Tatsachen 286
Erwin Nippert
Die Spur der grauen Wölfe
1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republ...
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Tatsachen 286
Erwin Nippert
Die Spur der grauen Wölfe
1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) - Berlin, 1985 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Lektor: Rosemarie Trebeß Illustrationen: Archiv des Autors Umschlaggestaltung: Bernhard Kluge Typografie: Ingeburg Zoschke
Yusuf Öztürk schläft schlecht in dieser Nacht. Unruhig wälzt er sich in dem schmalen Feldbett hin und her und fährt dann plötzlich erschreckt hoch. Im Traum sah er - auf dem morastigen Boden einer Uferböschung liegend - ein fremdes, zur Fratze erstarrtes Gesicht mit eiskalten, stechenden Augen langsam auf sich zukommen. Er meint noch den Druck des Militärstiefels am Halse zu spüren, als er - im letzten Moment, so scheint es ihm - schweißgebadet aufwacht. Ein Alptraum, dem Erleben der hinter ihm liegenden Tage und Wochen entsprungen. Er versucht des wirren, ihn bedrängenden Gedankenknäuels Herr zu werden und läßt sich wieder zurückfallen. Sollten seine Nerven doch nicht so stark sein, wie er bisher geglaubt hat? Erlebte Kemal Elbir, der Ausbilder, seinen Musterschüler so, er würde sich wundern. Obwohl sich Öztürk zur Ruhe zwingt, kann er dennoch nicht gleich wieder einschlafen. Das sind offensichtlich die Anspannungen der letzten Zeit und die Ungewißheit des Bevorstehenden, was sich da im Unterbewußtsein zu solchen Schreckensbildern formt, beruhigt er sich. Morgen wird er mehr wissen, und bis dahin braucht er einen klaren Kopf. Aber da ist sie wieder, die monotone, manchmal dröhnende, befehlsgewohnte Stimme des Ausbilders, die ihm selbst noch im Schlaf in den Ohren klingt. Acht lange Wochen hat sie ihn Tag für Tag begleitet, unaufhörlich auf ihn eingeredet, seinen Willen, sein Denken und Handeln beeinflußt, ein bedenkenlos alle Befehle ausführendes roboterhaftes Wesen aus ihm gemacht. Vom Fenster, durch das der Mond sein fahles Licht wirft, wandert der Blick Öztürks von den kahlen Wänden zu dem Tisch mit den Stühlen, erfaßt die Spinde, die Betten und verliert sich schließlich in dem schmucklosen, kasernenartig eingerichteten Schlafraum; einer von dreien in der grau getünchten Holzbaracke. Jeder ist mit sechs Personen belegt. Der vierte Raum - er trägt die Nummer l -, in dem Elbir untergebracht ist, wird gleichzeitig für Schulungszwecke genutzt. Die »Minikaserne«, etwas abseits gelegen, in Wahrheit Teil eines Camps, steht auf dem Betriebsgelände der Textilfabrik von Murat Kuzu am Stadtrand von Adana, im Süden der Türkei.
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Kuzu, ein begeisterter Anhänger von Alpaslan Türkes und seiner »Nationalistischen Bewegung« (MHP), hat sie einem Kommando der »Grauen Wölfe«, einer der Jugendgruppen dieser Partei, als Ausbildungsstätte zur Verfügung gestellt. Es gibt etwa 30 solcher als Camp bezeichneten Lager in der Türkei. Man sagt, die 18 Mann bereiten sich auf ihre Arbeit in der Textilfabrik vor. Jeder hier weiß natürlich, daß die Firma Kuzu keine neuen Arbeitskräfte einstellen kann. Es ist ein offenes Geheimnis, was die Männer in der Baracke in Wirklichkeit treiben, aber keiner von Kuzus Arbeitern spricht darüber, aus Angst um seinen Arbeitsplatz - und um sein Leben. Es sind höchst unsichere Zeiten in der Türkei, und jeder kennt die Methoden der »Grauen Wölfe«. Schon manch einer hat sich ins Grab geredet. Der Dienst im Camp geht bis an die Grenzen des Menschenmöglichen. Blinder Gehorsam und bedingungslose Disziplin sind das A und O der paramilitärischen Ausbildung. Jeden Tag fahren sie mit einem LKW in ein mehrere Kilometer entferntes, schwerzugängliches Berggelände, ein ehemaliger Truppenübungsplatz der türkischen Armee. Hier drillt Elbir sie in Rangermanier. Er ist ein altgedienter, aus undurchsichtigen Gründen vorzeitig vom regulären Dienst suspendierter Offizier mit einer Söldnerseele. »Ich mache aus euch Männer!« ist eine seiner vielgebrauchten Redensarten. Er hat sein Killerhandwerk bei einem US-Militärberater erlernt, der bei den berüchtigten Green Berets am Koreakrieg teilgenommen hatte. Der ungeschriebene Lehrplan im Camp, nach dem Elbir seine Leute ausbildet, weist Mord, Sabotage, Brandstiftung und Sprengstoffanschläge aus. In grün-grau gefleckte Tarnanzüge gekleidet, ausgerüstet mit Schnellfeuergewehren, Pistolen und Messern amerikanischer Herkunft, werden ihnen die verschiedensten Kampftechniken der »Selbstverteidigung« und des lautlosen Tötens ebenso wäe die ausgefallensten Folterpraktiken beigebracht. Geschossen wird grundsätzlich mit scharfer Munition. Und auf wen sie im Ernstfall zu schießen haben, darüber läßt Elbir keinen Zweifel. Der Feind - das sind die Kommunisten! Für ihn sind alle Andersdenkenden Kommunisten, denen sie die Köpfe einzuschlagen hätten, wann und wo immer sie dazu
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aufgefordert würden! In den Ausbildungstagen sind einige Männer völlig erschöpft auf den steinigen Berghängen zusammengebrochen. Danach läßt Elbir die Leute zwei Tage in Ruhe und betreibt mit ihnen Seelenmassage, wie er das nennt, denn schließlich will er keinen von ihnen frühzeitig verlieren. Dann geht der Dienst im Gelände, nur wenig gemildert, weiter. Jetzt halten alle durch, offensichtlich haben sie den toten Punkt überwunden. In den Pausen und auch abends, wenn sie in der Baracke zusammensitzen und Raki trinken, erzählt Elbir mit glänzenden Augen von seinem militärischen Vorbild - der SS. Öztürk hat zwar schon manches von der SS im zweiten Weltkrieg gehört, ohne jedoch die von dem Ausbilder gepriesenen »Heldentaten« dieser Truppe näher zu kennen. »Das waren Männer«, sagt Elbir schwärmerisch. »So müssen wir unsere Kommandos ausbilden.« Elbir erklärte ihnen auch, was es mit dem Zeichen der »Grauen Wölfe« auf sich hatte, und interpretierte dabei die türkische Geschichte auf seine Weise. Das Zeichen des Bozkurt - ein hochaufgerichteter, mit nach oben gestrecktem Fang im türkischen Halbmond stehender grauer Wolf - ist ein Symbol der türkischen Mythologie. Der Bozkurt ist für viele Türken ein Sinnbild des Retters aus der Not. Wie die Legende vom Ergenekon, dem Eisernen Berg, berichtet, waren in historischer Zeit die türkischen Krieger in Zentralasien eingeschlossen, als der Bozkurt mit einer brennenden Fackel im Maul erschien. Mit der Fackel konnten die Türken den eisernen Berg schmelzen und, mit dem grauen Wolf voran, ihre Feinde besiegen. Türkes mißbraucht diese nationale türkische Legende. Die »Grauen Wölfe« geben vor, dem türkischen Volk die Freiheit, das »Licht«, bringen zu wollen. Nach der von Türkes und seiner Partei vertretenen »Doktrin der neun Lichtstrahlen« sind ihre hervorstechenden Merkmale Großmachtstreben und Rassismus. Unter diesen Vorzeichen sollen alle einst im Mittelalter, zum Osmanischen Reich gehörenden kleinasiatischen Länder erneut zu einem Großtürkischen Reich - Turkan genannt - zusammengeschlossen werden. Dazu zählt Türkes auch die Millionen Menschen, die zu den Turkstämmen im Irak, Iran, in Afghanistan, Bulgarien, Jugoslawien,
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Rumänien, Griechenland, der UdSSR und sogar in China gehören. Zu diesem Großmachtchauvinismus paßten auch die »theoretischen« Auslassungen Elbirs in den Schulungsstunden. Er zitierte aus den »Notizen für Idealisten«, in denen es heißt: »Wo auf der Welt ein Türke ist, da fängt unsere Staatsgrenze an. Türke, du besitzt die Fähigkeit, von Mittelasien bis zum Balkan noch viele weitere Kaiserreiche zu gründen. Dies wird die Türken in der Türkei zur Bewegung bringen.« Das andere Werk, »Zum Türkentum«, aus dem er gern vortrug, enthielt ebenfalls rassistisches Gedankengut. »Der neue Türkismus ist rassistischer Nationalismus. Die Reinheit des Blutes der türkischen Nation muß geschützt werden. Die nicht zur türkischen Rasse zugehörigen Völker und Minderheiten müssen vertrieben werden.« Aus dem Lebenslauf des Parteiführers Alpaslan Türkes lernten Elbirs Schüler, daß er 1917 auf Zypern geboren wurde, 1938 die militärische Laufbahn einschlug, bald darauf Offizier wurde und einen raschen Aufstieg nahm. Nur wenigen war bekannt, daß der ehrgeizige, extrem nationalistisch gesinnte junge Militär die Aufmerksamkeit des faschistischen deutschen Geheimdienstes erregte, der aus wirtschaftlich-politischen und militärstrategischen Gründen während des zweiten Weltkrieges stark an der Türkei interessiert war. Ein Geheimdokument aus dem Jahre 1944 belegt das hinreichend. Darin wird gefordert, die Kontakte in die Türkei dringlich zu aktivieren. Und es werden auch die Personen genannt, zu denen »aufgrund ihrer Haltung gute Verbindungen« bestehen: An erster Stelle steht »Alpaslan Türkes - Absolvent einer Offiziersschule und Führer der pantürkischen Bewegung«. Nach 1945 einige Zeit bei der türkischen Militärmission in Washington tätig, stellte er enge, dauernde Kontakte zu Militärexperten des Pentagon und zur CIA her. In die Türkei zurückgekehrt, schloß sich Oberst Türkes den reaktionärsten Kräften des Landes an. Am Militärputsch im Jahre 1960 gegen die Menderes-Regierung beteiligt, wurde er jedoch aus dem »Nationalen Einheitskomitee« der Offiziere und damit aus der Armee ausgeschlossen, da er bei dieser Aktion eigenständige machtpolitische Ziele verfolgte. Fortan nahm Türkes einen verhängnisvollen Einfluß auf die politische
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Entwicklung in der Türkei. Im Jahre 1969 gründete er schließlich die faschistische MHP, die ihre ideologischen Wurzeln im bürgerlichen Chauvinismus und Antikommunismus hat. Er wollte alle Ansätze einer parlamentarischen Demokratie beseitigen und einen hierarchisch nach dem Führerprinzip aufgebauten Staat errichten. Teile der türkischen Großbourgeoisie unterstützten ihn, um mit seiner Hilfe die reaktionären Machtverhältnisse zu festigen und die demokratischen Kräfte des Landes auszuschalten. Als ihm klar wurde, daß er seine Ziele auf legalem Wege nicht erreichen würde, griff er zu terroristischen Mitteln der Sabotage und dem politischen Mord -, um durch bürgerkriegsähnliche Zustände einen Vorwand für das Eingreifen der Militärs als Voraussetzung für den faschistischen Umsturz zu schaffen. Yusuf Öztürk, ohne diese Zusammenhänge im einzelnen zu kennen, ist dennoch bereit, ein guter Gefolgsmann von Türkes zu werden. Lange Zeit ohne Arbeit, hat er sich ihm in dem Glauben, daß es unter seiner Führung auch für ihn besser werde, bedingungslos angeschlossen. Er setzt auf den starken Mann, der Ordnung im Lande schaffen würde. Und so ist er zu den »Grauen Wölfen« gekommen. Als Arbeitsloser hatte er viel Zeit, die Propagandaveranstaltungen zu besuchen. Der bereitwillige junge Mann fiel den Funktionären schon bald als geeignet für höhere Aufgaben im Dienste der Bewegung auf. Er erhielt eine, wenn zunächst auch geringe, finanzielle Unterstützung, und man warb ihn dafür, als »Gastarbeiter« in die BRD zu gehen und dort besondere Aufträge auszuführen. Seine Bedenken, daß es bei der gegenwärtigen Krisensituation für Ausländer kaum möglich sei, dort Arbeit und Unterkunft zu finden, schob man, vielsagend lächelnd, beiseite. »Wir haben verläßliche Freunde, die dir Papiere und eine gutbezahlte Arbeit beschaffen.« Daraufhin sagte er zu, den Job anzunehmen. Öztürk hatte sich vorher schon selbst mit dem Gedanken getragen, in der BRD Arbeit zu suchen, aber viele hatten ihm davon abgeraten. Die Zeit, da man dort Ausländer als billige Arbeitskräfte einstellte, war längst vorbei. Nicht wenige seiner Landsleute kehrten sogar wieder zurück. Jetzt wußte er jedoch über die Beziehungen der Türkes-Partei in der BRD Bescheid, und da er auch mit deren politischen Zielen konform
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ging, ließ er sich im Frühjahr 1979 für die Spezialausbildung der »Grauen Wölfe« anwerben. Am heutigen, letzten Tag im Camp hatten sie hohen Besuch. Zur feierlichen Verabschiedung war der Exgeneral und ehemalige Stadtkommandant von Istanbul, Mehmet Ünlütürk, erschienen. Er hat sie auf Alpaslan Türkes eingeschworen und Treue bis in den Tod verlangt. Ünlütürk verlas ein Begrüßungsschreiben des Führers Türkes: »Liebe >Graue Wölfe<, Ihr seid alle Bannerträger dieser Nationalistischen Bewegung, des Neun-Lichter-Systems. Ihr habt die Rasse und Unabhängigkeit der türkischen Nation ... Hoch soll die türkische Rasse leben! Hoch soll die große nationalistische Türkei von 100 Millionen leben! Hoch sollen die unwiderruflich diesem Ideal verschriebenen Menschen leben!« Dem fügte Ünlütürk emphatisch hinzu: »Nicht, was der einzelne denkt, sondern was der Führer befiehlt, ist das richtige. Unser Kampf, für den wir unser Blut opfern, gilt den Kommunisten und Demokraten, den kommunistisch unterwanderten Gewerkschaften und allen Türkenfeinden - schlagt sie überall, wo ihr sie trefft!« Am nächsten Morgen, kurz vor der Abreise aus dem Camp, sollen sie die Einzelheiten ihres Einsatzes als »Gastarbeiter« mit Spezialauftrag in der BRD erfahren. Mit dieser Ungewißheit fällt Öztürk schließlich für den Rest der Nacht in einen tiefen Schlaf. Am Morgen werden sie nicht mit der Trillerpfeife des Ausbilders geweckt und zur Eile angetrieben, sondern sie können sich Zeit lassen und sich nach dem Frühstück gemächlich auf die Abreise vorbereiten. Einzeln werden die jungen Männer ins Zimmer 1 gerufen. Dort erhalten sie die letzten detaillierten Instruktionen. Es ist elf Uhr, als Öztürk an der Reihe ist und den Raum betritt. Betont höflich wird er von dem jovial lächelnden Elbir aufgefordert, am Tisch Platz zu nehmen. Dann richtet Ünlütürk unvermittelt das Wort an ihn. »Ich habe sehr viel Gutes über Sie erfahren.« Dabei schaut er mit flinken Augen, Bestätigung suchend, zu dem Ausbilder. Der nickt zustimmend und läßt den Ex-general weiterreden. »Wir haben für Sie einen Sonderauftrag und hoffen, daß Sie sich des Vertrauens würdig
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erweisen.« Er erklärt ihm in knappen Worten, um was es geht. Öztürk werde nach Westberlin vermittelt und dort eine auskömmliche Arbeit in der Hotelbranche erhalten, die ihm günstige Kontaktbedingungen und genügend Freiraum für die eigentliche Tätigkeit biete. Seine Aufgabe bestehe darin, gegen türkische Landsleute, die ihre Heimat verraten hätten, vorzugehen. Sie tummelten sich vor allem in den Gewerkschaften und gewännen dort zunehmend Einfluß. Damit müsse endgültig Schluß gemacht werden, so oder so. Seine Kontaktstelle sei die Maschale-Nachtbar in Westberlin, in der er sich an Ahmet Yalcuk, den Besitzer, zu wenden habe. Dann senkt Ünlütürk die Stimme, beugt sich zu Öztürk vor und fährt mit Verschwörermiene fort: »Als Gastgeschenk werden Sie einen Posten Stoff mitnehmen und Yalcuk persönlich übergeben.« Als er das erstaunt-fragende Gesicht seines Gegenübers sieht, ergänzt er: »Na, ein bißchen Heroin meine ich. Sie sind nicht der erste und nicht der letzte, der das Zeug befördert. Eine todsichere Sache, und außerdem fällt auch für Sie dabei ein Sümmchen ab.« »Und wie soll das vor sich gehen?« will Öztürk wissen. Ünlütürk greift hinter sich und legt dann einen Riegel Seife auf den Tisch. »Hier stecken 250 Gramm von dem Zeug drin, und keine noch so gute Spürnase vom Zoll wird darauf kommen. Der Duft, riechen Sie mal.« Ganz nebenbei holt er ein Flugticket aus der Jackentasche und schiebt es Öztürk zu. »Morgen abend geht Ihre Maschine von Istanbul ab, und schon übermorgen landen Sie in Berlin-Tegel, Sie Glückspilz. Erledigen Sie Ihre Arbeit dort gut. Ich verlasse mich auf Sie, und grüßen Sie Yalcuk von mir, er erwartet Sie.« Dann schüttelt er Öztürk kräftig die Hand und verabschiedet ihn. Von der perfekten Organisation sichtlich beeindruckt, bleibt Öztürk keine Zeit zu einer Entgegnung. Was bliebe auch noch zu sagen? Er hat sich entschieden, und er weiß, zusätzliche Fragen sind nicht erwünscht. Es bleibt ihm auch keine Zeit mehr, sich von den Verwandten auf dem Lande in Anatolien zu verabschieden. Aber er hat gelernt, alles Persönliche zurückzustellen. Vor dem Abflug würde er sich von dem Handgeld, das er erhalten hat, in Istanbul noch ein paar angenehme
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Stunden machen. Als Yusuf Öztürk am 3. Juni 1979 gegen 20.00 Uhr den MaschaleNachtclub in der Schöneberger Hauptstraße betritt, schlägt ihm lebhaftes Stimmengewirr entgegen, das bei seinem Eintritt hörbar abschwillt, aber schon nach wenigen Augenblicken wieder die vorherige Lautstärke erreicht. Er spürt die argwöhnisch-musternden auf ihn gerichteten Blicke. Öztürk tut so, als bemerke er sie nicht. Er geht direkt auf die Bar im Hintergrund zu und nimmt auf einem der hohen Hocker Platz. Von hier aus hat er durch die breite Spiegelfläche am Bartresen die kleine Bühne, die Tanzfläche und den größten Teil des Etablissements im Blick, ohne sich umdrehen zu müssen. Fast alles Landsleute, wenige Deutsche und einige Frauen, stellt er fest. Bisher verläuft alles programmgemäß, weisungsgemäß, so wie man es ihm in Adana zugesagt hat. Der Flug verlief ohne Zwischenfälle, und jetzt will er den »Stoff« loswerden und hören, wie es weitergehen soll. »Einen Kognak«, ruft er dem Barkeeper zu, der ihn fragend anschaut. Als er den ersten Schluck genommen hat, wendet er sich wieder an ihn: »Ich möchte Herrn Ahmet Yalcuk sprechen.« »Den Chef wollen Sie sprechen?« fragt er gedehnt. »Ja, den Chef.« Der Barkeeper - offenbar mißtrauisch - entfernt sich wortlos durch eine Seitentür. Eine Minute mag es gedauert haben, da kommt er mit zwei kräftigen Typen, denen man ihr Gewerbe ansieht, zurück. Sie bauen sich neben Öztürks Hocker auf, fixieren ihn scharf, und einer fragt leise: »Was willst du vom Chef?« »Der General schickt mich«, antwortet Öztürk ebenso leise, aber bestimmt. Sie bedeuten ihm, ihnen zu folgen, und lassen ihn in der Mitte gehen. Auf dem Weg durch die Seitentür und einem schmalen, nur spärlich beleuchteten Korridor tasten sie ihn nach Waffen ab. Dabei entdeckt einer das Päckchen in der Jackentasche. Er schnuppert daran, tauscht mit dem Kumpan einen kurzen, verstehenden Blick aus. Hinter der Tür am Ende des Korridors betreten sie einen mittelgroßen wie ein luxuriöses Wohnzimmer eingerichteten Raum. Einer der beiden sagt zu dem Kahlköpfigen hinter dem Schreibtisch: »Er meint, er käme vom General, Chef. Das Päckchen hatte er bei sich.«
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Der als Chef Angesprochene wiegt es prüfend in der Hand, wickelt es aus, legt es aber dann zur Seite. Unvermittelt steht der wie ein Geschäftsmann Aussehende auf, kommt seinem Besucher ein paar Schritte entgegen und spricht ihn freundlich an. »Nach der Beschreibung müßten Sie Yusuf Öztürk sein. Ich habe Sie schon erwartet.« Und zu seinen Leibwächtern gewandt, sagt er: »Es ist alles in Ordnung, Jungs, ihr könnt gehen.« Nachdem die beiden das Zimmer verlassen haben, nimmt Ahmet Yalcuk ein paar Geldscheine aus seinem Schreibtisch und reicht sie wohlwollend seinem Gast. »Wenn Sie sich geschickt anstellen, könnten es durchaus mehr werden.« Öztürk weiß jetzt zwar, daß die »Grauen Wölfe« auch am Rauschgiftschmuggel beteiligt sind, doch kennt er nicht das ganze Ausmaß. Die Türkei ist zu einem der Hauptlieferanten von »heißer Ware« geworden, die auf vielen dunklen Kanälen in die BRD, das Abnehmerland Nummer eins in der Welt, gelangt. Über die schwer kontrollierbaren Grenzen und Flughäfen reisen jährlich Millionen Besucher ein und aus, unter ihnen unzählige Rauschgiftkuriere aus der Türkei und anderen asiatischen Ländern. Die Europastraße 5 von Istanbul über Bulgarien, Jugoslawien und Österreich ist eine der Hauptrouten, auf denen das Rauschgift, in schweren Fernlastern raffiniert versteckt, aus der Türkei in die BRD geschmuggelt wird. Der Rauschgifthandel nahm Ende der 70er Jahre einen erheblichen Aufschwung. Im Jahre 1979 wurden mehrere »Graue Wölfe«, die im Auftrage der MHP Rauschgift in die BRD transportierten oder dort vertrieben, verhaftet. Das Geschäft in Westberlin macht Yalcuk, dessen Nachtclub ein wichtiger Umschlagplatz der Millionenstadt für Heroin ist. Zu seinen Mitarbeitern gehören auch die »Grauen Wölfe«. Der Transport kleinerer und mittlerer Mengen durch ausgewählte türkische Gastarbeiter als Kuriere ist nur einer der Wege, auf denen das Gift in die BRD gebracht wird. Zwischen 80 000 und 110 000 Mark kassiert Yalcuk als Großhändler je Kilogramm Heroin. Und wenn es den Endverbraucher erreicht, bringt es bis zu einer Million Umsatz. Seit 1974 hat er
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mindestens fünzig Kilo von der harten Droge abgesetzt. Ein großer Teil des Gewinns geht auf Konten in Belgien, Frankreich und der Schweiz. Von dem Geld, das auch der Finanzierung der TürkesFaschisten dient, werden Waffen gekauft - italienische Berettas, 9-mmParabellum-Pistolen, Brownings Kaliber 7,65 oder belgische Her. Professionelle Schmugglerbanden transportieren diese dann in die Türkei. Yusuf Öztürk hält sich für clever genug, den Rauschgift-Fahndern nicht in die Hände zu fallen. Er prägt sich genau ein, was ihm Yalcuk für den Aufenthalt in Westberlin aufträgt. Eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung und auch eine Wohnung werde er in den nächsten Tagen erhalten. Er solle sich unbedingt und sofort Zugang zu türkischen Arbeitern in Kreuzberg verschaffen und dort Einfluß gewinnen, vor allem unter national und religiös gesinnten Arbeitern, die gewerkschaftlich aktiv sind. Er müsse helfen, den Einfluß der türkischen Kommunisten in den Gewerkschaften zu brechen. Yalcuk nennt Namen, die sich Öztürk nicht alle merken kann. Mehrfach wird er auf den Türkischen Demokratischen Arbeiterverein und auf Celalettin Kesim hingewiesen. Deshalb prägt er sich diese Namen besonders, gut ein. Er solle auch Verbindung zur Mevlana-Moschee aufnehmen. Dort treffe er seine Kameraden von den »Grauen Wölfen«, an die er sich halten solle. Sie erwarteten ihn bereits. Wortreich entläßt der NachtclubBesitzer seinen Besucher, der jetzt ohne Begleitung den Raum verlassen darf und sich vornimmt, an der Bar den verdienten Einstand zu feiern. In den nächsten Wochen und Monaten will er, Yusuf Öztürk, in Westberlin zeigen, was er in dem türkischen Camp bei Adana gelernt hat. Vor den Schaufenstern von »Kaisers Supermarkt« in der Reichenberger Straße 192 drängen sich die Leute. Die Auslagen werben mit marktschreierischer Reklame kaufwillige Kunden für den Sommerschlußverkauf. Im Widerspruch dazu macht ein »Kampfsportclub« mit großen Lettern an den Fenstern darüber für JiuJitsu, Karate und Judo aufmerksam. Nur Eingeweihte wissen, daß sich in der ersten Etage des
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einkaufsgünstig am Kottbusser Tor gelegenen Bürgerhauses ein islamisches Gebetshaus befindet, die Mevlana-Moschee. Der museumsähnliche Saal - dürftig, aber liebevoll dem türkischen Heiligtum in Kloster Konya nachgestaltet - ist mit Teppichen, Gewändern, Betkränzen, Musikinstrumenten, Büchern und anderen religiösen Gegenständen ausgestattet. Die Gläubigen - Männer, in schwarze Schals vermummte Frauen und Kinder - stehen mit geschlossenen Augen, stumm oder inbrünstig Koranverse murmelnd, vor einem Altar, einige mit ausgebreiteten Händen, die Innenflächen dem Allerheiligsten zugewandt. Aus der vorderen Reihe der Gläubigen löst sich Yusuf Öztürk und verschwindet unauffällig durch eine Seitentür in einem Nebenraum. Hier wird er bereits von mehreren Männern erwartet. Sie stellen ihm einen Gast vor. Er sei ein Kurier aus der Zentrale in Ankara, wird ihm gesagt. Öztürk erinnert sich, daß er dem Mann schon einmal begegnet ist. Ja, jetzt weiß er es wieder, er gehörte zur Begleitung des Generals Ünlütürk damals im Camp bei Adana. Die Anwesenden hier begegnen ihm mit großem Respekt, der jedoch mehr seinem eigentlichen Auftraggeber, dem Führer Türkes, gilt. Öztürk wird aufgefordert zu berichten, wie er mit seiner Arbeit in Westberlin vorankomme. Das ist schnell gesagt. Bisher läuft alles so, wie es vorausgesagt wurde. Der Job im Hotel sei gut; das ständige Kommen und Gehen dort erleichtere ihm seinen eigentlichen Auftrag. Die anderen Männer am Tisch bestätigen seinen Fleiß und seine Geschicklichkeit. »Er ist ein Gewinn für uns, Allah sei Dank!« sagt Ahmet Yalcuk. Der Kurier nickt zwar anerkennend, ist aber offensichtlich noch nicht ganz zufrieden. »Das genügt noch nicht!« sagt er etwas ungehalten. »Die anderen schlafen auch nicht gerade. Nach unseren Informationen wird Westberlin immer mehr zum Tummelplatz der Kommunisten. Das muß endlich aufhören!« Seine Stimme nimmt jetzt einen beschwörenden Klang an. »Ihr wißt doch, daß sich die politische Situation in der Türkei zuspitzt. Die Regierung Ecevit ist nicht mehr Herr der Lage, ihre Tage sind gezählt. Die Militärs werden nicht mehr länger zuschauen, wie das Land zugrunde geht und eine Beute der Kommunisten wird. Und dann sind wir an der Reihe, denn mit den
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Militärs schlägt auch unsere Stunde. Darauf müssen wir vorbereitet sein, auch im Ausland.« Er wendet sich jetzt Öztürk direkt zu. »Von Westeuropa, aber ganz besonders von hier, gehen zu viele Störungen aus. Linke Elemente und ihre Presse hetzen verstärkt gegen unsere Nationale Bewegung und deren führende Männer in der Türkei; sie untergraben unseren guten Ruf bei den westeuropäischen Verbündeten und säen Mißtrauen in unsere politischen Absichten. Das muß aufhören.« Die Versammelten eindringlich ansehend, kommt er endlich zu seinem eigentlichen Auftrag. »Unsere politische Tätigkeit im Ausland muß schnellstens aktiviert werden. Man muß in der Öffentlichkeit Verständnis für unsere Sache schaffen und allen klarmachen, daß es zwischen unserer Bewegung und den westeuropäischen Interessen keine Gegensätze gibt. Das Gerede von der Demokratie ist überflüssig und nur etwas für Leute mit schwachen Nerven.« Drohend hebt er seine Stimme: »Wer dabei nicht mit uns ist, ist gegen uns und muß deshalb ausgeschaltet werden, mit allen Mitteln und aller Konsequenz!« Abschließend teilt er in knappen Worten mit, daß Türkes in Westberlin mit den wichtigsten MHP-Führern zusammenkommen und mit ihnen über die Auslandspropaganda sprechen wolle. Das Treffen müsse geheim bleiben, um nicht die Kommunisten auf den Plan zu rufen. Es solle im Europa-Hotel, in dem Öztürk arbeitet, stattfinden und von ihm sorgfältig vorbereitet werden. Wenn alles gut ginge, sei auch an eine öffentliche politische Kundgebung für die nationale Sache der Türkei gedacht. »So wie im vergangenen Jahr, als der Führer schon einmal in der Stadt war. Das war ein toller Erfolg für uns«, sagt Yalcuk begeistert. Alle wissen, was er meint - das Auftreten Alpaslan Türkes am 28. Oktober 1978 in der »Neuen Welt« anläßlich des 55. Jahrestages der Gründung der türkischen Republik. Bereits vier Stunden vor seinem Eintreffen versammelten sich seine Anhänger auf dem Platz in der Hasenheide. Frenetischer Beifall empfing Türkes, als er um 16.00 Uhr in einem grauen Mercedes vorfuhr und sich unter strengen Schutzmaßnahmen mit Hilfe seiner Leibwache einen Weg in den Saal bahnte. Die fanatisierte Menge - über 2000 mochten es gewesen sein -
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rief immer wieder: »Basbug Türkes, Basbug Türkes!« Der »Führer« genoß den Empfang, der ihm bereitet wurde, und ließ sich wie ein Imperator feiern. Er hatte auch Grund, sich über das Schauspiel zu freuen, denn fast die ganze MHP-Führungsspitze aus der Türkei und der BRD war ihm zu Ehren erschienen. So auch Gün Sazak, ehemaliger Minister der konservativen DemirelRegierung und als stellvertretender MHP-Vorsitzender Organisator der »Grauen Wölfe« in der Türkei, und Lokman Kondakei, Chef des europäischen Dachverbandes Türk Federasyonu. Aber auch Westberliner CDU-Prominenz war anwesend - der Schöneberger Abgeordnete Ulrich Brinsa, der Charlottenburger Bezirksbürgermeister Eckehard Lindemann und der Steglitzer Fraktionsvorsitzende Hans-Joachim Lange. Sazak begrüßte sie mit Handschlag und den Worten: »Sie glauben genauso wie wir an Gott. Unsere Religionen sind verschieden, unsere Feinde sind die gleichen.« Eingeladen hatte dazu auch die Berlin Türk Ocagi (Türkische Gemeinschaft e. V. Berlin) - Sitz in der Wienerstr. 19 in Kreuzberg -, eine der Tarnorganisationen der »Grauen Wölfe« in der Stadt. Als sich die Hochrufe gelegt hatten, begann Türkes seine nationalistisch-demagogische Rede. Er gab sich als Beschützer des Islam und der türkischen Ehre. Dann griff er die gegenwärtige sozialdemokratische Ecevit-Regierung an und verunglimpfte den Regierungschef als eine »Marionette der Kommunisten«, der seine Befehle unmittelbar von der Türkischen Kommunistischen Partei (TKP) erhalte. »Wir werden die kommunistischen Hunde zerschmettern«, rief er, »den letzten Staat der Türken werden wir nicht den Kommunisten überlassen.« Sein Kampf gelte dem Schicksal der türkischen Nation. Unter dem rasenden Beifall seiner Anhänger hob Türkes am Schluß seiner Rede den rechten Arm zum Hitlergruß und verließ, geschützt durch den eine Kette bildenden Ordnungsdienst der »Grauen Wölfe«, die Versammlungsstätte. Vom Hermannplatz kommend, war eine antifaschistische Gegendemonstration zur »Neuen Welt« gezogen und hatte die Forderung nach dem Verbot der faschistischen Veranstaltung erhoben. Die Rufe »Mörder Türkes, raus aus Berlin« wurden von der Türkes-
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Gefolgschaft, die in der Überzahl war, regelrecht niedergebrüllt. Ein übriges tat die Westberliner Polizei, die für die Türkes-Sympathisanten Partei ergriff. Die Westberliner Offiziellen verschanzten sich danach hinter fadenscheinigen Erklärungen und deckten das Auftreten der Rechtsextremisten in der Stadt. Der Innensenator ignorierte die eingegangenen Proteste und konnte sich nicht dazu entschließen, das weitere Auftreten von Türkes in Westberlin zu verbieten. Er ließ verlautbaren, daß es »für ein Verbot nach dem Versammlungsgesetz keine rechtliche Handhabe gibt, da die Veranstaltung im geschlossenen Raum stattfindet«. Unterstützt werden die türkischen Rechtsradikalen auch von den Neonazis in der BRD, so von dem besonders militanten Flügel der Aktionsfront Nationaler Sozialisten (ANS) um den ehemaligen Bundeswehrleutnant Michael Kühnen. Auf die Frage einer Journalistin zur Zusammenarbeit mit den »Grauen Wölfen« antwortete der ANSChef: »Wir haben zu allen entsprechenden Organisationen im In- und Ausland sehr gute Kontakte. Wir kennen die Leute - wir achten sie. Die >Grauen Wölfe< sind praktisch eine Art Entsprechung, wenn auch auf der nationalen Tradition in der Türkei, und wir haben große Sympathie für ihre Zielsetzung.« Auch zu der inzwischen verbotenen »Wehrsportgruppe Hoffmann« in Süddeutschland bestanden enge Kontakte. Die »Grauen Wölfe« interessierten sich für das Pamphlet des Neonazis Hoffmann »Anleitung zur Gründung und Ausbildung von Zellen« und wollten es als Schulungsmaterial ins Türkische übersetzen lassen. Die »Grauen Wölfe« streben darüber hinaus nach enger Zusammenarbeit mit den neofaschistischen Organisationen in Westeuropa und werben zielstrebig für eine internationale Allianz aller Rechtsradikalen. Ihre Verbindungen gehen nach Italien, Frankreich, England, Belgien und in die Niederlande; verwiesen sei hier nur auf die französische Organisation Ordre Nouvou. In Westberlin laufen die Fäden der türkischen rechtsextremistischen Organisation in der Mevlana-Moschee zusammen. Die religiösen Gefühle gläubiger Türken - zumeist bäuerlicher Herkunft - werden
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häufig politisch mißbraucht. Nicht selten wird Zwietracht zwischen Türken und Deutschen gesät und damit nationalistischen Ressentiments und religiöser Intoleranz Vorschub geleistet. Der ehrenwerte Großimam dieser Moschee, Nail Dural, hat keine Mühe, allein die monatlichen Mietkosten in Höhe von 9000 Mark aufzubringen. Die Spendenaufkommen der türkischen Gläubigen dürften dafür nicht ausreichen. Großindustrielle, die Furcht vor politischen Reformen haben, Waffen-Schmuggel, Rauschgifthandel und »Schutzgelder«, die von türkischen Gaststättenbesitzern und Händlern erpreßt werden, sind trächtige Finanzierungsquellen. Es ist bekannt, daß erhebliche Summen auch von der CIA stammen. Neben der Mevlana-Moschee gibt es in Westberlin über 20 Moscheen verschiedener islamischer Sekten; hinzu kommen eine Reihe von Koranschulen und sogenannte Islamische Kulturzentren. Im Gewand religiöskultureller Traditionspflege wirken darin auch türkische Eiferer mehr oder weniger offen für nationalistisch-chauvinistische Ziele und predigen das Cihat Cagri - den »Heiligen Krieg«. Aber über all diese Bindungen und Beziehungen wurde bei dem Treffen in der Mevlana-Moschee nicht gesprochen. Der Kurier ergreift wieder das Wort und fordert eindringlich von Öztürk, beim bevorstehenden Besuch von Türkes in Westberlin alles zu unternehmen, um Störungen durch die Linken wie damals in der Hasenheide rigoros zu verhindern. »Derartige Zwischenfälle können wir zum jetzigen Zeitpunkt in der Öffentlichkeit nicht gebrauchen. Ich hoffe, ihr habt die Sache dieses Mal besser im Griff. Deshalb müßt ihr schon vorher die kommunistischen Rädelsführer ausschalten. Was ist mit diesem Kesim? Der hat doch damals die Krawalle inszeniert.« Seine Stimme wird zornig. »Um diesen Burschen kümmert euch besonders. Dem muß man das Maul für immer stopfen. Ihr müßt jeden seiner Schritte beobachten und ihm eine Falle stellen, aus der er nicht mehr entkommen kann. Einfach ein bedauernswerter kleiner politischer Zwischenfall, wie er immer und überall passiert!« Und direkt an Öztürk gewandt: »Aber sei vorsichtig dabei und halte dich vor allem im Hintergrund. Du darfst nicht auffallen, wir brauchen dich hier noch länger.«
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Öztürk fühlt sich geschmeichelt und beeilt sich zu sagen: »Die Sache wird schon laufen. Es ist uns gelungen, einen zuverlässigen Mann bei Kesim einzuschleusen, der uns über seine wichtigsten politischen Vorhaben rechtzeitig informiert. Die Falle wird bald zuschnappen, darauf könnt ihr euch verlassen.« Damit ist der Kurier zufrieden, und die Zusammenkunft wird beendet. Der junge Mann, der an jenem feuchtkalten Novembernachmittag des Jahres 1979 durch die Westberliner Straßen geht, hat es eilig, nach Hause zu kommen. Celalettin Kesim wohnt im Bezirk Kreuzberg, einem sanierungsbedürftigen Altbaugebiet zwischen den U-BahnStationen Hallesches und Schlesisches Tor. In den alten Mietskasernen mit häßlichen Fassaden und düsteren Hinterhöfen aus der Gründerzeit, in denen kaum noch Leben zu vermuten ist, hausen viele seiner türkischen Landsleute - Gastarbeiter wie er. In den 60er Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs als billige, willige Arbeitskräfte in die BRD und nach Westberlin gelockt, hatten sie an den großen Traum vom sozialen Glück und Wohlstand im »Wirtschaftswunderland« geglaubt und waren voller Hoffnung hierhergekommen. Allein in Westberlin mögen es 100 000 Türken sein, die in den baufälligen Häuserblocks von Neukölln, Schöneberg und Wedding wohnen, die meisten aber leben in Kreuzberg. Jetzt, in den schweren Zeiten der Wirtschaftskrise, müssen sie zufrieden sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Viele, inzwischen arbeitslos geworden, vegetieren in Elendsquartieren und können kaum das Geld für die hohen Mieten aufbringen. Sie sind immer Fremde in dieser Stadt geblieben. Viele Kreuzberger sind von ihrem Kietz, wie sie ihn nannten, in andere Stadtbezirke verzogen, und mit den Übriggebliebenen versteht man sich mehr schlecht als recht. Die Fälle von Ausländerfeindlichkeit häufen sich. Die abfällig gebrauchten Bezeichnungen wie »Kleen Smyrna« oder »Türken-Ghetto« drücken zwar in gewissem Sinne etwas durchaus Zutreffendes aus, werden aber den tatsächlichen sozialen Hintergründen nicht gerecht. Es ist nicht zu übersehen - der Kietz hat sich orientalisiert.
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Die kleinen »Tante-Emma-Läden«, längst von ihren deutschen Besitzern aufgegeben, haben ihr Gesicht gewandelt. Die türkischen Händler bieten in den Schaufenstern die begehrten landeseigenen Produkte wie Hammelfleisch, Hirse, Sesam und Reis feil. Davor stapeln sich die Kisten mit dem für ein türkisches Gericht unentbehrlichen Obst und Gemüse - Wassermelonen, Wein, Orangen, Zitronen und Feigen. Aus einem türkischen Speiselokal, an dem Kesim vorübergeht, dringt ihm der würzige Bratenduft von Hammelfleisch entgegen, das sich an Spießen im Infrarotgrill dreht. Und er freut sich schon jetzt auf das heimatliche, von seiner Frau vorzüglich zubereitete Essen, das ihn am Abend erwartet und zu dem sie Gäste aus dem engsten Freundeskreis eingeladen haben. Bis dahin aber gibt es noch einiges zu tun, deshalb beschleunigt Kesim seine Schritte. Die kleine Wohnung der Kesims ist erfüllt von freundlich-lebhaftem Stimmengewirr. Askin Erdemif, Gazel Yemes, Rysa Yrmakly und die anderen Besucher haben sich ganz zwanglos auf Stühlen, Matratzen und Bastmatten niedergelassen. Fast alle sind Mitglieder des Türkischen Demokratischen Arbeitervereins, der sich für die politischen und sozialen Forderungen der türkischen Landsleute in Westberlin und in der BRD einsetzt. Sie essen die schmackhaften Speisen, die herumgereicht werden. Es gibt ein beliebtes türkisches Nationalgericht: Reis mit dem köstlichen Schich-Kebab - kleine, auf Spießchen aneinandergereihte Stücke zarten, gebratenen Hammelfleisches, dem kaukasischen Schaschlik ähnlich, und dazu Auberginen mit Fladenbrot, Tomaten und Gurkensalat, und selbstverständlich fehlen auch Getränke nicht. Die Gastgeberin, Frau Sevim Kesim, freut sich, daß es allen schmeckt. Die etwas langsamen, schwerfälligen Bewegungen der ansonsten zartgliedrigen, schwarzhaarigen Frau verraten, daß es nur noch wenige Wochen dauern wird bis zur Geburt ihres zweiten Kindes. Sie wünschen sich ein Mädchen, es soll Leyla heißen. Wird es ein Junge, wollen sie ihn Can nennen. Frau Kesims liebevoller Blick streift den siebenjährigen Sohn Özgür, der stolz neben seinem Vater sitzt und versucht, den ausgelassenen Gesprächen der Erwachsenen zu folgen. Wenn er auch nicht alles versteht, so begreift er doch, daß es für den
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Vater ein freudiger Anlaß ist, den sie mit Freunden zusammen feiern. Lange ist von einem Brief die Rede. Celalettin hat ein Schreiben vom Stadtbezirksamt erhalten, in dem seiner schon lange beantragten Neueinstellung als Berufsschullehrer zugestimmt wird. Er habe nur noch zur Erledigung einiger Formalitäten in den nächsten Tagen bei der Behörde vorzusprechen. Als er vor zehn Jahren hierherkam, war an eine Tätigkeit in seinem Lehrerberuf vorerst nicht zu denken. Er hat die deutsche Sprache erlernt und einfache Jobs als Lagerarbeiter und bei der Stadtreinigung angenommen. Erst als es ihm im Jahre 1973 gelungen war, als Dreher bei der Firma Borsig anzukommen, konnte er seine Frau Sevim nachkommen lassen. Nur wenigen türkischen Gastarbeitern ist in der BRD oder in Westberlin ein solch beruflicher Aufstieg vergönnt, aber alle Anwesenden freuen sich mit Celalettin und seiner Familie. Özgür ist, zumindest nach der Geburtsurkunde, ein waschechter Berliner Junge. Den Kindern soll es einmal besser gehen, hier oder später in der Türkei, wenn sich dort die Verhältnisse gebessert haben, wünscht sich Celalettin und wirft seiner Frau, die gerade mit einem Tablett das Zimmer betritt, einen fragenden Blick zu. Mache dir keine Sorgen um mich und kümmere dich weiter um unsere Gäste, ich schaffe das schon, liest er aus ihrem Lächeln ab. Trotz der Ausgelassenheit seiner Gäste erfaßt Kesim eine wachsende Unruhe, die er jedoch verbergen kann. Es ist bereits spät geworden, und er ist in Sorge um Bülent Gündogdu, der bei seiner sprichwörtlichen Pünktlichkeit längst hier sein müßte. Bülent, ein guter Freund und verläßlicher politischer Mitstreiter, ist im Sommer auf offener Straße von den »Grauen Wölfen« überfallen und übel zugerichtet worden. Erst in der vergangenen Woche hat er - zum wiederholten Male - einen Drohbrief erhalten. Das Gespräch in der Wohnung der Kesims wendet sich einem Thema zu, das alle bewegt - der Heimat. Rysa hat einen Brief von den Eltern aus der Türkei erhalten. Sie schreiben von zunehmenden politischen Unruhen, vom Terror der Rechtsradikalen im Lande. Das ist das Stichwort für Kesim, sich einzuschalten. »Wir sollten etwas dagegen unternehmen, die Menschen hier wissen zuwenig über die tatsächlichen Vorgänge in unserer Heimat, sie werden von der
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Boulevardpresse und den türkischen nationalistischen Blättern falsch informiert.« »Aber was sollen wir tun?« kommt sofort die Gegenfrage. »Es besteht die dringende Gefahr, daß die reaktionären Militärs die unsichere politische Lage ausnutzen und unter dem Vorwand, das Land vor dem Chaos zu retten, einen Putsch inszenieren und die Macht an sich reißen«, nimmt Kesim wieder das Wort. »Der Ruf nach dem >starken Mann<, der den politischen Wirren und dem Unvermögen der Parteien ein Ende bereitet, wird immer lauter. Der einfache Mann auf der Straße merkt nicht, daß er das Opfer einer geschickten politischen Manipulation der Rechten wird. Diejenigen, die am lautesten nach >Ruhe und Ordnung< schreien, bereiten den Nährboden für einen politischen Umsturz vor, mit dem auch die letzten Reste von Demokratie beseitigt werden sollen. Das ist dann die Stunde der TürkesBewegung. Darüber müssen wir mit unseren Leuten reden, in den Versammlungen und wo immer wir dazu Gelegenheit haben.« »Nicht nur reden, handeln müssen wir, eine Protestdemonstration organisieren und mit Flugblättern dafür werben«, ruft einer dazwischen. Der Vorschlag findet Zustimmung, und Einzelheiten werden besprochen. Man ist sich rasch einig, daß es möglichst bald sein muß spätestens Anfang des kommenden Jahres. Celalettin soll den Text für Flugblätter entwerfen, ein anderer wird sie drucken lassen. Askin Erdemir, der Sekretär des Türkischen Demokratischen Arbeitervereins (TDAV), fügt hinzu: »Bei uns werden sie auch immer dreister. Hier - ein Drohbrief! Dieses Mal gleich an alle, an unseren Verein adressiert.« »Lies vor, Askin!« fordern ihn die anderen auf. Er beginnt: »An die Anhänger des TDAV! Dieses Land, diese Nation werden wir bis zum letzten Blutstropfen gegen Eure allseitigen Angriffe verteidigen. Dafür haben wir dem türkischen Volk unser Versprechen gegeben. Ihr verkauften, gottlosen Roten! Falls in Westdeutschland und in Berlin solche provokatorischen Flugblätter weiter verteilt werden« »damit meinen sie unsere Flugblattaktion vor vier Wochen«, ergänzt Askin und fährt dann fort - »werden wir in die Häuser der Roten Bomben legen. Wir werden unseren Kampf mit schärfsten Methoden
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weiterführen und Euch Roten zur Strecke bringen. In Kürze werdet Ihr von uns hören, Ihr gottlosen Kommunisten! Mit der Kraft, die Allah uns verleiht, werden wir an die Sache gehen und Euch auf den richtigen Weg bringen, oder wir werden Eure Leichen auf die Straße schleppen. Das ist unser gutes Recht! Ihr roten Vaterlandsverräter, laßt den falschen Weg, sonst wissen wir nicht, wie Euer Ende aussieht! Das ist die erste und letzte Warnung! Unterzeichnet ist das Pamphlet mit >Friedenskommando der Freien Türken<.« Als Askin zu Ende ist, reden alle empört durcheinander. Sie wissen, solche Drohungen sind nicht zu unterschätzen. Alle haben von dem Massaker in der osttürkischen Stadt Kahramanmaras erfahren, bei dem über 100 Menschen getötet und Tausende verletzt wurden. Mit Rufen wie »Tod den Kommunisten« und »Keine islamische Beisetzung für Kommunisten« überfielen reaktionäre Banden einen Trauerzug für zwei Tage vorher ermordete fortschrittliche Lehrer und griffen ihn mit Gewehren, Schlagstöcken, Messern und Dolchen an. Danach zogen Gruppen der »Grauen Wölfe« in verschiedene Wohnviertel der Stadt, drangen in die Wohnungen progressiver Bürger ein und erschossen, ohne Rücksicht auf Alte, Frauen und Kinder, sämtliche Familienangehörigen. Bei dem politischen Pogrom wurden Geschäfte und Gebäude von Anhängern fortschrittlicher Organisationen beispielsweise der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der Gewerkschaften - geplündert, verwüstet und in Brand gesteckt. Gazel Yemez will dieses Thema beenden und richtet das Wort an Celalettin. »He, was ist mit dir? Kandidierst du bei den nächsten Betriebsratswahlen wieder bei Borsig?« Die meisten sind Arbeitskollegen, aktive Mitglieder der IG-Metall, und Kesim gehört zum Betriebsrat. Sie ermuntern ihn, daß er als künftiger Berufsschullehrer bei Borsig auch weiterhin für den Betriebsrat kandidieren könne. Sie rechnen fest damit, ja, sie brauchen ihn, denn die »Grauen Wölfe« versuchen, auch in die Gewerkschaften einzudringen. Bei den letzten Betriebsratswahlen war es zu einem ernsthaften Zwischenfall gekommen. Rechtsorientierte türkische Belegschaftsangehörige hatten einige Betriebsfremde, Mitglieder der
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»Grauen Wölfe«, in die Versammlung eingeschleust. Als Akgül, der Versammlungsleiter, vom Präsidium aus die türkischen Kandidaten für den neu zu wählenden Betriebsrat benannte und auch den Namen Celalettin Kesim aussprach, war es zu tumultartigen Szenen gekommen. Mit lauten, verleumderischen Zwischenrufen, begleitet von heftigen Drohgebärden, versuchten sie die Kandidatur Kesims zu verhindern. Die Versammlung drohte zu platzen, bevor sie richtig begonnen hatte. Akgül gelang es schließlich, die Ruhe wiederherzustellen, so daß die Veranstaltung weitergehen konnte. Kesim hatte sich erhoben und sagte ruhig, aber bestimmt: »Laßt euch nicht von ein paar Provokateuren ablenken, denen an echter Gewerkschaftsarbeit nichts liegt. Wir wollen darüber beraten, wie wir am besten zusammen mit unseren deutschen Kollegen die Arbeitsplätze sichern können, die in Gefahr sind. Wir werden die ersten sein, denen die blauen Briefe ins Haus flattern und die ...« Der Rest seiner Rede ging unter im wütenden Gejohle der Krakeeler. Einer, der sich zum Wortführer gemacht hatte, drängte sich nach vorn und schrie: »Wir wissen, wer du bist, Kesim, ein Ungläubiger, ein räudiger Kommunistenhund, der seine Glaubensbrüder an Moskau verraten hat.« Und ein anderer, ihm sekundierend: »Wir wollen dich und deine roten Kumpane nicht, Kesim! Was hast du bisher getan für uns? Noch immer müssen wir die schlechtesten Arbeiten verrichten, die deine deutschen Freunde nicht mögen, und wir verdienen auch weniger. Wir wollen mohammedanische Vertreter wählen und keine Kommunisten.« »Ja, wir wollen eigene Kandidaten, eine eigene Liste«, pflichtete ihm ein anderer lauthals bei. »Für Türken und Mohammedaner können nur Türken und Mohammedaner etwas tun. Oder wir gehen raus aus der IGMetall.« »Und wohin willst du gehen?« rief ein anderer dazwischen, »etwa zu den christlichen Gewerkschaften, dem Christlichen Metallarbeiterverband, die um euch buhlen? Wie wollt ihr das mit eurem Glauben vereinbaren?« Die Meinungen prallten hart aufeinander. Wie auf Bestellung wirbelten plötzlich Flugblätter mit antikommunistischer Propaganda
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durch den Raum. Der Tumult wurde immer größer, und Tätlichkeiten schienen unvermeidbar. Das war genau das, was die Eindringlinge wollten - ein Klima der Gewalt, das wirkliche Demokratie unmöglich macht und die Voraussetzungen für die Wahl rechtsradikaler Kandidaten in den Betriebsrat schafft. »Gebt endlich Ruhe, laßt den Versammlungsleiter wieder zu Wort kommen!« hatten einige besonnene türkische Arbeiter aus den vorderen Reihen gerufen. Akgül, nicht gewillt, die Versammlung stören zu lassen, gelang es wieder, sich vom Präsidiumstisch aus Gehör zu verschaffen. »Ihr alle kennt Kesim lange genug, um zu wissen, daß er sich immer für eure Belange eingesetzt hat. Er ist einer von euch, euer Vertrauensmann, dem ihr eure Stimme für den Betriebsrat ohne Bedenken geben könnt. Oder habt ihr einen besseren Vorschlag? Dann nennt ihn, aber überlegt gut, ob ihr einen würdigeren Mann als ihn findet. Vergeßt nicht, daß er es war, der bei der Betriebsleitung eure weitgehende sozialrechtliche Gleichstellung erreicht hat, dem ihr die Arbeitszeitverkürzung zu verdanken habt, um an den Reisewochenenden länger bei euren Familien in der Türkei bleiben zu können. Und schlägt er sich nicht oft genug mit den bürokratischen Behörden herum, um denen zu helfen, die ihre Frauen und Kinder nachholen wollen? Oder habt ihr vergessen, wie er sich für eure gesellschaftliche Eingliederung, für den ordentlichen Schulbesuch und die Berufsausbildung eurer Kinder einsetzt? Gewiß bleibt da noch viel zu tun, aber wer könnte das besser als er?« Während Akgül sprach, war Stille eingetreten. Wieder stand Kesim auf. »Landsleute«, rief er den Versammelten zu, »das Wichtigste, um unsere demokratischen Rechte zu erlangen, ist Einigkeit, einheitliches Auftreten und Handeln und kein politischer oder religiöser Bruderzwist, so wie es einige hier wollen. Ich sehe fremde Gesichter unter uns, Leute, die nicht mit uns an den Werkbänken stehen, die aber Zwietracht säen. Erteilt ihnen die gebührende Abfuhr.« Dann fragte Akgül: »Gibt es noch weitere Vorschläge für den Betriebsrat?« Aus dem Kreis der Unruhestifter wurden zwei Namen gerufen. »Gut«, sagte der Versammlungsleiter, »wenn es gewünscht wird,
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werden wir über sie abstimmen, aber stimmberechtigt sind nur die Angehörigen unseres Betriebes.« Die folgende Abstimmung bestätigte Celalettin Kesim als Kandidat der türkischen Arbeiter für den Betriebsrat der Firma Borsig. Als danach Kesim Celalettin seinen Kollegen dankte, schrie einer: »Kesim, du Verräter an der heiligen türkischen Sache, der Strick für dich liegt schon bereit!« Dann verließ er wutschnaubend mit seinen Gefolgsleuten den Raum. Kesim und seine Kollegen wußten, daß das keine leere Drohung war. In Flörsheim war der Betriebsratsvorsitzende der Keramag-AG kürzlich nur um Haaresbreite einem Mordanschlag durch den »Grauen Wolf« Ahmet Mithat entgangen. Dieser türkische Faschist hatte gedroht, zu den Betriebsratswahlen eine Gegenliste aufzustellen und mit betriebsfremden Gesinnungsgenossen in die Gewerkschaftsversammlung einzudringen. Diese Absichten konnten mit Unterstützung der deutschen Kollegen verhindert werden, und die Werkleitung mußte auf Druck der Belegschaft Ahmet Mithat fristlos kündigen. An einem der folgenden Tage lauerte Mithat dem Betriebsratsvorsitzenden auf, verfolgte dessen Auto, versuchte es zu stoppen und ihn umzubringen. Nur glücklichen Umständen war es zu verdanken, daß der Mordplan mißlang. An diesem Tage bei Borsig hatten Kesim und seine Freunde gesiegt, und die Mitglieder der »Grauen Wölfe« mußten abziehen, ohne ihr Ziel erreicht zu haben, aber sie würden nicht aufgeben, die Drohung blieb bestehen. Celalettin, dem diese Vorfälle noch in bester Erinnerung sind, wendet sich Gazel zu und antwortet auf dessen Frage: »Keine Sorge, ich lasse euch nicht im Stich, ihr könnt weiter mit mir rechnen bei den nächsten Betriebsratswahlen bei Borsig.« Plötzlich verstummen die Gespräche, und die Blicke aller richten sich zur Tür, an der Bülent Gündogdu steht, das karierte Hemd zerrissen, das Gesicht verquollen und blutverschmiert. Von den Plätzen aufspringend, bestürmen sie ihn mit Fragen. »Was ist passiert?« Bülent schüttelt nur hilflos den Kopf und sieht sie aus stumpfen
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Augen an, als könne er sie nicht verstehen. »Seht ihr nicht, daß er nicht sprechen kann?« unterbricht Frau Sevim Kesim, die hinzugetreten ist und als erste wieder die Fassung gewinnt. Sie bringen den Verletzten in die Küche und helfen ihr, ihn zu säubern und die Wunden zu behandeln. Es dauert ein Weilchen, bis Bülent sich wieder erholt hat und erzählen kann, was geschehen ist. Anfangs noch stockend, aber langsam sicherer werdend, schildert er, was vorgefallen ist. »Ich war gerade auf dem Weg zu euch, mit der UBahn in Richtung Kreuzberg. Wie immer um diese Zeit, war die Bahn ziemlich voll. Ich stand vorn und konnte den Wagen gut übersehen. Am Hermannplatz in Neukölln nahm ich flüchtig drei Landsleute wahr, die sich noch kurz vor Abfahrt des Zuges durch die Mitteltür hineingezwängt hatten. Einer von ihnen war ein stämmiger, untersetzter Bursche, der sich beim Einsteigen umschaute - dabei trafen sich unsere Blicke kurz. Unter den vielen türkischen Fahrgästen fielen die drei zunächst überhaupt nicht auf. Flüchtig kam mir der Gedanke, dem einen vor kurzem begegnet zu sein, aber ich konnte mich auch täuschen. Kaum hatte der Zug den Bahnhof verlassen, da stürzten die drei durch den Mittelgang, die anderen Leute rücksichtslos beiseite stoßend, direkt auf mich zu. Der Stämmige, offenbar der Anführer, schrie mit hysterischer, sich überschlagender Stimme: Tod den Kommunisten! In dem Augenblick ahnte ich, daß das mir galt, sah aber in dem fahrenden Zug keine Möglichkeit zu entkommen. Und außerdem ging das alles blitzschnell. Sie fielen über mich her und schlugen wie besessen mit den Fäusten auf mich ein. Nach einem Kopfhieb stürzte ich gegen die Tür und dann zu Boden, wo sie mit den Füßen auf mich eintraten und mich dabei bespuckten. Vor Schmerzen schwanden mir fast die Sinne. Wie aus weiter Ferne hörte ich sie kreischen: Wir werden dich umbringen! »Und die anderen Fahrgäste, haben sie nicht eingegriffen und dir geholfen?« fragt einer dazwischen. »Nein, niemand«, antwortet Bülent. »Sie hatten Angst, die Türken und die Deutschen. Panikartig drängten alle von den Rowdys weg ins Wageninnere. Die türkischen Fahrgäste wußten sofort, daß die Schläger >Graue Wölfe< waren, und auch die Deutschen wollten sich da nicht
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einmischen.« »Ja, so ist das meistens in solchen Fällen«, sagt einer aus der Runde resignierend. »Und wie ging es weiter?« »Ich befand mich dicht an der Tür, und es gelang mir schließlich, mich aufzuraffen und an der Haltestelle Kottbusser Tor den Schlägern zu entkommen und mich hierher zu schleppen.« »Dein Leben verdankst du nur dem Umstand, daß es in dem U-BahnWagen zu viele Zeugen gab. Sonst hätten sie dich totgeschlagen. Hast du vielleicht einen dieser Banditen erkannt?« »Nein, keinen, aber ich kann sie beschreiben, ihre Visagen haben sich mir fest eingeprägt«, antwortet Bülent erregt. Niemand der Anwesenden zweifelt daran, daß es sich bei dem feigen Mordanschlag um die Tat der »Grauen Wölfe« handelte. Doch was kann man gegen das feige Gesindel tun? »Wir werden die Polizei verständigen«, schlägt Kesim vor, »sie müssen die Täter ausfindig machen und bestrafen.« Nur wenige Minuten, nachdem er telefoniert hat, erscheint ein Funkstreifenwagen. Sie schildern den Polizeibeamten, was vorgefallen ist. Ein Oberwachtmeister fordert Gündogdu auf, zum nächsten Polizeirevier mitzukommen und dort die Aussage zu Protokoll zu geben. Als Kesim den noch immer schwachen Freund begleiten will, wird das abgelehnt. Ob er bei dem Vorfall dabeigewesen sei, will man von ihm wissen, ansonsten habe er auf dem Revier nichts zu suchen. Erst kurz vor Mitternacht - die Freunde haben auf Bülent gewartet kehrt er müde und abgespannt zurück. »Sie haben mich behandelt, als sei ich der Verbrecher und nicht das Opfer des gemeinen Überfalls«, erzählt er empört. »Auf der Polizeiwache haben sie mich verhört, fotografiert und meine Fingerabdrücke abgenommen. Danach fuhren sie mich zum Sitz des Westberliner Staatsschutzes, Tempelhofer Damm 3. Dem Beamten mußte ich noch einmal alles ganz genau erzählen, und die Fragerei ging von neuem los. Als ich ihm erklärte, daß die Täter nur unter den >Grauen Wölfen< zu suchen seien, lachte er spöttisch und sagte: >Graue Wölfe Hier bei uns in Berlin? Vielleicht in den türkischen Bergen. Das sind Hirngespinste, Behauptungen, junger Mann. Nichts als türkisches Extremistengezänk! Damit war der Fall für
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ihn abgeschlossen, und er ließ mich wieder gehen.« Für den Rest der Nacht bleibt Bülent Gündogdu bei den Kesims - die anderen begeben sich in ihre Wohnungen. Es ist Samstag, der 5.Januar 1980, kurz vor zehn Uhr. Celalettin Kesim ist auf dem Wege zum vereinbarten Treffpunkt mit seinen Freunden vom Türkischen Demokratischen Arbeiterverein. Die Flugblätter fest an den Körper gepreßt, schlägt er,den Kragen der Lammfelljacke hoch, um sich vor dem Schneeregen zu schützen. Es ist nicht mehr weit, und ihm bleibt Zeit, sich in aller Ruhe umzuschauen und die Umgebung eingehend zu beobachten; eine Vorsichtsmaßnahme, die sich schon mehrfach als zweckmäßig erwiesen hat, denn vor Zwischenfällen sind sie niemals sicher. Vor dem Zeitungskiosk mit den grellbunten, reißerisch aufgemachten Titelfotos der Illustrierten und Magazine verweilt er kurz und liest die Werbung für den Wintertourismus - nichts für ihn, dafür würde das Geld nicht reichen. Aber wenn es mit der Anstellung als Berufsschullehrer klappte, könnte er in diesem Jahr in den Sommerferien mit der Familie in die Türkei reisen und den Eltern den neuen Sprößling vorstellen, auf den sie schon ungeduldig warten. Diese Gedanken, wenn auch nur flüchtig aufkeimend, stimmen ihn froh und optimistisch auf das, was in der nächsten Stunde zu tun ist. Sie wollen, wie kürzlich verabredet, Flugblätter verteilen und damit zu einer Protestdemonstration gegen den drohenden Militärputsch in der Türkei aufrufen; die Öffentlichkeit wachrütteln, informieren über das, was in dem NATO-Staat am Bosporus wirklich geschieht. Das ist ihre Absicht. Celalettin Kesim geht weiter und erreicht nach wenigen Schritten den Platz am Kottbusser Tor, wo ihn einige Kameraden mit lauten Hallorufen begrüßen. »Wie lange wird es heute dauern? Mittags habe ich eine Verabredung, und meine Freundin wartet nicht gern«, sagt Naifa und lächelt dabei vergnügt. »Mußt sie eben mitbringen oder besser erziehen«, wird ihm spöttisch entgegnet. Sie wissen, daß er mit einer türkischen Studentin befreundet ist, die das traditionelle dunkle Kopftuch abgelegt hat. Das spricht für
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ihre moderne, progressive Einstellung. Es gibt noch nicht allzu viele türkische Frauen, die es wagen, mit dieser Sitte zu brechen. Häufig setzen sie sich damit bösartigen Beschimpfungen und Anfeindungen rückständiger Landsleute aus. Die Stimmung ist gut. Kesim schaut sich in der Runde um. »Wenn alle kommen, die zugesagt haben, werden die Flugblätter rasch verteilt sein.« In den umliegenden Straßen wohnen viele Türken. Erfahrungsgemäß ist diese Gegend in den Vormittagsstunden sehr belebt, und die Leute, unterwegs beim Einkaufsbummel, sind recht aufgeschlossen. Inzwischen haben sich etwa 20 Mann eingefunden, die kurz nach 10.00 Uhr mit der Verteilung der Flugblätter beginnen. Sie reichen sie türkischen und deutschen Passanten, die einen kurzen Blick darauf werfen und sie dann in die Tasche stecken. Nur wenige weisen die Zettel zurück oder zerknüllen sie und werfen sie mit giftigen Bemerkungen auf die Straße. Davon lassen sich die Männer jedoch weder beeindrucken noch provozieren. Celalettin Kesim macht seinen Freund Bülent auf eine andere Gruppe junger Türken aufmerksam, die auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ebenfalls Handzettel verteilen und aufdringlich auf die Leute einreden. »Die gehören zu den >Grauen Wölfen<, zwei von denen .kenne ich, die waren damals dabei, als wir auf dem Wochenmarkt am Leopoldplatz die Arbeiterzeitung >Kurtulus< verkauft haben und die uns überfallen haben. Hoffentlich geht es heute ohne Ärger ab.« »Die ziehen sich langsam in Richtung Mevlana-Moschee zurück. Das hat nichts Gutes zu bedeuten«, gibt Bülent zu bedenken. Davon ist auch Celalettin überzeugt. Er mahnt seine Kameraden, die gerade die letzten Flugblätter verteilen, zur Eile und deutet auf die Fenster im ersten Stockwerk der Moschee, hinter denen schemenhaft hin und her huschende Gestalten zu erkennen sind. Es tut sich etwas in den Räumen der islamischen Moschee. Im vergangenen Jahr war es fast an der gleichen Stelle schon einmal zu einem ernsten Zwischenfall gekommen. Aus der Mevlana-Moschee kommend, hatten »Graue Wölfe« türkische Demokraten mit Schlagstöcken, Fahrradketten und langen Messern überfallen, sie durch
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die Straßen verfolgt und einige so brutal mißhandelt, daß sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mußten. Kesim und seine Freunde wollen diesen Schlägern keinen Anlaß bieten und gehen. Sie warten auf Grün, als plötzlich aus der Moschee und den umliegenden Straßen Männer auf sie losstürzen. Es mögen etwa 70 sein, die sich zu einer Kette formieren. Aus einem VW-Bus werden Eisenketten, Holzknüppel, Gerüststangen und Messer gereicht. Einige ziehen Stahlruten und Schlagringe aus den Taschen; einer hat ein Messer als Spieß an die Spitze eines Stockes gebunden. Auf dem Platz brodelt es. Mit Entsetzen sehen Kesim und seine Freunde, was sich da vor ihnen abspielt. Sie sind durchaus nicht ängstlich und schon mehrmals in handfeste Auseinandersetzungen mit »Grauen Wölfen« verwickelt worden. Aber was sich jetzt zusammenbraut, geht weit über das bisherige Maß hinaus. Das ist keineswegs ein zufälliges Aufeinandertreffen politisch gegensätzlicher Gruppen. Das ist organisierter, aufgeputschter faschistischer Mob. Hier soll ein Exempel rohester politischer Gewalt statuiert werden. Auf den heutigen Tag hat Yusuf Öztürk gewartet. Der Überfall geht auf sein Konto, er hat ihn inszeniert. Von einem Mittelsmann hat er von der Flugblattaktion des Türkischen Demokratischen Arbeitervereins erfahren. Und von ihm weiß er auch, daß Celalettin Kesim daran beteiligt ist. Das ist die Gelegenheit, die Falle zuschnappen zu lassen. Öztürk hat alles so organisiert, daß es für Kesim kein Entkommen geben kann. Er selbst wird in der Moschee im Hintergrund bleiben, so wie man es ihm angeraten hat. Kesim und seine Kameraden spüren die Gefahr. »Wir müssen abhauen«, ruft einer aus der Gruppe, »die wollen uns fertigmachen.« Aber dazu ist es bereits zu spät. Der Schrei eines der Angreifer: »Allah, Allah! Wer Allah liebt, muß zuschlagen!« wirkt wie ein Signal auf die anderen. Wie in Trance stürzt sich die Horde auf die wehrlosen türkischen Demokraten, die nichts als ihre Fäuste zur Verteidigung haben. Sie versuchen zu entkommen oder wehren sich verzweifelt, doch können sie gegen die zahlenmäßig Überlegenen und gegen die brutale Gewalt der Meute wenig ausrichten.
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Die Passanten, die es nicht wagen einzugreifen, erleben den offenen. Terror der »Grauen Wölfe« in ihrer Stadt. »Da ist er!« schreit einer und dringt mit einem Messer auf Celalettin Kesim ein. Der versucht sich mit den Armen zu schützen, kann aber die kräftig geführten Stiche gegen seinen Körper nicht parieren. Aus mehreren Wunden blutend, bricht er auf der Stelle zusammen. Der Messerstich, der die Hauptschlagader getroffen hat, erweist sich als lebensgefährlich. Naifa und zwei weitere Freunde schleppen den Bewußtlosen noch etwa 200 Meter weiter und lehnen, ihn an einen Hauseingang am Paul-Lincke-Ufer, wo er in ihren Armen, langsam verblutend, stirbt. Die Funkleitzentrale der Westberliner Polizei erhält um 10.45 Uhr einen Notruf, der sie informiert, daß sich am Kottbusser Tor etwas zusammenbraue. Sie fragt bei »Schanze«, einem unterwegs befindlichen Einsatzwagen, nach, was los sei. »Schanze«, der sich in Neukölln befindet, fährt daraufhin zum Kottbusser Tor, um in das Geschehen einzugreifen. Als der erste Funkwagen schließlich am Tatort erscheint - weitere folgen nach kurzer Zeit -, beenden die Polizisten die »Schlägerei«. Für sie ist das lediglich wieder das Aufeinanderprallen türkischer Extremisten. Ein kurz darauf eintreffendes Feuerwehrauto fährt Kesim ins nahe gelegene Krankenhaus, doch für ihn kommt jegliche Hilfe zu spät. Askin Erdemir ist durch die Schläge mit einer Eisenstange auf die Schädeldecke schwer verletzt worden, hat jedoch fliehen können. Er trifft auf einen weiteren Funkwagen, den er stoppt. Die Beamten werden über den Vorfall informiert. Von ihm erfährt die Funkwagenbesatzung auch, daß die Täter in die Mevlana-Moschee geflüchtet sind. Doch die Polizisten sind nicht zum sofortigen Eingreifen zu bewegen. Sie wollen erst auf Verstärkung warten. Außerdem wisse man nicht, ob Polizei überhaupt die Räume betreten dürfe, entgegnet der Einsatzleiter. Das könnten nur seine Vorgesetzten entscheiden. So ist eine Stunde seit dem Überfall vergangen, bis die Polizisten endlich in die Moschee eindringen. Erdemir kann vier Burschen als Täter identifizieren, die von
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der Polizei festgenommen werden, Öztürk und die übrigen dürfen die Moschee verlassen. Insgesamt werden an jenem Januartag acht Männer verhaftet. Zwei Tage nach dem Mord an Kesim erklärt der Leiter des Westberliner »Staatsschutzes«, Manfred Kittlaus, öffentlich: »Wir haben so etwas befürchtet.« Weshalb hat sich dann die Polizei nicht um dessen persönliche Sicherheit bemüht oder ihn wenigstens vor der unmittelbar drohenden Gefahr gewarnt. Und es ist eher politische Demagogie als Naivität, wenn Kittlaus weiter vor der Presse scheinheilig eingesteht: »Bei den Vernehmungen gaben einzelne Türken unumwunden zu, daß sie sich als >Graue Wölfe< bezeichnen. Eine eingetragene Organisation dieses Namens gibt es jedoch bei uns nicht.« Der Senatssprecher meldet sich am selben Tage zu Wort. »Es ist völlig unerträglich, daß terroristische extremistische Organisationen ihre Auseinandersetzungen in dieser Form auf Berliner Boden austragen. Dagegen muß mit aller Schärfe vorgegangen werden.« Mit einer solchen Erklärung werden die Opfer mit den Mördern auf eine Stufe gestellt. Ins gleiche Horn stößt Polizeipräsident Hübner am 11. Januar 1980 mit seinen Bemerkungen: »Vermehrte Straftaten der Rechtsextremisten sind einfach naturgesetzlich nicht anders zu beurteilen als das gar nicht auszuschließende Echo auf die Übeltaten der Vettern aus der linksextremistischen Szene.« Der stellvertretende Leiter des Westberliner »Staatsschutzes« Ganschow sekundiert seinem Chef: »Wir wehren uns dagegen, als Polizei in politische Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Wir sehen seit langem mit Sorge dieser Entwicklung entgegen. Aber wir können und wollen die politische Artikulation nicht verbieten.« Dieses scheinbar neutrale Verhalten höchster Westberliner Regierungsstellen - und nicht nur dieser - bedeutet in Wirklichkeit einen Freibrief für die türkischen Gewalttäter. Es bedeutet, den aufrechten Demokraten, Gewerkschafter und Antifaschisten Celalettin Kesim als Linksextremisten einzustufen und mit den Faschisten gleichzusetzen. Immerhin handelt es sich in diesem Falle um politischen Mord.
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Der Pressedienst der IG-Metall gibt darauf die richtige Antwort: »Einschätzungen der zuständigen Behörden gehen nach der Meinung der IG-Metall nicht erst seit der Ermordung unseres Kollegen an den unbestreitbaren Realitäten vorbei. Sie könnten eher dazu beitragen, die türkischen faschistischen Organisationen zu neuen Taten zu ermutigen und die bestehende Gefahr weiter zu vergrößern.« Eine vom Türkischen Demokratischen Arbeiterverein zur Klärung des Mordes an Celalettin Kesim einberufene Pressekonferenz bringt weitere Einzelheiten zur Sprache, die das Verhalten der Westberliner Polizeibehörden charakterisieren. Aus dem Bericht eines Ohrenzeugen, der an jenem Tage den Polizeisender mithörte, geht hervor, daß die Polizei offensichtlich Augenzeuge des Überfalls und der Ermordung Kesims gewesen war. Er hat herausgehört, daß im Gebiet Hermannplatz, Schlesisches Tor und Kottbusser Tor alle gegenwärtigen türkischen Aktivitäten kontrolliert wurden. Auf die Aufforderung der Funkleitstelle hätten sich mehrere Polizeifahrzeuge zum Kottbusser Tor begeben, wo sie die Zusammenrottung von etwa 70 Türken bestätigten. Sie erhielten die Aufforderung von der Zentrale, die Ansammlung zu observieren. Einer regulären Funkstreife, die von den Vorgängen am Kottbusser Tor gehört hatte, wurde es untersagt, dorthin zu fahren, um die Observierung nicht zu beeinträchtigen. Demnach waren die Polizisten in den Observierungsfahrzeugen Augenzeugen des -Überfalls auf die türkischen Demokraten. Sie meldeten die Vorgänge am Kottbusser Tor über Funk an die Einsatzzentrale, auch, daß es Verletzte gäbe, aber erst nach 20 Minuten wurde dem ersten Funkwagen der Befehl zum Eingreifen erteilt und die Feuerwehr zum Paul-Lincke-Ufer beordert, wohin Kesims Kameraden den tödlich Verletzten geschleppt hatten. Der Türkische Demokratische Arbeiterverein bleibt nicht untätig. In einem offenen Brief an den Innensenator Ulrich verweist er darauf, daß der Mord an Kesim eine Folgeerscheinung jahrelanger Verharmlosung und bewußter Unterschätzung der rechtsextremistischen, religiösfanatischen Organisationen mit der militanten Gruppe - den »Grauen Wölfen« - durch die Behörden Westberlins und der BRD sei. Das unschlüssige, beschwichtigende Verhalten ermutigte die türkischen
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Jungfaschisten zu weiteren Gewalttaten. Bereits eine Woche später überfielen sie das Vereinslokal des Türkischen Demokratischen Arbeitervereins. Die Parteinahme der Westberliner Behörden für die türkischen Rechtsextremisten ging sogar so weit, daß der Senat die progressiven türkischen Organisationen unter Druck setzte. Die repressive Aufforderung an den Türkischen Demokratischen Arbeiterverein, seine Mitgliederlisten der Polizei zu übergeben, führte zu heftigen Protesten und einer Presseerklärung gegen die Organisation »Graue Wölfe«, in der es hieß: »Selbst nach dem Mord hat sich die Haltung des Senats nicht geändert; anstatt nur gegen die Mörder vorzugehen, werden Täter und Opfer in einen Topf geworfen. Jüngstes Beispiel dafür ist die Aufforderung des >Staatsschutzes< an politisch tätige Arbeitervereine, ihre Mitgliederlisten offenzulegen. Davon werden in erster Linie Mitglieder demokratischer Organisationen betroffen. Sie müssen fürchten, daß ihnen eine Ausweisung droht und daß ihre Namen außerdem dem türkischen Geheimdienst weitergegeben werden könnten.« Der Türkische Demokratische Arbeiterverein wurde dennoch zu einer Geldstrafe von 100 DM und zur Preisgabe seiner Mitgliederliste an den Westberliner »Staatsschutz« gezwungen. Am 12. Januar 1980 bewegt sich bei frostigem Winterwetter ein langer Zug von Menschen durch die Westberliner Straßen. Die Gesichter drücken Trauer, aber auch Entschlossenheit aus. Mehr als 4000 sind es - Türken und Deutsche -, die dem heimtückisch ermordeten 34jährigen Celalettin Kesim das letzte Geleit geben. Auf Transparenten und Spruchbändern ist zu lesen: »Solidarität mit den Demokraten in der Türkei!« An der Spitze des Trauerzuges, von den engsten Freunden gestützt, geht Frau Sevim Kesim, den kleinen Sohn Özgür an der Hand. Sie kann ihren tiefen Schmerz um den geliebten Gatten nur mühevoll hinter einem Trauerschleier verbergen. Auf dem Friedhof würdigen Vertreter der demokratischen Öffentlichkeit, des Türkischen Demokratischen Arbeitervereins und der
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IG-Metall, in schlichten Worten das aufrechte, kämpferische Leben des Gemeuchelten. Frau Sevim findet die Kraft, in einer kurzen Rede am Grabe ihres Mannes den verantwortlichen Westberliner Behörden die alle bewegende Frage zu stellen: »Warum werden die MörderOrganisationen immer noch geduldet? Wie viele Frauen müssen noch von dem Schmerz betroffen werden, den ich empfinde?« Aus seiner demokratischen Einstellung habe Celalettin Kesim nie ein Hehl gemacht, sagt einer der Redner. Seine Tätigkeit auf sozialem und politischem Gebiet habe ihn zur bevorzugten Zielscheibe der »Grauen Wölfe« werden lassen, auf deren Mordlisten er ganz oben stand. Sie fürchteten seinen wachsenden politischen Einfluß, und nachdem Morddrohungen und Einschüchterungsversuche nichts bewirkten, handelten sie bei der nächsten Gelegenheit auf ihre Weise. Den letzten Anlaß für den Mord mag Celalettin Kesims energisches Auftreten wenige Tage vorher im Türkenzentrum gegeben haben. In einem von türkischen und deutschen Zuhörern mit viel Beifall bedachten Vortrag hatte er das Verbot aller faschistischen Organisationen sowie die Unterbindung ihrer Aktivitäten gefordert. Immer größer wird die Trauergemeinde, die sich nach der Beisetzung zu einer Protestkundgebung am Kottbusser Tor versammelt, genau an der Stelle, wo Celalettin Kesim von den »Grauen Wölfen« überfallen und ermordet wurde. Über 15000 Menschen, Vertreter von 60 demokratischen Organisationen, fordern das Verbot der türkischen Extremisten und die Bestrafung der Mörder. Die Ermittlungen der Westberliner Justizbehörden im Falle Kesim verliefen schleppend und wurden zunächst im Kreise der Opfer geführt. So erschienen am 5. März 1980 Polizeibeamte in der Wohnung von Askin Erdemir, der von dem Überfall am 5. Januar breite Narben am Kopf zurückbehalten hatte. Die Polizisten legten ihm einen Durchsuchungsbefehl vor. Im Beschluß des Amtsgerichtes Tiergarten stand: »Der Beschuldigte steht in dem dringenden Verdacht, am 5. Januar 1980 anläßlich der tätlichen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Türkenvereinigungen ein Beil mitgeführt und damit
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geschlagen zu haben.« Der Polizeieinsatz wurde angeordnet, »da die Durchsuchung vermutlich zur Auffindung von Beweismitteln, insbesondere eines Beiles oder eines ähnlichen Schlagwerkzeuges, führen wird.« Die pflichteifrigen Polizisten, die auf eine Denunziation hereingefallen waren, mußten natürlich die Durchsuchung unverrichteter Dinge beenden. Fast ein Jahr verging, bis das Moabiter Kriminalgericht endlich am 15. Dezember 1980 nach zweimonatiger Prozeßdauer folgenden Urteilsspruch gegen die Täter fällt: eine vierjährige Haftstrafe für Saticioglu und Freispruch für den Angeklagten Bahtiyar. Die Milde des Strafmaßes ergab sich formaljuristisch daraus, daß Saticioglu - ein führender »Grauer Wolf« - lediglich wegen »Landfriedensbruch und Beteiligung an einer Schlägerei mit tödlichem Ausgang« belangt wurde. Das Schwurgericht fand für den Mörder in der Urteilsbegründung sogar strafmildernde Umstände, indem es ihm bestätigte, »nach seiner ganzen Ideenwelt an eine gute Sache geglaubt« zu haben. Der nachweisbare Tatbestand des geplanten Angriffs und vorsätzlichen Mordes bzw. Totschlages wurde von den Richtern verworfen. Drei Augenzeugen, die den Mord aus unmittelbarer Nähe miterlebt und das Messer in den Händen des Angeklagten gesehen hatten, schenkten die Richter keinen Glauben. Es gab Fotos, die Saticioglu zeigten, wie er in Kreuzberg Zeitungen mit der Überschrift: »Alle Juden müssen getötet werden« verkaufte. Dem freigesprochenen Mittäter Bahtiyar wurde in der Begründung zugute gehalten, daß er ein »guter Mohammedaner und Familienvater« sei. Leute vom Schlage eines Yusuf Öztürk, die eigentlichen Anstifter solcher Mordtaten, blieben im dunkeln und somit straffrei. Und so treiben die »Grauen Wölfe« auch weiterhin ihr Unwesen in der BRD und in Westberlin.
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