lieblingslied war das Brausen von Automobilen auf der Sandbahn. Durch körperliche Betätigung – sie wischte ihr Zimmer selbst auf, half Dilsey beim Abwasch, fuhr Amals Wagen, der keine Servolenkung besaß – wurde sich Lyn mehr und mehr ihres Körpers bewußt. Die Mädchen aus der Baptistenunion machten sie auf die Reize ihres Körpers aufmerksam. Sie zeigten ihr, wie man das Becken leicht nach vorn stieß, wenn man sich mit einem jungen Mann unterhielt, und wie man seinen Verehrer mit dem Oberschenkel streifte, wenn man neben ihm herging. Beides galt als Signal näherzukommen. Doch nützte ihr das wenig, denn Amal konnte sie nicht mit dem Oberschenkel streifen. Im Gegensatz zu seinen Altersgenossen hielt Amal auf Distanz, wenn sie den Weg vom Kino zur Eisdiele gingen. Wenn Lyn sich ihm näherte, wich er bis zur Bordsteinkante zurück, und ihre Selbstachtung ließ es nicht zu, daß sie ihn dann weiter bedrängte. Amals Theorie epikureischer Zurückhaltung erwies sich als richtig, wie sie an dem Glitzern in seinen Augen und an seiner Lebhaftigkeit feststellen konnte. Unglücklicherweise hatte die Theorie ihre Kehrseite. Die Katzen saßen auf dem Wellblechdach, und die Sonne ging langsam auf, aber die Katze, der es am schnellsten zu heiß wurde, war immer noch die Mieze.
Am Mittwoch, am ersten Tag ihrer zweiten Woche in Dotham, nahm sich Amal seine Altersgenossen immerhin soweit zum Vorbild, daß er sich bei ihr unterhakte, als sie nach dem Film im Imperium noch spazierengingen. Zur Belohnung für die Heldentat streifte ihn Lyn herausfordernd mit dem Oberschenkel. Donnerstagabend, als die Emersons das Licht schon ausgemacht hatten, blieb er noch und führte sie auf die Veranda, jedoch nur, um mit ihr ungestört ein Thema zu besprechen, das für dieses Zeitalter tabu war. Seinem Bericht von ›Mein Tag in den Mohos‹ zufolge erhielt er jetzt erste Meßergebnisse von den Belastungssensoren, die er an den unterirdischen Verwerfungslinien angebracht hatte. Schließlich gingen sie zum Wagen, der hinter der Hecke geparkt war. Lyn war in leicht erregter Stimmung, zu der wohl auch die Dunkelheit einen Teil beigesteuert hatte, und als er ihr zum Abschied die Hand reichte, fiel sie ihm spontan um den Hals und gab ihm einen kurzen Kuß. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen, drehte Amal sich um und ging zum Wagen. Er machte jedoch nicht die Tür auf, um einzusteigen, sondern setzte mit einem Sprung über sie hinweg. Während Lyn durch die Dunkelheit zurück zum Haus schlenderte, dachte sie über diese seltsame Liebesbeziehung nach. Sie spürte, daß es ihn dazu
drängte, sie zu liebkosen, aber seine psychischen Barrieren waren zu stark, als daß er sich über sie hinwegsetzen und seinem Naturell freien Lauf hätte lassen können. Doch war der schüchterne Bursche des zwanzigsten Jahrhunderts zugleich auch ein schlagfertiger Cal-Tech-Student aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Entweder sollte er endlich zugreifen oder seinen Platz am Bankett räumen. Am nächsten Abend zog es sie wieder auf die Veranda. Lyn ließ sich in der Schaukel nieder, während Amal dastand und ihr Gedichte aus einem Buch vorlas, das er mit einer Kerze beleuchtete. Die erste Ballade, die er ihr vortrug, war ›Gunga Din‹. Sie war versucht, ihm nahezulegen, sich zusätzlich zu dem Buch und der Kerze doch noch eine Schelle zu beschaffen, doch wäre eine Leier hier wohl angebrachter gewesen. Seine Werbemethoden waren die eines antiquierten Minnesängers und hinkten selbst denen des zwanzigsten Jahrhunderts um vierhundert Jahre hinterher. Einen modernen Liebhaber aus ihm zu machen, brauchte mehr als psychologische Betreuung; hier war eine psychiatrische Behandlung dringend erforderlich. Während der zweiten Woche ihres Aufenthalts im Dorf machte Lyn die Feststellung, daß ihr die barockhafte Schachtelbauweise Dothams mittlerweile besser gefiel als die Einförmigkeit der Kunststofftürme von
Los Angeles. Das einzige, was sie an der Stadt noch fesselte, war die Tatsache, daß sie an den drei Tagen in der Woche, wo sie dort arbeiten mußte, duschen konnte, ohne sich erst heißes Wasser machen zu müssen. Hinzu kam, daß sie durch den ständigen Kontakt zu den Einwohnern von Dotham ein immer lebhafteres Interesse an Menschen entwickelte. Mrs. Emerson hatte eine Passion für eine bestimmte Sorte Romane, die sie allerdings vor ihrem Mann geheimhielt, weil sie seine Mißbilligung fürchtete. Ihrer Wirtin auf die Schliche gekommen, machte Lyn es sich zum Hobby, die Romane ins Haus zu schmuggeln. Und da sie in ihrem Zimmer versteckt gehalten wurden, las sie sie auch durch, um sich eingehender über die Moralvorstellungen des Zeitalters zu informieren. Gebannt las sie von den traurigen Schicksalen von Mädchen, die gesündigt hatten. Leider fiel es Lyn angesichts Amals Zaghaftigkeit schwer, sich mit den sündigen Romanheldinnen zu identifizieren. An ihrem zweiten Freitag küßte Amal sie. Durch ein überlanges Gedicht, das er ihr vorgelesen hatte, hatten sie die erlaubte Zeit überschritten. Als sie auf der Veranda standen und einander gute Nacht sagten, pochte Mr. Emerson, der auf strikte Einhaltung der Hausordnung bestand, heftig gegen das Schlafzimmerfenster. Durch das Geräusch zur Eile getrieben, beugte Amal sich vor und küßte sie. Ihre Lippen
berührten sich nur ganz kurz, denn Amal zog sich sofort wieder zurück. Wenn auch unter Zeitdruck ausgeführt, war es immerhin sein erster Kuß. Er berührte sie jetzt des öfteren, wenn sich eine Gelegenheit bot, und schien den Kontakt mit ihr zu suchen, aber Lyn fing an, ihn abzuwehren. Sie fühlte sich weit weg von der Zivilisation und konventionellen Umgangsformen. Jener nebulöse Begriff, ›die Reinheit der Frauen des Südens‹, und die Warnungen vor den Fallgruben der Liebe, von denen sie in den Romanen gelesen hatte, beeinflußten mehr und mehr ihr Denken. Sie suchten gemeinsam dem Mühlteich auf, aber zur Mittagszeit. Sie überdachte noch einmal die innere Einstellung, mit der sie nach Dotham gekommen war, und im nachhinein erschien sie ihr erschreckend. Sie hatte gedacht wie eine Jezabel. Nun reifte in ihr der Entschluß heran, sich wie die achtbare Frau, die sie ja war, zu benehmen und nicht wie irgendein dahergelaufenes Flittchen. Während Amal Fortschritte machte, machte Lyn Rückschritte. Am Sonntag des zweiten Wochenendes umarmte er sie beim Gutenachtkuß und versuchte sogar, ihren Hals zu küssen. Sie stieß ihn von sich. Lächelnd, aber in leicht vorwurfsvollem Tonfall, sagte er: »Hätten wir Welten genug und Zeit, Gnä-
digste, kein Frevel wäre Eure Sprödigkeit. Aber wir haben nur noch eine Woche.« »Ich bin nicht spröde, Amal. Und jetzt gehst du wie ein braver Junge schön nach Hause und schläfst diesen wilden Ausbruch von Leidenschaft aus. Verstanden?« Obwohl sie es in leicht scherzhaftem Tonfall sagte, war es Lyn völlig ernst. Nicht Sprödigkeit, sondern komplexere Motive hatten sie veranlaßt, Amals ersten ernstgemeinten Versuch, eine Mann-Frau-Beziehung zwischen ihnen herzustellen, abzuwehren. Sein Benehmen, sein Anstand, seine ständig wechselnden und vielfältigen Stimmungen schlugen sie, vielleicht noch verstärkt durch sein mangelndes Selbstvertrauen, in den Bann; doch sein messerscharfer Verstand, der ihrer Fähigkeit, Gedanken zu lesen, noch immer widerstand, jagte ihr Angst ein. Obwohl er Student der Naturwissenschaften war, besaß er eine Wortgewandtheit und Gabe zur Metapher, um die ihn ein Dichter beneidet hätte. Sein mathematisches Begriffsvermögen war dem ihren so sehr überlegen, daß er aus Freundlichkeit darauf verzichtete, das Thema anzuschneiden. Angesichts all dessen und des Geheimnisses der grünen Kreditkarte sah sie in Amal einen zweiten Pan, der sie mit seinem Flötenspiel in Gefilde locken konnte, die zu betreten sie Angst hatte. Sie befürchtete, sie
könnte zum weiblichen Anhängsel einer dominierenden Persönlichkeit werden, die sie verzauberte und die dann vielleicht für immer aus ihrem Leben verschwand und sie in einer trostlosen Einöde zurückließ, in der kein Strauch wuchs und kein Vogel sang. Sie wollte keine Liebesbeziehung mit diesem prachtvollen jungen Mann eingehen, sagte sie sich, und sie nahm sich vor, seinen Überredungskünsten auf keinen Fall nachzugeben – falls es jemals dazu kommen sollte. Im Grund paßten sie auch gar nicht zueinander, sagte sie sich, und dachte an das eine Gebiet, auf dem sie in intellektueller und kenntnismäßiger Hinsicht annähernde Parität erreichten: die Epik. Sie bevorzugte Liebesgedichte, Amal Schauspiele, klassische Literatur, Heldengedichte, Lyrik und Erzählungen. Das eine Liebesgedicht, das er ihr immer wieder gern vortrug, war ›Das Rubaiyat des Omar Khayyam‹, aber er kannte nur die arabische Fassung. Sein Lieblingsgedicht war ›Invictus‹, und er verlieh auch seinem eigenen Trotz Ausdruck, wenn er die Zeilen vorlas: Ich bin der Herr meines Schicksals, Ich bin der Kapitän meiner Seele. Diese Zeilen standen für einen Konflikt, der sich zwischen ihnen entwickelte. Amal hatte ein altmodisches Mädchen haben wollen, das sich an die Anstands-
formen des zwanzigsten Jahrhunderts hielt. Nun hatte er sein altmodisches Mädchen, falls er jemals den Mut aufbrachte, seinen Anspruch geltend zu machen. Aber ein altmodisches Mädchen band sich nicht an einen jungen Mann, bevor es nicht Herrin ihrer beider Schicksale war. Als ihre Zeit mit Amal in Dotham dem Ende zuging, übersah Lyn in ihrem Dilemma eine Tatsache, die ihr früher bewußt gewesen war. Ihr schüchterner Lochinvar aus dem Nahen Osten war zugleich ein schlagfertiger Cal-Tech-Wissenschaftler mit einer grünen Kreditkarte und einem Instinkt für altmodische Anstandsregeln. An ihrem, der Absprache zufolge, letzten Samstag in Dotham sah Lyn ihren ›Möchtegern-Liebhaber‹ einen Ball schlagen, der einen das Spiel entscheidenden Homerun ermöglichte. Kurz zuvor hatte er vergeblich versucht, sie zu überreden, noch eine Woche auf seine Kosten im Dorf zu bleiben, um ihm bei dem Autorennen zuzusehen. Man feierte den Sieg im Johnny Reb's, und als es elf vorbei war, fuhr Amal sie nach Hause und verabschiedete sich schlicht mit einem Gutenachtkuß. Als sie auf der harten Matratze lag und in Gedanken noch einmal auf ihren Aufenthalt in Dotham zurückblickte, dachte Lyn traurig, daß der HomerunSchlagmann auf ihrem Spielfeld nicht einmal das erste Mal erreichen konnte.
Am Sonntagabend um halb elf übergab Amal ihr am Ufer des alten Mühlteichs einen Diamantring im Wert von 3000 Dollar (alte Währung). Plötzlich begann ein neues Spiel.
4 Obwohl sie eine amtliche Bescheinigung der Eugenikbehörde besaß, zwei steuerfreie Kinder bekommen zu dürfen, hatte Lyn niemals ernsthaft an Heirat gedacht. Nicht nur, weil die Gedankenwelt der meisten Männer für sie ein aufgeschlagenes und schlechtgeschriebenes Buch, entweder langweiliger oder pornographischer Natur war, sondern weil die Geschichte gegen die Familie als soziale Organisationseinheit sprach. Im einundzwanzigsten Jahrhundert hatte das Bevölkerungswachstum einen Wert erreicht, der zu einem ›Bevölkerungsabfluß‹ führte, eine paradoxe, jedoch treffende Bezeichnung. Das Zusammenleben auf engstem Raum hatte eine Massenpsychose ausgelöst, und der Kampf um Lebensraum hatte die Leichenberge in Austerlitz, Waterloo, Wien und im Vatikan hoch anwachsen lassen. Besonders im Vatikan, wo man den Sankt Petersdom dem Erdboden gleichgemacht hatte. Der Funke, der den Massenmord entfachte, ging von Familien aus, die dicht zusammengedrängt in Etagenhäusern wohnten. Auf den Bürgersteigen vor diesen Häusern war man sich bald seines Lebens nicht mehr sicher, denn ständig fielen Leute herab; anfangs in der Regel die alten und schwachen
Familienmitglieder, später dann auch die jungen und hilflosen. Mord wurde zur Familienangelegenheit, zu einem faktisch nicht bestrafbaren Vergehen, denn Gerichte und Polizei waren hoffnungslos überlastet. Hinzu kam eine justitiarische Befangenheit; ein Richter, der bei einer Verhandlung gegen eine Mutter, die des Kindesmordes angeklagt war, den Vorsitz führte, mochte am gleichen Morgen die eigene Schwiegermutter ins Jenseits befördert haben. Über die Gesetze gegen Euthanasie wurde gelassen hinweggesehen, und Morde dieser Art wurden als De-facto-Familienangelegenheiten behandelt. Rund ein Jahr ließen sich die erhitzten Gemüter auf diese Weise besänftigen; allerdings nahmen die nationalen Heiligtümer Familie und Mutterschaft schweren Schaden dabei. Die Natur hatte tastend ihre Finger vorgestreckt, um zur Lösung des Bevölkerungsproblems beizutragen. Gegen 2030 schätzte man den Anteil der Homosexuellen an der Bevölkerung auf vierzig Prozent; aber selbst die sanftesten Gemüter wurden zu Bestien, wenn man sie zu sechs oder zu acht in ein Zimmer pferchte und sie zwang, in Schichten zu schlafen. Dann, ganz unvermittelt, wies die Natur den Weg zur endgültigen Lösung des Problems. Aus innerfamiliärer Gewaltanwendung entwickelte sich eine allgemeine Mordlust, und die häuslichen ›Zwistigkeiten‹ griffen auf die Straßen über.
In New York City, am 18. Mai 2034, morgens um 9.17 ging ein Mann aus Stamford am Madison Square um die Ecke und bog nördlich in die Fünfte Straße ein, wo er mit einem Jugendlichen zusammenprallte, der aus entgegengesetzter Richtung angelaufen kam. Der Jugendliche trat zurück, entschuldigte sich und sprang dem Pendler an die Kehle. Der Mann aus Stamford, ein angehender Karateschüler, brachte den Jugendlichen sofort mit einem Handkantenschlag gegen den Hals um. Einige Passanten hatten nur gesehen, wie der Jugendliche abgeschlachtet worden war, und schickten sich an, auf den älteren Mann loszugehen. Doch auch dieser hatte Sympathisanten unter den Fußgängern, die gesehen hatten, daß er zuerst angegriffen worden war. Es wurde Partei ergriffen. Eine Rauferei begann, die auf das ganze Stadtviertel übergriff. Eine unkontrollierte Kettenreaktion wurde ausgelöst. Manhattans menschliche Atombombe ging hoch. Fernsehkameras wurden eilig an den Ort des Geschehens gebracht. Ein Kamerateam, das die Enten im Central Park in einer Direktübertragung für ein Vormittagsprogramm für zu Hause eingesperrte Kinder filmte, wurde binnen kurzem von der kämpfenden Menge aufgesaugt. Die gewalttätigen Szenen, die nun über den Bildschirm liefen, hatten eine so ansteckende Wirkung, daß Kinder in einem Bronxer
Pflegeheim, die die Sendung verfolgten, sich gegenseitig das Frühstücksgeschirr an die Köpfe warfen. Bald hing alle Welt vorm Fernseher, doch betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines Kamerateams nur fünfundvierzig Minuten. Nach drei Stunden brachen alle Radio- und Fernsehübertagungen ab. Die Telefonzentrale der Stadt nahm keine Anrufe mehr entgegen – das Personal hatte sich dem kämpfenden Mob auf den Straßen angeschlossen. Flugzeuge landeten in der Stadt und Linienbusse fuhren hinein; heraus kamen keine. Ein dichter Schleier des Schweigens legte sich über New York. In der Außenwelt wartete man auf Neuigkeiten und wurde langsam nervös. Was geschah in New York? Später dann füllten Augenzeugenberichte die Wissenslücke. In Lyns Geschichtsbuch fand sich ein Bericht einer Überlebenden, der von einer Gemütsruhe zeugte, die sie entsetzte. Nach dem anfänglichen mörderischen Haß verließ mich die Wut. Ich kämpfte nicht mehr, um aufgestaute Frustrationen loszuwerden, sondern für eine bessere Welt. Nach meinem Glauben war mein Tun verdammenswert, und mir war klar, daß meine Seele rettungslos verloren war, aber mein Schicksal war mir jetzt gleichgültig. Ich sah die bessere Welt, für die ich kämpfte, greifbar vor Augen, als ich meine Widersacher niedermachte.
Es ist gar nichts Unnatürliches an einem Toten; er liegt einfach schlaff da, und die Sache ist ganz harmlos. Trotzdem, wir mußten das Kampffeld freimachen. Die Taxifahrer, die die Leichen entfernten, und die Planierraupenfahrer, die Gräben in den Parks aushoben, wurden von allen in Ruhe gelassen. Um Verletzte brauchten wir uns nicht zu kümmern, denn wer einmal am Boden lag, für den war es aus. Und nach zwei Stunden Kampf brauchte niemand mehr zu hungern. Das Angebot der Restaurants war überreichlich. Es entwickelte sich rasch ein Tötungskodex; man suchte sich Gegner desselben Geschlechts, derselben Körpergröße und Altersgruppe. Wer sich nicht daran hielt, lief Gefahr, sofort von anderen Gruppen in der Nähe ausgelöscht zu werden. Es war eine spontane Bürgerinitiative unter dem Motto: »Du atmest meine Luft. Hör auf damit!« Ein Sieger konnte sich natürlich einem kurzen Triumphgefühl hingeben – es ging ja um hohe Einsätze – , und der Verlierer erfuhr nie, daß er unterlegen war. Meine Methoden waren zwar improvisiert, aber höchst wirkungsvoll. Und da ich ein religiöser Mensch bin, vergaß ich nie, für jede meiner Gegnerinnen ein kurzes Gebet zu sprechen. Ich benutze immer eine Finte. Ich ging mit einer Schere in der Rechten auf ihre Augen los, und wenn die Frau dann
schützend die Arme vors Gesicht hielt, stach ich ihr mit einem Stilett in der linken Hand in die Brust. Wissen Sie, ich bin Linkshänderin, und in Friedenszeiten war ich Krankenschwester. Meine anatomischen Kenntnisse waren mir sehr nützlich. Als es vorbei war, fühlte ich mich ... nun ja, friedfertig und wie von einer Last befreit. Fünf Tage nach dem Beginn des Massakers rollte ein mit Fernsehkameras beladener Laster unbehindert durch die Straßen von Manhattan. Die Szenen, die aufgenommen wurden, erreichten eine gespannt wartende Welt. Männer und Frauen auf fast menschenleeren Gehwegen winkten mit freudestrahlenden Gesichtern den Kameras zu. Im Central Park war der Lenz eingekehrt, und Arbeiter säten bereits wieder Rasen auf den Massengräbern aus. Eine Bevölkerung von sechzehn Millionen Menschen war auf vier Millionen reduziert worden, und die Stadt war zu neuem Leben erwacht. Sozialwissenschaftler, Experten auf dem Gebiet der Massenpsychologie, behaupteten, das Fernsehen wäre für den Ausbruch des weltweiten Massakers verantwortlich gewesen. Eine wenig fundierte These, da zu dem Zeitpunkt, als in Rio de Janeiro die Kämpfe ausbrachen, gerade die friedlichen Szenen über den Bildschirm liefen. Vier Tage lang wütete der Tod
rund um den Erdball. In einigen wenigen Städten wurden auch Sachwerte zerstört. Nur Los Angeles, wo Feuer und Prunk Tradition waren, wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und aus der Asche wuchsen dann die Bäume und Türme empor. Die Massenvernichtung prägte sich den Menschen tief im Bewußtsein ein und führte in der Folge zur Veränderung überkommener Erziehungsmethoden. Man erkannte, daß Kinder großzuziehen sehr viel Verständnis und Zuwendung erforderte; Eigenschaften, die nur wenige Menschen in ausreichendem Maße besaßen. So entstand das System der ›Berufsmütter‹. Man wählte Frauen mit ausgeprägten mütterlichen Instinkten, gütigem Wesen und breiten Becken aus, die sich die befruchteten Eizellen von Frauen einpflanzen ließen, die Unwillens waren, ihre Kinder selbst zur Welt zu bringen, und die den ›Ersatzkindern‹ Fürsorge und Erziehung angedeihen ließen, bis diese das schulpflichtige Alter erreichten. Grundstein einer Ehe war in der Regel ein gemeinsames Interesse, wie etwa das der Emersons an Science Fiction. Romantische Liebe wurde allgemein als ein zu instabiler Faktor angesehen, um die Grundlage für eine Ehe zu bilden. Psychologen wußten jedoch aus ihrer Praxis von Fällen zu berichten, wo eine ›Liebesheirat‹ Quelle fortdauernden Glücks gewesen war. Lyn wußte von solchen Fällen und konnte sich
deshalb nicht mit ihrem Argument, Amal und sie paßten nicht zueinander, zufriedengeben. Als Amal am Sonntagabend zu den Emersons zum Essen kam – Dilsey hatte es traurig ›das letzte Abendmahl‹ genannt –, wirkte er verdrossen und in sich versunken, und Lyn hoffte, daß sich darin Kummer über ihre Abreise oder wenigstens Bedauern über sein Versagen als Liebhaber widerspiegelte. Kurz nach neun zogen sich die alten Herrschaften zurück. Amal hatte eine knappe Stunde im Wohnzimmer und eine weitere Stunde auf der Veranda, um sie zu umwerben. Lyn wußte, daß seine Lage hoffnungslos war. Er konnte in knapp zwei Stunden nicht aufholen, was er in drei Wochen versäumt hatte; auch dann nicht, wenn er allen Mut zusammennahm und ihr mit jener ungestümen Impulsivität begegnete, die ihn bei anderen so beliebt machte. Offenbar war er auch gar nicht in der Stimmung dazu. Lange Minuten saßen sie in verdrossenem Schweigen da und schmiegten die Hände eng aneinander, so als fröstele ihnen vor dem bevorstehenden Abschied. Schließlich meinte er in halb entschuldigendem, halb vorwurfsvollem Tonfall: »Vielleicht, wenn ich mehr Anleitung von dir gehabt hätte, Lyn?« »Kolumbus hatte auch keinen Navigator«, erinnerte sie ihn. »Wenn du der Kapitän bist, steuerst du das Schiff.«
»Du warst mein Sargassomeer«, sagte er. Wenn sie sich recht entsann, war das Sargassomeer eine Meeresgegend, wo sich altertümliche Schiffe immer im Seetang verfangen hatten. Sie warf verächtlich den Kopf zurück. »Ich habe deinen Anker nicht angerührt – Herr Kapitän. Du hättest nur ein bißchen Mut haben müssen.« »Oder eine entgegenkommende Mannschaft.« »Du wolltest ein altmodisches Mädchen – du hast es bekommen.« »Komplett mit allen Hemmungen«, pflichtete er ihr bei. »Behauptest du etwa, ich wäre zaghaft?« »Bist du's nicht?« »Natürlich nicht.« »Dann mußt du es auch beweisen«, sagte er. »Heute nacht ist Vollmond, und es heißt, der Mühlteich wäre bei Mondlicht am schönsten. Hast du den Schneid, zu so später Stunde noch auf Wanderschaft zu gehen?« »Mach die Lampe aus, Kleiner!« Selbst einfache Dinge erledigte er nur selten auf herkömmliche Weise. Während sie an der Tür wartete, machte er die Lampe aus. Aber er beugte sich nicht etwa vornüber, um den Glasaufsatz anzuheben und die Flamme auszupusten, sondern hielt aufrecht stehend eine Zeitschrift über den Luftabzug, bis die
Flamme flackernd erlosch. Dann kam er zu ihr an die Tür. Draußen schien hell der Mond. Sie gingen über den Hof, durch die Öffnung der Hecke, überquerten die Landstraße und folgten dem Pfad durch den Wald. Amal hielt sie mit leichtem Griff am Arm fest. Dort, wo das Blattwerk das Mondlicht durchließ, war der Waldboden mit hellen Lichttupfen gesprenkelt. Amals Stimme klang nachdenklich, als er sagte: »Lyn, meinst du, daß es eine tiefere als die sexuelle Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau geben kann?« »Natürlich. Romantische Liebe ist ein klinisch anerkanntes Phänomen.« »Ich habe dem Wort ›Liebe‹ immer skeptisch gegenüber gestanden«, sagte er. »Es ist zu oft mißbraucht worden, als daß ich es entweihen möchte.« Der Satz kam ihr bekannt vor. »Ich kenne Das Leben der Heiligen«, sagte sie schnippisch. Hoffentlich hatte er wirklich St. Francis zitiert. »Das Wort ›Liebe‹ ist wie eine Münze«, fuhr er fort. »Sie kann aus echtem Gold geprägt oder eine geschickte Fälschung sein. Ich habe meine Münze dem Beiß-, Klang- und Säuretest unterzogen, aber da ich aus einer Gesellschaft komme, wo Jungen und Mädchen getrennt aufwachsen, und daher im Gegensatz
zu dir keine Gelegenheit hatte, Erfahrungen auf diesem Gebiet zu sammeln, weiß ich nicht ...« »Halt, kein Wort mehr!« Sie wirbelte ihn herum und sah ihm in die Augen. »Wage es nicht, mich eine Hure zu nennen. Du sollst wissen, daß ich technisch gesehen noch Jungfrau bin.« »Ich wollte dich nicht ...« stotterte er, unterbrach sich und fragte verwirrt: »Bei deiner Schönheit? Und du bist doch körperlich völlig gesund.« »Und schnell auf den Beinen. Ich sagte dir schon, daß ich Gedanken lesen kann. Und bei einer bestimmten Sorte Gedanken vergehen einem alle romantischen Vorstellungen sehr schnell. Na, was sagst du jetzt?« Sie wandte sich von ihm ab und hoffte im stillen, daß er die Worte ›technisch gesehen‹ überhört hatte. Er ergriff ihre Hand und sagte: »Ich wollte dir gerade sagen, daß ich dich liebe.« Sie vermochte nichts zu entgegnen und konnte ihm auch nicht die Hand drücken, um zu zeigen, daß sie seine Gefühle erwiderte. Aber er hatte auch gar keine Frage gestellt. Er hatte lediglich eine Feststellung getroffen und dabei soviel Charme bewiesen wie ein Buchprüfer, der beiläufig bemerkt: »Ihre Bücher sind in Ordnung, Miss Oberlin.« So hatte sie sich die Sache ganz und gar nicht vorgestellt. Eine Liebeserklärung im Wald! Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Vielleicht, daß er ihr in einem
Zimmer bei sanfter Beleuchtung, Wein und leiser Hintergrundmusik zärtliche Worte zuflüsterte? Aber warum war dann ihr Mund plötzlich wie ausgetrocknet und warum dieser Drang, in Tränen auszubrechen? Sie gingen schweigend weiter. Er hatte gesagt, was er sagen konnte, und sie mußte warten, bis sich ihre Zunge wieder löste. Schließlich sagte sie: »Ich hätte nicht gedacht, daß etwas so alltäglich, so abgedroschen und so schön ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, denn in diesem Moment kamen sie aus dem Wald heraus und standen vor dem Teichufer. Der Mond stand hoch über den Wipfeln der Bäume am anderen Ufer und spiegelte sich glitzernd auf der Wasseroberfläche. Amal führte sie zum Wehr, wo die Mühle stand. Mein Herz ist wie ein singender Vogel, der sich auf einem Halkyontrieb niedergelassen hat, dachte Lyn. »Amal, was ist ein Halkyontrieb?« »Ein unerschütterlicher Zweig.« Einige Meter nördlich der Mühle war ein kleiner grasbewachsener Hügel auf dem sonst kahlen Erdboden. Amal führte sie dorthin, breitete seinen Mantel auf dem vom Tau nassen Gras aus, und sie ließen sich nieder. Amal legte sich langgestreckt auf die Seite, stützte sich mit dem Ellbogen ab und drehte ihr das Gesicht zu. »Du weißt zu wenig von mir«, sagte er. »Eigentlich
sollte ich das nicht sagen, aber ich will dich nicht in dem Glauben fortgehen lassen, daß du versagt hast ... Außerdem will ich nicht, daß du mich verläßt.« Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Für einen Mann gibt es nur einmal die erste Liebe, genau wie es Versailles mit seinem Spiegelsaal nur einmal gibt. Ein Mann kann Versailles nur einmal im Leben das erste Mal besuchen. Später dann, wenn er vielleicht in Schlössern in Spanien oder am Rhein lebt, wird er sie immer mit seiner Erinnerung an Versailles messen. Du bist mein Versailler Spiegelsaal.« Er schwieg, und Lyn überkam wieder ein unerklärlicher Drang zu weinen. Amal spürte ihre Gemütsbewegung und wartete, ließ sie ganz gehen. Schließlich fragte er: »Was sagst du dazu?« »Ich komme mir vor wie jemand, der seinen ersten Fallschirmsprung macht ... Aber ich hatte ja schon am Abend, als ich dich kennenlernte, so ein Vorgefühl ... Sei still, Amal! Ich fange gleich an zu heulen.« Sie konnte die Tränen zurückhalten, aber sie wagte nicht, ihn anzuschauen, als sie sagte: »Ich liebe dich auch, Amal.« Sie hatte ihre Liebeserklärung, so schien ihr, in noch prosaischerem Tonfall gemacht als er vorhin seine; selbst in die Frage: »Ein Würfel Zucker oder zwei?« hätte sie mehr Ausdruck legen können. Amal begann merkwürdige Armbewegungen zu
vollführen. Verblüfft schaute sie ihm zu. Er klopfte seine Oberschenkel ab, faßte sich ans Gesäß, so als wolle er sich vergewissern, daß noch alles da war, bevor er sich auf sie stürzte. Noch verblüffter wurde sie, als er sagte: »Ich muß dich vielleicht gleich bitten aufzustehen.« Dann seufzte er erleichtert. »Nein, nicht nötig. Er war in meiner Hemdtasche. Mach die Augen zu und streck die Hand aus. Nein, die linke.« Sie tat wie befohlen und fühlte, wie er ihr einen Ring über den dritten Finger schob. Aus den Liebesromanen wußte sie, welche Bedeutung der Ring hatte; es war ein altmodischer Verlobungsring. Ein Zeichen der Liebe, von dem man abgekommen war, weil es zugleich Symbol der Knechtung der Frau gewesen war. »Augen aufmachen«, befahl er. Lyn gehorchte. Ein Blick auf den Diamant an ihrem Finger genügte, um Lyn in der Überzeugung zu bestärken, daß sie wirklich ein altmodisches Mädchen war. Der Stein schien das Mondlicht anzuziehen, es erstarren zu lassen und es dann in einer Lichtexplosion wieder freizugeben, das seine Quelle an Glanz weit übertraf. Auch Lyns Gefühle wurden von dem Stein in den Bann gezogen und gefesselt, um dann in kleinen Freudenexplosionen durch ihren Körper zu rieseln. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie fing an, hemmungslos zu weinen.
Amal legte ihr tröstend den Arm um die Schultern und sagte: »Es ist nur ein kleiner Verlobungsring, Schatz, nicht das Verwaltungszentrum von Los Angeles.« »Kleiner Ring!« Sie schluchzte. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, ihn gegen diese monströsen Türme einzutauschen.« »Eigentlich wollte ich dir, bevor ich ihn dir gab, einen Heiratsantrag machen, ganz formell nach altem Stil. Aber ich hätte es nicht ertragen, wenn du ›Nein‹ gesagt hättest. Jetzt brauchst du gar nichts zu sagen. Wenn die Antwort ›Nein‹ ist, streif den Ring einfach ab und gib ihn mir zurück.« »Was für ein hinterhältiger Trick! Du weißt ganz genau, daß du ihn nur zurückbekommen kannst, wenn du mir den Finger abschneidest.« »Dann lautet deine Antwort ›Ja‹?« »Ich habe die Frage zwar noch nicht gehört, aber die Antwort heißt ›Ja, ja, ja!‹« Da gab er ihr zum erstenmal einen langen und zärtlichen Kuß; doch versperrte er ihr nun die Sicht auf den Ring. Sie legte ihm deshalb den Arm um den Nacken, drückte ihn enger an sich und drehte den Diamant langsam, so daß immer andere geschliffene Flächen im Mondlicht funkelten. Schließlich löste sich Amal aus ihrer Umarmung, drückte sie aber weiterhin fest
an sich. Lyn streckte die Hand aus, damit er den Diamant bewundern konnte. »Es ist der schönste Ring, den ich je gesehen habe«, sagte sie. Er sagte in fast verdrossenem Tonfall: »Ja, schön ist er. Aber vielleicht ködere ich dich nur mit hübschen Kleinigkeiten, um dich in wichtigen Dingen zu hintergehen.« »Oh, nein, Amal. Diese Braut trägt Weiß.« Er lachte. »So meinte ich das nicht. Zu den Dingen, die ich dir nicht gesagt habe, gehört, daß ich eine staatenlose Person bin. Meine Eltern kamen nämlich um, bevor ich im Heim registriert war. Vielleicht heirate ich dich also nur, um eine Staatsangehörigkeit zu erlangen.« »Gut. Damit ist die Möglichkeit, daß der ersten ›Haremsdame‹ noch weitere folgen könnten, ausgeschaltet.« »Ich möchte, daß wir hier getraut werden, und zwar von Bruder Barnes«, sagte er. »Hier gehöre ich hin. Das bedeutet allerdings, daß sich unsere Vermählung noch hinziehen wird. Nächsten Samstag nehme ich am Dotham-100-Rennen teil, folglich können wir erst in zwei Wochen heiraten. Du wirst also doch auf meine Kosten solange hierbleiben müssen.« »Als deine Verlobte nach altem Stil habe ich einen Besitzanspruch auf deine grüne Karte.«
»Ich möchte aber nicht, daß du denkst, es wäre nur ein listiger Trick von mir, um mich des Beifalls von der Zuschauertribüne zu vergewissern, wenn ich das Rennen fahre.« »Ich werde dort sein und einen weißen Schal schwenken.« »Während der Flitterwochen können wir im Dothamer Gasthof wohnen und anschließend nach London oder Paris fliegen, wenn du Lust hast.« »Wenn du so staatenlos bist, wer finanziert dann deine grüne Karte? Irgendein Ölscheich?« »Euer Außenministerium auf Veranlassung der Vereinten Nationen. Man betrachtet meine Arbeit als nützlich, und ich habe nicht die Absicht, mich davor zu drücken. Es kann durchaus sein, daß du in zwei Monaten Belastungssensoren an der Japanese-Verwerfung anbringen wirst.« »Sind das die ›wichtigen Dinge‹? Mohos?« »Nein. Das Fragezeichen bin ich. Vielleicht heiratest du einen Schizophrenen. Meine Schattenerinnerungen haben sich hier verstärkt. Wenn ich auf der Rennstrecke fahre, steuert ein anderer den Wagen.« »Sind dir noch andere Dinge aufgefallen, an die du dich so genau erinnert hast wie an die Bonbonsorte?« »Wer weiß?« Er zuckte unschlüssig die Achseln. »Manchmal sehe ich Dinge, die nicht mit meiner Erinnerung übereinstimmen. Irre ich mich, oder haben
sich die Leute geirrt, die das Dorf gebaut haben? Es gab gar keinen Essex, Modell A, da bin ich mir sicher. Es klingt sonderbar, aber ich erinnere mich an einen Essex Terrapin. Aber wer würde einen Sportwagen ›Schildkröte‹ nennen? Ich meine, daß der V-8 ein Ford gewesen war, aber ich fuhr einen Ford Turbo.« »Du fuhrst?« Er faßte sich an die Stirn und grinste schief. »Mein Doppelgänger natürlich.« Seine Worte ließen Lyn den Diamant völlig vergessen. Diese Erinnerungen konnte man in den Archiven nachprüfen. »Du erinnerst dich an ihn so deutlich, daß du sogar weißt, welchen Wagen er fuhr?« »Nein. Ich bin mir nicht einmal sicher, wie er heißt. Ich glaube, es war einer dieser Doppelnamen. Lee Roy Hatcher. Aber an einen Namen erinnere ich mich genau: John C. Calhoun.« »Sind irgendwelche Gefühle damit verknüpft, egal ob angenehmer oder unangenehmer Natur?« »Ja, allerdings, und sie sind allesamt unerfreulicher Natur.« Er schwieg einen Moment und überlegte. Dann sagte er: »John C. Calhoun brachte mich um.« Ihr fröstelte plötzlich, und sie schaute hinab zu dem Diamant. Er wirkte mit einemmal stumpf. »Nicht dich, Amal.
Sondern ihn. Aber wir sollten in so einer Nacht nicht über diese Dinge reden.« »Da hast du recht, nicht in so einer Nacht«, sagte er. Er legte den Kopf in ihren Schoß und streckte sich lang im Gras aus. »Es war in einer solchen Nacht, als Dido, mit einer Weidenrute in der Hand, am Ufer stand und ihrem Geliebten zurief, er möge nach Karthago zurückkehren.« Spontan beugte sie sich zu ihm hinab und küßte ihn. Er hatte es nicht nötig, ihr Liebesgedichte vorzulesen, er war selbst ein Dichter. Er umfaßte ihren Nacken, zog ihren Kopf zu sich heran und begann an ihrem Ohrläppchen zu knabbern. Lyn war erstaunt, welches Wonnegefühl sie dabei empfand. Sie löste sich von ihm. Das Sündigen, Leiden und Bereuen konnte warten. »Nicht jetzt«, sagte sie. »Wir haben tausend Dinge zu besprechen. Zum Beispiel unsere Hochzeit. Dilseys Schwester ist Schneiderin. Sie kann mir ein Kleid nähen. Aber wir müssen uns jetzt aufmachen. Du weißt ja, anständige Mädchen lassen sich nach halb elf am Mühlteich nicht mehr blicken.« Amal griff nach ihrer Anhängeuhr und warf einen Blick darauf. Sogar die leichte Berührung seiner Hand gab ihr ein erregendes Gefühl, wie sie überrascht feststellte. »Du bist seit zwanzig Minuten eine gestrauchelte Frau. Und da ich dich schon seit hun-
dert Jahren liebe, kommt es auf zehn Minuten mehr oder weniger auch nicht mehr an.« Den Berechnungen zufolge, die Lyn am Dienstag anstellte, konnte Amal sie in seiner Erinnerung nicht schon seit über hundert Jahren lieben. Wenn ihre Vermutungen richtig waren, lag das Maximum bei fünfundsiebzig Jahren. Am Montagmorgen im Büro wurde ihr Ring von allen hochgelobt. Obwohl Doktor Kley sie zu ihrer Verlobung herzlich beglückwünschte, las sie hinter seinem äußeren Charme Enttäuschung. Er erkannte, daß ihre bevorstehende Vermählung wahrscheinlich bedeutete, daß sie die Stellung bei ihm kündigen würde. Er würde schwerlich eine neue Sekretärin finden, die den gleichen Charme wie Lyn besaß oder ihr Talent, knifflige Fragen in den Griff zu bekommen und ihm Vorschläge zu unterbreiten, die häufig zur Konkretisierung seiner eigenen Überlegungen zur Lösung von Problemen führten. Da hatte er recht, kommentierte Lyn im stillen Kleys unausgesprochene Gedanken. Doch seine Sorgen kümmerten sie nicht. Ihre Hauptaufgabe war es, Anrufe entgegenzunehmen. Jede Frau mit einer ansprechenden äußeren Erscheinung und hinreichendem Taktgefühl konnte ihre Pflichten ebenso gut wahrnehmen wie sie selbst. Sie ließ das Mittagessen und ihre Einuhrvorlesung
aus und stellte statt dessen Nachforschungen über John C. Calhoun an. Die Magazine der DohenyBibliothek enthielten 326 Bände und Monographien, die ausschließlich John C. Calhoun gewidmet waren. In der Kartei waren 16 370 Querverweise auf den berühmten Staatsmann aus South Carolina aufgeführt. Sie entschied sich für Die Jugendzeit des John C. Calhoun und fand schnell heraus, daß er fünfzig Jahre vor der Erfindung des Automobils gestorben war. Dennoch, die Berühmtheit der Person verlieh Amals fugenhafter Erinnerung eine gewisse Glaubwürdigkeit. Ohne Zweifel waren Hunderte von Knaben im zwanzigsten Jahrhundert nach C. Calhoun benannt worden. Wenn man das Wesen der damaligen Zeit und Amals Charakter in Rechnung stellte, konnte es durchaus sein, daß Amals Alter ego bei einem Faustkampf oder einer Messerstecherei mit einem John C. Calhoun getötet worden war. Indirekt erbrachten die Nachforschungen über altertümliche Automobile, die sie am Dienstag anstellte, einen neuen Hinweis auf den historischen Calhoun. Auf ihre Frage, wo sie eine detaillierte Darstellung der Entwicklungsgeschichte von Autos erhalten könnte, verwies sie die Bibliothekarin der DohenyBibliothek an das Huntington-Archiv. Lyn ließ sich über das bibliotheksinterne Telefon mit einem Biblio-
thekar im Archiv für Alte Autos verbinden. Der junge Mann, dem schon die Haare ausgingen, war ein Autonarr und konnte Namen wie Willie Jefferson, Junior Johnson und Daniel Gurney schneller herunterrasseln als sie an die Namen Laing, Freud und Fraumilch auch nur denken konnte. Sie konnte seine Gedanken über den Apparat lesen, als er sich einmal selbst verwünschte, weil ihm das Gedächtnis versagte und er auf seinen Schreibtischcomputer zurückgreifen mußte. Sie stellte fest, daß Amal vollkommen recht gehabt hatte, als er sich daran ›erinnert‹ hatte, daß es in den Dreißiger Jahren keinen Essex, Modell A, gegeben hatte und daß die V-8-Maschine das denkwürdige Schaustück einer Fordkreation gewesen war. Das erste Modell des Essex, dessen Produktion gegen Ende der Fünfziger Jahre eingestellt worden war, war der Essex Terraplane, nicht Terrapin, gewesen. Letzteres konnte für eine Psychologin fast als Beweis für die Authentizität von Amals ›Erinnerung‹ gelten. Kein arabischer Seismologe konnte ein tief in seinem Unterbewußtsein vergrabenes Bild haben, das einer vergangenen Realität so nahe kam. Fast ängstlich erkundigte sie sich, ob die Kartei etwas über einen Lee Roy Hatcher aussagte, der in den Dreißiger Jahren einen Ford Turbo gefahren hatte. »Unmöglich.« Der Bibliothekar schüttelte den Kopf.
»Serienfahrzeuge mit Turbomotoren wurden erst Mitte der Achtziger Jahre bei Rennen eingesetzt. Vor Anfang der Sechziger Jahre gab es einige wenige, mit denen in Indy – Indianapolis – Rennen gefahren wurden. Aber den Namen Lee Roy Hatcher kann ich nachprüfen. Moment.« Er gab den Namen dem Computer ein, betrachtete das aufleuchtende Resultat und schaute sie an. »Keine Person dieses Namens fuhr im zwanzigsten Jahrhundert ein Rennen.« Unerklärlicherweise fühlte sie sich erleichtert und gab einen Seufzer von sich. Das war eigentlich alles, was sie hatte wissen wollen, doch der Bibliothekar war so hilfsbereit gewesen, daß sie ihn nicht einfach mit einem Seufzer abspeisen wollte. Sie fragte deshalb: »Gibt es einen Rennfahrer namens John C. Calhoun?« »Sehen wir mal nach«, sagte er und drückte einige Tasten. »Ich entsinne mich, daß es am Stadtrand von Columbia in South Carolina eine John C. CalhounRennstrecke gab, die man Mitte der Achtziger Jahre in Betrieb nahm. Aber nach vier Veranstaltungen hat man sie wieder stillgelegt, weil zu viele Fahrer umkamen ... Nein, einen Rennfahrer namens John C. Calhoun gab es nicht.« Sich zu einem Lächeln zwingend, fragte sie: »Läßt sich herausfinden, wer alles auf der Calhoun-Rennstrecke umkam?«
Er runzelte die Stirn. »In der Regel wurde in solchen Fällen eine Notiz auf der Startliste gemacht. Dazu muß ich im Magazin nachsehen. Entschuldigen Sie mich.« Als der Bibliothekar gegangen war, zwang sich Lyn, in aller Ruhe nachzudenken. Es konnte sein, daß das Lied von Cole Porter, das sie überhaupt erst in die Dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts geführt hatte, auch bis ins einundzwanzigste hinein populär geblieben war. Diese ganze Angelegenheit basierte ohnehin nur auf reiner Spekulation. Die Sache mit dem Essex Terraplane konnte Amal bei Unterhaltungen mit anderen Fahrern in Dotham zufällig aufgeschnappt haben, ohne daß es ihm bewußt war. »Donnerwetter, ich hab mich verhauen!« Der Bibliothekar kehrte an den Bildschirm zurück, drei Bögen Papier in der Hand. »Es wurden nur drei Rennen auf der Calhoun veranstaltet.« Er setzte sich und fuhr fort: »Aber vier Fahrer starben in diesen drei Jahren: 1986 James Snead, 1987 Leroy Thatcher, 1988 Harry Joe Upton und Crazy Carl Williams. Da ist übrigens Ihr Name.« Lyn achtete kaum auf sein wirres Geplapper, sondern überlegte: Terrapin, Terraplane; Lee Roy Hatcher, Leroy Thatcher. »Gibt es biographisches Material über Leroy Thatcher?«
»Nur in bezug auf das Rennen. Er überschlug sich in der einunddreißigsten Runde, als er die dritte Kurve der Rennstrecke nehmen wollte. Das war am 7. Juni 1987. Er fuhr einen Ford Turbo.« »Wo könnte ich weitere Einzelheiten erfahren?« Der Bibliothekar verlor sichtlich das Interesse. Er setzte eine offizielle Miene auf. »Ich schlage vor, Miss Oberlin, Sie wenden sich an das Zeitungsarchiv der Stadtbücherei von Columbia und lassen sich die Zeitungen vom 7. Juni 1987 vorlegen.« Der Anruf und der Faksimileservice rückten ihre Kreditkarte dicht an die rote Zone heran, und das für die kurzen Annalen Leroy Thatchers, die man dem Columbia-Observer entnommen hatte. Der Fahrer hatte sich bei dem Unfall das Genick gebrochen und war auf der Stelle tot gewesen. Leroy Thatcher war im Alter von einundzwanzig Jahren gestorben, von einer trauernden Mutter, seiner einzigen noch lebenden Anverwandten, im Kryogenischen Beerdigungsinstitut von Columbia beigesetzt worden und somit, dem Papier zufolge, seinem Vater in ein frühes Grab gefolgt. Earl Thatcher, sein Vater, war beim Überqueren einer Kreuzung von einem Auto erfaßt und getötet worden, gerade als er auf dem Weg zum Krankenhaus war, um sich seinen neugeborenen Sohn anzusehen. Earl Thatcher war ebenfalls einundzwanzig gewesen, als er starb.
Sie verließ die Bibliothek mit der steifen Gangart eines Soldaten, der Angst hat, vorzumarschieren, aber noch größere Angst vor der Schande hat, seine Kameraden im Stich zu lassen. Zwar hatte sie weder Kameraden, noch Waffen oder eine Rüstung, aber die gesträubten Haare an ihren Handgelenken sagten ihr, daß sie ›sie‹ gefunden hatte. Sie waren unsichtbar, blieben im verborgenen, aber sie existierten. Sie überlegte, ob die Kältebeerdigung ein Anhaltspunkt war. Nein. Die Medizin könnte einen Eingefrorenen nicht heilen. Wäre sie in der Lage gewesen, einen Lazarus wieder zum Leben zu erwecken, hätte der Stab für Öffentlichkeitsarbeit des AÄV die Medien schon längst mit Bekanntmachungen überschwemmt. Doch welche andere Erklärung konnte es geben? Warum, wenn nicht deshalb, war Amal ein Führerschein verweigert worden? Ein Blick auf den funkelnden Diamant an ihrem Finger rief sie in die Gegenwart zurück und erinnerte sie daran, daß Amal hier und jetzt existierte. Sie durfte ihm nicht sagen, was sie herausgefunden hatte. Wenn er auf den Gedanken käme, er wäre vom Geist Leroy Thatchers besessen, würde er das Dotham-100Rennen am Samstag nur fahren, um sich selbst zu beweisen, daß er Herr seines Schicksals war. Als nächstes würde er vermutlich in das Dorf der Achtziger Jahre übersiedeln und in einem Versuch, die ge-
rissenen Fäden seines Schicksals wieder zusammenzufügen, in einem Ford Turbo genau jene Kurve umrunden, die Leroy Thatcher zum Verhängnis geworden war. Solange er nichts davon wußte, konnte sie aufkommende Gefahren von ihm fernhalten, ihn beschützen und von ihm und durch ihn lernen. Im Gegensatz zu ihr hatte Amal die Verabredung mit ›ihnen‹ eingehalten. Früher oder später würden diejenigen, die ihm die grüne Karte bewilligt hatten, aus dem Schatten treten und fordern, daß er die Rechnungen beglich. Das gehörte zu den Spielregeln der Politik. Als Lyn in der Untergrundbahn nach Dotham saß, empfand sie in zunehmendem Maße Dankbarkeit für die telepathische Fähigkeit, die sie gelehrt hatte, ihre Gefühle zu verbergen. Denn schon kam sie sich hinterhältig vor. Gleich zu Anfang einer Beziehung fürs Leben mit einem Mann, zu dem sie wie zu keinem anderen offen und ehrlich sein wollte, lasteten Geheimnisse auf ihr, die sie ihm verschweigen mußte. Würde er ihr inneres Entsetzen spüren, wenn sie sich im stillen fragte, ob sie in Wahrheit vielleicht einen Toten liebte? Als der Zug abbremste und das Geräusch der aneinanderstoßenden Wagen sie darauf aufmerksam machte, daß sie sich der Station näherte, entschloß sie
sich, solche wilden Spekulationen in seiner Gegenwart strikt von sich zu weisen. Dann erkannte sie in einem plötzlichen Anflug von Panik, daß so ein Versuch allen Gesetzen der Logik widersprach. Man konnte sich nicht ermahnen, ja nicht an purpurrote Kühe zu denken, ohne dabei doch an purpurrote Kühe zu denken. Da Amal von Pasadena aus einen kürzeren Weg zurückzulegen hatte, wartete er gewöhnlich an der Station auf sie, um sie nach Hause zu fahren. In Panikstimmung stieg sie aus dem Zug aus. Wenn sie in seiner Gegenwart mit dem Gedanken, er könnte eine wieder zum Leben erweckte Leiche sein, auch nur spielte, würde Amal ihre heftige Gefühlsaufwallung unausweichlich bemerken. Sie atmete tief durch und betrat den Wartesaal. Amal saß auf einer Bank und hatte bereits Dothamer Kleidung angelegt. Lyn setzte eine freudige Miene auf und ging auf ihn zu; er schaute jedoch nicht auf. Er hatte ihre Ankunft nicht bemerkt, denn er war eifrig damit beschäftigt, etwas mit einem altmodischen Kugelschreiber auf einen Notizblock zu kritzeln. Sie sah ihm über die Schulter. Die Seite war mit arabischen Schriftzeichen bedeckt. Amal hatte sich völlig auf seine Tätigkeit konzentriert. Hastig schrieb er einen Satz hin, hielt inne, schrieb dann den nächsten. Sein Tun grenzte an Tabuverletzung. Es war
höchst unwahrscheinlich, daß ein junger Mann aus dem Dotham des zwanzigsten Jahrhunderts in arabischer Schrift Sätze zu Papier bringen würde. Lyn wartete und wartete und wurde langsam ungeduldig. Hier, kaum einen Meter von ihm entfernt, stand seine Angebetete, seinen Ring am Finger und den Duft seines Lieblingsparfüms ausströmend, und wurde von ihm völlig ignoriert. Wahrscheinlich schrieb er ein Liebesgedicht in seiner Muttersprache nieder, das er ihr später übersetzen wollte, dachte Lyn und spürte, wie sich ihr Ärger legte. Plötzlich überkam sie ein Drang, seinen Nacken zu befühlen und ihn nach Gewebeverhärtungen und Knochenverkalkungen abzutasten. Leroy Thatcher hatte sich das Genick gebrochen. Sie drehte sich hastig um und eilte leise zum Umkleideraum. Als sie zum zweitenmal auf ihn zuging, nun in den klappernden hochhackigen Schuhen, stand er auf und lächelte ihr zu. »Du mußt angekommen sein, als ich gerade nicht aufpaßte.« Er gab ihr keinen Kuß zur Begrüßung. Sie wollte ihn nicht drängen und sagte: »Du hast etwas in Arabisch geschrieben, und da wollte ich dich nicht stören.« »Es ist kein Arabisch«, sagte er, während sie auf den Ausgang zugingen. »Es sind nur einige arabische
Symbole darunter. Ich habe das Trägheitsmoment für einen eine Kurve beschreibenden Körper berechnet.« »Was kann man mit solchen Berechnungen anfangen?« »Oh, alles mögliche«, erwiderte er achselzuckend. »Wenn man Geschwindigkeit, Gewicht, Schwerpunkt und einige andere Faktoren kennt, könnte man berechnen, wie schnell ein Wagen um eine Kurve fahren kann, ohne sich zu überschlagen.« »Du hast doch keine Angst wegen des Rennens am nächsten Samstag?« fragte sie plötzlich besorgt. »Weniger als du, Schatz. Meine einzige Sorge ist, daß ich nicht gewinnen könnte.« Ihre Besorgnis schien ihn zu rühren, und als sie das Bahnhofsgebäude verließen und auf den Parkplatz zugingen, fiel ihr ein, daß es ganz natürlich war, wenn ein Mädchen Angst um ihren Zukünftigen hatte, wenn er an einem Autorennen teilnahm. »Aber ich mache mir Sorgen, Amal. Denn schließlich fährst du ohne Überrollbügel, ohne Sicherheitsgurte, ohne Sturzhelm, ohne Luftaufprallkissen – mit praktisch nichts.« »So will ich's auch haben. Allein Geschicklichkeit und Nerven zählen. Wenn man es mit der Angst bekommt, ist man ein toter Mann.« Seine Bemerkung jagte ihr einen Schauer über den Rücken, und sie wandte sich von ihm ab.
»Stimmt was nicht, Schatz?« fragte er. »Es überläuft mich eiskalt«, sagte sie. Tatsächlich hatte sich eine Gänsehaut auf ihren Unterarmen gebildet. »Sei nicht albern«, meinte er. »Warum fährst du nicht? Vielleicht fühlst du dich dann sicherer. Und ich kann weiter an meinen Berechnungen arbeiten.« »Mit Vergnügen«, entgegnete sie wahrheitsgemäß. Wenn sie sich aufs Fahren und er sich auf seine Berechnungen konzentrierte, war sie weniger der Gefahr ausgesetzt, daß ihm Abweichungen von ihrem normalen Verhalten auffielen. Und eine solche Abweichung ereignete sich fast augenblicklich. Als sie den Kreisel entlangfuhr und am Imperium vorbeikam, fiel ihr Blick auf ein Filmplakat an der Vorderfront des Gebäudes: In Kürze ICH HEIRATE EINEN ZOMBIE Die seltsame Übereinstimmung zwischen der Ankündigung auf dem Plakat und ihren geheimen Gedanken ließ sie unwillkürlich nach Luft schnappen. Amal wurde aufmerksam und sah zu ihr herüber. »Etwas vergessen?« »Ja, ich vergaß, den Bäcker wegen der Hochzeitstorte anzurufen.« »Ich habe sie schon bestellt«, sagte er. »Er bäckt uns
eine Torte mit sieben Lagen und Braut und Bräutigam oben drauf.« »Sieben!« Leroy Thatcher war am 7. Juni 1987 gestorben. »Warum ausgerechnet sieben?« »Das scheint hier so üblich zu sein«, erwiderte er, ohne von den Notizen aufzuschauen. »Sieben ist eine Glückszahl.« Sie fing schon an, Gespenster zu sehen, dachte Lyn. Sie waren jetzt kaum zehn Minuten zusammen, und ihre Nervosität hätte Amal normalerweise schon bei mindestens drei Gelegenheiten auffallen müssen. Doch Amal war heute nicht er selbst. Er war völlig in sich versunken und schenkte ihr so viel Beachtung, wie er sie vielleicht Amos als seinem Chauffeur geschenkt hätte. »Wieso mußt du erst Kräfte berechnen, um ein Auto um eine Kurve zu steuern?« fragte sie. »Wäre es nicht einfacher, etwas langsamer zu fahren?« »Ich habe nicht gesagt, daß ich berechne, wie schnell man mit einem Auto um eine Kurve fahren kann. Ich sagte, man könnte die Zahlen zu diesem Zweck verwenden.« »Und zu welchem Zweck verwendest du sie?« »Zu keinem wichtigen, hoffe ich.« »Sie müssen wichtig sein, wenn du darüber vergißt, mich am Bahnhof mit einem Kuß zu begrüßen. Sag mir also, was es mit ihnen auf sich hat.«
»Sie sind für dieses Zeitalter tabu. Ich küsse dich dafür am Briefkasten zweimal. Außerdem würden sie dich gar nicht interessieren.« »Woher willst du das wissen, wenn du mir nicht einmal sagst, was sie bedeuten?« »Ich hoffe, daß du es niemals erfährst.« »Hast du etwa Geheimnisse vor mir, du abtrünniger Moslem?« »Abtrünniger koptischer Christ baptistischer Prägung«, verbesserte er sie. »Wenn ein Mann keine Geheimnisse mehr hat, verliert er seinen Reiz. Ich zitiere eine wohlbekannte Gedankenleserin.« »Na schön. Ich habe auch noch einige Geheimnisse auf Lager«, sagte sie. »Ja, und du hast versprochen, sie noch zwei Wochen für dich zu behalten.« »Du bist nicht nur ein Heimlichtuer«, sagte sie zornig. »Du hast auch noch schmutzige Gedanken.« »Manche haben schmutzige Gedanken. Manche lesen ... Da wir gerade von Versprechen reden, ich weiß, daß ich dir versprochen habe, immer prompt nach der Schule in Dotham anzutanzen. Aber da du morgen ohnehin dein Hochzeitskleid anprobieren wirst, würde ich gern noch eine Stunde länger im Cal Tech bleiben, um eine Tabumaschine zu programmieren, an die es vor fünf Uhr kein Herankommen gibt.«
»Du weißt doch genau, daß ich mich den ganzen Tag darauf freue, dich am Bahnhof zu treffen.« »Mir geht es nicht anders«, sagte er. »Aber ich werde dich dafür entschädigen. Am Donnerstag picknicken wir auf dem geweihten Hügel am geheiligten Mühlteich, und ich verspreche, daß ich ein aufmerksamer, ergebener und sehr unterhaltsamer Gesellschafter sein werde.« »Wie unterhaltsam?« »Na ja, darüber habe ich mir noch weiter keine Gedanken gemacht«, sagte er. »Wir könnten ja nackt baden.« »Am hellichten Tag? Kommt nicht in Frage!« »Donnerstagabend gehen wir zur Gebetsversammlung«, murmelte er. »Wie wär's mit Freitagabend?« »Wie wäre was mit Freitagabend?« »Nackt baden«, erwiderte er. »Du hast gesagt, nicht am Tag, das heißt also, bei Nacht würdest du es tun.« »Nur wir zwei?« »Möchtest du Bruder Barnes vielleicht als Anstandsdame dabeihaben?« Sie dachte einen Augenblick nach. Am Freitag würde der Mond früh aufgehen. Die Vorstellung, bei Mondschein nackt mit ihm zu baden, klang aufregend, ja, grenzte in diesem Zeitalter und Milieu sogar an Dreistigkeit, und in Gedanken sah sie Amal bereits durchs Wasser gleiten. Sie war versucht, seinem Vor-
schlag spontan zuzustimmen, doch sie hatte in Dotham einige Tricks gelernt. »Wenn ich ja sage, verrätst du mir dann dein Geheimnis?« »Vielleicht habe ich gar keins. Es hängt allein von diesen Zahlen ab.« Er pochte mit dem Finger auf den Notizblock und machte die rätselhafte Bemerkung: »Wenn ich eins habe, sage ich dir Bescheid. Dann können wir anfangen zu beten.« Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, wandte er sich wieder seinen Berechnungen zu. Sie hatte ihn noch nie so geistesabwesend, so intensiv auf eine Sache konzentriert erlebt. Als er sie vor dem Briefkasten absetzte, mußte sie ihn daran erinnern, ihr einen Abschiedskuß zu geben. Während der Anprobe des Kleides am nächsten Tag dachte Lyn unentwegt an Amal. In jener Nacht träumte sie, sie stünden beide in ihren Hochzeitsgewändern vorm Altar, und als sie sich ihm zuwandte, um den Trauring von ihm entgegenzunehmen, sah sie sich einem eisesgrauen Amal gegenüber, dessen Haar mit Rauhreif überzogen war und dem flüssiger Sauerstoff aus den Augenhöhlen trat und sofort verdunstete. Der Alptraum rüttelte sie wach, und sie erkannte, daß Amal und Kältebeerdigungen langsam zu einer fixen Idee bei ihr wurden. Ihr gesunder Menschen-
verstand drohte an der einen Frage zu verzweifeln: wie konnte Amal, dessen Muttersprache Arabisch und der im fernen Bagdad aufgewachsen war, Erinnerungen von Leroy Thatcher besitzen, einem Amerikaner, der seit fast hundert Jahren tot war? Während der Fahrt zum Bahnhof am Morgen zeigte sich, daß sich an Amals Zustand nichts geändert hatte. Er war nach wie vor tief in sich versunken. Lyn saß schweigend neben ihm und ließ sich ihre Besorgnis nicht anmerken, obwohl es in ihrem Innern brodelte. Wenn Amal herausfand, von welcher fixen Idee sie besessen war, würde er sie für total übergeschnappt erklären und unverzüglich in das Dorf der Achtziger Jahre übersiedeln, um sein Schicksal herauszufordern. Während der Arbeit im Büro blieb ihre Zerstreutheit Doktor Kley nicht verborgen. Lyn entschloß sich daraufhin zu einem für sie radikalen Schritt. Kley hatte eine ›wichtige Konferenz im Verwaltungszentrum‹. Sie wußte, daß er tatsächlich ins Verwaltungszentrum ging, aber nicht ins Rathaus, sondern zu einer Witwe, die ihn in einem stinkvornehmen Etablissement im Turm der Muße mit Martinis erwartete. Sie wartete mit ihrem Anliegen bis zu Doktor Kleys Aufbruch und bat ihn dann, ein privates Ferngespräch führen zu dürfen, da, wie sie offen zugab, ihre Kreditkarte sich einem Defizit näherte.
»Aber sicher, Lyn. Rufen Sie London an, wenn Sie wollen – auf Kosten der Stadt.« Kley war in dieser Hinsicht großzügig, denn er vertraute darauf, daß Lyn ihrerseits auch seine Privatausgaben vor dem Finanzausschuß rechtfertigte. Überdies hoffte er, sie mit einem Netz von Gefälligkeiten zu umgarnen und sie früher oder später, ob sie nun verheiratet war oder nicht, zum Turm der Muße zu entführen. Lyn war eine Frau, die die Geheimnisse vieler Männer kennengelernt hatte, und war daher tolerant genug, um Kleys Fähigkeiten und die ihm eigene Freundlichkeit zu respektieren und um über die vergeblichen Hoffnungen, die er sich machte, mit einem amüsierten Lächeln hinwegzusehen. Obwohl er dreißig Jahre älter war als sie, sah Lyn in Doktor Kley niemals einen lüsternen alten Bock, sondern schlicht einen attraktiven älteren Mitbürger. Als sie im Büro allein war, stellte Lyn eine Verbindung zum Auskunftscomputer von Columbia in South Carolina her und erkundigte sich nach dem Städtischen Kryogenischen Beerdigungsinstitut. Sie erhielt die Antwort, daß es kein Institut dieses Namens in Columbia gäbe. Lyn wies den Computer daraufhin an, sie mit dem Stadtarchivar zu verbinden. Eine Frau meldete sich am Apparat. Lyn erklärte, sie riefe im Auftrage des Vorsitzenden des Rats der Supervisoren von Los Angeles an, und erkundig-
te sich erneut nach dem Kryogenischen Beerdigungsinstitut. Die Archivarin, im Glauben, sie unterhalte sich mit einer Kollegin, zeigte sich von ihrer auskunftsfreudigen Seite. »Du liebe Zeit. Dieser Betrieb wurde vor über fünfzig Jahren stillgelegt. Der Vermögensverwalter des Instituts verschwand mit dem Geld über alle Berge, und dann versagte einmal die Kühlanlage. Später, während der Massenvernichtung, wurde das Gebäude wegen seiner Symbolhaftigkeit von einer rasenden Menschenmenge niedergerissen.« »Wie wurde mit den Bestatteten verfahren?« »Man mußte sie natürlich einäschern. Die wenigen, deren Grabkammern intakt geblieben waren, wurden an verschiedenartige Einrichtungen überführt.« »Haben Sie Unterlagen darüber, was mit dem Leichnam Leroy Thatchers geschah?« »Selbstverständlich. Bei uns in Columbia geht man mit solchen Dokumenten sehr sorgsam um. Einen Augenblick. Ja, hier haben wir's. Leroy Thatchers Leiche wurde am 3. Oktober 2029 an den medizinischen Fachbereich der Duke-Universität überführt. Dort wurde er sechs Tage später in der Gegenwart von Zeugen eingeäschert. Die Einäscherungsurkunde wurde uns am 11. Oktober 2029 zugesandt.« Lyn atmete auf. Obwohl die Frage nach Amals my-
steriösen Erinnerungen weiterhin offenblieb, war ihr ein Stein vom Herzen gefallen. Sie würde am Freitag also nicht mit einer wieder zum Leben erweckten Leiche schwimmen gehen. Und das einzige Eis zu ihrer Hochzeit würde das in den Erfrischungsgetränken sein.
5 »Beweise deine Fähigkeiten, Sibylle«, forderte Amal sie auf. »Prophezeie etwas.« Sie waren auf dem Weg zum Picknick und gingen gerade den Weg zum Mühlteich entlang. Lyn schmunzelte. Auf diese Gelegenheit hatte sie nur gewartet. Und das, was sie gestern abend in Mr. Emersons Gedanken gelesen hatte, als dieser vorgab, eine Zeitschrift zu lesen, war bestens geeignet, dem Skeptiker einiges zum Nachdenken zu geben. »Ich sage voraus, daß die Emersons zu den Dreißiger Jahren überlaufen werden und sich, sobald ihr Stipendium abläuft, einen Hamburgerstand in Dotham kaufen werden.« »Möglich«, meinte er, wohl wissend, daß sie die Wahrheit sagte. »Aber ihr Stipendium läuft erst in einem Monat ab. Bis dahin sind wir vielleicht in Ankara.« »Du kannst sie ja von dort aus anrufen«, sagte sie verärgert, weil er sie nicht mit offenem Mund bestaunt hatte. »Oh, dein Wort genügt mir, Nostradamus«, entgegnete er gleichgültig. Amal war ein unverbesserlicher Heimlichtuer, aber Lyn wußte aus Mr. Emersons Gedanken, daß es in
der alten Mühle hinreichend Gelegenheit geben würde, Amal zu zwingen, ihre Fähigkeiten anzuerkennen. Niemand hatte Lyn gegenüber ein Wort verlauten lassen, aber sie wußte, daß der arabische Millionär Emerson ein zinsloses Darlehen von zweihundertzwanzig Dollar gegeben hatte, genau den Betrag, der Emerson zum Kauf von Hamburger Heaven fehlte, einem Imbißstand gegenüber Lee's Square im Dothamer Geschäftsviertel. Sie kamen am Waldrand an. Vor ihnen lag der See. In einiger Entfernung, aber in Hörweite des kleinen Hügels, wo sie picknicken wollten, saß ein alter Neger am Ufer und angelte. »Oje! Wir haben Gesellschaft.« »Das ist Onkel Moses. Er arbeitet bei den Culpeppers«, sagte Amal. Er fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Versuch einmal seine Gedanken zu lesen. Er lebt hier schon siebzig Jahre.« Amal rief ihm ein Grußwort zu, und der alte Mann winkte. Als sie sich ihm näherten, sah Lyn, warum Amal sie aufgefordert hatte, Onkel Moses Gedanken zu lesen. Sein linkes Auge war zum Teil von grauem Star getrübt. Entweder war die Medizin dieses Zeitalters nicht in der Lage, grauen Star zu behandeln, oder der alte Mann konnte sich die Operation nicht leisten. »Das ist Lyn Oberlin, meine Verlobte, Onkel Moses.«
Der alte Mann machte Anstalten aufzustehen, aber Lyn sagte: »Bleiben Sie ruhig sitzen, Onkel Moses, wir gehen gleich weiter.« Der Katarakt beeinträchtigte seine Gedankenbotschaften, aber Lyn konnte Teile davon erfassen: Amals Mädchen ... scheint ja ganz nett zu sein ... ist aber ganz schön verknallt ... kann's ihm nicht verübeln ... würde ihr selbst gern ... Sie wandte sich Amal zu und sagte: »Komm, Amal. Unsere Schatten verscheuchen die Fische.« »Macht nichts, Miss. Sollen jetzt noch gar nicht anbeißen. Muß mich erst noch ausruhen.« Als sie die Anhöhe hinaufgingen, fragte Amal: »Nun?« »Er dachte an Samstagabend.« »Um das zu wissen, braucht man keine Gedankenleserin. Schließlich denken sie an nichts anderes.« Amal sah zu dem alten Mann hinüber. »Zu den Glattköpfen gehört er hin. Im Fort Tejon würde er sich wie zu Hause fühlen.« »Du meinst die Glatzköpfe, die Skinheads«, verbesserte ihn Lyn. »Lassen wir den Korb noch zu. Ich möchte mir die alte Mühle von innen ansehen.« Es war dunkel und muffig in der stillgelegten Mühle. Der Fußboden war völlig verzogen, der Treibriemen mit einer dicken Staubschicht bedeckt und der Schleifstein über und über mit Spinnengewebe über-
zogen. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte Lyn die Hintertür, nach der sie gesucht hatte. »Sehen wir uns doch mal den Lagerschuppen an«, meinte sie. Wie sie aus Emersons Gedanken im voraus gewußt hatte, war der Fußboden im Lagerschuppen eben und der ganze Raum war mit knorrigem Kiefernholz abgedichtet worden. In einer Ecke stand eine Art Etagenbett, das an den Wänden befestigt war. Die frei herausragende Ecke der oberen Lage wurde von der Geländersäule gestützt, die an der Vorderveranda der Emersons fehlte. »Das könnte Onkel Moses Zufluchtsort sein«, meinte Amal. »Es könnte jener Ort sein, wo sich die Emersons aufzuhalten gedenken, bis sie von ihrem Imbißstand leben können.« »Wirklich schlau«, sagte Amal. »Das hast du aus der Geländersäule geschlußfolgert ... Aber wie kommen sie in die Stadt und wieder zurück?« »Vermutlich in einem Essex, Modell A«, erwiderte Lyn, »der ihnen von demselben Philantrop zur Verfügung gestellt wird, der ihnen auch ein zinsloses Darlehen in Höhe von zweihundertzwanzig Dollar, rückzahlbar nach zwei Jahren, bewilligt hat ... Gibst du jetzt zu, daß ich Gedanken lesen kann?«
»Meinetwegen«, sagte er achselzuckend. »Ich habe zwei Leben gelebt. Warum also nicht auch die Frau, die ich liebe, in den Kreis der Mißgeburten aufnehmen?« Die Bitterkeit in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Als sie die Mühle verließen und wieder ins Freie kamen, sahen sie, daß Onkel Moses sich ein Stück entfernt hatte und nun außer Hörweite war. »Schatz, meine Gabe ist nur die Fähigkeit, Gesichtsund Körperbewegungen zu deuten. Zauberkünstler können mit denselben Tricks aufwarten.« »Du willst nur nicht zugeben, was wirklich mit uns los ist«, sagte er scharf. »Sehen wir den Tatsachen ins Auge, meine Liebe. Wir sind beide Monstren, die den Frankenstein suchen, der sie geschaffen hat.« Als er sich über den Picknickkorb beugte, sah sie deutlich sein vorgeschobenes Kinn und die geschwollene Ader über seiner Schläfe. Der junge Mann, der sie eben noch angelächelt hatte, war von Wut ergriffen. Sie spürte, daß eine wilde Kraft von ihm ausging, die sie beide umfaßte, und sie beugte sich vor und küßte ihn auf den Nacken. Die seltsame Kraft erstarb. »Wünscht die Dame Schinkenwürfel?« fragte er. So lag ein Schatten über ihrem Picknick bei strahlendem Sonnenschein. Die Dunkelheit lichtete sich, als sie am Freitag im Mondschein baden gingen.
Wenn schöne Frauen sich betören lassen, machen sie die Entdeckung, daß die Männer sie hintergehen, manche früher, andere später. Lyn gehörte zur ersteren Sorte, und obwohl es ihr an Anpassungsvermögen nicht mangelte, konnte sie sich mit dem Verrat, der noch vor dem Frühstück an ihr begangen wurde, nachdem sie sich erst am Abend zuvor hatte betören lassen, nur schwer abfinden. Als sie die Geschehnisse später analysierte, erkannte sie, daß ihre eigenen Neurotizismen zum Verlauf des Abends beigetragen hatten. Als sie zehn Meter von Amal entfernt nackt im Gebüsch stand, fühlte sie sich von der umgebenden Kulisse auf unbestimmte Weise irritiert. Der Mond, der niedrig über den Bäumen am Ostufer des Mühlteichs hing und dessen Licht auf das Wasser schien, und das leise Plätschern der Wellen, die gegen die Böschung schlugen, verliehen der Nacht etwas Unwirkliches und auch, wie sie fand, Märchenhaftes. »Wer zuletzt drin ist, hat verloren«, rief Amal. Er rannte zum Ufer und stürzte sich mit einem Hechtsprung ins Wasser. Lyn tauchte. Kalifornien war im April nicht das, was Florida im Juli war, und als sie aus dem eiskalten Wasser auftauchte, schnappte sie zähneklappernd nach Luft. Amal war ihr bereits zehn Meter voraus und schwamm zügig und kraftvoll auf das andere Ufer zu. Sie schwamm hinter ihm her und
spürte, wie ihre Blutzirkulation wieder in Gang kam, als sie mit einem australischen Kraulstil durch das Wasser glitt. Er wartete kurz vor dem anderen Ufer auf sie. Sein Körper ragte höher aus dem Wasser heraus, als es ihr ihr Schamgefühl erlaubt hätte, und er rief: »Dein Kraulen ist nicht schlecht. Wie ist dein Rückenschwimmen?« »Ziemlich aufschlußreich. Komm mir nicht mit solchen Tricks, mein Lieber.« »Wir gehen ein Stück das Ufer rauf und schwimmen um die Wette«, sagte er. »Bis zum Wehr sind es dann hundert Meter.« »Gib mir einen Vorsprung«, bat sie. »Du rauscht durch das Wasser wie ein Delphin. Wie lernt man in einer Wüste so gut schwimmen?« »Im Koptischen Schwimmverein junger Männer in Bagdad«, antwortete er zähneklappernd. »Ich schwamm einmal durch den Hellespont und wäre fast ertrunken. Gut, ich gebe dir zehn Meter Vorsprung.« Sie legte es darauf an, ihn zu schlagen, und während der ersten dreißig Meter hielt sie die Führung. Als sie ihn dann dicht hinter sich hörte, wußte sie, daß sie verlieren würde, und schwamm ihm in den Weg. Mit seinen kraftvollen Schlägen schwamm er um sie herum, neben sie, und da kam ihr eine der schlechtesten Ideen, die sie je gehabt hatte. Sie be-
schloß, ihn mit einem Stoß gegen den Oberschenkel aus der Bahn zu werfen, um das Rennen doch noch zu gewinnen. Sie legte sich genau in dem Moment auf die Seite, um ihm den Stoß zu versetzen, als er dasselbe Manöver ausführte. Sie sahen sich in die Augen. So als hätte sie plötzlich ein Zauberstab berührt, verschwanden ihre letzten Zweifel an Amal. Der plötzliche Begeisterungstaumel tief aus ihrem Innern ließ sie erstarren, und sie hätte in dem drei Meter tiefen Wasser ertrinken können, wäre da nicht Amals unkonventionelle Art, Dinge zu tun, gewesen. Anstatt instinktiv zu tauchen, drehte er sich auf den Rücken, klemmte ihren Körper mit den Beinen ein und zog sie zu sich. Ob er sie ins Schlepptau nahm oder vor sich herschob, jedenfalls schaffte er sie mit kraftvollen Beinstößen zum Ufer. Als sie in seichtem Wasser ankamen, richtete er sich auf und schlang die Arme um sie. Er zog sie mit sich ans Ufer und trug sie dann stöhnend zu dem kleinen Hügel, um ihrem epikureischen Fasten ein Ende zu setzen. In dieser Nacht funkelten keine Sterne über dem nachgebildeten Alabama, aber als Lyn die Augen wieder aufschlug, waren sie um zehn Grad am Himmelszelt weitergewandert. Ihre ersten zusammenhängenden Worte waren: »Aber an meinem Hochzeitstag trage ich trotzdem Weiß.«
»Selbstverständlich, Liebste. Dieses Mal zählt nicht, denn ich mußte dich ja vorm Ertrinken retten.« »Was war das nun für ein Geheimnis, das dich so erstaunt hat?« »Ach, das! Ich machte mir Gedanken über die Meßwerte von den Belastungssensoren an der SanAndreas-Verwerfung. Meinen Gleichungen zufolge hätten wir nämlich ein schweres Erdbeben haben müssen – vor fünfzig Jahren. Aber die Antwort war so einfach und schön wie dies hier ...« Er legte ihr die flache Hand auf den Busen, und die beiläufige, intime Berührung erregte sie. »Magnetische Anziehung«, fuhr er fort. »Das Eisen in den Verwerfungsbruchlinien wird vom Erdmagnetfeld magnetisiert, und die Bruchlinien werden so regelrecht festgeklemmt. Doppelmagneten.« »Das Feld wird sich doch nicht ändern, oder?« »Ein wenig, aber nicht soviel, daß es ... zählt.« Als er mitten im Satz stockte, wurde er plötzlich nachdenklich. Wieder spürte sie den Wirbel seiner inneren Energien, die ihr wie ein psychischer Mahlstrom vorkamen, und ihr Verlangen stieg in dem Maße wie das seine. »Das ist gut«, sagte sie. »Ich habe nämlich vergessen zu zählen.« »Bring mich nicht in Versuchung, Lyn. Wir müssen uns noch etwas für die Hochzeitsnacht aufsparen. Ich
muß jetzt schnell nach Hause, um dir einen Orden für die Anstrengung von heute nacht zu fabrizieren, ob nun die Liebe ruft oder nicht.« Na ja, er mußte wirklich müde sein, dachte sie, und er hatte eindeutig eine Vorliebe für spontane Komplimente. Lyn schlief, noch bevor sich das Motorengeräusch von Amals Wagen in der Ferne verloren hatte. Amal dagegen war während der Fahrt zur Culpepperfarm hellwach und dachte nach. In diesen Augenblicken hätte ihm eigentlich nichts anderes im Kopf herumgehen dürfen als das Mädchen, mit dem er die Nacht verbracht hatte. Er war schon früher von seltsamen Zwängen ergriffen worden, aber noch nie zu so unpassender Zeit und mit solcher Heftigkeit. Sein Bewußtsein schwebte in einer Welt des Abstrakten, losgelöst von der Gegenwart, und dieser Zustand war unmittelbar nach Lyns Frage eingetreten, ob sich das Magnetfeld der Erde verändern würde. Ihre Frage hatte ihn auf ein Problem gebracht, das er in seiner Magnetbindungstherorie nicht berücksichtigt hatte. Er beschleunigte die Fahrt, ließ den Wagen vor dem Haus der Culpeppers ausrollen, und als er die Haustür aufmachte, hatte er bereits Gleichungen im Kopf, mit denen er den Cal-TechComputer nicht gefüttert hatte. In seinem Zimmer
angekommen, stellte er die Schreibtischlampe an und holte den Notizblock hervor. In seinem Geist sah er eine Karte von Südkalifornien vor sich mit allen Verwerfungsästen, die wie Äderchen von der Hauptschlagader, der San-Andreas-Verwerfung, ausgingen. Noch vor dem Frühstück war Amal zurück und riß Lyn und die Emersons aus den Betten. Er ließ sie im Wohnzimmer zusammenkommen und verletzte ein hiesiges Tabu, indem er ihnen verkündete, daß ein möglicherweise schweres Erdbeben bevorstand. Zur Illustration kritzelte er ihnen unverständliche Zeichnungen auf einen Notizblock. Lyn rieb sich noch den Schlaf aus den Augen, war aber wach genug, um zu erkennen, daß er etwas so Dringendes auf dem Herzen hatte, daß er darüber ihr fehlendes Make-up vollkommen übersah. Seine Ausführungen verstand sie allerdings nie so ganz. Am 5. Mai 2062 um 13 Uhr 33, in weniger als zwei Wochen also, würde die San-Andreas-Verwerfung in der Gegend von Palmdale einbrechen. Alle Anzeichen deuteten auf ein schweres Erdbeben hin, doch wollte Amal sich nicht genau festlegen. Wenn sie richtig verstanden hatte, lautete seine Theorie, daß eine Sonnenfinsternis, die sich zu weit im Süden entlangziehen würde, um von den Vereinigten Staaten aus beobachtet werden zu können, eine zeitweilige Fluktuation im Magnetfeld der Erde
hervorrufen würde. Die während der Sonnenfinsternis gleichgerichtete Anziehungskraft von Mond und Sonne würde einen Effekt hervorrufen, für den Amal den Begriff ›Springflut im Magnetbauch der Erde‹ prägte. »Warum sind denn nicht nach allen Sonnenfinsternissen Erdbeben aufgetreten?« fragte Lyn schläfrig. »Aus unterschiedlichen Gründen. Viele Faktoren spielen dabei mit – der Druck auf die Erdkruste, die Ausrichtung der Verwerfungslinien mit dem Magnetfeld, die Zickzackanordnung der Verwerfungslinien selbst. Aber größere Erdbeben haben sich tatsächlich nach Sonnenfinsternissen ereignet. In einer MajaLegende ist davon die Rede, daß eines Tages die Erde erbebte und der Himmel sich verfinsterte. Dasselbe soll sich ereignet haben am Tag, als Christus starb. Und man hat Grund zu der Annahme, daß Julius Cäsar kurz vor einer von einem Erdbeben begleiteten Sonnenfinsternis starb.« »Aber wodurch gerät Palmdale ins Epizentrum?« Er schlug eine Seite des Notizblocks um. »Hier«, sagte er. Sie sah eine Reihe Pfeile, die anzeigten, daß die Veränderung der Magnetfeldlinien zu einem Abschnitt der Verwerfungslinie in der Nähe von Palmdale parallel verlief. »Wenn sich das Feld an dieser Stelle verlagert, bleibt die Magnetbindung entlang der Verwerfung
aus. Dieser Abschnitt wird nachgeben und mit der Schnelligkeit einer Guillotine einstürzen. Wenn die Bruchlinien an dieser Stelle der Verwerfung nicht halten«, – er zeigte auf einen Knick in der Verwerfungslinie bei Victorville – »wird der gesamte Abschnitt von Palmdale bis ins Imperial-Valley einbrechen. Der größte Teil Südkaliforniens und des Bajagebirges wird erschüttert werden. Bei einer Stärke von SiebenKomma-Fünf würden einige Module aus den Turmgerüsten herausgerissen werden. Ein Erdbeben der Stärke Acht-Komma-Fünf auf der Richterskala ist zehnmal so stark wie eins der Stärke Sieben-KommaFünf. Bei einem noch stärkeren Beben als AchtKomma-Fünf würde der bevölkerte Teil Südkaliforniens durchgeschüttelt werden wie jemand, der auf dem Rücken eines außer Rand und Band geratenen Elefanten reitet.« »Wie steht es mit unserem kleinen Haus?« fragte Mrs. Emerson. »Es ist weit sicherer als jeder Turm«, versicherte ihr Amal. »Trotzdem ist es besser, wenn Sie am Mittwoch in acht Tagen um 13 Uhr 33 ins Freie gehen und sich vom Schornstein fernhalten, bis die letzten Erdstöße aufgehört haben.« »Dann mache ich jetzt Frühstück«, sagte Mrs. Emerson. Lyn wußte, daß Dilsey sich heute freigenommen hat-
te, weil sie sich auf ihre Verabredung mit einem Dothamer Gepäckträger am Abend vorbereiten wollte. »Die Regierung hat uns versichert, daß die Türme erdbebensicher sind«, sagte Lyn zu Amal. »Amtliches Gewäsch«, sagte er und hob den Arm, um etwas zu demonstrieren. »Die Gerüste werden standhalten. Sie bestehen aus Baustahl. Aber wenn sie schwanken, etwa so, werden die Module auf der einen Seite nach außen gepreßt. Dann reißen die Befestigungsbolzen, mit denen sie an den scherenförmigen seitlich herausragenden Stahlträgern verankert sind. Der Turm schwankt jetzt nach der anderen Seite hin und drückt die Module zusammen. Dabei reißen die Bolzen auf der gegenüberliegenden Seite. Er schwankt jetzt wieder nach der anderen Seite. Die Module aus Plastistahl sind elastisch. Sie ›erinnern‹ sich an ihre ursprüngliche Form, und wenn sie sie annehmen, werden die oberen, nur an einem Träger befestigten Module aus dem Gerüst herausgeschossen kommen wie ein Wassermelonenkern, den ein Junge zwischen Daumen und Zeigefinger von sich schnippt. Die oberen Apartmentbausteine im rechten Winkel zur Schwankrichtung werden von ihren Trägern losgerissen werden und herabfallen. Sämtliche oberen Module bis auf das oberste, das am Turmpfeiler fest verankert ist, werden von ihren Trägern fallen – bei einem schweren Erdbeben.«
»Aber du bist dir nicht sicher, daß es ein schweres Erdbeben geben wird?« »Nicht wenn die Verwerfung bei Victorville standhält. Aber es wäre klug, sich auf eine Katastrophe einzustellen. Die Türme müßten evakuiert werden, der Strom in den Leitbändern der Autobahnen und die Elektromagnete der Bahnstrecken abgeschaltet werden. Nahrung und Medikamente müßten bereitgestellt werden. Man sollte sich auf die Möglichkeit einer totalen Zerstörung und Isolierung von Los Angeles vorbereiten. Wir müssen uns sofort mit Doktor Kley in Verbindung setzen.« Obwohl sie das Ausmaß der Katastrophe, die er ausmalte, noch kaum fassen konnte, war ihr sofort klar, wie schwierig es sein würde, den Verwaltungsapparat wegen seines Anliegens in Gang zu bringen. Mindestens einmal pro Woche erhielt sie eine dringende Warnung – die sie natürlich von Doktor Kley fernhielt –, das Ende der Welt oder der Jüngste Tag oder auch beides stünden bevor und die Stadt solle sich darauf vorbereiten. Amal gehörte nicht zu solchen Spinnern, aber das wußte Doktor Kley schließlich nicht. Wenn Doktor Kley Amals Vorschlägen nachkam und entsprechende Maßnahmen einleitete und die Verwerfung bei Victorville dann doch hielt, hätte er sich zum Gespött der ganzen Stadt gemacht, und seine Karriere als Politiker wäre ruiniert.
Aber von einem Araber konnte man nicht erwarten, daß er das komplexe politische System der Vereinigten Staaten verstand. Lyn war immer noch wie betäubt von Amals Vorhersage. Sie sagte: »Ich könnte Doktor Kley wahrscheinlich noch heute vormittag ausfindig machen. Aber der Rat der Supervisoren muß über deine Petition entscheiden, und die muß von einem Rechtsanwalt aufgesetzt und dann Doktor Kley vorgelegt werden.« »Was ist dieser Rat der Supervisoren?« »Ein Ad-hoc-Komitee, dessen Mitglieder von Doktor Kley aus den verschiedenen Ressorts der Stadtverwaltung zusammengerufen werden.« »Ich werde ein Grieche sein, der zu Römern spricht«, meinte Amal. »Was ich dir gesagt habe, würde einen Experten Gausscher und Reisscher Mathematik, der zugleich eine Autorität auf dem Gebiet der Allgemeinen Feldgleichungen ist, zu heftigem Widerspruch reizen.« »Dem Rat steht ein Berater zur Verfügung, der Mathematisches in Laiensprache übersetzt. Es ist ein pensionierter Mathematiklehrer vom Städtischen College.« »Möge Gott ihm und uns helfen«, sagte Amal aufgebracht. »Wann ist der frühest mögliche Zeitpunkt, zu dem ich meine Petition vorbringen kann?«
»Ich würde meinen, nicht vor Dienstag. Die Komiteemitglieder müssen erst ernannt werden.« »Zu spät«, stöhnte Amal. »Die Mühlen der Verwaltung mahlen langsam«, sage Mr. Emerson gelassen, »und äußerst grobkörnig.« »Behutsamkeit ist unumgänglich«, sagte Lyn. »Man muß sich an bestimmte Verfahrensweisen halten. Man wird Erkundigungen über dich einziehen und deine Glaubwürdigkeit nachprüfen müssen. Doktor Kley würde seine Karriere aufs Spiel setzen, wenn er versuchte, dem Komitee eine Angelegenheit dieser Art ohne triftige Gründe zur Entscheidung vorzulegen.« »Die einzige Autorität, die für Doktor Kley in diesem Zusammenhang von Interesse sein könnte, ist Doktor Reynolds, der Dekan des seismologischen Fachbereichs am Cal Tech. Wenn er Doktor Kley meine Leumundszeugnisse vorlegt, dürfte die Anhörung sehr schnell zustande kommen.« »Und was ist mit dem Autorennen heute?« »Die Zeit für Spaß und Spielereien ist vorbei, Lyn. Dieses Erdbeben ist kein gestellter Sensationsfilm. Wirkliche Menschen werden eines wirklichen Todes sterben.« Später wurde ihr klar, daß es Amals beiläufige Erwähnung von Sensationsfilmen gewesen war, die sie
auf eine Idee brachte, wie man das Leben der Einwohner von Los Angeles retten konnte. Im Moment jedoch haderte sie mit einem anderen Teil seiner Bemerkung. »Dann betrachtest du unsere Hochzeit also nur als Spielerei?« Sein Tonfall wurde sofort sanft. »Schatz, wir lassen uns nach wie vor in Dotham trauen. Und zwar am Samstag nach dem Erdbeben. Das ist nur eine Verzögerung von einer Woche.« »Frühstück ist fertig«, rief Mrs. Emerson aus der Diele. Sie drehten sich um und gingen ins Eßzimmer. Irgend jemand, dachte Lyn, hatte einmal gesagt, daß alle Romanzen mit einer Tragödie endeten; ihre Romanze mit Amal fing mit einer Tragödie an. Lyn war überrascht, daß die Anhörung tatsächlich so rasch zustande kam, wie Amal angedeutet hatte. Mit Hilfe des Telesuchers machte sie Doktor Kley in einem Apartment im Turm der Muße ausfindig, und obwohl er noch verschlafen wirkte, war er bei bester Laune. Offenbar hatte er sich unmittelbar nach ihrem Anruf mit Doktor Reynolds in Verbindung gesetzt, um sich über Amals Qualifikation zu erkundigen, denn kaum fünfzehn Minuten später rief er sie in ihrem Apartment an, wo sie zusammen mit Amal wartete. Er wies sie an, von der Liste der vierundzwanzig
ständigen Supervisoren genügend Leute für ein beschlußfähiges Gremium zusammenzutrommeln und die Anhörung für Montagnachmittag anzuberaumen. Indessen mußte die Petition noch verfaßt werden. Lyn rief Red Benton in seinem Apartment drei Stockwerke höher an, und der schlaksige, sommersprossige, 166 Zentimeter große Rotschopf kam unverzüglich zu ihnen herunter. Amal hatte wenig Mühe, ihn zu ›bekehren‹, doch bestand Red aus Gründen, die Lyn erst später klarwerden sollten, auf der Formulierung ›dieses angebliche Erdbeben also ...‹ Red holte Hal Carpenter herbei, einen Journalismusstudenten im fortgeschrittenen Fachsemester, der einige Etagen tiefer wohnte und Amal bei der Formulierung seines mündlichen Vortrags vor dem Rat helfen sollte. Hal war ein gewitzter, schlagfertiger und eigensinniger Bursche, aber für Lyns Geschmack ein bißchen zu zynisch. Amals Gabe zur Metaphorik ging ihm ab, doch dafür brachte die ihm eigene unkomplizierte klare Sprache System in Amals Gedankengänge. Während Lyn Reds Petition abtippte und nebenbei noch die Supervisoren anrief – sie bekam die nötigen sechs zusammen –, erhielt sie eine solide Grundausbildung in Geophysik, Jura und Kommunikationswissenschaft. Von Amal erfuhr sie, daß es drei Gruppen von Erdbebenwellen gab, Kompressionswellen, Scherwel-
len und Love-Wellen, abgekürzt P-, S- und L-Wellen genannt. Hal Carpenter, der einen Artikel über Erdbeben verfassen wollte, titulierte sie prompt Schüttel-, Rassel und Rollwellen. Von Hal erfuhr sie, daß ein Artikel so verschlüsselt werden konnte, daß jeder studentische Herausgeber ihn in seinem Blatt abdrucken würde, selbst wenn das einen ›Überfall der Blauröcke‹ – archaischer Slangausdruck für Ermittlungen der Polizei – nach sich zog. Von Red Benton erfuhr sie zu ihrer Überraschung, daß Erdbebenvorhersagen gemäß den Bestimmungen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung – einem Zusatz zum vor der Massenvernichtung verabschiedeten ›Gesetz gegen öffentlichen Aufruhr‹ – in dieselbe Kategorie fielen wie Bombendrohungen, die während der Blütezeit des interkontinentalen Flugverkehrs ein so schwerwiegendes Problem gewesen waren. Für jemanden, der so großes Interesse an politischen Vorgängen hatte wie Lyn, war die Unterhaltung alles andere als langweilig. Sie bedauerte nur das unvermeidliche Klappern ihrer Stenographiermaschine, das sie beim Zuhören störte. Die lange demokratische Tradition der Staaten wurde aufs eifrigste erörtert, und während der ganzen Zeit hing jene Gesetzessammlung, die sich gegen subversive studentische Tätigkeit richtete, wie ein Damoklesschwert über den Diskussionen.
Lyn war noch nie in so engagierte Gruppenaktivitäten einbezogen gewesen. Hinzu kam, daß die Teilnahme mit einem persönlichen Risiko verbunden war. Denn, so erfuhr sie von Red, wenn sie ihre Vorhaben ohne behördliche Absegnung in die Tat umsetzten, erwartete sie alle eine Anklage wegen Konspiration. Die Gesetze gegen Konspiration waren so beschaffen, daß eine Strafverfolgung auch im nachhinein möglich war, gleichgültig, ob eine Absicht zu konspirieren ursprünglich bestanden hatte oder nicht. Zur Mittagszeit legten sie eine Essenspause ein. Red wies sie an, zur Vorsicht mit leiser Stimme zu sprechen, um ja keine Erdbebengerüchte in die Welt zu setzen. Seine Warnung erhöhte nur die ohnehin schon gespannte Atmosphäre an ihrem Tisch. Aus diesen Gesprächen, dachte Lyn, konnte der entscheidende Impuls zum Erlaß jener Verordnung ausgehen, die zur Evakuierung der Stadt führen würden. Im Geist sah sie bereits große, mit Menschen vollgestopfte Busse vor sich, die stadtauswärts fuhren, und riesige Lastkräne, die die obersten Turmmodule zum Erdboden herabließen. Als sie sich zu ihrer Vision äußerte, meldete Hal Carpenter starke Zweifel an. »Politiker lassen sich nicht von Vernunft leiten. Das äußerste, was wir uns erhoffen können, ist, Amals Vorhersage auf legale Weise an die Öffentlichkeit
dringen zu lassen. Die Presse wird über die Anhörung berichten, und wenn Amal seiner Vorhersage genug Nachdruck verleiht, wird auch sie in den Meldungen Erwähnung finden.« »Jetzt spielst du aber den Zyniker, Hal«, sagte sie. »Jedem Bürger wird eine faire Anhörung gewährt.« »Und anschließend wird ihm bedeutet, er solle sich zum Teufel scheren«, entgegnete Hal. »Außerdem ist Amal kein Bürger.« »Das kann sich nur positiv für ihn auswirken«, konterte sie. »Die Supervisoren werden einem Staatenlosen, der neutral ist und keine eigennützigen Ziele verfolgt, ihr Gehör schenken.« »Untergrabe uns nicht Lyns Moral«, sagte Red zu Hal. »Vielleicht brauchen wir sie später noch als Horchposten. Du mußt es so anstellen, daß in Amals Plädoyer immer wieder das Wort Sonnenfinsternis auftaucht. Wenn man dann später über das Ereignis berichtet, wird sich jeder an seine Vorhersage erinnern.« Langsam nahmen ihre Vorstellungen konkrete Formen an. Lyn konstatierte ein eigentümliches Phänomen. Ihre Anwesenheit setzte keine libidinösen Energien in der Runde frei. Sie fragte sich, ob das der allgemeinen Konzentration am Tisch oder dem Diamantring an ihrem Finger zuzuschreiben war. Gegen Ende ihrer Mittagspause erreichte sie eine
unerfreuliche Nachricht. Über Fernsehen kam die Meldung durch, daß sich bei Johannesburg in Südafrika ein Bergwerksunglück ereignet hatte. Fünftausend Minenarbeiter waren dabei ums Leben gekommen. Lyn bekam nicht alles mit; sie verstand nur, daß ein Laserapparat, eine Neuerfindung, die erstmals beim Tunnelbau zum Einsatz kam, außer Kontrolle geraten war, die Hauptstützbalken von drei darüberliegenden Stollen durchtrennt und die Grube zum Einsturz gebracht hatte. In einer Nahaufnahme wurde ein Überlebender gezeigt, ein Schwarzer, der Englisch sprach und dem der Schock deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Er sagte immerzu: »Unmöglich, einfach unmöglich. Einen Meter daneben, und die Träger hätten gehalten. Aber er hat gleich drei erwischt.« Mit ›er‹ meinte der Bergarbeiter einen jungen Afrikaner, Laserspezialist und Erfinder der Tunnelbohrvorrichtung. Er war bei dem Unglück ums Leben gekommen. Am Montag, dem 26. April 2062, wurde um 13 Uhr im Rathaus von Los Angeles vor einem Rat von Supervisoren in Gegenwart von Zeugen eine Petition vorgetragen. Bittsteller war Amal E. Severn, Seismologe, der unter Berufung auf ein möglicherweise schweres Erdbeben, das am Mittwoch, dem 5. Mai
2062, stattfinden sollte, darum ersuchte, die Stadt zu evakuieren. Anhörende außer dem Vorsitzenden Doktor Kley waren Howebrand, Leiter des Kommunalen Fernsehens; Paul, vom Finanzwesen; Washington, vom Bauwesen; Hagenbeck, Ressort des Innern; Calvin, vom Verkehrswesen; und Jeffers, der Polizeichef. Offiziell zugegen waren außerdem Doktor Westover Baum in seiner Eigenschaft als wissenschaftlicher Berater und Lyn Oberlin als Protokollführerin. Zu Beginn seiner Ausführungen bediente sich Amals einer klaren und leichtverständlichen Sprache. Auf einer geographischen Karte zeigte er jene Stellen der San-Andreas-Verwerfung auf, die den Meßergebnissen zufolge größter Belastung ausgesetzt waren, und erläuterte seine Magnetbindungstheorie. Dann führte er aus, daß die Sonnenfinsternis eine Verlagerung des Erdkerns bewirken würde, die ihrerseits eine lokale Veränderung des Erdmagnetfelds hervorrufen würde. Dabei ging er Lyns Meinung nach etwas zu sehr ins Detail. Baum wurde nicht aufgerufen, um das Gehörte in Laiensprache wiederzugeben. Dazu wäre er auch nicht in der Lage gewesen, wie Lyn wußte. Er mühte sich noch mit der Magnetbindungstheorie ab, als Amal bereits die Allgemeinen Feldgleichungen erörterte, aus denen sich die Verlagerung des Erdkerns ableitete.
Als Epizentrum gab Amal eine Verwerfungsbruchlinie an, die zweitausend Meter unterhalb des Palmdale-Kraftwerktunnels der Kalifornischen EdisonWerke lag – der Tunnel ging von Moho Fünf aus und lag sechstausend Meter unter der Erdoberfläche. Die Supervisoren hörten aufmerksam zu, bis es zur Fragestunde kam. Von nun an konnte Amal nicht mehr auf den sorgfältig vorbereiteten Text von Hal Carpenter und Red Benton zurückgreifen. Hagenbeck, vom Energiewesen, fragte: »Sind die atomaren Dampfkraftwerke des Antelope Valley in Gefahr?« »Jawohl, Sir. Reaktor Fünf würde sich bei einem Beben der Stärke Sechs-Komma-Fünf ausschalten. Bei Sieben-Komma-Null würde die gesamte Stromzufuhr von Apple Valley bis Lancaster ausfallen.« Und damit zehn Prozent der städtischen Stromversorgung, dachte Hagenbeck, wie Lyn in seinen Gedanken las. Dem Publikum, zumeist Reportern, war klar, daß die Gefahr einer atomaren Explosion nicht bestand. Bei einer Unterbrechung des Laserkontrollstrahls zu den Dampfturbinen würden die schwerkraftgesteuerten Kadmiumstäbe automatisch in die Reaktorgehäuse gesenkt werden und alle Strahlung absorbieren. Calvin, vom Transportwesen, erkundigte sich nach der Gefährdung der Autobahnen nördlich der Stadt. »Wenn das bevorstehende Beben die Stärke Sieben-
Komma-Null erreicht, wird die Ridge-Route in der Gegend Frazier-Park/Tejon zerstört werden. Bei AchtKomma-Null werden sämtliche Leitbänder im Norden auf Grund ihres miserablen Unterbaus zertrümmert werden.« Lyn zuckte zusammen. Calvin hatte in eigener Person Aufträge für den Bau mehrerer Leitbänder vergeben. »Wie kommen Sie zu der Behauptung, der Unterbau der Leitbänder sei miserabel?« hakte Calvin nach. »Die Bauvorschriften schreiben eine unelastische Betonunterlage vor.« Calvin bedankte sich. Amal hatte das Transportwesen von seiner Verantwortlichkeit entbunden und den Schwarzen Peter dem Bauwesen zugeschoben, wo die Bauvorschriften ausgearbeitet worden waren. Amal setzte dem Bauwesen einen zweiten Rüffel auf, als er nach der am stärksten gefährdeten Stelle der Stadt, den Türmen, gefragt wurde. »Man hat beim Bau der Türme große Sorgfalt walten lassen, doch hat man übersehen, daß die eingeschobenen Module eine Elastizität besitzen.« Washington war noch ein Kind gewesen, als die Türme gebaut worden waren. Doch Amals Bemerkung setzte das Bauwesen in ein schlechtes Licht, denn dort war die Modulkonstruktion genehmigt worden.
»Sie reden von dem ›bevorstehenden Erdbeben‹«, sagte der Supervisor gereizt. »Machen Sie eine uneingeschränkte Vorhersage?« »Jawohl«, entgegnete Amal mit fester Stimme. »Das Erdbeben wird am 5. Mai um 13 Uhr 33 stattfinden, wenn die durch die Sonnenfinsternis hervorgerufene Verlagerung des Erdkerns ihr Maximum erreicht. Aus diesem Grund sehe ich mich genötigt, dem Komitee nahezulegen, Maßnahmen ins Auge zu fassen, die eine reibungslose Evakuierung aller Türme am 5. Mai sowie die Sperrung aller Straßen und Bahnlinien gewährleisten.« Kley schaute auf die Uhr und schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Das Komitee dankt dem Antragsteller für seinen Pflichteifer und ersucht darum, daß er seine Unterlagen dem Komitee zur Verfügung stellt, das sich nun zur Beratung zurückziehen wird. Wenn das Publikum warten möchte – die Entscheidung des Komitees wird um 14 Uhr verkündet werden.« Das war in kaum fünfzehn Minuten. Kley wollte den Beschluß in kürzester Zeit durchpeitschen. Er war um 14 Uhr 30 mit der Witwe zum Golf verabredet, wie Lyn seinen Gedanken entnommen hatte. Aber das konnte Amal zum Vorteil gereichen. Einerseits würde sich die feindselige Einstellung jener Komiteemitglieder, die Amal durch seine kritischen
Bemerkungen gegen sich aufgebracht hatte, in der Eile nicht auf ihr Votum auswirken; zum anderen würden die Zeitungsleute den Sitzungssaal aus Langeweile nicht vorzeitig verlassen, sondern warten, bis die Entscheidung verkündet wurde. Als man im Beratungszimmer Platz genommen hatte, sah sich Lyn außerstande, die Gedanken der Komiteemitglieder zu lesen. Westover Baums Verwirrung überlagerte alle anderen Gefühle. Kley ging nicht auf Amals Ausführungen ein, sondern fragte den Mathematiker nach seiner Meinung. »Leider kann ich die Schlußfolgerungen des jungen Mannes nicht nachvollziehen, Herr Vorsitzender. Trotzdem meine ich, daß man ihn ernst nehmen sollte.« Kley dankte ihm und entließ ihn. Nachdem Baum gegangen war, konnte Lyn sich auf die gedämpften Ausstrahlungen der Komiteemitglieder konzentrieren. Kley saß am vorderen Ende des Tisches, die Komiteemitglieder zu jeweils dreien an beiden Seiten. Mitten auf dem Tisch stand eine Schale, in die bei der Abstimmung weiße oder schwarze Kugeln geworfen wurden, die über Annahme oder Ablehnung der Petition entschieden. Als Lyn die Aufzeichnungsapparaturen fertig installiert hatte, rückte sie einen Stuhl an die Wand, setzte sich und konnte von dort aus un-
bemerkt die Gesichter von Washington, Howebrand und Jeffers beobachten. »Geschätzte Komiteemitglieder«, sagte Kley, »ganz offensichtlich ist unser junger Bittsteller ein zu hervorragender Mathematiker, als daß wir über seine Argumentation einfach hinweggehen sollten. Doch wenn ich die Straßen sperren und die Türme evakuieren lasse, und das ist Ihnen allen bekannt, öffne ich einer Flut von Klagen gegen die Stadt seitens streitsüchtiger Ladenbesitzer, Kaufleute, Gastwirte und Pendler Tür und Tor. Wenn Sie sich für diese Maßnahmen entscheiden und mich somit zum Opferlamm machen, muß ich davon ausgehen, daß Sie sich zu einem unbesonnenen Urteil haben verleiten lassen. Wenn Sie aber die Risiken für groß genug erachten, um den Haushalt der Stadt aufs Spiel zu setzen, votieren Sie entsprechend, und ich werde Ihre Anweisungen ausführen. Und nun wollen wir uns für fünf Minuten besinnen und dann abstimmen.« Kley hatte sich mit seinen Ausführungen weder für noch gegen die Petition ausgesprochen, erkannte Lyn. Er überließ die Entscheidung dem Komitee. Lyn konzentrierte sich auf die Gesichter, die sie sehen konnte. Supervisorin Washington hatte die schmalen Lippen geschürzt und überlegte. Die dunkelhäutige Frau sah fast aus wie ein nubischer Stammeshäuptling. Lyn las: meine Cal-Ed-Aktien verkaufen und in Fo-
rest Lawn investieren ... Flugkarte nach den Bahamas besorgen ... schwarz oder weiß? Das Pferdegesicht von Jeffers, Pro-tem-Supervisor und ständiger Polizeichef, spiegelte folgende Gedankengänge wider: wochenlange Ausbildung der taktischen Sonderkommandos ... mal sehen, was sie gelernt haben ... für Krawalle braucht man Menschenmengen ... mache eine Angelpartie am fünften ... andere Seite von Catalina ... Flutwelle. Lyn richtete ihre Aufmerksamkeit auf Howebrand vom Kommunalen Fernsehen. Der Filmproduzent mit dem langen, schwarz gefärbten Haar, der getönten Brille und dem buntkarierten Mantel war der richtige Mann für seinen Job, war aber wohl hundert Jahre zu spät geboren worden, wie aus seinen Gedanken hervorging: Nahaufnahmen von Hubschraubern aus über den Trümmern ... an den Verwerfungslinien Bodenkameras aufstellen für die Autounfälle ... bis spätestens Mittag sitze ich im Flugzeug ... das ganze Material auf die Länge einer HowebrandProduktion zusammenschneiden. Als Kley mit dem Hammer auf den Tisch schlug, gaben die Supervisoren ihre Stimme ab. Was Lyn in den Gedanken der drei Komiteemitglieder gelesen hatte, brachte sie zu der Überzeugung, daß Amal sich bestenfalls ein geteiltes Votum erhoffen konnte, so daß die Entscheidung letztlich vom Vorsitzenden ab-
hing. Kley zog die Schale zu sich herüber, schaute hinein und ließ für jedermann sichtbar eine weiße Kugel fallen. Lyn war sofort klar, daß das offene Votum des Vorsitzenden bedeutete, daß Amals Petition abgelehnt worden war. Wenn sich ein schweres Erdbeben ereignete und die Türme zerstörte, würde die Bildaufzeichnung beweisen, daß der Komiteevorsitzende für die Evakuierung gestimmt hatte. Kley konnte dann auf sein Votum verweisen. Wenn es nur einen schwachen Erdstoß gab, würde das Votum in Vergessenheit geraten. »Lyn«, sagte Kley, »geben Sie bitte bekannt, daß die Petition durch ein Votum von vier schwarzen zu drei weißen Kugeln abgelehnt wurde. Von nun an hat jede Erdbebenvorhersage den Status eines die öffentliche Sicherheit gefährdenden Gerüchts.« Er drehte sich um und schenkte ihr ein Lächeln. »Selbstverständlich kann die Vorhersage als Teil des Anhörungsverfahrens in den Medien veröffentlicht werden. Somit dürfte den Zwecken Ihres jungen Freundes durchaus gedient sein.« Kley war Idealpolitiker, dachte Lyn, als sie in den Sitzungssaal ging, um die Entscheidung bekanntzugeben. Jeder hatte etwas von dem, was er hatte haben wollen, bekommen. Ein typischer Kompromiß des Großen Friedensstifters.
6 Lyn hatte Verständnis für die Entscheidung des Komitees. Amals Vorhersage war ausgesprochen strittig gewesen, und sie hatte so das Gefühl, daß ihn seine Phobie zu einer übertriebenen Reaktion veranlaßt hatte. Selbst in Kalifornien hatte es nur sehr wenige schwere Erdbeben gegeben, das letzte 1906. Vielleicht ließ sich Amal von der dem Araber eigenen Tendenz hinreißen, an die eigene Metapher zu glauben. Dennoch konnte sie das Votum der drei Supervisoren, deren Gedanken sie gelesen hatte, nur als schändlich bezeichnen. Wie immer ihre offizielle Stellungnahme lautete, insgeheim waren sie von Amals Worten überzeugt gewesen, jedenfalls insoweit, daß sie Vorkehrungen für ihre persönliche Sicherheit zu treffen beabsichtigten. Doch hatte sie das nicht daran gehindert, sein Vorhersage mit einem Bann zu belegen. Die vier trafen sich im Automatenrestaurant des Rathauses, um sich die Nachrichten um 14 Uhr 30 anzuhören und um nach dem Scheitern ihrer Petition die nächsten Schritte zu erörtern. Lyn hüllte sich in Schweigen. Sie war zu der Auffassung gekommen, daß die Gedankenfragmente, die sie bei der Beratung erhascht hatte, letztendlich nicht repräsentativ für die eigentlichen Erwägungen gewesen waren, die die
Supervisoren zu ihrem ablehnenden Votum geführt hatten, und hätte sie sich den anderen gegenüber dazu geäußert, hätte sie Dinge über sich verraten, die sie geheimzuhalten wünschte. Bei der folgenden Unterredung bei Kaffee trat überraschend wenig Groll zutage. Red war der Meinung, daß man die Petition hätte durchbringen können, wenn man sich der Unterstützung anderer Seismologen vom Cal Tech vergewissert hätte. Es war klar, daß die Stadt nicht auf Grund der unerwiesenen Behauptungen einer Einzelperson, noch dazu eines Studenten, einen Massenexodus in die umliegenden Wüsten in die Wege leiten würde. Wären aber Amals Argumente von einem Wissenschaftsrat, bestehend aus Seismologen, bestätigt worden, hätte man seine Vorhersage nicht als bloßes Gerücht abtun können, sondern sie als wissenschaftliche Wahrheit anerkennen müssen. In diesem Falle wäre niemand, der das Gerücht fortan verbreitete, Gefahr gelaufen, wegen Konspiration angeklagt zu werden. »Was hat es mit dieser ›Konspiration‹ auf sich?« fragte Amal. »Konspiration ist, wenn sich zwei oder mehr Personen zusammentun, um gegen ein Gesetz oder eine amtliche Verordnung zu verstoßen – zum Beispiel ein die öffentliche Ordnung gefährdendes Gerücht verbreiten.«
»Wie können wir ein Gerücht verbreiten, ohne ein Gerücht zu verbreiten?« »Durch Bezugnahme auf eine amtliche Verlautbarung«, sagte Hal Carpenter. »Das Fernsehen wird uns dabei nützlich sein. Und wenn die Abendzeitungen erscheinen, wird die Vorhersage in Großbuchstaben auf der Titelseite stehen. Jedesmal, wenn ein Angeleno danach das Wort ›Sonnenfinsternis‹ hört, wird er automatisch ›Erdbeben‹ denken.« »Es kommt nicht nur darauf an, die Vorhersage ins Bewußtsein der Öffentlichkeit dringen zu lassen«, sagte Amal. »Es genügt nicht, einfach aus den Türmen hinauszuspazieren. Wenn man nämlich in die falsche Richtung geht, kann man von den herabfallenden Modulen erschlagen werden. Dann muß dafür gesorgt werden, daß ein Dreitagevorrat an Essen, Wasser und anderen Versorgungsgütern zur Verfügung steht – einschließlich eines Gebetbuchs.« »Und was ist, wenn sich das Gerücht bewahrheitet?« fragte Lyn. »Das schützt nicht vor einer Anklage wegen Konspiration«, antwortete Red. »Wenn zwei Leute konspirieren, um ein gesetzlich verbotenes Gerücht zu verbreiten, und sich das Gerücht als wahr herausstellt, wird zwar die Anklage wegen Verbreitung des Gerüchts fallengelassen, die Anklage wegen Konspiration aber bleibt bestehen.«
»Was für ein unsinniges Gesetz«, meinte Lyn. »Historisch gesehen ist es keineswegs unsinnig«, sagte Red leicht gereizt. »Während des Bevölkerungsabflusses war das Verbreiten von Gerüchten eine beliebte Methode, Rassenunruhen auszulösen. Kam es daraufhin zu Unruhen, hatte sich das Gerücht als wahr herausgestellt, obwohl es die Unruhen erst entfacht hatte. Und mit Erdbebenvorhersagen pflegten Bodenspekulanten im Kalifornien der Vergangenheit die Grundstückspreise künstlich herabzudrücken.« »Mit Geschichte kannst du uns ein andermal füttern, Juraexperte«, fuhr Amal dazwischen. »Was können wir hier und jetzt tun, was erstens nicht gegen das Gesetz verstößt und zweitens zu einer Räumung der Türme am 5. Mai führt?« »Einen Bummel im Park machen«, entgegnete Red. »Um das Blutbad aus nächster Nähe zu beobachten, was?« Hal wandte sich an Lyn und fragte: »Was hältst du von folgender Schlagzeile für meinen Artikel: LoveWelle erschüttert Rathaus?« »Ich würde es für eine Skandalgeschichte halten«, erwiderte Lyn. Red war noch am überlegen. »Hal könnte eine Artikelserie für die Studentenzeitungen schreiben, in der er skizziert, was im Falle eines schweren Erdbebens zu tun ist ...«
»Und sie zu einer Broschüre verarbeiten«, warf Lyn ein. »Wie viele Studenten lesen diese Zeitungen?« fragte Amal Hal. »Der letzten Umfrage zufolge achtunddreißig Prozent. Die Öffentlichkeit bekommt sie nie zu Gesicht. Wenn ich die Artikel aber interessant genug mache, könnten sie von den kommunalen Zeitungen nachgedruckt werden. Ein Student in Miami hat einmal mit einer Artikelserie über einen Hurrikan den Pulitzerpreis für Journalismus gewonnen; allerdings schrieb er sie, als das Ereignis schon vorüber war ... Achtung, die Nachrichten kommen.« In einer abgedunkelten Ecke des Automatenrestaurants befand sich ein wandgroßer Bildschirm. Sie wandten sich ihm zu und sahen, wie Happy Jack Harrisons Abbild auf der Mattscheibe erschien. Er wirkte erregt, und als er zu sprechen anfing, war seine ohnehin schon schrille Stimme noch um eine Oktave höher als gewöhnlich. Mit abgehackter Sprechweise, seinem Markenzeichen, verkündete er die Nachrichten. Happy Jacks Aufregung war rasch erklärt. Im Forschungslabor für neue Treibstoffe der Madrider Universität hatte sich eine Explosion ereignet, die den größten Teil des Universitätsgeländes und vier Wohnblocks der nahe gelegenen Altstadt zerstört hat-
te. Ein junger Chemiker, Armando Sietro, hatte mit einem Ionentreibstoff für Raumfahrzeuge experimentiert, als aus unerklärlichen Gründen ein Bottich mit der Substanz Feuer gefangen hatte. Die Zahl der Todesopfer wurde einer vorläufigen Schätzung nach mit 17 000 beziffert. Zum Schluß der Sendung wurde folgende knappe Meldung durchgegeben: »Im Rathaus wurde heute eine Petition abgelehnt, die Stadt am 5. Mai wegen eines angeblichen Erdbebens zu evakuieren. Die jüngste Vorhersage stammte von Armando Severn, einem Studenten am Cal Tech.« Er hatte Amals Vornamen mit dem von Armando Sietro verwechselt. »›Jüngste Vorhersage‹. Eine schöne Bescherung«, sagte Red zu Hall. »Die Wendigkeit von euch Journalisten überrascht mich immer wieder. Ihr bringt es fertig, die Tatsachen mit einem einzigen Satz zu verdrehen.« »Die Katastrophenmeldung hat ihn durcheinandergebracht«, meinte Hal. »Dahin geht unsere Titelseitenmeldung und mit ihr mein Pulitzerpreis.« Lyn hatte plötzlich eine Idee. »Warum drehen wir nicht einfach einen Film über ein schweres Erdbeben in Los Angeles und bringen ihn groß raus? Wir würden damit ein breites Publikum erreichen, und keiner würde merken, daß es in Wirklichkeit ein Lehrfilm ist.«
»Wir sind keine Filmproduzenten«, entgegnete Amal knapp und wandte sich an Hal. »Gibt es nicht irgendeine Möglichkeit, wie wir ein Massenpublikum auf schriftlichem Weg erreichen können?« »Früher gab es einmal eine Untergrundpresse, die all die Nachrichten druckte, die man andernorts für nicht präsentabel hielt. Ihre Leserschaft war enorm.« »Das kann man wohl sagen«, meinte Lyn, der dazu einiges einfiel. »Eine Leserschaft bestehend aus Perversen, Lüstlingen und anderen abartigen Typen.« »Das wären rund achtzig Prozent der Bevölkerung«, sagte Hal. »Anwesende ausgenommen.« »Warte mal«, sagte Red Benton. »Lyns Idee mit dem Film ist gar nicht so schlecht. Ich kenne ein Mädchen an der Filmhochschule am USC, das für solche Aufgaben wie geschaffen ist. Wenn wir einen Dokumentarfilm daraus machen und auf die Erwähnung der Sonnenfinsternis verzichten, würden wir uns noch im Rahmen des Verbots bewegen.« »Gut, dann sprecht ihr beide es durch«, sagte Amal. »Ich möchte mit Hal unter vier Augen sprechen.« Er und Hal standen auf und gingen an einen Tisch, der außer Hörweite lag. »Was die beiden wohl aushecken mögen?« dachte Lyn laut. »Vermutlich ein Picknick im Park am 5. Mai. Ich werde mich hüten, mich da einzumischen. Wenn ich
einen Mandanten wissenschaftlich bei einer Gesetzesübertretung unterstützen würde, könnte man mich mit einem Berufsverbot belegen.« ›Mandant‹ hatte er gesagt. Amal hatte sich Red Benton also als Anwalt genommen, ohne es ihr zu sagen. Und nun heckte er etwas mit Hal Carpenter aus. Ärgerlich und beunruhigt zugleich schaute sie zum Tisch der beiden. Amal saß mit dem Rücken zu ihr, aber Hals Gesicht war deutlich zu sehen. Sie beobachtete es genau. Seine geweiteten Augen und die leicht zurückgezogenen Schultern sagten ihr, daß Amal ihm durch eine Bemerkung einen Schreck eingejagt hatte. Die Verschiebung seiner Augäpfel nach links deutete darauf hin, daß er um die eigene Person bangte. Dann nahm sein Mund einen festen Ausdruck an, und seine Schultern strafften sich. Er beugte sich plötzlich entschlossen vor und hörte Amal gespannt zu. All die kleinen Hinweise, die sie gesammelt hatte, fügten sich in ihrem Verstand zu einem Bild zusammen und riefen jene Fähigkeit wach, die sie von der Menschheit absonderte. Amal hatte gesagt, daß möglicherweise eine Million Leben auf dem Spiel standen, falls Hal nicht eine Untergrundpresse ins Leben rief und die Erdbebenvorhersage darin veröffentlichte. Auf Grund dieser Möglichkeit hatte sich Hal entschlossen, Amals Vorschlag zuzustimmen und das,
obwohl er wußte, daß ihn dann eine Gefängnisstrafe erwartete, die seine Karriere als Journalist ruinieren würde. Eine Million Menschenleben! Diese Zahl hatte Amal ihr gegenüber niemals erwähnt. Sie wandte sich Red Benton zu und lächelte, um ihren Schreck zu verbergen. Dieser betrachtete sie nachdenklich und belustigt zugleich. »Du hast ihnen von den Lippen abgelesen. Du warst so konzentriert, daß sich dein Kopf automatisch zur Seite geneigt hat, genau wie es Blinde tun, wenn sie horchen.« »Aber Hal hat kein Wort gesagt«, erwiderte sie lächelnd und deutete mit einem Schulterzucken an, daß Red zum Teil recht hatte. »Wer ist eigentlich deine Bekannte an der Filmhochschule, von der du so schwärmst?« »Gloria Jaffee.« »Die!« »Oh, ich weiß, sie ist ein entzückender Rotschopf ...« »Leider nicht von Geburt an.« »Aber sie ist talentiert.« »Sie ist Nymphomanin.« »Das ist eines ihrer Talente. Aber keine Sorge wegen Amal. Er wird keine Augen für sie haben. Er ist Erdbebenmonomane.« Sie hatte Red erfolgreich von ihrem vermeintlichen
Lippenlesen abgelenkt, doch dafür hatte er ihr nun die Vorfreude auf ein Erdbebenepos verdorben. Gloria Jaffee als Produzentin! Sie würde Amal im Auge behalten müssen, der in diesem Moment an ihren Tisch zurückkam, gefolgt von einem bedrückt und nachdenklich wirkenden Hal Carpenter. »Hier ist unser Plan«, sagte Amal, ohne Platz zu nehmen. »Wir drehen den ›Untergang von Los Angeles‹. Hal schreibt die Artikel für die Studentenzeitungen. In beidem halten wir uns an den Buchstaben des Gesetzes. Red, du kannst den Aufpasser spielen. Lyn, du schreibst einen Drehbuchbeitrag über die psychologischen Auswirkungen eines Erdbebens. Wir gehen jetzt am besten rüber in Lyns Apartment und trommeln einen Produktionsstab zusammen. Wir brauchen Film- und Medizinstudenten, Techniker und ein Studio. Wenn wir rund um die Uhr arbeiten, können wir am Donnerstag Premiere feiern.« Es war nun klar, wer bei dem Unternehmen den Ton angeben würde, dachte Lyn, als sie aufstand. Der kommandierende General war ›Armando Severn‹, wie ihn Happy Jack Harrison genannt hatte. Eigentlich war das Versehen des Nachrichtensprechers entschuldbar, dachte sie. Da war eine vage Ähnlichkeit zwischen ›Amal‹ und ›Armando‹, dem jungen spanischen Chemiker, der mit seinem Experiment eine Katastrophe in Madrid verursacht hatte.
Jedermann fügte sich Amals Wünschen, aber Gloria Jaffee übertrieb es. Sie ging in Lyns Apartment ein und aus, als wäre es ihr eigenes, und holte sich wegen jeder Kleinigkeit Rat bei Amal. Die Art, wie sie sich in überfüllten Räumen an ihm vorbeizwängte und wie sie beim Sprechen das Becken leicht nach vom stieß, ließ Lyn zu dem Schluß kommen, daß Gloria Jaffee eine verirrte Dorfschönheit aus den Dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts war. Amal war ein Leuteschinder, der sie mit ständigem Hinweis auf ›die Quintessenz der Sache‹, wie er es nannte, zur Arbeit antrieb. Er schien auf ausgetretenen Pfaden zu wandeln, wußte stets im voraus, welche Fragen auftauchen würden, und hatte die Antworten schon parat. Montagnacht schlief er drei Stunden auf Lyns Sofa und widmete ihr, während er duschte und sich rasierte, großzügigerweise eine halbe Stunde extra. Auch Dienstagnacht schlief er auf ihrem Sofa. Im Grunde lebte sie mit dem Mann, den sie liebte, bereits zusammen. Seltsam daran war nur, wie sie verdrossen erkannte, daß sich ihr Liebesleben auf zwei flüchtige Küsse beschränkte. Den einen gab er ihr vor dem Schlafengehen, den anderen, um sie zu wecken. Aber bei dem ausgefüllten Terminkalender, mit dem er sie versorgte, konnte sie sich nicht beklagen. Obwohl er fast ständig in ihrer Nähe war, schien er
eine Verschwörung in Gang gesetzt zu haben, von der sie ausgeschlossen war. Immer wenn er Red sprechen wollte, ging er allein in dessen Apartment. Immer wenn er ins Cal Tech mußte, um sich mit den Bühnenarbeitern und Kameramännern zu unterhalten, ließ er sich von Hal Carpenter hinfahren. Am Mittwochabend, drei Tage nach Beginn der Arbeiten, wurde Los Angeles – der Letzte Tag, wie man den Film in seiner endgültigen Fassung betitelt hatte, in der Cal-Tech-Kuppel uraufgeführt. Amal hatte ihnen in einer, wie Lyn hoffte, sentimentalen Geste jenen Tisch reservieren lassen, an dem sie einander von Nils Larsen vorgestellt worden waren. »Warum ist Nils nicht hier?« fragte Lyn. »Ich habe ihn nicht eingeladen«, erwiderte Amal in einem Tonfall, der sie davon abhielt, weitere Fragen zu stellen. Hal Carpenter und Red Benton leisteten ihnen an diesem Abend Gesellschaft. Letzterer war in Lyns Ansehen beträchtlich gefallen. Er hatte ihren Namen von der Liste der technischen Berater gestrichen. Hinzu kam, daß er auch Amals Namen gestrichen hatte und Gloria Jaffee die Ehrung zuteil werden ließ, als Produzent aufzutreten. Angeblich befürchtete er, der dramatische Dokumentarfilm könnte zu einem erneuten Anhörungsverfahren führen, und sollte es dazu kommen, so sagte er, wollte er nicht, daß Lyn
oder Amal darin verwickelt wären. Insgeheim hatte sie ihn jedoch im Verdacht, daß er seine Position ausnutzte, um Gloria Jaffee zu schmeicheln. Die Saalbeleuchtung wurde gedämpft. Infrarotund Ultraviolettprojektoren warfen aus versteckten Öffnungen unsichtbare Strahlen auf die Wände und Decke der Kuppel und aktivierten die darin eingebetteten Seltene-Erden-Prismen. Ein blauer, mit Schäfchenwolken übersäter Himmel entstand. Die Luft wurde frisch und roch auf einmal nach Kiefernholz. Rings um die Zuschauer zwitscherten Vögel, und hinter ihnen ragte das weiße Gebäude des MountWilson-Observatoriums auf, auf dessen Terrasse das Publikum nun saß. Weiter unten im Südwesten glitzerten die Türme von Los Angeles in der Vormittagssonne. »Dies ist Los Angeles«, verkündete eine Stimme. »Hier leben wir.« Gleich zu Beginn hatte Gloria Jaffee eine kitschige Szene eingebaut. Immer wenn die Stimme theatralische Pausen einlegte, stieß der Altadena-Vulkan Ringe aus rauchdurchsetztem Nebel aus, ein schmalziges Symbol, daß Los Angeles noch lebte. Zum Glück wurde die Szene schnell von einer anderen abgelöst. Man ließ das Publikum nun auf die Stadt zuschweben. Als es am Cal-Tech-Turm vorbeischwebte, schwenkte die Kamera plötzlich auf das
Verwaltungszentrum ein, ein Luftsausen war zu hören und die Umgebung ringsum verschwamm. Da das Publikum ›im‹ Objekt der Kamera saß und den Zoomeffekt – ebenfalls ein abgedroschenes Filmklischee – als Berg- und Talfahrt an sich erlebte, erklangen verzückte Schreie. Als die Kamera zur Ruhe kam, fand sich das Publikum im Promenadencafé des Verwaltungszentrums wieder, ringsum eingekreist von dessen hochaufragenden Türmen. Der Sprecher zählte nun trockene statistische Daten über Los Angeles auf – Einwohnerzahl, täglicher Wasser-, Strom- und Nahrungsmittelverbrauch, das automatische Untergrundverkehrsnetz, die vielfältigen öffentlichen Einrichtungen, die den Bewohnern zur Verfügung standen, schließlich das Luftreinhaltungssystem. In einem gelungenen dramaturgischen Kontrast zu dieser nüchternen Auflistung von Fakten, den Amal wohl angeregt haben mußte, hörte man nun vom Park südlich des Cafés her ein klagendes Heulen. Der Sprecher hielt inne. Er schien zu lauschen. »Ein Tier kann die P-Wellen eines Erdbebens hören«, sagte er. »Die L-Wellen kommen.« Die Tauben auf dem Weg begannen zu flattern und erhoben sich in die Luft. Die Spatzen auf den künstlichen Bäumen der Promenade flogen auf. Das Hundegebell und das Flattern der Vögel ließen eine bedrük-
kende Vorahnung in der Kuppel aufkommen. Die Zuschauer an den Tischen schauten sich unwillkürlich um und warfen einander betroffene Blicke zu. Ein metallisches Summen erklang, wurde lauter und übertönte schließlich das Bellen der Hunde. Es hörte sich so an, als vibrierten eine Millionen Gitarrensaiten über elektrische Verstärker. »Die S-Wellen erzeugen Schwingungen in den Turmmodulen«, erläuterte die Stimme. »Die L-Wellen kommen. Werden die Verbindungsbolzen die Module an den Gerüsten halten, wenn die Türme schwanken? Werden wir im Patio diese Minute überleben ... Die L-Wellen kommen.« Furcht sprach aus der Stimme und übertrug sich auf die Zuhörer. Eine allgemeine Panikstimmung kam auf, und Lyn, die das Drehbuch ja kannte und wußte, daß die Bolzen nicht halten würden, senkte den Kopf und betete, sie möchten dennoch halten. In diesem Moment kam die erste L-Welle und die Türme schwankten. Sie blickte hinüber zu Amal. Sein Gesicht war aschfahl, seine Augen funkelten wild, und seine Hände umklammerten krampfhaft die Tischkante. Er war hergekommen, um seiner Phobie zu trotzen. Seine Standhaftigkeit gab ihr neuen Mut. In der Nähe schrie jemand auf und kroch unter den Tisch. Die Module oberhalb der fünfzehnten Stockwerke
wurden von ihren Trägem losgerissen und ruckartig nach außen geschoben. Als die Türme sich wieder aufrichteten, wurden sie von einer zweiten L-Welle erschüttert. Die Gerüst neigten sich wie junge Bäume bei einem plötzlichen Windstoß. Aber diese Bäume ragten vierhundert Meter hoch in den Himmel, und ihre Blätter waren Module, von denen jedes sechstausend Kilogramm wog. Dieser zweite Erdstoß erzeugte den ›Wassermelonenkerneffekt‹. Die Module der unteren Stockwerke beschrieben kurze Bögen und fielen sogleich herab. Die der oberen Etagen dagegen wurden weit durch die Luft geschleudert. Der Himmel war plötzlich voller Module. Aus dem Chaos am Himmel sah Lyn einen riesigen Keil mit der Spitze voran genau auf sich zufallen. An der Kuppeldecke, so sagte ihr ihr Verstand, würde die Illusion verschwinden. Doch das Gegenteil war der Fall. Synchron laufende Hologramme übernahmen die Module, als sie auf die Kuppeldecke auftrafen, und hielten die Illusion aufrecht. Die Module schlugen auf dem Patio auf. Lyn riß es vom Stuhl hoch, und sie schrie auf, als das Hologramm um sie herum materialisierte. Amal stand auf, packte ihren Arm und schrie über das Getöse hinweg: »Behalt die Nerven, Lyn. Es ist doch nur eine Illusion.«
Doch die Illusion verlor nichts von ihrem Schrekken. Stahl wurde krachend zerschmettert, Beton zermalmt; Module schwirrten durch die Luft; die Tonbandschreie der Verletzten und Sterbenden vermischten sich mit den echten Schreien des entsetzten Publikums. Blöcke aus Plastischaum lösten sich von den Wänden, und aus versteckten Düsen wurden nach pulverisiertem Beton riechende Duftstoffe in die Kuppel geblasen. Von der Bühne her kam der abgetrennte Kopf eines betagten Gynodrons aus einem geborstenen Modul angeflogen, prallte auf dem Zwischengang auf und rollte bis vor Lyns Füße. Das graue Haar war rot von Blut, die Augen weit aus den Höhlen getreten. Sie riß den Blick von dem gräßlichen Ding los und schaute zur Bühne. Die Illusion war dahin. Im Innern der Nachbildung eines geborstenen Moduls vom Turm der Muße erblickte sie eine Szene, die unverkennbar die Handschrift Gloria Jaffees trug. Auch andere wurden darauf aufmerksam. Die entsetzten Schreie des Publikums verstummten, statt dessen ertönte kreischendes Gelächter. Lyn hatte sich nie von der geringschätzigen, überheblichen Haltung anstecken lassen, mit der die Jugend dem Liebesleben alter Menschen gegenüberstand. Durch ihre telepathische Fähigkeit wußte sie, daß auch im Dezember warme Winde wehen konn-
ten. Aber diese Szene war ein krasser Fehler der Regie. Shakespeare hatte komische Episoden verwendet, um die Spannung zu brechen, wie sie wußte, aber der Geschmack einer ›Produzentin‹, die den Realismus eines simulierten Erdbebens durch das Zurschaustellen einer Sexorgie von Achtzigjährigen zunichte machte, erschien ihr höchst fragwürdig. Ebenso bezweifelte sie die Logik der Szene. Es war höchst unwahrscheinlich, daß zur Mittagszeit im Turm der Muße eine Gruppenorgie im Gang sein sollte, zu einer Zeit, wo alte Menschen an biologisch gereifte Nahrung zu denken pflegten. »Dies war Los Angeles«, verkündete der unsichtbare Sprecher dramatisch. »Wir lebten hier. Wir starben hier. Für die Überlebenden fängt der Schrecken nun erst an. Ihnen obliegt die Aufgabe, den Verletzten zu Hilfe zu kommen, die Leichen aus den Trümmern zu bergen, für ihr eigenes Überleben zu sorgen. Wie wird dies geschehen? Unsere Experten werden es Ihnen sagen.« Noch während die Stimme sprach, verschwand die anstößige Szene von der Bühne. Ein Platzanweiser entfernte den auf dem Zwischengang herumliegenden Kopf. Die Tonbandstöhnlaute verstummten. Die Abbilder der ihrer Module beraubten Türme mit den schräg herabhängenden Laufgängen um sie herum verblaßten.
Als die Hologramme von Schauspielern auf der Bühne erschienen, wirkte der Schock des soeben erlebten simulierten Erdbebens noch nach. Es war wohl das erste Mal in der Hochschulgeschichte, dachte Lyn, daß so viele Studenten mit solcher Aufmerksamkeit so vielen Experten zuhörten. Ein Arzt hielt einen Vortrag über Erste Hilfe; ein Laserexperte erklärte, wie man mit Laserschweißbrennern umging und wo man sie herbekam. Ein schwarzhäutiger Student vom Watts hielt einen Vortrag über Selbstverteidigung und Überlebenstechniken. Lyns Experte, der ihr nunmehr anonymes Manuskript vortrug, erörterte die psychologischen Auswirkungen von Erdbeben. An Lyns Tisch diskutierte man mit gedämpfter Stimme über den Film, und Lyns Beschwerde über die Sexszene wurde niedergestimmt. »Sie ist übertrieben«, gab Amal zu. »Aber sie hat dich vor einem hysterischen Anfall bewahrt.« »Aber zur Mittagszeit. Das ist zu unglaubwürdig.« »Das ist der Witz dabei«, warf Red Benton ein. »Die Szene verfremdet den scheinbaren Realismus des Films. Sie holt einen wieder auf den Teppich zurück.« »Der Witz ist«, sagte Lyn störrisch, »daß wir für den Ernstfall üben.« Sie stieß auf taube Ohren. Als die Saalbeleuchtung anging und Red vorschlug, Gloria Jaffee dem restli-
chen Publikum vorzustellen, das sich bereits in Scharen um die Frau auf der Bühne drängte, entschuldigte sich Lyn. Sie mußte auf die Toilette. Von Donnerstag bis Montag wurde Los Angeles – der Letzte Tag an allen sechsunddreißig Hochschulen des Universitätskomplexes von Los Angeles vorgeführt. Am USC stach er sofort Der Geist O. J. Simpsons aus; am Cal-State-Watts waren bei seiner Aufführung die Stühle bei Genets Film Die Neger so gut wie leer; und als er am Loyola eine größere Zuschauermenge anzog als Die Kreuzigung, beschloß Gloria Jaffee, den spektakulären Film in kommerziellen Filmtheatern herauszubringen. Die Erlöse sollten an das Studentenwerk gehen. Am Donnerstagnachmittag, dem 29. April, wurden erste Maßnahmen gegen den Film in die Wege geleitet. Als Vorwand diente ein Vorfall am Donnerstagmorgen im Cal-State-Fullerton, wo das Publikum in Panik geraten war, und ein Mädchen bei dem Durcheinander einen Armbruch erlitten hatte. Doktor John Heywood, Kopf des Fachbereichs für Experimentelle Genetik am Cal Tech und hiesiger Leiter von Ambulant-Experiment-Sieben, sah in dem Zwischenfall den ersten Vorboten einer sich abzeichnenden Massentragödie und unternahm Schritte, um Amals ›OverkillPotential‹ einzuengen. Er tat es widerwillig und auf
eine Weise, die zu seiner allgemein bekannten Redlichkeit im Widerspruch stand, und er zögerte keine Sekunde. Auf seinem Schreibtisch lag ein Bulletin aus Kiew. Doktor Heywood rief seine alte und innig geliebte Pflegemutter in der Los Angelesschen Mutterschaftsklinik an und verlieh seiner Besorgnis über den Armbruch am Fullerton Ausdruck. Solch ein Sensationsfilm wäre doch eine Bedrohung für Gesundheit und Wohlergehen der Jugend. Als Experte auf dem Gebiet psychologischer Konditionierung drückte Heywood bewußt auf einen Knopf. Die Pflegemutter, von der Gefahr alarmiert, versprach sofort, sich mit der Präsidentin des Lokalverbands der Berufsmüttervereinigung in Verbindung zu setzen. So kam es, daß Lyn am Spätnachmittag desselben Tages einen Anruf von Doktor Kley erhielt, in dem er sie anwies, eine neue dringende Anhörung vorzubereiten; diesmal ging es um eine Petition, mit der der Aufführung von Los Angeles – der Letzte Tag Einhalt geboten werden sollte. Bittsteller war die mächtige Berufsmüttervereinigung. Die Petition würde von James Osborne vorgebracht werden, dem erfolgreichsten und bestangezogensten Anwalt in Los Angeles. Lyn war der Schreck, der ihr in die Glieder gefahren war, nicht anzumerken, als sie mit Kley sprach, aber ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren. Also hat-
te Red Benton recht gehabt, aber Red Benton hatte ja immer recht. Lyn wußte aus Erfahrung, daß sie die Anhörung mit bürokratischen Mitteln bis Montag hinauszögern konnte. Der Film konnte also noch an allen Universitäten vorgeführt werden. Ihn einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, würde jedoch von der Petition verhindert werden. Kaum daß Kley aufgelegt hatte, wählte Lyn Amals Nummer. Nils Larsen meldete sich am Apparat. Er freute sich so sehr, sie wiederzusehen, daß es ihr aufrichtig leid tat, seinen Wortschwall unterbrechen zu müssen, um ihn zu bitten, Amal an den Apparat zu holen. Wie sich herausstellte, war Amal nicht da. Nils sagte, er hätte sich zum Angeles Crest begeben, um Rotwild zu jagen. Irgend etwas stimmte hier nicht, dachte sie. Verschiedentlichen Äußerungen Amals hatte sie entnommen, daß er gegen den Jagdsport war; außerdem, so schien ihr, hatte er sich einen höchst unpassenden Zeitpunkt für dieses Unternehmen ausgesucht. Sie bat Nils, Amal auszurichten, er möchte sie anrufen, sobald er zurückkehrte, und tat dann, was er getan hätte; sie rief Red Benton an. Red nahm die Nachricht gelassen auf. »Mich wundert nur, daß ausgerechnet Jim Osborne dieses Scharmützel ausfechten soll. Die BMV wird für sein Honorar bluten müssen.«
»Vielleicht tut er es aus Hochachtung vor der Mutterschaft und berechnet ihnen gar kein Honorar.« »Nicht Jim Osborne. Der würde nicht mal für seine Großmutter eine Ausnahme machen, sondern als Sicherheit sogar ein Pfandrecht auf ihr Apartment verlangen. Egal. Ich denke, ich kann es mit ihm aufnehmen. Er ist ein gerissener alter Gauner, aber ich habe auch ein paar Tricks auf Lager.« Reds Arroganz stieß bei Lyn auf solchen Unwillen, daß sie ihm einen Reinfall gewünscht hätte, wäre dieser nicht bereits mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorprogrammiert gewesen. Amals Anruf erreichte sie, als sie gerade zum Abendessen gehen wollte. Er sah müde aus und reagierte fast gleichgültig auf die Nachricht von der Petition. »Es wäre tragisch, wenn wir mit der Botschaft nicht an die Öffentlichkeit dringen könnten, aber das liegt jetzt ganz bei Red. Ich muß mich um andere Dinge kümmern.« »Wie war die Jagd?« »Nicht besonders. Ich habe mit einem Langbogen ein Reh erlegt. Das Anpirschen hat Spaß gemacht, aber das Töten war nicht schön.« »Warum hast du es dann getan?« »Ein Anthropologe auf dem Campus verarbeitet das Wildbret zu Pemmikan. Das ist sehr nahrhaft und
läßt sich leicht transportieren. Ich bringe dir am Samstag eine Dreitagesration. Vorher werden wir uns leider nicht sehen können.« Heywood hatte aus aufrichtiger Sorge um die Sicherheit von Los Angeles gehandelt. Am Abend der Filmpremiere war in Kiew in Rußland – dort war es früher Morgen – folgendes geschehen: Ailya Eugenia Semonovna hatte ihren Gedichtband ›Erinnerungen an Mutter‹ beendet und ihre Verabredung mit dem Tod eingehalten. Ailyas Verabredung war kein stilles Rendezvous gewesen, wie es sich für das Ende einer Poetin geziemt hätte. Ailya Eugenia Semonovna brachte das größte Unheil über Kiew seit Adolf Hitler. Genau wie ihr Dreiviertelbruder Amal war Ailya versessen auf schnelle Autos, ein Charakterzug, den sie einer russischen Astronautin verdankte, mit deren Nervenzellen ihr Vorderhirn kloniert worden war. Und genau wie ihre genetische Mutter, die englische Dichterin, war Ailya dem Trinken verfallen. Um ihre Sehnsucht nach einer einfacheren und natürlicheren Mutter Rußland abzuschütteln, die das Schreiben des Gedichtbandes in ihr erweckt hatte, setzte sie den Schlußpunkt auf die letzte Seite und unternahm eine Autofahrt, obschon Mitternacht lange vorbei war. Ironischerweise war eine halbleere Wodkaflasche,
die man in ihrem Autowrack fand, das einzige, was den Unfall heil überstand. Ailya fuhr eine einsame Landstraße im PadrowskiDistrikt südwestlich von Kiew entlang, nahm eine Kurve mit überhöhter Geschwindigkeit und raste in einen Tanklastzug. Der Lastzug hatte viertausend Liter flüssiges Zyanid geladen, das zu einer Pestizidfabrik in Darnitsa transportiert werden sollte. Der Fahrer war früh morgens losgefahren und hatte die abgelegenen Landstraßen genommen, um dem Verkehr auszuweichen. Voll in die Seite getroffen, wurde der Lastzug von der Straße gedrängt und rollte den Abhang hinunter. Der Tankbehälter bekam Risse, und das flüssige Zyanid ergoß sich in ein Wasserreservoir, das den südwestlichen Stadtteil von Kiew versorgte. Bevor man das Autowrack fand, hatten bereits 76 000 Kiewer Bürger von dem vergifteten Wasser getrunken und waren gestorben. Der Tod der Dichterin hatte mehr Opfer gefordert als die von dem Laserspezialisten und dem Chemiker ausgelösten Katastrophen zusammengenommen. Die Genetiker kamen nun zu dem Schluß, daß der Todestrieb der Prototypen nicht mehr als Privatsache angesehen werden konnte. Vom Thanatos-Syndrom Besessene wurden nicht bloß magisch vom Tod angezogen, sie waren, gleichgültig welcher Beschäftigung sie nachgingen, Experten auf dem Gebiet des Massen-
mords. Die Jungens im Hinterzimmer von Kiew würden sich von nun an hüten, leichtfertig vom ›Maifliegen-Faktor‹ oder von der ›schielenden Doppelhelix‹ zu reden. Sie würden das Ding nun bei dem Namen nennen, den es verdiente – Gen des Jüngsten Gerichts. Amal mußte aufgehalten werden. Beobachter hatten den Verdacht geäußert, daß er von einer Gruppe politisch radikaler Studenten unterstützt und protegiert wurde. Je länger Amal lebte und je größer seine Organisation wurde, desto gefährlicher wurde er. Niemand glaubte auch nur einen Moment daran, daß er ein schwereres Erdbeben als das der Stärke 4,8, das er bereits vorhergesagt hatte, auslösen konnte. Aber man war der Meinung, daß er die Versammlungen bei den Filmvorführungen irgendwie als Instrument zum Massensterben benutzen oder eine Erdbebenpanik auslösen könnte. So beschloß Doktor Heywood, den Selbstelimierungsprozeß des hiesigen AE 7 zu beschleunigen, und rief seine Mutter in der LAMK an. Lyn sah Amal über das Wochenende nur ein einziges Mal und auch da nur kurz. Er kam unerwartet in ihr Apartment, um ihr ein Paket Pemmikan vorbeizubringen; der Student, der ihn hergefahren hatte, wartete unten im Wagen, weil Amal eilig weiter mußte. Er hatte eine Verabredung im Culver-Turm. Er sah
so müde aus, daß sie ihn eigentlich schelten wollte, sich so zu überarbeiten, aber da sie wußte, daß er ohnehin tun würde, was er tun mußte, sagte sie nur, wie schade es doch wäre, daß sie am Sonntag nicht beisammen sein konnten. Die Bemerkung machte ihn traurig. »Wie einfach wäre doch alles, wenn wir morgen in Dotham heiraten könnten. Ich komme mir vor wie ein Känguruh in einem Sumpfloch; je höher ich hüpfe, desto tiefer sinke ich ... Na ja, eine Woche noch.« Als er sie umarmte, um sie zum Abschied zu küssen, spürte sie, daß eine tiefe Müdigkeit von ihm ausging, eine Sehnsucht nach einer Pause, nach dem Ende der Anstrengungen, nach Ruhe und Frieden. Da wußte sie, daß er wirklich lieber mit ihr in Dotham gewesen wäre. Am Sonntag ging sie allein zur Kirche. Sie machte sich schon früh auf den Weg, um einen Platz in der vordersten Reihe zu bekommen. Dort setzte sie sich hin und blickte wehmütig zum Altar; und ihr Wehmut verstärkte sich noch, als der Prediger vom Wert puritanischer Ethik zu reden anfing. Fleißige und gewissenhafte Arbeit, behauptete er, wäre das beste Mittel, um das Empfindungsvermögen zu steigern. Faulheit dagegen führte zu immer ausschweifenderen Sensationsfilmen wie etwa Los Angeles – der Letzte Tag. Er hätte einer Vorführung unter Studenten bei-
gewohnt, und das einzige, was ihn an dem Spektakel versöhnlich gestimmt hätte, so sagte er, wäre eine Szene am Höhepunkt des Films gewesen, in der der Regisseur seine Hochachtung für die christliche Nächstenliebe unter den alten Menschen zum Ausdruck gebracht hätte. Lyn legte beim Hinausgehen nur die Hälfte ihrer sonst üblichen Spende auf den Kollektenteller. Der Prediger, fand sie, war ein armseliger Filmkritiker und ein schlechter Fürsprecher für die Lobby der Berufsmütter. Am Montag stellte sie fest, daß Rechtsanwalt Osborne ein wesentlich scharfzüngigerer Kritiker als der Prediger war. Osborne brandmarkte die Sexszene als »typisch für die anmaßende Haltung der Jugend gegenüber der älteren Generation« und als eine »einfältige Verzerrung der Realität, die in vollem Einklang mit den anderen wissenschaftlichen Trugschlüssen des Films steht«. Wie sich herausstellte, war Osborne als Filmkritiker erfolgreicher denn als Petent. Zur großen Freude der anwesenden Presse legte Red Benton den berühmten Anwalt mit einem Trick aufs Kreuz, der an Verschlagenheit denen des ›Glorreichen‹ in nichts nachstand.
7 James Osbornes Tracht ging weit über das Maß an auffälliger Eleganz hinaus, das seinem Alter angemessen gewesen wäre. Sie bewegte sich in jenen Gefilden, die Modeschöpfer mit dem grotesken Markenzeichen ›Südkalifornische Anwaltstracht‹ versehen hatten. Das noch am ehesten konservative Element an seiner Kleidung waren die spitzenbesetzten Hemdmanschetten, die aus seinen Ärmelaufschlägen herausragten. Die Stiefel, in denen er hereinstolziert kam, waren mit Blattsilber verziert; seine langen, grauen Locken standen in auffälligem Kontrast zu seinem scharlachroten Samtumhang; an seinen Fingern glänzten prachtvolle Juwelen. Rechtsanwalt Osbornes Eintritt in den Anhörungssaal mußte man gesehen haben, um in ungläubigem Staunen zu erstarren, und Amal war abwesend. Osbornes Kleidung paßte denn auch messerscharf zu den bombastischen, wohlklingenden Sätzen im Stil der Prosa des achtzehnten Jahrhunderts, die von seinen Lippen rollten. Und dennoch enthüllte seine schwülstige Eröffnungsrede Aspekte von Los Angeles – der Letzte Tag, die Lyn völlig übersehen hatte. Er sprach von der Gefahr einer Massenpanik, die der Film heraufbeschwöre, von den nachhaltigen
traumatischen Ängsten vor den Türmen, die er erzeuge, von den Alpträumen, die derart entstünden. Schließlich beschwörte er seinerseits einige Traumata herauf, indem er die für den Kommunalhaushalt Verantwortlichen vor den zu erwartenden Prozessen gegen die Stadt seitens der solchermaßen zu Schaden gekommenen Personen warnte. An die gerichtet, denen das Wohlergehen der Stadt am Herzen lag, sprach er davon, daß man mit Erdbebenvorhersagen die Industrie aus Los Angeles verscheuche. An die Atheisten gerichtet, prangerte er den Wahnsinn der religiösen Fanatiker an, die den Untergang der Stadt prophezeiten. Die, die zur Religiosität neigten, erinnerte er daran, daß Los Angeles, benannt nach der Mutter Jesu, wohl kaum die Stadt sei, die der Zorn Gottes treffen würde. Osborne hatte für jeden etwas parat. Als Red Benton aufstand, um das Gegenplädoyer zu halten, tat er etwas Ungewöhnliches. Er bat den berühmtesten Anwalt in Los Angeles, seine Beglaubigungspapiere vorzuzeigen. Tolerant kam Osborne der Bitte nach und überreichte Red seine Ausweiskarte. Als Red dastand und die Karte aufmerksam betrachtete, wurde der Kontrast zu seinem eleganten Vorredner augenfällig. Der Student mit dem kurzgeschorenen Haar wirkte einfach schäbig in seinen abgenutzten Schuhen, dem abgetragenen blauen Serge-
anzug und dem bunten Schlips, der zu einem schiefen Knoten gebunden und von seinem ausgefransten Hemdkragen herabhing. In einem kläglichen Versuch, seine äußere Erscheinung in letzter Minute noch ein wenig aufzupolieren, hatte sich Red ein flekkiges Taschentuch in die Brusttasche gestopft. Offenbar hatte er Mühe, die Liste der Ehrungen auf der Rückseite von Osbornes Ausweiskarte zu lesen. Seine Lippen bewegten sich lautlos. »Mein Gott, Mr. Osborne! Sie haben bei Ihrem Juraexamen dreihundertachtundachtzig von vierhundert möglichen Punkten erreicht. Das ist eine erstaunliche Leistung.« »Das ist ein Rekord, der zwanzig Jahre lang nicht übertroffen wurde.« Red gab die Karte zurück und sagte: »Wenn ich ein solches Ergebnis erreichen wollte, müßte ich schon einen Freund im Prüfungsausschuß haben.« Leicht verstimmt entgegnete Osborne: »Ich hoffe, Ihre abwegige Idee stellt keinen Angriff auf meine Integrität dar.« »Keinesfalls, Sir! Es gibt niemanden, der von den Studenten mehr bewundert wird als Sie, Mr. Osborne. Ich habe einmal sogar fünf Dollar gezahlt, nur um einen Vortrag von Ihnen zu hören.« »Ja«, entgegnete Osborne besänftigt. »In der Tat genieße ich große Wertschätzung bei den Studenten.«
»Nehmen Sie bitte Platz, Sir. Ich möchte Sie als meinen ersten Zeugen vereidigen lassen. Ich habe zwar keinen besonderen Grund, Ihnen Fragen zu stellen, aber ein Student erhält nicht oft die Gelegenheit, sich persönlich mit Rechtsanwalt James Osborne zu unterhalten, noch dazu umsonst.« Auf einmal war Lyn froh, daß Amal noch nicht da war. Als Osborne vereidigt wurde, drehte Red sich um und schlurfte ein paar Schritte davon. Dann, vor den Augen des Publikums und der Ratsmitglieder, kratzte sich Red Benton am Hinterteil. Einige Zuschauer kicherten über die Taktlosigkeit. Einer lachte. Red schien nichts bemerkt zu haben und wandte sich wieder an Osborne. »Mr. Osborne, Sie müssen, als Sie noch Student waren, hart gearbeitet haben, um so gute Zensuren zu bekommen. Bei mir will einfach nichts funktionieren. Ich habe es mit Selbsthypnose und der Schlaflehrmaschine probiert.« »Ich besitze ein exzellentes Gedächtnis und dazu die Fähigkeit, allgemeine Prinzipien aus dem Gesetz herzuleiten und sie in den jeweiligen Situationen auch anzuwenden. Natürlich sind Arbeitseifer und Selbstdisziplin oberstes Gebot ...« Erstaunlicherweise opferte Osborne fünf Minuten seiner kostbaren Zeit, um dem Studenten zu erklären, wie er studiert hatte, und Red hörte ihm mit hinge-
bungsvoller Aufmerksamkeit zu. Red hatte ihr ein paar Tricks versprochen, erinnerte sich Lyn, aber warum animierte er Osborne, sich über seine hervorragenden Fähigkeiten auszulassen? »Das ist Technik, Mr. Osborne. Aber die Rede, die Sie eben gehalten haben, zeugt von Talent. Ich kann mich nicht entsinnen, schon jemals eine so vorzügliche Rede gehört zu haben.« »Plato bezeichnet Rhetorik als die wichtigste Kunst überhaupt, junger Mann. Als ich vierzehn war, lernte ich ›Der Prozeß des Warren Hastings‹ auswendig und rezitierte ihn mit Kieselsteinen im Mund ...« Osborne opferte noch einmal fünf Minuten, um zu erklären, wie er zu seinem Rednertalent gekommen war. »Ich wünschte, ich könnte so gut reden wie Sie, Mr. Osborne. Sie haben einen Spürsinn dafür. Ich wette, Sie haben noch nie einen Fall verloren.« Osborne lächelte. »In meinen zwanzig Jahren Anwaltspraxis habe ich natürlich einige verloren, aber prozentual gesehen sind meine Erfolge ...« Als Osborne seinen Vortrag über seine Erfolge beendet hatte, sagte Red: »Jetzt verstehe ich, warum Sie sich Ihre Dienste so hoch bezahlen lassen.« »Meine Honorare liegen über dem Durchschnitt, das ist wahr. Beträchtlich darüber, doch angesichts der dafür gebotenen Leistungen keineswegs unan-
gemessen. Im übrigen habe ich einen ausgesuchten Klientenkreis, der sich meine Honorare leisten kann.« »Mr. Osborne«, unterbrach ihn Red, »wäre ich ein so hervorragender Anwalt wie Sie, würde ich sagen, daß hier eine Diskrepanz ist. Ihr Mandant ist die Müttervereinigung, und jedermann weiß, daß die nicht gerade vermögend ist. Es sei denn, dies ist einer Ihrer philan... philan... Wohltätigkeitsfälle.« »Ich arbeite niemals umsonst«, sagte Osborne entrüstet. »Und die Stadt ernennt nur Durchschnittsanwälte als Pflichtverteidiger.« »Dann müssen die Mütter ja in Geld schwimmen.« »Die Mütter werden von anderen verantwortungsbewußten Organisationen und Interessengruppen unterstützt.« »Was sind das für andere Gruppen, Sir?« fragte Red. »Diese Angaben sind vertraulich.« »Nun nicht mehr, Mr. Osborne.« Aus Reds Stimme war plötzlich alle Unsicherheit verschwunden. »Nach dem Gesetz zur ›Unterbindung von Werbungsschwindel‹ von 1971 sind Sie verpflichtet, Beweise für Ihre Behauptungen anzuführen.« »Würden Sie mir bitte erklären, wie die Werbungsgesetze in diesem Fall zur Anwendung kommen?« »Während der letzten fünfzehn Minuten haben Sie für sich selbst und für die Zahlungsfähigkeit Ihrer Klienten Reklame gemacht.«
»Ich habe nur Ihre Fragen beantwortet.« »Nein, Sir. Ich habe lediglich Äußerungen gemacht, die Sie aus freien Stücken aufgegriffen haben. Herr Vorsitzender, ich beantrage, daß die Protokollantin den Kern meiner Äußerungen verliest, damit Mr. Osborne sieht, daß nur eine einzige Frage gestellt wurde: wer bezahlt sein Honorar?« Lyn las Reds Bemerkungen laut vor. Bis auf die letzte waren keine Fragen darunter. Auf Anweisung des Vorsitzenden und unter Hinweis auf die Tatsache, daß er unter Eid stand, wurde Osborne aufgefordert, die Quellen aufzuzählen, aus denen sein Honorar floß. Die Mütter hatten seltsame Bettgefährten. Einige, die zu Osbornes Honorar beigesteuert hatten, kamen verständlicherweise aus seinem Lager. So etwa der Fremdenverkehrsverband Südkalifornien und der Autoklub Kalifornien, aber ein Beitrag von fünftausend Dollar, bei dessen Nennung die Zuschauermenge hörbar nach Luft schnappte, stammte vom Verband der Leichenbestatter Los Angeles. Red Benton richtete ein Gesuch an den Vorsitzenden. »Sir, diese Liste spricht für sich. Der geringe Beitrag der Berufsmütter von nur hundert Dollar deutet darauf hin, daß sie von anderen als Mittelsmänner benutzt werden – unwissentlich, da bin ich mir si-
cher. Nachdem Mr. Osborne einen so bewegenden Appell an unseren Bürgerstolz gerichtet hat, stelle ich den Antrag, daß der Rat die Repräsentanten jener Organisationen, die zu Mr. Osbornes Honorar von fünfzehntausendvierhundert Dollar beigetragen haben, soweit sie anwesend sind, auffordert, in den Zeugenstand zu treten und die Beiträge zu erläutern.« Ein einziger Mann erhob sich und kam auf Verlangen Kleys nach vorn, Merriweather Andrews, Oberhaupt von Los Angeles Abteilung des Demographenverbandes Amerikas. Andrews, alt genug, um die Massenvernichtung noch mit- und überlebt zu haben, kam so rasch, wie sein Hinken es ihm erlaubte, nach vorn und wurde vereidigt. Da er formal ein Zeuge der Gegenseite war, befragte Red ihn zuerst. »Mr. Andrews, würden Sie uns bitte erklären, was einen Demographen veranlassen könnte, eine Petition zu unterstützen, deren Ziel es ist, die Aufführung eines studentischen Dokumentarfilms zu unterbinden, der als Lehrfilm konzipiert und gestaltet wurde?« »Jawohl, Sir. Meine Organisation engagiert sich für das Wohl der Öffentlichkeit, und das größte Wohl für die Öffentlichkeit ist ein negativer Bevölkerungsindex.« »Sicherlich ist Ihnen bekannt, Sir, daß ein solcher Trend bereits existiert?«
»Jawohl, Sir!« Den alten Mann riß es vor Begeisterung fast vom Stuhl. »Aber ich sag mir immer, ein bißchen nachhelfen kann nicht schaden. Habe gelesen, daß irgendein junger Bursche für Mittwoch ein Erdbeben vorausgesagt hat. Dachte mir, hört sich vernünftig an. Ich sage schon seit siebzig Jahren eins voraus. Während des Bevölkerungsabflusses, Mann, wie hab ich eins herbeigewünscht.« Sein Enthusiasmus wirkte ansteckend. Die Zuschauer lächelten. »Sehen Sie mal, junger Mann. Heute können Sie sonntags eine Spazierfahrt machen. Ich erinnere mich noch an Zeiten, wo man zu einer Sonntagnachmittagsspazierfahrt schon am Samstag losfahren mußte. Wir bauten damals Autobahnen mit den Steuergeldern von fünfhundert Millionen Menschen. Heute sind es kaum halb soviel. Wenn es noch ein paar weniger wären, könnte man auf den Leitbändern Tennisplätze anlegen.« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie auf ein Erdbeben hoffen?« »Nicht hoffen, Sohn. Ich denke bloß: ›Kann ja sein‹.« »Sie wollen nicht, daß die Menschen vorbereitet sind, deshalb Finanzieren Sie eine Kampagne mit, deren Ziel es ist, eben diese Vorbereitungen zu unterbinden?«
»Vorbereitet? Wer ist schon aufs Sterben vorbereitet? Werden sowieso nur verdammte Narren sein, die trotz der Warnung in den Türmen bleiben. Auf die können wir ruhig verzichten.« »Und wie steht es mit Ihnen, Mr. Andrews?« »Ich fahre heute abend nach Halifax.« Die Zuschauer lachten. Nachdem es im Saal wieder still geworden war, wandte sich Red an Osborne: »Ihr Zeuge, Herr Anwalt.« »Keine Fragen«, zischte Osborne. Nach einer der kürzesten Beratungen in der Geschichte des Komitees fielen sechs schwarze und eine weiße Kugel in die Schale, und die Petition der Mütter war abgelehnt. Lyns Verkündung der Entscheidung wurde mit Beifall begrüßt. Amal und Hal waren immer noch nicht da, als sie sich mit Red im Automatenrestaurant traf. Er war in ihrem Ansehen so gestiegen, daß sie sich, als sie Kaffee tranken und hofften, daß die beiden anderen endlich kommen würden, erbot, ihn zu seinem Apartment zu fahren. »Als du nach Osbornes brillanter Rede angewatschelt kamst, dachte ich, du würdest auf nolo contendere plädieren«, gestand sie. »Das gehörte zu meiner Rolle«, sagte Red. »Ich habe Osborne in einem Gefühl falscher Sicherheit gewiegt. Schauspielkunst ist am USC Pflichtfach für Ju-
rastudenten, und ich habe ein Talent dafür. Das Grundmuster der Rolle war Will Rogers, einem Filmschauspieler des letzten Jahrhunderts nachempfunden, und die Kratzszene war von einem anderen ausgeborgt, Marlon Brando. Ich habe mir von beiden Filmausschnitte angesehen. Die Zeiten ändern sich in Anwaltskreisen. Shakespeare wird immer mehr von Stanislavski verdrängt.« »Glück für uns, daß der lustige Alte im Saal war.« »Oh, ›Schönwetter‹-Andrews. Ich vermute, daß seine Schenkung an die Mütter vom ASTA kam. Ich habe unsere Verteidigung mit Amal durchgesprochen.« »Das würde er nicht tun, Red. Bestechung eines Zeugen ist strafbar.« »Das weiß Amal. Ich habe ihn auf die Fußangeln des Gesetzes, in denen sich staatenlose Personen verfangen können, ausdrücklich hingewiesen. Gloria Jaffee den Arm umzudrehen, wäre so ziemlich das einzige, was er bedenkenlos tun könnte.« »Trink deinen Kaffee aus«, sagte sie erregt. »Ich muß nach Hause und telefonieren.« Sie kochte innerlich, als sie den Dunemaster auf das Leitband steuerte und auf den Uni-Turm zuraste. Red, den sie während der Fahrt völlig ignorierte, hatte sich offenbar verplappert, als er sagte, Amal könnte Gloria Jaffee den Arm ›umdrehen‹. Sie wußte, daß
Amal sich mit Gloria ab und zu allein getroffen hatte, angeblich, um geschäftliche Dinge zu besprechen. Sie fragte sich nun, was für geschäftliche Dinge dies wohl gewesen sein mochten. Hatte Gloria dem Seismologen ihre S- und L-Wellen vorgeführt? Seit der Zeit in Dotham war Amal ihr gegenüber immer aufmerksam und liebevoll gewesen, wie sie zugeben mußte, aber er hatte sich zu sehr seinem verdammten Erdbeben gewidmet – nein, mit Haut und Haaren verschrieben war wohl der bessere Ausdruck – , als daß von seiner Verliebtheit noch etwas zu spüren gewesen wäre. Bisher hatte sie angenommen, dies läge an seiner Sorge über das Erdbeben. Nun kam ihr der Gedanke, das Barbie-Doll von der Filmhochschule mit dem falschen roten Haar, dem aufreizenden BH und dem affektierten Schlenkern ihrer überreichlich gepolsterten Hüften könnte eigens für den naiven Araber, der schon von Jean Harlow in ›Die rothaarige Frau‹ hin- und hergerissen gewesen war, einige traute ›Dokumentarfilme‹ inszeniert haben. Nun wurde ihr klar, warum Amal eine Anhörung versäumt hatte, die für sie alle so wichtig gewesen war. Nachdem er im Verein mit Gloria einen senilen alten Mann bestochen hatte, um Osbornes Petition zunichte zu machen, hatte er natürlich im voraus gewußt, wie die Anhörung ausgehen würde. Und wo war eigentlich Miss Gloria Jaffee während
der Anhörung gewesen? In einem Cal-Tech-Appartment zusammen mit Amal Severn? Sie fuhr den Dunemaster in die Tiefgarage, hielt mit kreischenden Bremsen auf ihrem Parkplatz und fragte Red Benton: »Wo war eigentlich Gloria Jaffee während der Anhörung?« »Ziemlich weit vorn in der Mitte«, sagte Red. »Sie verließ den Saal, als du im Beratungszimmer warst, weil sie einen Zug nach New Jersey noch kriegen wollte. Ich soll dir von ihr ausrichten, daß sie hofft, daß du bei dem Erdbeben nicht getötet wirst.« Nein, nur verstümmelt, dachte Lyn. Im Publikum war noch ein anderer Zuschauer gewesen, Doktor John Heywood. Lyn hatte seinen Namen einmal gehört und dann wieder vergessen. Er hatte dem aufgeblasenen Osborne wenig Beachtung geschenkt, dafür um so aufmerksamer das Mädchen am Sitzungstisch auf dem Podium beobachtet. Aufgefallen waren ihm die hohe Stirn, die schmalen Lippen, die kräftigen Kinnbacken und die wachen intelligenten Augen. Nils Larsen hatte bei seiner Beschreibung untertrieben. Sie war eine klassische Schönheit. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und voller Harmonie. Wenn er sie so betrachtete, erschien es ihm wenig verwunderlich, daß Amal die Schranken seiner Konditionierung durchbrochen hatte.
Heywood hatte keinen Zweifel, daß Lyn Oberlin den Telefonanruf gemacht hatte. Danach hatte Heywood aufmerksam Red Bentons Methoden verfolgt und gleich zu Beginn der Befragung festgestellt, daß Osborne einen Anwalt mit einem überragenden Verstand zum Gegner hatte. Heywood war dann, während die Anhörung im vollen Gange war, aufgebrochen, in der Erkenntnis, daß Amal Severn ein solides Bollwerk gegen sein Schicksal errichtet hatte. Als Lyn ihr Apartment betrat, um Amal anzurufen, befand sich Heywood bereits in seinem Büro im Cal Tech. Widerwillig ließ sich das Oberhaupt des Fachbereichs für Experimentelle Genetik mit dem Leiter eines unscheinbaren Büros im US-Außenministerium verbinden. Amal sei nicht da, teilte ihr Nils Larsen mit, habe aber die Nachricht hinterlassen, daß er sie später am Abend noch anrufen würde. Sein Anruf erreichte sie erst nach elf Uhr, und angesichts der Erschöpfung, die Amal ins Gesicht geschrieben stand, verzichtete sie darauf, das Gesprächsthema auf ein heikles und noch immer ungeklärtes Problem zu lenken, das nur sie beide anging. Amal hatte den Verlauf der Anhörung über das Radio verfolgt, doch hörte er lächelnd zu, als sie von Osbornes prunkbeladener Amtstracht und Reds Taktiken berichtete.
»Red deutete an, daß ›Schönwetter‹-Andrews Auftritt eine abgekartete Sache gewesen sein könnte. Wenn du dabei die Finger im Spiel gehabt haben solltest, werde ich dir einen Vortrag über die sittlichen Normen der Stadtverwaltung halten müssen«, sagte sie. »Das kannst du dir schenken«, entgegnete er. »Red hat mich über die Gefahren, denen sich ein Staatenloser aussetzen kann, hinreichend belehrt ... Du wirst jetzt eine Zeitlang nichts mehr von mir hören, aber du kannst mich jederzeit über Nils ausfindig machen. Hör genau zu, was er sagt, und beschränkt eure Unterhaltung auf geschäftliche Dinge.« Er drehte den Kopf zur Seite und grinste. Nils mußte sich im Zimmer aufhalten und dem Gespräch zuhören. »Natürlich würde ich lieber bei dir sein«, sagte Amal noch. »Aber es warten dringende Angelegenheiten auf mich. Ich setze mich morgen früh mit dir in Verbindung; dann erfährst du mehr über meine Arbeit. Aber jetzt gute Nacht und Engelscharen singen dich zur Ruh!« Ihr Hamlets Totengedicht vorzutragen war wohl kaum geeignet, sie ruhig schlafen zu lassen, dachte sie, aber er war müde, und seine Schultern hingen schlaff herab. Obwohl er lächelte, als er auflegte, konnte sie seine Müdigkeit über den Apparat spüren. Als sie zu Bett ging, wurde ihr klar, daß sie zum erstenmal seit Wochen wieder eine Vorahnung hatte.
Früher, als ihre Zukunft noch überschaubar gewesen war, hatten die Vorahnungen niemals einen unheimlichen oder feindseligen Charakter gehabt; stets hatte sie sie aufmerksam, aber im Grunde unbeteiligt aufgenommen. Heute abend schien hinter dem Vorhang der Zeit eine drohende Gefahr zu lauern. Sie legte sich flach hin und versuchte sich zu entspannen. Es war nur ihre Sorge über Amals Müdigkeit, redete sie sich ein. Sie hatte eine leichte Wehmut in seinen Augen erblickt, ein Sichsehnen nach Ruhe, und das hatte sie innerlich bewegt. Als sie die Nachttischlampe ausmachte, sah sie noch sein Gesicht vor ihrem inneren Auge, so wie sie es zuletzt auf dem Bildschirm gesehen hatte, und dieses Bild rief eine Erinnerung an etwas in ihr wach. Etwas, das sie nicht gesehen, sondern gefühlt hatte. Ein Gefühlskomplex, zart, undefinierbar und gerade unterhalb der Schwelle ihres Erinnerungsvermögens. In dem Niemandsland zwischen Wachsein und Schlaf tat ihr Gedächtnis den Schritt, der ihrem Bewußtsein versagt geblieben war, und sie erinnerte sich, daß die Gefühle in Zusammenhang mit einem Gedicht von Keats standen, das Amal ihr auf der Veranda der Emersons vorgelesen hatte: »........................ und ich werde sterben, Wie ein kranker Adler, der zum Himmel aufschaut.«
Sie richtete sich für einen Moment im Bett auf und versuchte wieder völlig wach zu werden, um die unbeschreibliche düstere Verzweiflung abzuschütteln, die sie während des Schlafs gepackt hatte. Osborne hatte ihr Alpträume versprochen, aber das war nur ein abgeschmackter, Schauspielern wohlbekannter Trick gewesen, der das Unterbewußtsein durch Autosuggestion aufrütteln sollte. Ihr Alptraum war durch die unterschwellig erinnerten Zeilen über den Tod ausgelöst worden. Sie legte sich wieder hin mit dem festen Vorsatz, sich ihren Schlaf nicht nehmen zu lassen. Sollte sie bei einem Erdbeben ums Leben kommen, dann hatte sie, genau wie ›Schönwetter-Andrews‹ gesagt hatte, nichts anderes verdient. Der Morgen brachte Lyn Zweifel an ihrer analytischen Fähigkeit, dafür wurde ihr Vertrauen in ihre übersinnlichen Fähigkeiten gestärkt. Als sie hinunter wollte, um zu frühstücken, fand sie vor ihrer Tür eine achtseitige Zeitung mit der Balkenüberschrift: ERDBEBENEXPERTE SAGT »GREAT PALMDALE« FÜR MORGEN UM 13 UHR 33 VORAUS Amal hatte sich mit ihr ›in Verbindung gesetzt‹ und sie über seine Arbeit unterrichtet, aber auf eine Wei-
se, die ihn außerhalb des Gesetzes stellte. Sie hob die Zeitung auf und ging wieder in ihr Apartment. Sie wußte, daß sie das Produkt jenes Projekts in der Hand hielt, das Amal und Hal am Tag der ersten Anhörung heimlich ausgebrütet hatten. Jetzt erwarteten beide alle erdenklichen Strafverfahren, nicht nur eins wegen unberechtigter Herausgabe einer Zeitung. Die Untergrundpresse war in Los Angeles neu ins Leben gerufen worden, um ein verbotenes Gerücht zu verbreiten und somit für Unruhe unter den Bürgern zu sorgen. Und Amal hatte trotz seiner Verwundbarkeit teil an dieser Verschwörung. Ihr war, als fahre ihr ein kalter Wind durch die Glieder, als sie die Zeitung aufschlug. Im Leitartikel wurde ausführlich auf die Schlagzeilen eingegangen. Zunächst wurde zusammengefaßt dargestellt, welche Ergebnisse Amal von seinen Belastungssensoren erhalten hatte, dann seine solare Gezeitentheorie in bezug auf die bevorstehende Sonnenfinsternis erläutert, und schließlich wurden in der klarsten Darlegung, die sie bisher gelesen hatte, die Fluktuationen im Magnetfeld der Erde erklärt. Es wurde angegeben, welchen Sicherheitsabstand man von den Türmen wahren sollte, und alle Strandanwohner in Hütten, Hausbooten oder an das Meer angrenzenden Türmen wurden dringend aufgefordert, dieses Gebiet zu verlassen und sich ins Landesinnere
bis hinter die Newport/Inglewood-Verwerfungslinie zu begeben. Auf der letzten Seite fand sich eine Anmerkung der Redaktion, in der zugegeben wurde, daß der Herausgeber durch die Veröffentlichung der Vorhersage seine Karriere aufs Spiel und seine Person der Strafverfolgung aussetzte. Aber, so wurde hinzugefügt, sollte durch seine Tat auch nur ein einziges Menschenleben gerettet werden, so sei ihm dies mehr wert als der Pulitzerpreis für Journalismus. Trotz ihrer Besorgnis konnte Lyn sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Indem er den Pulitzerpreis für Journalismus erwähnt hatte, hätte Hal Carpenter auch gleich seinen Namen unter den Artikel setzen können. Sie traf mit einer Viertelstunde Verspätung im Speisesaal ein und stellte sogleich fest, daß der Untergrundzeitung dort weit mehr Beachtung geschenkt wurde als der Morgenausgabe des Times-Herald. Das eifrige morgendliche Geschnatter, das sonst den Saal erfüllte, war heute gedämpft. Vier, manchmal fünf oder sechs Studenten hatten sich um die Tische versammelt und unterhielten sich leise oder hörten einander gespannt zu. Lyn nahm an einem freien Tisch Platz, rührte ihr Frühstück nicht an, sondern beschäftigte sich in Gedanken mit Amal. Wegen der Veröffentlichung seiner Vorhersage konnte man ihm nichts anhaben. Aber er
war in die Verschwörung zur Herausgabe der Zeitung verwickelt, daran bestand für sie kein Zweifel. Sie konnte nur hoffen, daß er vorsichtig genug gewesen war, keine Spuren zu hinterlassen, die direkt auf seine Person deuteten. »Darf ich mich zu dir setzen, Lyn?« Vor ihr stand Wallace Bergner, der zwei Meter große Geologiestudent, der in derselben Etage wohnte wie sie. Er trug einen Sakkoanzug mit weißem Hemd und Krawatte. Sein Haar war sorgfältig gekämmt, und seine braunen Augen hinter der Hornbrille schauten sie freundlich an. »Klar doch, Wallace. Setz dich.« Ihr freundlicher Empfang war keine bloße Höflichkeitsfloskel. Sie hatte noch nie Anlaß gehabt, an Wallace Bergners Gedanken Anstoß zu nehmen, und das, obwohl sie sie besonders leicht lesen konnte, weil die Brille, die er trug, seine Augen stark vergrößerte. Wallace traf sich nur selten mit Mädchen und verbrachte den größten Teil seiner Freizeit mit Übungen am Muskelstrand. Seine Libido hatte sich in einem Sublimierungsprozeß ganz auf Körperkultur fixiert; er war in den eigenen Bizeps und Trizeps vernarrt. Er hatte kein Tablett, sondern nur eine Tasse mit schwarzem Kaffee in der Hand. Als er sich ihr gegenüber an den Tisch setzte, holte er ein Päckchen
Weizenkeime aus der Jackentasche hervor und streute den Inhalt in den Kaffee. »Die Bewohner des zweiunddreißigsten Stocks veranstalten Mittwochmittag ein Picknick im Wald«, sagte er, »und ein paar Kommilitonen würden dich gern dabeihaben. Es wird eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft; jeder bringt etwas anderes mit. Hier ist eine Liste der Gegenstände, die du mitbringen könntest, und daneben eine Skizze der Stelle, wo unsere Gruppe sich treffen wird.« Sie warf nur einen kurzen Blick auf den Matrizenabzug, den er ihr gab. Seine Augen hatten ihr gesagt, daß er die Evakuierung des zweiunddreißigsten Stockwerks leitete, und das ärgerte sie. Sie hatte sich zum inneren Kreis des Erdbebenorganisationskomitees gezählt, und nun waren bereits alle Maßnahmen getroffen worden, ohne daß sie überhaupt davon Kenntnis gehabt hätte. Offenbar war man mit großer Sorgfalt vorgegangen und hatte Wallace als die vertrauenswürdigste Person in ihrem Stockwerk mit der Leitung beauftragt. Zweifellos hatte Red Benton bei diesem Meisterstück heimlicher Organisation die Hand im Spiel gehabt. Sie beobachtete die braunen Augen ihres Gegenübers genau, als sie sagte: »Tut mir leid, Wallace, aber ich habe am Mittwoch um eins eine Vorlesung.« Seine Augen verrieten seine Verwirrung, als er
entgegnete: »Ohne dich wird es kein richtiges Picknick sein, Lyn.« Sie sah auf die Liste, die er ihr gegeben hatte. »Das ist aber eine seltsame Picknickliste, Wallace«, sagte sie in höflichem Tonfall. »Wer hat denn Appetit auf zwei Beinschienen und vierhundert Meter fünf Zentimeter breite Mullbinden? ... Acht einphasige Kadmiumbatterien ... Sind die nicht für Handlaser? Ihr wollt doch nicht mit Laserpistolen auf Truthahnjagd gehen?« Sie schaute ihn an und sah, daß er dachte: aber sie müßte doch über uns Bescheid wissen. Er hat mir gesagt, ich soll sie mit allen Mitteln beschützen. Warum starrt sie mich so an? Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Ein Freund von dir meinte, du könntest vielleicht etwas Pemmikan mitbringen.« Dann war es also Amal gewesen, der ihn zu ihrer Leibwache ernannt hatte. Sie lächelte auf einmal. »Natürlich bin ich mit von der Partie, Wallace.« Um ihm klarzumachen, daß sie eingeweiht war, fragte sie in leisem verschwörerischen Tonfall: »Wie wollt ihr an die nötigen Pharmazeutika herankommen?« Der junge Mann mit der massigen Gestalt atmete erleichtert auf. »Drei Ordner haben Schlüssel zur Turmapotheke. Der Apotheker macht den Laden um eins dicht.«
Lyn kam zehn Minuten zu spät im Büro an, doch auch Kley war noch nicht eingetroffen. Da er in allen Dingen methodisch vorging, würde er die Untergrundzeitung bestimmt zweimal lesen. Einmal, um sich die empfohlenen Sicherheitsmaßnahmen einzuprägen, das zweite Mal, um nach Anzeichen für Konspiration Ausschau zu halten. Sie wartete seine Anweisungen erst gar nicht ab, sondern machte sich daran, eine Notstandskonferenz vorzubereiten. Die Schalttafel im vorderen Büro stellte sie so ein, daß die eingehenden Anrufe im Rotationsverfahren jedes Mädchen abwechselnd erreichen würden. »Das gesamte Büropersonal wird heute vormittag an den Telefonen arbeiten«, gab sie bekannt. »Alle Anrufer der Kategorie A werden von der Sprechleitung abgetrennt und auf eine reine Hörleitung umgestellt. Privatgespräche für Doktor Kley werden mit ›wegen Konferenz unabkömmlich, rufen Sie später zurück‹ beantwortet.« Als die Mädchen ihre Routinearbeiten beiseite legten und sich den Telefonapparaten zuwandten, ging Lyn in ihr Büro und rief Nils Larsen an. Nils wollte gerade aufbrechen. Er war fertig angezogen, und aus der Brusttasche seines Hemds ragte eine Zigarre heraus. »Nils, hat Amal eine Nachricht für mich hinterlassen?«
»Er meinte, komm zu ihm in Onkel Moses Land zur Rock'n'Roll-Session. Er wäre heute um zwei Uhr dort. Sagt dir das etwas?« Es bedeutete, daß er am Mühlteich auf sie warten würde. Amal hatte sie zwar angewiesen, ihre Unterhaltungen mit Nils auf Geschäftliches zu beschränken, aber die Zigarre interessierte sie. Freundlich, aber ohne eine Spur Koketterie, sagte sie: »Ich wußte gar nicht, daß du rauchst, Nils.« »Tue ich auch nicht«, gab er grinsend zurück. »Die Zigarre habe ich von den Chemikern; sie ist aus Madrid importiert. Amal hat mich der Laserbeschaffungsgruppe zugeteilt, und sie sind in einem Panzerschrank mit Kombinationsschloß. Mit dieser kleinen Zigarre kann man einen Banksafe sprengen.« »Dann steck sie um Himmels willen dort hin, wo man sie nicht sehen kann.« Sie legte auf und schloß die automatische Stenographiermaschine an die Konferenzleitung an. Dann rief sie der Reihe nach die Sekretärinnen der Supervisoren an und trug ihnen auf, sich für eine Gruppenkonferenz um zehn Uhr bereitzuhalten. Die meisten Büros waren mit Pro-tem-Supervisoren besetzt. Von den Supervisoren, die bei der Erdbebenanhörung zugegen gewesen waren, waren nur Polizeichef Jeffers, Supervisor für Öffentliche Sicherheit, und Howebrand vom Kommunalen Fernsehen in ihren Büros.
Nach kurzem Überlegen rief Lyn das Staatsanwaltsbüro an sowie die Sekretärin des Stadtkommandanten der Kalifornischen Autobahnpolizei. Als Doktor Kley das Büro betrat, hatte sie bereits alle mit diesem Fall befaßten Beamten alarmiert. »Veranlassen Sie, daß man sich im vorderen Büro für den Telefonnotdienst bereithält, und holen Sie mir die Supervisoren an die Strippe. Es findet eine Konferenz statt. Auf der Tagesordnung stehen das Erdbebengerücht und Maßnahmen zur Verhinderung öffentlichen Aufruhrs. Benachrichtigen Sie lieber auch den Staatsanwalt und den Stadtkommandanten der KAP.« »Jawohl, Sir.« Er wandte sich ab, um zu gehen, hielt jedoch inne und drehte sich wieder um. »Ach, der Registratur vom Cal Tech rief mich übrigens Freitag an. Er wollte wissen, wer vor einer Woche oder zehn Tagen von diesem Büro aus ein Gespräch nach Columbia in South Carolina geführt hat. Er bat mich nachzuforschen, aber ohne die Sache an die große Glocke zu hängen. Hören Sie sich mal um, wenn Sie Zeit dazu haben.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Hätte er sie schlicht gefragt, wer den Anruf gemacht hatte, hätte sie aus Ehrlichkeit prompt geantwortet, aber der Satz ›ohne die Sache an die große Glocke zu hängen‹ ließ sie aufhorchen.
Irgend jemand, das sagte ihr ihre Erfahrung in Verwaltungsprozeduren, hatte das Anfragenvermerkbuch der Archivarin in Columbia überprüft und festgestellt, daß jemand Nachforschungen über Leroy Thatcher angestellt hatte. Lyn hatte den Anruf von diesem Büro aus auf Kosten der Stadt getätigt und es wohlweislich unterlassen, ihren Namen zu nennen. Doch wer am Cal Tech sollte sich dafür interessieren, daß jemand Erkundigungen über den eingefrorenen Leichnam eines Rennfahrers einzog, der seit fast hundert Jahren tot war? Hatte man damit vielleicht ein medizinisches Experiment durchgeführt, das die Verantwortlichen geheimzuhalten wünschten, und operierte von den Universitäten aus ein die Nation umspannendes Spionageabwehrnetz, das ihr den Weg zu weiteren Entdeckungen versperren wollte? Die auf der Schalttafel aufleuchtenden Lämpchen bereiteten ihrer Grübelei über ein Problem, das ihr im Moment sogar wichtiger erschien als das Erdbeben, ein Ende. Lyn schaltete die Anrufe in die Konferenzverbundleitung ein und war froh über die Ablenkung. Red und Amal hatten recht gehabt, sie aus jeder Verschwörung herauszuhalten. So konnte sie ihre Arbeit als Verwaltungsangestellte tun, ohne von Schuldgefühlen geplagt zu werden, und ihr Augenmerk ungehindert auf die rätselhafte Frage richten, was wohl ein Telefonanruf, ein Toter, an den Amal
sich zu erinnern glaubte, und Cal Tech, wo Amal studierte, miteinander zu tun hatten. Sie sagte in die Wechselsprechanlage: »Ihre Konferenz kann beginnen, Doktor Kley.« Kley hielt eine formelle Eröffnungsrede, zählte die Tagesordnungspunkte auf und schloß mit einer persönlichen Anmerkung. »Ich gehe davon aus, daß die Öffentlichkeit dem Gerücht Beachtung schenken wird. Zwei Drittel der Ratsmitglieder, die bei der Erdbebenanhörung zugegen waren, haben die Stadt verlassen. Und was mich angeht, so beabsichtige ich, morgen nach dem Mittagessen einen Spaziergang im Park zu machen.« »Verkehrswesen, Herr Vorsitzender. Ich kann die Vermutung bestätigen. Während der letzten Woche hat eine allgemeine Massenflucht aus der Stadt eingesetzt, und die Besucherzahlen sind zurückgegangen.« »Verkehrswesen, veranlassen Sie, daß die Bahnstrecken morgen zwischen 13 und 14 Uhr stillgelegt werden.« »Generalstaatsanwalt, Herr Vorsitzender. Diese Maßnahme wäre eine De-facto-Bestätigung des Gerüchts und könnte der Stadt zahlreiche Prozesse seitens der Reisenden einbringen.« »Verkehrswesen, geben Sie die Anweisung in Form einer Empfehlung aus ... Bauwesen, beordern Sie Reparaturtrupps an die Hauptventile der Gasleitungen
und veranlassen Sie, daß die Gasversorgung morgen um 13 Uhr 30 wegen dringender Reparaturarbeiten unterbrochen wird ... Gesundheitswesen, schaffen Sie Ihre Krankenhauspatienten in sichere Gebiete zu einem offiziell genehmigten Sonnenbad, auch wenn es regnen sollte ... Polizeichef Jeffers, was kann man wegen der Gefängnisinsassen unternehmen?« »Ich werde sie wohl im Turm lassen müssen, Herr Vorsitzender. Wenn Sie dieser Vorhersage Folge leisten, werde ich jeden einzelnen Mann brauchen, um die Wohntürme zu überwachen.« Kley ignorierte die aufblitzenden Lämpchen vor sich, die anzeigten, daß mehrere Beamte ums Wort baten. Er ging die Tagesordnung Schritt für Schritt beharrlich durch und erteilte präzise Anweisungen, die zu erkennen gaben, daß er Amals Vorhersage Glauben schenkte und daß er sich auch dessen Evakuierungsvorschläge zu eigen gemacht hatte. Der ganze Vorgang würde die Stadt lediglich eine zusätzliche Anstrengung ihrer Bediensteten kosten. Kley trat nicht für eine allgemeine Evakuierung der Türme ein, er traf lediglich Vorbereitungen, jenen beizustehen, die die Stadt von sich aus verlassen wollten. Offenbar spekulierte er darauf, daß er, sollte auch nur der leiseste Erdstoß die Stadt erschüttern, die öffentliche Meinung hinter sich haben würde. Wie immer verfolgte Lyn gebannt den Schlagabtausch des demokratischen Prozesses.
Obwohl Kley die Konferenz zügig vorantrieb, dauerte es bis elf, bis das Thema Verhinderung einer Massenpanik auf die Tagesordnung kam. Zu diesem Punkt übergab Kley das Wort dem Stadtkommandanten der Kalifornischen Autobahnpolizei. »Um dem Vorschlag des Generalstabsplans Rechnung zu tragen und die Strandgebiete zu räumen, setzen wir einfach die alten Sonntagnachmittagsverkehrsverordnungen wieder in Kraft, die vor der Massenvernichtung erlassen wurden.« Amüsiert und verbittert zugleich stellte Lyn fest, daß Amals Plan zum ›Generalstabsplan‹ geworden war. »Polizeichef Jeffers. Alle Einbrecher in Los Angeles reiben sich wegen dieses blinden Alarms bereits die Hände. Angesichts der Tatsache, daß es hundertzehn leere Türme mit jeweils achtzig Stockwerken plus der Straßen, auf denen für Ordnung gesorgt werden muß, zu überwachen gilt, möchte das Sicherheitsressort einen Plan zur Diskussion stellen, das Gerücht ein für allemal aus der Welt zu schaffen.« Jeffers machte eine Pause. Mit einem ominösen Papierrascheln, das über die Leitung ertönte, bereitete er das Komitee darauf vor, daß eine wichtige Mitteilung folgen würde. »Ich bin vom US-Außenministerium ermächtigt worden, Ihnen bekanntzugeben, daß das von Amal
Severn, Kaukasier männlichen Geschlechts, Alter zweiundzwanzig Jahre, vorhergesagte Erdbeben dem Sachverhalt nach richtig, im Kern jedoch falsch ist.« »Was zum Henker hat das Außenministerium mit einem Erdbeben in Los Angeles zu tun?« fragte Kley wütend. »Das weiß ich nicht«, erwiderte der Polizeichef. »Aber hier ist die amtliche Vorhersage. Ich lese sie vor ... Südlich von Victorville verläuft die SanAndreas-Verwerfung in östlicher Richtung. An dieser Stelle bestehen die Bruchlinien der Verwerfung aus mit Eisenerz durchsetztem Granitgestein. Dadurch entsteht eine höhere magnetische Bindung, als in den ursprünglichen Berechnungen angenommen wurde. Verwerfungsverschiebungen werden sich in südlicher Richtung nur bis zum Abschnitt Victorville ereignen. Los Angeles wird von dem Erdbeben nur geringfügig in Mitleidenschaft gezogen werden ... Das ist die Ansicht des Komitees, Herr Vorsitzender.« »Jeffers, Sie und ich wissen doch über Komitees Bescheid. Wenn von offizieller Seite bestätigt wird, daß ein Beben der Stärke 4,8 stattfindet, kann man getrost davon ausgehen, daß es eins der Stärke 9,5 wird. Entscheiden Sie sich. Jeder besonnene Bürger würde Severns Berechnungen gutheißen und die Stadt verlassen. Ich weiß es, denn ich bin ein besonnener Bürger.« Während des Gelächters, das auf Kleys Witzelei
folgte, dachte Lyn: am Cal Tech gibt es gar keinen medizinischen Fachbereich. Jeffers Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Konferenz. »Es wurde der Vorschlag gemacht, daß der Generalstaatsanwalt Severn öffentlich ein Abkommen anbietet: wenn er sich noch vor Mitternacht der Polizei stellt, seine Berechnungen noch einmal überprüft und seinen Irrtum eingesteht, wird er sich nur für seine geringfügigen Vergehen verantworten müssen.« »Die Vorhersage ist jetzt Gegenstand öffentlicher Diskussion, Jeffers. Weswegen wird er überhaupt gesucht?« »Wegen sieben Verstößen gegen das Gesetz zur ›Eindämmung studentischer Subversion‹, dazu noch wegen Konspiration ersten Grades. Er hat das Zeitungspapier gekauft, mit dem eine widerrechtlich herausgegebene Zeitung gedruckt wurde.« »Wenn er seine Behauptungen zurücknähme«, sagte Kley mit Nachdruck, »würde die Öffentlichkeit glauben, daß er unter Zwang handelt.« »Durchaus nicht. Dazu ist sein Ehrlichkeitsindex zu hoch.« »Und was ist, wenn er sich nicht stellt?« fragte Kley. Lyn wußte, daß er sich nicht stellen würde. Seine krankhafte Angst vor Erdbeben würde ihn davon abhalten, denn er würde sich völlig darüber im klaren
sein, daß man ihn im 68. Stockwerk des Gerichtsturms festhalten würde. Lyns Besorgnis wurde zu Panik, als Jeffers Kleys Frage beantwortete. »Dann brechen wir den Stab über ihn. Als Staatenloser kann er in Abwesenheit verurteilt werden.« »Dies ist eine reine Polizeiangelegenheit, Jeffers«, hob Kley hervor. »Nein, Herr Vorsitzender. Unser Ressort ersucht darum, daß eine Belohnung von fünfundzwanzigtausend Dollar auf ihn ausgesetzt wird. Und dem Hologramm des Flüchtigen zufolge zieht er im Falle einer Aburteilung das Jagdgehege der Gaskammer vor. Deshalb die Belohnung, denn sonst würde natürlich jeder Jäger in der Stadt sein Teil dazu beitragen, daß der Flüchtige sich keinesfalls vor Ablauf der gesetzten Frist stellt.« »Was sagt der Präsident des Rechnungshofs dazu?« fragte Kley. »Die Wette lohnt sich, Herr Vorsitzender. Wenn er sich vor Mitternacht stellt oder gefaßt wird, verliert die Stadt die fünfundzwanzigtausend. Wenn nicht, könnten die Einnahmen aus dem Verkauf von Jagdlizenzen eine halbe Million einbringen.« »Also gut, weichen wir vom Pfad der Menschlichkeit ab. Setzen Sie die Belohnung aus ... Meine Herren, wenden wir uns nun dem Problem des Einsatzes von Evakuierungsfahrzeugen zu ...«
Mehr noch als die Unmenschlichkeit entsetzte Lyn die Gleichgültigkeit, mit der hier verfahren wurde. Ihr Vertrauen in eine Regierung, die aus politischem Kalkül heraus den Tod eines jungen Mannes anordnete, war erschüttert. Im politischen Schlagabtausch, im ›Geben und Nehmen‹ des demokratischen Prozesses, kam das ›Nehmen‹ offenbar hauptsächlich den Staatsdienern zugute, dachte Lyn. Doch warum hatte Amal bei seinem brillanten Verstand das Zeitungspapier gekauft? Red Benton war schuld daran. Er hatte Amal nur unzureichend über die Verwundbarkeit eines Staatenlosen informiert. Offenbar hatte Amal nicht gewußt, daß man Konspiration ersten Grades als Schwerverbrechen eingestuft hatte, um sich radikaler Elemente entledigen zu können. In einer plötzlichen Vision sah sie all das Chaos in der Geschichte, Gewalt und gewaltsame Unterdrückung der Gewalt, und ihre Gedanken kreisten immer wieder um die Frage: warum hatte Amal das Zeitungspapier gekauft? Die Stimmen in der Leitung rückten in die Ferne, wurden zu einem leisen Hintergrundgeräusch, das sie einlullte. Behutsam durchforschte sie ihren Verstand. Sie war jetzt entspannt und wartete auf ein Zeichen. Sie spürte das Wort ›Pemmikan‹. Darum war Amal ins Jagdgehege gegangen – um Wildbret für Pemmikan zu beschaffen ... Wildbret für
Pemmikan. Sie schob alle Ängste und Sorgen beiseite und konzentrierte sich völlig auf diese Worte in der Erwartung, daß sie etwas enthüllen würden. Sie sah einen grauen Nebel vor sich mit Flecken darin. Zarte Farbtöne bildeten sich in dem Grau, und eine Vision nahm Gestalt an. Sie fiel in Trance. Sie stand am San-Fernando-Eingang zum Jagdgehege und sah Amal. Er ging in gebückter Haltung und hatte ein kleineres Reh auf den Schultern. Er hatte eine grünbraun gesprenkelte Jacke an und eine Hose desselben Musters. Dazu trug er ein Stirnband und die obligatorische rote Mütze des Jägers. Seine Füße steckten in den Wintermokassins der IrokesenIndianer. Sein Langbogen und der Köcher fehlten. Sie wußte nun dies: wenn die Jäger kamen, um Amal zu töten, würden sie auf ein Beuteobjekt stoßen, das mit dem Terrain besser vertraut war als sie. Sie würden vergeblich nach einem Schatten suchen, der auf leisen Sohlen daherschleichen und eine geräuschlose und tödliche Waffe besitzen würde, den Langbogen, den er irgendwo in den Schluchten oder zwischen den Felsblöcken des weiträumigen Jagdgeheges versteckt hatte. Die Jäger würden zu Gejagten werden. Red Benton hatte Amal bestens instruiert. Amal
hatte gewußt, daß man ihn verhaften würde, als er das Zeitungspapier gekauft hatte. Er hatte Vorkehrungen dagegen getroffen. Das Bild wurde nun undeutlich, und die Vision aus der Vergangenheit verblaßte. Lyn versuchte ihre übersinnlichen Kräfte erneut zu stimulieren, um ein Bild von der Zukunft zu erhalten, und formulierte die Schlüsselworte: ›kranker Adler‹. So als schaue sie von der verkehrten Seite durch ein Fernglas, sah sie winzig und in weiter Ferne ein nacktes Turmgerüst, das sich langsam zur Seite neigte und umstürzte. Sie selbst befand sich hoch oben auf den Querträgern eines Turmgerüsts und hatte schreckliche Angst um Amal, der irgendwo in ihrer Nähe war. Als die Vision verblaßte, vernahm sie noch deutlich eine Abfolge unerklärlicher scharfer Schüsse, gefolgt von einem metallischen Klirren und Rasseln. Sie hatte genug gesehen, um zu erkennen, daß Amals Vorhersage richtig war und seine schlimmsten Befürchtungen sogar noch übertraf. Zu keinem Zeitpunkt hatte er angedeutet, daß die Gerüste umstürzen könnten. Im Gegenteil, er hatte ständig wiederholt, daß die Türme standhalten würden, daß nur die Module in Gefahr wären. In der Leitung ertönten jetzt nur noch vereinzelt Stimmen; die Konferenz ging zu Ende. Die Lämpchen auf Lyns Kontrolltafel gingen reihenweise aus, und
schließlich meldete sich Kley über die Wechselsprechanlage. »Das wär's, Lyn. Ordnen Sie alles ein. Und glauben Sie ja nicht, ich würde Ihren Freund den Löwen zum Fraß vorwerfen. Wenn morgen die Erde bebt und sich auch nur ein Verbindungsbolzen löst, gewähre ich ihm volle Amnestie.« Im Moment war das eine akademische Frage für Lyn. Morgen würde es kein Los Angeles mehr geben, das Amal Amnestie hätte gewähren können. Aber würden die Gerüste morgen wirklich umstürzen? Aus ihrer bisherigen Erfahrung wußte sie, daß ihre präkognitiven Wahrnehmungen sich zwar stets bewahrheiteten, daß sie aber häufig aus dem Gesamtzusammenhang zukünftiger Ereignisse herausgerissen gesehen wurden. Aber Amal war in der Vision nahe bei ihr gewesen, folglich war er den Jägern am Angeles Crest entkommen. Lyn war nach einer Trance immer in einem Zustand übersteigerter suggestiver Empfänglichkeit, und so kam ihr der Gedanke, daß die Knallgeräusche, die sie in ihrer Vision deutlich wahrgenommen hatte, Gewehrschüsse gewesen sein könnten und daß das metallische Klirren möglicherweise von Kugeln, die von Stahlträgern abprallten, hergerührt haben konnte. Es war kurz vor eins. Wenn sie das Mittagessen
ausließ, konnte sie es bis um zwei zum Mühlteich schaffen. Sie würde Amal von ihren Visionen berichten. Mit Hilfe seines analytischen Verstandes würden sich die Rätsel, die ihr solches Kopfzerbrechen bereiteten, vielleicht lösen lassen. Eilig suchte sie die Tonbänder zusammen, auf denen die Konferenz aufgezeichnet worden war, etikettierte sie und begann sie einzuordnen. Gewissenhaft tat sie ihre Arbeit im Dienst einer Regierung, mit der sie sich entzweit hatte.
8 Amal hatte einen guten Griff getan, als er das historische Dorf als Treffpunkt gewählt hatte, überlegte Lyn, als sie das mitgebrachte Baumwollkleid anlegte. Denn zum einem wurde hier sein Hologramm nicht übertragen, und zum anderen würde er hier, in einem Zeitalter, wo man das Gesetz auf die leichte Schulter nahm und die Volkshelden Leute wie Pretty Boy Floyd und Clyde Barrow waren, Freunde finden, die die Stirn hatten, ihn notfalls auch vor der Polizei zu verbergen. Sie zog hochhackige Schuhe an, verließ das Bahnhofsgebäude und ging quer über den Dorfplatz auf Hamburger Heaven zu. Als sie am Konföderationsdenkmal vorbeikam, sah sie zwischen den Baumstämmen hindurch schon den Essex, der vor dem Imbißstand geparkt war. Sie hatte also reichlich Zeit, sich noch einen Imbiß zu genehmigen, bevor sie sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt machte. Da er wußte, daß man den hiesigen Sheriff angewiesen hatte, nach Flüchtlingen aus Los Angeles Ausschau zu halten, und das Bahnhofsviertel deshalb höchstwahrscheinlich überwacht wurde, würde Amal gar nicht erst versuchen, den Wagen zu nehmen. Sie vermutete, daß ein Kommilitone ihn an die Nord-
grenze der Enklave fahren würde und er dort über den Zaun klettern würde. Die Emersons waren hocherfreut, sie wiederzusehen, und spendierten ihr einen Hamburger und Kaffee. Sie konnten es sich leisten. Ihr Geschäft ging so gut, daß sie sich schon in Wohlstand schwimmen sahen. In der Abgeschiedenheit ihres Jahrhunderts hatten sie nichts von dem Aufruhr in Los Angeles gehört. Auf ihre Fragen nach Amal ging Lyn nicht näher ein. Sie sagte nur, daß er sehr beschäftigt wäre, daß sie immer noch vorhätten, sich am Sonntag in Dotham trauen zu lassen, und daß die Regierung seine Erdbebenvorhersage bestätigt hätte. Zu ihrem Kummer stellte Lyn fest, daß sich ein Bruch zwischen den Eheleuten vollzogen hatte. Sie las es in den Augen der beiden Alten. Emily hatte sich schließlich doch zu ihrer Leidenschaft für Liebesromane bekannt. Vernon hatte es höhnisch aufgenommen, ließ nun bei jeder Gelegenheit bissige Bemerkungen über die geistige Unbedarftheit seiner Frau fallen und spielte sich in zunehmendem Maße als Herr auf. Insgeheim sympathisierte Lyn mit Emily. Die romantischen Geschichten mochten frei erfunden sein, aber sie hatten einen gewissen Wahrheitsgehalt. Aus Nostalgie, so erklärte sie auf die Frage der
Emersons, sei sie ohne Amal nach Dotham zurückgekehrt. Unter anderen Umständen hätte dies ein Grund für ihren Besuch sein können. Als sie den Essex durch das Wohnviertel von Dotham steuerte und die Baumreihen zu beiden Straßenseiten und die weißen Häuser auf den Rasenflächen hinter den grünen Hecken wiedersah, dachte sie jedenfalls wehmütig an den Verlust ihrer Unschuld, und als sie am Johnny Reb's vorbeifuhr, erinnerte sie sich an das dabei empfundene Glücksgefühl. Sie fuhr die nun ungepflasterte Landstraße weiter, kam über die Brücke und hielt wie in alten Zeiten neben dem Heckenzaun der Emersons. Und als sie den Waldpfad zum Mühlteich entlang eilte, hatte sie tatsächlich ein nostalgisches Gefühl. Endlich, dachte sie, konnte sie sich doch noch mit den Heldinnen von Emily Emersons bevorzugter Literaturgattung identifizieren. Für einen Moment blieb Lyn am Teichufer stehen. Ein unbeteiligter Beobachter mochte in dem Teich nur ein stilles Gewässer sehen; für ein Mädchen, das darin zum erstenmal den Zauber der Liebe erfahren hatte, bedeutete er jedoch sehr viel mehr. Sie mußte sich zwingen, den Blick davon loszureißen. Dann setzte sie ihren Weg fort, folgte dem Pfad zur Mühle, kam an der Wiese vorbei und erreichte den kleinen Hügel, jenen Ort, wo Amal und sie sich zum ersten und bis-
her einzigen Mal geliebt hatte. War es auch nur ein kurzes Beisammensein gewesen, so bekam sie dennoch langsam das Gefühl, daß sich mehr daraus entwickeln würde als nur die Erinnerung an einen Diamantring und ein Eheversprechen. Onkel Moses saß an seinem Lieblingsplatz und döste vor sich hin; vor sich hatte er eine Angelrute, die mit dem Ende im Erdboden steckte. Die Gemütsruhe, die der alte Schwarze mit dem kahlen Schädel ausstrahlte, war nach dem hektischen Treiben in Los Angeles geradezu eine Wohltat für Lyn. An ihm war etwas erfrischend Unkompliziertes, etwas Unverständliches. Um ihn nicht zu erschrecken, rief sie, als sie noch zehn Meter entfernt war: »Schon Glück gehabt, Onkel Moses?« »Nein, Miss. Noch keiner angebissen. Wie geht's euch so?« Das Wort ›euch‹ ließ sie aufhorchen. Ein alter Neger, der sein ganzes Leben in Dotham im Bundesstaat Alabama verbracht hatte, würde nie und nimmer eine einzelne Person mit ›euch‹ anreden. Sie kam näher, beobachtete ihn genau und sagte, bewußt seinen Dialekt nachahmend: »Geht mir prima, Onkel Moses. Wie geht's euch denn?« Er schaute auf und lächelte ihr zu, aber in seinem unversehrten Auge las sie plötzliche Bestürzung. Sie
starrte ihn jetzt unverhohlen an und konzentrierte sich ganz auf das gesunde Auge und die Gesichtsmuskulatur. Ihr war klar, daß er ihren Blick als feindselig auffassen würde, doch kümmerte sie das nicht mehr. Die Zeit für Höflichkeiten war vorbei. Wenn Onkel Moses ein Polizeispitzel war, waren Amal und sie gleichermaßen in Gefahr; sie, weil sie einem Flüchtigen half, sich seiner Festnahme zu entziehen. Deutlich las sie eine Frage, die Onkel Moses sich stellte: Hat sie meine Tarnung durchschaut? Wenn er eine ›Tarnung‹ hatte, war er kein Spitzel, sondern ein Agent. Vielleicht bestand sein Katarakt aus Fischhaut; den Schädel konnte man kahlgeschoren und den Haarkranz graugefärbt haben. Vor einigen Wochen hatte sie verwundert über die lüsternen Gedanken eines siebzig Jahre alten Mannes nachgedacht, sich dann aber davon ablenken lassen. Wäre sie dem Gedankengang nachgegangen, wäre sie vielleicht damals schon auf die Verschwörung aufmerksam geworden, die gegen Amal im Gange war. »Wie geht's Mr. Amal?« fragte er. »Er wird von der Polizei gesucht, Onkel Moses. Für seine Ergreifung ist eine Belohnung von fünfundzwanzigtausend Dollar ausgesetzt worden.« »Junge, Junge! Wie wollt ihr zwei da heiraten?« »Wir heiraten gar nicht. Ich bin hinter der Belohnung her.«
»Sah mir aber neulich ganz danach aus, als wären Sie ziemlich verknallt in den Burschen.« »Nicht wenn's um fünfundzwanzigtausend Dollar geht ... Hören Sie gut zu, Onkel Moses. Sie können auch was von dem Geld abbekommen. Amal will mich hier treffen. Sobald er kommt, gehen Sie ganz gemütlich den Fluß runter und laufen dann zu Johnny Reb's rüber. Er soll sofort den Sheriff benachrichtigen. Ich werde Amal überreden, mit mir in die Stadt zum Imbißstand zu gehen. Wenn der Sheriff ihn dort festnimmt, haben Sie sich fünf Dollar verdient.« Der alte Mann dachte über ihren Vorschlag nach, den Blick auf den Korken am Ende der Angelschnur gerichtet. Als er schließlich antwortete, war jegliches Zittern aus seiner Stimme verschwunden, und sein Verhalten hatte sich von Grund auf geändert. Der bescheidene alte Neger aus dem zwanzigsten Jahrhundert war plötzlich zu einem modernen US-Afrikaner geworden, zu einer intelligenten und herrischen Persönlichkeit. »Kümmern Sie sich nicht um die Methoden, wie man des Verdächtigen habhaft wird, Miss Oberlin, und versuchen Sie nicht, mich von hier wegzulocken, damit er entkommen kann. Das gesamte Gebiet ist umstellt. Wenn Sie mit den Polizeibeamten zusammenarbeiten, werde ich dafür sorgen, daß Sie Ihren Anteil an der Belohnung erhalten.«
»Und wie soll ich das anstellen?« Er würde also dafür sorgen, daß sie ihren ›Anteil‹ an der Belohnung erhielt; Onkel Moses mußte ein Mann von Autorität sein. Er hatte nicht ›wir‹, sondern ›die Polizeibeamten‹ gesagt, folglich war er kein Polizist. »Gehen Sie den Hügel hinauf und halten Sie dort Ausschau, so als würden Sie auf jemand warten und langsam unruhig werden.« Es gab nur einen, der gewußt hatte, daß Amal und sie sich hier treffen wollten. Sie würde sich die Belohnung für Amals Festnahme mit dessen Zimmergefährten teilen, mit Nils Larsen. »Wer sind Sie eigentlich?« fragte sie den Afrikaner und beobachtete ihn genau. »Das braucht Sie nicht zu kümmern. Gehen Sie auf den Hügel.« Aber bevor sie sich umdrehte, um seiner Aufforderung nachzukommen, hatte sie die Antwort in seinen Gedanken gelesen. ›Onkel Moses‹ war ein Detektiv der Eugeniküberwachungsbehörde. Sie hatte noch nie von einer Eugeniküberwachungsbehörde gehört, aber was immer sie sonst noch tun mochte, eins tat sie gewiß: sie engagierte Schauspieler als Detektive. Als sie den Hügel hinaufging, schaute sie zu Onkel Moses hinab und sah, daß er wieder vornübergebeugt dasaß und allem An-
schein nach nichts anderes war als ein alter Neger, der sich mit Angeln die Zeit vertrieb. Sein kahler Schädel, der in der Sonne glänzte, erinnerte sie an Amals Bemerkung: »Onkel Moses brauchte sich nicht erst den Kopf kahlscheren zu lassen, um sich den Skinheads im Fort-Tejon-Reservat anzuschließen.« Sie hatte nicht sorgfältig genug auf Nils Worte geachtet, wie Amal es ihr ans Herz gelegt hatte, aber diesmal hatte sie von ihrem Fehler profitiert. Nils war eindeutig einer von ›ihnen‹. Sobald sie hier weg konnte, würde sie nach Los Angeles zurückfahren und Nils Larsen im Cal Tech einen Besuch abstatten. Er kannte das Geheimnis um Amals Identität, und er würde auch wissen, warum der Fachbereich für Experimentelle Genetik so erpicht darauf war, seinen Zimmergefährten zu beseitigen. Morgen, wenn ihre Arbeit im Büro zu Ende war, würde sie die Ridge Route nehmen, das Leitband in Höhe des Skinhead-Reservats verlassen und bei Amal sein, wenn das Erdbeben kam. Zumindest dort war er vor den Behörden sicher, denn man würde ihn für einen ganz normalen Bewerber halten, der wie jeder andere Zuflucht in der Sekte suchte. Und Bruder Kiefer mit seinem fanatischen Haß auf alles, was mit Technik zu tun hatte, duldete nicht einmal ein Transistorradio im Reservat.
Amal hatte nicht ein einziges Mal erwähnt, daß sich sein Apartment im siebenundsechzigsten Stockwerk befand, nur eine Etage unterhalb der Doktorandenwohnungen. Das war ausgesprochen typisch für ihn, da er ja auf Statussymbole keinen Wert legte. So kam sich Lyn ein wenig komisch vor, als sie im Aufzug hinauffuhr. Obwohl sie mit einem der attraktivsten Junggesellen in Pasadena verlobt war, hatte sie noch nie sein Apartment betreten. Und nun, während der ›trauten Stunden‹, stattete sie seinem Zimmergefährten, dem sie eigentlich aus dem Weg gehen sollte, einen unerwarteten Besuch ab. Die Polizei hatte ihr im Grunde genommen sogar einen Dienst erwiesen, als sie sie, eine gesetzestreue Bürgerin, aufforderte, bis halb vier auf dem Hügel zu bleiben und den Lockvogel für Amal zu spielen. Mittlerweile war es kurz nach vier, und ihr Besuch bei Nils würde nicht auffallen, da sie in Begleitung anderer weiblicher Wesen eintraf, die gleichfalls die Absicht hatten, Besuche abzustatten. Die Männer hatten sich jetzt allesamt in ihre Zimmer zurückgezogen, die Türen weit offen gelassen und fragten sich, welchen ›Besuch‹ sie heute erhalten würden. Während der Zeit, die die Studenten ›SadieHawkins-Stunde‹ nannten, war von Universitätsbetrieb im Cal Tech nicht viel zu spüren, stellte Lyn fest. Ihr Fahrstuhl war praktisch leer. Drei noch sehr junge
Mädchen in den blauen Uniformen der Marymountschule fuhren zur Erstsemesteretage und kicherten vor lauter Aufregung. Eine schon ältere Platinblonde mit der gelangweilt-arroganten Haltung einer ›Professionellen‹ hatte den Knopf für das achtzigste Stockwerk gedrückt: das war die oberste Etage, die für Nobelpreisträger reserviert war. Apartment Nummer 6701 lag genau gegenüber der Fahrstuhltür. Noch bevor sie in den Korridor hinaustrat, der von leiser Musik erfüllt war, sah Lyn, daß die Tür zu war. Nils hatte also schon Erfolg gehabt. Sie hätte damit rechnen sollen. Er stammte aus dem nahe gelegenen Covina, war blond und stattlich, und nicht alle Mädchen teilten ihre Abneigung gegen abgedroschene Metaphern. Daß er schon eine Partnerin hatte, komplizierte Lyns Angriffsplan, aber sie erinnerte sich an den Slogan aus dem Sexualkundeunterricht – der Dritte macht ein Paar erst komplett – und drückte auf die Klingel. Sie wartete, lauschte der Lockmusik, die aus den offenen Türen rund um den kreisförmigen Korridor erklang, und es dauerte eine geschlagene Minute, bis Nils überraschtes Gesicht am Türfenster erschien. »Lyn!« »Wie geht's, Nils?« »Ich, äh, nehme gerade ein Bad.« Er fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Amal ist nicht da.«
»Das weiß ich, Nils. Ich komme wegen etwas anderem. Doppelter Spaß ist doppeltes Vergnügen.« Er lächelte, und seine Stimme war um eine Oktave höher, als er ihr antwortete. »Ich bin allein, Lyn. Wart einen Augenblick. Ich zieh mir schnell einen Bademantel an.« Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein junger Mann ein paar Türen weiter den Kopf aus seinem Apartment steckte. Er bekam große Augen und rief laut zu ihr herüber: »Lyn Oberlin, in Fleisch und Blut.« Sie fühlte sich geschmeichelt, daß er sich noch an ihren Namen erinnerte, und winkte ihm lächelnd zu. Seit dem Wissenschaftler- und Modellball waren Monate vergangen. Dann begann das Pfeifkonzert; selbst von den Apartments hinter dem Mittelpfeiler, von wo aus man sie gar nicht sehen konnte, hörte sie schrille Pfiffe, die die Musik übertönten. Nils schien unendlich viel Zeit zu brauchen, um sich abzutrocknen und einen Bademantel überzuziehen. Lyn dachte voller Mitgefühl an all die Hirtenstarweibchen, die mitten im Paarungsritus gestört wurden, und rief über den Lärm hinweg: »Zurück in eure Löcher, ihr Maulwürfe. Ich bin nicht eure Erdmutter.« Ihr sinnreicher Ausspruch wurde mit Lachen aufgenommen, und als Nils die Tür öffnete, hatte das
Pfeifen aufgehört. Lyn machte die Tür mit einem Ruck zu und unterstrich ihre Entschlossenheit noch, indem sie das Becken leicht nach vom stieß. »Wie geht es dir, Nils?« »Du bist wirklich nicht wegen Amal gekommen?« »Nein. Deinetwegen. Du weißt ja, wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Ratten auf Tischen und Bänken herum.« Ihre leichte Abänderung des Spruchs war als psychologischer Seitenhieb gedacht, der Nils jedoch entging. Um so weniger entging er dafür Lyn. Sie standen noch im Flur, und die Schlafzimmertür zu ihrer Linken war einen Spalt offen. Das Bett war zerwühlt, und Nils Haar war trocken. Als er die Tür aufgemacht hatte, war sein erster Gedanke gewesen: hoffentlich kommt sie nicht auf die Idee und will auf die Toilette. »Bist du sicher, daß du noch keine Partnerin hast?« fragte sie beharrlich. Sie wußte, daß er eine hatte, und zweifellos mußte es sich um das bescheidenste Mädchen auf der Welt handeln, wenn es sich im Badezimmer versteckte. »Nein. Ich habe den ganzen Nachmittag gearbeitet.« Im Bett? fragte sie sich, während Nils sie ins Wohnzimmer führte. Dort lag ein eindeutig handgewebter Perserteppich, in den ihre Füße zentimetertief
einsanken. Dicht am Fenster standen ein langes Ledersofa und Sessel; in der Mitte war ein massiver Couchtisch aus Ebenholz. Wenn man dort saß, hatte man einen Ausblick nach Südwesten. Rechts von der Tür war eine Theke. »Darf ich dir einen Drink anbieten?« Nils wandte ihr beim Sprechen das Gesicht zu, und sie stellte fest, daß seine im Augenblick noch wirren Gedanken bereits einen stark libidinösen Charakter annahmen. Ausgezeichnet. Ihr Plan war, solche Erwartungen zu bestärken. »Ja, gern. Einen Scotch mit Soda, bitte.« Während er zur Bar eilte, trat sie ans Fenster. »Was für eine herrliche Aussicht, Nils.« »Ja. Bei klarem Himmel kann man sogar Catalina sehen.« Sie beschloß, ihm Hoffnung auf ein Verhältnis mit ihr zu machen, und sobald sie ihn richtig eingewikkelt hatte, würde sie die Bombe platzen lassen. In dem folgenden Durcheinander würde sie wahrscheinlich Zugang zu seinen geheimsten Gedanken erhalten können, und die würden ihr Hinweise auf seine Hintermänner geben. Als er mit einem Tablett mit den Drinks zurückkam, drehte sie sich um und fragte mit heiserer Stimme: »Wo hättest du mich am liebsten, Nils – sitzen?«
Er war offensichtlich verwirrt, denn ungeschickterweise versuchte er auf das Sofa zu deuten, während er das Tablett noch in den Händen hielt, und die Drinks schwappten dadurch leicht über. Als er es abgestellt hatte und sich wieder aufrichtete, bemerkte sie, daß er die Servietten vergessen hatte, dabei lagen sie deutlich sichtbar auf der Theke. »Mein Gott, was bist du doch für ein tolpatschiger Ganymed«, schalt sie ihn. »Gib's mir, Nils – das Tablett.« Mit einem dümmlichen Grinsen reichte er ihr das nasse Tablett und fragte: »Was ist ein Ganymed?« »Ein griechischer Gott. Der Mundschenk des Zeus.« »War er so etwas Ähnliches wie Apoll?« »Viel, viel stattlicher. Apoll war im Vergleich zu Ganymed, was Loki im Vergleich zu Siegfried war.« Zweifellos gab es unter den Mädchen, die sich von Nils Larsen angezogen fühlten, viele, die ihn mit Siegfried verglichen hätten. Ihre Anspielung sollte ihm eigentlich auffallen. Sie ging mit dem Tablett an die Theke und wischte es mit einem Lappen ab. Sie tat es mit geschickten Bewegungen und versäumte es nicht, gelegentlich ihre Oberschenkel zu streifen. Als sie sich umdrehte, stand Nils in seinem weiten Bademantel da und beobachtete sie. Um sich ihr Zartgefühl für jemand anderen aufzuheben, deutete sie auf das äußerste Ende
des Sofas, reichte ihm eine Serviette und befahl: »Dorthin, junger Mann. Setz dich!« Sie ging mit ihrem Drink zum anderen Ende des Sofas, setzte sich und lehnte sich genüßlich gegen das weiche Polster. »Auf dich und das deinige«, sagte er und hob sein Glas. Sie tat es ihm nach. Er reagierte auf ihre Körpersprache, war aber seltsamerweise immer noch wegen des Mädchens im Badezimmer besorgt. Wahrscheinlich war irgendeine Cal-Tech-Studentin bei ihm hereingeplatzt, und Nils schämte sich wegen der Intelligenzbestie, die er sich aufgehalst hatte. Was nur bewies, daß Nils nicht nur prahlerisch, sondern auch dumm war. Ihm sollte eigentlich aufgefallen sein, daß auch Lyn Intellektuelle bevorzugte. Aus purer Neugierde fühlte sie sich versucht, seine Gedanken nach dem Mädchen zu durchforschen, doch sie hatte wichtigere Anliegen. Sie mußte auf einen Wutausbruch warten, damit Nils nicht auf ihren starren Blick aufmerksam wurde, wenn sie sich voll auf seine Gedanken konzentrierte. »Hast du Amal angetroffen?« erkundigte er sich scheinheilig. »Nein«, erwiderte sie vergnügt. »Einer eurer Leute von der Eugeniküberwachung war vor mir dort, und Amal muß ihn wohl gesehen haben.«
Es hätte keiner telepathischen Fähigkeiten bedurft, um den seltsamen Blick zu deuten, den Nils ihr zuwarf. Er fragte sich: woher wußte eine Psychologin von der Eugeniküberwachungsbehörde? »Ich habe noch nie von so einer Behörde gehört«, sagte er. Er war beim Lügen genauso geschickt wie beim Getränkeservieren, dachte sie. Erst das zerwühlte Bett, dann sein trockenes Haar und nun das Wort ›Behörde‹, das sie vermieden hatte. »Mit ›euch‹ meinte ich auch nur den Genetikfachbereich«, sagte sie. »Aber ist es nicht seltsam, daß euer Mann dort war, noch dazu mit Polizeibeamten aus Los Angeles? Niemand wußte von dem Treffen, außer Amal und mir – und dir.« »Amal hat mir nie gesagt, wo ihr euch treffen wolltet«, entgegnete Nils. »Er sagte lediglich etwas von ›Moses‹-Land.« Er wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. Lyn konzentrierte sich auf sein Profil und seine Körperhaltung. Sie spürte seine innere Unruhe, sah, daß er sich in einem Konflikt zwischen Freundschaft einerseits und einem Pflichtgefühl andererseits befand. Was für eine Pflicht und gegenüber wem, fragte sie sich. In dem Moment drang sein erster klarer Gedanke zu ihr durch: Wieso ist die Falle nicht zugeschnappt? Im Anschluß an den Gedanken kam ein Gefühl der
Erleichterung. Wenigstens war er nicht völlig skrupellos, dachte Lyn. Sie machte sich seine Schuldgefühle zunutze. »Aber bestimmt hat er dir schon früher von Moses erzählt, und du wußtest, was es damit auf sich hatte.« Ihre Stimm war voll Zorn. »Du hast ihn für ein paar Silberlinge verraten, ihn, der sein Leben aufs Spiel setzt, um deins zu retten.« »Er wird nicht getötet werden ...« Er drehte ihr den Kopf zu, sah den Zorn in ihren Augen und stockte. In Gedanken fuhr er jedoch fort: ... jedenfalls nicht von den Jägern. Für Amal werden sie sich wie im Zeitlupentempo bewegen. »... Dazu hat er zu gute Reflexe«, beendete er den Satz. »Seine Reflexe haben ihn schon einmal im Stich gelassen«, sagte sie und sah ihm scharf in die Augen. »Und zwar in der einunddreißigsten Runde auf der John C. Calhoun-Rennbahn.« Angaben aus der schwarzen Kartei! Der Gedanke durchfuhr ihn wie ein Schock, und Lyn las ihn klar und deutlich. Seine Selbstbeherrschung war bewundernswert, dachte sie, denn er entgegnete gelassen: »Er hat mir nie etwas von einem Unfall bei einem Rennen erzählt.« »Tu doch nicht so«, sagte sie und konzentrierte sich mit geschärften Sinnen voll auf seine Gedanken. »Be-
stimmt weißt du aus der schwarzen Kartei, daß Leroy Thatcher ums Leben kam.« Nun verlor er doch die Kontrolle über sich. Die Verblüffung war ihm deutlich vom Gesicht abzulesen. Seine Gedanken überschlugen sich, kamen nur noch als Bruchstücke zu ihr durch, und einige dieser Gedankenfetzen brannten wie glühende Kohlen in ihrem Gehirn. Woher weiß sie von der schwarzen Kartei? Amal? Nein ... irgendeine andere Methode ... Telepathie? ... Das muß es sein ... genau, ihre bioplasmatischen Rezeptoren sind auf meine parametrischen Wellen abgestimmt ... alle Anzeichen sind gegeben ... der schräg geteilte Kopf ... der starre Blick ... aber Heywood sagte doch, die Psi-Experimente wären fehlgeschlagen ... es gibt keine Gedankenleser ... Hexerei vielleicht ... auf meine Gedanken achtgeben ... sie starrt mich an ... muß sie dazu bringen, woandershin zu schauen ... ihr Blick ist unerträglich ... Lyn war nun ihrerseits erschüttert, löste den Blick von ihm und betrachtete nachdenklich das Gemälde eines sarazenischen Ritters, das hinter Nils an der Wand hing. Eigentlich war sie nur gekommen, um sich Klarheit über Amals Herkunft zu verschaffen. Und nun hatte sie dem Genetikstudent Geheimnisse entlockt, die auf die Lösung jener Rätsel hindeuteten, die sie selbst umgaben. Allem Anschein nach hatte man versucht,
Menschen mit paranormalen Fähigkeiten zu züchten, und Nils hatte Kenntnis von solchen Experimenten. Begriffe wie ›bioplasmatische Rezeptoren‹ und ›parametrische Wellen‹ waren ihr unbekannt, aber Nils Larsens Ausbildung befähigte ihn offenbar, solche Phänomene zu erkennen. ›Sieh dich vor vor diesem Mann‹, ermahnte sie sich im stillen. Gleichzeitig tauchte in ihrer Erinnerung das Bild des enttäuschten Parapsychologen von damals auf. Bestimmt war der Mann ein Beamter der Eugeniküberwachungsbehörde gewesen, und nur durch eine List war sie der Entdeckung entgangen. Sie glaubten also, die ›Psi-Experimente wären fehlgeschlagen‹; so oder ähnlich hatte es Heywood gegenüber Nils formuliert. Der Name Heywood kam ihr bekannt vor, doch konnte sie ihn nicht einordnen. Nils hatte sich wieder gefangen. »Was hat dir Amal über Leroy Thatcher erzählt?« fragte er. Er hatte Verdacht geschöpft. Er spürte die Macht seiner Widersacherin und war sich wahrscheinlich auch bewußt, daß er seine Gedanken wirksam verbergen konnte, indem er so simple Taktiken anwendete, wie beispielsweise eine Zahlenkolonne gedanklich zu addieren oder einfach rückwärts zu zählen. Nils ging zum Angriff über. Er war weniger darauf aus herauszufinden, was sie wußte oder vermutete,
sondern er wollte wissen, inwieweit ihre Informationen von Amal stammten. »Du übersiehst, daß Amal mein Patient ist«, entgegnete sie. »Was er mir anvertraut, unterliegt der Schweigepflicht.« »Dann weißt du wahrscheinlich mehr über ihn als ich. Was hat dein Besuch also zu bedeuten?« Er war jetzt eindeutig auf Informationen aus, und es wäre sinnlos zu versuchen, seine Gedanken zu lesen, solange er sich in der Gewalt hatte. Die günstigste Gelegenheit, zu seinem geheimen Wissen vorzustoßen, würde sich dann ergeben, wenn es ihr gelang, ihn in einen Gewissenskonflikt zu bringen. Sie mußte an seinen Schuldgefühlen ansetzen. »Ich wollte dich nur wissen lassen, daß noch ein anderer weiß, daß du einen Freund und Kommilitonen für Blutgeld verraten hast. Obwohl sein Hologramm ständig gesendet wird, kam von allen, die wissen, wo Amal sich aufhält, nur einer zum Vorschein, um die Belohnung zu beanspruchen. Sein stets hilfreicher und treu ergebener Zimmergefährte. Ich nehme an, daß deine Mutter stolz auf ihren Sohn ist.« »Nun mach aber mal einen Schlußpunkt«, sagte er. Man sah ihm an, daß ihm gar nicht wohl in seiner Haut war. »Ich hätte keinen Pfennig von dem Geld genommen.« Sie spürte instinktiv, daß er die Wahrheit sagte.
»Warum hast du ihn dann verraten?« »Amal ist nicht der, für den du ihn hältst, Lyn«, sagte er und schaute sie dabei an. »Ich habe nur getan, was Amal von sich aus getan hätte, wüßte er soviel über sein Schicksal, wie ich es weiß ... Halt dich fern von ihm, Lyn. Geh fort von Los Angeles. Er ist die Gefahr. Nicht das Erdbeben. Für dich, für mich, für sich selbst ist er genau das, was er zu sein scheint: tapfer, großzügig, selbstlos. Aber verschwinde aus Los Angeles, verschwinde, solange noch Zeit ist.« »Du redest Blödsinn«, sagte sie scharf. »Ich wünschte bei Gott, es wäre so. Aber ich hab dir schon mehr gesagt, als ich eigentlich dürfte ... Tut mir leid, Lyn, aber ich möchte, daß du gehst. Jetzt gleich, bitte.« »Wie du willst«, sagte sie und stand auf. Sie wußte, daß er befürchtete, sein Schuldgefühl könnte ihn dazu treiben, noch mehr zu verraten. Sein Widerstand ließ nach, und sie konnte ihn immer noch in einen Gewissenskonflikt stürzen. Lyn stand dicht bei der Schlafzimmertür. Der Grundriß der Apartmentmodule war überall im Turm derselbe. Wenn man quer durchs Schlafzimmer ging, kam man zum Badezimmer. »Also schön, du Judas, ich gehe«, sagte sie. »Aber ich finde dich zum Kotzen. Und ich fürchte, genau das muß ich jetzt tun.«
Sie hielt die Hand vor den Mund und riß die Tür auf, bevor Nils reagieren konnte. Sie eilte durchs Schlafzimmer, bemerkte die zwei Betten, von denen eins zerwühlt war, und hörte Nils von der Tür her rufen: »Geh da nicht rein!« Seine Stimme war heiser vor Erregung und erinnerte sie irgendwie an das Jaulen eines Seehunds. Lyn schlug die Badezimmertür zu und schloß ab. Auf den ersten Blick war niemand zu sehen, aber eine undeutliche Schattengestalt hinter dem milchig trüben Kunststoffvorhang der Dusche verriet ihr, wo das Mädchen sich versteckte. Lyn riß den Vorhang zurück und sah sich ihrem Ebenbild gegenüber, das würdevoll und von der Anhängeruhr um den Hals abgesehen splitternackt in der Duschkabine stand. Lyn wußte zunächst nicht, ob sie lauthals lachen oder vor Empörung aufschreien sollte; schließlich musterte sie das Kunstwerk vor sich mit uneingeschränkter Bewunderung. Man hätte meinen können, die Studenten der Daedalus-Gesellschaft hätten ihre sämtlichen Körpermaße mittels Tasterlehren genommen, so perfekt war die Kopie. ›Sie haben meine Lippen zu voll gemacht‹, dachte sie, ›und meine Augen sind eine Spur zu grün‹. »Wie heißt du?« fragte sie ihr Ebenbild. Das Gynodron schaute in Richtung ihrer Stimme, feuchtete die Lippen an und antwortete mit einer
Stimme, die etwas tiefer war als ihre eigene: »Lyn Oberlin.« »Wie kannst du es wagen, meinen Namen zu benutzen, du dämlich grinsende Hure?« Sie schrie absichtlich laut, damit Nils im Nebenraum auch ja alles mitbekam, und sie konnte nicht umhin, ihrem Aufschrei eine triumphierende Note zu verleihen. Hier war eine Gelegenheit, Nils auszuquetschen, ohne auf Gedankenlesen zurückgreifen zu müssen. Sie hatte ihn praktisch in flagranti, falls dieser Klischeebegriff der richtige war, beim Liebesakt mit einer Kunststoffnachbildung ihrer selbst ertappt. Scheinbar außer sich vor Wut rauschte sie ins Schlafzimmer. Nils saß auf der Kante des zerwühlten Betts, ließ den Kopf hängen und starrte zu Boden. Lyn stellte sich vor ihn hin, sah auf seinen Kopf hinab und sagte mit schneidender Stimme: »Du niederträchtiger perverser Schuft. Dafür kann ich dich wegen Verletzung meiner Intimsphäre verklagen. Und nach allem, was heute geschehen ist, habe ich verdammt große Lust, deine Liebespraktiken öffentlich vor Gericht anzuprangern. Was würden wohl deine Freundinnen in Covina von einem Romeo halten, der nur bei einer hirnlosen Plastikpuppe landen kann? Wußte Amal, daß du dieses Ding mietest?« »Er wußte, daß es auf dem Campus war und daß
ich auf der Warteliste stand. Natürlich konnte ich es nicht herbringen, solange er hier war.« »Hast du ihn deshalb verkauft? Weil du ihn aus dem Weg haben wolltest? Sieh mich an!« Nils war völlig zusammengebrochen; sie konnte ihn jetzt nach Belieben ausfragen. Er brachte es nicht fertig, sie anzuschauen, und so faßte sie ihn am Kinn und zog seinen Kopf hoch. Dann fragte sie: »Wer ist Heywood?« »Der Leiter des Genetikfachbereichs«, sagte er. »Ist er der Mann, der mir Auskunft über Amal geben kann?« »Ja.« »Wo finde ich ihn?« »Er wohnt im neunundsiebzigsten Stockwerk.« Hinter sich sah sie einen Weg, gepflastert mit verpaßten Gelegenheiten. Sie hätte sich an Heywood erinnern müssen und ihre Fragen direkt an ihn richten sollen. Auch hätte sie sich mit seiner Vergangenheit vertraut machen können. Daß er seine Residenz in der neunundsiebzigsten Etage hatte, deutete darauf hin, daß er für einen Nobelpreis nominiert war. Folglich würde er im Who's Who verzeichnet sein. »Zieh dir etwas an«, sagte sie scharf. »Dann rufst du den Zauberkünstler eurer Hexenküche an. Sag, daß du Lyn Oberlin zu ihm bringst, die sich mit ihm über Amal Severn unterhalten möchte. Er wird mei-
nen Namen kennen. Er hat bereits in meinem Büro herumschnüffeln lassen. Erzähl ihm meinetwegen, was du willst, aber krieg ihn rum. Andernfalls wird deine Kunststoffgeliebte Gegenstand öffentlicher Diskussionen werden.« »Du hast eine völlig falsche Vorstellung von Heywood«, murmelte Nils. Er ließ immer noch den Kopf hängen, als er aufstand, um sich anzuziehen. »Ich bilde mir meine Meinung selbst«, sagte sie schroff. Sie hatte Nils auf schamlose Weise eingeschüchtert und erpreßt, wie sie zugeben mußte, und sie hatte jede Sekunde davon genossen. Als Sozialpsychologin wußte sie natürlich, daß junge Männer in Nils Altersgruppe in der Regel Gynodrone lebenden Mädchen vorzogen, und wenn sie es recht bedachte, fühlte sie sich sogar geschmeichelt, ihr Ebenbild auf dem Campus vorzufinden. Als sie kurze Zeit später im Aufzug nach oben fuhren, mußte sie sich zusammennehmen, um sich ihr Mitgefühl für Nils, der zutiefst beschämt war, nicht anmerken zu lassen. Sie hätte ihn zu gern gefragt, wie hoch der Preis für die Gunst ›Lyn Oberlins‹ veranschlagt wurde. Doktor Heywood wohnte allein in einem prachtvollen, aber nicht übertriebenen luxuriösen Apartment, das zwei Turmbausteine umfaßte. Er begrüßte
sie am Eingang so freundlich, als wären sie eingeladene Gäste, und richtete an Lyn die Worte: »Ich bedaure es aufrichtig, Miss Oberlin, Sie zu dieser Stunde in männlicher Begleitung bei mir zu empfangen.« Er gab sich höflich, charmant und liebenswürdig. Er war zierlich gebaut und nicht größer als Lyn, doch er strahlte eine Autorität aus, die ihn größer erscheinen ließ. Seine großen blauen Augen, die in der Farbe gut zu dem welligen grauen Haar paßten, hatten etwas von der Sensibilität eines Dichters. Er machte einen gepflegten Eindruck und war fast gutaussehend zu nennen. Seine gesamte äußere Erscheinung, das sorgfältig gekämmte Haar, der Anzug, das weiße Hemd, deutete darauf hin, daß er sich mit Studenten identifizierte. Das einzige Zugeständnis an sein Alter, das zwischen fünfzig und sechzig Jahren liegen mochte, war der protzige Windsorknoten in seiner Krawatte. Er machte eine Verbeugung und führte sie in sein Büro. »Ich scherze natürlich«, meinte er entschuldigend. »Ein alternder Schwan kann vom Körper einer Leda leider nur träumen.« Schon diese wehmütige, an Yeats angelehnte Metapher, mit der er sie mit Leda verglich, hätte genügt, Lyn für ihn einzunehmen, und der bedauernde Tonfall, mit dem er sie aussprach, erweckte ihre Sympathien vollends. Im Büro angekommen, rückte er einen
Sessel für sie zurecht, so daß sie den Ausblick auf San Jacinto genießen konnte, dessen schneebedeckter Gipfel fern im Osten im Licht der Abendsonne rötlich schimmerte. Wie ein Kavalier alter Schule blieb er hinter ihrem Sessel stehen, bis sie Platz genommen hatte, und Lyn fühlte sich geschmeichelt. Während er um den Mahagonitisch zu seinem Sessel ging, bekannte er: »Gestern im Anhörungssaal, Miss Oberlin, erlag ich Ihrem Zauber. Sie sahen gerade zu, wie Red Benton die Freiheit der Wissenschaft erfolgreich gegen den Glorreichen höchstpersönlich verteidigte und ihm eine vernichtende Niederlage bereitete. Als ich sah, welche Schönheit und welches Talent sich mit Amal verbündet hatten, entschloß ich mich widerwillig – und ich lege Wert auf die Feststellung, daß es widerwillig geschah –, mich an höhere Stellen zu wenden, um Amals Schicksal zu beeinflussen.« »Doktor Heywood, nun höre ich zum zweitenmal innerhalb einer Stunde die Worte ›Amals Schicksal‹. Was ist denn sein Schicksal? Was hat Leroy Thatcher damit zu tun, und wie kommt es, daß das Außenministerium in die Sache verwickelt ist?« Heywood hob abwehrend die Hände und schaute Lyn an. »Geduld, meine Dame. Ich werde versuchen, alle Fragen zu beantworten, aber immer der Reihe nach.
Zunächst, Amals Schicksal.« Er ließ die Hände auf den Schreibtisch sinken und trommelte mit den manikürten Fingernägeln der rechten Hand auf die polierte Tischplatte. Er ordnete seine Gedanken. »Als Psychologin ist Ihnen bekannt, daß viele Verhaltensforscher der Auffassung sind, daß es keine Zufälligkeiten im menschlichen Verhalten gibt, sondern daß sogar ein Impuls, aufzustehen und sich ein Glas Wasser zu holen, von vornherein festgelegt und vorherbestimmt ist. Shakespeare sagte einmal, unser Schicksal sei nicht in den Sternen geschrieben, sondern liege in uns selbst. Die Wahrheit geht tiefer. Unser Schicksal liegt nicht in uns selbst, sondern in unseren Genen.« Seine Stimme klang beim letzten Satz ein wenig traurig, aber plötzlich bekam sie Farbe. Er legte den Kopf in den Nacken, und seine Augen leuchteten vor innerer Erregung. »Des Menschen Schicksal, das ist die Instrumentation seiner Gene. Aus der Grundsubstanz des Lebens komponieren wir Genetiker Arien und Symphonien, und Ambulant-Eugenik-Experiment-Nummer-Sieben sollte unser großartigstes musikalisches Kunstwerk werden, ein triumphaler Kontrapunkt zu den Dissonanzen des Bevölkerungsabflusses. Das Thema Amal Eugene Severns war dies: er sollte der Prototyp des Idealmenschen für einen überbevölkerten Planeten
sein; ein kurzer Satz, der sich zu einem unvergeßlichen Höhepunkt steigerte.« Er hielt inne, und während der Pause erkannte Lyn, daß hier ein Poet sprach, ein brillanter Dozent, der im Studentenjargon den Namen ›Schneemann‹ trug. Sie beugte sich vor. »Miss Oberlin, ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis ...« Es war gut, daß sie drei Fragen gestellt hatte, bevor er zu reden anfing. Denn während der folgenden zwanzig Minuten war sie wie hypnotisiert. Gebannt lauschte sie seiner flüssigen blumigen Sprache, und fasziniert beobachtete sie sein Gesicht, das einmal eindringlich, dann wieder gesetzt war, sich zu einem kurzen Lächeln verzog, dann wieder ernsthaft wurde. Ambulant-Eugenik-Experiment-Sieben nahm seinen Anfang, bevor die Massenvernichtung das Bevölkerungsproblem löste, erfuhr sie. »In den Zeitungen, die damals nur vier Seiten umfaßten, weil der Holzvorrat immer kleiner wurde und rationiert werden mußte, fanden sich Artikel, die eine aktive Lebensspanne von neunzig Jahren vorhersagten. Mehr Menschen lebten länger, konsumierten mehr und arbeiteten weniger. Es war ein Zeitalter der Völlerei, Faulheit und blindwütiger Bevölkerungsvermehrung. Im Jahr 2024 machte ein namentlich unbekannter UN-Vertreter vor einem Weltkongreß von
Genetikern ein Sub-rosa-Angebot: man würde Gelder für Experimente bereitstellen, die auf moralisch akzeptable Weise das Bevölkerungswachstum stoppen und den Anteil an nützlichen Gesellschaftsmitgliedern erhöhen sollten. Wie konnte man nun das menschliche Leben kürzer und fruchtbarer gestalten und dies auf moralisch akzeptable Weise? Wie es in solchen Fällen keineswegs ungewöhnlich ist, kam den Genetikern ein Zufall zu Hilfe. Ein Versicherungsstatistiker verfaßte für eine Fachzeitschrift einen Artikel über eine merkwürdige Begebenheit. Über einen Zeitraum von zehn Generationen war in einer englischen Familie jeder männliche Familienangehörige eines unnatürlichen Todes gestorben, bevor er das sechsundzwanzigste Lebensjahr vollendet hatte. Der Versicherungsfachmann deutete an, daß der sogenannte ›Todestrieb‹ vererbbar sein könnte. Jemand aus unserem Metier stieß auf diesen Artikel, speiste einen Computer mit den Hartforder Versicherungsstatistiken und wies nach, daß die Vermutung des Versicherungsfachmanns richtig war. Daraufhin nahm man DNS-Proben von den Unglücksraben – von allen, die in jungen Jahren eines unnatürlichen Todes starben –, von jungen Selbstmördern, Trapezkünstlern, Rennfahrern. Millionen von Makrohologrammen entstanden aus den Gewebeproben.
Aus dem Labyrinth von Tabellen, Diagrammen und Strukturdarstellungen schälte sich eine konsistente Anomalie heraus, eine Verzerrung in der Helix des neuralen DNS. Der Thanatos-Syndrom-Faktor wurde isoliert. Wir spürten, daß wir durch Züchten und fötale Implantationen das Bevölkerungsproblem, das auf der Welt lastete, auf moralisch akzeptable Weise lösen konnten. Wir spielten uns nicht als Gott auf, sondern gebrauchten lediglich unseren Intellekt. Wer will sich ein Urteil darüber anmaßen, was eine gute Züchtung ist? Männer vom Schlage Hitlers? Die Proleten vielleicht? Oder sollen vernunftbegabte hartarbeitende Männer guten Willens die Entscheidung darüber etwa zwei Teenagern überlassen, die auf dem Rücksitz eines Wagens ihre Spielchen treiben? Wieso ein Experiment, für das nach der Massenvernichtung keine Notwendigkeit mehr bestand, eigentlich noch fortsetzen, könnte eine aufgeweckte junge Frau fragen. Simple Eigendynamik. Wir sahen den Annapurna vor uns; sein schneebedeckter Gipfel, noch von keines Menschen Fuß betreten, lockte uns, und wir mußten ihn erklimmen.« Amal war, gemessen an seinem Zweck, eine gute Züchtung. Er war das Produkt der Eizelle einer hervorragenden Poetin, die mit zwanzig Selbstmord begangen hatte. Der befruchtete Same stammte von ei-
nem Mathematiker, der wertvolle Beiträge zur Allgemeinen Feldmathematik geleistet hatte, bevor er ganz im Zeichen der Familientradition im Alter von dreiundzwanzig Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Zusätzlich hatte man Amals Vorderhirn im Fötusstadium bei einer Gebärmutteroperation mit einem Klon von Leroy Thatchers Nervenzellen angereichert. Die Klonierung war ein Irrtum vom Amt, gab Heywood zu, obwohl »Leroys NervenDNS ein ausgeprägtes Thanatosgen besaß – über sieben Generationen hinweg starben die männlichen Thatchers im Alter von einundzwanzig Jahren.« Es hatte den Anschein, als erzeuge das vorstrukturierte DNS des eingefrorenen Leichnams Schattenbilder in Amals Nervenbahnen. Und doch hatte der Rennfahrer der Persönlichkeit des Prototyp einen charmanten nonchalanten Charakterzug verliehen. Heywood ließ das Experiment so vernünftig, so unabdingbar und so wahrhaft menschlich erscheinen, daß Lyn Amal nicht länger als den Mann, den sie liebte, ansah, sondern ihn lediglich als AE 7, als Ambulant-Eugenik-Experiment-Nummer-Sieben, betrachtete. Zusammen mit Heywood betrauerte sie die nun in später Einsicht festgestellten Mängel des Experiments, als sie plötzlich eine seiner Bemerkungen wieder in ihre subjektive Wirklichkeit riß. »Die Natur hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten,
über die wir manchmal stolpern, ja, über die sie manchmal selbst stolpert. Die neue Menschengattung – Homo ultra sapiens hätte man sie wohl nennen sollen – war durch ihre höherfrequenten Gehirnwellen auf einen schnelleren Lebensrhythmus programmiert und von vornherein zu einer kurzen Lebensspanne verurteilt; aber ihr Fortbestand war durch eine hohe sexuelle Potenz gewährleistet. Beispielsweise führt eine ledige spanische Zigeunerin einen Prozeß gegen die Universität von Madrid um den Unterhalt ihres Kindes, und ein schwarzes Mädchen in Südafrika sitzt wegen Verstoß gegen die Apartheidgesetze im Gefängnis. Wir irrten uns insofern, als sich unsere Anti-Sex-Konditionierung als nicht stark genug erwies; Vasektomie wäre sicherer gewesen. Die Natur aber irrte sich, indem sie den Prototypen ein ›Overkill-Potential‹ gab. Sie sind alles andere als ›Idealmenschen für einen überbevölkerten Planet‹. Innerhalb einer Generation hätte die neue Gattung einen Planet von der Größe Saturns entvölkert und höchstens die Vögel und Käfer übriggelassen. Unser Ambulant-Experiment-Nummer-Sieben wird in Kürze als Fehlschlag zu den Akten gelegt werden.« »Nachdem Amal tot ist?« fragte Lyn, plötzlich wieder sie selbst. »Das ist nicht gesagt«, erwiderte Heywood kopfschüttelnd. »Nein, nachdem wir herausgefunden ha-
ben, ob er entschärft worden ist oder nicht. Ich habe mich nur deshalb an höhere Stellen gewendet, um zu beantragen, daß der psychische Druck, dem man ihn die ganze Zeit ausgesetzt hat, aufgegeben wird, wenn er seinen Beitrag zur Wissenschaft geleistet hat. Bei der großen Zahl von loyalen Gefolgsleuten unter den Studenten, die ihn decken – ich bin sicher, daß nicht noch ein anderer Informant unter ihnen ist – und bei seiner raschen Auffassungsgabe und der Schnelligkeit seiner körperlichen Reaktionen möchte ich bezweifeln, daß er von der Polizei verhaftet wird, es sei denn, er läßt sich freiwillig festnehmen. In diesem Fall wird er allerdings sofort neuem Druck ausgesetzt. Wenn wir dafür sorgen können, daß er immer die Augen offenhält, ihn von seiner Besessenheit ablenken, bis seine Liebe für Sie seinen Todestrieb zurückgedrängt hat, dann, glaube ich, werden wir alle sicher sein vor seinem Gen des Jüngsten Gerichts.« »Dann glauben Sie, daß Amal eine Chance hat, seinem Schicksal zu entgehen?« »Durchaus. Wir haben da eine junge Schulleiterin in Hamburg in Deutschland. Sie ist glücklich verheiratet und wird demnächst Zwillinge zur Welt bringen ... Wie Sie sehen, behalten wir unsere Versuchspersonen genau im Auge, Miss Oberlin ... Ich würde meinen, daß die Chancen mindestens fünfzig zu fünfzig stehen. Allerdings befürchte ich, daß Amal jene Ma-
schinerie, die zu Aufruhr und Zerstörung führen wird, wenn Little Palmdale kommt, bereits in Gang gesetzt hat. Aber morgen werden wir es wissen. Alle AE-Sieben kommen in den verheerenden Katastrophen, die sie auslösen, um.« Er schenkte Lyn ein Lächeln. »Wenn die Krise vorüber ist und Amal noch lebt, kann ich Ihnen versichern, daß ihm als öffentlichem Wohltäter Amnestie gewährt werden wird. Ich hoffe, Sie am kommenden Sonntag wiederzusehen. Selbst wenn ich nicht zur Hochzeit eingeladen werde, kann ich mich ja auf eine der hinteren Bänke in der Dothamer Baptistenkirche setzen, um Sie in Ihrem Hochzeitskleid zu sehen.« Er stand auf und hielt ihnen zum Abschied die Hand hin. Voll Dankbarkeit erhob sich Lyn, ergriff die dargebotene Hand und sagte: »Ich werde dafür sorgen, daß Sie eine Einladung erhalten, Doktor Heywood, aber ich habe noch eine Frage. Was geschah mit Amals Pflegemutter?« »Die arme Frau«, seufzte er. »Sie glaubt, daß ihr Lieblingssohn bei einem Busunfall ums Leben kam.« Sein Gesicht hellte sich auf, und er fügte hinzu: »In Ihren Flitterwochen können Sie sie ja im Iran besuchen.« »Ich habe eine Frage, Doktor Heywood.« Es war das erste Mal, daß Nils sich zu Wort meldete. »Da Lyn doch nun über AE-Sieben Bescheid weiß, unter-
liegt Amals Genkarte immer noch der Klassifizierung ›Streng geheim‹?« »Aber selbstverständlich.« Heywood war ärgerlich. »Lyn wird unser Geheimnis natürlich für sich behalten. Würde ein Mädchen denn herumerzählen, daß der Mann, den sie liebt, eine Nachahmung ist, ein künstlicher Mensch, ein aus Bruchstücken zusammengeflicktes Ding? Gewiß nicht Lyn. Selbst wenn er morgen sterben sollte, würde sie das Andenken an ihn in jedem Fall in Ehren halten. Schließlich müssen wir auf die puritanische Ethik Rücksicht nehmen, und Lyn ist zu loyal, um unsinniges Zeug über den Jungen zu verbreiten.« Heywood hatte so recht. Nils war nicht gerade mit Scharfsinn gesegnet, dachte Lyn, als sie Heywood einen guten Abend wünschten und durch den Ausgang in den Korridor gingen. »Was hältst du von ihm?« fragte Nils. »Er ist einfach überwältigend«, erwiderte sie und dachte: Das mit seiner Pflegemutter sage ich Amal an unserem Hochzeitstag. »Ich fange langsam an, meine Meinung über ihn zu ändern«, sagte Nils. »Heute morgen erst hat er seinen ›Informanten‹ noch dafür gedankt, daß er ihm den genauen Zeitpunkt angegeben hat, zu dem du und Amal euch treffen wolltet; der Treffpunkt selbst war bereits umstellt.
Mein Vater war früher Handlungsreisender«, fuhr Nils fort, als spräche er zu sich selbst. »Er erzählte mir, was für ein Gefühl er immer hatte, nachdem der Verkaufsmanager alle Vertreter am Morgen mit einer schwungvollen Rede angefeuert hatte. Sie gingen zur Tür raus mit dem Gefühl, Sachen im Wert von einer Million Dollar verkaufen zu können, aber kaum daß sie auf dem Bürgersteig waren, stellten sie ernüchtert fest, daß es immer noch dieselbe alte Straße war.« Nils so völlig andersgeartete Meinung rief Lyns Kritikfähigkeit wieder wach, die, wie sie erkannte, in Heywoods Gegenwart völlig eingeschlafen war. »Er schien wirklich Scheuklappen aufgehabt zu haben. Irgend etwas in seiner Argumentation fehlte.« »Ehrlichkeit!« sagte Nils und ließ seine Wut am Fahrstuhlknopf aus. Nils stieg in ihrem Ansehen noch, als er fortfuhr. »Sie haben Amal belogen. Sie haben seine Pflegemutter belogen. Mit Lügen haben sie ihn darauf konditioniert, sich vor Erdbeben zu fürchten. Und dann haben sie ihn an eine Universität dirigiert, die praktisch unmittelbar über der SanAndreas-Verwerfung liegt. Jedesmal, wenn im Labor die Nadel des Seismographen zitterte, raste Amal zur Tür. Und von wegen freier Wille. Er hat soviel Macht über sein Schicksal wie eine Ratte über ihr Labyrinth. Gegen ihn ist eine Verschwörung im Gange, die alles,
was ihm an Konspiration vorgeworfen wird, in den Schatten stellt.« Als sie in die Fahrstuhlkabine gingen, murrte er weiter: »Vielleicht bin ich nur Dreck für dich, aber eins kann ich dir sagen: wenn morgen die Turmbausteine runterfallen, stehe ich unten mit einem Laserschweißbrenner und hole Amals Genkarte aus dem Safe mit der schwarzen Kartei. Das wird mein Hochzeitsgeschenk an euch. Sie ist das einzige existierende Exemplar. Die Daten sind zwar auf Mikrofilm gespeichert, der sich in der Schweiz befindet, aber ohne die Registriernummer der Karte ist der Film unauffindbar.« »Warum nimmst du nicht die ganze Kartei mit?« »Was sollte ich damit anfangen?« Sie hatte das Gefühl, sie könnte ein persönliches Interesse an der Kartei haben, aber das wollte sie Nils nicht sagen. »Keine Ahnung«, entgegnete sie. »Aber Red Benton würde sicher etwas einfallen. Kann ich ihn von deinem Apartment aus anrufen? Wir drei könnten ja zusammen abendessen.« »Du meinst, du würdest wirklich noch einmal mein Apartment betreten?« Die Ungläubigkeit in seiner Stimme brachte sie zum Lachen, und sie sagte: »Klar doch, Nils. Vielleicht benutze ich sogar dein Bad. Ich denke nicht im
Traum daran, dich zu verklagen – höchstens wenn ich dich mit einem anderen Gynodrom erwischen sollte.« Red Benton war allein im Zimmer und brachte auch gleich seinen Unwillen darüber zum Ausdruck, indem er meinte, die unerwiesenen Behauptungen, ein Erdbeben stünde kurz bevor, hätten ihm SadieHawkins gründlich verdorben. Lyns Einladung, gemeinsam zu essen und ›eine wichtige, Amal betreffende Angelegenheit‹ zu erörtern, wurde von ihm bereitwillig angenommen. Er schlug vor, daß sie sich im Steak-Out trafen; das war ein Restaurant in der Gerichtsturmkuppel, in dem Polizisten verkehrten. Die Stammkunden dort waren von Berufs wegen unaufdringlich, so daß sie sich ungestört unterhalten konnten. Außerdem verfügte das Steak-Out über die technischen Einrichtungen, mit denen sich Amals Hologramm projizieren ließ. In der Hetze des Tages hatte Lyn das Hologramm noch nicht gesehen, obgleich es seit Mittag zu jeder Stunde übertragen worden war. Red wollte, daß sie sich die Fünfminutensendung ansah, um ihr zu demonstrieren, daß selbst die Polizei nicht darüber erhaben war, Tatsachen zu verfälschen. Sie trafen sich im Foyer des Restaurants und fanden rasch einen Tisch nahe bei der Projektionsbühne. Die Gäste, Polizisten außer Dienst, sahen gelangweilt einem Hologramm zu, das die meisten von ihnen
schon in- und auswendig kannten. Als der Kellner sie an ihren Tisch führte, ging die Sendung gerade zu Ende. Nils überließ es Lyn, Red in das Geheimnis einzuweihen. Er hatte immer noch Hemmungen, über Dinge zu reden, die zu verschweigen er eigentlich verpflichtet war. Lyn berichtete Red ausführlich von ihrem Gespräch mit Doktor Heywood, von der schwarzen Kartei, dem genetischen Experiment und der unvorhergesehenen Zerstörungswut des Gens des Jüngsten Gerichts. Heywood hatte sie mit seinem Charisma so nachhaltig beeinflußt, daß sie sogar jetzt noch das AE 7 vor dem aufmerksam zuhörenden Anwalt zu rechtfertigen suchte. Red ließ sich von Heywoods Argumenten nicht beeindrucken. »Was du da gerade geschildert hast«, sagte er, »ist ein Verbrechen an der Menschheit. Die Regierungen von Spanien, Rußland und Südafrika werden sich wegen stillschweigender Duldung dieses Experiments, das, von anderen unmenschlichen Gesichtspunkten einmal abgesehen, zu einem Massenmord geführt hat, vor dem Weltgerichtshof verantworten müssen. Darüber hinaus dürfte sich jede dieser Regierungen einer Flut von Schadenersatzforderungen seitens der Hinterbliebenen der Opfer gegenübersehen, sobald diese Dinge an die Öffentlichkeit gelangen.«
Er wandte sich an Nils. »Wenn du mir hieb- und stichfestes Beweismaterial beschaffst, kann ich dafür garantieren, daß dir erstens kein Schaden daraus erwächst und daß es dir zweitens sogar zum finanziellen Vorteil gereichen wird. Wenn durch Amals Handlungen irgendeine Katastrophe entstehen sollte, und sei es als direkte Folge davon, kann ich einen Prozeß anstrengen, der dem Experimentieren mit Menschen ein für allemal ein Ende bereiten wird.« »Ich mache mir Gedanken wegen Amal«, sagte Lyn. »Sowohl Kley als auch Heywood haben mir versichert, daß Amal amnestiert werden wird, sollte sich auch nur ein Turmbaustein lösen. Was ist, wenn kein schweres Erdbeben kommt? Könnte Amal die Regierung wegen Gegenkonspiration verklagen oder sich darauf berufen, er wäre nur ein Werkzeug in den Händen der Politiker gewesen?« »Kley und Heywood haben sich auf die offizielle Version aus Washington berufen«, entgegnete Red kopfschüttelnd. »Wenn es zu einer Erdbebenkatastrophe kommt, dann hat die Stadt inoffiziell die Evakuierung der Türme unterstützt und wird auch die Anerkennung dafür ernten. Kommt es nur zu leichten Erdstößen, kann die Regierung Amal für die Störung der öffentlichen Ordnung verantwortlich machen. Egal, was geschieht, er sitzt in der Falle.«
»Aber Heywood machte einen so menschlichen Eindruck. Die Regierung würde doch bestimmt nicht aus reiner Rachsucht auf einer Strafverfolgung bestehen?« Red sah sie an, als verblüffe ihn ihre Naivität. »Du identifizierst dich so sehr mit der Regierung, daß du darüber ihre Geschichte und Traditionen vergißt. Heywood hat dir eine atemberaubende Geschichte erzählt, damit dir gewisse Unstimmigkeiten nicht auffallen. Eigentlich bist du sogar geehrt worden. Auf eigene Faust, ohne jede fremde Hilfe hast du eine staatliche Verschwörung aufgedeckt. Du mußt dir eins klarmachen; unsere strengen Anti-Konspirationsgesetze entstanden, weil die Regierungen die Konspirationspraktik für sich monopolisieren wollten. Alles, was unter ›Streng geheim‹ fällt, ist ipso facto Beweis für staatliche Verschwörung. Zweifellos ist Heywood vom Außenministerium autorisiert worden, dich in den Genuß einer offiziellen Gehirnwäsche kommen zu lassen.« Nils meldete sich plötzlich zu Wort. »Heywood führt Schönheitsoperationen am Forest Lawn durch. Es heißt, er könnte eine Leiche so zurechtmachen, daß sie wie ein Lebender aussieht.« »Wundert mich gar nicht«, meinte Red Benton. Lyn hatte wenig Interesse für ihr Gerede über Heywood, und in Red Benton glaubte sie mehr zu se-
hen als nur einen Verschwörer oder heimlichen Drahtzieher. Er hatte so zynisch geredet wie ein Revolutionär, und sie hatte ihn in Verdacht, daß er dem demokratischen System insgeheim verächtlich gegenüberstand. Als er sich Nils zuwandte und einen Plan für morgen skizzierte, studierte sie sein Gesicht. Sie konnte seine Überzeugung nicht teilen, daß die Regierung wissentlich eine gesetzeswidrige Politik betrieb, aber Red mußte es eigentlich wissen. Sie sah zwar nur sein Profil, aber seine Gedanken waren so klar und ausgeprägt, daß sie sie dennoch lesen konnte. Er war fest entschlossen, in den Besitz der schwarzen Kartei zu gelangen und sich einen Namen als Rechtsanwalt zu machen. Er wollte sich dabei ganz im Hintergrund halten, Nils aber notfalls überreden, in den Genetikfachbereich einzubrechen, falls das Modul bei dem morgigen Erdbeben nicht herabstürzen sollte. Sie entsann sich, daß es aus zwei Bausteinen bestand und im zwanzigsten Stockwerk war. Da das Modul am Y eines Doppelträgers aufgehängt war, würde es wahrscheinlich halten. Dennoch, Red hatte einen scharfen Verstand und kannte sich in juristischen Dingen aus, und ihr kam ein Gedanke, der sie zu der Frage veranlaßte: »Red, was wäre, wenn ich Amal finden und ihn heiraten würde? Er wäre dann nicht mehr staatenlos.«
»Bezüglich seiner Hauptvergehen wäre eine Heirat ohne Bedeutung, aber wenn er morgen ums Leben kommen sollte, könntest du als seine Witwe finanziellen Vorteil daraus ziehen.« »Kommt nicht in Frage«, sagte Lyn wütend. »Ich bin keine Harpyie.« Red schaute sie verwirrt an; offenbar war ihm unverständlich, daß sie diese Gelegenheit ausschlug. Nils Larsen war ebenfalls verwirrt, aber aus einem anderen Grund. »Was ist denn eine Harpyie?« fragte er. »Ein mißtönendes Musikinstrument«, erwiderte sie und erkannte gleichzeitig, daß ihre schnippische und unzutreffende Antwort auf erste Symptome einer sozialen Desorientierung hindeutete. Die zunehmende Hektik begann sich auf sie auszuwirken. »Aufgepaßt, Lyn«, sagte Red, als sich die Projektionsbühne verdunkelte und die dreidimensionale Gestalt Amal Severn erschien. Das Bild, das von Laserprojektoren erzeugt wurde, wirkte so naturgetreu, daß Lyn einen Stich in der Brust verspürte, als sie Amal erkannte. Ihr Schmerz wich wachsendem Ärger, als sich immer deutlicher herausschälte, daß die Fragen, die von einem Kriminalbeamten hinter der Bühne gestellt wurden, tendenziös waren. Red nannte sie ›Suggestivfragen‹, die dazu bestimmt wären, Amals Jäger anzuspornen.
Amals Antworten auf die Suggestivfragen zufolge war er ungewöhnlich schnell und kühn, geschickt in der Kunst der Tarnung, konnte tagelang ohne Wasser auskommen und hundert Meter in zehn Sekunden rennen. Er fürchtete nichts außer Erdbeben, und eben diese pathologische Angst hatte ihn dazu verleitet, eine Katastrophe vorherzusagen. »Du merkst, worauf sie hinauswollen«, sagte Red zu ihr. »Nur bei einem sehr schweren Erdbeben kann Amal seine Freiheit zurückgewinnen. Lebend kann er dem Steuersäckel der Stadt über eine halbe Million Dollar aus dem Verkauf von Jagdlizenzen einbringen.« Red sagte die Wahrheit. Kley und Heywood hatten gelogen. Sie saß da wie benommen; ihr Weltbild war zusammengebrochen, und der Staub, der von ihren zertrümmerten Heiligenstatuen aufstieg, blieb ihr in der Kehle stecken. Sie konnte von dem Essen, das der Kellner servierte, nur kosten. Ihr Mund war zu trokken. Die Regierung, der sie vertraut hatte, bestand aus arglistigen Betrügern. Auf Reds Ratschlag hin verließ sie sie nach dem Dessert. Als Begründung gab er an, er wollte sie aus jeder Konspiration heraushalten, die die beiden möglicherweise erörtern würde. Sie wußte aber, daß er in Wirklichkeit befürchtete, daß sie dem Rat der Supervisoren immer noch treu ergeben war. Er hatte unrecht, aber Lyn wollte allein sein.
Was sie jedoch noch mehr erregte, als sie ging, waren Reds heimliche Motive. Es ging ihm gar nicht so sehr um Amal oder darum, ein vom Staat begangenes Unrecht wiedergutzumachen; er war vielmehr darauf aus, einen Prozeß gegen die Regierung anzustrengen und zu gewinnen. Seine Empörung war zwar aufrichtig, diente im Grunde aber nur dazu, seine eigenen Ambitionen zu verbergen. Kein Wunder, daß er eine politische Laufbahn einschlagen wollte, dachte sie; er hatte das Zeug zu einem Politiker. Mochte Red Benton auch seine Fehler haben, so besaß er doch eine gedankliche Gradlinigkeit, überlegte Lyn, als sie den Dunemaster auf die HarborAutobahn steuerte. Ihr Verstand dagegen war wie ein Banjo, auf dem jeder seine Melodien klimpern konnte. Erst hatte sie sich von Heywoods Charisma mitreißen lassen, und nun war sie ganz im Fahrwasser von Reds Zynismus. Sie versuchte die Argumente der beiden Männer gegeneinander abzuwägen und fand, daß Red die gewichtigeren vorgebracht hatte. Im Gegensatz zu Heywoods unausgesprochener Behauptung war Amal keine Marionette seines Schicksals; als Beweis konnte sie Amal selbst anführen, der ihr, wie es schien vor Jahrhunderten, auf der Veranda der Emersons mit solcher Inbrunst vorgetragen hatte, er wäre der Kapitän seines Schicksals.
Heywood hatte sich gründlich geirrt, als er annahm, daß sie aus Liebe zu Amal ihr Wissen um seine Herkunft vor ihm verheimlichen würde. Heywood hatte sich deshalb geirrt, weil er nicht wußte, daß sie sich bewußt war, daß auch sie, oder zumindest ihre telepathischen und präkognitiven Fähigkeiten, ein Produkt genetischer Manipulation war. Was konnte zwei Liebende wohl stärker aneinanderbinden als das gegenseitige Wissen, daß beide genetische Mißbildungen waren. Sie stellte den Dunemaster in der Tiefgarage ab und holte anschließend die Vorräte und das Pemmikan aus ihrem Apartment, um beides im Wagen zu verstauen. Später am Abend, als sie zu Bett gegangen war, fiel sie dank ihrer präkognitiven Vision sofort in tiefen Schlaf. Sie wußte, daß es ein schweres Erdbeben geben würde, daß weit draußen im Weltall der Mond kreiste, der morgen die Sonne verdunkeln und Amal Amnestie bringen würde. Denn in ihrer Trance hatte sie das Gerüst fallen sehen. Nur ein Gedanke plagte sie noch vor dem Einschlafen. Sie erinnerte sich an die Knallgeräusche, die sie während ihrer Vision so deutlich wahrgenommen hatte. Was die wohl sein mochten, überlegte sie dumpf, während sie langsam einschlummerte.
9 Der Mittwoch begann mit strahlendem Sonnenschein; ein böses Omen für Los Angeles. Lyn stand früh auf, um sich die Morgennachrichten anzuhören. Vom Schlafzimmerfenster aus konnte sie die Schneekuppe von Mount San Jacinto sehen. Sie spürte, wie die positiven Ionen in der kristallklaren Luft ihre Haut spannten. Der Wind kam von der Hochebene her. In den Parks würde es heute zu spontanen Prügeleien kommen, denn wenn Santa-Ana-Bedingungen vorherrschten, erhitzen sich die Gemüter in Los Angeles. Ein Föhn galt in Kalifornien sogar als hinreichender Grund, einen Mörder freizusprechen, und als Los Angeles niedergebrannt worden war, hatte – beide Male – ein Santa Ana geweht. Als sie die Nachrichten hörte, bekam sie ein dumpfes Gefühl im Kopf; wahrscheinlich ein leichter Anfall von Kulturschock, der von ihrem Umgebungswechsel vom friedlichen Dotham ins hektische Los Angeles herrührte und sich erst jetzt bemerkbar machte. Amal war während der Nacht nicht gefaßt worden, also konnte sie wie gewohnt ihrem dreistündigen Arbeitstag nachgehen und nach dem Mittagessen zu ihm ins Skinhead-Reservat fahren. Während sie die Lederjeans, die halbhohen Stiefel und die Baumwoll-
bluse anzog, überlegte sie, ob sie ein Buch von Rousseau mit in den Rucksack stecken sollte, um die edlen Wilden, unter denen sie sich aufhalten würde, besser verstehen zu lernen; doch entschied sie sich wegen des zusätzlichen Gewichts dagegen. Bis Mittag sollte sie durch die Routine im Büro eigentlich ihren Sinn für die Wirklichkeit zurückgefunden haben. Im Büro schienen die Dinge ihren gewohnten Gang zu nehmen, als Lyn hereinspazierte. Die Angestellten waren wie üblich eifrig am schwatzen und erledigten ihre Arbeit nebenbei. Auch Kley kam wie gewöhnlich zwanzig Minuten zu spät. Während der ersten anderthalb Stunden schien ihre selbstverordnete Therapie zu wirken. Bis halb elf hatte sie sieben Anrufe erhalten und zwei davon an Kley weitergeleitet. Der achte Anruf entfachte jedoch einen Gefühlssturm in ihr. Doktor Kiefer, der ehemalige Professor für Ökonomie am USC, heute Seelsorger des SkinheadReservats, wünschte Doktor Kley in einer dringenden und vertraulichen Angelegenheit zu sprechen. Lyn wußte sofort, worum es bei dieser dringenden und vertraulichen Angelegenheit ging, und erkannte auch, daß Kiefer sich an die falsche Stelle gewendet hatte. Beim Anblick seines Gesichts beruhigte sie sich wieder. Zu Beginn ihres Studiums, vor Kiefers Abbe-
rufung wegen seiner technologiefeindlichen Haltung, war er ihr als der letzte Malthussche Ökonom dargestellt worden. Obgleich er damals noch sehr jung gewesen war, hatte er langes wallendes Haar gehabt. Heute, wo sogar die Augenbrauen abrasiert waren, ähnelte sein Kopf einer Billardkugel. Kiefer sah sogar noch jünger aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, und das trotz der dicken Hornbrille, die seine Augen stark hervortreten ließ. Für diese Feststellungen genügte ein kurzer Blick, und Lyn richtete ihre Aufmerksamkeit gleich danach auf Kiefers Umgebung. Im Hintergrund sah sie ein Schaufenster mit einer bunt zusammengewürfelten Warenauslage; der Apparat, den Kiefer für seinen Anruf benutzte, mußte sich in einem Gemischtwarenladen in einem ländlichen Bezirk befinden. Aber die wenigen Kunden, die sie sehen konnte, ließen sich beim Einkauf zuviel Zeit, um Landarbeiter sein zu können. An einem Fenster sah sie ein Auto vorbeifahren, dessen Geschwindigkeit für ein Leitband viel zu gering war. Der Laden mußte an einer Landstraße liegen. Plötzlich gab ihr der indianische Kopfschmuck, der in einiger Entfernung an der Wand hing, den entscheidenden Hinweis. Kiefer rief von dem Andenkenladen im alten Tejon-Fort aus an, das unmittelbar an das Skinhead-Reservat angrenzte. Lyn fühlte sich nicht mehr zu Loyalität verpflichtet,
weder gegenüber Kley noch gegenüber der Regierung, und so log sie bedenkenlos: »Wenn es bei Ihrem Anruf um die Belohnung für Amal Severn gehen sollte, sind Sie bei mir an der richtigen Stelle.« Er schaute sich ängstlich um. Auf dem Bildschirm waren nur sein Kopf und die Schultern zu erkennen, aber sie konnte sehen, daß er ein dünnes Kleidungsstück mit einem V-Ausschnitt anhatte und daß sein Halsansatz bloß war. Barfuß, kahlköpfig und mit einem Sackleinengewand bekleidet, hatte Kiefer allen Grund, sich über sein Erscheinen in der Öffentlichkeit Sorgen zu machen. »Genau darum geht es. Ich habe Ihren Mann. Er ist hier im Reservat.« Mit offizieller Miene griff sie nach Notizblock und Schreibstift und fragte: »Stimmt die Personalbeschreibung des Verdächtigen mit dem amtlichen Hologramm des Gesuchten überein?« Das war eine Suggestivfrage. Lyn tat es den städtischen Beamten nach, denen sie diese Methode abgeschaut hatte. »In unserem Reservat dulden wir kein Fernsehen. Aber es ist der Mann, den Sie suchen; der, der dauernd von Erdbeben faselt. Er erklärt meinen Leuten, wo sie hingehen sollen, wie sie sich hinstellen sollen ... Er macht einen Riesenwirbel.« Lyn klopfte sich mit dem Schreibstift an die Wan-
ge. Im Reservat wurden keine Fernseh- und auch keine Radiogeräte geduldet. Dieses Vorbild an christlichem ›Zurück-zur-Natur‹ war ein heuchlerischer Judas, der ein Radio im Reservat versteckt hielt. »Sehen Sie, Doktor Kiefer ...« »Bruder Kiefer, bitte.« »Wir erhalten Hunderte von Anrufen, Bruder Kiefer. Allen muß sorgfältig nachgegangen werden, damit nicht etwa die falsche Person festgenommen wird. Und Ihre Beschreibung ist ziemlich vage. In diesem Moment gibt es Millionen Menschen in Los Angeles, die ein Erdbeben befürchten, und ...« »Aber der hier nennt sich Amal Severn. Und da ist noch einer bei ihm, ein Hal Carpenter ...« »Nun, wenn er sich Amal Severn nennt, ist das sicherlich ein wichtiger Anhaltspunkt. Aber da es um fünfundzwanzigtausend Dollar ...« »Ich will das Geld nicht«, unterbrach sie Kiefer. Offensichtlich wollte er so schnell wie möglich raus aus dem Laden und zurück ins Reservat. »Ich will nur das Äquivalent dafür in Trockenmilch, Trockeneiern, Dosenfleisch, Medikamenten ...« »Einen Moment, Bruder Kiefer. Diese Einzelheiten werden später geklärt werden, wenn sich herausgestellt hat, daß der Verdächtige mit dem Gesuchten identisch ist. Also, ich kann veranlassen, daß jemand noch vor Ablauf dieser Stunde bei Ihnen ist ...«
»Hören Sie, Fräulein. Ich möchte mich aus der Sache heraushalten. Ich möchte ihn nicht persönlich identifizieren ...« »Du lieber Himmel, Bruder Kiefer. Wie sollen wir den Verdächtigen identifizieren, wenn wir nicht einmal wissen, um wen es sich handelt?« »Sie können jemand schicken, der ihn kennt. Ich will nur die Vorräte.« »Also gut, Bruder Kiefer. Ich schicke Ihnen jemand. Wo können wir Sie erreichen?« Kiefer leckte sich die Lippen. »Ich werde in meinem Zelt sein und meditieren.« »Und wo befindet sich Ihr Zelt?« »Nehmen Sie den Eingang am Tejon-Fort. Gehen Sie den Hügel hinauf zu den Felsblöcken, zur Felsenkathedrale. Sie können sie nicht verfehlen. Dort lebt Moon-Boy, der Eremit. Fragen Sie ihn nach dem Weg. Aber geben Sie mir Ihr Wort, daß wir die Vorräte so schnell wie möglich erhalten.« »Bruder Kiefer, solange der Verdächtige nicht identifiziert worden ist, kann ich nichts versprechen. Dann müssen zunächst einmal Formulare ausgefüllt werden und Gutachten erstellt werden. Dann müssen die Einkäufe getätigt werden. Dazu brauchen Sie einen Mittelsmann, der eine Provision verlangt, in der Regel zehn Prozent. Sie müssen dem Mittelsmann eine schriftliche Vollmacht erteilen. Dann muß eine
Verzichtserklärung unterzeichnet werden, die die Stadt von jeglicher Verantwortung entbindet, falls sich unter der Lieferung schadhafte Ware befinden sollte. Als nächstes müssen Sie schriftlich städtische Transportfahrzeuge anfordern, da Sie die Güter sicherlich nicht selbst abholen ...« »Gnädiges Fräulein«, fiel er ihr ins Wort. »Ich vertraue auf die Königin der Engel. Schicken Sie schnell jemand zu uns. Gott sei mit Ihnen.« Er legte auf. Selbst der unfähigste aller Sozialpsychologen hätte keine Mühe gehabt, Bruder Kiefers Hast, Ängstlichkeit und Nervosität als Symptome fortgeschrittener sozialer Anpassungsstörungen zu erkennen, und das Verhalten des Anrufers hatte sie auf merkwürdige Weise beeinflußt. Amal schwebte in Gefahr, und sie analysierte Kiefer. Ein Teil ihrer Psyche schien sich vom aktuellen Geschehen losgelöst zu haben. Doch konnte sie sich auf eine solide Grundlage berufen. Sie hatte Amal eine Gnadenfrist von mindestens einer Stunde verschafft, und sie konnte noch mehr für ihn tun, sehr viel mehr. Sie schaltete die Wechselsprechanlage ein und sagte mit einschmeichelnder Stimme: »Doktor Kley, ich habe eine leichte Magenverstimmung. Kann ich mir für den Rest des Tages freinehmen?«
»Klar doch, Lyn. In ungefähr einer halben Stunde werde ich selbst urplötzlich rasende Kopfschmerzen bekommen.« Als sie zum Aufzug ging, um hinunter zur Tiefgarage zu fahren, fiel ihr ein, daß Amal sich über ihre Abhandlung über die Skinheads lustig gemacht hatte. Dies sollte ihn lehren, daß abstraktes Wissen auch seinen praktischen Wert hatte. Sie wußte in allen Einzelheiten, wie sie vorgehen mußte. Gewiß, wenn ein Haftbefehl gegen sie erlassen wurde, waren die Behörden berechtigt, ihr in das Reservat zu folgen. Sie würde dies in Rechnung stellen und davon ausgehen müssen, daß man sie verfolgte. Vermutlich würde sie ihre Freiheit verlieren. Nun, sie hatte ihre Freiheit ja bereits an Amal verloren. Während der Fahrt im Aufzug verbreiterte sich die Kluft zwischen ihren Gedanken und der Realität. Dumpf überlegte sie, wo dieses Gefühl der Entrücktheit, dieses ›Auf-die-leichte-Schulter-Nehmen‹, das so charakteristisch für soziale Desorientierung war, seinen Anfang genommen hatte. Wahrscheinlich als sie das Gynodron in Nils Dusche vorgefunden hatte. Beim Anblick ihres nackten Ebenbildes hatte sie sich über den Drang zu lachen einerseits und Empörung andererseits mit sich selbst entzweit, und der Riß war nicht wieder verheilt.
Auch in der menschlichen Psyche gab es Erdbeben, dachte sie. Wenn die Belastung zu groß wurde, brach eine Verwerfung ein, die Persönlichkeit wurde erschüttert, und nach und nach stellte sich ein neues Gleichgewicht her. Ihr Beben mußte eins der Stärke 4,8 gewesen sein, dachte sie, als sie den Dunemaster die Rampe hinauffuhr. Sie stellte das Autoradio an und lauschte der Stimme des Nachrichtensprechers. Sie hoffte, daß seine nüchternen Durchsagen ihr helfen könnten, ihre Gedanken neu zu ordnen. In Los Angeles herrschte Panikstimmung wegen des angekündigten Erdbebens, sagte der Sprecher. Sanitäter schafften die gehunfähigen Patienten aus den Krankenhäusern. Amal war Gott sei Dank gehfähig. Ambulant-Eugenik-Sieben, ein hübscher Name. Wegen der allgemeinen Panik, sagte der Sprecher, wurden Vorratsdepots in den Grünanlagen der Stadt errichtet. »Allgemeine Panik«, sagte sie laut und dachte dabei an Red Bentons Abneigung gegen sprücheklopfende Journalisten. Dieser Nachrichtensprecher war ihr jedenfalls keine große Hilfe, ihre Gedanken wieder in logische Bahnen zu lenken. Vielleicht litt auch ganz Los Angeles an einem andauernden Kulturschock. Für dreißig Studenten, denen man Konspiration
unterschiedlichen Grades zur Last legte, waren Haftbefehle neu erlassen worden. Unter den namentlich genannten waren Wallace Bergner, der Evakuierungsleiter ihres Stockwerks, und Hal Carpenter. Gloria Jaffee, Produzentin des spektakulären Dokumentarfilms Los Angeles – Der Letzte Tag, war in New Jersey festgenommen worden; das Auslieferungsverfahren lief bereits. Red Benton hatte recht gehabt, als er meinte, es wäre besser, ihren Namen nicht auf die Liste der Koproduzenten zu setzen, aber Red hatte ja immer recht. Bei San Fernando wechselte sie auf eine innere Schnellspur über und stellte einen Sender ein, der klassische Musik brachte. Immer noch mit ihrer träumerischen Selbstanalyse beschäftigt, überlegte sie, warum sie auf einen anderen Sender umgeschaltet hatte. Fürchtete sie, Nachrichten aus Hamburg zu hören, oder wollte sie bei passender Hintergrundmusik sterben, wenn sie bei Lebec wendete? Aus einer Trotzreaktion heraus stellte sie einen Sender ein, der Popmusik brachte, und drehte laut auf. Sie würde ihre Götterdämmerung bei den beflügelten Klängen des ›Berkley Bounce‹ erleben. Sie rutschte tiefer in den Sitz und wünschte sich in diesem Moment fast, daß man ihr Vorderhirn mit den Nervenzellen Leroy Thatchers kloniert hätte. Sie bildete sich zwar einiges auf ihre Fahrkünste ein, aber
sie war noch nie bei dreihundert Stundenkilometern von einem Leitband abgewichen, um auf einer stark befahrenen Autobahn ein U-förmiges Wendemanöver zu vollführen. »Na ja«, sagte sie zu sich selbst. »Einmal ist immer das erste Mal.« Sie packte das Lenkrad fester. Trotz ihrer seltsam heiteren Stimmung war sie tief im Innern froh darüber, daß sie diesen Schachzug im voraus geplant und sich die Stelle für die U-Wende mit Sorgfalt ausgesucht hatte. Als sie an Gorman vorbei war, ging es bergauf auf den Grapevine zu. Hier, kurz vor der Kurve bei Lebec, gingen Nord- und Südtrasse der Autobahn weit auseinander. Am Scheitelpunkt der Kurve, an der Stelle, wo sich der riesige Felsblock befand, war der Trennstreifen zwischen den Fahrbahnen so breit wie ein Fußballplatz, wenn auch lange nicht so eben. Sie würde jeden Millimeter davon brauchen, wenn sie erfolgreich wenden wollte. Fünfhundert Meter entfernt, nur ein kurzes Stück nördlich der San-Andreas-Verwerfungslinie, erblickte sie den Felsblock. Ihre euphorische Stimmung ließ nach. Sie war jetzt aufmerksam und konzentriert. Das nächste Fahrzeug hinter ihr, das ebenfalls auf der Innenspur fuhr, lag fünfzig Meter zurück. Sollten sich Polizeibeamte darin befinden, würden sie nicht mehr
rechtzeitig genug reagieren können, und die nächste Wendemöglichkeit war Wheeler Ridge, vierzig Kilometer weiter nördlich. Sie sah keine Hubschrauber am Himmel. Die grünen Hügel der Tehachapis fegten wie Wellen in einer stürmischen Brandung an ihr vorbei. Sie beugte sich vor, hielt das Steuerrad mit der linken und griff mit der rechten Hand nach dem Entmagnetisierungsschalter. Sie starrte gebannt auf die Fahrbahn. Den Lärm aus dem Radio nahm sie überhaupt nicht mehr wahr. Der Felsblock kam mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu. Dann war sie vorbei. Sie legte den Schalter um, packte das Lenkrad mit beiden Hände und drehte es ein Stück nach links. Der Wagen, nun vom Zugriff des Leitbands befreit, sauste auf den Mittelstreifen. Aber dort war ein Hindernis. Genau auf der Krümmungslinie ihres geplanten U stand ein Kamerawagen, den sie nicht hatte sehen können, weil der Felsblock ihr die Sicht versperrt hatte. Eins von Howebrands Kamerateams – sie hatte ja in seinen Gedanken gelesen, daß in dieser Gegend Kameras aufgestellt werden sollten – bereitete sich darauf vor, die Unfälle zu filmen, die sich ereignen würden, falls ein Erdrutsch die Leitbänder zerstörte. Lyn hatte keine Zeit, ihr Wendemanöver in letzter
Sekunde noch abzuändern, sondern mußte sich voll darauf konzentrieren, den wild auf und ab hüpfenden Dunemaster unter Kontrolle zu halten, der über schmale Rinnen, kleinere Hügel und Felsbrocken auf den Kamerawagen und seine Besatzung zuraste. Hier bot sich den Kameraleuten eine außerplanmäßige Generalprobe für den Ernstfall; aber diese waren nicht darauf vorbereitet, sich Lyns ›Einmal-und-niewieder-Offerte‹ zunutze zu machen. Einer der Männer brachte sich mit einem Hechtsprung vor ihrem Wagen in Sicherheit, aber die Kamera, an der er sich gerade zu schaffen machte, hatte ihr letztes Bild aufgenommen. Lyn riß das Lenkrad herum, und der Wagen wirbelte um die eigene Achse – ›Doppelkehre‹ nannte man das in Dotham. Der Dunemaster verfehlte den Kamerawagen knapp, aber seine riesigen Räder gruben tiefe Furchen in den Boden und schleuderten das trockene Gras büschelweise in die Luft, bevor sie wieder griffen und den Wagen mit einem Satz vorwärts schnellen ließen. Lyn brachte den Motor auf Touren und raste Richtung Süden. Zu ihrer Linken sah sie, wie die Fernsehkamera taumelnd wieder zu Boden fiel. Sie war wie berauscht. Sie hatte die Kamera vierzig Meter hoch in die Luft geschleudert, und in der Tat hätte sie sich kein passenderes Objekt als erstes Opfer
von Amals Erdbeben aussuchen können. Doch ihr Triumph war von kurzer Dauer. Vor ihr lag die Südtrasse der Autobahn. Und ein schwerer Diesellastwagen kam gerade angebraust. »Mist! Mist! Mist!« Sie versuchte erst gar nicht den Annäherungswinkel des Lasters abzuschätzen; für heute hatte sie genug Geometrieaufgaben gelöst. Der kürzeste Weg über eine Autobahn war immer der im rechten Winkel zum Verkehrsfluß. Sie schnitt den Laster, und wie sich herausstellte, war noch ein guter Meter Platz zwischen dem Heck des Dunemasters und der Schnauze des Lastwagens. Ob aus Ärger, Bewunderung oder Ehrfurcht, jedenfalls grüßte sie der Lastwagenfahrer mit einem ohrenbeträubenden Hupen. Innerhalb von dreißig Sekunden war ihr Uförmiges Wendemanöver – das nun allerdings mehr die Form eines Wurzelzeichens angenommen hatte – vollendet, und der Verkehrslärm der Autobahn ließ zunehmend nach, als sie den Dunemaster direkt über die San-Andreas-Verwerfung in die ungefähre Richtung von Frazier-Park holpern ließ. Zu Schaden gekommen war nur das Radio; es war jetzt toter als Leroy Thatcher. »Mann! Ist es immer so ein Riesenspaß, wenn man Kopf und Kragen riskiert?« Nach einem Kilometer ließ sie den Dunemaster ei-
ne steile Böschung hinaufächzen und kam dann auf die Landstraße zum alten Tejon-Fort. Auf dem Berggipfel zu ihrer Rechten sah sie eine Pyramide aus Felsblöcken aufragen; der zuoberst liegende Felsen, der durch Erosionseinwirkung einem gotischen Spitzbogen ähnelte, war die Felsenkathedrale. Sie bog von der Straße ab und fuhr einen Hohlweg hinauf zu einer Gruppe von Eichen, deren Laubwerk dicht genug war, um den Dunemaster vor Beobachtung aus der Luft zu schützen. Nachdem sie den Wagen geparkt hatte und ausgestiegen war, schaute sie auf ihre Anhängeuhr. Es war halb zwölf; mittlerweile mußte Kiefer bereits in seinem Zelt sitzen und meditieren. Weiter vorn zwischen den Baumstämmen sah sie schon den Zyklonzaun, der das Skinhead-Reservat umgab. Im Schutz der Bäume ging sie daran entlang in Richtung Tor. Dort hörte der Wald auf, und sie lief die restlichen hundert Meter die Böschung hinauf zum Tor. Auf dem Gelände des Reservats sah sie zu ihrer Linken die jungen Schößlinge eines Wintergetreidefeldes, das in westlicher Richtung flach abfiel. Direkt vor ihr, fünfzig Meter entfernt, ragte sie Felsenkathedrale auf. Eilig ging sie auf die Behausung des Eremiten Moon-Boy zu. Sie hörte ihn schon von weitem. Irgendwo von der Felspyramide kam eine Stimme,
die in hohen piepsigen Tönen ein Mantra sang. Soweit sie es verstehen konnte, schien das Mantra vielsprachig zu sein, denn als sie dem Singsang nachging, hörte sie deutlich die Worte: »Nuestra Seflora, Deus vous benisse, in heilige Nomen des Jesu Christo, Amen.« Als sie um die Felsblöcke herumging, fand sie den Eremiten. Er saß in einer Art Schneidersitz vor einer engen Öffnung in den Felsen; es war der Lotussitz der Yoga-Meditation. Er hatte sich in Trance versetzt und bewegte den Körper von den Hüften an aufwärts sanft hin und her. Auch als Lyn sich vor ihn stellte und ihm das Sonnenlicht nahm, veränderte sich seine Blickrichtung nicht. Sie schaute zu ihm herab. Er hatte langes glänzendes, dunkles Haar und einen gepflegten Van-DyckBart. Das wallende Haar und der Bart deuteten darauf hin, daß er ein ›Jesus-Freak‹ war; andererseits zeugte der fleckenlose weiße Sari, in den er sich eingehüllt hatte, von orientalischem Einfluß. Seine Religion, überlegte sie, während sie immer noch sein Mantra zu deuten versuchte, mußte ein Los Angelesscher Elektizismus sein. Unseres Vater Der in Himmel sein, Deliver us from Schrecklichkeit und Los Angeles.
Vielleicht nicht gerade Los Angelesscher Eklektizismus. Einfach irgendein Mischmasch. Sie konnte seinem Gesang nicht entnehmen, ob Moon-Boy nun Gott pries oder Los Angeles verdammte, aber sie war auch nicht hier, um einen Beitrag zur vergleichenden Religionsforschung zu leisten. Sie hielt ihm die Hand dicht vors Gesicht und schnalzte mit den Fingern. Moon-Boy erwachte. »Schalom, Schanti und Frieden, Bruder«, sagte sie. »Wie komme ich zu den Skinheads?« Moon-Boy hob einen langen dünnen Arm und zeigte eine Richtung an. »Folge dem Pfad dort drüben bis zum Eukalyptushain am Nordwesthang des Berges. An der Abzweigung nimm den Hohlweg.« Er warf ihr einen tadelnden Blick zu und fuhr fort: »Schwester, du hast mein Satori zunichte gemacht.« Lyn nahm ihre Anhängeuhr ab und trat zur Seite, damit Sonnenstrahlen auf die Uhr treffen konnten. Sie hielt sie ein Stück über Moon-Boys Augenhöhe und ließ sie langsam pendeln. »Halt den Kopf gerade, Bruder, und folge der Bewegung der Uhr mit den Augen.« »Das geht nicht. Dein Diamant blendet mich.« Sie legte die linke Hand auf den Rücken, ließ die Uhr weiter pendeln und versuchte ihn mit einem beruhigenden, einschläfernden Singsang wieder in Trance zu versetzen.
One, two, drei und vier, Zurück du gehst in Satori Vischnu, Isis und Vedanta Los, du kennst ein neues Mantra. Sie bezweifelte, daß er das ganze Mantra mitbekommen hatte. Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, war sein Blick leer geworden, und sein Rumpf ging nun hin und her wie ein Metronom. Er sang jetzt nicht mehr. Sie hängte sich die Uhr wieder um und sah MoonBoys Körperbewegungen zu. Ob er sein Satori wohl wiedererlangt hatte? Sie kannte sich mit Zen nicht gut genug aus, um die Anzeichen für Satori erkennen zu können, aber sie hoffte, daß ihm sein Zazen wenigstens ein Koan einbrachte. Sie wandte sich ab und schlenderte traurig den Pfad entlang. Sie empfand Mitleid für all die in Los Angeles, die nach Gewißheiten strebten. Zwar sah sie sich außerstande, Diagnosen für komplizierte psychische Erkrankungen aus dem Ärmel zu schütteln, aber sie hatte wenig Zweifel, daß Moon-Boy an einer sozialen Desorientierung litt, die weit schlimmer war als etwa die von Amals Känguruh in dem Sumpfloch. Eigentlich hatte sie gar kein Recht, sich ein Urteil über die Abartigkeiten anderer Menschen anzumaßen, schalt sie sich. Ausgerechnet sie, die bei einer
Mission, bei der es um Leben oder Tod ging, unbekümmert und wie schwerelos den Pfad entlang wanderte und sich sogar beherrschen mußte, um nicht ausgelassen wie ein Schulmädchen herumzutollen. Natürlich konnte ihr Schwindelgefühl auch von dem Höhenunterschied von über fünfzehnhundert Metern und der dünneren Luft herrühren, die hier am Eukalyptushain von einem durchdringenden Blütenstaubgeruch erfüllt war. Es mußte an dem Geruch nach Blütenstaub liegen, entschied sie. Der Pfad führte sie in einen Hohlweg, wo sie an einer Quelle vorbeikam, die in einen Bach von beachtlicher Größe überging. Nachdem sie einen Schluck Wasser getrunken hatte, ging sie hinüber zu einem Eukalyptusbaum und schlang die Arme um den schuppigen Stamm. Sie suchte Halt an der Festigkeit des Baums, wollte sein ›Baumsein‹ mit den Fingerkuppen in sich aufsaugen, um vielleicht so wieder zu ihrem Wirklichkeitssinn zurückzufinden. Als sie so dastand, kam ihr der Gedanke, daß sich diese innere Entzweiung vielleicht gestern abend vollzogen hatte, als Red Benton ihr Vertrauen in die Regierung untergraben hatte. Im Angesicht der Wahrheit hatte sie eingestehen müssen, daß sie sich mit ihrer Begeisterung für das demokratische System die ganze Zeit über einer Selbsttäuschung hingegeben hatte. Eine ganze Weile stand sie so da, die Arme um den
Baum geschlungen, und sie war sich bewußt, daß ihre Geste das physische Korrelat zu Moon-Boys Mantra war. Sie schmiegte sich enger an den Stamm, drückte die Brüste dagegen. War sie etwa tief in ihrem Herzen eine Naturanbeterin, eine Schintoistin, eine Druidin? »Verdammt noch mal«, sagte sie laut. »Jetzt machen mich sogar schon die Bäume verrückt.« Sie ließ den Stamm los und rannte fluchtartig den Weg entlang, der jetzt genau nach Westen führte. Als sie aus dem Hain herauskam, sah sie am anderen Ufer eines Tümpels einen jungen Mann, der mit einem Sackleinentuch auf einen Felsen eindrosch, und blieb stehen. Er war völlig nackt und haarlos; selbst die Schamgegend war unbehaart. »Hallo«, rief sie ihm zu. »Wo ist Bruder Kiefer mit seinen geschorenen Lämmern?« »Gleich hinter der Anhöhe. Bruder Kiefer ist in seinem Zelt und meditiert. Wir haben da so einen Spinner aus der Stadt der Heiligen Mutter, der den Leuten zeigt, was sie tun sollen, wenn das Erdbeben kommt ... Sag mal, bist du auf Trip?« »Nein. Wie kommst du darauf?« »Man könnte meinen, du schwebst.« Sie lief den Pfad weiter, um den Westhang des Berges herum, und kam auf eine große Wiese. Hier brannten an mehreren Stellen offene Feuer; kahlköp-
fige Männer, die mit Lendentüchern bekleidet waren, standen dabei und kochten etwas. Auf einer kleinen Anhöhe zu ihrer Linken stand das pyramidenförmige Zelt Bruder Kiefers; der Eingang war zu. Oben auf der Mittelstange des Zelts war ein Christuskreuz befestigt. Zwanzig Meter vor ihr war eine Gruppe von Frauen in Sackleinengewändern – sie erkannte sie an den Kleinkindern, die sie in den Armen hatten, und an den Brüsten der Frauen. Sie schauten Hal Carpenter, der einen Pfahl festhielt, und Amal zu, der den Pfahl mit der stumpfen Seite einer Axt in die Erde trieb. Hinter der Gruppe sah sie eine ganze Reihe von Hängematten aus Wolldecken, die an jedem Ende an einem Pfahl befestigt waren. Sie hörte, wie Amal sagte: »Denkt daran, das Baby immer in die Mitte der Decke legen. Das macht ihnen überhaupt nichts aus. Im Gegenteil, Babys haben Schaukelbewegungen gern.« Hal Carpenter erblickte sie zuerst. »Sieh mal, Amal! Lyn mit ihrer Haarpracht.« Sie rannte los. Amal ließ die Axt fallen und stellte sich breitbeinig hin, um sie zu empfangen. Er hatte gesprenkelte Hosen und ein gesprenkeltes Hemd an. Seine Füße steckten in den Wintermokassins der Irokesen. Als sie in seinen Armen lag, fing sie an zu weinen,
und während sie dies tat, erkannte sie, daß ihr vermeintlicher Kulturschock nichts anderes war als ganz banale altmodische Angst um einen Geliebten. Es dauerte eine ganze Minute, bis sie sich wieder soweit gefaßt hatte, daß sie Hal Carpenter die Hand schütteln und ihm mitteilen konnte, daß ein Haftbefehl gegen ihn ergangen war. Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und zuckte die Achseln. »Dann ist wohl Sense mit meinem Pulitzerpreis für Journalismus.« »Wart erst mal, bis du hörst, was sie mit Amal gemacht haben«, sagte sie, schwieg dann aber, weil die Frauen sich jetzt um sie drängten und bewundernd ihren Ring, die Uhr, ihre Schuhe und ihr Haar anstarrten. Sie sahen aus wie Skelette. Lyn fühlte sich unbehaglich. Mehr noch als die Fragen der Frauen störte sie das sehnsüchtige Verlangen, das sie in ihren Augen sah. Was denn ihr Diamant wert wäre, fragten sie, und sie antwortete, er wäre unbezahlbar. Woher sie denn die Medaillonuhr hätte, fragten sie – von ihrer Großmutter –, und ob sie an den Fußsohlen kitzlig wäre. Ja. Sie wollten wissen, ob ihr Haar gefärbt wäre und ob sie denn keine Läuse darin hätte. Nein. Nein. Eine Frau war ausgesprochen angriffslustig. Sie war groß, blauäugig, noch keine dreißig, hatte Brüste von der Größe von Melonen, wie man durch ihr dün-
nes, halb durchsichtiges Gewand sehen konnte, eine Wespentaille und breitausladende Hüften. Im Arm hielt sie ein Baby, wahrscheinlich ein illegales. Ihre Stimme klang überheblich, als sie sich mit britischem Akzent an Lyn wandte. »Du bist also diejenige, die meint, Amal für sich gepachtet zu haben. Erklär mir mal, was du hast, das ich nicht habe.« »Haar«, erwiderte Lyn. Die Frau rieb sich den Schädel und sagte: »Das ist mein Handikap als Frau. Aber ihr Bügelbretter könnt soviel Haar haben, wie ihr wollt, im Schlafsack steche ich euch allemal aus.« Amal versuchte, ihren Streit zu schlichten, indem er sie einander vorstellte. »Sev Undgren, Lyn Oberlin, mein Verlobte. Sev kommt aus Schweden, Lyn. Sie hat Zwischenstation in London gemacht.« »Skandinavierinnen sollten sich unter keinen Umständen die Köpfe kahlscheren«, sagte Lyn eisig. »Ethnische Scherze sind hier nicht erwünscht«, entgegnete Sev Undgren. »Das war auch kein Scherz. Das war ein Rat an die, die nach Liebe schmachten ... Amal, ich habe mit dir und Hal etwas Vertrauliches zu besprechen.« Wieder einmal ging sie Hand in Hand mit dem Mann, den sie liebte, ja, der ihr Leben war und der ih-
re romantischen Vorstellungen so bitter enttäuscht hatte. Zusammen mit Hal gingen sie den Berg hinauf und ließen sich im Schatten einer verdorrten Eiche nieder. Die beiden hörten gespannt zu, als sie ihnen vom Geschehen in der Stadt berichtete und auf Kiefers Versuch, sie wegen der auf Amal ausgesetzten Belohnung zu verraten, zu sprechen kam. Sie berichtete dann von Nils versuchtem Verrat, von seiner späteren Meinungsänderung und von allem, was sie über das Eugenikexperiment erfahren hatte. Wäre sie weniger euphorisch gewesen und hätte sie nicht so unter Zeitdruck gestanden, hätte sie Amals Ursprung und Herkunft vielleicht auf taktvollere Weise dargelegt, aber Schönfärberei war jetzt fehl am Platz. Sie nahm nur insofern Rücksicht auf seine Gefühle, als sie alle Anspielungen auf die Katastrophen in Rußland, Südafrika und Spanien unterließ und niemals den Begriff ›Gen des Jüngsten Gerichts‹ verwendete. Die Worte, die aus ihr hervorsprudelten, hatten einen therapeutischen Effekt. Sie stellte fest, daß sie sich während des Sprechens immer mehr wieder des Ernstes ihrer Lage bewußt wurde. In ihrem Fazit schließlich versuchte sie Amal in dem Glauben zu bestärken, daß er sein Schicksal meistern konnte. »Dein Schicksal ist durchaus nicht unabänderlich, Amal. Dein genetisch programmierter Leichtsinn ist
bisher von deiner Konditionierung, dem Drang zu lernen, wie man Erdbeben vorhersagen kann, in Schach gehalten worden. Jetzt, wo du von dieser fixen Idee befreit bist, sagen die Genetiker voraus, daß dein Leichtsinn, der Eifer, mit dem du schwere Risiken eingehst, bei denen die Erfolgsaussichten praktisch gleich Null sind, dich umbringen wird. Aber wenn du diesem Drang widerstehst und dich nach dem Erdbeben auf keine unnötigen Risiken einläßt, bist du in Sicherheit, und wir können wie geplant heiraten.« Sie hatte alles gesagt, was ihr möglich war. Amal lehnte sich gemächlich zurück und kaute auf einem Grashalm herum. Schließlich sagte er: »Ich frage mich bloß, wo ich meinen Fehler in der Allgemeinen Feldtheorie gemacht habe.« »Du hast keinen Fehler gemacht«, sagte Lyn. »Ich kann dir versichern, daß es ein schweres Erdbeben geben wird.« Er schaute sie verwundert an und sagte lächelnd: »Keine Sorge, Schatz. Wir kommen nach Dotham. Mein ganzes Leben lang habe ich trotz geringer Erfolgsaussichten immer gewonnen. Es gibt keinen Grund, warum ich meine Gewohnheiten jetzt ändern sollte.« Hal Carpenter war merklich erregter als Amal. »Solche Experimente sind illegal. Das Büro für
Wissenschaftsethik hat Versuche mit Menschen untersagt. Das Verbot entstand aus den Nürnberger Prozessen des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir sind Menschen und keine Versuchskaninchen.« »Redest du eigentlich von dir, Hal?« fragte Amal. Lyn hörte keine Verbitterung aus seiner Frage heraus, lediglich Ironie. »Ich rede von der Menschheit im allgemeinen«, erwiderte Hal. »Wir sind keine Spielzeuge der selbsternannten Götter der Biologie. Wenn wir diese schwarze Kartei kriegen könnten und ich die Sache an die Öffentlichkeit bringe, bekomme ich meinen Pulitzerpreis doch noch, Vorstrafenregister oder nicht.« Plötzlich war er Feuer und Flamme. »Amal, das wird der Knüller des Jahrzehnts. Du bist die Hauptfigur in dem abscheulichsten Verbrechen an der Menschheit seit dem blutdürstigen zwanzigsten Jahrhundert. Gib mir die Exklusivrechte, und wir machen Geld wie Heu. Jetzt, wo man deine Kreditkarte für ungültig erklärt hat, hast du jeden Cent bitter nötig.« Hal machte es genau wie Red Benton, dachte Lyn. Er wollte Amal für seine persönlichen Ziele ausnutzen. »Als von der Polizei gesuchte Person kann ich gar keine Exklusivrechte vergeben«, sagte Amal.
»Aber du kannst mein Exposé autorisieren.« »Gut. Dann betrachte es hiermit als autorisiert«, sagte Amal. »Aber statten wir jetzt dem gütigen Pastor einen Besuch ab.« »Dem scheinheiligen Lügner, wolltest du wohl sagen«, meinte Lyn wütend. »Das sagt nichts über seine beruflichen Fähigkeiten aus«, entgegnete Amal. Seine Toleranz war ihr unverständlich. Hal hatte seltsamerweise Bedenken. »Aber Bruder Kiefer meditiert gerade«, wandte er ein. »Ich glaube eher, daß er in seinem Zelt sitzt und Radio hört«, sagte Lyn. »Dann hätte er seinem Glauben zuwidergehandelt«, sagte Hal und stand auf. Plötzlich hatte er es eilig. »Wenn wir es finden, können wir ihm mit einer Bloßstellung drohen, um ihn unter Druck zu setzen.« »Vor wem sollten wir ihn denn bloßstellen?« fragte Lyn. »Er müßte sich vor einem Ad-hoc-Glaubensrat, bestehend aus vier Diakonen, verantworten.« »Bringt ihn mir in die Sonne, damit ich sein Gesicht sehen kann«, sagte Lyn. »Ich sage euch dann schon, wo er sein Radio hat. Fragt ihn geradeheraus, wo er es versteckt hält. Er wird eine ganz schöne Überraschung erleben, wenn er mich sieht. Er weiß nämlich nicht, daß er sich an die falsche Dienststelle gewendet
hat. Für diese Gegend wäre das Sheriffbüro in Northridge zuständig gewesen.« »Habt Mitleid mit dem armen Prediger, der sich im Labyrinth der Ämter und Behörden nicht zurechtfindet«, sagte Amal. Bei dieser Bemerkung fiel Lyn plötzlich ein, daß Nils gesagt hatte, Amal wäre selbst in einem Labyrinth gefangen. Er nahm die Dinge zu sehr auf die leichte Schulter, dachte sie, als sie leise auf das Zelt zugingen und auf Radiogeräusche achteten. Sein Selbstvertrauen kann gefährlich sein. Sie überlegte, ob sie ihm nicht doch vom Gen des Jüngsten Gerichts und seinen katastrophalen Begleiterscheinungen erzählen sollte. Dann wäre er bestimmt vorsichtiger, um andere nicht zu gefährden. Von einem Radio war nichts zu hören. Kurz vor dem Zelt flüsterte Amal Hal zu: »Ich rede mit ihm. Du hörst nur zu. Vielleicht erhältst du genug Stoff für eine Fußnote für meine Biographie.« Er war sich des Ernstes seiner Lage immer noch nicht bewußt. Er ging zum Zelt, schob die Zeltbahn beiseite und rief hinein: »Kommen Sie raus, Kiefer.« Er sagte es in solchem Befehlston, daß Kiefer tatsächlich herauskam und blinzelnd im Sonnenlicht stand. »Ich war am Meditieren, mein Sohn.« »Das spielt keine Rolle. Ich habe Sie herausgeholt,
damit Sie mir in Gegenwart eines Zeugen aus Los Angeles den Judaskuß geben können. Leider ist der Zeuge eine Dame.« Kiefer war ein kleiner Mann, kaum anderthalb Meter groß. Er wurde plötzlich noch kleiner, als er zu Lyn hinüberschaute und sie wiedererkannte. Ein gequälter Ausdruck kam in seine Augen, und er stammelte: »Mein Sohn, ich habe Gott um Gnade für deine Seele angefleht und für mich um Vergebung gebetet.« Er sagte die Wahrheit. »Vermutlich können Sie in Zukunft noch eine Menge mehr Gebete aufsagen, soweit Ihnen die Geschäfte Zeit dazu lassen«, sagte Amal. »Wo ist Ihr Radio versteckt?« »Ich habe kein verstecktes Radio, mein Sohn«, erwiderte er und dachte: Gott möge mir vergeben, aber das ist noch nicht einmal gelogen. Das Radio ist deutlich zu sehen. Lyn griff nach seiner Brille und riß sie ihm von der Nase. Dann drehte sie an einem in den linken Bügel eingelassenen Knöpfchen. Leise, aber deutlich zu verstehen, hörten sie: »Fragt man sich in Los Angeles: wird die Welt auf diese Weise zugrunde gehen? Einige Unerschrockene sind in den Türmen geblieben. Werden sie, sollte sich dies alles als blinder Alarm entpuppen, zu guter Letzt triumphieren?« Sie stellte das Radio ab und gab Kiefer die Brille
zurück. »Noch eine Sünde, Bruder«, sagte sie. »Heuchelei. Was werden Ihre Lämmer nun von ihrem Judas-Hirten denken?« »Das wird mich ruinieren«, murmelte er, während er die Brille wieder aufsetzte. »Amal, ich tat das nicht des Geldes wegen, sondern weil ich Arzneimittel für die Kinder und Essen für mein Volk wollte. Du hast mit uns gespeist. Du hast unsere Probleme kennengelernt. Es ging mir nicht um die fünfzigtausend Dollar, ich wollte nur Vorräte für mein Volk.« »Stimmt das, Lyn?« fragte Amal in plötzlich sanftem Tonfall. »Was die Vorräte angeht, ja, aber die Summe, um die es ging, war fünfundzwanzigtausend.« »Nein«, sagte Bruder Kiefer. »Die Summe ist verdoppelt worden. Der Amerikanische Jägerverband hat ebenfalls eine Belohnung ausgesetzt.« »Warum haben Sie nicht gewartet, bis das Erdbeben vorüber war?« fragte Amal. Sein Tonfall drückte nun lediglich Verwunderung aus. »Weil ich an dich glaubte, mein Sohn. Du hast ein Erdbeben prophezeit, und es wird eins kommen. Mein Volk weiß nichts von den Errungenschaften der Wissenschaft und hätte dich für von Gott auserwählt gehalten. Es hätte dann nicht zugelassen, daß die Behörden dich festnehmen. Es wäre zu Blutvergießen gekommen.«
Er wandte sich an Lyn. »Darum wollte ich auch in meinem Zelt bleiben, bis Sie kamen. Meine Gemeinde würde mich nicht mehr anerkennen, wenn sie wüßte, daß ich einen Freund verraten habe. Und es hat einen trockenen Frühling gegeben. Der Sommer wird hart werden. Sie brauchen einen Führer.« Amal wandte sich ebenfalls an Lyn und sagte, Kiefer in Schutz nehmend: »Was er über das Lager sagt, stimmt. Die Leute sind dem Verhungern nahe. Und die Kinder haben Masern, Keuchhusten und Hepatitis.« Lyn hörte ihm zu, ahnte bereits, was er im Sinn hatte, und dachte an Blutvergießen und an Heywoods Prophezeiung. Die Schnelligkeit, mit der sich Amals Schicksal zu erfüllen schien, jagte ihr Angst ein. Amal wandte sich wieder Kiefer zu und sprach nun mit der Autorität eines Generals, der einen Schlachtplan umreißt. »Wir machen es folgendermaßen, Bruder Kiefer. Lyns Wagen hat ein eingebautes Telefon. Hal kann ihn ins Reservat fahren. Er kommt damit bis zur Felsenkathedrale ...« »Mein Sohn, Automobile werden im Reservat nicht geduldet ...« »Ich bin sicher, Sie können Ihren Rat dazu bewegen, noch eine geringfügige Verletzung der Lagerre-
geln in Kauf zu nehmen. Wenn nicht, können wir anhand des Radios demonstrieren, daß damit kein Präzedenzfall geschaffen wird.« »Also gut, mein Sohn.« »Um zwanzig nach eins rufen Sie das Sheriffbüro in Northridge an, um mich anzuzeigen. Dann erscheine ich am Apparat und erkläre, Sie hätten mich überredet, mich zu stellen. Auf einige Lügen mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an, nicht wahr, Reverend? Danach, komme, was wolle, haben Sie Anspruch auf die Belohnung. Wenn das Erdbeben nur schwach ist, können Sie sofort mit der Bestellung der Vorräte anfangen.« »Aber die Jäger ...« warf Lyn ein. »Das ist schon eingeplant. Ich kann ihnen entkommen ...« »Wenn dir das gelingt, mein Sohn, wirst du hier hochwillkommen sein.« »Nein.« Amal schüttelte den Kopf. »Wir gehen aufs Ganze. Beim Mittagessen erläutere ich Ihren Leuten meinen Plan. Sie können die Belohnung für mich nämlich zweimal beanspruchen. Staatenlose Personen können dem Gesetz nach zweimal für dasselbe Vergehen belangt werden. Erst nach meiner zweiten Flucht werde ich ein freier Mann sein.« In der gesamten Geschichte des Jagdgeheges war es nur einem einzigen Mann gelungen, zweimal zu
entkommen. Und Amal stand unbekümmert da und schickte sich fast frohen Mutes an, das Unmögliche zu vollbringen, nur um diesem armseligen Haufen von Ausgeflippten gefällig zu sein. Er trieb es mit der Selbstlosigkeit zu weit. In einer Mischung aus Angst, Ärger und Bewunderung sagte sie: »Amal, ich muß dich unbedingt unter vier Augen sprechen.« Er mußte wohl an ihrem Tonfall gemerkt haben, daß sie ihm etwas Wichtiges zu sagen hatte, denn ohne ein Wort zu verlieren kam er ihrer Aufforderung nach. Während sie sich ein kurzes Stück vom Zelt entfernten, beruhigte sie sich wieder ein wenig und zögerte nun, ihm unverzüglich vom Gen des Jüngsten Gerichts zu berichten, das er in sich trug. Statt dessen hielt sie sich mit einer Vorrede auf und hoffte, dadurch die Auswirkungen ihrer Eröffnung zu mildern. »Ich sah dich in einer Vision, Amal. Du warst so angezogen wie jetzt und verstecktest einen Langbogen und sieben Pfeile im Angeles-Crest-Gehege.« »Dann hast du wirklich übersinnliche Fähigkeiten«, sagte er. Er wirkte eher nachdenklich als erstaunt. »Nenn es meinetwegen so. Ich glaube allerdings, daß wir beide in der schwarzen Kartei stehen. Daß auch ich ein Produkt ihrer ›Genmanipulation‹ bin.« »Dann haben wir noch mehr gemein, als wir dachten.«
»Ich bin froh über unsere Gemeinsamkeiten, aber dein Leichtsinn macht mir Angst. Du tust genau das, was Heywood vorausgesagt hat. Du forderst die Jäger heraus.« »Na und? Du hast doch ein schweres Beben vorhergesehen, etwa nicht?« »In meiner Vision sah ich ein schweres Erdbeben, eine verheerende Katastrophe, aber ich weiß nicht, wann es stattfinden wird. Du warst irgendwo in der Nähe, aber ich konnte dich nicht sehen und machte mir schreckliche Sorgen.« »Das läßt sich leicht erklären. Ich bin hauptverantwortlich für den Cal-Tech-Turm. Wenn er beschädigt wird, werde ich alle Hände voll zu tun habe.« »Aber aus diesen Visionen ging nicht hervor, wann das Erdbeben stattfinden wird. Ob heute um ein Uhr dreiunddreißig, ob noch in diesem Monat oder ob überhaupt noch in diesem Jahr, ich weiß es nicht. Ich sah während des Trancezustands nur ein nicht näher definiertes Bild von der Zukunft. Jetzt muß ich aber annehmen, daß es heute stattfinden wird, und du bist nicht bei mir, weil ... Aber lassen wir es jetzt genug sein damit. Ich will nicht, daß du mich für irgendeine mysterische Seherin oder Hexe hältst. Ich habe dir etwas Wichtigeres zu sagen.« Sie erzählte ihm vom Gen den Jüngsten Gerichts und von dem Tod der Vernichtung, die seine drei an-
deren Träger verursacht hatten. Amal hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Seine Miene war gespannt, aber völlig gelassen und undurchdringlich, und sie hätte seine Gedanken auch dann nicht lesen können, wären seine Gehirnwellen normal gewesen. Die Selbstsicherheit und Stärke, mit der er ihre Enthüllungen aufnahm, ermutigte sie, und sie sprach frei heraus vom Maifliegenfaktor, von seinem nahezu unbezwingbaren Todestrieb und seinem genetisch eingebauten Drang, Dinge zu tun, die, obwohl unscheinbar, fast unweigerlich zu seinem und zum Untergang anderer führten. Der Ausdruck in seinen grauen Augen blieb die ganze Zeit über unverändert. Als sie geendet hatte, stand er kurze Zeit nachdenklich da. »Wie Kiefer schon sagte, wenn ich hierbleibe, könnte es zu Blutvergießen kommen. Aber auf dem Angeles Crest dagegen könnte sich meine ›Bombe‹ entschärfen. Vielleicht waren die anderen Katastrophen nur Zufälle, wenn das auch höchst unwahrscheinlich klingt. Und doch hat es schon ähnlich unglaubwürdige Zufälle gegeben. Zum Beispiel Mrs. Murphys Kuh, die eine Lampe zertrat und dadurch eine Feuersbrunst in Chicago auslöste. Aber vielleicht besaß die Kuh auch ein Gen des Jüngsten Gerichts. Trotzdem, wenn man davon ausgeht, daß diese abenteuerliche Geschichte einen gewissen Wahrheitsgehalt hat, wäre
es für alle Beteiligten besser, wenn ich im Jagdgehege wäre.« »Amal, ich bin egoistisch. Mich kümmert niemand außer dir. Im Jagdgehege könntest du getötet werden oder selbst jemand töten.« »Schatz, die Jäger kriegen mich nicht, und ich tue ihnen nichts zuleide. Höchstens einen Pfeil ins Hinterteil, wenn sie mir zu dicht auf die Pelle rücken.« Er lächelte kurz. »Einem Jäger Mitgefühl für sein Opfer beizubringen, indem man ihn tötet, wäre ein Schlag ins Wasser.« Er faßte sie an der Schulter und sah ihr in die Augen, aus denen Tränen quollen. »Weine nicht um mich. Ich habe ja einen Lebenszweck. Und der bist du. Es stimmt, daß ich eine nichtmetallische Waffe im Jagdgehege versteckt habe, weil ich das Geschehen voraussah. Aber das geschah nur zu meiner Selbstverteidigung während des moralischen Äquivalents des Krieges. Verzeih, daß ich dir deine eigenen Worte an den Kopf werfe ...« »Aber genau das hat Heywood vorausgesagt.« »Denk nicht mehr an Heywood.« Sein Tonfall wurde plötzlich schroff, und er schaute an ihr vorbei. Als er ihr wieder in die Augen sah, wurde sein Tonfall wieder sanft. »Seine Vorhersage beruhte ausschließlich auf logischem Denken. Der einzige Weg, mein Schicksal zu meistern, ist folgerichtiges Han-
deln. Kiefer hat mir unabsichtlich eine Gelegenheit verschafft, seinem Volk einen Dienst zu erweisen und gleichzeitig mein verhängnisvolles Gen außer Gefecht zu setzen. Wie du siehst, kann mir das Schicksal auch durchaus einmal in die Hände spielen. Du mußt an mich glauben, nicht an Heywoods Wahrsagerei. Es sei denn, du hast eine bessere Idee.« »Kiefer könnte uns trauen. Wir könnten hier im Reservat leben.« »Mit Schmutz, Hunger und Krankheiten? O nein, Lyn. Du verdienst besseres.« Er hatte recht. Es wäre ein Leben mit Schmutz, Hunger und Krankheiten und mit Sev Undgren, die keine Gelegenheit auslassen würde, ihr Amal streitig zu machen. Heywood hatte gesagt, daß, wenn Amal starkem psychischem Druck ausgesetzt wäre, er die Krise vielleicht überleben könnte, und Nils Larsen hatte behauptet, kein Jäger könnte Amal töten. Merkwürdig, aber die Genetiker, die ihr Leben in diese Sackgasse gesteuert hatten, spendeten ihr nun auch den größten Trost, denn sie sah nun, welchen Verlauf Amals Schicksal nehmen würde. »Was du auch tust, Amal, du kannst immer auf meine Liebe und meinen Beistand zählen.« Vor allen anderen umarmte und küßte er sie; es war eine öffentliche Zurschaustellung seiner Liebe
für Lyn, die ihm großen Mut abnötigen mußte. Sie konnte nun furchtlos der Zukunft entgegensehen. Denn in ihrer Vision hatte sie einen Blick auf Geschehnisse erhascht, die zu ihrer und Amals Rettung führen würden. »Am kommenden Sonntag lassen wir uns in Dotham trauen«, flüsterte er, und zum erstenmal seit Wochen konnte sie ihm glauben. »Ein Relikt für deinen Schrein«, flüsterte Lyn MoonBoy zu, als sie sich an ihm vorbeizwängte, um Amals Notausrüstung in der Felsspalte zu verstecken. Ein Skinhead hatte dem Eremit eine Schüssel dünne Gerstensuppe gebracht, das ›Mittagsmahl‹ im Reservat, und Moon-Boy hatte sie ausgeschlürft, ohne einen Tropfen zu verschütten und ohne von seinem metronomhaften Hin- und Herschwingen abzulassen. Lyn nahm an, daß die Polizei die Höhle des Eremiten nicht durchsuchen würde, wenn sie nachher ankam. In Amals Notausrüstung befand sich eine Pistole, mit der, wie er gesagt hatte, notfalls angreifende Hunde abgeschossen werden sollten, die bei dem Erdbeben in Panik geraten könnten. Sie war froh über die Beschäftigung. So hatte sie einen Vorwand, sich vom Wagen fernzuhalten, wenn das Trio den Anruf nach Northridge machte. Nachdem Lyn die Flugzeit der Schwarzen Maria auf
zwanzig Minuten geschätzt hatte, war beschlossen worden, den Anruf kurz vor halb zwei zu machen, damit Kiefer noch Zeit hatte, zu seiner Gemeinde zurückzukehren, bevor das Erdbeben kam. Als sie aus der Höhle herauskam, sah sie, daß Kiefer sich vom Wagen entfernte und den Pfad entlang hastete. Offenbar war der Anruf durchgeführt worden. Etwas mehr als eine Stunde hatte sie sich unter den Skinheads aufgehalten, und während dieser Zeit hatte sie den Prediger respektieren gelernt. Sie empfand nun auch Mitleid für seine Gemeinde. Während des Mittagessens hatte sie begriffen, warum Amal diesen Menschen helfen wollte. Sie hatten vehement gegen Amals Entscheidung, sich auszuliefern, protestiert. Eine Mehrheit wollte lieber den Hungertod riskieren als zulassen, daß Amal im Jagdgehege sein Leben aufs Spiel setzte. Er konnte sie schließlich überzeugen, indem er darauf verwies, daß er sich den Jägern ohnehin würde stellen müssen, egal ob sie nun davon profitieren oder nicht. Kiefer, der elektronische Hilfsmittel aufrichtig verabscheute, hatte Lyn erklärt, daß das Miniaturradio ein für das Überleben der Sekte unvermeidliches Übel war. Denn hinsichtlich der Versorgungsgüter war man weitgehend von Los Angeles abhängig. Diese Anpassungsfähigkeit des Sektenoberhaupts fand auch ihren Niederschlag im Dogma des Kults. Man-
che Mitglieder der Sekte waren von so einfältigem Gemüt, daß ihnen jedes Verständnis für abstrakte Lehrsätze der Religion abging. Deshalb hielt Kiefer seine nächtlichen Predigten am Südosthang des Berges, von wo aus man den Lichtschein des Verwaltungszentrums sehen konnte. Einige Kultanhänger glaubten tatsächlich, das Licht wäre der Heiligenschein der Königin der Engel Maria, und Kiefer tat nichts, um solche Irrtümer zu berichtigen. Jeder, der suchte, konnte Asyl in der Enklave finden und durfte am Wohlstand der Gemeinde teilhaben, die bedauerlicherweise kaum über Hungerrationen hinausging. Die Haarlosigkeit der Kultanhänger hatte keine religiöse Bedeutung; es war lediglich eine Vorbeugungsmaßnahme gegen Läuse. Desgleichen wurden auch die Sackleinengewänder und Lendentücher nicht etwa wegen eines feierlichen Gelübdes getragen, sondern schlicht aus Armut. Die einzigen Dinge, an denen es dem Kult nicht mangelte, erklärte Amal Lyn insgeheim, waren Liebe und Unterernährung. Amal und Hal kamen jetzt auf sie zu, und Amal rief laut: »Der Helikopter wird auf dem Weizenfeld in der Nähe deines Wagens landen. Wir müssen MoonBoy noch von den Felsen wegschaffen. Wenn die Erde bebt, könnten welche herabstürzen.« »Soll ich ihn wach machen?«
»Nein. Laß ihn ruhig schaukeln. Hal und ich können ihn mit einem Pfadfindergriff wegtragen.« Sie schoben ihm die Hände unter Gesäß und Beine, umfaßten gegenseitig ihre Handgelenke und hoben den immer noch hin und her schaukelnden MoonBoy hoch. Lyn folgte ihnen, als sie ihn auf die Wiese trugen. »Er ist ein Renegat«, meinte Hal zu ihr. »Er lehnte die Skinheads deshalb ab, weil Bruder Kiefer auf englisch predigt. Er meint, eine Fremdsprache ließe die Rituale eindrucksvoller klingen.« Sie wußte, daß Hals Worte ein Ablenkungsmanöver darstellten, das mehr Amal als ihr zugedacht war. Beide konnten Amals animalische Furcht spüren, als er sich in steifer Gangart von Moon-Boy entfernte und einen besorgten Blick zu den Felsen hinüber warf. Er versuchte der aufkommenden Panik Herr zu werden. Er drehte sich zu ihr um und fragte: »Wieviel Zeit ist noch, Lyn?« Sie entschloß sich, einen kurzfristigen Therapieversuch zu machen. »Vier Minuten. Sei doch nicht so aufgeregt, Amal. Du weißt, daß dein augenblicklicher Zustand von einer neurotischen Angst herrührt, die man dir eingeimpft hat, um dich zum Studium der Seismologie zu veranlassen.«
»Sicher, Angst ist eine psychische Sache. Auch Schizophrenie ist eine psychische Sache. Aber dieser Angst liegen solide Kenntnisse zugrunde. Ich weiß, welche Naturgewalten ein Erdbeben entfesseln kann. Denk daran, daß meine Mutter bei einem umgekommen ist.« Sie war versucht, ihm hier und jetzt zu sagen, daß seine Mutter noch lebte, doch wollte sie sich diese Nachricht als Hochzeitsgeschenk für ihn aufheben. Außerdem wirkte ihre Therapie bereits. Indem er über seine Ängste sprach, war er schon etwas ruhiger geworden. »Ich möchte, daß du diese Stellung einnimmst, Lyn«, sagte er. Er ging in die Hocke, brachte das Hinterteil mit den Fersen in Berührung, beugte sich leicht vor und stützte sich mit den flachen Händen am Boden ab. »Ein schwerer Erdstoß kann einen Muskelriß oder Knochenbruch verursachen.« Gehorsam kam sie seiner Aufforderung nach und kam sich ein wenig komisch vor, als sie wie ein überdimensionaler Frosch sprungbereit dahockte. »Nimm die Uhr ab«, sagte er. »Du könntest dir ein Auge damit verletzen.« Sie legte die Uhr vor sich ins Gras und beobachtete den Sekundenzeiger. »Noch drei Minuten«, sagte sie. »Nimm deine Stellung ein, Hal«, befahl Amal. Als sie den Sekundenzeiger über das Zifferblatt
wandern sah, mußte sie unwillkürlich an die Erdkugel denken. Weit weg im Atlantik war der Schatten des Mondes auf den Kontinent zugeeilt. In diesem Moment verdunkelte er die Dschungel von Guatemala. In ihrem Innern konnte sie spüren, wie gewaltige Kräfte im Erdkern angriffen, ihn verlagerten und das Erdmagnetfeld veränderten. Eine unheimliche Stille lag über dem Land. In der Atmosphäre wuchs etwas heran, eine elektrische Kraft, ein Plasma, und Lyn fühlte sich so ausgelassen wie ein Kätzchen vor einem Gewitter. Sie schaute hinüber zu Amal, der eine Körperlänge von ihr entfernt dahockte. Eigentlich wollte sie ihm ein Lächeln zuwerfen, aber sie unterließ es. Sein Gesicht war blutleer. In seinen Augen stand Entsetzen geschrieben. Lyn staunte über die Macht seiner Phobie. An jedem Muskel seines Körpers konnte sie ablesen, daß er Wirbelstürme der Angst durchmachte. Und doch hatte eben dieser Mann beinah kreuzfidel zugestimmt, sich den Jägern als Beute zur Verfügung zu stellen. Sie begann jetzt auch zu verstehen warum. Im Vergleich zu dem Entsetzen, das er jetzt erlebte, mußte ihm die Bedrohung durch die Jäger lächerlich gering erscheinen. Dann kam es, ein leichtes Zittern der Erde, ein sanfter verebbender Erdstoß. Von einer nahe gelegenen Eiche flogen ein paar Vögel auf, zwitscherten und lie-
ßen sich wieder auf die Zweige nieder. Amal stand auf, grinste schief und sagte: »Das war's. Es ist vorüber.« »Aber es war ein Erdbeben«, sagte Lyn. »Und genau um 13 Uhr 33. Immerhin hast du das Gesicht gewahrt.« »Darum mache ich mir nun wirklich keine Sorgen mehr«, sagte er lächelnd. Er hatte sich wieder in der Gewalt. »Bringen wir Moon-Boy an seinen Platz zurück, Hal.« Während die beiden den Eremiten wieder zur Höhle schafften, ging Lyn an den Rand des Weizenfelds und suchte den Himmel ab. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie Amal mehr oder weniger für einen Übermenschen gehalten. Aber er war ein Mensch, wie ein Mensch nur sein konnte, verletzbar, keineswegs unfehlbar, vielleicht ein bißchen schüchterner, tapferer, ängstlicher und selbstloser als andere. Wenn er überlebte, konnten die Genetiker stolz sein auf ihr AE 7. Aber im Moment war nichts mehr sicher. Selbst ihre hellseherische Vision eines heftigen Erdbebens hatte sich als ebenso haltlos erwiesen wie jene Vision, die Prospero beschwört hatte. Nichts war gewiß bis auf den Punkt am Himmel über den Bergen im Süden. Sie sah, wie er größer wurde, hörte das Surren in der Luft, und erkannte schließlich den großen schwarzweißen Sikorski-
Helikopter, den Gefangenentransporter der Stadtpolizei von Los Angeles.
10 In Bakersfield, Kalifornien, hatte ein Angestellter der Kalifornischen Edison-Werke um 13 Uhr 30 den Kontrollraum verlassen, von dem aus alle Kraftwerke des San Joaquin/Tehachapi-Distrikts zentral überwacht wurden, und war durch die Halle gegangen, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Das war aber nur ein Vorwand, denn tatsächlich hatte der Techniker nichts anderes im Sinn, als der Monotonie seiner Arbeit für eine Weile zu entfliehen und einen Flirt mit der neuen Empfangsdame Flora Whitfield anzufangen. In dem Moment, als Charles Martell den Kontrollraum verließ, war die letzte Chance vertan, der Zerstörungswut des Gens des Jüngsten Gerichts durch menschliches Eingreifen noch Einhalt zu gebieten. Martell hatte sich Kaffee eingeschenkt und stand gerade am Schreibtisch der Empfangsdame, um eine Vierteldollarmünze in die gemeinsame Kaffeekasse zu stecken, als Little Palmdale die Erde erschütterte. »Haben Sie das Beben gespürt, Flora?« »Ich nicht, aber meine Rose.« Sie zeigte auf eine Blumenvase mit einer langstieligen Rose darin, die leicht schwankte. »Da hat doch so ein Spinner aus Los Angeles ein Erdbeben prophezeit«, meinte Martell mit einem
Blick auf die Uhr, »und auf die Minute genau. Es ist 13 Uhr 33.« »Ich sah sein Hologramm«, sagte Flora. »Er war ein hübscher junger Mann, sehr schlank. Ich habe gehört, daß man ihn zur Jagd freigegeben hat.« »Bei den jungen und schlanken ist die Jagd am spannendsten«, sagte der Techniker. »Haben Sie den Kaffee gemacht?« »Ja. Schmeckt er Ihnen?« »Habe noch nie besseren getrunken, dabei habe ich eine dieser neumodischen Kaffeemaschinen zu Hause ...« Es dauerte fünfzehn Minuten, bis Martell wieder im Kontrollraum am anderen Ende der Halle war und das rote Licht auf der Instrumententafel sah. Er ging an das Gerät und schüttelte daran, um festzustellen, ob ein Wackelkontakt die Lampe hatte aufleuchten lassen. Aber sie brannte weiter. Er setzte sich an den Schreibtisch und rief das Tehachapi-Verteilerwerk an. »Bakersfield, Ed. Haben Sie Mechaniker in Moho Drei?« »Die sind an der Oberfläche und schwitzen Little Palmdale aus.« »Ich empfange hier ein Warnsignal vom Reaktor. Holen Sie sie lieber wieder runter ... Nein, warten Sie. Die Lampe hier könnte schon seit fünfzehn Minuten
brennen. Gehen Sie kein Risiko ein und schalten Sie den Reaktor ab. Ich rufe in Los Angeles an und fordere eine Reparaturmannschaft an.« »Verstanden, Bakersfield. Sperre Moho Drei ab.« Martell lehnte sich zurück und überdachte das Problem. Er war überzeugt, daß er ein falsches Signal erhielt. Es war noch nie vorgekommen, daß sich ein Reaktor eines atomaren Dampfkraftwerks überhitzt hatte. Zur Beschwichtigung der Öffentlichkeit waren die Kraftwerke in zu Tunneln ausgebauten Seitenlinien der Mohos errichtet worden, die Geophysiker vor langer Zeit bei der Erforschung der Erdkruste hatten anlegen lassen. Theoretisch war es nahezu unmöglich, daß sich ein Reaktor überhitzte. Die Kadmiumstäbe, die die Kernstrahlung absorbierten, wurden von der Schwerkraft automatisch in das Reaktorgehäuse hinabgezogen, falls ihre elektromagnetische Steuerung versagen sollte. Selbst wenn der Elektromagnet ein falsches Signal erhielt und die Stäbe nicht in ein überhitztes Reaktorgehäuse senkte, sorgte die Hitze dafür, daß die Dampfleitungsrohre über ein Überdruckventil geleert wurden und der austretende Dampf die Aufgabe der Reaktorkühlung übernahm. Eine Gefahr bestand ohnehin nicht. War erst einmal das Sicherheitsschott des Kraftwerktunnels geschlossen, konnte der Reaktor getrost hochgehen. An der Erdoberfläche würde man von der Explosion in
siebentausend Meter Tiefe nichts spüren. Höchstens, daß eine Glühbirne kurz flackerte oder daß sich das Summen einer Klimaanlage leicht veränderte, wenn andere Generatoren einsprangen. Das Stromnetz Südkaliforniens war vor der Massenvernichtung entstanden und auf den Energiebedarf der doppelten Bevölkerungsmenge eingestellt, die es heute versorgte. Martell machte sich keine Sorgen. Was der Techniker nicht wußte, war, daß die unterirdische Erschütterung durch Little Palmdale ausgereicht hatte, den Lasertaster des Belastungssensors zu lockern, den Amal an der Garlock-Verwerfung angebracht hatte. Der Kraftwerkstunnel verlief genau durch diese Verwerfung. Amals Laser kippte schräg nach unten, und sein Strahl fiel genau zusammen mit dem des sorgfältiger verankerten Reaktorkontrollasers. Die Verkettung ›unmöglicher‹ Zufälle, die sich in Spanien, Südafrika und Rußland ereignet hatte, vollzog sich nun auch in Südkalifornien. Der Laserstrahl übermittelte der hiesigen Instrumententafel nun einen Lichtimpuls, den diese als ›Stäbe heben‹ interpretierte. Vor einer Woche erst war der Reaktor in Moho Drei mit neuem Uran versehen worden. Hinzu kam, daß die Dampfabzugsleitungen im Kesselraum gerade ausgewechselt wurden. Die Mechaniker hatten ei-
nen Feuerwehrschlauch als provisorische Dampfabzugsleitung installiert. Der Schlauch verlief durch den Generatorenraum und den Ausgang bis in den Tunnel hinein. Infolge der übermäßigen Dampfentwicklung, die durch die hochgezogenen Kadmiumstäbe verursacht wurde, war er zwar stark angeschwollen, leitete den Dampf aber harmlos in den Tunnel ab. Als das Sicherheitsschott herabfiel, wurde der Schlauch eingeklemmt. Das Schott schnitt auch den Kontrollstrahl ab, so daß die Kadmiumstäbe nun in das Reaktorgehäuse fallen konnten. Sie trafen jedoch auf ein Dampfpolster und drangen nicht tief genug ein, um die atomare Reaktion zu dämpfen. Langsam, aber unaufhaltsam drängte der Dampfdruck die Stäbe zurück an die Decke. Der Generatorenraum begann sich mit radioaktivem Dampf zu füllen. Der Dampf wurde hocherhitzt, während die Emissionen im Reaktor weiter stiegen. Radioaktiver hocherhitzter Dampf regte die Strahlenemission an, die ihrerseits den Dampf weiter erhitzte, was seinerseits die Emission weiter anregte ... In der Rangfolge jener Kräfte, die auf die Erde einwirken, rangiert eine Atomexplosion etwa unter ›Wirkung eines Knallfroschs auf einem Berg‹; aber unter den richtigen Bedingungen kann die Explosion eines Knallfroschs auf einem Berg eine Lawine auslösen.
Moho Drei war ungefähr einen halben Kilometer von der Garlock-Verwerfung entfernt. Die GarlockVerwerfung kreuzt die San-Andreas-Verwerfung bei Frazier-Park. Frazier-Park ist fünf Kilometer von jener Stelle des Berges entfernt, wo der SPLA-Sikorski gerade zur Landung ansetzte. Little Palmdale war gekommen und wieder gegangen. Great Frazier war auf dem Weg. Als Lyn zu dem Helikopter aufschaute, dachte sie: wie eine riesige mißgestaltete Libelle sieht er aus. Dann drehte sie sich um und ging auf die Felsen zu. Amal hatte sie gebeten, hierzubleiben und für Bruder Kiefer die Liste der Versorgungsgüter zusammenzustellen. Sie kannte seinen Modus operandi mittlerweile gut genug, um zu wissen, daß er sie nur beschäftigen wollte, um sie von dem, was mit ihm geschah, abzulenken. Hal und Amal hätten das leise Tuckern des Helikopters eigentlich auch hören müssen, dachte sie, als sie den Hang hinauf zur Felsenkathedrale ging, aber keiner von beiden schaute zum Himmel. Sie hatten Moon-Boy wieder vor seine Höhle gesetzt, standen neben ihm und sahen zum Nordosthang des Berges hinunter. Als sie auf dem Kamm des Hügels anlangte und hinunterblickte, erbebte ihr Herz. Heywoods Prophezeiung würde in Erfüllung gehen.
Aus dem Eukalyptushain heraus kamen in Gefechtsformation die Skinheads. Wie eine Horde Höhlenmenschen sahen sie aus in ihren Sackleinwandgewändern und Lendentüchern, doch sie kamen entschlossen anmarschiert. In vorderster Front war die pummelige Gestalt Kiefers zu sehen und neben ihm, mit den unverkennbaren breiten Hüften, die glatzköpfige Amazone, die ein Jesuskreuz hochhielt. Sie sah auf den ersten Blick, daß dies keine friedliche Demonstration war. Es war ein Aufmarsch zum Widerstand. Die letzten Verfechter des Christentums zogen mit Stöcken und Felsbrocken bewaffnet zu einem Kreuzzug aus. Es war eine so tapfere, nutzlose und ergreifende Geste, daß Lyns Augen feucht wurden. Sie ging rasch zu Hal und Amal hinüber und hörte, wie Hal sagte: »Sie sehen aus wie Neandertaler auf Mammutjagd.« Mit unfaßbarer Kaltblütigkeit drehte Amal Hal den Kopf zu und meinte belustigt: »Meine Ansprache beim Mittagessen hat wohl nichts geholfen. Immerhin werden sie dafür sorgen, daß man uns nicht lebend in die Hände bekommt.« Hier war die Gefahr, die Heywood und nun auch Lyn fürchtete. In dem Sikorski befand sich bestimmt ein mit Maschinengewehren bewaffnetes Sonderkommando, das dazu ausgebildet war, mit Massenunruhen fertig zu werden.
Die Skinheads waren noch fünfzig Meter unterhalb von ihnen. Kiefer drehte sich plötzlich um, marschierte rückwärts weiter, hob die Arme hoch und ließ sie dann wieder fallen. Es mußte irgendein Geheimzeichen sein, denn als er mit den flachen Händen gegen die Schenkel klatschte, stimmten seine zerlumpten Heerscharen wie ein Mann die mitreißenden Klänge von »Vorwärts, Soldaten des Christentums« an. Die Skinheads, krank und ausgemergelt von Unterernährung, marschierten barfüßig einer kriegerischen Auseinandersetzung entgegen. Ihr Gesang übertönte nun das Brummen der Hubschraubermotoren. Dann rannte Amal den Hang hinunter, um Kiefer etwas zu sagen. Er ging neben dem Prediger her, gestikulierte, schrie ihm etwas ins Ohr, doch Kiefer schüttelte unentwegt den Kopf. Einmal zuckte er die Achseln, so als wolle er sagen: »Das liegt nun nicht mehr in meinen Händen.« Als sie an den Felsen ankamen, gingen sie auf das Weizenfeld zu; die Männer marschierten voran, Frauen und Kinder dahinter. Lyn hatte nicht gewußt, daß sie so viele waren, und sie sah jetzt auch, was sie vorhatten. Sie wollten die Landung des Helikopters verhindern, indem sie sich auf das Weizenfeld stellten und so mit ihren Körpern den Landeplatz blokkierten.
Über ihnen hing reglos der Helikopter am Himmel. Sein Maschinenlärm übertönte den Gesang jetzt. Einmal beschrieb er gemächlich einen Bogen, so als wolle man das Terrain sondieren. Dann stieg er etwas höher. Die Männer an Bord hatten die Waffen in der Menge bestimmt gesehen und erkannt, daß sie hier auf Feindseligkeit stießen. Unterhalb des Plateaus, auf dem sich das Weizenfeld befand, ragte ein keilförmiger Vorsprung aus dem Berg heraus; seine Spitzseite stieß gegen den Berghang. Zu beiden Seiten dieses Vorsprungs waren tiefe Schluchten, und an der Vorderseite fiel er fast senkrecht ab. An dieser Stelle, die mit Felsblöcken und hier und da mit dichtem Buschwerk übersät war, entschloß sich der Pilot zu landen. Langsam steuerte er den Hubschrauber auf den Vorsprung zu, schaltete dann die Rotoren ab und die Luftdüsen ein. Für einen Moment schwankte der Helikopter leicht, dann setzte er sanft auf. Mit seinen Luftdüsen hatte er sich einen Landeplatz frei geblasen. Das erste Scharmützel war mit einem eindeutigen Sieg der Technologen ausgegangen. Zwar mußten die Polizisten nun mehr als hundert Meter klettern, um zum Plateau zu gelangen, aber sie waren gelandet, und der Helikopter war in einer Position, die sich leicht verteidigen ließ. Als der Rotorenlärm aufgehört hatte, rief Amal den
Skinheads zu: »Hal und ich wissen eure Selbstaufopferung zu schätzen, aber gebt Cäsar, was des Cäsars ist. Hal und ich gehören zu Cäsar. Laßt uns in Frieden ziehen. Uns droht keine Gefahr. Hal wird im Gefängnis sicher sein. Ich werde im Jagdgehege sicher sein. Ich sage es noch einmal: Ich werde im Jagdgehege sicher sein. Ihr wißt, daß ich euch nie belogen habe. Ich sagte, daß es um 13 Uhr 33 ein Erdbeben geben würde. Es gab eins. Und was ich euch jetzt sage, ist ebenfalls wahr: ich werde im Jagdgehege deshalb sicher sein, weil ich Gewehrkugeln ausweichen kann. Ich wiederhole: ICH KANN KUGELN AUSWEICHEN. Ich bitte euch, geht zurück auf den Kamm des Hügels. Setzt nicht euer Leben und die Unverletzlichkeit dieses Reservats aufs Spiel. Ich werde hierher zurückkehren, wenn ich den Jägern entkommen bin. Hier in eurem Reservat Zuflucht zu finden, ist meine einzige Hoffnung.« Sie begannen den Rückzug anzutreten. Entweder glaubten sie, daß er Kugeln ausweichen konnte, oder sie spürten, daß er dringend einen Zufluchtsort brauchte. Lyn war sich sicher, daß sie sich nicht von seinem Aufruf im Namen Cäsars hatten beeinflussen lassen. Amal rief ihr zu: »Geh du mit ihnen, Lyn. Stell dich genau vor sie. Wenn die Polizei dich sieht, wird sie nicht in die Menge schießen.«
Obwohl sie angesichts seiner übertriebenen Einschätzung ihrer Schönheit erglühte, hatte sie doch Angst. Vor drei Tagen noch hätte sie jeden für verrückt erklärt, der behauptete, die Polizei könnte in eine unschuldige Menschenmenge schießen. Genau das befürchtete sie nun, als sie die Männer in den blauen Röcken und mit den schwarzen Helmen mit Gesichtsschutz erblickte. Sie marschierten in Reih und Glied über den Felsvorsprung und begannen den Abhang des Plateaus zu erklimmen. Es waren allesamt junge Männer mit harten, grimmigen Gesichtern. Drei waren mit Automatikgewehren ausgerüstet, und zwei hatten lange Röhren, die wie Ofenrohre aussahen. Als die Polizisten die Stelle des Plateaus erreichten, wo das Weizenfeld anfing, marschierten sie nicht weiter bergauf, sondern verteilten sich am Plateaurand, um eine Schützenlinie zu bilden. Es waren zwölf Mann und ein Polizeileutnant. Die Männer machten halt, drehten sich rechts um und nahmen Haltung an. Auf ein Kommando hin wurden die Visiere herabgelassen. Aus zweihundert Metern Entfernung wirkte die Formation der Blauröcke drohend und unheilvoll. Amal und Hal trieben inzwischen die Skinheads den Hang hinauf. Auf dem Hügelrücken blieben sie stehen und sahen zu den Polizisten hinab.
Amal rief ihnen zu: »Amal Severn und Hal Carpenter kommen jetzt herunter. Wir sind unbewaffnet. Schießen Sie nicht auf diese Menschen. Doktor Kleys Sekretärin befindet sich unter ihnen.« Amal und Hal gingen auf die Schützenlinie zu. Der Leutnant kam ihnen allein entgegen. In der rechten Hand hielt er eine Pistole, in der linken zwei Handschellen. Die beiden Beamten mit den Ofenrohren bildeten die jeweiligen Endglieder in der Schützenlinie; sie hatten die Waffen im Anschlag. Hal und Amal gingen sehr vorsichtig durch das Weizenfeld. Man hatte den Eindruck, daß sie befürchteten, eine unbedachte Bewegung ihrerseits könnte zur Eröffnung des Feuers führen. Die Polizisten warteten gelassen; reglos standen sie mit dem Rücken zum Abhang. Der Polizeileutnant bewegte sich ebenso behutsam wie die beiden Männer, die ihm von oben entgegen kamen. Sie taten zehn Schritte aufeinander zu. Um 13 Uhr 53 explodierte der Tehachapi-Reaktor. Die Garlock-Verwerfung wurde von einem schwachen Beben erschüttert, das sich bis zur Schnittstelle mit der San-Andreas-Verwerfung fortpflanzte. War die Nordostfläche der Garlock-Verwerfung auch noch so geringfügig erschüttert worden, es reichte aus. An der San-Andreas-Schnittstelle brach die Verwerfung ein.
Und löste Great Frazier aus. Jener Teil von Ober- und Niederkalifornien, der im Laufe der Jahrmillionen Millimeter um Millimeter vom Festland abgerückt und auf den asiatischen Kontinent zugewandert war, tat, geologisch betrachtet, einen Riesenschritt auf Japan zu. Der erste Mensch, der Great Frazier zum Opfer fiel, war ein Polizist aus Los Angeles mit einer Bazooka im Anschlag. Er tat einen regelrechten Stabhochsprung, stürzte in weitem Bogen den Abhang hinunter und brach sich die Schulter, mit der er gezielt hatte, an einem Felsblock. Da keine Ionisierung der Atmosphäre stattgefunden hatte, traf das Erdbeben Lyn unvorbereitet. Ihre Aufmerksamkeit war ausschließlich auf Amal und Hal gerichtet, die einsam und verloren zwischen den beiden feindlichen Linien standen. Über dem Weizenfeld lag eine so eindringliche Stille, daß sie meinte, danach greifen und sie berühren zu können. Nicht einmal die Vögel sangen. Plötzlich brach die Hölle los. Für Lyn hörte es sich an, als rollten unmittelbar über ihr tausend Düsenflugzeuge über harte holprige Landepisten irgendwo am Himmel. Dennoch hörte sie Amals schrillen Schrei: »Alle Mann in die Hocke. Geht in die Hocke!« Lyn nahm die Hockstellung ein und legte ihre Uhr vor sich ins Gras. Sie sah noch, daß es 13 Uhr 53 war. Dann wurde die Uhr hin und her geschleudert. Ihre
Hände hatten kaum den Erdboden berührt, als sich die Scherwellen auch schon mit den Love-Wellen vermengten. Die Erde hob und senkte sich. Sie hörte, wie von einer nahe gelegenen Eiche ein Ast abbrach, und unten am Plateaurand schrie ein Mann laut auf. Sein langgezogener Schrei wurde immer wieder von Erdstößen unterbrochen, bis er schließlich in ein jammerndes an- und abschwellendes Heulen überging. Sie hörte eine Frau schreien: »Aufhören! Aufhören!« Es hörte nicht auf. Staub stieg aus dem Gras auf und breitete sich zu einer alles einhüllenden Wolke aus. Von den Polizisten unten am Plateaurand war nichts mehr zu sehen. Entweder waren sie den Abhang hinuntergefallen oder im Staub verschwunden. Mount Tejon führte im wahrsten Sinn des Wortes einen Tanz auf. Walpurgisnacht am hellichten Tag, dachte sie. Der Berg tanzte den Valse macabre, den Todestanz. Sie spürte weder Panik noch Angst, noch Schrekken. Das würde erst später kommen. Im Moment war sie ebensowenig beunruhigt wie etwa ein überreifer Apfel, der vom Stamm fällt. Sie war ausschließlich damit beschäftigt, die Balance zu halten. Als sie nach fünf Minuten des Hoch- und Niedergeschleudertwerdens immer noch nicht gestürzt war, bedankte sie
sich im stillen bei ihren Ballettstunden für ihren guten Gleichgewichtssinn. Langsam entwickelte sich die Sache zu einem Wettstreit zwischen ihr und dem Erdbeben. Sie würde sich nicht wie die Felsen oben auf dem Bergkamm umkippen lassen. Sie wurde nicht herumgeschleudert, sie wurde mitsamt dem Erdboden nach Südwesten verschoben, so daß sie in der Ferne die weiße Gestalt Moon-Boys sehen konnte. Er war immer noch in seiner Lotusstellung und hüpfte wie ein Gummiball den Nordosthang des Berges hinunter. An der Südostkante der Felspyramide löste sich ein kleinerer Felsblock – er mochte etwa doppelt so groß sein wie ein Dothamer Haus, schätzte sie – aus der Felsenkathedrale. Er rutschte bis zum äußersten Rand der Schräge vor, schwankte und wurde dann von einem Erdstoß ins Rollen gebracht. Der Felsblock überschlug sich, wurde zunehmend schneller, prallte hier und da von anderen Felsen ab und rollte den Abhang hinunter auf den Polizeihubschrauber hundert Meter tiefer zu. Sie sah den Moloch in weitem Bogen von einem Felsvorsprung genau auf den Helikopter zustürzen. Doch der Felsblock traf den Sikorski nicht. Der keilförmige Vorsprung, auf dem die Flugmaschine ruhte, verschwand plötzlich und mit ihm der Helikopter. Hubschrauber, Felsvorsprung, alles war in die Schlucht hundert Meter tiefer gestürzt. Lyn vernahm
keinen Laut von dem plötzlichen Bergrutsch; das Donnern der Erde übertönte alles. Sie fragte sich, ob Hal und Amal bemerkt hatten, daß die Bergflanke abgerutscht war, und schaute zu ihnen hinüber, aber beide hatte ihr die Vorderseite zugekehrt, beide bemühten sich krampfhaft, mit allen vier Gliedmaßen die Balance zu halten, und beide kamen langsam von oben her auf sie zugehüpft. Das war sonderbar, denn schließlich befand sie sich ja über ihnen. Während der nächsten fünf Minuten kamen sie, obwohl sie sich nicht von der Stelle rührten, drei Meter weiter auf sie zugehüpft. Während sich ein Teil des Berges senkte, hob sich ein anderer. Ihr fiel auf, daß Amal keineswegs ängstlicher wirkte als Hal. Was die Angst anging, lagen die beiden gleich in ihrem Rennen. Plötzlich wurde Hal hochgeschleudert und fiel auf die Seite. Sie hörte sich schreien: »Vorsicht!« Hal war wohldiszipliniert. Bevor ihn die Erschütterungen verletzen konnten, rollte er sich zu einer Kugel zusammen und lag da wie ein Embryo. Dann war auf einmal alles vorbei. Die Erde schwieg, aber um sich herum konnte sie das leise Stöhnen und Wimmern der Verletzten oder der Verängstigten hören. Amal war immer noch auf allen vieren. Hal lag immer noch in Embryonalstellung da. Ihre Uhr lag jetzt wieder dichter bei ihr. Sie langte
hin und hob sie auf. 13 Uhr 55 zeigte sie an, und der Sekundenzeiger bewegte sich noch. Trotzdem, die Erschütterungen mußten die Hauptfeder beschädigt haben. Sobald sie wieder in Los Angeles war, würde sie sie zu einem Uhrmacher bringen. In der Ferne sah sie ihren Dunemaster. Er war unbeschädigt; allerdings zeigte seine Schnauze nun nach Osten statt nach Süden. Plötzlich fiel ihr ein, daß Amals Notausrüstung immer noch in der Höhle des Eremiten war, und sie stand auf. Männer waren weniger geistesgegenwärtig als Frauen, stellte sie fest. Amal und Hal warteten immer noch darauf, daß die Erschütterungen aufhörten, dabei war das Erdbeben seit zehn Minuten vorüber. Als sie zur Felsenkathedrale ging, mußte sie sich an den Skinheads vorbeischlängeln. Manche saßen, andere kauerten auf allen vieren. Die meisten lagen zusammengerollt am Boden. »Warum strahlt ihr nicht, Leutchen?« rief sie fröhlich. »Es ist doch vorbei. Steht auf.« Keiner stand auf, und Strahlen wäre mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen, denn jeder war mit einer dicken Schicht Staub bedeckt. Eine Frau, die zusammengerollt auf der Seite lag und die Hände in den Nacken gelegt hatte, rief zwischen ihren Knien hindurch: »Lobet den Herren!« Lyn hielt das für einen unsinnigen Vorschlag. Der
Herr, der schließlich ein Gott war, hatte bestimmt nicht viel für Schmeicheleien übrig. Die Frau trieb es mit dem Anthropomorphismus etwas zu weit. Nur der primitivsten Sorte Mensch dürstete es nach Lobhuldigungen als Salbung für ihr Ego, und der Herr gehörte gewiß nicht dazu. Es war einer jener verrückten Zufälle, wie sie manchmal bei Zyklonen und anderen Naturkatastrophen auftreten, daß Moon-Boy nichts geschehen war. Die Erdstöße hatten ihn lediglich zwanzig Meter von seinem vorherigen Sitzplatz fortgetragen. Er saß nun im Gras, noch immer in seiner Lotusstellung, und wiegte den Körper einmal nach rechts, einmal nach links. Soweit es Moon-Boy anging, hatte es nie ein Erdbeben gegeben. Daß der Eremit nichts von allem mitbekommen hatte, war nur gut für ihn, dachte Lyn, denn er hatte seine Höhle verloren. Wo einmal die Felsspalte gewesen war, befand sich nur noch ein Riß in einem massiven Granitblock. Die Felsenkathedrale verdiente ihren Namen nicht mehr; die Turmspitze war fort. Sie fand Amals Notausrüstung dort, wo sie sie hingelegt hatte; teilweise war sie mit Schutt bedeckt. Während sie die Tasche vom Geröll befreite, hörte sie hinter sich Hust- und Nieslaute. Die Menschen wurden wieder munter und begannen einander auszufragen. Sie hob Amals Ausrüstung auf und machte sich auf
den Rückweg. Eine Frau, an der sie vorbeikam, schaute zu ihr auf und sagte: »Gott hat die SPLA mit Seinem Zorn gestraft.« »Ja«, fügte ein Mann in der Nähe hinzu, »aber auch den Gläubigen hat Er übel mitgespielt.« »He, du da«, sagte Lyn zu dem Mann. »Hol mal deinen Kumpel und bring Moon-Boy zurück an seinen Platz.« »Jawohl, Ma'am«, sagte der Mann und stand auf. »Und was machen wir dann?« »Schart euch um Moon-Boy«, antwortete sie prompt. Gemächlich schritt sie über die Wiese. Der Berg schien zu einem neuen Gleichgewicht gefunden zu haben. Hal saß mit den Ellbogen auf den Knien da und tat nichts. Amal kauerte immer noch auf allen vieren. Sie ging zu ihm, tätschelte ihn am Kopf, hängte ihm die Tasche um den Hals und schnalzte mit den Fingern vor seinem Gesicht. »Auf mit dir, mein Junge! Hier ist dein Rüstzeug.« Er richtete sich auf und fragte: »Was ist geschehen?« »Du fragst mich, was geschehen ist? Du bist doch der Seismologe. Wir hatten ein Erdbeben, du Dummkopf! Und zwar ein gewaltiges.« »Ich meine, wie kam es dazu? Es sollte doch um 13 Uhr 33 stattfinden.« »Das war das erste«, sagte sie. »Das zweite fing um
13 Uhr 53 an, dauerte fünfzehn Minuten und hörte angeblich um 13 Uhr 55 wieder auf.« Sie sagte ihm nur, was sie persönlich glaubte. Die offizielle Version, Great Frazier hätte zwei Minuten und achtzehn Sekunden gedauert, würde sie niemals akzeptieren. »Wo ist die Polizei?« fragte er. »Vom Zorn Gottes zerschmettert ... Steh auf, Hal.« Anscheinend war heute jeder ganz versessen darauf, ihren Kommandos zu gehorchen. Hal sprang auf und klatschte in die Hände. »Na klar. Machen wir uns auf zum Cal Tech und graben wir das Material für mein Exposé aus.« »Red Benton dürfte schon dort sein«, sagte sie. »Er will die schwarze Kartei für seinen Prozeß haben.« »Hört auf mit der schwarzen Kartei«, sagte Amal. »Wir müssen von hier verschwinden, bevor die Polizei wieder auftaucht.« »Sie werden dich zu deiner Prophezeiung beglückwünschen«, sagte Lyn. »Das werden sie nicht, und dieses Beben habe ich nicht prophezeit.« Er musterte sie eingehend und fügte hinzu: »Ich fahre.« »Ich kann meinen Wagen sehr gut selbst fahren.« »Das kannst du nicht, und das wirst du nachher auch selber merken.« Amal war wieder Herr der Lage, und Lyn fügte sich.
Als sie losfuhren, war sie froh, daß Amal am Steuer saß. Sie wollte ihren Rausch auskosten. Schließlich passierte es einem nicht alle Tage, daß man zu der glücklichen Brüderschar gehörte, die zusammen mit Harry am St.-Krispinstag gefochten hatte. Als Amal den Dunemaster auf die Mirror-Lake-Straße steuerte, war sie zwar immer noch aufgeregt, aber ihr Schwung ließ nun rapide nach. Sie spürte, daß sie kurz vor einem seelischen Zusammenbruch stand, und ihre Hände fingen bereits an zu zittern. Sie erreichten schließlich die Autobahn und fuhren südwärts Richtung Los Angeles. Die Autobahn hatte hier leichtes Gefälle, und man konnte ihrem Verlauf kilometerweit folgen. Nirgendwo waren Autos zu sehen. Lyn fühlte sich leicht irritiert, als der Mann mit dem Vorderhirn Leroy Thatchers nicht sofort das Gaspedal durchtrat, um so schnell wie möglich zum Cal Tech zu gelangen. Amal fuhr so gemütlich wie eine alte Tante aus Pasadena, dachte sie. Mit kaum dreißig fuhr er an der Stelle vorbei, wo sie mit dreihundert ihr U-förmiges Wendemanöver auf dem Trennstreifen gemacht hatte. Und jetzt verlangsamte er auch noch. »Halten wir an?« fragte sie, als er den Wagen von der Straße fuhr und die Böschung hinaufsteuerte. Er lächelte und deutete nach unten. Sie schaute hinab und sah, daß sämtliche Auto-
bahnfahrspuren wie von einer Bandsäge fein säuberlich durchtrennt worden waren. Das Teilstück, das weiter nach Süden führte, war fünf Meter tief abgesackt. Unten auf diesem tiefergelegenen Teilstück, das man von der Autobahn aus nicht hatte sehen können, erblickte sie ihr erstes Verkehrsopfer. Am Ende einer Bremsspur auf dem Asphalt lag wie ein zerknittertes Ausrufungszeichen der Kamerawagen vom Kommunalen Fernsehen. Er war mit hoher Geschwindigkeit über den senkrechten Abhang hinausgeschossen, hatte sich überschlagen und war mit dem Wagendach fünfzehn Meter über den Asphalt geschlittert. Mit ihrem Gehirnkasten mußte etwas nicht in Ordnung ein, dachte sie, denn ihr erster Gedanke war, daß die Kameraleute im Wageninnern nun zum zweitenmal die Gelegenheit verpaßt hatten, spektakuläres Verkehrsgeschehen auf Film festzuhalten – das erste Mal bei ihr, nun bei ihnen selbst. »Woher wußtest du, daß die Autobahn hier beschädigt war?« »Wußte ich nicht. Aber ich wußte, daß die Verwerfung hier verlief.« »Sag mal, kannst du wirklich Kugeln ausweichen?« »Natürlich nicht. Aber ich habe so scharfe Augen, daß ich sehen kann, wann ein Gewehrschütze den Finger auf den Abzug legt. Wenn der Finger sich krümmt, springe ich beiseite.«
Ihr fiel ein, wie sie in ihrer Vision die Turmgerüste hatte fallen sehen, und sie bemerkte: »Ich sagte dir ja, daß ich sehen konnte, wie die Pfeiler umkippten.« »Da hast du das falsche Erdbeben gesehen. Wir waren nämlich genau über dem Epizentrum. In der Senke sind bestimmt keine Türme umgestürzt.« »Woher weißt du, daß wir über dem Epizentrum waren?« »Durch die Art, wie sich die L-Wellen mit den SWellen vermengten.« »Wenn dir das aufgefallen ist, mußt du deine Erdbebenphobie überwunden haben.« »Daran dachte ich gerade, als du mit den Fingern vor mir geschnalzt hast.« Seine Antworten waren schroff. Leroy Thatchers Vorderhirn war hier am Werk. Amal konzentrierte sich aufs Fahren, und das Sausen des Luftstroms erschwerte eine Unterhaltung ohnehin. Amal schrie zu Hal hinüber: »Stell die Valley-State-Frequenz ein und sag mir Bescheid, wenn wir in Reichweite kommen.« »Wird sofort erledigt, Sir«, erwiderte Hal, und er sagte es keineswegs ironisch. Er langte nach der Notausrüstung hinter sich und brachte ein Handsprechfunkgerät zum Vorschein. Dann blätterte er in einem Büchlein, das er aus der Hemdtasche hervorholte, und begann an der Sendereinstellung zu drehen. In dem Buch befand sich eine gedruckte Liste mit den
zu den jeweiligen Türmen gehörenden Funkfrequenzen. Wenn man sogar Bücher gedruckt hatte, mußte die Verschwörung, die hinter ihrem Rücken in Szene gesetzt worden war, beachtliche Ausmaße haben. Die Erkenntnis, daß alle anderen sie so rasch und treffsicher als das eingeschätzt hatten, was sie gewesen war, nämlich eine leichtgläubige idealistische PolitHörige, und sie von jeglicher aktiven Teilnahme an dem Unternehmen ausgeschlossen hatten, erbitterte sie. Dennoch war ihr Kummer nicht so groß, daß sie sich nicht hätte zurücklehnen können, um die Fahrt zu genießen. Die Tachometernadel zeigte 335 km/h, die Höchstgeschwindigkeit, an. Als sie sich Sylmar näherten, konnten sie einen ersten Blick auf das San-Fernando-Tal werfen, über dem eine Staubwolke lag. Am Autobahnkreuz Foothill stießen sie auf die erste eingestürzte Überführung. Durch den Staub hindurch sahen sie die Trümmer, die die San-Diego-Autobahn in Richtung Süden blockierten. Amal ließ sich davon nicht beeindrucken. Mit der Unbekümmertheit eines ›Geisterfahrers‹ steuerte er den Wagen quer über den Trennstreifen und jagte die Auffahrt zum falschen Fahrstreifen der Foothill-Autobahn hinauf. Die Fahrbahn hatte sich an dieser Stelle durch eine Verlagerung der Sylmar-Verwerfung stark gewellt.
Bei Sylmar sahen sie zu ihrer Linken den ersten Turm der Metropole aus der Staubwolke herausragen. Vom fünften Stock an aufwärts war das Gerüst bis auf die Restaurantkuppel bar jeglicher Module. Der Turm erinnerte Lyn an einen peinlich genau zurechtgestutzten Rosenstock, der an seiner Spitze einen hellen roten knopfförmigen Pilz trug. Südöstlich des Gerüsts waren dort, wo die Turmbausteine aufgeprallt und dann weiter südlich in die Wälder gepurzelt waren, rote Kleckse auf der Autobahn. Auf dem Trennstreifen zwischen den Fahrbahnen hatte sich ein zertrümmerter Baustein tief in den Boden gegraben, und rechts daneben hatte ein anderer eine Eiche zerschmettert. Hier wurde ihr erstmals bewußt, welche schrecklichen Naturgewalten das Erdbeben entfesselt hatte. Amals Phobie war der sachlich begründetste psychische Defekt, der ihr jemals vorgekommen war, und sie spürte, daß sich eine Angst in ihr Unterbewußtsein eingeschlichen hatte, die so heftig war, daß sie sogar die Erinnerung an den sich hebenden und senkenden Berg auslöschte. Im Vergleich zu dem, was sie erwartete, waren ihre bisherigen Erlebnisse buchstäblich nichts. Sollte sie jemals dazu kommen, ihre Gedanken zu ordnen und ihre Erinnerungen auszusortieren, würde sie feststellen, daß sie und Amal noch ein Ding gemein hatten: Tremorphobie.
»Bekomme jetzt Valley State rein«, rief Hal Amal zu. »Bitte sie, eine Nachricht ans Cal Tech weiterzuleiten: Nils trifft Amal in zehn Minuten bei Charlie-Vier.« Hal rief Valley State, und die erstaunlich ruhige Stimme eines Jugendlichen antwortete ihm: »Hier Valley State. Was gibt's? Ende.« Hal übermittelte Amals Wunsch und erhielt die Antwort: »Verstanden. Grüße an Amal. Ende.« »Er hält sich nicht an die Regeln«, sagte Amal, offenbar verärgert wegen des arglosen persönlichen Grußes. Er fuhr jetzt langsamer. Sie kamen nun immer häufiger an verlassenen oder zertrümmerten Autos vorbei. »Wann triffst du dich mit Nils?« fragte Lyn. »Er ist mein Stellvertreter«, erwiderte Amal. Er lächelte plötzlich. »Darum wollte er mich auch verhaften lassen. Um meinen Posten zu bekommen.« Wie sich zeigte, brauchten sie mehr als zwanzig Minuten, bis sie das Cal Tech erreichten. Beim EagleRock-Turm standen oder lagen überall Autos oder Turmbausteine auf der Autobahn herum. Mehrere Überführungen waren eingestürzt, und die Brücke über dem Arroyo Seco gab es nicht mehr. Als sie vorsichtig den Abhang der Schlucht hinunterfuhren, konnten sie den Funkverkehr vom Cal Tech laut und deutlich empfangen. Bisher hatte Lyn noch kein menschliches Wesen, ob tot oder lebendig, zu Gesicht
bekommen, aber aus den Funksprüchen wußte sie, daß sie sich in den Wäldern aufhielten. »Morphium nach Bäcker-Vier, dringend ... Zwangsjacke nach Hund-Zwo ... Deutschen Schäfer nach Leicht-Sechs.« Am unheilvollsten klang der Funkspruch: »Sechs Plastiksäcke nach Fuchs-Eins.« Ihr graute vor dem, was sie zwischen den Bäumen sehen würden. Amal fuhr jetzt auf der Lake-Avenue Richtung Süden. Überall lagen abgebrochene Äste und Zweige herum. Wäre da nicht die Staubschicht gewesen, die alles bedeckte, hätte man meinen können, Pasadena wäre von einem Hurrikan heimgesucht worden. Im Südosten sah sie den Cal-Tech-Turm mit der Vergnügungskuppel. Er war nicht so schwer getroffen worden wie der Sylmar-Turm. An der Südwestund Nordostseite des Gerüsts hingen noch einige Wohnbausteine an ihren Trägern, manche sogar bis zum dreißigsten Stockwerk hinauf, schätzte sie. Die tiefergelegenen Doppelmodule mit den Gemeinschaftseinrichtungen hatten größtenteils gehalten, obwohl sie sich gelockert hatten und ein Stück vom Pfeiler weggeschoben worden waren. Doch auch nach unten zu, jedenfalls soweit wie ihr die Baumreihe den Blick freigab, klafften Lücken im Turm. Amal fuhr über die Kreuzung Lake-Avenue/Cali-
fornia-Avenue, bog in einen Spazierweg ein und hielt erst, als die herabgestürzten Turmbausteine und die umgeknickten Bäume jedes Vorwärtskommen unmöglich machten. Am Fuße des Turms zu ihrer Linken hatten sich die herabgefallenen Bausteine zu einem Trümmerberg aufgetürmt, der bis zum fünften Stock reichte. Der Anblick der grotesken Nacktheit des Turms, der nun in einen rasch klarer werdenden Himmel aufragte, und der zerschmetterten Module und zertrümmerten Bäume in der nahen Umgebung machten sie ganz krank. Sie war froh, als Amal den Wagen zum Stehen gebracht hatte, sie ausgestiegen waren und den Ort des Unheils verlassen konnten, um sich mit ihren Rucksäcken zum Treffpunkt in der Sicherheitszone zu begeben. Die Sonnenstrahlen, die durch das Blattwerk drangen und den Staub zum Schimmern brachten, verliehen dem Wald etwas Weihnachtliches, und Lyn fühlte schon den Frieden in sich einkehren, als sie plötzlich an einer Reihe von Leichen in schwarzen Plastiksäcken vorbeikamen, die auf einer Lichtung lagen. Derjenige, der sie dort hingelegt hatte, mußte einen absonderlichen Ordnungssinn haben. Die zugeschnürten Enden der Säcke wiesen alle in genau dieselbe Richtung, und an jedem hing ein großes Schild, auf dem mit Filzstift geschriebene Eintragungen standen. Lyn schaute weg. Sie bemerkte, daß
Amal, der vor ihr herging, jede Leiche inspizierte, offenbar um sich zu vergewissern, daß die Säcke auch sorgfältig verschnürt worden waren. Hier war eine gut funktionierende Organisation am Werk, und der Mann vor ihr, der sich so geschmeidig wie ein Indianer in seinen Mokassins bewegte, war der Kopf, der dahintersteckte. Wenn sie ihm so zusah, konnte sie fast verstehen, warum er sich so bereitwillig mit den Jägern hatte messen wollen. Wäre da nicht das Glitzern der Pistole an seinem Gürtel gewesen, sie hätte ihn auf zehn Schritte Entfernung nicht mehr wahrgenommen, so gut war seine Tarnung. Wäre ihnen durch seine Festnahme dies entsetzliche Geschehen erspart geblieben – aber das Erdbeben war ja eine Naturkatastrophe gewesen –, sie hätte ihn getrost zum Angeles Crest ziehen lassen können. Mehr als jeder andere Sterbliche war er Herr seines Schicksals; Amal war unbesiegbar. Gedanken an die Lebenden und die Toten ließen sie wieder zu einer Art innerem Frieden finden, bis sie kurze Zeit später ein Mädchen von der Marymountschule sah. Es war höchstens fünfzehn, und seine blaue Uniform war über und über mit Staub bedeckt. Ziellos schlurfte das Schulmädchen mit gesenktem Kopf immer wieder um den Stamm einer Buche herum. Es hatte den Saum seiner Bluse zum Mund geführt und kaute darauf herum. Speichel war
ihm aus den Mundwinkeln getreten und hatte zwei weiße Linien auf der Staubschicht auf seinem Kinn hinterlassen. Es starrte wild vor sich hin. Amal mußte ihren Impuls, dem Mädchen zu helfen, gespürt haben, denn er rief: »Laß sie gehen, Lyn. Sie erholt sich schon wieder. Sie hat noch Glück gehabt. Sie hat es überstanden.« Zum erstenmal gab Amal zu erkennen, wenn auch nur andeutungsweise, daß das Unglück auch ihn entsetzte. Nils Larsen erwartete Amal vor einem pyramidenförmigen Zelt, das in der Mitte eines Baumkarrees stand. Die beiden reichten sich zur Begrüßung zwar die Hände, aber es war eine formelle, keine herzliche Geste. Dann führte Nils sie ins Zelt. Bei der Mittelstange stand ein provisorischer Tisch, auf dem eine große Flächenkarte mit einer graphischen Darstellung der Turmumgebung ausgebreitet war. In einer Ecke stand ein Gestell mit vier Laserschweißbrennern, und neben dem Gestell lagen vier Tragbeutel aus Segeltuch. In einer anderen Ecke saß ein Funker mit aufgesetzten Kopfhörern auf einem Campingstuhl, vor sich ein tragbares Funkgerät. Er schaute nicht auf, als sie eintraten. Er machte Notizen auf einem Schreibblock. Amals erste Frage lautete: »Wer entscheidet darüber, daß die Toten auch wirklich tot sind, bevor man sie in Säcke steckt?«
»Medizinstudenten aus Covina. Wir haben nur vier Ärzte im Feldlazarett, und die sind total überlastet.« Amal nahm es mit einem knappen Nicken zur Kenntnis. Dann bat er Nils, ihm einen kurzen Überblick über die Lage zu geben, und hörte aufmerksam zu, als Nils zu sprechen anfing. Nur wenige waren zurück in den Turm gegangen, als Little Palmdale vorüber war. Manche befürchteten, das schwache Erdbeben könnte nur ein Vorläufer gewesen sein. Andere, die Vorräte mit in den Park genommen hatten, blieben, um ein Picknick zu veranstalten. Eine Menge Studenten waren bereits leicht berauscht, als das schwere Beben kam. Durch Marihuana- oder Alkoholkonsum waren vier von den ursprünglich vierzehn Fünfmann-Rettungsteams ausgefallen, denn Nils hatte sich geweigert, Laserschweißgeräte an Leute auszugeben, die unter Drogeneinfluß standen. »Wo sind die Rettungsteams jetzt?« fragte Amal. Nils zeigte auf mehrere Stellen auf der Karte. Zur Zeit suchten sie in den Gefahrenzonen nordwestlich und südöstlich vom Turmgerüst. Nils schätzte, daß zehn Prozent der Studentenschaft und zwanzig Prozent der Universitätsbediensteten im Turm geblieben waren. Man mußte davon ausgehen, daß sie alle tot waren. Einige Turmbausteine waren bis in den Grenzbereich der Sicherheits-
zone geschleudert worden und hatten drei Menschen getötet. Die meisten Patienten im Feldlazarett hatten lediglich einen Schock erlitten. An einer Stelle seiner ansonsten nüchternen Darlegung flocht Nils eine Severnsche Metapher ein. »Bei jeder L-Welle hagelte es Turmbausteine von den oberen Stockwerken. Unsere schossen auf den PasadenaTurm zu, und die vom Pasadena-Turm schossen auf uns zu. Ich kam mir vor wie eine Ameise, die einem Tennismatch zuschaut.« Einige wunderliche Dinge waren geschehen. Das Hauptventil der Wasserzuleitungen zum Turm war zwar geschlossen worden, trotzdem standen die Hauptleitungen noch unter Druck und versorgten die Trinkwasserstellen im Park kontinuierlich mit frischem Wasser. Die Stromversorgung funktionierte noch, und Nils hatte gehört, daß auch die Aufzüge am Gerüst noch gingen. »Gehört?« rief Amal erregt. »Hast du dich nicht selbst davon überzeugt?« Dann winkte er beschwichtigend ab und ließ Nils fortfahren. Es war zu Plünderungen gekommen. Einige Studenten hatten versucht, Marihuana und Whisky im Park zu verhökern. Die Arzneimittel wurden langsam knapp. Ebenso die Plastiksäcke. Während Nils seinen Bericht fortsetzte, kam Red Benton ins Zelt; der Staub auf seinem Gesicht war mit Schweiß verklebt. Schwei-
gend schüttelte er Hal die Hand, nickte Lyn zu und lauschte dann ebenfalls Nils Darlegung der Situation. Erst als Nils geendet hatte, drehte Amal sich um und schüttelte Red die Hand. Als Red ihn beglückwünschen wollte, daß er der Polizei entkommen war, schnitt Amal ihm das Wort ab und fragte: »Funktioniert der Aufzug?« »Auf jeden Fall bis zum zwanzigsten Stock. Ich war oben und habe mir das Genetikmodul angesehen.« »Bist du an die schwarze Kartei herangekommen?« fragte Hal. »Das dürfte nicht so einfach sein«, erwiderte Red kopfschüttelnd. Der »Y-Träger des Moduls ist zu einer Stimmgabel verbogen worden, und es hängt gerade noch an den letzten vier Metern des Trägers. Ich sah dann Lyns Dunemaster und dachte, ich komme am besten her und helfe euch.« »Schlagt euch das mit der Kartei aus dem Kopf«, sagte Amal. »Niemand fährt höher als bis zum zehnten Stock. Ein einziges Nachbeben und die oberen Module fallen herab.« Er drehte sich wieder zu Nils um und sagte: »Ich trommele jetzt die Rettungsmannschaften zusammen. Wir kämmen die Module durch, die gehalten haben. Es könnte Überlebende gegeben haben. Um die herabgefallenen Bausteine brauchen wir uns nicht zu kümmern. Da sind nur Leichen drin.«
Er ging an das Funkgerät, schaltete auf Senden und sprach mit ruhiger, aber fester Stimme ins Mikrofon. »Achtung, an alle. Hier spricht Amal Severn. Die Rettungsteams melden sich beim Befehlsstand, und zwar sofort. An die Mediziner: Plastiksäcke werden ab sofort nur noch für verstümmelte Leichen verwendet. An die Ordner: alle Marihuana- und Whiskyvorräte sind einzuziehen und zum Arzneimitteldepot zu schaffen. Durchsucht jeden bis auf die Mediziner ...« Amal war wieder einmal der kommandierende General, der aufkommende Probleme vorhersah und auch schon Vorschläge zu deren Lösung parat hatte. Obwohl sie ihn bewundert, wünschte Lyn sich, er möge mehr an sich selbst denken. In der Tat konnten bei einem Nachbeben einige Module herabfallen. Andererseits mochte das Modul des Genetikfachbereichs noch eine Woche dort hängen und der Eugeniküberwachungsbehörde die Zeit lassen, sich neu zu organisieren und Maßnahmen zu ergreifen. Vordringliches Ziel dieser Behörde würde sein, wieder in den Besitz der schwarzen Kartei zu gelangen. Wenn ihr dies gelang und Amals Genkarte wieder den Behörden in die Hände fiel, würde es kein normales Familienleben für die Severns geben, weder für Eltern noch Kind. Amal war mit seinen Anweisungen fertig. Er drehte sich um und schlug dem Funker leicht auf die Schulter.
Dieser schaute auf, erkannte Amal, nahm die Ohrhörer ab und stand auf. »Wie sieht es draußen aus, Jerry?« »Schlimm, Amal. Auch in San Francisco hat man es zu spüren bekommen. San Diego ist schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Und Long Beach ist genauso zertrümmert worden wie Los Angeles.« »Etwas vom Bishop-Seismolabor gehört?« »Ja. Kurz vor dem Erdbeben hat man dort eine Bodenerschütterung registriert. Vorläufigen Berechnungen zufolge rührte sie von einer Atomexplosion im Tehachapi-Reaktor in Moho Drei der Cal-EdisonWerke her. Ein modulierter Laserstrahl soll, unmittelbar nachdem Little Palmdale vorüber war, dem Reaktor falsche Signale übermittelt haben.« Lyn sah, daß Amal erblaßte. Er drehte sich zu Nils um und fragte abrupt: »Wo steckt Heywood?« »Er ist tot«, erwiderte Nils achselzuckend. »Seine Leiche liegt irgendwo bei Pomona herum. Er blieb in seinem Apartment.« Plötzlich schien sich Amals Interesse ausschließlich auf die schwarze Kartei zu richten, von der er noch kurz zuvor nichts hatte wissen wollen. »Wo werden diese geheimen Genkarten aufbewahrt?« »In einem Wolframstahlsafe mit Kombinationsschloß«, erwiderte Nils. »Das Ding wiegt über tau-
send Kilogramm, und die Kombination kannte nur Heywood.« »Dann schweißen wir ihn auf«, sagte Amal. »Wir sind zu viert und haben noch die Reserveausrüstung des Rettungsteams. Ich nehme den Flaschenzug und die Laufplanke.« »Zu fünft sind wir«, widersprach Lyn. »Und die Laufplanke kann ich nehmen.« Sie hatte einmal bei einem Turmaufbau zugeschaut und gesehen, wie die Monteure die fertigen Module an den Querstreben befestigt hatten. Daher wußte sie, daß die Laufplanke – ein zusammenlegbares Brett, das quer über die Streben gelegt wurde, um von einer zur anderen gelangen zu können – zwar überaus stabil, aber dennoch ziemlich leicht war. »Du bleibst hier beim Befehlsstand«, ordnete Amal an. »Da oben ist es gefährlich.« »Darum gehe ich auch mit. Um auf dich aufzupassen.« Die anderen lachten, und auch Amal lächelte. In diesem Moment erschien ein Jugendlicher am Zelteingang. Er trug einen Schutzhelm und hatte ein zusammengelegtes Seil mit einer Art Enterhaken über der Schulter. »Du hast die Rettungsteams hergerufen, Amal.« »Ja, Hank«, sagte Amal und ging hinaus. »Ich möchte, daß ihr die Turmbausteine, die noch am Ge-
rüst hängen, nach Überlebenden durchsucht. Vom zehnten Stock an abwärts.« Lyn folgte Amal vor das Zelt. Aus den Wäldern kamen jetzt die anderen Rettungsmannschaften und versammelten sich vor dem Zelt. Amal wartete, bis Ruhe einkehrte, und erteilte dann seine Anweisungen. Zum Schluß ermahnte er sie noch zur Vorsicht. »Bleibt dicht bei den Eingängen. Wenn der Turm schwanken sollte, lauft sofort zum Korridorträger und haltet euch dort fest.« Die Rettungsmannschaften machten sich sofort auf den Weg zum Turm, und Amal drehte sich um und wollte wieder ins Zelt gehen. Lyn hielt ihn am Arm fest. »Warum hast du dich nach Heywood erkundigt?« »Ich wollte ihn umbringen.« »Er war nicht verantwortlich für AE 7.« »Das nicht, aber er wußte über mich Bescheid und rührte keinen Finger. Er hätte mich schon vor einem Monat aufhalten können.« »Warum hätte er dich aufhalten sollen? Möglicherweise hast du einer Million Menschen das Leben gerettet, indem du dieses Erdbeben vorhersagtest.« »Nein«, entgegnete Amal völlig ruhig. »Ich habe dieses Erdbeben nicht vorhergesagt. Ich sagte Little Palmdale vorher. Dieses Erdbeben habe ich verursacht, dadurch, daß ich einen Belastungssensor an der
Garlock-Verwerfung anbrachte. Aber moralisch trifft mich keine Schuld. Denk daran am Sonntag, wenn wir getraut werden – falls Bruder Barnes noch leben sollte.« Er hatte mit leiser, aber eindringlicher Stimme gesprochen, und es war klar zu erkennen, daß er sich heftige Vorwürfe wegen des Erdbeben machte. Trotz des Todes und der Vernichtung, die sie umgaben und deren Urheber zu sein Amal zugab, spürte Lyn eine übersprudelnde Freude in sich, ein heftiges, fast ekstatisches und durch und durch egoistisches Glücksgefühl. Amal war von einer neuen fixen Idee besessen, von dem Drang, seine Schuldgefühle loszuwerden. Und er hatte die Krise überstanden. Alle anderen AE 7 waren in den verheerenden Katastrophen, die sie hervorgerufen hatten, umgekommen.
11 An irgendeinem Punkt seiner Fahrt hinauf passierte der Aufzug die obere Staubgrenze in der Atmosphäre. Jedenfalls konnten sie, als sie auf die Plattform hinaus traten, die den Turmpfeiler ringförmig umgab und einmal der Korridor des Turms gewesen war, das San-Gabriel-Tal überblicken. Das ferne Grün der Puente-Hills war mit schimmerndem Staub bedeckt. Vor ihnen erstreckte sich ein glattes und fast wie ein Quecksilbersee glänzendes Leichentuch, aus dem im Osten die Skelette des Claremont-, Poma-, Ontariound in größerer Entfernung des San-BernadinoTurms herausragten. Der Himmel über ihnen war unglaublich klar, wenn Lyn auch wegen des dicken Staubmantels Catalina nicht sehen konnte. Red Benton hatte sie auf den Anblick des Doppelmoduls des Genetikfachbereichs vorbereitet. Great Fraziers L-Wellen hatte seine Verbindungsbolzen durchtrennt und es nach außen geschleudert. Die verschweißten Doppelträger des Moduls, die in unterschiedlichen Winkeln aus dem Pfeiler herausragten, hatten in dessen Plastistahlkerben gerade noch gehalten. Allerdings war aus dem V, das die Träger normalerweise bildeten, nun ein längliches U geworden. Vierzehn Meter von der Korridorplattform ent-
fernt wurde der Turmbaustein nur noch von den Enden der vorn Y-förmig auseinander wachsenden Tragbalken aus Baustahl gehalten. Von der Tür des Moduls, die sich genau zwischen den acht Meter auseinanderklaffenden Stahlträgern befand, ging es nun zwanzig Stockwerke in die Tiefe. Da Lyn die Laufplanke trug, war es auch ihre Aufgabe, über einen der Träger zum Modul zu gehen, die Laufplanke dort aufzuklappen und damit den Abgrund zwischen den Trägem zu überbrücken, damit die anderen zur Tür gelangen konnten. Im Vertrauen darauf, daß Amal sie zurückhalten würde, nahm sie den Rucksack ab, holte die Laufplanke daraus hervor und trat auf den Stahlträger. Die anderen bewunderten immer noch die Landschaft. Als Amal sich umdrehte und sie erblickte, rief er: »Sieh nicht hinunter.« Aber es war bereits geschehen. Vom Erdboden aus hatte es den Anschein gehabt, als hinge das Modul ziemlich niedrig. Als sie nun von oben durch das Gewirr von Stahlträgern hinabschaute, schien ein gähnender Abgrund zwischen ihr und dem nächsten Modul sieben Stockwerke tiefer zu klaffen. Wenn sie den Blick leicht seitwärts lenkte, schien sich der Abgrund zu potenzieren und sich hinab bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Der Stahlträger, auf dem sie ging, war an der Plattform einen Meter breit gewesen; inzwischen war er auf die
Hälfte zusammengeschrumpft. Folglich, so schien ihr jedenfalls, hatte sie statt der vierzehn Meter zur Modulwand nun deren achtundzwanzig zurückzulegen. Mit unechtem Zorn schwor sie beim Geist von Susan B. Anthony, daß alles, was ein Mann konnte, sie auch und ebensogut konnte. Aber die Masche zog nicht, denn ihr fiel ein, daß die meisten Männer dies eben nicht konnten. Die Monteure waren größtenteils Mohawk-Indianer aus einer Stammesenklave in der Nähe von Utica im Bundesstaat New York. Folglich dachte sie: was ein Mohawk-Indianer kann, kann eine Frau schon lange. Der Trugschluß in ihrer Prämisse war so offenkundig, daß sie sich erst einer selbstverabreichten Seelenmassage unterziehen mußte, bevor sie den Weg zur Modulwand fortsetzen konnte. Dort angekommen, klappte sie die Laufplanke auseinander und legte sie quer über die Stahlträger. Während sie dahockte, um die Sicherungshaken zu befestigen, und es sorgsam vermied, hinunterzuschauen, bewahrte sie ein rasch dahingemurmeltes Vaterunser, gefolgt vom dreiundzwanzigsten Psalm, vor einem Panikausbruch. Immer noch in der Hocke und sich an dem nun sicher befestigten Brett festhaltend, drehte sie sich behutsam auf dem I-förmigen Stahlträger um und stand auf. Sie zwang sich zu einem unbekümmerten Lä-
cheln und machte sich auf den Rückweg zur Plattform. Doch kein bewunderndes Publikum stand dort, das ihre Heldentat offenen Mundes bestaunt hätte. Amal hatte sich ein Stockwerk höher begeben und ging gerade mit dem Flaschenzug über den Stahlträger direkt über ihrem Kopf. Hal, dicht hinter ihm, schleppte ein Seil und ein stabiles Netz, in dem der Safe hochgehievt werden sollte. Red befestigte eine Seilrolle an einem an der Pfeilerwand festgeschweißten Ringbolzen. Nils spazierte mit dem Laserschweißgerät in den Armen über den Stahlträger ihr gegenüber. Ihr Gleichmut war einfach unerträglich, dachte Lyn. Sie taten gerade so, als wären sie auf dem hohen Gerüst zur Welt gekommen und aufgewachsen. Als sie die Plattform erreichte, schwor sie sich, nie wieder einen Stahlträger zu betreten. Als sie so dastand, dicht beim Pfeiler, die Hände am Treppengeländer, fand sie es an der Zeit, sich eine Lektion in Psychologie zu erteilen. Jeder dieser Teufelskerle war gut motiviert. Hal war hinter seinem Pulitzerpreis her; Red sah eine Karriere als Rechtsanwalt vor sich; Amal wollte sich von seinen Schuldgefühlen befreien, indem er die Verantwortung für Great Frazier den Genetikern zuschob; Nils schließlich wollte den Verrat an einem Freund wiedergutmachen. Sie hingegen trieb nur eine schwache Neugier über Ursprung und Herkunft ihrer Großmutter
sowie der Wunsch an, einen Geliebten zu beschützen, der keinen Schutz brauchte. Ihre Motivation stand auf schwachen Beinen. Bevor sie damit fertig war, ihre Feigheit vor sich zu rechtfertigen, hatte Nils ein Loch in die Tür gebrannt, die Hand hindurchgesteckt, die Tür geöffnet und war eingetreten. Amal hatte den Flaschenzug am Stahlträger darüber befestigt. Hal stand mit dem Netz hinter Amal und ließ Seil nach. Sie fragte sich, ob die beiden wohl versuchen würden, auf dem schmalen Träger aneinander vorbeizukommen; doch nein, Amal hielt sich am Dach des Moduls fest, ließ sich herab und stieß sich mit Schwung durch die offene Tür ins Innere. Sie hörte, wie Nils Amal zurief: »Wir haben Glück. Hier ist ein Rollwagen.« Amal erschien wieder an der Türöffnung und schaute zu Hal hinauf, der gerade das Netz an den Haken des Flaschenzugs hängte. Er wollte das Netz eben herablassen, als Amal ungeduldig rief: »Wirf schon her.« Hal schleuderte das Netz herunter. Amal fing es auf und begann es kurz vor dem Eingang auszubreiten. Hal tat es Amal nach und schwang sich herab, um zu helfen. Lyn bekam den Eindruck, daß Hal Red die schwarze Kartei vor der Nase wegschnappen und für sich beanspruchen wollte, denn Red fing gerade erst an, über jenen Träger zu gehen, auf den Lyn sich vorhin gewagt hatte.
Dann waren sie alle aus ihrem Blickfeld verschwunden, und aus dem Innern des Moduls konnte sie den vereinten Ruf hören: »Hauruck! Hauruck! Hauruck!« Sie wuchteten den Safe auf den Rollwagen. Als erster erschien Nils mit dem Laserschweißbrenner in den Armen wieder am Eingang. Hal und Red kamen hinter ihm her und gingen über die Stahlträger zurück zur Plattform. Dann erschien Amal an der Tür; er schob Safe und Rollwagen auf das ausgebreitete Netz. Nils hatte inzwischen die Plattform erreicht, legte den Laser so an den Plattformrand, daß die Mündung vom Pfeiler wegzeigte, und ging dann zu den beiden anderen, um beim Ziehen zu helfen. Amal rief vom Türeingang her: »Zieht ihn hoch!« Lyn, die sich immer noch am Treppengeländer festhielt, schaute untätig zu, wie die drei Männer an dem Seil zerrten und es langsam einholten. Amal paßte auf, daß der Safe sich nicht am Türrahmen verklemmte, denn der obere Stahlträger, an dem der Flaschenzug hing, war gegenüber der Tür schräg versetzt. Dann kam der massive schwarze Safe frei und schaukelte an seinem Haken hin und her. Die Männer am Pfeiler zogen weiter am Seil und holten die Fracht so dicht an die Fahrstuhltür heran, wie es der Flaschenzug ermöglichte. Dann ließen sie den Safe auf die Plattform fallen.
Amal legte die Laufplanke zusammen und war bereits auf dem Weg zur Plattform, als der Turm unter der Wirkung eines Nachbebens zu erzittern begann. Amal schleuderte die zusammengeklappte Laufplanke von sich und beugte sich vor, um sich an den Kanten des I-förmigen Stahlträgers festzuhalten. Lyn fand, daß sich die Scherwellen für die eines Nachbebens recht merkwürdig verhielten. Das Gebäude erzitterte unaufhörlich, ohne daß bisher eine L-Welle angekommen wäre. »Halt dich am Geländer fest und duck dich, Lyn«, schrie Amal ihr zu. »Das ist Inglewood ... Inglewood ... Inglewood.« Sie ging in die Hocke. Am Geländer hielt sie sich ohnehin schon die ganze Zeit fest. Da sie keine Ahnung hatte, wovon er redete, schaute sie nach Südwesten an den Türmen des Verwaltungszentrums vorbei zum Gerüst des Inglewood-Turms, der aus der Staubdecke herausragte. Das Gerüst in der Ferne war so klein und winzig, daß es ihr so vorkam, als betrachte sie es durch das verkehrte Ende eines Fernglases. Es neigte sich nur Seite, richtete sich wieder auf, neigte sich erneut. Zuerst kippte es sehr langsam; dann sah sie es umstürzen. Was sie in ihrer Vision als verschwommenes Bild von der Zukunft gesehen hatte, wurde nun von der Realität präzisiert. Sie verstand jetzt die Bedeutung
von Amals Schrei, und sie verstand noch mehr. Die Newport/Inglewood-Verwerfung war eingebrochen. Das Gerüst des Inglewood-Turms, der sich genau über der Verwerfung befand, war umgekippt. Amal hockte zehn Meter weit draußen auf einem nackten Stahlträger. Inglewood war ein Nachzügler von Great Frazier, das durch eine Explosion in Moho Drei ausgelöst worden war. Eine L-Welle näherte sich, die ebenso stark war wie jene, die den Berg hatte tanzen lassen. Und alle AE 7 waren in den verheerenden Katastrophen, die sie hervorgerufen hatten, umgekommen. Sie konnte das Herannahen der ersten L-Welle an der sich kräuselnden Staubdecke in der Atmosphäre verfolgen. Vor der Wellenfront schimmerte die geriffelte Staubschicht silbrig im Sonnenlicht; dahinter nahm sie schmutzige Grau- und Brauntöne an. Lange bevor der aufgewirbelte Staub den Turm erreichte, kam die L-Welle an. Sie spürte einen Luftzug im Gesicht. Der Horizont im Süden kippte ab, wurde hochgehoben, verblieb so und verschwand dann weit unter ihr, während sie gleichzeitig einen Luftzug im Nacken spürte. Der Pfeiler knirschte, und die Stahlträger machten surrende Geräusche. Sie hörte, wie der Safe hinter ihr vom Rollwagen polterte. Im Fahrstuhlschacht rasselte es. Dann begannen die Knallgeräusche und kurz da-
nach das metallische Klirren, die sie während ihrer Trance vernommen hatte. Sie konnte die Geräusche nun einordnen. Nieten sprangen vom Pfeiler ab, kullerten über die Plattform, fielen in die Tiefe und prallten klirrend von Stahlträgern ab. Ein von den oberen Stockwerken herabstürzender Turmbaustein kreuzte wie ein verwischter Strich ihren Blick, der fest auf das Verwaltungszentrum gerichtet war, das sich am südlichen Horizont hob und senkte. Die Pfeiler hielten; nur die abgebrochenen Laufgänge schlugen jedesmal hin und her, wenn die Gerüste schwankten. Sie beobachtete weiterhin die Türme des Verwaltungszentrums. Solange sie hielten, würde auch der Turm halten, auf dem sie hin und her schaukelte, denn sie waren dem Epizentrum näher. Ihr Zeitempfinden erstarrte. P-Wellen, die sie durchgerüttelt hätten, gab es nicht. Die S-Wellen wurden von dem Brechreiz verursachenden Schaukeln des wild hin und her schwankenden Turms verschluckt. Kein Donnern drang aus der Erde; die einzigen Geräusche waren das Rasseln der niederhagelnden Nieten, das Knirschen des Pfeilers und das Surren der Stahlträger. Lyn sah einzig und allein die Türme des Verwaltungszentrums am südlichen Horizont auf- und niederfallen. Das Schaukeln ließ nach, die Knallgeräusche ertön-
ten nur noch vereinzelt. Die Türme im Süden standen noch. Es gab ein letztes nervenzerreißendes Knirschen, ein letztes Absacken des Horizonts, dann war Ruhe. Als sie sicher war, daß es vorüber war, wurde sie ruhig und gelassen. Und diesmal rührte ihre Gelassenheit nicht von einer durch Schock hervorgerufenen euphorischen Stimmung her, sondern von der nüchternen Betrachtungsweise einer Erdbebenveteranin. Sie überdachte ihre Situation. Zwei schwere Erdbeben an einem Tag waren wirklich zuviel. Nun, wo sie Amal verloren hatte, konnte sie gehen, wohin sie wollte, und sie täte gut daran, das Land der erbebenden Erde zu verlassen. Sie würde von Kalifornien wegziehen, dachte sie; sie hatte einige erfreuliche Dinge über Phoenix gehört. Sie richtete sich auf und schaute zu dem Stahlträger hinüber, wo Amal gewesen war. Amal war noch dort. Hinter ihm ragten die Berghänge des San-GabrielGebirges auf, von denen Staub und Geröll herabrutschte. Das Modul des Genetikfachbereichs war abgestürzt und hatte den Stahlträger einen knappen Meter hinter Amals Füßen abgesäbelt. Sie trat an den Rand der Plattform und rief: »Es ist vorüber, Schatz.« Er hörte sie nicht. Er hielt sich weiter krampfhaft an dem I-förmigen Träger fest, und seine Unterarme wa-
ren von der angespannten Muskulatur ganz dick. Sein Blick war ausdruckslos. Sein Gesicht war komischerweise so sauber, als hätte er es sich vor kurzem gewaschen. Es war kreidebleich. »Es ist vorbei, Amal. Komm doch her.« »Er steht unter Schock«, sagte Nils Larsen, der plötzlich neben ihr stand. »Seine Phobie hält ihn völlig gefangen. Wir könnten ebensogut tausend Kilometer weit weg sein.« »Ich bringe ihn wieder zu sich«, sagte sie. Erneut wagte sie sich auf den Träger hinaus, kriechend diesmal. Der Abgrund unter ihr kümmerte sie nicht, obwohl er jetzt bis zu den untersten Modulen des fast völlig leer geschüttelten Turmgerüsts reichte. Auch als sie bis auf Armlänge an ihn herangekommen war und ihm direkt ins Gesicht schaute, nahm er sie nicht wahr. Er sah irgendeine innere Hölle. Schweiß strömte über sein Gesicht und hatte es vom Staub gereinigt. Seine Handknöchel waren ganz weiß vom krampfhaften Festhalten an dem Träger. Sie tätschelte seine Hand und sagte mit leiser beruhigender Stimme: »Schatz, es ist alles vorüber. Du hast die Krise überlebt. Du bist jetzt in Sicherheit. Ich bin bei dir, und ich liebe dich. Komm mit mir. Du kannst jetzt ein normales Leben führen, denn wir haben die schwarze Kartei. Das Experiment ist vorüber.« Er hörte sie immer noch nicht.
»Komm mit zur Plattform, Schatz«, flüsterte sie. »Ich brauche dich. Ich bekomme ein Kind von dir. Auch dein Sohn wird dich brauchen, damit du ihm zeigst, wie man Gazellen jagt.« Er erzitterte. Einige ihrer Worte drangen zu ihm durch. Sie spielte nun ihren Trumpf aus. »Deine Mutter lebt noch, Amal. Sie ist überhaupt nicht bei einem Erdbeben umgekommen. Sie haben es dir nur vorgemacht. Sie habe auch deiner Mutter vorgemacht, du wärest tot. Aber sie lebt. Und sie will ihren Lieblingssohn sehen. Komm mit mir, Schatz. Wir werden sie besuchen.« Tränen quollen aus seinen Augen. Sie hatte leise gesprochen, einerseits, um Amal zu beruhigen, andererseits, weil die anderen auf der Plattform ihre Worte nicht hören sollten. Nun sagte Nils hinter ihr mit rauhem, eindringlichem Tonfall: »Komm zurück, Lyn. Wenn er auf dem Träger wieder zu sich kommt, stürzt er ab. Laß mich ihm eine Sicherheitsleine umbinden. Wir können ihn mit dem Flaschenzug auf die Plattform holen.« Nils hatte recht. Sie stand auf, drehte sich um und eilte zurück zur Plattform. Nils ging sofort über den Stahlträger, setzte sich rittlings darauf und schlang Amal eine Sicherheitsleine unter den Achseln um die Brust. Er ließ die Sicherung zuschnappen und rief über die Schulter: »Zieht.«
Als die Leine sich straffte, schlug Nils Amal gegen die Handgelenke und schrie ihn an: »Laß los, Amal.« Amal gehorchte. Nils stützte ihn, als sein Körper hochgezogen wurde, dann an dem Seil baumelte und schließlich von Red und Hal mit Hilfe des Flaschenzugs zur Plattform gezogen wurde. Red befestigte das Seil an dem Ringbolzen und ließ Amal dicht beim Pfeiler hängen. Kopf und Schultern hingen schlaff herab, sein Körper wurde von Weinkrämpfen erschüttert und die Füße scharrten über die Plattform. Lyn ging zu ihm und wischte ihm den Schweiß von der Stirn. »Wir lassen ihn eine Weile dort hängen und sich ausweinen«, sagte Red. »Ich habe heute schon vierzig in diesem Zustand gesehen.« Nils ging auf Amal zu, betrachtete ihn und sagte: »Es ist nur eine Art Kampfesmüdigkeit. Er muß wirklich der tapferste koptische Christ sein, den es gibt, wenn man bedenkt, welche Konditionierung man ihm verpaßt hat. Er hätte eigentlich schon bei Little Palmdale zusammenbrechen müssen.« »Er war auch verdammt nahe daran«, sagte Hal Carpenter. »Und dann hat er sich noch vor Lyn und mir von Great Frazier erholt.« Lyn empfand plötzlich Bewunderung für den professionellen Gleichmut des Trios, besonders für Nils. Von dem Erdbeben unbeeindruckt, hatten sie die Si-
tuation in aller Ruhe durchdacht und rasche und wirksame Maßnahmen zu Amals Rettung ergriffen. »Ich möchte euch allen danken«, sagte sie. »Besonders dir, Nils. Wenn du mich nicht aufgehalten hättest und Amal auf dem Träger wieder zu sich gekommen wäre, hätten wir beide abstürzen können. Dafür bezahle ich dir vielleicht sogar die Leihgebühr für ein Gynodrom, das uns wohlbekannt ist.« Weder Hal noch Red, die beide am USC studierten, würden ihre Anspielung auf die andere Lyn Oberlin auf dem Cal-Tech-Campus verstehen. »Ich hätte mir zwar vielleicht eine noch dankbarere Geste erhofft«, entgegnete Nils, »aber wenn du Amal über diese ganze Sache hinweghelfen kannst, wäre ich schon vollauf zufrieden.« »Meinst du nicht, daß er die Krise überstanden hat?« fragte Lyn, der plötzlich einfiel, daß Nils weit mehr über das Experiment wußte als sie. »Ich denke schon. Jedenfalls hoffe ich es. Ich habe mir seit gestern abend einiges durch den Kopf gehen lassen. Wenn man den Werdegang der anderen AE Sieben betrachtet, zeigt sich, daß der Thanatos-Faktor nicht bloß einen Todestrieb erzeugt, sondern eher eine Form von abgöttischer Nekrophilie. Möglich, daß, weil sie von den Toten kommen, sie den Toten auch treu ergeben sind. Aber auch so hat es heute genug Tote gegeben, um selbst den blutrünstigen Fürst der
Finsternis versöhnlich zu stimmen. Und sollte Amal immer noch nach dem Jenseits streben, obwohl er dich an seiner Seite hat, dann verdient er nichts Besseres.« Er fuhr mit plötzlich ernstem Tonfall fort: »Du bist seine größte Hoffnung, Lyn. Hast du nicht sogar mich zu einem Verräter an meinem Fachbereich werden lassen?« »Nils«, sagte Red. »Der Fahrstuhl geht nicht mehr.« »Macht nichts. Wir öffnen den Safe hier oben. Ihr beide macht das Netz auf, während ich den Laser hole.« Nils Bemerkungen hatten sie innerlich aufgewühlt, und sie wandte sich wieder Amal zu. Der Schweißausbruch hatte aufgehört, auch die Weinkrämpfe ließen nach, und sein Gesicht bekam langsam wieder Farbe. Dennoch hing er immer noch schlaff am Seil und ließ den Kopf hängen und die Arme baumeln. Sie massierte ihm die Hände und flüsterte ihm aufmunternde Worte zu. Sie sah, wie seine Knie sich versteiften und sein Gesicht sich verzog. Er versuchte sich in die Gewalt zu bekommen. Schließlich hob er den Kopf. Er schien seine Umgebung wieder wahrzunehmen, wenn seine Augen Lyn auch an die eines Schlafwandlers erinnerten, den man plötzlich wachgemacht hatte. Nils kam mit dem Laser zurück, schaute kurz rüber und meinte: »Er kommt zu sich.«
Mit einer sichtlichen Anstrengung richtete Amal sich auf. Das Seil um seine Brust erschlaffte. Nils betrachtete den Safe und überlegte laut: »Dem zufolge, was ich noch über die Konstruktion von Safes weiß, werde ich wahrscheinlich die ganze Vorderfront wegbrennen müssen.« Plötzlich meldete sich Amal zu Wort; seine Stimme klang heiser und ausdruckslos. »Schneid ein konkaves Loch in das Metall rund um das Schloß, heb das Schloß heraus und betätige die Verriegelung mit der Hand.« »Unser Kapitän ist wieder da«, sagte Nils. Er hielt den Laser schräg und begann einen Kreis rund um das Schloß in das Metall zu brennen. Der Stahl zischte, als Nils einen vorläufigen Kreis punktierte. Amal hatte sich noch nicht vollständig erholt. Er umklammerte ihre Hand auf eine für ihn ganz und gar untypische Weise. Während der Laser zischte, fragte er leise: »Habe ich die Nerven verloren?« »Für kurze Zeit. Nils hat dir ein Seil umgebunden und die anderen haben dich rübergezogen.« »Die restlichen Module müssen bis in die Sicherheitszone geschleudert worden sein«, meinte er. »Was ist mit den Rettungsmannschaften, die ich zum Turm geschickt habe?« »Sie hatten reichlich Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, bevor die L-Welle kam. Ihnen ist bestimmt nichts geschehen.«
Er nickte geistesabwesend. Lyn wußte nicht, ob er damit Zustimmung ausdrücken oder nur anzeigen wollte, daß er verstanden hatte. »Ich habe die Nerven verloren ... Du mußt mich für einen Feigling halten«, sagte er. »Aber nein, Schatz. Wir haben alle Verständnis für deine Phobie. Nils hat dich zu deiner Tapferkeit sogar beglückwünscht. Er war überrascht, daß du nicht schon bei Little Palmdale einen Schock erlitten hast.« »Nun, er muß es wissen«, sagte Amal. »Er kennt meinen Gencode ja in- und auswendig.« Die Verbitterung, die aus seiner Bemerkung sprach, beunruhigte sie. »Nils hat dir das Leben gerettet, Amal. Er hat dir das Seil umgebunden.« »Zu schade, daß er keine Zwangsjacke vom Genetikfachbereich mitgebracht hat.« Sie war jetzt weniger um Amal als vielmehr um Nils besorgt. »Schatz, sei nicht so verbittert. Gleich haben wir deine schwarze Karte. Und da sie nun den Behörden nicht mehr in die Hände fallen kann, kannst du ein ganz normales Leben führen.« »Als genetische Mißbildung?« »Nicht doch. Du bist noch verstört. Auf die eine oder andere Weise sind wir doch alle genetische Mißbildungen.« »Ja, aber es gibt nur einen Fürst der Toten«, erwiderte er.
Während seines Dämmerzustands mußte er Nils Bemerkung gehört und behalten haben. Aber trotz seiner Verbitterung wirkte er resigniert, ja, fast fügsam. Er hatte immer noch das Seil um und machte keine Anstalten, es abzunehmen. Lyn hielt weiter seine Hand fest, griff mit der anderen an seinen Rücken und öffnete den Verschluß. Als das Seil zu Boden fiel, hörte das Zischen des Lasers plötzlich auf. Nils hatte einen Schutzhandschuh angezogen, hob nun das Kombinationsschloß heraus, steckte die Hand durch das Loch und fingerte an der Verriegelung herum. Dann öffnete er die Safetür. Aus dem Innern holte er einen Metallkasten hervor, der wie eine übergroße Bankschließfachschatulle aussah, und hielt ihn mit der behandschuhten Hand hoch. »Hier ist sie. Wenn die Burschen von der Eugeniküberwachung das Modul finden, werden sie feststellen, daß der Safe fehlt. Wenn sie den Safe finden, werden sie feststellen, daß die Kartei fehlt. Bis dahin werden sich die Karteikarten, abzüglich der von Amal, beim Büro für Wissenschaftsethik der UNO befinden. Die Kopien davon werden sich im Besitz unseres gesetzestreuen Spürhunds und journalistischen Adlerauges befinden. Wenn alles geregelt ist, wird sich ein ehemaliger Angehöriger des Genetikfachbereichs namens Nils Larsen um eine Anstellung als Straßenkehrer in Phoenix im schönen Arizona bewerben ...
Rechtsanwalt, du bist groß und stark. Nimm du die Kartei in Verwahrung. Bis auf den Laser vermachen wir den Krempel hier den nächsten Einwohnern von Los Angeles.« Eine heiter-gelassene Stimmung breitete sich in der Gruppe aus, Amal ausgenommen, der immer noch in sich versunken war. Während Red Benton den schweren Karteikasten in dem Rucksack verstaute, in dem sich vorher die Laufplanke befunden hatte, ihn hochhob und an seinen Schultern befestigte, fragte Nils Amal: »Meinst du, du schaffst es bis nach unten, alter Knabe?« Amal nickte. Für den Weg über die Wendeltreppe zwanzig Stockwerke nach unten brauchten sie zwanzig Minuten. Einmal machten sie halt, damit Red und Nils sich ausruhen konnten. Amal hielt noch immer ihre Hand fest, und sie gingen Seite an Seite die Treppe hinunter, Lyn immer an der Außenseite. Sie war froh, daß er nach unten auf die Stufen blickte, um auf Nieten zu achten. Als sie noch ziemlich weit oben waren, konnte sie von einer Stelle der Treppe aus deutlich sehen, daß einer der übriggebliebenen Turmbausteine in die unmittelbare Umgebung des Feldlazaretts geschleudert worden war. Unten am Erdboden hatte es mit Sicherheit neue Opfer gegeben. Als sie das Erdgeschoß erreicht hatten und sich ei-
nen Weg durch die herabgefallenen Turmbausteine dicht am Pfeiler bahnten, sich durch Schluchten und Unterführungen zwängten, die durch den Modulregen entstanden waren, bemerkte sie, daß Amal den Kopf immer noch gesenkt hielt und daherschlurfte, als hätte er Blei an den Füßen. Sein Gesicht und die Augen waren völlig ausdruckslos. Obwohl sie den Vergleich strikt von sich wies, kam ihr immer wieder der Gedanke, daß er sich wie ein Zombie verhielt, und sie mußte immerzu an Nils Ausspruch denken: »Sie wurden von den Toten geboren, sie sind den Toten treu ergeben.« Hinter dem Moduleberg, der sich rund um den Pfeiler auftürmte, lagen die Trümmer nicht mehr so dicht beieinander, und Red Benton bat um eine neue Ruhepause. Nils, der ebenfalls schwer zu schleppen hatte, war einverstanden. Red nahm den Rucksack ab und legte ihn an einer freien Stelle ins Gras. Amal blieb stehen und hielt weiterhin mürrisch ihre Hand. Um Amal aus seiner Lethargie zu reißen, sagte sie zu Nils, der durch ein stillschweigendes Übereinkommen nun das Kommando übernommen hatte: »Ich möchte Amals Karte haben – jetzt gleich. Ich will nicht, daß irgend jemand sie liest.« »Red wird sie brauchen«, murmelte Amal. »Wenn er beim UNO-Gerichtshof Klage einreicht,
kann er das im Namen der anderen Betroffenen in Europa und Afrika tun.« »Sie hat recht, Amal«, sagte Red. »Es wird kein Verfahren gegen die Genetiker in den Vereinigten Staaten geben, denn du bist nicht verantwortlich für die Erdbeben. Beide waren Fälle höherer Gewalt.« »Sie sind alphabetisch geordnet, Red«, sagte Nils. »Gib Lyn seine Karte.« Red klappte den Deckel hoch und ging die Kartei durch. Lyn schätzte, daß sich über tausend Karteikarten in dem Kasten befanden. Schließlich fand Red Amals Karte, zog sie heraus und reichte sie Lyn. Sie betrachtete sie. Von der schwarzen Umrandung abgesehen, sah sie aus wie die gewöhnliche lederfarbene Standardgenkarte, durchsetzt mit Löchern und voller mit magnetischer Tinte aufgedruckter geheimnisvoller Symbole. Sie drehte sich Amal zu und fragte: »Möchtest du sie zerreißen, oder soll ich das feierliche Ritual ausführen?« Solange er ihre Hand festhielt, konnte keiner von ihnen die Karte zerreißen, und Lyn hoffte, ihn auf diesem diplomatischen Weg dazu zu bewegen, sie endlich loszulassen. Seine Hand war von verdunstetem Schweiß kalt und klamm geworden. Er schaute die Karte nicht einmal an. Statt dessen deutete er mit der freien Hand auf die Trümmer
ringsum und sagte: »Warum sie vernichten? Dadurch kann man dies nicht wiedergutmachen.« Nils war offensichtlich besorgt über Amals anhaltende Depression. Er stand auf und sagte in ziemlich scharfem Tonfall: »Du redest dummes Zeug, Amal. Wäre diese Karte nicht gewesen, lägen jetzt eine Menge mehr Tote unter diesen Trümmern begraben.« Amal hob den Kopf. »Du irrst, mein guter und treuer Freund ... Was mag in den Köpfen von Leuten vorgehen, die ein solches Experiment durchführen, obwohl überhaupt keine Notwendigkeit dafür besteht?« Er hatte die Frage eigentlich nicht an Nils gerichtet, aber Nils beantwortete sie. »Du kennst doch die Wissenschaftler, Amal. Wenn solche Dinge erst einmal ins Rollen kommen, entwickeln sie eine Eigendynamik.« »Und überrollen die Menschheit wie eine Dampfwalze«, entgegnete Amal. »Du bist doch Wissenschaftler«, sagte Nils. »Du weißt, wie es zugeht. Die Menschheit, das ist ein abstrakter Begriff. Es gibt nur Menschen. Lyn, dich, Red, Hal und schließlich mich.« »Warum zum Teufel hast du es dann versäumt, an diese Menschen zu denken?« Amal erwachte aus seiner Lethargie. Lyn konnte heftige Kraftflüsse in ihm, um ihn herum spüren, als
er innerlich aufgewühlt wurde. Sein neu erweckter Elan machte sich in einer Woge des Zorns Luft. Er wurde erneut blaß, und die Adern an seinem Hals schwollen an. Verblüfft über seine plötzliche Erregung, starrte Nils ihn beunruhigt an. »Ich frage dich – Genetiker! Warum hast du nicht vor drei Monaten, bevor ich in Moho Drei ging, an Lyn, an mich, an die Toten um uns herum gedacht?« »Moho Drei!« stieß Nils wie betäubt hervor. Er schien die Bedeutung von Amals Worten zu begreifen. Er hob beschwichtigend die linke Hand. »Moment, Amal. Wirf mir nicht die alte Geschichte vor. Schließlich habe ich mich auf deine Seite geschlagen. Hast du sicher nicht vergessen, oder?« »Nur hast du dich ein bißchen spät dazu entschlossen«, schrie Amal. »Der halben Million Toten nützt das nichts mehr.« Er ließ Lyns Hand los und ging auf Nils zu. »Wozu hast du dein Wissen über mich benutzt, Zimmergefährte, als wir arabische Grammatik übten, he?« Nils wich zurück. Hal Carpenter griff nach Amals Gürtel und zog geschickt die Pistole daraus hervor, eine weise, aber unnötige Vorsichtsmaßnahme. Hätte er vorgehabt, Nils etwas zuleide zu tun, dessen war sich Lyn sicher, dann hätte Amal die Fäuste genommen und Nils damit bearbeitet. Amal war jetzt voll bei Sinnen. Er mußte sich auch bewußt sein, daß von
allen, einschließlich Lyn, die mit ihm zum Turm hinaufgegangen waren, Nils derjenige war, der aus dem am wenigsten selbstsüchtigen Motiv heraus gehandelt hatte. »Wo warst du, als Madrid in die Luft flog?« schrie Amal. »Als Johannesburg einstürzte? Als Kiew verseucht wurde?« Er ging Schritt für Schritt langsam vorwärts und attackierte Nils mit seinen Fragen. Nils hielt auf Distanz und wich weiter zurück. »Wo wirst du sein, Genetiker, wenn Hamburg ...« Lyn sah den abgebrochenen Stahlträger im Gras erst, als Nils darüber stolperte. Nils versuchte noch, das Gleichgewicht zu bewahren, indem er das schwere Laserschweißgerät mit der rechten Hand hochriß und mit der linken nach hinten faßte. Doch vergeblich. Er fiel. Als er den Laser umfaßte, geriet sein Finger in den Abzugsbügel. Der schwere Laser, vom Schwung vorangetrieben, rutschte durch Nils Hand nach vorn und drückte den Auslöser gegen Nils Finger. Der Laser, darauf eingestellt, Wolframstahl zu durchschneiden, stieß einen Strahl aus. Lyn sah den Lichtstrahl aufblitzen und eine Modulwand unmittelbar hinter Amal versengen. Von einem verkohlten Stück Stoff dicht neben Amals Brusttasche stieg ein Rauchfähnchen auf.
Er hatte gerade einen Schritt vorwärts getan, als der Strahl durch ihn hindurch gegangen war. Seine Knie gaben nun nach, und er sank zu Boden. Sein Körper neigte sich leicht nach links, der linke Arm schlenkerte nach außen, und der rechte Arm fiel schräg nach hinten. Er kippte rückwärts zu Boden, kam auf dem rechten Arm zu liegen. Das rechte Knie stand aufrecht, das linke lag flach auf der Erde. Der heftige düstere Mahlstrom, den sie um ihn herum gespürt hatte, war mit einem Mal erloschen. Sie schaute hinab und wußte, daß es zwecklos war, sich noch um ihn kümmern zu wollen. Verloren in den Erinnerungen an die Sätze, die er ihr einst vorgelesen hatte, dachte sie: hier liegt er nun, mein Geliebter, der Kühne und Sanfte, der Geschwinde, Geistreiche, Gütige, fern vom Berge, verschwunden im Wald. Die Toten hatten ihn gerufen, und er war gekommen. Ambulant-Eugenik-Experiment-Sieben war vorüber. Red konnte seine Genkarte haben, aber später. Sie schaute noch einen Moment hinab, bevor sie zu Nils ging, den sie mit einer Reihe widersinniger Metaphern zu trösten gedachte. Amal sah nicht aus wie ein Adler, der zum Himmel aufschaut; das wächserne Gesicht, das dunkle Haar, die verdrehten Gliedmaßen, die blinden grauen Augen erinnerten sie lediglich an eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte.