Loretta Napoleoni
Die Zuhälter der Globalisierung Über Oligarchen, Hedge Fonds, 'Ndrangheta, Drogenkartelle und andere...
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Loretta Napoleoni
Die Zuhälter der Globalisierung Über Oligarchen, Hedge Fonds, 'Ndrangheta, Drogenkartelle und andere parasitäre Systeme
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer und Ursel Schäfer
Die a m e r i k a n i s c h e Originalausgabe erschien 2 0 0 8 unter d e m Titel »Rogue E c o n o m i c s« bei Seven Stories Press, New York, U S A.
Umwelthinweis Dieses Buch wurde auf 100 % Recycling-Papier gedruckt, das mit dem blauen Engel ausgezeichnet ist. Die Einschrumpffolie (zum Schutz vor Verschmutzung) ist aus umweltfreundlicher und recyclingfähiger PE-Folie.
2. Auflage © 2008 Loretta Napoleoni © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe Riemann Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: Ralf Lay Satz: Barbara Rabus Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-570-50090-3 www.riemann-verlag.de
Für Silvia Freundin, Schwester und manchmal auch Mutter
Inhalt
Einführung
9
1 Mit dem Feind im Bett
17
2 Niemand kontrolliert die Schurkenwirtschaft
48
3 Das Ende der Politik
82
4 Land der unbegrenzten Möglichkeiten
113
5 Fälschungen
144
6 Die Marktmatrix
162
7 Hightech - ein zweifelhafter Segen?
185
8 Anarchie auf hoher See
214
9 Die großen Illusionisten des 20. Jahrhunderts
243
10 Die Mythologie des Marktstaates
266
11 Die Kraft der Globalisierung
278
12 Wirtschaftlicher Tribalismus
304
Epilog: Der neue Gesellschaftsvertrag
337
Dank
343
Anmerkungen
348
Register
378
Einführung
In den neunziger Jahren verbreitete sich ein globaler Virus: die Demokratie. Der Zerfall der Sowjetunion entfesselte den »Freiheitsbazillus«, und im Verlauf eines Jahrzehnts wuchs die Zahl der demokratischen Länder von 69 auf 118. Millionen Menschen, seit Jahrzehnten dagegen geimpft, feierten, als die Verteidigungsanlagen dieser Länder wankten und einstürzten. Menschen, die die westliche Demokratie nie kennengelernt hatten, wurden schließlich infiziert. Als die Berliner Mauer fiel, hatten es die jungen Osteuropäer eilig, auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs zu gelangen, der imaginären Trennungslinie zwischen der freien Welt und dem Totalitarismus. Die Menschen sanken sich in die Arme und jubelten und schauten gebannt zu, als endlose Karawanen von Trabbis, Ladas und anderen Fahrzeugen aus sozialistischer Produktion westwärts rollten. Vom ehemaligen Ostblock aus breitete sich der Freiheitsbazillus über den Globus aus, nach Südostasien, Lateinamerika, sogar bis nach China,1 und überall hinterließ er unauslöschliche Spuren. Aber mit der Demokratie verbreitete sich auch die Sklaverei. Am Ende des Jahrzehnts lebten in zahlreichen Ländern insgesamt schätzungsweise 27 Millionen Menschen versklavt, einige auch in westlichen Ländern. Bereits 1990 strömten die ersten Sexsklavinnen aus dem ehemaligen Ostblock auf Märkte im Westen. Diese Frauen waren schön, billig und vor
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Einführung
allem verzweifelt. Aber das neue Geschäft mit dem Sex war nur die Spitze des Eisbergs. Die Globalisierung brachte die Ausbeutung von Sklavenarbeit auf ein industrielles Niveau, sie erreichte ein Ausmaß, das es bis dahin nie gegeben hatte, nicht einmal im transatlantischen Sklavenhandel. Von den Kakaoplantagen Westafrikas bis zu den Obstgärten in Kalifornien, von der boomenden illegalen Fischereiindustrie bis zu Fabriken, die massenweise Raubkopien und Fälschungen produzieren: Überall sind Sklaven ein fester Bestandteil des globalen Kapitalismus, wie ich bei meinen Recherchen immer wieder festgestellt habe. Schockierenderweise existieren in der modernen Zeit Demokratie und Sklaverei nebeneinander in einer, wie Ökonomen es sehen, starken direkten Korrelation. Mit anderen Worten: Zwei Phänomene zeigen nicht nur identische Trends, sondern der eine Trend bedingt den anderen. Die neunziger fahre bestätigten eine surreale Entwicklung, die sich bereits in den Fünfzigern, während der Entkolonialisierung, abgezeichnet hatte. Als die ehemaligen Kolonien unabhängig wurden und die Freiheit bekamen, stieg die Zahl der Sklaven, und die Preise für sie verfielen. Heute beträgt der Durchschnittspreis für einen Sklaven weniger als ein Zehntel des Wertes im Römischen Reich, in einer Zeit also, als die Demokratie auf ihrem historischen Tiefpunkt gewesen sein dürfte. Für die Römer waren Sklaven knappe, wertvolle Güter, die notgedrungen teuer waren; heute sind sie eine reichlich vorhandene Wegwerfware, nur ein weiterer »Kostenfaktor« bei internationalen Geschäften. Demokratie und Sklaverei verbinden wir selten miteinander, weil wir immer noch unter dem falschen Eindruck stehen, die Demokratie müsse irgendwie als Garantie gegen die Rückkehr der Sklaverei wirken. Das oft zitierte Beispiel des
Einführung
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amerikanischen Bürgerkriegs soll dieses dünne Argument übertünchen. Aber wie jeder sehen kann, der sich ein bisschen mit amerikanischer Geschichte befasst hat, brach unmittelbar nach Ende des Bürgerkriegs im Süden die Gewalt der Weißen gegen die Schwarzen aus mit Gruppen wie dem Ku-Klux-Klan, und die Zeit danach war eine düstere Epoche für die schwarze Bevölkerung in Amerika. Überdies gilt die Sklaverei heute allgemein als Folge der Ausbeutung armer Länder durch fremde Herrscher, doch tatsächlich ist das Gegenteil richtig: Die meisten Opfer werden von ihren eigenen Landsleuten versklavt und verkauft. Die Korrelation zwischen Demokratie und Sklaverei ist eine Folge der Schurkenwirtschaft, eines in der Geschichte immer wiederkehrenden Phänomens, das oft rasche und unerwartete Umbrüche begleitet. Inmitten tiefer Veränderungen kann es sein, dass die Politik die Kontrolle über die Wirtschaft verliert, und die Wirtschaft wird zu einer Schurkenkraft in den Händen dunkler neuer Drahtzieher. Wir sprechen vom amerikanischen Westen als dem Wilden Westen wegen der Anarchie und Gewalt, die seine Eroberung kennzeichneten, tatsächlich aber sind im Schatten der Eroberung große Vermögen entstanden. Der kalifornische Goldrausch führte zu Chaos, Gewalt und Diebstahl in großem Stil, wobei oft Spielhöllenbesitzer und Glücksspieler reich wurden. Schurkenwirtschaft hat die meisten größeren historischen Transformationen geprägt, ihre Ausbreitung hat alte Volkswirtschaften beschädigt, alte Reiche zerstört und neue entstehen lassen. Die Entdeckung Amerikas hat Europa in einem Ausmaß reich gemacht, das alle Vorstellungskraft übersteigt, und die Beute fiel in die Hände skrupelloser Konquistadoren. Heute zeigt sich die Schurkenwirtschaft wieder, weil die Welt eine ähnlich tiefgreifende Transformation erlebt, vielleicht die größte in der Geschichte.
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Einführung
Als ich vor über zwei Jahren mit den Recherchen für dieses Buch begann, ging es mir darum, wie der Übergang vom Kommunismus zur Globalisierung dunkle ökonomische Kräfte freigesetzt hat. Ich war überzeugt, dass es sich um ein einzigartiges Phänomen handelte, das mit außergewöhnlichen Umständen zusammenhing. Je weiter meine Forschungen voranschritten, je mehr Daten ich sammelte, je mehr Interviews ich führte und je mehr Informationen ich analysierte, desto klarer wurde mir, dass Schurkenwirtschaft nicht einzigartig ist, sondern ein Teil des Yin und Yang der Geschichte. Sie ist eine reale Kraft und lauert immer im Hintergrund des Fortschritts. Bisher ist es der Politik jedes Mal, wenn sie auftauchte, gelungen, sie durch verblüffende strategische Kompromisse mit neuen, mächtigen Eliten zu zähmen. Wir haben keinen Grund, anzunehmen, dass das Ergebnis diesmal anders aussehen wird. Korruption gibt es in jeder Gesellschaft, ob kommunistisch oder kapitalistisch, aber Schurkenwirtschaft in weltweitem Maßstab, bisher ohne den geringsten Ansatz, ihre Exzesse zu unterbinden, führt zu vollkommen andersartigen Konsequenzen, zu einem System von Gewinnern und Verlierern, und wenn wir nicht aufpassen, gehören wir womöglich alle zu den Verlierern. Anders als die übliche Art von Korruption in jeder Gesellschaft, die mit anderen Wertesystemen koexistieren kann - und die Werte können ein gewisses Gegengewicht dazu bilden -, zwingt die Schurkenwirtschaft zu einem Lebensstil, der langfristig allen schadet: den Gewinnern und den Verlierern, den Armen und den Reichen. Egal, wo wir leben, ob in der industrialisierten oder der Dritten Welt, die Schurkenwirtschaft gestaltet unser Leben. Sie diktiert nicht nur, wie wir leben, sondern auch, wie wir sterben.
Einführung
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In den Vereinigten Staaten geht ein neuer Killer um: Fettleibigkeit. 400 000 Todesfälle jährlich, das entspricht 16 Prozent aller Todesfälle, sind auf Übergewicht zurückzuführen. Die Wurzeln der Epidemie liegen in den späten siebziger Jahren, aber ironischerweise erreichte sie ihr volles Ausmaß in den späten Achtzigern, während ganz Amerika schlankheitsbewusst wurde. Als die Menschen beschlossen, dünn zu sein, wurden sie massenhaft dick. Mit dem Kampf gegen den Bauch schlug die Stunde der fettarmen Ernährung. Den Nahrungsmitteln wurde das Fett entzogen und durch Kohlenhydrate ersetzt, die viele Kalorien haben und ebenfalls Fett produzieren. Die Bauern wussten schon immer, dass Tiere fett werden, wenn man sie mit Getreide füttert. Bei Menschen ist das nicht anders. Die meisten fettarmen Produkte in den Supermärkten enthalten reichlich Kohlenhydrate, sodass die Kalorienaufnahme bei der fettreduzierten Version eines Lebensmittels oft genauso hoch ist wie beim Original. Vergleichen Sie beim nächsten Einkauf doch einmal die Kalorien der fettreduzierten und der normalen Version des gleichen Produkts, und Sie werden staunen, wie gering der Unterschied ist - sofern es überhaupt einen Unterschied gibt. Von den Vereinigten Staaten aus ist die neue Krankheit in die westliche Welt und über ihre Grenzen hinaus gezogen. Fettleibigkeit breitet sich in Asien schneller aus als in den Vereinigten Staaten und Europa und nimmt sogar in Afrika zu, bei den Reichen, die eine Vorliebe für westliche »Light«- und Diät-Lebensmittel entwickelt haben. Die Konsumenten wissen nicht, dass die Produkte, die als »Schlankmacher« beworben werden, ihnen nicht helfen, sondern sie in manchen Fällen sogar umbringen können. Die Menschen kaufen sie aus der Illusion heraus, sie seien das Elixier für die ewige Jugend.
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Einführung
Die Werbung mit »fettreduziert« ist in den meisten Fällen eine reine Lüge von Lebensmittelkonzernen, Einzelhändlern und sogar staatlichen Behörden. Außerdem ist sie ein Milliarden-Dollar-Geschäft. Beinahe jedes Produkt, das wir konsumieren, hat eine verborgene dunkle Geschichte, von Sklavenarbeit bis Piraterie, von Fälschung bis Betrug, von Diebstahl bis Geldwäsche. Die gefährlichste Brutstätte für gewissenlose Geschäftemacher ist der globale Markt. Aus Verbrechen entstandene Produkte dringen in traditionelle Volkswirtschaften vor und korrumpieren sie. Wenn wir einen Ehering kaufen, der aus Gold gefertigt wurde, das kongolesische Kinder im Dienst skrupelloser Warlords geschürft haben, das dann nach Uganda geschmuggelt und mit gefälschten Papieren von kriminellen Firmen verhökert wurde, knüpfen wir ein kommerzielles Band zur dunklen Unterwelt der illegalen und kriminellen Wirtschaft in Afrika. Doch wir, die Verbraucher, wissen sehr wenig von diesen Verflechtungen, ganz zu schweigen von den dunklen ökonomischen Geheimnissen der Dinge, die wir konsumieren, weil wir in der Marktmatrix gefangen sind, einem dichten Netz kommerzieller Illusionen. Wir Verbraucher leben wie in dem Kultfilm »Matrix« in einer Phantasiewelt. Wir glauben, dass das Leben nie besser gewesen ist als heute. Warum auch nicht? Wir können uns Dinge leisten, von denen unsere Eltern und Großeltern nicht einmal träumen durften. Die Lebenserwartung ist dank der modernen Medizin gestiegen, die Armut wurde zurückgedrängt, und Einkaufen ist ein weltweiter Zeitvertreib. Einkaufen ist die Therapie gegen Depression und Langeweile. Diese Botschaften hören wir täglich. Aber wenn wir versuchen, hinter die Fassade unseres Alltagslebens zu blicken, und uns bemühen, Überzeugungen zu überprüfen und die Herkunft der meisten Produkte zu erkunden, die wir kon-
Einführung
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sumieren, entsteht ein Bild, das der realen Welt in »Matrix« sehr ähnlich sieht: ein Planet in schwerem kommerziellem Aufruhr. Dies ist kein Buch über die dunkle Herkunft der Produkte, die wir konsumieren, oder über die Marketinglügen derjenigen, die mit ewiger Jugend werben. Es ist auch kein Antiglobalisierungshandbuch und ebenso wenig das Manifest einer Konsumentenrevolution. Es ist vielmehr dazu gedacht, die Verbraucher zu stärken mit Wissen über die Welt, in der wir leben. Anhand verschiedener Beispiele werde ich zu zeigen versuchen, dass die Schurkenwirtschaft nicht die Ausnahme ist, sondern endemisch: eine dunkle Kraft, die in unsere gesellschaftliche DNA eingeschrieben ist und ständig im Hintergrund einer Gesellschaft lauert. Es reicht nicht, dass wir ein oder zwei Schichten von der Oberfläche des modernen Lebens abkratzen, um die wahre Natur eines Phänomens zu enthüllen, das zwar immer ein Teil der menschlichen Geschichte war, aber nie zuvor erkannt wurde. Um das Wesen der Schurkenwirtschaft zu verstehen, müssen wir an ihrem Fundament beginnen: dem ewigen Kampf zwischen Politik und Wirtschaft, einem bösartigen Krieg, der die ganze Geschichte hindurch geführt wird. Das Buch handelt von der Umgestaltung der modernen Welt durch dunkle Wirtschaftskräfte, von dem Netz der wirtschaftlichen und politischen Illusionen, das die Konsumenten in einer Phantasiewelt gefangen hält, die von immer mehr gewissenlosen Geschäftemachern aufgebaut wird, und schließlich von der jüngsten Form eines alten Kampfes, der uns daran erinnert, dass die Menschen immer, heute wie in der Vergangenheit, einen hohen Preis für ihre Eroberungen bezahlen.
KAPITEL
1
Mit dem Feind im Bett
Wir haben dankbar den Fall der Berliner Mauer erlebt, aber leider ist die Mauer den Frauen auf den Kopf gefallen. Kommentar einer russischen Duma-Abgeordneten
Wirtschaft ist die unberechenbare Wissenschaft der wechselseitigen Abhängigkeit. Ihre verborgene Antriebskraft ist der Markt. Seit der Steinzeit hat die Entstehung neuer Orte und Möglichkeiten für den Tausch den wirtschaftlichen Fortschritt vorangetrieben. Entdeckungen und Erfindungen gewinnen neue Bedeutung, wenn andere auch daran teilhaben, und das ist nur möglich durch Handel und Austausch. Die Hauptnutznießer der geschäftlichen Transaktionen sind nicht diejenigen, die neue Produkte erzeugen oder konsumieren, sondern jene, die damit Handel treiben. Im Laufe der Geschichte haben Händler enorme Vermögen angehäuft, und Politiker mussten sich vor der Macht der Händler hüten. Händler und Politiker haben Allianzen geschmiedet, um den Markt zu ihrem eigenen Vorteil und zum Nutzen ganzer Länder zu regulieren, zu begrenzen und zu manipulieren. Alle großen Kulturen gründeten auf soliden Handelsstrukturen, die sie mit großen Armeen verteidigten. Rom zerstörte Karthago, als Hannibal seinen florierenden Handel mit den
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Mit dem Feind im Bett
nördlichen Regionen der italienischen Halbinsel behinderte. Um die Kontrolle von Schlüsselmärkten wurden endlose Kriege geführt. Venedig beispielsweise finanzierte den vierten Kreuzzug, weil dabei Konstantinopel geplündert und die arabischen Händler entlang der Seidenstraße vertrieben wurden so sicherte man sich ein Monopol. In moderner Zeit ist der Marshallplan ein sehr gutes Beispiel, wie die Politik die Wirtschaft zwingt, die Gesetze des Marktes neu zu definieren.1
Wirtschaft versus Politik Der Marshallplan, das Hilfsprogramm der Vereinigten Staaten für den Wiederaufbau Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, legte den Grundstein für Amerikas wirtschaftliche Vorherrschaft. Anders als in Europa und Japan war in den Vereinigten Staaten die Kriegswirtschaft und Kriegsindustrie unbeschädigt geblieben, und nach dem Krieg brauchte man Märkte. Die USA waren zwar die Geldgeber und nicht die Empfänger der Hilfsleistungen, doch man kann mit Fug und Recht sagen, dass Amerika und nicht Europa am meisten vom Marshallplan profitierte. Der Wiederaufbau schuf neue Betätigungsfelder für US-Firmen und formte einen neuen Markt, der ganz auf die Bedürfnisse der amerikanischen Wirtschaft zugeschnitten war. In den Nachkriegsjahren überquerten zahllose Handelsschiffe den Atlantik und brachten Rohstoffe und Waren in das vom Krieg zerstörte Europa. Öltanker bildeten förmlich eine Brücke über den Ozean und lieferten die kostbare Energie, die man brauchte, um die Trümmer wegzuräumen und die ausgebombten Städte wiederaufzubauen. Die westeuropäischen Länder kamen wirtschaftlich wieder auf die Beine, und nun griff das amerikanische Konsumden-
Wirtschaft versus Politik
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ken auf Europa über und prägte das Kaufverhalten der Europäer. Langlebige Güter, von Staubsaugern bis zu Fernsehern, tauchten in den Läden auf. Die westeuropäischen Familien wurden mit Bildern von blonden, lächelnden amerikanischen Hausfrauen, lauter Doppelgängerinnen von Doris Day, bombardiert, die mit ihren Haushaltsspielzeugen hantierten. Jeder wollte ein Auto, ein Fernsehgerät, eine Waschmaschine. Amerika exportierte sogar neue, phantasievolle Wege, solche Produkte zu erwerben: Kauf per Ratenzahlung. Die persönliche Kreditaufnahme schoss in die Höhe. Amerika wollte einen soliden Markt für seine Exportwirtschaft aufbauen und erkannte schnell, dass es dafür einen »Way of Life« verkaufen musste. Langlebige Konsumgüter aus den USA mussten Teil eines erstrebenswerten Lebensstils werden. Sie wurden zu unverzichtbaren Accessoires des so genannten amerikanischen Traums: Produkte, für die geschickt in heiteren amerikanischen Kinofilmen geworben wurde. In der kollektiven Vorstellungswelt der Westeuropäer, die in die Kinos strömten, weil sie den dunklen Erinnerungen an den Krieg entkommen wollten, wurde Amerika zum Land von Milch und Honig, ein von Filmstars bevölkerter Kontinent, wo Träume wahr wurden. Aber die Vereinigten Staaten waren kein Traum - sie lagen nur eine Schiffsreise oder einen Interkontinentalflug entfernt. Diese idyllische Welt gab es nicht nur wirklich, man konnte sie sogar kaufen. Dank des Wiederaufbaus durch den Marshallplan besaßen die europäischen Konsumenten die finanziellen Mittel, um sich ihren Teil von diesem Traum zu erwerben. Der Marshallplan ermöglichte der Wirtschaft einen Start aus dem Stand und lenkte so Geld in die Taschen der Verbraucher, mit dem sie die Requisiten des Traums kaufen konnten: amerikanische Waren.
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Mit dem Feind im Bett
Heute wissen wir, dass der amerikanische Traum nur ein Puzzleteil im cleveren Marketing war. In den fünfziger fahren, als der McCarthyismus die Vereinigten Staaten fest im Griff hatte, verschleierte diese Art von Werbung die Realität einer unterdrückten Gesellschaft voller Rassenvorurteile und Spannungen. Doch oft steht hinter einem besonders faszinierenden Produkt eine Illusion. Manche Illusionen führen zu Wirtschaftswachstum, so war es beim amerikanischen Traum; andere wirken, wie wir noch sehen werden, zerstörerisch auf eine Gesellschaft. Der Marshallplan brachte eine neue politische Ordnung zur Entfaltung, die ihre Hochzeit im Kalten Krieg erlebte, ein System, das den Westen vom Ostblock isolierte. In gewissem Sinn war dieses System das Gegenteil der Globalisierung, es katapultierte den Westen mitten hinein in eine hochgradig regulierte Wirtschaftsstruktur. Namhafte Wirtschaftswissenschaftler wie John Maynard Keynes arbeiteten an der Konzeption des Marshallplans mit, er war Ausdruck einer neuen Lehre, die die herausragende Rolle des Staates in der Wirtschaft betonte und die Vormachtstellung des stärksten Landes. In der Zeit des Kalten Krieges beruhte der Erfolg des Systems darauf, dass Washington die wirtschaftlichen Kräfte, die den neuen europäischen Markt (und danach noch einige andere) schufen und am Leben erhielten, kontrollierte und manipulierte, zum Vorteil der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Handelspartner.2 In der Zeit des Kalten Krieges blieb Amerikas wirtschaftliche Vormachtstellung unangefochten, und Westeuropa profitierte stark davon. Das Wirtschaftswachstum war besonders in den fünfziger und sechziger fahren erheblich. Selbst als der erste und zweite Ölpreisschock die Lage verdüsterten (1973/74 und 1979/80), hielt die Führungsmacht USA die
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Sex-Mauer
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Wirtschaft weiter fest im Griff und eliminierte die Folgen der Krise, indem sie mit dem Recycling von Petrodollars begann - so wurden die Gewinne der ölproduzierenden Länder als Investitionen in den Westen gelenkt. Paradoxerweise löste sich die Nachkriegsordnung auf, als das Ziel des Kalten Krieges endlich erreicht war und der Eiserne Vorhang fiel. Die Politik hatte keine Macht mehr über die Wirtschaft. Der Staat verlor die Kontrolle über den Markt. Von da an diente die Wirtschaft nicht mehr den Bürgern, sondern sie wurde zu einer Zwangsgewalt, und es ging nur noch darum, auf Kosten der Konsumenten schnelles Geld zu verdienen. Die Ereignisse, die Anfang und Ende des Kalten Krieges symbolisieren - der Marshallplan und der Fall der Berliner Mauer-, rahmen gewissermaßen die komplexe Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft ein und erklären den Übergang zur Schurkenwirtschaft.
Die Sex-Mauer Die Autobahn E 55 entlang der deutsch-tschechischen Grenze ist auch als Autobahn der Liebe bekannt. Rechts und links des heruntergekommenen Streifens Asphalt sind die meisten Prostituierten Europas zu finden. Frauen aus dem ehemaligen Ostblock bieten zu Schnäppchenpreisen ihre Körper an: eine halbe Stunde für 35 Euro, ohne Kondom 45 Euro. Die ehemalige Grenze zwischen Ost- und Westeuropa ist gesäumt mit allem, was zu dem Geschäft gehört: eine Ansammlung von Sexshops, Bordellen und Kiosken mit verhängten Fenstern - die Nachfolger des einstigen Eisernen Vorhangs.
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Mit dem Feind im Bett
In den neunziger Jahren breitete sich die Prostitution an allen Straßen entlang der Grenzen Westeuropas immer weiter aus. Die Symbolik ist schockierend: »Die offenen Grenzen geben dem Sexgewerbe den Anschein von Internationalismus, vor allem im Grenzbereich zum Westen, wo die > i n ternationalen Begegnungen< stattfinden. Hier wird Sexarbeit nach Westeuropa exportiert.«3 Manche Frauen, die an der Grenze arbeiten, sind nicht Prostituierte, sondern Sexsklavinnen. Sie wurden auf speziellen Märkten in der Nähe der alten Trennungslinie zwischen Ost und West gekauft. Der berüchtigte Arizona-Markt im Nordwesten Serbiens ist bei den internationalen Zuhältern sehr bekannt. Er erinnert an eine amerikanische Stadt im 19. Jahrhundert, zur Zeit des Goldrausches, und daher hat er auch seinen Namen. Versteckt hinter einem Stück Straße namens Arizona-Highway, das unweit der kroatischen Grenze verläuft, heißt der Markt auch Wal-Mart von Serbien, weil er am Ende des Bürgerkriegs auf dem Balkan mit der Unterstützung amerikanischer Truppen errichtet wurde. Die Händler kommen auf den Arizona-Markt und kaufen Frauen. »Sie sagen den Mädchen, sie sollen ihre Kleider ausziehen und sich nackt an der Straße aufstellen... Die Männer spazieren vorbei, fassen sie an, schauen sich die Haut an und inspizieren sogar das Gebiss, bevor sie ein Gebot abgeben.«4 Das größte Rad im Geschäft mit slawischen Frauen dreht die russische Mafia. Ironischerweise stammen viele russische Zuhälter aus Tschetschenien. »Mich hat eine Gruppe Mafiosi aus Tschetschenien verscherbelt. Sie kamen nach Odessa und behaupteten, sie seien reiche Geschäftsleute auf Urlaub. Sie boten mir einen Job als Verkäuferin in einer Boutique in Moskau, sogar ein Bild des Ladens zeigten sie mir. Ich hatte so viele Geschichten über Ukrainerinnen gehört, die von rus-
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Sex-Mauer
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sischen Kriminellen in die Prostitution gelockt worden waren, aber ich dachte, die da sind doch aus Tschetschenien...«, erzählt Eva, eine ehemalige Zwangsprostituierte, die mit Hilfe eines Freiers entkommen konnte. »Ich wurde auf dem Arizona-Markt von vielen Händlern mehrmals gekauft und verkauft, von Russen, Europäern und sogar einem Araber. Ich wurde zu einer Ware. Ja, das sind wir: Waren für das globale Dorf.«5 Die Autobahn E 55 und der Arizona-Markt sind die aktuellsten Verkaufsstellen der neuen globalen Prostitutionsindustrie, ein Joint Venture zwischen den beiden ältesten Gewerben: Prostitution und internationaler Handel. Seit über fünfzehn Jahren sind seine beliebtesten Produkte Prostituierte und Sexsklavinnen aus dem ehemaligen Ostblock. Die Mauer des Sex gegen Geld, die heute entlang der ehemaligen Grenzen zwischen Ost und West verläuft, ist ein Nebenprodukt des Falls der Berliner Mauer. Sie ist auch eines der ersten Anzeichen für die Rückkehr der Schurkenökonomie, einer Zwangsgewalt, die durch die beiden größten wirtschaftlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts freigesetzt wurde: den Zusammenbruch des Kommunismus und den Vormarsch der Globalisierung. Vor dem Fall der Berliner Mauer hatte Prostitution in den kommunistischen Ländern praktisch nicht existiert. Sie war zwar nicht verboten, aber die Regierungen hatten dem ältesten Gewerbe der Welt weitgehend den Boden entzogen. Die Nachfrage war gering, die sexuellen Sitten waren extrem freizügig, Verhütung und Abtreibung leicht verfügbar, und so verspürten nur wenige Männer Lust, zu einer Hure zu gehen. Auch das Angebot war gering. Die Vollbeschäftigung garantierte, dass jeder ein Einkommen hatte, und da-
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Mit dem Feind im Bett
durch schmolz das Potenzial von Frauen, die bereit waren, durch den Verkauf ihres Körpers ihren Lebensunterhalt zu verdienen, stark zusammen. Kommunistische Prostituierte stellten ihre Dienste vor allem Ausländern zur Verfügung, hauptsächlich Businessleuten auf Geschäftsreisen über die Ost-West-Grenze hinweg. Anfang der achtziger Jahre beispielsweise waren in Budapest nur in zwei Nachtclubs Prostituierte zu finden, beide Clubs durften Ungarn und Besucher aus dem Ostblock nicht betreten. In Moskau boten »freundliche Frauen« ihre Dienste vor den Eingängen von Hotels an, die von Ausländern frequentiert wurden. Anders als ihre Kolleginnen in westeuropäischen Ländern kümmerten sich die kommunistischen Prostituierten selbst um ihre Geschäfte: Zuhälterei war ein schwerwiegendes Verbrechen. Der Zusammenbruch des Kommunismus führte zu einem Aufschwung der Prostitution, weil die Menschen im ehemaligen Ostblock in Armut versanken, insbesondere die Frauen. Mitte der neunziger Jahre betrug die Arbeitslosigkeit unter russischen Frauen 80 Prozent, unter sowjetischer Herrschaft hatte sie praktisch bei null gelegen. 80 Prozent der Haushalte mit nur einem Elternteil und nur einem Einkommen waren Haushalte von Frauen.6 1998 lebte über die Hälfte der russischen Kinder unter sechs Jahren in Armut. Angesichts dieses Rückschlags wählten viele Frauen die Prostitution, um ihre Kinder zu ernähren. Viele standen vor der Entscheidung, in Armut zu versinken oder mit dem Feind zu schlafen. Es besteht eine starke Korrelation zwischen dem Nachschub an slawischen Prostituierten und weiblicher Arbeitslosigkeit; bis zu einem gewissen Grad deckt sich die geographische Verteilung beider Phänomene. Die Beschäftigung in den ehemaligen kommunistischen Ländern verteilte sich entsprechend der Industrie- und Regionalstruktur der Komman-
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Sex-Mauer
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dowirtschaft. In Russland waren beispielsweise 83 Prozent der Beschäftigten im Textilsektor Frauen. Die Textilindustrie war in bestimmten Regionen angesiedelt wie der Oblast (Verwaltungseinheit) Iwanowo nordöstlich von Moskau, in Tscheboksary und in der zentralrussischen Republik Tschuwaschien. Zur Sowjetzeit waren diese Gebiete als Frauenregionen bekannt.7 Zwischen 1990 und 1994 brach die Textilproduktion um 67 Prozent ein. Hunderttausende Frauen in den genannten Gebieten endeten in der Arbeitslosigkeit, und Zuhälter und Menschenhändler nutzten das Angebot. Heute sind diese Gebiete als »Hurenregionen« bekannt. Bereits 1991 strömten reichlich slawische Frauen auf den westlichen Markt. »Vor dem Fall der Berliner Mauer arbeiteten in Deutschland überwiegend deutsche Mädchen als Prostituierte«, erinnert sich Stefan, ein deutscher Zuhälter, Spitzname »der Prinz«. »Heute ist das anders. Viele Frauen kommen aus Polen und Russland, aber sie sprechen alle deutsch, denn das verlangen wir. Die Freier wollen heute nicht nur Sex, sie wollen auch, dass das Mädchen mit ihnen reden kann und für Atmosphäre sorgt. Sie wollen einen Drink, sie wollen reden, sie wollen etwas geboten bekommen, nicht nur bumm, bumm.« 8 Stefan ist sechzig, übergewichtig und hat vor vierzig Jahren mit ein paar Mädchen im deutschen Sexgewerbe angefangen. Heute gilt er als einer der Top-Sexunternehmer in Berlin. Allerdings will er nicht verraten, wie viele Clubs er besitzt. In den neunziger Jahren wurde das Angebot an gebildeten Frauen aus Russland und Osteuropa zu einem einzigartigen Phänomen im Sexgewerbe. Bevor die slawischen Frauen kamen, standen den Zuhältern überwiegend nur ungebildete Mädchen zur Verfügung, meist arme Asiatinnen. Gebildete Frauen konnten höhere Preise verlangen und brachten da-
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Mit dem Feind im Bett
mit mehr Gewinn. Wie der vielbesuchte Hollywoodstreifen »Memoiren einer Geisha« illustriert, erzielten intelligente, kultivierte, sexy Prostituierte Spitzenpreise. Wieder bot die besondere wirtschaftliche Struktur des Sowjetsystems Zuhältern die Möglichkeit, solche Aufschläge in die eigene Tasche zu lenken, indem sie hochgebildete slawische Frauen auf die Straße schickten. In Russland waren typisch weibliche Beschäftigungsfelder außer der Textilbranche das Gesundheits- und Bildungswesen, Wissenschaft, Planung und Buchhaltung, und all diese Bereiche traf die Wirtschaftskrise der neunziger Jahre besonders hart. Das Angebot an slawischen Frauen, die als einzigartig galten, wuchs über alle Erwartungen. »Anfang der neunziger Jahre gingen die Geschäfte nicht nur gut, sondern hervorragend«, erinnert sich Michael, ein dreißigjähriger Zuhälter, dem in Berlin mehrere Sexbars gehören.9 »Die Männer konnten von diesen Frauen einfach nicht genug bekommen. Sie hatten für sie etwas Exotisches. In der Sexbranche konnte man ein Vermögen machen. Ich verdiente regelmäßig um die 3000 Euro am Tag, und bald war ich steinreich.«10 Die Prostitution unterliegt wie jede Branche den wirtschaftlichen Gesetzen und insbesondere dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Der Untergang des Reichs des Bösen, wie Ronald Reagan es genannt hatte, zwang Millionen slawischer Frauen auf den globalen Sexmarkt, aber dieses Ereignis allein schuf noch keinen neuen Markt. Die Frauenhändler und Zuhälter füllten das Vakuum, indem sie einen osteuropäischen Fleischmarkt rund um neue Waren aufbauten, der Kunden anziehen sollte. »1989 fing alles mit Zuhältern an, die zwei, vielleicht drei Mädchen im Auto hatten. Und später kauften sie Häuser an der E 55. [1997...] standen die Mädchen [...] in endlosen Reihen entlang der Straße«, erzählt Jaromir
Nataschas
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Jirásek, ein Arzt aus dem tschechischen Dubi, nicht weit von Dresden.11 Als sich die Wirtschaftskrise im ehemaligen Ostblock zuspitzte, konnten die Sexhändler auf unbegrenzten Nachschub immer neuer, gesunder slawischer Frauen bauen. »Wenn eine [Prostituierte] krank wurde, hat man sie einfach ersetzt«, sagt Doktor Jirásek.12 Heute gibt es in Dubi, das an der E 55 liegt, Hunderte von Bordellen und Striplokalen.13
Nataschas Israel zählt zu den größten Importeuren slawischer Prostituierter. Nach verschiedenen Schätzungen gehen pro Monat eine Million Israelis zu Prostituierten.14 Ein Untersuchungsausschuss des israelischen Parlaments hat festgestellt: Zwischen 3000 und 5000 Frauen [aus dem ehemaligen Ostblock] werden jährlich nach Israel geschmuggelt und an die Prostitutionsindustrie verkauft... Die Frauen arbeiten an sieben Tagen pro Woche bis zu achtzehn Stunden, und von den 120 Schekeln (27 Dollar), die ein Kunde bezahlt, bleiben ihnen nur 20 (4,50 Dollar). 10 000 solche Frauen leben heute in den 300 bis 400 Bordellen im Land. Man zahlt für sie zwischen 8000 und 10 000 Dollar.15 Die Größenordnung des Geschäfts, als der Handel mit slawischen Frauen noch in den Anfängen steckte, wird deutlich, wenn man sich anschaut, welche Summen, Gewinne aus der Prostitution, in Israel gewaschen wurden: Zwischen 1990 und 1995 wurden beispielsweise rund 4 Milliarden Dollar bei israelischen Banken angelegt. Weitere 600 Millionen wurden durch Immobiliengeschäfte gewaschen.16
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Mit dem Feind im Bett
Dass die Prostitution in Israel so gedeiht, hängt mit kulturellen und religiösen Faktoren zusammen. Die israelischen Männer haben - wie die meisten Männer - eine Schwäche für große, blonde slawische Frauen, die bei ihnen unterschiedslos »Natascha« heißen. Die Männer »kommen herein und rufen mit einem dümmlichen Grinsen auf den Lippen: >Natascha!<, als ginge es um russische Puppen«, erzählt Marika, eine Russin, die nach Israel verkauft wurde.17 Die Nachfrage ist besonders hoch bei den Haredim, den ultraorthodoxen Juden, viele von ihnen besuchen regelmäßig Bordelle. »Im Umfeld der Börse und im Diamantenhandel gibt es viel Prostitution und viele sehr religiöse Männer - diese Männer brauchen Sex, aber die Frauen in ihrem Umfeld können ihnen nicht geben, was sie brauchen. Masturbieren geht auch nicht, weil sie ihren Samen nicht vergeuden dürfen. Also müssen sie es mit einer Frau machen«, erklärt Nissan BenAmi, Vizedirektor des Awareness Center, einer auf Frauenhandel und Prostitution in Israel spezialisierten Nichtregierungsorganisation.18 Mehrere israelische Quellen bestätigen, dass der Zustrom orthodoxer Juden aus Russland, ein weiteres Phänomen, das mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu tun hat, der Prostitutionsindustrie vor Ort einen unerwarteten Aufschwung bescherte. »Viele hatten Verbindungen zur russischen Mafia, die Anfang der neunziger Jahre beinahe das ganze Geschäft mit slawischen Prostituierten kontrollierte. Sie half bei der Abwicklung der Deals mit den Zuhältern vor Ort«, sagt ein Polizist aus Tel Aviv. Michael bestätigt, dass sofort nach dem Fall der Berliner Mauer die russische Mafia das Geschäft mit der neuen Ware übernahm. »Damals, in den neunziger Jahren, brachten die Russen die neuen Mädchen nach Berlin.«
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Bewaffnete Verbrecherorganisationen hatten auch bei diesem Milliarden-Dollar-Geschäft ihre Hände im Spiel. In Deutschland, wo die Prostitution legalisiert ist, gibt es viele Möglichkeiten, wie man sich einen Anteil an dem Geschäft sichern kann. »Hamburg und Berlin werden von der libanesischen Mafia kontrolliert«, berichtet Michael. »Dagegen ist man machtlos. Man muss Schutzgeld bezahlen. Die Araber tauchen bei dir im Lokal auf und verlangen Geld. Wenn du nein sagst, halten sie dir das Handy vor die Nase und sagen, in einer halben Stunde werden ein paar Jungs mit Uzis da sein. Was willst du machen? Du bezahlst, so ist es nun mal. In Köln sieht es anders aus, dort kontrolliert die PKK (die kurdische Arbeiterpartei) das Geschäft. Auch sie haben nicht direkt mit Prostitution zu tun, sondern Bordelle und Bars müssen Schutzgeld bezahlen.« Die Verbindung von Prostitutionsindustrie und bewaffneten Gruppen wird auch in Israel deutlich, einem Land, das im Zentrum des Krieges gegen den Terrorismus steht. Slawische Prostituierte und Sexsklavinnen gelangen über den Gazastreifen nach Israel, oft mit Unterstützung ägyptischer und palästinensischer krimineller Banden. Ildikó, eine 22-jährige Studentin aus Ungarn, wurde über den Balkan nach Ägypten geschmuggelt. »Ich kam in Alexandria an und wurde von einem Russen in Empfang genommen. Er brachte mich in die Wüste und übergab mich einem Beduinen. Dort waren noch sechs andere Mädchen, alle aus Russland. Wir zogen tagelang durch die Wüste bis an die Grenze.«19 Ildikó gelangte auf einem kleinen Pfad nach Israel, der von der Stadt Rafah zur israelisch-ägyptischen Grenze verläuft. Nördlich von Rafah liegt der Gazastreifen. »Rafah ist nur ein paar hundert Meter von der ägyptischen Grenze entfernt, und die südlichsten Häuser der Stadt dienen als Eingang zu einem Labyrinth
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von Tunneln, die Palästinenser und Beduinen vom Sinai aus gegraben haben. So kommen Terroristen, Drogenhändler und Menschenhändler ins Land und werden Frauen eingeschmuggelt, die man dann in Israel und auf der Westbank als Prostituierte verkauft.«20 Inoffiziell äußern Terrorexperten aus verschiedenen israelischen Organisationen ihre Besorgnis darüber, dass kriminelle Gruppen mit Verbindungen zu Terroristen im Sexgewerbe aktiv sind. Man muss sagen, dass Israel, um den unersättlichen Wunsch seiner Bürger nach slawischen Frauen zu stillen, mit dem arabischen Feind schläft. Ohne einen erheblichen Wandel in den Moralvorstellungen hätte dem außerordentlich gewachsenen Nachschub an slawischen Prostituierten und Sexsklavinnen nie eine entsprechende internationale Nachfrage gegenübergestanden. Die modernen, globalisierten Gesellschaften dulden heute stillschweigend Prostitution. »Prostitution wurde [...] umetikettiert zu einer Erweiterung der Unterhaltungsindustrie. Aus Studien geht hervor, dass sich bereits jeder zehnte britische Mann - 2,3 Millionen - hat unterhalten lassen«, stellte die Sunday Times fest.21 Niemand möchte sich den Spaß entgehen lassen, jeder will bei dem neuen Vergnügen mitmachen. »Einmal kam ein Gast herein und fragte nach einer Show mit mehreren Mädchen. Er saß da und blickte in Richtung Bühne, ohne die Mädchen anzufassen oder sonst etwas. Er saß einfach da«, erzählt Stefan, der Berliner Zuhälter. »Und das Witzige dabei... Er war blind.« Der Philosoph Roger Scruton meint: »Wenn Sex zur Ware wird, wird das wichtigste Heiligtum menschlicher Ideale der Markt. Das ist in den letzten Jahrzehnten passiert, und es bildet die Wurzel der postmodernen Kultur.«22 Im Westen hat die Veränderung der Moral dazu geführt, dass die Mit-
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telschichtprostitution, wie man es nennen könnte, akzeptiert wurde. Die Vermarktung von Sex durch Begleitdienste und durch Kleinanzeigen im Internet ist die häufigste Art, wie die neue Ware in der Mittelschicht vertrieben wird. »Tippen Sie >female escort< [>weibliche Begleitung<] bei Google ein, und Sie bekommen 760 000 Treffer.«23 Die meisten Websites gehören zu kleinen und mittelgroßen Agenturen, die in den neunziger Jahren entstanden sind. Wie die Werbung für »Sex gegen Geld« die Nachfrage steigerte, hat die Verklärung der Prostitution es leichter gemacht, slawische Frauen in das Sexgewerbe zu locken. Erfolgreiche Hollywoodfilme wie »Pretty Woman« zeichnen ein durch und durch fiktionales Bild der Prostitution. Mehreren Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zufolge, die mit slawischen Frauen arbeiten, welche von Sexhändlern mit Tricks in die Prostitution gelockt wurden, glaubten viele der Betroffenen, sie würden als Huren genau wie Julia Roberts in »Pretty Woman« ihren Mr. Right treffen... 24 Ein Happy End haben die Storys über Prostituierte nur in den Drehbüchern aus Hollywood, aber solche Bücher und Filme verkaufen sich, weil die Mittelschicht dann mit einigermaßen gutem Gewissen das Geschäft »Sex gegen Geld« akzeptieren kann. Nach wie vor befriedigen zahllose Verleger und Filmemacher gern die Vorstadtwünsche nach »unterhaltsamen« Märchen über die Prostitution und verdienen dabei Geld mit der Not und Verzweiflung von Frauen.
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Illusionisten der Schurkenwirtschaft Die Kultur des » Sex gegen Geld« wurzelt wie der amerikanische Traum in einem Gespinst von Illusionen. Ein klug konstruiertes Trugbild besteht überall da, wo die Nachfrage nach Prostitution hoch (wie es der unersättliche Hunger deutscher Männer nach slawischen Frauen zeigt) oder unverzichtbar ist (wie im Falle der orthodoxen Juden in Israel) und wo sie letztlich akzeptiert wird und als angenehme Unterhaltung gilt. In der Realität besteht heute wie seit jeher eine Nachfrage nach Prostituierten, weil viele Männer nur Sex haben können, wenn sie dafür bezahlen; die Prostituierten werden zu Palliativmitteln, Ersatz für reale Frauen, die sich aus Liebe hingeben. Vor allem aber ist die Prostitution eine Branche, in der mit dem skrupellosen Missbrauch von Frauen viele Milliarden Dollar verdient werden (2006 wurde der jährliche Umsatz der weltweiten Prostitution auf 52 Milliarden Dollar geschätzt).25 Die Ausbeutung hängt mit der Illegalität des Gewerbes zusammen. In Ländern wie den Niederlanden, wo die Prostitution seit Jahrzehnten legal ist, gibt es keine Zuhälter, die Prostituierten bezahlen Steuern, erhalten Leistungen aus den Kranken- und Rentenkassen und werden von der Polizei geschützt. In einer Weise, die in mancherlei Hinsicht an die Vermarktung der amerikanischen Kultur durch den Marshallplan erinnert, agieren die Händler der weltweiten Sexindustrie wie große Illusionisten, die nicht nur Produkte verkaufen, sondern einen neuen Lebensstil. Die Zuhälter der Globalisierung haben die Moral der Mittelschicht verändert, slawische Prostituierte und Sexsklavinnen sind zu Bestandteilen einer neuen permissiven Kultur geworden, in der Sex zwischen einvernehmlichen Erwachsenen aus der Mittelschicht und sogar auch Kindern frei handelbar ist. Auf Por-
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noTube beispielsweise ziehen sich Teenager vor den Handys ihrer Freunde aus. Auf Baazee.com, einer indischen Website im Besitz von eBay, verkaufte ein Mitschüler ein Video, das zwei Heranwachsende beim Sex in der Schultoilette zeigte. Aber geht es einer Gesellschaft wirklich besser, wenn sie sich auf die Kultur des »Sex gegen Geld« einlässt? Ist die Illusion gut für all jene, die den Sexmarkt bevölkern, so wie der amerikanische Traum gut war für die Europäer und die Amerikaner? Die Vermarktung des amerikanischen Traums half dem alten Kontinent, sich aus den Trümmern des Krieges zu erheben, und förderte das Wirtschaftswachstum in den Vereinigten Staaten, insofern nutzte es Käufern und Verkäufern gleichermaßen. In scharfem Kontrast dazu schadet der Vormarsch der globalen Sexindustrie den Anbietern und den Konsumenten von Liebe. Lassen wir Moral und Wirtschaft einmal beiseite und werfen wir einen Blick auf die Daten bei Geschlechtskrankheiten und Fruchtbarkeit. In Russland kamen 1994 auf 100 000 Einwohner 81,7 Fälle von Syphilis, 1995 waren es bereits 172 und 1998 sogar 221,9.26 2002 gehörte die Syphilisquote in Russland zu den höchsten weltweit, Russland stand auf einer Stufe mit den von Aids gequälten Ländern im subsaharischen Afrika. Der Trend geht in Richtung eines Rückfalls auf das Niveau des 19. Jahrhunderts, als Russland unter einem ähnlich häufigen Auftreten von Geschlechtskrankheiten litt. Einen Eindruck von der Tragweite der gegenwärtigen Epidemie vermittelt auch folgende Zahl: 1997 hatte einer von 75 Menschen in Estland Syphilis, verglichen mit 2,5 Fällen pro 100 000 Einwohnern in den Vereinigten Staaten.27 Auch hinsichtlich der Ausbreitung von HIV liegt Russland weltweit an der Spitze. Die Epidemie hat erst richtig begonnen, die meisten Betroffenen haben sich zwischen 1999 und 2005 infiziert,28 und die
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Folgen dieser Entwicklung werden weltweit zu spüren sein. Die Weltgesundheitsorganisation befürchtet, dass slawische Frauen auf dem gesamten Globus ihre Freier infizieren. Geschlechtskrankheiten beeinflussen die Geburtenraten negativ, und Russland hat eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit.29 Eine solide statistische Korrelation zwischen dem Rückgang der Fruchtbarkeitsziffern, dem dramatischen Einbruch der Geburtenraten in Russland und der Ausbreitung der globalen Sexindustrie besteht zwar nicht, doch radikale Veränderungen der Moral, die durch die Kultur des »Sex gegen Geld« verursacht wurden, haben fraglos die Lebenseinstellung der russischen Frauen verändert. »In einer Umfrage im Jahr 1997 unter fünfzehnjährigen [russischen] Schülerinnen sagten 70 Prozent, sie wollten Prostituierte werden, zehn Jahre zuvor hatten die Berufswünsche noch Kosmonautin, Ärztin oder Lehrerin gelautet.«30 Immer seltener wünschen sich Russinnen eine Familie und Kinder. Sie müssen sehen, wie sie über die Runden kommen, und da erscheint Prostitution als eine gute Möglichkeit. »Der Zusammenbruch des Kommunismus Anfang der neunziger Jahre hat die Menschen egoistischer gemacht und zu einer tiefen moralischen Krise geführt, die bis heute anhält«, schreibt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew.31 Die einzigen Gewinner der Kultur des »Sex gegen Geld« sind die Sexhändler, die Zuhälter der Globalisierung, die cleveren Illusionisten der Schurkenökonomie. Skrupellose kriminelle Banden und korrupte Politiker aus Russland und den Balkanstaaten haben Milliarden von Dollar gescheffelt und sind durch Frauenhandel zu Größen in der Weltwirtschaft aufgestiegen. Von Anfang 1998 bis Mitte 1999 hat beispielsweise Semjon Mogilewitsch, ein aus der Ukraine stammender Gangsterboss, 10 Milliarden Dollar - Profit aus Prostitu-
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tion, Drogenhandel und Investmentbetrügereien - über die Bank of New York gewaschen.32 Der Zusammenhang zwischen dem Fall der Berliner Mauer und der boomenden Prostitutionsindustrie im Westen illustriert, wie gefährlich es ist, die Auswirkungen größerer ökonomischer Umwälzungen zu unterschätzen. Nach dem Schritt des ehemaligen Ostblocks in den globalen Kapitalismus war das politische System entmachtet, ohne dass sich abzeichnete, was danach kommen würde. So versanken ganze Länder in Armut und politischer Anarchie, und in dem Vakuum erhoben sich wirtschaftliche Raubtiere und die Zuhälter der Globalisierung. Wie im folgenden Abschnitt ausgeführt wird, hat die Schurkenökonomie bei der Entstehung des »demokratischen« Russland die Rolle eines Doktor Frankenstein gespielt. Die vom Westen geförderte Demokratisierung hat undemokratische Wirtschaftskräfte gedeihen lassen, die den Übergang des Landes vom Kommunismus zum globalen Kapitalismus lenkten. Die Veränderung lässt sich gut anhand der schockierenden Verbindungen zwischen Schönheitswettbewerben, Popkonzerten und der Monetarisierung der russischen Wirtschaft verdeutlichen.
Schönheitsköniginnen und konvertierbare Rubel Die Privatisierung in Russland war die Übersetzung der Perestroika Michail Gorbatschows in den Bereich der Wirtschaft. Und weil man die Privatisierung als Eintrittskarte des ehemaligen Ostblocks in den entstehenden globalen Kapitalismus betrachtete, wurde sie auch der Preis, den Russland für die Mitgliedschaft im Club der demokratischen Staaten
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zu zahlen hatte. Ermutigt von westlichen Beratern wie Jeffrey Sachs, dem IWF und der Weltbank und unterstützt von westlichen Politikern, verstand man Perestroika bald als Synonym für raschen wirtschaftlichen Wandel. Ökonomische Reformen wurden wichtiger als die politische Transformation. Heute stimmen viele Ökonomen der Einschätzung zu, dass das Fehlen von Ad-hoc-Regelungen, die von einer soliden politischen Klasse hätten implementiert werden können, eine Fülle von wirtschaftlichen Schurkenkräften freisetzte. »Sie haben vor allem die Wirtschaft liberalisiert, ohne die Institutionen zu schaffen, denen man zugetraut hätte, dass sie den Übergang in eine Marktwirtschaft lenken und überwachen«, kommentiert Miklos Marshall, Regionaldirektor für Europa und Zentralasien von Transparency International (TI). In den Fußstapfen der ehemaligen britischen Regierungschefin Margaret Thatcher leitete Michail Gorbatschow 1987 und 1988 ein ambitioniertes Privatisierungsprogramm ein. Haupthindernis dabei war der nichtmonetäre Charakter der Sowjetwirtschaft. Offiziell gab es zwei Währungen: besnalitschnyje und Rubel. Wirtschaftliche Transaktionen im eigenen Land und im Rahmen des RGW (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) wurden in besnalitschnyje abgerechnet, einer reinen Verrechnungseinheit, Geld, das nur in den Büchern stand. Besnalitschnyje standen praktisch unbegrenzt zur Verfügung, weil man nur eine staatliche Erlaubnis zum Kaufen und Verkaufen brauchte. Der Staat legte die Warenpreise fest, weil er alle Produktionsmittel (Fabriken, Bergwerke und dergleichen) besaß und auch alle Produkte. Der Staat war auch der einzige Arbeitgeber, und umgekehrt besaßen die Arbeiter, das russische Volk, den Staat. In einem solchen System brauchte niemand echtes Geld, weil der Staat beide Funktionen erfüllte, das Kaufen und das Verkaufen.
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Bargeld in Form von Rubeln hatte dennoch einen realen Geldwert, hauptsächlich weil Rubel auf dem Schwarzmarkt zum Einsatz kamen, wenn harte Währungen gekauft und verkauft wurden und wenn man ein Produkt oder eine Dienstleistung erwerben wollte, die es auf dem offiziellen Markt nicht gab. Die kommunistischen Volkswirtschaften litten permanent an Warenmangel, weil es mit der Planung nicht einmal ansatzweise gelang, den Markt zu imitieren. Offiziell betrachteten die kommunistischen Regierungen den Schwarzmarkt als illegal, aber die Politiker verschlossen die Augen, weil der Schwarzmarkt wichtige Aufgaben erfüllte (und oft auch ihre Taschen füllte). Der Schwarzmarkt und die Schattenwirtschaft funktionierten nach Marktgesetzen, aber da wie dort tummelten sich kleine Gauner, korrupte Beamte und Parteimitglieder. Besnalitschnyje, das Verrechnungsgeld, konnte nicht in bare Rubel konvertiert werden, weil die Zentralbank es nicht eintauschte. Es konnte aber auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden. Der Wert war aus naheliegenden Gründen sehr viel geringer als der Wert von Rubeln, nach dem offiziellen Umtauschverhältnis entsprach ein Rubel zehn besnalitschnyje. Bereits 1987 war offensichtlich, dass die frisch privatisierten Firmen, die im Ausland Geschäfte machen wollten, Rubel brauchten und sich nicht darauf verlassen konnten, dass der Schwarzmarkt die kontinuierliche Versorgung mit Liquidität sicherstellen würde. Bargeld wurde auch für die ausreichende Eigenkapitalfinanzierung benötigt, die unverzichtbar war für kleine Privatfirmen. Die Regierung konnte diesen Firmen zwar unbegrenzt besnalitschnyje zufließen lassen, aber die besnalitschnyje ließen sich nicht eintauschen. Der Schwarzmarkt war auf Dauer zu teuer, die Zentralbank hatte zu wenig Bargeld, und das nicht vorhandene russische Finanzministe-
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rium konnte keine Staatsanleihen für die Geldschöpfung herausgeben. Vor diesem Hintergrund gestattete Gorbatschow Ende 1987 Firmen im Umfeld des Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation, besnalitschnyje in Rubel zu konvertieren. Praktisch machte er diese Firmen zum russischen Finanzministerium und hoffte, sie würden ohne staatliche Beteiligung allein Regeln für die Konvertierung finden. Wissenschaftliche Aktivitäten, worunter auch die Organisation von Schönheitswettbewerben und Popkonzerten fiel, berechtigten zum Umtausch. Solche Konzerte und Wettbewerbe gehörten bald fest zum Programm ehrgeiziger junger Russen, die möglichst schnell möglichst reich werden wollten. Einer von ihnen war Michail Chodorkowski, der damalige Präsident des Komsomol-Jugendclubs der Universität von Moskau. Im Jahr 1987 machte Chodorkowski aus seinem Jugendclub das Zentrum für wissenschaftlich-technisches Schöpfertum der Jugendstiftung für Jugendinitiative (NTTM). Die Aktivitäten des Zentrums bestanden im Wesentlichen in der Organisation von Schönheitswettbewerben und Rockkonzerten. Alles funktionierte nach einem einfachen Muster: Chodorkowski akzeptierte von den Besuchern seiner Schönheitswettbewerbe und Popkonzerte Zahlungen in besnalitschnyje. Die konvertierte er in Rubel oder eine harte Währung, indem er sie bei Exportfirmen (hauptsächlich Holzhandelsfirmen) eintauschte, die über reichlich ausländische Währung verfügten. Mit den harten Währungen importierte er Computer aus westlichen Ländern, die in Russland gegen besnalitschnyje verkauft wurden - und so strich Chodorkowski ein weiteres Mal den sechsfachen Gewinn für jeden Rubel ein.33 Mit den gleichen Tricks wurden die besnalitschnyje dann in Bar-Rubel oder harte Währung getauscht. Von jeder Transaktion profi-
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tierte Chodorkowski, und er wickelte Hunderte davon parallel ab. »Ich habe verschiedene Finanzierungsmethoden erfunden, die verbreitet verwendet wurden, und in den besten Tagen erlaubte mir das, bis zu fünfhundert Verträge für wissenschaftliche Forschung gleichzeitig laufen zu lassen. Dabei arbeiteten fünftausend Leute.«34 Hätte das Finanzministerium oder die Zentralbank die Konvertierungen abgewickelt, hätten Chodorkowskis Gewinne die Staatseinnahmen vergrößert. So aber gaben sie den Grundstein seines Privatvermögens ab. Schönheitswettbewerbe eröffneten der russischen Mafia eine großartige Gelegenheit, ein solides Geschäft mit der Prostitution auf die Beine zu stellen. »Damals wussten in Russland alle, was es mit der Mafia auf sich hatte. Schönheitswettbewerbe boten ideale Bedingungen für die Rekrutierung von Prostituierten und Sexsklavinnen«, sagt ein ehemaliger Banker, der in den Transformationsjahren für die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD, European Bank for Reconstruction and Development) gearbeitet hat: Die Mädchen führte man mit Versprechungen von einer großen Leinwandkarriere hinters Licht, und dann endeten sie in Bordellen in Israel, Dubai oder Westeuropa. Menschen wie Chodorkowski lieferten der Mafia die Ware auf einem Silbertablett. Er wusste genau, dass seine Schönheitswettbewerbe nichts anderes als Fleischmärkte waren, wo Zuhälter und Menschenhändler ihre Opfer auswählen konnten. Er wusste auch, dass das, was er tat, legal war und ihn sehr, sehr reich machte. Dachte er an die Mädchen? Natürlich nicht. Solche Wettbewerbe waren reine Geldmaschinen, und er brauchte eine Menge Geld für sein nächstes Vorhaben.35
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Chodorkowski hatte nicht direkt seine Hände bei der Prostitution im Spiel, aber er lieferte der Mafia, was sie brauchte. Er hatte einen viel größeren Fisch an der Angel: Russlands riesige Energiereserven. Die Schlüsselfrage ist bis heute, ob der IWF und die Weltbank, die die Privatisierung des russischen Staatsvermögens überwachten, ahnten, dass die Perestroika aus einer Gruppe skrupelloser Möchtegernoligarchen das neue russische Finanzministerium gemacht hatte, was es der Mafia erlaubte, von neuen Schurkengeschäftsfeldern wie der Prostitution zu profitieren. Wenn sie nichts davon wussten, waren sie eklatant unqualifiziert für die Aufgabe, den Übergang einer kommunistischen Volkswirtschaft in die globale Marktwirtschaft zu steuern. »Auch niemand sonst war qualifiziert dafür [...] das war ein jungfräuliches Gebiet [...] Außerdem wollte damals der Westen die Privatisierung so schnell wie möglich, damit die Transformation endgültig wäre«, räumt Bart Stevens ein, seinerzeit Pressechef der EBRD. 36 Die Privatisierung nahm 1992 eine wichtige Wende, als Präsident Boris Jelzin verkündete, Russland solle zu einer Gesellschaft von Aktionären werden. Das Volksvermögen sollte wie ein Kuchen in drei Teile geteilt werden: ein Teil für den Staat, der weiterhin ein Auge auf die frisch privatisierten Unternehmen haben würde, ein Teil für ausländische Investoren und der Rest für das Volk. Am 1. Oktober 1992 schenkte der Staat jedem Bürger Gutscheine im Gegenwert von 10 000 Rubeln (ungefähr 60 Dollar, was einem durchschnittlichen Monatsgehalt entsprach). Die Gutscheine konnten gegen Anteile an ehemaligen Staatsunternehmen eingetauscht werdensie konnten auch gespart, gekauft und verkauft werden. Doch die wenigsten Russen wussten etwas damit anzufangen.
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Von 1992 bis 1994 erlebte Russland eine schwere wirtschaftliche Krise. Der Wechselkurs des Rubels zum Dollar stürzte von 230 auf 3500 ab. Die Schwäche der Währung und dazu eine Inflationsrate in zweistelliger Höhe vernichteten die Ersparnisse der Menschen. Über ein Drittel der Russen fiel unter die Armutsgrenze.37 Wie kaum anders zu erwarten, zeigen die Statistiken der Vereinten Nationen, dass 1992 der Nachschub an slawischen Frauen und Sexsklavinnen für Westeuropa einen ersten Höhepunkt erreichte. Die Menschen waren verzweifelt und verkauften alles, was sie hatten, nur um ihre Familien ernähren zu können. Sie verkauften auch die Gutscheine. Chodorkowski und die anderen Oligarchen sicherten sich 90 Prozent der Gutscheine, indem sie Schalter eröffneten, wo die Menschen sie für einen Bruchteil ihres Wertes einlösen konnten. Nach einer Umfrage der russischen Zeitung Iswestija Ende der neunziger Jahre hatten nur 8 Prozent der Russen die Gutscheine gegen Anteile an den Unternehmen eingetauscht, für die sie arbeiteten. Die Oligarchen wurden dank der Gutscheine zu Minderheitsaktionären der frisch privatisierten russischen Unternehmen. Im Jahr 1995 war den Russen klar, dass der Kapitalismus sie ärmer gemacht hatte und nicht reicher. Nach offiziellen russischen Wirtschaftsstatistiken war das BIP um rund 50 Prozent gefallen. Der Staat war bankrott, Gehälter und Renten wurden nicht mehr bezahlt. Die Menschen sehnten sich nach dem kommunistischen Regime zurück, und Jelzin musste mit einer Niederlage bei den Wahlen 1996 rechnen. Um diese abzuwenden, schloss er einen Deal mit den Oligarchen: Der Staat würde seine Mehrheitsbeteiligung an den privatisierten Staatsunternehmen aufgeben, wenn er im Gegenzug Anleihen für die Bezahlung von Löhnen und Renten bekam. Das
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Konzept Anleihen gegen Anteile war geboren, und Jelzin sicherte mit Bestechung seine Wiederwahl. Wir hatten eine korrupte Regierung, die verzweifelt Geld brauchte, und so genannte »Banken« im Besitz der Oligarchen, die ein Geschäft machten. Die Regierung brauchte Bargeld für Pensionen und dergleichen und verpfändete zusätzlich ihre Anteile an Staatsunternehmen für Darlehen von den Banken der Oligarchen. Wie kaum anders zu erwarten, konnte die Regierung die Darlehen nicht zurückzahlen, und so gingen ihre Anteile automatisch an die Banken. Wieder war alles vollkommen legal.38 Nach Jelzins Wiederwahl erhielten die Oligarchen den Lohn für ihre Unterstützung. Chodorkowski beispielsweise war der einzige Bieter für Russlands drittgrößten Ölkonzern Jukos und kaufte ihn für rund 300 Millionen Dollar, einen Bruchteil seines Wertes. Die wahre Dimension des Geschäfts wurde erst 2003 offensichtlich, als die russischen Strafverfolgungsbehörden 44 Prozent des Jukos-Vermögens einfroren 10 Milliarden Dollar.
Umherstreifende gegen stationäre Banditen Der verstorbene amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson bezeichnete die russischen Oligarchen und die Zuhälter der Globalisierung als »umherstreifende Banditen«: »Umherstreifende Banditen nehmen alles mit, was sie tragen können, denn ihre Opfer sind ihnen egal, und am nächsten Tag werden sie andere berauben.« 39 Die Oligarchen und Zuhälter wurden die Räuberbarone, die das russische Volks-
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vermögen raubten. Erstere stahlen materielle Werte, Letztere die Körper und Seelen von Frauen. Ihre Profite reinvestierten sie, aber nicht in Russland, sondern in Westeuropa. »Die Privatisierung zusammen mit der Öffnung der Kapitalmärkte führte nicht zur Schaffung von Wohlstand, sondern zur Plünderung von Vermögen«, bestätigte Joseph Stiglitz, der ehemalige Chefvolkswirt der Weltbank im Jahr 2002. 40 In den neunziger Jahren »erlebte Russland den größten Ressourcendiebstahl, der je in einem Land innerhalb kurzer Zeit vorgekommen ist, zwischen 150 und 200 Milliarden Dollar in einem Jahrzehnt. Und das ist nur eine vorsichtige Schätzung, sie reicht bis zu 350 Milliarden Dollar«, rechnete Raymond Baker vor, Wissenschaftler am Center for International Policy in Washington.41 Im Jahr 1998, als der Rubel zusammenbrach und IWF und Weltbank gemeinsam ein Rettungspaket im Wert von 22 Milliarden Dollar schnürten, schleusten die Oligarchen das neue Geld einfach durch bestens funktionierende Kanäle ins Ausland. »Es geschah Folgendes: An dem Tag, an dem die Darlehen eingingen, kauften die Oligarchen, die durch die Konvertierung von besnalitschnyje reichlich Rubel besaßen, Dollars zu einem sehr niedrigen Kurs von der Zentralbank. Die Regierung war glücklich, dass sie Dollars verkaufen konnte, denn sie brauchte Rubel für Gehälter und Pensionen«, erklärt Miklos Marshall von Transparency International. »Innerhalb von Stunden überwiesen die Oligarchen die Dollars ins Ausland, auf Offshorekonten in Ländern wie den Caymaninseln und Zypern, und so verdienten sie ein Vermögen mit Geld, das dafür gedacht war, den Wechselkurs des Rubels zu stützen.« Der Geldabfluss schwächte den Rubel weiter und belastete die Wirtschaft noch mehr.
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Die Oligarchen plünderten systematisch das russische Volksvermögen, und dabei schufen sie ideale Bedingungen für russische Zuhälter und Mafiosi, die es auf russische Frauen abgesehen hatten. Nach der Krise im Jahr 1998 registrierten die NGOs einen weiteren Höhepunkt im Zustrom russischer Frauen in die globale Sexindustrie. »Aber da es sich um einen freien Markt handelte, taten die Oligarchen nichts Illegales«, räumt Miklos Marshall ein. Aus marktwirtschaftlicher Sicht war ihr Verhalten sogar absolut logisch: Ein Oligarch, der soeben seinen politischen Einfluss genutzt hatte, um an Vermögenswerte in Milliardenhöhe zu kommen, für die er nur ein Taschengeld bezahlt, will natürlich sein Geld aus dem Land hinausschaffen. In Russland zu investieren hätte bedeutet, in einem Land zu investieren, das in einer tiefen Depression steckte, mit dem Risiko, dass nicht nur die Renditen schmal ausgefallen wären, sondern dass die nächste Regierung unvermeidlicherweise und völlig zu Recht die »Illegitimität« des Privatisierungsvorgangs angeprangert und womöglich das Vermögen konfisziert hätte.42 Das Fiasko von Russlands Eintritt in den Club der demokratischen Länder und sein Scheitern auf dem Weg zu wirtschaftlichem Wohlstand wird niemanden schockieren, der die Klassiker der Wirtschaftswissenschaften gelesen hat. Sie warnen die Politiker vor den Gefahren unkontrollierter Märkte. Vor mehr als zwei Jahrhunderten, zu Beginn der industriellen Revolution, schrieb Adam Smith im Wohlstand der Nationen:
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Handel und Gewerbe können selten lange in einem Land gedeihen, das ohne geordnetes Rechtswesen ist, in dem sich die Menschen ihres Eigentums nicht sicher fühlen, in dem das Vertrauen in Verträge nicht durch das Gesetz gestärkt wird und in dem man nicht regelmäßig den Einsatz der Staatsgewalt erwarten kann, damit zahlungsfähige Schuldner auch zur Leistung gezwungen werden. Kurz, Handel und Gewerbe können selten in einem Staat aufblühen, in dem nicht ein gewisses Maß an Vertrauen in die von der Regierung zu gewährleistende Rechtssicherheit besteht.43 In der gegebenen Situation könnten viele argumentieren, die Russen hätten unter dem Kommunismus besser gelebt, selbst als Josef Stalin über das Volk herrschte, ein Mann, auf den Olsons Beschreibung eines stationären Banditen zutrifft: Stationäre Banditen, die das Verbrechen in einem bestimmten Gebiet monopolisieren, müssen bedenken, ob die übermäßige Gier heute nicht womöglich zu enttäuschter Gier morgen führt. Sie haben einen Anreiz, ihr Verlangen zu zügeln, damit ihren Opfern zumindest das Wenige bleibt, das sie brauchen, um Handel zu treiben und Wohlstand anzusammeln. Sie werden sogar Wohlstand erzeugende öffentliche Güter zur Verfügung stellen, vor allem so weit für öffentliche Ordnung sorgen, dass die Umtriebe von umherstreifenden Räuberbanden eingedämmt werden, die vor Investitionen abschrecken würden.44 Die meisten Beobachter sind heute ebenfalls der Meinung, dass der russische Präsident Wladimir Putin dem Typus des stationären Banditen entspricht, und nun versucht er, den
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Oligarchen ihren Besitz abzunehmen. Die Privatisierung hat sich als nur ein flüchtiger Augenblick in der Geschichte Russlands erwiesen. Sie brachte weder Demokratie noch wirtschaftlichen Wohlstand, sondern vielmehr eine Generation von marodierenden Räuberbanden. Mehr als anderthalb Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer ist Putin auf dem besten Weg, die Macht der Sowjetunion wiederherzustellen. Vor diesem Hintergrund muss man die unbequeme Frage stellen: War es richtig, die Sowjetunion in dem neuen Rahmen der Globalisierung zu zerschlagen, wenn das, was wir heute haben, ein schlimmeres Abbild des alten Regimes ist? Viele Russinnen gehören zu den ärmsten Opfern des Globalisierungsexperiments in der Zeit nach dem Kalten Krieg und würden wohl mit Nein antworten. In der Schurkenwirtschaft sind die meisten zu einer sexuellen Ware geworden. Der Vergleich zwischen den Folgen des Marshallplans und denen nach dem Fall der Berliner Mauer illustriert die Probleme der Globalisierung in einer Welt, in der die Schurkenwirtschaft herrscht. In der globalen Wirtschaft fällt es der Politik immer schwerer, den Markt zu regulieren. Maßnahmen in einem Land, auch politische Veränderungen, können eine Kettenreaktion mit verheerenden Konsequenzen für mehrere andere Länder auslösen. Wer konnte voraussagen, dass die Sowjetunion kampflos untergehen würde? Wer konnte voraussagen, dass der Fall der Berliner Mauer der weltweiten Sexindustrie einen Schub geben würde? Oder dass die Privatisierung der russischen Wirtschaft der Startschuss für die Plünderung der Ressourcen des Landes sein und eine Schicht von Oligarchen hervorbringen würde? Genauso wenig wissen die Menschen über die Interdependenzen der Schurkenökonomie. All jene, die nach Ost- und
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Westberlin strömten, um mit bloßen Händen die Mauer einzureißen, trieb der Wunsch, eine lange, schmerzliche Zeit der Trennung zu beenden, eine Spaltung zu überwinden, die über Jahrzehnte die Seele eines Kontinents gequält und sein Leben vergiftet hatte. Doch für Millionen osteuropäischer und russischer Frauen hatte der Albtraum damit gerade erst begonnen. In der Euphorie des Augenblicks konnten nicht einmal renommierte Wirtschaftswissenschaftler ahnen, dass die Mauer nur ein Symbol war. Sie einzureißen war, so zeigte sich, lediglich eine historische Fußnote. Dahinter lag ein komplexes, räuberisches Wirtschaftssystem, das von den politischen Zwängen des Kalten Krieges erhalten und genährt worden war. Es suchte verzweifelt neue Märkte, und niemand - nicht einmal die treibenden Kräfte bei der Zerstörung des Sowjetsystems - konnte es kontrollieren. In dem politischen Vakuum, das nun entstand, verwandelte die Schurkenökonomie die Globalisierung (die Frucht von Reagonomics, Thatcherismus und der Modernisierung) in einen wirtschaftlichen Mutanten. Wie der Marshallplan zu Beginn des Kalten Krieges bewirkte der Fall der Berliner Mauer an seinem Ende, dass neue, größere Märkte für die westlichen Volkswirtschaften entstanden, indem Gelder in die Umgestaltung unterentwickelter Regionen flossen. Doch das Projekt scheiterte, weil der Markt die Ketten der Politik zerbrochen hatte. Die Wirtschaft war zu einer Schurkenkraft geworden, und wie wir in den nächsten Kapiteln sehen werden, schickte sich diese Kraft an, den Globus umzugestalten.
KAPITEL
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Ich zähle sparsames Wirtschaften zu den ersten und wichtigsten Tugenden und halte öffentliche Schulden für die Gefahr, die am meisten zu furchten ist. Thomas Jefferson
Nehmen wir Mr. und Mrs. Jones, Kinder des amerikanischen Traums der Nachkriegszeit. Sie leben am Rand einer Kleinstadt im Mittleren Westen, aber sie sind ihrem Traum sehr nahe gekommen. Mr. Jones ist Zimmermann und hat während der Rezession Ende der neunziger Jahre auf die Bonuszahlungen seiner Firma, eines Bauunternehmens, verzichtet, um seinen Arbeitsplatz zu behalten. Mrs. Jones ist keine Göttin am heimischen Herd, eher dürfen wir erwarten, dass sie übergewichtig und überarbeitet ist. Sie ist Krankenschwester im nahe gelegenen Krankenhaus, und in ihrer Freizeit hilft sie Nachbarn, die keine Krankenversicherung haben. Ohne diesen steuerfreien Zuverdienst käme Familie Jones nicht über die Runden. Im Jahr 2006 belief sich ihr Haushaltseinkommen auf 46 326 Dollar - 2000 Dollar weniger als 2001, in dem Jahr, als die letzte Rezession zu Ende ging. Sie haben 3800 Dollar auf der Bank, 8000 Dollar Kreditkartenschulden1 und besitzen weder Aktien noch Anleihen. Ihr Haus hat
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160 000 Dollar gekostet und ist noch mit 90 000 Dollar belastet.2 Beide kaufen bei Wal-Mart ein, essen bei McDonald's und leisten sich regelmäßig Lotterielose in der Hoffnung auf einen Geldgewinn, der sie aus der Mittelschicht herausholt. Ein Lotteriegewinn ist der überwältigende neue Traum der amerikanischen Mittelschicht. In fünfzig Jahren, weniger als die Lebenszeit eines Menschen, hat sich der amerikanische Traum in einen Albtraum verwandelt. Stagnierende Löhne, immer mehr Pleiten und große Einkommensunterschiede sind die Wurzel der Veränderung. Weniger oft wird darüber geredet, dass sich die Verarmung der amerikanischen Mittelschicht in den letzten fünfzehn Jahren beschleunigt hat, ausgelöst durch den Fall der Berliner Mauer und gefördert durch die wirtschaftliche Globalisierung. Ironischerweise haben die beiden entscheidenden Siege im Kalten Krieg - ein politischer und ein ökonomischer - die Menschen im besiegten Ostblock in Armut gestürzt und die Basis für den sozioökonomischen Niedergang der amerikanischen Mittelschicht gelegt, die das Rückgrat der siegreichen Vereinigten Staaten bildete.
Der kommunistische Fluch Die Auflösung des Ostblocks brachte die Ära der weltweiten Deflation: Überall fielen die Preise und ebenso die Löhne in der industrialisierten Welt. Die Deflation wurde beschleunigt durch den Zustrom von Arbeitskräften aus den ehemals kommunistischen Ländern auf die Weltmärkte. Während man sich freute, dass Familien den Eisernen Vorhang überwanden und in den Westen strebten, zu Freiheit und Wohlstand, stellten die Industrieländer fest, dass sie für die Auf-
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nahme der neuen Arbeitskräfte schlecht gerüstet waren. Es waren einfach zu viele Menschen, und es gab nicht genug Kapital, um sie alle zu beschäftigen. Alan Greenspan, der eigenwillige ehemalige Chef der amerikanischen Notenbank, der das Amt unter drei amerikanischen Staatspräsidenten innehatte, schreibt ebenfalls, das Ende des Kommunismus »brachte Milliarden billiger Arbeitskräfte auf die [internationale] Bühne. Das wirkte stark deflatorisch«,3 vor allem, weil die Osteuropäer und Russen Löhne weit unter Westniveau akzeptieren mussten, wenn sie sichere Arbeitsplätze haben wollten. Dieser Prozess löste eine erste Welle von Lohnrückgängen in Europa aus. Amerika entging dem Trend nicht. Von 1989 bis Mitte der neunziger Jahre sank das reale Medianeinkommen - das heißt das Einkommen derjenigen, die zwischen der Schicht der Reichen und der Schicht der Armen liegen - beträchtlich. Der Zustrom aus dem ehemaligen Ostblock war nur der Anfang eines langen, außerordentlichen Zuwachses im weltweiten Angebot von Arbeitskräften. Seit Beginn der neunziger Jahre fanden nicht nur Russen und Osteuropäer, sondern auch chinesische und indische Arbeitnehmer, die zuvor in geschlossenen und teilweise von der Außenwelt abgeschotteten Volkswirtschaften beschäftigt gewesen waren, Zutritt zur Weltwirtschaft. Richard Freeman, Arbeitsökonom in Harvard, schätzt, dass sich Anfang der neunziger Jahre das weltweite Angebot an Arbeitskräften verdoppelt hat.4 Nach dem Fall der Berliner Mauer mussten Mr. und Mrs. Jones genau wie ihre Pendants in Europa mit den Neuankömmlingen um Arbeitsplätze konkurrieren. Der Konkurrenzkampf war hart, weil die Konzerne erfolgreich die riesigen Pools billiger ausländischer Arbeitskräfte anzapften und, um Kosten zu sparen, die Produktion und die Arbeits-
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plätze ins Ausland verlagerten. »Die Arbeitnehmer im Westen konnten zusehen, wie vor ihrer Nase die Jobs verschwanden«, fasste ein italienischer Gewerkschafter die Entwicklung zusammen. Die ausländische Konkurrenz war so skrupellos, dass die Arbeitnehmer im Inland zur Sicherung ihrer Arbeitsplätze auf Leistungen verzichteten. Im wiedervereinigten Deutschland beispielsweise stimmten die Gewerkschaften Lohneinbußen bei gleichzeitiger Mehrarbeit zu aus Sorge, die Unternehmen könnten die Produktion nach Osteuropa verlagern. Ohne weltweite Sozialstandards und eine verlässliche internationale Gesetzgebung über Mindestlöhne und Sozialleistungen haben die westlichen Arbeitnehmer viel Verhandlungsmacht eingebüßt. 5 In der industrialisierten Mittelschicht gehören Menschen wie Mr. und Mrs. Jones zu denen, die am meisten leiden. Die amerikanischen Sozialleistungen und Leistungen an Bedürftige wurden bereits maximal beschnitten, aber die Europäer kommen immer noch in den Genuss hoher »Soziallöhne« wie Bildung, Gesundheitswesen und Unterstützung für das Wohnen, die vom Staat zur Verfügung gestellt oder bezuschusst werden. Düsterer sieht es für künftige Generationen aus. Solange es billiger ist, im Ausland zu produzieren als zu Hause, werden die Löhne in den Industrieländern weiterhin stagnieren. Die Verarmung der Mittelschicht bleibt womöglich über Jahrzehnte bestehen, bis die Löhne in den Entwicklungsländern an das Niveau im Westen herankommen: Richard Freedman schätzt, wenn die Löhne in China sich alle zehn Jahre verdoppeln, wie es in den neunziger Jahren der Fall war, werden sie in etwa dreißig Jahren das Niveau erreichen, auf dem die entwickelten Länder heute sind. Die Integration der Arbeitnehmer aus anderen Ländern könnte
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etwas länger dauern, aber der Übergang könnte in vierzig bis fünfzig Jahren abgeschlossen sein - und dann werden die Löhne im Westen vermutlich wieder steigen, und es wird sich wieder ein Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit einstellen.6 Ironischerweise ist der Zerfall, nicht der Aufstieg des Kommunismus der Fluch für die westlichen Arbeitskräfte. Bessere Bildung wird die künftigen Generationen im Westen nicht vor ihrem Schicksal bewahren: Sie werden das neue Proletariat der Globalisierung bilden. »Indonesien, China, Indien [...] haben die Zahl der Studienanfänger in den achtziger und neunziger Jahren mehr als verdoppelt [...] Im Jahr 2010 werden [in China] mehr Studenten in Natur- und Ingenieurwissenschaften einen Abschluss machen als in den Vereinigten Staaten.«7 Sie alle vergrößern das weltweite Arbeitskräfteangebot auf allen Ebenen. Während zunächst nur ungelernte Arbeiter die Auswirkungen der Verdopplung des Angebots auf dem Arbeitsmarkt zu spüren bekamen, sind mittlerweile die qualifizierten Arbeitsplätze von Verlagerungen ins Ausland und Outsourcing betroffen. »Von Januar 2001 bis Januar 2006 ging [beispielsweise] in den Vereinigten Staaten die Zahl der Arbeitsplätze im Informationssektor um 17 Prozent zurück; bei Rechnungswesen und Buchhaltung sowie im Computerbereich waren es 4 Prozent und 9 Prozent.«8 Mehr als 750 multinationale Firmen unterhalten bereits Forschungs- und Entwicklungs-Abteilungen in China. Buchhaltung, medizinische Diagnostik und Informationstechnologie werden ebenfalls langsam nach China verlagert. Die Industriestaaten verlieren ihr Monopol in Forschung, Innovation und Technologie. Die Wirtschaftswissenschaftler haben die Folgen der Ar-
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beitsplatzverlagerung unterschätzt, insbesondere die Zersetzungswirkung auf die Industriestaaten. »Wir haben bisher kaum die Spitze des Eisbergs gesehen, das ganze Ausmaß könnte uns sprachlos machen«, stellt Alan Blinder fest, ehemaliger Vizechef der amerikanischen Notenbank.9 Die Ökonomen dachten irrtümlich, die Verlagerungen würden den Freihandel fördern, der ein Schlüsselfaktor für den internationalen Warenaustausch im Zeitalter der Globalisierung ist, und wären so etwas wie eine Ergänzung zu David Ricardos Theorie der komparativen Kostenvorteile. Ricardo, der Wirtschaftstheoretiker aus dem 19. Jahrhundert, argumentierte, Nationen hätten einen Anreiz, miteinander Handel zu treiben, wenn sich jede Nation auf die Herstellung der Waren konzentrierte, die sie besonders kostengünstig produzieren könnte, und die Herstellung sonstiger Waren anderen Nationen überließe. Ricardo erläuterte das am Beispiel von England und Portugal. Beide Länder stellen Wolle und Wein her, aber die Produktion von Wein war in Portugal billiger und die Produktion von Wolle in England. Wenn sich Portugal und England jeweils auf die Herstellung von und den Handel mit einer Ware konzentrierten, profitierten beide davon. Komparative Kostenvorteile sind das Rückgrat des internationalen Handels, und Outsourcing zerbricht dieses Rückgrat (von 1989 bis 2006 ging der Außenhandel der Vereinigten Staaten mit Gütern und Dienstleistungen um 12 Prozent zurück). »Verlagerung ins Ausland ist ein Beispiel, wie Unternehmen durch die Kombination von Hightech-Kapital und billigen Arbeitskräften absolute Kostenvorteile erzielen«, und China habe dieses Muster perfektioniert, erklärt Paul Craig Roberts, unter Präsident Reagan stellvertretender Finanzminister.10 Chinas überwältigender und unangefochtener absoluter Kostenvorteil hängt am unbegrenzten Angebot billi-
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ger Arbeitskräfte, einer Ressource, die so mächtig ist, dass sie die Industriestaaten um ihren komparativen Vorteil gebracht hat. Die Schurkennatur dieses Phänomens hat bereits die Handelsbeziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten verändert. Die USA sind Hauptabnehmer der chinesischen Exporte, doch statt im Gegenzug amerikanische Waren nach China zu exportieren, exportiert Amerika seine Schulden. Das System ist einfach. Ein breiter Strom von Dollars fließt von Amerika nach China und erzeugt einen chinesischen Handelsbilanzüberschuss in Dollar. Um den Überschuss zu kompensieren, unterhält China ein Defizit in der Kapitalverkehrsbilanz mit Amerika - das heißt, China kauft amerikanische Staatsanleihen und erhöht seine Dollarreserven.11 Wir können uns zwei identische Dollarströme über den Pazifik hinweg vorstellen: Der eine geht nach Westen und dient dem Kauf chinesischer Waren, der andere geht nach Osten und dient dem Erwerb amerikanischer Staatsanleihen. Ironischerweise finanziert ausgerechnet das kommunistische China das Handelsbilanz- und das Haushaltsdefizit der USA, weil es auf diese Weise die Aufwertung seiner Währung verhindern will, die Chinas Konkurrenzfähigkeit auf dem amerikanischen Markt schaden würde. Die Vereinigten Staaten begrüßten diese Strategie, weil sie »die Konsumenten und die Wähler glücklich macht und die Wirtschaft am Laufen hält«.12 Ähnlich funktionierte das Recycling der Petrodollars in den siebziger Jahren, als das Ungleichgewicht in der Handelsbilanz der ölproduzierenden und der ölimportierenden Länder durch gegensätzliche Kapitalflüsse ausgeglichen wurde. Doch dieser Prozess nützte der Weltwirtschaft, weil er die Auswirkungen der ersten beiden Ölschocks abmilderte. Bisher wurde Chinas komparativer Vorteil, seine
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billigen Waren, durch Amerikas komparativen Vorteil, den Konsum, ausgeglichen. Dass in Amerika mit vollen Händen Geld ausgegeben wird, hat viele Gründe, vom pathologischen Konsumverhalten der amerikanischen Mittelschicht bis zu dem schwindelerregenden Haushaltsdefizit, das nötig ist, um Präsident George W. Bushs »Krieg gegen den Terror« zu finanzieren. Die Frage ist, was passieren wird, wenn einmal der heimische chinesische Markt den Großteil der chinesischen Produktion absorbiert. Wird dann der komparative Vorteil zwischen den beiden Ländern verschwinden? Ricardo würde sagen, dass in dieser Gleichung mehr als der komparative Vorteil zum Tragen kommt und wir auch an Amerikas ökonomische Coabhängigkeit denken sollten. Wenn diese Analyse richtig ist, kann die Entwicklung eines starken chinesischen Heimatmarktes eine größere wirtschaftliche Krise in den Vereinigten Staaten und der übrigen Welt auslösen.
Amerika geht bankrott Man könnte den Zusammenbruch des Kommunismus mit dem Abschmelzen der Eiskappe am Nordpol vergleichen: Billige Arbeitskräfte überschwemmten den globalen Markt und gestalteten die Volkswirtschaften ganzer Kontinente um. Aber die schlimmste Folge war die Ausbreitung von schurkenwirtschaftlichen Interdependenzen. Der Fall der Berliner Mauer hat die Prinzipien der Ökonomie so erschüttert, dass selbst die Stagnation der Reallöhne im Westen den Konsum nicht geschwächt hat. Im Gegenteil, nach 1989 erreichten die Konsumausgaben in den Vereinigten Staaten und Europa dank fallender Zinsen neue historische Höchststände. Eine Grafik, die die Entwicklung der Zinssätze in den Vereinigten Staaten
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und Europa in den neunziger Jahren zeigt, erinnert an einen Skihang.13 Nach den zweistelligen Zinssätzen und der Konjunkturabkühlung in den achtziger Jahren löste die Tatsache, dass Kredite immer billiger zu haben waren, eine weltweite Euphorie aus. Joseph Stiglitz, der ehemalige Chefvolkswirt der Weltbank und Verfasser mehrerer Bestseller über die Ökonomie der Globalisierung, taufte diese zehn Jahre sogar die »Roaring Nineties«, die wilden neunziger Jahre. Angefeuert von einer aggressiv agierenden Kreditindustrie, konnte die Welt gar nicht genug vom Geldausgeben bekommen. Von Kreditkartendarlehen bis zu Hypotheken: Es war ganz leicht, sich Geld zu einmaligen Konditionen zu leihen. John, ein Bauunternehmer in Südlondon, brachte es auf elf Kreditkarten. »Angebote für immer neue Kreditkarten kamen mit der Post. Ich musste nur den Antrag ausfüllen und zurückschicken. Nach einer Woche hatte ich eine weitere Kreditkarte.«14 Wenn bei einer Karte das Kreditlimit erreicht war, griff John zur nächsten. Billige und leicht verfügbare Kredite veranlassten die Menschen, Geld auszugeben, das sie nicht hatten. In den Vereinigten Staaten schoss die Verschuldung der Konsumenten einschließlich Kreditkartendebits, Bankdarlehen und Autofinanzierungen - von 1993 bis 2004 von 800 Millionen auf 2 Billionen Dollar in die Höhe, das entspricht rund 3 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. 2006 summierten sich die offenen Schulden der Amerikaner auf das Dreifache des BIP des Landes. Menschen, denen es wie den Jones schwerfiel, ihre Schulden zurückzuzahlen, nahmen Dispositionskredite in Anspruch und bezahlten ihre Kreditkartenschulden erst verspätet und mit Überziehungszinsen, die weit über den bankenüblichen Sätzen lagen (2006 nutzte über die Hälfte
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der Erwachsenen in den Vereinigten Staaten - 115 Millionen Amerikaner - einen Kreditrahmen).15 Die Banken waren mit der Vergabe von Darlehen genauso großzügig wie die Kreditkartenfirmen. In den neunziger Jahren ebneten Amerika und das Vereinigte Königreich den Weg, wie man leicht an eine Hypothek kommen konnte. Wichtige geldpolitische Entscheidungen waren die Voraussetzung für billige Hypotheken.16 Seit dem Fall der Berliner Mauer hat die amerikanische Notenbank die Zinsen immer weiter gesenkt, um Krisen abzuwenden, die der amerikanischen Wirtschaft im Zusammenhang mit der Globalisierung drohten, und diese Politik hatte dramatische Folgen für die Verschuldung der Haushalte und die Konsumentenausgaben. Im Jahr 2006 beliefen sich die Hypothekenkredite in den Vereinigten Staaten auf 7 Billionen Dollar, 10 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. »Heute leben wir mit den Hinterlassenschaften einer solchen Politik, und dazu gehören eine Blase bei den weltweiten Kapitalflüssen und eine Blase auf den Immobilienmärkten in den Vereinigten Staaten (und anderswo)«, erklärt George Magnus, leitender wirtschaftlicher Berater beim Finanzdienstleister UBS. »Mittlerweile fliegt Amerika rasch auseinander.«17 Die Menschen liehen sich Geld ohne ausreichende Sicherheiten. 2005 wurde bei 40 Prozent der Hypothekenfinanzierungen in den Vereinigten Staaten kein Eigenkapital verlangt. »Das war das einzige Mal in meinem Leben, dass man kein Eigenkapital brauchte, wenn man ein Haus kaufen wollte, sondern man musste nur einen Job haben«, erzählt J. Ronald Terwilliger, der Chef von Trammel Crow Residential, einem Unternehmen, das mehr als 200 000 Häuser in ganz Amerika gebaut hatte.18 Das sind sehr riskante Geschäfte, wie der steile Anstieg der Pleiten in allen westlichen
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Ländern zeigt.19 Viel stärker als unter dem islamistischen Terror leidet die westliche Welt unter Insolvenzen. Im Jahr 2006 nahm die Zahl der Privatinsolvenzen in Großbritannien um 55 Prozent zu, und allein in der ersten Jahreshälfte schrieben die britischen Banken 3,3 Milliarden Pfund an uneinbringlichen Schulden ab.20 Rasanter als in jedem anderen Land wächst die Zahl der Insolvenzen in den Vereinigten Staaten von Amerika. 2006 lag die Zuwachsrate bei den Pleiten um 1,5 Prozentpunkte höher als die Zuwachsrate des BIP. 21 Es ist kein Geheimnis: Amerika geht bankrott. Ironischerweise erlebt ein Segment der Kreditindustrie dank des Anstiegs der Insolvenzen einen Boom, und das ist eine Folge der Schurkennatur der Zinspolitik der amerikanischen Notenbank, die auf langfristig niedrige Zinsen setzt. Die Statistiken zeigen, dass in den Vereinigten Staaten im Jahr 2005 Unternehmen, die auf das Bündeln von Schulden spezialisiert sind, notleidende Kreditkartenkonten im Wert von 66 Milliarden Dollar aufkauften. Diese Summe war eine goldene Gelegenheit für Schuldensammler, aber ganz anders sah es für die schätzungsweise acht Millionen Kreditkartennutzer aus - sie wurden mit häufigen Telefonanrufen, Mahnschreiben, Gerichtsverfahren, Gehalts- und Immobilienpfändungen überzogen und mussten manchmal wegen ihrer Kreditkartenschulden sogar ins Gefängnis.22 Die Hypothekenbranche ist der Angelpunkt zahlreicher Pleiten. Zwangsversteigerungen von Häusern sind mit Abstand die häufigste Form des Bankrotts, in den Vereinigten Staaten ist Colorado am stärksten betroffen. 1996 verloren 700 Einwohner von Denver ihre Häuser, weil sie ihre Hypotheken nicht mehr bedienen konnten, 2006 waren es 4000. Die Be-
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hörden sind überzeugt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Zahl der Zwangsversteigerungen und der leichten Verfügbarkeit von Darlehen in dem Bundesstaat besteht.23 In dieser Situation haben sich etliche Hypothekenmakler als Gangster des Globalisierungszeitalters entpuppt. »Bis 2006 machten sich die Hypothekenhändler keine großen Gedanken, ob eine Hypothek auch tatsächlich zurückgezahlt werden würde, denn sie bekamen beim Kauf der Immobilie auf jeden Fall ihren Anteil in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes der Hypothek«, erklärt ein Immobilienmakler in Montana. »Auch die Banken waren nicht besorgt. Wenn die Hauspreise in atemberaubendem Tempo steigen und die Nachfrage hoch ist, können sie gepfändete Immobilien schnell wieder losschlagen und dabei noch einen Gewinn herausholen.« Oft informieren die Bankmanager Immobilienentwickler und Käufer, ihre Kunden, vorab über eine bevorstehende Pfändung, sodass sie an den Besitzer herantreten und den Besitz kaufen können, bevor er von der Bank zwangsversteigert wird. Die Glacier Bank in Kalispell in Montana beispielsweise hat diese Strategie bei Immobilien im nahe gelegenen schicken Whitefish praktiziert. Da Zinsen auf die ausstehenden Schulden beglichen werden, bevor der Hauptgläubiger sein Geld bekommt, strichen die Banken oft einen Gewinn ein, wenn eine Immobilie den Besitzer wechselte. Leicht verfügbare billige Darlehen sind ein starker Anreiz, ein teures Haus zu kaufen, und der »Wohlfühlfaktor« führt oft dazu, dass ein Hauskäufer sich mehr Geld leiht, als er sich leisten kann. »Wir [Amerikaner] preisen Hausbesitz als Allheilmittel für alle Probleme an, und das schafft viel Unsicherheit«, erklärt Jacky Morales-Ferrand, die für Wohnungswesen zuständige Direktorin im Amt für Wirtschaftsentwicklung von Denver.24 Der »Wohlfühlfaktor« beim Immobilienbesitz
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spielt vor allem bei Familien mit Kindern eine große Rolle, wenn die Eltern ihren Kindern etwas hinterlassen wollen. Die Kreditindustrie hat clever diesen Markt erschlossen und präsentiert Hypotheken für Hausbesitz als wesentlichen Bestandteil des idyllischen Mittelschicht-Familienlebens. Das Gegenteil ist richtig: Amerikanische Mittelschichtfamilien mit Kindern sollten keine Kredite aufnehmen, denn für sie ist die Wahrscheinlichkeit eines Bankrotts doppelt so hoch wie für jede andere Bevölkerungsgruppe.25 Die Zukunftsaussichten sehen noch düsterer aus. Elizabeth Warren, Professorin an der Harvard Law School, warnt, dass Ende des Jahrzehnts mehr als fünf Millionen Familien mit Kindern Insolvenz anmelden werden. »Das würde bedeuten, dass auf das ganze Land bezogen fast jede siebte Familie mit Kindern sich als schlicht zahlungsunfähig erklärt, dass sie die Verlierer im großen amerikanischen Wirtschaftsmonopoly sind.«26
Ein Netz ökonomischer Illusionen Die Mittelschichtfamilie stand im Zentrum des amerikanischen Nachkriegstraums. Der Mittelschichthaushalt war der Kokon amerikanischer Werte und symbolisierte die Überlegenheit der amerikanischen Lebensweise, weil er alle Schlüsselelemente des Traums verkörperte: finanzielle Stabilität, hohe Moralbegriffe, Glück, Fortschritt und vor allem Zusammenhalt. Der Traum war der Kulminationspunkt der Vision, die die Gründerväter von dem neuen Staatswesen hatten: Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für
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die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern, das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika. Und der amerikanische Traum war genau das: ein Traum. Das Familienoberhaupt, der Alleinverdiener, mit einem glänzenden Ford, daheim die schöne Ehefrau mit allerlei elektrischem Haushaltsspielzeug, zwei nette Kinder, die durch lauter identische Vorortstraßen zur Schule radeln: Das war die Illusion, die Werbeleute nur zu gern beschworen. Doch in der kollektiven Vorstellungswelt der Nachkriegszeit schien sie nur zu real. Beinahe sechzig Jahre lang ermöglichte es der wirtschaftliche Wohlstand den Amerikanern, an diesem Phantasiegebilde festzuhalten und der übrigen Welt die Illusion vorzugaukeln, die Mittelschicht besäße die Schlüssel zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Hurrikan Katrina hat dieses mächtige Bild zerschmettert und Amerika gezeigt, was es wirklich ist: ein Land ohne eine angemessene Infrastruktur, um sein Volk vor einem Hurrikan zu schützen, ein Land, in dem Armut und Ungleichheit herrschen. Ungläubig hörte die Welt zu, als die Menschen von ihrem geradezu unvorstellbaren Leid erzählten, Menschen, die so arm waren, dass sie sich kein Auto mieten oder kein Benzin kaufen konnten für die Flucht aus der Stadt. Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit fehlten Mr. und Mrs. Jones auf dem Bild. Die Mittelschicht in New Orleans war, verarmt und schwer verschuldet, in Armut versunken. Wie kommt es, dass amerikanische und ausländische Beobachter angesichts der Zerstörungen durch Katrina nicht registrierten, dass der wirtschaftliche Niedergang des »Siegers im Kalten Krieg« mehr als ein Jahrzehnt zuvor begonnen
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hatte? Dass der Fall der Berliner Mauer eine Fülle von wirtschaftlichen Schurkenkräften freigesetzt hatte, die den Wohlstand der amerikanischen Mittelschicht aushöhlten und den sozialen Aufstieg blockierten? Die Wirtschaft und nicht etwa das Unwetter hatte den Traum zerstört, enthüllt, was daran nicht stimmte und wie künstlich er war. Heute übersehen die amerikanische Mittelschicht und die Welt gleichermaßen, dass die Schurkenökonomie und nicht die neokonservative Politik im Zentrum des gegenwärtigen Albtraums steht. Armut, Pleiten und vor allem die Ungleichheit der Einkommen machen der Mittelschichtfamilie den Garaus. In dem neuen wirtschaftlichen Umfeld, in dem die Mittelschichtfamilie lebt, reichen zwei Einkommen oft nicht aus, um eine Familie zu ernähren. Eltern geraten in die ZweiEinkommen-Falle, wie Elizabeth Warren es genannt hat: Sie müssen als Familie höhere Kosten tragen, weil sie feststellen, dass ihre »Soziallöhne« - die Sozialleistungen - weg sind. Ein erheblicher Teil des Familieneinkommens fließt in Hypothekenzahlungen für teure Häuser, die in den immer rareren Wohngebieten mit guten Schulen liegen. Ein weiterer Teil fließt in Gesundheitsvorsorge und Ersparnisse für die spätere College-Ausbildung, die in den letzten zehn Jahren um 78 Prozent teurer geworden ist.27 Paare mit Kindern brauchen außerdem Kinderbetreuung, Hilfe, wenn die Kinder krank sind, und sie brauchen ein zweites Auto. Kaysa Cobb, leitende Angestellte einer Imageberatungsfirma in Miami mit zwei kleinen Kindern, gab 2006 monatlich 520 Dollar für die Betreuung ihrer kleinen Tochter aus, 340 Dollar für die Abzahlung ihres Autos und 400 Dollar für die Krankenversicherung der Familie.28 Jeden Monat gerieten die Cobbs bei diesen großen Beträgen in Rückstand, weil das Geld einfach nicht reichte.
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Dabei verdiente Mrs. Cobb immerhin 39 000 Dollar. Ihr Ehemann hatte als Bibliotheksassistent ein Gehalt von 21 000 Dollar. Ihr gemeinsames Einkommen lag 2006 über dem medianen Haushaltseinkommen von 46 326 Dollar. Um etwas dazuzuverdienen, arbeitete Mr. Cobb abends für 5,45 Dollar pro Stunde (knapp über dem Mindestlohn von 5,15 Dollar) als Platzanweiser und Hausmeister in einem Kino, und Mrs. Cobb überlegte, an den Wochenenden als Verkäuferin in einem großen Warenhaus auszuhelfen.29 Seit 2001 boomt Nachtarbeit in Amerika. Nach Angaben des Arbeitsministeriums hatten 2006 zwischen sieben und acht Millionen Menschen - rund 5 Prozent aller Beschäftigten oder jeder siebzehnte Amerikaner - mehr als einen Job.30 Die Mehrzahl ist verheiratet (meistens Ende dreißig oder Anfang vierzig) und hat Kinder. Der höchste Anteil von Menschen mit mehreren Jobs findet sich in den Bundesstaaten im Mittieren Westen, wo Mr. und Mrs. Mittelschicht leben. Das Unwissen über die Welt, in der wir leben, ist die Frucht des Netzes der Illusionen, das uns umgibt, ein Labyrinth von Rauch und Spiegeln, das die Realität verbirgt, verzerrt und verhindert, dass wir begreifen, was passiert. Bis Hurrikan Katrina den sozialen Niedergang der Stadt New Orleans mit sich brachte, dachten die meisten bei der Stadt als Erstes an Karneval und stellten sie sich als eine Art Spielplatz für Erwachsene in der Art von Venedig oder Las Vegas vor. Irreale Umwelten haben Konjunktur in harten Zeiten, weil die wirtschaftliche Verschlechterung die Zivilgesellschaft aushöhlt und die Art verändert, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen. Seit 1989 verzerrt die Schurkenökonomie die Realität und schafft nach und nach eine irreale Umwelt. Thomas Mann schildert die ökonomische Erosion der Realität in seiner Erzählung Unordnung und frühes Leid. Darin
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wird ein Tag im Leben des Doktor Abel Cornelius geschildert, der Geschichtsprofessor in der Weimarer Republik ist, zur Zeit der galoppierenden Inflation in Deutschland. Mann führt die Auflösung der Autorität in der Welt, die er beschreibt, auf den Währungsirrsinn der Weimarer Republik zurück. »[D]ie Inflation frisst mehr als die Brieftaschen der Menschen, sie verändert von Grund auf die Art, wie sie die Welt betrachten, und schwächt letztlich ihren Realitätssinn. Kurzum, Mann postuliert eine Verbindung zwischen Hyperinflation und dem, was oft Hyperrealität genannt wird.«31 Heute befindet sich die amerikanische Mittelschicht fest im Griff der HyperVerschuldung, eines Phänomens, das ähnliche Folgen hervorbringt wie die Hyperinflation. Schulden höhlen das Einkommen genauso aus wie die Inflation den Wert von Papiergeld und zwingen die Menschen, ihren Lebensstandard zu senken. Thomas Mann schildert, wie »Cornelius und seine Familie in einer Welt leben, in der sie keinen Nachtisch mehr haben, sie haben Nachtisch-Ersatz. Weil sie durch die Inflation zum Sparen gezwungen sind, können sie sich das Echte nicht mehr leisten.«32 Die amerikanische Mittelschicht ist auch ein Opfer der Entwicklung, dass weltweit alles immer billiger sein muss. Sie kauft keine Steaks mehr, sondern Hamburger; wenn sie sich frische Hamburger nicht mehr leisten kann, wird sie tiefgekühlte kaufen - und so weiter, immer weiter hinunter auf der Qualitätsleiter, immer auf der Suche nach dem noch billigeren Ersatz. Die Inflation verändert das Denken der Menschen, weil sie sie zwingt, für den Augenblick zu leben; die Hyperverschuldung hat den identischen Effekt. Amerikanische Mittelschichtfamilien können keine Ferien planen, keine Geburtstagsfeste, nicht einmal eine Zukunft für ihre Kinder, weil sie
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nicht wissen, ob sie morgen noch ein Einkommen haben werden. Die Angst vor Insolvenz und Bankrott wird zu einer Obsession, und die Menschen müssen all ihre Energie darauf verwenden, den Kopf über Wasser zu halten. Mrs. Cobb wird jeden Tag auf dem Heimweg daran erinnert, wie eng es finanziell in ihrer Familie zugeht, wenn sie ihren Mann und die Kinder abholt. »Im Feierabendstau dreht sich das Gespräch immer um die Frage, wie sie ihr Leben verbessern können: Wie können sie noch mehr Kosten reduzieren? Soll ihr Ehemann noch eine Weiterbildung absolvieren? Wo können sie sich das Leben leisten?«33 Thomas Mann beschreibt, dass es in Cornelius' Haushalt lauter kaputte Dinge gibt, ein Spülbecken wurde beispielsweise zwei Jahre lang nicht repariert. Durch die Hyperinflation sind Reparaturen und Ersatzteile einfach zu teuer geworden. Die HyperVerschuldung in Amerika hindert die Durchschnittsamerikaner daran, ihre Häuser zu reparieren; sie haben einfach nicht das Geld dafür. Mann spürt die Verbindung zwischen der Welt der Inflation und der Welt der modernen Medien. Die Regierung erzeugt eine Illusion von Reichtum, indem sie die Medien als Mittler hätschelt. Die Kommunikationsmedien wirken auf ähnliche Weise an der Schaffung einer allgegenwärtigen Märchenwelt mit. Mann schrieb in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts und war sich damals schon bewusst, wie die moderne Technologie und das immer stärker mediatisierte moderne Leben neue Möglichkeiten der Täuschung eröffnen.34 Die wirtschaftliche Not reißt die Gesellschaft auseinander, und die Menschen verfallen in eine existenzielle Trance - sie
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sind ratlos. Mrs. Cobb erzählte der Washington Post: »Manchmal frage ich mich: Ist mein Leben eigentlich normal?« Vor diesem Hintergrund verbreiten die Medien eine illusionäre, positive Welt als Zufluchtsort. Sie streuen falsche Hoffnungen, etwa mit den immer wieder veröffentlichten hohen Wachstumsraten der US-Wirtschaft. Doch das sind nur Illusionen. Eine originelle Untersuchung von Ian Dew-Becker und Robert Gordon, zwei amerikanischen Ökonomen, zeigt, dass zwischen 1997 und 2001 der größte Teil des Wachstums Unternehmenschefs zugeflossen ist, unter anderem dem EnronVorstand, Schauspielerstars, Spitzensportlern, Medienmoguln und so genannten Prominenten. 35 Die Medien helfen der Gesellschaft dabei, dass sie sich in künstlich produzierte phantastische Illusionen versinken lässt, um in einer Welt in Trümmern bestehen zu können. Gegen alle Vernunft glaubten die Amerikaner Präsident George W. Bushs Versicherung, dass Steuersenkungen für die Reichen den Armen zugutekommen würden. Slawische Frauen ließen sich durch Hollywoodfilme in die Prostitution locken, weil sie davon träumten, die nächste »Pretty Woman« zu werden. Genau wie die Realität verblasst, verblassen auch die alten Werte. Eine Qualifikation zu erwerben, einen Job zu bekommen und eine Familie zu haben erscheint nur als ein Abklatsch des tristen Lebens der Mittelschicht, es hat so gar nichts Glamouröses. Stattdessen sind die Menschen auf die Prominenten fixiert, die mit ihrem ungewöhnlichen Leben durch Zeitungen und Fernsehen Junkfood für das Denken liefern. An den Supermarktkassen werden die Kunden auf den Titelblättern von Zeitschriften mit Bildern von Prominenten überschwemmt. Sie sind schön, fit und lächeln, und die Betrachter träumen unwillkürlich davon, genauso zu werden. In Unordnung und frühes Leid malt sich ein junger Mann
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aus, dass er ein berühmter Schauspieler wird. Heute würde er davon träumen, als Sieger aus »Big Brother« oder »American Idol« hervorzugehen. Reality-Shows unterhalten die Zuschauer und helfen ihnen bei der Flucht aus ihrer eigenen Realität, ganz zu schweigen von den Realitäten in anderen Ländern, dieses Leben kommt in den Nielsen-Ratings nicht vor. Zudem muss man die Schauspieler dafür nicht einmal bezahlen, weil diese selbst Phantasiesucher werden! Die Folgen der HyperVerschuldung gleichen denen der Hyperinflation. Sie verändern die Realitätswahrnehmung und zwingen die Menschen, sich Illusionen zu machen, damit sie mit dem sozioökonomischen Niedergang leben können. Es bleibt nur die Hoffnung, dass das, was die amerikanische Mittelschicht erlebt, nicht das Tor zum vollkommenen Irrsinn öffnet. Als die Weimarer Republik schließlich zusammenbrach, bereitete die trügerische Realität dem Dritten Reich den Weg. Die Gefahren des Nationalsozialismus wurden massiv unterschätzt, weil die Menschen die Fähigkeit verloren hatten, Phantasie und Realität zu unterscheiden.
Die Rückkehr ins Goldene Zeitalter Wenn wir den wirtschaftlichen Verfall Amerikas in seinem ganzen Umfang betrachten wollen, müssen wir das von Politikern und Medien gespannte Netz der Illusionen zerreißen. Die traditionellen Messzahlen der US-Wirtschaft sehen rosig aus. Im Jahr 2006 betrug das BIP beachtliche 3,1 Prozent, die Arbeitslosigkeit lag bei 4,5 Prozent, und die Inflation hielt sich mit 2,4 Prozent in Grenzen. Doch die Einkommensungleichheit hatte ein Ausmaß erreicht wie seit den zwanziger
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Jahren nicht mehr, als die Kluft zwischen Arm und Reich am tiefsten war und soziale Mobilität eine Rutschbahn nach unten, in die Armut, bedeutete. Der Grund ist einfach: Die Reichen und die Superreichen bekommen den größten Teil vom wirtschaftlichen Kuchen. Heute wächst die Ungleichheit in einem seit dem Mittelalter nicht mehr erlebten Tempo. Damals waren die Volkswirtschaften im Feudalsystem gefangen, und »dem Erzbischof von Salzburg gehörte ein Drittel des Bruttosozialprodukts in der Region, wo er lebte«36. Nehmen wir, um uns ein Bild von der Kluft zwischen Mittelschicht und den Superreichen zu machen, das Modell der »Einkommensparade«37, das der holländische Ökonom Jan Pen entwickelt hat: Wir stellen uns eine Parade vor, bei der die Körpergröße der Beteiligten ihre Einkommenshöhe widerspiegelt. Diejenigen mit Medianeinkommen sind 1,70 Meter groß, die mit den geringsten Einkommen knapp einen Meter, bei einem Meter liegt auch die Armutsgrenze. Darunter finden wir die ganz Armen. Sie fuhren die Parade an. Je mehr Menschen vorüberziehen, desto weiter steigt das Einkommen an, aber nur sehr langsam. Erst ganz am Ende, wenn das letzte Prozent der Bevölkerung kommt, bemerken wir einen außerordentlichen Zuwachs an Körpergröße. Fußballfunktionäre wie Sir Alex Ferguson, die 6 Millionen Dollar verdienen, sind 300 Meter hoch, aber damit immer noch klein im Vergleich zu David Beckham, der es auf 3 Kilometer bringt. Die Parade endet mit Riesen, die mehrere Kilometer lang sind, wie Stephen Schwarzman, Chef und Mitbegründer der Blackstone Group, des weltgrößten Finanzinvestors. Er verdiente 2006 allein 2,5 Milliarden Dollar. Die Zunahme der Einkommensungleichheit ist eine der irrealen Folgen der Schurkenwirtschaft. Die Politik war nicht nur unfähig, zu verhindern, dass sich die Kluft zwischen den
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Superreichen und dem Rest der Bevölkerung immer weiter öffnete, sie hat das sogar gefordert. Die Steuerpolitik zum Beispiel, traditionell ein Instrument zur Umverteilung von Reichtum, hat die Reichen gegenüber den Armen privilegiert. In den Jahren 2003 und 2004 ist der Anteil des Einkommens vor Steuern, der an die obersten 1 Prozent der amerikanischen Bevölkerung floss, um 18 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum wuchsen die Vorsteuereinkommen der übrigen 99 Prozent der Haushalte um nicht einmal 3 Prozent.38 Die Einkommensungleichheit wächst auch in Europa rasch, die größte Kluft zwischen Arm und Reich gibt es im Vereinigten Königreich. Von 2004 bis 2007 ist die Zahl der Armen dort von 12,1 auf 12,7 Millionen gestiegen. Im Jahr 2006 lagen die Unternehmensgewinne so hoch wie seit 1965 nicht mehr, aber sie wurden weniger gleichmäßig verteilt als damals. In der ersten Hälfte von 2006 wuchsen die Einkommen der Direktoren großer Firmen um 28 Prozent, aber die Medianeinkommen pro Woche fielen inflationsbereinigt um 0,4 Prozent. Einer Untersuchung von Goldman Sachs zufolge sind die Gewinnmargen von Unternehmen seit 1989 kontinuierlich gestiegen und haben 2006 ein Allzeithoch erreicht, dank des Umstands, dass der auf die Arbeit entfallende Anteil am Volkseinkommen immer weiter abgenommen hat. Dieses Phänomen hängt mit der enormen Vergrößerung des weltweiten Arbeitskräfteangebots zusammen. »Das Gesetz von Angebot und Nachfrage besagt, dass der Preis der Arbeit fällt, wenn das Angebot an Arbeit größer ist als an Kapital, und die Rendite auf Arbeit, das heißt die Reallöhne, stagnieren, während die Kapitalrendite, das heißt die Gewinne, in die Höhe gehen«, erklärt George Magnus. Ohne politische Maßnahmen zur Abfederung der Einkommensungleichheit wird der
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Reichtum weiterhin hauptsächlich Unternehmensführern, Investmentbankern und Stars zufließen, und so wird es mindestens für die nächsten fünfzig Jahre weitergehen, bis die Löhne in den Entwicklungsländern die Löhne im Westen eingeholt haben. Schockierenderweise werden die Superreichen der Globalisierungsära durch höhere Gehälter reicher, nicht durch Renditen aus Investitionen. Ihr Reichtum wächst nicht deshalb, weil die Preise für die Aktien in ihren Portfolios in die Höhe schießen, sondern weil ihre Arbeit immer besser honoriert wird. »Das Wachstum der globalen Unternehmen und Märkte erlaubt den >Superstars< - ob in Unternehmen, in der Finanzwelt, im Sport, im Rechtswesen oder in der Unterhaltungsindustrie -, ihre Talente in einem viel größeren Maßstab anzuwenden, und damit werfen ihre Fähigkeiten eine höhere wirtschaftliche Rendite ab.«39 Dieses Phänomen beschränkt sich keineswegs auf Unternehmensleiter. Alex Rodriguez von den New York Yankees ist der höchstbezahlte Baseballspieler der Geschichte. 2006 erhielt er 22 Millionen Dollar, »viermal so viel, wie der Topspieler Bobby Bonilla 1993 bekam [...] und 44-mal so viel, wie ein durchschnittlicher Baseballprofi verdient. Mr. Bonilla verdiente das Vierzehnfache [seiner Spielerkollegen].«40 Manche Baseballexperten werden vielleicht Einwände gegen den Vergleich von Alex Rodriguez und Bobby Bonilla haben, weil Rodriguez wirklich ein Superstar ist und Bonilla nie als ein solcher galt, aber die meisten Menschen werden sicher zustimmen, dass die Gehälter im Profisport und ganz besonders im Baseball vollkommen abgehoben haben. Weltweite Bekanntheit und die unterschwelligen Kräfte des technologischen Wandels scheinen die Tatsache zu rechtfertigen, dass ein wachsender Prozentsatz aller verkauften Fuß-
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ball- und Kinokarten dazu dient, die Gehälter der Superstars zu finanzieren, die von ein paar Millionen bis zu höheren zweistelligen Millionenbeträgen reichen. »Mit der Globalisierung wächst der Markt, auf dem ein talentierter Einzelner seine Fähigkeiten anbieten kann, und die Technologie macht es Unternehmen möglich, immer weiter zu wachsen.«41 Am anderen Ende der Einkommensskala finden wir Menschen, die Tag für Tag ihr Geld in derselben Branche verdienen, von denjenigen, die den Fußballrasen pflegen, bis zu den Kinobetreibern: all die Angestellten, die den Laden am Laufen halten. Ihre Gehälter wurden vom wachsenden globalen Wettbewerb verschlungen, und real verdienen sie manchmal weniger als Jahrzehnte zuvor. Um einen modernen Grundstandard zu erreichen, muss der Bezieher eines mittleren Einkommens heute mehr Stunden pro Woche arbeiten als vor fünf, zehn oder fünfzehn Jahren. Die Globalisierung hat die Verbindung zwischen Produktivität und Reallöhnen auf lokaler Ebene aufgebrochen und eine neue wirtschaftliche Interdependenz entstehen lassen. Heute sollten alle, die sehnsüchtig an den amerikanischen Traum zurückdenken, auf die nordeuropäischen Länder schauen; dort gibt es die Mittelschicht noch, und die Einkommensungleichheit wurde durch politische Maßnahmen abgemildert. Nur in den skandinavischen Ländern finden wir die Art von sozialer Mobilität, die hinter dem Motto »Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten« steckte. Während in den USA und im Vereinigten Königreich Kinder aus armen und aus reichen Familien mit großer Wahrscheinlichkeit arm bzw. reich bleiben, haben sie in den nordischen Ländern die gleichen Chancen, voranzukommen. Eine Studie des National Bureau of Economic Research (Nationale Behörde für Wirtschaftsforschung) in den Verei-
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nigten Staaten warnt, dass die Einkommensungleichheit in Amerika wieder an den Punkt zurückkehrt, an dem sie vor über hundert Jahren stand, im so genannten Goldenen Zeitalter der 1890er Jahre, als die Kluft zwischen Reich und Arm besonders groß war. 1899 taufte der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen, ein exzentrischer Einzelgänger, der die amerikanische Gesellschaft seiner Zeit für eindeutig dekadent hielt, die Superreichen die »feinen Leute« und führte aus, dass sie sich in »demonstrativem Konsum« ergingen.42 Für Veblen hatte die amerikanische Gesellschaft die Industrialisierung hinter sich gelassen und interessierte sich nur noch für Vergnügen und Konsum. Die Klasse der »feinen Leute« bestand aus Menschen, die die Grundsätze harter Arbeit, wie sie in der Viktorianischen Zeit galten, verloren hatten und die auch Korruption nicht beeindruckte. Der Erste Weltkrieg war nur ein Intermezzo für die »feinen Leute«, und nach Kriegsende kehrten sie schnurstracks zu ihren Konsumgewohnheiten zurück. F. Scott Fitzgerald schildert diese hedonistische, unethische Welt in seinem Roman Der große Gatsby, einer Geschichte von Gier und unglücklicher Liebe, die in der Jazzära der wilden Zwanziger spielt.43 Gatsby und jene, die sein Glitzerleben teilten, waren Gauner, Aktienhändler, Filmstars und berühmte Sportler - das Äquivalent heutiger Berühmtheiten -, »die in einer flexiblen, mobilen Gesellschaft lebten«. Konsum war ihnen sehr wichtig, er hatte den Idealismus der amerikanischen Gründerväter so weit ausgehöhlt, dass »die Freiheit und das Streben nach Glück zu einer Reihe von Entscheidungen [wurden], wo man Golf spielt und welches Hemd man anzieht«. Oder wie Veblen es ausdrückte: Für die feinen Leute zählt nicht der Besitz an Produktionsmitteln, wie Karl Marx geschrieben hatte, sondern der Besitz an »Konsumationsmitteln«.
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Heute streicht eine neue Klasse von Berühmtheiten und Milliardären, Menschen, die sich nicht mit dem gemeinen Volk vermischen, die Gewinne der globalisierten Wirtschaft ein. Die Entstehung eines transnationalen Kapitalismus, getrieben durch Finanzwesen und Spekulation, hegt der neuen Klasse der »feinen Leute« der Globalisierung zugrunde, denn diese Entwicklung bringt die Mittelschicht um ihren gerechten Anteil an dem neuen Reichtum. Die Geschichte lehrt uns, dass extreme Ungleichheit verheerend sein kann. Professor Tony Atkinson, ein Experte in Sachen Einkommensverteilung, hat gezeigt, dass die Ungleichheit im Vereinigten Königreich in den achtziger Jahren sehr viel mehr zugenommen hat als in jedem anderen europäischen Land. Schließlich hat sich die erhebliche Ungleichheit noch weiter verschärft durch die britische Rezession Anfang der neunziger Jahre, den schlimmsten wirtschaftlichen Einbruch, den ein europäisches Land in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte.44 Auf das Goldene Zeitalter folgte der Erste Weltkrieg, und die goldenen Zwanziger endeten mit dem Börsenkrach 1929, der die Weltwirtschaftskrise auslöste. Das anschließende Jahrzehnt mit hoher Arbeitslosigkeit zeigte, wie gefährlich es ist, wenn der Wohlstand der Nationen sich in den Händen weniger Menschen konzentriert. Glücklicherweise wies der britische Ökonom John Maynard Keynes45 einen Ausweg. Neben massiven Interventionen der Regierung auf dem Arbeitsmarkt schlug er politische Schritte zur drastischen Reduzierung der Einkommensungleichheit und zur Ausweitung der Miteigentümerschaft vor. Heute werden solche Maßnahmen nicht mehr ausreichen, um die wilde Schurkenökonomie zu zähmen.
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Die Rückkehr des großen Gatsby Der soziale Niedergang hält die amerikanische Mittelschicht in einem Netz aus Illusionen gefangen. Ihre Mitglieder leben im Gefängnis der Phantasie, sie wissen nicht, warum ihr Lebensstandard sinkt. Es gibt nur einen Weg, eine solche Not zu überstehen - zu phantasieren -, und nur einen Weg, herauszukommen - zu fliehen. Der junge Gatsby lebte in einer ähnlichen Situation: Umgeben von unüberwindlichen sozioökonomischen Hindernissen, die ihn von der Welt der Superreichen abschotteten, flüchtete er sich in eine Traumwelt. Fitzgeralds West Egg und East Egg, ein armes und ein reiches Stadtviertel in den wilden Zwanzigern, symbolisieren die Kluft zwischen Gatsbys elendem Leben und seinem Wunsch, reich zu werden. Gatsby weiß nichts von Einkommensverteilung, von der Tatsache, dass der gewaltige Reichtum von East Egg die Wurzel der Armut in West Egg ist. Genauso wenig interessiert er sich für Sozialreformen, so etwas galt damals als utopische Träumerei. Nur ein Wunder, ein Glücksfall oder bei Gatsby verbissene Entschlossenheit, die vor nichts zurückschreckt, nicht einmal vor einem Verbrechen, kann die Kluft überwinden. Mr. und Mrs. Jones werden von ähnlichen Gefühlen erfasst, wenn sie die Promi-Shows im Fernsehen anschauen. Die kurze Entfernung zu ihrem Fernsehapparat verhält sich umgekehrt proportional zu dem Abstand zwischen ihrem Wohnzimmer und der Welt der Superreichen: Lichtjahre liegen dazwischen. Wie Gatsby wollen sie die Welt, in der sie leben, nicht verändern. Sie wollen ihr nur entkommen, auf wundersame Weise in die Reihen der Elite katapultiert werden. Marx hätte gesagt, weder Gatsby noch Mr. und Mrs. Mittelschicht sind sich ihrer Lebensumstände bewusst. Thomas
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Mann hätte gesagt, sie könnten nicht verstehen, wer sie sind und was um sie herum passiert. Beide wären sich indes darüber einig, dass die Unwissenheit, die sie umgibt, darin besteht, dass sie nicht wissen, gegen was sie kämpfen müssen. Die Unwissenheit bewirkt, dass Gatsby Reichtum für Glück hält mit der Folge, dass seine Gier nach Geld alles rechtfertigt, auch den Gesetzesbruch. Heute leiden die amerikanische Mittelschicht und die Mittelschichten in der industrialisierten Welt an dem gleichen Symptom. »Geld steht heute im Mittelpunkt der italienischen Kultur, und die Leute glauben, dass das normal ist«, sagt Francesca Comencini, Regisseurin des Films »A Casa Nostra«, in dem beschrieben wird, wie Italien sich in ein Land allgegenwärtiger Käuflichkeit und Immoralität verwandelt hat. Die Gier nach Geld hat sittliche und moralische Barrieren zerstört und die Ausbreitung der Schurkenwirtschaft erleichtert. Doch niemand ist sich dieser Realität bewusst. Die Italiener wüssten nicht, dass sie ihren moralischen Kompass falsch ausgerichtet und ihre ethische Seele verloren haben, sagt Comencini. »A Casa Nostra« bestätigt Vehlens Analyse der Barbarisierung des Alltagslebens als Folge des Aufstiegs der »feinen Leute«. Die große Gefahr ist, dass Werte, die einmal verlorengegangen sind, womöglich nie wieder ganz zurückgeholt werden können. 46 »A Casa Nostra« ist ein Kaleidoskop von Geschichten. Im Mittelpunkt steht der Versuch der italienischen Hochfinanz, eine Bank zu übernehmen. Der Film spielt in der italienischen Finanzmetropole Mailand, aber er hätte genauso gut in London gedreht werden können, der globalen Finanzmetropole. Gatsbys Blick über das Wasser würde heute in der Tat nach London gehen. Chelsea, Hampstead, Belgravia: Die Londoner Stadtteile mit der höchsten Konzentration von global Superreichen sind das moderne East Egg.
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»Neues Geld« ist die Lebensader der hedonistischen Hauptstadt von Tony Blairs New Labour, Geld, das in erster Linie durch die bösartigen Mechanismen der Schurkenökonomie angehäuft wurde und das eine kleine Elite immer reicher macht, während die westliche Mittelschicht immer ärmer wird. Londons europäisches Flair verleiht den reichen Vierteln die gleiche Patina aus Eleganz und Klasse, wie sie das alte Geld in East Egg besaß. Der moderne Gatsby würde gut nach Chelsea passen, ein Getto der neuen Milliardäre, wo die Mietpreise für ein Haus 2006 auf bis zu 1893 Pfund geschätzt wurden - pro Tag.47 Gatsby würde sich in den Straßen dieses lebensgroßen Monopoly-Spielbretts wohl fühlen, weil sie von Leuten wie ihm bevölkert werden: russischen Oligarchen, europäischen Fußballstars, chinesischen und indischen Wirtschaftsmagnaten, Schauspielern, Stars aus der Musik- und Filmbranche und Bankern, in deren Taschen in den letzten fünfzehn Jahren ein überdurchschnittlich großer Teil des neuen Geldes geflossen ist. Sie sind unbestritten die Gewinner der neuen globalen Ära. Nach 1989 sind die modernen »feinen Leute« nach London gezogen, weil sie dort von einem alten Steuergesetz aus der Viktorianischen Zeit profitieren konnten. »Das Gesetz sollte die Gewinne britischer Plantagenbesitzer im ganzen Empire schützen, von Westindien bis Afrika und Indien. Sie konnten ihren britischen Wohnsitz behalten und ihren Aufenthaltsort, das heißt ihren Wohnsitz im steuerlichen Sinn, ins Ausland verlegen, wo sie ihre Unternehmen betrieben. Besteuert wurden sie nur nach dem Einkommen, das sie mit nach England brachten, der Rest blieb steuerfrei«, erklärt Grant Woods, ein ehemaliger Direktor bei Coutts, der Bank, bei der die Queen und die britische Aristokratie Konten unterhalten.48 Der gleiche Grundsatz gilt heute für die neuen Milliardäre,
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die in London leben. Die Schurkennatur des britischen Steuersystems macht es möglich, dass diejenigen, die einen großen Teil des neuen Reichtums einstreichen, der Besteuerung zu Hause entgehen. »In meiner Zeit bei Coutts«, berichtete Woods, »habe ich persönlich die Portfolios mehrerer russischer Oligarchen umstrukturiert, damit sie die Vorteile dieser Regelung voll ausschöpfen konnten. Einen Wohnsitz in Großbritannien zu bekommen ist sehr leicht. Es genügt, wenn man eine große Summe Geld auf ein Konto bei einer britischen Bank einzahlt und dort liegen lässt.« Geld ist kein Hindernis für die nouveaux riches der Globalisierung, vor allem, wenn sie wissen, dass sie durch den Umzug ins Vereinigte Königreich Milliarden Dollar vor der Besteuerung im eigenen Land retten können. Nur Amerikaner profitieren nicht von dieser Regelung, weil die Vereinigten Staaten ihre Bürger nach ihrem weltweit erwirtschafteten Einkommen besteuern. Ironischerweise hat der 11. September 2001 noch mehr globale Milliardäre bewogen, nach London zu ziehen. »Durch die strengen Finanzgesetze, die die Vereinigten Staaten nach den Anschlägen erlassen haben, wurden auf einmal karibische Offshore-Einrichtungen illegal. Pfund und Euro wurden damit als Investmentwährungen sehr attraktiv. Das erklärt, warum sie die neuen Lieblingswährungen von Hedge Fonds sind«, fügt Woods hinzu. Heute hätte Fitzgeralds Gatsby sein Vermögen als gerissener Hedge-Fonds- oder Private-Equity-Manager gemacht, in einer Weise, die an den Protagonisten von »A Casa Nostra« erinnert. Ähnlich wie die Schwarzbrenner, die während der Prohibition skrupellos profitierten, gehören heute bestimmte besonders aggressive und unethische Hedge Fonds zu den
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schlimmsten Outlaws der Globalisierung. Sie sind die Schlägertrupps der Finanzwelt und nutzen ihre Größe, um Industrien zu zerschlagen und Gesetze zu umgehen. In Comencinis Film lauert hinter der Glitzerfassade der Mailänder Hochfinanz die gefühllose Macht derjenigen, die sie kontrollieren: korrupte Banker. Korruption bei Hedge Fonds zu verfolgen, ist schwierig, weil für sie keine Regeln gelten. Sie sind extrem mächtige Schöpfungen der globalen Ära, gebieten über enorme Pools von Geld und entziehen sich nationalen Währungs- und Finanzkontrollen.49 Dank ihrer Größe und weil es keine Vorschriften für sie gibt, können Hedge Fonds den globalen Finanzmarkt zu ihrem Vorteil umgestalten, genau wie es mit dem Markt für Derivate schon passiert ist. Derivate oder Futures sollten ursprünglich Warenhändler vor Wechselkursschwankungen schützen, sie waren so eine Art Risikoversicherung.50 Heute haben sich Derivate verselbständigt und dienen als Finanzund Buchhaltungsschlupflöcher, um der Besteuerung zu entgehen, zur Verschleierung von Managementfehlern, zum Umgehen von Gesetzen, zum Frisieren von Bilanzen und zur Spekulation. Ein bekanntes Beispiel ist Enron, ein Unternehmen, das mit Derivaten seine Ergebnisse aus operativer Geschäftstätigkeit verschleiert hat. Das Vordringen der Hedge Fonds auf den Derivatemarkt hängt sehr eng mit der Globalisierung der Weltwirtschaft zusammen. 2005 und 2006 sorgte beispielsweise der Aufstieg von China für einen beispiellosen Warenboom. Einstmals betrachteten die Vereinigten Staaten China als eine gehorsame Produktionskolonie, heute ist China der weltgrößte Verbraucher von Stahl, Kupfer und Zinn und der zweitgrößte Ölimporteur, was die Preise in die Höhe schnellen lässt. Vor diesem Hintergrund spekulieren Hedge Fonds massiv auf
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den Warenmärkten und treiben die Preise in nie gekannte Höhen. In jüngster Zeit haben Hedge Fonds den Equity-Markt ins Visier genommen und etwas Neues erfunden: Private Equity. Private Equity lässt sich beschreiben als fremdfinanzierte Übernahme öffentlicher Unternehmen mit dem Ziel, sie vom Aktienmarkt zu entfernen und in private Hände zu bringen, was die Möglichkeiten zur Kontrolle solcher Unternehmen verringert. Oft werden Unternehmen gekauft mit der Absicht, sie zu zerschlagen und die Teile einzeln gegen Höchstgebot zu verkaufen. Die Mitarbeiter werden gefeuert und die Vermögenswerte geplündert. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und prominente Ökonomen machen sich große Sorgen über potenzielle Schockwellen in einem System, das wegen Private Equity immer undurchsichtiger wird. Manager von Hedge Fonds und Private-Equity-Firmen stehen an vorderster Front im globalen Kapitalismus. Sie machen Geld mit Geld, mittels einer Geldmaschine, die keinen neuen Reichtum produziert. Der Mechanismus funktioniert nach der Regel »2 plus 20«. Gatsby sammelte sein Vermögen nach einem ähnlichen Muster zu einer Zeit, als in Amerika Alkohol ein Spekulationsobjekt war. Der Fondsmanager von heute bekommt 2 Prozent von jeweils 1000 Dollar Startkapital, die ein Investor einbringt, und wenn der Fonds Gewinn macht, gibt es noch einmal 20 Prozent vom Zuwachs pro Jahr. Der Rest des Geldes fließt auf das Konto der Clearingstelle51 oder bleibt bei einer Brokerfirma und bringt Zinsen ein, die nur darauf warten, für den nächsten Geldvermehrungsdeal eingesetzt zu werden. In die Waren, die der Spekulation zugrunde liegen, wird nichts investiert, die Branchenleistung verbessert sich nicht, und es entsteht auch kein reales wirtschaftliches Wachstum, weil das Geld nicht in reale Investiti-
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onen geht.52 Das Geld fließt den Hedge-Fonds-Managern zu, wie Gatsbys Kunden ihre Schnapsflaschen leeren. Gatsbys Geschäfte waren illegal, aber das Verhalten der Hedge-FondsManager ist »nur« unethisch. Thorstein Veblen schrieb in seiner Analyse der Hochfinanz im Goldenen Zeitalter, Geschäftsleute seien die jüngste Verkörperung der »feinen Leute«, weil sie keine Waren und Dienstleistungen herstellten, sondern nur hin und her schöben und damit Gewinne machten. Man kann sagen, dass Hedge Fonds und Private-Equity-Firmen große Summen von realen Investitionen wegleiten und dadurch das Ungleichgewicht zwischen dem globalen Arbeitskräfteangebot und dem Kapital noch verschärfen. Veblen verglich Geschäftsleute mit Barbaren: Beide nutzen Mut und Geschicklichkeit, um anderen Geld abzunehmen, und sie leben von dem, was sie auf Raubzügen erbeutet haben, statt selbst Waren herzustellen. Die »feinen Leute« des 21. Jahrhunderts verwandeln mit ihrem demonstrativen Konsum die Hauptstädte der westlichen Länder in gigantische, exklusive Einkaufszentren. Während der neue Reichtum der Industrieländer immer öfter konsumiert und nicht investiert wird, erweitern Indien, China und alle aufstrebenden Entwicklungsländer das Angebot an Kapital und Arbeit massiv, um ihre Industrien aufzubauen und den Westen einzuholen. Bald werden sie die meisten Güter liefern, die in den neuen Einkaufszentren der »feinen Leute« verkauft werden. Das wird so lange gehen, bis die Emerging Markets den Großteil ihrer Produktion selbst aufnehmen. Dann wird der Konsum im Westen seinen komparativen Vorteil einbüßen, und der Handel wird zum Stillstand kommen. Die westlichen Arbeitskräfte werden das Proletariat der Welt sein, und die westlichen Volkswirtschaften werden sich schließlich ihres Niedergangs bewusst werden. Noch ahnt die
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verarmte westliche Mittelschicht nichts von diesem Szenario, weil sie in der Marktmatrix gefangen ist, einem Netz wirtschaftlicher Illusionen, und die »feinen Leute« sind durch ihre hedonistische Suche blind für alles andere. Beide wissen nichts von der Schurkennatur der Welt, in der sie leben. Die Jazzära von Fitzgeralds Gatsby war das Spielfeld der Superreichen und der großen Gauner, der Gesetzesbrecher der damaligen Zeit. Die Prohibition spielte dem organisierten Verbrechen in die Hände, das sich mit den schwindelerregenden Gewinnen aus dem Alkoholschmuggel in politische Ämter einkaufte. Die Einkommensungleichheit war spektakulär, die Armut auf dem Vormarsch. Die »feinen Leute« stellten sich nicht vor, dass das Goldene Zeitalter zu Ende gehen könnte, weil sie glaubten, sie kontrollierten die Wirtschaft. Aber das Jahr 1929 fegte diese Phantasie hinweg. Zwar können wir Gangster vom Typ eines AI Capone nicht mit den gefühllosen Geldleuten vergleichen, die heute die Hochfinanz kontrollieren, und die Gelegenheiten, die die Prohibition schuf, nicht mit Outsourcing und Transfers ins Ausland, aber eine moderne Parallele lässt sich dennoch ziehen zu den Zuhältern der Globalisierung und den Oligarchen, die ihre schmutzigen Gewinne ins Finanzgeschäft lenken. Diese Menschen glauben, dass sie über dem Staat stehen und die Herren über die Wirtschaft sind. Die Geschichte wird zeigen, dass sie sich irren. Die Fülle der Mutationen des Kapitalismus seit dem Fall der Berliner Mauer beweist, dass niemand, nicht einmal die Hochfinanz und das organisierte Verbrechen, die Schurkenwirtschaft kontrollieren kann.
KAPITEL
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Das Ende der Politik
Der Mensch ist vor allem ein politisches Wesen. Antonio Gramsci
An einem kühlen Herbsttag 2003 brauste eine Autokolonne der italienischen Guardia di Finanza (des Zolls) in den Hafen von Gioia Tauro in Kalabrien. Der Hafen, an einem der wenigen Sandstrände an der felsigen Südwestküste von Italien gelegen, reicht weit in das Land hinein, das von der 'Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, kontrolliert wird. Gioia Tauro ist mit 3000 Schiffen und drei Millionen Containern pro Jahr der drittgrößte Hafen in Europa und liegt weltweit auf Rang 18. Er ist spezialisiert auf Warenumladung, das heißt, die Ladung wird von großen Schiffen (50 000 Tonnen) auf kleinere verteilt. An jenem Morgen steuerten die Autos der Guardia di Finanza allerdings nicht die internationalen Docks an, sondern fuhren direkt zum lokalen Hafen. Die Polizisten stürmten ein Schiff, das gerade aus Südamerika angekommen war und dessen Crew sich anschickte, die Ladung - Marmorblöcke - zu löschen. Unter den verwunderten Blicken der Mannschaft bohrten die finanzieri Löcher in einige Blöcke und förderten seltsame Behälter zutage: Zylinder, die eine Art weißen Käse zu enthalten schienen. Bei näherer Betrachtung wurde erkennbar, um was es sich handelte: luftdicht verschlossene Beutel mit
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Kokain, jeweils ein Kilo schwer, alles in allem 5500 Beutel. Nach den Unterlagen des Kapitäns hatte Miguel Diez, eine Scheinexportfirma der kolumbianischen Drogenmafia, das Schiff gechartert; als Abnehmer der Ware waren Lavormarmo und Marmo Imeffe verzeichnet, zwei Marmorfirmen in Vibo Valenzia, einer Stadt nicht weit von Gioia Tauro. Die Marmorblöcke sollten in einen lokalen Steinbruch geliefert werden, der Vincenzo Barbieri und Francesco Ventrici gehörte, beides Angehörige der 'ndrina Mancuso, einer lokalen Familie der 'Ndrangheta. Das Schifffahrtsunternehmen, die dänische Maersk-Linie, hatte keine Ahnung, was sie tatsächlich beförderte, ebenso wenig die Mannschaft und der Kapitän. Die Beschlagnahme des Kokains stand am Ende einer dreijährigen Operation mit dem Decknamen »Decollo« (»Aufbruch«), die gemeinsam vom ROS (Reparto Operative Speziale, Spezialeinsatzkommando) aus Carabinieri und Guardia di Finanza durchgeführt worden war mit Beteiligung der Drogenbekämpfungseinheiten mehrerer Länder. Dass die Operation ein Erfolg wurde, war jedoch vor allem den Hinweisen eines Informanten aus Regierungskreisen zu verdanken - so etwas gab es selten, wenn man mit der 'Ndrangheta zu tun hatte. Der Informant hatte enthüllt, wie, wann und wo das Kokain geliefert werden sollte. Was an jenem Tag geschah, war die Ausnahme von der Regel. In Italien kommen genau wie anderswo auf eine illegale Ladung, die entdeckt wird, Hunderte, die unentdeckt bleiben. In Gioia Tauro wird nur ein Teil der ankommenden Container geprüft, weil alles andere zu viel Zeit bräuchte und zu teuer wäre. Das grundsätzliche Problem reicht jedoch weit über unzulängliche Routinekontrollen im Hafen hinaus, es hängt mit der Umstrukturierung der 'Ndrangheta zusammen, die sich von einem national organisierten Verbrecherring zu
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Das Ende der Politik
einem »Komplettdienstleister« für verschiedene kriminelle Organisationen entwickelt. »Gioia Tauro ist der Ankerpunkt der neuen 'Ndrangheta, die dem internationalen Verbrechen die globale Infrastruktur zur Verfügung stellt, damit es sich der Strafverfolgung entziehen kann«, erzählt ein verdeckter Ermittler, der mit der Operazione Decollo zu tun hatte: Wären die Marmorblöcke ausgeliefert worden, hätte die 'Ndrangheta das Kokain über ihr riesiges Netzwerk von 'ndrine [Familien] in Europa und wahrscheinlich auch im ehemaligen Ostblock verkauft. Dieses Netzwerk wäscht auch Geld, das gesammelt und in legale Unternehmungen investiert wird. Im Gegenzug behält die Organisation 30 Prozent vom Wert aller Güter, die sie verschiebt. Das ist ihre Gewinnmarge. Keine andere kriminelle Struktur bietet diese Art von Dienstleistung. Die 'Ndrangheta ist über das Verbrechen hinausgegangen; sie hat den globalen Markt für die Bereitstellung von illegaler Infrastruktur besetzt. Sie bietet ihren Klienten ein Komplettpaket, von Schmuggel über den Ozean bis zu Portfolio-Management.1
Komplettdienstleister für das globale Verbrechen2 Die 'Ndrangheta, ein Abkömmling der Cosa Nostra, hat eine lange Geschichte, die bis zur nationalen Einigung Italiens zurückreicht. Gegründet wurde sie 1860 durch eine Gruppe von picciotti, Angehörigen der sizilianischen Mafia, die sich nach der Vertreibung von ihrer Heimatinsel durch die Herrscher aus dem Norden auf der anderen Seite der Straße von Messina, in Kalabrien, niederließen. Der Begriff »'Ndrangheta« leitet sich ab vom griechischen Wort andragathia, das »Treue«
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und »Mut« bedeutet, zwei Eigenschaften, die den Gründern beim Aufstieg an die Macht halfen. Die Mitglieder der 'Ndrangheta waren immer in einem sehr engen Netz verbunden, Heiraten bildeten dabei das wichtigste Bindemittel. Bis in die späten achtziger Jahre wuchs die Organisation vor allem innerhalb der Grenzen von Italien. Anders als die Cosa Nostra blickte sie nie über den Atlantik, sondern festigte ihre Präsenz in Italien und knüpfte ein Netz von 'ndrine auf der gesamten italienischen Halbinsel. Deshalb ist ihre geographische Identität schon immer ein wichtiges Merkmal. Die 'ndrine setzen auf Korruption und Einschüchterung und bleiben im Übrigen im Hintergrund; auf diese Weise bahnten sie sich ihren Weg in die Institutionen des Landes, in Banken und Unternehmen, von lokalen Behörden bis zu Staatsbetrieben. Ab den siebziger Jahren besaßen die 'ndrine dank der erfolgreichen Unterwanderung der Freimaurer direkte Kanäle in die Justiz und zu politischen Parteien. Giacomo Lauro, einer der wenigen Abtrünnigen der 'Ndrangheta, hat enthüllt, dass mehrere Bosse Freimaurer wurden, um eine dauerhafte Präsenz in den Institutionen des Landes sicherzustellen. Auch in der internen Struktur unterscheidet sich die 'Ndrangheta von ihren Vorläufern. Anders als die Cosa Nostra ist sie nicht wie eine Pyramide aufgebaut, sondern besteht aus einer losen Föderation von 'ndrine, die »autonom in ihrem Gebiet« sind.3 Die 'ndrine, Bestandteile einer kollektiven Einheit, sind heute über die ganze Welt verstreut, immer noch mit ihrem Heimatgebiet verbunden, aber ohne einen funktionierenden inneren Zirkel wie die Cosa Nostra, sodass sie nicht enthauptet und auch nicht von innen heraus zersetzt werden können. Die Oberhäupter der einzelnen Familien treffen sich einmal im Jahr, besprechen die Geschäfte
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und schmieden Pläne. Die Entscheidungen werden dann von den Bossen in ihrem jeweiligen Territorium umgesetzt. Für die 'Ndrangheta ist der innere Kreis lediglich ein Konzept, eine vom alltäglichen Funktionieren der 'ndrine weit entfernte Idee. Die italienischen Behörden gehen heute davon aus, dass allein in Italien 160 Familien und 6000 Personen zur 'Ndrangheta gehören und weltweit 10 000 Menschen, von Sydney bis Cali und von Brüssel bis Miami. Heiraten zwischen den Familien garantieren ein Höchstmaß an Zusammenhalt, sichern Loyalität und verhindern Auseinandersetzungen innerhalb der 'ndrine. In ihrer Geschichte war die Organisation immer im Untergrund aktiv, fernab vom Scheinwerferlicht. Sie scheute vor spektakulären öffentlichen Morden zurück, wie sie in der Publicitystrategie der sizilianischen Mafia eine Rolle spielen, und setzte eher auf diskrete Hinrichtungen und Morde wie etwa im August 1991, als die 'Ndrangheta im Auftrag der Cosa Nostra den Richter Antonio Scopelliti umbrachte. Geheimhaltung war immer die Kardinalsregel der 'Ndrangheta, sie hat innerhalb ihrer Strukturen eine eigene Geheimgesellschaft, die Santa, geschaffen.4 Selbst den Medien sind lediglich sporadische Einblicke gelungen, und sie konnten nur oberflächlich berichten. Der Kult um die Geheimhaltung besteht bis heute fort. »Die 'Ndrangheta ist wie die dunkle Seite des Mondes«, sagte Julie Tingwall einmal, die Bezirksstaatsanwältin von Florida, mit Blick auf die Ausbreitung von 'ndrine in den Vereinigten Staaten. »Sie ist unsichtbar.«5 Trotz ihrer Unterschiede bei Profil und Taktik ahmt die 'Ndrangheta in ihrem Verhaltenskodex die Cosa Nostra nach. Die Balladen der 'Ndrangheta handeln von Gewalt und besingen das Leben ihrer Mitglieder mit Titeln wie »Wer scheitert,
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bezahlt« und »Blut schreit nach Blut«.6 Wer die 'Ndrangheta herausfordert oder sich ihrer Autorität nicht unterwirft, muss mit dem eigenen Leben und dem Leben seiner Angehörigen bezahlen. Verrat verlangt Bestrafung der gesamten erweiterten Familie, auch durch rituelle, barbarische Hinrichtungen. Die Loyalität und Integrität des weltweiten Netzes beruht auf dem, was der französische Soziologe Emile Durkheim als »mechanische Solidarität«7 bezeichnet hat: einem kollektiven Bewusstsein, das in Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen verankert ist. Mafia-Vereinigungen sind zuerst durch die wechselseitige Anerkennung von »institutionellen Ähnlichkeiten einschließlich parallelen Merkmalen des Organisationsmodells, der Kultur und der normativen Regeln«8 entstanden. Die Cosa Nostra beispielsweise war im 19. Jahrhundert zunächst die Antwort der sizilianischen Landbevölkerung auf Garibaldis Eroberung der Insel. Mechanische Solidarität ist besonders ausgeprägt in primitiven Gesellschaften und schwindet mit der Modernisierung. Die Heiratsregeln der 'ndrine, die seit über einem Jahrhundert streng beachtet werden, sicherten eine starke Stammesidentität - man könnte sagen, eine erweiterte ethnische Familie. Gleichzeitig verhindern sie Wandel. »Das Familienband ist nicht nur ein Schild, das Geheimnisse schützt und die Sicherheit verstärkt, es half auch, die Identität im Herkunftsgebiet zu bewahren und sie in den Gebieten zu reproduzieren, wohin die Familie auswanderte«, heißt es in einem Bericht der italienischen Regierung.9 Anders als die sizilianische Mafia hat die 'Ndrangheta nie versucht, eine politische Kraft zu werden. Ihr Hauptziel war immer die Kontrolle der lokalen Wirtschaft. Il pizzo, ein monatliches Schutzgeld, das von allen Unternehmen in dem jeweiligen Gebiet unter ihrer Kontrolle erpresst wird, auch von
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den Kirchen, symbolisiert ihre Herrschaft. Wie in den nächsten Abschnitten dargestellt wird, spielte die starke Betonung der Wirtschaft gegenüber der Politik eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der 'Ndrangheta zu einem Komplettdienstleister für das globale Verbrechen.
Die Herausforderung der globalen Kriminalität In den frühen neunziger Jahren führte der Zusammenbruch des kommunistischen Systems zum Ausbruch von Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien. An die Stelle der Politik trat das Chaos. Das hatte Auswirkungen auf die legalen wie auf die illegalen Geschäfte. Beispielsweise blockierten erbitterte Kämpfe innerhalb ethnischer Gruppen entlang der ehemaligen Grenzen des Landes die traditionellen Schmuggelwege über den Balkan. Die 'Ndrangheta sah in dieser außergewöhnlichen Situation neue Chancen und überredete albanische, bulgarische, türkische und islamistische Schmuggler zu Umwegen über die Adria und Kalabrien, um so ihre Geschäftstätigkeit auszuweiten. Menschen und Waren aus der Türkei und Albanien wurden an die Küsten Kalabriens geschmuggelt, die schon bald das neue illegale Tor nach Europa darstellten. Um die Zeit, als die Balkankriege endeten, blühten diese Geschäfte, und die alten Schmugglerstraßen blieben geschlossen. Neue internationale Geschäftsfelder für die 'Ndrangheta sind ein weiterer unerwünschter, schädlicher Nebeneffekt des Falls der Berliner Mauer. Die Fähigkeit der 'ndrine, ihr Netzwerk an die neuen ökonomischen und politischen Gegebenheiten nach dem Ende des Kalten Krieges anzupassen - die Chancen, die der Zerfall des Kommunismus brachte, voll zu nutzen -, erleichterte die
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Metamorphose des kalabrischen organisierten Verbrechens. Anders als die immer schon stark politisierte Cosa Nostra hat die 'Ndrangheta Neuankömmlinge auf ihrem Territorium nicht bekämpft, sondern sie vielmehr ermutigt, ihre schmutzigen Geschäfte von ihren italienischen Enklaven aus zu betreiben. So hat sie sich an neue, außergewöhnliche Umstände angepasst. Anfang der neunziger Jahre knüpfte sie beispielsweise Verbindungen zu kolumbianischen Kartellen, um von einer Veränderung in den Drogenkonsumgewohnheiten in westlichen Ländern profitieren zu können: Wegen der Ausbreitung von Aids war der Heroinkonsum eingebrochen, dafür boomte die Nachfrage nach Kokain. Von Schmugglern vom Balkan bis zu lateinamerikanischen Drogenkartellen: In den neunziger Jahren fädelte die 'Ndrangheta lukrative Joint Ventures ein. Sie warf ihre Erfahrung und ihre Schlüsselposition in der italienischen wirtschaftlichen Infrastruktur in die Waagschale und half ihren Partnern, erfolgreich auf die europäischen Märkte vorzudringen. Territorialität ist nach wie vor der Schlüssel zum organisierten Verbrechen, und in einer globalisierten Weltwirtschaft expandiert die Geographie des Verbrechens exponentiell. Lokalen kriminellen Organisationen eröffnen sich praktisch täglich neue internationale Gelegenheiten, wie in jüngster Zeit die Transformation der Camorra gezeigt hat. In den letzten paar Jahren hat diese neapolitanische Organisation durch ein Joint Venture mit den chinesischen Triaden, die in Italien aktiv sind, ihre schmutzigen Geschäfte internationalisiert. Die Konkurrenz lokaler Organisationen verhindert die Bildung eines internationalen, zentralisierten Netzwerks ähnlich dem Monopol, das die Cosa Nostra im 20. Jahrhundert im Verbrechen jenseits des Atlantiks besaß, aber sie erleichtert wirtschaftliche Allianzen. Im Mittelpunkt des neuen Modells ste-
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hen Geschäftsbündnisse zwischen dem ausländischen und dem lokalen Verbrechen. Und dem Muster folgt die 'Ndrangheta. »Statt die Kontrolle über ein Gebiet anzustreben, investiert die 'Ndrangheta die Gewinne ihrer illegalen Machenschaften im Ausland zugunsten ihrer Klienten«, wie es in einem Bericht des italienischen Parlaments über die Aktivitäten der 'Ndrangheta in Deutschland, Osteuropa und Australien heißt. 10 In den neunziger Jahren sind Mitglieder der 'ndrine ins Ausland gegangen und haben dort Zentralen aufgebaut, von wo aus sie den Schmuggelverkehr überwachen und Geldwäschestrukturen für ihre Klienten aufbauen. Angetrieben von der Nachfrage immer neuer Kunden, dehnten sie ihre Aktivitäten bald über die Grenzen des Kontinents aus. Weltweit kopierten die Organisationen das hochgradig integrierte Netzwerk, das in Italien so erfolgreich funktionierte. Die 'Ndrangheta expandierte in der Community der kalabrischen Emigranten, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Ausland gegangen waren, und gleichzeitig internationalisierte sie ihre Führungsstruktur. »Die Kinder der Bosse schrieben sich an europäischen und amerikanischen Universitäten ein und studierten Jura, Betriebswirtschaft und Steuerwesen. Viele ließen sich anschließend in Monaco, Luxemburg, der Schweiz und anderen Steueroasen nieder und bauten dort komplizierte Systeme für die Geldwäsche auf«, schreibt der italienische investigative Journalist Vincenzo Spagnolo.11 Im Jahr 2000 deckten die italienischen Behörden beispielsweise eine große Operation auf, die sich von Italien über die Schweiz bis nach Deutschland erstreckte. Daran waren mehrere Banken beteiligt, unter anderem die Deutsche Bank in Mailand. Die 'ndrina von Giuseppe Morabito, auch bekannt unter dem Namen Tiradritto (»Vorwärts«), hatte in Russland, Polen, Malta,
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Spanien und Litauen Geldwäsche, Bankbetrug und die Ausgabe gefälschter Anleihen organisiert. Die Fähigkeit, äußere, unvorhersehbare Entwicklungen auszunutzen - die neuen wirtschaftlichen Bedingungen nach dem Zerfall des Ostblocks -, in Kombination mit der zunehmenden Schwäche staatlicher Akteure ermöglichte die Transformation der 'Ndrangheta. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, mafiose Organisationen entstehen »in Gesellschaften auf dem Weg der Modernisierung, die eine wirtschaftliche Expansion erleben, denen aber die rechtlichen Strukturen fehlen, die zuverlässig das Eigentum schützen und geschäftliche Streitigkeiten regeln«.12 Diese Erklärung klingt plausibel, was das Monopol der 'Ndrangheta auf die Geldwäsche in Europa anbetrifft. Bei der Einführung des Euro fehlte eine harmonische und homogene Geldwäschegesetzgebung auf dem Kontinent. Wie im nächsten Abschnitt dargestellt wird, katapultierte vor diesem Hintergrund Präsident Bushs »Krieg gegen den Terror« die 'Ndrangheta auf den Olymp des globalen Verbrechens, indem er das Epizentrum der Geldwäsche von den Vereinigten Staaten nach Europa verlagerte.
Europa: Der Waschsalon für die Welt Bis zum 11. September 2001 wurde der Löwenanteil der rund 1,5 Milliarden Dollar, Geld aus illegalen und kriminellen Geschäften und von Terrororganisationen, in den Vereinigten Staaten und in US-Dollar gewaschen.13 Weil 80 Prozent davon als Bargeld gewaschen wurden, musste das Geld physisch, in Scheinen, in die Vereinigten Staaten gebracht werden. Haupteingangstore waren Offshore-Firmen und ShellBanken (Banken, die über keine physische Präsenz verfügen
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und nur als Name existieren) in der Karibik. Im Oktober 2001 verabschiedete der US-Kongress den Patriot Act, ein Gesetz, das im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus die bürgerlichen Freiheiten in Amerika stark beschnitt. Die neuen finanziellen Bestimmungen erschwerten die Geldwäsche in den Vereinigten Staaten und in Dollar stark. So können amerikanische Banken und Bankfilialen in den USA nicht länger Geschäfte mit Offshore-Shell-Banken machen. Außerdem gab der Patriot Act den Finanzbehörden der USA das Recht, Dollartransaktionen überall in der Welt zu kontrollieren. Heute gilt es als Verbrechen, wenn eine amerikanische Bank oder die in Amerika registrierte Filiale einer ausländischen Bank es versäumt, die Behörden auf verdächtige Transaktionen in Dollar an einem beliebigen Ort der Welt hinzuweisen. Der Patriot Act hat den Zustrom von schmutzigem Geld und Terrorgeld in die Vereinigten Staaten erfolgreich gestoppt, aber weil er ausschließlich für die Vereinigten Staaten und für Transaktionen in US-Dollar gilt, hat er die Geldflüsse von terroristischen Organisationen, kriminelle Geschäfte und Geldwäsche im Ausland nicht behindert. Diese schmutzigen Geschäfte verlagerten sich nach Europa, wo die neu geschaffene Gemeinschaftswährung Organisationen, die bereits im Geldwäschegeschäft aktiv waren, einschließlich der 'Ndrangheta, unerwartete Wachstumschancen eröffnete. »Die Einführung des Euro erleichterte den Transport und Tausch von Bargeld innerhalb der EU, weil die Strafverfolgungsbehörden den geographischen Ursprung dieser illegalen Gelder nicht mehr feststellen können«, räumt ein Europol-Mitarbeiter ein, der darum bat, anonym zu bleiben. Zahlen der Guardia di Finanza zeigen, dass von 2001 bis 2004 die Geldwäscheaktivitäten in Italien um 70 Prozent zugenommen haben. Die Einführung des Euro hat außerdem die Geldwäsche billiger
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gemacht. »In den alten Zeiten nutzte die 'Ndrangheta Wechselstuben für Touristen,14 um schmutziges Geld in unterschiedliche Währungen zu tauschen. Dieser Weg war teuer, etwa 50 Lire pro Dollar, und zeitaufwendig«, erklärt Colonello Cesare Nota Cerasi von der Guardia di Finanza. Heute funktioniert Geldwäsche so, dass riesige Summen zu Schleuderpreisen von einem Land ins andere verschoben werden. Da eine EU-Bestimmung fehlt, die verlangen würde, Geldzu- und -abflüsse bei EU-Einrichtungen zu melden, sind derartige Transaktionen ganz leicht möglich.15 »Die Verschiebung großer Summen in bar erlaubt dem organisierten Verbrechen, fruchtbare geographische Regionen zu identifizieren und zu erreichen, wo es besonders leicht ist, Geld ins legale Bankensystem einzuschleusen. Der unregulierte europäische Markt bietet eine Art Einkaufsliste mit den Standorten, wo die Chance am größten ist, unentdeckt zu bleiben«, sagt der Europol-Mitarbeiter. Aus neuen Zahlen von Europol geht hervor, dass seit 2001 ganz allgemein die Geldbewegungen innerhalb der Europäischen Union zugenommen haben. Im Jahr 2005 haben die Zollbehörden des Vereinigten Königreichs im Rahmen der Operation Chub in Dover einen Kühltransporter abgefangen, der von Großbritannien nach Südeuropa unterwegs war. In dem Lkw entdeckten sie 3,5 Millionen britische Pfund in bar, das Geld stammte mutmaßlich aus Drogengeschäften und sollte auf dem Immobiliensektor in Spanien, Italien und Griechenland reinvestiert werden. Auch Immobilienmakler in Nordeuropa berichten, dass oft verdächtige Käufer an sie herantreten, die große Beträge bar begleichen wollen. Bei der Operazione Decollo kam zutage, dass die 'Ndrangheta mit Gewinnen aus Geschäften des kolumbianischen Kokainkartells in Holland und Belgien Immobilien für die Kolumbianer kaufen wollte.16
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»Die mangelnde Effizienz der europäischen Geldwäscheregelungen wird auf dem Immobiliensektor besonders offensichtlich«, sagt die Europol-Quelle. »Die lokalen Grundbuchämter können zudem nicht über die Grenzen hinweg Informationen austauschen, und deshalb ist es unmöglich, zu überprüfen, ob jemand im Zuständigkeitsbereich unterschiedlicher Justizbehörden Land erworben hat.«17 Der Patriot Act hat das kolumbianische Drogenkartell auch veranlasst, sich nach neuen Schmuggelrouten umzusehen. Das Kartell fürchtete die Kontrolle von Dollar-Transaktionen nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch international. Das Schlüsselproblem war der Transfer von Dollar-Bargeld von einem Land ins andere - nicht die Frage, wie man schmutzige Profite am besten waschen konnte. Darüber hinaus musste das Kartell einen Weg finden, wie es seine USDollar investieren konnte, ohne die amerikanischen Finanzbehörden hellhörig zu machen. Dank des Aufstiegs des sizilianischen Immigranten Salvatore Mancuso an die Spitze der AUC (Vereinigte Bürgerwehren, Autodefensas Unidas de Colombia), der paramilitärischen kolumbianischen Terrororganisation, nach dem 11. September begann das Kartell geschäftliche Allianzen mit der 'Ndrangheta zu knüpfen. »Mancuso wurde das Verbindungsglied, der Mittelsmann der beiden Organisationen«, erklärt Vincenzo Spagnolo.18 Die 'Ndrangheta bot den Drogenbaronen einen Komplettservice: von Drogenschmuggel über Geldwäsche bis zu legalen Investitionen in Euro, etwas, was bis dahin noch niemand hatte anbieten können. Das Fehlen einer dem Patriot Act vergleichbaren europäischen Gesetzgebung und eines einheitlichen Steuerrechts sowie das Vorhandensein mehrerer Offshore-Einrichtungen erwiesen sich als vorteilhaft für die neuen illegalen Aktivitäten
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der 'Ndrangheta. »Gewinne aus Immobiliengeschäften etwa in Belgien, die in Euro anfallen, können ohne Kontrolle nach Bogota transferiert werden«, berichtete die Europol-Quelle. Deshalb hat der amerikanische Patriot Act die Geldwäsche nicht nur nicht eingedämmt, sondern den Anstoß dazu gegeben, dass das kolumbianische Drogenkartell seine Aktivitäten nach Europa ausdehnte, und er hat die 'Ndrangheta in die Lage versetzt, ihre Stellung als Komplettdienstleister für das weltweite organisierte Verbrechen zu festigen.
Das Ende der Freiheit Die Heiratsregel steht im Zentrum dessen, was wir mit einer Formulierung von Hannah Arendt die »apolitische Natur« der 'Ndrangheta nennen könnten. Die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe ist ein Naturphänomen, schreibt sie, denn »die Menschen sind durch Geburt ein Teil davon, immer«. 19 Aber eine Gruppe zu bilden ist etwas sehr anderes als die Tatsache, als Jude, Muslim oder Mitglied einer Mafia-Familie geboren zu werden.20 Politik erfordert eine Beziehung, die deutlich über persönliche Nähe hinausgeht, tief in gemeinsamen Interessen verwurzelt ist, und in deren Mittelpunkt die Wahlfreiheit steht. Es sind nicht genetische Bedürfnisse, sondern kosmopolitische und universelle Erfordernisse - sie gehören allen. Die Menschen sind politische Wesen, und »der Sinn des Politischen [...] ist, dass Menschen in Freiheit [...] miteinander verkehren«, ohne Freiheit wäre das politische Leben als solches sinnlos.21 Daraus folgt, dass die Politik endet, wenn die Freiheit stirbt und die Gewalt beginnt. In den Gebieten, die von der 'Ndrangheta kontrolliert werden, gibt es keine Wahlfreiheit, nicht einmal unter den Mit-
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gliedern der 'ndrine. Diese Stammesenklaven stehen außerhalb der Politik, dort regiert die Gewalt. Nach Hannah Arendts Metapher sind sie Wüsten: »Die Wüste ist die Welt, unter deren Bedingungen wir uns bewegen«, mit all den Konflikten und der Not, mit den zahllosen Menschen und ihren Schicksalen, all dem, was eine arme kosmopolitische Seele quälen kann. »Die Gefahr liegt darin, dass wir wirkliche Bewohner der Wüste werden und uns in ihr zu Hause fühlen.«22 Die Menschen sind nun einmal eine anpassungsfähige Spezies, und die Geschichte bietet zahlreiche Beispiele, wie gut die Menschheit ohne Wahlfreiheit überleben kann, bis dahin, dass sie vergisst, was Freiheit bedeutet. Das trifft eindeutig auf die Mitglieder der 'Ndrangheta zu, die nichts über das Leben jenseits der politischen Wüste wissen, die sie bewohnen. Hannah Arendt würde sagen, sie seien weltlos: völlig unwissend über das politische Universum um sie herum. Geboren und aufgewachsen in den sozial klaustrophobischen Verhältnissen der 'ndrine, gezwungen, einen Ehepartner innerhalb des Familienverbandes zu wählen, kennen sie nur das Leben, das ihre eigene Familie ihnen vorschreibt. Die Abwesenheit von Politik hindert die 'ndrine jedoch nicht daran, Geschäfte zu betreiben. Politik verlangt Wahlfreiheit, die Wirtschaft nicht. Wenn sich eine Gelegenheit bietet, machen Menschen Geschäfte miteinander, und dabei sucht jeder seinen Vorteil: Man will den eigenen Lebensstandard verbessern, ein Vermögen anhäufen, reich und mächtig werden; das gilt in der Demokratie wie in einem totalitären Regime. Profit ist der einzige Motor, der die Ökonomie antreibt, und blüht in gescheiterten Staaten: in Jelzins Russland, wie der Reichtum der Oligarchen zeigt, und auch in Hannah Arendts Wüste. Diese wirtschaftlichen Systeme sind von Natur aus hochgradig ausbeuterisch.
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Politik als Wahlfreiheit bleibt damit die einzige Kraft, die in der Lage ist, wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit zu verhindern. Darum argumentiert Hannah Arendt in ihrer Kritik an Marx vehement gegen die Unterordnung der Politik unter die Produktion.23 Die Wirtschaft ist für sie nur ein Instrument, um die Politik zu verbessern, um den Wohlstand der Menschen zu mehren; sie fördert Fortschritt und Entwicklung, genau wie die moderne Medizin unsere Gesundheit verbessert und die Technik die Kommunikation erleichtert. Die Aufgabe der Wirtschaft ist begrenzt. Jede Abwendung von diesem Paradigma verwandelt sie in eine Schurkenkraft, einen mächtigen ausbeuterischen Mutanten. Hannah Arendt entfaltete ihre Sicht der Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft unter dem Eindruck der Machtübernahme der Nazis in Deutschland. Sie hatte miterlebt, wie die zersetzende Propaganda von Hitler und seinen Gefolgsleuten die Weimarer Republik zerstörte. Diese Männer benutzten die wirtschaftliche Krise Deutschlands als ein mächtiges Werkzeug, um die demokratischen Institutionen auszuhöhlen und die Opposition brutal zu zerschlagen. In den Händen der Nazis wurde die Wirtschaft zu einer finsteren Macht. Genauso traumatische wirtschaftliche Umbrüche, der Zerfall des Kommunismus und die wirtschaftliche Globalisierung, haben ein weiteres Mal ökonomische Schurkenkräfte freigesetzt. Die Gewichtsverschiebung war möglich, weil es nicht gelang, durch politische Partizipation die Veränderungen unter Kontrolle zu halten. Hannah Arendt hätte gemahnt, die kommerzielle Globalisierung müsse »von politischer und rechtlicher Kontrolle über den Handel begleitet werden, nicht nur in Form elitärer Körperschaften wie der Welthandelsorganisation und des Weltwirtschaftsforums,
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sondern auch in Räumen, wo die Bürger debattieren und in gewissem Umfang die Handelsgepflogenheiten mitbestimmen können, die ihr Leben betreffen«. 24 Die Bürger verlangen Möglichkeiten, ihre Sorgen und Meinungen auszusprechen, und die Politiker müssen zuhören und darauf reagieren. Dann kann der Herzschlag der Politik laut und deutlich den Willen der Nation ausdrücken, so laut, dass es das Gemurmel von Lobbygruppen, Großkonzernen und religiösen Fanatikern übertönt. Die wichtigste Aufgabe des Nationalstaats, wie er in Europa und Nordamerika im 19. und 20. Jahrhundert entstanden ist, hatte damit zu tun, den Willen des Volkes zu erfüllen.25 Er wurde geschaffen, um durch eine gerechte Ressourcenverteilung innerhalb der Bevölkerung die nationalen Interessen zu verfolgen, und ist die Säule der modernen Politik. Hannah Arendt würde sagen, wenn ein solcher Staat sich auflöst und Chaos anstelle der Zentralregierung herrscht, dann verschwindet die Politik, die Bürger verlieren ihre Freiheit, und Gewalt ersetzt die Autorität. Aber wie steht es mit der Wirtschaft? Wird die Wirtschaft auch zum Opfer? Nicht unbedingt. Die Wirtschaft kann, wie wir alle wissen, in der politischen Wüste der Anarchie blühen. Beispielsweise haben nach dem Fall der Berliner Mauer apolitische, tribale Organisationen wie die 'Ndrangheta von der Ausbreitung der Schurkenökonomie im ehemaligen Ostblock profitiert.
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Die Mutras: Was Ringkämpfer und Mafiosi gemeinsam haben Drei Schlüsselfaktoren - Struktur, Geschwindigkeit und Geheimhaltung- trugen im Zusammenspiel maßgeblich zur Metamorphose der 'Ndrangheta bei. Innerhalb von zehn Jahren gelang es der Organisation, das Netzwerk, das sie im Laufe eines Jahrhunderts in Italien aufgebaut, getestet und konsolidiert hatte, ins Ausland zu exportieren. Das fand praktisch unter den Augen der ausländischen Polizei- und Zollbehörden statt, die keine Vorstellung hatten, wie mächtig ihr Gegner war. Die Guardia di Finanza beispielsweise konnte die holländischen Behörden erst zur Mitarbeit bei der Operazione Decollo bewegen, nachdem eine für die Vereinigten Staaten bestimmte Ladung Handfeuerwaffen in Gioia Tauro aufgetaucht war. »Wir bekamen die Holländer mit ins Boot, als wir beweisen konnten, dass die 'Ndrangheta Waffen für ihre Kunden in Kolumbien schmuggelte. Bis dahin dachten sie, es handele sich um eine rein kalabrische Organisation«, erklärt Cesare Nota Cerasi.26 Letztlich kam die Metamorphose der 'Ndrangheta durch die erfolgreiche geographische Transplantation der 'ndrine zustande in Verbindung mit der Schwäche der staatlichen Apparate in den Gebieten, in denen die Organisation und ihre Kunden aktiv sind. Mit anderen Worten: »Die Unfähigkeit des Staates, die massive Transformation der Wirtschaft zu steuern..., kann zur Unterwanderung durch die Mafia führen.«27 Große Chancen für das Verbrechen tun sich auf, wenn es der Politik nicht gelingt, wirtschaftliche Umbrüche zu kontrollieren, wie es bei der Auflösung des Ostblocks der Fall war. In chaotischen Zeiten gibt es immer einen Schwarzmarkt, und gut organisierte Schwarzmärkte florieren.
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Der Übergang von der Wirtschaft im Kalten Krieg zur Marktwirtschaft hatte zur Folge, dass weite Gebiete der Welt sich selbst überlassen blieben. In dem neu geschaffenen politischen Niemandsland, Hannah Arendts Wüste, war es für Organisationen mit einem starken geographischen Netzwerk leichter, die Gewinne aus der globalisierten Marktwirtschaft einzustreichen, indem sie ihre Netzwerke außerhalb der Grenzen des Rechts reproduzierten oder bis dorthin ausdehnten. Oft füllten sie das durch die Abwesenheit einer staatlichen Autorität entstandene Vakuum, indem sie den verschiedenen legalen und illegalen Akteuren Schutz anboten. Auf diese Weise sorgten sie für das Überleben der Wirtschaft, die unvermeidlicherweise zu einer gewissenlosen Kraft wurde.28 Wir können diese Entwicklung sehr gut bei der Kriminalisierung der bulgarischen Nomenklatura beobachten, den führenden Mitgliedern der (ehemaligen) kommunistischen Partei. Das Beispiel Bulgariens ist praktisch die Vorlage für die politische Transformation des ehemaligen Ostblocks. Was in Bulgarien geschehen ist, hat sich auch in vielen Staaten der russischen Föderation zugetragen, einschließlich der zentralasiatischen Republiken. Die Kriminalisierung der Nomenklatura war ein notwendiger Schritt, um die Kontrolle über die Wirtschaft und damit letztlich über ganze Länder zu behalten. Anders, als viele glauben, hat der Fall der Berliner Mauer die Nomenklatura nicht überrascht. 1979, nach der sowjetischen Militärintervention in Afghanistan, hatte der KGB vorausgesagt, dass innerhalb der nächsten zehn Jahre das kommunistische System zusammenbrechen werde. »Der Nomenklatura blieben zehn Jahre, um sich zu restrukturieren und ihren Nutzen aus dem unvermeidlichen Übergang zum Kapitalismus zu ziehen. 1982 gründeten die Angehörigen der bulgarischen Herrschaftselite erste Joint
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Ventures zwischen bulgarischen Staatsunternehmen und fiktiven ausländischen Offshore-Firmen. Um diese Partnerschaften zu finanzieren, liehen sie sich Geld von bulgarischen Staatsbanken, und das transferierten sie dann in OffshoreDestinationen«, erzählt ein Mitglied der bulgarischen Mafia. »Dieser Prozess beschleunigte sich gegen Ende der kommunistischen Ära. Zwischen 1987 und 1988 verschluckten diese fiktiven Joint Ventures rund 10 Milliarden staatlicher Gelder. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, hatte die Nomenklatura den Großteil der staatlichen Gelder sicher auf Offshore-Konten gebracht.«29 In den nächsten zehn Jahren finanzierte die Nomenklatura mit diesem Geld, das eigentlich dem bulgarischen Staat gehörte, ihre Verwandlung in eine kriminelle Organisation, die die lokale Mafia hätschelte und schließlich mit ihr verschmolz. Geld, das dem Staat gestohlen worden war, ermöglichte die Transformation der alten kommunistischen Netzwerke (inklusive der Geheimdienste und von Sportmannschaften) in neue kriminelle Netzwerke. Die gaben dann die für die Kontrolle der heimischen Wirtschaft erforderliche Infrastruktur ab. Die neue bulgarische Mafia machte beispielsweise aus Sportmannschaften ihre Schlägertrupps und Bodyguards. Die Stammesstruktur der ehemals kommunistischen Organisationen erleichterte die Verwandlung. Im Kalten Krieg wurde der Wettbewerb von Ost und West oft bevorzugt bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften ausgetragen. Der Sport sublimierte den Zusammenprall der beiden Ideologien Kommunismus und Kapitalismus. Die sowjetische Welt feierte erfolgreiche Athleten als moderne Berühmtheiten. Boxer und Ringer waren besonders populär, weil sie die physische, muskelbepackte Überlegenheit des Kommu-
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nismus gegenüber dem dekadenten Kapitalismus verkörperten. Der Staat kümmerte sich sehr um sie und gewährte ihnen als dem Stolz des Sozialismus besondere Privilegien. Sie trainierten in eigenen Sportinternaten, wo sie auch wohnten und betreut wurden. »Sie besaßen nur eine rudimentäre Bildung, weil sie ihr ganzes Leben in Trainingshallen und Sportstadien verbracht hatten. Sie wurden nach Sportarten aufgeteilt: Ringer, Gewichtheber, Kanuten und so weiter. Der Sport schuf eine Bezugsgruppe von Freunden, eine Identität, die auf dem Kult der Macht basierte.« 30 Trotz unterschiedlicher ethnischer und sozialer Herkunft hatten die Sportler einen sehr ausgeprägten Sinn der Zugehörigkeit und Loyalität zu ihrer Gruppe. Ihre Identität reflektierte und definierte die ihnen zugedachte Rolle innerhalb der Dichotomie des Kalten Krieges, ausgedrückt in der physischen Konfrontation mit Athleten aus dem Westen. Dieser Korpsgeist, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Stamm, erzeugte die gleiche mechanische Solidarität oder das gleiche auf Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen gegründete kollektive Bewusstsein, wie es auch bei den 'ndrine herrscht. Mit dem Fall der Berliner Mauer verloren die kommunistischen Sportstätten die staatliche Finanzierung und die Athleten ihren Sonderstatus, ihren Lebensmittelpunkt und die ihnen zugeschriebenen Rollen. Doch das Ende des Kommunismus zerstörte die Loyalität zu ihrer Gruppe nicht. »Nach der Auflösung der sozialen Strukturen und der Atomisierung der Gesellschaft hielten die Boxer, Ringer, Gewichtheber und so weiter, die meistens aus den unteren Schichten der bulgarischen Bevölkerung stammten, weiter zusammen und kümmerten sich umeinander. Die Solidarität war bei ihnen sehr stark.«31 Ohne Anstellung und ohne marktfähige Berufe, aber mit einem starken Zusammenhalt, waren die Athleten
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eine leichte Beute für die entstehenden lokalen Mafia-Organisationen, die aus ihnen ein kraftvolles, einiges und loyales Unterstützungsnetzwerk formten. In Bulgarien köderten Angehörige der Mafia ehemalige Champions mit Geld, schnellen Autos, Frauen und einem neuen sozialen Status. Ihre postkommunistische Rolle bestand nun darin, die Menschen einzuschüchtern und ihnen klarzumachen, wer im Land das Sagen hatte. »In Sofia waren sie leicht zu erkennen - große, meistens hässliche Männer, schwarz gekleidet, mit Sonnenbrillen«, erzählt die bulgarische investigative Journalistin Zoya Dimitrova.32 Solche Athleten, in Bulgarien bekannt unter dem Spitznamen Mutras, »hässliche Gesichter«, die als die starken Männer der Mafia rekrutiert wurden, gab es auch in anderen Ländern. In Russland beispielsweise mobilisierte die lokale Mafia außer Sportlern auch Veteranen des antisowjetischen Dschihad, die Afghanzy, die außer physischer Stärke beste Kenntnisse im Umgang mit Waffen besaßen.
Die Kriminalisierung der bulgarischen Nomenklatura »In Bulgarien war die Zeit zwischen 1990 und 1995 von Chaos, illegalen Geschäften und einem nicht funktionierenden Staat geprägt«, erklärt Zoya Dimitrova.33 Vor diesem Hintergrund wurde Erpressung vor allem im privaten und öffentlichen Transportwesen zum ersten profitablen Geschäftsfeld der neu entstehenden Mafia. Und die Mutras wurden zur wichtigsten unterstützenden Struktur. Nach 1991 ließen sich Fahrzeuge aus dem Westen leicht nach Bulgarien schmuggeln und dort verkaufen, denn das
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Land litt unter einem chronischen Mangel an Fahrzeugen. Parallel zum Autoschmuggel stieg die Zahl der Autodiebstähle steil an. Die Mafia kümmerte sich nicht nur um das Schmuggelgeschäft, sondern setzte die Mutras auch für den Verkauf von »Autoversicherungen« ein, eine Form der Erpressung, um Autobesitzer vor Diebstahl zu schützen:34 Die Menschen wurden gezwungen, zu unterschreiben. Wenn sich jemand weigerte, die Versicherung zu bezahlen, nahmen die Mutras ihm das Auto weg oder zündeten es an. Sie zwangen die Menschen, Schutzgeld für alles und jedes zu bezahlen, inklusive einer Versicherung, die zahlen sollte, falls das Auto von Aliens gestohlen würde. Hinter dem Geschäft steckten ehemalige kommunistische Politiker, sie standen ganz oben in der Pyramide. Die meisten kamen aus den bulgarischen Geheimdiensten und hatten gute Verbindungen zum KGB.35 Das Geschäft mit geschmuggelten Fahrzeugen expandierte bald. Im nächsten Schritt sicherten sie sich ein Monopol auf Schmuggel in Nachbarländer, indem sie die Kontrolle über den Waren- und Personenverkehr übernahmen. »Die Mafia kontrollierte alle Transportmittel. Vor 1990 hatte es nur das staatliche Transportunternehmen SOMAT gegeben, nun entstanden viele kleinere Transportfirmen im Besitz von Mafiosi.«36 Der Schmuggel deckte einen enormen wirtschaftlichen Bedarf bei gutgläubigen Kunden. Nach dem Fall der Berliner Mauer herrschte chronische Knappheit bei praktisch allen Warentypen, von Konsumgütern bis zu Material für die Industrie. 1989 wickelte Bulgarien 85 Prozent seines Handels mit dem Ostblock ab. Der Zusammenbruch der Sowjetunion stoppte diese Handelsströme und brachte die heimische
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Wirtschaft zum Stillstand. Nach der Öffnung der Grenzen und ohne einen funktionierenden Staat ersetzte der illegale Handel die Import-Export-Ströme und wurde zu der einzigen Möglichkeit, wie die Menschen ihre Bedürfnisse decken konnten. Auf diese Weise übernahmen die Nomenklatura und die Mafia mit ihren kriminellen Geschäften die ökonomischen Aufgaben des Staates. Anfang der neunziger Jahre war die Schmuggelroute durch die Türkei die bequemste und profitabelste. Schockierenderweise erleichterten mittellose Frauen diesen illegalen Handel. 1989 war nach der Ausweisung türkischer Minderheiten aus Bulgarien das Phänomen der vodachka oder Führerinnen entstanden. Nach der Vertreibung aus Bulgarien wussten diese verzweifelten Frauen nicht, wie sie sich und ihre Familien über Wasser halten sollten. Sie beschlossen, den Schmuggel zwischen ihrem Herkunftsland, der Türkei, und ihrem Geburtsland, Bulgarien, zu erleichtern. Sie arbeiteten als Übersetzer für Schmuggler und nutzten jede Form von Korruption einschließlich sexueller Dienstleistungen, um das Einsickern von Schmuggelware nach Bulgarien zu ermöglichen. Geschmuggelte Waren wurden auf riesigen Großmärkten offen angeboten. Der wichtigste Markt, Illiantzi in Sofia, entstand in den frühen neunziger Jahren. Händler und Schmuggler aus Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien und Albanien machten dort ihre Geschäfte. Die bulgarische Mafia, die um die Zeit mit den Erpressungen durch angebliche Versicherungen begann, kontrollierte bald auch diesen Markt. Sie bot den vodachka und den Händlern ihren Schutz an, die oft von lokalen Banden auf den Autobahnen nach Sofia überfallen wurden.37 Die Mafia unterwanderte außerdem die Polizei und die Grenzkontrolleure. »Mitte der neunziger Jahre arbeitete ich
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bei der Polizei, aber ich ging weg, als ich die ganze Korruption sah«, erzählt ein ehemaliger bulgarischer Polizist. »Wir haben viele Leute festgenommen, aber sie haben einfach meinem Chef Geld gegeben, und dann waren sie wieder frei. 60 Prozent meiner Kollegen haben die Seite gewechselt und arbeiten jetzt für zwielichtige Organisationen. Aus einem einfachen Grund: Bei der Polizei verdienten sie 350 Leva, das sind 175 Euro. Als Bodyguard bei einem Mafiaboss bekommt man 1000 Leva (500 Euro) im Monat. Mir hat man auch so ein Gehalt angeboten, aber ich habe abgelehnt. Jetzt fahre ich Taxi.«38 Als die Vereinten Nationen das so genannte Jugo-Embargo (1992-1995) über den Balkan verhängten, um die vom Krieg zerrissenen Gebiete zu isolieren, kontrollierte die bulgarische Mafia die meisten Schmuggelrouten vom Balkan nach Westen und stand bereit, vom Embargo zu profitieren. »Das JugoEmbargo für den Handel mit Öl und Waffen war eine äußerst wichtige Profitquelle für die Mafia. In der Zeit des Embargos festigte sie ihre finanzielle Macht, sie wurde reich durch den Schmuggel von Öl und Waffen. Das Öl kam vom Schwarzen Meer, die Waffen aus dem ehemaligen Ostblock«, erklärt Tihomir Beslov, Experte für Verbrechen beim Center for the Study of Democracy.39 Paradoxerweise hielt in dieser Phase der boomende Ölund Waffenhandel die monetäre Infrastruktur in Bulgarien flüssig. »Die meisten Profite aus Waffenverkäufen kamen als Geldbündel von Serbien über Mazedonien nach Bulgarien«, sagt Kolyo Paramov von der bulgarischen Nationalbank:40 Die Serben schalteten keine mazedonischen Banken ein, weil sie ihnen nicht trauten. Serbische Banken wie die First East International Bank und die Elitbank verdienten viel Geld mit solchen Transaktionen und mit dem Transfer
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von serbischer Währung zu schweizerischen Banken. Sie schafften das Geld in Armee-Schultertaschen aus Stoff außer Landes. Einmal wurden 16 Millionen D-Mark als Wertpakete in ein Flugzeug verladen - das galt als eine legale Banktransaktion. Im Durchschnitt wurden täglich 10 bis 12 Millionen Dollar in Scheinen außer Landes gebracht; in der Zeit der kommunistischen Herrschaft hatte es Kapitalflucht praktisch nicht gegeben. Große Summen landeten auch in Steueroasen: 1993 und 1994 wurde rund 1 Milliarde Dollar ins Ausland transferiert. Ohne diese Gelder wären die bulgarische und die serbische Mafia nicht stark und reich geworden. Dauernd wurden Bankkonten eröffnet und wieder geschlossen. Firmen wurden eingetragen, sie existierten einen oder zwei Tage, wurden wieder geschlossen, und neue Firmen wurden gegründet. Niemand konnte legal dagegen vorgehen, weil die Drahtzieher auch die Polizei und den Justizapparat kontrollierten und die Politiker in der Tasche hatten.41 Die Kriminalisierung der bulgarischen Nomenklatura weist alle Merkmale der Metamorphose der 'Ndrangheta auf: ein Netzwerk mit einer ausgeprägten mechanischen Solidarität, das starken tribalen Zusammenhalt zeigt, mit einer »aufgeklärten« Führung, die erkannt hat, dass es nötig ist, sich dem durch den Zerfall des Kommunismus und den Ausbruch des Balkankriegs veränderten politischen Klima anzupassen. Beide Netzwerke sind auch willens und in der Lage, von globalen Märkten zu profitieren. Die endemische Schwäche staatlicher Akteure, die unfähig sind, Kontrolle über die Wirtschaft auszuüben, erleichtert die Umtriebe solcher Gruppen.
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Ihre Transformation vollzog sich vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt und wurde dadurch angetrieben. Die Gewalt machte es möglich, die neuen Chancen zu nutzen, und sie hielt gleichzeitig die Wirtschaft am Laufen, weil der Schmuggel von Waffen und Öl auf dem Balkan dafür sorgte, dass Geld nach Bulgarien floss. Vor allem aber löste die Gewalt die Politik ab; in Bulgarien sah das so aus, dass die Mutras die Bevölkerung terrorisierten. Letztendlich löschte die Gewalt die Bedeutung von Politik, verstanden als Wahlfreiheit, aus den Köpfen der Menschen. Und der ehrliche bulgarische Polizist beschloss, seinen Beruf an den Nagel zu hängen und Taxifahrer zu werden. Wie Hannah Arendt sagen würde: Die Menschen fühlten sich in der Wüste zu Hause.
Das Ende der Politik Der Aufstieg der 'Ndrangheta an die Macht im düsteren Universum des globalen Verbrechens unterstreicht, wie unvorhersehbar die Folgen großer politischer Siege (das Ende des Kalten Krieges) und bestimmter politischer Entscheidungen (der Patriot Act) sind in einer Welt, in der die Wirtschaft immer mehr global geworden ist und die Politik innerhalb der nationalen Grenzen blieb. In Umbruchphasen können illegale Unternehmungen, denen große Dienstleistungsnetzwerke zur Verfügung stehen, die nationalen Volkswirtschaften ersetzen, und die politische Strategie mächtiger Regierungen kann dazu dienen, das organisierte Verbrechen an die Macht zu bringen. Vor diesem Hintergrund drängt sich uns eine Frage auf: Ist die Politik tot? Hannah Arendt zufolge lautet die Antwort: »Nein.« Sie würde argumentieren, dass es sogar tief in der Wüste noch
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Oasen gibt, und selbst wenn die Oasen durch Sandstürme oder die Welt in ihrem Umfeld zerstört werden, bleiben sie »lebenspendende Brunnen, die uns befähigen, in der Wüste zu leben«. Schließlich werden die Oasen dank unterirdischer Wasservorkommen wieder neu erstehen. Der Untergang des Nationalsozialismus bestätigt solchen Optimismus. Hannah Arendts unerschütterliche Hoffnung rührt von der Überzeugung her, dass die Politik eine natürliche Dimension des Menschseins darstellt. Es gehört zu unserer Natur, dass wir nach Freiheit streben. »Die Oasen sind all jene Felder des Lebens, die unabhängig oder großenteils unabhängig von politischen Bedingungen existieren«, und das Scheitern eines politischen Systems kann ihnen nichts anhaben. »Was schiefgegangen ist«, wenn unser Land in die Wüste gezwungen wurde, »ist die Politik, das heißt wir, insofern wir im Plural existieren - und nicht das, was wir tun und herstellen können, insofern wir im Singular existieren: in der Abgeschiedenheit wie der Künstler, in der Einsamkeit wie der Philosoph, in der eigentlich weltlosen Beziehung zwischen Mensch und Mensch, wie sie in der Liebe und manchmal in der Freundschaft gegeben ist (wenn, in der Freundschaft, ein Herz sich direkt dem anderen zuwendet oder wenn, in der Liebe, die Welt in der Leidenschaft des Zwischen in Flammen aufgeht). Wären diese Oasen nicht intakt, wüssten wir nicht, wie wir atmen sollen.«42 Hannah Arendt beharrt darauf, dass der Mensch als politisches Wesen in sich die emotionale, intellektuelle und materielle Stärke trägt, um die Freiheit immer wieder zu erobern. Die Welt, in der wir heute leben, ist eine andere als die, die Hannah Arendt betrachtet hat. In einer globalisierten Welt ist es nahezu unmöglich, geographische Grenzen der Politik zu ziehen. Entsprechende Versuche wie der Patriot Act ha-
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ben unliebsame Folgen. In diesem Fall trafen sie Amerikas Hauptverbündeten, die Europäische Union, weil sich das Epizentrum der internationalen Geldwäsche von den Vereinigten Staaten nach Europa verlagerte. In einer globalisierten Welt verwischen wirtschaftliche Interessen dauernd die Scheidelinie zwischen Gut und Böse. Chinas Schreckensbilanz bei den Menschenrechten hat nicht verhindert, dass das Land Mitglied in der Welthandelsorganisation wurde. Die G7 wurden zu den G8, während die russischen Oligarchen ihr eigenes Volk ausraubten. Die globalisierte Politik geht weit über die hehren Ideale der Nationen hinaus, und die Politik ist ein bösartiger, ganz und gar unberechenbarer Kampf um die Macht geworden. Hannah Arendts Analyse ist auf den Nationalstaat als die Idealform der Regierung ausgerichtet. Aber seit dem Fall der Berliner Mauer wurde der Nationalstaat durch unerwartete Interdependenzen der Schurkenökonomie ausgehöhlt, die die Politik daran hinderten, ihre Ziele zu erreichen. Niemand hatte so etwas erwartet. All jene, die aktiv auf die Überwindung des Kommunismus hingearbeitet und das auch erreicht haben, Politiker diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs, ahnten nicht, dass ihre Entscheidungen derart auf sie zurückfallen und die gewissenlosen Geschäftemacher ganze Nationen versklaven würden. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan plante nicht, dass ganz Mittelamerika verarmen würde, weil durch den Sieg über das Reich des Bösen der globale Arbeitsmarkt mit billigen Arbeitskräften überschwemmt wurde.43 Doch genau dies geschah. Paradoxerweise verhindern in der globalisierten Welt gerade die nationalen Grenzen der Politik - das Element, das die Wahlfreiheit der Bürger garantiert dass politische Entscheidungen in einem Land richtig wirksam werden können.
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George W. Bush und die Neokonservativen glaubten naiv, dass der Patriot Act der beste Schutz vor schmutzigem Geld von kriminellen und terroristischen Organisationen sei. Sie erkannten nicht, dass die weltweite Überwachung von Dollartransaktionen die Geldwäsche nicht verhindern kann, weil es in einer globalisierten Wirtschaft andere Währungen gibt, weil Offshore-Einrichtungen funktionieren und weil innerhalb wie außerhalb der normalen Geschäftswege noch andere Kanäle offen sind. Die Politik steckt nach wie vor im nationalen Rahmen fest, aber die Wirtschaft ist längst global und hat sich im Verlauf der Entwicklung aus den Zwängen der nationalstaatlichen Politik gelöst. Vor diesem Hintergrund muss das Verhältnis von Politik und Bürgern entsprechend des neuen wirtschaftlichen und politischen Gleichgewichts neu ausgehandelt und neu definiert werden. Wie im Epilog diskutiert wird, müsste jeder neue Gesellschaftsvertrag heute das Ergebnis einer durch die Globalisierung ausgelösten größeren Reform sein. Das Ausmaß der globalen Umstrukturierung zeigt uns jedoch, dass Profite, die durch die Schurkenwirtschaft zustande kommen, nicht immer von unabhängigen Netzwerken stammen, die außerhalb des Gesetzes operieren. Tatsächlich können politische Systeme, die fundamentale Ähnlichkeiten mit solchen Netzwerken aufweisen, an den Gewinnen der skrupellosen Geschäftemacher teilhaben, wie der Aufstieg des kommunistischen China zu einem globalen kapitalistischen Giganten zeigt. Die neuen Systeme sind eine Variation dessen, was Philip Bobbit, ein Chronist der Nuklearstrategie, der für das Weiße Haus, den Senat und den Nationalen Sicherheitsrat tätig war, als Marktstaaten bezeichnet hat: politische Einheiten, die die traditionelle Rolle von Beschützern der Bürger aufgegeben und eine mehr »unternehmerische« Rolle
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übernommen haben. »Während der Nationalstaat seine Legitimität auf das Versprechen gründete, das materielle Wohlergehen der Nation zu verbessern, verspricht der Marktstaat, die [wirtschaftlichen] Chancen für jeden einzelnen Bürger zu maximieren.« 44 Einige Nationalstaaten haben sich dem neuen ökonomischen Klima angepasst und dabei das Verhältais zwischen der Politik und dem Individuum verändert. Der Übergang vom Nationalstaat zum Marktstaat nach dem Ende des Kalten Krieges war geprägt von einem Kampf zwischen Politik und Schurkenwirtschaft um die Vorherrschaft. Der Ausgang des Kampfes bleibt ungewiss. Aber wenn Hannah Arendt recht hat, haben die Menschen durchaus die Macht, den Kampf zu gewinnen, den Tod der Politik zu verhindern und den Gesellschaftsvertrag neu auszuhandeln. Doch dafür müssen sie sich bewusst werden, dass sie in der Wüste leben, und müssen die Wüste mit neuen Ideen bewässern. Der erste Schritt besteht darin, die durch die Schurkenwirtschaft erzeugten ökonomischen Illusionen zu durchbrechen. Nur dann werden die Menschen in der Lage sein, ihre Wahl zu treffen und die Bedingungen ihres politischen Engagements neu festzulegen.
KAPITEL
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Land der unbegrenzten Möglichkeiten
Lasst China schlafen. Napoleon Bonaparte
Die westliche Geschichte ist eine Geschichte des Idealismus. Unsere Kultur basiert auf einem theoretischen Modell. In seiner Politeia (Der Staat) entwirft Platon mit Hilfe von Mythen und phantastischen Bildern, die keinen Bezug zur Realität haben, die ideale Regierungsform. Dieses Idealbild wurde dann auf die Realität angewandt. In Piatons Nachfolge argumentierten alle westlichen Philosophen, darunter auch Hannah Arendt, dass ein Konzept, wenn es im Geiste formuliert wird, ebenso in der realen Welt bestehen und damit auch umgesetzt werden kann. Dieser Prozess wird als »Modellieren« bezeichnet. Politik ist die direkte Folge des philosophischen Modells. Sie erfordert die intellektuelle Formulierung des bestmöglichen Modells - oder der idealen Staatsform, wie Platon sagen würde - und dessen Umsetzung, also die Bereitschaft, das Modell in der Wirklichkeit zu reproduzieren. Das Modell liegt dem Nationalstaat ebenso zugrunde wie dem Verfassungsstaat, und beide sind Produkte der Aufklärung, einer Zeit, in der die Leidenschaft für perfekte politische Systeme immer weiter um sich griff. Verfassungen sind im Grunde
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eine Ansammlung von Idealvorschriften, die das Funktionieren des Staates regeln und den Bürgern als Norm dienen, die sie respektieren müssen. Oft erfordert die Umsetzung des Idealmodells Gewalt, ja sogar einen gewaltsamen Umsturz, wie die Französische Revolution zeigt.1 Auch bei der Entwicklung des Marktstaates waren Modelle von grundlegender Bedeutung. Diesen neu geschaffenen Staat kann man als politische Umsetzung der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik betrachten, bei der die politische Rolle des Staates auf ein Mindestmaß reduziert ist. Die Umsetzung philosophischer Modelle stößt jedoch auf gravierende Probleme, etwa wenn man die Bedingungen rational nicht vollständig erfassen kann oder wenn eine Situation zwar logisch ist, aber keine mathematischen Muster zu erkennen sind. Das westliche Denken ist daher im Bereich des Chaos oder unkontrollierbarer Variablen zum Scheitern verurteilt. Besonders deutlich treten diese Einschränkungen im Kriegsfall zutage, wie schon Carl von Clausewitz verkündete, als er schrieb, Europäer könnten nicht in den Maßstäben des Krieges denken.2 Dagegen gedeiht die chinesische Kultur, wie wir sehen werden, hervorragend im Chaos.
»Eine Krise ist eine Chance, mit dem Sturm zu reiten« Ein Sieg auf dem Schlachtfeld ist oft nicht von der Strategie, sondern den Umständen abhängig, wie Tolstoi dem Leser in Krieg und Frieden vor Augen führt. Darin beschreibt er, wie österreichische und russische Generäle am Vorabend der Schlacht von Austerlitz noch einmal ihren Plan durchgehen, den sie für die ideale militärische Strategie halten. Sie sind
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zuversichtlich, dass sie Napoleon schlagen werden; seine Armee ist weit entfernt von den militärischen Stützpunkten, sie ist kleiner als die vereinten österreichisch-russischen Streitkräfte, befindet sich seit Tagen auf dem Rückzug und wird in einer ungünstigen Stellung kämpfen müssen. Napoleon dagegen scheint sich um die Schlacht keine Gedanken zu machen, er entwirft nicht einmal einen Schlachtplan. Am frühen Morgen trifft er gutgelaunt auf dem Schlachtfeld ein. Er ist verliebt, enthüllt uns Tolstoi, und strotzt wie alle Frischverliebten, deren Liebe erwidert wird, nur so vor Optimismus. Während die feindlichen Truppen Napoleons Armee einkreisen, kommt auf einmal dichter Nebel auf und blockiert die Sicht. Die österreichischen und russischen Soldaten, Offiziere und Generäle verlieren völlig die Orientierung. Sie können ihren ausgeklügelten Plan nicht umsetzen, weil sie nicht erkennen, wo sie sich befinden. Hilflos stürzen die Koalitionstruppen ins Chaos. Durch das unvorhersehbare Ereignis - den Nebel - hat sich das Blatt gewendet. Napoleon improvisiert und nutzt die Situation zu seinen Gunsten. Er greift den Feind im Nebel an, durchbricht dessen Verteidigungslinien und gewinnt die Schlacht. Sunzi, der chinesische Autor von Die Kunst des Krieges, würde sagen, Napoleon habe sich wie ein chinesischer General verhalten. Er nutzte die vorhandene Situation und passte seine Strategie entsprechend an. Eine Krise, der Nebel, wurde zur Chance, »mit dem Sturm zu reiten« und die Schlacht zu gewinnen. In der chinesischen Kultur sind Modelle sinnlos, weil sie Idealbedingungen erfordern, die nichts mit der Realität zu tun haben. Man erringt den Sieg, wenn man nach günstigen Faktoren sucht und sich diesen anpasst, so wie beim Nebel von Austerlitz. Das Buch Die Kunst des Krieges, das im 6. Jahrhundert vor
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Christus entstand, illustriert die philosophische Grundlage der chinesischen Kultur, die quasi die Antithese zum europäischen philosophischen Modell bildet. Während die westliche Philosophie versucht, die Realität der Idealvorstellung anzupassen, existiert ein derartiges Modell in der chinesischen Kultur nicht. Die Realität ist das Produkt der Umstände und verändert sich daher ständig. Somit ist der Nebel von Austerlitz nicht das außergewöhnliche Ereignis, das zur Niederlage fuhrt, sondern die Ausgangssituation für den Sieg. Daraus folgt, dass in der chinesischen Kultur nichts von Dauer ist, angefangen bei den Gebäuden, die mit vergänglichen Materialien errichtet werden und ständig renoviert werden müssen (wie im Fall der Verbotenen Stadt), bis hin zu geschäftlichen Verträgen. »Für jemanden aus dem Westen ist ein Vertrag ein Vertrag, in China hingegen ist er eine Momentaufnahme der Arrangements, die zufällig zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehen«, sagt Tim Clissold in Mr. China, einem Buch, in dem er sein Scheitern als Unternehmer in China beschreibt.3 Die chinesische Kultur folgt einem anderen Rhythmus, sie orientiert sich an Ereignissen, aus denen man Vorteile ziehen kann. Aufgrund dieser Haltung verwischen sich ständig die Grenzen zwischen dem, was die westliche Kultur als legal und illegal definiert. Als 2004 die chinesische Nachfrage nach Stahl in die Höhe schoss, verschwanden auf der ganzen Welt Kanaldeckel. »Die ersten Schwunde verzeichnete man in Taiwan [...], dann in anderen Nachbarstaaten wie der Mongolei und Kirgisistan [...]. In Chicago verschwanden innerhalb eines Monats über 150 Kanaldeckel. Beim großen >Kanaldeckelraub< von Schottland wurden über hundert in wenigen Tagen gestohlen. In Montreal, Gloucester und Kuala Lumpur stürzten ahnungslose Passanten in die freiliegenden Schächte.« 4
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Chinesische Kaufleute erwarben die Kanaldeckel von lokalen Dieben und schickten sie nach China; die Käufer zuckten nicht einmal mit der Wimper, wenn »City of Chicago« in den Stahl eingraviert war. Händler und Käufer brauchten Stahl, und irgendjemand konnte es zu einem unwiderstehlich günstigen Preis liefern. Der Handel versprach ein gutes Geschäft, mehr kümmerte sie nicht. Nicht Ethik oder Moral, sondern die Umstände leiten den chinesischen Weisen, der, wie im chinesischen Klassiker I Ging beschrieben, in globalen Prozessen denkt. Die Umstände leiten auch den General und Strategen, der Konfrontationen bewusst in Kauf nimmt, um sein Volk zu schützen. Sie alle richten sich nach den aktuellen Ereignissen und Beschränkungen, die diese ihnen auferlegen, und erkennen an, dass das Leben von zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten und letztlich vom Chaos diktiert wird. Die Geschichte hat keine transzendentale Bedeutung, sondern stellt nur eine Ansammlung einmaliger Momente dar. Das Denken in der westlichen Kultur dagegen setzt sich transzendentale Ziele, die die Formulierung idealer, dauerhafter Modelle erklären, rechtfertigen und letztendlich auch erfordern. Dieses Denken ist in vielen Religionen tief verwurzelt: Die Juden ziehen ins Gelobte Land, die Muslime streben nach dem Paradies, die Christen warten auf die Wiederauferstehung der Toten, die christlichen Fundamentalisten träumen vom Harmagedon, und Selbstmordattentäter wollen Märtyrer werden. Das Leben hat erst in Verbindung mit einem finalen, transzendentalen Ziel einen Sinn, und die Geschichte ist der lange Marsch in Richtung auf dieses Ziel. Die westliche Geschichte wiederholt sich aus dem einfachen Grund, dass die Menschen in jeder Generation nach denselben Idealen streben. Aus den gleichen Gründen hat
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die westliche Kultur die Schurkenökonomie verinnerlicht. Sie tritt in Zeiten großer Umwälzungen zutage, weil westliche Regierungen mit ihren politischen Programmen einzig und allein diese idealistischen, oft utopischen Ziele erreichen wollen. Wenn die Politik scheitert, übernimmt die Schurkenwirtschaft das Ruder. Wie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben, folgte auf den Fall der Berliner Mauer das politische Chaos. Angesichts der chaotischen Zustände war die westliche Politik nicht in der Lage, das große Ziel des Kalten Krieges umzusetzen: Die Demokratisierung des ehemaligen Ostblocks. Die Modelle versagten, und mit dem Zusammenbruch des Kommunismus gewann die Schurkenwirtschaft die Oberhand, wodurch sich die unkalkulierbare Situation noch verschärfte. Die Gewinner waren diejenigen, die sich über alle Gesetze hinwegsetzten, die Zuhälter der Globalisierung, russische Oligarchen, die 'Ndrangheta und die bulgarische Nomenklatura - Personen und Organisationen, die sich den neuen, außergewöhnlichen Bedingungen anpassten. Ohne es zu wissen, wandten sie die Prinzipien Sunzis an. Sind die westlichen politischen Modelle in der globalisierten Welt überflüssig geworden, einer Welt, die von der Schurkenwirtschaft beherrscht wird? Und wenn ja, entspricht das chinesische Modell eher den Bedingungen dieser schönen neuen Welt? Die Antwort liegt möglicherweise im mysteriösen Aufstieg des ultimativen Marktstaates - der Volksrepublik China.
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Chinesisches Querdenken Vielen im Westen ist China aufgrund seiner kulturellen Einmaligkeit nach wie vor ein Rätsel. Die geographische Isolation Chinas hat viel zu dieser Originalität und intellektuellen Vielfalt beigetragen. Obwohl immer wieder ausländische Mächte wie die Mongolen und die Mandschu das Reich der Mitte eroberten, hinterließen diese kaum Spuren, im Gegenteil, die Eroberer wurden aufgrund der Überlegenheit der chinesischen Kultur stets erfolgreich assimiliert.5 2500 Jahre lang ging China kulturell betrachtet einen ganz eigenen Weg und stieg in dieser Zeit zur Wirtschaftsmacht auf. Bis 1820 waren China und Indien die größten Volkswirtschaften der Welt und produzierten bis zu 80 Prozent des Weltwirtschaftsprodukts. Erst mit der industriellen Revolution Englands endete ihre wirtschaftliche Vormachtstellung.5 Aufgrund seiner Isolation entstand in China eine Kultur des »Querdenkens«, wie man im Westen sagen würde. China lässt sich nicht anhand westlicher intellektueller Standards einordnen; es gelangte außerhalb der üblichen Vorstellungen zur Blüte. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts musste sich China mit einer Kultur auseinandersetzen, die ähnlich hoch entwickelt war: mit Europa. Als China in kriegerische Konflikte mit den europäischen Mächten hineingezogen wurde, kam das Land auch mit den kulturellen Modellen Europas (Sprache, Philosophie, Naturwissenschaft und Geschichte) in Kontakt, die für die Kräfte des Fortschritts standen, sowie mit dem politischen Instrument der Revolution. Zum ersten Mal wurde China von einer Macht mit ähnlich hohem Entwicklungsstand unterworfen, die dem Reich der Mitte in vielerlei Hinsicht überlegen war, eine verständlicherweise traumatische Erfahrung.
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Die chinesische Antwort auf die westliche Hegemonie war Maos Langer Marsch, ein Meisterstück des chinesischen unkonventionellen Denkens. In einem Land, das bis ins Mark von der europäischen kulturellen Kolonialisierung erschüttert worden war, wandte Mao zur Befreiung seines Volkes ein politisches Modell des Westens an: Er entfesselte eine Revolution. So bekämpfte er die europäischen Mächte praktisch mit ihren eigenen Mitteln. Er verinnerlichte die bolschewistische Revolution, ein marxistisches Modell, und passte sie den chinesischen Verhältnissen an. Im Grunde übertrug er ein industrielles Modell auf eine bäuerliche Gesellschaft. Mit seinen starken Anleihen beim Marxismus feierte er das Konzept des Klassenkampfs in einem nichtindustrialisierten Land, das gar keine Vorstellung vom Klassenbewusstsein hatte, und veränderte so China für immer. Die Verwandlung des Marxismus in den Maoismus, das heißt die chinesische Adaption eines westlichen Modells, hatte Erfolg, weil Mao nie den Kontakt zur Seele Chinas verlor; die chinesische Gesellschaft war im Grunde eine bäuerliche, immer noch geprägt von der Feudalgesellschaft, in der der Nationalismus schon bald den Marxismus als treibende Kraft ablöste. Vor diesem Hintergrund konnte Mao eine Allianz mit dem nationalistischen Chiang Kai-shek schmieden und so das japanische Militär im Zweiten Weltkrieg schlagen. Im Gegensatz zu vielen Genossen in der Führung der Kommunistischen Partei Chinas, die in Europa studiert hatten, hatte Mao nie sein Heimatland verlassen und blieb daher »unverdorben« von der europäischen Art. Wie seine Vorfahren lehnte er philosophische Modelle ab, nutzte jedoch westliche politische Instrumente, um je nach Situation in den Gang der Ereignisse einzugreifen. So konnte er dank der Allianz mit Chiang Kai-shek den Sieg über Japan für sich be-
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anspruchen, was ihm in den Augen der Bevölkerung besondere Glaubwürdigkeit verlieh, und dadurch seine Macht legitimieren.
Das erste Paradox der Kulturrevolution Sobald Mao an der Macht war, begann er mit dem ehrgeizigen Vorhaben, eine neue chinesische Identität zu formen, die zur Grundlage des modernen China wurde. Dazu war ein homogener kultureller Kontext erforderlich, zutiefst chinesisch, aber bereinigt von den alten, überflüssigen Gewohnheiten, Sitten und Traditionen sowie ausländischen Einflüssen. Als Instrument diente ihm dazu die Kulturrevolution.7 Die Kulturrevolution stürzte China in ein Jahrzehnt voller Chaos und Anarchie. Das war jedoch keine unkontrollierte Entwicklung. Mao schuf für sein Vorhaben ganz bewusst die Bedingungen, die er brauchte und am besten kannte. »Ich liebe große Umwälzungen«, gab er im Sommer 1966 zu Beginn der Kulturrevolution zu. Auf seine Anweisung wurden Schulen und Universitäten geschlossen, Millionen Menschen wurden vertrieben und öffentlich gedemütigt, ethnische Minderheiten verfolgt. »Bei den daraus resultierenden Gewalttaten kamen zwischen 400 000 und einer Million Menschen ums Leben; die Regierung hörte weitgehend auf zu funktionieren, und das Land bot dem Ausland das Bild eines Staates, der völlig aus den Fugen geraten war.«8 Für Mao und seine Viererbande war die extrem chaotische Lage jedoch kein Hindernis.9 Sie führten Säuberungen in der Partei durch, formten die Identität der Nation und zogen die geographischen Grenzen des zeitgenössischen China entlang der Grenzen des alten Kaiserreichs. Tatsächlich konstruierten sie eine
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neue, durch und durch chinesische historische und geographische Realität. Wie Sunzi 2500 Jahre zuvor vorgeschlagen hatte, agierte Mao wie ein General auf dem Schlachtfeld und nutzte die europäische Kolonialisierung zu seinem eigenen Vorteil. Der Kapitalismus wurde zum Anlass genommen, das zu erreichen, was Generationen chinesischer Warlords erfolglos versucht hatten: das Reich in seinen alten Grenzen wiederherzustellen. Für dieses ehrgeizige Vorhaben musste Mao das historische Gedächtnis Chinas neu erfinden, die Geschichte der Kriege zwischen Regionen umschreiben und die Erinnerung an die Zerrissenheit des Alten Reichs auslöschen. Er tat das mit eiserner Faust, weil Geschichte für ihn ein bösartiges Krebsgeschwür war. John Lewis Gaddis, ein renommierter Historiker und Experte für den Kalten Krieg, schrieb dazu, Mao habe gegen dieses Geschwür »die stärkste verfügbare Chemotherapie« angewandt.10 Anders als in der europäischen Kultur war Geschichte für Mao nicht die transzendente Kraft des Fortschritts, sondern eine zeitliche und räumliche Abfolge unzusammenhängender Ereignisse. Und so wurden die Jahrhunderte zwischen Altem Reich und Maoismus gewaltsam »ausgelöscht, um das Geschichtsbild der Menschen zu verändern«.11 Dieser chirurgische Eingriff trennte die kaiserliche Vergangenheit Chinas hermetisch von der Gegenwart. Dank einer Art »Recycling« der Geschichte wurde der Maoismus zur natürlichen Fortsetzung des kaiserlichen China in moderner Gestalt. »Als Kind hörte ich Anfang der achtziger Jahre immer die großen klassischen chinesischen Romane, in denen die historischen Legenden aus der Shang-, Zhouund Han-Dynastie, der Zeit der Drei Reiche, der Tang-, Song-, Ming- und Qing-Dynastie erzählt werden. Diese Geschichten
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führten mir die Größe Chinas und seines Volkes vor Augen. In gewisser Weise weckten sie in jungen Chinesen wie mir ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber der übrigen Welt«, erklärt Burley Wang, ein junger chinesischer Forscher aus der Provinz Guangdong.12 Die chinesischen Kinder wussten jedoch nichts von Chinas Machtkampf in Zentralasien mit den europäischen Mächten. Auf die Frage nach dem »Great Game«, dem rücksichtslosen Kampf zwischen China, Russland und Großbritannien um die Rohstoffe Zentralasiens, musste Burley zugeben, dass er vor seinem Studium am MIT noch nie etwas von dem Konflikt gehört hatte. Die Kulturrevolution war ein zutiefst traumatischer Vorgang, der die Vergangenheit veränderte, die Gegenwart anpasste und die Zukunft formte, und das alles, um Chinas kaiserliche Macht wiederherzustellen. Das ist in reduzierter Form das erste Paradoxon der Kulturrevolution - die einen gewalttätigen, brutalen Bruch in der chinesischen Geschichte verkörpert in dem Versuch, die Bedingungen wiederherzustellen, die das Land einst zur Weltmacht aufsteigen ließen. Und Maos Recycling der Geschichte ist in China nicht einmal ein Einzelfall. Im Gegenteil, dieser Vorgang ist ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Kultur, seit Kaiser Qin Shihuangdi das Land 221 vor Christus einte. Seit damals hat China zahlreiche politische Krisen, Gewalttaten, Opfergänge und kulturelle Säuberungen durchgemacht. Die chinesische Geschichte hat sich mehrmals wiederholt. Damit China seine einstige Vormachtstellung wiedererlangte, musste Mao nicht nur die Vergangenheit umschreiben, sondern auch eine maoistische Zukunft erschaffen. »Zerstört die alte Welt. Errichtet eine neue Welt«, lautet eine der bekanntesten Parolen der Kulturrevolution. Auf einem Plakat schwingt ein junger Rotgardist einen Hammer und zertrüm-
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mert damit klassische chinesische Texte, eine Buddhastatue und das Kruzifix.13 Das Bild fasst treffend die wahre Natur der Revolution zusammen und verweist auf eine vollständige kulturelle Umgestaltung. Tatsächlich forderten die Führer der Kulturrevolution »einen Generalangriff auf die >vier alten< Elemente in der chinesischen Gesellschaft - die alten Sitten, alten Gebräuche, die alte Kultur und die alte Denkart«. 14 Das zerstörerische Treiben geriet schon bald außer Kontrolle und traf jede Form der künstlerischen Betätigung, auch das Kunsthandwerk. »In Beijing gab es einen Bogenmacher«, erzählt Chi Fing Kuong, ein chinesischer Student in London, »dessen Familie getötet wurde, weil die Herstellung von Pfeil und Bogen als traditionelle Kunst galt, die zerstört werden musste.« 15 Die Kulturrevolution richtete sich außerdem gegen jeden, der »eine westliche Ausbildung absolviert oder Kontakte zu westlichen Geschäftsleuten oder Missionaren unterhalten hatte. Und ebenso gerieten auch alle Intellektuellen unter Beschuss, denen man eine >feudale< oder >reaktionäre< Denkweise vorwerfen konnte.« 16 So löschte Mao die europäische Eroberung Chinas aus dem kollektiven Gedächtnis. Durch die Verfolgung jener, die China vor der Revolution 1949 gekannt hatten, erhöhte das Regime seine Legitimation. Alles, was zwischen Kaiserreich und Maoismus lag, wurde restlos getilgt, sodass der Eindruck entstand, es habe schon immer ein Regime wie das derzeitige geherrscht. Der Maoismus wurde zur Blaupause für das alte und neue China. Da die Aufgabe, die alte Welt zu zerstören, vor allem von Jugendlichen ausgeführt wurde, stand die Kulturrevolution auch für den Generationenkonflikt:
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Es bedurfte keines sonderlichen Drängens von Seiten Maos, um die Jugend gegen Eltern, Lehrer, Parteikader und ältere Menschen aufzuhetzen und zu zahllosen vorsätzlich sadistischen Handlungen anzustiften. Jahrelang waren die jungen Leute zu revolutionärer Opferbereitschaft, sexueller Abstinenz und absolutem Gehorsam gegenüber dem Staat angehalten und in allem fortgesetzt überwacht worden. Unterdrückung und das Bewusstsein der eigenen Ohnmacht hatten sie zornig gemacht.17 Bei ihrem Einsatz für die eigene Zukunft fungierte die Jugend als Instrument der Zerstörung. Mit ihrer Hilfe wurde die Vergangenheit ausgelöscht und die Geschichte neu interpretiert. Das moderne China steht dem China der Kulturrevolution näher, als wir denken, weil diejenigen, die an der Umwälzung aktiv beteiligt waren, mittlerweile das Land regieren. Die revolutionäre Vergangenheit der führenden Politiker erklärt, warum »die Machthaber glauben, dass sich das System in China seit dem Maoismus nicht verändert oder auch nur Fortschritte gemacht hat. Sie denken, Kritik an der Kulturrevolution würde das System erschüttern. In ihren Augen kann man die Grundlage und institutionellen Voraussetzungen der Kulturrevolution nicht ändern und darf sie daher auch nicht kritisieren«, erklärt Xu Youyu, Forschungsoffizier am Institut für Philosophie an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften.18 Die Kulturrevolution brachte die Politik der Gewalt zurück in die chinesische Psyche. Für die derzeitigen Machthaber, die Generation der sechziger Jahre, die auch die Roten Garden stellten, bedeutet Politik Gewalt. 1989, nach der brutalen Niederschlagung der Studentenproteste auf dem TiananmenPlatz, wurde deutlich, dass Gewalt in der chinesischen Politik
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stets präsent ist. Politische Beteiligung ist der chinesischen Kultur fremd, das gilt für das alte Kaiserreich genauso wie für das kommunistische China. Macht wird nur mittels Gewalt und Zwang errungen und gewahrt. Das ist auch heute noch so, wie sich beim Massaker von Dongshou gezeigt hat.19 Dabei umzingelten Tausende chinesischer Sicherheitskräfte an einem windigen Abend im Dezember 2005 den Weiler Dongshou, ein Fischerdorf in der Nähe von Hongkong. Die verängstigten Bewohner, die sich auf dem Dorfplatz versammelt hatten und gegen die chinesische Politik demonstrierten, wurden mit Tränengas angegriffen. Gegen acht Uhr abends ersetzte scharfe Munition das Tränengas, und schon bald war der Platz übersät mit Leichen. Der Vorfall in Dongshou war der jüngste in einer Reihe von Protesten in der Region, vor allem in den stark industrialisierten östlichen Provinzen Guangdong, Zhejiang und Jiansu. Die Einwohner wollten friedlich gegen die entschädigungslose Zwangsenteignung des Landes zum Bau eines Kohlekraftwerks demonstrieren und äußerten Befürchtungen hinsichtlich der zusätzlichen Luftverschmutzung. Die öffentlichen Proteste wurden brutal unterdrückt. Dabei kamen nicht nur Polizisten, sondern auch Kriminelle zum Einsatz. Später berichteten die Dorfbewohner einem Korrespondenten der International Herald Tribune, dass die Behörden zusätzlich zu den Sicherheitskräften Schläger lokaler Verbrecherorganisationen angeheuert hatten, um den Protest zu ersticken. »Sie waren mit Messern und Stöcken bewaffnet.« 20 Das Massaker von Dongshou ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie die chinesische Regierung den Wunsch der Bevölkerung zu unterdrücken versucht, an wichtigen wirtschaftlichen Entscheidungen teilzuhaben, die das Leben der
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Chinesen betreffen. Wie es sich für einen Marktstaat gehört, sieht die chinesische Regierung ihre Aufgabe ausschließlich darin, dem Einzelnen wirtschaftliche Möglichkeiten zu bieten, nicht aber die Bürger zu schützen: Das erklärt die Zwangsenteignung und das Desinteresse an möglichen Umweltschäden. Die »opportunistische« Natur des Marktstaates deckt sich mit der chinesischen Grundhaltung, denn nicht die Idealvorstellungen, sondern die Bedingungen diktieren das Handeln. In Dongshou benötigte die stark industrialisierte Region dringend Energie zur Produktivitätssteigerung, außerdem gab es in der Region Kohle. Also lieferte die Regierung die Infrastruktur zum Bau eines Kraftwerks. Der Protest der Bevölkerung war nur hinderlich und musste deswegen niedergeschlagen werden.
Des Kaisers neue Kleider sind rot Die Politik der Gewalt bildete die Grundlage, auf der Mao den Kaiserkult Wiederaufleben ließ. Er schickte Millionen Studenten aufs Land, um die Nation mit Gewalt zu vereinheitlichen. So wurde eine neue Lesart der Geschichte geschaffen, eine recycelte Version der Wahrheit. Maos Version mit ihrem Schwerpunkt auf der Geographie verlangte die Erfindung von Geschichten zur Prägung des kollektiven Gedächtnisses, außerdem musste die offizielle Geschichte des Landes auf Kosten der Wahrheit umgeschrieben werden. Dieser Vorgang bereitete den Boden für den Personenkult um Mao. In deutlichem Kontrast zur bolschewistischen Revolution wurde der Personenkult um Mao zur modernen Version des Kaiserkultes. Bei der Kulturrevolution wurde die Partei, die im Grunde eine westliche Einrichtung darstellt, »gesäubert«
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und die gesamte politische Macht auf den Verwaltungsapparat Maos übertragen, ähnlich wie im chinesischen Kaiserreich. Dadurch verhinderte Mao auch, dass ein grundlegendes Konzept der westlichen Politik, nämlich die politische Beteiligung, Eingang in die chinesische Kultur fand. Er blockierte die Entwicklung Chinas zum Nationalstaat und schuf stattdessen, wie wir noch sehen werden, die Voraussetzungen für Chinas Verwandlung in einen totalitären Marktstaat. Selbst heute gibt es in der chinesischen Kultur keine Definition für »Politik«. »Der Begriff Politik wurde zum ersten Mal von Europäern im 19. Jahrhundert genannt. Das chinesische Schriftzeichen wurde von den Japanern übernommen, die Bedeutung ist jedoch unklar, weil es auch die Rolle der Verwaltung umfasst. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in der Schule oder an der Universität eine Definition gelernt hätten«, erklärt Burley. »Ich kann nur sagen, dass Politik als eine Art Tätigkeit betrachtet werden sollte, die sich auf die Gesellschaft bezieht und sie am Leben hält, allerdings würde ich anstelle von Gesellschaft lieber das Wort Verwaltung verwenden, weil Politik nichts Greifbares ist, sondern vielmehr eine Art Muster.« Genauso unklar bleibt in diesem Zusammenhang der Begriff »Kommunismus«. »In der Grundschule lernten wir, dass der Kommunismus laut der Theorie von Karl Marx die natürliche Entwicklung einer Gesellschaft ist. Ja, wir glauben das, und ich glaube das, obwohl ich nichts darüber weiß«, räumt Burley ein. 21 Mit der Kulturrevolution kam eine neue Darstellung auf, in der uralte Mythen Maos kaiserlichen Status begründeten. Mao nutzte traditionelle chinesische Sagen und rechtfertigte mit seiner Neuinterpretation das gewalttätige Vorgehen des Staates. Oft wurde Mao als »Mao Zedong Wansui« bezeichnet, wobei Wansui »langes Leben« oder wörtlich »tausend
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Jahre« bedeutet.22 »China war zu 80 Prozent eine bäuerliche Gesellschaft. Die Bauern hatten keine Ahnung von Politik. Politik war Sache des Kaisers, der ein Sohn Gottes war, ein Mann, den man nie zu Gesicht bekam, der nie die Verbotene Stadt verließ«, erzählt Angie Junglu Lai, eine chinesische Studentin in London.23 Der Kaiser verkörperte eine Idee, und dieses Konzept hielt ein so großes Land wie China zusammen. Solange der Kaiser verborgen in der Verbotenen Stadt blieb, konnten ihn sich die Chinesen so vorstellen, wie sie wollten. Wie beim inneren Kreis der 'Ndrangheta diente der »unberührbare« Status des Kaisers der Akzeptanz des Systems in einem weiten geographischen Gebiet. Der unbekannte Status der Politik in Verbindung mit ihrer gewalttätigen Natur machte sie für viele Menschen zum Tabu. Politik wurde etwas »Verbotenes«, so »verboten« wie der Raum, in dem sie stattfand, die kaiserliche Residenz.
»Werdet reich« Anfang der neunziger Jahre liberalisierte China den Verkauf von Blutkonserven. Überall schossen kommerzielle Zentren aus dem Boden, wo die Menschen ihren Lebenssaft verkaufen konnten. In der Provinz Henan 24 starteten die lokalen Behörden eine Kampagne, Blut von den neunzig Millionen Einwohnern der Provinz zu erwerben und an Biotechnologiefirmen zu verkaufen. Damit sollten zwei Ziele verfolgt werden: ausländisches Kapital anzulocken und das Blut im eigenen Land und im Ausland zu vermarkten. Das Gesundheitsministerium schloss ein Abkommen mit dem Roten Kreuz vor Ort, und ein hier ansässiges Unternehmen übernahm den Export nach Südkorea.
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Der Handel mit Blut erwies sich schon bald als gutes Geschäft. Die Bauern verkauften bereitwillig ihr Blut, weil sie 50 Yuan für 400 Kubikzentimeter erhielten, eine schöne Summe in einem von Armut gezeichneten Gebiet, die fast einem Monatslohn entspricht. Blutplasma war besonders begehrt. Es wird durch Zentrifugieren gewonnen, bei dem rote und weiße Blutkörperchen sowie die Blutplättchen vom flüssigen, zellfreien Teil getrennt werden. Das Geschäft mit dem Blut blühte, denn es gab keinerlei Gesundheitsvorschriften oder staatliche Kontrollen. So wurden etwa Nadeln mehrmals verwendet, ohne sie zu sterilisieren. Die Regierung in Beijing beaufsichtigte die Blutabgabe nicht und erließ auch keine Sicherheitsvorschriften. Gemäß den Vorgaben einer freien Marktwirtschaft gab die chinesische Regierung einfach grünes Licht und ließ dem Bluthandel freien Lauf. Das Geld aus dem Blutgeschäft bot neue Möglichkeiten, doch aufgrund mangelnder staaüicher Aufsicht und wissenschaftlicher Unkenntnis wurde aus einem »guten« Geschäft eine Aidsepidemie. Die Betreiber der Blutsammelstellen hatten beschlossen, den Spendern das Blut, »das nach der Trennung vom Plasma übrig war«, gegen eine Gebühr von 5 Yuan wieder zu injizieren. Beim Zentrifugieren wurde das Blut Hunderter Spender vermischt, bevor es wieder injiziert wurde. Wenn ein Spender eine Krankheit hatte, wurden alle anderen infiziert. 1994 war bereits die gesamte Region von der Aidsepidemie betroffen. Nach mehreren Berichten lokaler Ärzte ordnete die Zentralregierung die Schließung der Blutzentren an, doch die Behörden vor Ort ignorierten die Anweisung. Erst 1995, als in Beijing erste Aidsfälle auftraten, übte die Regierung Druck auf die Lokalbehörden in Henan aus. Doch bis dahin hatte sich Aids in ganz China verbreitet.
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Die Aidsepidemie war die direkte Folge von Deng Xiao Pings Parole »Werdet reich«, der unerschütterlichen Überzeugung des totalitären Marktstaates in China. Die Aufforderung, reich zu werden, die 1992 bei Dengs Tour durch den Süden des Landes eingeführt wurde, war die chinesische Antwort auf das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens. Deng war klar, dass China wirtschaftlich wachsen musste, wenn die Partei an der Macht bleiben wollte. Er liberalisierte die Wirtschaft und drängte Bevölkerung und Unternehmen, sich um ausländisches Kapital zu bemühen. Reich werden war erlaubt, die Macht der Partei in Frage stellen durfte man jedoch nicht. Weil Deng die Wirtschaft als Ventil nutzte, konnte das chinesische kulturelle Verbot bewahrt werden, die Politik blieb weiterhin tabu. Wie Mao beherrschte Deng meisterhaft das chinesische unkonventionelle Denken. Während Mao die Geschichte mit Hilfe der Kulturrevolution recycelte, recycelte Deng Mao, indem er die Wirtschaft liberalisierte. 1978 erklärte er: »Mao hatte seiner Zeit zu 70 Prozent recht und zu 30 Prozent unrecht.« Dieser Satz wurde zur Parteidoktrin. Zu Maos Erfolgen gehörte nach Dengs Ansicht, dass Mao China wieder zurück in den Kreis der Großmächte geführt, das politische Monopol der Kommunistischen Partei bewahrt und die Beziehungen zu den USA als Gegenpol zur Sowjetunion ausgebaut hatte. »Falsch« war Maos Festhalten an einer katastrophal verwalteten Planwirtschaft. Mit seinen Prozentangaben schaffte Deng Raum, einen ganz anderen Weg zu gehen. 25 Zu Dengs neuem Kurs gehörte, dass er »mit marktwirtschaftlichen Elementen auf lokaler und regionaler Ebene experimentierte. Was erfolgreich war, wurde für übereinstimmend mit den marxistisch-leninistischen Grundsätzen erklärt.«26 Dazu gehört beispielsweise die Liberalisierung der
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Blutindustrie und die Kommerzialisierung von Blutplasma. Durch diesen Prozess der Anpassung stand die Wirtschaft auch kleinen Geschäftsleuten offen, die nun Verträge mit ausländischen Firmen schließen konnten, ohne dass dafür eine Genehmigung erforderlich war. Die Verträge konnten sie einhalten oder auch nicht, ganz wie es ihnen gefiel. Die Märkte waren völlig unreguliert, denn mit dem Vorhaben, »reich zu werden«, beschritt man jungfräulichen Boden. Der Übergang von Maos China zu Dengs Marktstaat erforderte die Deregulierung der Wirtschaft; mehr nicht, denn China war nie ein Nationalstaat. Mehr noch, die Zentralregierung hatte ihre Bürger nie wirklich geschützt, sondern stets unterdrückt. »Die Chinesen haben keine Erwartungen an den Staat, sie sind schon zufrieden, wenn sie die Möglichkeit haben, Geld zu verdienen«, erklärt Angie Junglu Lai.27 Die Zentralregierung von Dengs neuem China stellte daher eine Verbesserung dar, einen Schritt nach vorn im Vergleich zur MaoÄra, weil sie dem Einzelnen wirtschaftliche Chancen bot. Dengs Reformen bedeuteten, dass der totalitäre Marktstaat den Menschen die Möglichkeit gab, mehr Geld zu verdienen und sich selbst aus der Armut zu befreien. Dadurch setzte der Marktstaat einen neuen Gesellschaftsvertrag fest, den ersten, den es in China je gegeben hatte. Dafür, dass der Staat wirtschaftliche Freiräume bot, verzichtete die Bevölkerung auf eine politische Beteiligung. Die chinesische Begeisterung fürs Geldverdienen verdrängte die schlimmen Erinnerungen an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Und zwar in einem solchen Ausmaß, dass heute selbst die Mitglieder der Tiananmen-Demokratiebewegung die gewaltsame Niederschlagung verleugnen.28 Dengs Gesellschaftsvertrag ist einfach und folgt dem Prinzip do ut des. (Ich gebe, damit du gibst.) Er sieht keine Bestim-
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mungen für die Wirtschaft oder den Schutz der Arbeiter vor. Wesdiche Unternehmen mit Niederlassungen in China halten sich auch dort oft an das westliche Arbeitsrecht mit seinen Bestimmungen über Mindestlöhne und Wochenarbeitszeiten. Doch viele Chinesen betrachten die Standards als hinderlich für die Umsetzung von Dengs Zielen. Kein Wunder, dass die Chinesen auch die Ersten sind, die gegen das westliche Arbeitsrecht verstoßen. Der Taiwanese Ron Chang, Geschäftsführer von Shoetown Footwear, einem Unternehmen, das Nike beliefert und in Qingyuan in der Provinz Guangdong 15 000 Arbeiter beschäftigt, berichtet, dass er gut ausgebildete Arbeiter oft an die Konkurrenz verliert, die gegen die Vorschriften der westlichen Unternehmen verstoßen. »Die Arbeiter wollen unbedingt länger arbeiten, egal, ob sie dafür Zuschläge bezahlt bekommen oder nicht.« 29 In Abwesenheit strenger staatlicher Kontrollen sind dem Wettbewerb keine Grenzen gesetzt. Wie Bulgarien in den neunziger Jahren ist China heute ein fruchtbarer Boden für die skrupellosen Geschäftemacher des Globalisierungszeitalters. Doch anders als Arbeiter im Westen haben chinesische Arbeiter keine Vorstellung von Ausbeutung. Das klingt vielleicht paradox für ein kommunistisches Land, aber China hat den Marxismus nie angenommen; die Bevölkerung wurde mit der chinesischen Variante, dem Maoismus, indoktriniert. Klassenbewusstsein gehört in ein industrialisiertes System, das die extreme Armut im Grunde schon überwunden hat. China hat diesbezüglich noch einen langen Weg vor sich. Die Tragödie von Henan lässt sich daher auch mit extremer Armut erklären. Die Armut brachte die Menschen dazu, ihr Blut zu verkaufen, und die Armut infizierte sie mit Aids. Armut liefert auch die Erklärung für chinesische Billiglöhne und die Ausbeutung der Arbeiter; die Chinesen sorgen
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sich weniger um Ausbeutung als darum, ihre Familien irgendwie zu ernähren. Pierre Haski, Journalist bei der französischen Tageszeitung Liberation, meint dazu: »Hinter der industrialisierten, glitzernden Küstenlinie stehen reihenweise arme Chinesen und warten darauf, dass sie an der Globalisierung teilhaben. In unseren Augen arbeiten sie für ein paar Cent, für einen >Hungerlohn<, doch für sie ist das der erste Schritt zum Reichtum auf einem Weg, den Deng ihnen geebnet hat.« 30 Die außergewöhnliche Arbeitsmoral der Chinesen, treffend zusammengefasst mit dem Satz »hart arbeiten, so hart wie möglich, das ist typisch chinesisch«, 31 hilft natürlich auch, die Schrecken der Kulturrevolution zu vergessen. Eine Nation verbindet traumatische Erfahrungen oft mit der Politik, und die Politik wird dann zum Tabu. Ein Beispiel dafür ist Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. »Westdeutsche Kommentatoren und Politiker betrachten die NS-Vergangenheit oft als unausweichliche Last, die von der mystischen Kraft des Tabus geprägt ist und durch diese funktioniert.«32 China verleugnet weiterhin die Vergangenheit. Wie sonst ließe sich erklären, dass Werke über China im 20. Jahrhundert, sofern es sich nicht um staatliche Projekte handelt, größtenteils von europäischen und amerikanischen Autoren verfasst werden? Ähnlich verhielt es sich auch jahrelang mit der deutschen Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die »Überwindung« des Traumas erfolgt auf wirtschaftlicher Ebene mittels harter Arbeit. Die Erlangung materiellen Reichtums durch harte Arbeit wird zur kathartischen Erfahrung und befreit von den Gespenstern der Vergangenheit. Während die Erinnerung an den Holocaust in der deutschen politischen Kultur zum Hindernis und zur Einschränkung wurde, verdrängte die Bevölkerung den nationalsozialis-
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tischen Albtraum durch außergewöhnlich harte Arbeit. 1950 wuchs die deutsche Industrieproduktion um 25 Prozent und übertraf damit das Wirtschaftswachstum jedes anderen Landes im kriegszerstörten Europa. Bereits 1950 hatte die westdeutsche Wirtschaft die Großbritanniens überholt, so sehr konzentrierten sich die Deutschen damals darauf, ungewöhnlich viel zu leisten und so ihre Vergangenheit zu verdrängen.33 Ähnliche Anzeichen der Verdrängung durch harte Arbeit lassen sich bei den Chinesen erkennen, da diese das ungezügelte Wirtschaftswachstum Chinas in den Jahrzehnten nach der Kulturrevolution erst ermöglichte. Dadurch konnte die chinesische Wirtschaft so enorm expandieren und das Land wieder in den Kreis der Supermächte zurückführen. Von 1978 bis 1994 verdreifachte sich das chinesische ProKopf-Einkommen. Das Bruttoinlandsprodukt stieg um das Vierfache, die Exporte wuchsen um den Faktor zehn. Als Deng 1997 starb, war die chinesische Wirtschaft zu einer der größten der Welt aufgestiegen. Der Kontrast zur früheren sowjetischen Wirtschaft könnte nicht auffälliger sein. Trotz hoher Ölpreise verzeichnete der Ostblock in den siebziger Jahren kein Wachstum; Anfang der achtziger Jahre schrumpfte die Wirtschaft der Ostblockländer sogar und stürzte während der neunziger Jahre in eine tiefe Rezession. Von diesem Schlag erholte sich die sowjetische Führung nie wieder. »Immerhin«, meinte Michail Gorbatschow 1993 wehmütig, »ist China heute in der Lage, eine Bevölkerung zu ernähren, die über eine Milliarde Menschen zählt.«34 Russland schaffte das traurigerweise nicht. Deng Xiao Ping ermunterte China, sich durch das Streben nach materiellem Reichtum von den Gespenstern der Vergangenheit zu befreien. Dieser Vorgang kam auch im Pro-
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zess gegen die Viererbande zum Ausdruck, einem wichtigen Ritual, bei dem wieder einmal die Geschichte neu interpretiert wurde. Die Mitglieder der Viererbande wurden geopfert, um den Mao-Mythos und damit Chinas Identität zu bewahren. 35 Chinas historische und emotionale Altlasten - die Schrecken des Großen Sprungs nach vorn (Maos gescheiterter Wirtschafts- und Sozialplan zur Steigerung der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion) und der Kulturrevolution - wurden zum Yin und Yang der chinesischen Haltung gegenüber Politik und Wirtschaft. Die Vergangenheit wurde zur politischen Last, während das Streben nach Reichtum den wirtschaftlichen Aufschwung ermöglichte. Chinas Affäre mit dem globalen Kapitalismus wurde so zum Gegenmittel für die schmerzliche Erinnerung an die Kulturrevolution.
Maoistischer Tribalismus 1968 brach Ma Bo, ein Student an der Universität von Beijing, in die Mongolei auf und schloss sich den Millionen Studenten an, die begeistert Maos Aufforderung folgten, aufs Land zu gehen, die Vergangenheit zu zerstören und eine neue Zukunft aufzubauen. »1968 brandete eine tosende Woge Jugendlicher, eine tosende Woge Heißsporne, eine tosende Woge der Unschuld über das Land, die Berge und die weite Wildnis hinweg«, schreibt Ma Bo am Anfang seines Buches Blood Red Sunset. »Es war kein Kreuzzug gegen den Osten, und doch musste die Geschichte neu geschrieben werden; es war keine Massenwanderung, und doch schmeckten Zehntausende Familien den bitteren Geschmack des Abschieds;
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keine Invasion auf dem Schlachtfeld, und doch war eine Armee von Freiwilligen voller Ernst und Pflichtbewusstsein auf dem Vormarsch.«36 Chinas Überleben nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus beweist, dass eine Revolution nur Erfolg haben kann, »wenn eine Revolution in den Köpfen der Menschen stattfindet«.37 Aber das hängt von der Frage ab, ob der Staat in der Lage ist, die Weite seines Territoriums zu kontrollieren; daher mussten Jugendliche wie Ma Bo die revolutionäre Botschaft in die hintersten Winkel des Landes tragen. Für ein totalitäres Regime, das aus einer Revolution hervorgeht, ist Territorialität ähnlich wichtig wie für das organisierte Verbrechen. Auch im kaiserlichen China war Territorialität von enormer Bedeutung. Ein Staat, der in einem oder allen seiner Gebiete geographisch nicht präsent ist, muss mit Widerstand rechnen. Mao hatte verstanden, dass die Stärke Chinas stets im Raum lag. Größe war wichtiger als Geschichte, daher konnte die Kulturrevolution wieder Chinas alte Grenzen beanspruchen. Der Verlust des historischen Gedächtnisses wurde zum Ausgangspunkt für das hegemoniale, gewalttätige Vordringen in den chinesischen Raum. Es wurden nicht nur erbitterte Versuche unternommen, endgültig mit der Vergangenheit zu brechen, sondern es kam auch zu geographischen Einwirkungen in einem Ausmaß, das in der chinesischen Geschichte vermutlich einmalig war. Der Regionalismus, der große Feind des chinesischen Reichs, wurde auch zum großen Widersacher des Maoismus. Oft entwickelte sich der Widerstand in ländlichen Gebieten, wo die lokalen Behörden schwach waren und sich leicht durch mächtige Warlords ersetzen ließen. Mao ging dieses Problem durch den Einsatz der Roten Armee und Studenten-
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schaft an. Soldaten und Studenten wie Ma Bo unterwarfen die regionale Bevölkerung, indoktrinierten sie und stellten über die Ideologie eine Verbindung zum Zentralkomitee der Partei in Beijing her. »[Mao] ließ regionale Autorität nur bis zu einem gewissen Punkt zu und griff dann in der Kulturrevolution hart gegen die semiunabhängigen >Fürstentümer< durch.«38 Der Regionalismus stellte Mao vor ein potenzielles Paradox: Er brauchte zwar ein geringes Maß an regionaler Autonomie, denn nur so wurde sichergestellt, dass die Ideologie der Partei in den Köpfen der Menschen isoliert von den Zentren der Macht blieb, diese Autonomie durfte jedoch nicht so weit reichen, dass sie die Legitimation des Staates bedrohte. Der Erfolg dieser Strategie hing davon ab, dass die Trennung zwischen Stadt und Land aufgehoben wurde. »Lange Zeit zerfielen die Chinesen in zwei Gruppen; diejenigen, die in der Stadt lebten, und die in den ländlichen Gebieten«, erklärt Burley Wang. Die Kulturrevolution verringerte die kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Maos »chinesischer Weg« zeigt, dass man Mensch und Raum in den Aufbau einer neuen Gesellschaft mit einbeziehen sollte. Will man diese neue Gesellschaft von der Politik fernhalten, muss man die Geschichte neu interpretieren und Gewalt anwenden. »Dieser Vorgang wird als mehrdimensional wahrgenommen [...] und impliziert die Produktion einer Vielzahl von Gütern im Raum sowie die Produktion von Raum insgesamt, wobei die Produktion von Raum effektiver ist.«39 So zielte die Kulturrevolution nicht nur auf die Gesellschaft, sondern in erster Linie auf die Geographie. Die Einheit des Raums zählte genauso viel wie die Einheit der Gesellschaft. Dass diese geographische Einheit, die geographische Einheit des chinesischen Reichs, der historischen Identität vorgezo-
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gen wurde, war das zweite Paradoxon der Kulturrevolution. Dieser entscheidende Faktor unterstreicht die Herausbildung einer chinesischen geographischen Identität anstelle einer chinesischen kulturellen Identität. Die moderne chinesische Identität ist demnach tief im geographischen Raum verwurzelt. Auf die Frage, was es heißt, Chinese zu sein, führt Burley zunächst eine geographische Unterscheidung an: »Chinese ist, wer in der chinesischen Gesellschaft lebt. Das Festland und Taiwan lassen sich in einer Gruppe zusammenfassen, während die Bewohner Hongkongs, Macaos und der Chinatowns weltweit in eine zweite Kategorie fallen. Die Mitglieder der ersten Gruppe kann man als friedlich, fleißig und großzügig beschreiben (selbst wenn sie manchmal so tun müssen, als ob), sie streben nach Weisheit (zumindest denken sie das), finden sich schnell mit ihrer Umgebung ab und achten sehr auf ihren Ruf.« Man kann dazu eine Parallele zur kollektiven Identität der 'ndrine ziehen, die auf der ganzen Welt verstreut leben. Die Chinesen scheinen ähnlich stark geographisch orientiert. Die erfolgreiche Beanspruchung der Gebiete innerhalb der geographischen Grenzen des Kaiserreichs - und nicht seiner Geschichte, Sitten und Kultur - verleiht der chinesischen Zivilisation Kontinuität. »Als ich 1980 in die Grundschule kam, wurde mir gesagt, was für ein großartiges Land China ist. Wir gehören neben Indien, Ägypten und Babylon zu den vier großen alten Kulturen. Die anderen wurden praktisch ausgelöscht, doch China ist immer noch der große rote Hahn im Osten der Welt«, fährt Burley Wang fort. Durch die Untergrabung des Regionalismus und die Neuinterpretation der Geschichte gewährleistete die Kulturrevolution die einheitliche Entwicklung der Gesellschaft in allen Regionen des Landes. So blieb kein Platz für Individualismus,
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im Vordergrund stand die kollektive und vereinheitlichte chinesische Identität, die auf die gemeinsame Sache ausgerichtet war. Der Maoismus bildete die gemeinsame Grundlage der neuen Gesellschaft. »Mao wurde als der >Große Steuermann<, die >röteste rote Sonne in unserem Herzen< gepriesen.« 40 Man könnte daher argumentieren, dass sich im maoistischen China eine Art »mechanische Solidarität«, ein kollektives Bewusstsein aufgrund von Gleichheit entwickelte.41 Die Kulturrevolution zwang der Bevölkerung ein bestimmtes Organisationsmodell sowie Regeln und Normen auf, die ähnliche Eigenschaften aufwiesen wie die der Mafia-Organisationen, beispielsweise der 'Ndrangheta. Dieser Vorgang vollzog sich vor einem neuen gesellschaftlichen Hintergrund, der starke tribalistische Eigenschaften aufwies. Im Bemühen, die Gesellschaft zu vereinheitlichen, führten Mao und seine kommunistische Clique China auf den Weg des Tribalismus. Die Kleidungsvorschriften, Uniformen und das berühmte kleine rote Buch mit Mao-Zitaten waren im ganzen Land identisch. Mao führte auch neue Rituale ein. »Jeder Tag begann [ für die Roten Garden] mit einem >Tanz der Loyalitätc Man legte die Hand auf den Kopf und dann aufs Herz und vollführte einen Freudentanz - zum Zeichen, dass Herz und Sinn mit der grenzenlosen Liebe zum Vorsitzenden Mao erfüllt waren.«42 Kinder wurden mit der Loyalität zu Mao indoktriniert. »Als Kind schloss ich mich der Jugendorganisation an, den jungen Pionieren. Mit vierzehn ging ich zur Kommunistischen Jugend; die beiden Organisationen gelten als Personalreserve der Kommunistischen Partei und sind die Voraussetzung für eine Karriere«, erklärt Burley. Lehrern kommt bei der Assimilierung zum maoistischen Tribalismus eine wichtige Funktion zu. »Ich erinnere mich an meine erste Lehrerin in der
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Grundschule, sie ist immer noch die Lehrerin, die ich am meisten respektiere; sie sagte uns, dass es drei wesentliche Ziele in unserem Leben gibt: sich als Kind den jungen Pionieren anschließen, später der Kommunistischen Jugend und schließlich ein angesehenes Parteimitglied werden.« In dem Science-Fiction-Roman Diamond Age - Die Grenzwelt beschreibt Neal Stephenson China als ein Land, wo die Geographie die Geschichte vereinnahmt hat.43 Geschichte ist nur noch eine kulturelle Ressource, die von einer bestimmten Gruppe für deren Zwecke genutzt und entsprechend geformt wird; sie dient weiterhin dem gesellschaftlichen Zusammenhalt im postmodernen Tribalismus, der über das Territorium des »Stammes« definiert wird. Im Buch gibt es zwei Bevölkerungsgruppen, die Viktorianer, die an der extrem reichen Küste leben, und das verarmte Himmlische Königreich, das im Landesinnern liegt und keinen Zugang zum Meer hat. In Stephensons Meisterwerk entwickelt sich China nicht historisch als Nation (das Modell der westlichen Geschichtsschreibung), sondern als organisches kulturelles System, das auf einem klar definierten Territorium errichtet wurde. China verkörpert die ultimative raumgebundene Identität.44 In Diamond Age wird die Geschichte in dem Bemühen, die Erinnerung den Bedürfnissen des Stammes anzupassen, als endloses Muster dargestellt. Damit wird Geschichte zur Geisel einer kulturellen Geographie, einer ultrastabilen geographischen Identität, dem »Chinesischsein«. In der Realität stützt sich der maoistische Tribalismus auf die Neuinterpretation der Geschichte - und ihre Unterordnung gegenüber der Geographie. Der Tribalismus stellt eine wichtige Verbindung zum kaiserlichen China dar, weil er die Erhaltung ausgewählter »Accessoires« aus der Vergangenheit erlaubt,
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die zur Definition des modernen »Chinesentums« beitragen. Gleichzeitig entstand durch den Tribalismus eine unüberwindliche geographische und intellektuelle Barriere zwischen China und der übrigen Welt. Das erklärt, warum 2003 plötzlich Kleider der Marke Mu Zhen Liao so angesagt waren, deren Designerin die »klassische« und »traditionelle« chinesische Kleidung, die Gewänder im kaiserlichen China, zum Vorbild nimmt und neu interpretiert. Anders, als man vielleicht denken würde, tragen die jungen Leute in Beijing beim Ausgehen nicht die neueste westliche Mode, sondern bevorzugen chinesische Kleidung.45 Im Zusammenhang mit Chinas kontroverser Liebesaffäre mit der Globalisierung hält der Tribalismus den Einfluss fremder Kulturen auf Distanz. »Die Verwestlichung der Jugend ist der größte kulturelle Konflikt, den das moderne China heute erlebt«, klagt Angie Junglu Lai. Der Tribalismus trägt zur Ablehnung der westlichen Kultur bei und fördert die chinesische Vorstellung, dass der Westen China erneut erobern wolle. »Ich hasste Wilde Schwäne. Das Buch wurde für den Westen geschrieben«, fügt sie hinzu und unterstellt damit, dass die Autorin des bekannten Buchs die chinesische Revolution und das maoistische China falsch darstellt.46 Die erfolgreiche Aufnahme Chinas in den Olymp des globalen Kapitalismus ist gekennzeichnet von drei typischen Eigenschaften, die an die Netzwerke des organisierten Verbrechens in Bulgarien und der 'Ndrangheta erinnern: erstens die Gewalt. Sie bereitet den Boden, formt die Einstellung der Menschen zu ihrer begrenzten Rolle in der Gesellschaft, verhindert eine politische Beteiligung und macht die Politik zum Tabu. Zweitens eine »erleuchtete« Führung, die mit Hilfe des Netzwerks von einer Umbruchsituation profitiert, etwa
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als Mao die europäische Hegemonie zur Rechtfertigung der Kulturrevolution nutzte oder als Deng opportunistisch den Kapitalismus mit offenen Armen begrüßte und China zum Marktstaat machte. Drittens die Einheit des Raumes: Auf ihr und nicht auf der Geschichte gründet die Identität des Netzwerks, die Geographie dient als einende Kraft. Während die Verwandlung der 'Ndrangheta und die Kriminalisierung der bulgarischen Nomenklatura mit dem Versagen des Staates zusammenfielen, den wirtschaftlichen Wandel unter Kontrolle zu halten, zog sich Dengs Regierung absichtlich aus der politischen Arena zurück und befreite die Wirtschaft von politischen Einschränkungen. Diese Entscheidung ermöglichte es China, von der Globalisierung zu profitieren und in einem von der Schurkenwirtschaft geprägten Umfeld zu gedeihen. Dengs Wirtschaftspolitik des Laisser-faire spiegelt Chinas besondere Einstellung zur Politik. Als eine Kultur, die nicht Sklave philosophischer Modelle ist, bleibt es China freigestellt, sich nach den Umständen zu richten - die in jüngster Zeit von der Schurkenökonomie geprägt werden. Die bemerkenswerte Erfolgsgeschichte Chinas bei der Globalisierung scheint zu bestätigen, dass die Politik in der neuen, vom rücksichtslosen Kapitalismus beherrschten Welt nur noch ein Accessoire für die Wirtschaft und den wirtschaftlichen Opportunismus ist. Dieser Opportunismus hat Ethik und Moral des Nationalstaats ersetzt.
KAPITEL
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Wenn man etwas nicht hat, muss man es eben fälschen! Zu klein? Trag hohe Absätze, aber übe vorher das Gehen! Victoria Beckham 1
Im November 2005 beschlagnahmte die Polizei in Antwerpen 16 000 Flakons mit gefälschtem Chanel No. 5. Die Lieferung stammte aus China, woraufhin ihr der Zoll umgehend den Namen »Chinel No. 5« verlieh.2 Der Käufer, ein chinesischer Importeur, hatte 10 000 Euro für die gesamte Ladung bezahlt, die laut Chanel im Original 1,2 Millionen Euro wert gewesen wäre. Der auffallende Preisunterschied zwischen Original und Fälschung hat ebenso viel mit den Marketingstrategien des internationalen Parfümkartells zu tun, mit denen die Preise künstlich hochgehalten werden, wie mit der Ausbreitung der Fälschungsindustrie. Im Frühjahr 2006 warf die französische Kartellbehörde mehreren Kosmetikunternehmen, darunter L'Oreal, Chanel, Christian Dior, Yves Saint Laurent, Estee Lauder und Clinique, vor, »zum Nachteil des Verbrauchers unerlaubt zusammenzuarbeiten und so die Preise hochzuhalten«.3 Die französische Behörde belegte die Firmen mit einer Strafe in Höhe von 64 Millionen Dollar, weil sie gegen das Wettbewerbsgesetz der Europäischen Union verstoßen hatten. Bei der ver-
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wendeten Preistaktik legte das Kartell einen identischen Verkaufspreis für sämtliche Läden fest, die Markenparfüms führen. Damit die Praxis funktioniert, bestimmt das Kartell auch Reduzierungen und sorgt dafür, dass die Läden nicht mehr weiter beliefert werden, wenn sie höhere Preisnachlässe bieten. Valery, Mitarbeiterin in einer Pariser Parfümerie, bestätigt, dass Kontrolleure verschiedener Marken Stichproben durchführen, um sicherzustellen, dass die Geschäfte die Produkte nicht unter dem festgelegten Preis verkaufen. Mehr als ein Nachlass von 10 Prozent sei nicht erlaubt.4 Berühmte Marken steigern künsdich die Nachfrage und halten so die Preise hoch. Ein Beispiel dafür ist die Handtasche Paddington von Chloe. Kaufinteressierte müssen sich bei Chloe Paris in eine Warteliste eintragen, wenn sie die 900 Euro teure Handtasche haben wollen. An dieser Marketingstrategie ist rechtlich nichts auszusetzen, doch sie ruft natürlich zahlreiche Fälscher auf den Plan. Verkäufer bei Chloe geben zu, dass die Kaufinteressierten, wenn sie des Wartens überdrüssig sind, oft gefälschte Paddington-Taschen zu einem Drittel des Originalpreises bei eBay erwerben. Ironischerweise profitiert die Fälschungsindustrie von den aggressiven Marketingstrategien der westlichen Unternehmen. Oft ist der hohe Preis der Luxusmarken die Ursache für die starke Nachfrage nach gefälschten Luxusartikeln.
Die Geschichte wird recycelt China ist für die internationale Fälscherindustrie lebenswichtig. Die italienischen Behörden schätzen, dass jedes zweite gefälschte Produkt, das weltweit verkauft wird, aus dem Reich der Mitte stammt. Chinas inniges Verhältnis zu Imitationen
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lässt sich mit dem Recycling der Geschichte erklären - und nicht, wie viele glauben, mit der sich immer stärker ausbreitenden illegalen Wirtschaft. Das Original unterscheidet sich durch bestimmte geographische und historische Elemente von den Repliken. Während Fälschungen überall erhältlich sind, bleiben Originale rar. Außerdem haben Originale eine Geschichte. Ein Gemälde, eine Statue, ein Denkmal hat ebenso wie ein Haute-Couture-Kleid von Chanel eine einmalige Vergangenheit. Diese Vergangenheit ist der kreative Prozess, in dem das Original entstand. Wenn wir dieses Objekt bewundern, anfassen oder tragen, ist uns die besondere Qualität bewusst, weil das Leben des Originals ähnlich wie die Struktur eines Diamanten in seiner Geschichte kodiert ist. Manchmal bezeichnen wir das als »Aura« eines Produkts, dieses spezielle »Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition«.5 Westliche Konzepte des geistigen Eigentums finden ihre philosophische Rechtfertigung in der Einzigartigkeit der Aura, die nicht ersetzt oder gestohlen werden kann, weil sie die Seele des Originals verkörpert. Mit dem Massenmarkt entstand auch eine weltweite Nachfrage nach Repliken; Millionen, die sich das Original nicht leisten können, begnügen sich mit einer Kopie. »Tagtäglich macht sich unabweisbar das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden.« Gleichzeitig ist die Welt durch die Globalisierung zusammengeschrumpft, was den Wunsch der Massen weckt, »die Dinge räumlich und menschlich >näherzubringen<«.6 Die moderne Technik befriedigt die außergewöhnliche Sehnsucht nach Fälschungen nahezu umgehend. Der Reproduktionsprozess ist billiger und einfacher geworden, die Ware leichter zugänglich. Heutzutage sind Verbraucher förmlich besessen von der Idee, ein
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Produkt sofort und direkt zu bekommen, und da Repliken in großer Zahl existieren und günstig sind, können sie diese Obsession befriedigen. Fälschungen, die unvollkommenen Klone des Originals, fehlt die besondere Aura, da diese bei der Reproduktion ständig recycelt wird, aber im Gegensatz zum Original stehen sie in großen Mengen zur Verfügung und sind daher für jeden erreichbar. Diesen Kompromiss muss der Verbraucher eingehen. Das Recycling der »Aura« erhöht die weltweite Verfügbarkeit des Originals. Auch die Kultur konnte diesem Globalisierungstrend nicht entgehen. So illustriert beispielsweise der Erfolg des Romans (und seiner Verfilmung) The Da Vinci Code - Sakrileg den Appetit nach allgemein verfügbarer recycelter Kunstgeschichte und Religion. Ähnlich befriedigen historische Romane den Wunsch der Leser, Geschichte schnell und ähnlich wie Fastfood zu konsumieren, wobei sie damit gleichzeitig der Realitätsflucht dienen. Kultur ist zum kommerziellen Produkt geworden, und dank moderner Technik ist die fiktive Version von Kultur für die breite Masse überall leicht zugänglich; von Flughafenbuchhandlungen bis zu Supermärkten, von Websites bis zu Kinos. Die Authentizität dagegen hat sich verflüchtigt, weil wir sie an der Zeit und nicht am Raum festmachen. Außerdem sind authentische Produkte einzigartig. Ganz anders als Fälschungen: Jede Fälschung zieht weitere Fälschungen nach sich, und alle werden weltweit verkauft. Das erklärt auch, warum sich Markenpiraterie im postmodernen China so leicht rechtfertigen lässt. Urheberschutz und Patentrecht wurden im Ausland entwickelt und basieren auf Konzepten, die den Chinesen völlig fremd sind und die sie von ihrem kulturellen Verständnis her nicht nachvollziehen können.
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Die Piraterie ist in China in Form des Wirtschaftslebens und untrennbar mit dem seit Jahrhunderten betriebenen Recycling der Geschichte verknüpft. Wenn die Geschichte immer wieder umgeschrieben wird, damit sie den Bedürfnissen der Politik entspricht, verflüchtigt sich die Realität. Auch der Wert ihrer Accessoires, von Kunstwerken bis zu Musik, von Literatur zu Mode, verschwindet mitsamt der »Aura« des Originals, und einzigartige Ideen und Objekte werden kurzerhand durch eine Unmenge billiger Kopien ersetzt. Da überrascht es auch nicht, dass die Chinesen das Original mit der Fälschung verwechseln. »Heutzutage kaufen die Leute gefälschte Weine [und Spirituosen] mit Falschgeld und kommen dann wieder, um sich zu beschweren«, berichtet der Präsident einer Verbraucherschutzorganisation in Changsha in der Provinz Hunan. Das gleiche Phänomen konnte man bei der Kulturrevolution beobachten. Falsche Revolutionäre denunzierten unechte Revolutionäre, die sich dann an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei wandten, um rehabilitiert zu werden. Heute meint man, alles sei anders, dennoch wiederholt sich die gleiche Geschichte immer wieder. Fälschungen breiten sich in China wie ein Virus aus; das ist die Krankheit unserer Gesellschaft, die schon weit vor der Kulturrevolution begann.7 Als Deng Xiao Ping seine berühmte Aufforderung an die Chinesen richtete, »reich zu werden«, setzte er eine wirtschaftliche Revolution in Gang, die ein permanentes Recycling von Produkten und Ideen nach sich zog. So wurden beispielsweise falsche Feste inszeniert und als alte Tradition ausgegeben, um ausländisches Kapital anzuziehen. Der Ersatz de-
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finierte unzählige Konsumgüter »made in China«. Immer noch werden ausländische Filme illegal kopiert und in chinesischen Kinos gezeigt, ohne dass es die Zuschauer sonderlich interessieren würde, dass sie nicht das Original sehen. Natürlich leidet die Qualität, wenn alles einschließlich der Realität die Reproduktion einer Reproduktion ist, aber wen kümmert das schon, solange alles billig und leicht verfügbar ist? Dengs Motto konnte die Politik nicht erschüttern, die fest in den Händen der Partei blieb, während die Fälschungsindustrie als ein Zweig der Schurkenökonomie vom technischen Fortschritt profitierte. Die Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung förderten nicht die Demokratisierung der Gesellschaft, sondern bereiteten nur den Boden für einen ungebändigten Kapitalismus. Hier kann man eine Parallele zum technischen Fortschritt im 20. Jahrhundert ziehen, als Faschismus und Nationalsozialismus die Neuerungen für ihre Expansionskriege nutzten, anstatt das Leben der Menschen zu verbessern. Die aus Italien stammende Bewegung des Futurismus feierte den destruktiven Einsatz der Technik und beschrieb dieses Phänomen als Ästhetik des Krieges.8 Die Fälschungsindustrie und ihre Ausläufer, von den riesigen Großmärkten in Südchina bis zu den Ein-Dollar-Läden in Amerika, gehören zur »Ästhetik« der Schurkenökonomie, die in China wie im Westen gleichermaßen gefeiert wird. Auf die Frage von Sang Ye, dem Autor von China Candid, ob Markenpiraterie illegal sei, antwortete ein Programmierer in der Thieves Alley von Beijing, dem chinesischen Silicon Valley: »Piraterie ist gar nicht so schlimm. Die Vier Drachen (Hongkong, Taiwan, Südkorea und Singapur) sind dank der Piraterie zu Reichtum und Wohlstand gekommen.« 9 Und wer hat noch nie eine gefälschte Designeruhr oder Handtasche made in Hongkong gekauft?
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Berauscht von der Propaganda, glauben die Menschen, ihr Leben würde sich verbessern, wenn sie dieses Konzept übernähmen. Heute ist China besessen von dem Gedanken, die sichtbaren Überreste der Vergangenheit zu zerstören, ähnlich wie vor Jahrzehnten die Kulturrevolution die historischen Wahrzeichen auslöschte. Ganze Stadtviertel werden jeden Tag abgerissen und bald danach »modern« wiederaufgebaut. Die Taxifahrer in Beijing, deren schlechte Ortskenntnis ohnehin berüchtigt ist, müssen heute ständig mit neuen Straßen und Gebäuden zurechtkommen, die praktisch über Nacht entstanden sind. Für die Chinesen ist alles Neue »besser«, ein Bekenntnis zu Modernität und Entwicklung, bei dem jedoch Design und Qualität auf der Strecke bleiben. 10 Bislang hatten die Chinesen mehr Glück als die Deutschen oder Italiener in den dreißiger und vierziger Jahren. Allerdings leidet auch die wirtschaftliche Entwicklung Chinas unter einer ungleichen Einkommensverteilung, Korruption, steigenden Kriminalitätsraten, zunehmender Prostitution, einer Aidsepidemie, schwerer Luftverschmutzung und Ausbeutung. »Jedes Mal, wenn man eine Zeitung aufschlägt, ist sie voller Skandale, Verbrechen und Morde. Die Kriminalitätsrate in China steigt in direktem Verhältnis zum Wirtschaftswachstum oder sogar noch schneller«, sagte der chinesische Regisseur von »Lost in Beijing«, einem Film über den Alltag in China, in einem Interview mit der Financial Times.11 Die Entstehung der Schurkenökonomie und die zentrale Rolle Chinas deuten darauf hin, dass die Welt in die gleiche Falle tappt wie schon in den dreißiger Jahren, als die Technik zum Schaden der Menschen eingesetzt wurde: »Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt sie den Menschenstrom in das
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Bett ihrer Schützengräben, anstatt Saaten aus ihren Aeroplanen zu streuen, streut sie Brandbomben über die Städte hin.« 12 Doch für dieses düstere Szenario ist es noch zu früh. Wie im Epilog angesprochen, wird China vielleicht die Fähigkeit entwickeln, der Welt einen neuen Gesellschaftsvertrag anzubieten, mit dem sich die Schurkenökonomie zähmen lässt. Doch zuvor müssen China und seine Bevölkerung Ausbeutung und die weiteren Gefahren der Schurkenwirtschaft überstehen.
Die chinesische Mafia An den Rändern der chinesischen Fälschungsindustrie blüht das organisierte Verbrechen. Die Triaden sind neben dem Handel mit gefälschten Produkten aus China auch am Menschenhandel mit billigen chinesischen Arbeitskräften beteiligt. Dieser boomende Geschäftszweig unterhält direkte Verbindungen zu chinesischen Sweatshops im Westen, die immer zahlreicher werden. So leben zum Beispiel in Paris die meisten illegalen chinesischen Einwanderer der Europäischen Union. Einem 2006 erschienenen Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge wohnen 50 000 illegale chinesische Einwanderer in Frankreich, 70 Prozent davon in Paris, der Rest im Osten und Norden Frankreichs. Die wachsende Zahl dieser Immigranten gibt auch in anderen europäischen Ländern Anlass zur Sorge. 1980 betrug ihre Zahl (sowohl legale als auch illegale) in Italien 730; 2004 schätzte die italienische Caritas sie auf 100 000. Laut Europol sind chinesische Einwanderer die am schnellsten wachsende ethnische Gruppe, die nach Europa kommt, und stellen bei weitem die billigste Arbeitskraft.
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Die ILO bestätigt, dass sich das Ziel der chinesischen Einwanderer von den USA nach Europa verlagert hat, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sich die Kosten, Chinesen in die USA einzuschleusen, im Vergleich zu Europa verdoppelt haben. Außerdem werden Asylanträge in europäischen Ländern großzügiger behandelt.13 Da chinesische Einwanderer selten Visa für Länder der Europäischen Union erhalten, verlassen sie sich hauptsächlich auf Untergrundorganisationen von Menschenschmugglern, die 10 000 bis 20 000 Euro pro Person verlangen. Nach ihrer illegalen Einreise verdingen sich die Einwanderer oft zwei bis zehn Jahre lang als Lohnsklaven, um ihre Schulden abzubezahlen. Die ILO schätzt, dass 75 Prozent der chinesischen Einwanderer, die illegal nach Frankreich gekommen sind, ihren Schleusern 12 000 bis 20 000 Euro schulden. Die Schleuser erhalten ihren Anteil direkt vom Arbeitgeber der Einwanderer, er wird ihnen vom Lohn abgezogen. Dazu beschlagnahmen die Schleuser die Ausweise und Pässe der Immigranten gleich zu Beginn der Reise und übergeben sie später ihren Chefs in Europa. »Meistens läuft es so, dass die Ausweispapiere vom Schmuggler beschlagnahmt werden, dieser gibt sie weiter an den Arbeitgeber, der dann wiederum den Lohn des Arbeiters an den Schleuser zahlt, um die Schulden zurückzuerstatten«, erklärt Gao Yun, Rechtsanwalt bei der ILO. »Und so sitzen sie in der Falle: Sie brauchen zwei bis zehn Jahre, bis sie ihre Schulden abgezahlt haben. Gleich zu Beginn geraten die Einwanderer in ein ethnisches Wirtschaftsnetzwerk im Untergrund, das sich nur schwer ausmachen lässt. Aus Angst vor einer Verhaftung verschwinden sie von der Bildfläche.«14 Jedes Jahr schmuggeln chinesische Verbrecherorganisationen Zehntausende chinesische Arbeiter nach Europa. Ihr
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Leben erinnert an eine asiatische Version der Romanfiguren von Charles Dickens. Männer, Frauen und Kinder versuchen unter unmenschlichen Bedingungen, für ihr Auskommen zu sorgen - mit dem Unterschied, dass die Handlung nicht im 19., sondern im 21. Jahrhundert spielt. Oft locken kriminelle Schleuserbanden im Verbund mit chinesischen Unternehmern die Einwanderer nach Europa. Anfang 2006 zeigte eine ausführliche italienische Studie zur Drogenbekämpfung, dass die Einwanderer mittels eines zweistufigen Systems ins Land geschleust werden. Organisationen mit Sitz in China beaufsichtigen den transkontinentalen Transport, während chinesische Gruppen vor Ort die Transitstellen der »Menschenware« in den Zielländern kontrollieren. Derzeit sind Moskau und Malta die beliebtesten Umschlagplätze. Manchmal ist die Einreise in ein europäisches Land legal; die europäischen Staaten erteilen Chinesen Arbeitsgenehmigungen, wenn die Arbeitgeber einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Nach ein paar Wochen kann man die Einwanderer dann entlassen und auf dem Schwarzmarkt zur Arbeit zwingen, oft sogar für den gleichen Arbeitgeber. In anderen Fällen kommen die Chinesen mit ihren normalen Pässen und Touristenvisa nach Europa, die dann von den Schleusern an der Grenze konfisziert werden. Pass und Visum werden zurück nach China geschickt, damit es so aussieht, als seien die »Touristen« nach Hause zurückgekehrt. Ohne Dokumente müssen die Einwanderer schwarzarbeiten, um zu überleben. In Europa landen die meisten illegalen Immigranten in der Bekleidungsindustrie, die 80 Milliarden Dollar im Jahr umsetzt und hauptsächlich in Spanien und Italien ansässig ist. Ein weiterer Schwerpunkt ist Paris. Mr. Li, einer der vielen, die die Globalisierung nach Europa gebracht hat, lebt zu-
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sammen mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in einem 10 Quadratmeter großen Raum am Rand von Paris. Mann und Frau arbeiten Tag und Nacht an ihren Nähmaschinen. Mr. Li hat immer ein paar Flaschen Wein auf Vorrat, die er gelegentlich den Nachbarn zukommen lässt, damit diese sich nicht bei der Polizei beschweren, weil die Nähmaschinen die ganze Nacht laufen. Als das letzte Glied in der Subunternehmerkette holt er den bereits zugeschnittenen Stoff ab und näht ihn daheim zusammen, nonstop. Die chinesischen Unternehmen profitieren von der billigen chinesischen Arbeitskraft im eigenen Land und im Ausland, weil sie dank der niedrigen Preise zahlreiche Märkte erobern. Die italienische Behörde zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens bestätigt, dass die außergewöhnliche Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Unternehmen in Europa direkt mit den billigen chinesischen Arbeitskräften auf dem Schwarzmarkt zusammenhängt. Dazu gehört auch das wachsende Geschäft mit gefälschten Markenprodukten. Chinesische Waren werden nach Europa geschmuggelt und erhalten dort den letzten Schliff einschließlich der gefälschten Logos. Bei den Produkten ist alles dabei, die Palette reicht von Designerkleidung über Spielzeug bis zu Badezimmeraccessoires. Die chinesischen Einwanderer kommen nach Europa, weil sie ein besseres Leben anstreben, der Gewinn aus ihrer harten Arbeit fließt jedoch ironischerweise wieder zurück in ihre Heimat. Weil chinesische Unternehmen normalerweise das offizielle Bankenwesen meiden, bleibt ein Großteil des Erlöses Bargeld und wird nicht versteuert. Die italienischen Behörden schätzen, dass 34 Prozent des von chinesischen Unternehmen in Italien erwirtschafteten enormen Gewinnes bar mit Hilfe von Kurieren nach China gebracht werden.
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Eine andere Möglichkeit sind inoffizielle Bankorganisationen ähnlich der Hawala, die im 10. Jahrhundert zum Schutz arabischer Kaufleute vor Banditen geschaffen wurde, wenn diese auf der Seidenstraße nach China reisten.
Biopiraten Westliche Unternehmen berufen sich im Kampf gegen die Fälschung ihrer Produkte auf das Konzept des geistigen Eigentums. Im Westen schützt ein kompliziertes System aus Patenten und Handelsmarken originäre Ideen und garantiert, dass ihre kommerzielle Nutzung in der Hand derer bleibt, die sie geschaffen haben. Doch in der Welt der Schurkenökonomie kann das Patentwesen zum zweischneidigen Schwert werden, wie der Aufstieg der »Biopiraten« zeigt. Biopiraten sind die moderne Variante weißer Großwildjäger und suchen in Afrika nach gewinnbringenden biologischen Organismen. Spuren dieser Organismen finden wir in unserer Kleidung, in Kosmetika und sogar in Waschpulver. Der amerikanische multinationale Konzern Genencor International beispielsweise hat den Seen im Rift Valley Kenias eine Bakterienart entnommen, die heute zum Färben von Jeans verwendet wird. Wenn man die Bakterien mit Waschpulver mischt, bleichen sie den Stoff, der dann für teure und modische Jeans verwendet wird.15 Ein Bericht über Biopiraterie aus dem Jahr 2006, der vom African Center for Biosafety in Auftrag gegeben wurde, zeigt, dass Genencor mit der Nutzung der Rift-Valley-Bakterien 3,4 Milliarden Dollar verdiente, ohne den lokalen Behörden irgendwelche Steuern zu zahlen. Die Regierung in Nairobi hat dieses Vorgehen verurteilt und Schadensersatz gefordert, jedoch ohne Erfolg.16
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Fälschungen
Von der Biopiraterie leben viele Unternehmen, die westliche Verbraucher mit Gütern versorgen. Procter & Gamble verwendet einen Mikroorganismus aus dem Lake Nakuteri zur Herstellung von Reinigungsmitteln. Syngenta, ein Schweizer Biotechnologiekonzern, hat in Europa und Nordamerika eine Pflanze aus Usambara in Tansania südöstlich des Kilimandscharo patentieren lassen, Impatiens usambarensis. Die Pflanze ist sehr beliebt, die Gattung Impatiens rangiert in den USA an dritter Stelle, was die Verkaufszahlen angeht, der Jahresumsatz beträgt 148 Millionen Dollar. Die Biopiraterie wird trotz ihrer Illegalität oft gar nicht bemerkt, weil sie in einem komplizierten Patentsystem stattfindet. Unternehmen können alles schützen lassen, und dann gehören ihnen die Rechte daran, egal, woher das patentierte Material stammt. Kosmetikkonzerne haben sich zahlreiche afrikanische Enzyme, Mikroorganismen und Pilze als eigene Pflegeprodukte schützen lassen. Die amerikanische Firma Unigen ließ sich die südafrikanische Aloe ferox patentieren, die das südkoreanische Tochterunternehmen zur Herstellung der Bleichungscreme Aloewhite verwendet. Besonders erschreckend wird die Biopiraterie, wenn es um unsere Gene geht. »Ein Fünftel der Gene in unserem Körper befindet sich in Privatbesitz«, schrieb Michael Crichton 2007 in einem Leitartikel in der International Herald Tribune. Gene von Krankheitserregern, die von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung von Therapien sind, sind ebenfalls durch Patente geschützt, beispielsweise die Gene des Grippeerregers und das Gen, das Hämophilie auslöst. Personen und Unternehmen lassen Gene schützen und verlangen dann eine Gebühr, wenn das Gen eingesetzt wird, einschließlich seiner Verwendung in der medizinischen Forschung. Diese Patentgebühren erhöhen natürlich die Kosten in der For-
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schung und bei einer Behandlung; »ein Test auf Brustkrebs, der für 1000 Dollar durchgeführt werden könnte, kostet dadurch 3000 Dollar«, schreibt Crichton.17 Günstigere Tests werden vom Patentinhaber verhindert, weil dieser die Erlaubnis zur Verwendung des Gens nicht erteilt. Diese surreale Situation entstand, weil das amerikanische Patentamt eine Entscheidung des Obersten Gerichts der Vereinigten Staaten falsch interpretierte. Dennoch erhalten Patentinhaber auf der ganzen Welt, etwa die »Besitzer« des Gens für Hepatitis C, weiterhin Millionen Dollar von Forschungslabors. Die Patentindustrie bleibt sehr komplex und erfordert besondere Fähigkeiten. Das System, das auf westlichen Vorstellungen beruht, bevorzugt offensichtlich die westlichen Konzepte von geistigem Eigentum und Schutzmarken. Im Oktober 2006 stellte die äthiopische Regierung einen Antrag, bestimmte Kaffeebohnen auf dem amerikanischen Markt zu schützen, doch das amerikanische Patent- und Markenamt lehnte den Antrag für zwei der drei Sorten ab. Die Entscheidung löste einen Disput zwischen der Cafekette Starbucks, einem Mitglied der National Coffee Association of USA, und der britischen Hilfsorganisation Oxfam aus. Oxfam unterstützte die Entscheidung, die Kaffeebohnen schützen zu lassen, weil die Bauern dadurch zusätzliche 88 Millionen Dollar an Devisen verdient hätten. Tatsächlich hätte jedes Unternehmen, das den Namen verwenden wollte, eine Lizenz benötigt, was den Produzenten einen kommerziellen Vorteil beschert hätte, den sie heute nicht haben. Die Äthiopier erhalten gerade einmal 5 bis 10 Cent des Endpreises, spezielle Sorten erzielen dagegen bis zu 45 Cent das Pfund. Laut Oxfam »verdienten die äthiopischen Kaffeebauern, die an Starbucks verkauften, zwischen 26 Cent und 1,60 Dollar pro Pfund Bohnen, das Starbucks für 26 Dollar verkaufte«.18 In einer ganz-
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seitigen Anzeige in der New York Times und zwei Zeitungen in Seattle, der Heimatstadt von Starbucks, prangerte die Hilfsorganisation diese Preisdiskrepanz an.
Sicherheit in der Luftfahrt Anfang der neunziger Jahre begrüßten Unternehmen die wirtschaftliche Deregulierung, ohne deren weitreichende Konsequenzen zu verstehen. Nur wenige erkannten, dass der gleiche Vorgang, der theoretisch ihre Gewinne steigern sollte, auch die Gesetzgebung schwächen würde, die Warenzeichen, Patente und geistiges Eigentum schützte. Und wer hätte gedacht, dass darunter auch die Sicherheit in der Luftfahrt litte, weil sich die Piraterie bei Flugzeugersatzteilen in der ganzen Welt verbreiten und auch eine Branche heimsuchen würde, die bis vor kurzem noch unerreichbar schien? 1989 stürzte ein norwegisches Flugzeug vom Typ Convair 589 ab, alle 55 Insassen kamen dabei ums Leben. Die Untersuchung ergab, dass die Ursache für die Tragödie die schlechte Qualität wichtiger Ersatzteile war. Flugzeugteile sind strengen Überprüfungen unterworfen; ihre Verwendung wird vom Hersteller und dem späteren Käufer lückenlos dokumentiert. »Sie sind wie Menschen, sie haben eine Identität und eine Lebensgeschichte«, erklärt ein Ingenieur von Boeing. 19 Doch heute blüht der Markt für gefälschte und unzertifizierte Teile, und die Luftfahrtpiraten verstehen sich aufs Marketing. Die Explosion einer Concorde im Juli 2000 beim Start in Paris wurde indirekt von einem gefälschten Teil verursacht; einem 20 Zentimeter langen Metallstreifen, der sich von einer vor der Concorde startenden amerikanischen DC10 ge-
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löst hatte. Der dünne Streifen war viel leichter als das Original und flog direkt in die Reifen der Concorde. Die Reifenteile wiederum beschädigten den Tank, und die Tragödie nahm ihren Lauf.20 Der Handel mit gefälschten Flugzeugteilen ist eine bedenkliche Entwicklung. »Bei Flugzeugabstürzen, die von fehlerhaften Teilen verursacht werden, sterben mehr Menschen als bei Terroranschlägen, dennoch wird der Handel mit illegalen Teilen von Politikern ignoriert«, gibt ein amerikanischer Luftfahrtexperte zu, der anonym bleiben will.21 Die Ursachen reichen bis ins Jahr 1978 zurück, als die Regierung Carter ein Gesetz zur Deregulierung der Luftfahrt entwarf den Airline Deregulation Act -, das später von der Regierung Reagan übernommen wurde. Die Liberalisierung des Luftverkehrs, einer der ersten vorsichtigen Schritte zur Globalisierung, brach mit den strengen Vorschriften, die bis dahin in der Branche gegolten hatten. Die Preise für Flugtickets und Flugzeugteile wurden gesenkt, Zwischenhändler traten auf den Plan, und schon nach kurzer Zeit begannen einige, mit Secondhandteilen zu Billigpreisen zu handeln. Immer mehr Bereiche wurden von den Fluggesellschaften an Subunternehmer vergeben. Luftfahrtpiraten bewegen sich in einem weltweiten Netzwerk, das der chinesischen Fälschungsindustrie ähnelt. Sie produzieren in Sweatshops Ersatzteile schlechter Qualität zu Niedrigpreisen und machen auch Geschäfte mit kriminellen Vereinigungen. Am 20. Dezember 1995 prallte ein Flugzeug von American Airlines, das von Bogota in Kolumbien unterwegs nach Miami war, gegen einen Berg. Lokale Banden schlachteten sofort das Wrack aus. Eine Woche später wurden in Miami plötzlich zahlreiche gebrauchte Flugzeugteile angeboten. American Airlines veröffentlichte eine Liste der
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gestohlenen Teile in der Hoffnung, so den Weiterverkauf zu verhindern, doch ohne Erfolg. Die Piraterie ist eng verknüpft mit der Fälschungsindustrie, die dank der Privatisierung und Deregulierung Anfang der neunziger Jahre blüht. Entworfen von westlichen Banken und Investoren, sollte die Privatisierung in erster Linie Investitionsmöglichkeiten bieten. Dafür wurden finanzielle und wirtschaftliche Hindernisse aus dem Weg geräumt. Tatsächlich profitierten vor allem westliche Kapitalgeber von den Privatisierungsmaßnahmen, wie der Verkauf der mexikanischen Telefongesellschaft Telemex zeigt. 1992 räumte die Weltbank ein, dass die Verbraucher bei diesem Vorgang zu den größten Verlierern zählten, weil die Privatisierung von Telemex letzdich auf deren Kosten ging. Die Dienstleistungen der Telefongesellschaft waren deutlich teurer geworden, und der Gewinn wurde unter ausländischen Anteilseignern, Telemex-Mitarbeitern und der Regierung aufgeteilt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Mexikaner 92 Billionen Pesos (33 Milliarden Dollar) mehr für den Zugang und die Nutzung der Telefonleitungen gezahlt. »Die Regierung erhielt 16 Billionen Pesos, die Aktionäre im eigenen Land erhielten 43 Billionen und die Mitarbeiter 23,5 Billionen Pesos. Am meisten profitierten jedoch die ausländischen Investoren, sie verdienten 67 Billionen Pesos.« 22 Doch auch westliche Unternehmen fallen der Schurkenökonomie zum Opfer. Aufgrund der radikalen Privatisierungsund Deregulierungspolitik Anfang der neunziger Jahre liegen sie in ständigen Auseinandersetzungen mit skrupellosen Geschäftemachern, die ihre Produkte fälschen und weltweit zu Billigpreisen verschleudern. Bei der Eindämmung der Fälschungsindustrie bewirkt das Patent- und Markensystem lächerlich wenig. Geographische Faktoren und kulturelle Barri-
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eren behindern die Umsetzung des Patentrechts. Die Gauner des Globalisierungszeitalters kopieren westliche Marken und verkaufen sie zu einem Bruchteil des eigendichen Preises. Doch auch dieser Niedrigpreis kann im Vergleich zu den Herstellungskosten relativ hoch ausfallen, wie die aggressiven Marketingstrategien von Unternehmen und Kartellen im Fall der Ladung mit »Chinel No. 5« zeigen. Paradoxerweise treibt die Preispolitik von Chanel No. 5 nicht nur den Preis des Originals, sondern auch den der Fälschung in die Höhe. Die Fälschungsindustrie bildet den Kern der Marktmatrix, die im folgenden Kapitel diskutiert wird. Sie verbreitet den Virus der Schurkenwirtschaft und bringt ihn direkt zu uns nach Hause. Die Marktmatrix lässt sich als Abkömmling einer unheiligen Allianz der schnell wachsenden Weltwirtschaft mit ihren Negativfolgen wie Illegalität und Kriminalität und den immer schwächeren Nationalstaaten beschreiben. Indem die Matrix den Verbrauchern Bequemlichkeit, Effizienz, niedrige Preise und schnell verfügbare Waren bietet, fördert sie das Konsumdenken westlichen Stils. Gleichzeitig verbirgt sie die wahre Natur des Konsums, weil sie ständig die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion verwischt. Hinter diesem Netz der kommerziellen Illusionen verbirgt sich eine andere Realität, die von den Profiteuren der Globalisierung geprägt ist. Die Unternehmer der Schurkenwirtschaft sorgen dafür, dass die Matrix erhalten bleibt, indem sie am Rande der Konsumgesellschaft, auf den Vorposten des modernen Kapitalismus, ein wirtschaftliches Chaos anrichten, wo die Schurkenwirtschaft seit Beginn der neunziger Jahre gedeiht. Aber wenn wir die Gefahren und Probleme der Schurkenwirtschaft wirklich verstehen und aufdecken wollen, müssen wir uns zunächst mit ihrer größten Illusion beschäftigen, der Marktmatrix.
KAPITEL
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Die Marktmatrix
Salz tötet wahrscheinlich mehr Menschen als Tabak. Dr. James J. Kenney
Anfang Juli 2005 nahmen die englischen Behörden 120 000 Schachteln Lipitor vom Markt, ein beliebtes Medikament zur Cholesterinsenkung, das täglich von Millionen Briten eingenommen wird. Nach einer ausführlichen Untersuchung stellte sich heraus, dass Pfizer, der Pharmariese, der das Patent für das Medikament besitzt, die in Großbritannien verkauften Packungen nicht hergestellt hatte; das Medikament stammte aus einer Ladung Lipitor-Fälschungen, die auf unbekanntem Weg nach England gekommen war. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO ist eine von zehn Tabletten gefälscht und wird als Original verkauft. Mit gefälschten Medikamenten werden jedes Jahr 32 Milliarden Dollar Gewinn erwirtschaftet und etwa 500 000 Menschen getötet.1 Man geht davon aus, dass der Markt noch gewaltig wachsen wird; bis 2010 soll er 75 Milliarden Dollar abwerfen und über eine Million Menschen das Leben kosten.2 Die meisten Opfer stammen aus Entwicklungsländern, dort werden gefälschte Medikamente regelmäßig eingenommen. In Nigeria sind 80 Prozent der Medikamente gefälscht, wie ein Mitarbeiter der WHO zugibt. Die Liste der Skandale wird täg-
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lich länger und verweist auf eine Situation, die deutlich düsterer ist als in Der ewige Gärtner, John Le Carres Bestseller über den Test neuer Medikamente durch die Pharmaindustrie in Afrika. So töteten beispielsweise Impfstoffimitate gegen Hirnhautentzündung, die 1995 als das Originalprodukt von GlaxoSmithKline verkauft wurden, 2500 Kinder. Vor kurzem erklärte die führende medizinische Fachzeitschrift The Lancet, dass 70 Prozent der Mittel gegen Malaria in Afrika nicht die erforderlichen Wirkstoffe enthalten. Sie sind nutzlose Placebos, die den Malariapatienten nichts bringen. Die bei weitem beliebtesten und am häufigsten gehandelten Fälschungen im Westen sind Medikamente gegen Erektionsprobleme: Viagra, Cialis, Levitra und so weiter. Viele werden unbehelligt von Vorschriften und staatlichen Kontrollen über das Internet verkauft. Das Geschäft ist äußerst lukrativ. Laut Eli Lilly, dem Hersteller des Antidepressivums Prozac (in Deutschland Fluctin), kann man, wenn man 1000 Dollar in kriminelle Organisationen investiert, mit Falschgeld 3300 Dollar erwirtschaften, mit dem Verkauf von Heroin 20 000 Dollar, mit Zigarettenschmuggel 43 000 Dollar, mit Softwarepiraterie bis 100 000 Dollar und mit dem Fälschen von Medikamenten wie Viagra und Cialis 500 000 Dollar.3 Billigimitate von Erektionspillen werfen mehr Geld ab als der Handel mit Heroin. Diese schockierende Tatsache erklärt, warum von China bis Chile, von Südafrika bis in den Irak Tausende Fabriken falsches Viagra produzieren. Nach dem Fall Bagdads zählten die Verkaufsstellen für Viagra zu den ersten, die geplündert wurden, immerhin ist der Irak einer der größten Produzenten im Nahen Osten. Verschiedenen Quellen zufolge griffen sich selbst westliche Journalisten, die über die Plünderungen berichteten, schnell eine Handvoll Pillen und steckten sie in die Tasche.
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Die Marktmatrix
Ein Schnappschuss der Marktmatrix Andere Staaten werfen China (das als der größte Lieferant für gefälschte Medikamente weltweit gilt) vor, es sei nicht in der Lage, die illegale Pharmaindustrie im Land zu kontrollieren, wahrscheinlich sei die Regierung auch gar nicht bereit dazu. Die chinesische Arzneimittelgesetzgebung ist tatsächlich unzureichend gerüstet, um der Fälscherindustrie Herr zu werden, die chinesische Regierung hat genug damit zu tun, dem wachsenden internationalen Bedarf an chinesischen Produkten nachzukommen. 2006 musste die chinesische Regierung nach mehreren Todesfällen in Panama die Ausfuhr von Diethylenglykol nach Lateinamerika untersuchen; die Chemikalie war als reines Glycerin ausgegeben und als Süßungsmittel für Hustensaft und andere frei verkäufliche Medikamente gehandelt worden. Diethylenglykol ist ein industrielles Lösungsmittel und wird als Frostschutzmittel verwendet, es schmeckt wie Glycerin und kostet deutlich weniger. Allerdings ist es auch ein tödliches Gift. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Lieferanten des falschen Glycerins nicht gegen chinesische Gesetze verstoßen hatten. Diese erschreckende Entdeckung kam nicht sonderlich überraschend. Strenge Gesetze gegen pharmazeutische und andere potenziell tödliche Produkte werden fast immer erst nach schweren Tragödien erlassen. So entstanden die moderne Food and Drug Administration in den USA und die strengen Vorschriften für Medikamente erst vor siebzig Jahren, nachdem über hundert Menschen an diethylenglykolhaltigen Medikamenten gestorben waren. 2006 sorgte der Lipitor-Skandal in Großbritannien dafür, dass die Einfuhr von Medikamenten strenger überwacht wurde. Die Aidsepidemie in Henan erinnert uns allerdings daran, dass der gesellschaftliche Druck
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nicht ausreicht, in China eine ähnliche Gesetzgebung wie in den USA einzuführen, selbst wenn gewissenlose Geschäftemacher den Tod zahlreicher Menschen verursachen. Auf einem globalen Markt gibt es neben einer globalen Arzneimittelzulassungsbehörde zahlreiche weitere Möglichkeiten, um zu verhindern, dass Medikamentenfälschungen in die Apotheken gelangen. Die chinesische Lieferung Diethylenglykol, die in Panama zahlreiche Todesopfer forderte, verstieß bei ihrer Reise über drei Kontinente gleich gegen mehrere Gesetze. »Die New York Times verfolgte den Handelsweg vom panamaischen Hafen Colon zurück zu Handelsgesellschaften in Barcelona, Beijing und ihrem Ausgangspunkt in der Nähe des Jangtse-Deltas, einem Gebiet, das die Leute >Chemieland< nennen.« 4 Der tödliche Sirup war durch die Hände dreier großer Handelsgesellschaften gegangen, aber nie getestet worden. Die Frachtpapiere, der Ausweis einer Ware, die unterwegs regelmäßig von Hafenbehörden und Zoll kontrolliert werden, waren mehrmals gefälscht worden, um die wahre Herkunft der Lieferung zu verschleiern. Keine Hafenbehörde und kein Zollamt erkannte oder meldete die Fälschung. Wenn die Händler der Sache auf den Grund gegangen wären, hätten sie festgestellt, dass der chinesische Hersteller gar keine Genehmigung zur Fabrikation pharmazeutischer Produkte hatte. Der Fall des chinesischen Diethylenglykols verdeutlicht die Gefahren der Marktmatrix. Diese schafft ein globales Netz der Illusionen. Wie in dem Kultfilm »Matrix« ändert sich die Realität und wird von denjenigen, die in ihr leben, neu geschaffen; anders ausgedrückt, wir als Produzenten und Konsumenten auf dem globalen Markt bilden die Matrix. Wir weisen China die Schuld zu, aber auch das ist eine Illusion, die uns westliche Politiker verkaufen und die wir als Konsu-
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menten bereitwillig schlucken. Wenn wir für ein paar Sekunden den hektischen Handel, der den Pulsschlag der globalen Wirtschaft ausmacht, anhalten und einen Schnappschuss von den Vorgängen innerhalb dieses Marktes machen könnten, würden wir die kollektive Verantwortung all derer sehen, die daran beteiligt sind, eine Welt aus kommerziellen Phantasien zu schaffen und an sie zu glauben. Im Mittelpunkt dieses Schnappschusses stehen westliche Regierungen, die den Vorschlag der USA akzeptierten, China in die Welthandelsorganisation aufzunehmen. Die Entscheidung fiel zu einer Zeit, als wichtige Human-Rights-Organisationen die entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung in Beijing angeprangert hatten. Doch die Verantwortung der Regierung geht noch weit darüber hinaus. Obwohl die Medien China und Russland vorwerfen, gefälschte Medikamente herzustellen, wurden bislang noch keine Maßnahmen oder UN-Sanktionen erlassen; aufgrund des schwachen Patentschutzes liefert Russland etwa 30 Prozent der gefälschten Medikamente weltweit. Auch Indien und Brasilien stellen gefälschte Medikamente in großem Umfang her, doch auch hier hat die internationale Gemeinschaft nichts unternommen. Die Industrieländer haben an Medikamentenfälschungen kein Interesse, weil die damit zusammenhängenden Todesfälle überwiegend in Entwicklungsländern auftreten. Laut der International Medical Products Anti-Counterfeiting Taskforce (IMPACT), einer von der Weltgesundheitsorganisation 2006 gegründeten Organisation gegen Arzneimittelfälschungen, steigt der Anteil der gefälschten Medikamente auch in den Industrieländern, macht aber immer noch nur 1 Prozent aus - im Vergleich zu 70 Prozent in Ländern wie Nigeria. Die Industrieländer konzentrieren sich eher darauf, den Internethandel mit falschen »Life-
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style-Medikamenten« wie Viagra zu unterbinden als den globalen Handel mit Arzneimittelfälschungen.5 Auf unserem Familienfoto von der Marktmatrix stehen neben den Industrieländern gleich die Pharmakonzerne. Oft schweigen sie, wenn es um gefälschte Medikamente geht, und melden die Lieferungen von Imitaten nicht, weil sie befürchten, damit eine Panik auszulösen und ihrem Markennamen zu schaden. Außerdem kann die Aufdeckung von Medikamentenfälschungen sehr kostspielig ausfallen. 2006 übernahm Pfizer die Kosten für die durch die Lieferung von falschem Lipitor in Großbritannien entstandenen Schäden, um das Image der Firma zu schützen. Andererseits interpretieren viele Unternehmen den Begriff »Fälschung« sehr großzügig, weil sie ihre eigenen Produkte vor der Konkurrenz legaler Generika schützen wollen. »Branchenberichte [zeigen], dass es sich bei vielen Fälschungen eigentlich um günstige, in großen Mengen hergestellte, weniger prestigeträchtige Generika handelt.«6 So wird mit Hilfe des Patentrechts verhindert, dass legitime Hersteller aus Entwicklungsländern ihre Medikamente auf den Markt bringen. Die globale Pharmaindustrie mit ihrer oligopolähnlichen Struktur und ihren Preisabsprachen hält die Preise künstlich hoch. Diese Strategie schafft die Gewinnanreize, die das Geschäft mit gefälschten Medikamenten so lukrativ machen und die Fälschungsindustrie erst auf den Plan rufen. Laut einem Dokument, das 2007 von der BUKO-Pharma-Kampagne veröffentlicht wurde, einem Zusammenschluss von Dritte-WeltSolidaritätsgruppen in Deutschland zur Untersuchung der Aktivitäten deutscher Pharmaunternehmen in Entwicklungsländern, könnten Preissenkungen und eine bessere staatliche Kontrolle das Fälschungsproblem drastisch reduzieren.7 Am Rande unseres Bildes stehen Handelsgesellschaften
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Die Marktmatrix
und Banken. Auch sie gehören zur Marktmatrix, wie die lange Reise der Ladung mit vermeintlichem Glycerin aus China zeigt. Wenn wir die vier Ecken unseres Schnappschusses betrachten, erkennen wir weitere kommerzielle wechselseitige Abhängigkeiten, und wenn wir genauer hinschauen und bestimmte Bereiche des Fotos vergrößern, tauchen noch mehr Segmente der Marktmatrix auf. In vielen Fällen geht es bei der veränderten Realität und der Konstruktion kommerzieller Illusionen nicht nur um Nachlässigkeit oder eine fehlende Gesetzgebung, sondern um das Überleben ganzer Volkswirtschaften. Diese Wirtschaftssysteme sind von der Schurkenwirtschaft geplagt und gleichzeitig von ihr abhängig. Ein Beispiel dafür ist die Demokratische Republik Kongo.
Blutiges Gold Das Phänomen der Blutdiamanten aus Afrika ist mittlerweile allgemein bekannt, nicht zuletzt war es auch Thema eines Hollywoodfilms. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass jemand wie wir einen Blutdiamanten kauft, ist erheblich geringer, als »Blutgold« zu erwerben, das deutlich weniger bekannt ist. Die internationale Diamantenindustrie befindet sich in den Händen eines straff organisierten Kartells. Dieses Kartell weiß, dass in Ländern wie Sierra Leone Kinder in den Minen arbeiten, die von bewaffneten Banden versklavt wurden, und Blutdiamanten fordern, die dann von den Banditen weiterverkauft werden. Anders als die Diamantenbranche ist die Goldindustrie nicht organisiert, die Unternehmen sind auf der ganzen Welt verstreut. Die Weiterverarbeitung bleibt einigen wenigen Firmen überlassen, die Gold von Händlern kaufen und die Herkunft nicht kontrollieren. Wie der Handel
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mit Blutdiamanten steht auch der Goldhandel nicht auf der Agenda einer Regierung oder Nichtregierungsorganisation. Die Goldvorkommen der Demokratischen Republik Kongo zählen zu den größten der Welt. Die meisten Minen liegen im Osten des Landes, der seit dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs von Warlords und kriminellen Banden beherrscht wird. Damit diese die reichen Rohstoffvorkommen des Landes nicht gegen Waffen und Munition verkaufen, verhängten die Vereinten Nationen in den neunziger Jahren ein striktes Waffenembargo. Dennoch wird es mit Hilfe ausländischer Handelsunternehmen, Banken und Goldhändler immer wieder umgangen. So bekannte 2005 die südafrikanische Firma AngloGold Ashanti, die zur Minengesellschaft Anglo-American gehört, sie habe 9000 Dollar an die Warlords gezahlt, um von der kongolesischen Regierung Schürfgenehmigungen zu erhalten.8 Da die südafrikanische Goldförderung zurückgeht, muss sich die Firma seit den neunziger Jahren nach neuen Minen umsehen. Das Gold aus dem Kongo gelangt aufgrund der Zusammenarbeit mit ugandischen Handelsfirmen bis zu uns und wird hier ganz normal verkauft. 2005 entdeckten UN-Inspektoren, dass südafrikanische, britische und Schweizer Betriebe zur Weiterverarbeitung Blutgold aus dem Kongo als angeblich ugandisches Gold gekauft hatten, ohne die Herkunft zu überprüfen.9 Wer sich mit dem Goldhandel auskennt, weiß auch, dass die Zentralbank von Uganda bis Mitte der neunziger Jahre nicht einmal Statistiken über Goldexporte erstellte, weil Uganda zuvor noch nie Gold exportiert hatte. Das Land stieg erst in den Club der wichtigen Goldexporteure auf, als der Handel 1994 liberalisiert wurde. Seit die Regierung alle Exportbeschränkungen aufgehoben hat, wird das Gold aus dem Kongo nicht mehr über Kenia geschmuggelt, sondern landet
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in Kampala, Uganda. 2003 exportierte Uganda Gold im Wert von 60 Millionen Dollar. Ihr Ehering ist möglicherweise mit dem Blut von Kindersoldaten besudelt, die von den Warlords im Ostkongo entführt und versklavt wurden. Das ist eines von vielen Beispielen für die unbequeme Wahrheit, die sich hinter der Marktmatrix verbirgt. Wenn wir der Spur des Blutgoldes folgen, stoßen wir auf eine Wirtschaft, die unter der Schurkenökonomie leidet, aber ohne sie nicht überleben kann. »Das Gold aus dem Ostkongo wird an negociants verkauft, kleine Händler, die ständig in den Minen auftauchen«, erklärt Rico Carish, ein UN-Inspektor im Kongo. »Die Mittelsleute bringen das Gold nach Ituri; ein wichtiger Goldmarkt, der von den kongolesischen Warlords kontrolliert wird. Von Ituri wird das Gold nach Uganda geschmuggelt. Die Schmuggler arbeiten für ein mächtiges Joint Venture. Die Partner sind Warlords, die den Ostkongo kontrollieren, kongolesische Kaufleute und Handelsunternehmen mit Sitz in Kampala.«10 Zu diesen Unternehmen gehört auch die Firma Manchaga, der die Vereinten Nationen vorwerfen, sie stünde im Zentrum eines komplexen kriminellen Netzwerks. Manchaga betreibt Betrug im großen Stil; die Firma exportiert Gold im Auftrag kongolesischer Warlords, allerdings kommt es dabei zu keinem Geldtransfer. Stattdessen erhält das Unternehmen im Ausland Kredit in Form eines Schuldbriefs vom Käufer; offiziell wird der Kredit genutzt, um Produkte im Auftrag eines Manchaga-Kunden nach Uganda einzuführen. Beispielsweise kaufte Manchaga im Austausch für geschmuggeltes kongolesisches Gold 2004 Süßwaren und Schuhe von KenAfric, einer Firma mit Sitz in Nairobi. Für den Verkauf wurde vom Manchaga-Konto in Kampala Geld auf das Konto von KenAfric bei der City Bank in Nairobi überwiesen. Gleich nach Eintreffen
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der Ware wurde alles in den Kongo geschmuggelt. KenAfric und die City Bank hatten keine Ahnung, wer der eigentliche Importeur war oder wohin die Lieferung letztendlich ging. Sie wussten auch nicht, dass das Geld vom Handel mit geschmuggeltem Gold aus dem Kongo stammte. Sie hatten Manchaga vertraut, weil sie früher schon Geschäfte mit der Firma gemacht hatten. Handelsgesellschaften in Kampala spielen eine zentrale Rolle beim illegalen Goldhandel zur Finanzierung der Warlords, obwohl dieser gegen das UN-Embargo verstößt. Gleichzeitig hält das System der Schurkenwirtschaft eine ganze Region am Leben. Das geschmuggelte Gold ernährt die gesamte Bevölkerung, die im Ostkongo festsitzt, erklärt Rico Carish. Ohne diesen Handel könne die Bevölkerung nicht überleben. Die Warlords fungieren als Regierung in der Region: Sie erheben Steuern und Zölle auf alle Güter, die über die Grenzen kommen, doch sie bieten der Bevölkerung auch Arbeit. Ohne sie würden Millionen Menschen verhungern. Anders als im Film »Matrix« kann man die Marktmatrix nicht einfach umprogrammieren oder zerstören, ohne das Leben von Millionen Menschen zu beeinflussen. Damit sind wir bei der Herausforderung angelangt, die die Schurkenwirtschaft an uns stellt: Wie dämmt man diese Epidemie ein, bekämpft und besiegt sie ohne allzu große Verluste sowohl in instabilen Entwicklungsländern als auch in den Branchen, die von der Schurkenwirtschaft bereits kontaminiert sind?
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Die Herausforderung der modernen Sklaverei Die Sklaverei von heute reicht bis in unsere Kühlschränke. Vom Obst bis zum Fleisch, vom Zucker zum Kaffee, unsere Lebensmittel kommen mit Hilfe von Sklavenarbeit auf den Tisch. »Miguel«, ein mexikanischer Sklave, der von der Coalition of Immokalee Workers befreit wurde (einer Menschenrechtsorganisation in den USA), hat vielleicht die Äpfel geerntet, die der Durchschnittsamerikaner zum Frühstück isst. Miguel pflückte unter Bewachung Obst in den Staaten. Er war in Richtung »el Norte« gereist, um Geld für die Behandlung seines sechsjährigen krebskranken Sohnes zu verdienen; doch sein Arbeitgeber versklavte ihn. 11 Der Kakao, den wir trinken, während wir Zeitung lesen oder uns die Morgennachrichten im Fernsehen ansehen, stammt möglicherweise von der Elfenbeinküste, die die Hälfte des Weltmarktes beliefert. Kinder und Jugendliche aus noch ärmeren Nachbarländern wie Mali wandern den ganzen Weg zur Plantage und arbeiten dort für einen Hungerlohn. Oft landen sie als Sklaven auf abgelegenen Farmen. »Der neunzehnjährige Drissa war so ein Fall. Als er im Jahr 2000 befreit wurde, gewöhnte ihn sein Besitzer gerade an die Sklaverei und versuchte ihn zu >brechen<. Sein Rücken war vom Auspeitschen voller Narben und Wunden.« 12 Fast jedes Produkt, das wir konsumieren, hat eine dunkle Geschichte, die von Sklavenarbeit bis zur Piraterie, von der Fälschung bis zum Betrug, von Diebstahl bis Geldwäsche reicht. Über diese schmutzigen Geheimnisse wissen wir nur wenig, weil die modernen Verbraucher in der Marktmatrix leben, einem dichten Netz kommerzieller Illusionen. Wenn wir entdecken, dass der leckere Kakao, den wir trinken, von einer Plantage mit Sklavenarbeit stammt, denken
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wir vielleicht daran, Kakao von der Elfenbeinküste zu boykottieren. Aber dadurch kommen Tausende junge Sklaven wie Drissa auch nicht frei. Im Gegenteil, ihr Leben würde sich noch verschlimmern, außerdem kämen auch ehrliche Farmer zu Schaden. »Afrika ist wie ein Körper, der voller Parasiten ist. Man muss aufpassen, dass man nicht den ganzen Menschen tötet, nur um die Parasiten loszuwerden«, fasst Rico Carish zusammen. Millionen Menschen sind für ihr Überleben auf die parasitäre Wirtschaft angewiesen. Durch die Alternativen werden sie noch ärmer, sind womöglich sogar vom Tode bedroht. Mit einer Intervention des Westens erreicht man, selbst wenn sie gut gemeint ist, nur wenig. Oft haben westliche Firmen, die mit afrikanischen Waren handeln, keinen direkten Kontakt zu den Bauern. Der Handel erfolgt über einheimische Zwischenhändler, Mittelsmänner und Spediteure. Die Gewinne der Sklaverei werden am Farmtor eingesammelt, eine Praktik, bei der die Sklaven Bestandteil des Produkts sind. Oft wissen die Zwischenhändler gar nicht, dass die Güter mit Hilfe von Sklavenarbeit erzeugt wurden, oder es ist ihnen egal. Das erklärt, warum man der Sklaverei nicht beikommen kann, indem man einfach nichts mehr von der Elfenbeinküste importiert, denn damit würde man Tausende ehrliche Farmer und deren Familien in den Ruin treiben. Um etwas zu bewirken, müssen wir das Problem an der Wurzel packen, eine Aufgabe, die nur die Regierung und Behörden vor Ort bewältigen können. Leider ist in Afrika auch eine gute Regierung eine Seltenheit. Noch schockierender ist die Tatsache, dass die Sklaverei im 21. Jahrhundert weltweit boomt. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen wächst die Sklaverei in nie da gewesenem Ausmaß. In Zahlen ausgedrückt, sind 27 Millionen Men-
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schen versklavt, eine Generation von Sklaven, die laut Internationaler Arbeitsorganisation jährlich Gewinne von 31 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Der enorme Bevölkerungsanstieg und große Wanderbewegungen in Verbindung mit der Globalisierung gaben dem Sklavenhandel starken Auftrieb. »Die Zunahme der Sklaverei hängt mit der Globalisierung zusammen«, erläutert Kevin Bales, Autor von Ending Slavery: How We Will Free Today's Slaves. »Aber hier geht es nicht um Beschäftigte in Sweatshops, die miserable Löhne bekommen. Sklaven stehen unter der völligen, gewalttätigen Herrschaft eines anderen Menschen; sie werden wirtschaftlich ausgebeutet und bekommen gerade einmal so viel Essen und eine Unterkunft, damit sie am Leben bleiben. Die Millionen Opfer der modernen Sklaverei machen ähnlich leidvolle Erfahrungen wie die Sklaven vor Hunderten von Jahren.« 13 Das Wiederaufleben der Sklaverei schlägt sich auch auf die Preise nieder, sie sinken seit Jahrzehnten. Bates rechnete aus, dass der durchschnittliche Preis für einen Sklaven in den vergangenen 3000 Jahren in heutiger Währung zwischen 20 000 und 80 000 Dollar betrug, heute dagegen kann man Menschen für ein Zehntel der Summe kaufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg das Angebot an Arbeitssklaven massiv, die Preise für Sklavenarbeit verfielen. Ironischerweise war dieses Phänomen eine Folge der Entkolonialisierung, bei der die Besitzverhältnisse an den Sklaven von den Kolonialherren auf die Einheimischen übergingen. Die heutigen Sklaven werden nicht von Ausländern versklavt, sondern hauptsächlich von ihren Landsleuten. Wie andere Märkte funktioniert auch die Sklaverei nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Und das Angebot ist groß angesichts der Millionen Menschen, die von einem oder zwei Dollar am Tag leben müssen. Die Verbraucher sind dabei meist vollkommen ahnungs-
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los. Die Marktmatrix, ein Labyrinth voller Rauch und Spiegel, verbirgt die ausbeuterische Natur von Handel und Kommerz. In den Regalen der westlichen Supermärkte türmen sich Produkte aus Entwicklungsländern, und die Arbeiter, die sie herstellen, erhalten nur einen Bruchteil vom Endpreis. Falls sich die Verbraucher je Gedanken darüber machten, wären sie schockiert, zu erfahren, wer die Gewinne aus ihren täglichen Lebensmitteleinkäufen einstreicht.
Der Bananensplit und andere Mysterien im Supermarktregal Bananen sind die lukrativste Ware, die in britischen Supermärkten verkauft wird.14 Der gewaltige Gewinn bei Bananen splittet sich folgendermaßen auf: Fast die Hälfte (45 Prozent) geht an den Supermarkt, die Importeure erhalten 18 Prozent, die Firma, der die Plantage gehört, streicht 15,5 Prozent ein, und die Arbeiter auf der Plantage müssen sich mit 2,5 Prozent zufriedengeben. Seit 2002 tobt in Großbritannien ein erbitterter Preiskrieg bei Bananen. Im Ringen um einen höheren Marktanteil werden die Preise gedrückt. Asda und Tesco, Supermarktketten, die beide dem amerikanischen Giganten Wal-Mart gehören, sind ganz vorn mit dabei. Die Preise sanken von 1,08 Pfund im Jahr 2002 auf 74 Pence pro Kilo im Jahr 2004. Allerdings wirkten sich die Preissenkungen nicht auf den Gewinn der Supermärkte aus, weil sie durch Lohnkürzungen bei den Plantagenarbeitern ausgeglichen wurden. Action Aid,15 eine Wohltätigkeitsorganisation, die die Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern überwacht, ist der Ansicht, dass sich der Stundenlohn der Plantagenarbeiter in
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Costa Rica durch den Preiskrieg in Großbritannien halbierte. Costa Rica liefert jede vierte Banane, die in Großbritannien und Irland verzehrt wird. Heute verdienen die Arbeiter 33 Pence die Stunde und stehen unter solchem Druck, dass sie oft nicht einmal mit dem Pflücken aufhören dürfen, wenn Flugzeuge Pestizide auf die Bananenstauden sprühen. Die Verbraucher wissen auch nicht, dass sich in den Supermarktregalen zahlreiche Produkte finden, an denen die Tabakindustrie verdient, da diese in den letzten zwanzig Jahren ihre hohen Gewinne in die Lebensmittelindustrie investierte. Ein Londoner PR-Agent der Tabakindustrie, der aus offensichtlichen Gründen anonym bleiben will, fasst das außergewöhnliche Wachstum der Industrie seit dem Fall der Berliner Mauer zusammen: Trotz der Antiraucherkampagnen im Westen ist es nicht gelungen, den globalen Tabakverbrauch zu senken. Die Vorstellung, dass die Leute heute weniger rauchen als vor zwanzig Jahren, ist eine Illusion. Im Gegenteil, seit Anfang der neunziger Jahre sind die westlichen Tabakkonzerne reicher als die Ölgesellschaften, weil Zigaretten das ultimative »Konsumgut« sind. Während der Ölverbrauch funktional ist, wird der Zigarettenkonsum von Gier und Verlangen bestimmt. Das kann man nicht übertreffen! Wir vergleichen den wachsenden Konsum von Öl und Zigaretten auf nationaler Ebene und haben dabei festgestellt, dass der Konsum von Zigaretten schneller wächst. Der enorme Umsatzsprung der westlichen Tabakkonzerne basiert auf der Durchdringung der osteuropäischen und asiatischen Märkte. Winston ist zum Beispiel die meistverkaufte Zigarettenmarke in Russland. Unter der Sowjetherrschaft waren diese Märkte unerreichbar. In den letzten Jah-
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ren war das Wachstum außergewöhnlich, was vor allem an den jüngeren Generationen und dem chinesischen Markt lag. Zwischen 2003 und 2005 stieg beispielsweise der Gesamtabsatz von Philip Morris von vierzig auf siebzig Milliarden Zigaretten, und das ist dem osteuropäischen und asiatischen Markt zu verdanken. Die meistverkaufte Marke von Philip Morris ist Marlboro. 2005 machte der Konzern 4,6 Milliarden Dollar Gewinn in den USA und 7,8 Milliarden Dollar international, das ist mehr als das Bruttoinlandsprodukt eines kleinen Landes. Dieses Phänomen lässt sich mit einfachen quantitativen wirtschaftlichen Prinzipien erklären. In Asien leben so viel mehr Menschen, dass der Rückgang des Zigarettenkonsums um 30 Prozent im Westen ganz einfach mit einer Steigerung um 2 Prozent auf dem asiatischen Markt wettgemacht werden kann. Wer das verstanden hat, kann Milliarden verdienen. Der Konzern Japanese Tobacco International zum Beispiel, der die Rechte am Verkauf verschiedener westlicher Marken in der übrigen Welt besitzt, ist eines der am schnellsten wachsenden Unternehmen weltweit.16 Die Tabakindustrie hat die enormen Gewinne, die seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa aufgrund der weltweiten Nachfrage nach Zigaretten erwirtschaftet wurden, den westlichen Verbrauchern verheimlicht. So stand etwa die Altria Group, eine Holdinggesellschaft mit Sitz in New York, 2005 an zehnter Stelle bei den gewinnbringendsten Unternehmen Amerikas. »Sie hieß früher Philip Morris, der Name steht immer noch für zwei Holdings, für Philip Morris USA und Philip Morris International. Dem Unternehmen gehört auch Kraft Foods.«17
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Wenn Zigaretten im Westen vollkommen verboten worden wären, hätten die Regierungen eine der lukrativsten Branchen weltweit lahmgelegt. »Ende der neunziger Jahre gab es in den USA mehrere Prozesse, der Druck der AntiKrebs-Gruppen und anderer Lobbys stieg und bedrohte das Überleben der amerikanischen Tabakindustrie«, bemerkt der Londoner PR-Agent. Der Ernährungswissenschaftler Dr. James Kenney, Leiter der Abteilung Lebensmittelforschung und Ausbilder am Pritikin Longevity Center & Spa in Florida, fügt hinzu, dass die Food and Drug Administration sich mit Lebensmitteln und Medikamenten befasst, sich aber auch um Tabak kümmern solle, der schließlich Nikotin enthalte. »Aber das macht die FDA nicht. Warum? Wenn die FDA Vorschriften für Tabak erließe, müsste sie ihn verbieten!«18 Der bereits zitierte Londoner PR-Experte erklärt, wie es die Tabakindustrie schaffte, zu überleben: Ende der neunziger Jahre gab es geheime Verhandlungen auf höchster Ebene, bei denen ein Kompromiss erreicht wurde. Die Industrie erklärte sich mit mehreren Bedingungen einverstanden, unter anderem, dass sie über einen Zeitraum von 25 Jahren über 350 Milliarden Dollar an die US-Bundesstaaten zahlen würde, und ein Teil des Geldes sollte für Antiraucherkampagnen verwendet werden. Die Industrie wusste jedoch, dass die Kampagnen ihrem wichtigsten Absatzmarkt nichts anhaben konnten: Osteuropa und Asien. Egal, wie nachdrücklich man warnt, »Rauchen kann tödlich sein«, die Leute werden weiter rauchen. Heute stirbt jeder zweite Langzeitraucher an Lungenkrebs, Herzerkrankungen oder anderen durch Tabakkonsum hervorgerufenen Krankheiten. Der Anteil der Konsumenten har-
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ter Drogen, die an einer Überdosis sterben, ist viel geringer, dennoch ist Tabak legal, und harte Drogen sind verboten. Die Tabakhersteller verdienen mit, wenn wir Kraft-Käse im Supermarkt kaufen, doch das Labyrinth aus Rauch und Spiegeln der Marktmatrix verhüllt noch dunklere Geheimnisse: todbringende Lebensmittel.
Lebensmittelillusionen Als ich klein war, erzählte mir meine Großmutter oft Geschichten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Diese Erzählungen endeten immer mit dem gleichen Fazit: »Wir mussten im Großen Krieg [dem Zweiten Weltkrieg] weniger hungern, weil wir auf einem Bauernhof lebten.« Die Generation meiner Großmutter hatte noch Hungersnöte erlebt, Menschen verhungerten oder fielen wegen Unterernährung Krankheiten wie Tuberkulose und Anämie zum Opfer. Essen war überall ein Luxusgut, auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In Großbritannien wurde die Rationierung von Zucker erst Anfang der fünfziger Jahre aufgehoben. Heute wirken die Erinnerungen meiner Großmutter wie aus einer anderen Welt, obwohl sie doch nur einige Generationen zurückliegen. Ironischerweise stehen die Europäer mittlerweile vor dem entgegengesetzten Problem: Sie essen zu viel und sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes; Krankheiten, die durch falsche Ernährung hervorgerufen werden. In den USA ist die Situation noch schlimmer. Eine neue Todesursache, die Fettleibigkeit, hat Tabak als Nummer eins bei den Gründen für einen vermeidbaren Tod eingeholt. Etwa 400 000 Todesfälle im Jahr, also insgesamt 16 Prozent bei den Todesursachen in den USA, sind auf Fettleibigkeit zurückzu-
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führen. Laut einer Erhebung des United States Surgeon General and Centers for Disease Control (CDC) sind ungefähr zwei Drittel der Amerikaner ihr ganzes Leben lang übergewichtig. Ironischerweise nahm die Epidemie Ende der siebziger Jahre ihren Anfang, als die Amerikaner begannen, auf ihre Figur zu achten. In der Zeit vom Ende der siebziger Jahre bis 2006 stieg die Fettleibigkeit von 12 auf 25 Prozent; heute ist ein Viertel aller Amerikaner fettleibig. Im angesprochenen Zeitraum gab es zwei wesentliche Veränderungen: die Verwendung von Maissirup (High Fructose Corn Syrup [HFCS]) als kalorienreiches Süßungsmittel und der »Kampf um die schlanke Linie«. Maissirup ist billiger als Zucker. In den USA wird Mais immer noch in großen Mengen angebaut und subventioniert. Der Einsatz von Maissirup in der Nahrungsmittelindustrie senkte die Produktionskosten, wodurch auch die Lebensmittelpreise sanken und die Verbraucher mehr kaufen konnten. Ende der siebziger Jahre markierte der Kampf gegen Fett das Aufkommen der fettarmen Ernährung. Fett wurde systematisch entfernt und durch Kohlenhydrate ersetzt, die kalorienreich sind und eigentlich auch für eine Gewichtszunahme sorgen. »Bauern wissen seit Jahrtausenden, dass man Tiere mästet, indem man sie mit Getreide füttert und ihnen nicht zu viel Bewegung verschafft, und nun zeigt sich, dass das auch für Menschen gilt.«19 Der Großteil fettreduzierter Lebensmittel im Supermarkt ist reich an Kohlenhydraten. Das führt sogar so weit, dass der Kaloriengehalt der fettreduzierten Variante bei vielen Lebensmitteln höher ist als der des normalen Produkts. »Das beste Beispiel ist das >Snackwell-Phänomen<«, erklärt Marion Nestle, Leiterin der Abteilung für Ernährungswissenschaften und Gesundheit an der New York University.20 »Snackwell Cookies wurden als fettarme Kekse beworben, sie
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waren jedoch fast genauso kalorienreich wie normale Kekse. Und wenn man heute in den Laden geht und sich beispielsweise Kekse der Marke Oreo ansieht, findet man eine fettreduzierte Variante, die, soweit ich weiß, sechs Kalorien weniger hat als die normalen Oreo-Kekse. Sie enthalten zwar weniger Fett, aber mehr Kohlenhydrate.« Vergleichen Sie doch einmal bei Ihrem nächsten Einkauf die Kalorienzahl bei der fettreduzierten und der normalen Variante eines Produkts. Sie werden staunen, wie gering der Unterschied ist. In den achtziger und neunziger Jahren wurden die Amerikaner auf »mysteriöse« Weise immer dicker, obwohl der Anteil an Fett in ihrer Ernährung von 40 auf 34 Prozent sank. Das Geheimnis lässt sich jedoch leicht lüften: Sie nahmen zu, weil sie mehr aßen und auch mehr Kalorien aufnahmen. Die Folgen der Illusion von der fettarmen Ernährung sind jedoch gravierend. »In den siebziger Jahren gab es fünf Millionen Amerikaner mit Diabetes. Heute leiden über zwanzig Millionen darunter. Die Bevölkerungszahlen haben sich in dieser Zeit knapp verdoppelt, doch die Zahl der Diabeteskranken hat sich mehr als vervierfacht«, erklärt Dr. James J. Kenney. Noch schockierender ist die Tatsache, dass Diabetes vom Typ II, die früher »Altersdiabetes« genannt wurde, heutzutage bei übergewichtigen Kindern weit verbreitet ist. Ärzte sind überzeugt, dass die Erkrankung auf die zunehmende Fettleibigkeit bei Kindern zurückzuführen ist. »In den Jahren 2001/02 waren in den USA 31 Prozent der Sechs- bis Neunzehnjährigen übergewichtig und 16 Prozent fettleibig. Zum Vergleich: 1965 waren nur 5 Prozent fettleibig«, erklärt Valerio Nobili, Kinderarzt am Ospedale Bambin Gesú in Rom. 21 Nach Auskunft von Leberspezialisten ist Fettleibigkeit die Ursache für eine neue Epidemie bei Kindern, einen außergewöhnlichen Anstieg der nichtalkoholischen Fettlebererkran-
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kung (NAFLD). »Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen NAFLD und einem erhöhten Body-Mass-Index bei sehr jungen Menschen. Bei Kindern beträgt die Häufigkeit von NAFLD 2,6 Prozent, bei fettleibigen Kindern sind es dagegen 53 Prozent«, berichtet Nobili. »In den letzten vierzig Jahren hat die Fettleibigkeit bei Kleinkindern drastisch zugenommen. Der Anstieg bei den Vorschulkindern ist besonders in den USA besorgniserregend, doch auch für Australien und Europa werden ähnliche Zahlen gemeldet. Aktuellen Schätzungen zufolge beträgt die Zahl der fettleibigen Kinder weltweit über zwanzig Millionen. Weil die Kinder immer dicker werden, muss man davon ausgehen, dass NAFLD eine der häufigsten Ursachen für Lebererkrankungen im Endstadium bei Kindern und jungen Erwachsenen sein wird.« Wir erliegen der Illusion, dass bestimmte Lebensmittel mit niedrigem oder gar keinem Fettgehalt gesund für uns sind. Ein typisches Beispiel sind Dosensuppen. »Wenn man abnehmen will, greift man zu Suppen, weil Suppen wenig Kalorien haben, weder Fett noch Zucker enthalten. Aber sie enthalten viel Salz. Die meisten Dosensuppen haben sogar einen ähnlich hohen Salzgehalt wie Meerwasser«, erklärt ein amerikanischer Arzt und Ernährungsspezialist, der anonym bleiben will.22 »Wenn man einen hohen Blutdruck bekommen will, sollte man diese Suppen essen. Sie sind im Grunde nur Salzwasser mit ein paar Nudeln aus Weißmehl oder ein bisschen weißem Reis drin, etwas Fleischgeschmack und ein paar winzigen Gemüseschnipseln. Der Anteil an gesunden Lebensmitteln ist unerheblich. Der Verzehr einer solchen Suppe lässt sich eigentlich nicht begründen.« Laut Dr. Kenney sind Salz, Zucker und Fett die »Matrixagenten« der Lebensmittelindustrie. »Sie schaden unserer Gesundheit- verursachen Bluthochdruck, einen erhöhten
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Cholesterinspiegel, Diabetes und so weiter -, aber sie geben dem Essen Geschmack, und das ist den meisten Menschen am wichtigsten. Und die Lebensmittelindustrie hat Mittel und Wege gefunden, gegen die Forschung vorzugehen, die zeigt, wie gefährlich diese Bestandteile sind.« So gründete etwa Campbell's (in Deutschland über die Marke Erasco vertreten) das Salt Institute, das Ratschläge gibt, ob Salz wirklich so schädlich ist oder nicht. 23 Aber Salz ist nun einmal schädlich, daran besteht kein Zweifel. »Salz tötet weltweit mehr Menschen als Tabak«, erläutert Dr. Kenney. »Fast jeder isst zu viel Salz, aber nicht jeder raucht; 90 Prozent der Europäer und Amerikaner bekommen irgendwann einen zu hohen Blutdruck. Der Mensch braucht kein Salz im Essen. Wenn man sich Tiere ansieht oder Menschen, die noch als Jäger und Sammler leben, stellt man fest, dass sie kein Salz essen und keinen hohen Blutdruck haben.« Der Mensch glaubt fälschlicherweise, die moderne Medizin könne ihn vor den wichtigsten Todesursachen wie HerzKreislauf-Erkrankungen schützen. Ein Beispiel ist die Angioplastie zur Erweiterung oder Öffnung verengter Blutgefäße, so Dr. Kenney: Alle halten das Verfahren für großartig, und in den USA werden jedes Jahr Millionen Operationen dieser Art durchgeführt. Aber die neuere Forschung hat gezeigt, dass es keinen Unterschied zwischen Operierten und Nichtoperierten gibt- die Wahrscheinlichkeit, an einem Herzinfarkt zu sterben, ist bei den Operierten nicht geringer. Dennoch vermitteln Ärzte den Patienten den Eindruck, sie seien nach der Operation geheilt; aber das ist eine reine Illusion. Man könnte hier vom amerikanischen Modell sprechen: Man macht die Leute krank mit Lebensmitteln, die sie gern es-
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sen, und dann behandelt man sie mit Medikamenten und Operationen. Das alles ist sehr gut für das Bruttoinlandsprodukt, weil viele Unternehmen daran verdienen. In der modernen Konsumwelt wimmelt es von Illusionen. Die Marktmatrix hat unseren Alltag vereinnahmt, und diese Illusionen der Wirtschaftswelt können uns versklaven, beherrschen und unserem Leben schließlich auch ein Ende machen. Von morgens bis abends bewegen wir uns in einer Welt, in der kaum etwas real, aber vieles ganz anders ist als das, für das wir es halten. Entgegen der allgemeinen Annahme bilden die Globalisierung und der Aufstieg der Konzerne nicht die Grundlage der Marktmatrix. Die Unternehmen sitzen ebenso in der Falle wie die Konsumenten, was der Verkauf des gefälschten Medikaments Lipitor in Großbritannien zeigt. Die Marktmatrix ist das Produkt eines viel mächtigeren Phänomens: der Schurkenwirtschaft. Gleichzeitig ist die Marktmatrix ein Vektor für die Verbreitung skrupelloser Geschäftsmodelle. Noch nie verfügten die finsteren Mächte der Marktwirtschaft über ein derart mächtiges Werkzeug. Wie im Film »Matrix« ist der Cyberspace heute der Ort, wo die meisten kommerziellen Illusionen hergestellt, gehandelt, wieder erschaffen und auch vermarktet werden. Und im Cyberspace wird auch die kollektive Verantwortung der Verbraucher an der Entstehung und Erhaltung der Marktmatrix deutlich. Bislang bilden die synthetischen und künstlichen Welten die stärksten und am weitesten entwickelten wirtschaftlichen Kolonien.
KAPITEL
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Hightech - ein zweifelhafter Segen?
Das wichtigste Geschäft im Internet ist die Pornographie, gefolgt vom
Glücksspiel,
und
an dritter Stelle steht die Kinderpornographie. Daran besteht kein Zweifel. Ivan, ein italienischer Devisenhändler für e-gold
Mit fünfzehn Jahren sitzt XXX 1 zehn bis zwölf Stunden vor dem Computer und kämpft online gegen Cybermonster. Er ist ein chinesischer Goldfarmer, und Goldmünzen sind seine wertvollste Ernte. Goldmünzen sind das Tauschmittel im »Spielereich«, die Spielwährungen im Reich der Massive Multiplayer Online Games (MMOs) wie EverQuest und World of Warcraft.2 Um Zugang zu dieser virtuellen Kriegszone zu erhalten, müssen die angehenden Online-Spieler für ein Abonnement bezahlen, erst dann dürfen ihre Avatare, die virtuellen Krieger, in die Cyberlandschaften aufbrechen und phantastische Schlachten schlagen. Die Spieler bewegen sich von einem Konflikt zum nächsten und müssen immer größere Herausforderungen auf nie endenden höheren Levels der virtuellen Kriegführung meistern. Um im Spiel zu bleiben, ist eine bestimmte Ausrüstung unverzichtbar- Waffen, Rüstung, Kriegsgerät und Kampfmanöver. Die Ausrüstung muss man kaufen, und dazu brauchen die über hundert Millionen Abonnenten, die sich jeden
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Monat ins Spielereich einloggen, Goldmünzen. Das Spielgeld verdient man sich im Spiel, allerdings braucht man dafür Geschick und Zeit, und die meisten Spieler haben wenig Zeit und können sich nicht viele Fähigkeiten aneignen. Da die Mehrheit der Spieler regelrecht süchtig ist und alles tut, um weiterzuspielen, greifen viele auf den Schwarzmarkt zurück und kaufen sich Goldmünzen von Goldfarmern. »Wenn ein Spieler wochenlang in einem Tal feststeckt und gegen die gleichen Ungeheuer kämpft, kann das sehr frustrierend sein. Um weiterzukommen, braucht er eine neue Waffe, einen neuen Kampftrick, daher ist es verständlich, dass er bereit ist, echtes Geld dafür zu bezahlen«, erklärt XXX. Frustrierte Spieler bieten alles, damit sie im Spiel weiterkommen. »Einer hat mir eine E-Mail geschickt: >Hey, ich habe kein Geld, aber ich will viel Gold bei dir kaufen. Ich war mal verlobt und habe einen Wahnsinnsring. Er ist 2000 Dollar wert. Würdest du ihn gegen Gold eintauschen?< Ich mache dann: >Hhmmm... lass mal überlegen...< Für die Goldmünzen brauche ich zwei Sekunden. Ich habe den Ring schätzen lassen. Er war echt«, berichtet ein anderer Goldfarmer.3 Die Folge des boomenden Schwarzmarkts für Goldmünzen ist Sucht, weil die Spieler einfach nicht genug von den MMOs bekommen. Sie haben viel mit zwanghaften Spielern gemeinsam. »Da wird das gleiche Belohnungszentrum im Gehirn angesprochen- das Dopaminsystem. Diese Spiele weisen sämtliche Bestandteile auf, die süchtig machen können.« 4 Smith & Jones, eine Drogenberatung mit Sitz in den Niederlanden, behandelt die Abkehr von MMOs sogar mit Methoden, die man aus dem Drogenentzug kennt, weil der Verzicht auf das Spielen dem Entzug bei einer körperlichen Abhängigkeit von Substanzen ähnelt. Goldfarmer wie XXX sind Teil eines boomenden illegalen
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Wirtschaftszweigs. Die Betreiber der Online-Spiele verbieten den Verkauf der Spielwährungen, wie in den Nutzungsbedingungen eindeutig vermerkt ist. Goldfarmer sind professionelle Spieler, dabei sollen im Reich der Spiele Amateure unterhalten werden. Der Schwarzmarkt treibt die virtuellen Preise für die Spielausrüstung in die Höhe und zwingt die Spieleanbieter, ständig neue, raffiniertere virtuelle Ebenen anzubieten, also das Spieluniversum schneller zu vergrößern als geplant. »Wir helfen den Spielern, das Top-Level zu erreichen, das derzeit bei Level 70 liegt«, erklärt XXX. »Dort angelangt, wollen sie etwas Neues, das ihnen mehr abverlangt.« Doch so edelmütig sind die Goldfarmer nun auch wieder nicht, sie wollen nicht den Spielern helfen, sondern Geld verdienen. Mit der wachsenden Beliebtheit der Spiele werden Goldfarmen immer lukrativer. Bei DFC Intelligence, einem Forschungszentrum für Online-Spiele in San Diego, schätzt man, dass im Jahr 2005 mit über zwölf Millionen Spielern in den USA 3,4 Milliarden Dollar erwirtschaftet wurden; bis zum Jahr 2011 rechnet das Unternehmen mit Bruttoeinnahmen in Höhe von 13 Milliarden Dollar.5 Vor diesem Hintergrund sind Goldfarmen eine ausgezeichnete Geschäftsidee. So erwirtschaftete etwa das Spielekartell von Smooth Criminal, ein Netzwerk chinesischer und indonesischer Online-Sweatshops, das einem dreißigjährigen chinesischen Programmierer gehört, 1,5 Millionen Dollar mit gewonnenen Schlachten bei Star Wars Galaxies.6 Doch dieser Markt beutet die Spieler aus und wird förmlich überrannt von Unternehmern und Firmen, die von der Billigarbeit in Asien und Osteuropa profitieren. Wieder einmal ist China das Epizentrum des Schwarzmarktes für Spielwährungen. In alten Flugzeughangars und verlassenen Lagerhäu-
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sern sitzt eine Armee von Chinesen, die ihr Leben damit verbringen, im Online-Sweatshop Gold zu erwirtschaften. XXX arbeitet in einem dieser Läden. Dank seiner Fähigkeiten verdient er 200 Dollar im Monat, oft kann der Lohn eines Goldfarmers jedoch auf gerade einmal 25 Cent die Stunde sinken. Die Konkurrenz ist groß, vor allem in China, wo es zahlreiche billige Profis gibt, außerdem profitiert die Branche natürlich von der Laisser-faire-Haltung der Regierung gegenüber jeder wirtschaftlichen Tätigkeit. Diesen illegalen Handel zu unterbinden ist nahezu unmöglich. Der Schwarzmarkt operiert in der virtuellen Welt, wo es keine Vorschriften gibt und Geheimhaltung automatisch dazugehört. Die Spiele-Sweatshops verbergen ihre Identität und beschäftigen Hacker, mit deren Hilfe sie den Behörden aus dem Weg gehen und »automatische Schlüsseleinstellungen schaffen, um die Gewinne zu schützen«.7 Trotz harter Strafen und der Schließung Tausender Konten durch die Online-Spiele-Betreiber boomt der Schwarzmarkt weiter. Als Sony 2006 beschloss, einen eigenen sekundären Markt zu eröffnen und so das Wachstum des illegalen einzuschränken, verzeichnete das Unternehmen in nicht einmal einem Monat über 180 000 Transaktionen. Die Nachfrage nach Goldmünzen zur Anschaffung neuer Ausrüstungsgegenstände für das Spiel steigt kontinuierlich, da immer mehr neue Spieler hinzukommen. Zum Start von World of Warcraft im November 2004 verkaufte der Betreiber Blizzard 250 000 Abonnements, woraufhin prompt der Server zusammenbrach. 2006 hatte das Spiel acht Millionen Abonnenten. Die Nachfrage nach Ausrüstung schnellt in die Höhe, wenn ältere Spieler (oft mit Hilfe der Goldfarmer) anspruchsvollere Levels erreichen. Allein der Umsatz bei der Spielausrüstung (von Rüstungen bis zum Kriegsgerät) über-
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steigt jährlich eine Milliarde Dollar, eine Zahl, die sich nach Einschätzung von Experten schon bald vervierfachen wird, da frustrierte Spieler immer mehr Geld für ihre Ausstattung ausgeben. »Wenn man eine Stadt oder eine große Burg [gebaut] hat, braucht man jede Woche buchstäblich Hunderte Millionen Goldmünzen [um sie zu halten].«8 Der Zugang zum illegalen Markt ist einfach; von eBay bis zu Underground-Websites werden überall Goldmünzen und Ausrüstungsgegenstände angeboten. Laut Edward Catranova, außerordentlicher Professor für Telekommunikation an der University of Indiana, bieten legale Auktionssites wie eBay »jährlich Artikel im Wert von 30 Millionen Dollar an, die nur in synthetischen Welten existieren - Zauberstäbe, Spielgeld, Raumschiffe, Rüstungen-, und sind damit [weltweit] der größte Devisenmarkt für synthetisches Geld«.9 Es gibt sogar Unternehmen wie die Firma Ucdao.com in Shanghai, die maßgeschneiderte Dienstleistungen für Spielsüchtige bieten und die Wünsche der Kunden nach bestimmten Ausrüstungsgegenständen mit professionellen Spielern erfüllen, die sich auf das Spiel spezialisiert haben.
Online-Piraterie China ist der größte Markt für Online-Spiele. Laut aktuellen Schätzungen der chinesischen Regierung gibt es in China 24 Millionen Video-Game-Spieler; etwa jeder vierte chinesische Internetnutzer ist ein Spieler.10 China ist auch der Drehund Angelpunkt der Online- und Software-Piraterie. In der Thieves Alley verkaufen die Läden die verschiedensten Software-Kopien zum Schnäppchenpreis, oft sogar vor dem angekündigten Erscheinungstermin. So war beispielsweise das
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Sony-PlayStation-Spiel »Rule of Rose« schon vor dem offiziellen Erscheinungsdatum im November 2007 zu haben. In den USA brachte Sony das Spiel aufgrund angeblicher »lesbischer und sadomasochistischer Untertöne« zunächst nicht in den Verkauf, in Deutschland und anderen EU-Ländern nur mit Altersbeschränkung (ab achtzehn).11 Der Avatar des Spielers ist ein Mädchen im Teenageralter, das bei seinen Ausbruchsversuchen aus dem Waisenhaus wiederholt verprügelt und gedemütigt wird. »Sie wird gefesselt, geknebelt, mit Alkohol betäubt, lebendig begraben und in den >Filth Room< geworfen.«12 Die Käufer umgingen jedoch das Verbot und besorgten sich »Rule of Rose« über das Internet von chinesischen Anbietern. Chinesische Software-Piraten prahlen, sie hätten den globalen Software-Schwarzmarkt fest im Griff. Der Verkauf von Computerspielen ist ein gutes Geschäft, der Jahresumsatz ist noch höher als bei Online-Spielen; 2006 lag er bei 17 Milliarden Dollar. Experten schätzen, dass sich der Umsatz auf dem US-Markt, der größte Markt weltweit, bis 2008 verdoppelt und 15 Milliarden Dollar erreicht. Die Thieves Alley ist quasi das Königreich der kopierten virtuellen Produkte. Für ein paar hundert Dollar wird praktisch alles einschließlich der Seriennummer kopiert. Programmierer weisen darauf hin, dass der größte Pirat nach wie vor die chinesische Regierung sei, die ihre Produkte nicht nur in der Thieves Alley kauft, sondern auch alles andere kopiert, von Computergehäusen bis zu Sprengköpfen.13 Chinas pathologischer Hang zum Recycling und seine Gleichgültigkeit gegenüber geistigem Eigentum bilden die kulturelle Grundlage für die Infrastruktur, die die chinesische Kopierindustrie nutzt. Die chinesische Gesellschaft begrüßt Hightech-Fälschungen als wichtigen Schritt nach vorn und
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Teil des Modernisierungsprozesses. Die Geldwäsche ist einer dieser Fortschritte. So ist beispielsweise Smooth Criminal ein Meister bei der Wäsche illegal erworbener virtueller Goldmünzen. Er benutzt drei Konten: ein falsches Konto, ein Filterkonto und ein Lieferkonto. Jedes Konto wird mit einem anderen IP (Internet Protocol, einer vierstelligen Kennzahl), unterschiedlichen Kreditkarten und Computern eingerichtet.14 Nach Abschluss der Operation sind die Münzen sauber; dem Anschein nach wurden sie von einem ganz normalen registrierten Spieler erworben. Das Spielgeld wird dann an einen Großhändler verkauft, zum Beispiel an die Firma IGE (Internet Gaming Entertainment), die mit dem Geld auf dem sekundären Markt handeln darf.15 Das Volumen der illegalen Geschäfte hat so rasch zugenommen, und die Geldwäschetricks sind so raffiniert, dass die Großhändler die Herkunft der Münzen unmöglich ermitteln können. Sie sind den illegalen Händlern ausgeliefert. Großhändler kaufen Spielgeld mit elektronischer Währung (E-Currency). Ohne sie könnte der Cyberspace nicht funktionieren.
Elektronische Währungen Im Cyberspace hat man es zwar mit künstlich geschaffenen Welten zu tun, doch deren Wirtschaft ist real. Als Zahlungsmittel fungiert Geld, dessen Wert die »zugrunde liegenden Bedingungen bei Knappheit spiegelt, die wir mit Hilfe des Geldes als Maßeinheit berechnen können«. 16 Auch im Cyberspace gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage, das die Preise festlegt wie in der realen Welt, nur werden die Preise in elektronischen Währungen ausgedrückt. Die virtuellen
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Zahlungsmittel haben einen realen Wert, weil Händler sie jederzeit in echte Währungen umtauschen können. Zu Beginn der Internetära entstanden E-Währungen, weil man sie für die Online-Spiel- und Pornoindustrie brauchte. Im Grunde wurde dabei das Prinzip der »Freelosophy«, des freien Internetzugangs, ausgenutzt, um die Gesetze der realen Welt zu umgehen. »Es gibt eine Kodenummer, die von Kreditkarten bei jeder Transaktion gelesen wird. Bei Restaurants ist es 321, bei Tankstellen 496. Online-Casinos haben einen eigenen Kode, die 777. Wenn man beispielsweise versucht, in den USA eine Transaktion mit dieser Kodenummer abzuschließen, wird sie automatisch von Visa oder MasterCard blockiert, die Behörden werden alarmiert, und innerhalb weniger Minuten steht die Polizei vor der Tür«, erklärt Ivan, ein italienischer Devisenhändler für E-Währungen. »E-Währungen wurden geschaffen, um dieses Problem zu umgehen, denn sie lassen sich nicht zurückverfolgen. Es funktioniert ganz einfach. Man eröffnet ein elektronisches Konto und überweist darauf mit Hilfe der Kreditkarte Geld. Die beliebtesten elektronischen Zahlungssysteme sind PayPal, Neteller und e-gold.« Elektronische Währungen sind ein Produkt der Globalisierung und der neuen Technologie. Peter Thiel, ein ehemaliger Finanzmanager, rief PayPal Ende 1998 ins Leben. Er und eine Gruppe Freunde von der Stanford University gründeten Confinity, die Holdinggesellschaft von PayPal. Peter Thiel finanzierte den Informatiker Max Levchin, der erkannt hatte, dass Bedarf für eine Software bestand, die den elektronischen Transfer von Zahlungen ermöglichte. Schnell zeigten auch andere Investoren Interesse, darunter die Firma Nokia Ventures, die 3 Millionen Dollar investierte, und die Deutsche Bank, die 1,5 Millionen Dollar beisteuerte. Nach dem Start
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im November 1999 zog Confinity weitere Geldgeber an, darunter die Investmentbank Goldman Sachs, die PayPal.com mit 23 Millionen Dollar unterstützte. Aufgrund der rasanten Ausbreitung des Internets hatte PayPal schon bald 1,5 Millionen Kontoinhaber, auf deren Konten 2 Millionen Dollar am Tag bewegt wurden. Nach Aussage verschiedener E-CurrencyDealer basierte das bemerkenswerte Wachstum von PayPal in erster Linie auf Kunden, die das Zahlungssystem im Zusammenhang mit Internetpornographie und Online-Casinos nutzten. Dank des schnellen Erfolgs machte eBay PayPal zu seinem Online-Bezahldienst erster Wahl. Durch die Verwendung von PayPal versuchte eBay auch, illegale Transaktionen auf seiner Site zu unterbinden. Bei PayPal mussten die Konteninhaber Angaben zu ihrer Kreditkarte und Identität machen, die Daten wurden in einer sicheren Datenbank gespeichert. Später fusionierte PayPal mit X.com, einer Online-Bank, die von Elon Musk gegründet worden war, zum weltweit größten sicheren elektronischen Zahlungssystem. Der Name »PayPal« blieb, obwohl X.com offiziell als Muttergesellschaft fungierte. Anfang 2002 ging PayPal an die Börse und erreichte einen Marktwert von 900 Millionen Dollar. Im Juli 2002 hatte PayPal sechzehn Millionen Konteninhaber, die jeden Tag 295 000 Transaktionen abwickelten. Im Oktober 2002 kaufte eBay PayPal für 1,5 Milliarden Dollar.17 Ende 2006 hatte PayPal etwa hundert Millionen Konteninhaber weltweit und konnte in 103 Ländern genutzt werden.18 Anders als bei PayPal können die Kunden von e-gold ihre Anonymität wahren. »Sie können Ihr Konto unter jedem beliebigen Namen führen und irgendeine Adresse angeben«, erklärt Ivan, e-gold ist eine digitale Goldwährung, die von egold Ltd. ausgegeben wird, einer Offshore-Firma mit Sitz auf
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der Insel Nevis der Kleinen Antillen. Sie wurde 1996 von dem Arzt Douglas Jackson und dem Rechtsanwalt Barry K. Downey gegründet und ermöglicht einen sofortigen Goldtransfer zwischen den Nutzern. Oder wie es das Unternehmen formuliert: e-gold ist in ein auf Konten basierendes Zahlungssystem integriert, das es den Nutzern ermöglicht, Gold als Währung zu verwenden. Insbesondere können Nutzer über das e-gold-System bestimmte Goldmengen auf andere e-goldKonten überweisen. Dabei ändert sich nur der Eigentümer das Gold bleibt im Tresor.«19 Der Unterschied zwischen PayPal und e-gold besteht darin, dass e-gold für Nutzer attraktiv ist, die anonym bleiben wollen. »Niemand überprüft die persönlichen Angaben. Man bekommt ein 100 Prozent anonymes Bankkonto. Wenn man auf diesem Konto Geld deponieren will, braucht man anders als bei PayPal keine Kreditkarte. Sie müssen nur einen der zehn bis fünfzehn e-gold-Devisenhändler kontaktieren«, erklärt Ivan: Ich bin einer von ihnen. Wenn Sie sich also registriert haben, wenden Sie sich an mich und bitten um eine Einzahlung auf Ihr Konto. Aber da ich weiß, wie viele Betrüger es gibt, überprüfe ich Ihre ganzen persönlichen Angaben. Wenn sich Nigerianer oder Ukrainer an mich wenden, lehne ich normalerweise ab. Pech für sie, aber die meisten Betrüger kommen von dort. Nach der Überprüfung der persönlichen Daten habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, nach dem Grund für die Eröffnung des e-goldKontos zu fragen. Wenn mich die Angaben nicht überzeugen, wenn mir der Kunde ausweicht oder sich weigert, Gründe zu nennen, zahle ich nichts auf das Konto ein und sage ihm, er soll sich an einen anderen Händler wenden.
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Wenn ein deutscher oder belgischer Kunde zu mir kommt, lehne ich sofort ab. Ich weiß aus Erfahrung, dass sie meistens Zugang zu Websites mit Kinderpornographie haben wollen. Wenn ich die Angaben überprüft habe, kann der Kunde mir das Geld, das er auf sein Konto einzahlen will, per Western Union oder per Banküberweisung schicken. 15 Prozent der Summe gehen dabei jedes Mal an mich. Aber wenn Sie eine Transaktion vornehmen wollen, etwa einem Programmierer in Pakistan Geld überweisen, dauert es nur ein paar Sekunden und kostet gerade einmal 50 Cent. E-Währungen werden oft für Online-Glücksspiele genutzt. Tausende Amerikaner verspielen von zu Hause oder vom Büro aus illegal ihre Ersparnisse bei 888.com oder Intercasino. 888.com ist das größte Online-Casino der Welt, wieder mit einem Firmensitz im Ausland, wo der Großteil der Online-Casinos beheimatet ist. »Online-Casinos sind in vielen US-Bundesstaaten illegal, aber jeder macht es, weil sich die Server im Ausland befinden. Mittelamerika und die Karibik, Länder wie Costa Rica, Panama, St. Kitts and Nevis sind beliebte Standorte für Online-Casinos. Die Steuern sind niedrig, gerade einmal 50 000 Dollar im Jahr, dazu noch ein kleiner Prozentsatz des Jahresumsatzes. Die Online-Casinos werden von lokalen Servern aus betrieben, die einheimischen Firmen gehören. Oft stehen hinter diesen Firmen große europäische Telekommunikationsunternehmen, die diese nur als Scheinfirmen nutzen. Auch in mehreren Ländern des ehemaligen Ostblocks finden sich Online-Casinos, dort braucht man oft nicht einmal eine Genehmigung. Man kann ein Online-Casino mit einem Startkapital von 100 000 Dollar eröffnen. Das kann ein sehr gutes Geschäft sein«, erklärt ein rumänischer Internet-Devisenhändler.20
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Anurag Dikshit, einer der jüngsten Milliardäre der Welt, ist Mitbegründer von PartyGaming, die zu den beliebtesten Online-Poker-Websites zählt. Mit Mitte dreißig besitzt er fast 4 Milliarden Dollar. 1998 kam Dikshit mit der Kalifornierin Ruth Parasol ins Geschäft, die bisher als Unternehmerin für Internetpornographie ihr Geld verdient hatte und nun ins Internetglücksspiel investieren wollte. Dikshit wurde ihr Partner bei PartyGaming. Als Pionierin des Internetglücksspiels prophezeite Parasol einen Boom für Online-Casinos und hatte recht. 2001 ging PartyGaming erfolgreich an die Londoner Börse. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt versuchen über 70 000 Spieler dort ihr Glück.21 Im virtuellen Universum gibt es keine Gesetze, weil es keine Grenzen gibt. PartyGaming und 888.com beispielsweise haben ihren Sitz in Gibraltar; die Behörden der USA können die Online-Casinos nicht strafrechtlich belangen, wenn USBürger auf den Websites dem Glücksspiel frönen. Auch Investitionen in illegale Glücksspiele sind in den USA verboten, doch die Unternehmen gehen einfach in London an die Börse, und die Anleger, darunter auch Amerikaner, kaufen die Aktien. Im Cyberspace können gewissenlose Unternehmer leicht die Gesetze eines Landes umgehen, etwa das Verbot der US-Regierung für Glücksspiel im Internet, indem sie einfach die Gesetze eines anderen Landes wie die großzügige Glücksspielregelung in Großbritannien nutzen. Internetwährungen ermöglichen auch die Aufnahme in Steuerparadiese. Die Website Escapeartist.com, im Grunde eine Auskunftsstelle, wie man Steuern in den USA umgeht, ist bei reichen Amerikanern sehr beliebt, weil sie anders als Europäer nach ihrem globalen Einkommen besteuert werden. Die Website, die elektronische Konten für Internetwährungen anbietet, propagiert das Motto »Amerika entkommen«:
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Zu wissen, dass es ein Steuerparadies gibt, ist nur ein Teil der Lösung, man muss auch wissen, welchen Schutz und welche Chancen die dortige Rechtsprechung bietet. Nicht alle Steuerparadiese sind gleich. Mit den wachsenden Möglichkeiten, die der E-Commerce bietet, werden auch immer mehr Freidenker das Internet als Weg in die wirtschaftliche Unabhängigkeit von staatlichen Vorschriften sehen. Wenn Ihre Domain auf den Bermudas eingetragen ist, Ihr Unternehmen seinen Sitz auf Anguilla hat und Ihre Website von Panama aus betrieben wird, mit einem panamaischen Handelsunternehmen, das über die Dominikanische Republik ausliefert, wo sollen Sie da Ihre Steuern zahlen? Ein wesentliches Merkmal der westlichen Kultur ist das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit von staatlicher Gängelung. Da diese Freiheit in Amerika untergraben wird, wenden sich kreative Denker anderen Ländern zu.22
Internetpornographie Die Internetpornographie ist die lukrativste elektronische Branche im Netz. Pornounternehmer sind quasi Webpioniere, weil sie schon früh die neuen Möglichkeiten nutzten. Bis vor kurzem beherbergte der Internetdatenhafen HavenCo, der auf einer Plattform vor der Küste Großbritanniens liegt, einen der größten Server für Internetpornographie und Glücksspiel, berichtet Ivan. Die Server operieren auch von Ländern aus, wo das organisierte Verbrechen großen Einfluss besitzt, etwa im ehemaligen Ostblock. »Die größten Kinderpornographie-Server befinden sich in Russland und werden von der russischen Mafia betrieben. Sie haben Ver-
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zeichnisse der Bilder und Videos, die auf vielen Pornowebsites weltweit gezeigt und ständig ausgetauscht werden. Die Kunden kommen überwiegend aus Deutschland und Belgien«, fugt ein italienischer E-Currency-Dealer hinzu, der anonym bleiben will. »Ich weiß das, weil sie zu mir kommen und ihre elektronischen Währungen einzahlen.« 23 Die Pornoindustrie hat auch Auswirkungen auf die Internetwerbung. Ursprünglich wurden Pop-ups von Pornowebsites verwendet, um den Nutzern entsprechende Bilder zu zeigen. Selbst die Videotechnologie wurde im Netz anfangs vor allem für die Vermarktung von Pornos benutzt. So ist der Einsatz der Technologie für illegale Zwecke aufgrund der hohen Gewinne oft die innovativste treibende Kraft im Cyberspace. Man könnte behaupten, dass Google und YouTube ihre Wurzeln in der Internetpornographie haben, weil viele Tools, auf denen sie basieren, dort ihren Ursprung fanden. Internetanzeigen und Fast-streaming-Videos, die wichtigsten Säulen der beiden Unternehmen, waren Wahrzeichen der Internetpornoindustrie. Heute ist diese eine der am schnellsten wachsenden Branchen der Welt und bei weitem der größte Bereich der elektronischen Schurkenwirtschaft. Laut Jerry Ropelato, der die Statistiken analysiert, »betrugen die jährlichen Einnahmen der Internetpornographie [im Jahr 2005] 57 Milliarden Dollar, mehr als die Einnahmen der Football-, Baseball- und Basketball-Franchiseunternehmen zusammen [in den USA], Die Gewinne der US-Pornoindustrie übersteigen die kombinierten Gewinne der Fernsehsender ABC, CBS und NBC (6,2 Milliarden Dollar). Mit Kinderpornos werden jährlich 3 Milliarden Dollar erwirtschaftet.«24 Mit dem Aufkommen des Internets boten sich der Pornoindustrie neue Geschäftsmöglichkeiten. »Wer in die Bran-
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che investieren will, braucht einen 360-Grad-Rundumblick. Man muss alle möglichen Vermarktungskanäle berücksichtigen, vom Fernsehen bis zum Mobiltelefon. Jede Produktionsfirma braucht eine gute Website, sonst ist sie nicht konkurrenzfähig«, erklärt Corrado Fumagalli, der Moderator der italienischen Talkshow »Sexy Bar«. »Heute gibt es Internet und Videotelefone, kostenpflichtige Fernsehkanäle und viele Internetfernsehsender, die Nachfrage nach Pornos ist ebenso enorm wie der Gewinn.« Traditionelle Medienunternehmen können dieses Phänomen nicht ignorieren. »Mein Sender Play TV wird beispielsweise über SKY ausgestrahlt und hat die besten Quoten. Eine Million Zuschauer sehen meine Sendung, sie macht im Monat 200 000 Euro Umsatz.« 25 Das Internet fungiert außerdem als Experimentierfeld für Neuerungen in der Pornoindustrie. Laut Pornoregisseur Oliver Buzz zeigen die neuesten Pornoprodukte Frauen, die den Sex bei einer Gruppenvergewaltigung genießen und aktiv mitmachen. Am besten verkaufen sich jedoch »Reality«Filme, bei denen entweder Hausfrauen Sex mit Pornodarstellern haben oder ganz einfach der Sex von normalen Paaren zu sehen ist. »Manchmal überholt die Realität die Fiktion. Einmal filmte ich ein Paar beim Extremsex; er kam nur zum Höhepunkt, wenn sie ihm in den Mund urinierte. Ich filmte alles, und es war ein Hit«, erzählt Buzz, der seine Filme nur im Internetfernsehen verkauft, »weil im Internet die Action ist«.26 Die neue Technologie revolutionierte die Pornoindustrie und machte sie für die breite Masse zugänglich. »Früher waren Pornovideos sehr teuer, sie wurden auf 16-MillimeterFilm gedreht. Bis vor sechs Jahren lagen die Kosten für einen Film mittlerer Länge bei 35 000 bis 40 000 Euro. Im Digitalzeitalter sind die Kosten deutlich gesunken, heute kann man
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den gleichen Film für die Hälfte des Geldes produzieren«, erklärt Silvio Bandinelli, einer der bekanntesten italienischen Pornoregisseure: Für Digitalkameras braucht man keine großen technischen Kenntnisse. Das erklärt, warum Pornodarsteller, die im Pornogeschäft quasi die Arbeiterklasse verkörpern, heute Filme produzieren und Regie fuhren. Natürlich hat der technische Fortschritt Regisseuren wie mir geschadet, den Profis der Pornoindustrie, aber ich gehöre zur extremen Linken und freue mich, dass es mehr Wettbewerb gibt. Das eigentliche Problem sind Amateurvideos und Websites wie e-Mule, wo man alles tauschen und herunterladen kann, auch selbstgedrehtes Pornomaterial. Aber ich sollte mich nicht beklagen - ich lade mir auch Musik im Internet herunter.27 Die Internetrevolution in der Pornographie war möglich, weil das Internet zur richtigen Zeit aufkam, als die Pornographie bereits liberalisiert war, befindet Luciano Mantelli, der sich mit der Geschichte der Pornographie befasst und das italienische Magazin La Mela di Eva herausgibt: Die Schlacht um die gesellschaftliche Akzeptanz der Pornographie wurde in den sechziger und siebziger Jahren von Pornomagazinen ausgefochten. 1966 gründete der italienische Verleger Saro Balsamo das Magazin Men, das Frauen im Bikini zeigte. Das Magazin war sehr erfolgreich und sorgte für einigen Wirbel. Die Polizei beschlagnahmte die ersten sieben Ausgaben an den Kiosken aus Gründen der Obszönität. Balsamo umging das Gesetz und datierte die folgenden Ausgaben um, sodass die Magazine zum
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Zeitpunkt der richterlichen Anweisung bereits ausverkauft waren. Die noch vorhandene Ausgabe hatte ein anderes Datum und erforderte deshalb einen neuen Gerichtsbeschluss. Andere Magazine nutzten die gleiche Taktik. 1971 starteten Verleger aus der gleichen Liga wie Balsamo die so genannte »Tittenschlacht«, benannt nach den barbusigen Damen in ihren Zeitschriften. Es gab Verbote, die jedoch nie richtig umgesetzt wurden. Ab 1973 zeigten die Zeitschriften Penetration. OS war das erste pornographische Magazin der Welt. Es zeigte Fotos eines kopulierenden Paares mit einem schwarzen Balken, der den Akt verbarg. Mit jeder Ausgabe wurde der Balken kleiner und verschwand schließlich ganz. Ende der siebziger Jahre kam Ora Veritá auf den Markt. Die erste täglich erscheinende Pornozeitung hatte eine Auflage von 180 000 Stück. In den achtziger Jahren begannen Prominente, sich für Nacktfotos auszuziehen, und Pornographie war leicht zugänglich. Erfolgreiche Pornomagazine erreichten Auflagen um die 350 000 Stück. Mit dem Aufkommen des Internets ging der Absatz jedoch zurück. Die Pornoindustrie zog ins Netz um, zum Internet hat man leicht Zugang, auch Kinder. Heute erleben wir aufgrund von Videos und Raubkopien einen weiteren Rückgang beim Absatz der Pornomagazine.28 Weil der Cyberspace ein rechtsfreier Raum ist, ist auch die EPiraterie weit verbreitet. So kosteten Raubkopien von Filmen die großen Hollywoodstudios im Jahr 2006 fast 8 Milliarden Dollar, doppelt so viel, wie die Branche ursprünglich erwartet hatte. Laut einer Untersuchung im Auftrag der Motion Pictures Association of America, einer Lobbyorganisation der US-Filmindustrie, sind 3,1 Milliarden Dollar des Verlustes
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von 8 Milliarden Dollar auf illegale Mitschnitte zurückzuführen, 1,82 Milliarden Dollar auf Raubkopien und 2,99 Milliarden Dollar auf Internetpiraterie.29 Die führenden Länder im Bereich der Filmpiraterie sind China, Russland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Brasilien, Italien, Polen und Mexiko. Aufgrund der Piraterie droht der Filmindustrie in China ein potenzieller Verlust von 93 Prozent beim Marktanteil, 62 Prozent in Thailand, 51 Prozent in Taiwan und 29 Prozent in Indien. Die Gesetze der realen Welt haben im Cyberspace keine Bedeutung, weil sich ihre Einhaltung nicht erzwingen lässt; nach wie vor dominiert die Territorialität; sie bestimmt die Grenzen der Rechtsprechung, während es im Cyberspace per definitionem keine Grenzen und Beschränkungen gibt. Zwar müssen Server in der realen Welt existieren und operieren, dennoch können sie dem langen Arm des Gesetzes durch einen Standort in Staaten mit weniger strengen Gesetzen entgehen. Internetunternehmer wie Smooth Criminal operieren ebenso wie die Betreiber von Online-Casinos am Rande der Legalität und stehen für einen neuen Verbrechertyp im Globalisierungszeitalter. Doch ihren Erfolg einzig der neuen Technologie und Offshore-Servern zuzuschreiben, erklärt nicht ihren finanziellen Erfolg. Wie die Zuhälter der Globalisierung haben die skrupellosen Internetunternehmer die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich aus der Umbruchsituation ergaben, zu ihrem Vorteil genutzt. Sie haben die Nachfrage der Kunden richtig eingeschätzt und befriedigt und so neue Märkte geschaffen. Diese sind Vorposten der Marktmatrix, wo die Verbraucher ihre dunkle Seite ausleben können. Slawische Frauen befriedigen das erotische Verlangen vieler Männer und bieten nur eine von vielen Möglichkeiten, dem
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tristen Alltag zu entfliehen. Die Cyber-Kolonien der Schurkenwirtschaft bieten Verbrauchern die Möglichkeit, ihrer Phantasie nachzugehen und der Wirklichkeit zu entkommen. Der Wunsch, die reale Welt zu verlassen, macht die Konsumenten blind für die Gefahren der Schurkenwirtschaft. Doch der Impuls, der Realität zu entfliehen, wird mit jedem Tag stärker. Die Beliebtheit der Online-Spiele basiert darauf, dass sie die Möglichkeit bieten, in eine andere Realität einzutreten. Sie katapultieren die Spieler in eine Phantasiewelt, wo jeder eine neue Identität annehmen und ein anderes Leben führen kann. Splint, der früher süchtig nach Online-Videospielen war, fasst es treffend zusammen: »Als Verkäufer bist du ein Niemand. Als Captain >Purple Items< mit der besten verfügbaren Ausrüstung schaut man zu dir auf. Die Leute fragen dich um Rat, ermuntern dich, >weiter so gute Arbeit zu machen<, oder bestaunen einfach deine Ausrüstung im Vergleich zu ihrer eigenen.«30 So haben die Unternehmer der Schurkenwirtschaft erfolgreich einen Markt auf der Grundlage der abgründigsten und dunkelsten Phantasien der Verbraucher errichtet: ein anderes Leben, ein Zweitleben zu führen.
Second Life Ich traf Chan im Countryclub von Dreamland, einer abgeschlossenen Wohnanlage, die an eine phantastische Oase in der Wüste von Arizona erinnert. Er bot mir einen Drink an, und wir plauderten über seine Arbeit. Chan war gerade ins Immobilienteam von Dreamland aufgenommen worden und begeistert von seinem neuen Beruf. Beim Gespräch fiel mir auf, dass Englisch nicht seine Muttersprache war, daher fragte ich, woher er komme. »Aus China«, antwortete er. Das
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überraschte mich, denn er wirkte so europäisch. Chan freute sich über meine Bemerkung; er wolle europäisch aussehen, gestand er, weil die Kunden auf westlich aussehende Immobilienmakler besser reagieren würden. Bei Asiaten fühlten sie sich »unsicher«, so Chan. In der Hoffnung, mir ein Grundstück zu verkaufen, auf dem ich mein Traumhaus bauen konnte, führte Chan mich durch Dreamland. Wir betrachteten die üppig grüne, idyllische Landschaft, hielten bei einem Wasserfall an und sahen zu, wie das Wasser auf die Steine spritzte. Ich gab zu, dass mir das ganze Angebot gefalle und versucht sei, mich einzukaufen, ich hätte aber Bedenken, dass Dreamland ein bisschen zu idyllisch für mich sei. »Wo sind die Geschäfte, die Restaurants und die Clubs?«, fragte ich. Chan lächelte und antwortete mit einem Zwinkern: »Ich weiß, was Sie meinen.« Wir besuchten Edelboutiquen mit der neuesten Mode und Einkaufszentren, die so groß waren wie die Mall of America in Minneapolis. Schließlich gingen wir in einen Sexclub, und meine Tarnung flog auf. Chan stellte mich Hunk vor, einem Kunden, der gerade ein Grundstück in Dreamland gekauft hatte. Hunk stand auf Bodybuilding und sah aus wie der junge Arnold Schwarzenegger. Anscheinend war er furchtbar stolz auf seine Muskeln, denn er spannte sie dauernd an. Nach ein paar Drinks fragte mich Arnies Doppelgänger, ob ich Lust auf Sex hätte. Ich war verblüfft und ein paar Sekunden lang sprachlos. Chan eilte mir sofort zu Hilfe: »Ich wette, Sie haben vergessen, Genitalien zu kaufen«, flüsterte er. »Die meisten Neulinge vergessen das. Ich weiß, es klingt absurd, wenn man vergisst, das wichtigste Accessoire zu kaufen, aber das kommt vor. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich kann Ihnen direkt hier eine Vagina verkaufen.« Ich lehnte ab und sagte, ich sei glücklich verheiratet und hätte ein erfülltes Sexualleben.
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Das war ein schwerer Fehler! »Warum bist du dann hier?«, fragte Hunk. »Ja«, echote Chan, »warum sind Sie hier?« Die Bewohner von Second Life, der virtuellen Welt, wo Dreamland liegt, sind überwiegend Singles, jung (das Durchschnittsalter liegt bei 32 Jahren) und unbeschwert. Ehe, Familie und Kinder passen nicht in die Phantasie-Cyberwelt. Sex dagegen schon. Fast alle sind auf virtuellen Sex aus, der jede gewünschte Form annehmen kann. »Um in Second Life Sex zu haben, muss man nur ein paar Tasten drücken, das eigentlich Interessante spielt sich aber beim Instant Messaging ab.«31 Ohne Genitalien kann man natürlich auch keinen Sex haben; ohne virtuelle Sexorgane kann man die Worte beim Instant Messaging nicht in grafische Handlungen übertragen. Doch in naher Zukunft soll sich der virtuelle Sex dank »haptischer« Schnittstellen enorm verbessern. Diese neue Technik, die beim Weltwirtschaftsforum 2007 in Davos vorgestellt wurde, soll schon bald im Cyberspace angewandt werden und ein sensorisches Feedback in virtuellen Welten ermöglichen. Heute werden haptische Instrumente beispielsweise bei chirurgischen Simulationen eingesetzt, wo sie dem Arzt »fast den gleichen Eindruck vermitteln, wie wenn er tatsächlich ein Skalpell gebrauchen würde«.32 Laut Laila, einer umwerfend aussehenden Second-Life-»Hostess«, wird die haptische Unterstützung die Kunst des Liebesspiels im Internet revolutionieren. Die Nutzer werden virtuelle Reize spüren und schließlich einen »synthetischen Orgasmus« erfahren. Second Life ist eine virtuelle Welt, die von Philip Rosedale und seinem Unternehmen Linden Lab in San Francisco seit 1999 entwickelt wurde und 2003 ins Netz ging. Nach eigenen Angaben ist Second Life »eine Welt, in der man sich ständig neu erfindet, wo man seine Gestalt, das Geschlecht und sogar die Spezies so leicht ändern kann, wie wenn man zu
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Hause in ein Paar Schuhe schlüpft«.33 Neue Mitglieder kreieren Avatare, grafische Darstellungen einer Person, die als ihre Stellvertreter in Second Life agieren. Avatare können ganz nach Wunsch gestaltet werden: als Mensch, als Tier, als Mischung aus beiden. Chans Avatar ist ein Europäer, Hunk hat den Körper von Arnold Schwarzenegger, und ich trete als sportliche junge Frau auf. Die Idee für Second Life lieferte Neal Stephensons Roman Snow Crash, wo die Protagonisten den Großteil ihrer Zeit in einem »Metaversum« verbringen, einer metaphysischen Welt, in der sie mit Hilfe von Avataren interagieren. Innerhalb weniger Jahre verzeichnete Second Life ein enormes Wachstum. Da die Zahl der Bewohner täglich steigt, kann man sie unmöglich schätzen. Anfang 2007 sprach die Financial Times von einer Million Nutzern, von denen durchschnittlich 10 000 das System rund um die Uhr aktiv nutzen. Ende 2007 nannte Wikipedia sogar die Zahl von über neun Millionen registrierten Usern. Second Life ist kein Videospiel, sondern eine virtuelle Parallelwelt mit einer echten Wirtschaft und einer eigenen Währung, dem Linden Dollar. Der offizielle Wechselkurs beträgt 250 Linden Dollar zu einem US-Dollar, wobei die Linden Dollar nur in Second Life verwendet werden können. Dort gibt es einen regen Handel mit Gütern und Dienstleistungen. Ende 2006 schätzte man das Bruttoinlandsprodukt von Second Life auf 60 Millionen Dollar mit einer jährlichen Wachstumsrate von 15 Prozent,34 eine Rate, die sich mit der von aufstrebenden Volkswirtschaften wie China und Indien vergleichen lässt. Die Mitglieder verwenden Kreditkarten oder andere Online-Zahlungssysteme wie etwa PayPal zum Kauf ihrer Linden Dollar. Damit können sie kaufen, was sie möchten, von Körperteilen bis zu Grundstücken. Meine virtuelle Vagina hätte zum Beispiel 5 US- oder 1250 Linden Dollar gekostet.
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Man kann bei Second Life auch Geld verdienen, Stipendien durch das so genannte »Campen«, mit dem im Grunde das Knüpfen neuer Kontakte belohnt werden sollte, was mit der »Popularität« gemessen wurde. »Popularität wird anhand der Besucherfrequenz einer dem Bewohner gehörenden Einrichtung ermittelt«, heißt es im Second-Life-Handbuch.35 Das Entgelt soll Handel und Investitionen erleichtern. Tatsächlich ist es aber ein Anreiz, mehr Zeit bei Second Life zu verbringen. Die Bewohner können produzieren, was sie wollen, und ihre Produkte zum handelsüblichen Preis verkaufen. Wie in jedem kapitalistischen Wirtschaftssystem werden die Preise von Angebot und Nachfrage bestimmt. Die Gewinne kann man jederzeit eintauschen, indem man die Linden Dollar bei einem Devisenhändler gegen echtes Geld tauscht. LindeX von Linden Lab verlangt dabei eine Gebühr für jede Transaktion, unabhängige Händler dagegen verdienen an der Kursdifferenz zwischen Kauf und Verkauf. Spekulationen mit Linden Dollar sind bei den Händlern sehr beliebt. Mitglieder können auch Konten bei Second-Life-Banken eröffnen, virtuellen Unternehmen, die hohe Zinsen bieten. Fast überall bei Second Life gibt es virtuelle Bankautomaten, wo man Geld abheben kann. So surreal, wie virtuelle Welten im Stil von Second Life wirken mögen, sind sie doch nur ein Abbild der realen Welt. »Alles, was in einer synthetischen Welt geschieht, ist die Folge einer Interaktion zwischen den Gedanken verschiedener Menschen, und in uns Menschen sind Dinge wie Liebe, Besitz, Gerechtigkeit, Profit, Krieg und Entdeckergeist angelegt.«36 Die Bewohner betreiben Geschäfte, produzieren Güter, bieten Dienstleistungen an und machen echte Gewinne. Auch große Unternehmen wie Microsoft und Intel sind in Second Life vertreten. Bei meinem Besuch hätte ich mir Coca-Cola bestellen, ein Paar virtuelle adidas-Turnschuhe kaufen und
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ein Toyota-Cybercar erwerben können, das meinen Avatar teleportiert hätte. (Die Fortbewegung bei Second Life erfolgt mit Hilfe von Computerspielgrafiken, der Maus oder dem Cursor, man kann gehen, fliegen oder sich teleportieren lassen.) Als Autorin war ich versucht, Green & Heaton zu besuchen, eine Londoner Literaturagentur, die Ende 2006 ein Büro für »virtuelle Talente« eröffnete. Auch Popmusiker sind in der Cyberwelt vertreten. Die Band Duran Duran gab als eine der ersten bekannteren Bands ein Konzert in Second Life, die Musiker animierten ihre Avatare live. Die Medien erkunden bereits neue Geschäftsmöglichkeiten, die ihnen die synthetische Welt bietet. Reuters eröffnete in Second Life ein Büro mit einem Vollzeitkorrespondenten, der die boomende Wirtschaft beobachtet. Mit der wachsenden Cyberwelt wird die Interaktion mit der realen Welt häufiger und artikulierter. »Das Leben imitiert Second Life«, heißt es im Handbuch. »Bei oder durch Second Life finden Sie vielleicht einen Job in der realen Welt. Das muss nicht im Network-Marketing oder einem ähnlichen Bereich sein. So kann etwa ein Unternehmen oder eine Organisation Beschäftigte für ein Online-Programm suchen, das in der virtuellen Welt von Second Life läuft.«37 2007 kündigte IBM an, 100 Millionen Dollar zu investieren; bereits tausend IBM-Mitarbeiter verbringen regelmäßig Zeit bei Second Life, drei Manager arbeiten ausschließlich an Projekten für Second Life. Im Januar 2007 gab IBM ein Joint Venture mit der amerikanischen Elektronikkette Circuit City bekannt, die beiden Partner wollen auf einer virtuellen Insel von IBM einen Laden eröffnen. Dahinter steht die Idee, die Leute dazu zu bringen, dass sie beim Cyber-Shopping Produkte für die reale Welt kaufen. Second Life kann als »virtueller Brutkasten für Innovati-
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onen und Unternehmertum« 38 betrachtet werden, wie das Beispiel des Firmenimperiums von Ashe Chung zeigt. Ashe Chung ist die bei weitem erfolgreichste Unternehmerin bei Second Life, ihr gehört Dreamland, das sie auch entwickelt hat. Chung ist der Avatar von Ailin Gräf, einer in China geborenen Lehrerin, die in einem wohlhabenden Vorort von Frankfurt lebt. Ende 2005 schätzte man den Umsatz von Chung auf 2,5 Millionen Dollar. Sie ist eine Pionierin bei Second Life. Nachdem sie 2003 mit nicht einmal 10 Dollar Startkapital begonnen hatte, verdiente sie ihr Geld mit Unterricht in der Spieltechnik von Second Life sowie dem Entwurf und Verkauf von Avatar-Accessoires. Von dem Geld kaufte sie von Linden Lab leeren Cyberspace (im Grunde Pixel auf dem Bildschirm) und schuf darauf das ideale Wohnumfeld: Dreamland, der ideale Platz, um das Leben zu genießen. Mit Hilfe ihres Mannes entwickelte Ailin Gräf Straßen, Häuser, Gärten, Plätze und schöne Landschaften. »Wir haben das Land, das wir kauften, aufgewertet«, sagte sie der Financial Times.39 Chung machte Werbung im Magazin Second Life und begann mit dem Grundstücksverkauf. Im Sommer 2004 war sie die reichste Bewohnerin von Second Life. Mit dem wachsenden Erfolg ihres Unternehmens verlagerte Chung einen Teil nach China. »Ich entschloss mich zum Umzug nach China, weil es dort bezahlbare Arbeitskräfte gibt und weil uns die [chinesische] Regierung mit einem roten Teppich begrüßt hat. [...] Dort ist man sehr empfänglich für unsere Pläne, Leute auszubilden und mit virtuellen Unternehmen echte Gewinne zu erzielen«, sagte Chung.40 Chinesische Unternehmer, die ich bei Second Life kennenlernte, bestätigten, dass China virtuelle Unternehmen und die Wirtschaft im Cyberspace besser als jedes andere Land versteht. Es gibt Schätzungen, dass eine halbe Million Chinesen ihren Lebensunterhalt mit der
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virtuellen Wirtschaft verdienen, von Videospielen bis zu synthetischen Welten.41 Zwei davon sind Chan, der virtuelle Immobilienmakler, und XXX.
Cybermarkt- Staaten Anfangs hatte das künstliche Universum im Internet keine Regierung, die Situation ähnelte dem Naturzustand bei Thomas Hobbes. Das virtuelle Chaos wurde »zum faszinierenden Experimentierfeld für Ideen über die richtige Regierungsform sowie für Ideen über Unternehmensführung« 42 Die Entwicklung der Cyberwelten vom Zustand der Anarchie bis heute wurde hauptsächlich von dem Wunsch nach Unterhaltung bestimmt. Das Handbuch zu Second Life erinnert die Mitglieder ständig daran, dass sie sich vor allem amüsieren wollen. Von Online-Videospielen bis zur Pornographie, vom Glücksspiel bis zur Filmpiraterie lautet das Motto: Genieß das Leben in vollen Zügen. Kunstwelten werden zur Unterhaltung erschaffen. Der Realitätsflucht kommt daher große Bedeutung zu, gleichzeitig spiegelt die Cyberwelt ein universales Prinzip der gezielten Vermarktung; sie zielt darauf ab, ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen, nämlich das Bedürfnis, zu unterhalten und unterhalten zu werden. Verschiedene universale Ideen wie nationale Identität, Freiheit und Gleichheit motivierten den Menschen, den von Hobbes im Leviathan beschriebenen Naturzustand zu überwinden. Diese Ideale bildeten die Grundlage des Nationalstaats. Heute gilt die Demokratie westlichen Stils als beste Regierungsform, um diese Bedürfnisse zu erfüllen, die anders als Unterhaltung unbezahlbar sind und sich nicht vermarkten lassen.
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Doch die Demokratie ist nicht die dominierende Kraft im Cyberspace. Das ist die Unterhaltung, und Spaß erfordert verschiedene Accessoires, die man in synthetischen Welten leicht kaufen kann. Daher wird die Politik im Cyberspace von utilitaristischen Prinzipien geleitet, die den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zur Unterhaltung der virtuellen Bevölkerung erleichtern. Die Unternehmer der Schurkenwirtschaft und der Unterhaltungsindustrie verdienen gut mit Online-Glücksspiel, Pornographie und künstlichen Welten, aus denen sich die unregulierten Cybermärkte von heute zusammensetzen. Doch die Befehlsgewalt über die Cyberpolitik ist stark begrenzt. »Das typische Herrschaftsmodell [...] besteht aus isolierten Momenten repressiver Tyrannei, eingebettet in weit verbreitete Anarchie. [...] Von Anfang an ist ein Tyrann zur Stelle, allerdings ist dieser außergewöhnlich untätig.«43 Die »Untätigkeit« der Tyrannen oder virtuellen Pioniere bezieht sich auf die Unfähigkeit, das unendliche synthetische Territorium zu kontrollieren und über alle Märkte zu herrschen, die auf die eine oder andere Weise mit ihrem Markt verbunden sind. Es gibt einfach keine Autorität, die genügend Macht hätte. Virtuelle Autorität ist schon per definitionem schwach, weil ihr die Strukturen und Instrumente zu ihrer Durchsetzung fehlen. Die Anbieter von Online-Spielen können Online-Sweatshops nicht schließen oder den illegalen Handel mit Goldmünzen unterbinden; ebenso wenig können sie effektiv gegen Hacker vorgehen. Ironischerweise arbeitet die unbeherrschbare Natur des Cyberspace gegen die eigenen Tyrannen. Das verlässlichste Prinzip in diesem Universum ist die Loyalität, die ausschließlich auf Leistung basiert. Die Spieler strömen zu World of Warcraft, weil sie glauben, es sei das beste Online-Spiel; die Abonnenten werden kündigen, sobald
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ein besseres Spiel zur Verfügung steht. Die Herrscher der Cyberwelten müssen ihren Mitgliedern ständig die besten Möglichkeiten bieten, nur so können sie diese an sich binden und an der Macht bleiben. Daher haben Cyberwelten viel mit dem ultimativen Marktstaat gemeinsam, wo ebenfalls das Individuum das Sagen hat. Die Aufgabe einer Regierung, schreibt Philip Bobbitt in The Shield of Achilles, das den Übergang vom National- zum Marktstaat beschreibt, bestehe darin, »Raum für Einzelne oder Gruppen zu schaffen, damit diese bei dem, was sie tun wollen, ihre eigenen Verhandlungen führen, das beste Geschäft vereinbaren oder den besten Wert für ihr Geld erhalten«. Um die Bedürfnisse des Einzelnen zu befriedigen, schreckt der Marktstaat vor nichts zurück: »[Der Markt]staat wird [...] die Fortpflanzung unserer Art deregulieren [...], indem er neue Fortpflanzungstechniken wie die In-vitro-Befruchtung zulässt.« Avatare können jede gewünschte Form annehmen, Männer können Frauen werden, wie es bei Second Life oft vorkommt; Körperteile können aus umfangreichen Katalogen ausgesucht werden. Bei World of Warcraft kann man sich seine Gestalt aussuchen. Synthetische Welten sind außerdem »klassenlos und machen keinen Unterschied zwischen Rassen, ethnischer Herkunft oder Kultur«.44 Bei Second Life kann man Rasse, Geschlecht und Spezies ändern. Online-Videospiele finden in einer Phantasiewelt statt, wo Rasse, Geschlecht und Spezies keine Bedeutung haben. Wenn der synthetische Marktstaat ein reines Vehikel zur Unterhaltung des Einzelnen darstellt, dann ist es Aufgabe der Regierung, den Zugang zur Unterhaltung so einfach wie möglich zu gestalten, allerdings kann sie nicht davon ausgehen, dass es eine Übereinkunft über gemeinsame Ziele oder zum Wohl der Gesellschaft gibt. 2004 scheiterte die Idee, die
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Bewohner von Second Life nach den Objekten zu besteuern, die sie geschaffen hatten, an einer Meuterei der ersten Bewohner. Im Kern des Marktstaates hat der Einzelne die Gesellschaft ersetzt. Der Zusammenbruch des Kommunismus war der Auslöser für die Entwicklung des Nationalstaates zum Marktstaat. Vor diesem Hintergrund ermöglichte es die Schurkenwirtschaft den Gaunern des Globalisierungszeitalters, etwa den Pornounternehmern, wichtige Außenposten in der Marktmatrix zu besetzen. Diese kommerziellen Stützpunkte bauen mit Hilfe der modernen Technologie auf den geheimsten und dunkelsten Phantasien des Einzelnen auf. Da überrascht es nicht, dass die Verbraucher sie begeistert begrüßten. Das Internet ist die erfolgreichste Kolonie der Schurkenwirtschaft, weil dort die von illegalen Geschäftemachern eingeführten technischen Neuerungen wie Pop-ups und Videostreams perfektioniert und von legalen Unternehmen übernommen wurden. Außerdem bietet es ein Umfeld, das frei von Gesetzen ist, sodass sich die Schurkenökonomie rasch verbreiten kann. So bietet uns der Cyberspace einen Ausblick auf die Folgen, die die fortschreitende Demontage der modernen Politik auf unser Leben haben wird. Der Cyberspace, der sich unsere Träume und Phantasien zunutze macht, ist jedoch nicht das einzige Medium, das uns zeigt, wie die Welt aussehen wird, wenn sich die Schurkenwirtschaft durchsetzt. Ihre Tentakel reichen weit in die reale Wirtschaft hinein, ganze Branchen sind nicht vor ihr gefeit darunter auch die Fischindustrie.
KAPITEL
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Anarchie auf hoher See
Wenn lässt
man
das
Festland
und hinaus aufs
hinter sich
Meer fährt, fern
aller Blicke, befindet man sich in einer anderen Welt, wo es kein Gesetz gibt. Helene Bours
Ein Drittel des Speisefischs, der in Großbritannien verzehrt wird, stammt aus dem illegalen Fischfang in der Nord- und Ostsee, und dieser Anteil wird aufgrund der Schurkenwirtschaft weiter steigen. Anfang 2007 warnte die norwegische Küstenwache, dass der illegale Fischfang in diesen Gewässern mit einer Rate von 30 Prozent pro Jahr wachsen wird. Schon bald wird die Mehrheit des von den Briten verzehrten Fischs »schwarz gefangener Fisch« sein. Von Fish-and-Chips-Buden bis zu Londoner Edelrestaurants, vom Bioladen bis zur Tiefkühlabteilung im Supermarkt werden die Verbraucher überwiegend Fisch aus gewilderten Beständen essen. Der illegale Fischfang in der Nord- und Ostsee befindet sich in den Händen der russischen Mafia, die seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus den Markt beherrscht. Mit der Auflösung der Sowjetunion übernahm das organisierte Verbrechen die sowjetische Handelsflotte, und Banden der russischen Mafia begannen die Meere auszuplündern. Heute liefern sie die Hälfte des Kabeljaus, der
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ganz legal auf den traditionellen britischen Fischmärkten wie Hull oder Grimsby verkauft wird. »Am illegalen Geschäft sind russische Trawler beteiligt, die von Murmansk aus operieren und die strengen Quoten für den Fang von Kabeljau, Rotbarsch und Heilbutt ignorieren.«1 Ironischerweise galt der Hafen früher als das Kronjuwel der sowjetischen Handelsflotte. Murmansk liegt an der Nordostpassage, einem 6500 Kilometer langen Seeweg im Nordpolarmeer, der sich bis zu den Nickelminen in Norilsk und weiter bis zur Beringstraße erstreckt. In seiner besten Zeit wurden 1987 über 7 Millionen Tonnen Fracht über das eisige Wasser transportiert.2 Heute ist Murmansk Stützpunkt der russischen Fischfangmafia. Von ihrem Stützpunkt aus fangen die skrupellosen Geschäftemacher schätzungsweise 100 000 Tonnen mehr Kabeljau in der Nordsee, als die von Großbritannien und Norwegen festgelegte Fangquote von jährlich 480 000 Tonnen erlaubt. Die Beute wird auf hoher See auf verschiedene Schiffe umgeladen, die unter so genannten Gefälligkeitsflaggen operieren, ein weiterer Zweig der Schurkenwirtschaft, der von der Globalisierung profitiert hat.3 Die Flotte der russischen Mafia lässt sich nicht so leicht aufspüren, sie mietet oder least Schiffe für kurze Zeit und lässt sie immer wieder umflaggen, um mit diesem »Flag Hopping« die Behörden zu verwirren. Selbst wenn die Schiffe erwischt werden, ist es schwierig, die Eigentumsverhältnisse zu klären, weil sie durch Mantelgesellschaften und Joint Ventures getarnt sind.4 Nach Angabe der norwegischen Schifffahrtsbehörde geht es bei dem illegalen Fang von Kabeljau in der Nord- und Ostsee auch um Geldwäsche im Millionenbereich. Gewinne der russischen Mafia werden durch die Fischereiindustrie gewaschen. Um dagegen vorzugehen, forderte Norwegen Groß-
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britannien auf, Daten über sämtliche Fischlieferungen russischer oder international registrierter Trawler zu liefern. Doch die britische Regierung ist dem nicht nachgekommen, der Bekämpfung des illegalen Fischfangs wird keine Priorität eingeräumt. New Labour hat es auf einen viel größeren Fisch abgesehen: den islamistischen Terrorismus. Doch das Problem des illegalen Fischfangs ist real. Die Welternährungsorganisation (FAO) schätzt, dass 75 Prozent der weltweiten Fischbestände »erschöpft«, »überfischt« oder »komplett ausgebeutet« sind.5 Vor allem kann man nach wie vor unmöglich sagen, ob ein Fang legal oder illegal getätigt wurde. Ein Sprecher des Unilever-Konzerns, zu dem Tiefkühlmarken wie Birds Eye und Iglo gehörten, gab gegenüber der London Times zu: »Wir können nie mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob die Vorschriften eingehalten wurden«,6 das heißt, die Fangquote überschritten wurde. (Im Februar 2006 gab Unilever den Verkauf seiner europäischen Tiefkühlmarken Iglo und Birds Eye bekannt. Die Iglo GmbH wurde am 28. August an die britische Investmentgesellschaft Permira verkauft.) 2006 deckte eine schwedische Fernsehsendung (»Kalla Fakta« auf TV4) auf, dass mehrere Unternehmen, darunter die italienische Tiefkühlmarke Findus (Unilever), illegal gefangenen Kabeljau aus der Barentssee gekauft hatten. In der Reportage hieß es, die Findus-Schiffe hätten absichtlich ihre jährlichen Quoten überschritten. Findus habe den Kabeljau von verschiedenen Fischgroßhändlern gekauft, darunter der in Dänemark ansässigen Firma Kangamiut.7 Illegal gefischter Kabeljau ist eine Bedrohung für die Fischereiindustrie. Greenpeace warnt, dass »Unternehmen wie Pickenpack und Frosta (Deutschland), Fjord Seafood (Niederlande), Västkustfile (Schweden) und Royal Greenland (Dänemark) [möglicherweise illegal gefangenen] Kabeljau aus der
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Ostsee kaufen, normalerweise frische Filets für Restaurants«.8 Erkennen es die Unternehmen, wenn sie illegal gefangenen Fisch kaufen? Aufgrund der Verschleierungsmethoden beim illegalen Fischfang lässt sich diese Frage unmöglich beantworten. Da die Staaten nicht einschreiten, versuchen Organisationen wie der World Wildlife Fund und Greenpeace, Einfluss auf die großen Lebensmittelkonzerne zu nehmen, etwa Unilever und Young's Seafood, sowie auf Supermarktketten in Großbritannien. Sie rieten den Firmen, Fisch aus britischen Häfen zu boykottieren, solange die legale Herkunft des Fangs nicht nachgewiesen ist. Doch auf hoher See herrscht im Grunde Anarchie, daher übersteigt die Überwachung der Vorschriften die Möglichkeiten der Großhändler. Patrouillen auf See sind teuer, außerdem schadet das dem Handel: Die Gesamtkosten für die Überwachung der Fischerei in der EU und ihren Mitgliedstaaten belaufen sich auf300 Millionen Euro, das sind etwa 5 Prozent des Gesamtwerts der Produktion (gelöschte Ladungen). Im Fall der North Atlantic Fisheries Organization (NAFO) betragen die Kosten zur Überwachung der EU-Schiffe 4 Millionen Euro bei einem Gesamtwert der Fracht von insgesamt 55 Millionen Euro (2002), das heißt über 7 Prozent des Produktionswertes.9
Piratenfischer Der illegale Fischfang ist eine der jüngsten Ausgeburten der Schurkenwirtschaft und hat sich zu einem Milliarden Dollar schweren Geschäft entwickelt. Der vom Aussterben bedrohte Schwarze Seehecht und der Blauflossenthunfisch können bis
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zu 10 000 bzw. 50 000 Dollar pro Fisch erzielen. »Oft übersteigt der Wert des Fangs sogar den Wert des ganzen Schiffs«, berichtet ein Mitarbeiter der Thunfischkommission für den Indischen Ozean (IOTC). »Wenn man alle vorliegenden Zahlen addiert, etwa für Kabeljau in der Barentssee, Thunfisch im Mittelmeer, Abalone-Schnecken vor Südafrika und andere illegale Fänge, beläuft sich das Gesamtvolumen des illegalen Fischfangs auf geschätzte 2 bis 15 Milliarden Dollar«, meint David Agnew vom Imperial College London.10 Das internationale Zentrum des illegalen Fischfangs liegt in Europa, vor allem in Las Palmas auf Gran Canaria. »Nahezu alle illegal gefangenen Fische gelangen über Las Palmas nach Europa. Das sind mindestens 400 000 Tonnen im Jahr«, erklärt ein Experte für illegalen Fischfang von der Welternährungsorganisation, der anonym bleiben will.11 Las Palmas hat einen gut ausgestatteten Hafen und liegt aufgrund der fischreichen Küste Westafrikas geographisch sehr günstig, daher ist es ideal, um Schiffen, die illegalen Fischfang betreiben, Unterschlupf zu bieten. »Illegal gefangenen Fisch aufzuspüren, der über Häfen wie Las Palmas ins Land kommt, ist nahezu unmöglich«, gibt Helene Bours zu, Expertin und internationale Beraterin für illegalen Fischfang. »Der Fang wird auf hoher See umgeladen, außerdem gibt es zu viele Schmuggelwege. So existieren beispielsweise große Mengen von so genannten Schwarmfischen wie Sardinen, die vor Westafrika gefischt, aber nicht nach Europa oder Nordamerika geschmuggelt werden, weil es dort keinen großen Markt dafür gibt. Europäische Schiffe plündern die Fischbestände vor der Küste Mauretaniens, bringen den Fang nach Las Palmas und verkaufen ihn dann an andere westafrikanische Länder wie Nigeria.«12 Westafrikanische Garnelen und einige Plattfischarten gehen dage-
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gen einen ganz anderen Weg. Sie werden von Las Palmas aus nach Asien verschifft, wo nach wie vor eine hohe Nachfrage besteht. Las Palmas erinnert an ein großes Flughafendrehkreuz, wo ständig Flugzeuge aus aller Herren Länder starten und landen. Die Herkunft von Fisch zu kontrollieren, ist eine unmögliche Aufgabe. »Die Fischtrawler liefern den Fang nie direkt aus. Vor der Landung in einem Hafen wie Las Palmas wird mindestens ein Mal das Schiff gewechselt. Im Hafen wird der Fisch dann verkauft und auf Transportschiffe umgeladen«, erklärt Helene Bours. Experten glauben, dass mit dem Zusammenbruch des Kommunismus eine neue Form Kriminalität im Zeitalter der Globalisierung aufkam: die Piratenfischerei. »Fischbestände waren schon immer anfällig für Überfischung, doch die groß angelegte Ausbeutung begann erst mit der Entwicklung der Fangflotten der Sowjetunion in den fünfziger fahren, gefolgt von der Entwicklung ähnlicher Flotten in Japan, anderen Fernoststaaten, europäischen Staaten und den USA in den siebziger Jahren«, meint der Experte für illegale Fischerei der Welternährungsorganisation. Doch während des Kalten Krieges wurden nur die eigenen Hoheitsgewässer ausgebeutet. Die groß angelegte illegale Fischerei begann erst mit der Auflösung des Ostblocks, als das organisierte Verbrechen die sowjetische Handelsflotte übernahm. China folgte umgehend.13 Nachdem die sowjetische Marine nicht mehr in den Gewässern patrouillierte, war ursprünglich die Ostsee das Ziel, denn sie war von Murmansk aus schnell zu erreichen. Heute erleben wir die erschreckenden Folgen von fünfzehn Jahren Anarchie auf dem Meer: »Überfischung, Verschmutzung, Eutrophierung (die Überlastung des Wassers durch anorganische Nährstoffe, entstanden durch Düngung in der
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Landwirtschaft), Klimaveränderung, Ölverschmutzung, Fischerei mit Grundschleppnetzen und die Zerstörung von Lebensräumen haben für katastrophale Zustände gesorgt, die das Überleben des Kabeljaus und anderer Arten zusätzlich gefährden.«14 Die Verantwortung für die Katastrophe liegt bei den Regierungen der Ostseeanrainerstaaten, die der Piratenfischerei in ihren Gewässern ähnlich gleichgültig gegenüberstehen wie Großbritannien. Die Höchststrafe, die in der Region für illegale Fischerei verhängt wird, beträgt im Durchschnitt 538 Euro, nur etwas mehr als das Bußgeld, das man für ein falsch geparktes Auto in der Innenstadt von London nach dem Abschleppen zahlen muss. Die Piratenfischerei weckt kaum Interesse. Sie ist kein angesagtes Thema wie die Armut in Afrika, wo sich Prominente engagieren, und auch keine erschreckende Bedrohung wie der islamistische Terror, der von den Politikern als Vorwand zur Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten genutzt wird. Dabei sind die Gefahren für die Lebensmittelversorgung und die Umwelt enorm. Doch Patrouillen auf dem Meer werfen ähnliche Probleme wie die Überwachung des Internets auf: Sie sind teuer, und niemand weiß, wie man vorgehen soll. Die Informationen über Piraterie sind unzuverlässig, über die Zahl der illegalen Fischtrawler oder über die genauen Mengen der erbeuteten Fische gibt es keine genauen Angaben. Die Regierungen sind zwar über die wirtschaftlichen Bedingungen und die Ursachen der Piratenfischerei informiert und kennen auch ihre gefährlichen Folgen, unternehmen jedoch kaum etwas. Am Beispiel des illegalen Fischfangs zeigt sich drastisch das Versagen der Politik, die Schurkenwirtschaft in ihre Schranken zu weisen. Das Aufkommen des illegalen Fischfangs sagt wenig über kriminelle Organisationen aus, dafür aber umso mehr über
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neue Wirtschaftsszenarien, die erst durch den globalen Markt entstanden sind. Im Mittelmeer überschreiten die alteingesessenen Fischer ihre Quoten einzig und allein, um über die Runden zu kommen. »Die Fangschiffe müssen doppelt so viel fischen, wie erlaubt ist, um die Kosten zu decken«, erklärt Sebastian Losada, ein Meeresschützer von Greenpeace Spanien.15 Die Fischer haben Mühe, ihre Familien zu ernähren, denn ihr Verdienst ist aufgrund höherer Treibstoffkosten und niedriger Fischpreise gesunken. So ist etwa der Preis für Thunfisch in den vergangenen fünf Jahren von 10 Euro das Kilo auf weniger als die Hälfte zurückgegangen. Im Kampf um einen höheren Marktanteil in Japan, dem größten Thunfischabnehmer weltweit, haben legale und illegale Fangflotten das Mittelmeer überfischt und so den Thunfischpreis nach unten getrieben. Daten von Advanced Tuna Ranching Technologies (ATRT), einer Beraterfirma zur Thunfischzucht, zeigen, dass sich die Fangmengen von 2002 bis 2006 verdreifachten, um die wachsende unersättliche asiatische Nachfrage zu decken. Die Klagen der Fischer stiegen parallel zur wachsenden Zahl der Sushi-Lokale. Die Geschichten der Fischer sind jedoch kein Seemannsgarn, sondern wahr. Sie werden entlang der 46 000 Kilometer langen Küste in vielen Sprachen erzählt, auf Arabisch ebenso wie auf Albanisch.16 Die globale Nachfrage verstärkt den durch Überfischung entstandenen Teufelskreis und sorgt für merkwürdige Nebeneffekte: »Der Blauflossenthunfisch beispielsweise ist im Mittelmeer komplett überfischt, sodass er sehr selten und wertvoll geworden ist. Wer ihn wildert, kann viel Geld verdienen«, berichtet Losada. Der legal und illegal gefangene Thunfisch ist auf dem japanischen Markt sehr begehrt für Sashimi, die Japaner kaufen 80 Prozent der Fangmenge. Italienische und französische Piratenfischer kontrollieren den
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Markt für illegal gefangenen Blauflossenthunfisch im Mittelmeer.17 Die hohen Gewinne, die das Geschäft abwirft, haben das organisierte Verbrechen angelockt. »Die Behörden behaupten, das Geschäft befinde sich in den Händen eines Joint Ventures der Marseiller und sizilianischen Mafia. Anscheinend ist das allgemein bekannt, allerdings lässt es sich nicht beweisen. Die Verbindung, die von der Polizei als Thunfischdreieck bezeichnet wird, ist nicht auf Frankreich und Italien beschränkt. Einer der Hauptmärkte für illegal gefangenen Fisch ist Spanien«, fügt Losada hinzu. Mittlerweile ist aus dem »Dreieck« für illegalen Blauflossenthunfisch ein Quadrat geworden. Libyen hat alte französische Schiffe zu Schleuderpreisen aufgekauft und sich dem Handel angeschlossen. Die Libyer benutzen die Schiffe, um den illegalen Fang ihrer französischen Flotte auf hoher See umzuladen. Die libysche Verbindung basiert direkt auf einer surreal anmutenden wechselseitigen Abhängigkeit. »Frankreich erhält für den Bau neuer Schiffe EU-Subventionen, daher werden die alten zu Billigpreisen nach Libyen verkauft und dort umgeflaggt. Sowohl die neuen französischen als auch die ehemals französischen Fangschiffe fischen illegal vor der Küste Libyens. Der Fisch landet schließlich im Hafen von Marseille«, berichtet Losada.
Fisch- Sweatshops Diese Art der Fischerei trägt alle Eigenschaften der Piraterie früherer Zeiten und erinnert kaum an das moderne, romantisch verklärte Bild von Freibeutern. Vergessen Sie Filme wie »Fluch der Karibik« und denken Sie lieber an das organisierte Verbrechen in Asien und an Menschen, die weltweit
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unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen wie zu Zeiten der industriellen Revolution schuften müssen. »Die Mannschaften werden oft unmenschlich behandelt. Ich habe mit Chinesen gesprochen, die jahrelang auf Schiffen arbeiteten, ohne je an Land oder nach Hause zu kommen. Sie sind weder ausgebildet noch richtig ausgerüstet und sehr schlecht bezahlt«, berichtet Helene Bours. Sklaverei ist weit verbreitet. »Vor Guinea sahen wir ein chinesisches Schiff, dessen Mannschaft keine Pässe hatte. Sobald die Seeleute auf dem Schiff waren, saßen sie fest und konnten nirgendwohin.« Die modernen Piratenfischer sind die Industriekapitäne unter den Gaunern der Globalisierung; sie betreiben illegale Fischerei-Sweatshops auf hoher See. Der Lohn macht einen Großteil der laufenden Kosten aus, daher heuern die Piraten Mannschaften in armen Ländern an oder versklaven sie einfach.18 Vor der Küste Westafrikas dokumentierten Greenpeace und Environmental Justice die Arbeitsbedingungen auf den überwiegend chinesischen Schiffen: 19 Die Schlafquartiere sind extrem schmutzig, ebenso die Kühlräume, wenn sie überhaupt funktionieren. Oft gibt es keinerlei Sicherheitsausrüstung. [...] Ein koreanisches Schiff, das wir bei einer Expedition 2006 vor der Küste Sierra Leones besichtigten, die Five Star, hatte auf Deck einen Verschlag, der tatsächlich als Schlafquartier für 200 senegalesische Fischer diente, die zur Verstärkung der koreanischen Crew an Bord waren. Im Innern konnte man »Matratzen« aus Karton sehen, Kleider an der Wäscheleine unterteilten das Quartier. Die Decke war so niedrig, dass man hineinkriechen musste. Das Schiff hatte etwa vierzig Fischerboote samt Besatzung in Saint Louis im Norden des Senegal aufgenommen und sie für drei Monate zu den
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Fischgründen von Sierra Leone gebracht. Dort wurden die Kanus mit jeweils fünf bis sechs Fischern an Bord zu Wasser gelassen. Sie fischten den ganzen Tag und kehrten am Abend mit ihrem Fang zurück zum Boot. Diese Praxis ist nicht neu, es gibt unzählige Zeugenaussagen von senegalesischen Fischern, die Hunderte von Meilen entfernt von der Heimat in ihren kleinen Holzbooten zurückgelassen wurden, wenn der Frachtraum voll war. Wir stießen auch auf eine Gruppe verfallener, aufgegebener Schiffe ungefähr 60 Seemeilen vor der Küste Guineas, etwa die »Lian Run 2«. An Bord waren jeweils ein oder zwei chinesische Fischer, gestrandet im Nirgendwo warteten sie auf eine andere Crew, die sie übernahm oder das Schiff reparierte. Man sagte uns, ein Versorgungsschiff bringe ihnen alle drei Monate Lebensmittel. Wenn ihnen die Vorräte ausgehen, geben sie Signale an vorbeifahrende Schiffe in der Hoffnung, dass diese anhalten. Sie wussten nicht, wie lange sie würden warten müssen. Der chinesische Trawler »Lian Run 14« hatte als Besatzung ein halbes Dutzend Chinesen und einen Fischer aus Sierra Leone, die nach Guinea geflohen waren. Man erzählte uns, sie hätten keine Pässe gehabt und würden in Zweijahres schichten arbeiten. Die Schiffe bleiben jahrelang auf See, fahren nie einen Hafen an und übergeben ihre Ladung auf dem Meer an Kühlschiffe. Der Fisch wird dann in Häfen wie Las Palmas angelandet. Die Unternehmen, denen die Schiffe gehören, gehen ganz normal ihren Geschäften nach, manche haben sogar Büros in Las Palmas.20 Die Besatzung eines Fisch-Sweatshops ist für die Piratenfischer genauso entbehrlich wie die slawischen Prostituierten für die Zuhälter der Globalisierung. »Einmal, 2001, war ich
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auf einem Schiff in der Nähe der westafrikanischen Küste. Wir erhielten einen Notruf von einem chinesischen Fangschiff, das drei Stunden entfernt von uns sank«, erinnert sich Bours. »Wir funkten andere chinesische Schiffe in dem Gebiet an, aber alle erklärten, sie würden deswegen nicht ihren Fischfang unterbrechen. Als wir schließlich dort ankamen, fanden wir nur noch zwei Männer von der Besatzung.« Bei einer Expedition vor Westafrika im Jahr 2001 nahm Greenpeace an einer Rettungsaktion teil, bei der nach den Überlebenden eines Schiffes gesucht wurde, das mit der kompletten Besatzung gesunken war. »Niemand wusste so recht, wie viele Menschen umgekommen waren oder wer sie überhaupt waren. Wahrscheinlich wurde einfach ein anderes Schiff als Ersatz geschickt.«21
Der Drache isst Fisch Die drei wichtigsten Fischmärkte sind Japan, Südkorea und China. Am stärksten steigt die Nachfrage in China, man kann in diesem Zusammenhang schon fast von Gefräßigkeit sprechen. Die Daten der International Fisheries and Seafood Exposition in Shanghai zeigen, dass der chinesische Einzelhandel in den letzten Jahren, die Gastronomie nicht eingeschlossen, um 200 Prozent gewachsen ist. Von 2000 bis 2006 ist das Handelsvolumen für Fisch und Meeresfrüchte im Einzelhandel um 70 Prozent gewachsen, pro Kopf wurden 75 Prozent mehr ausgegeben.22 »Die Chinesen werden generell wohlhabender und können sich Fisch eher leisten. Die hohe Nachfrage in China wirkt sich stark allein schon wegen der großen Bevölkerung auf die Fischereiindustrie aus. Derzeit erleben wir eine interessante
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Entwicklung; so wird etwa Seehecht, der früher zur Weiterverarbeitung nach China geliefert wurde und dann nach Kanada oder in die USA ging, heute in China und Hongkong oder anderen asiatischen Großstädten wie Singapur verzehrt«, berichtet David Agnew. Früher wurde auch Kabeljau aus der Ostsee nach China zur Weiterverarbeitung und dann zurück nach Europa geschickt. Heute wird der europäische Kabeljau hauptsächlich in Polen weiterverarbeitet. Piraten, die bereit sind, die unersättliche Nachfrage nach Fisch in Asien zu stillen, gehen überwiegend vor der westafrikanischen Küste auf Fischfang. Bours ist sich mit verschiedenen anderen Quellen einig, dass der illegale Fischfang in Afrika stark um sich greift: 2001 stellte man bei einem Kontrollflug über den Hoheitsgewässern Guineas fest, dass 60 Prozent der 2313 gesehenen Schiffe gegen Vorschriften verstießen. Kontrollflüge vor Sierra Leone und Guinea Bissau im gleichen Jahr ergaben, dass 29 Prozent (von 947 Schiffen) bzw. 23 Prozent (von 946 Schiffen) illegal fischten. Heute schätzt man, dass in Somalia 700 Schiffe unter fremder Flagge unerlaubt in somalischen Gewässern fischen und hochwertige Arten wie Thunfische, Haie, Hummer und Tiefseegarnelen ausbeuten.23 Bis zu 50 Prozent der Schiffe vor der westafrikanischen Küste betreiben zu jeder Jahreszeit Piratenfischerei. Greenpeace glaubt, dass die Piratenfischer auch innerhalb der 12-MeilenZone aktiv sind, die eigentlich den einheimischen Fischern vorbehalten ist. Oft sind die Hauptopfer des illegalen Fischfangs Einheimische, die für ihren Lebensunterhalt auf das Meer angewiesen sind. In Westafrika haben Tausende und
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Abertausende Familien keine andere Möglichkeit, als vom Fischfang zu leben. Es ist schwierig, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Piratenfischer auf arme Länder abzuschätzen, vor allem in Gebieten, wo es kaum Kontrollmechanismen gibt. Allerdings schätzt die Marine Resources Assessment Group (MRAG), eine britische Beraterfirma für die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen mittels integrierter Managementstrategien und -praktiken, dass die afrikanischen Länder südlich der Sahara durch die illegale Fischerei ungefähr 1 Milliarde Euro pro Jahr verlieren. Weil chinesische Piraten die westafrikanischen Gewässer kontrollieren, sacken sie auch einen Großteil der Beute ein. Fischereiexperten, die Welternährungsorganisation und UN-Mitarbeiter sind sich einig, dass die schlimmsten Verstöße vor allem von chinesischen Piraten begangen werden, denn sie haben zahlreiche Schiffe und Fischer entlang der afrikanischen Küste stationiert; China hat nach Panama die zweitgrößte Handelsmarine der Welt.24 Die Aktivitäten der Chinesen in Westafrika reichen bis in die frühen neunziger Jahre zurück, als südafrikanische Behörden die Wilderei und den Handel mit Haifischflossen und Abalone-Schnecken aufdeckten. Abalone-Schnecken sind Schalentiere, die am Grund kalter Ozeane leben und in China als Delikatesse und Aphrodisiakum gelten. Fischer können sich eine Genehmigung für den legalen Fang der AbaloneSchnecken vor der südafrikanischen Küste kaufen, allerdings ist ihre Anzahl begrenzt. Der illegale Fang der Meerestiere war das erste große Unternehmen des organisierten chinesischen Verbrechens in Südafrika und gab den chinesischen Triaden die Möglichkeit, im Land Fuß zu fassen.25 Heute ist der illegale Abalone-Fang nur eines von vielen Betätigungsfeldern der chinesischen Triaden, ihre Aktivitäten reichen von Drogenhandel über Prostitution bis zur Geldwä-
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sehe. Allerdings ist der Abalone-Schmuggel nach wie vor sehr lukrativ. »Laut einer vorsichtigen Schätzung der [südafrikanischen] Polizei werden pro Jahr [...] etwa 500 Tonnen Abalone-Schnecken illegal ausgeführt. Bei einem Verkaufspreis von 65 US-Dollar pro Kilogramm in Hongkong ergibt sich aus dem illegalen Export ein Bruttoverdienst von etwa 32,5 Millionen US-Dollar.«26 Die chinesische Nachfrage nach Aphrodisiaka ist auch der Grund für die Expeditionen chinesischer Piratenfischer zur australischen Küste, wo sie Seepferdchen (Hippocampus abdominalis) fangen. Australien hat alle dreizehn Arten geschützt, die in seinen Gewässern vorkommen. In China werden Seepferdchen als Potenzmittel verwendet und für bis zu 1000 Dollar pro Stück verkauft. Die Hongkonger »Seepferdchen-Mafia« kontrolliert das 100 Millionen Dollar schwere Geschäft und schmuggelt bereits über ein Viertel der in Australien illegal erbeuteten Seepferdchen nach China.27
Piraten sind wieder in Mode »Piraten sind wieder in Mode«, heißt es in einer Filmkritik über »Fluch der Karibik«. Designer haben den »PiratenLook« wiederentdeckt, und Johnny Depp alias Captain Jack hat erneut einen großen Kinohit gelandet. Piraterie ist auf der Leinwand wieder im Kommen und erlebt auch auf dem Meer eine neue Blüte. Doch damit enden die Ähnlichkeiten zwischen Fiktion und Wirklichkeit. »Auf den Meeren, die fast drei Viertel des Planeten bedecken, sind etwa 50 000 große Schiffe unterwegs, die 80 Prozent der weltweit gehandelten Fracht transportieren.«28 Auf diese reiche Beute haben es die modernen Piraten von heute abgesehen.
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In den vergangenen zehn Jahren ist die Piraterie auf See um 168 Prozent gestiegen. Zusätzlich sind die Überfälle gewalttätiger geworden, wie aus einer Warnung des Verkehrsausschusses des britischen Unterhauses vom Juli 2006 hervorgeht. Der Bericht über Piraterie wurde verfasst, nachdem zwei Schiffe mit Hilfsgütern für die Tsunamiopfer in Indonesien überfallen worden waren. Die Piraten des 21. Jahrhunderts sind überwiegend Asiaten, aber weltweit auf Kaperfahrt. Hauptsächlich sind sie im Arabischen Meer, vor Südchina und Westafrika sowie in der Straße von Malakka aktiv, einem 800 Kilometer langen Wasserweg zwischen der malaiischen Hauptinsel und Sumatra, wo allein 42 Prozent der jährlichen Piratenüberfälle weltweit erfolgen.29 Die modernen Piraten verfügen über die neueste Technik und nutzen Verstecke im Südchinesischen Meer. »Ein Piratenschiff, das [1999] vor Indonesien aufgebracht wurde, war mit falschen Einwanderungsstempeln, Instrumenten zur Fälschung von Schiffsdokumenten, einem teuren Radar, Geräten zur Kommunikation und Satellitennavigation ausgerüstet.«30 Vor allem aber sind moderne Piraten Geschäftsleute, die den globalen Handel mit gestohlenen Gütern abwickeln - ein Business, das jährlich geschätzte 16 Milliarden Dollar abwirft. Der Großteil stammt aus Asien. Das Schicksal des japanischen Frachters »Tenyu« ist ein Beispiel für die neue Form der Piraterie, ausgestattet mit Hightech und den notwendigen finanziellen Mitteln. Der 277 Fuß messende Frachter war von Indonesien nach Südkorea unterwegs und hatte Aluminiumbarren im Wert von 3 Millionen Dollar an Bord. Die »Tenyu« erreichte jedoch nie ihr Ziel; der Eigner des Schiffs verlor nach einem Tag auf See den Funkkontakt. In einem Bericht der Washington Post hieß es dazu:
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Drei Monate später tauchte die »Tenyu« in einem zwielichtigen chinesischen Hafen mit einem neu gemalten Namen auf dem Rumpf wieder auf (dem vierten Namen seit ihrem Verschwinden), mit einer neuen indonesischen Besatzung und einer Ladung Palmöl an Bord. Die ursprünglichen vierzehn Crewmitglieder sind vermutlich tot. Nachforschungen ergaben, dass die Aluminiumbarren in Burma gelöscht und verkauft wurden, letztendlich aber nach China gingen. Erschwert wird die Untersuchung durch moderne Piratensyndikate, die internationalen Unternehmenskonglomeraten mit Niederlassungen und Mitarbeitern in jeder Region ähneln. Schifffahrtsexperten glauben, dass beim Kapern der »Tenyu« südkoreanische Planer, indonesische Handlanger, burmesische Hafenarbeiter und Schwarzmarkthändler und schließlich Komplizen in China beteiligt waren - sie alle sind Teil eines Netzwerks, das die Behörden noch nicht vollständig aufdecken konnten.31 Oft arbeiten die Piraten direkt mit legalen Firmen aus Ländern zusammen, die dem Kampf gegen Piraterie keine große Priorität einräumen. Dazu zählt China, aber auch die europäischen Länder zeigen, wie bereits erwähnt, kein großes Interesse daran, gegen eine Überschreitung der Quoten vorzugehen, obwohl es sich dabei um eine Form der Piraterie handelt. »Der Kabeljau in der Barentssee wird nicht von ausländischen Piraten gefischt, das sind Trawler mit ordnungsgemäßen Fischereilizenzen, die aber falsche Mengen melden und die Quoten überschreiten«, bestätigt Agnew. Kleine chinesische Häfen sind für die modernen Piraten ideal: Sie können dort problemlos ihre Beute abladen, es gibt zahlreiche Interessenten, an die sie verkaufen können, und die lokalen Behörden sind bestechlich. Tatsächlich greift die
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Korruption immer stärker um sich und ist allgemein akzeptiert. »Die Piraten wissen, dass sie Unterstützung erhalten, wenn sie einen chinesischen Hafen anlaufen«, erklärt Pottengal Mukundan, Leiter des International Maritime Bureau, der auf Kriminalität auf See spezialisierten Abteilung der Internationalen Handelskammer mit Sitz in London.32 Ironischerweise stand China vor noch gar nicht allzu langer Zeit in dem Ruf, der letzte Ort zu sein, wo Piraten Geschäfte treiben würden. Die Laisser-faire-Haltung der chinesischen Regierung gegenüber der Wirtschaft schützt Piraten vor dem langen Arm des internationalen Seerechts, wie ein Vorfall bei Beihai zeigt. 1997 kaperten Piraten im Südchinesischen Meer ein Frachtschiff, das Zucker im Wert von 5 Millionen Dollar geladen hatte. Das Schiff landete in Beihai, einem kleinen Hafen in Südchina; dort wartete schon ein Käufer auf die Fracht. Beihai ist ein alter Fischereihafen, wo viele traditionelle Holzfischerboote ein- und auslaufen. Für Piraten ist es einfach und kostengünstig, hier ein gestohlenes Schiff umstreichen und umtaufen zu lassen. Bezahlt wird in bar, Fragen werden nicht gestellt. Als die internationalen Schifffahrtsbehörden die Fracht ausfindig machen konnten, gaben sie die Anweisung, sie dem ursprünglichen Eigentümer zurückzugeben und die vierzehn Piraten zu verhaften. Die Behörden in Beihai ignorierten jedoch die Order, und auch die Regierung in Beijing schritt nicht ein.33 Wie bei den Aidsfällen in Henan fungiert die geographische Entfernung zwischen Beijing und dem Rest des Landes als eine Art Puffer, wenn es um wirtschaftliche und unternehmerische Angelegenheiten geht. Wichtige Entscheidungen werden lokalen Behörden überlassen, die oft von den Kriminellen vor Ort bestochen werden. Wenn aber die Bevölkerung von Beihai die politische Initi-
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ative ergriffen und beispielsweise eine Großdemonstration gegen die Zentralregierung organisiert hätte, dann hätte der lange Arm der Partei unverzüglich zugeschlagen, wie der Fall Guangdong zeigt. Die Piraterie im 21. Jahrhundert begnügt sich nicht mit illegalem Fischfang, dem Kapern von Schiffen, der Entführung von Arbeitern auf Ölplattformen und dem Handel mit gestohlener Ladung auf hoher See. Konzerne und Regierungen greifen oft auf die Dienste der Piraten zurück, wenn es darum geht, gefährlichen Giftmüll zu entsorgen. Bis zu 47 Prozent des europäischen Abfalls wie etwa der Elektroschrott sind giftig. Elektroschrott, vom Computer bis zum Mobiltelefon, reist per Schiff von den Industrieländern in die Entwicklungsländer. Laut Umweltprogramm der Vereinten Nationen, der UN-Organisation, die über den Umweltschutz wacht, liegt die Jahresproduktion von Elektroschrott bei 20 bis 50 Millionen Tonnen. Dieses hochgiftige Material wird in recycelbaren und nichtrecycelbaren Abfall getrennt. Der recycelfähige Teil kommt nach Indien und China, während der nicht mehr verwertbare Abfall in Afrika landet, der globalen Mülldeponie. Basel Action Network (BAN), eine Organisation, die gegen eine globale Giftmüllkatastrophe kämpft, gibt an, dass 75 Prozent des elektronischen Materials, das nach Nigeria kommt, nicht recycelt werden kann und dort die Umwelt belastet. Auch andere afrikanische Länder leiden unter »importierter Umweltverschmutzung«. In Somalia beispielsweise wurden entlang der Küste tonnenweise Elektroschrott und radioaktiver Müll aus Europa gelagert. Die Piraten nutzen die mangelnde Kontrolle und fehlenden Vorschriften und deponieren ihre tödliche Fracht überall. Nach dem Tsunami im Dezember 2005 tauchte ein Teil des Mülls, den man eigentlich auf dem Meeresgrund vermutet hatte, wieder auf.34
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Anarchie unter dem Meeresspiegel Die Ozeane sind nach wie vor die größte Mülldeponie der Welt, und die Piraten sind keineswegs die Einzigen, die dort Abfall verklappen. Verbraucher, Landwirte und Unternehmen verschmutzen täglich Flüsse und Meere. Die Wasserverschmutzung betrifft uns alle; Wasser ist der wichtigste Träger der Verunreinigung. Die Ursachen für die Verseuchung der Meere sind alle auf verschiedene Weise mit der »Schurkennatur« der Weltwirtschaft verbunden. Das erste Problem sind die Abwässer aus Industrie und Landwirtschaft, die in Flüsse und Meere gelangen. Dazu gehören beispielsweise Phosphor und Stickstoff, was zu einem extremen Algenwachstum führt, vor allem im Mittelmeer. Die Algen reduzieren den Sauerstoffgehalt im Wasser, was katastrophale Folgen für Fischbestände und Meeresströmungen hat. Ein weiterer Grund für die Verschmutzung ist das Abwasser von städtischen Siedlungen, das direkt oder über Flüsse ins Meer gelangt. Darunter befinden sich auch menschliche Hormone, etwa Östrogene, die von Frauen, die die Antibabypille nehmen, ausgeschieden werden, oder tierische Hormone, die über Dung und Gülle in den Wasserkreislauf gelangen. Das Wasser des Potomac River, der von anderen Flüssen in Maryland, Virginia und West Virginia gespeist wird, enthält besonders viele dieser Substanzen. Studien haben gezeigt, dass jene Chemikalien die Fruchtbarkeit von Männern einschränken und das Wachstum bestimmter Krebsarten wie Leber-, Gallen-, Eierstock- und Gebärmutterhalskrebs begünstigen können. Allerdings ist die Wirkung bei Wissenschaftlern umstritten und muss noch weiter untersucht werden. Obwohl der Potomac einen Großteil des Trinkwassers für Washington, D.C., liefert, hat das amerikanische Umweltmi-
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nisterium für viele Schadstoffe keine Grenzwerte festgelegt. Sie werden einfach ignoriert.35 Die Flüsse in den USA und Großbritannien enthalten heute hohe Mengen an Weichmachern und Nonylphenolen, hormonell aktiven Substanzen, die Fische zu Zwittern machen. Untersuchungen haben gezeigt, dass männliche Fische, die in einer Flüssigkeit mit diesen Substanzen gehalten werden, ein Protein namens Vitellogenin produzieren, über das sonst nur Weibchen verfügen. Durch ihre hormonähnliche Wirkung können die Chemikalien schwere Geburtsschäden und Defekte der Geschlechtsorgane nicht nur bei Fischen, sondern auch bei anderen Arten wie Fröschen und Krokodilen sowie wahrscheinlich auch beim Menschen auslösen. Verursacher der Verschmutzung sind Elektronik- und Textilfabriken, die industrielle Tiermast sowie das Abwasser aus Kläranlagen. Die belasteten Fische wirken sich ebenso auf die Nahrungskette aus, sodass letztendlich auch der Mensch zu Schaden kommt. Darüber hinaus verschmutzen Konservierungsstoffe, mit denen Lebensmittel länger haltbar gemacht werden, die Gewässer. Die Mitarbeiter im Londoner Leichenschauhaus bestätigen, dass Leichen aufgrund des hohen Anteils an Lebensmittelkonservierungsstoffen im Körper langsamer verwesen. Im Westen verhindern mächtige Lebensmittellobbys, den Einsatz von Konservierungsstoffen in Lebensmitteln zu begrenzen, während in den Entwicklungsländern Konservierungsstoffe ohnehin rückhaltlos akzeptiert werden.36 Doch die Verschmutzung der Meere hat noch weitere Gründe, etwa die Ausbeutung des Meeresbodens, vor allem durch Tiefsee- und Ölbohrungen und durch Unfälle mit Tiefseepipelines. Die Ölgesellschaften sind die schlimmsten Umweltverschmutzer; das Öl wird mit Meerwasser hoch-
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gepumpt, das dann zurück ins Meer gelangt. Für die Schäden, die Ölbohrungen an der Umwelt verursachen, werden Ölgesellschaften nicht belangt; nur bei Umweltkatastrophen müssen sie Entschädigung leisten.37 Allerdings ist es heute schwieriger, bei einer ökologischen Katastrophe wie dem Untergang der »Exxon Valdez« den Schuldigen zu finden. Da die Schifffahrtsgesellschaften nicht mehr verpflichtet sind, den Namen der Charterfirma zu nennen, bleiben die Verursacher mehrerer großer Ölverschmutzungen unbekannt und kommen ungestraft davon. Ein Blick auf die großen Umweltkatastrophen der letzten Zeit offenbart die wahre Natur der Energiekonzerne. Durch die Hurrikane Katrina und Rita schnellten die Ölpreise in die Höhe, sodass Exxon Mobil für 2005 Rekordgewinne meldete, über 36 Milliarden Dollar, den höchsten Jahresgewinn, den je ein einzelnes Unternehmen verbuchen konnte. Eine Sondersteuer von gerade einmal 3 Prozent, die man bei solchen Gewinnen erheben könnte und in Forschung und Entwicklung von Solartechnologie investieren würde, würde das Budget für Solarenergie in den USA vervierfachen. Auch Schadstoffe aus der Luft verschmutzen das Meer, etwa die Abgase von Autos, Schiffen und Flugzeugen sowie aus der Industrie und Landwirtschaft. Wieder sind die Ölgesellschaften die schlimmsten Übeltäter. Während 122 Unternehmen für 90 Prozent des Kohlendioxidausstoßes sorgen, tragen fünf private Ölgesellschaften (ExxonMobil, BP, Amoco, Shell, Chevron und Texaco) zu 10 Prozent des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre bei.38 Und zu guter Letzt wird das Meer durch lokale Fischzucht verschmutzt. Die Fischfarmen boomen überall; jeder dritte Fisch, der weltweit verzehrt wird (55 Millionen Tonnen im Jahr 2003), stammt aus einer Fischfarm. Das bringt Gewinn: Allein in
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Chile wird mit Lachsfarmen jährlich über eine Milliarde Dollar an Devisen erwirtschaftet; in Schottland werfen die Fischfarmen 1,4 Milliarden Dollar pro Jahr ab. Der finanzielle Anreiz ist nicht von der Hand zu weisen. Im Zusammenhang mit Fischfarmen spricht man auch von der blauen Revolution. Die Fischzucht ist billig und wird zum Beispiel beim Lachs als nachhaltige Alternative zum stark überfischten Wildbestand dargestellt. Die Welternährungsorganisation rechnet damit, dass die globale Fischproduktion bis zum Jahr 2030 um weitere 40 Millionen Tonnen steigen muss. Eine derartige Steigerung lässt sich nicht durch effizientere Fischfangtechniken erreichen, sondern nur durch eine Verdopplung der Aquakulturen. Allerdings verursachen Fischfarmen größere Schäden als erwartet.39 Bei der Aquakultur werden große synthetische Netzgehege eingesetzt, die jeweils 15 000 bis 80 000 Fische enthalten. Eine Fischfarm hat meist um die zehn Gehege, die jeweils 30 auf 30 Meter messen. Entsprechend halten viele Farmen bis zu 700 000 Tiere auf sehr kleinem Raum. Durch die verwendeten Netze gelangt ein Großteil des Abfalls, natürlicher wie unnatürlicher, ins Meer und sorgt dort für Verschmutzungen. Der Schaden ist groß, weil viele Fischfarmen in Gewässern mit starker Strömung liegen, etwa in Flussmündungen, sodass sich die Verschmutzung schnell verbreitet. Unter den Gehegen sammeln sich Kot- und Futterreste an (nicht gefressene Futterpellets, tote Fische und so weiter), die dann von der Strömung weggespült werden. Die chemische Verschmutzung entsteht durch Antibiotika und Medikamente gegen Pilze und Seeläuse, die den Tieren verabreicht werden. Die meisten Zuchtfische, etwa Lachs und Thunfisch, sind Raubfische und brauchen zur Mast kleine Fische oder Fischmehl. Für die Produktion von einem Pfund
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Lachs benötigt man beispielsweise 5 Pfund fettreiche Fische wie Sandaale, Sardinen und Heringe. Dadurch ist der Zuchtbetrieb auf die industrielle Fischerei angewiesen, die wiederum den Wildbestand dezimiert. Aufgrund der Massenhaltung sind Lachse und andere Farmfische anfällig für Krankheiten. Diese Krankheiten greifen schnell auf ihre frei lebenden Artgenossen über, da die Farmen oft in der Nähe wilder Bestände liegen. So haben in den vergangenen zwanzig Jahren Epidemien den Wildlachsbestand um die Hälfte reduziert. Außerdem besteht durch den großzügigen Einsatz von Antibiotika bei den Farmtieren die Gefahr, dass die Bakterien immun werden. Fischfarmen wirken sich in verschiedener Hinsicht auf das Ökosystem aus. Besonders gravierend sind die Folgen für die natürlichen Feinde der Zuchtfische, wie sich etwa in British Columbia oder Chile zeigt. Wale, Delfine, Robben und Seelöwen werden vertrieben, manchmal auch beschossen oder in Fallen gejagt, damit sie die Fischfarmen nicht angreifen. Weitere Schwierigkeiten entstehen, wenn die Fische aus den Gehegen entkommen. Die Kreuzung mit wildlebenden Lachsen sorgt bei späteren Generationen für genetische Probleme und verdrängt die ursprünglichen Arten.40
Die Ökonomie des Klimawandels Die Verschmutzung der Ozeane bringt Meeresströmungen aus dem Gleichgewicht und wirkt sich damit auf das Weltklima aus. Auch die Wasserverschmutzung trägt zur Erwärmung der Ozeane bei. Das Schmelzen der globalen Eisreserven ist eine von vielen Folgen der chaotischen Zustände, die auf hoher See herrschen, weil Staaten kaum oder gar nicht
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eingreifen.41 Die Anarchie auf hoher See bietet uns schon einmal einen Ausblick auf die Politik des Zögerns und Zauderns, die später einmal auch auf dem Festland vorherrschen wird. Doch die sich schnell verändernde rechtsfreie Lage auf den Ozeanen eröffnet auch neue wirtschaftliche Möglichkeiten, die durch die globale Erwärmung, das Schmelzen der Eisberge und einen höheren Meeresspiegel entstehen. Das Thema globale Erwärmung hat einen enormen Propagandaaspekt, und einige Länder werden von der Katastrophe sogar profitieren. Zumindest verbarg sich diese Botschaft im Weltklimabericht des Weltklimarats (IPCC) aus dem fahr 2007.42 Während Afrika und Südostasien wahrscheinlich von Dürren und Überschwemmungen biblischen Ausmaßes heimgesucht werden, könnten einige nördliche Industrieländer von der globalen Erwärmung profitieren. Sibirien und die Tundra Westkanadas werden zu fruchtbarem Ackerland. Die Sandstrände Westschottlands werden zur neuen Riviera. Dieses Szenario bestätigt die Schlussfolgerungen aus den vorherigen Kapiteln: Die Wirtschaft kann ohne die Politik gedeihen, wenn sie einfach ihrer kapitalistischen Natur freien Lauf lässt. Die nördlichen Länder sehen im Klimawandel richtige Vorteile. Mit dem schmelzenden Eis lassen sich neue Gebiete und Gewässer erforschen und nutzen. Da stellt sich nur noch die Frage, wem sie gehören: 2001 machte Russland den ersten Schritt und beanspruchte praktisch die Hälfte des Arktischen Ozeans einschließlich des Nordpols für sich. Nachdem andere Staaten einschließlich der USA die Ansprüche in Frage gestellt hatten, versuchte Russland, seinen Besitzanspruch zu untermauern, und schickte ein Forschungsschiff zur Sammlung geogra-
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phischer Daten in den Norden. Am 29. August erreichte das Schiff als erstes überhaupt ohne die Hilfe eines Eisbrechers den Nordpol. Auch die USA, die mit Alaska ebenfalls Ansprüche auf die Arktis erheben, könnten versuchen, ihr Territorium zu erweitern.43 Im Sommer 2007 bekräftigte Russland erneut seine Ansprüche auf den Nordpol. Doch am Wettlauf zum Pol sind alle arktischen Anrainerstaaten beteiligt. Derzeit streiten die USA, Russland, Norwegen und Kanada um das Territorium in der nördlichen Polarregion mit seinen reichen Ressourcen, die bei schmelzendem Eis ausgebeutet werden könnten. Der Streit könnte sich rasch zu einer modernen Version des »Great Game« ausweiten, bei dem es um die unbekannten Ressourcen der Arktis geht. Neben dem Fischfang erweist sich möglicherweise auch die kommerzielle Frachtschifffahrt als überaus lukrativ. Der Traum von der Öffnung der Nordwest- und Nordostpassage, der vereisten Abkürzung zwischen Atlantik und Pazifik, wird vielleicht schon bald Wirklichkeit. Alle arktischen Anrainerstaaten stellen sich bereits darauf ein. So haben etwa Russland und Kanada Handelsabkommen für den Fall unterzeichnet, dass die Nordwestpassage und der Arktische Ozean befahrbar sein werden.44 Auch die Reedereien würden von einer möglichen kürzeren Route profitieren, einige Strecken, für die man derzeit noch siebzehn Tage benötigt, könnten auf acht Tage verkürzt werden. Das Schmelzen des Nordpols wird die Handelsströme revolutionieren, das weiß man auch in China. Nachdem die Chinesen eine Forschungsstation auf Spitzbergen, einer norwegischen Inselgruppe, eingerichtet hatten, zogen sie ihren Eisbrecher »Snow Dragon« von der Antarktis ab, offiziell, um in der Region Klimaforschung zu betreiben. Tatsächlich
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sucht die Mannschaft nach Öl und neuen Handelsrouten, um die reichen westlichen Märkte schneller zu erreichen. Dank niedriger Frachtkosten könnten die Preise für chinesische Fälschungen bald noch günstiger sein! Arktistaugliche Schiffe sind zunehmend gefragt. Im Januar 2006 eröffnete Aker Finnyards, eine Werft in Helsinki, eine Niederlassung zum Bau von Eisbrechern, um der wachsenden Nachfrage nach diesem Schiffstyp zu begegnen. »Ein finnischer Energiekonzern hat zwei Eisbrecher zum Preis von 90 Millionen Dollar pro Schiff gekauft, und nachdem die Russen einen gekauft haben, bauen sie nun in Lizenz zwei weitere.«45 Selbst die boomende Tourismusbranche setzt Eisbrecher ein. Die mittlerweile privatisierte Murmansk Shipping Company bietet auf alten sowjetischen Eisbrechern für 15 000 bis 20 000 Dollar Kreuzfahrten zum Nordpol an. Der Ansturm auf die Eisfelder am Nordpol erinnert an die Anfänge des Goldrauschs in Kalifornien. Motivation ist die Gier. Visionäre Geschäftsleute schließen extravagante Verträge ab, in denen sie auf das Schmelzen der Polkappen setzen. Ein Beispiel ist der Amerikaner Pat Broe, dessen Firma 1997 den kanadischen Hafen Churchill für sieben Dollar kaufte. Der Hafen, der bisher ziemlich nutzlos war, weil er die meiste Zeit des Jahres zugefroren ist, könnte einer der wichtigsten arktischen Häfen werden, wenn das Eis schmilzt, Hochrechnungen sprechen von 100 Millionen Dollar Gewinn pro Jahr. Leider wäre bis dahin Venedig komplett überflutet. Das Chaos auf den Meeren ist von der Schurkenökonomie gezeichnet und spiegelt die Anarchie der im vorigen Kapitel beschriebenen künstlichen Welten. Das Surfen im Netz und das Befahren der Meere lässt sich miteinander vergleichen, weil die Profiteure der Globalisierung den Cyberspace ebenso wie die Ozeane in einen rechtlosen Raum verwandelt haben.
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Internetunternehmer und Piratenfischer nutzen beide außergewöhnliche wirtschaftliche Umstände und profitieren von der Nachlässigkeit und Schwäche des Staates. Die Geschäfte der Internetunternehmer verschmutzen unser Denken, die Aktivitäten der Piratenfischer unsere Nahrung und damit unseren Körper. Es gibt zahlreiche Ursachen für die Verunreinigung der Meere, doch sie alle hängen mit dem veränderten Verhältnis von Politik und Wirtschaft zusammen. Weder Einzelpersonen noch Lobbys, nicht die gemeinnützigen Organisationen und noch nicht einmal die Vereinten Nationen sind stark genug, die Umweltverschmutzung zu bekämpfen. Um die Erde vor einem größeren Klimawandel zu bewahren, braucht es einen politischen Willen und eine Entschlossenheit, die bislang niemand an den Tag gelegt hat. Für diese Misere sind nicht allein die multinationalen Konzerne und Unternehmen verantwortlich. Oft sind sie wie die Verbraucher Opfer der Schurkenökonomie, wie der illegale Kabeljaufang in der Nord- und Ostsee zeigt. Die Unfähigkeit des Marktstaates, bedeutende sozioökonomische Probleme wie den Umweltschutz anzugehen, erklärt die Gleichgültigkeit, mit der heutige Regierungen den tödlichen Folgen der Schurkenökonomie begegnen. Allerdings zeigt der Ansturm auf die eisigen Gewässer der Arktis auch, dass sich selbst aus dieser gesetzlosen und anarchischen Situation neue wirtschaftliche Möglichkeiten ergeben, von denen mitunter sogar ganze Nationen profitieren können. Die Erde, wie wir sie heute kennen, wird vielleicht nicht weiter bestehen, doch die Menschheit wird deshalb nicht verschwinden. Während die Gebiete am Äquator und die gemäßigten Zonen von Überschwemmungen und Dürren heimgesucht werden, wird in den Gebieten des nördlichen und südlichen Wendekreises neues Leben sprießen.
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Wie schon in der Vergangenheit ist der aktuelle wirtschaftliche Wandel von der Schurkenökonomie geprägt. Doch dieses Mal wird er die soziale Geographie unserer Welt verändern und möglicherweise ganze Bevölkerungsgruppen auslöschen, den Reichtum neu verteilen und neue Reiche schaffen. Die großen Veränderungen der Vergangenheit gingen oft einher mit politisch motiviertem Völkermord, Sklaverei und Ausbeutung. Der amerikanische Mythos von der Eroberung des Westens basierte auf der Ausrottung der Indianer; der Reichtum der Südstaaten gründete auf Sklaverei; die industrielle Revolution brachte eine rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiter und Umwelt. Aber irgendwann sickert das Wirtschaftswachstum doch nach unten durch und bringt denjenigen, die überlebt haben, Fortschritt und Modernisierung. Wenn wir uns an der Geschichte orientieren können, dann wird die Schurkenökonomie das Antlitz der Erde im wahrsten Sinne des Wortes neu gestalten und eine neue Kultur hervorbringen. Aber bevor die Welt dieses Ziel erreicht, muss sie Chaos, Anarchie, Überschwemmungen und Hungersnöte überstehen; sie muss den langen Marsch durch Hannah Arendts apolitische Wüste abschließen und die letzte große Illusion durchbrechen: die moderne Politik.
KAPITEL
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Die großen Illusionisten des 20. Jahrhunderts
Das Ziel des Terrorismus ist es, Schrecken
zu
verbreiten. Franz Fanon
In seinem Dokumentarfilm »Eine unbequeme Wahrheit« gibt AI Gore zu, dass seine Berater ihm im Präsidentschaftswahlkampf 2000 empfahlen, ökologische Themen zu meiden (obwohl er schon damals ein überzeugter Umweltschützer war), weil ihm diese keine Stimmen bringen würden. Diese Empfehlung basierte auf landesweiten Meinungsumfragen. Heute sähe die Situation natürlich anders aus, da mittlerweile Millionen Menschen für Umweltprobleme sensibilisiert sind. Im Marktstaat müssen Politiker in zunehmendem Maße Aufgaben erfüllen, die nichts mit dem traditionellen Politikverständnis, umso mehr aber mit einzelnen Themen zu tun haben. Anstatt für ihre eigene Vision von der Zukunft einzutreten, sagen sie lieber nur das, was die Bürger hören wollen. Meinungsumfragen ersetzen die Stimme des Volkes, und die Politik ist nicht mehr länger ein Tummelplatz der Ideen, sondern wird von Marketingstrategien und Meinungsforschern beherrscht. Einer der besten ist der Amerikaner Marc Penn, der die Kunst der politischen Meinungsumfrage durch
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Die großen Illusionisten des 20. Jahrhunderts
die Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Methoden wie etwa des Data-Mining perfektionierte. Die britische Supermarktkette Tesco ist mit ihrer Kundenclubkarte einer der Pioniere bei der Anwendung dieser neuen Technik, die als das »Sammeln wichtiger Verbraucherinformationen« beschrieben wird. Die Karten könnte man als die DNA der Käufer bezeichnen; sie enthalten alle Informationen, die zur Bewertung des Kaufverhaltens erforderlich sind, vom gesellschaftlichen Status bis zu Essensvorlieben. Marketingteams arbeiten mit diesen Informationen und konzentrieren sich dabei auf die Verbraucher, die ihre Gewohnheiten ändern - nicht auf diejenigen, die immer die gleichen Produkte kaufen. Das erklärt man damit, dass man so besser auf ein verändertes Konsumverhalten reagieren kann. Wahlkämpfe sind heutzutage auf die wankelmütigen Wechselwähler ausgerichtet, weil diese bei jeder Wahl den Ausschlag geben. Daraus folgt, dass Meinungsumfragen für Politiker das sind, was Clubkarten für Tesco sind; sie bilden schnappschussartig die Meinung der Wechselwähler ab. Moderne politische Meinungsforscher sind im Grunde Statistiker und Analytiker; sie sammeln Informationen über Wechselwähler und suchen nach auffallenden Mustern. Der umstrittene Wahlslogan von New Labour im Wahlkampf 2005 »Vorwärts, nicht zurück« - entstand beispielsweise aus dieser neuen Form der Meinungsforschung. Vor den Wahlen in Großbritannien versuchte Penns Firma bei Tausenden Befragungen in Erfahrung zu bringen, was die Bürger von New Labour erwarteten. Die Ergebnisse wurden an Tony Blair weitergeleitet und im Wahlslogan zusammengefasst.1 Soziologen haben endlose Analysen über die »Unentschlossenheit« der Mittelschicht verfasst, doch erst mit dem Aufkommen des Marktstaates rückten Wechselwähler in den
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Mittelpunkt der Politik. Heute gestalten Themen, die dieser Minderheit (und nicht der Partei) wichtig sind, die Politik der modernen Demokratien. Ihrer eigenen intellektuellen Fähigkeiten und Ideologien beraubt, werden Politiker zu bloßen »Darstellern«. Ihr Auftritt ist einer von vielen in einer Reihe großer Illusionen, mit denen sie die Massen glauben machen, ihre Politik sei das, was das Land brauche. Im Marktstaat ist das Wissen darum, was den Wähler von einer Partei zur nächsten wechseln lässt, ein mächtiges Werkzeug, und wer es beherrscht, kann mit Hilfe der politischen Propaganda Wunder wirken. So spielt beispielsweise beim Abstimmungsverhalten der Wechselwähler die Begeisterung für Prominente eine große Rolle. Stellen Sie sich vor, die Schauspieler von Fellinis »La Dolce Vita« würden Wahlwerbung für die italienischen Christdemokraten machen! Wenn sich bekannte Künstler früher politisch engagierten, dann gegen das Establishment, etwa Charlie Chaplin gegen den Nationalsozialismus und später gegen McCarthy. Heute ermuntern Politiker Prominente, sich ihrem Wahlkampfteam anzuschließen, weil sich ihr Image positiv auf das Wahlergebnis niederschlägt. Prominente sind schon von der Definition her Medienfiguren, die in der Öffentlichkeit stehen. Aus diesem Grund wurde Bob Geldof von den britischen Konservativen als Berater für globale Armut engagiert. Zu den prominenten Unterstützern von Unicef zählen David Beckham, Ricky Martin und Robbie Williams.2 Fünf ehemalige Trägerinnen des Titels Miss Universe fungieren als Goodwill-Botschafterinnen für den UN-Bevölkerungsfonds. Status und nicht Wissen ist heute der wichtigste Faktor für das weltpolitische Engagement vieler Prominenter. Natürlich hat die Globalisierung ihre Bedeutung enorm erhöht und ihre Gesichter auch noch im hintersten Winkel der Erde
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bekannt gemacht. Doch in erster Linie ist es der Übergang vom Nationalstaat zum Marktstaat, der ihren Eintritt in die breite Politik ermöglichte. Prominente sind Teil des Establishments, weil sie ihren Starruhm und Reichtum der Vermarktung ihres Images verdanken. Ihre Loyalität zum Markt ist unerschütterlich, da ihre Existenz und ihr fortgesetzter Erfolg davon abhängen. In der kollektiven Wahrnehmung haben Prominente einen ähnlichen Status wie früher die griechischen Götter: launische Wesen, die den Olymp des Marktstaates bewohnen. Außergewöhnlicher Reichtum und ihre Berühmtheit machen sie zu Übermenschen, und als solche gelten für ihr Leben andere Maßstäbe und Normen. Dass Brad Pitt ein Hybridauto fährt, wird als Aussage zur Rettung des Planeten gewertet. Dabei reist er regelmäßig im Privatjet,3 etwa als er mit Angelina Jolie nach Namibia flog und damit ungefähr 11 000 Gallonen Kerosin verbrauchte, genug, um mit einem Hybridauto zum Mond zu fahren. 4 Bonos Kreuzzug zur Rettung Afrikas vor der Armut brachte ihm die Nominierung für den Friedensnobelpreis ein. Gleichzeitig zahlt seine Band U2 dem Fiskus nicht in Irland, sondern im holländischen Steuerparadies seinen Anteil.5 Ein derartig widersprüchliches Verhalten wäre etwa so, wie wenn sich Charlie Chaplin auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära zum Abendessen mit Senator McCarthy persönlich oder den Dulles-Brüdern (CIA-Chef Allen Welsh Dulles und Außenminister John Foster Dulles) getroffen hätte. Früher wurden solche Heucheleien nicht in dem Ausmaß geduldet wie heute. Warum dürfen sich Prominente so ist ihr Status als Übermenschen, den zerstören will. Die Menschen sind nenten; sie wären verloren ohne ihre
verhalten? Der Grund die breite Masse nicht süchtig nach Promitägliche Dosis an Ge-
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schichten aus diesen realen Seifenopern. Die Liebesaffären der Promis lenken vom Alltag ab, gleichzeitig gibt die von der Boulevardpresse geschaffene Intimität den Tagträumen der Leser neue Nahrung. Was sich viele Menschen erträumen, hat nichts mit der Schaffung einer besseren Welt zu tun; sie wollen lieber zur Glitzerwelt der Prominenten gehören. Ihr größter Wunsch ist es, aus dem grauen Alltag in eine Phantasiewelt zu entfliehen. Trotz ihrer Position als Übermenschen werden Prominente von Politikern manipuliert, politische Zaubertricks zu vollführen. Die großen Illusionisten sind nicht die Popsänger, Fußballprofis oder Hollywoodstars, sondern die Politiker. George W. Bush und Tony Blair unterstützten zwar Bono und Bob Geldof bei ihrer Live-8-Kampagne zur Bekämpfung der Armut in Afrika, doch ihr Motiv hatte weniger mit der Beseitigung der Armut zu tun als damit, die eigenen Interessen und die ihrer Wählerschaft zu wahren. Engagierte Prominente und gigantische Medienspektakel sind notwendig als altruistische Geste des Westens gegenüber Afrika. Doch in Wirklichkeit endete die Umsetzung der Agenda damit, dass der Kontinent weiterhin der Wirtschaftspolitik der westlichen Mächte unterworfen wurde.
Afrikanische Denkanstöße Das Dilemma Afrikas beschäftigt Wirtschaftswissenschaftler und Politiker schon seit über einer Generation. Seit den sechziger Jahren hat Afrika über eine halbe Billion Dollar an Hilfe erhalten, dennoch ist es heute ärmer als zu Beginn der Kreditvergabe. Warum? Für Prominente wie Bono ist die Antwort einfach. Geldmangel und die Unfähigkeit der Afrika-
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ner, die Schulden ihrer Länder zurückzuzahlen, blockieren das wirtschaftliche Wachstum Afrikas. Die Lösung klingt sogar noch einfacher: Die Kreditgeber sollten die vorhandenen Schulden streichen und die Finanzhilfe verdoppeln. Beim G8-Gipfel 2005 machte Tony Blair diese Sichtweise zu seiner eigenen, während Bono und Bob Geldof Fans mobilisierten, Druck auf die G8-Staaten auszuüben, damit diese die Initiative unterstützten. Allerdings sind renommierte Wirtschaftswissenschaftler, Diplomaten und Menschen, die ihr Leben dem Kampf gegen die Armut in unterentwickelten Ländern verschrieben haben, ganz anderer Meinung. Ausschlaggebend dafür, dass aus einem Entwicklungsland ein entwickeltes Land wird, ist nicht die Höhe der Hilfsgelder, sondern »die Art und Weise, wie das Geld ausgegeben wird«, erklärt Carlo Cibò, ein italienischer Diplomat, der Jahrzehnte in Afrika gelebt hat.6 Den Ausschlag gibt die Art und Weise, wie die politische Elite in den betroffenen Ländern die Entwicklungshilfe einsetzt. Der Großteil der halben Billion Dollar, die Afrika seit den sechziger Jahren erhalten hat, wurde nicht für die wirtschaftliche Entwicklung verwendet, sondern zur Finanzierung von Staatsstreichen und Bürgerkriegen. Allein in den achtziger Jahren kam es in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara zu mindestens 92 Putschversuchen des Militärs mit Auswirkungen auf 29 Länder. Von 1982 bis 1985 gab Simbabwe 1,3 Milliarden Dollar von insgesamt 1,5 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe für Waffen und Munition aus. Historisch betrachtet, diente die Entwicklungshilfe für Afrika als Instrument der Schurkenwirtschaft, das vor allem zur Finanzierung von Terroristen benutzt wurde. In vom Krieg zerrissenen Ländern wie Äthiopien, Somalia und Sudan erwiesen sich ausländische Hilfsleistungen oft als lukrative Ein-
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nahmequelle für bewaffnete Gruppen vor Ort. Während des Bürgerkriegs im Sudan wurde der Großteil der Lebensmittellieferungen, die für die hungernde Bevölkerung vorgesehen waren, von lokalen Milizen und Warlords verscherbelt, und mit dem Erlös wurden irakische Waffen für den Krieg gegen die sudanesischen Streitkräfte und die Bevölkerung gekauft. Auch afrikanische Regierungen sind an der Unterschlagung von Hilfslieferungen beteiligt. Die sudanesische Regierung nutzte ihren Anteil an Entwicklungshilfe zum Kauf von irakischem Öl, mit dem die Kriegsmaschinerie am Laufen gehalten wurde, und zur Bezahlung von Militärberatern aus dem Iran. Die Unterschlagung ist so weit verbreitet, dass Spenderländer sogar automatisch von einem Abschlag in Höhe von 5 Prozent in bar oder Sachleistungen ausgehen. Bei manchen afrikanischen Ländern beträgt dieser Abschlag bis zu 20 Prozent. Wenn die Entwicklungshilfe nicht sofort unterschlagen wird - also bevor das Geld oder die Hilfsgüter die Bevölkerung erreichen -, werden die Menschen oft später ausgeraubt. Bei dieser Form der Terrorismusfinanzierung »beschlagnahmen« bewaffnete Milizen die Hilfsgüter bei Straßensperren auf ihrem Territorium oder bei Überfällen auf die Dörfer. Diese Raubzüge verursachen meist Hungersnöte, wie das Beispiel Sudan zeigt. Im Bürgerkrieg plünderte die Bagara-Miliz aus dem Norden Dörfer im Süden, die als Stützpunkte der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee SPLA gelten, der Rebellengruppe, die Autonomie für den Südsudan fordert. Die Miliz trieb das Vieh zusammen und schlachtete es ab, um der Bevölkerung die Lebensgrundlage zu entziehen und so im Südsudan eine allgemeine Hungersnot auszulösen. Hilfsinitiativen wie Live Aid Mitte der achtziger Jahre für Äthiopien oder das Live-8-Konzert 2005 sind zwar gut gemeint, sorgen aber letzten Endes nur dafür, dass der Bürger-
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krieg weitergeführt wird, ohne die wirtschaftlichen Probleme Afrikas zu lindern. Auslöser für die Hungersnot in Äthiopien Anfang der achtziger Jahre waren nicht zwei Jahre der Dürre; der Hunger war vielmehr die direkte Folge der massiven Vertreibung der Bevölkerung, der nach jahrzehntelangem Krieg zwischen der Regierung in Addis Abeba, der eritreischen Guerilla und der Befreiungsfront Tigray nur noch die Flucht blieb. Von 1982 bis 1985 erhielt Äthiopien einschließlich der Spenden vom Live-Aid-Konzert 1,8 Milliarden Dollar an Entwicklungshilfe. Doch anstatt damit die hungernde Bevölkerung zu versorgen, wurde der Großteil des Geldes, insgesamt 1,6 Milliarden Dollar, für den Kauf von Rüstungsgütern verwendet. Ohne die Situation richtig zu kennen, unterstützten die Organisatoren von Live Aid und die ausländischen Spender ungewollt die Kriegspolitik, da es zwischen der Regierung, Milizen und Kriminellen zu einem rücksichtslosen Kampf um die Entwicklungshilfe kam. Live Aid und allgemein die Hilfe aus dem Westen besiegelten das tragische Schicksal Äthiopiens, eines Landes, das heute ärmer ist als Anfang der achtziger Jahre.7 Gutgemeinte Initiativen fallen leicht der Schurkenökonomie zum Opfer, vor allem in afrikanischen Ländern. Dennoch sind sie populär, weil sie fälschlicherweise den Eindruck vermitteln, Hilfe zu leisten. Carlo Cibö fügt hinzu, dass Popkonzerte viel zu stark die Spendenaufrufe in den Vordergrund stellen und den Menschen damit ein reines Gewissen verschaffen, von den realen, komplizierten Problemen vor Ort aber weit entfernt sind. Dazu kommt, dass die Erlöse nach Abzug der Unkosten schnell und wahllos ausgegeben werden, weil die Veranstalter sich nicht nachsagen lassen wollen, sie behielten das Geld für sich. Doch mit dieser Form der Unterstützung ist Afrika nicht geholfen.8
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Auch die Weltbank ist der Ansicht, dass der Erlass der Schulden und eine Erhöhung der Entwicklungshilfe Afrika nur noch tiefer in die Armut stürzen würden. Ein Ende der landwirtschaftlichen Schutzzölle und die Streichung der 300 Millionen Dollar an Subventionen, die reiche Länder ihren Landwirten zukommen lassen, wären da schon hilfreicher. Mit dieser Strategie könnte die afrikanische Landwirtschaft ihre Gewinne um 100 Milliarden Dollar steigern - das sind 20 Milliarden Dollar mehr als die 80 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe, die die Industrieländer im Jahr 2006 für Afrika bereitstellten. Ein Ende der Subventionen und Schutzzölle in der industrialisierten Welt würde bedeuten, dass afrikanische Erzeugnisse in den freien Wettbewerb mit westlichen Produkten treten und so 500 Milliarden Dollar erwirtschaften könnten, genug, um 150 Millionen Afrikaner bis 2015 aus der Armut zu befreien. Doch eine Kampagne für diese Maßnahmen würde die Landwirte der westlichen Welt abschrecken, und gerade sie bilden in den USA das Rückgrat von Präsident Bushs Wählerschaft und stellen auch in Europa eine wichtige Interessengruppe. Daher begrüßten Bush und Blair Bonos Vorschlag, denn so konnten sie ihren Protektionismus hinter westlicher Großzügigkeit verstecken. Die Wahrheit hinter der Kampagne zur »Bekämpfung der Armut« lautet, dass von der Entwicklungshilfe besonders diejenigen profitieren, die sie leisten, wie das Beispiel des Marshallplans zeigt, der einen neuen Markt für amerikanische Produkte schuf. Laut Mumo Kisau, einem Wirtschaftswissenschaftler, der für verschiedene humanitäre Organisationen in Afrika arbeitete, gehen von jedem Dollar an Entwicklungshilfe für Afrika drei Dollar wieder zurück in das Land, aus dem die Spenden stammen, weil die Güter in den Industrieländern hergestellt werden oder Projekte westliches Know-
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how erfordern. So schafft die Entwicklungshilfe einen Markt für westliche Produkte. Nach Aussage verschiedener Weltbankmitarbeiter, mit denen ich mich unterhielt, werden 70 Prozent der Kredite für Güter und Dienstleistungen westlicher Hersteller ausgegeben.9 Viele afrikanische Politiker sprechen sich gegen zusätzliche Entwicklungshilfe aus und fordern stattdessen einen Technologietransfer sowie die Entwicklung einer besseren Infrastruktur. Afrika fehlen die Strukturen und Facharbeiter, um sich selbst aus der Armut zu befreien, wie der Bau eines Dammes am Niger zeigt. Das 15 Millionen Dollar teure Projekt wurde an eine amerikanische Baufirma vergeben, weil die Regierung von Niger nicht in der Lage war, ein Projekt dieser Größenordnung abzuwickeln. Während der Marshallplan den Wiederaufbau im kriegszerstörten Europa ankurbeln sollte, damit die Verbraucher amerikanische Produkte kaufen konnten, verfolgt die Finanzhilfe für Afrika das entgegengesetzte Ziel. Zum Schutz der Landwirte ist beispielsweise die Europäische Union, die großzügig Finanzhilfe leistet, nach wie vor gegen den Verkauf gentechnisch veränderter Pflanzen, die weniger Bewässerung benötigen. Die Hilfe dient als eine Art Absicherung, mit der die Geberländer ihre eigene Produktion vor der Konkurrenz durch afrikanische Produkte schützen. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Gelder aus dem Ausland die Ursache für die »afrikanische Krankheit« sind, sie wirken als eine Art wirtschaftliches Virus, das so ansteckend und tödlich ist wie Aids. Der schwedische Wirtschaftswissenschaftler Fredrik Erixon hat gezeigt, dass sich die Höhe der Finanzhilfen für Afrika seit den siebziger Jahren antiproportional zum Wirtschaftswachstum verhält. Die Hilfe aus dem Ausland ist keine Therapie, sondern verschlim-
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mert das Leiden noch. Je mehr Geld ein Land erhält, desto größer ist die Armut. Nachdem die Wirtschaft Tansanias und Kenias in den sechziger Jahren nach Erlangen der Unabhängigkeit ein kräftiges Wachstum verzeichnete, begann sie Mitte der siebziger Jahre zu stagnieren. Der wirtschaftliche Niedergang fällt mit dem Eintreffen der Entwicklungshilfe zusammen. Ab Mitte der siebziger Jahre bis 1996 erhielten Tansania und Kenia jeweils etwa 16 Milliarden Dollar an finanzieller Unterstützung. Mit dem Geld wurde eine katastrophale Wirtschaftspolitik umgesetzt. Tansania verfolgte eine Form des afrikanischen Sozialismus, Kenia eine Politik der Importsubstitution. Ebenso wenig brachte die Hilfe aus dem Ausland etwas für die politische Stabilität. Im Sommer 1998 verübten Mitglieder von Al Kaida Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania und töteten Hunderte Menschen. In scharfem Gegensatz dazu ist die Wirtschaft Botswanas, eines Landes, das in den vergangenen dreißig Jahren nur sehr bescheidene Mittel aus dem Ausland erhielt, schneller als die chinesische Wirtschaft gewachsen (das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg von 1600 Dollar im Jahr 1975 auf 8000 Dollar im Jahr 2004), und auch politisch ist Botswana einer der stabilsten Staaten Afrikas. Ähnlich wie Erixon argumentiert Thomas Sheehy, Autor der vergleichenden Studie Beyond Dependence and Poverty: Rethinking U.S. Aid to Africa.10 Er zeigt, dass Afrika im Schnitt viermal so viel Entwicklungshilfe erhielt wie Asien. Dennoch hat Afrika pro Kopf ein Bruttoinlandsprodukt nahe der Armutsgrenze, während das asiatische BIP boomt. In einem Bericht der Weltbank aus dem Jahr 2007 heißt es, dass die Zahl der Armen (also der Menschen, die von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen) dank des Wirtschaftswachstums von China und Indien abnimmt.
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Das Problem Afrikas ist nicht wirtschaftlicher, vielmehr politischer Natur. Nicht Geld, sondern die richtige Regierung wird es lösen. In John Readers Buch Afrika: Ein Portrait des Schwarzen Kontinents wird die Erfolgsgeschichte von Ukara beschrieben, einer kleinen tansanischen Insel im Victoriasee. Die dichtbesiedelte Insel hat einen sandigen, unfruchtbaren Boden und keine natürliche Vegetation oder Ressourcen, dennoch gab es nie Lebensmittelknappheiten oder Hungersnöte. Reader erklärt den Erfolg Ukaras mit dem System des privaten Landbesitzes und dem Fehlen von Stammeshäuptlingen oder Diktatoren. Afrikanische Wirtschaftswissenschaftler beharren darauf, dass Afrika keine zusätzliche finanzielle Hilfe, sondern eine bürgerliche Revolution benötigt: das Aufkommen einer unternehmerischen Mittelschicht, die vor Ort die Produkte herstellt und verkauft, die die Verbraucher haben wollen, und so Arbeitsplätze schafft. Zwei Jahre nach der historischen Entscheidung, Afrika die Schulden zu erlassen, ist der Kontinent ärmer als je zuvor. Keine der neuen Initiativen hat geholfen, auch Bonos Projekt RED nicht, bei dem Unternehmen Produkte unter der Marke RED herausbringen und einen bestimmten Prozentsatz des Erlöses für Afrika spenden. Damit erreichten sie nur, dass für ihre eigenen Marken kostenlos geworben wurde. Das Fiasko bei der Bekämpfung der Armut zeigt die Grenzen der Prominenten in der politischen Arena auf, selbst wenn sie die besten Absichten verfolgen. Sie sind schlecht informiert, oft fehlt ihnen der wissenschaftliche und professionelle Hintergrund, um komplexe Themen wie die Armut in Afrika zu verstehen, vor allem aber sind sie eine leichte Beute für die wahren Medienfiguren, die Politiker und ihre machiavellistische Marketingmaschinerie. Politische Illusionen ergänzen die Marktmatrix, weil sie
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die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verwischen. Sie bilden die Grundlage für die Propagandamaschinerie des Marktstaates; die Politiker erfinden und die Medien unterstützen sie. Die mächtigste Illusion ist derzeit die Angst vor dem Terrorismus, die sorgsam geschürt wurde, um das seit dem Zusammenbruch des Kommunismus bestehende ideologische Vakuum zu füllen.
Die Politik der Angst An einem nebligen Montagmorgen im Dezember 2006 kam ich um halb sechs Uhr morgens am Flughafen von Heathrow an, zwei Stunden, bevor mein Alitalia-Flug nach Rom startete. Nachdem ich mich 45 Minuten lang angestellt hatte, konnte ich glücklich mein Gepäck aufgeben - nur um Minuten später festzustellen, dass sich die Schlange für die Sicherheitskontrolle bis vor das Terminal erstreckte. Um die leidgeprüften Reisenden vor dem eisigen Nebel zu schützen, hatte die Flughafenleitung beheizte Zelte vor dem Terminal aufstellen lassen. Ich stellte mich im Zelt am Ende der Schlange an, obwohl ich wusste, dass ich es nicht rechtzeitig zu meinem Flug schaffen würde. Die Zeit verging, und die Passagiere wurden immer nervöser, einigen alten Leuten wurde schlecht, Babys brüllten, und Geschäftsleute wurden zunehmend ärgerlich. Als ich schließlich das Terminal betrat, war das Ende der Schlange noch lange nicht erreicht, die Wartenden schlängelten sich in mehreren Bogen durch die gesamte Länge des Terminals. Auf der Abflugtafel blinkten neben fünf oder sieben Flügen die gefürchteten Worte »letzter Aufruf«. Mir fiel auf, dass sich mehrere Passagiere ungläubig anstarrten, wenn sie nervös auf ihre Uhren sahen und ausrechneten, wie lange es
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noch dauern würde, bis sie die Sicherheitskontrolle hinter sich gebracht hatten. Andere versuchten, Flughafenmitarbeiter auf sich aufmerksam zu machen, die in leuchtend gelben Westen neben dem Ausgang zum Abflugbereich standen. Schließlich näherte sich ein groß gewachsener Sicherheitsbeamter meinem Teil der Schlange. »Mein Flugzeug startet gleich. Könnten Sie mich nicht vorlassen?«, fragte ein Geschäftsmann mittleren Alters höflich. Der Sicherheitsbeamte schüttelte den Kopf und erklärte, er dürfe niemanden durchlassen. »Was sollen wir tun?«, fragte eine Frau neben mir. Warten und hoffen, dass das Flugzeug nicht pünktlich starte, lautete die phlegmatische Antwort. Ich wies daraufhin, dass ich wie die meisten anderen Passagiere mein Gepäck bereits aufgegeben hätte, das sich nun wahrscheinlich schon im Flugzeug befinde. Das Gepäck wieder auszuladen, würde Zeit und Geld kosten, daher sei es doch sicher einfacher, mich ins Flugzeug zu setzen. Daraufhin wandte sich der Mann ab und ging einfach weiter. Die Gleichgültigkeit gegenüber den Kosten für Verspätungen im Flugverkehr, die aufgrund der verschärften Sicherheitskontrollen zustande gekommen sind, ist bemerkenswert. 2002 errechnete der Wirtschaftswissenschaftler Roger Congleton, dass jede zusätzliche halbe Stunde, die Passagiere auf dem Flughafen verbringen, die Wirtschaft 15 Milliarden Dollar pro Jahr kostet, das entspricht fast dem dreifachen Jahresgewinn der gesamten Flugbranche in den neunziger Jahren. 11 Zu diesen astronomischen Zusatzkosten muss man noch die Löhne Tausender Menschen hinzurechnen (einschließlich derer, die an jenem Montagmorgen das Gate versperrten), die seit dem 11. September von Sicherheitsfirmen eingestellt wurden. Als ich schließlich vor der Sicherheitskontrolle stand, war
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es 7.30 Uhr. Zusammen mit mehreren anderen Passagieren begann ich, mich auszuziehen: Gürtel, Schuhe, Haarnadeln und so weiter. Dann holte ich aus dem einzigen Gepäckstück, das ich mit an Bord nehmen durfte, meinen Laptop, dazu Make-up, Toilettenartikel und flüssige Medikamente, sorgsam in verschiedene Plastikbeutel von 20 auf 20 Zentimeter verpackt. Plötzlich stürzte ein junges Paar an mir vorbei und drängelte sich vor. Die beiden warfen ihr Handgepäck aufs Band und rannten durch den Metalldetektor, der sofort zu piepsen begann. Ein Sicherheitsbeamter stoppte die beiden und forderte sie auf, zurückzugehen und sich wie alle anderen Passagiere auszuziehen. Die zwei sahen sich an und schrien auf Italienisch: »Wir sind spät dran, wir müssen rennen, sonst verpassen wir unseren Flug!« Daraufhin meldeten sich andere italienische Passagiere zu Wort, die wie ich in der Schlange steckten. Sie würden ebenfalls ihren Flug verpassen, warum dürfe sich das Paar vordrängeln? Es kam zu einem Wortgefecht. Menschen, die durch die Situation bis zum Äußersten gereizt waren, beschimpften sich auf Italienisch und Englisch. Hinter mir fiel eine alte Frau in Ohnmacht. Die Sicherheitsbeamten sprangen herbei und stießen dabei mit einem Paar mit zwei schreienden Babys im Kinderwagen zusammen, das von einer Sicherheitsbeamtin an uns vorbeigeschleust wurde. Diese chaotische Szene ist das Vermächtnis des 11. September: das zusätzliche, oft unerträgliche und unnötige Maß an Stress, das uns die künstlich erzeugte »Angst vor dem Terror« auferlegt, wenn wir auf Reisen sind.
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Terrorismus in Zahlen Die Vorstellung, dass auf den westlichen Flugverkehr heute eher ein Anschlag verübt wird als früher, ist einer der vielen Mythen, die sich die Politik der Angst zunutze macht. Dabei handelt es sich um eine sorgfältig konstruierte politische Illusion, denn die Zahlen belegen, dass es in den siebziger Jahren weit gefährlicher war, ein Flugzeug von Westeuropa nach Nordamerika oder umgekehrt zu besteigen. In dieser Zeit gab es 31 Flugzeugentführungen mit 29 Todesopfern. In den achtziger Jahren waren es nur 13 Flugzeugentführungen, allerdings kamen dabei 61 Personen ums Leben. In den neunziger Jahren fiel die Zahl der Entführungen auf sechs, und es gab keine Todesopfer, und seit dem Jahr 2000 wurden bislang nur sieben Flugzeuge entführt, vier davon am 11. September.12 Joe Sulmona, als Berater für die Luftfahrt tätig, ist der Ansicht, dass die Zahl der Flugzeugentführungen dank zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen seit den siebziger Jahren stark zurückgegangen ist. Der Bedrohung des Jahrzehnts trat man in den achtziger Jahren mit neuen Maßnahmen und Strategien entgegen. »Die Flugzeugindustrie glaubt nicht, dass diese Ängste auf bestimmte Kontinente wie Europa oder den Nahen Osten beschränkt sind«, erläutert Sulmona.13 »Und was Selbstmordattentate angeht, galten sie bis zum 11. September als lokale Maßnahme, um Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache zu lenken, aber nicht als gefährlicher Bestandteil einer Flugzeugentführung. Vor dem 11. September lautete die Vorgehensweise, Zeit zu gewinnen und in einen Dialog mit den Entführern zu treten; genau das taten die Flugbehörden am 11. September. Heute sähe das ganz anders aus.« Sulmona bestätigt, dass die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) Leitfäden für derartige Vorfälle
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hat, und betont, dass eine Wiederholung des 11. Septembers nicht so einfach sei. Heute ist es viel leichter, einen Anschlag auf den städtischen Nahverkehr zu verüben als auf Flughäfen und Flugzeuge, die über hohe Sicherheitsstandards verfügen. Das zeigen auch die Anschläge von Madrid und London. Psychologisch betrachtet, ist die Wirkung vielleicht sogar größer, da der westliche Durchschnittsbürger nicht jeden Tag fliegt, aber ständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist. Dennoch konzentriert sich die politische Propaganda fast ausschließlich auf die Sicherheit der Luftfahrt.14 Selbst die Wahrscheinlichkeit, dass Amerikaner oder Europäer einem internationalen Terroranschlag zum Opfer fallen, war in der Vergangenheit höher.15 Offizielle Angaben der RAND Corporation zeigen, dass es in den siebziger Jahren 920 internationale terroristische Anschläge gab; in den achtziger Jahren stieg die Zahl auf 1219 und fiel in den neunziger Jahren wieder auf 626. Seit dem Jahr 2000 wurden 188 Anschläge verübt (den 11. September, bei dem etwa 3000 Menschen starben, nicht mit eingerechnet, er wird von Terrorismusexperten als außergewöhnliches Ereignis betrachtet).16 Die Zahlen zeigen, dass das Risiko, in Westeuropa oder Nordamerika bei einem internationalen Terroranschlag ums Leben zu kommen, in den achtziger Jahren höher war als heute. Während in den siebziger Jahren 287 Personen starben, gab es in den achtziger Jahren 990 Opfer. Die Zahl der Opfer ging in den neunziger Jahren auf 367 zurück, und mit Ausnahme vom 11. September, als über 3000 Personen starben, fielen in unserem Jahrzehnt bislang »nur« 330 Personen dem internationalen Terrorismus zum Opfer.17 Die Statistiken zum internationalen Terrorismus erfassen nicht die Terroranschläge im eigenen Land, diese werden als Anschläge definiert, die keine ausländischen Opfer fordern.
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Die Häufigkeit internationaler im Vergleich zu nationalen Terroranschlägen ist in den letzten zwanzig Jahren gestiegen, weil allgemein mehr gereist wird. Eine schnelle Analyse der Angaben zu Europa bestätigt, dass selbst das Risiko, bei einem nationalen Terroranschlag zu sterben, in den siebziger Jahren höher war als heute. 1972 starben in Großbritannien 467 Personen, darunter 103 Offiziere und Soldaten, aufgrund des Nordirlandkonflikts. Bislang kamen in unserem Jahrzehnt »erst« 55 Personen bei nationalen Anschlägen im Vereinten Königreich ums Leben - das sind die Opfer der Bombenanschläge vom 7. Juli in London. Dieser Trend zeigt sich in ganz Europa. Seit 1968 hat Italien über 14 000 Terroranschläge erlebt, sowohl von links- als auch von rechtsgerichteten Organisationen. Die meisten fallen in die siebziger und frühen achtziger Jahre. 1973 starben vierzig Personen, im Jahr darauf fielen 24 dem Terror zum Opfer, und 1980 verloren sogar 120 Personen bei gewalttätigen Aktionen lokaler Gruppierungen ihr Leben.18 Seit dem Jahr 2000 starben in Italien nur zwei Menschen durch den Terror.19 1976 wurden in der Türkei hundert Personen aus politischen Gründen ermordet; 1978/79 stieg die Zahl auf 2400. 20 Für den Großteil der Anschläge waren rechte Gruppen verantwortlich. Terrorismusexperten sind weltweit der Ansicht, dass der nationale wie der internationale Terrorismus in der westlichen Welt in den achtziger Jahren einen Höhepunkt erreichte und seitdem zurückgeht. Viele würden nun argumentieren, der Grund, warum wir heute »sicherer« sind, sei der, dass wir seit dem 11. September strengere Sicherheitsvorkehrungen haben. Doch dieser Eindruck täuscht und gehört in den Bereich der modernen politischen Mythen. Als ich Ende der siebziger Jahre in Rom studierte, waren in der ganzen Stadt Straßensperren, bei de-
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nen die Identität von Personen überprüft und Autos durchsucht wurden. Dennoch gab es immer wieder Anschläge. Die Vorstellung, zur Verhinderung von Terroranschlägen genüge es, dass man höchstens 100 Milliliter Shampoo an Bord eines Flugzeugs nehmen darf, die Schuhe vor dem Abflug auszieht und bei der Ankunft Fingerabdrücke und Iris überprüfen lässt, ist nur eine tröstliche Illusion für Reisende, die von ihrer eigenen Regierung terrorisiert werden.21 Die israelischen Sicherheitsbehörden haben gezeigt, dass es nur eine effektive Methode zur Überprüfung von Reisenden gibt: Man muss sie einzeln befragen oder ihr Profil analysieren.22 2006 sagte mir ein italienischer Langstreckenpilot, anstatt ein Flugzeug in der Luft explodieren zu lassen, sei es viel einfacher und tödlicher, eine Autobombe in ein Terminal von Heathrow zur Hauptverkehrszeit zu fahren, wenn der Abstand zwischen startenden und landenden Flugzeugen am geringsten ist. Die Luft in der Umgebung der Terminals ist mit Kerosindämpfen gesättigt, daher kommt es zu einer gewaltigen Explosion. Möglicherweise könnte man so ein ganzes Terminal zerstören und Tausende Menschen töten. Dies war auch das Szenario des fehlgeschlagenen Anschlags auf den Flughafen von Glasgow im Sommer 2007. In den USA gilt ein solcher Anschlag als größte Bedrohung im Flugverkehr.23 Dennoch haben nur wenige Flughäfen auf der Welt, etwa Narita in Tokio, die Möglichkeit, Autos zu überprüfen, weil eine entsprechende Ausrüstung extrem teuer ist. Für den Flughafen von Los Angeles ergab ein Kostenvoranschlag, dass die Verbesserung der Sicherheit 9 Milliarden Dollar kosten würde. Wenn Sie das nächste Mal zur Stoßzeit am Flughafen Ihre Schuhe ausziehen und Ihre Toilettensachen zeigen, könnten Sie sich Folgendes überlegen: Mit ein bisschen Phantasie
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könnte ein Anschlag wie die Selbstmordattentate vom 7. Juli auf den Londoner Nahverkehr auch den Eingang des Terminals treffen. Ein junger britischer Muslim, in nicht einmal zwölf Monaten indoktriniert, könnte in einem Auto direkt auf den Eingang zurasen. Bedenken Sie auch, dass der Bau einer Bombe nicht allzu schwierig ist, und auch die notwendigen Zutaten lassen sich leicht beschaffen. Sie brauchen nur »how to make a bomb« bei Google einzugeben und erhalten Millionen Einträge, für einige reichen Zutaten, die man in jeder Drogerie kaufen kann. Wer kein Englisch kann, findet unter den Tausenden deutschsprachiger Einträge sicher auch eine Anleitung.
Politische Illusionisten mit Schurkenformat Politiker wollen uns weismachen, dass neue Sicherheitsmaßnahmen an Flughäfen notwendig sind, um Leben zu retten, allerdings wurden mit den neuen Vorkehrungen bislang nur wenige Terroristen dingfest gemacht. 2003 berichtete der ehemalige amerikanische Justizminister John Ashcroft dem Justizausschuss des Senats, dass seit dem 11. September 478 Menschen abgeschoben worden seien (die meisten waren als Reisende verhaftet worden), allerdings führte er nicht aus, dass es sich dabei nicht um Terroristen handelte, sondern um Personen, die gegen Visavorschriften verstoßen hatten. Die Tatsache, dass sie in ihr Heimatland zurückgeschickt wurden, beweist, dass es sich nicht um Terroristen handelte (das FBI muss abklären, ob jemand ein Terrorverdächtiger ist, bevor er abgeschoben wird).24 Politiker haben schon immer geschickt die Zahlen manipuliert, um Argumente für ihre Politik zu finden, Geld für
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ihre Lieblingsprojekte aufzutreiben und positive Szenarien zu entwerfen. Verteidigungsminister Robert McNamara übertrieb die Zahl der gefallenen Feinde, damit die Politiker in Washington mit den Fortschritten der USA im Vietnamkrieg prahlen konnten. Aber noch nie zuvor haben Politiker so »die Zahlen frisiert« und eine so gefährliche und erschreckende Zukunft ausgemalt wie heute. Dieser Trend begann bereits vor dem 11. September. 2001 schrieb Andrew Bacevich, Professor für internationale Beziehungen an der Boston University, im Magazin Foreign Policy, dass der Bericht des US-Außenministeriums über den globalen Terrorismus »die Realität nicht nur verzerrt und übertrieben darstellt, sondern auch den politischen Kontext verschleiert, in dem sich bestimmte Terrorakte abspielen«. Laut Bacevich handelte es sich bei 170 der 200 antiamerikanischen Anschläge, die dem internationalen Terrorismus zugerechnet wurden, um Angriffe auf eine amerikanische Ölpipeline in Kolumbien.25 Datenmanipulation und politische Propaganda trugen zur Entwicklung eines »falschen Gefühls der Unsicherheit« bei, wie es Professor Leif Wenar von der University of Sheffield formuliert. Bei dieser Angst vor dem Terrorismus in der »freien Welt« lautet das Motto: »Du musst Angst haben. Große, sehr große Angst. Aber führ trotzdem ein normales Leben.«26 Dieses Mantra wird von den Sicherheitsritualen bestätigt, die bei jeder Flugreise durchgeführt werden. Tatsächlich »müssen wir uns in Zusammenhang mit dem Flugverkehr und Transportwesen weit mehr Sorgen wegen der Ausbreitung von Krankheiten, Drogensucht, Menschenschmuggel und anderer Verbrechen machen«, betont Joe Sulmona. »Im Alltag stellen diese Bedrohungen eine viel größere Gefahr dar.« Doch diese Ängste werden nicht von Prominenten publik gemacht und lassen sich auch nicht mit schockierenden Fotos
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illustrieren. Und vor allem sorgen sie bei Meinungsumfragen nicht für einen Popularitätsschub auf breiter Basis. Nach dem 11. September verlieh das falsche Gefühl der Unsicherheit, das die Regierung Bush propagierte, einem unbeliebten Präsidenten große Popularität und bildete drei Jahre später die Grundlage für Bushs Wahlkampf, wie es sein politischer Berater Karl Rove 2003 vorhergesehen hatte.27 Die Wahrheit, die sorgsam hinter einem Netz der Illusionen verborgen wird, lautet jedoch, dass der Terrorismus als Tötungsmaschinerie nicht sonderlich effektiv ist. »Viele akademische Analysen des Terrorismus«, schrieb Bruce Hoffman, Terrorismusexperte bei der RAND Corporation, »beschränken sich auf reißerische Hypothesen zu Worst-CaseSzenarien, die fast immer ABC-Waffen einschließen, anstatt sich mit der Frage zu beschäftigen, warum Terroristen - mit Ausnahme des 11. September - nur selten ihr wahres Totungspotenzial umsetzten.« 28 Dazu kommt, dass es im Westen gar nicht so viele Anschläge gibt. »Die Zahl der Personen, die in den vergangenen Jahren durch Terroristen ums Leben kamen, ist relativ gering im Vergleich zu den Tausenden, die jedes Jahr durch Drogen, an Krebs oder bei Autounfällen sterben«, erklärt Sulmona. Terrorismus ist nicht die Todesursache Nummer eins; im Gegenteil, die Wahrscheinlichkeit, im Westen bei einem Terroranschlag zu sterben, ist noch viel geringer, als im Lotto zu gewinnen. Oder wie es US-Senator John McCain formulierte: »Berechnen Sie einmal die Wahrscheinlichkeit, Schaden durch einen Terroristen zu nehmen! Sie ist immer noch so gering wie die, von einer Flutwelle ins Meer geschwemmt zu werden.«29 Das Gesetz der großen Zahlen widerlegt das albtraumhafte Szenario, das die politischen Illusionisten für uns entwerfen. In den USA ist es wahrscheinlicher, in seinem eige-
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nen Haus getötet zu werden, als bei einem Terroranschlag zu sterben. Jedes Jahr werden in den USA 16 000 Personen ermordet. Durch Autounfälle sind in Amerika seit dem 11. September über 200 000 Personen ums Leben gekommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Amerikaner bei einem Flugzeugabsturz stirbt, liegt bei 1 zu 13 Millionen (selbst wenn man den 11. September mit einbezieht). Ein ähnlich geringes Risiko erreicht man beim Autofahren nur, wenn man auf den sichersten Straßen Amerikas (staatliche Highways in ländlichen Gebieten) nicht mehr als 11,2 Meilen zurücklegt.30 Die Wahrscheinlichkeit, auf der Fahrt zum Flughafen zu verunglücken, ist deutlich größer, als im Terminal oder im Flugzeug von einem Terroristen in die Luft gesprengt zu werden. Selbst wenn man das Jahr nimmt, bei dem die meisten Menschen einem Terroranschlag zum Opfer fielen (1995, als weltweit 6000 Menschen durch Terroranschläge starben), macht diese Zahl nur einen Bruchteil der 50 000 bis 100 000 Personen aus, die jedes Jahr durch Schlangenbisse sterben, ganz zu schweigen von Kindern, die aus vermeidbaren Ursachen wie Unterernährung oder Malaria sterben. Warum also haben wir solche Angst? Die Antwort liegt in der Mythologie, die zur Legitimation des Marktstaates konstruiert wurde.
KAPITEL
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Die Mythologie des Marktstaates
Berlusconi ist Odysseus. Alessandro Meluzzi (Forza Italia)
Die politischen Illusionisten des Marktstaates pflegen eine Kultur der Mythen. Die Politik der Angst beispielsweise basiert auf der clever konstruierten modernen Version eines alten Mythos: der politischen Gewalt. Prominente haben einen übermenschlichen Status erreicht, der an die griechischen Götter erinnert; ihr Seifenopernleben und halbherziges politisches Engagement sind Kapitel in den mythologischen Annalen des Marktstaates. Die Politik der Angst erprobt ein bekanntes Postulat. Wenn die Menschen verwundbar werden, vor allem in Zeiten großer Umbrüche, wollen sie glauben, dass ihre Anführer sie beschützen können. Mythen bieten tröstliche Geschichten, die diese Überzeugung bestärken. Gleichzeitig legitimieren sie den neuen Staat. Alle modernen Politiker greifen zu ihrer Legitimation auf Erinnerungen zurück, auf Praktiken und Symbole aus dem kollektiven Gedächtnis. So stieg zum Beispiel Mao mit Hilfe der Kulturrevolution zum neuen Kaiser im kommunistischen China auf. Heute suchen die Anführer des Marktstaates fieberhaft nach tröstlichen Mythen, weil die moderne Politik von Chaos und Ungewissheiten geprägt ist. Dazu schrieb der deutsche Philosoph Ernst Cassirer 1946
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nach dem durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufenen massiven Umbruch: In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden. Wir müssen auf abrupte Konvulsionen und Ausbrüche vorbereitet sein. In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher. In diesen Momenten ist die Zeit für den Mythus wieder gekommen. Denn der Mythus ist nicht wirklich besiegt und unterdrückt worden. Er ist immer da, versteckt im Dunkel und auf seine Stunde und Gelegenheit wartend. Diese Stunde kommt, sobald die anderen bindenden Kräfte im sozialen Leben des Menschen aus dem einen oder anderen Grunde ihre Kraft verlieren und nicht länger imstande sind, die dämonischen mythischen Kräfte zu bekämpfen.1
Die Auflösung von links und rechts Der Fall der Berliner Mauer markierte den Beginn einer Zeit großer Umbrüche in der Weltpolitik. Im Gefolge des Mauerfalls löste sich die alte politische Trennung zwischen Rechts und Links auf. Das Ende der Sowjetunion brachte die Abkehr vom Sozialismus unter den Intellektuellen. Francis Fukuyamas einflussreiche These über das Ende der Geschichte illustriert dieses Phänomen. Fukuyama verbindet den Zusammenbruch des Kommunismus mit dem Ende der »ideologischen Entwicklung der Menschheit«. Die Geschichte als das Ergebnis ideologischer Auseinandersetzungen zerbarst wie der mürbe Stahlbeton der Berliner Mauer. Die intellek-
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tuellen Konflikte der Vergangenheit waren durch die weltweite Hinwendung zu liberalen, demokratischen Institutionen hinfällig geworden, und damit war der Weg frei für eine neue Ära der Weltpolitik. »Im Bemühen, am etablierten Sozialstaat festzuhalten, wird die traditionelle Linke heute immer konservativer, während sich die traditionellen Konservativen, die Rechten, in Neoliberale verwandelt haben, die sich für einen freien Markt aussprechen und damit zur Untergrabung der Traditionen beitragen.«2 Die Parameter der Politik haben sich verlagert, anstelle des früheren Rechts-links-Schemas dominiert heute eine komplexe Politik der Einzelthemen. Rechts und links bewegen sich mechanisch aufeinander zu. Was Fukuyama nicht vorhersehen konnte, war die Entstehung des Marktstaates, eines Staates, der sich der Politik entzogen hat und zum Mittelpunkt des neuen Systems wurde.3 Der Zusammenbruch des Kommunismus beschädigte die historische Dichotomie zwischen rechts und links, den Todesstoß versetzte ihr jedoch die Globalisierung. Sie hat das Verhältnis zwischen Arbeiterschaft und Industrie neu definiert. Während das Kapital frei fließt und die Industrie die Vorteile von Outsourcing und der Verlagerung ins Ausland nutzen kann, bleibt die westliche Arbeitskraft an ihren Standort gebunden. Selbst innerhalb der Europäischen Union ist Sprache ein echtes Hindernis für die Mobilität der Facharbeiter. Infolgedessen hat sich das Verhältnis der Klassen untereinander verändert. »Dadurch, dass ein multinationales Unternehmen seine Fabrikationsstätte verlegen kann [...], während es für einen Arbeiter nicht so einfach ist, in ein anderes Land auszuwandern, haben die Gewerkschaften in den Industrieländern an Macht eingebüßt.« 4 Folglich setzen sich Gewerkschaften heute für bestehende Konstellationen in der In-
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dustrie ein, was oft auf Kosten ihrer traditionellen Werte geht. So drängten beispielsweise die britischen Gewerkschaften (AMICUS, TGWU und die GMB) ihre Regierung zur Beibehaltung der hohen Subventionen für die britische Rüstungsindustrie,5 obwohl deren Erzeugnisse zur Unterdrückung der Bevölkerung im eigenen Land und in vielen Konfliktgebieten auf der ganzen Welt eingesetzt werden, auch im Irak.6 Die Belastung und Beanspruchung durch die Globalisierung haben neue Verwerfungen in unserer Gesellschaft verursacht. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die mit dem technischen Fortschritt und dem kosmopolitischen Austausch der Kulturen zurechtkommen und über die Qualifikationen verfügen, um im neuen Wirtschaftssystem ihr Auskommen zu finden. Auf der anderen Seite, einige Stufen weiter unten auf der sozioökonomischen Skala, stehen diejenigen, denen es oft an Eignung und Qualifikationen mangelt und die ihren Arbeitsplatz oder sogar ihre Lebensweise bedroht sehen.7 Außerhalb des traditionellen Rechts-links-Schemas ist der Marktstaat in zweifacher Hinsicht mit einer Krisensituation konfrontiert: einer Krise der Rationalität und einer der Legitimation. Wie soll man mit der Verlagerung der Produktion ins Ausland umgehen, wenn die Industrie davon profitiert, die einheimischen Arbeitskräfte aber darunter leiden? Wie kann man die Globalisierung in die Schranken weisen, wenn sie die Voraussetzung fürs Wirtschaftswachstum ist? Wie kann man sicherstellen, dass die von der Industrie verursachten Umweltschäden richtig kontrolliert werden? Diese Fragen der Regierungsführung leiten sich direkt von der Schwächung des Nationalstaates ab. Ein schwacher Staat
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kann seine eigenen Bürger nicht mehr schützen, folglich kann ein schwacher Staat nicht auf deren Loyalität vertrauen. Und dann wählen Bürger diejenigen, die ihnen bessere persönliche Bedingungen versprechen. Die Personalisierung der Politik hat die alten, traditionellen Muster im Wahlverhalten zerstört.8 In diesem Zusammenhang ist die Angst ein mächtiges politisches Instrument, mit dem Politiker sich und ihre Politik legitimieren können. Angst ist irrational und lässt sich leicht manipulieren. Doch um die Angst zu nähren, muss die moderne Propagandamaschinerie furchterregende Bilder und Mythen schaffen. Nach den Anschlägen vom 11. September zielte Bushs Verweis auf die Kreuzzüge darauf, falsche Vorstellungen aus dem Mittelalter wiederzubeleben, als die Araber als blutgierige Feinde des Westens galten. Ironischerweise rechtfertigen islamistische Terroristen ihr Handeln mit ähnlich furchteinflößenden Bildern und Mythen aus der Vergangenheit. So bezeichneten Abu Mussab al-Sarkawi und seine Anhänger die amerikanischen Soldaten im Irak als die neuen Mongolen. Der Vergleich des amerikanischen Einmarschs im Irak mit dem Vorstoß der Mongolen im 13. Jahrhundert schürte tiefsitzende Ängste bei der irakischen Bevölkerung. In Ermangelung einer ideologischen Dichotomie wurde die politische Loyalität mit Hilfe der Mythologie zurückgewonnen, die wiederum Voraussetzung für den Populismus ist. »Weitaus folgenreicher für die Sozialdemokratie sind die Bedingungen, die zu einem rechtsgerichteten Populismus führen. [Entrechtete] Gruppen geben dem >Establishment<, den >Außenseitern< oder beiden die Schuld an der aktuellen Entwicklung und lassen sich leicht für rassistische oder fremdenfeindliche Standpunkte gewinnen. Viele sind ehemals sozialdemokratische Wähler, die sich von den Parteien der Mitte
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im Stich gelassen fühlen.« 9 Die großen Illusionisten präsentieren alte Mythen im neuen Gewand und füllen so das Vakuum in der Politik, das durch den Zusammenbruch des Kommunismus entstanden ist. Allerdings wird dadurch die Politik trivialisiert. Das politische Engagement Prominenter und das Wiederaufleben alter Vorurteile sind nur zwei Aspekte dieser Trivialisierung. Für weite Teile der Bevölkerung haben die Illusionen letztendlich große Nachteile. In den USA haben die Republikaner in den vergangenen dreißig Jahren nach und nach eine breite Palette biblischer Themen dazu genutzt, die ärmsten Teile der amerikanischen Bevölkerung dazu zu bewegen, entgegen ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen zu wählen.10 Vor diesem Hintergrund wird die Suche nach geeigneten Mythen zur Notwendigkeit. Sie müssen möglichst umfassend sein sowie historische, kulturelle und sogar tribalistische Traditionen einbeziehen. Erfolgreiche Mythen müssen keine Verbindung zur Politik haben, stattdessen sollten sie in der Gesellschaft tief verwurzelt sein, wie das Beispiel Silvio Berlusconis zeigt, Italiens Mythenmanipulator Nummer eins.11 Der Seifmade-Geschäftsmann mit dubiosen Beziehungen zu Politik und Verbrechen gelangte an die Macht, weil er den Tribalismus des italienischen Fußballs nutzte. Im Gefolge einer der dunkelsten Stunden der italienischen Nachkriegsgeschichte polierte er den mythischen Symbolismus des Fußballs auf, des Lieblingsspiels der Italiener, verpackte ihn neu und verkaufte ihn den Wählern als neue Formel in der Politik.
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Berlusconi, Chavez und der Populismus des Marktstaates Italien ist ein herausragendes Beispiel für Populismus in einem Marktstaat. Die italienische Erste Republik gründete wie viele Nationalstaaten auf der ideologischen Dichotomie von rechts und links. Diese Doktrin verkörperte gegensätzliche politische Visionen im Hinblick auf Gleichberechtigung und Klassenzugehörigkeit sowie beim Verhältnis von Staatsbesitz zu Privatbesitz und öffentlichen Ausgaben zu Privatausgaben. Im Marktstaat sind diese grundlegenden Vorstellungen nicht völlig verschwunden,12 haben aber aufgrund der wachsenden Macht der Wechselwähler an Einfluss verloren. Die Verwischung der Grenzen zwischen rechts und links hat auch die Stammwähler verunsichert, die sich eigentlich an Ideologien orientieren, nun aber gezwungen sind, ihre Stimme aufgrund bestimmter Einzelthemen abzugeben, anstatt ihrer politischen Grundeinstellung zu folgen.13 2006 trat La Margherita, eine Partei in der Linkskoalition unter Führung von Romano Prodi, im Wahlkampf gegen Abtreibung und Stammzellenforschung ein. Berlusconis Partei Forza Italia dagegen hat ihren Mitgliedern bei der Stammzellenforschung immer freie Wahl gelassen. In diesem widersprüchlichen politischen Umfeld konstruierte Silvio Berlusconi seine populistische Agenda rund um das Fußballspiel. Er umging die traditionelle Politik und sprach die Stammesinstinkte des Landes an, wobei der Fußball die Grundlage für seine Legitimation und seine Anziehungskraft auf die Wähler bildete.14 Berlusconi nutzte die Verbundenheit und gemeinschaftliche Hingabe der Fußballfans, deren Seelen stark vom Stammesdenken geprägt sind. 1986 kaufte Berlusconi den AC Mailand, eine der beiden
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Erstligamannschaften in Mailand, und führte den Club zu mehreren italienischen und europäischen Titeln. Als er 1994 in die Politik ging, bildeten die Milan-Fans, die ihm für all seine Siege auf ewig dankbar waren, die Basis seiner Wählerschaft. Der Name seiner Partei, Forza Italia, »Vorwärts Italien«, ist ein bekannter Schlachtruf im Fußball. Aus Fußballclubs machte Berlusconi lokale Parteizentralen, und die Mitglieder der Forza Italia wurden wie die Fans der italienischen Nationalmannschaft »Azzurri« genannt.15 Berlusconis Rhetorik war voller Fußballmetaphern, sein Stil war kumpelhaft und direkt, als ob er nicht zu den Wählern, sondern zu Fans sprechen würde. Die Italiener fanden das erfrischend und verliebten sich in diesen Stil und seine Person. Während seine Mannschaft eine Meisterschaft nach der anderen gewann, sagte Berlusconi den Italienern, er würde das Land wie einen Fußballclub leiten, und führte die Erfolge des AC Milan als Beweis für seine Befähigung an. Dank seiner cleveren Manipulation der Fußballmythologie erhielt er die breite Zustimmung der Wähler. Mit Hilfe seines mächtigen Medienimperiums gab er dem Stolz im italienischen Fußball Auftrieb und übertrug ihn auf die Politik. »Italien wird ein großes Land, weil es immer große Fußballmannschaften hatte«, lautete die nicht ganz so versteckte Botschaft seiner politischen Kampagne. Dieser unglaubliche Slogan kam nicht nur bei den Wählern an, sondern entwickelte sich zu einem mächtigen Mythos. Als sich 1992 die Erste Republik auflöste, fanden die Italiener, die mit Ausnahme des Fußballs wenig hatten, auf das sie stolz sein konnten, Trost in Berlusconis Fußballpolitik. Berlusconi gab ihnen die nötige Arroganz, den Zusammenbruch der Ersten Republik zu verwinden, die Auflösung der Linken und die massiven Begleiterscheinungen der Antikorruptionskampagne »Mani Pulite«
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(wörtlich »reine Hände«), einer juristischen Untersuchung, die die weit verbreitete Korruption in Italien aufdeckte und das Ende der Ersten Republik einläutete. Das Stammesdenken der Fußballfans lieferte die mythologischen Elemente zur Legitimation des italienischen Traums von einer besseren Zukunft. Viele Italiener halten immer noch an dieser Illusion fest, zu verängstigt, um zuzugeben, dass sie von einem der großen politischen Illusionisten getäuscht wurden, oder zu verschreckt, um sich aus dem Fußballstadion der mythischen Gemeinschaft von Forza Italia hinauszuwagen. Damit liefert die Angst vor dem Unbekannten die Erklärung für die 22 Prozent der Stimmen, die Berlusconi bei der Wahl 2006 erhielt, mehr als jede andere italienische Partei. Auf der anderen Seite des Globus erlebt Venezuela eine andere, aber ähnlich gewaltige politische Umwälzung. Die gegen internationale Konzerne gerichtete, antiimperialistische linke Politik von Hugo Chavez entwickelte sich unter dem Banner des Bolivarianismus. Doch während sich Simon Bolivar zum klassischen Liberalismus und freien Markt bekannte, baut Chavez seinen Populismus auf der Musik auf, der unbestrittenen großen Leidenschaft der Venezolaner. Um die unter Dreißigjährigen, die in den Barrios von Caracas und Slums (Ranchitos) Venezuelas leben, für sich einzunehmen, nutzt Chavez den Hip-Hop zur Vermittlung seiner Botschaft. »Wir nehmen Kontakt zu lokalen Rappern auf«, erklärt Piki Figueroa, einer der Macher von Chavez' Rap-Politik: Wir schlagen ihnen vor, auf der Straße zu spielen, in den besonders verrufenen Ecken des Barrio. Sie reden mit den Anführern der Banden, die sie kennen, weil sie im Barrio geboren und aufgewachsen sind. Die Rapper bitten um
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einen Waffenstillstand während des Konzerts, damit sie ihre Musik präsentieren können. Schließlich wird den Malandros [Gangmitgliedern] die Verantwortung für die Sicherheit übertragen, dadurch sind Ruhe und Ordnung garantiert. Einen Tag lang gibt es keine Bandenkriege, stattdessen hören die Bewohner im Barrio Musik.«16 Unter Chavez gehen in Venezuela Rap, Ska, antiimperialistischer Populismus und eine extreme Linkspolitik Hand in Hand. In 23 de Enero, einem großen Slum zwischen Caracas und Catia, der sich wie eine Schlange entlang der Berghänge westlich der Hauptstadt windet, leben die Anhänger von Chavez Tür an Tür mit den Tupamaros, einer Gang von Kapuzenkids, deren Vorbild die gleichnamige uruguayische Guerillabewegung ist.17 Die Musik bietet die mythische Grundlage, mit ihr spricht Chavez' Populismus den instinktiven Tribalismus seiner Landsleute an. Und dadurch wird die Musik zu einem mächtigen politischen und antiimperialistischen Symbol. Der Erfolg des Mythos lässt sich mit der tiefen Verbundenheit der Venezolaner zur musikalischen Tradition erklären. Rap, Ska und Salsa sind für Venezolaner das, was der Fußball für die Italiener ist - eine nationale kulturelle Leidenschaft. Allein in Caracas genießen Hunderte Musikgruppen eine ungeheure Popularität. Einige Bandleader wie Bambino von Santos Negro haben riesige Fangemeinden. »Die Jungs sind größer als Madonna«, meint ein sechzehnjähriger Rappero aus Caracas.18 Die Musik der Gangs bildet den Mythos von Chavez, dem Politrapper, dem erklärten Bush-Gegner, dem extremen Linken. Chavez' linker Populismus ist zum Teil Wirklichkeit, zum Teil eine Fata Morgana. Venezuela ist der zweitgrößte Erdöl-
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exporteur in Amerika,19 und viele Wirtschaftsexperten zweifeln, ob die Politik von Chavez wirklich die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessert. »Als ich 2002 in Caracas war«, schreibt Dennis MacShane, parlamentarischer Staatssekretär im britischen Außenministerium und zuständig für Lateinamerika, im Guardian, »verkündete Hugo, er habe genug davon, wie die Gewerkschaften die staatliche Ölgesellschaft führen würden, und wolle die Arbeiterschaft nach dem Vorbild Margaret Thatchers disziplinieren. Daraufhin traten die Arbeiter in Streik, was er als Verschwörung gegen sich wertete - der >Feind im Innern<, wie es bei populistischen Führern so schön heißt. Er gewann, die Gewerkschaftsführer wurden verhaftet, und jetzt macht Hugo emsig kapitalistische Geschäfte mit seinem Lieblingsfeind, den USA. Morgens beleidigt er sie, und nachmittags verdient er ein Vermögen damit, ihnen Öl zu verkaufen.«20 Dennoch besänftigt Chavez' Rhetorik die Massen, weil sie für die Venezolaner die mächtige tribalistische Dichotomie von uns gegen die anderen, die Gringos, heraufbeschwört. Wie in der übrigen Welt verkörpern Rapper in Venezuela Revolutionäre, die sich gegen das Establishment richten. Aber wenn Chavez gegen die Globalisierung der amerikanischen Konzerne wettert und eine Politik betreibt, die vom Mythos der rebellischen Rapperos zehrt, wird die Botschaft Teil des Establishments. So wurde der Rap Salsero zu einem Propagandainstrument der Regierung, mit dessen Hilfe Chavez und seine Anhänger einen Staatsapparat bilden wollen, der die falschen Ideale der bolivarianischen Revolution erfüllt. Außerhalb Venezuelas haben Rap und Hip-Hop-Musik ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Establishment bewahrt und verbreiten ihre Botschaft mit Hilfe des modernen Tribalismus. Hip-Hopper und Rapper singen von la vida loca,
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ein musikalischer Aufschrei entrechteter Jugendlicher, deren Welt von der Globalisierung und der Schurkenökonomie beherrscht wird. Diese jungen Leute haben die Illusion der modernen Politik durchschaut, sie wählen nicht und leben am Rande der traditionellen Gesellschaft. Für sie ist der Tribalismus ebenso wie für diejenigen, die lieber an die Versprechungen von Politikern wie Berlusconi und Chavez glauben wollen, ein tröstlicher soziopolitischer und wirtschaftlicher Kokon, der sie vor den Gefahren des globalen Dorfs schützt. Der moderne Tribalismus Maos bereitete China auf seinen großen Sprung nach vorn vor, hinein in die Schurkenökonomie und die Globalisierung. Im globalen Dorf zeichnet sich ein Muster ab: Tribalismus, Clans, die Bildung ethnischer und religiöser Gruppen, also moderner Stämme, die als sozioökonomische Vehikel dienen, um mit der Schurkenwirtschaft und der Globalisierung zurechtzukommen und von ihr zu profitieren.
KAPITEL
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Die Kraft der Globalisierung
Salvatrucho yo naci, Salvatrucho yo creci, Salvatrucho yo seré, y Salvatrucho moriré. That's the way it's gonna he... Rap-Text der Mara Salvatrucha
Heiligabend 2004 fuhr ein dichtbesetzter Bus durch das Barrio San Pedro Sula in Honduras. Die Pendler im Bus wollten so schnell wie möglich nach Hause zur Weihnachtsfeier. Plötzlich schoss aus einer Seitenstraße ein schwarzer Pickup heraus und versperrte die Straße. Der Busfahrer bremste scharf und konnte den Zusammenstoß gerade noch vermeiden. Maskierte Männer mit Maschinenpistolen und Macheten sprangen von der Ladefläche, brachen die Tür des Busses auf und stürmten das Fahrzeug. Die Fahrgäste schrien in Panik, aber ihre Schreie verhallten ungehört, wurden erstickt vom Knattern der Maschinenpistolen und dem Hacken der Macheten. Nach wenigen Minuten war das Massaker vorüber: 28 Fahrgäste (darunter vier Kinder) waren tot, vierzehn verletzt. Die Killer hinterließen ein langes Pamphlet auf der Motorhaube des Busses, in dem sie die Regierung von Honduras wegen ihres Kampfs gegen das Verbrechen kritisierten. Die Botschaft an die Regierung lautete: Wagt es nicht, uns herauszufordern!
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Die nachfolgende Untersuchung der Regierung ergab, dass die Mara Salvatrucha, auch »MS 13« genannt, eine der vielen Gangs, die mittelamerikanische Städte terrorisieren, den Anschlag verübt hatte. Er hatte zwei Ziele: den Politikern in der Hauptstadt mitzuteilen, dass sie die Finger von der Mara Salvatrucha lassen sollten, und eine rivalisierende Gang, die Mara 18 (M 18), in die Schranken zu verweisen, auf deren Territorium der Anschlag stattgefunden hatte.
La vida loca Die Maras oder Pandillas sind wegen ihrer Bluttaten in Mittelamerika allgemein bekannt, allerdings weiß man kaum, dass der Ursprung der Banden in den fünfziger Jahren in Südkalifornien liegt. Ihre Daseinsberechtigung zogen sie aus dem Schutz der hispanischen Einwanderer, meist Mexikaner, vor den Mitgliedern anderer Gangs, meist Afroamerikaner oder Asiaten. Eine der ersten Pandillas, die gegründet wurden, ist die Mara 18, auch als Calle 18 bekannt, benannt nach der Eighteenth Street in Los Angeles, dem Viertel, in dem ihre ausschließlich mexikanischen Mitglieder lebten.1 Die Mara Salvatrucha entstand erst in den achtziger Jahren als Überbleibsel eines besonders blutigen Stellvertreterkriegs im Kalten Krieg, dem Konflikt zwischen der marxistischen Gruppierung Frente Farabundo Marti para la Liberacion National (FMLN, Nationale Befreiungsfront Farabundo Marti) und der rechtsgerichteten Regierung von El Salvador, die finanziell und militärisch von der Regierung Reagan unterstützt wurde. Bei diesem blutigen Bürgerkrieg verloren Tausende ihr Heim, viele verließen das Land für immer und gingen nach Südkalifornien. Auch ehemalige Guerilleros und
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lokale Kriminelle zogen Richtung el Norte. Die Flüchtlinge aus El Salvador lebten in ärmlichen Vierteln zwischen Mexikanern, Asiaten und Afroamerikanern im Thirteenth District, der M 13 den Namen gab. Dort wurden sie von allen diskriminiert, auch von den lokalen mexikanischen Gangs, vor allem der M 18. Die Mara Salvatrucha (was so viel wie »Bande der wachsamen Salvadorianer« bedeutet) sollte die salvadorianischen Einwanderer vor den Übergriffen ihrer neuen Nachbarn schützen. In den achtziger Jahren wahrten die Pandillas ihre nationale Identität. In den Straßen Südkaliforniens kämpften Banden um ihr Territorium, das oft gerade einmal eine Straße umfasste, sodass die Bewohner gleicher Nationalität in relativer Sicherheit leben konnten. Der Nationalismus, den die Einwanderer aus ihrer Heimat mitgebracht hatten, war daher die Ursache für Feindseligkeit und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Gangs. Auch im Kalten Krieg spielte der Nationalismus eine entscheidende Rolle bei bewaffneten Konflikten. Von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) bis zu den baskischen Separatisten von Euskadi Ta Askatasuna (ETA) kämpften bewaffnete Organisationen unter dem Banner der nationalen Identität.2 Die Motivation bei den Gangs und bewaffneten Gruppierungen, die im Kalten Krieg mit Gewalt neue Nationen zu gründen versuchten, war daher die gleiche. Mit dem Fall der Berliner Mauer und der beginnenden Globalisierung veränderte sich die Situation dramatisch, denn im globalen Dorf verlor der Nationalismus an Bedeutung. Mit dem Ende des Kalten Krieges kamen auch die Stellvertreterkriege zum Erliegen, die jahrzehntelang am Rande der Einflusssphären beider Supermächte getobt hatten. Angesichts der veränderten politischen Situation beschloss die
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amerikanische Regierung Anfang der neunziger Jahre, Tausende hispanischer Einwanderer und Flüchtlinge auszuweisen und zurück in ihre Heimatländer zu schicken. Darunter befanden sich zwar einige Kleinkriminelle, doch bei vielen handelte es sich einfach um illegale Einwanderer. Die meisten hatten fast ihr ganzes Leben in Südkalifornien verbracht und kannten kaum ihr Heimatland. Nach der Ausweisung saßen sie mittellos und ohne Arbeit in ihren vom Krieg zerrissenen Ländern fest. Der Exodus aus amerikanischen Städten wie Los Angeles und San Diego nach Mittelamerika führte den Drogenbaronen von Medellin, Cali und Tijuana, die im Zuge der Globalisierung ihr Geschäft erweitern wollten, jede Menge Arbeitskräfte zu. Wie bei den Mutras in Bulgarien zeigte sich schon bald, dass das soziale Netz der Maras die neue transnationale kriminelle Aktivität der Kartelle hervorragend ergänzte. Die Maras machten für die Drogenbosse die Drecksarbeit, darunter auch Auftragsmorde. Mit Hilfe alter Kontakte in der südkalifornischen »Heimat« gelang es der M 13 und M 18, ein Monopol auf den Drogentransport von Kolumbien in die USA zu errichten. Nachdem die Maras die ethnisch streng getrennten Armenviertel in den USA verlassen hatten und mit kolumbianischen und mexikanischen Drogenkartellen zusammenarbeiteten, verlor ihre nationale Identität an Bedeutung, und schon bald entwickelten sich die Maras zu einer transnationalen kriminellen Vereinigung.3 Anstatt in einzelnen Gebieten Mitglieder zu werben, rekrutierten die Banden ihre Leute in den Slums aller lateinamerikanischen Städte und steckten dort ihre Gebiete ab. Die Mitgliedschaft war nicht mehr länger an die Nationalität gebunden, sondern wurde von den Barrios diktiert, wo die Mareros oder Pandilleros geboren waren. Die
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M 18 und M 13 hatten in den Slums Mittelamerikas großen Zulauf. Bereits 1992 kam es zu Bandenkriegen in den Barrios, da diese einen idealen Nährboden für Gewalt und Verbrechen boten. Mit dem Verschwinden der nationalistischen Motivation rückten für die Gangs wirtschaftliche und territoriale Aspekte in den Vordergrund. Ihre Haltung war zunehmend vom Stammesdenken geprägt. Auf die Frage, warum sie die Pandilleros der M 18 hasse, antwortet Flor de Maria, Mitglied der Mara Salvatrucha aus San Salvador: »Warum ich sie hasse? Weil sie uns töten wollen. Sie wollen unsere Barrios kontrollieren. Aber das lassen wir nicht zu.«4 Die Maras von heute definieren sich über ihr Territorium, nicht über die Nationalität. Während die Maras als nationalistische Organisation die Aufgabe hatten, ihre Landsleute vor anderen Gangs zu beschützen, plündern sie als Kriminelle mit einer stammesgebundenen Identität die Bewohner ihres eigenen Territoriums, der Barrios, aus. Dieses Verhalten gleicht dem der 'Ndrangheta und der bulgarischen Mafia. »Mein Freund und ich bekommen Schutzgeld von Lastwagenfahrern und kleinen Ladenbesitzern«, gibt Flor de Maria zu. So verfolgt der Bandenkrieg auf lokaler Ebene das Ziel, die Kontrolle über die wirtschaftliche Tätigkeit der Bevölkerungsschicht zu erlangen, die in den Barrios leben muss. Wie bei der 'Ndrangheta und den Mutras gibt die territoriale wirtschaftliche Unterjochung die Art und Weise vor, wie die Maras ihre Macht aufbauen. Auf der anderen Seite des Atlantiks in den Slums von Nigeria lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. Tribalistisch geprägte Gangs gründen ihre Vorherrschaft auf der Kontrolle ihres Territoriums. Dort beuten so genannte »Area Boys«, kriminelle Banden in den Städten, vor allem in Lagos,
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die Bewohner ihres Viertels aus. In den Gebieten, die von den Gangs kontrolliert werden, müssen Taxi-, Bus- und Lastwagenfahrer ebenso wie Ladenbesitzer, Straßenhändler und Passanten Straßenzoll und Schutzgeld zahlen: »In der unerträglichen Mittagshitze fuhr ich durch Obalende, ein Arbeiterviertel von Lagos«, erinnert sich der Fahrer eines Okada (Motorradtaxis). »Auf einer Kreuzung versperrte plötzlich eine Gruppe junger Burschen die Straße. >Okada-Mann, du musst Straßenzoll zahlen<, riefen sie. >Warum soll ich euch Geld geben? Ich habe schon andere Jungs ein paar Straßen weiter bezahlt. Wenn ich euch auch bezahle, habe ich nichts mehr<, antwortete ich. Das war ein Fehler. Einer der Jungen baute sich vor mir auf und zielte mit einem Stift auf meine Augen. >Gib mir das Geld, oder ich mach dich zum blinden Krüppel.< Ich konnte der Spitze des Stifts nur knapp entgehen und holte 100 Naira [etwa 50 Cent] aus meiner Tasche. Sie verprügelten mich und ließen mich dann gehen.«5 Die Kriminalisierung bestimmter Stadtviertel ist keineswegs auf die Entwicklungs- und Schwellenländer beschränkt. Seit Anfang der neunziger Jahre haben sich auch in vielen westlichen Innenstädten Banden gebildet. Wie bereits angesprochen, trugen der Zusammenbruch des Kommunismus und das Aufkommen der Schurkenwirtschaft dazu bei, dass das organisierte Verbrechen in den Städten des Westens Fuß fasste. Das Geschäft mit illegalen Drogen ließ ein dichtes Handelsnetz entstehen, das es den Gangs erlaubt, weltweit Kolonien zu gründen. So ähnelt heute die sozioökonomische Landkarte der Innenstadtslums den gesetzlosen und gewalttätigen Barrios von El Salvador und Nigeria.
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Trotz der internationalen Anstrengungen zur Unterbindung des Drogenhandels und zur Suchtprävention ist der Konsum von Cannabis, Heroin und Amphetaminen (synthetischen Drogen) in einer Vielzahl von Ländern gestiegen.6 In England und Wales beispielsweise nahm der Anteil der Bevölkerung, der Kokain konsumiert, von 1992 bis 2004 um das Achtfache zu, was natürlich auch eine vermehrte Kriminalität und Gewalt, die wesentlichen Bestandteile der Bandenkultur, nach sich zog.7 Eine aktuelle Untersuchung der britischen Regierung für das fahr 2005 zeigt, dass der Drogenkonsum bei den Elf- bis Fünfzehnjährigen im Vereinigten Königreich den höchsten Stand seit Beginn der Erhebung vor zwanzig Jahren erreicht hat. Sam, ein Dreizehnjähriger aus East London, gestand, dass er nicht auf die Schultoilette geht, »weil es allgemein bekannt ist, dass man an manchen Schulen nur auf die Toilette geht, um Drogen zu nehmen«. 8 Auch der illegale Schusswaffenbesitz hat massiv zugenommen. 2005 besaßen 35 000 Briten Schusswaffen, 1999 waren es erst 10 000. Diese Zahl wirkt besonders erschreckend, wenn man bedenkt, dass der National Firearms (Amendment) Act von 1997 eigentlich darauf abzielt, deren Besitz generell zu verbieten und ein nationales Waffenregister einzuführen. Das Verbot wurde nicht umgesetzt, und es wurde auch keine Datenbank über Feuerwaffen erstellt.9 Anlass für das Gesetz gab das Massaker von Dunblane, wo ein ehemaliger Pfadfmderführer 1996 sechzehn Schulkinder und ihre Lehrerin in der Turnhalle ihrer Grundschule erschoss. Mehr als zehn Jahre nach der Tragödie ist es immer noch ganz einfach und unproblematisch, in Großbritannien eine Waffe zu kaufen. »Ich kenne Leute, die mir problemlos eine Waffe beschaffen können«, gibt John zu, ein Gangmitglied aus Hackney, East London.10
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Dass kriminelle Banden erfolgreich Niederlassungen in westlichen Städten gründen konnten, ist auf die gleichgültige Haltung des Marktstaates zurückzuführen. Das Desinteresse des Staates beruht auf dem fehlenden wirtschaftlichen Entwicklungspotenzial und der politischen Bedeutungslosigkeit der Ghettobewohner (die meist gar nicht erst zur Wahl gehen). Ironischerweise hat die Globalisierung neue Möglichkeiten in geographischer Entfernung vom Marktstaat eröffnet, aber gleichzeitig andere im Zentrum eines solchen Staates verbaut.11 Der so genannte Ghettoaufschlag steht symbolisch für die Straßensperren, die der neue Staat zwischen sich und seinen ärmsten Stadtvierteln errichtet hat. Eine Untersuchung der Brookings Institution, From Poverty, Opportunity, die 2006 erschien, ergab, dass es in Amerika mehr kostet, arm zu sein, als zur Mittelschicht zu gehören.12 Jedes Jahr geben Haushalte mit niedrigem Einkommen Tausende Dollar mehr für ihren alltäglichen Bedarf aus als Haushalte mit höherem Einkommen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie arm sind und in armen Gegenden leben.13 Die Viertel stehen bei Banken und Baugesellschaften oft auf einer schwarzen Liste, wodurch sich der Mangel an Kapital verstärkt und die Verbindungen zur »Außenwelt« noch weiter abreißen. In Los Angeles kommt in Gebieten mit gut verdienenden Einwohnern wie etwa Manhattan Beach eine Bank auf ungefähr 4000 Einwohner; in Compton, einem armen Viertel von Los Angeles, gibt es eine Bank für jeweils 25 000 Einwohner. Stattdessen gibt es dort Hunderte alternative Finanzdienste, die man in den reichen Stadtteilen von Los Angeles kaum findet und die horrende Gebühren verlangen. Beispielsweise kostet das Einlösen von Schecks 3 Prozent
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oder mehr vom Wert des Schecks. In armen Vierteln kostet es 5 bis 5,50 Dollar mehr, einen Scheck bei einem Finanzservice einzulösen als bei einer Bank. Und Kunden, die einen kurzfristigen Kredit aufnehmen, zahlen bis zu 400 Prozent Zinsen und mehr pro Jahr - eine Rate, die schätzungsweise 35-mal höher ist als bei einer normalen Kreditkarte in Kalifornien.14
Die Angst vor der Globalisierung Die ersten Opfer der kriminellen Kolonisierung der Städte sind die jüngeren Generationen. »Hier im Viertel [Forest Gate] gibt es viel Kriminalität, jede Menge Drogenhandel, außerdem werden Leute deswegen erschossen«, erklärt Plan B., ein Rapper aus London.15 Forest Gate gehört zu den Innenstadtvierteln und Vororten britischer Städte, wo die multiethnischen Bewohner mit den Revierstreitigkeiten und Anschlägen von Gangs leben müssen. Viele beteiligte Kriminelle werden als neue »Sündenböcke« der Moderne beschrieben, allerdings täuscht der Euphemismus »asoziales Verhalten«, mit dem die britische Regierung in typischem Understatement von der Situation spricht, über die Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens in den Vierteln hinweg. Die Angst vor ihrer Umgebung treibt Millionen Jugendliche und Kinder dazu, Schutz in den modernen Stammesenklaven zu suchen - das heißt in einem Territorium, das von einer Gang kontrolliert wird. »Für uns ist die Mara wie eine große Familie. Solange man dazugehört und in seinem eigenen Barrio bleibt, ist man sicher, niemand darf dich anrühren. Draußen musst du sehr vorsichtig sein«, erklärt Skid, ein 33-Jähriger, der mit siebzehn Mitglied bei der Mara Sal-
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vatrucha in El Salvador wurde und seitdem dabei ist. »Wenn du in einer Gang bist, legt sich niemand mit dir an«, bekräftigt Sam, ein Siebzehnjähriger aus East London.15 Die Welt außerhalb des Bandenreviers, das globale Dorf, in dem wir leben, kann furchteinflößend und vor allem abweisend wirken. So sieht die Situation vor Ort aus, wenn der Marktstaat gleichgültig über die Schurkenwirtschaft und Globalisierung hinwegsieht. Die Banden sind in ständige Revierkämpfe verwickelt, bei denen sie ihre Enklaven verteidigen und ein abgeschottetes Leben in ihrem Barrio führen. »Das ist unser Revier, wir sind hier geboren und aufgewachsen, hier machen wir unsere Geschäfte«, erklärt Ikechukwu, ein Area Boy auf dem Markt von Idumota in Lagos. Er hat mehrere Narben auf der Wange. Als ich mich mit ihm treffe, ist er high und hat rote Augen. An der rechten Hand trägt er einen schweren Ring, den er wie einen Schlagring einsetzt. »Wer hierher kommt, muss eine Gebühr zahlen, nur dann kann er sich frei bewegen. Wenn er in ein anderes Gebiet geht, muss er jemand anderen bezahlen. So läuft das hier.« Während wir uns unterhalten, versucht ein Junge auf einem Motorrad an ihm vorbeizudrängen, ohne zu bezahlen. Ikechukwu dreht sich um, packt ihn am Arm, versetzt ihm ein paar Schläge und lässt ihn dann im Dreck liegen. Als er sich wieder mir zuwendet, wirkt er, als sei nichts gewesen. »Sorry, wovon sprachen wir gerade?«17 Für die Gangs ist die Kontrolle über das Territorium heute so wichtig wie vor tausend Jahren für die hungernden Bauern in Westeuropa, weil es immer noch die einzige Einkommensquelle des Stammes darstellt. »Das Territorium ist der einzige richtige Raum, den wir haben, hier sind wir sicher«, bestätigt ein Londoner Gangmitglied.18 Während die Auflösung der Gesellschaft im Gefolge der
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Globalisierung das Wachstum der Gangs förderte, ist ihre Struktur eine Reaktion auf die Globalisierung, basierend auf der Vorstellung von einem abgeschotteten Territorium. Die neue Stammesidentität gründet nicht auf Geschichte oder Tradition, sondern auf dem abgegrenzten Raum; dieser Raum lässt sich dann mit neuen, künstlich geschaffenen Erinnerungen und Mythen füllen. Die Vergangenheit wird umgeformt, damit sie zur rauen Gegenwart passt. Hier zeigt sich eine auffallende Parallele zu China vor und nach der Kulturrevolution. Das Barrio ist nie größer als das Stadtviertel, in dem ein Bandenmitglied geboren wurde, verkörpert aber dennoch das geographische und emotionale Universum der Gang. Jeder Ausbruchsversuch ist zum Scheitern verurteilt. »Wenn man einmal dabei ist, kann man nicht mehr raus, zumindest nicht lebendig«, bestätigt Edwin, ein Mitglied der Mara Salvatrucha aus Villa Mariona, einem Barrio am Rande San Salvadors. Die Geschichte ist auf diese engen Grenzen festgelegt, sitzt in der Falle und wird ständig den eigenen Zwecken angepasst, daher haben die Maras keine Erinnerung an ihre nationale Herkunft, ähnlich wie die Chinesen verdrängt haben, was vor Mao war. Die Kultur wird zum Käfig ohne eine Chance auf Entkommen, erklärt Plan B. Nach zwei Jahren an der University of Essex, die nicht einmal 20 Kilometer von Forest Gate entfernt liegt, brach er seine Ausbildung ab. »Ich konnte es nicht ertragen, in einem Vorort zu leben - das ist mir zu spießig. Das gefällt mir an der Stadt. Die Kriminalität ist zwar hoch, mit allem, was dazugehört, aber es gibt viele Leute mit Grips im Kopf, die wissen, was läuft. Die Leute in den Vororten leben irgendwie abgeschirmt.«19 Moderne Gangs bekämpfen Angst mit Gewalt; Gewalt ist zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden. Wie in
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China ist Gewalt in der emotionalen DNA der Menschen fest verankert. In dem britischen Dokumentarfilm »Gang Wars« sagt Taba, ein Bandenführer in London, die Gewalt »wird immer weitergehen, weil die Leute nun einmal so sind, die Leute sind so, nicht nur die Gangs«. Hier wird Gewalt zu einer Art Ehrenzeichen, das für die Akzeptanz oder Ablehnung durch den Stamm steht. Für die Aufnahme in eine Gang gibt es strenge Rituale. Zukünftige Mareros unterwerfen sich einer komplizierten und schmerzhaften Prüfung, die an die Rituale mittelalterlicher satanischer Sekten erinnert. Sie müssen ein Mitglied einer rivalisierenden Bande töten oder einer Hinrichtung beiwohnen: »Als ich zum ersten Mal eine Enthauptung sah, war ich zehn Jahre alt. Einen Monat lang träumte ich von dem toten Mann, der mit seinem Kopf in den Händen auf mich zukam. Mit der Zeit gewöhnt man sich dann an das Töten, und wenn man zusieht, wie ein Freund jemanden von einer anderen Gang umbringt, genießt man es sogar. Man quält den Typen noch, während er im Sterben liegt«, erzählt Necio, ein Mitglied der Mara Salvatrucha.20 Aufnahmewillige müssen außerdem 13 Sekunden lang Prügel durch die Gang überstehen; Frauen dagegen müssen mit jedem einzelnen Mitglied Sex haben. Und niemand wagt, sich zu beschweren. Auf der ganzen Welt stellen kriminelle Banden neue soziale Regeln aus dem Nichts auf. Neue geschlechtsspezifische Kodes und die Faszination mit dem Tod sind innovative Komponenten, die erst mit der Globalisierung in die Gangkultur eingingen. »Das Beste an diesem Leben ist, dass man es bis zum Extrem lebt«, erklärt Necio, der einen Grabstein mit den Namen all seiner toten Freunde auf die Brust tätowiert hat. »Das ist das Leben des Gangsters, la vida loca. Du bleibst bei deiner Gang und bist geschützt. Aber gleichzeitig weißt du,
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dass du nicht an die Zukunft denken darfst, du hast keine Zukunft, es gibt nur die Gegenwart.« Die tägliche Konfrontation mit dem Tod fuhrt dazu, dass die Gangmitglieder in den Tag hineinleben, nur für den Augenblick. Die westlichen politischen Modelle bleiben ihnen fremd; sie sehen das Leben ähnlich wie in der chinesischen Kultur: Nichts ist von Dauer, und alles ist unmittelbar, die Gegenwart ist nur die existenzielle Dimension des Einzelnen. »Morgen kannst du tot sein. Wen kümmert das? Nach dem Tod komme ich in die Hölle, aber da sind alle meine Freunde«, fährt Necio fort. Der Tod ist ein alltägliches Ereignis, deshalb kann die Gang nicht daran zerbrechen. Das Stammesdenken reicht über den Tod hinaus. Selbstmordattentäter und die frühen christlichen Märtyrer, die heiter ins Kolosseum einmarschierten und gelassen darauf warteten, von wilden Tieren zerfleischt zu werden, teilen denselben Glauben. Für sie und ihre modernen Äquivalente ist das Leben nach dem Tod besser als die Schrecken des irdischen Lebens. Necio glaubt, er werde in der Hölle seine Freunde wiedertreffen; ein Selbstmordattentäter wird zum Märtyrer, auf den im Paradies 72 Jungfrauen warten; den christlichen Märtyrern bot das Paradies die Gelegenheit zur Vereinigung mit Christus. Diese Mythen konnten in der Realität nur ihre Wirkung entfalten, weil die Menschen Angst vor dem Alltag hatten. Angst bestimmt auch den modernen Tribalismus, und junge Künstler wie Plan B erzählen beim Rappen Geschichten von der ganz normalen Furcht. Die Welt, die sie in ihren Songs darstellen, wirkt düster und hoffnungslos. »Mich treffen die Sachen, die ich in der Zeitung lese. Wenn ich über einen Ehrenmord oder so was lese und weiß, dass etwas Derartiges praktisch vor meiner Haustür passiert, ist das mit ein Grund, warum ich die düsteren Sachen schreibe. Ich bin ein
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bisschen ein Pessimist, was das Leben angeht. Ich rechne mit dem Schlimmsten oder denke das Schlimmste.« 21 Aufstrebende Rapper wie Akala stehen an vorderster Front beim neuen Urbanen Sammelsurium verschiedenster Stile. Seine Plattenfirma Illa State hat als Logo den Union Jack, der jedoch die Farben Schwarz, Grün und Gold der jamaikanischen Flagge trägt. Die Kultur der Angst ist Thema vieler junger britischer Hip-Hop-Acts, wie der Rapper Dynamite MC aus Bristol in seiner detaillierten und ermutigenden Vision einer besseren Welt erklärt: »Es war eine Vision voller Präzision, aber ich wusste, dass sie verfliegen würde.« Der frühe Hip-Hop in den USA stand vor allem an der Westküste in direktem Zusammenhang mit der Gangkultur. Künstler wie die Gruppe Compton's Most Wanted machten Musik für Bandenmitglieder und produzierten Alben wie »Music to Drive-by« oder »Music to Gangbang«. Heute ist Rapmusik das Vehikel, über das sich der neue Tribalismus des Anti-Establishments weltweit verbreitet hat. »Wer hat Saro-Wiwa für Öl und Geld getötet? Soldaten! Wer hat mein Land für Öl und Geld getötet? Soldaten!«, heißt es in einem Rap, der von den Ogoni in kreolischem Englisch gesungen wird, wenn sie gegen die Ausbeutung ihres Gebietes im Nigerdelta in Nigeria protestieren. Als Vehikel der aktuellen Gesellschaftskritik weltweit ist Rapmusik auch die neueste kulturelle Ausdrucksform der seit langem bestehenden tribalistischen Dynamik innerhalb demokratischer Gesellschaften. Rapper sind die Poeten und Philosophen der neuen Kultur. »Ich singe über das Straßenleben, den Tod meiner Freunde, ich singe für die Kinder, damit sie wissen, dass auch Poesie eine Waffe ist«, heißt es in einem Songtext von Santos Negros, einer Gruppe aus Caracas in Venezuela. In den Texten amerikanischer Rapper ist häufig die Rede von Polizeigewalt,
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außerdem wird die schwarze Identität hervorgehoben. Rapper leben ebenso in den Barrios Mittelamerikas und Slums in Afrika wie in den Innenstädten des Westens. Der Hip-Hop hat seine Wurzeln bei den afrikanischen Griots, dem ScatGesang und Beatboxing, wurde jedoch von der Gangkultur stark vereinnahmt. Dadurch ist die Konfrontation mit anderen ein wichtiger Bestandteil des künstlerischen Ausdrucks. MCs messen sich in »Batties«, wenn sie Musik machen. Im Film »8 Mile« konkurriert Eminem alias Marshall Mathers mit Rappern aus rivalisierenden Gangs vor einem feindlichen Publikum und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Wenn Rap live gespielt wird, geht es um Rivalität und Konfrontation. Max, ein junger Rapper aus London, meint dazu: »Beim Rap geht es nicht um Gemeinschaft, sondern darum, dass deine Gruppe die beste ist.«
Von Platon zu Hooligans oder Der diskrete Charme des Tribalismus Der Philosoph Karl Popper hätte das Verhältnis zwischen Globalisierung und der Verbreitung des Tribalismus bei modernen Gangs als eine »Last« bezeichnet, die die Zivilisation mit sich bringt (strains of civilization). Historisch betrachtet, gaben größere Umbrüche in Richtung der von Popper propagierten »offenen Gesellschaft« immer auch dem Tribalismus Auftrieb. Ein frühes Beispiel, das Popper als einen ersten Schritt zur offenen Gesellschaft beschreibt, finden wir in Griechenland im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus. Der damalige Wandel gründete auf wirtschaftlicher Notwendigkeit. Das Bevölkerungswachstum innerhalb der athenischen Elite setzte die
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Landbesitzer unter enormen wirtschaftlichen Druck, weil das verfügbare Land knapp wurde. Die Gründung von Kolonien war daher eine clevere Lösung des Problems. Allerdings unterschied sich die griechische Kolonisierung stark von der modernen Kolonialisierung, denn bei ihr wurden Tochtergesellschaften gegründet: Nachbildungen der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse Athens. An den nördlichen Küsten des Mittelmeers entstanden durch diese Politik neue Poleis, Stadtstaaten, die von reichen Athenern gegründet worden waren und als Demokratien geführt wurden. Vor allem im Süden Italiens wurden zahlreiche Kolonien errichtet, sodass das Gebiet den Beinamen »Magna Graecia« erhielt. Die Ausbreitung der Demokratie und griechischen Kultur brachte das Konzept des Kosmopolitismus hervor, der Vorstellung, dass freie Menschen Weltbürger waren - einer Welt der Demokratie unter dem Banner der griechischen Zivilisation. Das Weltbürgertum wurde zum Inbegriff der griechischen Kolonisierung. In der damaligen Vorstellung kam der kosmopolitische griechische Mann als jemand, der sich in jedem Winkel des globalen Dorfs zu Hause fühlt, dem globalisierten Individuum sehr nahe. Der britische Soziologe Anthony Giddens beschreibt die Globalisierung sogar als globalen Kosmopolitismus.22 Ironischerweise basieren sowohl Weltbürgertum als auch Globalisierung auf der Homogenisierung der Kultur. Die griechischen Tochtergründungen orientierten sich beispielsweise an der heimatlichen Polis Athen. Der Idee, dass die griechische Zivilisation allen anderen weit überlegen sei, haftete natürlich eine gute Prise Arroganz an. Wie in Kapitel 1 dargelegt, hegte der Westen nie Zweifel daran, dass die erzwungene Einführung des Kapitalismus in Russland eine
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deutliche Verbesserung für die Einheimischen (und die ausländischen Investoren!) brachte, weil der Kapitalismus westlichen Stils als bestmögliches Wirtschaftssystem galt. Allerdings bleibt dabei die landestypische Vielfalt auf der Strecke. Die kosmopolitische oder globalisierte Welt ist eine Welt, »wo es viele andere, aber gleichzeitig auch wenige andere gibt«, wie Giddens schreibt.23 Im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert hatte die griechische Kultur, ausgestattet mit dem Reichtum der kolonisierenden Stadtstaaten, die damals bekannte Welt in Beschlag genommen. Im Mittelmeerraum wurzelten Poesie, Musik und naturwissenschaftliche Erkenntnisse größtenteils in der griechischen Kultur, selbst wenn sie aus den Tochtersiedlungen stammten. Damals war Griechisch die universale Sprache der Kosmopoliten, heute ist es Englisch. Die angelsächsische Kultur ist die treibende Kraft der Globalisierung, aber auch der Gegenbewegungen und Gesellschaftskritik, wie etwa des Hip-Hop. Die Wurzeln des Hip-Hop liegen zwar im Afrikanischen und Kreolischen, doch erst durch englische Songs hat er sich weltweit verbreitet. Hip-Hop-Bands haben weltweit eine breite Palette an Stilmitteln bekannt gemacht, etwa bei der Instrumentalisierung, beim Rhythmus und bei Samplingtechniken. Heute ist Hip-Hop das meistverkaufte Musikgenre weltweit. Bei dieser kulturellen Entwicklung ist Englisch die Lingua franca, auch wenn Rapper heute in vielen verschiedenen Sprachen Geschichten über la vida loca erzählen. Die athenischen Kolonien lebten nach kurzer Zeit in großem Wohlstand, weswegen sich Sparta, eine Stadt, die noch stark vom Stammesdenken geprägt war, schon bald bedroht fühlte. Anfang des 6. Jahrhunderts begann Sparta mit der Revolte gegen Athen, getrieben von der Angst, ebenfalls zu
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einer Kolonie Athens zu werden, sowie der Furcht vor dem wirtschaftlichen Druck der Kolonien. Die Oligarchen Spartas fürchteten den Kosmopolitismus; ihnen war klar, dass das athenische Kolonisationsmodell bereits die Handelsströme verändert hatte und die Kolonien schneller wuchsen als Athen. Sie ahnten, dass die Kolonien schon bald die Wirtschaft der Kolonisten übernehmen und so auch der Wirtschaft Spartas schaden würden. Nach dem Fall der Berliner Mauer waren die Westmächte nicht in der Lage, die Globalisierung der russischen Wirtschaft unter Kontrolle zu halten. Ähnlich war durch den Übergang Athens von einer geschlossenen zur offenen Gesellschaft die Büchse der Pandora geöffnet worden. Die herrschende Elite und die einst privilegierten Schichten Athens teilten schließlich die Befürchtungen Spartas. Ihre Entscheidung, einer »in ihren Augen komplexen Demokratie, einem monetären Kommerzialismus und der Seepolitik«24 den Rücken zu kehren, basierte auf Angst. In einem unerwarteten Wechselspiel der Koalitionen und politischen Bündnisse forderten sie das vom Stammesdenken geprägte Sparta auf, die Vorherrschaft Athens zu beenden. Dieser Verrat markierte den Beginn des Peloponnesischen Kriegs. Athen musste schließlich kapitulieren, der attische Seebund wurde aufgelöst, und Sparta errichtete in der Stadt eine Marionettenregierung, die Herrschaft der Dreißig. Dieses Schreckensregime währte nur acht Monate, forderte jedoch mehr Menschenleben, als die Stadt in zehn Jahren Krieg verloren hatte. So bedeutete ein wichtiger Sprung der Zivilisation, die Ausbreitung der athenischen Demokratie durch Kolonien, für die Bevölkerung gleichzeitig auch einen Schritt ins Unbekannte und veränderte die athenische Identität. Diese Öffnung verwirrte die Menschen, und sie reagierten mit Panik.
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Also kehrten sie zum Tribalismus zurück, zu einer geschlossenen Gesellschaft, weil sie wussten, wie sie damit umgehen sollten, während der Wandel für sie große Unsicherheit bedeutete. Der Tribalismus bot Beständigkeit und Sicherheit. Eine geschlossene Gesellschaft ist im Grunde ein Stamm. Eine Gesellschaft, »deren Mitglieder zusammenhalten, sich nicht um die übrige Menschheit kümmern, stets auf der Hut sind, um anzugreifen oder sich zu verteidigen, tatsächlich an eine ständige Kampfbereitschaft gebunden sind. Das ist die menschliche Gesellschaft im Naturzustand. Der Mensch wurde für diese Gesellschaft geschaffen«, schreibt Henry Bergson.25 Tribalismus ist im Grunde ein System vertrauter Stereotypen. Im 6. Jahrhundert waren die Athener mit einer geschlossenen Gesellschaft zufrieden, denn diese Gesellschaftsform konnte sie ihrer Ansicht nach vor den Gefahren des Kosmopolitismus bewahren. Bei der eigenen Verteidigung auf Stereotypen zu vertrauen, ist ein uralter sozialer Impuls aller Menschen. Die Kategorisierung der Mitmenschen hilft nicht nur, sich von anderen abzuheben und abzugrenzen, sondern ist seit jeher auch ein bewährtes Mittel, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu bekräftigen. So gesehen ist der Tribalismus Teil der menschlichen Natur; der Mensch ist darauf angewiesen, sonst könnte er die Welt nicht verstehen. In der Medizin wird die Unfähigkeit, diese gesellschaftlichen Kodes zu erkennen und zu lesen, in Form des Autismus als Störung definiert.26 Die Schwierigkeit, sich von einer geschlossenen zu einer offenen Gesellschaft zu entwickeln, wie sie Popper analysiert, ging dem schwierigen Prozess der modernen Globalisierung voraus. Die primitive Mentalität der geschlossenen Gesellschaft überlebe im Westen und tauche in Zeiten der Belastung wieder auf, heißt es bei Popper. Man muss nur an
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George W. Bushs berühmte Rede nach den Anschlägen vom 11. September denken. Bush teilte die Welt in zwei Gruppen: »Diejenigen, die für uns, und diejenigen, die gegen uns sind.« Das ist vielleicht der »armseligste Ausdruck tribalistischer Politik, der mir je unterkam«, schreibt Decca Aitkenhead von The Guardian.27 Wie kann man »die anderen« und »uns« definieren, wenn es sich wie bei den Selbstmordattentätern von London um britische Staatsbürger handelt? Die Nationalität reicht daher als Kriterium oder gültige Kategorie nicht mehr aus. Für das neue Szenario passt der Tribalismus viel besser. 1500 Jahre bevor Bush zur tribalistischen Politik zurückkehrte, wurde Platon Opfer des diskreten Charmes des Tribalismus. Nach der Schreckensherrschaft suchte er eine geschlossene Gesellschaft, wo tribalistische Werte Bestand hatten, akzeptiert und gefördert wurden. Poppers Kritik an Platon richtet sich gegen die Angst des griechischen Philosophen, sich auf eine offene Gesellschaft einzulassen. Popper stellt Platon als »einen totalitären Parteipolitiker dar, ohne Erfolg bei seinen unmittelbaren praktischen Unternehmungen, langfristig betrachtet aber allzu erfolgreich mit seiner Propaganda, eine Zivilisation, die er hasste, zu zerstören«.28 Piatons Republik wurde zu einem Modell für eine autoritäre und unbewegliche geschlossene Gesellschaft, vergleichbar mit Maos China. Die gleiche Kritik könnte man auch auf die Politik der Neokonservativen in den USA anwenden. Die kosmopolitische Revolution, die von den Griechen begonnen wurde, schreitet immer noch fort, die Globalisierung ist ihre aktuelle Ausdrucksform. Doch Geschichte und Zivilisation werden ständig bedroht von der »ewig währenden Revolte gegen die Freiheit«. »Dieser Kampf berührt unsere Gefühle, denn er findet auch immer noch in uns selbst statt. Platon war das
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Kind einer Zeit, die immer noch unsere eigene ist«, schreibt Popper.29 Die Last der Zivilisation ist »selbst heutzutage noch spürbar, vor allem in Zeiten des sozialen Wandels. Die Last entsteht durch die Mühe, die uns das Leben in einer offenen und teilweise abstrakten Gesellschaft ständig abverlangt [...] Das ist der Preis, den wir für das Menschsein bezahlen müssen.« Wir müssen nicht die Schreckensherrschaft der Athener durchmachen, um die gleichen primitiven Regungen zu empfinden, das »Geburtstrauma unserer Zivilisation« noch einmal zu durchleben.30 Es genügt, wenn man sich vor Augen führt, wie die Politik die Menschen manipuliert. Die Marktmatrix und das Netz politischer Illusionen, die den modernen Menschen umgeben, bieten die Möglichkeit, die Last der Zivilisation vor den Bewohnern des globalen Dorfs zu verstecken. Diese Manipulationen sorgen dafür, dass wir in Unwissenheit über die Welt leben, die wir bewohnen, aber sie schützen uns nicht vor den Auswirkungen der Schurkenwirtschaft. Und so suchen Gewalt, Krieg und Angst die globalisierte Welt heim, und in Zeiten wie diesen verblassen die hehren Ideale der Menschheit, während die Werte geschlossener Gesellschaften in den Vordergrund treten. »Mord, Plünderungen und Gemeinheiten, Lug und Trug sind nicht nur erlaubt«, schreibt Bergson, »sondern lobenswert. Die kriegführenden Nationen übernehmen die Werte der Hexen bei Macbeth: >Schön ist hässlich, und hässlich schön.<«31 Im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus konnte das Weltbürgertum die Welt nicht befrieden; die Folge war eine Zeit blutiger Kriege. Auch der Globalisierung gelingt es nicht, einem Planeten in Aufruhr Frieden und Stabilität zu bringen, schlimmer noch, sie verleiht dem modernen Tribalismus Auftrieb.
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Fußball, ein Fenster in unsere Welt Selten wirkte die Beschwörung der Hexen so passend. In Schottland, der Heimat Macbeths, marschieren gewaltbereite Fußballfans der Glasgow Rangers zum Stadion, wo das Spiel gegen Celtic Glasgow stattfindet, und singen: »Rule Britannia.« Die Hymne steht für ihre Bereitschaft, es ihren Vorfahren gleichzutun und gegen die Fans des Rivalen zu kämpfen und sie zu unterwerfen. Die Glasgow Rangers stehen für die protestantische, königstreue Oberschicht Glasgows, die irisch geprägten Celtics für die katholischen Bewohner eines der ärmsten Stadtviertel. Während des Lokalderbys verwandelt sich Glasgow in ein gigantisches Barrio, wo sich zwei rivalisierende Banden eine Schlacht liefern. »Diese Rivalität sorgt für die Horroraspekte des Spiels: Man bekommt keinen Job, weil man Fan der feindlichen Mannschaft ist. Fans werden ermordet, weil sie im falschen Viertel das falsche Trikot trugen.«32 Da überrascht es nicht, wenn es während des Spiels Tote gibt. Mit acht Toten pro Spiel könnte man meinen, die Maras hätten sich in der Stadt eingenistet. Fußball-Hooligans sind eine surreale Folge der Globalisierung. Die Gewaltbereitschaft der Fans in England, verschärft durch politische und wirtschaftliche Umbrüche in den siebziger und frühen achtziger Jahren, ist mittlerweile ein weltweites Phänomen. In den Achtzigern bezeichnete Margaret Thatcher, Pionierin der Privatisierung, Hooligans als »Schande für eine zivilisierte Gesellschaft«. Doch mit der Liberalisierung des Spielertransfermarktes und der Marktexpansion der großen Clubs erlangte der Fußball weltweit einen neuen Stellenwert, ausgestattet mit einem Ballast aus Mythologie, messianischer Leidenschaft und Gewalt der Fans. Wie Roger Milla, Kapitän und Glücksbringer Käme-
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runs bei der Weltmeisterschaft 1990, meinte: »Ich sage Ihnen was: Wenn wir England geschlagen hätten, wäre Afrika explodiert. Ex-plo-diert. Es hätte sogar Tote gegeben. Der Allmächtige weiß, was er tut. Ich persönlich danke ihm, dass er uns im Viertelfinale gestoppt hat. Das sorgte für ein bisschen Demut.« 33 Die Globalisierung radikalisierte die Fußballfans und trug zur Verbreitung der Hooligans bei, die in den neunziger Jahren zu einem weltweiten Phänomen wurden. Die Gratwanderung zwischen Fußball, der »ein Forum bietet, wo gesellschaftliche Beziehungen erkannt werden und sich soziale Gruppen herausbilden«,34 und einem Spektakel, das zu immer gewalttätigeren Ausschreitungen führt, wird stetig schwieriger. In den neunziger Jahren stellten regionale und internationale Fußballverbände Botschaften gegen Rassismus in den Vordergrund, während die Hooligans die Stadien auf der ganzen Welt mit Blut beschmierten. Ironischerweise explodierte die Gewalt gerade zu der Zeit, als das Rowdytum bei den britischen Fußballfans nachließ. Nach der Katastrophe im Heysel-Stadion 1985, dem Ausschluss englischer Fußballklubs von internationalen Wettkämpfen, dem Unglück von Hillsborough 1989 und der Umsetzung der Bestimmungen aus dem Taylor Report, die Fanblöcke in den Stadien besser zu trennen, wurde Thatchers »Schande für eine zivilisierte Gesellschaft« eingedämmt und konnte von den Politikern unter den Teppich gekehrt werden. Doch das Problem besteht nach wie vor, die Gewalt hat sich nur verlagert und findet jetzt außerhalb der Stadien oder bei Auslandsspielen statt. Auch außerhalb Großbritanniens hatte der weltweite Boom der Gewalt unter Fußballfans unvorhersehbare Folgen. »Bei meinen Begegnungen mit wahnsinnigen Fans, kriminellen Clubbesitzern und durchgeknallten bulgarischen Stürmern
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stellte ich immer wieder fest, dass trotz Globalisierung der Einfluss regionaler Kulturen, der regionalen Blutfehden und sogar der regionalen Korruption auf den Fußball unvermindert groß ist. Mir drängte sich sogar der Verdacht auf, dass die Globalisierung den Einfluss regionaler Faktoren verstärkt hatte - und zwar nicht immer zum Positiven«, schreibt Franklin Foer in der Einführung zu seinem Buch Wie man mit Fußball die Welt erklärt,35 So wurde der Fußball zu einem Fenster in unsere Gesellschaft, und die Gesellschaft ist entsprechend ein Fenster zum Fußball. Während die Entwicklung zu einer offenen Gesellschaft dem Weltbürgertum größere Freiräume verschafft, verstärkt sie gleichzeitig den Wettbewerb weit über das Spiel hinaus. Noch nie war eine Sportart so weit von Coubertins olympischem Motto »Dabeisein ist alles« entfernt. Wie bei der Rap-Musik zählt nur der Sieg - man muss der Beste sein. Gewalt und Sieg geben in der globalisierten Welt des Fußballs die Marschrichtung vor, wenn Hooligans das Spiel zur eigenen Abschottung benutzen. Wie Popper und Bergson schreiben, ist diese Abschottung eine Reaktion auf die Bedrohung, die große, globalisierte Mannschaften als Konkurrenz für kleine, lokale Mannschaften darstellen. Auf die Botschaft der Globalisierung von einer homogenen Gesellschaft, wo alles Lokale einschließlich der Fußballklubs verschwindet, reagieren die Hooligans mit Abwehr. Fußballfans wollen nicht in einer Welt leben, »wo es viele andere, aber gleichzeitig auch wenige andere gibt«.36 Wie jeder aufrichtige Fußballfan fühlen sich Hooligans der eigenen Identität und Vielfalt verpflichtet. Und ihre Fußballmannschaft ist das Mittel, mit dem sie diesem Unterschied Ausdruck verleihen. Wie die Maras tragen Hooligans die Symbole ihrer »Gang«
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am Körper. Viele Rangers-Fans tragen orangefarbene Trikots und halten orangefarbene Fahnen, denn Orange ist die Farbe Wilhelms von Oranien, des Anführers der protestantischen Revolution, bei der die katholische Monarchie 1688 abgesetzt wurde. Beim Lokalderby in Glasgow werden auch stolz die Abzeichen der Ulster Volunteer Force und Ulster Defence Association präsentiert, protestantische paramilitärische Organisationen in Nordirland, das nicht weit entfernt von Glasgow auf der anderen Seite der Irischen See liegt. Das Ende des bewaffneten Konflikts in Nordirland - die offizielle Befriedung der IRA und der protestantischen paramilitärischen Verbände - hat nicht die Wurzeln der Auseinandersetzung beseitigt, die weit in die Geschichte zurückreichen, bis zum »nichtbeendeten Kampf bei der protestantischen Revolution«. Religiöser und ethnischer Tribalismus bildeten die Grundlage der Reformation und ihrer geschlossenen Gesellschaft, an die sich die Hooligans in Glasgow immer noch klammern, obwohl das Spiel längst weitergelaufen ist. Kultur und Geschichte werden wieder einmal recycelt und den Bedürfnissen des neuen Stammes angepasst, der sich in diesem Fall auf einen Sport konzentriert, auf Fußball. Der moderne Tribalismus ist offenbar in der Lage, sich aus allem zu entwickeln, was die Menschen zusammenführt, von Musik bis zum Sport, von der Religion bis zum Verbrechen. Die notwendigen Requisiten sind Schurkenwirtschaft, Globalisierung und starke Mythen, anhand derer sich die Identität des Stammes entwickeln kann. Der moderne Tribalismus stützt sich auf alte Mythen, auf tröstliche Geschichten für alle, denen die Globalisierung Angst macht, und ist im Grunde defensiv und unpolitisch. Das muss er aber nicht. Im Gegenteil: Er kann die Grundlage für eine anspruchsvolle und kreative
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Reaktion auf die Schurkenwirtschaft bilden. Das schariakonforme islamische Finanzwesen ist ein herausragendes Beispiel für Tribalismus in der Wirtschaft. Bis heute bleibt dieses Experiment die einzig wahre Herausforderung für die Schurkenwirtschaft und könnte so zur Vorlage für das Wirtschaftssystem der Postglobalisierungsära werden.
KAPITEL
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Ein Freund in der Not ist ein wahrer
Freund. Mohamed al-Fayed
Das islamische Finanzwesen ist der am schnellsten wachsende und dynamischste Sektor der globalen Geldmärkte. Jedes Finanzprodukt westlichen Stils hat seine schariagerechte Entsprechung: Mikrokredite, Hypotheken, die Beteiligung bei der Öl- und Erdgassuche, Kredite für den Brückenbau, ja, sogar das Sponsoring von Sportveranstaltungen. Das islamische Finanzwesen ist innovativ, flexibel und potenziell sehr lukrativ. »[Das islamische Finanzwesen] ist in siebzig Ländern aktiv und steht mit seinem Vermögen von über 500 Milliarden Dollar kurz davor, exponentiell zu wachsen.«1 Mit über einer Milliarde Muslime, die das islamische Finanzsystem eifrig unterstützen, sagen Analysten voraus, dass schon bald 4 Prozent der Weltwirtschaft nach islamischen Gesetzen verwaltet werden; das entspräche einem Vermögenswert von einer Billion Dollar. Diese Zahlen erklären die Bereitwilligkeit westlicher Banken, sich an Finanzdienstleistungen nach den Gesetzen der Scharia zu beteiligen. Neben zahlreichen anderen Finanzdienstleistern hat Citigroup bereits islamische Niederlassungen in muslimischen Ländern eröffnet. Ende 2004 ging die Islamic Bank of Britain, die erste Bank,
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die eine ganze Palette an Finanzprodukten für einen muslimischen Kundenstamm in Europa anbietet, an die Londoner Börse. Ironischerweise wurde der Weg für den Aufstieg der islamischen Finanzdienstleister von den drei großen Wirtschaftskrisen im westlichen Kapitalismus bereitet: der Ölkrise in den siebziger Jahren, der Asienkrise Ende der neunziger Jahre und dem 11. September. Anders als die westliche Marktwirtschaft richtet sich das islamische Finanzsystem nach den Glaubensgrundsätzen des Islams und hält sich an die Scharia, das islamische Rechtssystem, das direkt auf dem Koran basiert. Islamische Aktivisten, Intellektuelle, Schriftsteller und Religionsführer traten stets für das Zins- (riba) und das Spekulationsverbot (gharar) ein. Nach diesen Regeln darf mit Geld nicht weiteres Geld erzeugt werden. Das islamische Finanzsystem meidet daher Hedge Fonds und jede Art der Eigentumsbeteiligung an einem nicht börsennotierten Unternehmen, weil dabei Geld durch Spekulation gemacht wird. Geld dient als Mittel der Produktivität, wie es sich Adam Smith und David Ricardo einmal vorgestellt hatten. Dieses Prinzip wird von den sukuks verkörpert, den islamischen Anleihen. Sukuks sind stets mit echten Investitionen verbunden, beispielsweise der Finanzierung einer mautpflichtigen Straße, und dienen nie Spekulationszwecken. Das Konzept dahinter ist das Verbot des Glücksspiels in der Scharia sowie das Verbot, Zinsen zu nehmen. Ende des 19. Jahrhunderts äußerten die Anhänger und Förderer des islamischen Finanzsystems wiederholt ihren Unmut darüber, dass Banken westlichen Stils in muslimischen Ländern Geschäfte machten. Es wurden verschiedene Fatwas ausgesprochen, die den Glaubensgrundsatz wiederholten, dass auf Zinsen basierende Geschäfte nicht mit der Scharia vereinbar seien. Aber weil die westlichen Finanzinstitute die
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einzigen Banken in der muslimischen Welt waren, mussten die Gläubigen auf deren Dienste zurückgreifen, obwohl die Geschäftspraktiken auf verbotenen Aktivitäten fußten. Mitte der fünfziger bis Mitte der siebziger Jahre erörterten Wirtschaftswissenschaftler, Finanzexperten, Schariagelehrte und Intellektuelle die Möglichkeit, auf Zinsen zu verzichten und eine schariakompatible Alternative zum Zinsverbot (riba) zu entwickeln. Ihnen war klar, dass ein islamisches Wirtschaftssystem auch den zakat, die obligatorische Unterstützung der Armen, und andere Elemente des muslimischen Glaubens wie etwa die Finanzierung des Hadsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, einschließen musste. Die ersten Projekte der angewandten islamischen Wirtschaftswissenschaft entstanden in den fünfziger Jahren in Unterägypten und in Kuala Lumpur, Malaysia. Das ägyptische Projekt in Meet Ghamr war ein Siedlungsprojekt für Arme. Die malaysische Regierung unterstützte ein Experiment, das von der Pilgrims' Administration und dem Fund of Malaysia durchgeführt wurde. Dabei wurden Finanzinstitute beaufsichtigt, die Ersparnisse annahmen und diese in Übereinstimmung mit der Scharia anlegten. So sollte der Hadsch finanziert werden, der zusammen mit dem zakat eine der fünf Säulen des Islams bildet. Bis in die frühen siebziger Jahre stand das islamische Finanzwesen noch ganz am Anfang und wurde mit großer Skepsis betrachtet. »Damals dachte niemand, dass die islamischen Banken je eine große Rolle spielen würden«, erinnert sich Scheich Hussein Hamid Haasan, ein ägyptischer Gelehrter, der an der Gründung einer der ersten islamischen Banken beteiligt war. »Die Leute hielten das für eine seltsame Idee - so seltsam, wie wenn man von einem islamischen Whisky sprechen würde!«2 Die Skepsis im Westen war groß,
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denn die muslimischen Länder litten unter chronischem Kapitalmangel und hatten kein Geld für die Gründung eines alternativen Bankensystems. Viele Finanzexperten im Westen dachten, das würde ewig so bleiben, und verwarfen die Idee als reine Utopie. Doch das änderte sich mit der Ölkrise 1973/74, dank der massiv Kapital aus dem Westen in die arabischen ölfördernden Länder floss. Der um das Vierfache gestiegene Ölpreis lieferte das notwendige Kapital, mit dem eine seit Jahrzehnten diskutierte Idee in die Tat umgesetzt werden konnte. Am Anfang stand die Gründung einer internationalen Entwicklungsbank für die islamische Region. Eine derartige Bank würde der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) zugute kommen, die als potenzielle Machtgrundlage für die zu Reichtum gekommenen Länder wie Saudi-Arabien und Algerien galt. Gleichzeitig sollte die Bank als Instrument dienen, Finanzhilfen der ölreichen muslimischen Länder an ihre Glaubensbrüder in Afrika und Asien zu verteilen. Der erste Aufruf zur Einrichtung der Islamischen Entwicklungsbank (IDB) kam von den Staatschefs Saudi-Arabiens, Algeriens und Somalias. Als 1974 die Satzung für die IDB entworfen wurde, legte man offiziell fest, dass die Tätigkeit der Bank in Übereinstimmung mit der Scharia erfolgen müsse. Der schariakompatiblen Wirtschaft liegt ein außergewöhnliches Joint Venture zugrunde. Die Allianz entstand, als reiche Muslime begannen, mit Schariagelehrten zusammenzuarbeiten. Diese ungewöhnliche Partnerschaft ist ein Phänomen in der modernen Wirtschaft, ein Phänomen allerdings, das die Grundlage eines neuen Wirtschaftssystems bildete. Visionäre Persönlichkeiten wie Prinz Mohammed al-Faisal (Sohn des verstorbenen saudischen Königs Faisal Ibn Abd al-Aziz), Saleh Kamel aus Saudi-Arabien, Ahmed al-Yaseen aus Ku-
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wait und Sami Hamoud aus Jordanien verwendeten ihre zusätzlichen Gewinne aus der Ölkrise für die Gründung einer neuen Form islamischer Banken. Schariagelehrte und Kleriker entwickelten die Finanzstruktur dieser Banken.3 Die Partnerschaft zwischen Politik, Wirtschaft und Klerus bildet das Fundament des islamischen Finanzsystems. Dieses Konzept basiert auf dem Konzept der Umma, der religiösen Gemeinschaft aller Muslime, einer zentralen Vorstellung im Islam. Für Muslime ist die Umma eine Einheit; sie atmet, denkt und betet in Einklang, sie ist die Seele des Islams. Das Konzept des Individualismus ergibt im Islam keinen Sinn, weil diese Religion, basierend auf einer Stammeskultur, es nicht erkennt. Traditionelle Stammeswerte wie ein starker Zusammenhalt, die Verpflichtung, Freunden in Not zu helfen, und die Akzeptanz der religiösen Führer bilden die Säulen der muslimischen Kultur. Die Schariagelehrten übernahmen diese Werte für das islamische Wirtschaftssystem; die gleichen Prinzipien ermöglichten es arabischen Beduinen, den widrigen Bedingungen in der Wüste jahrhundertelang zu trotzen. In einer feindseligen Umgebung war Zusammenarbeit ein Muss, und sie ist auch heute noch unverzichtbar. Die Partnerschaft steht für den Herzschlag des islamischen Wirtschaftssystems. »Dem System liegt die Philosophie des geteilten Risikos zugrunde: Der Geldgeber muss das Risiko des Entleihers teilen, dadurch werden die beiden zu Partnern, und das Finanzsystem erhält eine starke soziale Komponente. Dieses Konzept hebt das islamische Finanzsystem deutlich von der westlichen Finanzwelt ab, die durch Streuung und Risikotransfer ihre Profite zu maximieren und ihre Verluste zu minimieren versucht.«4 Außerdem muss mit dem Geld gearbeitet werden. Weil das islamische Finanzwesen den Zins verbietet, müssen Einnahmen aus Mieten,
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Lizenzen, Unternehmensgewinnen oder dem Warenhandel erzielt werden. Eine Hypothek beispielsweise ist ein Arrangement zum »Mietkauf«. So unterscheidet sich die islamische Wirtschaft schon aufgrund ihres Konzepts deutlich vom westlichen Finanzwesen, das sich nur um das Eigeninteresse des Einzelnen dreht. Vor allem aber stellt das islamische Finanzsystem die einzige wirtschaftliche Kraft dar, die der Schurkenwirtschaft konzeptionell etwas entgegensetzt. Investitionen in Pornographie, Prostitution, Drogen, Tabak und Glücksspiel sind verboten. Wie schon gesagt wurde, gedeihen diese Bereiche seit dem Fall der Berliner Mauer unter dem gleichgültigen Blick des Marktstaates prächtig.
Die Magie des Marktes In seinem Meisterwerk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (deutsche Ausgabe: Der Wohlstand der Nationen) vertritt Adam Smith die These, dass eine unsichtbare Hand das Marktgeschehen reguliert.5 Diese unsichtbare Hand lenkt die Kräfte des Marktes gemäß dem Bedürfnis der Menschen, Gewinne oder Erträge zu ihrem eigenen Vorteil zu maximieren. Ein solches Verhalten ist laut Smith rational und steht im völligen Einklang mit der menschlichen Natur. Smith argumentiert einleuchtend, dass jeder Einzelne zwar nach seinem persönlichen Gewinn strebt, die Summe dieses egoistischen Verhaltens jedoch zum Wohl und Gewinn der ganzen Nation führt. Wie ist das möglich? Für Smith sorgt das kollektive eigensüchtige Verhalten dafür, dass die knappen Ressourcen des Kapitals stets zu Investitionen gelenkt werden, die bei minimalem Risiko den höchsten Gewinn bie-
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ten. 6 Anders ausgedrückt, indem die Menschen nach der Maximierung der Gewinne und der Minimierung der Verluste streben, tragen sie zum Wohlstand ihrer Nation bei. Das ist kurz zusammengefasst die Magie des Marktes. Für Wirtschaftswissenschaftler stellt Smiths unsichtbare Hand eine quasireligiöse Ikone dar, die niemand, der Herr seiner Sinne ist, in Frage zu stellen wagt. Viele glauben, dass das Prinzip der unsichtbaren Hand auch in der globalisierten Wirtschaft funktioniert. »Die große Mehrheit der heutigen wirtschaftlichen Entscheidungen entspricht der früheren Annahme, dass Individuen mehr oder weniger ihrem rationalen Eigeninteresse folgen«, sagte Alan Greenspan, der ehemalige Vorsitzende der amerikanischen Zentralbank, 2005: Ohne das rationale Eigeninteresse gäbe es für die Angebots-und-Nachfrage-Kurve der klassischen Wirtschaftswissenschaft vielleicht keine Schnittmenge, wodurch die Preise nicht vom Markt bestimmt werden würden. Beispielsweise könnte man sich kaum vorstellen, dass die erstaunliche Vielfalt internationaler Transaktionen die relative wirtschaftliche Stabilität hervorbrächte, die wir heute erleben, wenn sie nicht von einer internationalen Version von Smiths unsichtbarer Hand gelenkt werden würden.7 Adam Smith könnte sicher der Behauptung zustimmen, dass das Outsourcing von Unternehmen ins Ausland zur Kostensenkung eine direkte Folge der unsichtbaren Hand des globalisierten Marktes ist. So verlagerten zum Beispiel japanische und amerikanische Unternehmen einen Teil ihrer Fabriken nach China, weil die niedrigen Arbeitslöhne die Transportkosten der fertigen Produkte zurück zu den einheimischen und ausländischen Märkten akzeptabel machten. Doch in der
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globalisierten Welt der multinationalen Konzerne ist Smiths unsichtbare Hand nicht nur in einzelnen Ländern zugange, sondern kann überall die Kräfte des Marktes beeinflussen. Das rationale Eigeninteresse kann dadurch große Teile der Weltbevölkerung fern nationaler Grenzen in die Armut stürzen oder mit Reichtum segnen. In den neunziger Jahren veränderte beispielsweise die Ansiedlung ausländischer Industrien in China den direkten Kapitalstrom nach Südostasien. Anfang der neunziger Jahre ging der Großteil der Auslandsinvestitionen Japans und der USA nach Südostasien, während China nur einen kleinen Teil erhielt. Doch am Ende des Jahrzehnts war die Situation genau umgekehrt. Aufgrund der niedrigen Arbeits- und Produktionskosten wurden die chinesischen Fabriken zu den Werkstätten der Welt, während die Fabriken in anderen Ländern schließen mussten. So wirkte sich die chinesische Wettbewerbsfähigkeit auf die wirtschaftliche Leistung ferner Regionen wie etwa Mexiko aus. 2002 legte Royal Philips Electronics zwei Drittel der Fernseherproduktion in Mexiko still und verlagerte sie nach China.8 Wenn Smiths unsichtbare Hand die Globalisierungsrevolution lenkt, könnte man argumentieren, dass langfristig gesehen der westliche Kapitalismus die Weltwirtschaft übernehmen und die Menschen und Nationen dann dank einer besseren, effizienteren Verteilung der Ressourcen zu mehr Wohlstand kommen würden. Doch ein Blick auf das Wachstum des islamischen Finanzsystems widerlegt diese Argumentation. Die Globalisierung leistete dem transnationalen Tribalismus Vorschub und schuf so die idealen Voraussetzungen für eine Blüte des islamischen Finanzwesens, wie die Islamisierung der malaysischen Wirtschaft zeigt. Damit hat der westliche Kapitalismus Konkurrenz von einem System bekommen, dessen Prinzipien der Marktwirtschaft fremd
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sind. Adam Smith würde zustimmen, dass bei Malaysias bemerkenswertem Ausflug in die islamische Finanzwelt nicht die unsichtbare Hand des Marktes zugange war, sondern religiöse Faktoren wie etwa muslimische Solidarität.
Die Schariawirtschaft Das noch junge islamische Finanzwesen profitierte von zwei Krisen der Globalisierung: dem Zusammenbruch der asiatischen Finanzmärkte 1997 und von den Anschlägen am 11. September. Die erste Krise führte zu drastischen Einschränkungen, die zweite zur Abkehr vom Wirtschaftssystem westlichen Stils. Wegbereiter bei diesen dramatischen Veränderungen war Malaysia, ein zutiefst muslimisches Land. Die Asienkrise wirkt wie ein Schicksalsschlag aus dem Lehrbuch, diktiert von den schizophrenen globalisierten Kräften der Finanzmärkte. Auslöser war ein plötzlicher und unerwarteter Kapitalabzug aus fünf asiatischen Ländern (Südkorea, Indonesien, Thailand, Malaysia und den Philippinen). Fast über Nacht wurde aus einem Kapitalzufluss von 100 Milliarden Dollar (was 1996 einem Drittel der weltweiten Kapitalströme zu den Entwicklungs- und Schwellenländern entsprach) ein Kapitalabfluss von 12 Milliarden Dollar. Eine derart schwere Krise hatte es noch nie gegeben, die Folgen waren katastrophal. Bis zu 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der fünf asiatischen Länder verschwanden einfach. Zehn Jahre nach dem Crash diskutieren Anleger immer noch, was passiert war. War das außergewöhnliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts der Länder vor der Krise nur eine Fata Morgana? Viele glauben, die Krise sei eine Folge der Globalisierungseuphorie gewesen: eine vom Geld berauschte Halluzination, wie sie
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Tom Wolfe in Fegefeuer der Eitelkeiten bei den »Masters of the Universe«, den Brokern an der Wallstreet, schildert. Renommierte Wirtschaftswissenschaftler bemühten sich zwar um eine rationale Erklärung für die Krise, doch die besten Interpretationen zielen auf das bipolare Verhalten der globalisierten Märkte ab, das Stiglitz als »Instabilität von Interessen und Ideologie« bezeichnet und Keynes als »Animal Spirits«9 definierte. Der Kapitalismus hatte früher schon ähnliche Vertrauenskrisen erlebt, etwa im Oktober 1987, als überraschend die Kurse an der Börse einbrachen, doch dieses Mal »hatte das Drama etwas Absurdes. Internationale Finanzmanager übten harsche Kritik an den gleichen asiatischen Regierungen, die sie Monate zuvor noch überschwänglich gelobt hatten.«10 Nach der Krise setzte weltweit eine Desillusionierung ein, deren Ausmaß es durchaus mit der Begeisterung der Boomjahre aufnehmen konnte. Die Euphorie der frühen neunziger Jahre verwandelte sich in eine Massenhysterie, die sich bald zu einer chronischen Phobie entwickelte. Die Märkte wurden von irrationalen Gefühlen beherrscht. »Den Unternehmen kann man nicht vertrauen, den Regierungen kann man nicht vertrauen, den Analysten kann man nicht vertrauen, und den Fondsmanagern kann man nicht vertrauen. Da heißt es vorsichtig sein«,11 lautete das Mantra der westlichen Finanzmanager mit Blick auf ihre früheren asiatischen Partner. Die Vertrauenskrise traf die asiatischen Volkswirtschaften mit der Intensität eines Tsunamis und fügte ihnen dauerhaften Schaden zu. »Der Kurs der thailändischen Währung brach um 40 Prozent ein; die indonesische Rupiah verlor 80 Prozent, der malaysische Ringgit 30 Prozent, der Singapur-Dollar 15 Prozent, der philippinische Peso 50 Prozent. Die Aktienkurse an den Börsen verzeichneten ähnliche Ein-
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brüche.« 12 Als die Panik in der globalisierten Finanzwelt immer weiter um sich griff, schaltete sich der Internationale Währungsfonds (IWF) ein. Zusammen mit der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank stellte er einen Auslandskredit zur Verfügung, mit dem die Währungen Indonesiens, Südkoreas und Thailands gestützt werden sollten, der Länder, die einem Rettungspaket zugestimmt hatten. Die Initiative erwies sich als Katastrophe; das Vertrauen der Anleger konnte nicht wiederhergestellt werden, und auch die Rezession wurde nicht aufgehalten.13 Während der IWF verzweifelt versuchte, das Unvermeidliche (den finanziellen Zusammenbruch der asiatischen Märkte) zu verhindern, überraschte der malaysische Premierminister Dr. Mohamad Mahathir die internationale Finanzwelt. Er griff öffentlich die Devisenspekulanten an und warf ihnen vor, ein prosperierendes und schnell wachsendes muslimisches Land zu ruinieren. Dann spielte er eine unerwartete Trumpfkarte aus: gharar, das islamische Spekulationsverbot. Malaysia sei Opfer der gierigen westlichen Spekulanten geworden, bekräftigte er in einer Botschaft an die muslimische Welt. Mahathir verschmähte die Unterstützung des IWF und der Weltbank, der Ikonen des westlichen Finanzsystems, und wandte sich stattdessen an seine muslimischen Brüder mit der Bitte um Unterstützung für die malaysische Wirtschaft. Muslimische Anleger und die Islamische Entwicklungsbank schnürten mit Krediten und Investitionen ein alternatives Paket zur Rettung. Dank der Solidarität unter Muslimen erteilte Malaysia der westlichen Finanzwelt einen Korb und stellte die traditionellen Rettungsmaßnahmen des westlichen Kapitalismus in Frage. Während das thailändische Bruttoinlandsprodukt nach dem gescheiterten IWF-Hilfsplan eine weitere Talfahrt antrat, empfing Malaysia verschiedene reiche mus-
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limische Investoren, die nur allzu gern im Land unternehmerisch tätig werden wollten - darunter auch Mohamed alFayed, den in Ägypten geborenen Eigentümer des Londoner Traditionskaufhauses Harrods: Am Ende seiner Reise gab al-Fayed bekannt, dass seine Kaufhauskette eine Filiale im neuen Kuala Lumpur International Airport eröffnen würde, außerdem sollten seine weltweit 25 Niederlassungen in Zukunft ihren Elektrikbedarf von der Malaysian Electric Company beziehen. Mr. Ong Eian Siew, der leitende Geschäftsführer des Unternehmens, sagte, man hoffe, [1998] Güter im Wert von 2,5 Millionen US-Dollar in den Jemen zu exportieren.14 Mahathirs Entscheidung, Hilfe bei anderen Muslimen zu suchen, schockierte den IWF. Seine Rechtfertigung war noch schockierender. In einer Rede bei der Verleihung einer Auszeichnung des islamischen Finanzunternehmens LARIBA sagte er in den USA: Etwa 90 Prozent der Bumiputras (Malaien) sind Muslime. Was Wohlstand und Einkommen betrifft, lagen die Bumiputras stets hinter den Nicht-Bumiputras zurück. 1970 legten wir eine neue Wirtschaftspolitik (NEP) auf, die gewährleisten sollte, dass die Bumiputras ihren gerechten Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand erhielten. Da 90 Prozent der Bumiputras Muslime sind, ist die NEP fast deckungsgleich mit einer Förderung des wirtschaftlichen Status der Umma in Malaysia. Viele erwarteten, dass wir uns an den IWF wenden und Kredite zur Bewältigung der Krise beantragen würden. Aber das taten wir nicht. Sich an den IWF zu wenden, wäre für die Umma Malaysias eine Kata-
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Strophe gewesen, weil sich die NEP-Maßnahmen nicht mit der vom IWF vertretenen Idee des freien Wettbewerbs decken, bei dem der Stärkste alles bekommt. Gerechtigkeit hat für den IWF keine Bedeutung.15 Vielleicht hatte Mahathir von Russland gelernt (wo die Maßnahmen des IWF nur zur Bereicherung der Oligarchen beitrugen) und wollte ein solches Szenario für sein eigenes Land vermeiden. Die Mischung aus Religion, Wirtschaft und Politik, die Premierminister Mahathir vertrat, veranschaulicht die Komplexität und Einzigartigkeit der malaysischen Gesellschaft, wo die Scharia das Wirtschaftsleben bestimmt und sich religiöser und wirtschaftlicher Tribalismus überschneiden. Das Erfolgsgeheimnis jener bemerkenswerten Mischung wird deutlich, wenn man untersucht, wie sich diese Gesellschaft selbst definiert. Ende 2005 ergab eine Telefonumfrage bei tausend nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Muslimen, dass »bei der Frage nach der Identität, also ob sie sich selbst in erster Linie als Malaie, Muslim oder Malaysier bezeichnen würden, 72,7 Prozent antworteten, ihre Identität sei primär muslimisch. Als zweite Wahl nannten mehr Befragte malaysisch (14,4 Prozent) als malaiisch (12,5 Prozent). [...] Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass sich die Mehrheit der Muslime auf der Malaiischen Halbinsel in erster Linie über den Islam definiert und nicht über ihre nationale Identität als Malaysier, aber dennoch zufrieden damit ist, mit Menschen anderen Glaubens zusammenzuleben.« 16 Die revolutionäre Entscheidung Malaysias sprach die muslimischen Glaubensbrüder so an, dass sie den Malaysiern zu Hilfe kamen. Das ist ein hervorragendes Beispiel für wirtschaftlichen Tribalismus. Mahathir stellte die Interessen der
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muslimischen Gemeinschaft, das Wohl der Umma, über die Prinzipien der Marktwirtschaft und erinnerte muslimische Investoren daran, dass die Stärke des islamischen Wirtschaftssystems in der Partnerschaft liegt. Dadurch strömte selbst während der Krise Geld aus der Golfregion ins Land. Nun folgten in kurzem Abstand die Kontrolle des Kapitalverkehrs, der Abzug der malaysischen Währung von den internationalen Finanzmärkten sowie die Entlassung und anschließende Verurteilung des damaligen Finanzministers und stellvertretenden Premierministers Anwar Ibrahim. Ende 1998, als die Landeszentralbank Malaysias die Prognosen für 1999 veröffentlichte, lag das Bruttoinlandsprodukt noch im negativen Bereich (minus 2,8 Prozent). Die Anhänger von Adam Smith hätten kehrtgemacht und das Land der Wirtschaftskrise überlassen, die muslimischen Anleger dagegen eilten zu Hilfe. Trotz aller Widrigkeiten und der Kritik der internationalen Finanzinstitute wie des IWF und der Weltbank kehrte Malaysia dem Wirtschaftssystem westlichen Stils den Rücken und konnte so dem finanziellen Sturm trotzen. Das war möglich, weil es anders als andere Länder wie beispielsweise Thailand eine Alternative hatte: das islamische Finanzsystem. Malaysia konnte eine derart radikale Politik verfolgen, weil es sich im Verbund mit anderen Ländern seit langem bemüht hatte, ein islamisches Bankensystem zu schaffen. 1997 bot kein anderes Land muslimischen Anlegern ein ausreichend entwickeltes Finanzsystem. Mahmoud Amin El-Gamal, Professor für Wirtschaft und Statistik an der Rice University in Houston, erklärt dazu: »Malaysia stand bei der Erneuerung des islamischen Finanzwesens schon immer an vorderster Front und war Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten und so weiter mindestens zehn Jahre voraus. Schon sehr früh entwickelte Malaysia ein von westlichen Banken unabhängiges
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Finanzsystem für islamische Anleihen, die von den bestehenden Machthabern zertifiziert wurden. Und die malaysische Wirtschaft ist aufgrund ihrer Größe sehr attraktiv.«17 Während in den neunziger Jahren große Kapitalmengen nach Malaysia strömten, arbeitete das Land an einem eigenen islamischen Bankensystem. Bereits 1992 hatte Finanzminister Anwar Ibrahim Bankiers ermutigt, alternative Finanzdienstleistungen anzubieten, die der Scharia entsprachen. »Ihre Mitarbeiter sollten neue Instrumente anbieten, die mit anderen Finanzinstrumenten konkurrieren können«, wiederholte er 1996 nur wenige Monate vor der Asienkrise. »Sie dürfen sich von der Natur der islamischen Produkte nicht einschränken lassen, sondern sollen im Rahmen der Scharia innovativ sein.« 18 Ermutigt vom Erfolg der schariagerechten Finanzprodukte bei einheimischen und ausländischen Anlegern, erklärte Ibrahim 1994, das westliche Bankensystem und das islamische Bankensystem könnten nicht nebeneinander existieren, ohne erhebliche Widersprüche aufzuwerfen. Er schlug daher vor, das malaysische Finanzsystem vollständig zu islamisieren. Schon bald stieg Malaysia zum führenden Land des islamischen Finanzwesens auf und wurde zum Magneten für direkte Investitionen. Zwei Faktoren kurbelten den Kapitalfluss ins Land an: muslimische Geldmittel aus dem Ausland und die Tatsache, dass Anleger den konventionellen Finanzinstrumenten der westlichen Finanzwelt den Rücken kehrten und islamische bevorzugten. Der erste Faktor war eine Folge der asiatischen Finanzkrise, der zweite die Folge des 11. September. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center beeilten sich muslimische Anleger, ihre Portfolios zu islamisieren. Bis dahin war der Großteil der islamischen Gelder konventi-
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onell im Westen angelegt worden. Den Ausschlag für die Suche nach alternativen Investitionsmöglichkeiten gab die Reaktion der USA auf die Anschläge. Aus Furcht vor strengeren Kontrollen unter dem Patriot Act, vor Visabeschränkungen und der Möglichkeit, aufgrund der neuen Antiterrorgesetze Konten einzufrieren, wanderten muslimische Investoren in Länder wie Malaysia ab, die ein gut ausgebildetes islamisches Finanzsystem vorweisen konnten. Die erzwungene Umstrukturierung der konventionellen Investitionen weckte schlummernde Gefühle religiöser Identität. »Viele muslimische Anleger suchten nach Möglichkeiten, ihrer Identität Ausdruck zu verleihen«, erklärt Qudeer Latif, ein in Dubai ansässiger Partner der britischen Anwaltskanzlei Clifford Chance, die einen ansehnlichen Anteil islamischer Finanzgeschäfte betreut. »Eine Möglichkeit dafür ist die Entscheidung für schariakompatible Finanzprodukte.«19 Länder wie Malaysia, die an der Spitze der islamischen Wirtschaft stehen, wiesen den Weg und hatten Erfolg, wie das Wachstum des malaysischen Markts für islamische Anleihen beweist. Nach Angaben der internationalen Rating-Agentur Moody's wurden 2004 weltweit islamische Anleihen in Höhe von 41 Milliarden US-Dollar ausgegeben. Davon stammt ein Anteil im Wert von 30 Milliarden US-Dollar oder 75 Prozent aus Malaysia; in der Golfregion wurden nur Anleihen in Höhe von 11 Milliarden US-Dollar ausgegeben.20 Schariakompatible Finanzprodukte wurden zum wichtigsten Ausstattungsmerkmal des internationalen wirtschaftlichen Tribalismus. Eine der Ursachen für den Erfolg ist der Stolz, Muslim zu sein. Bevor ein schariagerechtes Finanzprodukt verkauft werden darf, benötigt es eine Fatwa, ein Rechtsgutachten von einem anerkannten islamischen Gelehrten. Dadurch ist das islamische Finanzsystem deutlich flexibler
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als das westliche und bietet den Anlegern gleichzeitig ein Maß an Sicherheit, das man im Westen nicht kennt.21 Die Frage nach der Ethik, die sich in der modernen Finanzwelt immer wieder aufdrängt, stellt sich im islamischen Finanzsystem nicht, weil eine Investition durch die Fatwa über jeden Zweifel erhaben ist. Paradoxerweise gedieh das islamische Finanzsystem gerade im Schatten des neokonservativen Schlagworts vom »Kampf der Kulturen«. Mitten im Krieg gegen den Terror, den viele Muslime als Hexenjagd betrachteten, verkleinerten zahlreiche muslimische Investoren ihre westlichen Portfolios und wandten sich islamischen Anlagen zu. Diese Abkehr ging Hand in Hand mit einer Wiederbelebung ihrer traditionellen Werte, die es ihren arabischen Vorfahren ermöglicht hatten, in einer feindseligen Umgebung zu überleben - wieder einmal erwies sich der Zusammenhalt als wichtigster Wert. Auf einem neuen Terrain, der Wirtschaft, verbanden sich Altes und Neues. Islamische Banker und Anleger schmiedeten mit dem Segen der muslimischen Gelehrten Allianzen zur Eroberung einer neuen, feindlich gesinnten Umgebung: der globalen Finanzwelt. Der Erfolg des islamischen Finanzsystems setzt sich immer noch fort und wirkt sich auf eine wachsende Zahl von Bereichen aus. Tim Harrison, Associate Director bei der Finanzberatung Asda's Financial Practice, glaubt, dass die islamische Finanzwelt schon bald »große Veranstaltungen« wie Konzerte und Sport-Events sponsern wird. Da die Veranstaltungen in Form von Konzessionen und Eintrittsgeldern Gewinn erzielen, passen sie hervorragend zum islamischen Finanzsystem mit seinem wachsenden Anspruch.22 Viele Experten glauben, dass es dabei um viel mehr geht, als wir uns vorstellen können: ein neues islamisches Währungssystem.
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Das Goldene Kalifat Die IWF-Politik während der Asienkrise, die Malaysia als bewusste Schikane wahrnahm, eröffnete eine neue Debatte, die islamische Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und Gelehrte seit Jahrzehnten beschäftigt: die Debatte um die Einführung des Golddinars. Der Golddinar diente 1300 Jahre lang bis zum Ende des Osmanischen Reichs 1923 als Zahlungsmittel.23 Damit hatte er wesentlich länger Bestand als unser derzeitiges Währungssystem. (Der Dollarstandard existiert erst seit 1971, als das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs vereinbarte System von Bretton Woods außer Kraft trat.) Im kollektiven Denken »besitzt der Golddinar für zahlreiche Muslime in historischer, kultureller und theologischer Hinsicht großen Reiz. Viele islamische Wirtschaftswissenschaftler treten für eine Abschaffung des Papiergeldes (das nicht durch Werte gedeckt sein muss) und eine Rückkehr zum Goldstandard ein«, schreibt Ann Berg, eine ehemalige Börsenmaklerin, die heute als politische Journalistin und Künstlerin tätig ist.24 Politiker, Intellektuelle, religiöse Gelehrte, ja, sogar Terroristen - Osama bin Laden zählt zu den stärksten Befürwortern des Golddinars - teilen diese Ansicht. 2001 versuchte Malaysia, den Golddinar als Reservewährung der Zentralbanken muslimischer Länder einzuführen. Premierminister Mahathir hoffte, dass bis 2003 mindestens ein Dutzend der 57 Länder von der Organisation der Islamischen Konferenz dem System beitreten würden. Doch aus verschiedenen Gründen wurde der Versuch nie verwirklicht; dazu zählte unter anderem, dass Washington den Plan ablehnte und den IWF überzeugte, jedem Mitgliedsland zu verbieten, seine Währung an den Goldstandard zu binden. Der gescheiterte Versuch machte den Golddinar zu einer Art Witz,
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ähnlich dem bereits zitierten Vergleich zwischen einem islamischen Finanzsystem und islamischem Whisky. Doch rein theoretisch steht einer Einführung des Golddinars nichts im Wege. Malaysia oder ein anderes muslimisches Land bräuchte zur Deckung des Dinars keine Goldbarren. Die Länder müssen nur die Währung an den aktuellen Goldpreis koppeln und über die Preisschwankungen des Edelmetalls den Kurs der Währung regulieren. Ursprünglich wurde das von den USA bei der Einführung des Bimetallstandards auch so gehandhabt.25 Damals fehlte es den neu gegründeten Vereinigten Staaten an Goldreserven, daher wurde die Währung an den Gold- und Silberkurs gekoppelt.26 Die Einführung des Goldstandards in islamischen Volkswirtschaften erscheint daher machbar, selbst wenn der IWF seinen Schuldnerländern verbietet, ihre Währung an den Goldpreis zu binden. Seit Malaysia gegen den IWF aufbegehrt hat, ist die Macht der Organisation geschrumpft. Gleichzeitig stellen viele Länder das derzeitige Währungssystem angesichts des neuen Protektionismus der USA in Frage. In ihrem Artikel »The Golden Caliphate« fasste Ann Berg die Veränderungen zusammen: Mit zunehmendem Reichtum lehnen immer mehr Länder Kredite auf Dollarbasis ab. Argentinien, Brasilien und Russland haben beschlossen, ihre Schulden beim IWF abzuzahlen, und die Türkei (die 2001 einen wirtschaftlichen Zusammenbruch erlebte) hat angekündigt, dass sie die Unterstützung des IWF bis 2008 nicht mehr benötigen wird. Der dramatische Anstieg des Ölpreises ließ die meisten islamischen Länder in kurzer Zeit sehr reich werden. Außerdem hat die weltweite Senkung der Zinssätze den
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Zugang zu Kapital in einheimischer Währung viel leichter gemacht, während gleichzeitig die großen Papierwährungen, die international gehandelt werden, im Vergleich zum Goldpreis rasch an Wert verlieren. Darüber hinaus verhalten sich die USA zunehmend protektionistisch. Mit der Ablehnung ausländischer Investitionen, vor allem aus dem Nahen Osten, wirft Amerika Ausländern den Fehdehandschuh hin und fordert sie dazu heraus, ihre Dollarinvestitionen aufzugeben. Und da sich das System der flexiblen Wechselkurse bei der Regulierung von Handelsbilanzen als schwerfällig erwiesen hat, hat es einen Teil seiner makroökonomischen Funktion an die Gesetzgeber abgegeben, die jedoch nur über ein geringes wirtschaftliches Fachwissen und stumpfe Instrumente wie Zölle, Quoten, Sanktionen und Währungsaufwertungen verfügen. Daher sprechen verschiedene Voraussetzungen wirtschaftlicher und politischer Art für eine Veränderung des globalen Finanzsystems.27 Das einzige wirkliche Hindernis bei der Einführung des Golddinars ist das Vertrauen. Grundlage eines Währungssystems ist Vertrauen - die Menschen müssen an den Wert des Papiergeldes glauben. Angesichts des rapide wachsenden islamischen Finanzsystems und sinkender Dollarkurse bietet der Golddinar-Standard durchaus eine Möglichkeit. Wenn er erst einmal eingeführt wäre, würde er als starker Magnet funktionieren. »Mit einem islamischen Golddinar«, schrieb Jude Wanniski, wirtschaftlicher Berater von Präsident Ronald Reagan und einer der ersten Vertreter der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, »hätte die islamische Welt die beste Währung überhaupt. Die USA wären gezwungen, den Dollar wieder an den Goldstandard zu koppeln, und auch der Euro
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und der Yuan/Yen-Block würden sich anschließen. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil die beste Währung auf die internationale Finanzwelt wie ein Magnet wirkt. Exporteure und Importeure in jedem Land könnten Hunderte Milliarden Dollar sparen, mit denen sie sich heute gegen Währungsverluste im Welthandel absichern.« 28 Die internationale Finanzwelt würde sich anpassen, das hat sie schon immer getan. Die Politik verfügt vielleicht nicht über diese Stärke. Weil Währungssysteme auf dem Vertrauen zwischen Regierung und den Nutzern der Währung basieren, muss mit dem Golddinar-Standard auch eine bessere Verteilung des Reichtums in muslimischen Ländern kommen. Wenn eine Partnerschaft in der Wirtschaft nicht Hand in Hand mit einer Partnerschaft in der Politik geht, kann es zu einer politischen Katastrophe kommen. Die wahre Gefahr des Golddinar-Standards liegt in der Destabilisierung der muslimischen Länder. Der Golddinar würde eine ungleiche Verteilung des Reichtums noch verschärfen, und dann würden politische Unruhen ausbrechen. Dieses Szenario einer Destabilisierung wirkt besonders real, wenn man bedenkt, dass eines der zentralen Ziele von Al Kaida die Errichtung des Goldenen Kalifats ist, das als langfristige Strategie zur Zerstörung des Westens betrachtet wird. In einem Brief, der 2005 auftauchte, umriss Saif al-Adel, der ehemalige Sicherheitschef von Al Kaida, die verschiedenen Stadien zur Bildung des Kalifats, darunter die Zerstörung der amerikanischen Wirtschaft. »Islamisten werden die Idee unterstützen, Gold als internationales Zahlungsmittel zu verwenden, was schließlich zum Zusammenbruch des Dollars führen wird. Dann kann ein islamisches Kalifat ausgerufen werden und die fünfte Phase des großen Plans der Al Kaida umgesetzt werden, die bis 2016 währen wird.«29 Die Welt hat
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ein ähnlich apokalyptisches Szenario schon einmal erlebt, am Ende einer anderen Globalisierungsbewegung. Damals war der Auslöser die faschistische Wirtschaftspolitik.
Staatlicher Tribalismus Das faschistische Wirtschaftssystem erstreckte sich von Tokio bis Buenos Aires. Auch dieses System war das Ergebnis großer weltweiter Krisen: der wirtschaftlichen Katastrophe nach dem Ersten Weltkrieg und des Börsenkrachs 1929. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer Abkehr vom wirtschaftlichen Liberalismus, der Doktrin, die das außerordentliche Wirtschaftswachstum des 19. Jahrhunderts geprägt hatte. Mit dem Börsenkrach und der anschließenden Weltwirtschaftskrise wurde dann die Marktwirtschaft endgültig zu Grabe getragen. Ein Land, Italien, ebnete beim Versuch zur Gestaltung einer neuen Wirtschaftsordnung den Weg. Dass sich das System als so zerstörerisch entpuppte, lag daran, dass es nicht dem wirtschaftlichen Interesse der Massen diente, und an der Tatsache, dass rücksichtslose Diktatoren es für ihre Zwecke nutzten. Nach dem Ersten Weltkrieg war der Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft geprägt von dem Wunsch, zum alten System der Vorkriegszeit zurückzukehren. Dessen wirtschaftliche Säulen waren der Goldstandard und ein selbstregulierender Markt gewesen. Politisch basierten die hundert Jahre relativen Friedens, die 1914 geendet hatten, auf einem liberalen Staat und einem Kräftegleichgewicht, das lang anhaltende Kriege zwischen den Großmächten verhinderte.30 Die Kultur im 19. Jahrhundert brachte schließlich die moderne Globalisierung hervor, wie A. G. Hopkins schrieb.31
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Ausgehend vom Nationalstaat, war diese Globalisierung gekennzeichnet von der Industrialisierung und einem kosmopolitischen Denken. Die Arbeit verlagerte sich von der Landwirtschaft in die Städte, fortan bestimmte der Arbeitslohn das Einkommen. Ackerland wurde verkauft oder privatisiert, wobei Ländereien zur wichtigsten Quelle für Besitz in der damaligen Zeit wurden. Gleichzeitig entwickelten die europäischen Länder Strategien zur Gewinnung von Kolonien, zur Kontrolle der Bevölkerung durch Assimilierung und Anbindung an die Weltmacht. Sämtliche Versuche, die Verhältnisse der Vorkriegszeit wiederherzustellen, waren nach 1918 zum Scheitern verurteilt. Zunächst einmal war das außergewöhnliche politische Gleichgewicht, das hundert Jahre lang für Frieden gesorgt hatte, schon vor dem Krieg gestört, weswegen es letztlich zum Ersten Weltkrieg kam. Fast ein Jahrhundert lang hatten drei große Machtblöcke einen Krieg verhindert. Nur unter diesen ungewöhnlichen Bedingungen war der wirtschaftliche Liberalismus jener Zeit überhaupt möglich. Denn die Grundlage der Globalisierung im 19. Jahrhundert bildete der Glaube an den selbstregulierenden Markt, ausschließlich gelenkt von Adam Smiths unsichtbarer Hand. Aber diese Magie des Marktes war nur in Friedenszeiten möglich. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Welt eine andere geworden. »Der Krieg hatte die politische Landkarte der Welt für immer verändert. Kämpfe und Hunger hatten fünfzehn Millionen Opfer gefordert. Dynastien mussten abdanken, Reiche in Mittel- und Osteuropa zerfielen in zahlreiche kleinere Staaten.«32 Die Vergangenheit ließ sich nicht zurückholen. Wie bei der Asienkrise Ende der neunziger Jahre konnten weder die Weltmächte noch das westliche Finanzsystem die wirtschaftliche Katastrophe verhindern.
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Am Ende des Ersten Weltkriegs war der Goldstandard nicht mehr zu retten. Anders als das derzeitige flexible Währungssystem umfasste der Goldstandard ein festes System unabhängiger Währungen, für die eine Goldhinterlegungspflicht bestand; theoretisch konnte das Papiergeld gegen Goldbarren eingetauscht werden. Der gesamte internationale Handel basierte auf diesem Konzept. Mit Kriegsende wurde England, bis dahin einer der größten Investoren in Übersee, zu einem der größten Schuldner, 40 Prozent der Staatsausgaben wurden von der Rückzahlung der Kriegsschulden verschlungen. Russland war unter der Zarenherrschaft bei ausländischen Anlegern beliebt gewesen, doch als die Bolschewisten an die Macht kamen, litt es unter starkem Kapitalabfluss. Frankreich und Belgien waren nach dem deutschen Einmarsch verwüstet und horteten ihr Gold zur Bezahlung des Wiederaufbaus. Die Reparationszahlungen erschöpften die Goldreserven Deutschlands und absorbierten die Einnahmen aus dem Verkauf natürlicher Ressourcen wie Kohle und Stahl. Ohne die Stütze des Goldstandards erschütterten Hyperinflationen die Volkswirtschaften Deutschlands, Ungarns, Österreichs, Bulgariens und Russlands. Von 1919 bis 1923 druckten die Länder immer mehr Geld, um ihre Wirtschaft am Leben zu erhalten, und heizten so die Inflation noch zusätzlich an. Vor diesem Hintergrund strebte jedes Land die Wiedereinführung des Goldstandards an. Russland machte 1923 den Anfang, ihm folgten weitere Länder, bis sich 1926 auch Großbritannien, Frankreich, Belgien und Italien anschlossen. Doch schon bald zeigte es sich, dass die Tage des Goldstandards gezählt waren. Die Laisser-faire-Wirtschaft der Vorkriegszeit existierte nicht mehr, Länder, die zur Rückzahlung ihrer Schulden auf die Geldschöpfung angewiesen waren, empfanden den Goldstandard als Einschränkung bei der
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Verwirklichung ihrer politischen Ziele, daher war eine Abkehr unvermeidlich. Als auf die Hyperinflation zu Beginn der zwanziger Jahre eine Deflation folgte und es schließlich 1929 zum Börsenkrach und dem Zusammenbruch des Welthandels kam, nahm die Katastrophe ihren Lauf. Vor diesem apokalyptischen Hintergrund wandte sich Italien von seinen liberalen wirtschaftlichen Idealen ab und suchte sein Heil in einem faschistischen Wirtschaftssystem. Aus der Asche des hundertjährigen Friedens erhob sich der Faschismus, und aus den Trümmern der Marktwirtschaft formte Mussolinis auf Autarkie bedachtes Regime eine neue Form des staatlichen Tribalismus. Der Staat wurde zum Ausdruck einer kollektiven Identität, zur Essenz und Seele des Volkes innerhalb seiner politischen und geographischen Grenzen. »Zwanzig Millionen Menschen: ein gemeinsamer Herzschlag, ein gemeinsames Denken, ein gemeinsamer Entschluss. Dieses Ereignis zeigt und wird der Welt zeigen, dass Italien und der Faschismus eine einzige, absolute und unveränderliche Identität haben«, sagte Mussolini 1935 zu zwanzig Millionen Italienern, die auf die Straße geströmt waren, um seine Rede zu hören. 33 Für Individualität war im faschistischen Staat kein Platz mehr. Dem staatlichen Tribalismus ist der Nationalismus fremd, denn im Nationalismus baut der Staat auf der nationalen Identität der Menschen auf; das heißt, der Staat ist Ausdruck dieser Identität. Der staatliche Tribalismus im Faschismus ist das genaue Gegenteil: Die nationale Identität wird zum Ausdruck des faschistischen Staates, der den Kern der Nation bildet. Dieses Konzept findet sich in Mussolinis Definition des Faschismus wieder: »Der faschistische Staat organisiert die Nation, lässt aber ein ausreichendes Maß an Freiheit für den Einzelnen; dem Einzelnen wird die ganze nutzlose und
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möglicherweise schädliche Freiheit genommen, er behält jedoch das Notwendige; die Entscheidungsgewalt in dieser Frage kann nicht beim Einzelnen, sondern nur beim Staat liegen.«34 Mussolini brauchte zehn Jahre, bis er die Grundlagen einer faschistischen Wirtschaft entwickelt hatte. Als die katastrophalen Folgen des Börsenkrachs 1929 die Welt trafen, war der staatliche Tribalismus Italiens reif für den weltweiten Export in Länder, die unter ähnlichen wirtschaftlichen Problemen litten. Erste Anzeichen waren jedoch von Anfang an zu erkennen. Nachdem König Viktor Emanuel III. Mussolini 1922 nach dem Marsch auf Rom mit der Regierungsbildung beauftragt hatte, setzte der Duce eine Reihe wirtschaftlicher Reformen in Gang, die es dem Staat erlaubten, allmählich die Rolle der Nation zu übernehmen. Wie die modernen Politiker war Mussolini ein Meister der Illusion und versteckte die wahre, elitäre Natur des Faschismus hinter einer populistischen Rhetorik. Während der Duce für liberale Wirtschaftsreformen eintrat - Steuersenkungen, eine Stärkung der Unternehmen und eine Rückkehr zum Goldstandard (die alle drei umgesetzt wurden) -, unterwarf er gleichzeitig die wirtschaftlichen Einrichtungen und brachte sie unter staatliche Kontrolle. 1923 gründete er das Istituto Nazionale delle Assicurazioni (INA), ein nationales Institut für Lebensversicherungen, das mit privaten Unternehmen konkurrierte; eine Entscheidung, die dem Staat die nötigen Instrumente zur Beeinflussung des Marktes an die Hand gab. Diese Neuerung war der erste Schritt bei der Schaffung der partecipazioni statali, der Partnerschaft zwischen dem Staat und dem Produktivsektor der Wirtschaft. Wirtschaftliche Reformen bildeten den langen Arm des Faschismus und ebneten den Weg für die autoritäre politische Form. Auf der unteren Ebene wurde
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die Umstrukturierung der Wirtschaft mit Hilfe der berüchtigten camicie nere (Schwarzhemden) durchgeführt, der faschistischen Miliz, die mit Gewalt, Folter und Mord jeden Widerstand erstickte. Die Degenerierung des staatlichen Tribalismus zu einem repressiven Polizeistaat war die unvermeidliche Folge der totalitären Natur des Faschismus. Der Faschismus war bei weitem keine Bewegung, keine Idee, die eine Beteiligung großer Menschenmassen erfordert, sondern ein elitäres Phänomen. Wie der verstorbene ungarische Wirtschaftstheoretiker Karl Polanyi schrieb, beruhte seine Stärke auf »dem Einfluss hochrangiger Personen, die den faschistischen Führern mit Wohlwollen begegneten. Auf diesen Einfluss in der Gemeinschaft konnte man zählen, er schützte die Faschisten vor den Folgen einer fehlgeschlagenen Revolte, daher konnten sie das Risiko einer Revolution eingehen.« 35 Bei der Schaffung des modernen Marktstaates kümmerte sich Mussolini nicht um die Nation, sondern vielmehr darum, die Privilegien bestimmter Gruppen zu erhalten, die Finanzen und Wirtschaft kontrollierten. Die Schariawirtschaft gründet dagegen auf dem Prinzip der Partnerschaft und entspringt einer religiösen Weltsicht, die von einer wachsenden Zahl der heute über eine Milliarde zählenden Muslime geteilt wird. Ziel ist es, die Werte der Gemeinschaft, der Umma, zu achten. Faschistische Wirtschaftssysteme konzentrierten sich auf die repressive und korrupte Natur des Staates, ihre einzige Ausdrucksform war die faschistische Partei, ihr endgültiges Ziel war die Sicherung der Interessen der faschistischen Elite. Das faschistische Wirtschaftssystem ignorierte die Bedürfnisse der Massen, allerdings vermittelte die faschistische Rhetorik ein ganz anderes Bild. Die populistischen Re-
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den des Duce, in denen er die italianitá feierte, die herausragenden Eigenschaften des italienischen Volkes, waren eine geschickte Vermarktung von Illusionen für ein Volk, das von einem langen Krieg erschöpft und durch die Wirtschaftskrise verarmt war. Die sorgsam gewählten Worte verbargen das eigentliche Ziel des Faschismus: den Schutz einer Elite, die in Mussolini einen wertvollen Puffer gegen revolutionäre Elemente gefunden hatte. Vor diesem ideologischen Hintergrund überrascht es nicht, dass der Staat unter dem Banner des Syndikalismus in jeden Bereich des italienischen Lebens eingriff. Im faschistischen Wirtschaftssystem wurden alle demokratischen Institutionen zerschlagen, die unter dem wirtschaftlichen Liberalismus entstanden waren. Die Folge war die Verarmung der Bevölkerung. Mit der Einführung faschistischer Unternehmen war der Klassenkampf abgeschafft; Gewerkschaften und Streiks wurden wie jede andere nichtfaschistische Organisation oder Körperschaft verboten. Die faschistische Geheimpolizei OVRA sorgte dafür, dass die Verbote auch eingehalten wurden. Die Demokratie wurde als Wurzel allen Übels dargestellt, das Italien nach dem Krieg geschehen war. »Nach dem Sozialismus«, schrieb Mussolini in seiner Definition des Faschismus, »bekämpft der Faschismus das ganze komplexe System demokratischer Ideologie und widerlegt es entweder in seinen theoretischen Voraussetzungen oder seiner praktischen Anwendung.«36 Die Zerschlagung des liberalen Staates ging Hand in Hand mit der Umerziehung der Bevölkerung. Ihrer Individualität beraubt, wurden die Italiener indoktriniert mit den »Glaubensgrundsätzen einer politischen Religion, die die Idee, dass alle Menschen Brüder sind, in allen Formen leugnete«, wie Polanyi schrieb.37
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Die Umgestaltung der Nation zu einer faschistischen Einheit brachte es mit sich, dass die Nation durch den Staat verdrängt wurde; bei beiden handelte es sich um erzwungene Massenkonversionen, die so messianisch wie feierlich waren. Der staatliche Tribalismus baute auf dem Mythos auf, dass Italien seinen Status als Weltmacht wiedererlangen würde die Gene römisch, die Seele faschistisch. So propagierte die faschistische Wirtschaft das illusionäre Ziel, die Größe des italienischen Volkes Wiederaufleben zu lassen, die italianitá. Mussolini nutzte diese meisterlich propagierte Täuschung, obwohl Italien keine Chance hatte und auch nicht über die Stärke verfügte, die einstige Größe des Römischen Reichs wiederzuerlangen. Die italienische Wirtschaft war eine Form des »Kapitalismus ohne Kapital«, in der sich aufgrund einer besonders inzestuösen Beziehung Banken und Industrie das gleiche Kapital teilten. Dieses als banca mista bekannte System ermöglichte es Banken, auf die Führung der Industrie Einfluss zu nehmen, während die Industrie große Anteile der Banken kontrollierte und die Einlagen der Banken zur eigenen Finanzierung verwendete. In deutlichem Gegensatz dazu baut Dengs modernes China auf dem maoistischen Tribalismus auf und entwickelt ihn durch ein vorsichtiges Recycling der Geschichte weiter. Der von Mao geschaffene Stolz auf Chinas kaiserliche Vergangenheit blieb intakt und wurde für das Wirtschaftswachstum anstelle der Demokratisierung genutzt. Wenn Mussolinis Italien den »Kapitalismus ohne Kapital« verkörpert, dann ist Dengs China »Kommunismus mit Kapital«. Dieses surreale Phänomen ist das Produkt von Dengs Intuition nach Maos Tod. Ein klares Abkommen, das von Politik und Wirtschaft geachtet wird, sorgt bislang in China für Stabilität. Während die Partei nach wie vor die Politik kontrolliert, kann
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die Bevölkerung die Vorzüge des Wirtschaftswachstums genießen. Zwischen Politik und Wirtschaft besteht eine feste Arbeitsteilung, bei der jede Seite ihren eigenen Bereich hat. Und von dieser Situation profitieren beide Seiten. Mussolinis wirtschaftliche Antwort auf die Versuche nach dem Ersten Weltkrieg, die Grundsätze des wirtschaftlichen Liberalismus wiederzubeleben, war der Protektionismus. 1926 rief er zur »Weizenschlacht« auf, ein ehrgeiziges Programm, mit dem Italien unabhängig von importierten Lebensmitteln werden sollte und das politisch mit der Verhängung von Schutzzöllen auf Importe umgesetzt wurde.38 Derartige Maßnahmen überraschten die Staatsführer anderer Länder ebenso wie Mussolinis Konfrontationskurs. Als die USA Olivenöl mit hohen Zöllen belegten, warf er ihnen offen vor, Gold zu horten und den Ruin der ganzen Welt zu verschwören.39 Der große Börsenkrach von 1929 verlieh dem staatlichen Tribalismus zusätzlichen Auftrieb. Die Krise traf die Weltwirtschaft, die ohnehin bereits unter der Hyperinflation litt, und stürzte sie in eine Deflation, die immer mehr an Fahrt gewann. Die unsichtbare Hand von Adam Smith wurde zum Fluch der Weltwirtschaft, weil sie die Rohstoffpreise drastisch senkte, das Wirtschaftswachstum abrupt beendete und Banken in den Bankrott trieb. Die Hysterie verbreitete sich wie das Grippevirus, das gegen Ende des Ersten Weltkriegs Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Das faschistische Italien blieb nicht verschont; vor allem Banken waren von der Krise schwer getroffen. Mussolini gab daraufhin die letzten Überreste des wirtschaftlichen Liberalismus auf, führte strenge Devisenkontrollen ein und beendete das System der banca mista. Mittels einer gigantischen staatlichen Einrichtung, dem Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI), übernahm der faschistische Staat die Kontrolle über die Wirt-
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schaft. Den Italienern wurde gesagt, der Staat habe den privaten Sektor gerettet, der sich laut Mussolini »dem Staat in die Arme geworfen« habe. 40 In Wirklichkeit hatte sich der staatliche Tribalismus in eine rücksichtslose Diktatur verwandelt, die die grundlegende Schwäche der Wirtschaft vertuschte und die Wirtschaftskrise dazu benutzte, den industriellen Sektor zu unterwerfen. Die katastrophalen Folgen dieser Täuschung sollten sich schon bald zeigen. »Unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung [kann] keine Regierung dem grundlegenden Dilemma Italiens entkommen - dem Missverhältnis [...] zwischen den begrenzten Ressourcen des Landes und den Bedürfnissen und Hoffnungen einer fruchtbaren Rasse«, schrieb Vera Michaels Dean 1935 in Foreign Policy Reports, einer Zeitschrift für internationale Politik. »Sollte die interne Stabilisierung ausbleiben, könnte das faschistische Italien eine territoriale Expansion als einzige Lösung seiner wirtschaftlichen Probleme betrachten.«41 Im gleichen Jahr begann Italien mit der Verwirklichung seiner Großmachtphantasien und marschierte in Äthiopien ein. Dennoch diente das faschistische Wirtschaftsmodell anderen Ländern, die von der Wirtschaftskrise schwer getroffen waren, als Vorbild. Der staatliche Tribalismus verdrängte den wirtschaftlichen Liberalismus, sodass der Staat in der Wirtschaft freie Hand hatte. Von Japan bis Ungarn, von Argentinien bis Spanien, von Deutschland bis Brasilien kamen unter dem Banner des staatlichen Tribalismus faschistische Diktatoren an die Macht. Keiner entging der politischen Degenerierung. Die autoritären Regierungen entsagten den Werten der Globalisierung des 19. Jahrhunderts. Unter dem Vorwand, die demokratischen Werte seien die Ursache für die Wirtschaftsmisere, wurden diese kurzerhand abgeschafft.
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Das Eingreifen des Staates war notwendig, damit sich die Wirtschaft wieder von der Krise erholte, wie der New Deal in den USA und die bolschewistische Planwirtschaft der Sowjetunion nach dem Ersten Weltkrieg zeigten. Doch die große Macht, die der Staat ansammelte, führte letztendlich dazu, dass der Einzelne auf der Strecke blieb, während die Korruption um sich griff und bestimmte Staaten ihren Bürgern immer mehr Macht entzogen. Die Degenerierung der Pflichten und Aufgaben des Staates gegenüber dem Bürger bereitete den Weg für die Tragödie des Zweiten Weltkrieges. Vor diesem Hintergrund machten sich Gesetzlose ans Werk, faschistische Eliten, angeführt von rücksichtslosen Diktatoren wie Hitler und Mussolini, Menschen, die ein Netz der Illusionen spinnen konnten, in deren surrealer Realität sich die Massen verfingen. Die Staats- und Führungsformen in unserer Gesellschaft unterscheiden sich nicht von jenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufkamen. Heute könnte ein wirtschaftlicher Tribalismus helfen, die Krise der modernen Globalisierung zu überwinden, wie wir es bei der Asienkrise erlebten, als der Tribalismus den schwer angeschlagenen Ländern innerhalb einer bestimmten Stammessphäre half. Aus dem wirtschaftlichen Tribalismus ging das islamische Finanzsystem hervor, ein neues System, das schnell wächst und eines Tages vielleicht die Grundlagen der Schurkenwirtschaft in Frage stellen wird. Bislang erwies sich das islamische Finanzsystem für diejenigen, die es fordern und nutzen, als vorteilhaft. Letztendlich wird sein Erfolg jedoch von der Fähigkeit seiner Vertreter abhängen, die rücksichtslosen Vertreter der Globalisierung in Schach zu halten. Der Erfolg des wirtschaftlichen Tribalismus, den harten Übergang zu einer wirklich globalen Wirtschaft zu erleichtern,
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hängt von der Fähigkeit der modernen Gesellschaft ab, die Propaganda der Profiteure der Globalisierung zum Schweigen zu bringen. Wenn es gelingt, Osama bin Laden und seine islamistischen Anhänger sowie die kriegstreiberischen amerikanischen Neokonservativen in Schach zu halten, gibt es keinen Grund, warum das islamische Finanzsystem nicht dazu beitragen könnte, eine neue Weltordnung zu definieren, die frei von der Anarchie des ungebändigten Kapitalismus ist. Doch um dieses Ziel zu erreichen, ist ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen Staatsführung und Bevölkerung der zukünftigen tonangebenden Staaten erforderlich.
EPILOG
Der neue Gesellschaftsvertrag
Die Entstehung des Nationalstaats setzt einen Gesellschaftsvertrag voraus, nur dann können Menschen Nationen bilden und innerhalb dieser eine gesellschaftliche Ordnung formen. Die Grundlage dieses Vertrags hängt von der Bereitschaft der Bürger ab, im Austausch für Frieden und Stabilität einen Teil ihrer Rechte an die Regierung abzutreten. Die Legitimation jedes Politikers gründet auf dem Konsens der Regierten, diesen Gesellschaftsvertrag anzuerkennen. Den Kern dieses Vertrages bildet der Glaube an einen chaotischen Naturzustand, der gleichbedeutend mit Anarchie ist. In diesem Zustand ist das Handeln einer Person nur dem eigenen Gewissen verpflichtet, da sich das Leben außerhalb des Geltungsbereichs des positiven Rechts abspielt. Die Schurkenwirtschaft gleicht diesem Naturzustand - sie ist chaotisch, anarchisch und gesetzlos. Die Vertreter der Schurkenwirtschaft im Globalisierungszeitalter sind ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Dieser anarchische Zustand der Wirtschaft ist zwar zum ersten Mal auf globaler Ebene zu beobachten, doch in kleinerem Ausmaß gab es ihn auch schon früher. Die industrielle Revolution brachte eine massive wirtschaftliche Umwälzung, die von Gier und uneingeschränkter Ausbeutung bestimmt wurde. Hier finden wir viele Kennzeichen des aktuellen wirtschaftlichen Umbruchs wieder: Sklaverei, unglei-
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che Einkommensverteilung, Piraterie, Prostitution, Umweltverschmutzung, Kriminalität und Betrug. Auch die positiven Folgen ähnelten der heutigen Situation: ein massives Wirtschaftswachstum und ein enormer technischer Fortschritt. Als sich der Staub nach der industriellen Revolution schließlich gelegt hatte, war die Welt durch die rücksichtslose, unsichtbare Hand des Kapitalismus für immer verändert. China und Indien waren nicht mehr die größten Beiträger zur Weltwirtschaftsleistung; sie waren von England überholt worden. An Ende profitierten auch die ärmsten Schichten der Gesellschaft von der industriellen Revolution, die Enkel der hungernden Landbevölkerung, die in die Städte abgewandert waren und dort unter erbärmlichen Bedingungen in Arbeitshäusern schufteten. Die wirtschaftliche Ausbeutung ebnete den Weg für Arbeitervereine und Gewerkschaften, die die Rechte ihrer Mitglieder gegen die kapitalistischen Industriellen verteidigen wollten. Die Gewerkschaften wurden zu einer Art wirtschaftlichem Stamm, weil sie die Arbeiter vor Missbrauch durch die Industrialisierung schützten. Die Sorge um ihre Arbeitsbedingungen, vermischt mit dem Gefühl, in der Umbruchsituation der industriellen Revolution allein gelassen worden zu sein, veranlasste die Arbeiter, Gewerkschaften zu gründen. Schließlich brachte das Wirtschaftswachstum Wohlstand, und die Gewerkschaften handelten bessere Arbeitsverträge aus. Aus den ersten Kämpfen der Arbeiter gingen Sozialismus und Kommunismus als politische Ideologien hervor. Linke Parteien setzten sich für Gleichberechtigung ein, und dazu gehörte auch eine Neuverhandlung über den Gesellschaftsvertrag. Während der industriellen Revolution war den privilegierten Klassen größtenteils gar nicht bewusst, dass der große Umbruch, der ihr Leben verbesserte, direkt auf einer bru-
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talen, ausbeuterischen Wirtschaft basierte. Das Prinzip der Gleichheit aller Menschen war gerade erst aufgekommen, und viele begegneten ihm mit Skepsis und Misstrauen, weil sie es mit gewalttätigen Umstürzen und Revolutionen in Verbindung brachten. Auch heute stehen die westlichen Verbraucher den dunklen Mächten, die unsere aktuelle wirtschaftliche Revolution antreiben, größtenteils blind gegenüber. Die Marktmatrix und das Illusionstheater der modernen Politiker verhindern, dass sie die wirtschaftliche Anarchie am Rande ihrer Welt wahrnehmen. Doch Tag für Tag dringen die zerstörerischen Kräfte weiter in unsere behütete Phantasiewelt vor. Der Druck der Vertreter der Schurkenwirtschaft sowie die Verbreitung von Korruption und Gier sind in der westlichen Gesellschaft mittlerweile offensichtlich und unterhöhlen das Fundament des Nationalstaats, der immer schwächer wird. Je weiter der Übergang zum Marktstaat voranschreitet, desto mehr riskiert der Staat, zum bloßen Werkzeug der Schurkenwirtschaft zu werden. Politiker legitimieren sich heute nicht mehr über die Ideologie, sondern über Mythen und Illusionen. Der Populismus der neuen Mythenmanipulatoren kann und wird scheitern, wenn die Menschen das Netz der Lügen und Illusionen zerstören, das sie gefangen hält. An vorderster Front stehen bei diesem Kampf, der unsere Welt verändern wird, die Menschen in den Entwicklungsländern. Die ausgebeuteten Männer, Frauen und Kinder, die Mittelschicht in der westlichen Welt, die jungen, entrechteten Bewohner der Barrios des globalen Dorfes, sie alle müssen für sich selbst kämpfen. Sie leben in ständiger Furcht, weil sie zu Recht spüren, dass der Staat sie nicht länger beschützen kann. Die Angst vor ihrer Umgebung, vor der Globalisierung, vor der Zukunft bringt sie dazu, sich abzuschotten und
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Zuflucht in uralten Formen der Gemeinschaft zu suchen. Der moderne Tribalismus entwickelte sich als natürliche Reaktion der Bewohner des globalen Dorfs auf die Schurkenwirtschaft. Offenbar bietet der moderne Tribalismus ein erfolgreiches Rezept, mit den wirtschaftlichen Belastungen der Globalisierung fertig zu werden und eine sozioökonomische Struktur zu schaffen, die das Wohlergehen einer Gemeinschaft auch in der Anarchie der Schurkenwirtschaft garantiert. Das chinesische Wirtschaftswunder und der außergewöhnliche Erfolg des islamischen Finanzsystems sind Zeugnisse für die neue Form des sozioökonomischen Tribalismus. Wenn sich dieses Erfolgsrezept innerhalb der verarmten chinesischen und muslimischen Bevölkerung verbreitet, werden die wirtschaftlichen Vorteile nach unten durchsickern. Mit dem Wirtschaftswachstum werden die Menschen wohlhabender werden und mehr Stabilität und eine neue Gesellschaftsordnung fordern. Dazu muss ein neuer Gesellschaftsvertrag ausgehandelt werden. Er wird weder der Version von Jean-Jacques Rousseau noch der von Thomas Hobbes im Leviathan gleichen, denn der neue Gesellschaftsvertrag wird in China und im Nahen Osten ausgehandelt werden. Ein ähnliches Szenario wird sich wahrscheinlich entwickeln, wenn sich der Staub, den die Schurkenwirtschaft aufgewirbelt hat, endlich legt. Die Gewinner könnten die Bevölkerungen Chinas und islamischer Länder sein, die sehr viel nachzuholen haben. Zwar ist es für eine Vorhersage noch zu früh, doch einige Bestimmungen und Auflagen des neuen Gesellschaftsvertrags kann man sich bereits vorstellen. Der Gesellschaftsvertrag der Postglobalisierungsära wird eine klare Trennung zwischen Staat und Individuum verlangen. Während der Einzelne im Bereich Handel und Wirtschaft
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freie Hand haben wird, wird der Staat das Monopol der Politik beanspruchen, einschließlich der Außen- und Finanzpolitik. Das islamische Finanzsystem wird die Struktur für den neuen Währungsstandard liefern, der dann wie in der Zeit nach der industriellen Revolution wieder an den Goldpreis gekoppelt ist. Der Golddinar wird zum Maßstab für die Stabilität von Devisen und findet weltweite Anerkennung. Die treuhänderische Natur des Geldes erfordert die Beteiligung eines Staates, der garantiert, dass Papiergeld seinen Wert in Gold behält. Die Menschen werden diese Verantwortung bewusst an die Politik abtreten und dafür stabile Wechselkurse erhalten. Die Politik wird sich zurückhalten und sich nicht direkt in Handel und Wirtschaft einmischen. Das islamische Finanzwesen mit seinem Wertesystem schränkt die Macht der skrupellosen Geschäftemacher ein und beendet sie schließlich ganz. Die Schurkennatur der Wirtschaft wird von der Schariawirtschaft zurückgestutzt. Parasitäre Systeme werden aufgrund ethischer Bedenken eliminiert, Geschäfte mit Glücksspiel, Prostitution, Pornographie und Drogenhandel werden verboten. Hedge Fonds und Risikokapital regelt ein Finanzsystem, das die Schaffung von Geld durch Geld ablehnt. Patente und Warenzeichen werden als überkommene Privilegien des Kapitalismus verschwinden und so dem schwer arbeitenden Einzelnen neuen Antrieb geben, dessen Unternehmen dann auch dank dieser Liberalisierung gedeihen werden. Die Geschichte wird ihren Glanz verlieren und so verändert, dass sie den Anforderungen des Augenblicks entspricht. Die Qualität gefälschter Waren wird sich verbessern, bis man das Original nicht mehr von der Nachbildung unterscheiden kann. Der kommerzielle Vorteil westlicher Marken verschwindet. Schon diese einfache Tatsache führt dann weltweit zu einer Umverteilung des Reichtums.
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Der
neue
Gesellschaftsvertrag
Zentralregierungen werden wichtige Aufgaben an lokale Behörden abgeben. So nimmt man etwa die Besteuerung vor Ort vor. Allerdings behalten Zentralregierungen das Monopol auf die Verteidigung. Im Austausch für ihren Schutz werden die Gemeinden einen Teil ihres Reichtums an die Zentralregierung abgeben. Der Einfluss der Medien wird zurückgehen, weil sich immer mehr Menschen im Internet informieren. Solange sich die Vertragsparteien an den neuen Gesellschaftsvertrag halten, werden politische Fragen zwar diskutiert, aber keine großen Streitereien auslösen. Die neue Weltordnung wird von einer unsichtbaren Achse regiert, die sich von Beijing nach Kapstadt erstreckt. Europa und Amerika verlieren ihre Macht. Afrika und der Nahe Osten werden die notwendigen Ressourcen für die neue Führung der Weltwirtschaft liefern. Schließlich wird die Nanotechnologie dieses Szenario bestätigen - aber das ist schon Thema für ein neues Buch.
Dank
Die Recherchen für dieses Buch und seine Niederschrift fielen in eine sehr schwierige Phase meines Lebens: Erst verließ mich meine Großmutter im gesegneten Alter von 97 Jahren, dann starb mein Vater an Bauchspeicheldrüsenkrebs, und schließlich musste ich mich einer Operation unterziehen. Diese drei Ereignisse konfrontierten mich mit einigen Aspekten der Schurkenökonomie in meinem eigenen Leben. Zeitweilig fühlte ich mich gar nicht als Verfasserin dieses Buchs, sondern als eine der handelnden Personen, als Teil der Statistik und der erwähnten Beispiele. In diesen langen, schmerzlichen Monaten standen mir eine Vielzahl ganz besonderer Menschen zur Seite. Sie halfen mir, meine Arbeit nicht aus dem Blick zu verlieren, und dieses Buch ist auch ihnen gewidmet: Giovanna Amato, Melinda Levitt, Simona Marazza, Valerio Nobili, Bart Stevens und Monica Maggioni, die auch das italienische Manuskript brillant redigierte und mit der ich die Leidenschaft für Politik teile. Mein besonderer Dank geht an meinen lieben alten Freund Mario Barbieri, er hat mir sein zauberhaftes Haus in Venedig überlassen, wo ich mehr als einmal Zuflucht fand und viele Seiten dieses Buches schrieb. Ich glaube, dass dies mein bestes Buch ist, weil es aus meinem Herzen kam. Ich begann es zu schreiben als Versuch, die Veränderungen, die unsere Welt umgestaltet haben
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Dank
und noch weiter umgestalten, anzuprangern und aufzuhalten. Am Ende begriff ich, dass das nicht nur eine unmögliche, sondern auch eine unnatürliche Aufgabe ist, weil die Schurkenökonomie fest zur Gesellschaft gehört, sie ist der Preis des Fortschritts. So schrieb ich schließlich, um uns allen Macht und Stärke zu geben, den Opfern und zugleich jenen, die unbewusst Täter bei diesem ganz besonderen Phänomen sind. Wären die Umstände anders gewesen, hätte ich nicht so gute Arbeit leisten können. Ich litt und kämpfte mit den Gaunern des Globalisierungszeitalters. Manche waren Bekannte von mir, und indem sie mich verletzten und ausnutzten, öffneten sie mir die Augen für das Netz der Illusionen, die uns einhüllen. In sehr unüblicher Weise möchte ich daher denen danken, die in den letzten zwei Jahren kein Mitgefühl hatten, die mein Leben viel schwerer gemacht haben. Ohne sie hätte dieses Buch nicht die richtige Leidenschaft. Wie immer danke ich meinen Verlegern, die an meine Arbeit glauben. Es sind Dan Simon und Ria Julien von Seven Stories, die mir ursprünglich den Auftrag zu diesem Buch gaben und die im Laufe der Recherchen und der Niederschrift zu guten Freunden wurden; weiterhin Luca Formenton und Adolfo Frediani von Saggiatore, die sich in das Buch verliebten und mir die Ehre erwiesen, mich am fünfzigsten Geburtstag von Saggiatore teilhaben zu lassen, dem Verlag, den ich in meiner Jugend in Italien am meisten bewundert habe; Per Alexon von Leopard, der den ersten Entwurf las und dem ich wertvolle Anregungen verdanke; meine italienische Agentin Roberta Oliva und meine wunderbare neue amerikanische Agentin Diana Finch, die meine Sicht der Welt teilt und hart daran gearbeitet hat, dem Manuskript den letzten Schliff zu geben. Sehr herzlich danke ich meinen Rechercheassistenten Steve Abood, Ann Berg, Jonathan Knight, Eleonor Ereira, Di-
Dank
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ego Hidalgo, Tara Morrison, Cecile Landman, Leo Pollak, Rob Petit, Ganesh Sathathevan und Valentina Soria. Ohne den Einsatz von Pablo Trincia, der auf der ganzen Welt viele Interviews für mich führte und zwei Wochen bei Temperaturen von minus 25 Grad in Montana ausharrte und im Cyberspace von Second Life surfte, wäre das Buch nicht so prägnant geworden. Mein Dank geht auch an Cristina Massazza, die persönliche Assistentin meines Mannes, eine brillante, kultivierte und moderne Frau, die jedes Kapitel las, sobald es fertig war, und wichtige Kommentare und Vorschläge machte. Dank auch an meinen Sohn Alexander Trigle, der mich mit Informationen über Gangs, Hip-Hop und Rapper versorgte, an meinen Stiefsohn Andrew Gerson, der mich in einige Geheimnisse biologischer Lebensmittel, von Rohkost und Diäten einweihte, und an zwei weitere Kinder, meine Stieftochter Leigh und meinen Sohn Julian Gerson, die offen mit mir über ihr Leben sprachen und mir halfen, die Macht des Internets zu verstehen. Ohne meine Quellen - Hunderte von Menschen, deren Namen ich nicht nennen kann und die mich bei jahrzehntelangen Forschungen in die richtige Richtung gelenkt haben würde es Die Zuhälter der Globalisierung nicht geben. Mein Dank gilt auch den Freunden, die mir ihr berufliches Wissen für mein Buch zur Verfügung gestellt haben: Ron Bee, der den ersten Entwurf bearbeitet hat, Rico Carish, Anna Chen, Vic Comras, Edith Champagne, Michael Chandler, George Magnus, Chris Petit, Charlie Smith, Vincenzo Spagnolo, Marina Valerio, Olivia Ward, Grant Woods, Pietro Biancardi, Theresa Noll, Anna Lui. Danke auch an Edi Cohen und Jan Cherim, die letzte Weihnachten die Kapitel über China gelesen haben und mich ermutigten, meine Interpretation des Maoismus weiter auszugestalten. Und Dank an alle meine
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Leser, die mir über das Web Informationen zukommen ließen - Menschen, die meine Arbeit interessiert und die mir helfen wollen. Besonders erwähnen möchte ich meine lieben Freunde Lesley Wakefield sowie Luciana und Romano Deidda, die Korrekturleser der englischen bzw. der italienischen Ausgabe. Sie haben ihre Sache wie immer großartig gemacht. Ich schrieb mehrere Kapitel in den Vereinigten Staaten, während sich eine Gruppe von Freunden um mich kümmerte: meine Nachbarn Barbra und Bruce MacEvoy, meine Freunde in Whitefish Mary Jo und Greg Hennen, meine anderen Freunde in Nordamerika, Kostantine und Debby Georgiadis; Salvatore und Patricia Rondinelli, die bei einem Besuch in Whitefish die ersten beiden Kapitel lasen; Elisabeth Peters, die meine Liebe für das Skilaufen teilt und mich in Kanada beherbergte, und die beiden wunderbaren Söhne von Elisabeth, Jonathan und James, die mich lieben und sogar einen Teddybär nach mir benannt haben. Dank an meine Freunde von der Buchhandlung Chapter One in Hamilton, Montana, die alles lesen und kommentieren, was ich schreibe. Und einen Riesendank an die ganze Gerson-Familie, deren Mitglieder verstreut über Nordamerika leben und mich immer mit offenen Armen aufnehmen, ebenso Dank an Claudia Gerson, dass sie das ganze Buch gelesen und wichtige Bemerkungen dazu abgegeben hat. Ich danke auch meinen englischen Freunden, die meine Geschichten anhören und immer für mich da sind: Clare und Rex Chalmers, Eleonora und Stephen Creaturo, Vivian und David Ereira, Nick und Deb Follows, Amanda und Jimmy, Venetia und David Morrison und Angelica und Vittorio Pignatti, die sich auch um meinen Mann kümmern, wenn ich nicht in London bin, euch einen ganz besonderen Dank. Danke eben-
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falls an Isabella Annessi und Bibo, meine Freunde in Paris, mit denen ich endlose Gespräche über Politik führe. Unbedingt muss ich noch drei ganz besondere Cousinen erwähnen, Joelle, Marina und Patrizia, die mich lieben wie eine Schwester, und meine Mutter und meine Tante, die dieselben zwei schweren Verluste erlitten haben wie ich. Danke an meine italienischen Freunde Mauro Amadio, Vittorio Cielo, Raffaele und Francesca Dessi, Isabella Gramegna, Marco Mariani, Cecilia Guastadisegni, Martina Giuffre, Johannes Keizer, Roberto Giuliani, Antonio Guadalupi, Sabina de Luca, Anna Maria Marinuzzi und Cristina Ricotti und an meine Schulfreunde von VB und von CONI, die ich nach vierzig Jahren wiedergesehen habe, als ich an dem Buch schrieb. Dank an meine Trainer und Heiler: Jen, Delia, Jodie und Sola; an Georgina Hayden, mit der ich Stunden über das Konzept der Matrix diskutiert habe; und an Kirsty Roberts, die meinen Körper stärkte, während mein Geist all meine Energie absorbierte. Danke an das Team für die Werbung: an Newman Communications, an meinen Webmaster Jason Fidler, an Domenico Moretti, der den Videoclip zu dem Buch gedreht hat, an das Pressebüro von Saggiatore, an Ruth Weiner von Seven Stories und an viele andere. Und schließlich geht mein ganz besonderer Dank an meinen Ehemann Ron Gerson, weil er mich liebt und einfach einzigartig ist.
Anmerkungen
Einführung 1 Zwar erstickten die Machthaber den Ruf der Studenten nach Demokratie auf dem Platz des Himmlischen Friedens brutal, aber die Botschaft verhallte nicht ungehört. Sie wurde zur Grundlage des neuen Kurses von Deng Xiaoping.
KAPITEL
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Mit dem Feind im Bett 1 Der Marshallplan war ein Programm der Vereinigten Staaten für Wirtschaftshilfe an Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. 1947 entwickelte der damalige Außenminister George Marshall die Idee zu einem von den USA finanzierten Plan, wie die europäischen Staaten wieder auf die Beine komm e n konnten, u n d im selben Jahr verabschiedete der Kongress ihn als European Recovery Program. Im Rahmen des Marshallplans wurden siebzehn Ländern insgesamt 13 Milliarden Dollar als nicht rückzahlbare Finanzhilfe und als Darlehen zur Verfügung gestellt, er war damit ein Schlüsselfaktor für die Wiederbelebung der Volkswirtschaften und die Stabilisierung der politischen Strukturen. Die Sowjetunion lehnte die Marshallplan-Hilfe ab. 2 Eine ausführliche Diskussion des Handels vor dem Zweiten Weltkrieg findet sich in Kapitel 12, »Wirtschaftlicher Tribalismus«. 3 Anna Nowak, »Political Transformation in Poland. The Rise in Sex Work«, Research for Sex Work 2, Bd. 2. Amsterdam: Vrije Universiteit, 1999, S. 9ff., http: //www.researchforsexwork.org. 4 Victor Malarek, The Natashas: Inside the New Global SexTrade, New York: Arcade Publishing, 2004, S. 37. 5 Interview mit einer ehemaligen ukrainischen Prostituierten, Oktober 2006. 6 Juliette Engel, »Direct Intervention With Highest Risk Girls and Young Women of the Russian Federation to Avert Unwitting Recruitment into In-
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ternational Sex Slavery and Economic Imprisonment«, Moskau: MiraMed Institut, 1998. Donna M. Hughes, »Supplying Women for the Sex Industry: Trafficking From the Russian Federation«, Kingston: University of Rhode Island, 2002, http: //www.uri.edu/artsci/wms/hughes / supplying_women.pdf. Interview mit dem deutschen Zuhälter Stefan, September 2006. Michael begann mit etwa sechzehn, in der Sexindustrie zu arbeiten. Er fing als Zuhälter mit ein paar Mädchen an, u n d Anfang der neunziger Jahre, mit dem Zustrom der slawischen Frauen u n d der Freigabe der Prostitution, wechselte er zu Sexbars. Interview mit dem deutschen Zuhälter Michael, September 2006. Alle im Folgenden zitierten Aussagen von Michael stammen aus diesem Interview. Laurie Garrett, »Crumbled Empire, Shattered Health: Expanding Sex Industry Spreads Disease«, Newsday (Long Island, New York), 4. November 1997, http://www.aegis.com/news/NEWSDAY/1997/ND971105.html. Ebenda. Der Handel mit Sexsklavinnen erwies sich als genauso profitabel wie das Geschäft mit der Prostitution. 2001 wurden die Gewinne aus diesem Handel auf 7 Milliarden Dollar veranschlagt, 2004 waren es bereits 12 Milliarden, und 3 Milliarden davon stammten allein aus dem Handel mit Frauen aus dem ehemaligen Ostblock. Malarek, Natashas, S. 75. Siehe http://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-3062297,00.html. Menachem Amir, »Organized Crime in Israel«, in: Organized Crime, Uncertainties and Dilemmas, hrsg. von Stanley Einstein u n d Menachem Amir, Chicago: Office of International Criminal Justice, 1999, S. 231-248. Malarek, Natashas, S. xvi. Ebenda, S. 77. Interview mit der ungarischen Prostituierten Ildikö, März 2006. Danny Bobman, »Insider's View: The Bombs, the Babies and the Southern Border«, http://www.jewishtucson.org/page.html?ArticleID=65912. Richard Woods, »Selling Sex the Middle Class Way«, Sunday Times (London), 22. Januar 2006. Roger Scruton, »Shameless and Loveless«, The Spectator, 16. April 2005, Catholic Education Resource Center, http://www.catholiceducation.org/articles/sexuality/se0121.htm. Woods, »Selling Sex«. Mittlerweile (Anfang 2008) sind es bald eine Million Einträge. Auch die russische Filmindustrie war nicht i m m u n gegen den neuen Trend. »In Russland wird Prostitution durch populäre Filme wie Interdewotschka verklärt, in dem eine Frau gegen >harte Währung< als Prostituierte arbeitet.« Mikhailina Karina, »The Myth of >Pretty Woman< - Russian Women are Victims of Illegal trafficking«, 23. März 1999, http://veracity.univpubs.american.edu/weeklypast/032399/story_l.html.
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25 http://www.bbc.co.uk/worldservice/programmes. 26 Garrett, »Crumbled Empire«. 27 Diese Zahlen stammen aus Statistiken der Weltgesundheitsorganisation (WHO); siehe World Health Organization, Highlights in Health in Estonia, 19. Dezember 2001, http://www.euro.who.int/document/e74339.pdf; Pan American Health Organization, http://www.paho.org/English/DD/AIS/cp_840.htm. 28 WHO, »3 by 5« (Presseinformation, Juni 2005). 29 2005 lag die Fruchtbarkeitsziffer bei 1,62 Geburten pro Frau. 30 Karina, »Myth of >Pretty Woman<«. 31 Wiktor Jerofejew, »More Little Russians, Please«, International Herald Tribune, 20./21. Mai 2006. 32 Mogilewitsch half, das Geld aus Russland herauszuschaffen, um Verluste aus dem Kollaps des Rubels zu vermeiden. Ein Teil des Geldes gehörte der Nomenklatura, den ehemaligen kommunistischen Eliten, die nach dem Zerfall des Sowjetregimes die Macht in Russland übernommen hatten. Jaroslaw Koshiw, »A Native Son of the Bank of New York Scandal«, Kyiv Post (Kiew), 26. August 1999. Siehe auch »La Nouvelle Mafia d'Europe de l'Est«, Marianne en ligne.fr, 5. Dezember 1997. 33 Chrystia Freeland, Sale of the Century: Russia's Wild Ride from Communism to Capitalism, New York: Crown Publishers, 2000, S. 122. 34 David E. Hoffman, The Oligarchs: Wealth and Power in the New Russia, New York: Public Affairs, 2002, S. 113. 35 Interview mit dem ehemaligen Bankier, September 2006. 36 Interview mit Bart Stevens, September 2006. Im Januar 1990 arbeiteten 2000 private Kleinunternehmen, fälschlich als »Kooperativen« bezeichnet, in Russland. Siehe Amy Chua, World on Fire, New York: Doubleday, 2003, S. 83. 37 Die Lebenserwartung der Männer fiel von 65 Jahren 1987 auf 59 Jahre 1993. Die Zahl der Suizide stieg um über 65 Prozent, das ist weltweit die zweithöchste Rate nach Litauen. 38 Interview mit Miklos Marshai, Regionaldirektor für Europa und Zentralasien von Transparency International, September 2006. Alle weiteren Zitate von Miklos Marshai stammen aus diesem Interview. 39 Mancur Olson, Macht und Wohlstand: kommunistischen und kapitalistischen Diktaturen entwachsen, Tübingen: Mohr Siebeck 2002, S. 20 ff. David M. Woodruff, Rezension von Mancur Olson, Power and Prosperity, in: East European Constitutional Law, Bd. 10, Nr. 1, Winter 2001, http://www.law.nyu.edu/eecr/vollOnuml/reviews/woodruff.html. 40 Joseph Stiglitz, »Russian People Paid the Price for Shock Therapy«, New York Times, 22. Juni 2002. 41 Raymond Baker, »The Biggest Loophole in the Free-Market System«, Center for Strategie and International Studies and the Massachusetts Institute of Technology, The Washington Quarterly, Herbst 1999. Baker zufolge er-
Anmerkungen
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lebte Russland in den neunziger fahren einen 100-prozentigen Kapitalabfluss, der sich auf 15 bis 25 Milliarden Dollar jährlich belief. 42 Stiglitz, »Russian People Paid the Price«. 43 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, München 1974: C. H. Beck, fünftes Buch, drittes Kapitel. 44 D. M. Woodruff, Rezension.
KAPITEL
2
Niemand kontrolliert die Schurkenwirtschaft 1 Gerald J. Swansin, America the Broke, New York: Doubleday, 2004, S. 15. Siehe auch »Reality Check, Life and Death: Why American Families Are Borrowing to the Hilt; A Century Foundation Guide to the Issue«, New York: The Century Foundation, http://www.tcf.org/Publications/EconomicsInequality/baker_debt.pdf. 2 »Our Financial Failings«, Washington Post, 5. März 2006. Siehe auch Federal Reserve Consumer Survey Statistics. 3 Scheherazade Daneshkhu u n d Krishna Guha, »Home Truths? How America's Housing Boom May Be Coming to a Tricky End«, Financial Times, 24. Oktober 2006. 4 Das weltweite Arbeitskräfteangebot stieg von 1,46 auf 2,93 Milliarden. Richard Freeman, »The Great Doubling: The Challenge of the New Global Labor Market«, Federal Reserve Bank of Boston, 2006. 5 Jeff Faux, The Global Class War, Hoboken: Wiley, 2006. 6 Richard Tomkins, »Profits of Doom«, Financial Times, 14./15. Oktober 2006. 7 Ebenda. Siehe auch Freeman, »Great Doubling«. 8 Paul Craig Roberts, »Forget Iran, Americans Should Be Hysterical About This«, Februar 2006, http://www.rense.com/general69/nucon.htm. 9 Alan Blinder, »Offshoring: The Next Industrial Revolution?«, Foreign Affairs, März/April 2006. http://www.foreignaffairs.org/20060301faessay85209/alan-s-blinder/ offshoring-the-next-industrial-revolution.html. 10 Paul Craig Roberts, »How Safe is Your Job?«, Counterpunch, 18. April 2006, http: //www.counterpunch.org/roberts04182006.html. 11 Im Jahr 2006 hielt China nach übereinstimmender Einschätzung umgerechnet 1 Milliarde Dollar in Devisen - die größte Devisenreserve weltweit; nach Auffassung der meisten Experten lauteten drei Viertel davon auf Dollar. 12 Peter Navarro, »Dollar, Yuan, and Wary Euro«, International Herald Tribune, 8. Dezember 2006. 13 Von 1989 bis Mitte der neunziger Jahre fielen die Dreimonatszinssätze in den Vereinigten Staaten von über 10 Prozent auf unter 4 Prozent. 14 Interview mit John, Juni 2006.
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Anmerkungen
15 Kreditkarten mit revolvierender Kreditlinie wurden 1987 in den Vereinigten Staaten eingeführt und verbreiteten sich ab Anfang der neunziger Jahre rapide. 16 2006 entfielen 80 Prozent des verfügbaren Haushaltseinkommens auf Hypothekenzahlungen, in den achtziger Jahren waren es noch weniger als 50 Prozent. Für den Anstieg waren hauptsächlich Arbeitnehmer aus der Mittelschicht verantwortlich, deren Verschuldung durch Hypotheken sich im Zeitraum von 1989 bis 2001 beinahe verdreifachte. Der Trend setzte sich nach 2001 fort, in den Jahren 2003 und 2004 stiegen die Hypothekenschulden jeweils um 12 Prozent. Es ist keine Frage, dass die Zinssenkungen 2001-2003 die Ängste der Notenbank widerspiegeln, dass nach dem Platzen der Internetblase 2001 n u n womöglich die Unternehmensinvestitionen einbrechen würden. Greenspan hat da nicht zum ersten Mal den Geldhahn aufgedreht. Das hat er bereits 1995 getan, während der Krise in Mexiko, dann wieder 1997/98 in der Asienkrise, 2000/01 beim Einbruch des Aktienmarktes, natürlich nach dem 11. September und 2002/03 angesichts der Angst vor einer Deflation. 17 Interview mit George Magnus, Oktober 2006. Alle im Folgenden zitierten Äußerungen von Magnus stammen aus diesem Interview. 18 Jim Pickard, Rebecca Knight u n d Sheila McNulty, »A Nation Starts to Shiver as the Chili Sets In«, Financial Times, 24. Oktober 2006. 19 Nach Elizabeth Warren u n d Amelia Warren Tyagi, The Two Income Trap: Why Middle-Class Mothers and Fathers Are Going Broke, New York: Basic Books, 2004, zählen 90 Prozent der Menschen, die bankrottgehen, zur Mittelschicht. 20 Zahlen für das Vereinigte Königreich vom Informationsdienst über Insolvenzen: »Statistics Release: Insolvencies in the Third Quarter 2006«, 3. November 2006, http://www.insolvency.gov.uk/otherinformation/statistics/ 200611/index.htm. Siehe auch Jane Croft, »Sharp Rise in Use of IVA's to Clear Debt«, Financial Times, 4. November 2006. 21 Thomas A. Garrett u n d Lesli S. Ott, »Up, Up and Away: Personal Bankrupties Soar!«, The Regional Economist, Federal Reserve Bank of Saint Louis, Oktober 2005. http://stlouisfed.org/publications/re/. 22 Siehe http://www.creditcards.com/credit-card-debt-collection-problems.php. 23 Der Generalstaatsanwalt von Colorado untersucht beispielsweise die »verwirrende« Werbung einer Gruppe von Hypothekenmaklern, die möglicherweise Kunden veranlasst haben, Hypotheken aufzunehmen, die sie nie würden zurückzahlen können. 24 Pickard, Knight und McNulty, »A Nation Starts to Shiver«. 25 Warren und Tyagi, The Two Income Trap. 26 Ebenda. 27 Tomkins, »Profits of Doom«. Siehe auch http://www.solutionsforourfuture.org/site/PageServer? pagename=rising_increases_r&s_oo=iCIwYBh9_ns7PJIr4hsrDA.
Anmerkungen
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28 Alec Klein, »A Tenuous Hold on the Middle Class«, Washington Post, 18. Dezember 2004. 29 Ebenda. 30 Randall S. Hansen, »Moonlighting in America: Strategies for Managing Working Multiple Jobs«, http: //www.quintcareers.com/moonlighting_jobs.html. 31 Paul A. Cantor, »Hyperinflation and Hyperreality: Thomas Mann in Light of Austrian Economics«, Review of Austrian Economics, 1993. 32 Ebenda. 33 Klein, »Tenuous Hold«. 34 Cantor, »Hyperinflation«. 35 Ian Dew-Becker und Robert Gordon, »Where did the Productivity Growth Go?«, National Bureau of Economic Research, Arbeitspapier 11842, Dezember 2005, http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=870604. 36 Eric Hobsbawm, In the Global Village, Interesting Times, New York: Pantheon Books, 2002, S. 298-313. 37 Jan Pen, Income Distribution, London: Penguin, 1971. 38 Die Daten über die Einkommensverteilung wurden zusammengestellt von Thomas Piketty, Wirtschaftswissenschaftler bei Sciences Economiques Paris Jourdan, und Emmanuel Saez, Wirtschaftswissenschaftler an der University of California in Berkeley. Die Daten sind zugänglich unter http:// elsa.berkeley.edu/~saez/TabFig2004prel.xls. Siehe auch Aviva Aron-Dine und Isaac Shapiro, »New Data Show Extraordinary Jump in Income Concentration in 2004«, Center on Budget and Policy Priorities, 13. Oktober 2006, http://www.cbpp.org/7-10-06inc.htm. 39 Krisha Guha, Edward Luce u n d Andrew Ward, »Anxious Middle: Why Ordinary Americans Have Missed Out on the Benefits of Growth«, Financial Times, 2. November 2006. 40 »The Gilded Age: How a Corporate Elite is Leaving Middle America Behind«, Financial Times, 21. Dezember 2006. 41 Ebenda. 42 Thorstein Veblen, Die Theorie der feinen Leute, Frankfurt am Main: Fischer, 2007 (Originalausgabe London: MacMillan & Co., 1899). 43 F. Scott Fitzgerald, Der große Gatsby (übersetzt von Bettina Abarbanell), Zürich: Diogenes, 2006. 44 A. B. Atkinson, »Bringing Income Distribution in from the Cold«, Economic Journal (Royal Economic Society), Bd. 104,441, März 1997, S. 297-321. Weitere Informationen über Professor Atkinson unter http: //ideas.repec.org/e/pat36.html. 45 John Maynard Keynes, Inbegriff eines britischen Gentlemans, gehörte dem Bloomsbury-Kreis an. Er zählt zu den wichtigsten Wirtschaftswissenschaftlern der Nachkriegszeit. 46 Elisabetta Povoledo, »A Filmmaker's Grim Italian Morality Tale«, International Herald Tribüne, 14. November 2006.
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Anmerkungen
47 Peter Woodifield, »Bonus Season Inflates London Home Prices«, International Herald Tribune, 9. November 2006. 48 Interview mit Grant Woods, September 2006. Alle im Folgenden zitierten Äußerungen von Grant Woods stammen aus diesem Interview. 49 George Magnus weist darauf hin, dass das Klima für weltweite Investitionen seit der Jahrtausendwende nicht sehr günstig war mit der Folge, dass nichtinvestierte Dollars die Welt überschwemmten. Dieses Geld sammeln Hedge Fonds ein und produzieren allein durch die riesigen Geldmengen schwindelerregende Profite. 50 Future-Kontrakte werden zwar als »Investitionen« deklariert, aber sie unterscheiden sich grundlegend von Aktien und Anleihen. Letztere sind Anlageformen, die Futures hingegen sind Instrumente zur Risikoverlagerung, die ursprünglich Unternehmen, die im Bereich von Produktion, Lagerhaltung, Verarbeitung und dem Konsum von Waren tätig sind, helfen sollten, das Preisrisiko in den Griff zu bekommen. Futures sind Vereinbarungen über Käufe und Preise und können bestenfalls als Stellvertreter angesehen werden: Wie eine Münze hat sie der Inhaber so lange in der Hand, bis er die echte Ware kaufen oder verkaufen kann. Ein Erdölverarbeiter beispielsweise kann Rohöl-Futures kaufen, um sich vor einem ölpreisanstieg zu schützen (to hedge). Wenn er das konkrete Produkt kauft, gibt er den Future-Kontrakt an den Future-Markt zurück und annulliert den ursprünglichen Kauf. Egal, ob die Preise steigen oder fallen, der Ölverarbeiter hat mit dem Future-Kontrakt den Preis, den er zahlen wird, »festgeschrieben«. 51 Die Clearingstelle für Futures ist der Garant für alle offenen Transaktionen. Sie unterhält einen Garantiefonds und streicht tägliche Margen ein, um sich vor Zahlungsverzug ihrer Mitglieder zu schützen. 52 Wenn ein Investor eine Aktie kauft, leiht er dem Unternehmen Geld in der Annahme, dass das Darlehen einen Gewinn in Form von Dividenden oder einer Kurssteigerung der Aktie abwirft. Das war eine Grundregel der »Old Economy«. Aber wenn Hedge Fonds im Spiel sind, funktioniert die Allokation von Kapital nicht mehr so, vor allem nicht auf dem Derivatemarkt.
KAPITEL
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Das Ende der Politik 1 Interview mit einem verdeckten Ermittler, Oktober 2005. 2 Eigene Nachforschungen der Autorin über die 'Ndrangheta, Interviews mit Angehörigen der Guardia di Finanza von Catanzaro, Oktober/November 2005. 3 Commissione parlamentare d'inchiesta sul fenomeno Mafia, 1997, »Relazione conclusive«, IV legislatura, doc XXIII, n. 2, Rom: Camera dei Deputati.
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4 »In der 'Ndrangheta haben Sicherheitsüberlegungen längst zur Schaffung einer Geheimgesellschaft innerhalb der Geheimgesellschaft geführt: der Santa. Nur wer selbst Mitglied der Santa ist, kennt deren Mitglieder. Im Gegensatz zum Kodex der 'Ndrangheta dürfen Mafiabosse enge Beziehungen zu Vertretern des Staates anknüpfen, bis zu dem Punkt, dass einige sogar Kontakte zur Santa hatten. Diese Verbindungen liefen oft über Freimaurerlogen, denen die Santisti - ein weiterer Verstoß gegen den traditionellen Kodex - beitreten durften.« Letizia Paoli, Mafia Brotherhoods: Organized Crime, Italian Style, New York: Oxford University Press, 2003, S. 116. 5 Julie Tingwall, »Move Over Cosa Nostra«, Guardian (London), 8. Juni 2006. 6 Dave Clifford, »Original Gangsters, Thug Life Calabrian Style«, Seattle Weekly, 2. Oktober 2002. 7 Dürkheim definiert mechanische Solidarität als sozialen Zusammenhalt, der auf Ähnlichkeit und Übereinstimmungen zwischen Einzelpersonen in einer Gesellschaft beruht und weitgehend von gemeinsamen Ritualen u n d Routinen abhängig ist. Mechanische Solidarität war verbreitet in prähistorischen und präagrarischen Gesellschaften u n d schwächt sich mit Voranschreiten der Moderne immer weiter ab. Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit (übersetzt von Ludwig Schmidts), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. 8 Paoli, Mafia Brotherhoods, S. 52. 9 Commissione parlamentare d'inchiesta sul fenomeno Mafia, 2000, »Relazione sullo stato della lotta alla criminalita organizzata in Calabria«, XIII legislatura, doc. XXIII, n. 42, Rom: Camera dei Deputati. 10 Ebenda. 11 Interview mit Vincenzo Spagnolo, Oktober 2006. Alle weiteren Zitate von Spagnolo stammen aus diesem Interview. 12 Federico Varese, »How Mafia Migrate: the case of the 'Ndrangheta in Northern Italy«, Law and Society Review, Nr. 2 (2006), S. 412. 13 Loretta Napoleoni, Terror Incorporated, New York: Seven Stories Press, 2005, Kapitel 18. 14 Die besten Wechselstuben waren die in Rom an der Spanischen Treppe, weil sie von reichen Touristen frequentiert wurden. 15 Zur Überwachung der Geldströme in die EU hinein u n d aus der EU heraus gilt seit dem 15. Juni 2007 die Bestimmung, dass Personen, die in die EU einreisen oder diese verlassen, mitgeführte Barmittel in Höhe von 10 000 Euro und mehr bei den Zollbehörden anmelden müssen. 16 Salvatore Mancusos Auftritt vor dem kolumbianischen Parlament ist ein Meilenstein in den Bemühungen des Staates, das organisierte Verbrechen in den Griff zu bekommen. 31. Juli 2004, Radio Nizkor. 17 Interview mit einem Beamten von Europol, Oktober 2006. 18 Interview mit Spagnolo. 19 Hannah Arendt, Antologia, Mailand: Feltrinelli, 2006, S. 18. Truls Lie, Poli-
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Anmerkungen
tics and Cosmopolitics, eurozine, 9. März 2006, http://hannaharendt.net/index/politicsII.html. Hannah Arendt war deutsche Jüdin, Opfer des NS-Regimes, und emigrierte in die Vereinigten Staaten. Sie lehnte es immer ab, ihre ererbte Religion mit Politik zu vermischen. Arendt, Antologia. Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, hrsg. von Ursula Ludz, München, Zürich: Piper, 1993, S. 39. Arendt, »Von der Wüste u n d den Oasen. Fragment 4«, in: Was ist Politik?, S. 181-187. Hannah Arendt, The Promise of Politics, New York: Schocken Books, 2005, S. 70-80. Jerome Kohn, Rezension von The Promise of Politics, Harvard Law Review 119, 2005, S. 639-645. Das Wesen des Nationalstaats ruht auf einigen wenigen Postulaten: »Die Regierung ist glaubwürdig oder legitim, weil sie einer bestimmten kohärenten Nation - einem Gebiet u n d einer ziemlich homogenen Gemeinschaft - wirksame Verteidigung gegen Angriffe von außen und ein hohes Maß innerer Stabilität verspricht. Die innere Stabilität basiert auf einer festen lenkenden Hand in der Wirtschaft und einem Sicherheitsnetz wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Als Aufgabe derjenigen an der Spitze des Staates gilt es, das Allgemeinwohl zu garantieren; und der Erfolg [des Staates] dabei ist die offensichtliche Grundlage dafür, dass er Gehorsam einfordern kann.« Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury, The Richard Dimbleby Lecture 2002, The Guardian (London), 19. Dezember 2002. Interview mit Colonnello Cesare Nota Cerasi von der Guardia di Finanza, Herbst 2005. Federico Varese, »How Mafia Migrate: The Case of the 'Ndrangheta in Northern Italy«, Law and Society Review, Bd. 40, Nr. 2 (2006), S. 441. Ebenda. Interview mit einem ehemaligen Mitglied der bulgarischen Mafia, November 2006. Interview mit Jivko Georgiev, Soziologe beim Balkan British Social Survey, Oktober 2006. Ebenda. Interview mit Zoya Dimitrova, Oktober 2006. Zoya Dimitrova, »The Business With Death and the Yugo Embargo«, Global Investigative Journalism Conference, Bulgarien, 22. Dezember 2003. Interview mit Tihomir Beslov, Experte für Verbrechen beim Center for the Study of Democracy, Oktober 2006. Interview mit Vasil »Vasko« Ivanov, einem investigativen Reporter bei Nova TV, November 2006. »Transportation, Smuggling, and Organized Crime«, Bericht des Center for the Study of Democracy, 2004. Ebenda, S. 50.
Anmerkungen
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38 Interview mit Vladimir, von 1993 bis 1998 Beamter bei der bulgarischen Polizei, heute Taxifahrer in Sofia. 39 Interview mit Tihomir Beslov. 40 Interview mit Kolyo Paramov, dem obersten Rechnungsprüfer der bulgarischen Nationalbank, Oktober 2006. 41 Dimitrova, »The business With Death«. 42 Arendt, »Von der Wüste und den Oasen«, S. 182 f. 43 Keine dieser politischen Strategien erreichte das gewünschte Ziel, im Gegenteil: Sie beschädigten die Länder schwer, in denen sie angewendet wurden, und steigerten die kriminelle Aktivität noch. Politiker und Bürger waren entsetzt über die veränderte neue Welt. Die Verwirrung zwischen den Völkern und ihren Politikern hält bis heute an. 44 Marktstaaten deregulieren große Industriebereiche, indem sie geltende Vorschriften aufheben. Die Privatisierungsprogramme von Thatcher u n d Reagan können als Embryonalstadien von Marktstaaten angesehen werden. Im scharfen Kontrast zu den Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit stellen Marktstaaten nur ein Minimum von Wohlstand zur Verfügung oder verteilen ihn um. Wie wir sehen werden, bringt die Tatsache, dass die Rolle des Staates als Beschützer der Rechte der Bürger schwindet, die Marktstaaten in eine ideale Position, um die Gewinne aus der Schurkenökonomie einzustreichen.
KAPITEL
4
Land der unbegrenzten Möglichkeiten 1 F r a n c i s Jullien, Pensare l'efficacia in Cina e in Occidente, Bari, Italien: Editori Laterza, 2006, S. 83. 2 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Bonn: Dümmler, 1980. 3 Tim Clissold, Mr. China, London: Constable and Robinson, 2002, S. 252. 4 James Kynge, »Shock and Ore«, Financial Times Magazine, 18./19. März 2006.
5 Jullien, Pensare l'Efßcacia. 6 »The New Titans«, The Economist, September 2006. 7 Laut Arif Dirlik war die Kulturrevolution Teil eines Gesamtprojekts, für China und die Welt eine alternative Moderne zu gestalten. Siehe Arif Dirlik, »The Politics of the Cultural Revolution in Historical Perspective«, Law, hrsg. von Kam-yee (2003), S. 158-183. Siehe auch Susanne WeigelinSchwiedrzik, »Coping With the Trauma: Writing the History of the Cultural Revolution in the People's Republic of China«, Outline, http://www.mh.sinica.edu.tw/eng/download/abstract/abstract6-l.pdf. 8 J. L. Gaddis, Der Kalte Krieg, München: Siedler, 2007, S. 186. 9 Die Viererbande bestand aus führenden Mitgliedern der Kommunistischen Partei Chinas: Maos Frau Jiang Qing und drei engen Verbündeten,
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Anmerkungen
Zhang Chunquiao, Yao Wenyan und Wang Hogwen. Nach Maos Tod wurden alle vier für die Kulturrevolution zur Verantwortung gezogen und abgesetzt. 10 Gaddis, Der Kalte Krieg, S. 186. 11 Interview mit Chi Fing Kuong, Oktober 2006. Alle folgenden Zitate Kuongs stammen aus diesem Interview. 12 Interview mit Burley Wang, Oktober 2006. Alle nachfolgenden Zitate Burleys stammen aus diesem Interview. 13 Siehe http://en.wikipedia.org/wiki/CulturaLRevolution. 14 Jonathan D. Spence, Chinas Weg in die Moderne, München: dtv, 2001, S. 714. Spence' kurze Analyse der Kulturrevolution bietet eine sehr nützliche Einfuhrimg z u m Thema. 15 Interview mit Chi Fing Kuong. 16 Spence, Chinas Weg in die Moderne, S. 715. 17 Ebenda, S. 716. 18 »Chinese Researcher Criticizes Beijing For Burying Cultural Revolution History«, Asia Africa Intelligence Wire, Financial Times, 16. Mai 2006. 19 Spence, Chinas Weg in die Moderne, S. 716. 20 Howard W. French, »Chinese Protesters Report a Massacre, Deadly Show of Force Since 1989«, International Herald Tribune, 10./11. Dezember 2005. 21 Interview mit Burley Wang. 22 E. L. Wheelwright und Bruce McFarlane, The Chinese Road to Socialism, New York: Monthly Review Press, 1970. 23 Interview mit Angie Junglu Lai, Oktober 2006. Alle nachfolgenden Zitate mit Junglu Lai stammen aus diesem Interview. 24 Ein ausführlicher Bericht über die Geschäfte mit Blutkonserven in Henan findet sich bei Pierre Haski, Il Sangue della China, Mailand: Sperling & Kupfer, 2006. 25 Gaddis, Der Kalte Krieg, S. 267. 26 Ebenda. 27 Interview mit Angie Junglu Lai. 28 Ilaria Maria Sala, Il Dio dell'Asia, Mailand: Il Saggiatore, 2006, S. 134f. 29 »Secrets, Lies and Sweatshops«, Business Week Online, 27. November 2006. 30 Interview mit Pierre Haski, Journalist bei Liberation, Dezember 2006. 31 Sprichwort, zusammengefasst von Angie Junglu Lai. 32 Jeffrey K. Olick und Daniel Levy, »Collective Memory and Cultural Constraint: Holocaust Myth and Rationality in German Politics«, American Sociological Review, Bd. 62, Nr. 6, Dezember 1997, S. 921-936. 33 Westdeutschland erhielt weiterhin Unterstützung im Rahmen des Marshallplans, während das britische Abkommen mit den USA nach dem Leih- u n d Pachtgesetz 1945 endete. Zusätzlich waren die Bedingungen für das Washingtoner Kreditabkommen vom Dezember 1945, das Keynes ausgehandelt hatte, z u m Nachteil der Briten; möglicherweise wollten die USA jede Möglichkeit einer fortgesetzten weltweiten wirtschaftlichen Domi-
Anmerkungen
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nanz durch das Empire ausschalten. Zwei Supermächte waren genug für die USA. 34 Gaddis, Der Kalte Krieg, S. 268. 35 Siehe »The People's Republic Of China: IV, The Post-Mao Period, 197678«, http://www-chaos.umd.edu/history/prc4.html. 36 Ma Bo, Blood Red Sunset, London: Penguin, 1995, S. 1. 37 Wheelwright und McFarlane, On People and Revolution (1970). 38 E. L. Wheelwright und B. McFarlane, Chinese Road to Socialism, New York, London: Monthly Review Press, 1971, S. 24. 39 Henri Lefebvre erläutert seine Ansichten z u m chinesischen »Weg des Sozialismus« in The Production of Space, London: Blackwell, 1991, S. 421. 40 Christopher Andrew und Wassili Mitrochin, Das Schwarzbuch des KGB 2: Moskaus Geheimoperationen im Kalten Krieg, Berlin: Propyläen 2005, S. 398. 41 Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. 42 Andrew und Mitrochin, Das Schwarzbuch des KGB 2, S. 398. 43 Neal Stephenson, Diamond Age - Die Grenzwelt, München: Goldmann Verlag, 2001. 44 Zu diesem Konzept siehe auch Tim Oakes, »China's Provincial Identities: Reviving Regionalism and Reinventing 'Chineseness'«, Journal of Asian Studies, Bd. 50, Nr. 3 (August 2000). 45 John Tomlinson, »Globalization and Cultural Identity«, in David & McGrew (Hg.), The Global Transformations Reader An Introduction to the Globalization Debate, Cambridge: Polity Press, Blackwell Publishing, 2003, S. 269277, http://www.polity.co.uk/global/pdf/GTReader2eTomlinson.pdf. 46 Jung Chang, Wilde Schwäne, München: Knaur 2004.
KAPITEL
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Fälschungen 1 Siehe http://thinkexist.com/quotation/if_you_haven-Lgot_it-fake_it-too_ shortwear_big/345211.html. 2 Riccardo Staglianö, L'Impero deifalsi, Rom: Editori Laterza, 2006, S. 47. 3 Adam Sage, »Perfume Cartel Fined 32 Million«, Times, 15. März 2006. 4 Interview mit Valery, Februar 2007. 5 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in Walter Benjamin, Illuminationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 143. 6 Ebenda, S. 142. 7 Sang Ye, China Candid: The People on the People's Republic, Berkeley, CA: University of California Press, 2006. 8 »Seit 27 Jahren erheben wir Futuristen uns dagegen, dass der Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird [...] Demgemäß stellen wir fest: [...] Der Krieg ist
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Anmerkungen
schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphone, der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die Maschine begründet. Der Krieg ist schön, weil er die erträumte Metallisierung des menschlichen Körpers inauguriert. Der Krieg ist schön, weil er eine blühende Wiese um die feurigen Orchideen der Mitrailleusen bereichert. Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfums u n d Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt. Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft [...] Dichter und Künstler des Futurismus [...] erinnert Euch dieser Grundsätze einer Ästhetik des Krieges, damit Euer Ringen um eine neue Poesie und eine neue Plastik [...] von ihnen erleuchtet werde!« F. T. Marinetti in La Stampa Torino, zitiert nach Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 168 f. 9 Sang Ye, China Candid, Kapitel 12, S. 185. 10 Ilaria Maria Sala, Il Dio deü'Asia, religione e politica in Oriente, un reportage,
Mailand: Il Saggiatore, 2006. 11 Nigel Andrew, »A Prize Would Be a Catastrophe«, Financial Times, 5. März 2007. 12 Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, S. 169. 13 »Chinese Immigrants Victims of Labor Exploitation in Paris«, Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation, 21. Juni 2006. 14 »Governance, International Law and Corporate Social Responsibility«, ein Seminar, das vom International Institute for Labour Studies organisiert wurde, 3./4. Juli 2006, http://www.ilo.org/public/english/bureau/inst/papers/ confrnce/ gover2006/gaoyun.pdf. 15 JayMcGown, »Out of Africa: Mysteries of Access and Benefit Sharing«, African Center for Biosafety, Februar 2006. 16 Sheridan Cormac, »Kenyan Dispute Illuminates Bioprospecting Difficulties«, Nature Biotechnology, Bd. 22 (2004), http://www.nature.com/cgitaf/DynaPage.taf?file=/nbt/journal/v22/nll/ full/nbt1104-1337.html,doi:10.1038/nbtl 104-1337. 17 Michael Crichton, »Patenting Life«, International Herald Tribune, 14. Februar 2007. 18 Madelene Acey, »Ethiopian Coffee Trademark Dispute May Leave Starbucks with Nasty Taste«, Times, 27. November 2006. 19 Interview mit Boeing-Ingenieur in Seattle, Juli 2006. 20 Vittorio Florida, Renato Perinu u n d Arturo Radini, La Sicurezza del volo, Bari: Palomar di Alternative, 2005; siehe auch Riccardo Staglianó, L´Impero deifalsi, Rom: Editori Laterza, 2006. 21 Interview mit einem amerikanischen Luftfahrtexperten, Juli 2006.
Anmerkungen
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22 »Privatization in Mexico«, Telmex Fact sheet, http: //www.50years.org/factsheets/telmex.html. Siehe auch Pankaj Tandon, World Bank Conference on the Weifare Consequences of Selling Public Enterprises: Case Studies from Chile, Malaysia, Mexico and the U.K., Bd. 1, World Bank Country Economics Department, 7. Juni 1992.
KAPITEL
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Die Marktmatrix 1 Robert Cockburn, »Death by Dilution«, American Prospect, 20. Dezember 2005. 2 WHO, Substandard and Counterfeit Medicine, Fact Sheet Nr. 275, November 2003, http://www.who.int. 3 Aussage von Mike Chan, Leiter der Abteilung Produktschutz Nordasien bei Eli Lilly, in Staglianó, L'Impero, S. 72. 4 Walt Bogdanich und Jake Hooker, »From China to Panama, a Trail of Poisoned Drugs«, International Herald Tribune, 7. Mai 2007. 5 Dora Akunyili, Leiterin der Arzneimittelbehörde Nafdac in Nigeria, erklärt, dass die meisten gefälschten Medikamente im Ausland hergestellt werden, vor allem in Indien und China. Sie setzt sich für ein internationales Abkommen ein, das notfalls mit UN-Sanktionen durchgesetzt wird, damit Fälscher schwer bestraft werden. Bislang kommen sie meist mit geringen Geldstrafen davon. Andrew Jack, »Bitter Pills: the Fast-Growing, Deadly Industry in Fake Drugs«, Financial Times, 14. Mai 2007. 6 Ebenda. 7 Pharma-Brief Spezial der BUKO-Pharma-Kampagne, Nr. 1 2007, Medikamentenfälschungen - Wo liegen die Probleme?, http://www.bukopharma.de/uploads/file/Pharma-Brief/2007_01_spezial. pdf. Siehe auch generell http://www.bukopharma.de. 8 Jill Leyland, »A Touch of Gold: Gold Mining's Importance to Lower-Income Countries«, Veröffentlichung des World Gold Council, Mai 2005, http.//www.gold.org. 9 Bericht der Expertenkommission zur Demokratischen Republik Kongo, UN-Resolution S/2005/436, Sicherheitsrat, 26. August 2004. 10 Interview mit Rico Carish, Juli 2006. 11 Interview mit der Coalition of Immokalee Workers. Siehe auch Kevin Bates, »Of Human Bondage«, Financial Times Magazine, 17./18. März 2007. 12 Bates, »Of Human Bondage«. 13 Ebenda. 14 Banana Link coordinated, GMB London/TGWU/MANDATE, Delegation der Gewerkschaft nach Costa Rica, 24. März bis 1. April 2004, http://www.bananalink.org.uk/joomla/images/costa%20rica%20 delegation%20report%20march%202004.pdf.
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Anmerkungen
15 Siehe http://www.actionaid.org/index.aspx. 16 Interview mit einem PR-Agenten der Tabakindustrie, März 2006. Alle nachfolgenden Zitate des Agenten stammen aus diesem Interview. 17 Joe Nocera, »Is It Just Smoke and Mirrors?«, International Herald Tribune, 17./18. Juni 2006. 18 Interview mit Dr. James J. Kenney, Januar 2007. Alle nachfolgenden Zitate Kenneys stammen aus diesem Interview. 19 PBS, »Diet Wars«, Frontline, http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/ shows / diet/themes/lowfat.html. 20 Ebenda. 21 Interview mit Dr. Valerio Nobili, November 2006. Alle nachfolgenden Zitate Nobilis stammen aus diesem Interview. 22 Interview mit einem amerikanischen Kardiologen, Juni 2006. 23 »Verschiedene systematische Überprüfungen ergaben, dass die Einschränkung der Natriumaufnahme bei Personen mit Hypertonie den Blutdruck senkt. Allerdings wurden die Versuche bei diesen systematischen Tests meist nur über einen kurzen Zeitraum durchgeführt, wodurch eine vollständige Anpassung des Blutdrucks an die veränderte Natriumaufnahme oder eine geringere Motivation, sich im Lauf der Zeit an die Diätvorschriften zu halten, nicht berücksichtigt werden konnten. Außerdem wurde bei einigen Versuchen die Natriumaufnahme in einem Arm erhöht und diese mit einer reduzierten Natriumaufnahme im anderen Arm verglichen, sodass mögliche Auswirkungen einer eingeschränkten Natriumaufnahme über die normale Ernährung nicht untersucht werden konnten.« Siehe dazu http://www.saltinstitute.org. Das Fazit des Berichts lautete: »Eine verringerte Salzaufnahme kann dazu beitragen, dass Patienten, die Mittel gegen Bluthochdruck einnehmen, auf diese Medikamente verzichten u n d dennoch ihren Bluthochdruck im normalen Bereich halten können, allerdings bestehen Zweifel, ob sich eine verringerte Salzaufnahme positiv auf den allgemeinen Gesundheitszustand auswirkt.« Aus Lee Hopper, Christopher Bartlett, Gorge Davey Smith und Shah Embrahim, »Systematic Review of Long-Term Effects of Advice to Reduce Dietary Salt in Adults«, BMJ, 21. September 2002, http://www.bmj.com/cgi/content/abstract/325/7365/628.
KAPITEL
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Hightech - ein zweifelhafter Segen? 1 XXX ist der Deckname des Protagonisten im amerikanischen Kultfilm »xXx - Triple X« von Rob Cohen. XXX kommuniziert über QQ, das chinesische Instant-Messaging-System, mit meinem Dolmetscher, der dann für mich übersetzt. 2 Die beiden größten Online-Spiele mit über 5,5 Millionen Abonnenten.
Anmerkungen
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3 James Less, »Outwit, Outplay, Outsource«, Harpers, 21. November 2005. 4 Mike Smith, »Massively Addictive«, 15. Februar 2007, http: //us.il.yimg.com/videogames.yahoo.com/ongoingfeature?eid= 505289&page=0. 5 Siehe http://www.dfcint.com/news/prjune62006.html. 6 James Lee, »Wage Slaves«, Computer Gaming Monthly, 5. Juli 2005, http://www.lup.com/do/featuresIndex?pager.ofrset=30&ct=FEATURE. 7 David Barboza, »Boring Game? Hire a Player«, International Herald Tribune, 12. September 2005. 8 Less, »Outwit, Outplay«. 9 Heather Newman »Gamers are Paying Big Bucks for Virtual Goodies«, Detroit Free Press, 12. Mai 2005. 10 Barboza, »Boring Game?«. 11 David Carter, »Torturing This Child is a Game Too Far, Says Appalled EU Boss«, London Times, 17. November 2006, http: //www.mediawatchuk.org/newssnippets/November2006.htm. 12 Carter, »Torturing This Child«. 13 Interview mit einem chinesischen Programmierer. Siehe auch Sang Ye, China Candid. 14 In den neunziger Jahren kontrollierte die russische Mafia den Markt für gefälschte Kreditkarten, heute ist jedoch China führend auf dem Gebiet. Das Kartell von Smooth Criminal hat Zugang zu Hunderten falscher IPs, Kreditkarten und Computerseriennummern, die nur für die Zeit benutzt werden, die m a n zum Waschen der Goldmünzen benötigt. 15 Spieler können auch legale Websites nutzen, etwa http://www.ige.com u n d http://www.mysupersales.com, wo Goldmünzen und Ausrüstungsgegenstände für Online-Spiele mit echtem Geld gekauft werden können. Diese Websites sollen als Zweitmarkt für Produkte der Online-Spiele dienen, die von Amateuren erspielt wurden. 16 Edward Castronova, Synthetic Worlds: The Business and Culture of Online Games, Chicago: University of Chicago Press, 2005, S. 174. 17 Jeder, der eine E-Mail-Adresse hat, kann den PayPal-Service nutzen u n d online schnell und sicher Überweisungen tätigen und Zahlungen erhalten, indem er die vorhandene Zahlungsinfrastruktur nutzt, die zudem auf dem aktuellsten Stand ist, was die Verhinderung von Online-Betrug betrifft. Siehe auch http://www.Internet-story.com/paypal.htm. 18 Siehe http://www.paypal.com/cgi-bin/webscr?cmd=p/gen/about-outside. 19 Siehe www.e-gold.com. 20 Interview mit Ivan, einem e-gold-Devisenhändler, November 2006. Alle nachfolgenden Zitate Ivans stammen aus diesem Interview. 21 Genevieve Roberts, »$1.7 Billion Fortune Propels Online Poker Tycoon on to Asian Rich List«, The Independent (London), 17. April 2006, Wirtschaftsteil, S. 9. 22 Siehe http://www.escapeartist.com.
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Anmerkungen
23 Interview mit einem italienischen Online-Devisenhändler, November 2006. 24 Lev Jameson, »Worldwide Pornography Industry 260 Million and Growing«, http://www.asiansexgazette.com/asg/south_asia/southasia02news77, 26. September 2003. 25 Interview mit Corrado Fumagalli, Oktober 2006. 26 Interview mit Oliver Buzz, Oktober 2006. 27 Interview mit Silvio Bandinelli, Oktober 2006. 28 Interview mit Luciano Mantelli, Oktober 2006. 29 Siehe http://www.mpaa.org/researchStatistics.asp. 30 Smith, »Massively Addictive«. 31 Joel Stein, »My So Called Second Life«, Time Magazine, 25. Dezember 2006. 32 »It is so Real, It's Unreal, Claim Cyber Engineers«, Times, 25. Januar 2007. 33 Second-Life-Handbuch, http://www.secondlife.com. 34 James Fontanella, »A Make-Believe Money Maker«, Financial Times, 23. November 2006. 35 Second-Life-Handbuch, S. 22. 36 Edward Castronova, Synthetic Worlds, S. 48. 37 Second-Life-Handbuch, S. 223. 38 James Harkin, »Get a (Second) Life«, Financial Times Magazine, 16. November, 2006. 39 Ebenda. 40 Fontanella, »Make-Believe Money Maker«. 41 Ebenda. 42 Castronova, Synthetic Worlds, S. 207. 43 Ebenda. 44 Philip Bobbitt, The Shield of Achilles: War, Peace, and the Course of History, New York: Knopf, 2002.
KAPITEL
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Anarchie auf hoher See 1 Lewis Smith u n d Valerie Elliott, »How the Fish on Your Plate Makes You an Accessory to Crime at Sea«, Times Online (London), 21. Juni 2006, http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/crime/article677154.ece. 2 Heute werden auf der Nordostpassage nur noch 1,5 Millionen Tonnen befördert. 3 Eine häufig genutzte Möglichkeit, mit der Fischer Quoten und Kontrollen umgehen und sich einer Bestrafung wegen illegalen Fischfangs entziehen, ist die Registrierung unter einer Billigflagge. Das internationale Recht besagt zwar, dass ein Land, unter dessen Flagge ein Schiff fahrt, auch dessen Tätigkeit kontrollieren muss, doch viele Länder vergeben ihre Flaggen für
Anmerkungen
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ein paar hundert oder tausend Dollar und ignorieren dann die Verstöße der Schiffe. Diese so genannten Billigflaggen werden oft von Entwicklungsländern vergeben, denen es an den Mitteln (oder dem Willen) mangelt, Schiffe unter ihrer Flagge zu kontrollieren, vor allem, wenn die Fischgründe, die geplündert werden, nicht ihnen gehören. Typische Beispiele für Billigflaggen sind Belize, Panama, Honduras sowie St. Vincent und die Grenadinen. »Die Mantelgesellschaften, denen illegale, nichtkontrollierte und nichtregistrierte Schiffe gehören, profitieren stark von der Diskretion der Banken einiger Gebiete (den so genannten Steuerparadiesen). Diese Situation wird eindeutig durch den Zusammenhang zwischen Ländern, deren Flaggen von der International Transport Workers' Federation (ITF) im Juli 2003 zu Billigflaggen erklärt wurden, und der von der OECD 2001 herausgegebenen Liste der Steuerparadiese belegt. Folgende Länder mit Billigflagge (43 Prozent) stehen auf der Liste der OECD: Antigua und Barbuda, Bahamas, Barbados, Belize, Gibraltar, Liberia, die Marshallinseln, die Niederländischen Antillen, Panama, St. Vincent und die Grenadinen, Tonga und Vanuatu. Von den 28 Staaten und Rechtsgebieten, die laut ITF eine Billigflagge vergeben, gehören 54 Prozent dem Commonwealth an: Antigua und Barbuda, Bahamas, Barbados, Belize, Bermuda, die Cayman Islands, Zypern, Gibraltar, Jamaika, Malta, Mauritius, Sri Lanka, St. Vincent und die Grenadinen, Tonga und Vanuatu. Das heißt, dass fast ein Viertel der Commonwealth-Länder eine Billigflagge vergibt. Wenn die britische Regierung und andere Commonwealth-Länder ernsthaft gegen die illegale Fischerei vorgehen wollen, müssen sie Druck auf die fünfzehn Commonwealth-Mitglieder ausüben, die Schiffe unter ihrer Flagge nicht kontrollieren.« Siehe »Pirates and Profiteers: How Pirate Fishing Fleets Are Robbing People and Oceans«, Environment and Justice Foundation, 2005, http://www.ejfoundation.org/pdf/pirates_and_profiteers.pdf. Ebenda. Smith und Elliott, »How the Fish on Your Plate...«. »Headed and Gutted: Exposing the Role of European States, Big Business and the Russian Mafia in Illegal Cod Fishing in the Barents Sea«, Greenpeace, 15. März 2006, http://oceans.greenpeace.org/raw/content/en/documents-reports/ headed-and-gutted-illegal-cod.pdf. »A Third of Cod From the Baltic Sea Stolen by Pirates«, Greenpeace, http://oceans.greenpeace.org/en/the-expedition/news/baltic-sea, 6. September 2006. Die dänische Firma Espersen spielt eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung und beim Vertrieb von Tiefkühlfilets, die unter verschiedenen Marken verkauft werden, darunter Euroshopper, und beliefert auch Fastfoodketten. Mit einem Umsatz von über 130 Millionen Euro gilt Espersen als das größte kabeljauverarbeitende Unternehmen der Welt. Die dänische Fabrik liefert Fischstäbchen für Euroshopper, Coop Xtra, Lidl und
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Anmerkungen
McDonald's (zumindest für Norwegen, Finnland und Deutschland). Siehe »Headed and Gutted«. 9 »Pirates and Profiteers«, s. Anmerkung 4. 10 Interview mit David Agnew von der Marine Resources Assessment Group Ltd. (MRAG), einer Beraterfirma, die für eine nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen mit Hilfe integrierter Managementpraktiken eintritt. Alle folgenden Zitate Agnews stammen aus dem Interview. 11 Interview mit einem FAO-Experten für illegalen Fischfang, März 2007. 12 Interview mit Helene Bours, März 2007. Alle folgenden Zitate von Helene Bours stammen aus diesem Interview. 13 Marine Resources Assessment Group Ltd., »Review of Impact of Illegal, Unreported and Unregulated Fishing on Developing Countries«, Abschlussbericht Juli 2005, http://www.dfid.gov.uk/pubs/files/illegal-fishing-mrag-report.pdf. 14 »A Third of Cod From the Baltic Sea Stolen by Pirates«. 15 Interview mit Sebastian Losada, März 2007. Alle folgenden Zitate Losadas stammen aus diesem Interview. 16 »Die 22 Mittelmeeranrainerstaaten stehen vor einem Kampf um die Ressourcen, der eine gravierende Frage aufwirft: Inwieweit können traditionelle Lebensweisen und eine wirtschaftliche Nutzung mit der weltweiten Nachfrage nach Produkten aus dem Mittelmeergebiet in Einklang gebracht werden?« Vivienne Walt, »The Mediterranean's Tuna Wars«, London Times, 16. Juli 2006. 17 Beide Länder überschreiten regelmäßig ihre Fischquoten. Frankreich zum Beispiel hat Eurostat (das Statistische Amt der Europäischen Union) gemeldet, dass der Fang doppelt so hoch war als die erlaubte Quote. 18 »Pirates and Profiteers«. 19 Die meisten Schiffe, die vor Guinea illegalen Fischfang oder Fischfang ohne Genehmigung betrieben, waren chinesische (58 von 92). 20 Helene Bours und Sebastian Losada, »Witnessing the Plunder 2006: How Illegal Fish from West African Waters Finds its Way to the EU Ports and Markets«, Greenpeace, http://oceans.greenpeace.org/raw/content/en/documents-reports/ plunder2006.pdf. 21 Ebenda. 22 Ebenda. 23 »Pirates and Profiteers«. 24 Auch taiwanesische und koreanische Trawler sind aktiv am illegalen Fischfang beteiligt. 25 »Polizeiliche Ermittlungen ergaben, dass der illegale Abalone-Handel ein wichtiger Geschäftszweig des organisierten chinesischen Verbrechens war. Nach Aussage der Polizisten, die die Chinesen überwachten, waren 1993 mindestens 30 bis 40 Tonnen getrockneter Abalone-Schnecken illegal aus Südafrika exportiert worden.« Peter Gastrow, »Triad Societies and Chinese
Anmerkungen
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Organized Crime in South Africa«, Organized Crime and Corruption Program, Institute for Security Studies, Occasional Paper Nr. 48, http://www.iss.co.za/Pubs/Papers/48/48.html, 2001. 26 Ebenda. 27 »Hong Kong Mafia Could Wipe Out Australia's Pot-Bellied Seahorse«, Cyber Diver News Network, 11. Januar 2004, http: / / www.cdnn.info/eco/e040111/e04011 l.html. 28 Gal Luft und Anne Korin, »Terrorism Goes to Sea«, Foreign Affairs, November/Dezember 2004. 29 »Für die erste Jahreshälfte 2006 wurden weltweit 127 Überfälle gemeldet, davon fanden 88 in den folgenden Gebieten statt: Indonesien (33), Malaysia (9), Bangladesch (22), Golf von Aden/Rotes Meer (9), Somalia (8), Nigeria (7).« Aus: »Piracy and Armed Robbery against Ships, Report for the Period January 1 to June 30, 2006«, ICC International Maritime Bureau. Aktuelle Zahlen für 2007 unter http://www.dmkn.de/1779/presse.nsf/13ef091b27836f2ccl256ba5004017d 4/a8ef75b90ac5dlabcl2573780034c84b!OpenDocument. 30 Kevin Sullivan und Mary Jordan, »High-Tech Pirates Ravage Asian Seas«, Washington Post, 5. Juli 1999. 31 Ebenda. 32 Seth Faison, »Pirates, With Speedboats, Reign in China Sea Port«, New York Times, 20. April 1997. 33 Ebenda. 34 In den neunziger Jahren wurde radioaktiv verseuchtes Fleisch aus der Sowjetunion in Sambia vergraben, nachdem die Bevölkerung einen Teil davon verzehrt hatte. Wenn die Menschen hungern, graben sie nach dem kontaminierten Fleisch. Noch entsetzlicher ist ein weiterer Vorfall. Sambia erhielt Dosen mit solchem Fleisch als »Geschenk«. Nachdem m a n festgestellt hatte, dass die 2880 Dosen verseucht waren, wurden sie in 3,5 Metern Tiefe beim Dorf Chongwe östlich der Hauptstadt Lusaka vergraben, die Stelle wurde mit einem Betondeckel versiegelt. Seitdem versuchten hungernde Dorfbewohner verzweifelt, an das Fleisch zu kommen. Eine belgische Zeitung berichtete später, dass es den Bewohnern gelungen sei, das Fleisch auszugraben und es zu verzehren. Siehe Gazet van Antwerpen (Belgien), http://wwwl0.antenna.n1/wise/index.html?http://www10.antenna.nl/ wise/351/brief.html. 35 »Sex-Changing Chemicals Found in US Potomac River«, Washington Post, 18. Januar 2007. 36 Interview mit einem Mitarbeiter des Londoner Leichenschauhauses, März 2007. 37 Derartige Zahlungen werden jedoch oft durch Steuererleichterungen ausgeglichen. Während ExxonMobil für die von der »Exxon Valdez« verursachte Umweltkatastrophe immer noch etwa 5 Milliarden Dollar Entschädigung an Fischer und Ureinwohner in Alaska zahlt, verabschiedete der
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amerikanische Kongress im Juli 2005 ein Gesetz, das Ölgesellschaften Steuererleichterungen in Höhe von 4 Milliarden Dollar gewährt. Siehe http://terresacree.org/rechauf.htm; http://terresacree.org/ gangsters.htm. Siehe http://www.mcsuk.org/downloads/fisheries/MCS_Fish_Farming_ Policy_Aug06.doc. Für manche wilde Arten entsteht dadurch ein starker Konkurrenzdruck. Allgemein drohen bei Überschreiten der Biokapazität negative Folgen für die Ökologie bestimmter Buchten und Meeresarme. Andere Formen der Meeresnutzung wie die Zucht oder der Fang von Schalentieren leiden gelegentlich ebenfalls unter den Aquakulturen. Siehe »Marine Conservation Society Fish Farming Policy Statement«, http://www.mcsuk.org/downloads/fisheries/MCS_Fish_Farming_Policy_ Aug06.doc; Greenpeace, http://oceans.greenpeace.org/en/our-oceans/fish-farming; Living Oceans Society, http://livingoceans.org/fishfarms/index.shtml. Das Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat) der Vereinten Nationen nennt als Ursachen für die globale Erwärmung den Anstieg der Treibhausgase, vor allem von CO2 in der Atmosphäre. Die Messungen des C0 2 -Anstiegs verlaufen parallel zum Temperaturanstieg, der wiederum für das Schmelzen der Gletscher u n d Eismassen verantwortlich ist. Über den daraus resultierenden Anstieg des Meeresspiegels wird noch debattiert, doch bereits einige Zentimeter hätten gravierende Folgen. Alle Industrieländer produzieren Treibhausgase; die USA und die Europäische Union stehen an erster u n d zweiter Stelle, gefolgt von China und Indien. Das International Panel on Climate Change (IPCC) wurde 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) ins Leben gerufen. Die Berichte, die die Organisation alle sechs oder sieben Jahre veröffentlicht, repräsentieren den aktuellen Wissensstand z u m Klimawandel. Die Sachverständigengruppe setzt sich aus etwa 1600 Wissenschaftlern aus 113 verschiedenen Ländern zusammen. Teil 1 des Berichts, der am 2. Februar 2007 erschien, befasst sich mit der naturwissenschaftlichen Grundlage des Klimawandels. Clifford Krauss, Steven Lee Myers, Andrew C. Revkin und Simon Romero, »As Polar Ice Turns to Water, Dreams of Treasure Abound«, New York Times, 10. Oktober 2005, http://www.nytimes.com/2005/10/10/science/10arctic.html?ex=12865968 00&en=lf4059714b781260&ei=5088&partner=rssnyt&emc=rss. Siehe http://www.quakestar.org/Global%20Warming.htm. Krauss u. a., »As Polar Ice Turns to Water«.
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Die großen Illusionisten des 20. Jahrhunderts 1 David Chater, »The Most Important Man in Washington (You Never Heard Of)«, New York Times Magazine, 25. Februar 2006. 2 Michael Fullilove, »Celebrities Should Concentrate on Their Day Jobs«, Financial Times, 1. Februar 2007. 3 Natürlich können Prominente nicht in der Touristenklasse fliegen, dort hätten sie wahrscheinlich keine Ruhe vor ihren Fans, aber sie könnten problemlos die ganze erste Klasse eines Jets aufkaufen. Dadurch würden weniger Abgase entstehen, außerdem betragen die Kosten einen Bruchteil der Ausgaben für einen Privatjet. 4 Tony Allen-Mills, »Stars in Green Cars Hit Private Jet Turbulence«, Sunday Times (London), 29. Oktober 2006. Siehe auch http://www.TMZ.com. 5 Lynnley Browning, »'Gimme Shelter' From the Taxman«, International Herald Tribune, 5. Februar 2007. 6 Sandro Cappelletto, »La Cooperazione Malata«, Specchio, La Stampa, 31. März 2007. 7 Edward B. Driscoll jr., »We Are The '80's! Live Aid Then, and Now«, Daily Standard, 17. Dezember 2004, http://www.weeklystandard.eom/Content/Public/Articles/000/000/005/ 031arivi.asp. Siehe auch »Live Aid, the End Result«, http://www.digitaljournal.com/article/203957/Op_Ed_Live_Aid_The_ End_Result. 8 Cappelletto, »La Cooperazione«. 9 Interviews mit verschiedenen Mitarbeitern der Weltbank, Juni 2006. 10 Thomas P. Sheehy, »Beyond Dependence and Poverty: Rethinking U.S. Aid to Africa, The Heritage Foundation«, 25. Juni 1993, http://www.heritage.org/Research/MiddleEast/bg947.cfm. 11 Die Gewinne waren nie höher als 5,5 Milliarden Dollar pro Jahr. Siehe Roger D. Congleton, »Terrorism, Interest-Group Politics, and Public Policy«, Independent Review, Sommer 2002, S. 62. 12 MIPT-RAND-Datenbank. 13 Interview mit Joe Sulmona, Januar 2007. Alle nachfolgenden Zitate Sulmonas stammen aus diesem Interview. 14 Diese Haltung ändert sich derzeit. In den USA und Kanada bemühen sich die Behörden, die Sicherheit für Passagiere im Schienenverkehr und auch für die Bahnfracht zu verbessern. In Europa, wo es zu Anschlägen im Zugverkehr kam, existieren diese Sicherheitsvorkehrungen bereits. 15 Das amerikanische Außenministerium definiert internationalen Terrorismus als »vorsätzliche, politisch motivierte Gewalt gegen zivile Ziele, verübt von subnationalen Gruppen oder Geheimagenten, normalerweise mit dem Ziel, die Öffentlichkeit zu beeinflussen«. Ein internationaler Anschlag
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muss daher Bürger aus mehreren Ländern oder Gebieten betreffen, die zu verschiedenen Staaten gehören. »Als eine Gruppe russischer Terroristen im August 2004 einen Anschlag auf ein Flugzeug mit 46 russischen Staatsbürgern an Bord verübte, galt das als innenpolitischer Terrorakt. Ein fast identischer Anschlag auf ein weiteres Flugzeug, bei dem zufällig ein Israeli an Bord war, wurde dagegen als internationaler Anschlag bezeichnet.« Bevor Anschläge statistisch erfasst werden, müssen sie außerdem als signifikant eingestuft werden: »Ein Anschlag gilt als signifikant, wenn dabei Zivilisten getötet oder schwer verletzt werden oder der Schaden die Höhe von 10 000 Dollar überschreitet.« Siehe http://www.cdi.org/program/document.cfm?DocumentID=3391. MIPT-RAND Datenbank. Die Angaben beziehen sich auf Ende 2006. MIPT-RAND-Datenbank. Walter Laqueur, Terrorism, London: Weidenfeld und Nicolson, 1997. Ebenda. Ebenda. Daher überrascht es nicht, dass die USA gerade ihr ehrgeiziges US-VisitProgramm zur Einreisekontrolle aufgrund der hohen Kosten und Probleme bei der Durchführung eingestellt haben. Erschreckend ist vor allem, in welchem Ausmaß seit dem 11. September Steuergelder verschwendet wurden. Eine vertrauliche Revision, die 2005 von der Defense Contract Audit Agency der Behörde für Transportsicherheit (TSA) in den USA durchgeführt und von der Washington Post veröffentlicht wurde, förderte folgende Ausgaben zutage: »526,95 Dollar für ein Telefongespräch vom Hyatt Regency O'Hare in Chicago nach Iowa City; 1180 Dollar für 80 Liter Starbucks Kaffee (zu 3,69 die Tasse) im Santa Clara Marriott in Kalifornien; 1540 Dollar Leihgebühr für vierzehn Verlängerungskabel zu 5 Dollar am Tag über drei Wochen im Wyndham Peaks Resort and Golden Door Spa in Telluride, Colorado; 8100 Dollar Liftgebühren im Marriott Marquis in Manhattan; 5,4 Millionen Dollar für neun Monate Gehalt für den Geschäftsführer einer Firma für »Veranstaltungslogistik«, die einen Vertrag erhielt, bevor sie als Firma eingetragen war und nach Ende des Vertrags aufhörte zu existieren; Zeitarbeiter, die für 20 Dollar die Stunde beschäftigt wurden, deren Gehalt man beim Staat aber mit 48 Dollar die Stunde abrechnete, Subunternehmer, die 5000 Dollar in bar ausgaben, obwohl sie dazu gar nicht berechtigt waren, 377 273,75 Dollar für grundlose Ferngespräche, 514 201 Dollar Miete für Zelte, die bei einem Gewitter unter Wasser standen, 4,4 Millionen Dollar für Einstellungsgespräche und -tests, die nie stattfanden.« Insgesamt wurden bei der Revision 303 Millionen der 741 Millionen Dollar an Ausgaben in Frage gestellt, die seit dem 11. September zur Verbesserung der Sicherheit in den USA aufgewandt wurden. Aus diesem Fiasko lässt sich folgender Schluss ziehen: »Wenn Terroristen uns zwingen, Ressourcen von vernünftigen Programmen abzuziehen, um damit ein unerreichbares, aber politisch popu-
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läres Maß an Sicherheit zu erreichen, dann haben sie einen wichtigen Sieg errungen, der uns auch in Zukunft belasten wird.« David L. Banks, »Statistics for Homeland Defense«, Chance, Bd. 15, Nr. 1 (2002), S. 10. 23 Sara Kehaulani Goo, »Going the Extra Mile: LA.'s Airport Safety Plan Puts Pickups, Drops Far From Curb«, Washington Post, 9. April 2004. 24 Auch Flughafenmitarbeiter wurden versehentlich für Terroristen gehalten: »Im Westen von North Carolina entpuppten sich 66 vermeintliche Terroristen als 66 illegale Einwanderer, die auf dem Charlotte/Douglas International Airport arbeiteten. Ihnen wird vorgeworfen, Visa, Aufenthaltsgenehmigungen und Sozialversicherungsnummern gefälscht zu haben. Dafür erhielten sie eine Haftstrafe von einem Monat und wurden dann den Einwanderungsbehörden überstellt.« Alexander Gourevitch, »Body Count: How John Ashcrofts Inflated Terrorism Statistics Undermine the War on Terrorism«, Washington Monthly, Juni 2003. 25 Ebenda. 26 Siobhan Gorman, »Fear Factor«, National Journal, 10. Mai 2003. 27 Francis X. Clines, »Karl Rove's Campaign Strategy Seems Evident: It's the Terror, Stupid«, New York Times, 10. Mai 2003. 28 Bruce Hoffman, »Rethinking Terrorism and Counterterrorism Since 9/11«, Studies in Conflict and Terrorism, 25 (2002), S. 311 f. Siehe auch John Mueller, »Why Isn't There More Violence?«, Security Studies 13 (2004), S. 191-203. 29 John McCain und Mark Salter, Why Courage Matters: The Way to a Braver Life, New York: Random House, 2004, S. 35 f. 30 Michael Sivak und Michael J. Flannagan, »Flying and Driving After the September 11 Attacks«, American Scientist 91, Nr. 1 (2003), S. 6-9.
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Die Mythologie des Marktstaates 1 Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates, Frankfurt am Main: 1988, S. 364. 2 Mark Neocleous, »Radical conservatism, or, the conservatism of radicals: Giddens, Blair and the politics of reaction«, Radical Philosophy, Nr. 93 (1999), S. 24-34. Siehe auch die folgenden Werke von Neocleous: The Monstrous and the Dead: Burke, Marx, Fascism, University of Wales Press, 2005; Imagining the State, Philadelphia: Open University Press, 2003; The Fabrication of Social Order: A Critical Theory of Police Power, Sterling, VA, Pluto Press, 2000; Fascism, Philadelphia: Open University Press, 1997; Administering Civil Society: Towards a Theory of State Power, London: Macmillan, 1996. 3 Später nahm Fukuyama die These vom Ende der Geschichte zurück, es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die politische Debatte, die die Ära nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt hat, beendet ist. Die Erosion des Nationalstaats setzte mit dem Fall der Berliner Mauer ein. In dem Vakuum,
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das durch die aufgehobene Trennung zwischen rechts und links entstanden war, mussten sich traditionelle kommunistische Parteien wie die KP Italiens neu erfinden und Themen vertreten, die denen ihrer ehemaligen Gegner sehr ähneln. Auch die traditionelle Rechte vertritt heute weniger radikale Positionen. Susan Strange, States and Markets, London: Pinter Publishers, 1988, S. 213. Vorlage der britischen Gewerkschaften an das Verteidigungsministerium, »CSEU Submission to the Ministry of Defense on the Defence Industrial Strategy«, Oktober 2005. Strategic Export Controls: Annual report for 2004, Quarterly reports for 2005, licensing policy and parliamentary scrutiny, first joint report of session 2005-06, twelfth report from the Defence Committee of session 200506, fifth report from the Foreign Affairs Committee of session 2005-06, fifth report from the International Development Committee, seventh report from the Trade and Industry Committee of session 2005-06, außerdem offizielle Notizen, schriftliche u n d mündliche Belege. Anthony Giddens, »The Left Must Open Up More Clear Water Between Itself and its Opponents«, The New Statesman, 1. November 2004. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, S. 54ff. Giddens, »The Left Must Open Up«. Thomas Frank, What's the Matter with Kansas?, New York: Metropolitan Books, 2004. »Metamorphosis of Power: The Meaning of Popular Role Playing for Berlusconi on His Way to the Top«, Vortrag auf dem Kongress der International Society of Political Psychology, http: //viadrina.euv-frankfurt-o.de/~sk/Berlusconi/amsterdam.html. Vincent Cable, »What Future for the State?«, Daedalus, 22. März 1995. Siehe S. M. Lipsets und S. Rokkans Untersuchung westlicher Parteiensysteme, Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments, New York: Free Press, 1967, u n d Ronald Inglehart, The Silent Revolution, Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1977, worin er seine Theorie des Postmaterialismus darlegt, eine Darstellung über die wachsende politische Bedeutung von »Fragen der Lebensqualität« in Industrieländern auf Kosten linker/rechter materialistischer Themen. Fußball wurde 1863 erfunden u n d in den 1890er Jahren von Briten in Italien eingeführt. Franklin Foer, Wie man mit Fußball die Weh erklärt, München: Heyne, 2006, S. 199. Angela Nocioni, »Presidente hip hop«, La Repubblica, 22. Juli 2006. Ebenda. Ebenda. Petroleum Supply Annual, Bd. 1, Tabelle 21, http://www.eia.doe.gov/neic/rankings/crudebycountry.htm, 21004.
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20 Dennis MacShane, »Chavez is a populist, not a socialist«, Guardian, 15. Mai 2006,
http://commentisfree.guardian.co.uk/denis_macshane/2006/05/chavez_ is_populist_not_a_socia.html.
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Die Kraft der Globalisierung 1 Stephen Johnson und David B. Muhlhausen, »North American Transnational Youth Gangs: Breaking the Chain of Violence«, Heritage Foundation, 21. März 2005. 2 Der staatlich geförderte Terrorismus baute oft auf derartigen Idealen auf und nutzte die nationalistischen Ziele der terroristischen Gruppierungen für seine eigenen Zwecke. Nach dem Zweiten Weltkrieg finanzierte die Sowjetunion arabische u n d jüdische Gruppen im britischen Protektorat Palästina. Beide Gruppen verfolgten die Errichtung eines eigenen Staates; Moskau dagegen wollte einzig u n d allein die britische Position im Nahen Osten schwächen, für die Sowjets war es irrelevant, welche Gruppe schließlich das Recht auf Selbstbestimmung durchsetzte. Siehe Loretta Napoleoni, Terror Incorporated, Kapitel 2, New York: Seven Stories Press, 2005. 3 Interessanterweise orientierte sich in dieser Zeit auch AI Kaida, die über eine starke tribalistische Identität verfugt, zunehmend am Transnationalismus. 4 Interview with Flor de Maria, Juni 2005. Alle nachfolgenden Zitate von Flor de Maria stammen aus diesem Interview. 5 Das Interview mit dem Okada-Fahrer wurde von Pablo Trincia, einem italienischen investigativen Journalisten, im Sommer 2005 in Lagos geführt. 6 »Global Illicit Drug Trends 2003«, United Nations, 2003, S. 110, http://www.dronet.org/biblioteca/bib_zip/Global%20Illicit%20Drug%20 Trends%202003.pdf. 7 World Drug Report 2006, UNODC, Bd. 1, 2006, S. 103, http://www.unodc.org/pdf/WDR_2006/wdr2006_volumel.pdf. 8 »Through The Eyes of Children«, www.children-express.org, 1. Mai 2003. 9 Siehe http://news.bbc.co.Uk/l/hi/programs/newsnight/4766458.stm. 10 »Through The Eyes of Children«. 11 In den achtziger Jahren konnten amerikanische u n d ausländische Banken aufgrund des Financial Service Act im Zentrum der britischen Finanzwelt, der City of London, tätig werden; die Privatisierung staatlicher Unternehmen und Einrichtungen in Entwicklungsländern wurde von amerikanischen Handelsbanken gesteuert. Dahinter stand ein Staat, der sich im Übergang zum Marktstaat befand und bereit war, der Wirtschaft diese Möglichkeiten zu ebnen. Andererseits sind durch die Globalisierung andere Möglichkeiten verbaut, die dem Staat räumlich sehr nahe sind, wie das Beispiel der Ghettos in westlichen Städten zeigt.
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12 Siehe http://www.brookings.edu/metro/pubs/20060718_pov0p.htm. 13 4,5 Millionen Fahrzeughalter mit niedrigem Einkommen (Haushalte mit einem Einkommen unter 30 000 Dollar pro Jahr) zahlten im Durchschnitt 2 Prozent mehr für einen Autokredit als Käufer der Mittelschicht. Gebäudeversicherungen können 300 Dollar im Jahr mehr kosten als in wohlhabenden Vierteln, und die Autoversicherung in Innenstadtbereichen kostet in armen Gegenden 50 bis 1000 Dollar mehr als in reichen. In New York, Hartford u n d Baltimore war 2006 die Fahrzeugversicherung in Vierteln mit niedrigem Einkommen um 400 Dollar im Jahr teurer als in Vierteln der Mittelschicht. Die Zinsen für einen Kredit beim Autokauf können bis zu 25 Prozent höher liegen als in Gebieten mit hohen Einkommen. Arme Menschen kaufen außerdem häufig auf Raten. Dabei sind die Zinsen extrem hoch u n d verschlingen bis zu 60 Prozent ihres Jahreseinkommens. Ein Fernseher für 200 Dollar kostet dann letztendlich 700 Dollar. 14 Matt Fellowes, »The High Price of Being Poor«, Los Angeles Times, 23. Juli 2006.
15 Siehe http://news.bbc.co.Uk/l/hi/entertainment/4527502.stm oder http://arts.guardian.co.Uk/features/story/0,1666835,00.html. 16 »Through The Eyes of Children«. 17 Interview, das Pablo Trincia mit einem Area Boy führte, Sommer 2005. 18 Interview mit dem Mitglied einer Gang aus South London, März 2006. 19 Siehe http://news.bbc.co.Uk/l/hi/entertainment/4527502.stm oder http://arts.guardian.co.uk/features/story/0„1666835,00.html. 20 Interview mit Necio. Die folgenden Zitate Necios stammen aus diesem Interview. 21 Siehe http://news.bbc.co.Uk/l/hi/entertainment/4527502.stm oder http://arts.guardian.co.Uk/features/story/0,1666835,00.html. 22 Anthony Giddens, Beyond Left and Right, Cambridge, UK: Polity, 1994; deutsche Ausgabe: Jenseits von links und rechts: Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997. 23 Ebenda. 24 Dinesh D'Souza, »What is so great about America: A Funeral Oration: Pericles's Dilemma and ours«, http://www.dineshdsouza.com/books/america-intro.html?. 25 Henry Bergson, The Two Sources of Morality and Religion, New York: Doubleday, 1956. 26 David Berreby, Us and Them: Understanding your Tribal Mind, London: Hutchinson, 2006. 27 Decca Aitkenhead, »In With the Crowd: Why Do Humans Need to Stereotype Each Other«, Guardian, 4. Februar 2004. 28 Neil McInnes, »Popper's return engagement: The open society in the era of globalization«, Critical Essay, http://findarticles.eom/p/articles/mi_m2751/is_2002_Spring/ ai_85132085/pg_2.
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Ebenda. Ebenda. Bergson, Two Sources, S. 31. Foer, Wie man mit Fußball die Welt erklärt, S. 45ff. Simon Kuper, Football Against the Enemy, London: Phoenix, 1996, S. 102. Anthony King, The European Ritual: Football in the New Europe, Aldershot, England: Ashgate, 2003, S. 32. 35 Foer, Wie man mit Fußball die Welt erklärt, S. 14f. 36 Giddens, Jenseits von links und rechts.
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Wirtschaftlicher Tribalismus 1 Ann Berg, »Want to buy a sukuk? Islamic financing is growing rapidly and Western institutions are jumping in. What does this mean for the power of the U.S. dollar?«, Antiwar, http: //www.antiwar.com/orig/browne.php?articleid=8627. 2 Gillian Tett, »Islamic Banking Confounds Sceptics«, Financial Times, 2. Juni 2006.
3 Die erste islamische Bank war die Faisal Islamic Bank of Egypt, die 1976 gegründet wurde. Sie hatte als erste einen offiziellen Schariaausschuss, der aus ausgewählten ägyptischen ulama (Religionsgelehrten) bestand. Diese Tradition wurde mit der Gründung der Jordan Islamic Bank (1978) fortgesetzt, der Sudanese Faisal Islamic Bank (1978) und dem Kuwaiti House of Finance (1979). Daraufhin wurden zahlreiche islamische Banken in arabischen Ländern, der Türkei, in Bangladesch gegründet, in jüngster Zeit auch im privatwirtschaftlichen Bereich in Pakistan, Albanien und Bosnien. 4 Berg, »Want to buy a sukuk?«. 5 »Tatsächlich fördert er [jeder Einzelne] in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er eigentlich nur an die eigene Sicherheit, und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, dass ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.« Viertes Buch, zweites Kapitel aus Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München: dtv, 11. Aufl. 2005 (1. Aufl. 1978), http://www.econlib.org/LIBRARY/Smith/smWN.html. 6 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776. 7 Alan Greenspan bei der Adam Smith Memorial Lecture, Kirkcaldy, Schott-
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Anmerkungen
land, 6. Februar 2005, http://www.federalreserve.gov/boarddocs/Speeches/ 2005/20050206/default.htm. Thomas Crampton, »A Strong China May Give Boost to Its Neighbors«, International Herald Tribune, 23. Januar 2003, http: //www.iht.com/artides/2003/01/23/rchina_ed3_.php. »The Asia Crisis, Capital flows and the international financial architecture«, Reverse Bank of Australia Bulletin, Juni 1998, http://www.rba.gov. au / Publications AndResearch / Bulletin / bu_jun98/bu_0698.pdf. J. D. Sachs, »The Wrong Mediane for Asia«, New York Times, 3. November 1997. »The Great Emerging Markets Rip-Off«, Fortune, 11. Mai 1998, S. 68-74. Ronald D. Palmer, »Southeast Asia Crisis: Background and Current Assessment«, http://www.unc.edu/depts/diplomat/AD_Issues/amdipL9/palmer_seasia. html. Neil Dias Karunaratne, »The Asian Financial Melt-Down and the IMF Rescue Package«, Economic Issues, Nr. 10, Department of Economics, The University of Queensland, http://eprint.uq.edu.au/archive/00001096/, 1999. Straits Times, Singapur, Februar 1998. Mahathir Mohamad, Islamic Cultural Center, Northbrook, Illinois, 1. September 2000, http://www.lariba.com/knowledgecenter/articles/pdf/Mahathir%20 Mohammad%20-%20The%20speech%20of%20Dr%20at%20LARIBA.pdf. Patricia Martinez, »Thumbs Up to Living in Malaysian Diversity«, 10. August 2006, http: //www.nst.com.my/Current_News/nst/Thursday/Columns / 20060810071927/Article/index_html. Mahmoud Amin El-Gamal, »Daily Briefing: The Race to Rule Islamic Finance; Despite the Constraints of Shariah on Interest-Bearing Instruments, a Fierce Banking Rivalry is Developing Among Muslim Nations«, Business Week Online, 27. Oktober 2003. Zulkifli Othman, »Come Up With Innovative Islamic-Style Financial Tools«, Business Times, 17. Dezember 1996. Gillian Tett, »Islamic Banking Confounds Sceptics«, Financial Times, 2. Juni 2006.
20 Shari'ah and Sukuk: A Moody's Primer, 31. Mai 2006. 21 Die einzige Einschränkung ist die begrenzte Zahl an Religionsgelehrten, die über die erforderlichen religiösen Referenzen verfügen, um eine Fatwa auszusprechen, und gleichzeitig über eine fundierte Kenntnis der globalen Kapitalmärkte verfugen. Daher sind Männer wie der renommierte Gelehrte Sheik Hassan sehr gefragt und können Gebühren in Höhe von 300 Dollar verlangen. 22 International Islamic Finance Forum, 22. März 2006. 23 Berg, »Want to buy a sukuk?«.
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24 Ann Berg, »The Golden Caliphate«, http://www.antiwar.com/orig/berga.php? articleid=8627, 3. März 2006. 25 Unter Alexander Hamilton, dem ersten Finanzminister der Vereinigten Staaten, wurde 1792 mit dem Coinage Act das bimetallische Währungssystem eingeführt. Das Verhältnis von Gold u n d Silber im Dollar wurde mit 15 Gran Silber auf 1 Gran Gold festgelegt. Alvin Rabushka, From Adam Smith to the Wealth of America, Transaction Books: New Brunswick, 1985, S. 201. 26 Berg, »The Golden Caliphate«. 27 Ebenda. 28 Jude Wanniski, »Where is the Gold Dinar?«, al-Dschasira, 24. November 2004, http://www.rumormillnews.com/cgi-bin/archive.cgi?noframes;read= 60191. 29 Lawrence Wright, »The Master Plan for the New Theorists of Jihad, Al Qaeda is Just the Beginning«, The New Yorker, 11. September 2006. 30 Karl Polanyi, The Great Transformation: The Political and Economic Origins of Our Time, Boston: Beacon Press, 1957, Kapitel 1. 31 A. G. Hopkins (Hrsg.), Globalization in World History, London: Pimlico, 2002, S. 9. 32 Thomas A. Bisson, »Japan Home Front«, Foreign Policy Reports, Bd. XIV, Nr. 12 (September 1938). 33 Benito Mussolini, Rede auf der Piazza Venezia in Rom, 2. Oktober 1935, http://www.homolaicus.com/storia/contemporanea/novecento/par36. htm. 34 »Benito Mussolini, What is Fascism, 1932«, Modern History Sourcebook, www.fordham.edu/halsall/mod/modsbook.html. 35 Polanyi, Great Transformation, S. 246. 36 »Mussolini«, Modern History Sourcebook. 37 Polanyi, Great Transformation, S. 245. 38 Vera Michaels Dean, »The Economic Situation in Italy: Italy in the World Crisis«, Foreign Policy Reports, Bd. X, Nr. 24, 10. Januar 1935. 39 Jude Wanniski, The Way the World Works, Washington, D. C.: Regnery Publishing, 1978, S. 149. 40 L. Mossa, L'Impresa nell'ordine corporativo, Florenz 1935, S. 130. 41 Dean, »The economic Situation in Italy«.
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Afghanistan, Militärintervention 100 Afrika 247 - Wirtschaftshilfe 247-255 Aids 33,89 al-Adel, Saif 324 al-Faisal, Mohammed 307 al-Fayed, Mohamed 315 AI Kaida 253, 324 Alltagsleben, Barbarisierung 75 al-Sarkawi, Abu Mussab 270 al-Yaseen, Ahmed 307 AngloGold Ashanti 169 Anleihen, islamische 319 Arbeit und Kapital 80 Arbeitsplatzverlagerung 52f. Arendt, Hanna 95ff„ 100,108-113,242 Arizona-Highway 22 Arizona-Markt 22f. Ashcroft, John 262 Asienkrise 312,321, 335 Atkinson, Tony 73 Baker, Raymond 43 Bananen, Preiskrieg 175 Banditen, stationäre 45 Banditen, umherstreifende 42 Beckham, David 68, 245 Bergson, Henri 298, 301 Berlusconi, Silvio 271f., 273f., 277 besnalitschnyje (russische Verrechnungseinheit) 36ff. Bildung 52 Biopiraten 155f.
Blair, Tony 76, 244, 247f., 251 Blutdiamanten 168 Bono (U2) 246ff„ 251, 254 Bours, Helene 218, 223, 225 Bush, George W. 55,66,111, 247, 251, 264, 297 Camorra 89 Cassirer, Ernst 266 Chaplin, Charlie 245f. Chavez, Hugo 272, 274f„ 277 Chiang Kai-shek 120 China - Arzneimittelgesetzgebung 164 -Arbeitsmoral 134 -Ausbeutung 133 - Denken 131 - Deregulierung der Wirtschaft 132 - Einkommensverteilung 150 - Fälschungsindustrie 145 - Globalisierung 142f. - Identität 121,135 -kaiserliches 137 - Kopierindustrie 190 - Kostenvorteile 53 - K u l t u r 116,119,123,126 - Löhne 51 - Markenpiraterie 147f. - modernes 125 - Regionalismus 137ff. - Studienanfänger 52 - und USA (Kapitalverkehr) 54 - Welthandelsorganisation 166
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- westliche Kultur 142 Chodorkowski, Michail 38ff. Clausewitz, Carl von 114 Congleton, Roger 256 Cosa Nostra 84ff„ 89 Cyberspace 191, 201f. Deflation 49 Demokratie 9 Deng Xiao Ping 131ff„ 135,143,148, 332 Deregulierung und Privatisierung 160 Derivate 78 Deutsche Bank 90 Deutschland 51,134 - Prostitution 29 Dongshou, Massaker 126 Dulles, Allen Welsh 246 Dulles, John Foster 246 Durkheim, Émile 87 EBRD (European Bank for Reconstruction and Development) 39f. Eigentum, geistiges 158 Einkommenskala 71 Einkommensungleichheit 67-73, 81 Elektroschrott 232 El-Gamal, Mahmoud Amin 317 Entwicklungshilfe 248-253 Erixon, Fredrik 252f. Erwärmung, globale 238 ETA (Euskadi Ta Askatasuna) 280 Europa -chinesische Einwanderer 151-154 - Konsumausgaben 55 - Zinssätze 55f. Fälschungsindustrie 149 Fälschungsindustrie und Piraterie 160 Faschismus 149, 328ff„ 331 - Wirtschaftssystem 330, 334 FDA (Food and Drug Administration) 178 Fettleibigkeit 13,179ff.
379
Finanzkrise, asiatische 318 Finanzprodukte, schariakompatible 319 Finanzwesen, islamisches 304-309, 311ff„ 318ff„ 335, 339, 341 Fischfang, illegaler 214-218, 220, 226, 235fr. Fitzgerald, F. Scott 72, 81 Flugzeugentführungen 258 Französische Revolution 114 Freeman, Richard 50f. Freiheit 109 Fruchtbarkeit, menschliche 33 Fukuyama, Francis 267 Fußball-Hooligans 299ff. Gaddis, John Lewis 122 Geburtenrate 43 Geldof, Bob 245, 247f. Geldwäsche 91, 93,111 Geldwäscheregelungen, europäische 94 Geschlechtskrankheiten 33f. Gesellschaft, chinesische 124 Gesellschaft, geschlossene 296 Gesellschaft, offene 292 Gesellschaftsvertrag 112, 337-342 Ghettoaufschlag 285 Gewerkschaften 340 Giddens, Anthony 293 Globalisierung 10,12, 23 - Armut 35 - Proletariat 52 - Schurkenökonomie 47 - Tribalismus 292 - Wirtschaftswachstum 269 Golddinar-Standard 323f. Goldfarmer 186f. Goldhandel 169,171 Goldstandard 321-327 Gorbatschow, Michail 35f„ 38,135 Gore, AI 243 Greenspan, Alan 50 Großbritannien, Drogenkonsum in 284
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Haasan, Hussein Hamid 306 Hamoud, Sami 308 Handelsstrukturen 17 Hedge Fonds 77-80 Hitler, Adolf 97, 335 HIV s. Aids Hobbes, Thomas 210, 339 Hoffman, Bruce 264 Hurrikan Katrina 61 IBM 208 Ibrahim, Anwar 318 Illusionen, kommerzielle 14,161, 172 -ökonomische 112 - produzierte 66 Impfstoffimitate 163 Industriestaaten, Zukunft der 52ff. Industrielle Revolution 242 Insolvenzen 58 Internetpornographie 193, 197-201 Internetwerbung und Pornoindustrie 198 Islam und Individualismus 308 Italien, Terroranschläge in 260 IWF (Internationaler Währungsfonds) 36, 40,43, 79, 314ff„ 322 Jelzin, Boris 40ff. Jerofejew, Viktor 34 Jolie, Angelina 246 Jukos (russischer Ölkonzern) 42 Kalifat, islamisches 324 Kalter Krieg 20f„ 108 Kamel, Saleh 307 Kapitalismus, globaler 35 - transnationaler 73 Keynes, John Maynard 20, 73 Kindersoldaten 170 Kisau, Mumo 251 Klimawandel 237-241 Kommunismus 12, 23f., 35, 52 Kongo, Goldhandel 170f. Konservierungsstoffe 234
Konsumationsmittel 72 Konsumgüter 19 Korruption 12 Kosmopolitismus 293, 295f. Kostenvorteile, komparative 53 Kreditindustrie 56, 60 Kriminalität, globale 88 Kultur, muslimische 308 - postmoderne 30 Kulturrevolution 121,123ff„ 127f., 131, 134-138,140,143,148,150, 266 Lebensmittelindustrie 179-183 Liberalismus, wirtschaftlicher 326 Luftfahrtpiraten 158f. MacShane, Dennis 276 Mafia, bulgarische 101, 105f. - chinesische 151 - russische 22, 215 - sizilianische 86f., 222 Mahatir, Mohamad 314ff. Mann, Thomas 63-66, 74f. Mao Zedong 120ff„ 127,131f„ 138, 140,143, 266, 277, 332 Maoismus 122,133,137,140 Mara Salvatrucha 279f., 282 Markt, globaler 14 Markt, Kräfte des 309 Marktmatrix 14,162-184, 254, 298 - und Cyberspace 184 - und Fälschungsindustrie 161 - Gefahren 165 Marktstaat 112,114,127, 241, 243, 245 - Globalisierung 287 - Populismus und 272 - synthetischer 212 - totalitärer 132 - ultimativer (China) 118 Marshallplan 18ff., 32, 252 Martin, Ricky 245 Marx, Karl 72, 75,128 McCain, John 264 McNamara, Robert 263
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Medien 66, 342 Medikamentenfälschungen 165ff. Meinungsumfragen 243f. Micheals Dean, Vera 334 Mindestlöhne 51 Mittelschicht, Moral 32 Mittelschicht, Verarmung 51 Mittelschicht, westliche 76, 81 MMO (Massive Multiplayer Online Games) 185f. Mobilität, soziale 68 Mussolini, Benito 328ff„ 331ff., 335 Napoleon Bonaparte 115 Nationalität 297 Nationalsozialismus 67,109,112f., 149 Nationalstaat 110,113,161, 269 - Aufgabe 98 - und Marktstaat 212f. 'Ndrangheta 83-99,107,118 Niederlande, Prostitution in 32 Nigeria, Elektroschrott in 232 Nomenklatura, bulgarische 100, 103, 107,118
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PKK (kurdische Arbeiterpartei) 29 Platon 113, 297f. PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) 280 Polanyi, Karl 331 Politik, nationalstaatliche 111 - neokonservative 62 - Trivialisierung 271 Popper, Karl 292, 296ff., 301 Private Equity 79 Prodi, Romano 272 Produktionsmittel 72 Prostitution 24, 26, 27, 30ff., 39 Prostitutionsindustrie 23 Putin, Wladimir 45
Olgesellschaften, private 235 Oligarchen, russische 42ff., 46, 110, 118 Olson, Mancur 42 Online-Piraterie 189 Organisationen, tribale 98 Outsourcing 53, 310
Reader, John 254 Reagan, Ronald 26,110, 279, 323 Realitätswahrnehmung 67 Reallöhne und Produktivität 71 Ressourcenverteilung 98 RGW (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) 36 Ricardo, David 53, 55, 305 Robert, Paul Craig 53 Rousseau, Jean-Jacques 339 Rove, Karl 264 Russland 34, 43 - Demokratie 44 - Kommandowirtschaft 24f. - Patentschutz 166 - Schurkenökonomie 35
Patentindustrie 157 Patriot Act 92, 94f., 108f., 111 PayPal (Online-Bezahldienst) 193f. Pen, Jan 68 Penn, Marc 243 Perestroika 35, 40 Pharmaindustrie, globale 167 Pharmaunternehmen, deutsche 167 Philip Morris 177 Piratenfischer 217-222f., 226 Pitt, Brad 246
Sachs, Jeffrey 36 Schariawirtschaft 330 Schurkenökonomie 23, 35, 46, 62, 149 Schurkenwirtschaft 11f., 15, 21, 46, 81 Scopelliti, Antonio 86 Second Life 203-209 Selbstmordattentate 258 Sexbranche 26 Sexindustrie, globale 33, 44 Sexmarkt, globaler 26 Sexsklavinnen 22f., 30, 39
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Sheehy, Thomas 253 Sklavenarbeit 10,173 - Preise 174 Sklavenhandel 10 Sklaverei 9,172f. - und Demokratie 9ff. - Gewinne 174 Smith, Adam 44, 305, 309ff., 326 Sowjetunion, Zerschlagung der 46 Sozialismus, afrikanischer 253 Sozialleistungen 51 Sozialstandards, weltweite 51 Spagnolo, Vincenzo 90, 94 Stadtviertel, Kriminalisierung der 291 Stalin, Josef 45 Stammesdenken 290 Steuersystem, britisches 77 Stiglitz, Joseph 43, 56, 313 Studienanfänger 52 Sunzi 115,118,122 Syphillis 33 Tabakindustrie, Gewinne 177 Tabakindustrie und Lebensmittelindustrie 176 Tabakverbrauch, globaler 176 Terror, islamistischer 58 Terrorismus 264 - globaler 263 - Italien 260 Thatcher, Margaret 36, 299f. Tolstoi, Leo N. 114f. Transparency International (TI) 36,43 Traum, amerikanischer 19f., 33,49, 61 Triaden, chinesische 89,151, 227 Tribalismus 296f., 301 - instinktiver 275 - maoistischer 141f., 332 - moderner 339 - sozioökonomischer 339 - staatlicher 325-335 - transnationaler 311
- wirtschaftlicher 304-336 Tschetschenien 22 Überfischung 221 Uganda, Goldhandel in 170f. Umbruch, wirtschaftlicher (Kennzeichen) 337 Umweltkatastrophen, Energiekonzerne und 235 Universum, virtuelles 196 USA - HyperVerschuldung 64f. - Hypothekenkredite 57 - Insolvenzen 58 - Konsumausgaben 55 - Mittelschicht 49, 55, 60, 62, 64, 67, 74f. -Verschuldung der Konsumenten 56f. - wirtschaftlicher Verfall 67 - Zinssätze 55f. - Zwangsversteigerungen 58 Veblen, Thorstein 72, 75,80 Vereinigte Staaten von Amerika s. USA Viererbande 136 Volkseinkommen 69 Währungen, elektronische 191-197 Wanniski, Jude 323 Warenaustausch, internationaler 53 Wasserverschmutzung 233 Wechselwähler 244f. Weimarer Republik 97 Weltbank 36,40,43 Weltbürgertum 293 Williams, Robbie 245 Wirtschaft, schariakompatible 307 Wirtschaftssystem, faschistisches 330, 334 Zivilgesellschaft und wirtschaftliche Verschlechterung 63